Die Fluchtlinien der Gesellschaft. Gilles Deleuze und die Genese des Neuen [1. ed.] 9783958322974

330 122 1MB

German Pages 386 [389] Year 2022

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Die Fluchtlinien der Gesellschaft. Gilles Deleuze und die Genese des Neuen [1. ed.]
 9783958322974

Table of contents :
Cover
Einleitung: Die Frage nach der Genese des Neuen
1. Das dogmatische Bild des Denkens
1.1 Das Modell der Rekognition
1.2 Die Notwendigkeit des Denkens
1.3 Wahrheit und Problem
2. Der Begriff der Differenz an sich
2.1 Die selektive Prüfung
2.2 Das Identitätsprinzip
3. Die Substantialität der Veränderung bei Bergson
3.1 Die bewegte Kontinuität der Erfahrung
3.2 Intuition als transzendentale Methode
3.3 Zwei Mannigfaltigkeiten
3.4 Das Mögliche und das Virtuelle
4. Die reine Immanenz nach Spinoza
4.1 Die Univozität des Seins und die Variationen der Macht
4.2 Affektionen und Affekte oder: Was vermag ein Körper?
4.3 Die immanenten Kriterien einer vitalistischen Gesellschaftskritik
5. Nietzsche und das Werden der Kräfte
5.1 Pluralismus, Perspektivismus, Relationalismus
5.2 Eine verkehrte Welt: Das Reaktiv-Werden der Kräfte
5.3 Der Wille zur Macht zwischen Affirmation und Negation
6. Die Kraftlinie von Foucault
6.1 Die singulären Punkte der Aussage
6.2 Form und Kraft oder: Was ist Mikrophysik?
7. Gesellschaft als Mannigfaltigkeit
7.1 Ordnung und Umordnung
7.2 Tarde und die Soziologie sozialer Strömungen
7.3 Die Fluchtlinien der Gesellschaft
7.4 Ereignis und Zeit des Neuen
7.5 Wider den Dualismus: Die Typologie abstrakter Maschinen
8. Was ist ein soziales Gefüge?
8.1 Werden im Gefüge
8.2 Begehren als Konnexionsprozess
8.3 Heterogenese oder: Die Macht der Gefüge
Siglen
Literatur
Internetquellen

Citation preview

Christoph Kircher

Die Fluchtlinien der Gesellschaft Gilles Deleuze und die Genese des Neuen

VELBRÜCK WISSENSCHAFT

Christoph Kircher Die Fluchtlinien der Gesellschaft

Christoph Kircher

Die Fluchtlinien der Gesellschaft Gilles Deleuze und die Genese des Neuen

VELBRÜCK WISSENSCHAFT

Die Fertigstellung dieser Publikation wurde durch eine Förderung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (DOC) ermöglicht. Diese Publikation wurde mit finanzieller Unterstützung aus den Fördermitteln des Vizerektorats für Forschung der Universität Innsbruck abgedruckt.

Erste Auflage 2022 © Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2022 www.velbrueck-wissenschaft.de Printed in Germany ISBN 978-3-95832-297-4 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung: Die Frage nach der Genese des Neuen . . . . . 7 1. Das dogmatische Bild des Denkens . . . . . . . . . . 31 1.1 Das Modell der Rekognition . . . . . . . . . . . 31 1.2 Die Notwendigkeit des Denkens . . . . . . . . . 47 1.3 Wahrheit und Problem . . . . . . . . . . . . . 58 2. Der Begriff der Differenz an sich . . . . . . . . . . . 73 2.1 Die selektive Prüfung . . . . . . . . . . . . . 73 2.2 Das Identitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . 88 3. Die Substantialität der Veränderung bei Bergson . . . . . 103 3.1 Die bewegte Kontinuität der Erfahrung . . . . . . 103 3.2 Intuition als transzendentale Methode . . . . . . . 115 3.3 Zwei Mannigfaltigkeiten . . . . . . . . . . . . 130 3.4 Das Mögliche und das Virtuelle . . . . . . . . . 141 4. Die reine Immanenz nach Spinoza . . . . . . . . . . 151 4.1 Die Univozität des Seins und die Variationen der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 4.2 Affektionen und Affekte oder: Was vermag ein Körper? . . . . . . . . . . . . 165 4.3 Die immanenten Kriterien einer vitalistischen Gesellschaftskritik . . . . . . . . . 176 5. Nietzsche und das Werden der Kräfte . . . . . . . . . 197 5.1 Pluralismus, Perspektivismus, Relationalismus . . . . 197 5.2 Eine verkehrte Welt: Das Reaktiv-Werden der Kräfte . . . . . . . . . 206 5.3 Der Wille zur Macht zwischen Affirmation und Negation . . . . . . . . . . . 218 6. Die Kraftlinie von Foucault . . . . . . . . . . . . . 237 6.1 Die singulären Punkte der Aussage . . . . . . . . 237 6.2 Form und Kraft oder: Was ist Mikrophysik? . . . . 249

7. Gesellschaft als Mannigfaltigkeit . . . . . . . . . . . 259 7.1 Ordnung und Umordnung . . . . . . . . . . . 259 7.2 Tarde und die Soziologie sozialer Strömungen . . . . 275 7.3 Die Fluchtlinien der Gesellschaft . . . . . . . . . 300 7.4 Ereignis und Zeit des Neuen . . . . . . . . . . 310 7.5 Wider den Dualismus: Die Typologie abstrakter Maschinen . . . . . . . 317 8. Was ist ein soziales Gefüge? . . . . . . . . . . . . . 335 8.1 Werden im Gefüge . . . . . . . . . . . . . . 335 8.2 Begehren als Konnexionsprozess . . . . . . . . . 344 8.3 Heterogenese oder: Die Macht der Gefüge . . . . . 350 Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

371

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . 385

Einleitung: Die Frage nach der Genese des Neuen Im Feld dessen, was gemeinhin als Poststrukturalismus bezeichnet wird, ist und bleibt Gilles Deleuze ein Sonderfall. Im Unterschied zu anderen Autoren und Autorinnen seiner Generation hat er sich nämlich nie um eine Überwindung der Metaphysik bemüht, ist nicht den Fluchtbewegungen in die Linguistik, in die Psychoanalyse, in die Wissenschaftstheorie, in die Geschichte oder in den Strukturalismus gefolgt, sondern hat in der Philosophie selbst sein Rohmaterial gefunden, d.h. philosophische Begriffe, anhand welcher es allerdings möglich war, mit anderen Diszi­ plinen produktiv in Beziehung zu treten und damit über die tradierte Philosophie hinauszugehen. Darin erkennt Deleuze auch Sinn und Zweck der Philosophie: Philosophie ist die Kunst der Bildung, Erfindung und Herstellung von Begriffen. Wozu sollte man auch philosophieren, wenn nicht, um einen neuen Begriff zu erfinden, einen Begriff, der es erlaubt, etwas Neues zu denken, neue Zusammenhänge herzustellen. Jede Philosophie schafft so ihre eigenen Begriffe: die Idee bei Platon, die Substanz bei Aristoteles, die Monade bei Leibniz, das Cogito bei Descartes, die Bedingung bei Kant, die Dauer bei Bergson etc. Dabei kann es sein, dass ein geläufiges, ganz gewöhnliches Wort verwendet wird, um einen vollkommen neuen Begriff zu bezeichnen. So erfindet Foucault einen Begriff der Aussage, der über das, was man gewöhnlich unter diesem Wort versteht (z.B. einen Satz, eine Proposition oder einen Sprechakt), grundsätzlich hinausweist. Andererseits kann es aber sein, dass ein außergewöhnliches Wort gewählt wird, um einen entsprechenden Begriff zu benennen. So schreibt Derrida »différance« mit einem a, um damit einen vollkommen neuen Begriff der Differenz zu benennen. Das Werk von Deleuze zeichnet sich durch eine wilde, anhaltende, fast zügellose Schöpfung von Begriffen aus. Darunter finden sich zwar Begriffe, die sich reibungslos in die Geschichte der Philosophie einreihen lassen (z.B. Differenz, Singularität, Univozität), aber auch solche, die befremdlich, schockierend, fast schon barbarisch anmuten (z.B. abstrakte Maschine, Tier-Werden, organloser Körper). Freilich geht es Deleuze nicht darum, »komplizierte Wörter zu verwenden, um auf ›schick‹ zu machen« (U: 51). Oft genügt es, ein gewöhnliches Wort aufzugreifen, um ihm durch einen neuen Begriff einen singulären Sinn zu verleihen, den es vorher noch nicht hatte. Es kann aber ebenso gut sein, dass ein ungewöhnliches, monströses Wort verwendet werden muss, eine originelle Wortschöpfung, um den besonderen Sinn eines neuen Begriffs besser zum Ausdruck zu bringen. Die Philosophie ist demnach weder kommunikativ noch reflexiv, sie ist schöpferisch und insofern immer schon revolutionär. Indem sie neue 7

EINLEITUNG

Begriffe schafft, weist sie nämlich über ihre Zeit hinaus, gibt etwas Neues zu denken und entzieht sich damit den vorherrschenden Gedankenströmen: den Meinungen, Ansichten, Diskussionen und dem Geschwätz der Gegenwart. Ein philosophischer Begriff verfügt also immer über ein kritisches und sogar politisches Potential. »Wenn ein Begriff ›besser‹ ist als der vorangehende, so deshalb, weil er neue Variationen und unbekannte Resonanzen spürbar macht, ungewöhnliche Schnitte vollzieht, ein Ereignis herbeiführt, das uns überfliegt« (WP: 35) und über uns und unsere Zeit hinausweist. Immer ist es aber ein bestimmtes Problem, auf das sich ein neuer Begriff bezieht und der diesem Begriff, ungeachtet seiner Bezeichnung, einen Sinn verleiht. Gewöhnlich legt eine Philosophie neue Begriffe vor, verschweigt aber die Probleme, auf die sie dabei Bezug nimmt. Philosophiegeschichte darf Deleuze zufolge nicht wiederholen, was jemand gesagt hat, sondern muss das, was darin gegenwärtig bleibt, die Probleme, die dem Gesagten einen Sinn verleihen, zur Sprache bringen. Wenn Platon den Begriff der Idee erfindet, dann in Bezug auf ein Problem, das sich zwangsläufig aus der demokratischen Verfasstheit des griechischen Stadtstaates ergibt. Beispielsweise im Politikos: Ein wahrer Staatsmann ist jemand, der Menschen hütet. Wer von denen, die Menschen tatsächlich hüten (der Kaufmann, Bauer, Bäcker, Lehrer oder Arzt), ähnelt dieser Idee aber am ehesten? Wie ist vorzugehen, um dieses Selektionsproblem zu lösen? Eine Philosophie beschränkt sich aber nicht nur auf einen Begriff, sondern schafft meist mehrere Begriffe, die zwar immer auf ihre eigenen Probleme antworten, die sich aber ebenso aneinander anpassen, sich überschneiden und bisweilen auch gegenseitig voraussetzen: die ihre Probleme aus den Problemen anderer Begriffe ableiten und damit eine Immanenzebene konstruieren, die mit jeder neuen Begriffsschöpfung schrittweise ausgeweitet wird. Descartes erfindet zum Beispiel einen neuen Begriff vom Ich, doch dieser Begriff verweist bereits auf drei weitere Begriffe: den Zweifel, das Denken und das Sein. Ich, der zweifle, denke, bin also ein Ding, das denkt. Freilich gab es diese Begriffe bereits zuvor, doch waren es nicht dieselben Probleme, auf die sie bezogen waren, nicht dieselbe Ebene, auf der sie entwickelt und systematisiert worden sind. Das kartesianische Cogito vollzieht eine radikale Transformation der Problematik, es entwirft eine neue Immanenzebene, auf der diese Begriffe, angesichts der neuen Stellung des Problems, einen ganz neuen Sinn erhalten. Es ist nicht mehr die griechische Ebene, der platonische Boden, auf dem das, was Denken bedeutet, konzipiert wird. Die Ebene erfährt mit Descartes eine entscheidende Krümmung. Der erste Begriff, durch welchen die Ebene gegründet wird, ist nicht mehr die Idee, es ist das Cogito, und zwar als subjektiver Sinn. Philosophie ist Konstruktivismus: Sie entwirft eine Ebene und produziert darauf ihre Begriffe und Begriffspersonen. 8

EINLEITUNG

Doch nicht jede Philosophie entwirft damit gleich eine neue Ebene. Sie kann, indem sie neue Begriffe schafft, auch eine bestehende Ebene weiterentwickeln und verlängern, die Lehre eines Meisters aufgreifen und fortführen: Platon und die Neuplatoniker, Kant und die Nachkantianer, Marx und die Marxisten. In jedem Fall stellt sich deshalb die Frage, ob eine Philosophie eine bestehende Ebene aufgreift, ihr womöglich eine neue Krümmung verleiht, oder ob es ihr gar gelingt, eine vollkommen neue Ebene zu entwerfen. Diese Immanenzebene, die die Schöpfung philosophischer Begriffe unterspannt, muss ihrerseits aber als vorphilosophisch angesehen werden. Sie wird zwar vorausgesetzt, aber nicht so, wie ein Begriff einen anderen voraussetzt. Sie begründet vielmehr ein nichtbegriffliches Verständnis, auf welches ihre Begriffsschöpfungen sich implizit berufen. Damit ist sie ihren Begriffen aber nicht präexistent, sondern wird mit diesen vielmehr fortlaufend mitgeschaffen. Sie ist ihren Begriffen also niemals äußerlich, selbst wenn diese sie immer schon voraussetzen. Platon beruft sich beispielsweise von vornherein auf die Anamnesis, um die Möglichkeit von Erkenntnis und Wissen zu begründen; Descartes beruft sich, entgegen seiner Annahme, auf ein vorbelastetes Verständnis dessen, was »Ich denke« bedeutet; »Heidegger beruft sich auf ein ›vorontologisches Verständnis des Seins‹, auf ein ›vorbegriffliches‹ Verständnis, das sehr wohl den Zugriff auf eine Materie des Seins im Verhältnis zu einer Disposition des Denkens zu implizieren scheint.« (WP: 49 f.) Die Immanenzebene ist selbst also kein Begriff, sie ist das Bild des Denkens, das Bild, das vom Denken, von dem, was es heißt, sich im Denken zu orientieren, gezeichnet wird. Eine große Philosophie ist insofern auch daran zu erkennen, dass es ihr gelingt, eine neue Immanenzebene: ein neues Bild des Denkens zu entwerfen. Sie tut dies, indem sie festlegt, was von Rechts wegen dem Denken zukommt. Das Problem von Platon bestand beispielsweise darin, widerstreitenden Meinungen einen Wahrheitswert beizumessen, sie im Hinblick auf eine universelle Instanz, dem Logos, also wahlweise zum legitimen Wissen zu erheben. Das Problem von Descartes bestand dagegen darin, den Irrtum im Denken zu vermeiden, also alles, was das Denken von außen her stören könnte, methodisch auszuschließen, um dadurch zur Wahrheit zu gelangen. Das Problem bei Kant bestand schließlich darin, dass »das Denken nicht so sehr durch den Irrtum, sondern durch unvermeidliche Illusionen bedroht wird, die dem Inneren der Vernunft entstammen« (WP: 62), eine permanente Gefahr, die das Denken von der Wahrheit trennt und nur durch einen legitimen Gebrauch aller Vermögen zwar nicht vermieden, aber zumindest gebannt werden kann. In allen drei Fällen erfährt das Bild, das vom Denken gezeichnet wird, eine folgenschwere Erneuerung: Immer wird das, was es heißt, sich im Denken zu orientieren (Abbilder, Irrtum, Illusion), grundlegend erneuert. Vor diesem Hintergrund stellt sich nun aber die Frage, ob es auch Deleuze 9

EINLEITUNG

gelingt, ein neues Bild des Denkens zu zeichnen, ein Bild, das womöglich mit allen vorherigen Bildern bricht. In anderen Worten: Wie bringt sich Deleuze in die Geschichte des Denkens ein? Spätestens in Differenz und Wiederholung, dem frühen Hauptwerk, in dem er versucht, selbst Philosophie zu machen, aber in gewisser Hinsicht auch schon in den philosophiehistorischen Studien, die diesem Werk vorbereitend vorausgehen, versucht Deleuze, »ein neues Bild des Denkens oder vielmehr eine Befreiung des Denkens von den Bildern« (SG: 288) der tradierten Philosophien zu erreichen. Vor diesem Hintergrund ist auch sein Interesse für so unterschiedliche Denker wie Hume, Bergson, Nietzsche, Spinoza oder Proust zu verstehen. Was diese Autoren nämlich verbindet, ist der Umstand, dass »es bei ihnen starke Elemente für ein neues Bild des Denkens gibt, etwas Außerordentliches in der Art und Weise, wie sie uns sagen, denken bedeutet nicht das, was ihr glaubt« (EI: 201). In jedem Fall interessiert sich Deleuze also dafür, wie der entsprechende Autor über das tradierte Bild des Denkens hinausweist. Zum Beispiel liefert der Empirismus von David Hume laut Deleuze (1997) wichtige Elemente für ein neues Bild des Denkens, weil er den tradierten Erkenntnisbegriff durch einen neuen, weltlichen Begriff des Glaubens ersetzt: Denken wird nicht mehr als eine Wendung zum Wahren, sondern als Experiment oder das explorative Verfolgen einer Spur konzipiert. Insofern ist der Empirismus in den Augen von Deleuze auch nicht bloß eine Reaktion gegen Begriffe oder eine oberflächliche Berufung auf die sinnliche Erfahrung. Er behandelt Begriffe vielmehr »als Gegenstand einer Begegnung, als ein Hier-und-Jetzt, […] jenseits der ›anthropologischen Prädikate‹.« (DW: 13) Der Begriff nennt hier eher das Ereignis als das Wesen. Und genau in diesem Sinne wird Deleuze, wie wir sehen werden, seine Philosophie auch in das Zeichen eines höheren oder transzendentalen Empirismus stellen. Wie geht Deleuze nun über das Bild, das bislang vom Denken gezeichnet wurde, hinaus? Wie gelingt es ihm, ausgehend von den Autoren, auf die er sich bezieht, ein neues, gar bildloses Bild des Denkens zu konzipieren? Und vor allem: Warum brauchen wir überhaupt ein neues Bild des Denkens? Wenn das klassische Bild des Denkens überwunden werden muss, dann weil es andere, völlig neue Probleme sind, die uns beschäftigen. Es sind Probleme, die sich aus »dem Scheitern der Repräsentation wie dem Verlust der Identitäten und der Entdeckung all der Kräfte [ergeben], die unter der Repräsentation des Identischen wirken« (DW: 11). Jenseits aller alten, repräsentativen Ordnungen und ihren tragenden Identitäten leben wir heute in einer Welt, in der der Umgang mit Differenz zur Tagesordnung gehört, in der die großen Erzählungen nur noch aus der Ferne ertönen, in der die tradierten Register der Moderne – Natur oder Kultur, Technik oder Gesellschaft usw. – sich in einer neuen Unübersichtlichkeit zunehmend vermischen und in der die Notwendigkeit, 10

EINLEITUNG

sich dem Unbestimmten, der Kontingenz, dem Werden, dem Ereignis oder: dem Neuen zu stellen, schließlich überall zur großen Herausforderung wird. Gleichzeitig scheinen wir uns heute vor »Neuem« aber gar nicht mehr retten zu können. Im Sog des kognitiv-kulturellen Kapitalismus avanciert die planmäßige Produktion des »Neuen« nämlich zum ideologischen Mantra einer spätmodernen Gesellschaft, in der die »soziale Logik des Besonderen« (Reckwitz 2017: 11) in nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens vordringt. Natürlich besteht zwischen der Neuheit eines Konsumguts und der Neuheit eines (philosophischen) Begriffs ein wesentlicher Unterschied. Dieser Unterschied läuft heutzutage allerdings Gefahr, völlig verwischt zu werden. Der Tiefpunkt wurde vielleicht erreicht, »als die Informatik, das Marketing, das Design, die Werbung, alle Fachbereiche der Kommunikation sich des Wortes Begriff, Konzept, selbst bemächtigten und sagten: Das ist unsere Sache, wir sind die Kreativen, wir sind die Konzeptmacher!« (WP: 15) Die Frage nach der Genese des Neuen wird damit aber zur Farce. Darüber hinaus sind es heute auch nicht mehr die alten Herrschaftsmächte, die uns daran hindern, etwas Neues zur Sprache zu bringen. Das Problem liegt nicht mehr darin, »die Leute zum Reden zu bringen, sondern ihnen Zwischenräume von Einsamkeit und Schweigen zu verschaffen, von wo aus sie endlich etwas zu sagen hätten. […] Zur Zeit erstickt man nicht an Störungen, sondern an Sätzen, die völlig uninteressant sind« (U: 188), die in ihrem Überfluss alle Sätze, die etwas Neues benennen, aber unter sich begraben. Das Unerträgliche unserer Zeit »ist nicht mehr eine höhere Ungerechtigkeit, sondern der permanente Zustand der alltäglichen Banalität« (ZB: 222), ein Inaktivsein des Denkens, das gegenüber den Ereignissen dieser Welt völlig indifferent bleibt, so »als ob sie uns nur zur Hälfte angingen. Nicht wir machen das Kino, es ist die Welt, die uns als ein schlechter Film vorkommt.« (ebd.: 224) In diesem Sinne scheint alles darauf hinzudeuten, dass »an diese Welt, an dieses Leben zu glauben unsere schwierigste Aufgabe geworden ist oder die Aufgabe einer Existenzweise, die es auf unserer Immanenzebene heute zu entdecken gilt« (WP: 85). Die scheinbare Unmöglichkeit sich von der Banalität unserer Zeit zu lösen, ist aber gerade das, was heute zum Denken zwingt, was uns auffordert, ein neues Bild des Denkens zu zeichnen. »Wir müssen uns dieses Unvermögens bedienen, um ans Leben zu glauben und die Identität von Denken und Leben zu finden« (ZB: 222), um Denken im Denken entstehen zu lassen und damit etwas Neues, neue Existenz- und Lebensweisen zu denken. Wie sieht Deleuze zufolge dieses neue Bild des Denkens also aus? Und inwiefern geht es über das klassische Bild des Denkens hinaus? Das klassische Bild des Denkens setzt voraus, dass Denken von Natur aus dem Wahren zugewandt ist. Das heißt, dass es eine natürliche Beziehung zur Wahrheit unterhält, dabei allerdings immer auch Gefahr läuft, auf 11

EINLEITUNG

die eine oder andere Weise (Abbild, Irrtum, Illusion) von seinem bereits vorgezeichneten Weg hin zur Wahrheit abzukommen. Kann ein Denken, das sich an der Wahrung des Wahren orientiert aber auch ein Denken sein, das über sich selbst hinausweist, sich selbst erneuert, mit sich selbst bricht und seine eigene Wahrheit radikal in Frage stellt, um etwas anderes, etwas absolut Neues zu denken? Und sind Bedingungen, unter denen es möglich ist, etwas wahrheitsgetreu (wieder) zu erkennen (Rekognition), auch Bedingungen, die es erlauben, etwas Neuem zu begegnen, sich auf etwas anderes, noch unbekanntes einzulassen? Gerade das muss bezweifelt werden! Im ersten Kapitel werden wir erfahren, dass ein neues Bild des Denkens nach Deleuze drei Charakteristika aufweist. Das erste Charakteristikum besteht im völligen Verzicht auf eine natürliche Beziehung zwischen Denken und Wahrheit. Das Denken ist nicht von Natur aus dem Wahren zugewandt. Sein Weg zur Wahrheit ist nicht de jure vorgezeichnet und es genügt nicht ein wenig guter Wille und eine passende Methode, um diesen Weg auch tatsächlich zu gehen. Das Problem besteht folglich nicht mehr darin, im Denken dem Wahren zu entsprechen, also »ein von Natur und de jure präexistentes Denken methodisch zu lenken oder zu applizieren, sondern darin, das noch nicht Existierende zu erzeugen […]. Denken heißt erschaffen, es gibt keine andere Schöpfung, aber erschaffen heißt zunächst, ›denken‹ im Denken zu zeugen.« (DW: 191 f.) Denken ist primär Schöpfung und nicht Wille zur Wahrheit: Genese des Neuen und nicht Korrespondenz (oder Kohärenz) mit der Wahrheit. Auch in den weiteren Kapiteln wird sich zeigen, dass es genau diese Umkehrung ist, die nicht nur den Versuch, die transzendentale Kritik zu erneuern, sondern auch alle ethischen, politischen und gesellschaftstheoretischen Überlegungen von Deleuze leitet. Wenn es durch keinen Willen zur Wahrheit bestimmt wird, dann ist klar, dass das Denken auch nie allein und durch sich selbst denkt. Es ist keine abstrakte Möglichkeit, die mit etwas guten Willen bloß ergriffen werden muss. Das zweite Charakteristikum des neuen Bildes besteht darin, dass Denken nicht von allein und willkürlich geschieht, sondern immer erst erzwungen werden muss. Denken offenbart damit das Abenteuer des Unwillkürlichen, denn es hängt nicht mehr von einem guten Willen ab, sondern muss angesichts einer Gewalt, von der es in Besitz genommen wird, notwendigerweise immer erst geschaffen werden. Das Problem besteht dann nicht mehr darin, ein Denken zu orientieren, es methodisch zu lenken oder seine Rechtmäßigkeit zu garantieren, »sondern darin, ganz einfach dahin zu gelangen, etwas zu denken« (DW: 191), etwas, das über die Banalität des Alltags hinausweist. Das Denken wird aktiv, sobald es in sich die absolute Notwendigkeit verspürt, wirklich etwas zu denken. Kommt das Denken aber erst dann in Bewegung, wenn es gezwungen oder genötigt wird, sich seiner eigenen Ohnmacht 12

EINLEITUNG

zu stellen, dann muss in dieser Ohnmacht gleichzeitig auch die größte Macht (puissance) des Denkens liegen. Denken ist schöpferisch, sobald es an seine Grenzen und darüber hinaus getrieben wird. Nur auf diese Weise belebt sich das transzendentale Feld. Das Undenkbare ist nicht mehr etwas, das sich dem Denken äußerlich entgegensetzt, sondern etwas, das im Inneren selbst des Denkens aufblitzt, es innerlich ausrichtet und insofern in einer wesentlichen Beziehung zu diesem steht. Das dritte Charakteristikum eines neuen Bildes des Denkens besteht darin, dass die Fragen und Probleme, die im klassischen Bild des Denkens noch als Zustand de facto, d.h. als akzidentielle oder vorübergehende Schwierigkeiten ausgeblendet wurden, nun die »Struktur de jure des Denkens« (DW: 191) konstituieren. Das Negative des Denkens ist dann nicht mehr der Irrtum oder das, was im klassischen Bild des Denkens seinen Platz übernommen hat (Abbild, Aberglaube, Illusion, Entfremdung, Wahnsinn etc.), sondern das Undenkbare, das allerdings zu denken gibt und an dem sich die ganze Macht des Denkens zu beweisen hat. Diese problematische Struktur des Denkens hält sich an keine Repräsentationsordnungen mehr, es sind vielmehr die Wendungen und Windungen des Unbestimmten, die darin zum Ausdruck kommen. Ist das Denken nun aber nicht mehr an eine korrespondierende Ordnung des Seins gebunden, sondern an unbestimmte Ereignisse, die gewaltsam im Denken aufsteigen, dann sind die Begriffe Wichtigkeit, Singularität oder Ausgezeichnetes dem Begriff der Wahrheit vorzuziehen. Damit wird die aporetische, platonische Frage Was ist…? auch zugunsten ganz anderer Fragen verabschiedet, Fragen, die nicht mehr das Eine der Wahrheit, sondern das Mannigfaltige eines Ereignisses betreffen: welche? wo? wann? wie? oder wieviel? Das Denken trifft damit auf »ein Gewimmel von Differenzen […], einen Pluralismus von freien, wilden oder ungezähmten Differenzen, […] die über die Vereinfachungen der Grenze oder des Gegensatzes hinweg fortbestehen« (DW: 76). Mehr noch: die Differenz an sich selbst wird damit zum Dreh- und Angelpunkt eines neuen, bildlosen Bildes des Denkens. Freilich hat sich die Philosophie in ihrer Geschichte ständig mit dem Problem der Differenz beschäftigt. Aber, so die These von Deleuze, die Differenz wurde dabei immer der Identität untergeordnet oder nur ausgehend von dieser Instanz erfasst. Im zweiten Kapitel werden wir sehen, dass sich das klassische Bild des Denkens von Platon bis Aristoteles, von Leibniz bis Hegel und von Kant bis Husserl durch seine Unfähigkeit auszeichnet, die Differenz an sich selbst zu denken. Wenn wir die Differenz denken, tendieren wir nämlich dazu, sie der Identität im Begriff, der Ähnlichkeit in der Wahrnehmung, dem Gegensatz der Prädikate oder der Analogie im Urteil unterzuordnen. Was Deleuze dem klassischen Bild des Denkens vorwirft, ist, dass in diesem zwar eine begriffliche Differenz vorgesehen ist, nicht aber ein Begriff der Differenz. Im klassischen Bild 13

EINLEITUNG

des Denkens ist die Differenz immer schon der Ordnung der Repräsentation eingeschrieben und damit den Erfordernissen der Repräsentation unterstellt, kann also nur in etwas anderem, nicht aber an sich selbst gedacht werden. Das heißt, die nicht-repräsentierbare Differenz bleibt diesem Bild zufolge undenkbar. Mehr noch: Um die Ordnung der Repräsentation nicht zu gefährden, muss sie systematisch ausgegrenzt werden. Seit Platon ist es dabei stets dieselbe selektive Prüfung, mit der die Differenz entweder gerettet oder verbannt wird, mit der sie entweder in die intelligible Ordnung der (organischen oder orgischen) Repräsentation eingeschrieben oder in den maßlosen Abgrund der Kontingenz verabschiedet wird. Die Ausgrenzung der inkommensurablen Differenz begründet laut Deleuze die Welt der Repräsentation. Wie wir sehen werden, ist es vor allem Kant und die bis heute noch richtungsweise Tradition der Transzendentalphilosophie, die Deleuze in diesem Zusammenhang nicht bloß einer kritischen Untersuchung unterzieht, sondern auch radikal erneuern will. Denn obgleich diese mit der Entdeckung des transzendentalen Feldes die klassische Metaphysik verabschiedet und insofern für einen regelrechten Epochenbruch sorgt, bewahrt sie dennoch das, was sie eigentlich verabschieden wollte: die Trans­zendenz. Diese wird zwar nicht mehr in der Unendlichkeit Gottes, wohl aber in der Endlichkeit des Subjekts verortet, wo sie in Gestalt des Cogito immer noch dasselbe Identitätsprinzip geltend macht. Das denkende Subjekt perpetuiert also das alte Prinzip, kleidet es lediglich in ein neues, modernes Gewand. Durch Beibehaltung dieses Prinzips wird die Differenz aber weiterhin der Vorherrschaft des Begriffs unterworfen. Mit dem Postulat eines Gemeinsinns und eines gesunden Menschenverstandes sorgt das Identitätsprinzip nämlich dafür, dass Denken ausschließlich an das Modell der Rekognition gebunden bleibt, dass es auf die Banalität empirischer Alltagserfahrung beschränkt bleibt und dass seine Abenteuer lediglich auf die Erkenntnis des bereits Bekannten hinauslaufen. Wie soll aber etwas Neues im Denken entstehen, wenn das Undenkbare, das, was wirklich zu denken gibt, von vornherein entweder auf bereits Bekanntes zurückgeführt und somit verklärt oder gänzlich in den Abgrund der Kontingenz verabschiedet wird? Von daher auch die Notwendigkeit, ein neues Bild des Denkens zu zeichnen, ein Denken, das nicht mehr dem banalen Rekognitionsproblem der Repräsentation unterworfen ist, sondern sich dem stellt, was zum Denken zwingt: der Inkommensurabilität der Differenz an sich. Wenn die moderne Repräsentation ihren Ausgangspunkt in der Instanz des Cogito findet, und wenn die Differenz an sich selbst durch die damit unterstellte Identität entweder unterdrückt oder als rein begriffliche Differenz verklärt wird, dann muss die Erneuerung der transzendentalen Kritik, die Deleuze unablässig einfordert, bei der Konzeption der transzendentalen Bedingungen auch auf das Cogito und seine 14

EINLEITUNG

Transzendenz verzichten. Die Aufgabe, die Deleuze sich vorgibt, besteht demnach darin, »ein transzendentales Feld ohne Subjekt« (SG: 333) zu entwerfen, also transzendentale Bedingungen aufzuzeigen, die das Denken gerade nicht an die Identität im Cogito verweisen, sondern an die inkommensurablen Differenzen der Erfahrung knüpfen, an Differenzen, die zunächst nur empfunden werden können und das Projekt von Deleuze damit als transzendentalen Empirismus qualifizieren. Vor diesem Hintergrund wird, wie Nietzsche und Freud bereits gezeigt haben, »das Denken nicht mehr von einem freiwilligen Ich gelenkt […], sondern von unfreiwilligen Kräften« (EI: 201) produziert: Es ist Wirkung von Maschinen, »eine Sache von Produktion, nicht von Adäquation« (DW: 199). Die Bedingungen müssen folglich Bedingungen einer wirklichen Genese sein, nicht abstrakte Bedingungen, die, wie bei Kant, das Denken bloß in seiner hypothetischen Form bedingend begleiten: »Ein neues Bild des Akts des Denkens, seines Funktionierens, seiner Genese im Denken selbst, genau das ist es, wonach wir suchen.« (EI: 201) Im dritten Kapitel wird deshalb der Begriff der Differenz vorgestellt, den Deleuze in seinen frühen Arbeiten bei Bergson findet. Um zu den Dingen selbst zurückzufinden und insofern von den leeren Allgemeinheiten der Repräsentation abzusehen, fordert dieser uns auf, ein Ding in seiner inneren Differenz, ausgehend von seiner konstitutiven Veränderung, seiner Bewegung oder Dauer zu begreifen. Es gibt dann keine Dinge mehr, die sich verändern, es gibt Dinge nur noch als Veränderung. Veränderung ist demnach nicht mehr etwas, was einem Ding attribuiert wird, sie ist das Substantielle oder das Ding selbst. Mit dem, was Bergson Intuition nennt, findet Deleuze außerdem eine Methode, die nicht nur die Differenz sucht, sondern auch das transzendentale Projekt von Kant aufgreift und erneuert. Sie erlaubt nämlich, ein Ding nach reinen Tendenzen zu unterteilen, nach Formen, die nur de jure ausweisbar sind. Durch die Methode der Intuition lassen sich Deleuze zufolge damit auch Bedingungen aufdecken, die im Unterschied zu denen von Kant nicht mehr solche einer bloß möglichen, sondern einer wirklichen Erfahrung sind, Bedingungen, die nicht umfassender sind als das, was sie bedingen – die dem Bedingten, dem Ding in seiner inneren Differenz, sozusagen auf den Leib geschnitten sind. Damit feiert Deleuze Bergson auch als großen Erneuerer der transzendentalen Kritik: Es gibt »bei Bergson nicht die geringste Unterscheidung zwischen zwei Welten […], sondern lediglich zwei Bewegungen oder vielmehr zwei Richtungen ein und derselben Bewegung« (EI: 39). In die eine der beiden Richtung wird die Bewegung kontinuierlich fortgesetzt und erneuert, in die andere Richtung wird sie aber immer wieder angehalten und unterbrochen. Dabei ist es aber die erste Richtung, die Richtung, in der Neues geschaffen wird, die der anderen Richtung grundsätzlich vorausgeht und damit primär ist. 15

EINLEITUNG

Im Zentrum von Bergsons Denken steht demnach die Frage nach der Genese des Neuen. So ist laut Deleuze auch davon auszugehen, dass sein »gesamtes Werk ein lyrisches Thema durchzieht: ein Lied zu Ehren des Neuen, des Unvorhersehbaren, der Erfindung, der Freiheit.« (EI: 42) Eben deshalb interessiert sich Deleuze auch für seine Philosophie und erkennt in dieser wichtige Ansätze für ein neues Bild des Denkens – und das zu einer Zeit, in der Bergsons Werk noch von allen Seiten gemieden und mitunter sogar als »Irrationalismus« gebrandmarkt wurde. Wie wir sehen werden, ist es von Anfang an die Frage nach der Genese des Neuen, die Deleuze in seiner überaus originellen Auseinandersetzung mit Bergson leitet. Dies ist insofern wichtig, als dass Deleuze in Anschluss an Bergson nicht nur seinen eigenen Begriff der Mannigfaltigkeit erschafft, sondern auch die Unterscheidung zwischen Aktuellem und Virtuellem konzipiert, die diesen Begriff vorbereitet. Das heißt: In seiner Auseinandersetzung mit dem Werk von Bergson gelangt Deleuze zu nichts Geringerem als der absolut wegweisenden Unterscheidung zwischen einer aktuellen und einer virtuellen Mannigfaltigkeit, eine Unterscheidung, die in seinen späteren Arbeiten und vor allem auch in seiner Zusammenarbeit mit Félix Guattari den Ausgangspunkt einer jeden Überlegung bilden wird (z.B. bei der Unterscheidung zwischen arboreszenten und rhizomatischen Mannigfaltigkeiten in Tausend Plateaus). Allerdings wird die Frage nach der Genese des Neuen nicht um ihrer selbst willen gestellt. Das Neue ist sicherlich kein Selbstzweck und erst recht kein abstraktes Problem für helle Köpfe. Denn wenn Deleuze bei so unterschiedlichen Autoren wie Lukrez, Hume, Nietzsche, Spinoza oder auch Foucault wichtige Elemente für ein neues Bild des Denkens findet, dann insofern, als dass diese Autoren auf ganz ähnliche Art und Weise jede Verklärung, Negation und Entwertung des Lebens anprangern. Im vierten und fünften Kapitel werden wir deshalb sehen, warum die frühen philosophiehistorischen Studien von Deleuze »auf die große Einheit Spinoza-Nietzsche« (U: 197) zulaufen mussten. Es wird sich zeigen, dass die Frage nach der Genese des Neuen stets auch eine Lebensfrage ist und dass die Bedingungen, unter denen Neues entsteht, für Deleuze unweigerlich auf die immanenten Kriterien einer vitalistischen Gesellschaftskritik verweisen. Die Philosophien von Spinoza und Nietzsche sind, wie Deleuze gerne betont, zwar voll kritischer und zerstörerischer Macht, »aber diese Macht entspringt immer einer Bejahung, einer Freude, einem Kult der Bejahung und der Freude, einem Anspruch des Lebens gegen diejenigen, die es verstümmeln und martern. Für [­Deleuze] ist es die Philosophie selbst.« (EI: 207) Von daher ist vielleicht auch seine – oft zugespitzte oder überzogene – Kritik an Hegel zu verstehen. Laut Deleuze verkörpert sich das Unternehmen, das Leben mit allen Lasten zu beladen, »es mit dem Staat und der Religion zu versöhnen, den Tod in es einzuschreiben, das monströse Unternehmen, es dem Negativen zu 16

EINLEITUNG

unterwerfen, das Unternehmen des Ressentiments und des schlechten Gewissens« – das alles verkörpert sich »philosophisch in Hegel« (EI: 208). Demgegenüber verschreibt sich Deleuze ganz dem ethischen und politischen Unternehmen, das Leben dort zu befreien, wo es eingekerkert ist, es sozusagen fliehen zu lassen: Fluchtlinien zu ziehen. Alles was Deleuze geschrieben hat, muss in genau diesem Sinne auch als »vitalistisch« (U: 209) verstanden werden. Das Leben steht dabei in einer engen Beziehung mit dem Denken. Mit Nietzsche muss das Bild, das immer schon vom Denken gezeichnet wurde, nun auch als »dogmatisches oder orthodoxes Bild« und mehr noch als »moralisches Bild« (DW: 172) verstanden werden. Denn das Bestreben, die Differenz zu verneinen oder sie zu retten, indem man sie repräsentiert und der Identität des Begriffs einschreibt, ist ein zutiefst moralisches Unternehmen. Es läuft nämlich darauf hinaus, das Leben selbst zu verneinen, über das Leben, so wie es ist, zu urteilen, es an höheren Werten (der Erkenntnis, dem Guten, dem Wahren) zu bemessen, um darin die Differenz und dadurch auch den Zufall, das Werden oder das Mannigfaltige konsequent auszugrenzen. Man braucht sich also »nicht darüber zu wundern, daß die Differenz verflucht erscheint, als Verstoß oder Sünde, als die der Sühne anheimgestellte Gestalt des Bösen« (ebd.: 50). Dem Sinnlichen wurde zum Beispiel immer schon unterstellt, eine »wahre« Erkenntnis zu gefährden, stets wandelhaft und damit unzuverlässig zu sein, also bloß etwas vorzutäuschen, was nicht »der« Wahrheit entspricht: und gerade deshalb auch zur Sünde zu verleiten! Vor Nietzsche ist es aber bereits Spinoza, der diesen moralischen Unterton im Denken anprangert. In einer beispielslosen Verbindung von Ontologie und Ethik wendet sich Spinoza dabei vor allem gegen die transzendente Grundausrichtung im klassischen Bild des Denkens. Im Unterschied zur moralischen Sichtweise richtet die Ethik das Leben nämlich nicht mehr daran, was es seinem abstrakten Wesen nach immer und überall sein soll, sondern daran, was es seiner konkreten Macht (puissance) nach hier und jetzt tun kann. Damit verändert sich alles: Denn die Existenzweisen des Lebens werden nicht mehr nach transzendenten Kriterien oder höheren Werten beurteilt. Spinoza und Nietzsche haben gezeigt, dass »Existenzweisen nach immanenten Kriterien beurteilt werden müssen, nach ihrem Gehalt an ›Möglichkeiten‹, an Freiheit, Schöpferkraft, ohne jede Berufung auf trans­zendente Werte.« (SG: 327) Das Neue, das damit gemeint ist, verweist aber gerade nicht auf einen Zustand, der – etwa im Sinne der banalen »Neuheit« gegenwartskapitalistischer Kulturprodukte – einen vorangehenden (und damit bereits veralteten Zustand) verabschiedet und ersetzt, sondern auf eine Intensivierung des (nicht-organischen) Lebens, d.h. auf eine Multiplikation seiner Möglichkeiten und auf die entsprechende Vermehrung seiner Macht (puissance). Kurz: Das Neue impliziert 17

EINLEITUNG

die intensive Variation einer virtuellen Quantität. Die Begriffe Neues, Leben und Macht können bei Deleuze als Synonyme verstanden werden. Daraus ergibt sich ein ethisches und vor allem auch politisches Problem, ein Problem, das Deleuze in allen seinen Arbeiten beschäftigen wird: Unter welchen Bedingungen können neue Möglichkeiten des Lebens geschaffen werden, neue Möglichkeiten, durch die das Leben befreit und mit einer spinozistischen Freude erfüllt, seine Macht also nachhaltig vermehrt wird? Und unter welchen Bedingungen werden derartige Möglichkeiten dagegen begrenzt, wird das Leben belastet und entwertet, wird es von dem getrennt, was es kann und in seiner Macht damit nachhaltig vermindert? Vor allem Herrschaftsmächte (pouvoir) berufen sich auf letzteres, »auf die Minderung des Vermögens anderer, auf die Verdunkelung der Welt« (KK: 196), auf passive oder reaktive Existenzweisen, in denen das Leben verneint und unter Anklage gestellt wird, nur um den Herrschaftsanspruch etablierter Autoritäten zu legitimieren. Im Unterschied dazu zeichnen sich aktive Existenzweisen aber dadurch aus, dass in ihnen das Leben, also auch die Differenz, der Zufall, das Werden und das Mannigfaltige bejaht werden, womit auch das Denken selbst seinem reaktiven Zustand entrissen wird und endlich aktiv werden kann. Das Leben wäre die aktive Kraft des Denkens, aber dieses die bejahende Macht des Lebens. Beide gemeinsam, sich wechselseitig ziehend, gingen sie in dieselbe Richtung, im Gleichschritt, vorwärts im Bemühen um eine bisher noch beispiellose Schöpfung. Denken würde bedeuten: entdecken, neue Möglichkeiten des Lebens erfinden. (NP: 111)

Im Unterschied zum klassischen Bild des Denkens, das von Platon bis Kant (und noch darüber hinaus) gezeichnet wurde, definieren nicht mehr das Wahre und das Falsche die Kategorien, an denen der Sinn des Denkens sich zu orientieren hat. Bevor es richtig oder falsch ist, ist Denken entweder aktiv oder reaktiv: vornehme Bejahung oder gemeine Verneinung. Die vornehme Aktivität des schöpferischen Denkens und die gemeine Inaktivität des stupiden Denkens bilden nach Deleuze folglich die beiden tragenden Kategorien eines neuen Bildes des Denkens. Eine reaktive Existenzweise zeichnet sich durch das Inaktivsein des Denkens aus, den Umstand, noch nicht zu denken, sich von den etablierten Wahrheiten und den gängigen »Neuheiten« seiner Zeit dominieren zu lassen. Dagegen zeichnet sich eine aktive Existenzweise dadurch aus, dass das Denken darin gezwungen wird, aktiv zu werden, anders und vor allem gegen seine Zeit zu denken, also unzeitgemäß zu sein, um damit neue Lebensmöglichkeiten zu erfinden. Der ethische Gesichtspunkt ist aber nicht bloß auf die »große Einheit Spinoza-Nietzsche« (U: 197) beschränkt, sondern orientiert Deleuze auch in seiner Auseinandersetzung mit dem Werk von Michel Foucault. 18

EINLEITUNG

Wenn vor dem Hintergrund einer historischen Kritik nicht nur auf die Universalität eines begründenden Subjekts, sondern auch auf die Universalität der Vernunft, der Geschichte oder der Wahrheit zu verzichten ist, und es insofern auch keine transzendenten Kriterien mehr gibt, auf die man sich stützen kann: dann muss sich die Untersuchung zwangsläufig an immanenten Kriterien ausrichten. Wie zuvor schon Spinoza und Nietzsche, so orientiert sich in den Augen von Deleuze nun auch Foucault an »Kriterien des Lebens« (SG: 327), um konkrete Existenzweisen rein immanent danach zu bewerten, ob darin neue Lebensmöglichkeiten eher vermindert oder vermehrt werden. Weit mehr noch aber als Spinoza und Nietzsche übersetzt Foucault diese ethische Differenz im Rahmen seiner historischen Kritik in ein komplexes Spiel gesellschaftlicher Kräftekonstellationen. Im sechsten Kapitel werden wir zunächst sehen, wie Deleuze diesen Kräftekonstellationen in Foucaults Begriff der Aussage nachspürt. Es wird sich zeigen, dass das, was aus völlig unbedeutenden Wörtern, obskuren Texten und gänzlich überholten Propositionen eine Aussage macht, niemals etwas ist, was »hinter« diesen Elementen im Verborgenen agiert (z.B. eine Ideologie), sondern etwas, was in diesen Elementen mit voller Positivität zum Ausdruck kommt: Es ist das absolute Außen, das als Ereignis gewaltsam im Innen des Denkens aufblitzt. Dieses Außen verweist dabei auf die grundlegende Instabilität aller Kräfteverhältnisse, auf fortlaufend wechselnde und problematische Konstellationen und damit auf das unablässige Werden der Kräfte. Und es ist dieses Werden, das, gerade weil es Probleme macht, als drängende Problematik in den einzelnen Aussagen und den damit verbundenen Wissensformen historisch zum Ausdruck kommt. Kommt es darin aber historisch zum Ausdruck, dann weil es stets einen spezifischen Integrationsprozess gibt, durch den diffuse und heterogene Kräfteverhältnisse miteinander verknüpft und in historischen Formen des Sagbaren (und Sichtbaren) fixiert werden. Zum Beispiel zieht das ohrenbetäubende Schweigen um den Sex, wie Foucault im ersten Band von Sexualität und Wahrheit erklärt, im viktorianischen Zeitalter eine transversale Kraftlinie durch völlig heterogene Bereiche (Medizin, Psychiatrie, Erziehung, Justiz usw.) und integriert damit eine Reihe lokaler Konfrontationen und Kräfteverhältnisse um das drängende Problem der Sexualität (diskursives Ereignis) – was umgekehrt wieder im Hinblick auf das damit implizierte Leben und seine Möglichkeiten zu bewerten ist (z.B. als »Sorge um sich«). Dieses Verhältnis zwischen Formen und Kräften, das bei Foucault zu findet ist, hat Deleuze jedenfalls stark »beeinflußt« (U: 130). So muss etwa der Unterschied zwischen molaren und molekularen Mannigfaltigkeiten, den er gemeinsam mit Guattari in Tausend Plateaus ausarbeitet, in vielerlei Hinsicht auch parallel zu Foucaults Unterscheidung zwischen den großen, historischen Formen des Wissens und den 19

EINLEITUNG

mikrophysikalischen Kräfteverhältnissen der Macht gelesen werden. Vor allem zeigt sich dabei, dass das, was Foucault unter Mikrophysik versteht, alles andere als eine bloße Miniaturisierung darstellt. Es ist vielmehr von einer Wesensdifferenz zwischen einer makrophysikalischen (oder molaren) und einer mikrophysikalischen (oder molekularen) Realität auszugehen: Während die Makrophysik nämlich mit diskreten Körpern zu tun hat, beschäftigt sich die Mikrophysik mit kontinuierlichen Differenzen (Kraftfelder, Zustandsänderungen, kritische Schwellen usw.). Dennoch besteht aber eine wechselseitige Immanenz zwischen beiden Realitäten. Es gibt also nicht zwei getrennte Welten: Was auf der einen Ebene geschieht, wird auf der anderen Ebene durch Integrationslinien fixiert. Ohne wandelhafte Kräfteverhältnisse hätten die historischen Formen nie etwas zu integrieren und würden insofern leer bleiben; umgekehrt blieben die Kräfteverhältnisse aber »nur virtuell, potentiell, instabil, flüchtig, molekular« (FO: 56), würden sie nicht in ein makro­ skopisches Ganzes eingehen, das in der Lage ist, ihnen eine Form (und eine Funktion) zu verleihen. Es gibt aber auch noch eine gewisse Transzendenz zwischen den Formen des Wissens und dem Werden der Kräfte. Zwar gibt es dabei nichts, was jenseits oder »hinter« den historischen Formen agiert: es ist aber das unablässige Werden der Kräfte, ihre permanente Veränderung, die sich in diesen Formen als Ereignis des Außen ausdrückt. Die Instabilität der Kräfteverhältnisse und die plötzlichen, unabsehbaren Transformationen, die damit einhergehen, insistieren als richtungsweisende Problematik in den historischen Formen, die fortlaufend lösend daraus hervorgehen. Vor diesem Hintergrund drängt sich – nach den beiden Begriffen des Denkens und des Lebens – nun auch ein neuer Begriff von Gesellschaft auf. Im siebten Kapitel werden wir sehen, dass Gesellschaft nach D ­ eleuze immer ausgehend von dem zu konzipieren ist, was sich darin an absolut Neuem ereignet. Es ist, in anderen Worten, davon auszugehen, »daß innerhalb einer Gesellschaft die Fluchtlinien und -bewegungen das Primäre sind« (D: 189). Fluchtlinien gehen aber weniger auf große historische Momente zurück, sie zeichnen sich vielmehr in den kleinen, meist unscheinbaren und unbemerkten Ereignissen ab, in molekularen Verschiebungen, deren ganze Bedeutung immer erst ex post einzuschätzen ist und deren »Größe« vor allem darin besteht, gegen ihre Zeit und zugunsten einer künftigen Zeit zu wirken, »Faktum und Recht des Unzeitigen, Unzeitgemäßen« (ebd.: 190) zu sein und damit neue Möglichkeiten zu schaffen, die ex ante noch undenkbar waren. Das heißt, dass es, wie Deleuze im Anschluss an Nietzsche sagt, »hinter den lauten Ereignissen die kleinen stillen Ereignisse gibt, die gleichsam die Herausbildung neuer Welten« (EI: 189) vorzeichnen. Während sich laute oder große Ereignisse also historisch einordnen lassen, verändern die kleinen oder stillen Ereignisse eine gegebene Ordnung durch ihre Irreduzibilität von Grund 20

EINLEITUNG

auf. Insofern kann auch noch das kleinste Ereignis »ein instabiler Zustand [sein], der ein neues Feld von Möglichkeiten öffnet« (ebd.: 220). Das Mögliche, von dem hier die Rede ist, ist deshalb auch keine prädeterminierende Struktur, es »besteht nicht bereits vorher, es wird durch das Ereignis geschaffen« (SG: 221) – und womöglich durch ein anderes Ereignis wieder abgeschafften. Das Ereignis und die Möglichkeiten, die damit produziert werden, können deshalb auch nicht einfach im Sinne eines vulgären Positivismus nacherzählt oder chronologisch einreiht werden. Deleuze ist, um hier mit Foucault zu sprechen, vielmehr ein »glücklicher Positivist« (F|AW: 182). Denn das Ereignis impliziert eine tiefgründige Bewegung, die, indem sie neue Möglichkeiten schafft, das virtuelle Gefüge einer Gesellschaft grundlegend umgestaltet. Die Horizonte, die damit eröffnet werden, mögen rückblickend, unter der Last historischer Schichten, zwar verschwinden, im Augenblick ihrer Genese implizieren sie aber stets die Anbahnung neuer Trajektorien des Werdens. Immer gibt es etwas, das einer gesellschaftlichen Ordnung entwischt, ein plötzliches oder unerwartetes Ereignis, das eine Fluchtlinie zieht und damit eine disruptive Bewegung in Gang bringt, durch welche die betreffende Ordnung unterminiert wird. Entweder gelingt es der Gesellschaft, sich neu zu ordnen, um die Fluchtlinie dadurch zu blockieren, zu verlangsamen oder umzuleiten, oder die eingeleitete Fluchtbewegung wird nach und nach überall ausströmen, alles mit sich reißen und die Gesellschaft grundlegend transformieren. Eine gesellschaftliche Ordnung wie der Kapitalismus flieht beispielsweise »auf allen Seiten, es leckt, und dann dichtet der Kapitalismus die Risse ab, macht Knoten, sorgt für Verklammerungen, um zu verhindern, daß die Fluchten zu zahlreich werden. Ein Skandal hier, eine Kapitalflucht dort usw.« (EI: 406) Selbst die älteste und beständigste Ordnung ist nur so gut, wie es dieser gelingt, sich im Hinblick auf das Neue, das sich darin ereignet, adaptiv abzuwandeln. Es ist wie in Lewis Carrolls Alice hinter den Spiegeln, wo die Rote Königin der neugierigen Alice erklärt, dass man in ihrem Land so schnell rennen muss, wie man kann, nur um seine alte Stellung zu halten. Das heißt, auch dann, wenn das Ereignis des Neuen bereits im »Keim« (T|GN: 299) erstickt wird, muss eine Ordnung sich dennoch relativ verändern, um die bedrohliche Fluchtbewegung abzufangen – z.B. durch die Modulation turbulenter Strömungen in »Kontrollgesellschaften« (U: 255) oder durch einen reflexiven Umgang mit neuen Gefahren in »Risikogesellschaften« (Beck: 1986). Das Ereignis des Neuen betrifft also nicht nur revolutionäre Umordnungen, es schreibt auch die Geschichte der bestehenden Ordnungen. Auch in bestehenden Ordnungen gibt es immer etwas, ein Außen, das sich einer repräsentationslogischen Einordnung entzieht, etwas, das drängende Probleme bereitet, das insistierende Fragen aufwirft und das zu denken gibt. In anderen Worten: Fluchtlinien »begründen« Gesellschaft, indem sie permanent einen irreduziblen 21

EINLEITUNG

Abgrund oder »Ungrund« (DW: 343) aufsteigen lassen, im Hinblick auf den Gesellschaft immer wieder von neuem zu gründen ist oder vielmehr zu Grund gehen muss. In jedem Fall ist also von Fluchtlinien auszugehen. Gleichzeitig müssen aber auch andere Linien berücksichtig werden, alle Linien, die, der Fluchtbewegung zuwiderlaufend, die Risse und Brüche wieder abdichten. Das macht die Frage nach der Genese des Neuen zu einer äußerst komplizierten Angelegenheit. Denn das Ereignis des Neuen beschränkt sich damit nicht nur auf vorauseilende Fluchtlinien, meint also nicht bloß einen freien und schöpferischen Augenblick, sondern impliziert immer ein komplexes und multilineares Geschehen: eine multidimensionale Mannigfaltigkeit. Darin sind zwei Typen von Linien zu unterscheiden: Fluchtlinien, die, indem sie transformierende Prozesse vorzeichnen, eine Mannigfaltigkeit tendenziell öffnen und erneuern; und Segmentierungslinien, die, indem sie konservierende Prozesse vorzeichnen, Prozesse also, die auf Fluchtbewegungen immer nur reagieren, dieselbe Mannigfaltigkeit tendenziell abschließen und damit eine bestimmte Ordnung erhalten. Dabei werden wir sehen, dass diese Unterscheidung, die Deleuze und Guattari in Anti-Ödipus und mehr noch in Tausend Plateaus ausarbeiten, grundsätzlich auf die Unterscheidung der beiden Mannigfaltigkeitstypen bei Bergson zurückgeht. Aus diesem Grund ist damit auch »nicht die geringste Unterscheidung zwischen zwei Welten« gemeint. Es geht vielmehr um »zwei Richtungen ein und derselben Bewegung« (EI: 39), zwei reine Tendenzen, die laut Bergson in jedem konkreten Phänomen de jure nachzuzeichnen sind. Da sie Richtungen ein und derselben Bewegung vorzeichnen, können die entsprechenden Linien auch niemals hierarchisch überhöht werden. Sie begegnen sich eher auf »Augenhöhe«, auf einer gemeinsamen Ebene der Immanenz. Auf dieser flachen Ebene gibt es nur noch »Dinge, die sich kreuzen, niemals Dinge« (D: 155), die auf etwas anderes, Höheres oder Transzendentes reduziert werden können: auf etwas, das sozusagen »hinter« den Dingen agiert. Das heißt, »das Eine, das Ganze, das Wahre, das Objekt, das Subjekt sind keine Universalien« (SG: 326) mehr, sondern selbst nur noch Linien, die »singuläre Prozesse der Vereinheitlichung, Totalisierung, Verifizierung, Objektivierung, Subjektivierung« (ebd.) vorzeichnen. Als Prozesse übersteigen sie dabei nie die Fluchtbewegung, die sie involviert, nehmen in der entsprechenden Mannigfaltigkeit also nur eine Dimension unter anderen ein. Sie haben darin auch »keinerlei Privileg, es sind oft Sackgassen oder Umzäunungen, die das Wachstum der [Mannigfaltigkeit], die Verlängerung und Entwicklung ihrer Linien, die Produktion von Neuem verhindern« (U: 212 f.). Damit stehen sie für das, was der Bewegung einer Mannigfaltigkeit von innen her zuwiderläuft, für reaktive Segmentierungslinien, die aktive Fluchtlinien verknoten und festbinden. Kurz: sie stehen für die »Flucht vor der 22

EINLEITUNG

Flucht«. Alles spielt sich folglich zwischen den Linien ab. Was Deleuze und Guattari »mit vielfältigen Namen belegen: Schizo-Analyse, MikroPolitik, Pragmatik, Diagrammatismus, Rhizomatik, Kartographie, hat zum alleinigen Objekt das Studium dieser Linien in den Gruppen und in den Individuen« (D: 176). Für eine sozialwissenschaftliche Untersuchung liegen die entscheidenden Differenzen damit nicht mehr zwischen Individuellem und Kollektivem oder zwischen einer Mikro- und Ma­ kroebene, sie »liegen vielmehr zwischen den Linien« (ebd.: 199), die Individuen und Kollektive gleichermaßen durchziehen.1 Die Unterscheidung zwischen den beiden Linientypen läuft aber auf »keinen Dualismus, keinen ontologischen Dualismus von hier und dort, keinen axiologischen Dualismus von Gut und Böse« (TP: 35) hinaus. Vor allem in Tausend Plateaus geht es nicht so sehr darum, einfach »Arten von Dualitäten festzustellen« (EI: 405), sondern zu sehen, wie die Linien sich in ganz konkreten Phänomenen ineinanderfügen, wie genau sie sich darin wechselseitig voraussetzen, wie also »das eine im anderen verankert ist, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt« (ebd.). Die Unterscheidung der Linientypen verweist deshalb lediglich auf einen provisorischen Dualismus, der im Hinblick auf konkrete Phänomene immer in einen Pluralismus aufzulösen ist. Denn es geht darum, den Linien, die sich in ganz unterschiedlichen Prozessen abzeichnen, über alle Windungen und Wendungen zu folgen und ihre äußerst komplexen Verflechtungen dabei sorgfältig nachzuzeichnen. Immer muss also gezeigt werden, was genau eine bestimmte Fluchtbewegung auslöst, wohin sie ausströmt, was sie involviert, mit wem sie sich verbündet, wer sich ihr entgegenstellt, wie es ihr gelingt, sich dennoch durchzusetzen und warum sie sich am Ende sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Jedes Mal ist eine pluralistische 1 Im Anschluss an Gabriel Tarde könnte man mit Deleuze und Guattari hier vielleicht von einer »hydraulischen« (Tarde 2015: 10) Soziologie sprechen. Diese würde davon absehen, einer beweglichen Materie völlig mechanisch eine unbewegliche Form aufzupressen und damit das alte hylemorphe Schema fortzuführen, um vielmehr die immer schon kontinuierlichen Übergänge von laminaren zu turbulenten und von turbulenten zu laminaren Strömungen quer durch Individuen und Kollektive hindurch nachzuverfolgen (z.B. als komplexes Wechselspiel von Mode und Tradition in der Mikrosoziologie von Tarde). Eine hydraulische Soziologie beschäftigt sich demnach mit komplexen Strömungsgeschehen, um zu zeigen, wie singuläre Ordnungsmuster darin durch konstruktive und destruktive Interferenzen zwischen heterogenen Strömungen immer wieder entstehen und vergehen. In diesem Sinne kann »das Soziale als etwas Fluides« (Latour 2010: 31) betrachtet werden. Vor allem die ANT, die sowohl an Tarde wie auch an Deleuze anknüpft, weist in diese Richtung (Mol/Law 1994; Latour 2010). Eine ähnliche Idee entwickelt aber auch Zygmunt Bauman (2003) mit seinem Begriff einer flüchtigen Moderne.

23

EINLEITUNG

»Interpretation« im Sinne von Nietzsche gefordert: »die Bewertung von Diesem und Jenem, die heikle Gewichtung der Dinge und ihres Sinns, die Einschätzung der Kräfte, die zu jedem Zeitpunkt die Aspekte eines Dings und seiner Verhältnisse zu den anderen definieren« (NP: 8). Eine Flucht kann also nicht pauschal beurteilt werden: sie erfordert einen pluralistischen Perspektivismus. Zum Beispiel kann sich eine Fluchtlinie mit einer anderen Fluchtlinie kreativ verbinden, sie kann von dieser aber auch behindert, gebremst oder blockiert werden. Ebenso kann eine Fluchtlinie eine gegenläufige Linie, eine Linie der Segmentarität, benötigen, um sich durchzusetzen oder ihre Wirkungen zu stabilisieren – selbst die Errungenschaften der Flucht müssen nämlich bewahrt und stabilisiert werden. Und eine solche Stabilisierung kann ihrerseits dann wieder zu unerwarteten Fluchtbewegungen in ganz anderen Bereichen und unter ganz anderen Gesichtspunkten führen. Nicht zuletzt kann eine Fluchtlinie, obgleich sie in einer Hinsicht neue Möglichkeiten schafft, in einer anderen Hinsicht gewisse Möglichkeiten vernichten. Und »wer sagt uns denn, dass wir auf der Fluchtlinie nicht das wiederfinden, vor dem wir flohen?« (D: 49) Eine Fluchtlinie kann nämlich, und darin sehen D ­ eleuze und Guattari auch das zentrale politische Problem revolutionärer Bewegungen, immer auch zu festen und harten Segmenten zurückführen, sie kann austrocknen oder sich versteinern und unter gewissen Umständen sogar in ihr Gegenteil umschlagen und »eine reine Zerstörungs- und Vernichtungslinie« (TP: 314) werden. Nur ein pluralistischer Perspektivismus bringt die ganze Komplexität eines solchen multilinearen Geschehens zum Vorschein – eine Wahrheit, die »als Wahrheit der Relativität (und nicht als Relativität des Wahren)« (FA: 40) zu begreifen ist. Vor diesem Hintergrund kann man auch nicht sagen, dass eine Linie »zwangsläufig gut oder schlecht wäre« (TP: 309), dass Fluchtlinien, entlang welcher Neues entsteht, automatisch »gut« sind – auch der Faschismus war seinerzeit etwas Neues, eine intensive Fluchtbewegung, hat aber keine Lebensmöglichkeiten geschaffen, sondern führte, ganz im Gegenteil, geradewegs in den »Tod« (ebd.: 314). Deleuze möchte die Genese des Neuen also auf keinen Fall axiologisch überhöhen. Wenn er aber trotzdem eine »affirmativ gefärbte Faszination für Fluchtlinien« (van Dyk 2012: 196) an den Tag legt, dann aus dem Grund, dass dem Neuen grundsätzlich ein Primat: das Primat des Unzeitgemäßen zukommt. Angesichts dieses Primats müssen in jedem Fall aber immer »der spezifische Wert, die jeweilige Geltung der vorhandenen Fluchtlinien herausgefunden werden« (D: 164). Es muss also ad hoc herausgefunden werden, »wie sie hier mit einem negativen Zeichen versehen sind, dort eine Positivität erlangen, aber zurechtgeschnitten, umgesetzt in aufeinanderfolgende, distinkte Prozesse, wie sie anderswo in schwarze Löcher versinken oder in den Dienst einer Kriegsmaschine treten oder Antrieb zu einem Kunstwerk werden.« (ebd.: 127) Trotz dieser Ambivalenz orientiert 24

EINLEITUNG

sich die Beurteilung von Fluchtlinien aber nicht an transzendenten Kriterien, sondern richtet sich im Anschluss an Spinoza und Nietzsche nach immanenten Kriterien oder Kriterien des Lebens: nach der intensiven Variation einer virtuellen Quantität. Denn für Deleuze ist das Ereignis des Neuen in erster Linie »eine Lebensfrage. Das Ereignis schafft eine neue Existenz, es erzeugt eine neue Subjektivität (neue Beziehungen zum Körper, zur Zeit, zur Sexualität, zum Milieu, zur Kultur, zur Arbeit ...)« (SG: 221) und produziert damit neue Lebensmöglichkeiten – sofern diese in zweiter Linie nicht wieder »abgewürgt« (ebd.) werden. In jedem Fall muss deshalb nachgewiesen werden, wie die Linien verlaufen, wie sie sich verbinden oder verfangen, welcher Typus sich am Ende durchsetzt: ob die entsprechende Existenzweise also eher aktiv oder reaktiv ist. Es geht laut Deleuze folglich darum, komplexe Linienbündel oder »gemischte Zustände zu analysieren […]. Dazu muss man Linien folgen und sie entwirren« (U: 125), muss man ihre »historische und vielgestaltige Konfrontation« (SG: 127) oder Verflechtung nachzeichnen. Im achten Kapitel werden wir sehen, dass das, was Deleuze gemeinsam mit Guattari als Gefüge (agencement) bezeichnet, genau dieses multilineare Geschehen, diese multidimensionale Mannigfaltigkeit auf den Begriff bringen soll: »Eine Mannigfaltigkeit ist genau das, was wir Gefüge nennen. Ein Gefüge, gleich welcher Beschaffenheit, umfasst notwendigerweise Linien harter und binärer Segmentarität genauso wie […] Flucht- oder Neigungslinien.« (D: 185) Und das ist natürlich keine Rückkehr zum Dualismus. Denn die beiden Linientypen, Tendenzen oder »Bewegungen sind ineinander verwoben, das Gefüge umschließt die eine wie die andere, alles geschieht zwischen den beiden« (ebd.: 103), im Gefüge, auch wenn sie nie symmetrisch sind, da die eine, die Fluchtbewegung, der anderen immer grundlegend vorausgeht. Gerade weil in einem Gefüge die zentralen Unterscheidungen nun aber zwischen den Linien verlaufen, spielen ganz andere Unterscheidungen – z.B. zwischen Natur und Kultur, Materie und Zeichen oder Mensch und Maschine – auch nur noch eine untergeordnete Rolle, und zwar als Endpunkte oder oberflächliche Resultate einer segmentären oder dualisierenden Linie. Ungeachtet der tradierten Unterscheidungen ist ein Gefüge somit etwas, was »sehr heterogene Elemente zusammenhält« (SG: 171). In einem Gefüge verbinden sich also fortlaufend und unbegrenzt semiotische und materielle, künstliche und natürliche oder technische und lebendige Elemente. Dabei werden wir allerdings sehen, dass ein Gefüge nicht einfach als statische Anordnung von heterogenen Teilen zu verstehen ist – ein Ansatz, der beispielsweise durch den Begriff der Assemblage bei Manuel DeLanda nahegelegt wird –, sondern eher eine dynamische Bewegung mit zwei gegenläufigen Richtungen impliziert. Als primäre Richtung ist es einzig und allein die Fluchtlinie, die, indem sie einem offenen Horizont entgegeneilt, feste oder harte Segmente 25

EINLEITUNG

aufbricht, ihnen semiotische und materielle, natürliche und künstliche oder technische und lebendige Teilchen entreißt und diese, ungeachtet ihrer kategorischen Differenz, als ununterscheidbare Wirkmächte in einem Gefüge miteinander verbindet. Was auf einer Fluchtlinie zählt, sind also nicht die üblichen repräsentationslogischen Taxonomien, sondern ausschließlich: die Konsistenz zusammensetzbarer Elemente. Das heißt, in ihrer gemeinsamen Flucht müssen diese Elemente zusammen »funktionieren«. Gerade weil sie ihre Elemente den »Territorien in der Repräsentation« (DW: 59) entreißt, um sie rhizomartig zu verbinden, ist die Fluchtlinie »eine Deterritorialisierung« (D: 57). Und weil sie Elemente losgelöst von ihren Ordnungen in einem »gemeinsamen Funktionszusammenhang« (ebd.: 145) verzahnt, setzt sie eine abstrakte Maschine in Gang – ein Konnexionsprozess, den Deleuze und Guattari auch als Begehren (désir) bezeichnen und mit Macht und Affekt im Sinne von Spinoza und Nietzsche in Beziehung setzen. Das heißt: »kein Gefüge ohne […] Fluchtlinien« (D: 102) und keine heterogenen Elemente ohne gemeinsame Fluchtbewegung. Gleichzeitig und untrennbar damit verbunden führt eine gegenläufige Richtung im Gefüge aber wieder zurück zu festen Segmenten, zu Ordnungen und Dualismen. Was die Fluchtlinie in einer umfassenden Deterritorialisierung verbindet, wird durch Segmentierungslinien also wieder reterritorialisiert: d.h. vereinheitlicht, homogenisiert, organisiert, eingeordnet, unterteilt, getrennt, dichotomisiert oder dualisiert. Gesellschaftliche Phänomene implizieren also stets ein komplexes Gefüge von Linien, entlang welcher völlig heterogene Elemente gleichzeitig miteinander multipliziert und untereinander dividiert werden. Insofern zählt nur noch das, was sich im Gefüge abspielt, also zwischen den beiden Richtungen: in einer molekularen Zwischenwelt, die Deleuze und Guattari als Schauplatz einer Mikropolitik beschreiben. Weil die Fluchtlinie dabei aber primär ist und es ein Gefüge niemals ohne eine Fluchtlinie gibt, ist die darauf abzielende Frage nach der Genese des Neuen im Hinblick auf gesellschaftliche Phänomene immer vorrangig zu behandeln. Schlussendlich stellt sich an dieser Stelle auch die Frage, wie dem Werk von Deleuze zu begegnen ist. Denn sein Schaffen zeichnet sich durch einen außergewöhnlichen Stil aus, der einen einfachen und schnellen Zugang erheblich erschwert. Deleuze spricht nämlich, indem er andere für sich sprechen lässt. Er führt regelrechte Fürsprecher ins Feld, die sein Anliegen zur Sprache bringen sollen, ganz egal, ob es sich nun um Verbündete (Bergson, Spinoza, Nietzsche, Foucault oder Tarde) oder um Gegner (Kant, Husserl oder Hegel) handelt. Oder in den Worten von Deleuze: »Ich brauche meine Fürsprecher, um mich auszudrücken, und sie würden sich nie ohne mich ausdrücken: Man arbeitet immer zu mehreren, auch wenn das nicht sichtbar ist.« (U: 181) Zu diesen Fürsprechern 26

EINLEITUNG

zählen alle Autoren, mit denen sich Deleuze in seinen philosophiehistorischen, aber auch in seinen literarischen (z.B. Franz Kafka), ästhetischen (z.B. Francis Bacon), filmtheoretischen (z.B. Orson Welles) oder wissenschaftstheoretischen (z.B. Albert Lautman) Überlegungen auseinandergesetzt hat.2 Und dies trifft ebenfalls auf Guattari zu, mit dem die Auseinandersetzung im Unterschied zu den anderen Autoren vielleicht nicht über Bücher, dafür aber über Briefe verlaufen ist: »Félix Guattari und ich sind einer des anderen Fürsprecher.« (ebd.)3 Dabei ist es Deleuze zwar ausgesprochen wichtig, dass ein Autor immer alles das, was er ihn sagen lässt, auch tatsächlich gesagt hat, aber gleichzeitig auch, dass »alle Arten von Dezentrierungen, Verschiebungen, Brüche, versteckte Äußerungen« (U: 15) im Werk des betreffenden Autors zum Vorschein kommen. Beispielsweise kann nicht bestritten werden, dass Bergson häufig vom »Virtuellen« spricht, doch die Art und Weise, in der Bergson dieses Wort gebraucht, bleibt nicht nur unsystematisch, sondern geht teilweise auch bis ins Widersprüchliche und kann insofern auch nicht als ein eigenständiger Begriff in seinem Werk gelten. Ungeachtet dessen präsentiert Deleuze das Virtuelle aber als das zentrale Element im Denken von Bergson und erschafft damit einen neuen, d.h. seinen eigenen Begriff des Virtuellen – und damit auch einen ganz neuen Bergson. Rückblickend bemerkt Deleuze auch, dass seine Studie zu Bergson geradezu »exemplarisch« (ebd.) für seine übliche, verfremdende Herangehensweise an seine Referenzautoren oder Fürsprecher ist. Außerdem greift Deleuze für gewöhnlich auch auf einzelne Begriffe von bestimmten Autoren zurück, um diese dann in das Werk anderer Autoren hineinzulesen und darin weiterzuentwickeln. Beispielsweise wird der Begriff der Univozität so zum Grundpfeiler der ganzen Philosophie von Spinoza, obgleich diese Bezeichnung, die Deleuze eigentlich bei Duns Scotus findet, kein einziges Mal in den Texten von Spinoza 2 Tatsächlich handelt es sich – vielleicht mit der Ausnahme von Virginia Woolf, die gelegentlich erwähnt wird – bei diesen Fürsprechern auch ausschließlich um Autoren, um Männer. 3 Zumindest die Zusammenarbeit zu Anti-Ödipus war so eingerichtet. Dabei bestand die Aufgabe von Deleuze vor allem darin, die theoretischen Skizzen, inhaltlichen Anmerkungen, Literaturverweise, Tagebucheinträge usw., die Guattari ihm in Briefen zukommen ließ, in ein zusammenhängendes, »akademisches« Werk zu übersetzen. Darüber hinaus ging Deleuze, der, wie Stéphan Nadaud (20006) anmerkt, auch für die Endfassung des Manuskripts verantwortlich war, auf Änderungsvorschläge von Guattari nur selten ein. Vor diesem Hintergrund ist auch Guattaris Tagebucheintrag vom 13. Oktober 1973 zu verstehen: »I still have no control over this other world of systematic academic work, secret programming over dozens of years. […] I don’t really recognize myself in the A.O. [Anti-Oedipus].« (Guattari 2006: 404)

27

EINLEITUNG

auftaucht. Die große Leistung von Deleuze besteht somit darin, durch wechselseitige Befruchtungen, durch die Art und Weise, in der er den einen Autor – oft auch inkognito – im Werk eines anderen Autors auftreten lässt, kreativ über seine Fürsprecher hinauszugehen und damit seine eigenen Begriffe zu erschaffen. Zum Beispiel erhält der Begriff der Univozität, wie er bei Duns Scotus zu finden ist, im Denken von Spinoza eine ganz neue Wendung: Das univoke Sein ist hier nicht länger neutralisiert, also bloß gedacht, sondern wird expressiv, wird im Rahmen einer radikalen Philosophie der Immanenz Gegenstand reiner Bejahung. Damit schafft Deleuze seinen eigenen Begriff der Univozität, einen Begriff, der, indem er den vermeintlichen Vorrang der Substanz gegenüber den Modi verabschiedet, auch noch über Spinoza selbst hinausweist. Vielleicht bringt Foucault diesen unorthodoxen Stil von Deleuze am besten zum Ausdruck: Die Philosophie nicht als Denken, sondern als Theater: wo auf vielen Bühnen flüchtige, kurzlebige Szenen gespielt werden; wo die Gebärden einander Zeichen geben, ohne einander zu sehen; wo unter der Maske des Sokrates plötzlich das Lachen des Sophistes erklingt; wo Spinozas Modi ein dezentriertes Rondo anführen, während die Substanz sie wie ein irrer Planet umkreist; […]. Duns Scotus streckt den Kopf aus dem kreisrunden Fensterchen des Schilderhauses am Luxembourg; er hat einen gewaltigen Schnurrbart; es ist der von Nietzsche, als Klossowski verkleidet. (F|DE2: 222)

Überall ein Spiel von Masken und hinter jeder Maske immer noch eine weitere Maske: Spinoza mit Leibniz mit Nietzsche mit Bergson usw. Der Stil von Deleuze zwingt also sicherlich, alle Autoren zu Wort kommen zu lassen, die er als Fürsprecher für sich in Szene setzt: Kant, Bergson, Spinoza, Nietzsche, Foucault oder Tarde. Und genau das soll in den nächsten Kapiteln geschehen – und zwar unter größtmöglicher Aussparung des entsprechenden Jargons. Dabei sollte aber auch klar sein, dass es stets Deleuze ist, der »hinter« diesen Autoren steht. Wenn diese Autoren auf den folgenden Seiten also zu Wort kommen, dann werden sie das sagen, was Deleuze sie sagen lässt. Um fernab der philosophiehistorischen Exerzitien und dem doxographischen Geplänkel, das seine Rezeption für gewöhnlich bestimmt, aber dennoch die ganze Originalität von Deleuze hervorzuheben, die Krümmung, die er der Immanenzebene verleiht, muss in erster Linie das Problem berücksichtig werden, auf das Deleuze sich bezieht, wenn er seine Fürsprecher in Szene setzt und dadurch seine ganz eigenen Begriffe fabriziert: Dieses Problem ist das der Genese des Neuen. Wenn es etwas gibt, das ihn zeit seines Lebens beschäftig hat, dann ist es nämlich der Versuch, »die Bedingungen zu finden, unter denen sich etwas Neues ereignet« (SG: 290). Im Folgenden soll demnach gezeigt werden, dass sich die Frage nach der Genese des Neuen wie 28

EINLEITUNG

ein roter Faden durch das gesamte Werk von Deleuze zieht, dass es also genau diese Frage ist, die sowohl seine frühen philosophiehistorischen Arbeiten wie auch seine späten sozial und politiktheoretischen Arbeiten orientiert. Ganz egal also, ob das Neue bei Deleuze nun als Notwendigkeit im Denken, als Intensivierung des Lebens oder als Un(ter)grund einer Gesellschaft thematisiert wird – stets ist es die Frage nach der Genese des Neuen, die den Dreh- und Angelpunkt aller Überlegungen bildet.

29

1. Das dogmatische Bild des Denkens 1.1 Das Modell der Rekognition Unter welchen Bedingungen kann Neues entstehen? Um diese Fragen angemessen zu beantworten, muss zunächst geklärt werden, was überhaupt gemeint ist, wenn wir von »Bedingungen« sprechen. Der Begriff der Bedingungen geht auf Kant zurück: Er ist es, der diesen Begriff im Rahmen seines kritischen Projekts auf bahnbrechende Weise in die Geschichte der Philosophie einführt. Gerade deshalb nimmt Kant auch eine zentrale, wenn auch ambivalente Rolle im Werk von Deleuze ein. Im Unterschied zu Hegel, der darin ständig »die Rolle des Verräters« (EI: 208) spielt, wird Kant mit seinem »genialen Werk« (ebd.: 200) zwar als philosophiehistorisches Ereignis bejubelt, schlussendlich aber dennoch als »Feind« (U: 15) attackiert. In diesem Sinne sind auch jene frühen, philosophiehistorischen Studien zu deuten, die Differenz und Wiederholung (1968), das frühe philosophische Hauptwerk von Deleuze, richtungsweisend vorbereiten. In seinen Monografien zu Hume (1957), Nietzsche (1962), Bergson (1966) oder Proust (1964) verfolgt Deleuze nämlich erklärtermaßen das Ziel, das kritische Projekt, das Kant, so seine These, unvollendet gelassen hat, zu realisieren.1 Aber selbst in späteren Arbeiten, in denen Kant keine explizite Rolle mehr spielt, ist dessen Präsenz immer noch spürbar. Dies zeigt sich besonders an den beiden Bänden zu Kapitalismus und Schizophrenie, die in Zusammenarbeit mit Félix Guattari entstanden sind. So hatte der erste Band, Anti-Ödipus (1972), laut Deleuze noch »eine kantianische Ausrichtung, er sollte eine Art Kritik der reinen Vernunft auf der Ebene des Unbewußten sein« (SG: 294), wohingegen sich der zweite Band, Tausend Plateaus (1980), bereits »auf eine postkantianische (wiewohl entschieden antihegelianische) Bestrebung« (ebd.) berief. Wie begegnet Deleuze nun aber seinem liebsten 1 Zum Beispiel wird Nietzsche nicht nur überraschenderweise in die »Geschichte des Kantianismus« (NP: 58) eingereiht, es wird ihm zudem auch eine »halb verborgene Rivalität gegenüber dem Kantianismus« (ebd.) attestiert: »Daß Kant die Kritik überhaupt verfehlt habe, ist allererst ein nietzschescher Gedanke. Nietzsche aber traut keinem anderen als nur sich selbst zu, die wahre Kritik zu begreifen und verwirklichen zu können. Dieses Projekt ist von allergrößter Bedeutung für die Geschichte der Philosophie.« (ebd.: 97) Stellt Deleuze nun aber nicht nur Nietzsche, sondern auch alle anderen Autoren, denen er sich in seinen frühen philosophiehistorischen Arbeiten zuwendet, in eine Tradition, die mehr oder weniger über den Kantianismus hinausweist, dann soll damit natürlich vor allem sein eigenes Projekt definiert werden.

31

DAS DOGMATISCHE BILD DES DENKENS

Feind? Und welche Rolle spielt dabei der Begriff der Bedingung, den Deleuze bei Kant findet? Die transzendentale Revolution, die Kant einleitet, betrifft primär die Art und Weise, in welcher der Begriff des Phänomens begriffen wird.2 Die klassische Metaphysik begreift das Phänomen noch als sinnlichen Schein einer intelligiblen Wesenheit, oder, um mit Platon zu sprechen, als Schatten, der von einem Licht geworfen wird, das allerdings im Hintergrund verborgen bleibt. Mit Kant wird das Phänomen nicht mehr als Schein, sondern als Erscheinung begriffen. Wenn das Phänomen im Sinne eines Scheins auf ein Wesen verweist, das sich darin bloß andeutet, verweist das Phänomen im Sinne einer Erscheinung nun ausschließlich auf die epis­ temischen Bedingungen, die für das Erscheinen selbst angegeben werden können. Damit rückt das Subjekt der Erkenntnis bekanntermaßen in den Mittelpunkt. In der klassischen Metaphysik ist das Subjekt aufgrund seiner Kreatürlichkeit noch dazu verdammt, dem trügerischen Schein der Dinge zu erliegen. Die Wahrheit, die seinem Denken zukommt, wird an der relativen Nähe bemessen, die es in Bezug auf Gott und seinen absoluten und unendlichen Begriff aller Dinge vorweisen kann. Der Schauplatz, an dem die Frage des Wissens entschieden wird, liegt bei Kant aber nicht mehr in Gott, sondern wechselt vielmehr ins Subjekt. Wissen kann nicht mehr durch eine transzendente Instanz (Gott) abgesichert werden, sondern verweist auf subjektive Bedingungen, die den Menschen und sein Denkvermögen in den Mittelpunkt stellen: Damit inauguriert Kant das moderne Denken. Aber gerade dieser große Austausch, die Art und Weise, in der sich der Mensch also an die Stelle Gottes setzt, ist überaus problematisch und markiert, wie sich noch zeigen wird, auch den Hauptkritikpunkt, den Deleuze gegen Kant und den Kantianismus ins Feld führt. Inwiefern stellt die Setzung des Subjekts im Denken von Kant für Deleuze also ein Problem dar? Kant geht bekannterweise sowohl über den dogmatischen Rationalismus als auch den Empirismus seiner Zeit hi­ naus. Denn beide Traditionen führen die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt noch auf eine prästabilierte Harmonie zurück, die über das endliche Subjekt hinausweist, um jenseits davon von einer transzendenten Instanz, von Gott oder der Natur begründet zu werden. Bei Kant 2 Tatsächlich findet Deleuze gerade im Empirismus von David Hume erste Schritte hin zu einer transzendentalen Revolution. Denn Hume weist darauf hin, dass es Handlungen gibt, die über das Gegebene hinausgehen. Zum Beispiel dann, wenn aus der gewohnten Erfahrung geschlossen werden kann, dass sich etwas »immer« oder »notwendigerweise« auf eine bestimmte Art und Weise verhält. »Hume war in der Tat der erste, der die Erkenntnis durch eine solche Überschreitung definierte. Nicht wenn ich feststelle ›ich habe tausendmal die Sonne aufgehen sehen‹, erkenne ich, sondern wenn ich urteile ›die Sonne wird morgen aufgehen‹, ›jedesmal wenn das Wasser 100C hat, beginnt es notwendigerweise zu kochen.‹« (KP: 37)

32

DAS MODELL DER REKOGNITION

verweist die Frage nach der Entsprechung von Subjekt und Objekt nun aber nicht mehr auf eine transzendente Instanz, ganz gleich wie diese schlussendlich auch konzipiert wird, sondern auf den Menschen selbst. »Bei Kant neigt also das Problem der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt dazu, sich zu verinnerlichen: es wird das Problem einer Beziehung zwischen subjektiven Vermögen, die sich wesentlich unterscheiden (rezeptive Sinnlichkeit und tätiger Verstand)«. (KP: 43) Vor Kant ist es noch Gott, der in seiner Unendlichkeit dafür sorgt, dass alles, was in Raum und Zeit gegeben ist, auch stets einem individuellen Begriff entspricht. Denn als Schöpfer ist gerade er es, der gibt oder nicht gibt, in dem die Dinge, so wie sie sind, also immer schon begriffen sind. Mit Kant wird das Verhältnis zwischen dem, was in Raum und Zeit geben ist, und dem, was darin begriffen werden kann, nun aber auf den Menschen in all seiner Endlichkeit bezogen. Aus diesem Grund stimmen raumzeitliche und begriffliche Formen nun aber nicht mehr überein, sondern unterscheiden sich grundsätzlich voneinander.3 Kant stellt das Problem damit auf vollkommen neue Art und Weise: Da die raumzeitliche Ordnung der Phänomene nicht mehr selbstverständlich auf die begriffliche Ordnung des Denkens reduziert werden kann, da beide Ordnungen also nicht mehr automatisch im unendlichen Verstand Gottes zusammenfinden, muss eine kohärente Beziehung zwischen den beiden Ordnungen erst gefunden werden. Wie ist Erkenntnis möglich? Dass diese Frage nun in Bezug auf ein gesetzgebendes Subjekt und nicht mehr einer trans­ zendenten Instanz geschieht, macht Kants Kopernikanische Wende aus. Die Grundidee dessen, was Kant seine »Kopernikanische Revolution« nennt, besteht in folgendem: die einer Harmonie zwischen Subjekt und Objekt (letztlich Übereinstimmung) durch das Prinzip einer notwendigen Unterwerfung des Objekts unter das Subjekt zu ersetzen. Die wesentliche Entdeckung ist, daß das Erkenntnisvermögen gesetzgebend ist, oder genauer, daß es etwas Gesetzgebendes im Erkenntnisvermögen gibt. […]. Als erstes lehrt uns die Kopernikanische Revolution, daß wir es sind, die befehlen. (ebd.: 41 f.)

Es ist die konstitutive Endlichkeit des Menschen, die ihm einen gesetzgebenden Status verleiht. Sein Erkenntnisvermögen ist dabei insofern 3 Im Unterschied zu Leibniz besteht Kant darauf, dass die Ordnung der Begriffe nicht auf jene von Raum und Zeit reduziert werden kann. Man kann an zwei Gegenstände denken, die zwar den selben Begriff haben, die aber dennoch getrennt voneinander existieren, gerade weil der eine hier und der andere dort, der eine links und der andere rechts, der eine unten und der andere oben ist. Dieser Sachverhalt verdankt sich der konstitutiven Endlichkeit des Menschen. Ein klassisches Beispiel hierfür sind die beiden Hände des Menschen, die zwar nahezu identisch begriffen werden können, räumlich aber dennoch nicht übereinstimmen, d.h. nicht übereinandergelegt werden können.

33

DAS DOGMATISCHE BILD DES DENKENS

gesetzgebend, als dass er die aktive Synthese dessen bildet, was sich ihm passiv als sinnliche Mannigfaltigkeit präsentiert. Gerade deshalb kann Kant in der Kritik der reinen Vernunft auch verkünden, dass es die Welt ist, die uns gegeben ist und damit unserem Denken entsprechen muss – nicht umgekehrt. Diese Behauptung setzt nun aber einen bestimmten Begriff der Synthesis voraus. Dieser Begriff stammt ursprünglich zwar nicht von Kant, wird von diesem aber erstmals als Bedingung a priori von Erkenntnis herangezogen. Die Synthese weist zunächst zwei Aspekte auf. Zum einen die Apprehension, die dafür verantwortlich ist, die sinnliche Mannigfaltigkeit in Teile zu zerlegen, die sowohl räumlich als auch zeitlich als primäre Eindrücke voneinander unterschieden werden können. Zum anderen die Reproduktion, die dafür sorgt, dass die Teile, die von der Apprehension nacheinander als einzelne Eindrücke produziert werden, auch beibehalten oder erinnert werden, um dann gemeinsam mit allen anderen Eindrücken eine vollständige Bestimmung von Raum und Zeit zu ermöglichen. Beide Aspekte der Synthesis, Apprehension wie Reproduktion, werden dabei durch das Vermögen der Einbildungskraft vollzogen, das somit für die Bestimmung eines bestimmten Raumes und einer bestimmten Zeit zuständig ist. Nachdem eine sinnliche Mannigfaltigkeit einmal erfasst und aufbewahrt wurde, müssen die einzelnen Teile aber noch irgendwo zusammenfinden. Dies geschieht, indem sie auf die Form eines Gegenstandes bezogen werden, wo sie als Teile eines Ganzen vereint werden. Dabei handelt es sich nun aber nicht um die Form dieses oder jenes Gegenstandes im Besonderen, sondern um die leere Form eines Gegenstandes im Allgemeinen, d.h. um das, was Kant einen Gegenstand = X bezeichnet. Weil dieser Gegenstand aber nicht selbst in der Erfahrung vorkommt – also selbst nicht wahrgenommen werden kann, sondern zur Wahrnehmung immer erst hinzukommt, um die Mannigfaltigkeit sinnlicher Eindrücke zu vereinen – muss er als Bedingung von Erfahrung vorausgesetzt werden. Ohne seine leere Form wäre es nicht möglich, eine raumzeitliche Verschiedenheit auf diesen oder jenen Gegenstand der Erfahrung zu vereinen. Es wäre nicht möglich, von einem Phänomen zu sagen, es sei beispielsweise ein Löwe, wäre nicht zuerst die leere Form des Gegenstands = X gegeben, in Bezug auf welchen eine räumliche und zeitliche Verschiedenheit (z.B. »lange Haare, die im Wind wehen«, »ein Brüllen, das die Luft erschüttert«, »ein wuchtiger Lauf«, »eine Antilope auf der Flucht« usw.) vereinigt und folglich als empirischer Begriff spezifiziert werden kann. In anderen Worten: Ohne die vorausgesetzte Form eines leeren Gegenstandes, der als Bezugspunkt dient, wäre es nicht möglich, eine solche Verschiedenheit als Löwe zu qualifizieren, da nichts in dieser Verschiedenheit die Gegenständlichkeit erahnen lässt, auf die hin sie sich schließlich vereinigt (das »Brüllen« könnte ebenso gut im Wind verloren 34

DAS MODELL DER REKOGNITION

gehen; die »langen Haare« könnten sich mit den Sträuchern der Steppe vermischen usw.). Wir sehen die »langen Haare«, hören das »Brüllen« oder spüren seinen »wuchtigen Lauf« usw. – als Gegenstand erfahren wir den Löwen dabei aber nicht. Wenn er als Gegenstand oder als Objekt aber nicht selbst in der Erfahrung enthalten ist, stellt sich die Frage, woher er kommt. Es wurde bereits erwähnt, dass das Phänomen Bedingungen voraussetzt, unter denen es sich dem Subjekt präsentiert: unter denen es also in Bezug auf ein Subjekt gegeben ist. Das bedeutet, dass Vorstellungen, die von der Einbildungskraft produziert werden, ihre formale Einheit zunächst in ihrer Zugehörigkeit zu ein und demselben Bewusstsein finden, in dem sie zusammentreffen, und zwar »auf eine Weise, daß das ›ich denke‹ sie begleitet« (KP: 45).4 Wenn eine räumliche und zeitliche Mannigfaltigkeit immer einem Bewusstsein gegenübersteht, kann sie in Bezug darauf auch als Gegenstand begriffen werden. Wir erfahren zwar den Löwen nicht als Gegenstand, sehen aber seine »langen Haare«, hören sein »Brüllen« oder spüren seinen »wuchtigen Lauf«. Weil also alle diese Vorstellungen in uns zusammenfinden, können wir sie auch als Gegen-Stand reflektieren. Das Objekt schlechthin ist immer Objekt eines Subjekts: Irgendein Objekt ist das Korrelat des »ich denke« oder der Einheit des Bewußtseins, es ist Ausdruck des Cogito, seiner formalen Objektivierung. Daher lautet die (synthetische) Formel des Cogito eigentlich: ich denke mich, und indem ich mich denke, denke ich irgendein Objekt, auf das ich eine vorgestellte Mannigfaltigkeit beziehe. (ebd.)

Unter Berufung auf das Cogito wird also ein reines Ich konzipiert, welches seinem Gegenstand als logisch formale Identität konstitutiv vo­ rausgeht, und damit auch schon den transzendentalen Ausgangspunkt jeder Erkenntnis markiert. Nur aufgrund ihres Bezugs auf ein Bewusstsein kann sich die Diversität der Erfahrung auch in einem Gegenstand dieses Bewusstseins reflektieren. Nach der Apprehension und der Reproduktion stoßen wir hier auf den dritten Aspekt der Synthese: das, was Kant als Rekognition bezeichnet. Darunter ist zu verstehen, dass die verschiedenen Vorstellungen einer 4 Die betreffende Aussage in Kants Kritik der reinen Vernunft ist berühmt: »Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was garnicht gedacht werden könnte, welches ebensoviel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein. Diejenige Vorstellung, die vor allem Denken gegeben sein kann, heißt Anschauung. Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine notwendige Beziehung auf das: Ich denke, in demselben Subjekt, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird.« (Kant 1956: B132)

35

DAS DOGMATISCHE BILD DES DENKENS

sinnlichen Mannigfaltigkeit notwendigerweise in einem ganz bestimmten Punkt zusammenfinden und vereinigt werden. Dieser Punkt hat allerdings zwei Seiten: Zum einen müssen sich die diversen Vorstellungen in Bezug auf einen Gegenstand (Gegenstand=X) vereinigen; zum anderen muss die Einheitlichkeit dieses Gegenstandes aber erst durch die Zugehörigkeit der Vorstellungen zu einem reinen Ich (transzendentale Einheit der Apperzeption) begründet werden.5 Was unter Rekognition zu verstehen ist, setzt also eine zweifache Identität voraus: Identität im Subjekt und Identität im Objekt. Zum einen »die angenommene Identität eines Ich als Einheit und Grund aller Vermögen« (DW: 286), d.h. »es ist ein einziges und selbes Ich, das wahrnimmt, sich vorstellt, sich erinnert, weiß usw., und das atmet, das schläft, das geht, das isst« (LS: 105). Zum anderen »die Identität des Objekts überhaupt, auf das sich alle Vermögen beziehen sollen« (ebd.), d.h. »es ist dasselbe Objekt, das ich sehe, das ich rieche, das ich schmecke, das ich berühre, dasselbe, das ich wahrnehme« (ebd.). Diese doppelte Identität bildet die conditio sine qua non einer jeden Rekognition: Es muss ein und dasselbe Objekt sein, das ich sehe, rieche, schmecke, berühre, höre, erinnere oder begreife. Und vor allem muss es immer ein und dasselbe Subjekt sein, dem dieses Objekt gegenübersteht und das alle seine Vermögen – Sehen, Riechen, Schmecken, Empfinden, Hören, Erinnern, Begreifen – auf dieses Objekt hin zusammenarbeiten lässt. Ein Rekognitionsakt würde misslingen, wenn das, was ich gerade sehe, gleichzeitig nicht auch das wäre, was ich gerade berühre, erinnere usw. Die Rekognition beansprucht immer eine bestimmte Form der Zusammenarbeit, einen ursprünglichen Gemeinsinn aller Vermögen. Und dieser Gemeinsinn wird gerade durch Berufung auf die Instanz des Cogito begründet: Es ist ein identisches Ich, durch das die verschiedenen Vermögen nicht nur ausgeübt werden, sondern sich auch auf ein identisches Objekt beziehen können, das diesem Ich reflexiv gegenübersteht. Ohne diesen durch die Identität des Ichs begründeten Gemeinsinn wäre das, was ich empfinde nicht gleichzeitig das, was ich dabei höre, sehe oder erinnere – das jeweilige Ich wäre stets ein anderes: es wäre gespalten und in diesem Sinne »schizophren«. Das Modell der Rekognition setzt demnach die doppelte Identitätsform im Cogito als konstitutives Prinzip voraus. »Bei Kant wie bei Descartes ist es die Identität des Ichs im Ich denke, die die Übereinstimmung aller Vermögen und ihren 5 In diesem Sinne erklärt Kant, »daß, da wir es nur mit dem Mannigfaltigen unserer Vorstellungen zu tun haben, und jenes X, was ihnen korrespondiert (der Gegenstand), weil er etwas von allen unsern Vorstellungen Unterschiedenes sein soll, für uns nichts ist, die Einheit, welche der Gegenstand notwendig macht, nichts anderes sein könne, als die formale Einheit des Bewußtseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen«. (Kant 1956: A105)

36

DAS MODELL DER REKOGNITION

Einklang hinsichtlich der Form eines als dasselbe vorausgesetzten Objekts begründet« (DW: 174) und den damit postulierten Gemeinsinn für das Modell der Rekognition absichert.6 Die doppelte Identität im Gemeinsinn reicht jedoch nicht, um das Modell der Rekognition gänzlich abzusichern. Denn »so wenig wir das universale Ich sind, so wenig stehen wir dem universalen Objekt überhaupt gegenüber« (DW: 286). Aus diesem Grund muss der Gemeinsinn durch eine komplementäre Instanz vervollständigt werden, die »das Objekt überhaupt als dieses oder jenes zu bestimmen und das in eine derartige Objektmenge versetzte Ich zu individualisieren vermag« (ebd.). Wenn der Gemeinsinn also im Hinblick auf das reine Ich und der Form des Gegenstandes im Allgemeinen die Identitätsnorm darstellt, so stellt das, was als gesunder Menschenverstand bezeichnet wird, die Verteilungsnorm im Hinblick auf das empirische Ich und seine besonderen Gegengenstände dar. Wenn der Gemeinsinn die leere Form des Gegenstandes bereitstellt, dann ist es der gesunde Menschenverstand, der den Gegenstand füllt, indem er ihn spezifiziert. Der gesunde Menschenverstand kennt dabei nur eine Formel: einesteils und anderenteils. Damit ist er wesentlich »landwirtschaftlich«, d.h. vom Problem der Grenzziehung zwischen den Dingen oder der Umzäunung einer epistemologischen Landschaft besessen. »Ein derartiger Verteilungstyp verfährt über feste und propositionale Bestimmungen, die mit ›Besitztümern‹ oder begrenzten Territorien in der Repräsentation gleichzusetzen sind.« (ebd.: 59) Jedem Ding muss ein besonderer Platz zugewiesen werden, ein Platz, an dem seine Differenz zu allen anderen Dingen repräsentierbar wird. Um dieser Verteilungsnorm gerecht zu werden, tendiert der gesunde Menschenverstand dazu, das Differenziertere auf das weniger Differenzierte, das Singuläre auf das Reguläre oder das Bemerkenswerte auf das Gewöhnliche zu reduzieren. Das Phänomen wird sozusagen zurechtgetrimmt, um in eine gegebene Ordnung zu passen. Dadurch ist es auch der gesunde Menschenverstand, der die gewohnte Richtung der Zeit ausrichtet, denn indem er das Phänomen zurechttrimmt und das Differenziertere damit auf das weniger Differenzierte reduziert, verschafft er sich immer auch die Möglichkeit der Vorausschau: eine immerwährende Gegenwart, die das Vergangene über allgemeine Linien in die Zukunft verlängert. Wie wir noch sehen werden, zeichnet er sich deshalb auch durch seine Unfähigkeit aus, etwas vollkommen Neuem zu begegnen. Ganz im Gegenteil: »er, der über die Zeit verfügt, er korrigiert die Differenz, er trägt sie in eine Mitte« (DW: 285) und sorgt für die gewohnte 6 Bei Descartes erscheinen Gemeinsinn und gesunder Menschenverstand vor allem im Prinzip klarer und deutlicher Ideen, womit jenes Licht bezeichnet wird, welches »das Denken im gemeinsamen Gebrauch aller Vermögen ermöglicht« (DW: 270).

37

DAS DOGMATISCHE BILD DES DENKENS

Vorhersehbarkeit des Alltags, für eine chronisch gewordene Gegenwart. Aber weil er die Differenz in die Mitte trägt und bedenkliche Begegnungen ausschließt, stellt er auch sicher, dass eine vorherrschende Repräsentationsordnung reibungslos und unbedenklich mit den Operationen des Verstandes zusammenpasst, eines Verstandes, der folglich keine Probleme macht und den man gerade deshalb auch als »gesund« bezeichnen kann. Dabei setzt der gesunde Menschenverstand aber immer etwas voraus, auf das hin er sich in seinen Operationen orientieren kann. Gemeint ist die Instanz des Gemeinsinns, der als Identitätsform den idealen Bezugsrahmen bereitstellt, in dem sich der gesunde Menschenverstand bewegen kann. Umgekehrt würde die Identitätsform im Gemeinsinn aber leer bleiben, wenn der gesunde Menschenverstand sie nicht fortlaufend durch diese oder jene, hier beginnende und dort endende Verschiedenheit bestimmen würde. Der gesunde Menschenverstand bestimmt in jedem einzelnen Fall den jeweiligen Beitrag der Vermögen, aber nur insofern der Gemeinsinn zunächst die Form des Selben liefert, in Bezug auf welche die Differenz schließlich »korrigiert« werden kann. Beide zusammen ergänzen sich zwangsläufig und bilden gemeinsam die beiden Hälften einer Doxa. Die Identitätsform im Gemeinsinn und die Verteilungsnorm im gesunden Menschenverstand begründen demnach das Modell der Rekognition: Richtig erkannt wird ein Objekt nur dann, wenn alle Vermögen es auch auf identische Art und Weise erfassen. Dabei soll sicher nicht bezweifelt werden, dass Rekognitionsakte von zentraler Bedeutung sind. Es ist ja »offenkundig, daß die Rekognitionsakte existieren und einen großen Teil unseres täglichen Lebens einnehmen: Das ist ein Tisch, das ist ein Apfel, das ist ein Wachsstück, guten Tag, Theaitetos« (DW: 176). Durch seine beiden Prämissen sorgt das Modell der Rekognition gerade dafür, dass gewohnte Repräsentationsformen tagtäglich gelingen: dass Alltag also praktisch funktioniert. Kann man aber das tägliche Gelingen der Rekognition auch zum Ausgangspunkt dafür nehmen, die Bedingungen des Denkens überhaupt zu erfassen? Kann also ein adäquates Bild des Denkens gezeichnet werden, wenn gerade die Banalität empirischer Rekognitionsakte zum Vorbild genommen wird? Genau das ist zu bezweifeln. Was diesem Bild des Denkens nämlich zum Vorwurf gemacht werden muß, liegt eben darin, daß es sein vermeintliches Recht auf die Extrapolation gewisser Tatsachen, auf die Extrapolation besonders insignifikanter Tatsachen, auf die alltägliche Banalität höchstpersönlich, die Rekognition, gegründet hat, als ob das Denken seine Modelle nicht in ferneren und riskanteren Abenteuern suchen dürfte. (ebd.)

38

DAS MODELL DER REKOGNITION

Der Umstand, dass banale Erkenntnis tagtäglich gelingt, dass die verschiedenen Vermögen im Modell der Rekognition für gewöhnlich also de facto übereinstimmen, wird fälschlicherweise als Beleg dafür genommen, dass diese auch de jure übereinstimmen müssen, dass allem Denken also ein Gemeinsinn innewohnt, der dessen Gelingen von vornherein absichert. Das Bild, das damit vom Denken gezeichnet wird, orientiert sich insofern grundlegend am Modell der Rekognition. Dadurch wird jedoch einer zweifelhaften Aufteilung von Transzendentalem und Empirischem Vorschub geleistet, auf die wir weiter unten noch zurückkommen werden. Nur weil Denken sich im Alltag faktisch auf Rekognitionsakte – was ich sehe, ist auch das, was ich erinnere usw. – beschränkt, kann sein Wesen nicht automatisch auf die Banalität des Alltags reduziert werden. Wie wir noch sehen werden, ergibt sich wirkliches Denken (und seine Bedingungen) vielmehr aus den Zusammenbrüchen des Alltags, wo die üblichen Repräsentationsformen versagen und die gewohnte Rekognition einer außergewöhnlichen Experimentation weichen muss. Nun kann Kant sicherlich nicht allein für dieses Bild des Denkens verantwortlich gemacht werden. Denn das Modell der Rekognition war diesem Bild immer schon eingeschrieben. Wenn man zum Beispiel Platons Theaitetos oder Descartes Meditationes betrachtet, dann ist es immer dieses Modell, »das gebietet und die philosophische Analyse dessen, was Denken bedeutet, ›ausrichtet‹« (DW: 175). Wenn sich Deleuze nun aber dennoch auf Kant bezieht, um dieses Bild des Denkens in Frage zu stellen, dann hat das damit zu tun, dass gerade Kant mit seinem kritischen Projekt angetreten war, dieses Bild zu überwinden – dabei aber schlussendlich gescheitert ist. Im Grunde hatte Kant auch alles, um dieses Bild des Denkens endgültig zu überwinden. Denn es ist Kant, der vor allen anderen das Cogito bei Descartes auf fundamentale Art und Weise in Frage stellt. Wenn Descartes nämlich aus der Bestimmung »ich denke« eine unbestimmte Existenz »ich bin« – ich bin, da ich sein muss, um zu denken – folgert, dann sagt dies noch lange nichts über die Form aus, in der diese Bestimmung sich vollziehen muss. Kant erkennt als erster, dass es sich dabei um die Form der Zeit handelt. Das heißt, die unbestimmte Existenz kann nur in der Zeit bestimmt werden, und zwar als Existenz eines passiven oder rezeptiven phänomenalen Subjekts, das fortlaufend in der Zeit erscheint und wieder verschwindet. An die Stelle des substanziellen Ichs von Descartes setzt Kant damit ein von der Linie der Zeit gespaltenes Ich. So daß die Spontaneität, deren ich im Ich denke bewußt bin, nicht als Attribut eines substanziellen und spontanen Wesens, sondern nur als Affektion eines passiven Ichs begriffen werden kann, das fühlt, daß sein eigenes Denken, seine eigene Intelligenz, dasjenige, wodurch es ICH [JE] sagt, in ihm und auf es – und nicht durch es – wirkt. Damit beginnt eine lange unerschöpfliche Geschichte: ICH [JE] ist ein anderer, oder das Paradox des inneren Sinns. (ebd.: 119) 39

DAS DOGMATISCHE BILD DES DENKENS

Mit dem Paradox des inneren Sinns revolutioniert Kant den Begriff der Zeit. Zeit wird nun nicht mehr ausgehend von äußeren Bewegungen (z.B. der Himmelskörper) verstanden, Zeit wird nun ins Subjekt hineingetragen, wo sie auf eine reine Innerlichkeitsform verweist, in der die vermeintliche Einheit des Cogito zerrissen wird. Genau an diese Einsicht schließt Deleuze auch an, wenn er in Differenz und Wiederholung die Grundsätze seiner eigenen Philosophie der Zeit definiert.7 Kant selbst fällt jedoch hinter seine eigenen Errungenschaften zurück. Denn ausgehend vom Modell der Rekognition, das selbst nie in Frage gestellt wird, muss das Denken bei Kant weiterhin den Prämissen des Gemeinsinns und des gesunden Menschenverstandes unterliegen. Eben deshalb wird der von der Zeit ins Cogito eingeführte Riss, jene Zäsur, die den vermeintlichen Einklang der Vermögen unterminiert hätte, schlussendlich auch durch die doppelte Identitätsform, durch die »aktive synthetische Identität gekittet, während das passive Ich nur durch die Rezeptivität definiert wird und als solches keinerlei synthetische Kraft besitzt« (ebd.: 120).8 Weil Kant also an der Idee des Gemeinsinns festhält, bleibt er trotz seines neuen Zeitbegriffs dem alten Bild des Denkens verhaftet. Das kritische Projekt von Kant ist für Deleuze die vollkommene Verkörperung einer »falschen Kritik« (EI: 200). Prinzipiell müssen nämlich zwei Arten von Kritik unterschieden werden: Entweder man kritisiert die Abweichungen von der Wahrheit oder man kritisiert die Form der Wahrheit selbst. Es versteht sich von selbst, dass man niemanden weh tut, solange man sich damit begnügt, etwaige Abweichungen zu bemängeln. Deshalb besteht Deleuze auch darauf, dass die wahre Kritik die Kritik der wahren Formen und nicht die Kritik der falschen Inhalte sein muss: »Man kritisiert nicht den Kapitalismus oder den Imperialismus, indem man deren ›Irrtümer‹ anprangert« (ebd.: 199). Kant aber verschreibt sich vollkommen der falschen Kritik und treibt sie bis an ihr Ende. Denn kritisiert wird bloß der falsche Gebrauch der Vermögen, nicht die Form, die stillschweigend als Gemeinsinn vorausgesetzt wird, um ihren Einklang – und damit auch Wahrheit als Adäquation – von vornherein zu garantieren. Dementsprechend verkehrt sich die umfassende Kritik in eine Politik des Kompromisses: Vor Eintritt in den Krieg werden vorgängig die Einflußsphären aufgeteilt. Man unterscheidet die Ideale: Was kann ich wissen? Was muß ich tun? Was darf ich hoffen? Man begrenzt sie wechselseitig, 7 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Zeitbegriff von Deleuze ist bei Lampert (2006) und Williams (2011) zu finden. 8 Im Anschluss an Hume, Bergson, Proust und Nietzsche entwickelt ­Deleuze im zweiten Kapitel von Differenz und Wiederholung diese synthetische Kraft eines passiven Ichs.

40

DAS MODELL DER REKOGNITION

denunziert die schlechten Anwendungen, klagt die Übergriffe an – doch der unkritisierbare Charakter eines jeden Ideals bleibt dem Kantianismus inhärent wie der Wurm der Frucht: Die wahre Erkenntnis, die wahre Moral, die wahre Religion. (NP: 98)

In jedem Fall ist es das Modell der Rekognition, das den richtigen Gebrauch festlegt und den illegitimen Gebrauch auf die Verkennung der anerkannten Einflusssphären verweist. Die Kritik hat ihre Aufgabe dann nur noch darin, den legitimen Gebrauch der Vermögen zu überwachen, also im Hinblick auf ein jedes Ideal die illegitimen Übergriffe anzuprangern – das Postulat eines Gemeinsinns wird aber nicht in Frage gestellt. Ganz im Gegenteil: »Kants Unternehmen vervielfältigt den Gemeinsinn, erzeugt soviele Gemeinsinne, wie es natürliche Interessen des vernünftigen Denkens gibt.« (DW: 178) Wenn man nämlich davon ausgeht, dass alle Vermögen unter der Form des Selben im Modell der Rekognition zusammenarbeiten, dass der damit implizierte Gemeinsinn also de jure vorausgesetzt werden kann, dann bleibt nur noch, die Modalität zu bestimmen, in der diese Zusammenarbeit erfolgt. So zeigt Kant, dass die Vermögen im Rahmen der Erkenntnis unter einem logischen Gemeinsinn zusammenarbeiten und dass es der Verstand ist, der dabei – für das natürliche Interesse der Erkenntnis – das gesetzgebende Vermögen darstellt. Im praktischen Modell der Rekognition arbeiten die Vermögen dagegen unter einem moralischen Gemeinsinn zusammen, und es ist die Vernunft, die das gesetzgebende Vermögen für dieses natürliche Interesse darstellt. Anstatt ihn zu verabschieden, hat Kant den Gemeinsinn also lediglich vervielfältigt. Warum ist im Rahmen der Erkenntnis aber gerade der Verstand gesetzgebend? Wie eingangs erwähnte wurde, besteht die Grundidee der Kopernikanischen Revolution darin, die in der klassischen Metaphysik postulierte Harmonie zwischen Subjekt und Objekt durch das Prinzip einer notwendigen und allgemeinen Unterwerfung des Objekts unter das Subjekt zu ersetzen. Damit soll das Erkenntnisvermögen des Menschen selbst in den Mittelpunkt gesetzt werden. Der Verstand ist dabei deshalb Gesetzgeber, weil er nicht einfach Gesetze geltend macht, denen Phänomene unter dem Gesichtspunkt ihrer Beschaffenheit gehorchen, sondern »Gesetze, denen alle Phänomene unter dem Gesichtspunkt ihrer Form unterworfen sind, derart, daß sie eine sinnliche Natur im allgemeinen ›bilden‹« (KP: 48). Seine Vorherrschaft wird also dadurch erklärt, dass seine Gesetze (Kategorien), gerade weil sie Erkenntnis überhaupt bedingen, auch über eine entsprechende Notwendigkeit und Allgemeinheit verfügen, die über alle Phänomene der Erfahrung gebieten kann. »Zum Beispiel ist nicht jedes Objekt rot, und dasjenige, welches es ist, ist dies nicht notwendigerweise, aber es gibt kein Objekt, das nicht notwendigerweise Substanz, Ursache und Wirkung von anderem, in wechselseitiger 41

DAS DOGMATISCHE BILD DES DENKENS

Beziehung mit etwas anderem ist« (ebd.: 46), das also nicht einer der durch den Verstand präjudizierten Kategorien untersteht. Das heißt, dass es nur die reinen Begriffe des Verstandes (Kategorien) sind, die allgemein und notwendigerweise von allen Phänomenen ausgesagt werden können. Es handelt sich demnach um Bedingungen, die nicht diese oder jene Erfahrung im Besonderen, sondern Erfahrung überhaupt ermöglichen – ohne jedoch selbst Gegenstand von Erfahrung zu sein. Genau diesen Umstand bringt der Begriff des »Transzendentalen« auch zum Ausdruck, den Kant in die Geschichte der Philosophie einführt. Wenn die ersten beiden Aspekte der Synthesis (Apprehension und Reproduktion) noch dem Vermögen der Einbildungskraft unterliegen, so unterliegt ihr dritter Aspekt (Rekognition) dem Vermögen des Verstandes. Nachdem er a priori jene Gesetze bestimmt, denen alle Phänomene unter dem Gesichtspunkt ihrer Form unterstehen, muss der Verstand nach Kant folglich auch als gesetzgebendes Vermögen begriffen werden, als Vermögen, das sich im Hinblick auf das natürliche Interesse der Erkenntnis alle anderen Vermögen legitimerweise unterwerfen kann. Die auf diese Weise konzipierten transzendentalen Bedingungen bleiben dem Bedingten aber äußerlich. Insofern die Übereinkunft der beteiligten Vermögen im Modell der Rekognition nämlich nur de jure vorausgesetzt wird, können auch nur Bedingungen geltend gemacht werden, die diese Übereinkunft bedingend begleiten. Kant möchte zwar auf jede prästabilierte Harmonie zwischen Subjekt und Objekt verzichten, um zu zeigen, dass es das Subjekt ist, dem das Objekt notwendigerweise unterworfen ist, dass sinnliche Anschauung also notwendigerweise Verstandesbegriffen unterworfen sind. Und darin unterscheidet er sich auch von seinen Vorgängern. Aber warum sollten sinnliche Anschauungen und Verstandesbegriffe im Rahmen der Erkenntnis überhaupt übereinstimmen? Zwar zeigt Kant Bedingungen auf, denen zufolge Einbildung und Verstand, also das Vermögen der Anschauung und das Vermögen der Begriffe notwendigerweise übereinstimmen müssen: er erklärt damit aber nicht, wie die beteiligen Vermögen übereinstimmen. Weil er sich bloß darauf beschränkt, die allgemeine Notwendigkeit dieser Übereinstimmung abstrakt zu thematisieren, ohne aber ihre Genese zu hinterfragen, führt Kant insgeheim die alte Idee einer Harmonie der Vermögen als Gemeinsinn wieder ein – »nur einfach verschoben auf die Ebene der Vermögen des Subjekts« (KP: 57). Auf diesen Sachverhalt haben Postkantianer wie Salomon Maimon schon zu Lebezeiten Kants hingewiesen. Weil die Rechtmäßigkeit ihrer Übereinkunft also mehr konstatiert (quid facti) als begründet (quid juris) wird, bleibt das Verhältnis zwischen sinnlichen Anschauungen und Verstandesbegriffen zwangsläufig äußerlich.9 9 Was für die Synthesis gilt, das gilt auch für den Schematismus. »Die Synthesis ist die Bestimmung eines gewissen Raumes und einer gewissen Zeit,

42

DAS MODELL DER REKOGNITION

Damit realisiert Kant »sein Projekt einer immanenten Kritik nicht. Die Transzendentalphilosophie deckt Bedingungen auf, die dem Bedingten noch äußerlich bleiben. Die transzendentalen Grundsätze sind bedingende Prinzipien, keine einer inneren Genesis.« (NP: 100) Weil er Denken lediglich in seiner hypothetischen Form begreift, verfehlt Kant auch »das Wesentliche, die Genese des Denkakts, den Gebrauch der Vermögen« (DW: 203). Kant hat zwar Recht, die alte transzendente Harmonie zwischen Subjekt und Objekt zu verabschieden, um nach den transzendentalen Bedingungen der Erfahrung im Subjekt zu fragen, die Allgemeinheit und Notwendigkeit, die er diesen Bedingungen (Kategorien) zuspricht, betreffen aber nur die Möglichkeit und nicht die Wirklichkeit von Erfahrung. Genau dies ist es aber, was Deleuze immer wieder fordert: Die gesuchte Bedingung muss »Bedingung der wirklichen Erfahrung und nicht der möglichen Erfahrung sein. Sie bildet eine innerliche Genese, nicht eine äußerliche Bedingtheit.« (DW: 199) In diesem Sinne betont Deleuze nachdrücklich, dass es vor allem darauf ankommt, Bedingungen zu konzipieren, die nicht umfassender sind als das, was sie bedingen. Es geht also weniger darum, nach Bedingungen zu fragen, die gegeben sein müssen, damit Erfahrung ganz allgemein möglich ist; vielmehr geht es darum, nach Bedingungen zu fragen, die der Genese dieser oder jener Erfahrung faktisch zugrunde liegen. Im Zentrum der Auseinandersetzung mit Kant steht für Deleuze folgende Umwertung: Den Gesichtspunkt der Bedingtheit, durch welchen Erfahrung als abstrakte durch die die Mannigfaltigkeit sich den Kategorien gemäß auf das Objekt im allgemeinen bezieht. Das Schema aber ist eine raum-zeitliche Bestimmung, die selbst der Kategorie entspricht, zu jeder Zeit und an jedem Ort: es besteht nicht aus einem Bild, sondern aus raum-zeitlichen Beziehungen, die die rein begrifflichen Beziehungen verkörpern oder verwirklichen.« (KP: 49) Im Unterschied zur Synthesis bereitet das Schema die Anwendung des Verstandes auf die ihm unterworfenen Phänomene in Raum und Zeit vor. Aber auch hier bleibt die Art und Weise, wie dies überhaupt möglich sein soll, wie also das Vermögen der Sinnlichkeit mit dem Vermögen des Verstandes übereinstimmen soll, »ein tiefes Geheimnis und eine verborgene Kunst« (ebd.: 50). Das heißt, das Schema bringt zwar »die raum-zeitlichen Relationen mit den logischen Relationen des Begriffs in Übereinstimmung. Außerhalb des Begriffs jedoch ist nicht ersichtlich, wie es die Harmonie von Verstand und Sinnlichkeit gewährleisten kann, da es selbst – ohne Berufung auf ein Wunder – nicht seine eigene Harmonie mit dem Verstandesbegriff zu garantieren vermag.« (DW: 275) Die Bedingungen bleiben dem Bedingten also trotz der Vermittlung durch das Schema noch äußerlich. Dennoch greift Deleuze das Schema von Kant in Differenz und Wiederholung auf produktive Weise auf, wenn er raum-zeitliche »Dynamiken nicht mehr als Begriffsschemata sondern als Ideendramen setzt« (ebd.: 276), die ihre eigene Macht zur Bestimmung von Raum und Zeit unabhängig von den Kategorien zur Geltung bringen.

43

DAS DOGMATISCHE BILD DES DENKENS

Möglichkeit oder als hypothetische Notwendigkeit erfasst wird, mit dem Gesichtspunkt ihrer Genese zu ersetzen. Freilich ist es kein Geheimnis, dass Kant in seiner Kritik auf jeglichen genetischen Anspruch verzichtet, um sich, die Übereinstimmung der Vermögen bloß konstatierend, mit einem einfachen transzendentalen Bedingen zu begnügen. Doch selbst solchen Ansätzen, die an Kant anschließen, um der Forderung nach einer genetischen Perspektive nachzukommen, gelingt es Deleuze zufolge nicht, das kritische Projekt der Transzendentalphilosophie zu realisieren. Dies trifft vor allem auf Husserl zu. Zwar wird Husserl die Konzeption eines noematischen Sinns, den dieser anhand seiner phänomenologischen Reduktionsmethode entdeckt, zugutegehalten, »doch in diesem Kern des noematischen Sinns taucht etwas noch Vertrautes auf, ein ›höchst‹ oder transzendental vertrautes ›Zen­ trum‹, das nichts anderes ist als die Beziehung des Sinns selbst zum Objekt in seiner Wirklichkeit« (LS: 128). Dasselbe Objekt = X, das sich bei Kant logisch in der Identität eines abstrakten Ichs reflektiert, dient hier nun einem reinen Bewusstsein, eine sinnhafte Beziehung mit dem Objekt seiner Wirklichkeit zu unterhalten. Gemeint ist die Setzung eines primordialen Erlebens, einer ursprünglichen oder natürlichen Erfahrung oder einem ersten Einverständnis mit der Welt, das in Bezug auf die Sinngenese stets vorausgesetzt wird – so »als ob die sichtbaren Dinge bereits einen Sinn murmelten, den unsere Sprache nur noch aufzulesen brauchte« (FO: 79). In dieser lebensweltlichen Geltungsfundierung, die immerhin über Kant hinausweisen sollte, diagnostiziert Deleuze also wiederum die doppelte Identitätsform des Gemeinsinns, auf die bereits Kant zurückgreifen musste. Offenbar denkt Husserl die Genese […] von einer ursprünglichen Fähigkeit des Gemeinsinns aus, mit dessen Hilfe die Identität irgendeines Objekts bezeugt werden soll, und sogar einer Fähigkeit des gesunden Menschenverstandes, durch den der Identifikationsprozeß aller, egal welcher Objekte endlos bezeugt werden soll. (ebd.: 129)

Im Unterschied zu Kant beruft sich die klassische Phänomenologie zwar nicht mehr auf einen logischen oder moralischen Gemeinsinn, sondern konzipiert gleich einen völlig neuen Gemeinsinn, einen Gemeinsinn, der nun das Vermögen der Sinnlichkeit zum gesetzgebenden Vermögen erhebt und das Bewusstsein nicht mehr abstrakt, sondern als Lebewesen de jure umfasst. Die Berufung auf ein ursprüngliches Erleben, ein Erleben, von dem erklärt wird, es könne – und hier liegt der Trugschluss – doch jedermann unmittelbar an sich selbst erfahren, bindet das transzendentale Bewusstsein aber nach wie vor an die Instanz des Gemeinsinns und perpetuiert damit das alte Bild des Denkens. »Was schon bei Kant so deutlich wurde, gilt auch für Husserl: das Unvermögen dieser Philosophie, mit der Form des Gemeinsinns zu brechen.« (ebd.) Nach wie vor 44

DAS MODELL DER REKOGNITION

ist es das Modell der Rekognition, das insgeheim vorausgesetzt wird, um an der vermeintlichen Übereinstimmung der Vermögen im Gemeinsinn festzuhalten. Dabei stellt sich Deleuze die Frage, was von einer Philosophie bleibt, die zwar zurecht auf den Bruch mit der Doxa hinweist, die aber dennoch Gefangene dieser Doxa bleibt. Sicher verwirft die Philosophie jede besondere Doxa; sicher hält sie keinen einzigen besonderen Satz des gesunden Menschenverstands oder des Gemeinsinns aufrecht. Sicher anerkennt sie nichts im besonderen. Sie bewahrt aber das Wesentliche der Doxa, nämlich die Form; und das Wesentliche des Gemeinsinns, nämlich das Element; und das Wesentliche der Rekognition, nämlich das Modell (Übereinstimmung der Vermögen, die im als universal begriffenen denkenden Subjekt gründet und sich auf das Objekt überhaupt wendet). (DW: 176)

Das heißt, trotz aller Reduktionsbemühungen bleibt man »Gefangener der Doxa wenn man bloß von ihrem empirischen Inhalt abstrahiert, während man den Gebrauch der Vermögen wahrt, der ihr entspricht und implizit am Wesentlichen des Inhalts festhält« (ebd.) – also an Reko­ gnition, gesunden Menschenverstand und Gemeinsinn. Wenn es bei Kant noch die entsprechenden psychologischen Synthesen sind, aus denen die drei transzendentalen Synthesen deduziert werden, so ist es bei Husserl die wahrnehmende Anschauung, der ein ursprüngliches und transzendentales »Sehen« entnommen wird. In beiden Fällen ist es damit aber die Rekognition, die modellhaft dafür sorgt, dass die transzendentalen Bedingungen nach dem Bild des empirisch Bedingten, der Banalität des Alltags, konzipiert werden. Daraus zieht Deleuze nun folgenden Schluss: Der Fehler aller Bestimmungen des Transzendentalen als Bewußtsein besteht darin, das Transzendentale nach dem Bild und der Ähnlichkeit dessen zu begreifen, was es begründen soll. Also postuliert man entweder als schon vorhanden, was man durch eine transzendentale Methode zu erzeugen beabsichtigte, postuliert es als schon vorhanden im »ursprünglich« genannten Sinn, den man als dem konstituierenden Bewußtsein zugehörig unterstellt; oder aber man verzichtet ebenso wie Kant selbst auf die Genese oder auf die Konstitution, um sich an ein schlichtes transzendentales Bedingen zu halten; aber man entgeht dennoch nicht dem Zirkelschluß, dem zufolge die Bedingung auf das Bedingte verweist, dessen Bild sie nachahmt. (LS: 138)

Wenn das Transzendentale dem Empirischen entnommen wird, dann kann das Empirische nur noch eingeschränkt begründet werden. Die Begründung gerät nämlich in einen Zirkelschluss, durch den »man unentwegt vom Bedingten auf die Bedingung verwiesen wird, aber auch von der Bindung auf das Bedingte« (ebd.: 37). Die Aussicht, eine wahrhaft genetische Perspektive zu entwickeln, rückt damit jedenfalls in weite 45

DAS DOGMATISCHE BILD DES DENKENS

Ferne, denn die Bedingungen kommen hier immer einen Augenblick zu spät und anerkennen nur noch das, was sie fix und fertig bereits vorfinden. Indem sie nach dem Bild des Bedingten konzipiert werden, beschränken sich die Bedingungen eher darauf, vorherrschende Repräsentationsformen zu legitimieren. Hier bereitet das Modell der Rekognition besondere Schwierigkeiten, denn »niemals hat die Rekognition anderes als das Wiedererkennbare und Wiedererkannte geheiligt, niemals hat die Form anderes als Konformitäten eingegeben« (DW: 176). Wie Foucault in Die Ordnung der Dinge anmerkt, läuft man damit Gefahr, in eine verhängnisvolle Anthropologie hineinzugeraten. Es ist zweifellos nicht möglich, den empirischen Inhalten einen transzendentalen Wert zu geben, noch, sie in Richtung auf eine konstituierende Subjektivität zu verlagern, ohne wenigstens verschwiegen einer Anthropologie Raum zu geben, das heißt einer Denkweise, in der die De-jureGrenzen der Erkenntnis – und infolgedessen jeden empirischen Wissens – gleichzeitig die konkreten Formen der Existenz sind, so wie sie sich genau in demselben empirischen Wissen ergeben.« (F|OD: 306)

Auf ähnliche Weise wundert sich Deleuze, ob das transzendentale Subjekt bei Husserl nicht einfach den europäischen Menschen verhüllt und ob man damit nicht auf »die bloße Meinung des Durchschnittskapitalisten zurückgeworfen« (WP: 175) wird. Auf grundlegende Weise fesselt das Modell der Rekognition das Denken damit an die Instanz eines Gemeinsinns, der seine doppelte Identitätsform dem Verschiedenen gegenüber durchsetzt, aber auch an die Instanz eines korrespondierenden gesunden Menschenverstandes, der etwaige Abweichungen in den Bereich des Akzidentiellen verbannt, um die Rechtmäßigkeit der vorherrschenden Rekognitionsformen damit zu garantieren: »Gesunder Menschenverstand und Gemeinsinn, beide verweisen jeweils auf den anderen, beide reflektieren jeweils den anderen und bilden jeweils die Hälfte der Orthodoxie« (DW: 287). Nun sollte klar sein, warum das damit gezeichnete Bild des Denkens auch als dogmatisches oder orthodoxes Bild bezeichnet werden kann. Denken wird darin nämlich mit einer banalen Rekognition gleichgesetzt, die sich darum bemüht, die etablierten Formen zu wahren, das Verschiedene auf das Selbe zu reduzieren, das Unbekannte dem Bekannten anzunähern, die Differenz der Identität zu unterwerfen – gerade deshalb findet das Denken in diesem Bild seine Aufgabe eher in der Bewahrung der Orthodoxie als in der Genese des Neuen.10 10 Was Deleuze als Doxa bezeichnet ist ein Denken, das dem Modell der Rekognition und der doppelten (subjektiven/objektiven) Instanz des Gemeinsinns, durch welche das Denken darin orientiert wird, untersteht. Gegeben sei beispielsweise eine erlebte Situation, in der jemand eine besondere affektive oder perzeptive Qualität erfasst (man stellt beispielsweise etwas Käse

46

DIE NOTWENDIGKEIT DES DENKENS

Vor diesem Hintergrund stellt sich nun folgende Frage: Wie lassen sich transzendentale Bedingungen konzipieren, die dem genetischen Anspruch, der an sie herangetragen wird, auch wirklich gerecht werden? Um zu wahrhaft genetischen Bedingungen zu gelangen, darf die Bedingung Deleuze zufolge nicht mehr nach dem Bild des Bedingten begriffen werden. Sie müsste vielmehr »über ein eigenes Element verfügen, das von der Form des Bedingten unterschieden ist«, sie müsste insofern »etwas Unbedingtes haben, das eine wirkliche Genese« (LS: 37) gewährleisten könnte. Schon jetzt ist klar, dass damit eine vollkommen neue Aufteilung zwischen Empirischem und Transzendentalem erfolgen muss. Um das Transzendentale nämlich von jeder Ähnlichkeit mit dem Empirischen zu säubern, um also sicher zu stellen, dass die Bedingungen über ein unbedingtes Element verfügen, durch das sie tatsächlich in Bewegung kommen, darf sich eine neue Konzeption der Bedingungen nicht mehr am Modell der Rekognition ausrichten. Das Denken muss seine Modelle in riskanteren Abenteuern suchen als dem gelegentlichen Misslingen banaler Rekognitionen. Das Transzendentale muss vielmehr ausgehend von der Unmöglichkeit der Rekognition begriffen werden, ausgehend von dem, was tatsächlich zum Denken zwingt.

1.2 Die Notwendigkeit des Denkens Wir sind auf der Suche nach einem unbedingten Element, ausgehend von dem es möglich sein soll, zu wahrhaft genetischen Bedingungen zu gelangen. Warum aber mit einem unbedingten Element anfangen? Und vielmehr: Was ist hier unter Anfang zu verstehen? Die Philosophie war immer schon bemüht, einen voraussetzungslosen Anfang für sich in Anspruch zu nehmen. Denn um zum Wesentlichen zu gelangen, muss selbstverständlich all das ausgeschlossen werden, was ein Denken bereits von Anfang an kompromittieren könnte. Zu unterscheiden sind dabei sowohl objektive wie subjektive Voraussetzungen. Objektive auf den Tisch). Sobald er die Qualität erfasst hat, identifiziert er sich selbst mit einem allgemeinen Subjekt, das eine gemeinsame Affektion empfindet (die Gesellschaft derer, die den Käse verabscheuen – welche mit denen rivalisieren, die ihn mögen). Denken reduziert sich hier darauf, den jeweiligen Standpunkt – der als solcher aber bereits einen festen Platz in der Ordnung der Repräsentation hat – mit oder gegen andere in »spannenden Diskussionen« zu bestimmen. »Darum lassen sich so viele Diskussionen folgendermaßen ausdrücken: ›ich als Frau meine, daß alle Männer Lügner sind.‹« (WP: 171) In diesem Sinne ist es zu verstehen, dass das Denken im Modell der Rekognition der Bewahrung der Orthodoxie dienlich ist. Das Denken der Rekognition ist ein Denken in Gemeinplätzen.

47

DAS DOGMATISCHE BILD DES DENKENS

Voraussetzungen verweisen vor allem auf den begrifflichen Ballast, der, wenn unreflektiert, die Richtung des Denkens von Anfang an vorzeichnen würde. Descartes hütet sich beispielsweise davor, den Menschen als animal rationale zu begreifen, insofern man damit einen gewissen Begriff des Vernünftigen oder des Sinnlichen unreflektiert voraussetzen würde. Weitaus schwerwiegender erweisen sich demgegenüber aber jene subjektiven Voraussetzungen, die den Grund umreißen, auf dem sich ein Denken implizit bewegt. So setzt Descartes, um das Beispiel fortzuführen, implizit voraus, dass jedermann »weiß, was Ich, Denken, Sein bedeute« (DW: 169).11 Indem vorgegeben wird, doch »bloß« von dem zu sprechen, was »eigentlich bekannt, ganz und gar bekannt« (N|KSA5: 31) sein sollte, was ohnehin jedermann weiß und was insofern unbestreitbar ist, wird der Anschein eines soliden Anfangs erweckt. Diese Vorgehensweise kann laut Deleuze aber nicht nur bei Descartes beobachtet werden, sie zieht sich vielmehr durch die gesamte Geschichte der Philosophie: »Wenn die Philosophie ihren Anfang durch implizite oder subjektive Voraussetzungen absichert, so kann sie also Unschuld heucheln, da sie nichts beibehalten hat, außer freilich das Wesentliche, d.h. die Form dieses Diskurses« (DW: 170). Die Form dieses Diskurses ist jene des »Jedermann weiß, dass…«. Sicherlich kann in Diskussionen damit argumentiert werden, dass die eigene Position von allen anderen geteilt wird (argumentum ad populum). Wird hier jedoch unterstellt, dass man, wie Nietzsche moniert, doch nur die »bekannteste Sache von der Welt« (N|KSA5: 31) meint, eine Sache, mit der ohnehin jedermann vertraut sein sollte, dann handelt es sich nicht um diese oder jene argumentative Position im Besonderen: sondern um ein vorphilosophisches und naturwüchsiges Bild des Denkens, das von Anfang an stillschweigend vorausgesetzt wird. Dieses Bild des Denkens setzt insgeheim voraus, dass das Denken von Natur aus dem Wahren zugewandt ist. Zum einen wird erklärt, dass doch jedermann zumindest die Möglichkeit besitzt, tatsächlich zu denken; zum anderen, dass Denken wesentlich darin besteht, wahrheitsgetreu zu denken – wer will schon etwas Falsches denken? Diesem Bild zufolge ist »die Suche nach der Wahrheit das Natürlichste und das Einfachste; eine Entscheidung würde ausreichen« (PZ: 78), um eo ipso zum 11 Zwar bemängelt gerade Hegel dies an Descartes, verfährt jedoch auf ähnliche Weise: »Das reine Sein ist seinerseits ein Anfang nur, indem es alle seine Voraussetzungen ins empirische, sinnliche und konkrete Sein verlegt.« (DW: 169) Und auch Heidegger kann auf einen voraussetzungslosen Anfang nicht verzichten, »wenn er sich auf ein vorontologisches Verständnis des Seins beruft« (ebd.). Daraus ist Deleuze zufolge der Schluss zu ziehen, dass es keinen wahren Anfang in der Philosophie gibt, oder, wie wir noch sehen werden, »daß der wahre philosophische Anfang, d.h. die Differenz, an sich selbst bereits Wiederholung ist« (ebd.).

48

DIE NOTWENDIGKEIT DES DENKENS

Wahren zu finden. Denn wenn der Weg zur Wahrheit bereits vorgezeichnet ist, dann reicht es aus, sich für diesen Weg zu entscheiden, diesen Weg also auch gehen zu wollen: guten Willen zu zeigen. Man geht davon aus, dass das Denken »zum Wahren fähig und geneigt ist, und zwar unter dem doppelten Aspekt eines guten Willens des Denkenden und einer rechten Natur des Denkens. Denn jedermann denkt von Natur aus, und jedermann sollte doch implizit wissen, was Denken bedeutet.« (DW: 172) Der philosophische Anfang ist damit alles andere als voraussetzungslos. Durch die Berufung auf »Jedermann weiß…« wird nämlich nicht nur unterstellt, dass das Denken über eine rechte Natur verfügt, also eine gewisse Affinität mit der Wahrheit aufweisen muss, aufgrund welcher es gar nicht anders kann, als zu dieser hinzufinden, sondern auch, dass der Denker komplementär dazu über einen guten Willen verfügt, der ihn dazu veranlasst, die Wahrheit auch tatsächlich zu suchen. Wenn es aber etwas gibt, das an diesem Bild des Denkens zu hinterfragt ist, dann ist es sicher nicht die Tatsache, dass die Wahrheit in Wirklichkeit nur äußerst selten gesucht wird und diese Suche, sollte sie denn erfolgen, meist auch von ganz anderen Interessen bestimmt wird. Das Problem liegt vielmehr darin, dass die Hinwendung zur Wahrheit diesem Bild zufolge implizit als Ideal vorausgesetzt wird. So wird zwar anerkannt, dass ein Denken immer voller Irrwege sein kann, die es de facto von seinem Weg abbringen können, es wird aber dennoch vorausgesetzt, dass das Denken de jure immer nur zur Wahrheit führen kann, denn wahres Denken sollte doch darin bestehen, etwas so zu erfassen, wie es ist. Damit ist klar, dass Denken insgeheim mit Rekognition gleichgesetzt wird. Von Platon und Descartes bis hin zu Kant und da­ rüber hinaus war es stets das Modell der Rekognition, das laut Deleuze die philosophische Untersuchung dessen, was Denken bedeutet, ausgerichtet hat. Und es war vor allem die mit dem Modell der Rekognition einhergehende Annahme eines Gemeinsinns, anhand welcher es überhaupt möglich war, immer wieder den Anschein eines voraussetzungslosen Anfangs zu erwecken: Jedermann kann sich seines Verstandes bedienen (logischer Gemeinsinn) und jedermann kann ein ursprüngliches Erleben an sich selbst erfahren (sinnlicher Gemeinsinn). Die implizite Voraussetzung dieses Bild des Denkens liegt »im Gemeinsinn als cogitatio natura universalis« (DW: 172). Einerseits muss es ein identisches Objekt sein, auf das hin die verschiedenen Vermögen – fühlen, sehen, riechen, erinnern, hören, denken usw. – zusammenarbeiten; andererseits muss es ein identisches Subjekt sein, das die damit unterstellte Zusammenarbeit aller Vermögen als konstitutive Einheit absichert. Nur wenn diese beiden Bedingungen erfüllt sind, kann ein Denken für gewöhnlich auch als »richtig« anerkannt werden. Dabei ist es völlig belanglos, ob man, wie etwa im Rationalismus, mit dem Subjekt oder, wie im Empirismus, eher mit dem Objekt anfängt. Denn solange das Denken diesem 49

DAS DOGMATISCHE BILD DES DENKENS

Bild unterworfen bleibt, ist das Schicksal des Denkens bereits entschieden: Rekognition. Findet das Denken in diesem Bild einen natürlichen Bezug zur Wahrheit in sich, müssen alle Hindernisse, die es von seinem vorgezeichneten Weg zur Wahrheit abbringt, natürlich von außen kommen (Körper, Leidenschaften, sinnliche Interessen usw.). Diesen gegenüber muss der Denker seinen guten Willen unter Beweis stellen. Waren es nicht immer schon die Sinne, die uns, »auch sonst so unmoralisch«, um die »wahre Welt« (N|KSA6: 74) betrogen haben? Nietzsche erkennt als erster, dass das tradierte Bild des Denkens grundsätzlich moralisch ist. Denn nur die Moral kann »uns davon überzeugen, daß das Denken eine gute Natur und der Denker einen guten Willen besitzen« und es nur das Gute ist, das »die vorausgesetzte Affinität zwischen dem Denken und dem Wahren« (DW: 172) überhaupt zu stiften vermag: Zum Beispiel: »das Gut-Eine Platons, der nicht täuschende Gott des kartesianischen Cogito, das Prinzip des Besten bei Leibniz, Kants kategorischer Imperativ, Fichtes Ich, Hegels ›Wissenschaft‹« (ebd.: 250). Den guten Willen und die gute Natur einmal vorausgesetzt, genügt auch schon etwas Methode, um die Feinde, die das Denken von außen bedrohen, die Irrtümer, in die es sich verwickelt, dauerhaft auszuschalten und damit wieder »wirklich/wahr zu denken« (NP: 113) – das Denken muss, so die Annahme, nur orientiert werden, um zu sich selbst, d.h. auf seinen vorgezeichneten Weg zurückfinden. Aber gerade diese Instanz des Irrtums ist symptomatisch für das Bild des Denkens insgesamt. Besteht die größte Gefahr des Denkens nämlich bloß darin, sich zu irren, dann kann es, von diesen unglücklichen Zwischenfällen einmal abgesehen, nur noch durch seine vermeintliche Affinität zur Wahrheit definiert werden. »Der Irrtum ist nur die Kehrseite einer rationalen Orthodoxie und spricht noch zu Gunsten dessen, wovon er sich entfernt, zu Gunsten einer Rechtschaffenheit, einer guten Natur und eines guten Willens dessen, der sich angeblich täuscht.« (DW: 193) Dabei wird freilich nicht verkannt, dass das Denken auch noch von anderen Feinden bedroht wird: die Dummheit, die Bösartigkeit, der Wahnsinn. Doch werden diese Figuren nur als lästige Missgeschicke angesehen, die dem Denken zwar de facto zustoßen, die auf ihre Art und Weise aber immer nur für dasselbe stehen: einen Irrtum. Das bedeutet, dass diese Missgeschicke lediglich als Fakten betrachtet werden, »die nur eine einzige rechtmäßige, dem Denken immanente Wirkung haben, nämlich den Irrtum und noch einmal den Irrtum. Der Irrtum ist die unendliche Bewegung, die das Negative insgesamt aufsammelt.« (WP: 61) Um das tradierte Bild des Denkens zu stürzen, genügt es also nicht, alle Fälle aufzulisten, die diesem Bild de facto widersprechen. Denn Dummheit, Bösartigkeit, Wahnsinn etc. konvergieren ihrerseits in der Negativität des Irrtums, wo sie die postulierte Affinität mit der Wahrheit im 50

DIE NOTWENDIGKEIT DES DENKENS

Sinne lästiger Missgeschicke nur noch bestätigen – die Ausnahme bestätigt bekanntlich die Regel. Das tradierte Bild des Denkens setzt also voraus, dass diesem eine gute Natur innewohnt, die seinen Weg zur Wahrheit de jure vorzeichnet; es setzt voraus, dass das Denken einzig und allein Gefahr läuft, sich gelegentlich zu irren, also hin und wieder von seinem vorgezeichneten Weg abkommen kann; es setzt voraus, dass der Denker über einen guten Willen verfügt, er diesen Weg natürlich auch gehen will; und vor allem setzt es einen Gemeinsinn voraus, der, dem damit einhergehenden Modell der Rekognition entsprechend, schließlich dafür sorgt, dass der vorgezeichnete Weg von einem Vermögen zum anderen, von den sinnlichen Eindrücken bis hin zum begrifflichen Denken, auch reibungslos zur Wahrheit führt. Das tradierte Bild des Denkens geht davon aus, dass das Denken de jure notwendigerweise zur Wahrheit führt, dass es notwendigerweise eine naturwüchsige Affinität mit der Wahrheit unterhält. Von welcher »Notwendigkeit« ist hier aber die Rede? Im Hinblick auf das Denken müssen zwei Arten von Dingen unterschieden werden: Diejenigen, die das Denken unbehelligt lassen und diejenigen, die zum Denken nötigen. Die ersten Dinge sind Gegenstände der Rekognition. Mit ihnen ist das Denken vor allem damit beschäftigt, sich in seinem gewohnten Vollzug nicht stören zu lassen. Also nicht etwa »Guten Tag, Theodoros« zu sagen, wenn Theaitetos vorübergeht. Das wäre nämlich ein unverzeihlicher Irrtum für das Denkmodell der Rekognition. Denkt man aber wirklich, wenn man mit derartigen Belanglosigkeiten beschäftigt ist? Selbst anspruchsvollere Probleme, wie der Sachverhalt, dass die Summe der Innenwinkel eines Dreiecks immer 180° ergibt, sind für das Denken belanglos, »da sie unfähig sind, den Akt des Denkens im Denken entstehen zu lassen, da sie all das voraussetzen, was infragesteht« (DW: 181) und im Grunde bloß etwas guten Willen zur Einsicht verlangen. Obwohl es Momente geben mag, in denen das Denken de facto auf Schwierigkeiten stößt, so wird es im Modell der Rekognition de jure doch immer zur Wahrheit finden: Notwendigkeit steht hier für Wahrheit als Adäquation. Bei Kant wird beispielsweise nach Bedingungen gefragt, die notwendigerweise gegeben sein müssen, damit Erfahrung ganz allgemein möglich ist. Wenn dabei aber von Notwendigkeit die Rede ist, dann im Sinne der für das Modell der Rekognition unumgänglichen »Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande« (Kant 1956: A58/B82). Die Notwendigkeit, die dem Denken damit zugesprochen wird, gilt aber bloß in hypothetischer Hinsicht, also nur für jene abstrakten Grundsätze, die dessen Möglichkeit im Allgemeinen absichern. Demgegenüber gibt es aber auch ganz andere Dinge, Dinge, die überhaupt nicht der Rekognition unterliegen, die sich dieser vielmehr entziehen und genau deshalb zum Denken nötigen. Ausgehend von diesen 51

DAS DOGMATISCHE BILD DES DENKENS

Dingen möchte Deleuze nun dem, was unter der Notwendigkeit des Denkens zu verstehen ist, eine vollkommen neue Bedeutung geben. Erst dadurch kann das klassische Bild des Denken verabschiedet werden, demzufolge das Denken im Allgemeinen als Wahrheit »notwendigerweise« bei sich bleibt. Deleuze hat sein Ziel also klar vor Augen: »Zerstörung des Bilds eines Denkens, das sich selbst voraussetzt, Genese des Denkakts im Denken selbst.« (DW: 182) Wie er später in einem Interview bemerkt, ist es diese Kritik, die neben dem Begriff der Mannigfaltigkeit »das Wichtigste« (SG: 345) in seinem Werk darstellt. Im Rahmen dieser Kritik beruft sich Deleuze insbesondere auf Marcel Proust, der mit seinem literarischen Werk »starke Elemente für ein neues Bild des Denkens« (EI: 201) liefert. So ist in seinem monumentalem Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zu lesen: Die Wahrheiten, die der Verstand unmittelbar und eindeutig in der Welt des hellen Tageslichtes aufgreift, besitzen weniger Tiefe, weniger Notwendigkeit als diejenigen, die das Leben uns ohne unser Zutun in einem Eindruck mitgeteilt hat, der zwar materiell ist, weil er durch die Sinne in uns Eindringt, aus dem wir aber das geistige Element herauslösen können. (Proust 1964: 284)

Das heißt, gerade »den Wahrheiten der Philosophie mangelt die Notwendigkeit« (PZ: 79), die Notwendigkeit dessen, was zum Denken zwingt, was die Tätigkeit des Denkens im Denken also faktisch entstehen lässt. Die Notwendigkeit des Denkens, von der hier die Rede ist, meint also nicht mehr die bloß hypothetische Übereinstimmung mit sich selbst im Element der Wahrheit, sondern den Zwang, der den Akt des Denkens evoziert. Bei Proust sehen wir etwa, dass »der nach Wahrheit Suchende […] der eifersüchtige Liebhaber [ist], der im Gesicht der Geliebten ein trügerisches Zeichen entdeckt« (ebd.: 80), ein Zeichen, das ihn unmittelbar zwingt, die Wahrheit zu suchen – nicht ein allgemeines Ich, das der Wahrheit bloß per definitionem verpflichtet ist.12 12 Im Grunde war es aber gerade Kant, der in der Kritik der Urteilskraft mit seinem Begriff des Erhabenen das genetische Potential eines gewaltsamen Zwanges bereits erkundet hatte. Angesichts erhabener Eindrücke, etwa der Unendlichkeit eines tobenden Ozeans, wird die Einbildungskraft gezwungen, über sich hinaus zu gehen, »ihrer eigenen Grenze zu trotzen, […], das zugleich das Unvorstellbare, das Formlose oder Ungestalte in der Natur ist. Und sie überträgt ihren Zwang aufs Denken, das seinerseits genötigt ist, das Übersinnliche zu denken, als Grund der Natur und des Denkvermögens: Denken und Einbildungskraft begeben sich hier in eine wesentliche Diskordanz, in eine wechselseitige Gewalt, die einen neuen Typ von Einklang bedingt. So daß das Modell der Rekognition oder die Form des Gemeinsinns im Erhabenen zu Gunsten einer ganz anderen Konzeption des Denkens ins Unrecht gesetzt werden.« (DW: 187)

52

DIE NOTWENDIGKEIT DES DENKENS

Damit eröffnet sich »ein neues Bild des Denkens« (NP: 118), in welchem das Denken nur noch das »Abenteuer des Unwillkürlichen« (PZ: 79) kennt. Denken ist nämlich niemals »nur natürliches Vollziehen eines Vermögens. Das Denken denkt nie allein und durch sich; ebensowenig wird es einfach nur durch ihm angeblich äußerlich bleibende Kräfte gestört« (NP: 118) oder zum Irrtum verleitet. Was dem Denken zustößt, hat nun eine ganz andere Bedeutung. Es ist nicht mehr das, was seine vermeintliche Affinität mit der Wahrheit stört, es ist vielmehr das, was seine Genese einleitet. »Das Denken ist nichts ohne irgendetwas, das es zu denken zwingt, das dem Denken Gewalt antut« (PZ: 79), einer Kraft, die sich seiner bemächtigt und es nötigt, aktiv zu werden.13 Nur eine ursprüngliche Gewalt löst im Denken das aus, »was am wenigsten von seinem guten Willen abhängt: den Akt des Denkens selbst« (ebd.: 81). Um es aus seiner ewigen Möglichkeit im tradierten Bild des Denkens herauszutreiben, muss es erzwungen werden, muss es von einer ursprünglichen Gewalt überfallen werden, die nichts mehr der Willkür eines guten Willens überlässt: »So sehr gibt es Denken nur als unwillkürliches, als im Denken hervorgerufenen Zwang, der um so mehr absolute Notwendigkeit besitzt, als er einbruchartig aus dem Zufälligen der Welt entsteht.« (DW: 181) Im klassischen Bild wird Denken nur in seiner hypothetischen Form erfasst, als abstrakte Möglichkeit, der eine ebenso abstrakte Notwendigkeit entspricht. Was diesem Bild des Denkens fehlt, ist gerade ein 13 Dass wir noch nicht denken, selbst wenn wir die Möglichkeit dazu haben, ist bekanntlich eine Einsicht, die in erster Linie Heidegger zugeschrieben wird. Tatsächlich betont Deleuze in diesem Zusammenhang auch die »profunden Texte Heideggers, die zeigen, daß das Denken, solange es bei der Voraussetzung seiner guten Natur und seines guten Willens, unter der Form eines Gemeinsinns, einer ratio, einer cogitatio natura universalis verharrt, gar nichts denkt und Gefangener der Meinung, in einer abstrakten Möglichkeit erstarrt bleibt« (DW: 188). Das Denken denkt nur im Angesicht des Bedenklichen, dem Undenkbaren, das zum Denken zwingt. Dennoch weist Deleuze darauf hin, dass Heidegger nichtsdestotrotz an einer Philia, d.h. »am Thema einer Analogie oder besser Homologie zwischen dem Denken und dem, was gedacht werden muß« festhält, wenn er sich auf »ein vorontologisches und unausdrückliches Seinsverständnis« (ebd.) beruft. Dies zeigt, dass der Vorrang des Selben, »selbst wenn von diesem angenommen wird, daß es die Differenz als solche versammle und enthalte« (ebd.), auch noch bei Heidegger von zentraler Bedeutung ist. Nichtsdestotrotz ist Marc Rölli Recht zu geben, wenn er darauf hinweist, dass Heidegger »viel zu selten« (2004: 399) mit Deleuze in Verbindung gebracht wird. Dies trifft nicht nur auf Heideggers Kritik der cogitatio natura universalis zu, jener Inaktivität, in der das Denken verharrt, sondern auch auf seine Philosophie der Differenz, seine Philosophie der Zeit und vor allem auch auf seine Ausei­ nandersetzung mit Duns Scotus, dem ersten Denker der Univozität des Seins (vgl. Smith 2012).

53

DAS DOGMATISCHE BILD DES DENKENS

imperatives Element, das die absolute Notwendigkeit des Denkens im Denken entstehen lässt. Wie François Zourabichvili (2012) betont, lautet die Frage, die angesichts dieser unausweichlichen Notwendigkeit zu stellen ist, nicht mehr, wie wir allgemein zur Wahrheit kommen, sondern wodurch wir genötigt werden, diese zu suchen. Wahrheit ist folglich zuallererst »eine Sache von Produktion, nicht von Adäquation« (ebd.: 199) wie noch im alten Bild des Denkens. Es gibt also »etwas in der Welt, das zum Denken nötigt. Dieses Etwas ist Gegenstand einer fundamentalen Begegnung, und nicht einer Reko­ gnition.« (DW: 182) Zunächst kann es nur empfunden werden, denn im Unterschied zum Modell der Rekognition kann es nicht bereits auf ein Objekt bezogen werden, das gleichzeitig auch schon erinnert, vorgestellt oder begriffen wird. Die unterschiedlichen Vermögen stimmen bei dieser Art von Erfahrung gerade nicht mehr überein, setzen also keine mysteriöse Harmonie voraus und können deshalb auch nicht von vornherein füreinander einstehen und sich gegenseitig vorwegnehmen: Was ich gerade sehe, ist nicht automatisch das, was ich erinnere, begreife usw. Eben darum muss die verhängnisvolle Annahme eines Gemeinsinns hier auch aufgegeben werden. Man hat es hier mit »einer ganz besonderen Art von Erfahrung« (SG: 345) zu tun, die nach Deleuze bereits den »Gegenstand eines höheren Empirismus« (DW: 83) ausmacht. Dieser Empirismus ist insofern transzendental, als dass er gerade nicht vom Gegebenen ausgeht, sondern von dem, wodurch das Gegebene gegeben ist: der Differenz. Im Unterschied zum klassischen Empirismus ist die Differenz hier aber »nicht das Verschiedene. Das Verschiedene ist gegeben. Die Differenz aber ist das, wodurch das Gegebene gegeben ist. Sie ist das, wodurch das Gegebene als Verschiedenes gegeben ist.« (ebd.: 281) Das Verschiedene verweist im klassischen Empirismus auf Sinneseindrücke, die dem Subjekt (Tabula rasa) als fertige und in sich stimmige Bewusstseinsinhalte immer schon gegeben sind (Rekognition). Als Unstimmigkeit der Vermögen ist die Differenz aber nicht einfach gegeben: sie gibt vielmehr etwas vor, und zwar die Notwendigkeit, die divergierenden Vermögen in Einklang zu bringen (anstatt diesen Einklang einfach vorauszusetzen) und geht dem Subjekt damit auch genetisch voraus. Stimmen die Vermögen im Objekt der Erfahrung angesichts einer ursprünglichen Gewalt nun aber nicht überein, dann weil jedes Vermögen an seine eigene Grenze getrieben wird, an den Punkt, an dem es in sich selbst versinkt und gerade dadurch seine radikale Differenz zu allen anderen Vermögen unterstreicht. Wenn das, was zunächst nur empfunden werden kann, nicht auch bereits erinnert werden kann, dann sieht sich das Erinnerungsvermögen gezwungen, aktiv zu werden, in sich selbst zu versinken und das Objekt der Erfahrung in den Untiefen der Erinnerung zu suchen (z.B. der Madeleine-Effekt bei Proust). In seiner unwillkürlichen Form muss das Erinnerungsvermögen folglich das suchen, was 54

DIE NOTWENDIGKEIT DES DENKENS

nur erinnert werden kann. Das heißt, »jedesmal wenn ein Vermögen seine unwillkürliche Form annimmt, entdeckt und erreicht es seine eigene Grenze, erhebt es sich zu einer transzendenten Ausübung, versteht es seine eigene Notwendigkeit als seine unersetzliche Kraft. Es hört auf, austauschbar zu sein« (PZ: 82), wird auf sich selbst zurückgeworfen, kann sein Objekt nur noch in sich selbst finden und bricht damit mit der Annahme eines harmonischen Gemeinsinns aller Vermögen. Das heißt, die einzelnen Vermögen können sich nicht mehr gegenseitig vorwegnehmen und beginnen zu divergieren. Doch die ursprüngliche Gewalt, die alle Vermögen voneinander divergieren lässt, ist gleichzeitig auch das, was diese Vermögen verbindet. Sie ist es nämlich, die von einem Vermögen zum anderen übertragen wird und damit zwischen ihnen als Problem zirkuliert. Im Unterschied zum Modell der Rekognition gibt es hier also keinen Gemeinsinn mehr, der die Vermögen von vornherein durch seine Identität vereinheitlicht und harmoniert. Es gibt nun aber ein unbedingtes Element, die freie Gestalt der Differenz, die die divergierenden Vermögen nicht trotz, sondern gerade aufgrund ihrer Divergenz aufeinander bezieht und sie damit in einer problematischen Idee vereinigt. Es gibt also etwas, das sich von einem Vermögen zum anderen mitteilt, sich aber verwandelt und keinen Gemeinsinn ergibt. Ebenso könnte man sagen, daß es Ideen gibt, die alle Vermögen durchlaufen und doch nicht Gegenstand von irgendeinem im Besonderen sind. Vielleicht muß man tatsächlich, wie wir sehen werden, den Namen Ideen nicht den reinen cogitanda, sondern eher den Instanzen vorbehalten, die von der Sinnlichkeit zum Denken und vom Denken zur Sinnlichkeit reichen und in der Lage sind, in jedem Fall gemäß einer ihnen eigentümlichen Ordnung das Grenz- oder transzendente Objekt eines jeden Vermögens zu erzeugen. Die Ideen sind die Probleme, die Probleme aber liefern die Bedingungen, unter denen die Vermögen zu ihrem höheren Gebrauch gelangen. (DW: 190)

Dass es immer Probleme sind, problematische Ideen, die uns die gesuchten transzendentalen Bedingungen liefern, werden wir weiter unten noch sehen. An dieser Stelle muss aber zunächst festgehalten werden, dass es die Differenz an sich ist, in der die differenten Vermögen unter Einwirkung einer ursprünglichen Gewalt kommunizieren. Damit entfalten sie eine Problematik, die sie aufeinander bezieht und verbindet: Diese Verbindung kommt nun aber ohne die doppelte Identitätsform im tradierten Postulat des Gemeinsinns aus. Die Differenz an sich trennt nicht: sie verbindet. In diesem Sinne gibt es also »einen Punkt, an dem denken, sprechen, einbilden, fühlen usw. ein und dieselbe Sache sind, aber diese Sache bestätigt bloß die Divergenz der Vermögen in ihrem transzendenten Gebrauch.« (DW: 246) Und dieser Punkt ist eben jenes unbestimmte, 55

DAS DOGMATISCHE BILD DES DENKENS

imperativische und problematische Element, das von einem Vermögen zum anderen das ganze Abenteuer des Unwillkürlichen entfaltet, indem es den Akt des Denkens im Denken erzwingt. Was ich gerade sehe, ist zwar nicht das, was ich gerade sage, empfinde, erinnere oder denke: der unbestimmte Imperativ, die inkommensurable Differenz, zirkuliert aber als Problem durch alle diese Vermögen und stellt dabei Resonanzen und Echos zwischen ihnen her. Und selbst wenn der Anfang dieser genetischen Bewegung zunächst noch im Sinnlichen liegt, so setzt das im Unterschied zur klassischen Phänomenologie keinen sinnlichen Gemeinsinn, »keinerlei Affinität oder Prädestinierung voraus. Im Gegenteil, Zufall oder Kontingenz der Begegnung sind es, die die Notwendigkeit dessen, was durch sie zu denken genötigt wird« (ebd.: 189), herbeiführen. Die Notwendigkeit, mit der das Denken sich genötigt sieht, angesichts einer aufsteigenden Differenz einen diskordanten Einklang aller Vermögen herzustellen, verabschiedet nun aber nicht nur die Annahme, das Denken verfüge über eine rechte Natur, es verabschiedet auch die damit einhergehende Annahme, der zufolge der Akt des Denkens schlussendlich auf die freie und gutwillige Entscheidung eines konstituierenden Subjektes zurückgeht. Wenn es nämlich erst gezwungen werden muss, wenn es einer fundamentalen Begegnung bedarf, um wirklich aktiv zu werden, dann ist Denken nicht mehr der selbstgenügsame und natürliche »Vollzug eines Vermögens, sondern ein außergewöhnliches Ereignis im Denken, für das Denken selbst« (NP: 118). Seinen Ausgangspunkt findet das Denken somit nicht mehr in sich selbst, sondern in etwas anderem: in der Unvorhersehbarkeit, Unbestimmtheit und Fremdartigkeit einer bedenklichen Begegnung. Diese Begegnung kommt für das Denken aber immer von außen, es ist, um mit Foucault zu sprechen, das absolute Außen des Denkens selbst. Deleuze zufolge ist die Berufung auf das Außen ein konstantes Thema bei Foucault und bedeutet, dass »das Denken nicht in der angeborenen Ausübung eines Vermögens besteht, sondern dem Denken widerfahren muß. Denken hängt nicht ab von einer schönen Innerlichkeit, […], sondern geschieht im Einbruch eines Außen.« (FO: 121) Es ist dies der Begriff »eines Außen als diejenige Instanz, die das Problem schafft« (ZB: 229), die also jenes imperative Element zirkulieren lässt, durch das ein aktives und problematisierendes Denken in Bewegung kommt.14 Was hier im Anschluss an Foucault als Außen bezeichnet wird, darf allerdings in keiner Weise mit dem verwechselt werden, was für gewöhnlich 14 In einem Interview erklärt Foucault, dass es, rückblickend, immer »der Begriff der Problematisierung« (F|DE4: 825) war, der alle seine Untersuchungen seit Wahnsinn und Gesellschaft im Sinne eines solchen »Zum-EreignisMachens« (F|DE3: 32) orientiert hat.

56

DIE NOTWENDIGKEIT DES DENKENS

als Außenwelt verstanden wird. Es handelt sich nämlich um ein Außen, das, »entfernter als jede Äußerlichkeit und daher unendlich näher« (FO: 120), nur im Innen des Denkens zu finden ist. Wenn aber »das Außen, entfernter als alle äußere Welt, zugleich näher ist als alle innere Welt, ist dies nicht ein Zeichen dafür, daß das Denken sich selbst affiziert, indem es das Außen als sein eigenes Ungedachtes entdeckt?« (ebd.: 167) Obwohl das Denken stets von einem Außen kommt, taucht dieses dennoch in seinem Inneren auf, und zwar als das, was im Denken undenkbar ist und insofern ein Problem heraufbeschwört. Es ist also gerade diese Unmöglichkeit, etwas zu denken, die im Denken dafür sorgt, dass das Denken wirklich aktiv wird. Innen und Außen bilden folglich keinen Dualismus, sondern die beiden Seiten derselben asymmetrischen Beziehung. Wenn nun aber das, wodurch das Denken aktiv wird, gerade seine Unfähigkeit ist, etwas zu denken, dann muss in dieser Ohnmacht gleichzeitig auch die größte Macht des Denkens liegen. Natürlich kann die Ohnmacht Ohnmacht bleiben, aber auch nur sie allein kann zur höchsten Macht angehoben werden. Genau dies ist es, was Nietzsche unter Machtwillen verstand: jene imperativische Umwandlung, die die Ohnmacht selbst zum Gegenstand nimmt (sei feige, faul, gehorsam, wenn Du willst! vorausgesetzt ...) – jener Würfelwurf, der den ganzen Zufall zu bejahen vermag, jene Fragen, die uns in hitzigen oder eisigen Stunden durchdringen, jene Imperative, die uns den Problemen ausliefern, die sie aufwerfen. (DW: 254)

Der Zwang, den das Denken erfährt, der es nötigt, aktiv zu werden, offenbart ihm seine eigene Ohnmacht, aus der es aber auch seine größte Macht schöpft.15 Denn die Ohnmacht, die das Denken in sich entdeckt, sorgt gerade dafür, dass es etwas anderes sucht als das, was es bereits kennt. Insofern steht das Außen auch nicht für einen Mangel, es steht vielmehr für einen Exzess. Im Unterschied zum klassischen Bild des Denkens geht es nicht mehr darum, »ein von Natur und de jure präexistentes Denken methodisch zu lenken oder zu applizieren« (DW: 191 f.), es geht vielmehr darum, in Anbetracht der eigenen Unfähigkeit, tatsächlich etwas zu denken, also etwas Neues im Denken zu erschaffen: »Denken heißt erschaffen, es gibt keine andere Schöpfung, aber erschaffen heißt zunächst, ›denken‹ im 15 Von daher wahrscheinlich die strikte Ablehnung von Deleuze gegenüber Wittgenstein, der in dieser Sache – zumindest in seiner Frühphase – genau das Gegenteil vertritt: Die Philosophie soll Wittgenstein zufolge »das Denkbare abgrenzen und damit das Undenkbare. […] Sie soll das Undenkbare von innen durch das Denkbare begrenzen. Sie wird das Unsagbare bedeuten, indem sie das Sagbare klar darstellt. Alles was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden. Alles was sich aussprechen läßt, läßt sich klar aussprechen.« (Wittgenstein 1963: 32)

57

DAS DOGMATISCHE BILD DES DENKENS

Denken zu zeugen.« (ebd.: 192) Weil er davon ausgeht, dass das Denken nicht von sich aus denkt, also nicht der natürliche Vollzug eines Vermögens ist, sondern, unter Einwirkung eines äußeren Zwangs und der damit einhergehenden Erfahrung des eigenen Unvermögens, immer erst aktiv werden muss, kann Deleuze, wie wir noch sehen werden, das trans­ zendentale Subjekt, das im klassischen Bild des Denkens noch den konstitutiven Ausgangspunkt bereitstellt, durch transzendentale Ereignisse ersetzen, die, aus dem absoluten Außen kommend, das transzendentale Feld (ohne Subjekt) als einen problematischen Zusammenhang ausrichten, aus dem heraus schließlich etwas Neues entstehen muss (ein neues Denken: ein neues Subjekt und ein neues Objekt). Wenn Deleuze ein neues Bild des Denkens zeichnet, ein, um genau zu sein, bildloses Bild des Denkens – da es ja kein besonderes Bild mehr voraussetzt –, dann sollen damit genau jene Bedingungen bestimmt werden, »unter denen sich etwas Neues ereignet« (SG: 290).

1.3 Wahrheit und Problem Es wurde bereits erwähnt, dass die Kritik des klassischen Bild des Denkens die Diskussion auf die Ebene des Rechtsanspruchs hinüberführen muss. Denn, sofern es von Rechts wegen gilt, »setzt dieses Bild eine gewisse Aufteilung des Empirischen und des Transzendentalen voraus; und eben diese Aufteilung muß beurteilt werden, d.h. jenes transzendentale Modell, das im Bild impliziert wird« (DW: 174). Gemeint ist damit das Modell der Rekognition, das, insofern es »sein vermeintliches Recht auf die Extrapolation gewisser Tatsachen, auf die Extrapolation besonders insignifikanter Tatsachen, auf die alltägliche Banalität höchstpersönlich« (ebd.: 176) gegründet hat, gar nicht anders konnte, als das Transzendentale einfach dem Empirischen zu entnehmen und damit einem verhängnisvollen Zirkelschluss in der Konzeption der Bedingungen zu unterliegen. Demgegenüber betont Deleuze, dass das Denken seine Modelle sehr wohl in ferneren und riskanteren Abenteuern suchen darf, dass die Bedingungen des Denkens vor allem auf Momente verweisen, in denen das Denken an seine Grenzen stößt und dort von seiner eigenen Ohnmacht affiziert wird. Die Probleme, die sich dem Denken damit stellen, können aber »nicht als Fakten, sondern nur als Schwierigkeiten de jure begriffen werden« (DW: 191). Seinem Wesen nach bedeutet Denken nämlich »experimentieren, problematisieren« (FO: 164). Die Probleme und Fragen, die das Denken ergreifen, kennzeichnen demnach nicht einen Zustand de facto – z.B. vorübergehende Hindernisse, etwaige Zweifel oder allfällige Ungereimtheiten –, »sondern eine Struktur de jure des Denkens« (DW: 58

WAHRHEIT UND PROBLEM

191). Aber wenn es stimmt, dass das Denken seinem Wesen nach experimentierend und problematisierend ist, dann muss diese Entdeckung, und das ist das Entscheidende, »auch auf die transzendentale Ebene übertragen werden« (ebd.: 205). Das bedeutet freilich nicht, dass man keiner Sache sicher ist, ist selbstverständlich nicht die Anwendung einer verallgemeinerten Methode des Zweifels, ist nicht das Zeichen eines modernen Skeptizismus, sondern im Gegenteil die Entdeckung des Problematischen und der Frage als transzendentaler Horizont, als trans­ zendentaler Brennpunkt, die den Wesen, den Dingen, den Ereignissen »wesentlich« eignen. (ebd.: 248)

Das Denken wird damit nicht mehr an Bedingungen verwiesen, die es in seiner hypothetischen Natur bloß äußerlich als abstrakte Möglichkeit bedingen: es wird nun an Bedingungen verwiesen, die in Gestalt von (transzendentalen) Problemen und Fragen seine Genese faktisch erzwingen und passgenau oder plastisch leiten. Natürlich wird kaum jemand bestreiten, dass Denken mit Problemen zu tun hat. Wird hier aber auf ein dezidiert transzendentales Verhältnis zwischen Denken und Problemen verwiesen, so muss darauf geachtet werden, wie genau dieses Verhältnis begriffen wird. Für gewöhnlich wird Denken nämlich darauf reduziert, bereits fertig gegebene Probleme zu lösen. Das Abenteuer des Denkens wird dann mit der banalen Situation verwechselt, in der ein Lehrer ein Problem stellt, das seine Schüler lösen müssen, obwohl die Lösung, an der ihre Ergebnisse schlussendlich als wahr oder falsch beurteilt werden, dem Lehrer bereits von Anfang an bekannt war. Wirklich bedenklich ist diese Situation also weder für die Schüler noch für den Lehrer. Damit wird das, was wirklich zu denken gibt, aber gänzlich mit dem verwechselt, was mit etwas guten Willen und Methode immer schon, d.h. von »jedermann« gedacht werden kann. Denn das ganze »Problem« des Denkens wird hier darauf reduziert, vorgezeichnete Lösungswege wiederzufinden. Zum Beispiel: Wenn, ausgehend vom Satz »Die Summe der Innenwinkel eines Dreieckes beträgt immer 180°«, danach gefragt wird, ob es auch ein Dreieck mit zwei rechten Winkeln geben kann. Was soll das für ein Problem sein? Es handelt sich vielmehr um die übliche Illusion, die darin besteht, »Probleme und Fragen als Abklatsch der entsprechenden Sätze zu begreifen, die ihnen als Antwort dienen oder dienen können« (DW: 203). Wenn auch anerkannt wird, dass Probleme das Wichtigste sind, so genügt es also »nicht, dies de facto anzuerkennen, als ob das Problem nur eine vorübergehende und kontingente Bewegung wäre, dazu bestimmt, in der Formation des Wissens zu verschwinden« (ebd.: 205). Aber gerade dies scheint das Schicksal der meisten Probleme zu sein, die den öffentlichen Diskurs einer Gesellschaft bestimmen. Stets werden wir dazu aufgefordert, zu vorgegebenen Problemen Stellung zu 59

DAS DOGMATISCHE BILD DES DENKENS

beziehen: »Was denken Sie? Was halten Sie davon?« Es sind dies aber falsche Probleme. Denn eine solche Befragung ist bloß »Abklatsch von erhältlichen, wahrscheinlichen oder möglichen Antworten« (ebd.: 202), womit die Dialektik, die sich dabei entfaltet, auf das Niveau einer Quizsendung hinuntersinkt. Wir bleiben Sklaven, solange »wir nicht über die Probleme selbst, über eine Teilhabe an den Problemen, ein Recht zu Problemen, eine Verwaltung von Problemen« (ebd.: 204) verfügen. Das heißt, Freiheit besteht »darin, schon die Probleme selbst zu stellen« (B: 26). Wenn es also stimmt, dass Probleme das Wichtigste sind, dann dürfen sie nicht ausgehend von empirischen Sätzen begriffen werden, sondern müssen vielmehr für sich selbst erforscht werden. Das Denken muss in die Probleme eintauchen, um seine Wahrheit durch die richtige Stellung des Problems wieder und wieder unter Beweis zu stellen.16 In Philosophie und Wissenschaft wird freilich versucht, die Prüfung des Wahren und Falschen in die Probleme selbst hineinzutragen: also zunächst das richtige Problem zu stellen und dann erst zu den Lösungen überzugehen. Doch auch hier verfällt man derselben Illusion – wenn auch in einer anderen Form. Denn obwohl man sie nicht mehr als gegeben hinnimmt, sondern vielmehr darüber nachdenkt, ob die Probleme selbst wahr oder falsch sind, geht man doch weiterhin davon aus, dass die Wahrheit eines Problems bloß in seiner Lösungsmöglichkeit liegen kann. »Die neue Gestalt der Illusion, ihr technischer Charakter rührt diesmal daher, daß man die Form der Probleme nach der Möglichkeitsform der 16 In diesem Sinne erklärt sich auch die tiefe Abneigung, die Deleuze erklärtermaßen gegenüber akademischen Diskussionen hegte. »Jeder Philosoph ergreift die Flucht, wenn er den Satz hört: Laß uns ein wenig diskutieren. […] Die Diskussionen, und niemand wird das leugnen können, würden die Arbeit nicht voranbringen, da die Gesprächsteilnehmer niemals von derselben Sache sprechen. Daß einer diese oder jene Meinung hat und eher das eine als das andere denkt – was kann das die Philosophie angehen, solange die Probleme, die auf dem Spiel stehen, nicht ausgesprochen sind? Und wenn sie ausgesprochen sind, so geht es nicht mehr ums Diskutieren, sondern darum, unbestreitbare Begriffe für das Problem zu erschaffen, dem man sich verschrieben hat.« (WP: 35 f.) Von hier aus erteilen Deleuze und Guattari in Was ist Philosophie? auch den Begriff der Kommunikation nach Habermas, der damals in aller Munde war, eine entschiedene Abfuhr. »Die Kommunikation kommt stets zu früh oder zu spät, und das Gespräch bleibt stets überflüssig gegenüber dem Erschaffen. Man macht sich zuweilen von der Philosophie die Vorstellung einer fortgesetzten Diskussion als ›kommunikativer Rationalität‹ oder als eines ›universalen demokratischen Gesprächs‹. Nichts ist falscher, und wenn ein Philosoph einen anderen kritisiert, so ausgehend von Problemen und einer Ebene, die nicht die des anderen waren und die früheren Begriffe zusammenschmelzen lassen, wie man eine Kanone einschmelzen kann, um daraus neue Waffen zu gewinnen.« (ebd.: 36)

60

WAHRHEIT UND PROBLEM

Sätze modelliert.« (DW: 206) Schon Aristoteles definiert in der »Topik« die Dialektik als Kunst, die richtigen Probleme und Fragen zu stellen. Ein Problem wird aber dann als falsch angesehen, wenn die Modalität, in der es gestellt wird, logische Fehler im Hinblick auf Akzidenz, Gattung, Eigenschaft oder Definition aufweist, und eben deshalb keine vollständige Lösung ermöglicht. Die Wahrheit eines Problems beruht also auf »der logischen Möglichkeit, eine Lösung zu erhalten (wobei die Sätze selbst mögliche Lösungsfälle bezeichnen)« (ebd.). Das Problem wird auch hier ausgehend von den Meinungen konstruiert, die ihrerseits als gegebene empirische Sätze vorausgesetzt werden. Damit besteht das Problem bloß noch darin, widerstreitende Meinungen in Bezug auf ihre logische Stringenz zu beurteilen und so gegeneinander abzuwiegen. Insofern kommt das Denken, das sich in einem solchen Problem bewegt, nicht über die widerstreitenden Meinungen hinaus, die es im Hinblick auf den Gemeinsinn zu vermitteln hat. Historisch gewandelt hat sich seit Aristoteles dabei nur die Form, in der Lösungsmöglichkeiten definiert worden sind. Waren es bei Aristoteles noch widerstreitende Meinungen, die verhandelt werden mussten, so sind es später geometrische Theoreme, algebraische Gleichungen, physikalische Hypothesen und transzendentale Urteile. In all diesen Fällen geht das Problem aber nicht über den Inhalt der empirischen Sätze hinaus, in Hinblick auf die es seiner Lösungsmöglichkeit nach als Problem definiert wird. Genau darin zeigt sich der konservative und dogmatische Charakter des tradierten Bild des Denkens.17 Wenn es also darum geht, Probleme zu stellen, treffen wir auf zwei Seiten einer Illusion: eine natürliche Illusion, die darin besteht, Probleme 17 Es ist aber gerade Kant, der mehr als jeder andere versucht hat, die Prüfungen des Wahren und des Falschen in die Probleme selbst hineinzutragen. Mit einer »profunden Theorie der Idee« (DW: 208) nimmt er damit bereits zentrale Impulse des transzendentalen Empirismus von Deleuze vorweg, bleibt aber dennoch dem klassischen Bild des Denkens verhaftet und fällt damit hinter seine Errungenschaften zurück. Im Unterschied zu Platon geht Kant nämlich davon aus, dass Ideen nicht transzendent und konstitutiv, sondern immanent und regulativ sind. Es mag sein, dass das, was Kant als reine Vernunftbegriffe oder transzendentale Ideen bezeichnet, die Grenzen empirischer Erfahrung übersteigt und uns, in ihrem illegitimen Gebrauch, geradewegs in transzendentale Illusionen und Antinomien stürzt. In ihrem legitimen Gebrauch besitzen sie Kant zufolge aber auch die regulative Fähigkeit, »die verschiedenen Verstandeshandlungen, die einen Komplex von Gegenständen betreffen, zu einem Ganzen zusammenzufassen. Für sich allein genommen würde der Verstand in vereinzelte Handlungen verstrickt bleiben, Gefangener von partiellen empirischen Befragungen oder Forschungen, die sich auf diesen oder jenen Gegenstand beziehen, niemals aber würde er sich zur Konzeption eines ›Problems‹ erheben, die allen seinen Handlungen eine systematische Einheit zu verleihen vermag.« (ebd.: 218) Als

61

DAS DOGMATISCHE BILD DES DENKENS

als Abklatsch von empirischer Sätzen zu konzipieren, egal ob diese nun als logische Meinungen, geometrische Theoreme, algebraische Gleichungen, physikalische Hypothesen oder transzendentale Urteile formuliert werden; darüber hinaus aber auch eine philosophische Illusion, aufgrund welcher Probleme nur im Hinblick auf ihre Lösbarkeit, also nur gemäß der äußerlichen Form ihrer Lösungsmöglichkeiten bewertet werden (z.B. logische oder transzendentale Möglichkeit). Damit wird aber gerade das Probleme garantieren die Ideen der reinen Vernunft hier »die Konstitution eines einheitlichen systematischen Feldes, das die Forschungen oder Befragungen ausrichtet und subsumiert« (ebd.), und zwar so, dass die Antworten in einem übersichtlichen Wissen aufgelöst werden können (z.B. die Idee des Weltganzen im Rahmen der Naturwissenschaften). Ein legitimer Gebrauch kommt den Ideen nur im Hinblick auf Verstandesbegriffe zu, die umgekehrt den Grund ihres experimentellen Gebrauchs nur insofern finden, als dass sie auf problematische Ideen bezogen werden. Genau diesen Umstand hebt Deleuze auch lobend bei Kant hervor. Denn damit ist es Kant, der »als erster aus dem Problematischen nicht eine vorübergehende Ungewißheit, sondern ein der Idee eigenes Objekt und dadurch einen unentbehrlichen Horizont all dessen […], was geschieht oder erscheint« (LS: 79), gemacht hat. Als Pro­ bleme haben Ideen nun einen »zugleich objektiven wie unbestimmten Wert. Das Unbestimmte ist nicht länger eine bloße Unvollkommenheit in unserer Erkenntnis oder ein Mangel im Objekt; es ist eine objektive, vollkommen positive Struktur, die als Horizont oder Brennpunkt bereits in der Wahrnehmung wirkt.« (DW: 218 f.) Weil Kant aber weiterhin dem dogmatischen Bild des Denkens verhaftet bleibt, konzipiert er die Wahrheit eines Problems immer noch ausgehend von seinen Lösungsmöglichkeiten. Zwar handelt es sich dabei nicht mehr um eine logische Möglichkeitsform, wohl aber um eine transzendentale Möglichkeitsform, die den legitimen Gebrauch der Vermögen, im Hinblick auf einen Gemeinsinn bestimmen soll. Denn wenn die problematische Idee bei Kant auch unbestimmt ist, »so ist sie nur im Verhältnis zu den Objekten der Erfahrung bestimmbar und trägt das Ideal der Bestimmung nur im Verhältnis zu den Verstandesbegriffen« (ebd.: 219) die im Modell der Rekognition gesetzgebend bleiben. Damit hält Kant »am Gesichtspunkt der Bedingtheit [fest], ohne den der Genese zu erreichen« (ebd.). Obwohl Kant also transzendentale Ideen als problematische Strukturen definiert und damit dem Unbestimmten eine objektive Einheit verleiht, bleiben die anderen Momente der problematischen Ideen, das Bestimmbare und die Bestimmung, noch äußerlich und abstrakt. Denn, »wenn die Idee an sich selbst unbestimmt ist, so ist sie nur im Verhältnis zu den Objekten der Erfahrung bestimmbar und trägt das Ideal der Bestimmung nur im Verhältnis zu den Verstandesbegriffen.« (ebd.) Eben deshalb verharrt die Kritik auch weiterhin unter der Herrschaft des dogmatischen Bilds. »Kant’s procedure of thinking the objects in the transcendental Ideas as analogies of empirical things is complicit with the logic of resemblance. […] The ground that Kant offers is no more than a copy (décalque) of the empirical that is elevated to a transcendental level.« (Voss 2012: 156).

62

WAHRHEIT UND PROBLEM

verfehlt, was wirklich zu denken gibt. Soll das Problematische, wie gefordert, aber als transzendentale Struktur begriffen werden, dann muss auch hier davon abgesehen werden, »eine bloße Gestalt des Empirischen auf transzendentale Ebene zu heben« (DW: 200), muss also vermieden werden, das Transzendentale nach dem Bild banaler Rekognitionsakte und empirischer Sätze zu begreifen. Was dadurch verfehlt wird, ist nämlich »die innere Charakteristik des Problems als solchen, das innere imperative Element, das zuerst über seine Wahrheit und Falschheit entscheidet und seine innerliche genetische Macht bemißt« (ebd.: 208 f.). Was über die Wahrheit oder Falschheit von Problemen entscheidet, ihr Grund, darf also nicht von außen an diese herangetragen werden, sondern muss in den Problemen selbst gesucht werden: in der ursprünglichen Gewalt, die diesen zugrunde liegt und durch die das Denken tatsächlich genötigt wird, ein Problem zu stellen. Angesichts dieses Zwangs muss ein Problem für sich erforscht werden, muss untersucht werden, wie eine ursprüngliche Gewalt oder ein imperativisches Element die absolute Notwendigkeit des Denkens als Pro­blem heraufbeschwört. Eben deshalb muss man darauf verzichten, die Probleme von möglichen Sätzen zu kopieren wie die Wahrheit der Probleme durch die Möglichkeit einer Lösung zu definieren. Im Gegenteil, die »Lösbarkeit« ist es, die von einer inneren Charakteristik abhängen muß: Sie muß durch die Bedingungen des Problems bestimmt werden, wie gleichzeitig die realen Lösungen durch das Problem und im Problem erzeugt werden müssen. Ohne diese Umkehrung ist die berühmte kopernikanische Revolution null und nichtig. (DW: 209)

Es ist also nicht seine Lösungsmöglichkeit und es sind auch nicht empirische Sätze, die als reale Lösungen in Fragen kommen: es sind vielmehr seine Bedingungen, in denen die Wahrheit eines Problems gesucht werden muss. Das Abenteuer des Denkens liegt genau darin, die Bedingungen eines Problems zu finden und es damit richtig zu stellen. Mehr noch als die Lösungen sind es die Probleme, die wirklich zu denken geben. Denn »die Lösungen werden genau zur gleichen Zeit hervorgebracht, in der das Problem sich bestimmt« (LS: 156). Das heißt, Lösungen ergeben sich aus den vollständigen Bedingungen, »unter denen man das Problem als Problem bestimmt« (DW: 205), immer ganz von selbst. Wer ein Problem einmal korrekt erfasst hat, weiß auch, was als Lösung überhaupt in Frage kommt und wo danach zu suchen ist. Ein Problem ist somit der Ort einer ursprünglichen Wahrheit, die der abgeleiteten Wahrheit seiner Lösungen genetisch vorausgeht. Wenn Marx im Vorwort Zur Kritik der politischen Ökonomie etwa davon spricht, dass sich die Menschheit nur Aufgaben stellt, die sie auch lösen kann, dann bedeutet dies nicht, dass ein Problem nur dann gestellt wird, wenn es auch lösbar ist, sondern, 63

DAS DOGMATISCHE BILD DES DENKENS

dass es, umgekehrt, bereits so gut wie gelöst ist, sobald man es richtig zu stellen vermag. Die Stellung eines Problems entscheidet nämlich bereits darüber, was als Lösung in Frage kommt: welche Problemlösungen denkbar sind und welche nicht. In diesem Sinne »ist die Geschichte der Menschheit, […], die Geschichte der Konstitution von Problemen« (B: 27) und zwar noch bevor sie die Geschichte der Lösungen ist – von der sie allerdings historisch überdeckt wird.18 Wenn es nun aber seine innere Charakteristik ist, in der seine Wahrheit, die Bedingungen, unter denen es sich stellt, gesucht werden muss, dann stellt sich die Frage, an welchen Kriterien sich diese Suche zu orientieren hat. Worauf muss geachtet werden, um einem Problem wirklich auf den Grund zu gehen, um es also richtig zu stellen? Lehrer wissen nur zu gut, dass man in Schulaufgaben selten auf Falsches trifft, wohl aber auf »Unsinniges, Bemerkungen ohne Belang und Bedeutung, wichtig genommene Banalitäten, Verwechslungen von gewöhnlichen ›Punkten‹ mit singulären, schlecht gestellte oder abwegig formulierte Probleme« (DW: 200). Ebenso wird man von vielen philosophischen oder wissenschaftlichen Büchern »nicht sagen, sie seien falsch, denn das besagt gar nichts, vielmehr, daß sie unwichtig und uninteressant sind« (WP: 95) und insofern falsche Problem stellen. »Selbst in der Mathematik: Poincaré sagte, daß viele mathematische Theorien völlig belanglos sind, nicht von Inte­ resse. Er sagte nicht, daß sie falsch sind, es war viel schlimmer.« (U: 189) Was darüber entscheidet, ob Probleme wahr oder falsch sind, hängt also in erster Linie davon ab, ob sie wichtig oder unwichtig, interessant oder uninteressant, nötig oder unnötig sind. Insofern sind »die Begriffe Wichtigkeit, Notwendigkeit, Interesse […] tausendmal entscheidender als der Begriff Wahrheit. Nicht, weil sie ihn ersetzen, sondern weil sie die Wahrheit dessen, was ich sage, abwägen« (ebd.). Sie betreffen vor allem die Bedingungen, unter denen der Sinn eines Problems als seine ursprüngliche Wahrheit zu suchen ist. Im Hinblick auf was wird dann aber entschieden, was wichtig oder unwichtig, interessant oder uninteressant, nötig oder unnötig ist? Für gewöhnlich ist es die Frage nach dem Wesen, nicht nach dem Akzidenz, die gestellt wird, um zu bestimmen, was an einer Sache nun wichtig oder unwichtig, also wesentlich oder unwesentlich ist. Aber gerade dies muss hier angezweifelt werden. Denn Deleuze zufolge sind die Begriffe von Wichtigkeit und Unwichtigkeit Begriffe, 18 In diesem Zusammenhang bezieht sich Deleuze in Differenz und Wiederholung auf die mathematische Gruppentheorie, die, angesichts fehlender Lösungsformeln für Polynome ab dem vierten Grad, Lösungsbereiche ausgehend von Problembedingungen (und nicht umgekehrt) konzipiert. In der Idee, Lösungen ausgehend von Problembedingungen zu denken, sieht ­Deleuze »eine noch beachtlichere Revolution als die kopernikanische«, weil dadurch »gerade Kants Äußerlichkeitslehre« (DW: 232) verabschiedet wird.

64

WAHRHEIT UND PROBLEM

die das Ereignis, das Akzidens betreffen und im Innern des Akzidens »wichtiger« sind als die grobe Opposition von Wesen und Akzidens selber. Das Problem des Denkens ist nicht ans Wesen gebunden, sondern an die Bewertung dessen, was Wichtigkeit oder keine Wichtigkeit besitzt, an die Aufteilung des Singulären und Regulären, des Ausgezeichneten und Gewöhnlichen, die sich gänzlich im Unwesentlichen oder in der Beschreibung einer Mannigfaltigkeit ergibt, und zwar im Verhältnis zu den idealen Ereignissen, die die Bedingungen eines »Problems« bilden. (DW: 241)

Darin besteht die Aktivität des Denkens: In Anbetracht einer ursprünglichen Gewalt, die sich unerwartet seiner bemächtigt, muss das Denken die Auswahl dessen treffen, was im Hinblick auf das damit heraufziehende Problem wichtig oder unwichtig, ausgezeichnet oder gewöhnlich, singulär oder regulär ist. Es ist die Unterscheidung zwischen wichtigen und unwichtigen, singulären und regulären oder ausgezeichneten und gewöhnlichen Punkten, die, noch bevor die entsprechenden Lösungen überhaupt berücksichtigt werden, die Bedingungen eines Problems festlegt und damit seine innere Charakteristik bestimmt. Die ursprüngliche Wahrheit eines Problems hängt, in anderen Worten, von der Verteilung der Singularitäten ab, von den wichtigen Punkten, die in ihrer Streuung die Bedingungen des Problems definieren. Alles Mögliche kann in Frage kommen: Was aber bildet den Kern des Problems? Demgegenüber besteht die Inaktivität des Denkens, die Dummheit, gerade in den »fortwährenden Verwirrungen bezüglich des Wichtigen und Unwichtigen, Gewöhnlichen und Singulären« (ebd.: 242) – in der Unfähigkeit, die innere Charakteristik eines Problems zu erfassen und damit wahre Probleme zu stellen. Im Unterschied zum klassischen Bild des Denkens ist es nicht der Irrtum, der das Denken gefährdet, es ist vielmehr die Dummheit, denn sie sorgt dafür, dass das Denken inaktiv bleibt. Wenn die Wahrheit eines Problems aber gänzlich im Unwesentlichen zu suchen ist, dann muss die alte Frage nach dem Wesen nun auch anderen Fragen weichen, »wesentlich wirkungsvolleren und schärferen, wesentlich zwingenderen Fragen: wieviel, wie, in welchem Fall? Diese Fragen sind Fragen nach dem Akzidens, dem Ereignis, der Mannigfaltigkeit« (DW: 240) und der Differenz, nicht nach dem Wesen, dem Einen oder der Identität im Begriff. Wie sich noch zeigen wird, ist diese Umkehrung, indem sie das Akzidentielle über das Wesentliche stellt, das Wesentliche also letztlich im Unwesentlichen entdeckt, von entscheidender Bedeutung. Denn sie setzt einen bestimmten Begriff der Differenz voraus, der die Suche nach den Bedingungen des Neuen unweigerlich an eine entsprechende Philosophie der Differenz bindet. Das Denken darf sich jedenfalls nicht mehr an der alten aporetischen Fragen Was ist…? orientieren, es muss vielmehr den Fragen wer? wie? wieviel? wo und wann? in welchem Fall? nachgehen. Es sind dies Fragen, 65

DAS DOGMATISCHE BILD DES DENKENS

die nicht mehr auf das Eine (das Gute, das Schöne etc.) hinauslaufen, sondern viel eher eine Mannigfaltigkeit von Dimensionen und Bezügen durchleuchten. Insofern erforschen diese Fragen auch Ideen, die keine Wesenheit mehr verbergen, sondern vorrangig im Unwesentlichen zu finden sind, wo sie Ereignisse und deren Umstände definieren. Gefragt wird nach einem ideellen Ereignis, das sich über eine Gesamtheit von singulären Punkten verstreut und sich durch die Eigenart dieser Verstreuung dem Denken als Problem aufzwingt.19 Aus sich heraus ist das Ereignis somit »problematisch und problematisierend« (LS: 78), es verstreut die singulären Punkte, durch welche sich ein Problem als Problem stellt. Und weil es sich über die Eigenart seiner Verstreuung definiert, muss ein problematisches und problematisierendes Ereignis auch als Mannigfaltigkeit begriffen und durch die entsprechenden Fragen im Rahmen einer Dramatisierungsmethode untersucht werden.20 Woher kommen aber die Probleme? Wenn wir es auch schaffen, ein Problem »zu finden und es infolgedessen richtig zu stellen« (B: 26), so liegt sein Ursprung aber nicht in uns. »Die Imperative oder Fragen, die 19 In seiner Definition eines diskursiven Ereignisses bezieht sich Foucault explizit auf die »grundlegende Bedeutung« (Foucault 2011: 258), die das Ereignis bei Deleuze hat. Vor diesem Hintergrund ist ein Diskursereignis kein Ereignis, »das in einem Diskurs oder einem Text stattfände, sondern ein Ereignis, das zerstreut ist zwischen Institutionen, Gesetzen, politischen Siegen und Niederlagen, Forderungen, Verhaltensweisen, Revolten und Reaktionen. Eine Mannigfaltigkeit, die man in dem Maß als Diskursereignis erkennen und charakterisieren kann, wie sie mehrere Dinge definiert.« (ebd.: 250; Hervorh. d. d. Verf) 20 In diesem Zusammenhang greift Deleuze öfters auf das Beispiel der Kegelschnitte zurück (z.B. DF: 38 ff.; ZB: 228; LS: 148). Abhängig vom Neigungswinkel, mit dem ein Kegel von einer flachen Ebene geschnitten wird, ergeben sich bekanntlich geometrische Figuren, die wesentlich voneinander unterschieden werden müssen: der Kreis, die Ellipse, die Hyperbel, die Parabel oder die Gerade. Der Schnitt selbst markiert dabei ein ideelles Ereignis, das von einem Außen in die logische Materie des Kegels eingeführt wird und damit, dem jeweiligen Neigungswinkel der stetig variierenden Schnittebene entsprechend, unterschiedliche Singularitätsverteilungen erzeugt, aus denen unterschiedliche geometrische Figuren als reale Lösungen hervorgehen (z.B. ein Mittelpunkt im Falle eines Kreises oder zwei Brennpunkte im Falle einer Ellipse). Kreis, Ellipse, Hyperbel, Parabel und Gerade verweisen nicht mehr auf ein vermeintliches Wesen (z.B. der ideale Kreis bei Platon), sondern auf Unwesentliches, auf Schnittarten – auf Ereignisse, die eine logische Materie affizieren, und dadurch praktische Konstruktionsprobleme erzeugen. Obwohl Kreis, Ellipse, Hyperbel, Parabel und Gerade also wesentlich verschiedene geometrische Formen darstellen, drücken sie als Kegelschnitte doch nur die Metamorphosen ein und desselben Problems aus, aktualisieren sie nur ein und dasselbe virtuelle Problem in Form differenzierter Lösungen,

66

WAHRHEIT UND PROBLEM

uns durchdringen, entstammen nicht dem Ego, es ist nicht einmal geschaffen, sie zu vernehmen. Die Imperative gehören zum Sein, jede Frage ist ontologisch und verteilt ›das, was ist‹, auf die Probleme.« (DW: 253) Im Gegensatz zum klassischen Bild des Denkens verweist die Notwendigkeit des Denkens nicht mehr auf das Ego oder das Cogito als ersten Satz des Bewusstseins, sondern auf ein irreduzibles Außen, das jedoch im Inneren des Denkens auftaucht und dort dafür sorgt, dass das Denken, in Anbetracht seiner eigenen Ohnmacht, sich selbst affiziert und dadurch aktiv wird. Dieses Außen ist der Zufall. Das heißt, die Probleme »stammen aus zufälligen Imperativen oder Ereignissen, die sich als Fragen präsentieren« (ebd.: 251) und das Denken dadurch mit seinem eigenen Außen in Berührung bringen. Auch das Unbestimmte, das Problemen ihre genetische Macht verleiht, muss auf den Zufall zurückgeführt werden, denn es ist einzig und allein der Zufall, der der Struktur des Unbestimmten, d.h., der Verteilung der singulären Punkte in einem Problem, zu Grunde liegt. Denken wird damit zum Würfelspiel: »Die singulären Punkte stehen auf dem Würfel; die Fragen sind die Würfel selbst; der Imperativ ist der Wurf. Die Ideen sind die problematischen Kombinationen, die aus den Würfen resultieren.« (DW: 251) Um das Spiel aber zu spielen, um den Problemen und ihren Bedingungen auf den Grund zu gehen, muss das Denken den Zufall bejahen. Allerdings scheint gerade das auch das Schwierigste zu sein. Denn vor allem der Zufall wird durch den gesunden Menschenverstand im Modell der Rekognition ja systematisch ausgesondert. Indem er das Singuläre auf das Reguläre, das Ausgezeichnete auf das Gewöhnliche oder das Unbekannte auf das Bekannte reduziert, richtet der gesunde Menschenverstand den gewohnten Zeitverlauf aus. Dadurch aber, dass er, um die Möglichkeit der Vorausschau in der Gegenwart zu gewährleisten, die Vergangenheit blindlings in die Zukunft verlängert, verneint er zwangsläufig auch den Zufall, zerlegt und verwandelt ihn vielmehr in eine bloße Wahrscheinlichkeit. Anstatt ihn zu zerlegen, muss das Denken aber den ganzen Zufall bejahen. »Diese Bejahung bemißt sich an der Herstellung von Resonanz zwischen den disparaten Momenten, die dem selben Wurf entstammen und unter dieser Bedingung ein Problem bilden.« (ebd.: 252) Soll der Zufall im vollen Maße bejaht werden, dann müssen auch die Kombinationen, die sich daraus ergeben, in ihrer ganzen Differenz bejaht werden. Ist der Zufall verteilte Differenz, dann bemisst sich seine vollständige Bejahung an der inneren Resonanz des Differenten. Ein Problem zu stellen, bedeutet nichts anderes: Es geht darum, die disparaten Momente des Zufalls zu kombinieren, sie in einer zwingenden Frage zu verdichten. ein Problem allerdings, das gerade deshalb als »Bedingung der Manifestation des Wahren« (FA: 40) begriffen werden muss.

67

DAS DOGMATISCHE BILD DES DENKENS

Es hat aber nichts mit Willkür zu tun, sich auf den Zufall zu berufen. Ganz im Gegenteil: Ist der ganze Zufall einmal bejaht, ist auch »alles Willkürliche abgeschafft« (DW: 252), denn damit wird »die Divergenz selbst Gegenstand von Affirmation in einem Problem« (ebd.). Willkür gibt es nur, wenn der Zufall nicht genug bejaht wird, wenn das Denken also noch dem gesunden Menschenverstand im Modell der Rekognition verhaftet bleibt und damit auf einen höheren oder experimentellen Gebrauch der Vermögen verzichtet. Wird der Zufall aber im vollen Maße bejaht, dann wird auch jene freie Gestalt der Differenz bejaht, die im Denken als absolute Notwendigkeit aufsteigt und es – von einem Vermögen zum anderen – dem Abenteuer des Unwillkürlichen aussetzt. Denken gibt es immer nur als unwillkürliches, als Zwang, der aber umso mehr »absolute Notwendigkeit besitzt, als er einbruchartig aus dem Zufälligen der Welt entsteht« (ebd.: 181). Bereits für Nietzsche war die Notwendigkeit »niemals die Aufhebung, sondern die Kombination des Zufalls selbst. Die Notwendigkeit bestätigt sich im Zufall, sofern der Zufall selbst bestätigt, bejaht wird.« (NP: 32) Anstatt Zufall und Notwendigkeit also gegeneinander auszuspielen, sollte vielmehr die »Notwendigkeit des Zufalls« (N: 37) selbst berücksichtig werden oder, wie Nietzsche sagt: »Jene eisernen Hände der Nothwendigkeit, welche den Würfelbecher des Zufalls schütteln.« (N|KSA3: 122) Zu sagen, es sei grundsätzlich der Zufall, der unser Dasein bestimmt, bedeutet also nicht, auf einen konsistenten Begriff dieses Daseins zu verzichten. Es bedeutet vielmehr, diesen Begriff ausgehend von Ereignissen zu denken, die in ihrer Unvorhersehbarkeit die absolute Notwendigkeit einer deutlichen, aber noch dunklen Problematik generieren. Allerdings werden wir noch sehen, dass sich das klassische Bild des Denkens gerade dadurch auszeichnet, dass es Zufall, Ereignis, Werden und Differenz im Hinblick auf Notwendigkeit, Sein und Identität nicht bejaht, sondern negiert und damit die Bedingungen für die Genese des Neuen auch zwangsläufig verfehlt. Welche Imperative steigen im Denken auf, wenn dieses den ganzen Zufall bejaht? In Frageform sind die Imperative das, was sich wiederholt und dadurch die disparaten Dimensionen eines Problems durchläuft. »Die wechselseitige Wiederaufnahme der Singularitäten, die wechselseitige Verdichtung der Singularitäten, im selben Problem […] ebenso wie von einem Problem zum anderen […], definiert […] die außerordentliche Macht der Wiederholung.« (DW: 257) Der Imperativ meint eine zwingende Frage, die in fortlaufender Iteration die innere Charakteristik eines Problems durchläuft. In der Art und Weise, wie sie die singulären Punkte, die disparaten Dimensionen, im Problem kombiniert und verdichtet, wie sie also der Struktur des Unbestimmten auf den Grund geht, liegt die ganze Macht der Wiederholung. In diesem Sinne steht die Wiederholung für einen offenen und kreativen, für einen problematisierenden und experimentierenden Denkprozess. Sie steht für eine »reine 68

WAHRHEIT UND PROBLEM

schöpferische Bewegung« (ebd.: 42), die nicht versucht, das Allgemeine im Besonderen wiederzufinden, die sich, angesichts einer irreduziblen Differenz, vielmehr gezwungen sieht, die innere Charakteristik eines Problems zu durchforschen.21 Es ist zum Beispiel nicht das Sujet der Seerose, das in den Seerosen Monets immer wieder wiederholt wird, es ist eher »die erste Seerose Monets, die alle weiteren wiederholt« (ebd.: 16). Vor diesem Hintergrund beruft sich Deleuze auf Heidegger. So ist in Heideggers Buch zu Kant zu lesen: Unter der Wiederholung eines Grundproblems verstehen wir die Erschließung seiner ursprünglichen, bislang verborgenen Möglichkeiten, durch deren Ausarbeitung es verwandelt und so erst in seinem Problemgehalt bewahrt wird. Ein Problem bewahren heißt aber, es in denjenigen inneren Kräften frei und wach halten, die es als Problem im Grunde seines Wesens ermöglichen. Die Wiederholung des Möglichen bedeutet gerade nicht das Aufgreifen dessen, was ›gang und gäbe‹ ist. […] Das Mögliche in dieser Bedeutung verhindert gerade eine echte Wiederholung und damit überhaupt ein Verhältnis zur Geschichte.« (Heidegger 1991: 203)

Es ist die Wiederholung, mit der verschiedene Problemvariationen durchgespielt werden, um die ursprünglichen, bislang verborgenen Möglichkeiten eines Problems zu erschießen. Diese Möglichkeit im Inneren eines Problems darf aber nicht mit seinen Lösungsmöglichkeiten verwechselt werden. Denn die Lösungen sind gerade das, was »gang und gäbe« ist, was in Form empirischer Lösungsätze und abstrakter Lösungsmöglichkeiten also bereits vorhanden ist und nicht erst erschlossen werden muss. Die genetische Macht im Inneren der Probleme wird überdeckt, wenn Probleme zum Abklatsch von bereits erhältlichen, wahrscheinlichen oder möglichen Sätzen gemacht werden und wenn ihre Wahrheit auf die logische Möglichkeit reduziert wird, eine Lösung zu erhalten. Dagegen muss die ursprüngliche Möglichkeit eines Problems in seiner inneren Charakteristik gesucht werden, muss die Wiederholung die disparaten Elemente 21 Es müssen also zwei Wiederholungen unterschieden werden, obwohl beide Wiederholungen auf ihre Weise einer begriffslosen Differenz entsprechen. »In jedem Fall ist die Wiederholung die begrifflose Differenz. In einem Fall aber ist die Differenz bloß als dem Begriff äußerliche gesetzt, als Differenz zwischen Objekten, die unter demselben Begriff repräsentiert werden, und fällt in die Indifferenz des Raums und der Zeit. Im anderen Fall ist die Wiederholung der Idee immanent; sie entfaltet sich als reine schöpferische Bewegung eines dynamischen Raums und einer dynamischen Zeit, die der [problematischen] Idee entsprechen. Die erste Wiederholung ist Wiederholung des Selben, die sich durch die Identität des Begriffs oder der Repräsentation expliziert; die zweite ist diejenige, die die Differenz umfaßt und sich selbst in der Andersheit der Idee, in der Heterogenität einer ›Appräsentation‹ umfaßt« (DW: 42) und eben nicht der Identität eines Begriffs unterworfen ist.

69

DAS DOGMATISCHE BILD DES DENKENS

des Problems, seine singulären Punkte, durchlaufen und damit sein volles Potential in wechselnden Konstellationen erschließen. Was also ist »das Mögliche im Kern des Problems, das sich den Möglichkeiten oder Sätzen des Bewußtseins, den Meinungen, die gang und gäbe sind und Hypothesen bilden, entgegenstellt? Nichts anderes als die Potentialität der Idee, ihre bestimmbare Virtualität.« (DW: 256) Wenn sich die Wiederholung in einem Problem also »von einem ausgezeichneten Punkt zu einem anderen entspinnt und dabei die Differenzen in sich einschließt« (ebd.: 26), dann entfaltet sie damit seine ursprüngliche Möglichkeit oder Virtualität. Wie wir noch sehen werden, dient der Begriff des Virtuellen Deleuze vor allem dazu, das empirische Werden realer Möglichkeiten vom begrifflichen Sein abstrakter Möglichkeiten zu unterscheiden. Vor diesem Hintergrund darf Denken nicht auf Wissen reduziert, sondern sollte eher als Lernprozess begriffen werden. Schwimmenlernen bedeutet beispielsweise nicht, es jemanden nachzumachen, kann also nicht als fertiges Wissen einfach weitergegeben werden: Man muss selbst ins kalte Wasser springen. Wer aber springt, ohne bereits Schwimmen zu können, ist gezwungen, sich dem problematischen Verhältnis zwischen Körper und Wasser zu stellen. Zwischen Muskelkraft und Wellenkraft wird sich dann die intensive Kontinuität eines problematischen Feldes aufspannen, in dem intensive Variationen und ausgezeichneten Punkte bereits virtuelle Lösungswege durchscheinen lassen. Wenn der Körper seine ausgezeichneten Punkte mit denen der Welle vereinigt, so knüpft er das Prinzip einer Wiederholung, die nicht mehr das Selbe betrifft, sondern das Andere umfaßt, die Differenz von einer Geste und einer Woge zur anderen umfaßt und diese Differenz in den so gebildeten repetitiven Raum hineinträgt. Lernen heißt also in der Tat, diesen Raum der Begegnung mit den Zeichen zu erstellen, wo sich die ausgezeichneten Punkte wechselseitig aufgreifen und die Wiederholung sich bildet, während sie sich zugleich verkleidet. (DW: 41 f.)

Schwimmenlernen besteht darin, durch Wiederholung die problematische Kontinuität zwischen Körper und Wasser zu durchlaufen, um das damit gestellte Problem entlang der Fluchtlinien, die sich darin virtuell abzeichnen, in differenzieren Schwimmtechniken aufzulösen (savoir-­ faire). Während das Lernen also nur das Abenteuer des Unwillkürlichen kennt, gerade deshalb aber auch gezwungen ist, den Problemen selbst auf den Grund zu gehen, ist das Wissen »nichts anderes als eine empirische Gestalt, bloßes Resultat, das in die Erfahrung fällt und zurückfällt« (ebd.: 214) und die Lernprozesse, die ihm vorausgehen, dadurch überdeckt. Im Lernen wird das Denken vom Modell der Rekognition befreit, werden Gemeinsinn und gesunder Menschenverstand aufgegeben, um in die problematische Idee einzutauchen, die durch die divergierenden Vermögen hindurch zirkuliert und sie dabei aufgrund ihrer Divergenz in 70

WAHRHEIT UND PROBLEM

einem diskordanten Einklang vereint. Man kann das Lernen deshalb auf zwei komplementäre Arten definieren, zwei Arten, die sich aber gleichermaßen der Repräsentation im Wissen entziehen: »Entweder heißt lernen, in die Idee, in ihre Varietäten und ausgezeichneten Punkte eindringen; oder lernen heißt, ein Vermögen zu seinem getrennten transzendenten Gebrauch emporheben, es zu jener Begegnung und jener Gewalt emporheben, die sich den anderen mitteilen« (ebd.: 246 f.) und damit einen diskordanten Einklang erzeugt. In jedem Fall besteht Denken nicht darin, zu wissen, sondern zu lernen, also in die innere Charakteristik eines Problems einzutauchen, seine ursprüngliche, bislang verborgene Möglichkeit zu erschließen und es so in seiner inneren Wahrheit zu erfassen.

71

2. Der Begriff der Differenz an sich 2.1 Die selektive Prüfung Die Wahrheit eines Problems, seine innere Charakteristik, ist nicht in einem theorematischen Wesen zu suchen, sondern im Unwesentlichen: in den Ereignissen, Affektionen, Akzidentien, Mannigfaltigkeiten und Zufällen. Diese Figuren bezeugen die freie Gestalt der Differenz, jener Differenz an sich, die Probleme macht. Nun zeichnet sich das klassische Bild des Denkens aber dadurch aus, die Differenz an sich zu verkennen, sie systematisch auszuschließen, um dadurch die Welt der Repräsentation zu begründen. Mehr noch: Weil sie ihren Ausgangspunkt im Modell der Rekognition hat, ist diese Welt »durch ihre Unfähigkeit, die Differenz an sich selbst zu denken, gekennzeichnet« (DW: 180). Um also zu wahrhaft genetischen Bedingungen zu gelangen, muss zunächst diese Unfähigkeit, die Differenz an sich selbst zu denken, überwunden werden. Wie vieles anderes auch, hat diese Unfähigkeit ihren Anfang bei Platon. Deleuze zufolge ist es zwar richtig, »die Metaphysik durch den Platonismus zu definieren, es ist aber unzureichend, den Platonismus über die Unterscheidung zwischen Wesen und Schein zu definieren« (DW: 332). Die für Platon zentrale Unterscheidung zwischen Urbild und Abbild kann nämlich nicht auf die Unterscheidung zwischen Wesen und Schein reduziert werden. Da es mit der Idee als Urbild eine inhärente Beziehung unterhält, ist das Abbild keineswegs bloßer Schein. Die Beziehung zwischen Urbild und Abbild wird damit aber zum Problem. Wie kann man wissen, ob ein Abbild eine echte Beziehung zum Urbild unterhält? Hierfür entwickelt Platon eine originelle Teilungsmethode. Im Politikos wird der Politiker zum Beispiel als derjenige definiert, der die Menschen zu hüten vermag. Angesichts dieser Definition tauchen aber auch schon verschiedene Leute auf, z.B. Kaufleute, Ackerbauern, Bäcker oder Ärzte, die von sich behaupten: Der wahre Hüter der Menschen, das bin ich! Wie soll also unterschieden werden, wer von den Prätendenten nun der wahre Politiker ist? Hier kommt die Teilungsmethode von Platon ins Spiel. Sie hat nämlich folgenden Zweck: »Prätendenten, Bewerber unterscheiden, das Reine und das Unreine unterscheiden, das Echte und das Unechte.« (LS: 311) Das grundlegende Problem, das die gesamte Philosophie von Platon durchzieht, ist das der Selektion des richtigen Bewerbers. Wie aber vorgehen, um den richtigen Bewerber zu finden, das Reine vom Unreinen zu trennen? Wie wird der Unterschied gemacht? Um den richtigen Bewerber zu finden und den Unterschied zu machen, bezieht sich Platon im angeführten Beispiel zunächst auf einen Mythos. »In der Tat beruft sich der Politikos, sobald man an die Frage nach den 73

DER BEGRIFF DER DIFFERENZ AN SICH

Bewerbern gerät, auf das Bild eines Gottes, der der Welt und den Menschen in der archaischen Zeit gebietet: Einzig dieser Gott verdiene im eigentlichen Sinn den Namen eines Hüter-Königs der Menschen.« (DW: 89) Obwohl die Definition des Politikers nur auf einen archaischen Gott passt, liefert das Bild dieses Gottes aber dennoch das Selektionskriterium, die Idee, um zwischen den Bewerbern eine begründete Auswahl zu treffen. Mit dem Bild dieses Gottes taucht also eine Idee oder ein Grund auf, ausgehend von welchem es nun möglich ist, einen Unterschied zu machen und so die jeweiligen Ansprüche der Bewerber richtig einzuschätzen. In seinem ursprünglichen Sinn ist der Grund das Selbe oder Identische. Er verfügt über die höchste Identität, über eine Identität, die man der Idee […] zuschreibt. Was er ist, was er hat, ist er und hat er als erster. Und wer wäre mutig, wenn nicht der Mut, tugendhaft, wenn nicht die Tugend? Was der Grund begründen soll, ist also nur der Anspruch derer, die nachträglich ankommen, der Anspruch all derer, die bestenfalls als zweite besitzen werden. Was einen Grund verlangt, was an einen Grund appelliert, ist stets ein Anspruch, d.h. ein »Bild«: etwa der Anspruch der Menschen, mutig, tugendhaft zu sein. (ebd.: 340)

Dadurch, dass nun die Ähnlichkeit der Bewerber mit dem Grund bewertet werden kann, kann auch eine begründete Auswahl getroffen werden. Es ist das aber »keine äußere Ähnlichkeit mit dem Gegenstand, sondern eine innere Ähnlichkeit mit dem Grund selbst« (ebd.: 340), eine Ähnlichkeit, durch welche die innere Beziehung zwischen Urbild und Abbild bzw. Ebenbild bemessen wird. Der Unterteilungsmethode entspricht also eine auf Ähnlichkeit beruhende Selektion: Es wird immer Bewerber geben, die mehr oder weniger Ähnlichkeit mit dem Grund haben, die an der Idee also mehr oder weniger partizipieren. Die Differenz wird hier unter dem Prinzip des Selben und der Bedingung der Ähnlichkeit gedacht. Und es wird soviele Bewerber an dritter, vierter, fünfter Stelle geben, wie es Bilder gibt, die in der Hierarchie dieser inneren Ähnlichkeit begründet sind. Darum selektiert der Grund und differenziert zwischen den Bewerbern selbst. Jedes Bild oder jeder wohlbegründete Anspruch wird Repräsentation (Ebenbild) genannt, da das erste in seiner Rangordnung noch das zweite an sich, bezüglich des Grunds ist. In diesem Sinne eröffnet oder begründet die Idee die Welt der Repräsentation. (ebd.)

Im Politikos kann so beispielsweise unterschieden werden: zwischen dem wahren Politiker oder begründeten Bewerber, der aufgrund seiner inneren Ähnlichkeit mit dem Grund die darin enthalten Idee als zweiter besitzt; und allen anderen, die nur an dritter, vierter oder fünfter Stelle an dieser Idee partizipieren – bis hin zu den falschen Bewerbern, die, da sie überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit dem Grund besitzen, diese nur vortäuschen: die Trugbilder. 74

DIE SELEKTIVE PRÜFUNG

Das Trugbild ist jedoch weit mehr als das Abbild des Abbilds. Es ist nicht die unendlich aufgefächerte Ähnlichkeit und insofern auch nicht die letzte Stelle in der langen Rangfolge der Begründung. Zwischen Abbild und Trugbild gibt es keinen bloß graduellen Unterschied. Es muss vielmehr ein Wesensunterschied hervorgehoben werden, und zwar folgender: Das Abbild besitzt eine Ähnlichkeit mit dem Grund, das Trugbild besitzt keine Ähnlichkeit mit dem Grund. Das Trugbild ist das Unwesentliche, das bloß vortäuscht, ein Abbild zu sein und damit innerlich zum Wesentlichen zu gehören. Im Abbild findet man eine innere Ähnlichkeit mit dem Grund; im Trugbild aber findet man nichts, keine Ähnlichkeit, nur die Äußerlichkeit der Differenz, die bloß einen Ähnlichkeitseffekt produziert. Das heißt, wenn das Trugbild »einen äußeren Ähnlichkeitseffekt erzeugt, so als Illusion, nicht als inneres Prinzip; es ist selbst auf einer Disparität errichtet, es hat die Ungleichartigkeit seiner konstitutiven Reihen, die Divergenz seiner Blickwinkel interiorisiert, so daß es mehrere Dinge zugleich zeigt, mehrere Geschichten zugleich erzähl.« (DW: 167) Es steht für einen Untergrund, für ein subversives Werden, das, sobald es zu den Abbildern aufsteigt, die intelligible Ordnung gefährdet, in der diese Abbilder durch ihre innere Ähnlichkeit mit den Urbildern begründet sind. Wie sollte auch das Reine vom Unreinen, das Gute vom Schlechten, das Echte vom Unechten unterschieden werden, wenn nichts so bleibt wie es ist, wenn alles einem Werden ausgesetzt ist? Das Urbild, das Identische und seine Abbilder, müssen folglich vor der Gefahr des Werdens und seiner Trugbilder geschützt werden. Das wahre Problem des Platonismus besteht somit darin, diesem Werden eine Grenze zu setzen, es entweder ähnlich zu machen oder vollkommen zu verdrängen. »Es geht darum, für den Sieg der Abbilder, der Ebenbilder über die Trugbilder zu sorgen, die Trugbilder zu verdrängen, sie im Grund angekettet zu halten, sie am Aufstieg an die Oberfläche zu hindern, daran, sich überall ›einzuschleichen‹« (LS: 314) und damit die Ordnung der Repräsentation zu gefährden. Fassen wir zusammen: In einem ersten Moment werden Urbild und Abbild unterschieden. Dem Urbild kommt dabei eine übergeordnete und ursprüngliche Identität zu, denn einzig die Idee ist, was sie ist; dagegen werden die Abbilder nach einer abgeleiteten inneren Ähnlichkeit bemessen, die sie in einer hierarchischen Rangfolge auf einen Grund bezieht und damit begründbar macht. Deleuze zufolge ist es nun aber nicht diese Unterscheidung, die im Mittelpunkt des Platonismus steht. Die Unterscheidung zwischen Urbild und Abbild ist nämlich nur ein Vorwand, sie bildet nur das selektive Kriterium, um – in einem zweiten Moment – gute und schlechte Bilder zu unterscheiden: um also Abbilder von Trugbildern zu unterscheiden. Die Abbilder sind in ihrem Bezug zum Urbild begründet, die Trugbilder werden dagegen aber ausgesondert, da »sie weder der Prüfung des Abbilds noch dem Anspruch des Urbilds standhalten« 75

DER BEGRIFF DER DIFFERENZ AN SICH

(DW: 332). Wenn zwischen Urbild und Abbild unterschieden wird, dann um sich ein Kriterium zu verschaffen, das Trugbild und die darin enthaltene Differenz auszugrenzen. Die damit etablierte Grenze verläuft folglich zwischen dem Wesentlichen und dem Unwesentlichen: zwischen den Urbildern samt ihren begründeten Abbildern (dem »echten« Schein) auf der einen Seite und den grundlosen oder abgründigen Trugbildern (dem »unechten »Schein) auf der anderen Seite. Mit dem Platonismus beginnt folglich die lange Geschichte der Unterordnung und Ausgrenzung der Differenz (und des Werdens) zugunsten der Ordnung der Repräsentation (und ihrer Ur- und Abbilder). Allerdings ist es nicht Platon, der die Welt der Repräsentation entwickelt und mit ihr die Unterordnung der Differenz unter die Identität besiegelt. Er bereitet diese Welt sicherlich vor, er begründet sie und steckt ihre Domäne ab, er wählt und schließt alles das aus, was die konstitutiven Grenzen dieser Welt durcheinanderbringen könnte. Aber »die Entfaltung der Repräsentation als wohlbegründete und begrenzte, als endliche Repräsentation ist eher das Anliegen von Aristoteles« (LS: 317). Der Teilungsmethode von Platon wirft Aristoteles bekanntlich vor, eine schlechte Teilung zu vollziehen, also unvollständig und insofern auch unwissenschaftlich zu sein. »So teilt man etwa die Künste in Künste der Hervorbringung und Künste des Erwerbs; warum aber gehört das Angeln zum Erwerb? Es fehlt hier die Vermittlung, d.h. die Identität eines Begriffs, der als Mittelbegriff dienen kann.« (DW: 87 f.) Aus diesem Grund unterscheidet Aristoteles auch die Differenz im Allgemeinen von der bloßen Verschiedenheit oder Andersheit. Denn zwei Terme sind, so die Annahme, nur dann vollständig voneinander unterschieden, »wenn sie nicht durch sich selbst, sondern durch etwas unterschieden sind, wenn sie also auch in etwas anderem zusammenpassen« (ebd.: 51 f.). Man kann, um es mit einer banalen Redewendung zu veranschaulichen, schlecht Äpfel mit Birnen vergleichen, man kann aber süße und saure Äpfel miteinander vergleichen. Da es nämlich keine Äpfel gibt, die nicht entweder süß oder sauer sind, handelt es sich, gerade weil sie im Allgemeinbegriff des Apfels zusammenpassen, um einen vollendeten Unterschied. Um die Dinge nach ihrem Wesen zu definieren, muss dieser vollendete Unterschied, d.h. das Maximum an Differenz bestimmt werden.1 Dieses Maximum kann laut Aristoteles aber nur durch die Artdifferenz erreicht 1 In der Metaphysik formuliert Aristoteles diesen Grundsatz folgendermaßen: »Denn das Größte ist dasjenige, das nicht übertroffen werden kann, vollendet das, außerhalb dessen sich nichts finden läßt; denn der vollendete Unterschied (teleia diaphora) hat sein Ende erreicht, so wie auch alles übrige da­rum vollendet heißt, weil es zum Ende gelangt ist. Außerhalb des Endes aber liegt nichts; denn dies ist das Äußerste in allem und umschließt das Ganze« (Aristoteles 1966: 1055a,10–15).

76

DIE SELEKTIVE PRÜFUNG

werden. Denn indem sie einen Gattungsbegriff spezifiziert, geht sie bis zum Ende, teilt den Gattungsbegriff also vollständig auf. Auf diese Weise gewährleistet sie eine vollendete Bestimmung dieses Begriffs im Sinne einer lückenlosen oder »organischen Repräsentation« (DW: 53). So wird die Gattung »Lebewesen« etwa durch die Artdifferenz »Vernunftbegabt« in genau zwei Teile unterteilt, die wesentlich verschieden sind, weil sie sich in keiner Weise überschneiden: Alle Lebewesen sind entweder vernunftbegabt oder nicht – alle anderen Differenzen (die Andersheit oder Verschiedenheit) werden dagegen als unwesentliche Akzidenzien vernachlässigt. Damit ermöglicht die Differenz »den Übergang von benachbarten ähnlichen Arten zur Identität einer Gattung, die sie subsumiert, ermöglicht also die Entnahme oder den Ausschnitt von Gattungsidentitäten aus dem Fluß einer sinnlich gegebenen kontinuierlichen Reihe« (ebd.: 57). Und weil die Gattungen ihrerseits wiederum Arten auf einer übergeordneten Ebene sind (z.B. ist »Lebewesen« eine Art empfindender Organismus; »Pflanze« ist dagegen eine Art nicht-empfindender Organismus), kann der Baum des Wissens durch fortlaufende Spezifikation auch von ganz oben (Seinsbegriffe) bis ganz nach unten (Individualbegriffe), d.h. von einer Ebene zur nächsten durchgehend und vollständig definiert werden. Damit erfindet Aristoteles die klassische Welt der organischen Repräsentation. Die Artdifferenz ist aber niemals die Differenz an sich. Obwohl sie vorgibt, bis zum Ende zu gehen und damit ein Maximum an Differenz zu erreichen, entspricht dieses Maximum doch nur dem Gattungsbegriff, den sie gerade spezifiziert. Das heißt, das Maximum ist immer nur relativ zum spezifizierten Gattungsbegriff, geht also niemals über diesen Begriff hinaus. »Damit kann die Differenz nur noch ein Prädikat im Inhalt des Begriffs sein. Diese prädikative Natur der Artdifferenz ruft Aristoteles beständig in Erinnerung« (DW: 54).2 Die Differenz ist nur insofern denkbar, als dass sie einen Begriff spezifiziert.3Aus diesem Grund 2 Aristoteles bemerkt bekanntlich selbst, dass die organische Repräsentation auf ihrer höchsten und niedrigsten Ebene an ihre Grenzen kommt: »Jenseits und diesseits davon strebt die Differenz wieder zur bloßen Andersheit zurück und entzieht sich fast der Identität des Begriffs: Die Gattungsdifferenz ist zu groß, errichtet sich zwischen nicht-kombinierbaren Gliedern, die keine konträren Bezüge ergeben; die individuelle Differenz ist zu klein und besteht zwischen unteilbaren Gliedern, die ebenfalls keine Kontrarietät aufweisen« (DW: 52). Eine ausführliche Diskussion über den Aristotelischen Differenzbegriff bei Deleuze, sowie der damit einhergehenden Probleme des Größten (Gattungsdifferenz) und Kleinsten (individuelle Differenz) findet sich bei Somers-Hall (2012). 3 In dieser Hinsicht spricht Deleuze von der »kopernikanischen Revolution des Darwinismus« (DW: 314), denn die große Neuerung Darwins liegt »darin, daß er das Denken der individuellen Differenz begründet hat« (ebd.:

77

DER BEGRIFF DER DIFFERENZ AN SICH

ist sie auch von Anfang an der Identität im Begriff unterworfen. Darüber hinaus sorgt diese Unterwerfung aber dafür, dass jede Differenz, die sich der Identität im Begriff entzieht, kurzerhand als Übel oder Mons­ trum verstanden wird und deshalb entweder gerettet oder ausgeschlossen werden muss. Als Andersheit oder Verschiedenheit zeugt diese Differenz nämlich »von einem irreduziblen aufrührerischen Untergrund, der unter dem scheinbaren Gleichgewicht der organischen Repräsentation fortwirkt« (ebd.: 58) und dieses Geleichgewicht permanent mit seinen Monstrositäten unterwandert (z.B. ein Wesen, das zwischen zwei Kategorien steht oder von einer Kategorie zur anderen wandert). Auch hier geht es darum, eine Auswahl zu treffen und einen Unterschied zu machen: zwischen der organischen Welt der Repräsentation, in der Dinge ihrem Wesen nach definiert sind; und dem irreduziblen Untergrund der Kontingenz, der das organische Gleichgewicht der repräsentativen Ordnung fortlaufend gefährdet. Wenn es eine Kontinuität von Platon zu Aristoteles gibt, dann liegt sie in diesem Bemühen, den problematischen Untergrund der Differenz auszugrenzen. Freilich wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die klassischen Formen der Repräsentation nicht in der Lage sind, dem Wuchern der Differenz vollständig zu entgehen. Eine derartige Vorahnung des Untergrundes findet sich in unterschiedlicher Weise sowohl bei Hegel als auch bei Leibniz. Es geht in beiden Fällen nicht mehr darum, die Differenz, dem gesunden Menschenverstand folgend, in die Mitte zu tragen, um sie in der vermeintlichen Ruhe einer organischen Repräsentation den festen Grenzen des Organisierten anzupassen. Es geht vielmehr darum, das Ganze der Differenz begrifflich zu fassen – also auch in ihren Abgrund zu blicken. Die sich entziehende Differenz wird nicht mehr pauschal ausgeblendet, sie soll, und das ist das Entscheidende, in einer unendlichen Bewegung vielmehr eingeholt werden. Damit wird das Gebiet der Repräsentation ins Unendliche erweitert. Wenn Hegel in der Repräsentation die Unruhe des unendlich Großen entdeckt, dann ist es Leibniz, der in dieser die Unruhe des unendlich Kleinen erblickt. Indem sie die Repräsentation jeweils ins Unendliche treiben, gehen Hegel und Leibniz auf je unterschiedliche Weise über die klassische, endliche und organische Repräsentation hinaus. Beide versuchen damit, den irreduziblen 313) und nicht bei den differenzierten Individuen (Arten und Gattungen) stehen geblieben ist. Damit wird ein Begriff der Differenz ins Spiel gebracht, der sich nicht mehr ausgehend von begrifflichen Differenzen, d.h. den großen taxonomischen Einheiten, Gattungen, Familien, Ordnungen oder Klassen denken lässt. Im Gegenteil, es geht vielmehr um die Frage, »unter welchen Bedingungen freie, gleitende oder ungebundene kleine Differenzen zu abschätzbaren, gebundenen und festen Differenzen werden« (ebd.), die anschießend erst zu taxonomischen Einheiten verallgemeinert werden können.

78

DIE SELEKTIVE PRÜFUNG

Untergrund der Differenz in einer unendlichen oder »orgischen Repräsentation« (DW: 67) begrifflich einzuschließen. Wie Aristoteles bestimmt Hegel die Differenz als Gegensatz. Doch solange der Gegensatz in seiner Endlichkeit als Kontrarietät auf Gattungsbegriffe reduziert wird, bleibt er Hegel zufolge abstrakt. Deshalb fordert er auch, diesen Gegensatz als Widerspruch ins Unendliche zu treiben. Was wird dadurch aber erreicht? Die Bewegung der Dialektik besteht darin, »das Unwesentliche in das Wesen einzuschreiben und das Unendliche mit den Waffen einer endlichen synthetischen Identität zu erobern« (DW: 330). Der Kreis der Dialektik dreht sich dabei aber nach wie vor um ein einziges Zentrum, das Bewusstsein, und insofern kann sich diese Philosophie auch nicht vom Modell der Rekognition lösen, das ihre Bewegung fest an das Identische in der Repräsentation bindet. Man sagt, die Differenz sei die Negativität, sie führe oder müsse bis zum Widerspruch führen, sobald man sie bis an ihr Ende treibt. Dies stimmt nur in dem Maße, wie die Differenz bereits auf einen Weg gebracht, an einen Faden gebunden ist, der von der Identität ausgelegt wird. Dies stimmt nur in dem Maße, wie sie durch die Identität bis dorthin getrieben wird. Die Differenz ist der Untergrund, allerdings nur der Untergrund zur Manifestation des Identischen. Hegels Kreis ist […] bloß die unendliche Zirkulation des Identischen im Durchgang durch die Negativität. Die Hegelsche Kühnheit ist die letzte und mächtigste Hommage an das alte Prinzip. (ebd.: 75 f.)

Wenn sie sich also ins Unendliche aufschwingt und in den Untergrund eintaucht, dann nur, um diesen »als gänzlich undifferenzierten Abgrund, als differenzloses Universales, als indifferentes schwarzes Nichts« (ebd.: 345) zu repräsentieren. Aber dadurch, dass sie den Untergrund somit als Negativität für das Bewusstsein heraufbeschwört, beruft sich Hegels Dialektik weiterhin auf »die Selektion der Bewerber, de[n] Ausschluß des Exzentrischen und des Divergenten – im Namen einer höheren Finalität, einer essentiellen Wirklichkeit oder sogar eines Sinns der Geschichte« (LS: 318). Das heißt: Obwohl sie in den Abgrund blickt, berücksichtig die Hegelsche Dialektik die Differenz lediglich als ein in der Allgemeinheit des Begriffs bereits vermitteltes Moment. Exemplarisch hierfür ist das Problem der sinnlichen Gewissheit, das Hegel am Anfang seiner Phänomenologie des Geistes stellt. Darin beanstandet Hegel den Geltungsanspruch unvermittelter sinnlicher Erfahrung, da das Bewusstsein, so die Überlegung, ohne begriffliche Vermittlung etwas nur als dieses hier oder dieses jetzt anschaulich bestimmen kann. Da man nun aber von jedem Ding sagen kann, dass es ein »dieses hier« oder ein »dieses jetzt« ist, da alle empirischen Dinge also gleichermaßen »hier« und »jetzt« sind, muss das besondere Sein sinnlicher Erfahrungen, Hegel zufolge, als Allgemeinheit verstanden werden. 79

DER BEGRIFF DER DIFFERENZ AN SICH

Das Hier ist z.B. der Baum. Ich wende mich um, so ist diese Wahrheit verschwunden und hat sich in die entgegengesetzte verkehrt: Das Hier ist nicht ein Baum, sondern vielmehr ein Haus. Das Hier selbst verschwindet nicht; sondern es ist bleibend im Verschwinden des Hauses, Baumes usf. und gleichgültig, Haus, Baum zu sein. Das Dieses zeigt sich also wieder als vermittelte Einfachheit oder als Allgemeinheit. (Hegel 1986a: 85)

Was hier für Schwierigkeiten sorgt, ist das Werden, das bereits Platon mit der Dämonisierung des Trugbildes verbannen wollte. Das reine Sein der unvermittelten sinnlichen Erfahrung – das Sein des Sinnlichen, auf das sich der transzendentale Empirismus von Deleuze beruft – wird von Hegel im Rahmen einer dialektischen Vermittlung in den Stand der Allgemeinheit gehoben und damit verklärt. Es handelt sich nämlich um eine leere Allgemeinheit, da das Hier-und-Jetzt im Durchgang durch das Negative nur als allgemeines Nichts erhalten bleibt. Es ist nichts in ihm anzuschauen, wenn von Anschauen hier gesprochen werden kann; oder es ist nur dies reine, leere Anschauen selbst. Es ist ebensowenig etwas in ihm zu denken, oder es ist ebenso nur dies leere Denken. Das Sein, das unbestimmte Unmittelbare ist in der Tat Nichts und nicht mehr noch weniger als Nichts. (Hegel 1986b: 82 f.)

Hier tritt der ganze Unterschied zwischen Hegel und Deleuze zutage. Denn im Hier-und-Jetzt der empirischen Erfahrung, sieht Deleuze nicht etwas, das immer schon zu verneinen ist, ein reines Nichts, sondern vielmehr etwas, das bejaht werden muss, eine Singularität, also nicht ein leeres Denken, sondern gerade das, was wirklich zu denken gibt: den Augenblick der Begegnung. Wenn die Dialektik bei Hegel eine Bewegung sein soll, dann ist es lediglich die Bewegung eines abstrakten Begriffs, der Nichts und Niemanden begegnet und so im Reflexionselement der Repräsentation, bei der bloßen Allgemeinheit des Begriffs stehen bleibt. Denn das Hier-und-Jetzt wird als leere begriffliche Allgemeinheit gesetzt, als reines Nichts, das die empirische Differenz in seiner Bewegung als vermitteltes Moment mit sich ziehen soll: Aber »die Differenz folgt keineswegs und bleibt in der Tiefe ihres eigenen Raums hängen, im Hierund-Jetzt einer differentiellen Realität, die immer schon aus Singularitäten besteht« (DW: 78). Hegel vollführt zwar eine unendliche Bewegung, er blickt damit auch in den Untergrund der Kontingenz, da er diese Bewegung aber bloß »mit Wörtern und Repräsentationen vollzieht, ist sie eine falsche Bewegung, und nichts folgt« (ebd.). Die Bewegung des Negativen findet nur auf dem Papier statt. Der dialektische Blick ins Allgemeine genügt also nicht. Auch Hegel bleibt damit der selektiven Prüfung treu, jener Prüfung, die den Unterschied macht, »und zwar zwischen dem Tatsächlich-Realen und dem flüchtigen oder kontingenten Phänomen« (ebd.: 70), d.h., zwischen der allgemeinen Ordnung des Seins und dem 80

DIE SELEKTIVE PRÜFUNG

vermeintlichen Nichts empirischer Singularitäten. Auch hier soll, wenngleich auf spektakuläre Art und Weise, die allgemeine Welt der Repräsentation ihrem irreduziblen Untergrund gegenüber abgegrenzt und abgesichert werden. Auch Leibniz treibt die Repräsentation ins Unendliche. Doch im Unterschied zu Hegel, der, wenn man so will, aufs Ganze geht, um die Differenz in einem allgemeinen Begriff auf die Zerreißprobe zu stellen, geht Leibniz ins Detail, um die Differenz in einem individuellen Begriff zu vertiefen. Auch Leibniz möchte das Unwesentliche begrifflich fassen. Im Gegensatz zu Hegel geht er aber vom Unwesentlichen aus, von einer Unendlichkeit kleiner Differenzen, um zu sehen, wie diese analytisch in individuellen Wesenheiten (Monaden) oder individuellen Begriffen konvergieren. Während die Spezifizierung des individuellen Begriffs bei Aristoteles beispielsweise beim Menschen als infima species stehen bleibt, treibt Leibniz die Spezifizierung in einer unendlichen und insofern auch verrückten Bewegung bis ins kleinste Detail fort (z.B. definiert sich Caesars individueller Begriff, sein ganzes Wesen, auch durch kontingente Ereignisse, wie die Überquerung des Rubikons). Die Vorgehensweise von Leibniz, die Deleuze in demonstrativer Abgrenzung zur dialektischen Kontra-Diktion von Hegel als Vize-Diktion bezeichnet, besteht also darin, »das Wesen vom Unwesentlichen aus aufzubauen und das Endliche durch die unendliche analytische Identität zu erobern (die Differenz muß sich bis dahin vertiefen)« (DW: 330). Vor diesem Hintergrund ist auch die bekannteste These von Leibniz zu verstehen: Ein individueller Begriff bzw. eine jede Monade drückt die Totalität der Welt aus, und zwar bis ins letzte Detail – sie tut es aber von ihrer eigenen Perspektive aus. Damit erhält die ausgedrückte Totalität eine singuläre Krümmung, in der die ganze Individualität der ausdrückenden Monade zum Ausdruck kommt. Die singuläre Perspektive einer individuellen Monade entspricht dabei dem besonderen Verhältnis, das die Körper aller anderen Monaden zu ihrem eigenen haben, sowie den ausgezeichneten Punkten oder Singularitäten, die die Eigenart dieses Verhältnis abstecken und charakterisieren. Das heißt, eine Monade impliziert die Welt in ihrer Totalität, und zwar unendlich und bis ins letzte Detail, sie drückt von dieser Unendlichkeit aber »nur eine bestimmte Anzahl von Singularitäten ›deutlich‹ aus, jene, in deren Nachbarschaft die Monade sich bildet und die sich mit ihrem Körper verbinden« (LS: 144) – alle anderen Singularitäten drückt sie dagegen nur verworren, gleich einem Rauschen im Hintergrund aus. Die Totalität der Welt existiert dabei nur in den deutlich/verworren Perspektiven der individuellen Monaden – nicht jenseits oder hinter ihrer Perspektiven. In genau diesem Sinne ist Leibniz auch der philosophischen Tradition der Immanenz zuzuordnen: Es gibt nicht Blickpunkte auf die Welt, die Welt besteht vielmehr aus verschränkten Blickpunkten. 81

DER BEGRIFF DER DIFFERENZ AN SICH

Es wäre demnach falsch, zu glauben, die Welt existiere bloß in den Prädikaten, die der jeweiligen Monade inhärent sind und ihren individuellen Begriff spezifizieren. Für sich allein verweisen die Prädikate nämlich ausschließlich auf die (organische) Ordnung der Repräsentation (z.B. »Adam ist ein Sünder«). Was individuelle Monade durch inhärente Prädikate als Totalität der Welt aber ausdrücken, sind zunächst reale Ereignisse (z.B. »Adam hat gesündigt«). Denn als inhärente Prädikate werden nur jene bestimmt, die den zunächst kompossiblen Ereignissen entsprechen (die Monade des Adam-Sünders beinhaltet in prädikativer Form nur die künftigen und vergangenen, mit der Sünde Adams kompossiblen Ereignisse). Leibniz hat also ein klares Bewußtsein von der Vorgängigkeit und Ursprünglichkeit des Ereignisses gegenüber dem Prädikat. Die Kompossibilität ist auf ursprüngliche Weise, auf einer präindividuellen Ebene und durch die Konvergenz der Serien zu definieren, die von den Ereignissingularitäten gebildet werden, indem diese sich auf den Linien gewöhnlicher Punkte ausbreiten. (LS: 213 f.)

Die Prädikate, die einem individuellen Begriff inhärent sind, verweisen also auf Ereignisse oder vielmehr auf eine Welt von in sich verstrickten Ereignissen, die den Individuen darin konstitutiv vorausgeht. Während Aristoteles Sokrates durch das Prädikat »ist vernunftbegabt« abstrakt definiert, bestimmt Leibniz Caesar konkret durch Ereignisse aus seinem Leben (z.B. »hat den Rubikon überquert«). In seinem individuellen Begriff beinhaltet Adam, um hier noch ein anderes Beispiel heranzuziehen, nicht nur das Ereignis des Sündenfalls (»hat gesündigt«), sondern, dem Prinzip des zureichenden Grundes folgend, auch alle anderen, vorausgegangenen (die Verführung usf.) und zukünftigen Ereignisse (die Verbannung usf.), die seine Existenz in der Zeit betreffen. Das heißt, die Ereignisse »sind Arten von Verhältnissen, nämlich Verhältnisse zur Existenz und zur Zeit« (FA: 89). Der individuelle Begriff von Adam wird also weniger durch (gegensätzliche) Prädikate spezifiziert, er wird vielmehr durch eine lange Reihe von untereinander verwickelten Ereignissen konstituiert, von kompossiblen Ereignissen, die als lauter Singularitäten in seiner Umgebung konvergieren und durch ihn individuell ausgedrückt werden (Verführung, Sünde, Verbannung usw. bilden demnach eine Reihe von Ereignissen, die um den individuellen Begriff von Adam konvergieren). Gott hat insofern nicht Adam den Sünder (Subjekt + Prädikat) geschaffen, er hat die Welt geschaffen, in der Adam sündigt (Welt + Ereignis). Er hat die Welt geschaffen, in der das Ereignis seines Sündenfalls mit allen anderen, vergangenen und künftigen Ereignissen zusammenfällt oder kompossibel ist. Deshalb kann auch die Identität seines individuellen Begriffs bis zu Eva und weiter ins Unendliche analytisch vertieft 82

DIE SELEKTIVE PRÜFUNG

werden. Umgekehrt umfasst der individuelle Begriff von Eva auch Adam auf eine bestimmte, kompossible Art und Weise (der Sündenfall). Die Ereignisse müssen also zusammenpassen. Das bedeutet aber, dass ein jeder individuelle Begriff zunächst die Kompossibilität der ausgedrückten Welt voraussetzt »und diese wiederum die Verteilung reiner Singularitäten entsprechend den Konvergenz- und Divergenzregeln, die noch zu einer Logik […] des Ereignisses und eben nicht zu einer Logik der Prädikation und der Wahrheit gehören« (LS: 145). Leibniz setzt kein bereits konstituiertes und insofern auch nur noch zu spezifizierendes Individuum voraus, sondern interessiert sich primär dafür, wie präindividuelle Ereignissingularitäten im Verlauf ihrer Individuierung unter gewissen Kompossibilitätsbedingungen in individuellen Begriffen (Adam, Eva…) konvergieren. Leibniz liefert damit eine neue Individuationstheorie. Die präindividuellen Ereignissingularitäten gehen den Individuen, die sie zum Ausdruck bringen, in einer originellen Ereignislogik konstitutiv voraus. Kurz: die individuellen Wesenheiten werden ausgehend vom Unwesentlichen der Ereignisse konstituiert.4 Vor diesem Hintergrund ist Leibniz nach Deleuze auch »der erste große Theoretiker der alogischen Unvereinbarkeiten und darum der erste große Theoretiker des Ereignisses« (LS: 213). Denn einerseits bildet die in den einzelnen Monaden ausgedrückte Welt genau in dem Maße eine Welt, in dem sich die darin enthaltenen Ereignissingularitäten in alle Richtungen analytisch ineinander fortsetzen lassen, untereinander konvergieren und insofern kompossibel sind: »Eben diese Konvergenz definiert die ›Kompossibilität‹ als Regel einer Weltsynthese. […] Der außergewöhnliche Begriff der Kompossibilität wird demnach als ein Kontinuum von Singularitäten definiert, wobei die Konvergenz der Serien das ideelle Kriterium der Kontinuität darstellt.« (ebd.: 145) Wo diese Serien nun divergieren, beginnt andererseits aber eine ganz andere Welt, eine Welt, die mit der ersten Welt inkompossibel ist. Der Begriff der Inkompossibilität ist jedoch nicht auf den des Widerspruchs reduzierbar. Zu sagen, Adam würde gleichzeitig sündigen und nicht sündigen, wäre freilich ein Widerspruch. Es ist aber kein Widerspruch, zwei inkompossible Welten zu unterscheiden: eine, in der Adam sündigt; eine andere, in der Adam nicht sündigt. Ein Adam, der nicht sündigt, passt nicht in 4 Tatsächlich sieht Leibniz auch keinen Widerspruch zwischen dem Gesetz der Stetigkeit, das die Kontinuität im Unwesentlichen entfaltet und dem Prinzip des Nichtzuunterscheidenden, das die singulären Wesenheiten betrifft. »Das eine reguliert die Eigenschaften, die Affektionen oder vollständigen Fälle, das andere die Wesenheiten, die als ganze individuelle Notionen verstanden werden. Bekanntlich drückt jede dieser ganzen Notionen (Monaden) die Totalität der Welt aus; aber sie drückt sie gerade in einem gewissen Differential­verhältnis und in der Umgebung gewisser ausgezeichneter Punkte aus, die diesem Verhältnis entsprechen.« (DW: 73)

83

DER BEGRIFF DER DIFFERENZ AN SICH

unsere Welt, wäre also inkompossibel mit allen Ereignissen, die sich in unserer Welt analytisch ineinander fortsetzen. Er passt aber sehr wohl in eine andere Welt, die von unserer divergieren würde, insofern es dort der ausgebliebene Sündenfall ist, der sich in alle Richtungen fortsetzt (z.B. würde Eva nicht aus dem Paradies verbannt; Cäsar würde vielleicht nicht den Rubikon überschreiten und nicht Kaiser werden usw.). Leibniz kann damit als Vorreiter der vieldiskutierten »Viele-WeltenTheorie« gelten. Ein divergentes Ereignis kann ein Bifurkationspunkt sein, an dem sich eine andere, divergente Welt abzeichnet. In dieser anderen Welt würde dann ein anderer als der uns bekannte Adam, Cäsar, Christus, Judas oder Leibniz existieren. Mit dem Begriff der Inkompossibilität ist also nicht Widerspruch, sondern Divergenz gemeint, eine irreduzible Differenz – und damit auch die unaufhörliche Schöpfung von Neuem: Ein jedes Ereignis birgt die virtuelle Gelegenheit, dass alles anders wird. Gelingt es Leibniz damit aber, der Differenz an sich zu ihrem Begriff zu verhelfen, anstatt sie, der selektiven Prüfung folgend, in den Untergrund der Kontingenz zu verabschieden? Nein. Denn Leibniz unterläuft ein einziger, wenngleich folgenschwerer Fehler: Er macht, so Deleuze, nämlich einen rein negativen Gebrauch von dieser Divergenz. Denn angesichts eines berechnenden, vorausschauenden und deterministischen Gottes können für Leibniz schlecht unendlich viele Welten gleichzeitig koexistieren. Jedes infinitesimale Ereignis könnte dann den vorgesehenen Weltverlauf, die große Weltsynthese und damit die Omniszienz Gottes gefährden. Gott trifft Leibniz (1996) zufolge also eine Wahl: Aus allen möglichen Welten wählt er genau diejenige aus, die ein Höchstmaß an Konvergenz oder Kontinuität besitzt und insofern als die beste aller möglichen Welten erachtet werden kann. Damit perpetuiert Leibniz aber ebenso wie Hegel die selektive Prüfung der Differenz. Denn »Leibniz stellt die anderen Welten als weniger wohlbegründete ›Bewerber‹ dar« (LS: 318), um sie in all ihrer inkommensurablen Divergenz, einer Divergenz, die die ausgewählte Welt gefährden würde, abzugrenzen und damit zu negieren. Er macht einen rein negativen Gebrauch der Divergenz. Weil er der klassischen Metaphysik angehört, beruft sich Leibniz also auf Gott und macht damit dasselbe Identitätsprinzip geltend, das von Platon bis Aristoteles, aber später auch noch von Kant bis Hegel und darüber hinaus bis heute das Bild des Denkens bestimmt. Er unterwirft die Differenz dem alten Identitätsprinzip, bindet die Differenz ans Negative der Begrenzung und verklärt die Divergenz zu einem Ausschlusskriterium, demzufolge die beste aller Welten gegenüber allen anderen Welten abzugrenzen ist. Damit bemerkt er laut Deleuze nicht, dass die Divergenz Gegenstand von Bejahung sein muss, dass »die Inkompossibilitäten derselben Welt zugehören« (DW: 77) und die reale Welt insofern auch von möglichen Welten und Virtualitäten bevölkert sein kann. Nichtsdestotrotz kann die Bedeutung von Leibniz für das Denken von Deleuze aber 84

DIE SELEKTIVE PRÜFUNG

nicht ausreichend betont werden. Viele der Begriffe nämlich, die Deleuze aufgreift und weiterentwickelt, kommen ursprünglich gerade von Leibniz (Ereignis, Singularität, Differentialverhältnis, Integration, Expression usw.). In gewisser Hinsicht könnte man behaupten, Deleuze vertrete einen gottlosen Leibnizianismus – Deleuze hinter Leibniz mit dem großen Schnurrbart von Nietzsche. Sowohl bei Hegel als auch bei Leibniz wird der Begriff also in Bewegung gesetzt, der Untergrund aufgegriffen und die Differenz zwischen diesem und der Repräsentation auf einen Grund bezogen, der ihre Vermittlung ermöglicht. Aus dieser Bewegung resultiert zwar »eine Pluralität von Zentren, eine Überlagerung von Perspektiven, ein Gewirr von Blickpunkten, eine Koexistenz von Momenten, die die Repräsentation wesentlich deformieren« (DW: 83). Aber »genügt eine Multiplikation der Repräsentationen« (ebd.), um der Differenz auch tatsächlich zu ihrem Recht zu verhelfen, die Differenz an sich also wirklich zu begreifen? Deleuze zufolge genügt es nicht. Denn, ob nun als Gesichtspunkte bei Leibniz oder als Momente bei Hegel – die Differenz wird in jedem Fall noch von einem Zentrum aus konzipiert: Die Konvergenzbedingen der besten aller Welten bei Leibniz oder aber die Monozentrierung der Kreise in der Hegelschen Dialektik. Die unendliche Repräsentation verweist in beiden Fällen auf einen festen Grund, der im Unterschied zur endlichen Repräsentation zwar nicht das Identische selbst ist, jedoch »eine Art und Weise, das Identitätsprinzip besonders ernst zu nehmen, ihm einen unendlichen Wert zu verleihen, es koextensiv zum Ganzen zu machen und damit über die Existenz selbst herrschen zu lassen« (ebd.: 75). Es ist vollkommen unwichtig, ob die unendliche Identität von Welt und Ich (Gemeinsinn) nun »analytisch, in der Art des unendlich Kleinen, oder synthetisch, in der Art des unendlich Großen verstanden wird« (ebd.), ob die anvisierte Unendlichkeit also die synthetische Identität eines Selbst umkreist oder in der analytischen Identität eines Ichs konvergiert. In beiden Fällen bezieht sich die vorausgesetzte Identität nämlich rein negativ auf ihren Untergrund: als Negativität der Beschränkung bei Leibniz; als Negativität des Widerspruchs bei Hegel. Sowohl bei Leibniz als auch bei Hegel bleibt die Differenz trotz ihrer Wendung ins Unendliche somit dem alten Identitätsprinzip treu. Die unendliche Repräsentation besitzt also denselben Mangel wie die endliche Repräsentation: Sie verwechselt nämlich den eigenen Begriff der Differenz mit der Niederschrift der Differenz in die Identität des Begriffs überhaupt (obwohl sie die Identität als reines unendliches Prinzip und nicht als Gattung begreift, und obwohl sie die Rechte des Begriffs überhaupt aufs Ganze ausdehnt, anstatt dessen Schranken zu fixieren). (ebd.: 76)

85

DER BEGRIFF DER DIFFERENZ AN SICH

Das Wuchern der Differenz ist im Rahmen der unendlichen Repräsentation nur vorgetäuscht, es handelt sich um ein bereits vorgeformtes Delirium, das den Untergrund nur als Manifestation des Identischen oder Selben aufsteigen lässt. Sicherlich muss berücksichtig werden, dass Leibniz weiter geht als Hegel, dass »bei Leibniz der Untergrund mit höherer Macht rumort« (ebd.: 332). Schlussendlich halten aber beide am alten Identitätsprinzip fest, um, davon ausgehend, den für die Welt der Repräsentation konstitutiven Unterschied zu machen, um also weiterhin die von Platon stammende selektive Prüfung zu vollziehen und damit die intelligible Ordnung der (unendlichen) Repräsentation ihrem aufrührerischen und irreduziblen Untergrund gegenüber abzugrenzen. Dem klassischen Bild des Denkens zufolge ist die Differenz also nur als bereits repräsentierte Differenz denkbar. Das bedeutet, dass sie sie immer schon einer begrifflichen Identität, einer beurteilten Analogie, einem vorgestellten Gegensatz oder einer wahrgenommenen Ähnlichkeit untersteht. Insofern ist die Differenz stets zweitrangig: Sie ist nur zu oder in etwas anderem denkbar. An sich selbst ist sie diesem Bild zufolge also undenkbar und kann auch nicht gedacht werden. Denn eine Differenz, die nicht den Anforderungen der Repräsentation entspricht, die also nicht in einer Identität begriffen, in einer Analogie beurteilt, in einem Gegensatz vorgestellt oder in einer Ähnlichkeit wahrgenommenen werden kann, muss diesem Bild zufolge maßlos, unkoordiniert, anorganisch sein: zu groß oder zu klein, und zwar nicht nur hinsichtlich ihres Gedachtseins, sondern auch ihres Seins. Als nicht länger gedachte verläuft sich die Differenz im Nicht-Sein. Man schließt daraus, daß die Differenz an sich verflucht bleibt und büßen muß, oder daß sie in den Formen der Vernunft gesühnt werden muß, durch die sie erträglich und denkbar und zum Gegenstand einer organischen Repräsentation gemacht wird. (DW: 229)

Gerade dadurch können die genetischen Bedingungen, die Bedingungen, unter denen Neues entsteht, aber nicht konzipiert werden. Denn die ungezähmte Differenz, die Differenz an sich, die wirklich zu denken gibt, gerade weil sie sich der Ordnung der Repräsentation entzieht und insofern immer erst begriffen werden muss, wird darin durch eine gezähmte Differenz ersetzt, eine bereits in den Begriff eingeschriebene Differenz, die dem Denken stets behütend zuvorkommt und es damit unweigerlich an die Ordnung der Repräsentation bindet. Vor allem das Scheitern der orgischen Repräsentation hat gezeigt, dass es nicht ausreicht, die Differenz besonders ernst zu nehmen und ihr bis ins Unendliche zu folgen, um sie als Ganze in den Begriff einzuschreiben. Denn solange der Ausgangspunk für diese Bewegung die Form des Identischen oder des Selben bleibt, ist das Denken der Differenz an sich, der Versuch also, ihr einen eigenen Begriff zu verschaffen, von vornherein zum 86

DIE SELEKTIVE PRÜFUNG

Scheitern verurteilt. Es war nach Deleuze »der Fehler der Philosophie der Differenz von Aristoteles über Leibniz bis Hegel, daß sie den Begriff der Differenz mit einer bloß begrifflichen Differenz verwechselte, indem sie sich mit der Einschreibung der Differenz in den Begriff überhaupt begnügte.« (DW: 46) Egal ob diese Einschreibung nun im Endlichen einer organischen Repräsentation verbleibt, oder sich ins Unendliche einer orgischen Repräsentation aufschwingt – in jedem Fall muss die damit begründete Welt der Repräsentation »durch ihre Unfähigkeit, die Differenz an sich selbst zu denken, gekennzeichnet« (ebd.: 180) werden. Denn denkbar ist die Differenz in dieser Welt nur als repräsentierte oder repräsentierbare. Die nicht repräsentierbare Differenz, die Differenz an sich, das Inkommensurable des Werdens, des Zufalls, der Mannigfaltigkeit, der Divergenz, der Disparität etc., darf dagegen nicht sein und muss, um den vermeintlichen Einklang dieser Welt nicht zu gefährden, als undenkbarer Rest ausgegrenzt werden. Dieses Unvermögen, die Differenz an sich selbst zu denken, stellt aber nicht bloß einen einfachen, leicht zu vermeidenden Irrtum dar. Es handelt sich eher um eine echte »transzendentale Illusion« (DW: 333). Kant war es, der den Begriff des Irrtums, der zuvor noch von Descartes als äußerliche Störung konzipiert worden war, mit dem Begriff einer inneren, der Vernunft inhärenten Illusion ersetzt hat. Die Illusion ist transzendental, weil sie nicht einen vermeidbaren Zwischenfall, sondern vielmehr eine unvermeidbare Notwendigkeit des Denkens markiert. In den Worten von Kant handelt es sich dabei um eine natürliche Illusion, »die gar nicht zu vermeiden ist, so […] wenig selbst der Astronom verhindern kann, daß ihm der Mond im Aufgange nicht größer scheine, ob er gleich durch diesen Schein nicht betrogen wird« (Kant 1956: B354). Wird die Differenz der Identität im Begriff, der Ähnlichkeit in der Wahrnehmung, dem Gegensatz in der Prädikation und der Analogie im Urteil unterworfen, dann handelt es sich also um vier innere Illusionen, die das Denken notwendigerweise (und berechtigterweise) voraussetzt, um seinen eigenen Anforderungen im Modell der Rekognition zu entsprechen. Das heißt, keine Rekognition ohne Pauschalisierung. Gemeinsam verweisen diese vier inneren Illusionen jedoch auf eine letzte Illusion, eine Illusion, die sich für den Begriff der Differenz schlussendlich als fatal erweist: die Illusion eines undifferenzierten Untergrunds. Dass der Untergrund »ohne Differenz sei, während er doch davon wimmelt, ist die äußerste Illusion, die Illusion, die außerhalb der Repräsentation liegt und aus allen inneren Illusionen resultiert« (DW: 346). Es ist die Illusion, dass die nicht repräsentierbare Differenz überhaupt nicht Differenz ist und insofern auch gar nicht sein kann. Eben deshalb soll sie negiert und ausgegrenzt werden. Zum Tragen kommt diese Illusion, diese Verkennung eines aufrührerischen und irreduziblen Untergrunds, vor allem in den beiden Negativitätsformen (Beschränkung und Gegensatz) im klassischen Bild des Denkens. Denn 87

DER BEGRIFF DER DIFFERENZ AN SICH

immer wenn wir uns vor oder in einer Beschränkung, vor oder in einem Gegensatz befinden, müssen wir danach fragen, was eine derartige Situation voraussetzt. Sie setzt ein Gewimmel von Differenzen voraus, einen Pluralismus von freien, wilden oder ungezähmten Differenzen, einen im eigentlichen Sinn differentiellen, ursprünglichen Raum und eine differentielle, ursprüngliche Zeit, die über die Vereinfachungen der Grenze oder des Gegensatzes hinweg fortbestehen. (ebd.: 76)

Um die Differenz an sich zu denken, muss dieser Untergrund, muss dieses Gewimmel von irreduziblen Differenzen also vor jeder repräsentationslogischen Vereinfachung berücksichtig werden. Und wenn es stimmt, dass »der Vorrang der Identität, wie immer sie auch gefaßt sein mag, […] die Welt der Repräsentation« (ebd.: 11) definiert, dann besteht die Aufgabe einer neuen Philosophie der Differenz, einer Philosophie, die der Differenz an sich zu ihrem eigenen Begriff verhilft, Deleuze zufolge auch darin, diesen Vorrang nicht nur zu hinterfragen, sondern ihn auch umzukehren: nicht mehr die Identität, sondern die Differenz muss primär sein. Auf das Identitätsprinzip wird zwar nicht verzichtet, es wird nun aber »als sekundäres Prinzip, als gewordenes Prinzip« (ebd.: 65) verstanden. Es ist nicht mehr die Differenz, die der Identität hierarchisch unterworfen ist, es muss nun die Identität sein, die um das Differente kreist: die blitzartig aus dem Gewimmel der Differenz als ein Effekt heraussticht.

2.2 Das Identitätsprinzip Oft schon wurde darauf hingewiesen, wie bedeutend der philosophische Wandel war, den Kant und die Nachkantianer vollzogen haben, um von der klassischen Negativität der Beschränkung zur modernen Negativität des Gegensatzes zu gelangen. Diese zwischen Präkantianismus und Postkantianismus liegende Zäsur muss Deleuze zufolge aber angezweifelt werden. Denn laut Bergson, auf den sich Deleuze hier beruft, markieren die beiden Negationsformen nicht zwei Momente eines Umbruchs, sie stehen vielmehr für ein und dieselbe Illusion. Es läuft nämlich auf dasselbe hinaus, ob man einen Negativbegriff wie den des Nicht-Seins nun vom Sein her als Grenze einer Abstufung begreift, in der alle Dinge analytisch einbezogen sind, oder ob man ihn als Gegensatz zum Sein begreift, in dem alle Dinge synthetisch erzeugt werden. Anstatt eine Vielheit von Realitäten zu unterscheiden, hebt man ein besonderes Sein einfach ins Allgemeine, gibt das Besondere also einfach als Allgemeines aus, um dann alles, was davon abweicht, die anderen besonderen Realitäten, pauschal als Nicht-Sein zu negieren. Wenn wir etwa, um hier auf ein bekanntes Beispiel von Bergson (B|SE: 265) zurückzugreifen, ein Schlafzimmer betreten und es für unordentlich 88

DAS IDENTITÄTSPRINZIP

halten, dann nicht, weil das Schlafzimmer ohne jegliche Ordnung ist, sondern weil wir darin eine andere Ordnung vorfinden als jene, die wir erwartet haben. Wir haben nämlich ein gemachtes Bett erwartet, aber nur ein ungemachtes Bett vorgefunden. Doch ein ungemachtes Bett ist nicht ohne Ordnung. Ganz im Gegenteil: Es hat eine besondere Ordnung, und zwar jene, die der Körper aufgrund seiner mechanischen Bewegungen im Schlaf im Laufe der Nacht darin hinterlassen hat. Jede Falte ist ganz genau dort, wo sie nach einer langen Nacht auch zu sein hat. Zu sagen, das Schlafzimmer sei unordentlich, bedeutet also nur, dass eine besondere Ordnung (das gemachte Bett) verallgemeinert und damit zum vermeintlichen Inbegriff von Ordnung überhaupt gemacht wird, um dann alles, was nicht exakt dieser einen Ordnung entspricht (das ungemachte Bett), kurzerhand als Unordnung zu negieren. Man kann freilich sagen, das ungemachte Bett sei mehr oder weniger (Begrenzung) unordentlich oder widerspreche (Widerspruch) vollkommen einem ordentlichen Bett. In beiden Fällen dient die Negation aber nur der Verallgemeinerung einer besonderen Ordnung und der konstitutiven Ausgrenzung aller anderen. In diesem Sinne macht es auch keinen Unterschied, ob das Negative nun als Beschränkung in der analytischen Identität Gottes oder als Gegensatz in der synthetischen Identität eines Ichs begriffen wird. In beiden Fällen dient dasselbe Identitätsprinzip nämlich als Ausgangspunkt für die Bewegung der Negativität. Allenfalls wird der Prozeß bald in der analytischen Substanz Gottes, bald in der synthetischen Form des Ich begründet. Aber Gott oder Ich sind dasselbe. In beiden Fällen verbleibt man im hypothetischen Element des bloßen Begriffs, dem man einmal die unendlichen Abstufungen einer identischen Repräsentation, einmal den unendlichen Gegensatz zweier konträrer Repräsentationen unterordnet. (DW: 257)

Es ist also unwichtig, ob das Negative nun als Negativität der Beschränkung oder als Negativität des Gegensatzes begriffen wird und es ist ebenso unwichtig, ob die Identität, die dabei vorausgesetzt wird, nun eine analytische oder synthetische Identität sein soll – in beiden Fällen wird die Differenz gleichermaßen aufs Negative reduziert und dem Identischen untergeordnet.5 Zwischen klassischer Metaphysik oder Präkantianismus 5 Vor allem steht hier also der Begriff der Differenz selbst auf dem Spiel. Denn wenn es eines gibt, was die Philosophie der Differenz Deleuze zufolge zurückzuweisen hat, dann ist es dies: »omnis determinatio est negatio. Man weist die allgemeine Alternative der unendlichen Repräsentation zurück: entweder das Unbestimmte, das Indifferente, das Undifferenzierte, oder eine bereits als Negation bestimmte Differenz, die das Negative impliziert und umhüllt (damit weist man auch die besondere Alternative zurück: Negatives der Beschränkung oder Negatives des Gegensatzes). Die Differenz ist ihrem

89

DER BEGRIFF DER DIFFERENZ AN SICH

und moderner Philosophie oder Postkantianismus kann – zumindest in dieser Hinsicht – also schlecht eine echte Zäsur geltend gemacht werden. Denn »synthetisches endliches Ich oder analytische göttliche Substanz, das ist dasselbe« (ebd.: 85), bedeutet also keinen echten Umbruch. Das Ich ist bloß die neue Gestalt, durch die die Unterordnung der Differenz unter die Identität mittels Negativität gewährleistet wird. Eben deshalb muss die Tragweite der transzendentalen Revolution von Kant laut Deleuze auch hinterfragt werden. Denn obwohl sie angetreten ist, um die klassische Metaphysik hinter sich zu lassen, schafft es die Transzendentalphilosophie nicht, endgültig über diese hinauszukommen. Wie die klassische Metaphysik beruft sie sich noch auf eine transzendente Instanz. Diese wird zwar neu eingekleidet, hat nichts göttliches mehr, sondern erhält mit dem Ego eine neue, eine durch und durch geerdete, moderne Gestalt, zwingt aber nach wie vor dieselbe Alternative auf: »entweder ein undifferenzierter Untergrund, Ungrund, formloses Nichtsein, differenz- und eigenschaftsloser Abgrund – oder aber ein selbstherrlich individuiertes Sein, eine stark personalisierte Form.« (LS: 139) Sowohl in der klassischen Metaphysik als auch in der Transzendentalphilosophie ertönt damit derselbe Imperativ: alles oder nichts. In der klassischen Metaphysik wird diese allumfassende Ordnung – ein Sein, das unendlich und vollständig durch seinen Begriff bestimmt ist – bekanntermaßen an die Individualität eines höchsten Wesens, an Gott gebunden, um eine ursprüngliche Wirklichkeit zu benennen, der sich endliche Individuen – wie Prätendenten – mit ihren abgeleiteten Begriffen anzunähern haben. In der modernen Trans­zendentalphilosophie wird diese Ordnung zwar eher durch »die endliche synthetische Form der Person als das unendliche analytische Sein des Individuums« (ebd.) charakterisiert, die Auswechslung von Mensch und Gott, die große Zäsur, die damit vollzogen wird, lässt die tradierte Alternative aber unangetastet bestehen. Denn egal ob man nun von der analytischen Identität Gottes ausgeht und die Differenz als Negativität der Beschränkung begreift oder ob man von der synthetischen Identität des Egos ausgeht und die Differenz als Negativität Wesen nach Gegenstand von Bejahung, Bejahung selbst. In ihrem Wesen ist die Bejahung selbst Differenz.« (DW: 89) Dagegen zitiert Hegel in seiner Wissenschaft der Logik diese von Spinoza stammende Aussagen, omnis determinatio est negatio, um auf etwas zu verweisen, was von »unendlicher Wichtigkeit« ist: der Umstand, »daß die Bestimmtheit Negation ist« (Hegel 1986b: 121). Damit definiert Hegel die Bestimmung der Dinge, ihre konstitutive Differenz als Negation und eben nicht als Bejahung. Tatsächlich gibt Hegel diese Aussage von Spinoza aber irreführend wieder, indem er sie (bewusst oder unbewusst?) verkehrt herum liest, um den Aspekt der Negation damit in den Mittelpunkt zu stellen. Vgl. hierzu die ausgezeichnete Studie von Pierre Macherey (2019).

90

DAS IDENTITÄTSPRINZIP

des Gegensatzes begreift – immer ist es die von Platon stammende selektive Prüfung, die den Unterschied macht, den Unterschied zwischen einer intelligi­blen Ordnung, in der das Wesentliche repräsentationslogisch eingefasst ist, und einem irreduziblen Untergrund, in den das Unwesentliche verabschiedet wird. Wenn sich in dieser Hinsicht etwas geändert hat, dann ist es bloß der Umstand, dass die althergebrachte platonische Welt der Eben- oder Abbilder langsam, aber sicher der modernen Welt der Repräsentation weichen musste. Mit seiner Theorie der Idee hat Platon also eine Transzendenz erfunden, die, obgleich sie sich am Mythos inspiriert, nicht einfach »über« den Dingen in einer fernen, überirdischen Welt zu verorten ist, sondern den Dingen vielmehr inhärent ist (die inhärente Ähnlichkeit mit dem Urbild) und damit im Immanenzfeld selbst liegt. »Und die moderne Philosophie wird Platon darin auch weiterhin folgen: Im Inneren des Immanenten als solchem begegnet man einer Transzendenz. Das vergiftete Geschenk des Platonismus liegt darin, dass er der Transzendenz einen plausiblen philosophischen Sinn gegeben hat.« (KK: 185) Dies zeigt schließlich auch, warum die Transzendenz Deleuze (und Guattari) zufolge »eine typisch europäische Krankheit« (TP: 31) ist. Was sich von Platon bis Kant (und über diesen hinaus) nämlich vehement gehalten hat, das ist die Transzendenz, die zunächst der Originalität der platonischen Idee, dann aber der Authentizität des Cogito im modernen Subjekt zugesprochen wurde. Das »Selbe« der platonischen Idee als Urbild, das durch das Gute gewährleistet wird, ist der Identität des ursprünglichen Begriffs gewichen, der im denkenden Subjekt gründet. Das denkende Subjekt überträgt dem Begriff seine subjektiven Begleitmomente, Gedächtnis, Rekognition, Selbstbewußtsein. Die moralische Weltsicht aber ist es, die sich auf diese Weise fortsetzt und sich in dieser subjektiven, als Gemeinsinn (cogitatio natura universalis) affirmierten Identität repräsentiert. (DW: 333)

Selbst wenn die moderne Philosophie ihre moralischen Wurzeln bei Platon vergessen wird, so werden es doch genau diese moralischen Anforderungen sein, die »in der Unterscheidung von Ursprünglichem und Abgeleitetem, Anfang und Folge, Grund und Begründetem fortwirken, in einer Unterscheidung, die durch eine Fortsetzung der Komplementarität von Urbild und Abbild die Hierarchien einer repräsentativen Theologie ins Leben ruft« (ebd.), um die Differenz als das Böse, das dämonische Trugbild, auszugrenzen. Die kopernikanische Wende, die Kant einleitet, rückt das denkende Subjekt aufgrund seiner Endlichkeit in den Mittelpunkt und macht aus der Immanenzebene ein Bewusstseinsfeld, d.h. eine dem ersten Satz des Bewusstseins, dem Cogito, zugehörige und insofern »gottlose« Erfahrung. Damit gelingt es Kant laut Deleuze aber nicht, seine transzendentale 91

DER BEGRIFF DER DIFFERENZ AN SICH

Kritik zu realisieren. Die alte Transzendenz, die durch die Wende auf die konstitutive Endlichkeit des Subjekts zunächst gebannt schien, wird nämlich über die Identität im Gemeinsinn auf einer transzendentalen Ebene wieder einführt. Sicherlich verwirft Kant jeden transzendenten Gebrauch der Synthese, aber er bezieht »die Immanenz auf das Subjekt der Synthese als neue Einheit, als subjektive Einheit« (WP: 55), die über diese Immanenz gebietend hinausweist. Damit findet Kant die moderne Art zur Rettung der Transzendenz: nicht mehr die Transzendenz eines Etwas oder eines Einen, das über allem steht (Kontemplation), sondern die Transzendenz eines Subjekts, dem sich das Immanenzfeld nicht zuschreibt, ohne nicht zugleich zu einem Ich zu gehören, das sich notwendigerweise ein derartiges Subjekt vorstellt (Reflexion). (ebd.)

Nach Kant ist es vor allem Husserl, der das Projekt der Transzendentalphilosophie aufgreift und weiterführt. Im Unterschied zu Kant begreift Husserl die Immanenz dabei auch nicht mehr als abstrakt-mögliches Erfahrungsfeld, sondern als einen der transzendentalen Subjektivität immanenten Strom des Erlebens. Weil dieses reine oder wilde Erleben aber »nicht gänzlich zum Ich gehört« und insofern über seinen Vorstellungsraum hinausweist, kehrt laut Deleuze auch hier am Horizont etwas Transzendentes zurück: einmal in der Form einer ›immanenten oder ursprünglichen Transzendenz‹ einer von intentionalen Objekten bevölkerten Welt, ein andermal als privilegierte Transzendenz einer intersubjektiven, von anderen Ichs bevölkerten Welt, ein drittes Mal als objektive Transzendenz einer ideellen, von kulturellen Formationen und durch Gemeinschaft der Menschen bevölkerten Welt. (ebd.)

Auch wenn die Immanenzebene nicht mehr einem abstrakten Ego zugeschrieben wird, so muss im Inneren dieser Immanenzebene nun aber die Transzendenz als Akt erscheinen, als ein intentionaler, aber auch intersubjektiver oder kultureller Akt, der »auf ein anderes Ich, auf ein anderes Bewusstsein verweist« (ebd.) und das Postulat des Gemeinsinns, die doppelte Identität von Subjekt und Objekt, insofern nicht mehr als Kontemplation oder Reflexion, sondern als Kommunikation voraussetzt. Die Transzendenz wird hier durch das Ideal einer intersubjektiven Kommunikation wiedereingeführt. Im Ideal der Kommunikation ist die Übereinstimmung von Subjekt und Objekt (Gemeinsinn) bereits de jure als stilles Einverständnis mit der Welt und dem Anderen angelegt. Man begnügt sich nicht mehr damit, die Immanenzebene an eine ferne, übersinnliche Transzendenz zu verweisen, man möchte im Inneren der Immanenz, im Erleben, einen transzendenten Rest finden, der in der Lage ist, als Ankerpunkt zu dienen. Und dies geschieht nicht nur bei Husserl, sondern auch »bei vielen seiner Nachfolger, die im Anderen oder im 92

DAS IDENTITÄTSPRINZIP

Leib die Maulwurfsarbeit des Transzendenten in der Immanenz selbst« (ebd.) verorten.6 Ein Beispiel hierfür ist die einflussreiche Wissenssoziologie von Peter L. Berger und Thomas Luckmann. Was im Anschluss an Husserl als phänomenologischer Gemeinsinn oder als ein ursprüngliches Einverständnis mit der Welt und dem Anderen verstanden werden muss, bezeichnen sie, soziologisch gewendet, als Alltagswelt und machen daraus »die oberste Wirklichkeit« (Berger/Luckmann 1969: 24) einer Gesellschaft. Ausgehend von diesem Postulat einer ursprünglichen gemeinsamen Alltagswelt lassen sich auch alle Arten intersubjektiver Handlungen (z.B. objektivierende Typisierungen) begründen: »Tatsächlich kann ich in der Alltagswelt nicht existieren, ohne unaufhörlich mit anderen zu verhandeln und mich mit ihnen zu verständigen. Ich weiß, daß meine natürliche Einstellung zu dieser Welt der natürlichen Einstellung anderer zu ihr entspricht.« (ebd.) Grundannahme ist also eine naturwüchsige Gewissheit, die jedermann ebenso an sich selbst wie auch an den anderen erleben kann: »Die Natürliche Einstellung ist die Einstellung des normalen Jedermannsbewußtseins, eben weil sie sich auf eine Welt bezieht, die für jedermann eine gemeinsame ist. Jedermannwissen ist das Wissen, welches ich mit anderen in der normalen, selbstverständlich gewissen Routine des Alltags gemein habe.« (ebd.) Obwohl im englischen Original nicht wörtlich von »Jedermann« die Rede ist, zeigt sich doch, dass Berger und Luckmann, da sie die identitätsstiftende Instanz des Gemeinsinns als »Jedermannsbewusstsein« voraussetzen, am dogmatischen Bild des Denkens festhalten und es lediglich soziologisch einfärben.7 Dagegen möchte Deleuze nun die Immanenz als Immanenz denken. Denn »wann immer die Immanenz als dasjenige interpretiert wird, was 6 Marc Rölli bringt diesen Umstand folgendermaßen auf den Punkt: »Husserls Intentionalität, Heideggers und Sartres ontologische Transzendenz, Plessners exentrische Positionalität und überhaupt die Konzeption der Intersubjektivität oder der ›Mitwelt‹, die sich am kommunikativen Ideal einer Beziehung zwischen Ich und Anderem orientiert, – das Ich ist nur Ich, weil es in seinem Wesen liegt, sich auf ein anderes Ich hin zu überschreiten, von dem es z.B. begehrt, begehrt zu werden (frei nach Kojève) – repräsentieren diese letzte Form einer ursprünglichen Transzendenz, die sich auf fertig vorgegebene Ich-Entitäten bezieht, deren Weltabgeschnittenheit sie kompensiert.« (Rölli 2018a: 66) 7 Was im Rahmen einer intersubjektiven Kommunikation de jure als natürliches Einverständnis vorausgesetzt wird, ist nach Deleuze und Guattari eher die kontingente, gewaltsame Wirkung von Aussagen. Sprache dient in erster Linie nicht dazu, etwas mitzuteilen oder sich zu verständigen, sondern dazu, etwas anzuweisen und zu befehlen. »Die Grundeinheit der Sprache – die Aussage – ist der Befehl oder das Kennwort, die Parole. Anstatt den gesunden Menschenverstand zu definieren, also das Vermögen, das die

93

DER BEGRIFF DER DIFFERENZ AN SICH

einer Sache immanent ist – kann man sicher sein, daß diese Sache, dieses Etwas das Transzendente von neuem einführt.« (WP: 54) Das immanente Feld der Erfahrung darf nicht etwas anderem als sich selbst immanent sein. Aus diesem Grund muss – will man die transzendentale Kritik tatsächlich realisieren und dabei auch zu wirklich genetischen Bedingungen gelangen – bei der Begründung des transzendentalen Feldes auf diese »Sache«, auf jenen ersten Knoten verzichtet werden, der das Denken von vornherein an das Modell der Rekognition knüpft: den ersten Satz des Bewusstseins, das Cogito. Es ist nämlich das Cogito, das dem Postulaten des Gemeinsinns und des gesunden Menschenverstandes als subjektive Voraussetzung oder als Ankerpunkt dient, um die Differenz dem Identitätsprinzip zu unterwerfen und damit als rein begriffliche Differenz in der Ordnung der Repräsentation zu verklären. Damit beraubt man sich jedoch der Möglichkeit, zu genetischen Bedingungen zu gelangten. Denn wenn die Differenz durch das denkende Subjekt der Identität des Begriffs untergeordnet wird (und sei diese Identität auch synthetisch), so verschwindet gerade die Differenz im Denken, jene Differenz des Denkens mit dem Denken, jene Genitalität des Denkens, jener tiefe Riß im Ego, der es veranlaßt, nur dadurch zu denken, daß es seine eigene Passion und noch seinen eigenen Tod in der reinen und leeren Form der Zeit denkt. Die Differenz im Denken wiederherstellen heißt: jenen ersten Knoten auflösen, der darin besteht, die Differenz unter der Identität des Begriffs und des denkenden Subjekts zu repräsentieren. (DW: 333)

Diesen ersten Knoten aufzulösen bedeutet, das transzendentale Feld von der Transzendenz des Egos zu befreien. Das Feld der Erfahrung muss zweifellos als Immanenzebene begriffen werden, doch darf diese Immanenzebene nur sich selbst immanent sein, nicht etwas anderem: keinem transzendentalen Subjekt, das sich diese Ebene reflexiv unterwirft oder sich mit anderen kommunikativ darin erlebt. Was gesucht wird, ist also ein transzendentales Feld ohne Subjekt. Wie sieht ein solches »transzendentales Feld ohne Subjekt« (SG: 333) aber aus? In Die Transzendenz des Egos, einen für Deleuze »entscheidenden Aufsatz aus dem Jahre 1937« (LS: 128), weist Jean-Paul Sartre (1982) bereits darauf hin, dass das Transzendentale als »ein unpersönliches transzendentales Feld, das nicht die Form eines persönlichen synthetischen Bewußtseins oder einer subjektiven Identität hat« (LS: 134), konzipiert werden muss. Personales Ego und individuelles Ich sollen vielmehr – und diese Einsicht wird Deleuze für seinen transzendentalen Empirismus auch übernehmen – als Produkte eines solchen Feldes begriffen Informationen zentralisiert, sollte man eher jene scheußliche Fähigkeit definieren, die darin besteht, Befehle auszugeben, zu empfangen und zu übermitteln. Die Sprache ist nicht einmal dazu da, um geglaubt zu werden, sondern um zu gehorchen und Gehorsam zu verschaffen.« (TP: 106)

94

DAS IDENTITÄTSPRINZIP

werden, womit es, insofern es seinen Produkten produktiv vorausgeht, als ein unpersönliches und präindividuelles Feld zu konzipieren ist. Wie Deleuze hervorhebt, bannt Sartre damit die Transzendenz des Egos und setzt die Immanenz wieder in ihr Recht. Aber wenn Sartre damit auch auf das personale Ich verzichtet, so überlässt er es doch weiterhin einem absoluten Bewusstsein, das transzendentale Feld »durch ein Spiel reiner Intentionalitäten oder Retentionen« (ebd.: 130) auf sich zu vereinen. Weil er das unpersönliche transzendentale Feld aber noch »als eines des Bewußtseins« (ebd.) bestimmt, fällt Sartre hinter sein Vorhaben zurück und führt die Form des Egos zumindest implizit wieder ein. Denn man kann nicht am »Bewußtsein als Mitte festhalten und zugleich die Form der Person und den Gesichtspunkt der Individuation zurückweisen. Ein Bewußtsein ohne Vereinheitlichungssynthese ist nichts, aber es gibt keine Vereinheitlichungssynthese des Bewußtseins ohne Form des ›Ich‹ oder den Standpunkt des Ich.« (ebd.: 134) Sartre hat zwar recht, wenn er da­ rauf hinweist, das transzendentale Feld dürfe nicht im Sinne von Kant als persönliche Form eines Ich, also ausgehend von einer synthetischen Einheit der Apperzeption konzipiert werden. »Doch es ist auch nicht möglich, ihm die Form eines Bewußtseins zu erhalten, selbst wenn man dieses unpersönliche Bewußtsein durch reine Intentionalitäten und Retentionen definiert, die noch Individuationszentren voraussetzen.« (ebd.: 138) Das heißt, auch als reines Erleben ist die Immanenzebene nicht sich selbst, sondern etwas anderem immanent, einem reinen Bewusstsein, welches die Transzendenz und damit den ganzen Zirkelschluss in der Konzeption der Bedingungen in die Immanenz der Erfahrung wieder einführt. Fassen wir zusammen: Das Transzendentale darf nicht ausgehend von etwas anderem bestimmt werden, dem es angeblich immanent sein soll; es darf, um den Zirkelschluss in der Bestimmung seiner Bedingungen zu vermeiden, auch nicht nach dem Bild empirischer Rekognitionsformen konzipiert werden, muss von der banalen Erfahrung im Modell der Rekognition, die immer nur Resultat ist, also absehen; und vor allem darf seine Konzeption nicht der repräsentationslogischen Illusion verfallen und annehmen, der Untergrund sei undifferenziert, ohne »wahre« Differenz – wo er doch davon wimmelt. Gerade im Untergrund, in der Bejahung des Werdens, der Ereignisse oder des Zufalls müssen die Bedingungen gesucht werden, unter denen die genetische Macht des Transzendentalen zum Vorschein kommt. Gesucht wird demnach »ein transzendentales, unpersönliches und präindividuelles Feld […], das den entsprechenden empirischen Feldern nicht ähnelt und gleichwohl nicht mit einer undifferenzierten Tiefe zusammenfällt« (LS: 134). Wenn es nichts anderem als sich selbst immanent sein soll, dann darf das transzendentale Feld nicht wie das eines Bewusstsein bestimmt werden, denn mit diesem schwingt immer auch ein »Ich« mit, das diesem Feld aufgrund seiner Syntheseleistung vorausgehen soll. Verzichtet man 95

DER BEGRIFF DER DIFFERENZ AN SICH

nun auf das Bewusstsein (als Ausgangspunkt), so lässt sich das transzendentale Feld »als reine Immanenzebene definieren, da es sich jeder Transzendenz des Subjekts wie des Objekts entzieht« (SG: 366). Die absolute Immanenz, von der Deleuze spricht, ist nicht etwas anderem immanent, darf nicht primär einem Subjekt oder Objekt zugeschrieben werden, kann also nur sich selbst immanent sein und aus sich selbst heraus, aus seinem Dazwischen, begriffen werden. Wenn Subjekt und Objekt, die stets aus der Immanenzebene herausfallen, als universales Subjekt oder als beliebiges Objekt begriffen werden, denen die Immanenz selbst zugeschrieben wird, so denaturalisiert sich das Transzendentale, das lediglich das Empirische verdoppelt (so bei Kant), und deformiert sich die Immanenz, die dann im Transzendenten enthalten ist. Die Immanenz bezieht sich nicht auf ein Etwas als allem anderen übergeordnete Einheit und auch nicht auf ein Subjekt als Akt, der die Synthese der Dinge vollzieht: Nur wenn die Immanenz nicht mehr die Immanenz von etwas anderem als von sich selbst ist, kann man von einer Immanenzebene sprechen. So wenig sich das transzendentale Feld durch das Bewußtsein definiert, so wenig definiert sich die Immanenzebene durch ein Subjekt oder Objekt, die sie enthalten könnten. (ebd.)

Eine derartige Konzeption der Immanenzebene verweist das transzendentale Feld auf einen höheren, transzendentalen Empirismus. Aber »transzendentaler Empirismus bedeutet in der Tat gar nichts, solange man nicht die Bedingungen präzisiert. Das transzendentale ›Feld‹ darf kein Abklatsch des Empirischen sein wie bei Kant: es muß für sich selbst erforscht, also ›erfahren‹ werden (jedoch in einer ganz besonderen Art von Erfahrung).« (ebd.: 345) Obwohl hier von einem transzendentalen Empirismus die Rede ist, steht dieser doch im Gegensatz zu allem, was das »natürliche« Verhältnis von Subjekt und Objekt im tradierten Postulat des Gemeinsinns (und gesunden Menschenverstandes) voraussetzt: Im Unterschied zum einfachen Empirismus geht der höhere Empirismus nämlich nicht von fertigen, wiedererkennbaren Sinneseindrücken aus. Er beruft sich zwar auf empirische Erfahrungen in der Welt, damit ist aber eine Welt gemeint, die »nicht auf die alltägliche Banalität hinausläuft, eine Welt vielmehr, in der die Begegnungen und Resonanzen entstehen« (DW: 345); in der der nichtwiedererkennbare Untergrund aufsteigt und tatsächlich zum Denken zwingt; in der das Denken angesichts seiner eigenen Ohnmacht an seine eigenen Grenzen getrieben und damit genötigt wird, aktiv zu werden und tatsächlich etwas (neues) zu denken. Das transzendentale Feld darf also nicht ausgehend von der Instanz eines denkenden Subjekts konzipiert werden, dem die immanente Erfahrungsebene zugeschrieben wird, sondern ausgehend von Ereignissen in dieser Ebene. Es sind dies transzendentale Ereignisse, die sich dem Denken aufzwingen, es affizieren, sich in problematischen Konstellationen 96

DAS IDENTITÄTSPRINZIP

verteilen, darin wechselseitig wiederholen, vorübergehend Resonanzen produzieren und damit primär jene Syntheseleistung übernehmen, die fälschlicherweise der subjektiven Instanz des Bewusstseins zugesprochen wurde. Das bedeutet, dass »das Denken nicht mehr von einem freiwilligen Ich gelenkt wird, sondern von unfreiwilligen Kräften« (EI: 201), die, aus dem Außen kommend, den neuen Schauplatz der Erkenntnis bestimmen. Im Unterschied zur klassischen Metaphysik befindet sich dieser Schauplatz in der Welt; im Unterschied zur Transzendentalphilosophie und ihrer Nachfolger ist diese Welt aber nicht primär von (fix und fertigen) Subjekten und Objekten bevölkert, sondern von einem wilden Werden heterogener Kräfte und den inkommensurablen, aber dennoch kommunizierenden Differenzen, die sich in wechselnden Ereigniskon­ stellationen daraus ergeben. Aus diesem Grund ist es für Deleuze auch so wichtig, jene selektive Prüfung zu hinterfragen, mit der das Unwesentliche seit Platon negiert und ausgegrenzt wurde. Denn, ist dieses neue transzendentale Feld weder individuell noch persönlich, weder allgemein noch universell, so ist es noch lange nicht »ein gestalt- und differenzloser Ungrund ist, ein schizophrener Abgrund« (LS: 131). Im Unwesentlichen des Untergrundes ergibt sich nämlich gerade jene Aufteilung von Wichtigem und Unwichtigem, von Singulärem und Regulärem oder von Herausragendem und Gewöhnlichem, die für den Sinn problematischer Verteilungen und damit für die Bedingungen eines aktiven, schöpferischen Denkens entscheidend ist. Erkenntnis fußt auf der kontingenten Verteilung von Singularitäten: »Solche Emittierungen, vom Typus ›Würfelwurf‹, bilden ein transzendentales Feld ohne Subjekt. […] Was zählt, ist nicht mehr das Wahre oder das Falsche, sondern das Singuläre und das Regelmäßige, das Herausragende und das Gewöhnliche.« (SG: 333) Die Unterscheidung von Singulärem und Gewöhnlichem tritt an die Stelle der Unterscheidung von Wahrem und Falschem. Indem sie »auf einer unbewußten Oberfläche erfolgen und sich eines immanenten und beweglichen Prinzips der Selbstvereinheitlichung durch nomadische Verteilung bedienen« (LS: 134), strukturieren die nomadische Verteilung des Singulären ein problematisches, aber dennoch einheitliches Feld der Erfahrung, das von vornherein weder individuell noch persönlich, weder allgemein noch universell ist und gerade deshalb ohne die Syntheseleistung des Bewusstseins auskommt. Weit entfernt, individuell oder persönlich zu sein, lenken die Singularitäten vielmehr die Genese der Individuen und Personen; sie verteilen sich in einem ›Potential‹, das seinerseits weder ›Ich‹ noch Ich umfaßt, sondern sie in seiner Aktualisierung, seiner Verwirklichung erst hervorbringt, wobei die Gestalten dieser Aktualisierung überhaupt nicht dem verwirklichten Potential ähneln. Nur eine Theorie singulärer Punkte ist in der Lage, die Synthese der Person und die Analyse des Individuums, 97

DER BEGRIFF DER DIFFERENZ AN SICH

wie sie im Bewußtsein vorhanden sind (oder sich bilden), zu überschreiten. (ebd.: 135)

Man muss die verhängnisvolle Alternative verwerfen, der zufolge Singularitäten bereits in den begrifflichen Bestimmungen eines Subjekts aufgelöst und damit verkannt werden, oder aber als unwesentliche Akzidenzien in einem undifferenzierten Abgrund verschwinden. Wenn aber auf diese verhängnisvolle Alternative und die selektive Prüfung, die ihr vorausgeht, verzichtet wird, wenn sich also »die von namenlosen und nomadischen, unpersönlichen und präindividuellen Singularitäten wimmelnde Welt öffnet, betreten wir endlich das Feld des Transzendentalen« (ebd.) in seiner vollen genetischen Macht. Die Umkehrung des Platonismus, wie sie von Nietzsche gefordert wird, besteht also nicht so sehr in der Abschaffung der Wesenheiten und der Erscheinungen. Ein solches Vorhaben geht bereits auf Kant zurück, auf sein kritisches Projekt, das den klassischen Dualismus zwischen Wesenheit und Erscheinung durch den modernen Dualismus zwischen Phänomen und Bedingung ersetzt. Damit wird der Platonismus aber nicht umgekehrt, denn was dabei bestehen bleibt, ist die treibende Motivation des Platonismus. Diese liegt weniger darin, Urbilder von Abbildern zu unterscheiden, sie zieht diesen (repräsentationslogischen) Unterscheid nur heran, um dadurch – und das ist seine wahre Motivation – die intelligible Ordnung der Urbilder samt ihrer Abbilder von der irreduzi­blen Unordnung der Trugbilder zu unterscheiden und so das Primat der Identität gegen jede (unrepräsentierbare) Differenz abzusichern. Die Umkehrung des Platonismus besteht folglich darin, auf die selektive Prüfung selbst zu verzichten. Wird nämlich auf die Negativität der Beschränkung oder des Gegensatzes verzichtet, fallen gleichzeitig auch die analytische oder synthetische Identität, die dabei jeweils vorausgesetzt werden. Erst dadurch ist die Umkehrung des Platonismus vollzogen, denn, sofern sie nicht mehr ausgegrenzt werden, steigen die Trugbilder und mit ihnen das Werden des Untergrundes nun an die Oberfläche auf. Damit wird eine echte Umkehrung vollzogen, denn die Differenz untersteht jetzt nicht mehr der Identität, das Werden nicht mehr dem Sein, der Zufall nicht mehr der Notwenigkeit und das Viele nicht mehr dem Einen. »Es gibt keine mögliche Selektion mehr« (LS: 321) und folglich auch nichts mehr, was auszugrenzen wäre. Die Identität, das Sein, die Notwendigkeit und das Eine sind keine transzendente Instanzen mehr, dürfen also nicht mehr überhöht werden: Sie sind nur noch vorübergehende, aber durchaus reale Effekte, die sich fortlaufend aus dem immanenten Geschehen heraus ergeben.8 Den Platonismus umkehren bedeutet, zunächst 8 So zum Beispiel auch das Bewusstsein. Freud dezentriert bekanntlich das Subjekt, indem er es als Effekt eines unterirdischen Unbewusstseins begreift. Dem schließt sich auch Deleuze an, fragt aber, wie dieser Effekt zustande

98

DAS IDENTITÄTSPRINZIP

die Wesenheiten zu entmachten, sie dann aber »durch Ereignisse als Singularitätswürfe zu ersetzen« (ebd.: 78) und die Trugbilder des Untergrundes damit an die Oberfläche aufsteigen zu lassen, wo sie ihre Identitätseffekte produzieren. Nietzsche ist für Deleuze von besonderer Bedeutung, weil er als erster gesehen hat, dass Gott erhalten bleibt, solange man das Ich bewahrt. Synthetisches endliches Ich und analytische göttliche Substanz sind für Nietzsche ein und dasselbe und bringen jeweils nur dasselbe Identitätsprinzip zum Ausdruck. Die Umkehrung, die Nietzsche fordert, richtet sich auch gegen den Vorrang dieses Prinzips. Indem er die Differenz bejaht, verwirft Nietzsche die »gleichermaßen von der Transzendentalphilosophie wie von der Metaphysik aufgezwungenen Alternative: Außerhalb der Person und des Individuums werdet ihr nichts unterscheiden können« (LS: 140). Außerhalb, im Untergrund, der alles andere als undifferenziert ist, findet Nietzsche dagegen aber eine Welt unpersönlicher und präindividueller Singularitäten […], eine Welt, die er nun dionysisch oder eine des Willens zur Macht, freier und ungebundener Energie nennt. Nomadischer Singularitäten, die nicht mehr in der fixen Individualität des unendlichen Wesens (die bekannte Unwandelbarkeit Gottes) noch in den Seßhaftigkeitsschranken des endlichen Subjekts (die bekannten Grenzen der Erkenntnis) gefangen sind. Etwas, das weder individuell noch persönlich und gleichwohl singulär ist, keineswegs undifferenzierter Abgrund, sondern etwas, das von einer Singularität zur anderen springt und stets einen Würfelwurf wagt, der Teil desselben, mit jedem Wurf fragmentierten und erneuerten Werfens ist. (ebd.) kommt. Wenn Freud das Unbewusste nämlich als verdrängten und konfliktgeladenen Untergrund des Bewusstseins bestimmt, so stellt er sich, indem er es von der Negativität (der Beschränkung und des Gegensatzes) her denkt, völlig auf die Seite »eines hegelschen Postkantianismus« (DW: 144). Demgegenüber konzipiert Deleuze das Unbewusste gerade nicht durch die Negativität großer Widersprüche und ganz allgemeiner Begrenzungen, sondern durch die Positivität, die Bejahung und Wiederholung, singulärer Affektionen. »Das Unbewußte ist differentiell und besteht aus kleinen Wahrnehmungen, eben darin aber unterscheidet es sich wesentlich vom Bewußtsein, es betrifft die Probleme und Fragen, die sich niemals auf die großen Gegensätze oder auf die Gesamtwirkungen reduzieren lassen, die das Bewußtsein da­raus bezieht.« (ebd.: 145) In der bewussten Wahrnehmung des Meeres kommen, um hier auf ein Beispiel von Leibniz zurückzugreifen, die tausend unbewussten (und insofern »kleinen«) Wahrnehmungen der einzelnen Wellen integriert als auflösender Gesamteffekt zum Ausdruck. Anstatt von einem Bewusstsein auszugehen und seinen vermeintlich unbewussten Konflikten nachzujagen, ist jedes Bewusstsein bei Deleuze stets nur der kontingente Effekt von unbewussten (oder molekularen) Problemlösungsprozessen.

99

DER BEGRIFF DER DIFFERENZ AN SICH

Dass der ozeanische Untergrund dieser freien und inkommensurablen Differenz nicht verneint, sondern mit aller Kraft bejaht werden muss, dass also »das Viele, das Werden, der Zufall Objekte reiner Bejahung sein mögen, ist der Sinn der Philosophie Nietzsches« (NP: 212). Es geht allerdings nicht darum, sich für eine der beiden Seiten zu entscheiden, sondern darum, die unterstellte Alternative insgesamt zu verabschieden: Weder eine »gute« Form noch ein »böses« Formloses, es ist vielmehr das reine Informelle, das nun (als tertium datur) im Mittelpunkt steht. Wie wir im fünften Kapitel noch genauer sehen werden, sind damit heterogene Kräfte gemeint, die sich zufällig oder würfelwurfartig aufeinander beziehen, damit wechselnde Singularitätsstreuungen generieren und in oberflächlichen Repräsentationsformen schließlich als wiederkehrende Differenz zum Ausdruck kommen. Weder die abstrakte Identität des Ich noch die allgemeine Einheit des Ganzen, sondern die singuläre Wiederkehr der Differenz als Mannigfaltigkeit heterogener Machtverhältnisse – das ist es, was Deleuze anstrebt. Bevor wir aber mit Nietzsche in die dionysische Welt und ihre Machtverhältnisse eintauchen, werden wir uns zunächst noch mit dem Verhältnis von Deleuze zu Bergson und Spinoza beschäftigen. So werden wir im dritten Kapitel sehen, inwiefern Deleuze vor allem bei Bergson einen frühen Begriff der Differenz an sich entdeckt und damit auch die Mittel, die transzendentale Kritik zu erneuern, also transzendentale Bedingungen zu konzipieren, die nicht bloß Abklatsch des Empirischen sind und damit auch die Genese des Neuen erfassen. Vor allem die Methode der Intuition, die Deleuze im Werk von Bergson findet, oder, um genau zu sein, für sein eigenes Vorhaben neu erfindet, wird dabei von zentraler Bedeutung sein. Ausgehend davon werden nämlich der gerade erwähnte Begriff der Mannigfaltigkeit sowie der Begriff des Virtuellen herausgearbeitet, zwei Begriffe, die nicht nur für die folgenden Kapitel, sondern auch für die darin gesuchte Genese des Neuen ausschlaggeben sind. Obwohl Bergson der geforderten Immanenz, jener, die nicht etwas anderem, sondern nur sich selbst immanent ist, im ersten Kapitel von Materie und Gedächtnis ziemlich nahekommt, ist es, wie wir im fünften Kapitel sehen werden, aber einzig und allein Spinoza, der D ­ eleuze zufolge eine Philosophie reiner Immanenz vorlegen kann: Nur Spinoza erkennt, »dass die Immanenz nur sich selber immanent ist« (WP: 57). Die Immanenz gehört bei Spinoza bekanntlich nicht zu einer Substanz, es sind vielmehr Substanz und Modi, die in der Immanenz sind. Darauf aufbauend wird im vierten Kapitel auch die Kritik der Transzendenz nachgezeichnet, die Deleuze im Werk von Spinoza entlang der Begriffe der Analogie, der Äquivozität und der Univozität des Seins herausarbeitet. Vor diesem Hintergrund wird dann das Modell des Körpers vorgestellt, das Spinoza in die Philosophie einführt, um, so Deleuze, die intensive Welt der 100

DAS IDENTITÄTSPRINZIP

Affektionen und Affekte, der heterogenen Individuationen und Machtausdrücke jenseits bzw. diesseits aller repräsentationslogischen Ordnungen aufzuzeigen. Für Deleuze »entgehen dem Platonismus einzig die Philosophien der reinen Immanenz: von den Stoikern zu Spinoza oder Nietzsche.« (KK: 185 f.) Mit Spinoza und Nietzsche kann also das vergiftete Geschenk des Platonismus, die Transzendenz, endgültig zurückgewiesen werden. Wenn es hiernach noch eine selektive Prüfung gibt, dann sind es, wie wir in den entsprechenden Kapiteln zu Spinoza und Nietzsche sehen werden, nicht mehr transzendente Kriterien, nach denen sich die Selektion zu richten hat: es sind nun immanente Kriterien. »Die Auswahl bezieht sich nicht mehr auf den Anspruch, sondern auf die Macht oder das Vermögen (puissance)« (ebd.). Es geht nicht mehr darum, ein Ding in Bezug auf eine übergeordnete Instanz zu beurteilen, es geht vielmehr darum, zu sehen, inwieweit, mit welcher Macht, ein Ding hier und jetzt zum Ausdruck kommen kann.

101

3. Die Substantialität der Veränderung bei Bergson 3.1 Die bewegte Kontinuität der Erfahrung Bergsons These zum Begriff der Bewegung ist berühmt: Bewegung muss vom Raum, den sie durchläuft, unterschieden werden. Denn während Raum unendlich teilbar ist, lässt sich Bewegung nicht teilen – zumindest nicht, ohne sie dabei wesentlich zu verändern. Und damit wird bereits eine »komplexere Idee vorausgesetzt: Die durchlaufenen Räume gehören alle zu dem einen homogenen Raum, während die Bewegungen heterogen sind und nicht aufeinander zurückgeführt werden können.« (BB: 13) Bergson gibt das Beispiel einer Hand, die von A nach B bewegt wird. In räumlicher Hinsicht kann man die Bewegung der Hand im Intervall AB zu jedem Zeitpunkt anhalten, um beispielsweise die bereits zurückgelegte und noch bevorstehende Teilstrecke zu vergleichen. In diesem Sinne kann das Intervall AB und damit auch die Bewegung der Hand in beliebig viele Teile unterteilt werden. Doch während jede Unterteilung des Intervalls AB Raumteile liefert, die in sich homogen sind (z.B. ¼ und ¾ sind Teile derselben Strecke), führt die Teilung der Bewegung dazu, dass es nicht mehr ein und dieselbe Bewegung ist, sondern zwei oder mehrere Bewegungen, die in sich verschieden sind. Beispielsweise entsprechen sich die erste und letzte Hälfte einer Wanderung in räumlicher Hinsicht, bilden aber zwei verschiedene Arten von Bewegung, schon allein deshalb, weil man beim Rückweg nicht mehr derselbe Mensch ist, wie noch beim Hinweg. Raum und Bewegung unterscheiden sich also wesentlich voneinander, dennoch neigen wir dazu, Beweglichkeit als etwas Unbewegliches zu repräsentieren. »Wir haben ein Bedürfnis nach Unbeweglichkeit, und je mehr es uns gelingt, uns die Bewegung als koinzidierend mit der Unbeweglichkeit der Raumpunkte, die durchlaufen werden, vorzustellen, umsomehr glauben wir sie zu erfassen.« (B|DW: 163) Aus diesem Grund wird nicht die eigentliche Veränderung eines bewegten Dinges berücksichtigt, sondern eher die Positionen, die dieses verlassen hat, erreichen wird oder einnehmen würde, wenn es unterwegs anhielte. Differenz wird insofern nicht in sich selbst, sondern in etwas anderem begriffen. Doch Bewegung lässt sich nicht mit Punkten in Raum und Zeit rekonstruieren, denn egal wie genau diese Rekonstruktion auch verfahren sollte, die Bewegtheit der Bewegung wird zwischen diesen Punkten immer entweichen. Das bekannteste Beispiel hierfür ist sicherlich Zenons Paradoxon vom Wettrennen zwischen Achilles und der Schildkröte: Achilles 103

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

könne niemals die Schildkröte einholen, da diese immer dann, sobald er den Punkt erreicht, an dem sie zuvor war, bereits Zeit hatte, weiterzulaufen und so ad Infinitum. Der Trugschluss besteht darin, die jeweilige Bewegung beider Kontrahenten mit der Strecke zu verwechseln, die sie dabei durchqueren. Anstatt die Heterogenität beider Bewegungen zu berücksichtigen, begnügt man sich damit, »die zwei Bewegungen nach einem willkürlichen, mit den fundamentalen Bedingungen der Bewegtheit unvereinbaren Bildungsgesetz zu rekonstruieren« (B|MG: 238). Anstatt also die Schildkrötenschritte der Schildkröte und die Achillesschritte des Achilles als heterogene und unteilbare Bewegungsakte anzuerkennen, homogenisiert man diese in einem räumlichen Kontinuum, und wundert sich, dass man sie darin parallel zueinander unendlich oft unterteilen kann. Was hier für die Bewegung gilt, kann aber auch von jeder anderen Art zeitlicher Veränderung gesagt werden. Angenommen, ein Gegenstand verändert seinen Zustand. In Schöpferische Evolution zeigt Bergson, dass es zwei Arten gibt, eine solche Veränderung zu konzipieren: die antike und die moderne Wissenschaftsauffassung. Die antike Wissenschaft reduziert Veränderung auf das dialektische Spiel intelligibler Formen oder Ideen. Wird Wasser beispielsweise erhitzt, verändert sich Materie, da sie von einer kalten in eine warme Form übergeht. Verändert ein Gegenstand seinen Zustand, dann wird dies also darauf zurückgeführt, dass eine unveränderliche Form eine andere, ebenso unveränderliche Form ersetzt. Die wissenschaftliche Revolution der Neuzeit bestand dagegen darin, Veränderung »nicht mehr auf herausgehobene Momente, sondern auf jeden beliebigen Moment zu beziehen« (BB: 17). So sieht Kepler die Aufgabe der Astronomie beispielsweise darin, die Positionen der Planeten in jedem beliebigen Moment zu berechnen, vorausgesetzt, diese sind an zumindest einem Moment bekannt, um der mathematischen Rekonstruktion damit einen Ausgangspunkt zu verschaffen. Gerade weil moderne Wissenschaften in der Lage sind, Veränderungen in jedem beliebigen Moment analytisch zu erfassen, müssen sie auch durch ihr Streben, die Zeit als unabhängige Variable zu berücksichtigen, definiert werden. Doch um welche Zeit handelt es sich hier? Moderne Wissenschaften tendieren dazu, ihre Gegenstände als künstlich isolierte Systeme zu betrachten. Jeder beliebige Moment markiert dann den präzisen Zustand des Systems, d.h. die genaue Anordnung aller materiellen Punkte, ein Zustande, aus dem alle anderen Zustände berechnet werden können. Die ganze Bedeutung von Zeit reduziert sich dann aber darauf, diskrete Zustände des Systems z1, z2, …, zn mit abstrakten Zeiteinheiten t1, t2, …, tn in Beziehung zu setzen und abzuzählen. Veränderung wird zwar nicht als allgemeiner Übergang von einer intelligiblen Form zur anderen konzipiert, wohl aber als Serie vieler diskreter Systemzustände. »So sprechen heißt, den kapitalen Unterschied 104

DIE BEWEGTE KONTINUITÄT DER ERFAHRUNG

verkennen, der die konkrete Zeit, in der ein reales System sich entwickelt, von der abstrakten Zeit unterscheidet, die in unseren Spekulationen über die künstlichen Systeme ins Spiel kommt.« (B|SE: 33 f.) Indem Veränderung in künstlich isolierten Systemen auf beliebig viele Momente heruntergebrochen wird, hat man es schlussendlich auch nur noch mit einer diskreten Reihe gegenwärtiger Zustände dieses Systems (z.B. gegenwärtige Beschleunigung) zu tun, nicht aber mit einer realen und kontinuierlichen Veränderung oder Dauer. Und tatsächlich stehen die Systeme, mit denen die Wissenschaft operiert, in einer momenthaften, immerfort neu einsetzenden Gegenwart, niemals in der realen, konkreten Dauer, in der die Vergangenheit mit der Gegenwart eine Einheit bildet. […]. Kurz: Die Welt, mit welcher der Mathematiker operiert, ist eine Welt, die in jedem Augenblick stirbt und wiedergeboren wird, jene selbe, an die Descartes dachte, wenn er von fortgesetzter Schöpfung sprach. (ebd.: 35)

Im Gegensatz dazu muss jede wirkliche Veränderung aber als unteilbare Veränderung verstanden werden. Anstatt sie in eine Reihe distinkter Zustände zu unterteilen, die man in einer abstrakten Zeit nebeneinanderstellt, muss die Veränderung an sich begriffen werden, muss versucht werden, »die Substantialität der Veränderung« (B|DW: 169) selbst zu erfassen, also das, was durch verschiedene Zustände hindurch dasselbe bleibt, den kontinuierlichen Übergang von einem Zustand zum nächsten. Um die Substantialität der Veränderung zu erfassen, muss jedoch davon abgesehen werden, ihr einen Träger zuzusprechen. Gerade dieser würde sie nämlich im Abstrakten verdoppeln und entfremden. Für Bergson gilt demnach folgendes: »Es gibt Veränderungen, aber es gibt unterhalb der Veränderung keine Dinge, die sich verändern« (ebd.: 170). Wenn man Veränderung auf ein Ding (oder ein Subjekt) bezieht, das sich verändert, dann wird diese Veränderung lediglich als Akzidens dieses Dinges (oder Subjekts) anerkannt und somit in ihrer Substantialität verkannt. Veränderung an sich bleibt so undenkbar. Wie sieht aber eine Welt aus, die in ihren Fundamenten nicht mehr aus Dingen besteht, die sich verändern, sondern nur noch aus Veränderungen selbst? Wie sieht eine Welt aus, in der sich Differenzen nur noch auf Differenzen beziehen? Wie wir gleich sehen werden, ist es diese Welt, eine Welt, die unterhalb aller Formen der Rekognition zu suchen ist, die Deleuze bei Bergson entdeckt und die auch wegweisend für sein eigenes Denken ist. Zunächst gilt es, die diskreten, klar und deutlich geschiedenen Formen der Rekognition abzustreifen. Wir sind es nämlich gewohnt, Dingen gegenüberzustehen, die aufgrund ihrer Konturen klar voneinander unterschieden werden können. Unsere Augen sind beispielsweise darauf abgerichtet, aus der Gesamtheit des Gesichtsfelds die den gewohnten Formen der Rekognition entsprechenden Figuren klar und deutlich 105

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

herauszuschneiden (z.B. im Gebüsch erblickt man einen lauernden Löwen). Aber »vom ersten Blick an, den wir auf die Welt werfen, selbst noch bevor wir Körper in ihr abgrenzen, unterscheiden wir dort Qualitäten. Eine Farbe folgt auf eine Farbe, ein Ton auf einen Ton, ein Widerstand auf einen Widerstand, etc.« (B|SE: 340) Vor allem die Eindrücke des Gesichtssinns und des Tastsinns, die beiden Vermögen, die der Raumerfahrung zugrunde liegen, bezeugen die ungeteilte Kontinuität des Raums. In optischer Hinsicht erfassen wir nämlich immer eine Kontinuität farblicher Variationen, eine Kontinuität, die den Umrissen trotzt, die wir meinen, an den Dingen wahrzunehmen. Chromatisch geht die weiße Wand eines Raumes zum Beispiel kontinuierlich in den weißen Vorhang über, der sie teilweise verdeckt. Aber auch in haptischer und taktiler Hinsicht scheint das der Fall zu sein, denn »da die festen Körper einander notwendig berühren, muß unser Tastsinn der Oberflächen oder den Kanten der Gegenstände folgen können, ohne jemals auf eine echte Unterbrechung zu treffen« (B|MG: 245). Man kann, in topologischer Hinsicht, beispielsweise an einem beliebigen Punkt im Raum beginnen und dann mit einer Hand jeden anderen Punkt im Raum berühren – von der Tastatur auf den Tisch, vom Tisch auf den Boden, vom Boden auf die Wand, von der Wand auf den Vorhang usw. – ohne jemals auf eine Unterbrechung zu stoßen. Um die Kontinuität der Veränderung zu erfassen, reicht es aber nicht, die festen Umrisse und Konturen der Dinge in bloß qualitative Nuancen aufzulösen. »Wir sagen z.B., daß ein Gegenstand seine Farbe verändert, und daß die Veränderung hierbei aus einer Reihe von Nuancen besteht, die die konstitutiven Elemente dieser Veränderung ausmachen, und die ihrerseits sich nicht verändern sollen.« (B|DW: 166) Das heißt, selbst Qualitäten sind für sich betrachtet noch unveränderliche Zustände, eine Reihe distinkter Nuancen, die in einer Veränderung nacheinander durchlaufen werden. Beispielsweise kann man sagen, dass die untergehende Sonne sukzessive ihre Farbe abändert und damit von einer (abgrenzbaren und selbst unveränderlichen) farblichen Nuance zu einer anderen (abgrenzbaren und selbst unveränderlichen) farblichen Nuance übergeht. Der Sonnenuntergang wird dann durch eine diskrete Reihe farblicher Nuancen (von Sonnengelb zu Abendrot bis hin zur »Blauen Stunde«) repräsentiert. Führt man die Analyse aber dennoch fort, so wird man in jeder Qualität eine ungeheure Anzahl von elementaren Veränderungen entdecken, reine Differenzen, die auf nichts mehr verweisen, was unveränderlich ist. Denn »was zunächst objektiv von jeder Nuance existiert, ist eine unendlich schnelle Schwingung, d.h. eine Veränderung« (ebd.), die nur Veränderung ist. Eine sinnliche Qualität ist nämlich nichts anderes als die Wiederholung einer Trillion von Schwingungen, von elementaren Veränderungen, die in unserer Wahrnehmung kondensiert, kontrahiert oder verschmolzen werden. 106

DIE BEWEGTE KONTINUITÄT DER ERFAHRUNG

Ob man darin nun Vibrationen sieht oder sie sich in ganz anderer Weise vorstellt, eines ist sicher: Alle Qualität ist Veränderung. Vergeblich übrigens sucht man unter der Veränderung das Ding, das sich verändert; es ist immer nur provisorisch und nur, um unsere Einbildungskraft zu befriedigen, daß wir die Bewegung an einen bewegten Körper knüpfen. (B|SE: 341)

Am Grund der Dinge gibt es nur kontinuierliche Veränderung, keine Dinge, die sich verändern: Veränderung hat also keinen Träger. Ein Träger wird von der Wahrnehmung bloß hinzugedichtet, um etwas unveränderliches zu gewinnen, an dem Veränderung repräsentiert werden kann (z.B. schneiden wir aus den variierenden Sonnenstrahlen eine Figur heraus und sagen dann, die Sonne verändert im Lauf des Tages ihre Farben). Dies trifft aber nicht nur auf die Dinge zu, sondern auch auf uns – nicht nur auf das Objekt, sondern auch auf das Subjekt. Gegeben sei die visuelle Wahrnehmung eines äußeren unbewegten Gegenstandes: Man kann noch so sehr darauf beharren, dass, egal in welchem Lichte man ihn auch betrachtet, es sich stets um denselben Gegenstand handelt, »die Anschauung, die ich jetzt von ihm habe, unterscheidet sich doch nichtsdestoweniger von jener, die ich eben noch hatte – sei es auch nur dadurch, daß sie um einen Moment gealtert ist«. (B|SE: 12) Der angeschaute Gegenstand ist stets ein anderer und doch bleibt er derselbe, »weil es kein Bewußtsein ohne Gedächtnis gibt, keine Fortsetzung eines Zustandes in der Zeit, ohne daß zu dem gegenwärtigen Gefühl die Erneuerung der vergangenen Momente hinzukommt« (B|DW: 201). Diese kontinuierliche Veränderung ist das, was Bergson die Dauer nennt. »Sie ist das, was man immer die Zeit genannt hat, aber die Zeit als unteilbar wahrgenommen.« (ebd.: 170) Als »eine Mannigfaltigkeit von Qualitäten, ein kontinuierlicher Fortschritt, eine Einheit in der Richtung« (ebd.: 187) steht die Dauer damit für die Wirklichkeit des inneren Lebens. Um auf das Beispiel der Farben zurückzukommen: So wie die farbliche Nuance objektiv eine unendlich schnelle Schwingung ist, eine reine Veränderung, so ist auch das, was die oberflächliche Wahrnehmung subjektiv davon enthält, nur ein isolierter, abstrakter Aspekt von dem allgemeinen Zustand unserer Person, der als Ganzes sich unaufhörlich verändert und an dieser Veränderung die angeblich unveränderliche Wahrnehmung teilnehmen läßt: in der Tat, es gibt keine Wahrnehmung, die sich nicht unaufhörlich änderte. So ist die Farbe außer uns die Beweglichkeit selber, und unsere eigene Person ist wiederum die Bewegung selber. (ebd.: 166)

Es gibt also keine wirkliche Unbeweglichkeit: Sowohl Objekt als auch Subjekt, sowohl primäre als auch sekundäre Qualitäten, stehen in der wirklichen Zeit, sind reine Bewegungen und verändern sich kontinuierlich als Ganzes. 107

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

Diese kontinuierliche Veränderung bleibt zwischen Objekt und Subjekt aber so lange unbemerkt, bis sie groß genug ist, sich der Aufmerksamkeit aufzudrängen. Wird sie schließlich bemerkt, dann taucht sie als neuer Zustand im Bewusstsein auf. Auf diese Weise unterteilt unsere Aufmerksamkeit die Kontinuität der Veränderung fortlaufend in eine Reihe diskontinuierlicher Momente: den sogenannten Bewusstseinsstrom. Wenn es eine Diskontinuität des inneren Lebens gibt, dann rührt sie also einzig und allein daher, dass »unsere Aufmerksamkeit sich ihm in einer Reihe diskontinuierlicher Akte zuwendet« (B|SE: 12) und seine Kontinuität damit unweigerlich in lauter diskrete Zustände zerlegt. Tausend Zwischenfälle brechen herein und scheinen sich von dem, was ihnen vorangeht, scharf abzuheben, und dem, was ihnen folgt, so gar nicht zu verbinden. Doch diese Diskontinuität ihres Auftauchens hebt sich von der Kontinuität eines Grundes ab, in dem sie Gestalt annehmen und dem sie gerade jene Intervalle verdanken, die sie voneinander trennen: Sie sind die Paukenschläge, die hie und da in der Symphonie aufdröhnen. An sie heftet sich unsere Aufmerksamkeit, weil sie für sie von größerem Interesse sind, doch jeder einzelne von ihnen wird durch die flüssige Masse unserer gesamten psychologischen Exis­ tenz getragen. Jeder einzelne von ihnen ist nur der am besten beleuchtete Punkt eines bewegten Bereichs, der alles umfaßt, was wir fühlen, denken, wollen, kurz: alles, was wir in einem bestimmten Augenblick sind. (ebd.: 13)

Da nun aber unsere sprunghafte Aufmerksamkeit die bewegte Kontinuität der Erfahrung künstlich in gesonderte Zustände aufteilt und dadurch eine Reihe diskreter Augenblicke – die empirische Mannigfaltigkeit im Sinne von Kant – daraus macht, stellt sich zwangsläufig auch das Pro­ blem ihrer Verbindung. Wie können die künstlich isolierten Augenblicke, d.h. die Paukenschläge in der (im Grunde) kontinuierlichen Symphonie des inneren Lebens, wieder vereinheitlicht werden? Die verschiedenen Lösungsversuche, die zu diesem Problem vorgebracht worden sind, gehen Bergson zufolge alle von derselben Grundidee aus: Die Verbindung unterschiedlicher Zustände soll in Bezug auf ein »gestaltloses, gleichgültiges, unwandelbares Ich« (ebd.) begründet werden. Was Bergson damit in Frage stellt, ist die transzendente Instanz des Egos, die weiter oben kritisiert wurde. Wenn Deleuze das transzendentale Projekt einer Kritik unterzieht, dann findet er seinen ersten Fürsprecher überraschenderweise mit Bergson. In diesem Sinne erklärt Bergson auch: wenn unsere Existenz sich aus getrennten Zuständen zusammensetzte, deren Synthese ein regungsloses »Ich« zu stiften hätte, gäbe es für uns keine Dauer. Denn ein Ich, das sich nicht wandelt, dauert nicht, und ebensowenig dauert ein psychologischer Zustand, der sich gleichbleibt, solange er nicht durch den nächsten abgelöst wird. Mag man also diese Zustände noch so gut auf ihrem Träger, dem »Ich«, aneinanderreihen, 108

DIE BEWEGTE KONTINUITÄT DER ERFAHRUNG

niemals werden diese festen, auf Festes gefädelten Körper fließende Dauer ergeben. (ebd.: 14)

Auf der einen Seite hat man, der Illusion der Unveränderlichkeit unterliegend, also eine Vielheit diskreter Zustände, die in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge die Variationen des (rezeptiven) Ichs bilden sollen; auf der anderen Seite hat man dagegen eine abstrakte Einheit, die in Form eines reinen Ichs Träger dieser Veränderungen sein soll. Wie wir bereits im Zusammenhang mit der Transzendentalphilosophie gesehen haben, stößt dieser Ansatz immer auf dieselbe Schwierigkeit: »Wie konnten diese Einheit und diese Vielheit sich miteinander verbinden?« (B|DW: 169) Die Berufung auf einen – logischen, moralischen, ästhetischen oder sinnlichen – Gemeinsinn, der diese Schwierigkeit überwinden sollte, hat sich aber als verschleierte Wahrung einer prästabilierten Harmonie (concordia facultatum) erwiesen. Die postulierte Übereinstimmung der Vermögen ist nach wie vor an das alte Identitätsprinzip gebunden, das in der klassischen Metaphysik bereits die Übereinkunft gewährleistet hatte.1 Dagegen betont Bergson nun, dass »es weder ein unveränderliches starres Substrat noch auch distinkte Zustände« (B|DW: 169) gibt, dass diese unheilsame Alternative also verabschiedet werden muss, da es in Wirklichkeit nur Veränderung gibt, nicht aber Dinge, die sich verändern. Das bedeutet, dass man weder auf der Seite des Objekts noch auf der Seite des Subjekts etwas finden wird, was als Träger von Veränderung in Frage kommt: man wird auf beiden Seiten nur Veränderungen finden, die 1 Die Kritik betrifft aber nicht nur Kant, sondern auch den Empirismus. Kant geht von einer Reihe diskontinuierlicher Zustände aus und bemüht sich, »aus ihnen eine Synthese zu erstellen, die, nachdem sie nicht in einer Intuition gegeben war, notwendig immer eine willkürliche Form haben wird« (B|MG: 228). Der Empirismus geht aber ebenso von einer Reihe diskontinuierlicher Zustände aus. Er nimmt die darin enthaltene Erfahrung auch besonders ernst, betont darin eher die Vielheit als die Einheit, sieht, im Gegensatz zu Kant, aber gänzlich davon ab, die Kontinuität der Erfahrung wiederherzustellen. In diesem Sinne besteht der Fehler des Empirismus »nicht darin, die Erfahrung zu hoch zu schätzen, sondern im Gegenteil die wahre Erfahrung, jene, die durch den unmittelbaren Kontakt des Geistes mit seinem Gegenstand entsteht, durch eine auseinandergerissene und folglich zweifellos denaturierte, auf jeden Fall zugunsten der Erleichterung der Handlung und der Sprache zu rechtgelegte Erfahrung zu ersetzen« (ebd.). Die wahre Erfahrung darf nicht in einer Reihe diskontinuierlicher Zustände gesucht werden, sondern in der bewegten Kontinuität, die diesen Zuständen konstitutiv vorausgeht. Auf dieselbe Art und Weise grenzt auch Deleuze seinen transzendentalen Empirismus gegenüber einem vulgären Empirismus ab, der noch zu sehr an den empirischen Formen der Rekognition ausgerichtet ist.

109

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

allerdings kontinuierlich ineinander übergehen.2 Man muss also davon ausgehen, dass »die Veränderung in uns und auch in den Dingen kontinuierlich ist« (ebd.: 166). Wenn zwischen beiden Veränderungen aber dennoch der Eindruck der Unveränderlichkeit entsteht, dann handelt es sich um eine nützliche, aber unvermeidliche Illusion – ähnlicher jener, in der zwei Züge mit derselben Geschwindigkeit in dieselbe Richtung pa­ rallel zueinander fahren und ihren Passagieren dadurch den Eindruck der Unbeweglichkeit suggerieren. »Wenn die beiden Veränderungen, diejenige des Objektes und die des Subjektes, sich unter diesen besonderen Bedingungen vollziehen, rufen sie die besondere Erscheinung hervor, die wir einen Zustand nennen« (ebd.). Dieser Zustand, der wie ein Paukenschlag aus der Symphonie heraussticht, mag zwar gesondert und unveränderlich erscheinen, er drückt aber immer die ursprüngliche Kontinuität der Veränderung aus – wenngleich unter einem bestimmten, von der Aufmerksamkeit herausgepickten Gesichtspunkt. Nehmen wir zum Beispiel die Bewegung eines Gegenstandes im Raum wahr, dann werden dabei »Gehirn, Nerven, Netzhaut und der Gegenstand selbst ein solidarisches Ganzes bilden, einen ununterbrochenen Prozess, in welchem das Netzhautbild nur eine Episode ist« (B|MG: 214), die wir als bewussten Zustand aufmerksam in uns entdecken. Nicht Dinge, die sich verändern, sondern »eine bewegte Kontinuität ist uns gegeben, wo sich alles gleichzeitig ändert und fortbesteht« (B|MG: 245). Weiter unten werden wir noch sehen, wie Deleuze diesen Gedanken in gewisser Weise auch bei Nietzsche finden wird, wenn dieser erklärt, die Welt sei ein maßloses Werden zufällig sich begegnender Kräfte. Aber auch Bergson streift hier bereits eine Kräftemetaphysik. In Bezug auf die Idee einer bewegten Kontinuität beruft sich Bergson, wie Nietzsche, auf die Wissenschaft seiner Zeit. Je mehr die Wissenschaft fortschreitet, umso mehr lösen sich die materiellen Dinge, so Bergson, »in Aktionen auf, die den Raum durchlaufen, in Bewegungen, die als wechselnde Spannungsfelder eines dynamischen Raumes erscheinen, sodaß die Bewegung zur Wirklichkeit selbst wird.« (B|DW: 168 f.) Selbst Atome, die bis dahin immer schon als feste Bausteine des Universums verstanden worden sind, lösen sich in Bewegungen und Kraftlinien auf, deren wechselseitiger Zusammenhang die universale Kontinuität wiederherstellt. Wenn es also »eine Wahrheit gibt, die die Wissenschaft über 2 Wie Nietzsche, der alle Schwierigkeiten beseitig haben will, sofern mit dem Begriff des Subjekts auch die Substanz verabschiedet wird, nicht also ein »Thäter zum Thun« (N|KSA13: 258) hinzugedichtet wird, um der reinen Veränderung eines Geschehens Platz zu machen, argumentiert auch Bergson: »Wenn wir uns von dieser Wahrheit durchdringen lassen, werden wir eine große Anzahl philosophischer Rätsel dahinschwinden sehen. Gewisse große Probleme wie das der Substanz, das der Veränderungen und ihrer gegenseitigen Beziehungen stellen sich dann nicht mehr.« (B|DsW: 176)

110

DIE BEWEGTE KONTINUITÄT DER ERFAHRUNG

jeden Zweifel erhoben hat, dann ist es die einer Wechselwirkung aller Teile der Materie aufeinander« (B|MG: 248). Michael Faraday definiert das Atom zum Beispiel als Kräftezentrum, als mathematischen Punkt, an dem sich unzählig viele den gesamten Raum durchstrahlende Kraftlinien kreuzen, weshalb er auch sagen kann, dass jedes Atom den gesamten Raum einnimmt und sich alle Atome insofern gegenseitig durchdringen. Joseph John Thomson, ein weiterer Zeitgenosse Bergsons, geht dagegen von einem kontinuierlichen Fluidum aus, in dem das, was er als Atom bezeichnet, eine spezifische Wirbelbewegung erzeugt. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt beider Hypothesen – die heutige Quantenfeldtheorie scheint ihnen aber Recht zu geben – zeigen diese dennoch, dass »je weiter wir uns den letzten Einheiten der Materie nähern, die Diskontinuität, die unsere Wahrnehmung an der Oberfläche herstellte, dahinschwindet« (ebd.: 250) und damit »die tiefen Modifikationen, die sich im Innern des Ganzen« (B|SE3: 43) oder, was dasselbe ist, der Dauer vollziehen, zum Vorschein kommen. Denken wir beispielsweise an »Atome, so bringen ihre Bewegungen, insofern sie von einer Wechselwirkung aller Teile der Materie zeugen, notwendig Modifikationen, Störungen, Energieveränderungen im Ganzen zum Ausdruck.« (BB: 22) Atomare Bewegungen können zwar als isolierte Systeme rekonstruiert werden, implizieren aber immer die kontinuierlichen Veränderungen eines ganzen Feldes wechselwirkender Kräfte, d.h. das »reine unablässige Werden« (ebd.: 25) eines offenen Ganzen. Wie wir gesehen haben, gibt es in Wirklichkeit kein Ding, das seine Form nicht in jedem Augenblick ändert. Dennoch ist Wahrnehmung so eingerichtet, dass sie die flüssige Kontinuität der Wirklichkeit in diskontinuierliche Bilder ausschneidet und ihre Veränderung darin fixiert. Wenn sich diese Bilder nicht zu sehr voneinander unterscheiden, sich also mehr oder weniger ähneln, werden sie »als das Anwachsen oder Abnehmen eines einzigen Durchschnittsbildes oder als in unterschiedliche Richtungen gehende Deformationen dieses Bildes« (B|SE: 342) begriffen. »Und dieser Durchschnitt ist es, an den wir denken, wenn wir vom Wesen eines Dinges oder von dem Ding selbst sprechen.« (ebd.: 343) Es handelt sich also um das, was wir weiter oben bereits als gesunden Menschenverstand kennengelernt haben, die Tendenz, die Differenz ausgehend von einer bestimmten Identität in die Mitte zu tragen, um ein Phänomen damit dem repräsentationslogischen Modell der Rekognition zu entsprechen. Aber gerade diese Vorgehensweise ist nach Bergson auch notwendig, um den Erfordernissen des Lebens praktisch gerecht zu werden. Da nämlich die Aufmerksamkeitspanne der Wahrnehmung begrenzt ist, die eigene Dauer also »eine Dauer mit bestimmten Rhythmus« (B|MG: 255) impliziert und somit nur eine »beschränkte Anzahl bewusster Phänomene« (ebd.: 256) umfasst, richtet sie sich ausschließlich an jene Aspekte, 111

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

die sie interessieren.3 Das bedeutet, dass das, »was man normalerweise eine Tatsache nennt, […] nicht die Realität [ist], so wie sie einer unmittelbaren Intuition erscheinen würde, sondern eine Anpassung des Realen an die Interessen der Praxis und die Erfordernisse des sozialen Lebens« (ebd.: 228). Wahrnehmung besteht insofern nicht darin, einem Gegenstand etwas hinzuzufügen, sie besteht vielmehr darin, alles das auszublenden, was in Bezug auf einen Gegenstand gerade nicht interessiert: In »der Verdunkelung gewisser Seiten an ihm, der Verminderung um den größten Teil seines Wesens, so dass der Rest, statt wie ein Ding in die Umgebung eingeschachtelt zu sein, sich wie ein Gemälde davon abhebt« (ebd.: 21). Vor diesem Hintergrund kann Bergson auch sagen, dass die Wahrnehmung »ursprünglich eher in den Dingen als im Geist, eher außerhalb von uns als in uns« (ebd.: 270 f.) zu verorten ist. Damit ist klar, dass Erfahrung nicht darin besteht, einer (scheinbar) ungeordneten Mannigfaltigkeit, wie noch bei Kant, eine bestimmte Ordnung hinzuzufügen. Hier geht es im Gegenteil darum, aus einer Überfülle an virtuellen Ordnungen alles das auszublenden, was der gegenwärtigen Handlung gerade nicht von Nutzen ist. So gesehen markieren die Konturen, die wir an den Dingen wahrnehmen, nur die Skizze unseres potenziellen oder virtuellen Einwirkens auf sie. Die Dinge »geben nur etwas von ihrer reellen Wirkung auf und stellen dafür ihre virtuelle Wirkung dar, und das heißt im Grund den möglichen Einfluss des Lebewesens auf sie.« (ebd.: 22) Es wird eine praktische Wirklichkeit zurechtgeschnitten, die sich von der wirklichen Wirklichkeit zwar unterscheidet, den Notwendigkeiten des Lebens aber gerade deshalb besser dient. Wenn es nun darum geht, die Wirklichkeit für unsere praktischen Interessen zurechtzuschneiden, dann ist die damit einhergehende 3 Bergson veranschaulicht dies am Beispiel des Lebens: »Beim geringsten Lebewesen erfordert die Ernährung eine Suche, dann eine Berührung, kurz, eine Reihe von Anstrengungen, die auf ein Zentrum zulaufen: Dieses Zentrum wird eben gerade der unabhängige Gegenstand werden, der als Nahrung dienen soll. […] Doch das Bedürfnis sich zu ernähren, ist nicht das einzige. Um es herum organisieren sich weitere, die alle die Erhaltung des Individuums oder der Art zum Ziel haben: Nun bringt uns aber jedes von ihnen dazu, neben unserem eigenen Körper von ihn unabhängige Körper zu unterscheiden, nach denen wir streben oder die wir fliehen müssen. Unsere Bedürfnisse sind also ebenso viele Lichtkegel, welche, auf die Kontinuität der Empfindungsqualitäten gerichtet, in dieser unterschiedene Körper abzeichnen. Sie können nur unter der Bedingung befriedigt werden, daß sie sich in dieser Kontinuität einen Körper zuschneiden und dann weitere Körper darin abgrenzen, mit denen dieser in Beziehung tritt wie mit anderen Personen. Diese ganz besonderen Bezüge zwischen den so ausgeschnittenen Teilstücken der Empfindungswirklichkeit herzustellen ist gerade das, was wir leben nennen.« (B|MG: 246 f.)

112

DIE BEWEGTE KONTINUITÄT DER ERFAHRUNG

Verfälschung laut Bergson auch mehr als berechtigt.4 »Sobald wir aber, wenn wir über das Wesen des Wirklichen spekulieren, dieses immer noch so betrachten, wie unser praktisches Interesse es verlangt, werden wir unfähig […] das radikale Werden zu sehen.« (B|SE: 310) Die Wirklichkeit kann also zerstückelt und repräsentiert werden, um den praktischen Interessen zu genügen, nicht aber um die Wirklichkeit selbst in ihrem radikalen Werden zu begreifen. Es ist also natürlich und durchaus in Ordnung, daß wir im täglichen Leben durch Nebeneinandersetzung und Dosierung von Begriffen vorgehen: daraus ergibt sich keine philosophische Schwierigkeit, […]. Aber diesen modus operandi auf die Philosophie übertragen und hier ebenfalls von den Begriffen zur Sache übergehen und für die reine uninte­ ressierte Erkenntnis eines Gegenstandes, den man diesesmal in seinem An-sich zu erfassen sucht, eine Erkenntnismethode anwenden, die von einem bestimmten Interesse inspiriert wird und definitionsgemäß in einer Ansicht besteht, die von außen her auf den Gegenstand genommen wird, heißt dem Ziel, das man im Auge hat, den Rücken zuwenden. (B|DW: 200)

Bergson berührt hier das Problem, dem wir weiter oben, bei Kant, bereits begegnet sind. Den Umstand, die transzendentalen Bedingungen von Erfahrung fälschlicherweise nach dem Bild empirischer Erfahrung zu konzipieren. Damit zeigt sich, wie sehr Deleuze in seiner Kritik an Kant eigentlich auf Bergson zurückgreift. Bergson zufolge besteht die Illusion darin, das wirkliche Werden, die Dauer, mit unbeweglichen, willkürlichen und leeren Formen rekonstruieren zu wollen. Deleuze zieht daraus den Schluss, dass die Dauer, die, wie wir noch sehen werden, die wirkliche Bedingung der Erfahrung darstellt, nicht ausgehend von dem begriffen werden darf, was durch sie bedingt wird: den empirischen, praktisch zurechtgeschnittenen Formen der Rekognition. Selbst die Wissenschaft, auf die sich Bergson bezieht, unterliegt diesem Trugschluss. Sie betont zwar die Wechselwirkung aller Teile aufeinander und kommt damit der Idee einer bewegten Kontinuität auch nahe, sie bindet die Bewegung aber immer noch an etwas Unbewegtes, an unveränderliche Elemente, denen eine Veränderung zugeschrieben wird. Beispielsweise ist zu Bergsons Zeiten noch von »Stößen« zwischen vereinzelten Atomen die Rede – wo doch das, was zwischen den Atomen 4 Diese »Verfälschung« der Welt wird von Nietzsche auf ähnliche Weise beschrieben: »Man soll diese Nöthigung, Begriffe, Gattungen, Formen, Zwecke, Gesetze – ›eine Welt der identischen Fälle‹ – zu bilden, nicht so verstehn, als ob wir damit die wahre Welt zu fixiren im Stande wären; sondern als Nöthigung, uns eine Welt zurechtzumachen, bei der unsere Existenz ermöglicht wird – wir schaffen damit eine Welt, die berechenbar, vereinfacht, verständlich usw. für uns ist.« (N|KSA12: 417)

113

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

passiert, gerade das ist, was sie jeweils individuiert. Dabei ist aber klar, dass auch die wissenschaftliche Vorstellung (zur Zeit von Bergson) sich an die Notwendigkeiten des praktischen Lebens hält und der atomaren Bewegung mit dem Atom einen Träger zuschreibt, in Bezug auf welchen diese nur noch als Akzidenz in den Hintergrund treten. Selbst Begriffe wie Wirbel oder Kraftlinien bezeichnet Bergson nur als bequeme Figuren, um Berechnungen ein anschauliches Bild zu verschaffen. Dennoch stellt sich Bergson aber die Frage, ob diese Begriffe uns nicht zumindest eine Richtung anzeigten, in der die Vorstellung des Wirklichen zu suchen wäre? Nun steht aber die Richtung, die sie weisen, außer Zweifel; sie zeigen uns, die konkrete Ausgedehntheit durchstreifend, Modifikationen, Störungen, Änderungen der Spannung oder Energie und nichts anderes. Und insbesondere dadurch neigen sie dazu, sich mit jener rein psychologischen Analyse zu treffen, die wir zuvor von der Bewegung gegeben hatten und die uns diese nicht als eine schlichte Veränderung des Verhältnisses zwischen Gegenständen darstellte, zu denen sie wie ein Akzidenz hinzuträte, sondern als eine echte und gewisser Weise unabhängige Wirklichkeit. (B|MG: 250 f.)

Obwohl er oft als Vertreter einer antirationalistischen Lebensphilosophie diskreditiert worden ist, bestand das Anliegen Bergsons laut D ­ eleuze doch immer darin, »der neuzeitlichen Wissenschaft die Philosophie zu geben, die ihr entspricht, die ihr fehlt wie eine Hälfte der anderen« (BB: 21).5 Seine Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Wissenschaften gibt Bergson dabei auch die Richtung vor, in der diese neue Philosophie zu suchen ist (d.h. Modifikationen, Störungen, Änderungen der Spannung oder Energie). Es geht also darum, »die gewohnte Richtung unserer Denkarbeit umzukehren« (B|DW: 214), ein neues Bild des Denkens zu zeichnen, sich von den empirischen Formen der Repräsentation loszusagen, mit denen erfolglos versucht wird, eine unablässig werdende Wirklichkeit zu rekonstruieren, um vielmehr von der bewegten Kontinui­tät unterhalb dieser Formen auszugehen. Mit dem Begriff der Dauer und des Virtuellen sollen – und genau deshalb ist Bergson für Deleuze und seiner Kritik 5 So fordert Bergson »eine Philosophie, die sich der Kontrolle der Wissenschaft unterwirft, und die zugleich auch zu ihrem Fortschritt beitragen soll« (B|DsW: 83). Neben dem Begriff der Mannigfaltigkeit und der Methode der Intuition ist es genau dieses Verhältnis zwischen Wissenschaft und Metaphysik, das für Deleuze und seine »Rückkehr zu Bergson« (SG: 318) von Bedeutung ist. »Je me sens bergsonien, quand Bergson dit que la science moderne n’a pas trouvé sa métaphysique, la métaphysique dont elle aurait besoin. C’est cette métaphysique qui m’intéresse« (Deleuze 1999: 130). Vor allem in Tausend Plateaus und Was ist Philosophie? geht Deleuze gemeinsam mit Guattari dem Verhältnis zwischen Wissenschaft und Metaphysik am gründlichsten nach.

114

INTUITION ALS TRANSZENDENTALE METHODE

an der repräsentationslogischen Ausrichtung des Transzendentalen auch unverzichtbar – die wahren, d.h. genetischen Bedingungen der Erfahrung erfasst werden. Die Methode, die Deleuze bei Bergson findet, um diese Umkehrung zu vollziehen, nennt dieser Intuition.

3.2 Intuition als transzendentale Methode Deleuze betont ausdrücklich, dass der Begriff der Intuition »keine Gefühlseingebung, Erleuchtung oder dunkle Seelenverwandtschaft, sondern eine ausgearbeitete Methode, ja, eine der höchstentwickelten Methoden der Philosophie« (B: 23) meint. Als Methode dient die Intuition dazu, sich in die Gegenstände hineinzuversetzen, denn »nicht in uns, sondern in ihnen selbst nehmen wir die Gegenstände wahr« (B|DW: 94). Die Quelle der Erfahrung muss hinter jener Biegung gesucht werden, durch die die Erfahrung auf die Notwendigkeiten und Gewohnheiten des praktischen Lebens zurechtgebogen wird, um dadurch erst eine »menschliche Erfahrung« (B|MG: 229) zu werden. Denn obwohl diese menschliche Erfahrung den praktischen Interessen des täglichen Lebens mehr als gerecht wird, erweist sie sich doch als irreführend, wenn es darum geht, zu ihrer Quelle: zu den Bedingungen jeder Erfahrung zu gelangen. Versetzen wir uns mit der Methode der Intuition dagegen in die Dinge hinein und verorten Wahrnehmung primär in den Dingen, dann bedeutet das, auf die »Transzendenz eines Subjekts, dem sich das Immanenzfeld nicht zuschreibt, ohne nicht zugleich zu einem Ich zu gehören« (WP: 55), zu verzichten. Damit ist es Bergson, der – vor allem im ersten Kapitel von Materie und Gedächtnis – das immanente Feld der Erfahrung von jenem transzendentalen Ich befreit, das dieses Feld im Rahmen der Transzendentalphilosophie noch an das Modell der Rekognition gebunden hatte. Gerade deshalb betont Deleuze, dass Bergson die transzendentale Analytik auf eine Art und Weise erneuert, die wegweisend für seinen eigenen transzendentalen Empirismus ist.6 6 Mit seiner berühmten These, wonach wir die Dinge nur dort wahrnehmen, wo sie stattfinden, weist Bergson auch über die frühe Phänomenologie hinaus. Denn wenn unsere Wahrnehmung nicht an ein intentionales Zentrum gebunden ist, sondern uns von vornherein in die Materie hineinversetzt, dann ist sie notwendigerweise »a-personal und läuft mit dem wahrgenommenen Objekt zusammen.« (B: 38) Ihr Ausgangspunkt ist also nicht mehr ein sinnlicher Gemeinsinn, der gerade das voraussetzt, was es zu erklären gilt (die Genese des Subjekts), sondern die Dauer oder die Substantialität der Veränderung in den Dingen selbst. Wie Henry Somers-Hall (2012) bemerkt, ist es vor allem die Spur von Bergson, die Deleuze, trotz aller Verweise auf die Phänomenologie von Husserl, in Sartres Konzeption

115

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

Die Methode der Intuition sorgt dafür, dass der banale Bereich der empirischen Erfahrung auf die Bedingungen von Erfahrung hin überschritten wird. Aus diesem Grund ist sie »mehr als eine Beschreibung der Erfahrung und (scheinbar) weniger als eine transzendentale Analyse. Zwar erhebt sie sich durchaus bis zu den Bedingungen des Gegebenen, doch sind diese Bedingungen […] in gewisser Weise selbst gegeben, sie werden erlebt« (EI: 50) und nicht bloß abstrakt vorausgesetzt. Versetzen wir uns nämlich in die Dinge hinein, so treffen wir auf die Dauer, die folglich nicht nur gelebte Erfahrung ist, sondern »bereits erweiterte, sogar überschrittene Erfahrung, Bedingung von Erfahrung« (B: 53). Damit kommt das Gebiet des Transzendentalen in Bewegung. Denn die Bedingungen, die damit in den Blick kommen, sind »weder allgemein noch abstrakt; sie sind nicht umfassender als das Bedingte selbst – sie sind Bedingungen einer wirklichen Erfahrung« (ebd.: 40). Was Deleuze bei Kant noch bemängelt, findet er bei Bergson, der damit als erster Fürsprecher seines transzendentalen Empirismus angesehen werden kann. In anderen Worten: Man darf sich also zu den Bedingungen nicht so erheben wie zu den Bedingungen jeder beliebigen möglichen Erfahrung, sondern wie zu den Bedingungen der realen Erfahrung: schon Schelling setzte sich dieses Ziel und definierte seine Philosophie als einen höheren Empirismus. Das trifft auch auf den Bergsonismus zu. Wenn diese Bedingungen in einer Intuition erfaßt werden können und müssen, dann genau deshalb, weil sie die Bedingungen der realen Erfahrung sind, weil sie nicht umfassender sind als das Bedingte, weil der Begriff, den sie bilden, mit seinem Gegenstand identisch ist. (EI: 50)

Ein höherer Empirismus zeichnet sich Bergson zufolge dadurch aus, dass er seinen Gegenstand mit einem maßgeschneiderten Begriff versieht, also nur noch auf eine einzige Sache anwendbar ist und damit auf Bedingungen verweist, die nicht umfassender als das sind, was sie bedingen. In genau diesem Sinne stellt Bergson auch stets die Frage, warum gerade dieses und nicht jenes existiert, und verzichtet insofern auf (aporetische) Fragen, die lediglich das Sein und das Nicht-Sein im Allgemeinen eines prä-personalen transzendentalen Feldes ohne Subjekt aufgreift, um als Grundlage für sein Projekt eines transzendentalen Empirismus zu dienen. Allerdings bleibt auch Bergson noch dem dogmatischen Bild des Denkens verhaftet. Denn bei Bergson hängt die Möglichkeit, wirklichen zum Denken zu gelangen, noch vom guten Willen des Denkers ab, der sich bewusst entschließt, die mühsame Methode der Intuition zu verfolgen. Erst mit Nietzsche wird der gute Wille durch den gewaltsamen Einbruch eines absoluten Außen ersetzt werden. Die Erneuerung der Transzendentalphilosophie, die Deleuze vor Differenz und Wiederholung im Dialog mit ganz unterschiedlichen Autoren anvisiert, wird gerade mit Nietzsche abgeschlossen.

116

INTUITION ALS TRANSZENDENTALE METHODE

betreffen. Damit ist Bergson in jene empiristische Tradition einzureihen, auf die Deleuze sich mit seinem eigenen transzendentalen Empirismus beruft. In Bezug auf das Problem der Wahrnehmung haben wir bereits gesehen, dass es bei Bergson weniger darum geht, die Möglichkeit von Erfahrung ganz allgemein und hypothetisch zu thematisieren, sondern zu fragen, »warum in dem ungeheuren Feld der Frequenzen unsere Wahrnehmung gerade diese bestimmten Frequenzen herausgreift, warum gerade diese und keine anderen« (B|DW: 74). Wenn man immer eine ganz bestimmte, individuelle Farbe wahrnimmt, dann setzt dies voraus, dass es einerseits eine gewisse Frequenz elementarer physikalischer Ereignisse ist, die sich immer und überall wiederholt; andererseits, dass das Auge – im Hinblick auf die praktische Notwendigkeit, sich im Raum zu orientieren – auch über adäquate lichtsensitive Rezeptoren verfügt, um gewisse Frequenzen des Lichtspektrums immer und überall auf differenzierte Weise in bestimmten Anschauungsformen verdichten zu können. Hier kommt die innere Differenz auf den Begriff. Die Philosophie muss »zur inneren Differenz gelangen, oder sie wird zu den Dingen nur eine negative oder generische Beziehung haben und im Element der Kritik oder der Allgemeinheit landen« (EI: 32). Was Bergson demnach ablehnt, ist eine Aufteilung, die den Grund in die Art oder in die Kategorie verlegt und das Individuum in der Kontingenz beläßt, d.h. im Raum. Der Grund muss bis zum Individuum gehen, der wahre Begriff bis zur Sache selbst, das Verständnis bis zum »Dieses«. Warum dieses und nicht jenes? Immer stellt Bergson diese Frage der Differenz. (ebd.: 50)

Das heißt: Der Untergrund der Kontingenz muss bis an die Oberfläche des Begriffs aufsteigen. Bei Bergson findet Deleuze also den Versuch, die Differenz an sich begrifflich zu fassen. Nicht von ungefähr legt ­Deleuze den Grundstein seiner Philosophie der Differenz auch bereits in seiner Frühphase mit einem Aufsatz, in welchem er den Begriff der inneren Differenz bei Bergson untersucht.7 Verallgemeinerungen sorgen dafür, dass die innere Differenz übersehen wird, welche in jedem einzelnen Fall die Singularität einer Sache markiert. Deshalb kritisiert Bergson vehement alle Fragen, die sich bloß im Allgemeinen bewegen. Zum Beispiel: »Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?« oder »Weshalb ist Ordnung und nicht vielmehr Unordnung?« Mit diesen maßlosen Fragen wird nämlich eine falsche Alternative zwischen Sein und Nicht-Sein, Ordnung oder Unordnung aber auch, wie wir noch sehen werden, zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit oder Einem und Vielem unterstellt. Bei diesen allzu 7 Darin bemerkt Deleuze: »Die innere Differenz als solche denken, als reine innere Differenz, bis zum reinen Begriff der Differenz gelangen, die Differenz zum Absoluten erheben – dies ist der Sinn von Bergsons Bemühen.« (EI: 55)

117

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

allgemeinen Gegensätzen handelt es sich um reine Negativbegriffe, durch welche die innere Differenz der Dinge entstellt und verfälscht wird. Die Vorstellung eines Nichtseins taucht – wie wir weiter oben am Beispiel des ungemachten Bettes bereits gesehen haben – zum Beispiel »dort auf, wo wir, anstatt verschiedene Realitäten zu erfassen, die in unendlicher Abfolge einander ersetzen können, diese Realitäten in der homogenen Sphäre eines Seins gründen lassen, das nur noch dem Nicht-Sein gegenübergestellt und auf es bezogen werden kann« (B: 32). Bergson zufolge gibt es also weder das Sein im Allgemeinen und noch weniger gibt es das Nichts im Allgemeinen: es gibt vielmehr tausend verschiedene Realitäten, wobei eine jede dieser Realitäten zwar nicht so ist, wie die anderen, damit aber noch lange nicht Nichts ist. Um diese trügerische Alternative zu umgehen, beruft sich Bergson auf die Methode der Intuition. Diese soll dabei helfen, die groben Allgemeinheiten samt ihrer leeren Negativbegriffe (Sein oder Nicht-Sein, Ordnung oder Unordnung etc.) zu verabschieden, um zur inneren Differenz der Dinge zu gelangen. Die Intuition ist demnach »eine Methode, die die Differenz sucht. Sie zeigt sich als das, was die Wesensunterschiede sucht und findet.« (EI: 34) Um zu den Wesensunterschieden vorzudringen, arbeitet Deleuze die Methode der Intuition bei Bergson in drei sukzessiven Schritten aus: der reine Dualismus, der neutralisierte Dualismus, der Monismus. Die dabei gewonnen Einsichten sind von allergrößter Bedeutung, denn damit legt Deleuze auch schon eine Grundlage für sein späteres Denken. Selbst in seiner Zusammenarbeit mit Félix Guattari wird das, was Deleuze hier, in seiner frühen Auseinandersetzung mit Bergson, lernt, noch richtungsweisen sein. Deshalb lohnt es sich auch, Deleuze hier nun näher zu folgen. Was meint Deleuze also, wenn er von einer Methode der Intuition spricht? Wie wir gesehen haben, kommen alle Schwierigkeiten daher, das Wesen der Wirklichkeit, die Substantialität der Veränderung, bloß vom Standpunkt des praktischen Lebens aus zu betrachten. Aus diesem Standpunkt gibt es aber immer nur empirische oder praktische Vermischungen, in denen das, was sich im Grunde wesentlich unterscheidet, willkürlich verdeckt wird. Deshalb liegt das Leitmotiv von Bergson laut Deleuze auch im Folgenden: »Dort, wo Wesensunterschiede waren, hat man nur graduelle Unterschiede wahrgenommen. Dies ist der leitende Gesichtspunkt, nach dem Bergson seine verschiedenen Kritikansätze bündelt.« (B: 35 f.) Bleiben wir beim bereits erwähnten Problem der Bewegung. Das Paradoxon von Achilles und der Schildkröte beruht nämlich auf dem Trugschluss, zwei Dinge miteinander zu vermischen, die sich eigentlich wesentlich voneinander unterscheiden: Raum und wirkliche Zeit (Dauer). Durch die Verräumlichung der Zeit (Zeiteinheiten als Bewegungsmaß) werden Raum und Zeit miteinander vermischt, um ein homogenes Medium (räumliche Entfernungen und räumliche Bewegung) 118

INTUITION ALS TRANSZENDENTALE METHODE

zu erhalten, in dem qualitativ verschiedene Bewegungen miteinander verglichen werden können. Damit wird aber gerade das verkannt, was beide Bewegungen, die des Achilles und die der Schildkröte, wesentlich voneinander unterscheidet: ihre respektive Veränderung durch die Zeit (die qualitative Verschiedenheit der beiden Läufe). In Wirklichkeit ist Zeit also keine Maßeinheit, in der Bewegungen zu messen und zu vergleichen sind: sie ist qualitative Veränderung oder Bewegung an sich. Obwohl man beide Bewegungen vom Standpunkt des praktischen Lebens aus in einem homogenen Medium, in dem Raum und Zeit sich als Maßeinheiten vermischen, miteinander vergleichen kann, muss man also, will man die qualitative Verschiedenheit der beiden Bewegungen auch wirklich erfassen, zur Wesensdifferenz zwischen Raum und Zeit zurückfinden: beiden Bewegungen wohnt nämlich eine grundverschiedene Dauer inne, eine wirkliche Zeit der Veränderung, die durch eine Verräumlichung der Zeit, vom Standpunkt des praktischen Lebens aus, übersehen wird. Was sich wesentlich voneinander unterscheidet, das sind aber niemals Gegenstände oder »Dinge«, denn diese sind immer schon Ergebnisse einer Zurechtschneidung und Zusammensetzung. Wesentlich unterscheidet sich immer das, was einfach oder rein ist: das, was Bergson eine Tendenz nennt. »Der Wesensunterschied besteht nie zwischen zwei Ergebnissen, zwischen zwei Dingen, sondern in ein und derselben Sache zwischen zwei Tendenzen, die sie durchziehen, und in einem und demselben Ergebnis zwischen zwei Tendenzen, die in ihm zusammentreffen.« (EI: 35) Begreift man beispielsweise das menschliche und tierische Gehirn jeweils als ein fertiges Ding, so werden sich beide Gehirne nur graduell voneinander unterscheiden (z.B. durch die höhere oder niedrigere Anzahl an Neuronen). Im Gegensatz dazu werden sie sich aber wesentlich voneinander unterschieden, wenn man beide Gehirne als Ausdruck einer je eigenen evolutionären Tendenz begreift. Indem sie also das Ding oder die Mischung in zwei Tendenzen unterteilt, die sich wesentlich voneinander unterscheiden, erweist sich die Intuition hier als regelrechte Teilungsmethode »im platonischen Sinne« (B: 35). Durch diese Methode sind es zunächst also Dualismen, die Bergson in den Dingen zum Vorschein bringt. Und in diesem Sinne markiert der reine Dualismus auch das erste Moment der Methode. Neben dem Dualismus von Raum und Dauer, der alle anderen gewissermaßen vorbereitet, finden sich noch folgende Dualismen bei Bergson: Quantität und Qualität, Materie und Gedächtnis, Gegenwart und Vergangenheit, Intelligenz und Instinkt, geometrische Ordnung und Lebensordnung, Wissenschaft und Metaphysik, das Geschlossene und das Offene. Bergsons Besessenheit, Wesensunterschiede wiederherzustellen, um die den Dingen innewohnenden Tendenzen in ihrer Reinheit zu erfassen, qualifiziert die Intuition laut Deleuze nun aber als echte transzendentale Methode. 119

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

Wenn das Mixtum das Tatsächliche ausmacht, muß es nach Tendenzen oder nach reinen Formen unterteilt werden, die nur mit Rechtsgründen ausweisbar sind. Die Erfahrung wird auf die Bedingung von Erfahrung hin überschritten (doch sind das hier nicht, nach kantischer Manier, die Bedingungen aller überhaupt möglichen Erfahrungen, sondern die Bedingungen wirklicher Erfahrung). (ebd.)

Mit seiner Methode der Intuition und der damit verbundenen Suche nach Wesensunterschieden ist Bergson also bestrebt, eine adäquate Aufteilung zwischen Empirischem und Transzendentalem zu finden, um zu präzisen, maßgeschneiderten Begriffen zu gelangen. Und gerade dies ist es, was Deleuze bei Kant vermisst, aber bei Bergson findet. Wie stellt Deleuze nun die weiteren Schritte dar, die mit der Methode der Intuition zu dieser Aufteilung führen? Bleiben wir bei Bergsons Generalunterscheidung von Dauer und Raum. Beide Tendenzen unterscheiden sich »nur auf den ersten Blick« (B: 45) oder oberflächlich voneinander, ihre Differenz ist noch eine äußerliche. Mehr noch: Beide Tendenzen sind nicht gleichwertig, da eine von beiden, die Dauer, notwendigerweise die vorherrschende Tendenz ist. »Und nur diese vorherrschende Tendenz definiert die wahre Natur des Gemischs, nur sie ist der einzige und reine Begriff, da sie die Reinheit der entsprechenden Sache ist: die andere Tendenz ist die Unreinheit, die sie verdirbt, sie hemmt« (EI: 51). Ähnlich wie bei der selektiven Prüfung bei Platon kommt es also darauf an, das Gemisch in zwei Hälften zu teilen, um sodann die »gute« Seite von beiden zu finden. Im Unterschied zu Platon verweist die gute Seite hier aber nicht mehr auf eine unveränderliche Wesenheit, Idee oder intelligible Ordnung, in Bezug auf welche der Anspruch der Bewerber oder Prätendenten zu beurteilen ist. Sie verweist nun auf die Dauer, d.h. auf die wirkliche Veränderung in der Zeit. Damit stellt Deleuze die transzendentale Kritik sozusagen vom Kopf auf die Füße. Nehmen wir ein Stück Zucker: Es hat eine räumliche Gestalt; wir würden aber bei dieser Betrachtungsweise immer nur graduelle Unterschiede zwischen diesem Zucker und jedem anderen Ding erfassen. Aber ihm eignet auch eine Dauer, ein Rhythmus und eine Seinsweise in der Zeit, die sich zumindest teilweise dann, wenn es schmilzt oder sich auflöst, zu erkennen gibt und deutlich macht, worin dieser Zucker wesentlich nicht nur von anderen Dingen, sondern hauptsächlich und vor allem von sich selbst verschieden ist. Diese Veränderung, die mit dem Wesen oder der Substanz einer Sache ineinsgeht, bekommen wir dann in den Blick, wenn wir sie in Begriffen der Dauer denken. (B: 46)

Die Intuition erlaubt es, unsere eigene Dauer zu verlassen, uns aber anhand unserer Dauer der Existenz anderer Dauern, unter- oder oberhalb der unseren zu vergewissern. Wenn man das Schmelzen des Zuckerstückes 120

INTUITION ALS TRANSZENDENTALE METHODE

immer erst abwarten muss, dann verweist uns unsere Dauer, die wir ungeduldig und wartend dabei erleben, »auf die Spur einer anderen Dauer« (ebd.: 47), die Dauer des Zuckerstücks, und darüber hinaus auf eine Mannigfaltigkeit heterogener Dauern, von Rhythmen, die wesentlich von unserem verschieden sind. »Immer ist die Dauer der Ort und der Hintergrund von Wesensunterschieden, sogar das Gesamtfeld von [Mannigfaltigkeiten]; es gibt nur Wesensunterschiede innerhalb der Dauer – während der Raum lediglich der Ort, die Umgebung und das Gesamtfeld gradueller Unterschiede ist.« (ebd.). Während der Raum mit seinen graduellen Unterschieden oder Vermischungen auf empirische Rekognitionsformen beschränkt bleibt, verweist die Dauer auf die bewegte Kontinuität des Transzendentalen. Auf der »guten« Seite finden wir nicht mehr das unveränderliche Wesen der Dinge, wir finden vielmehr die dem einzelnen Ding eigene Dauer, die sich von allen anderen und (als reine Veränderung in der Zeit) auch von sich selbst unterscheidet. Als innere Differenz ist die Dauer demnach die substanzielle Seite eines jeden Dinges – eben deshalb ist die Dauer in jedem Ding oder Gemisch auch die vorherrschende oder primäre Tendenz. Wenn die Dauer nun aber die vorherrschende Tendenz in einer Mischung ist, dann stellt sich die Frage, welche Rolle darin noch der anderen Tendenz, dem Raum, zukommt. Den Erfordernissen des praktischen Lebens folgend, tendieren wir dazu, eine bewegte Kontinuität in Dinge zu zerteilen, um sie, je nach Interesse, getrennt voneinander zu betrachten. Diese Vorgehensweise, die darin besteht, etwas unentwegt in diskrete Teile zu zerlegen, eignet dem Raum (partes extra partes), der alle Operationen des Verstandes unterspannt. So wurde bereits darauf hingewiesen, inwiefern Erkenntnis im Modell der Rekognition über voneinander abgegrenzte Territorien verfährt, die den Raum der Repräsentation als eine sesshafte Verteilung definieren.8 Indem von der Substantialität der 8 Der wechselseitigen Genese von Raum und Verstand geht Bergson im dritten Kapitel von Schöpferische Evolution nach. Die Kritik, die er dabei an die Raumkonzeption von Kant richtet, mag zwar ungerechtfertigt sein. Denn, auf das »Paradox der symmetrischen Objekte« (DW: 30) verweisend, betont selbst Deleuze, dass Kant im Raum sehr wohl eine innere »Differenz, die dennoch keine […] begriffliche ist« (ebd.: 46), berücksichtig, womit Bergsons Vorwurf, Kant gehe von einem leeren, homogenen Raum aus, alles andere als richtig ist. Nichtsdestotrotz relativiert diese unglückliche Kritik an Kants Raumkonzeption, wie Henry Somers-Hall (2012: 75) bemerkt, in keiner Weise die Kritik, die Bergson gegenüber Kants Konzeption eines transzendentalen Egos vorbringt, selbst wenn diese ironischerweise aus jener abgeleitet wird. Denn es ist, wie wir weiter oben bereits gesehen haben, gerade die transzendentale Einheit des Egos, in Bezug auf welche die Dinge ihren Platz in der homogenen Ordnung der Repräsentation finden, und so getrennt voneinander definiert werden können (partes extra partes). Der

121

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

Veränderung abstrahiert wird, um den Notwendigkeiten des praktischen Lebens gerecht zu werden, wird die Bedeutung, die folglich dem Raum zukommt, darauf beschränkt sein, Prinzip dieser Abstraktion zu sein. In anderen Worten: Der Raum wird zum Prinzip einer Illusion, einer Fiktion oder eines Scheins.9 Dies ist zumindest die Position, die Bergson noch in Zeit und Freiheit vertritt, wo der reinen Dauer des Bewusstseins der Raum als repräsentationslogische Fiktion entgegengestellt wird. Demgegenüber weist Deleuze nun aber auf die »Entwicklung« (B: 50) hin, die es in Bergsons Denken gegeben hat – und die auch sein eigenes Denken maßgebend beeinflusst hat. Denn der Raum schien Bergson »zunehmend weniger auf eine uns von [der] psychologischen Wirklichkeit trennende Fiktion reduzierbar zu sein« (ebd.), sondern wie die Dauer eine Tendenz oder Richtung im Sein zu verankern. Die Unterscheidung dieser beiden Tendenzen, sowie das asymmetrische Verhältnis, das sie aufeinander bezieht und insbesondere das Primat, das dabei der reinen Veränderung der Dauer zukommt, wird uns in den weiteren Kapiteln dieser Arbeit noch ausführlich beschäftigen. Deshalb ist es auch notwendig, Deleuze hier genau zu folgen. Wie ist es also möglich, den Raum sowohl als psychologische Fiktion als auch als eine der beiden Seiten im Sein zu verstehen? Wenn beispielsweise ein Dichter seine Verse vorliest, dann ist eine bestimmte Aufmerksamkeitspanne des Zuhörers gefordert, um dem Sinn der Verse zu folgen, denn dieser artikuliert sich über die kontinuierliche Veränderung eines Ganzen. Entspannt der Zuhörer dagegen seine Aufmerksamkeitsspanne, so wird der Sinn der Verse langsam entweichen, und die vereinzelten Sätze, Wörter, Silben und Laute, die bis dahin noch im Sinn aufgegangen sind, werden zusehends getrennt voneinander in ihrer nackten Materialität in Erscheinung treten.10 Das heißt, je mehr die AufmerksamkeitVerstand schwimmt, so Bergson, geradezu »in einer Atmosphäre der Räumlichkeit, […]. Unsere Wahrnehmungen erreichen uns erst, nachdem sie durch diese Atmosphäre gegangen sind.« (B|SE: 235) 9 Damit unterliegt das Denken einer Illusion, die allerdings unvermeidlich ist. Gerade damit greift Bergson aber eine Idee auf, die von Kant kommt. »Hatte nicht Kant gezeigt, daß die Vernunft aus ihrem innersten Kern heraus nicht Irrtümer erzeugt, sondern Illusionen? Einzig gegen deren Wirkungen, nicht gegen sie selbst, die unvermeidlich sind, kann man sich wappnen. Wiewohl Bergson das Wesen falscher Probleme völlig anders bestimmt, wiewohl ihm die kantische Kritik selbst als ein Bündel schlecht gestellter Pro­ bleme erscheint, behandelt er den Schein doch auf eine Kant analoge Weise. Der falsche Schein wurzelt im Wesenskern der Intelligenz selbst; eigentlich ist er nichts flatterhaft Unberechenbares, man kann ihn nicht verscheuchen, er kann nur verdrängt werden.« (B: 33) 10 Dasselbe Verhältnis wurde weiter oben bereits am Problem der Farbwahrnehmung und dem vermeintlichen Gegensatz von Qualität und Quantität

122

INTUITION ALS TRANSZENDENTALE METHODE

spanne gelockert wird, umso mehr wird sich ein zeitliches Ineinander in ein räumliches Neben- oder Nacheinander auflösen (um sich dessen zu vergewissern, möge man die folgenden Sätze einfach einmal auf ihren Sinn und dann auf ihre Grammatik hin lesen). Nach oben hin spannen wir unsere Dauer immer mehr an, um, den Erfordernissen des Lebens folgend, immer umfassendere Regionen unserer Vergangenheit auf eine Gegenwart hin (der Sinn der Verse) zu konzentrieren, die gerade dadurch mehr und mehr unserem Handlungsvermögen untersteht. »Sehr selten sind die Momente, in denen wir uns selbst in diesem Maße in den Griff bekommen: Sie sind eins mit unseren wahrhaft freien Handlungen.« (B|SE: 230) Kehren wir die Richtung dagegen um, entspannen uns und unterbrechen »die Anstrengung, mit der wir den größtmöglichen Teil der Vergangenheit in die Gegenwart hineindrängen« (ebd.: 29), so nähern wir uns einer unendlich gelockerten, dekontrahierten oder verdünnten Dauer, »die ihre Momente einander äußerlich setzt: Das eine Moment muß verschwunden sein, bevor das andere auftaucht. Was diese Momente an gegenseitiger Durchdringung verlieren, gewinnen sie an Ausdehnung« (B: 111 f.) – wie die einzelnen Sätze, Wörter, Silben und Laute eines Gedichtes, die zunehmend getrennt voneinander in Erscheinung treten, sobald die Aufmerksamkeit des Zuhörers sich lockert, womit auch der Sinn, der durch diese Elemente zuvor noch zum Ausdruck kam, immer mehr entschwindet. Folgen wir dieser Richtung immer weiter, so nähern wir uns irgendwann einem Grenzbereich. Denn selbst wenn wir die Dauer des Bewusstseins in Richtung auf die Materie in elementare Laute oder Schwingungen auflösen, so werden diese Elemente dennoch ein Minimum von Dauer aufweisen, ein Minimum, das zwar sehr gering, unendlich verdünnt, doch niemals gleich Null sein wird. An dieser Grenze finden wir zwar »die reine Homogenität, die reine Wiederholung, durch die wir die Materialität definieren« (B|DW: 210), und zwar als einfaches aufgezeigt, auf welchen dieses verweist. Eine Farbe wird wahrgenommen, indem unendlich viele materielle Bewegungen (Schwingungen, Vibrationen, Frequenzen usw.) in einer einfachen qualitativen Empfindung kontrahiert, verdichtet oder zusammengefasst werden. Die Gegensätzlichkeit von Quantität und Qualität wird überwunden, nicht weil homogene Bewegungen zu heterogenen Qualitäten, sondern »weniger heterogene Veränderungen zu stärker heterogenen Veränderungen« (B|MG: 300) in einer Wahrnehmung zusammengezogen werden. Zwischen den Empfindungsqualitäten auf der einen Seite und den Bewegungsquantitäten auf der anderen Seite »besteht also nur ein Unterschied des Rhythmus der Dauer, ein Unterschied der inneren Spannung« (ebd.: 302). Daraus folgt, dass die Dauer des Bewusstseins und die Bewegung der Materie nicht durch eine äußere Beziehung aufeinander verweisen, sondern entlang eines intensiven Kontinuums in verschiedenen Spannungsgraden ineinander übergehen.

123

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

Nebeneinander aller Dinge: Wir finden aber nicht den reinen Raum. Denn aufgrund ihres Minimums an Dauer (auch Partikel »brauchen« Zeit, um zu schwingen) lässt sich Materie nie vollkommen in Raum auflösen, selbst wenn sie unendlich ausgedehnt oder abgespannt ist. Eine vollkommene Räumlichkeit impliziert nämlich eine absolute Äußerlichkeit aller Teile untereinander (partes extra partes), eine vollständige wechselseitige Unabhängigkeit, die es in Wirklichkeit nicht geben kann. Denn die strikte Trennung zwischen einem Ding und seiner Umwelt, die künstliche Isolierung der Dinge, ist nie so scharf, wie der praktische Zuschnitt der kontinuierlichen Wirklichkeit zu suggerieren scheint. Ganz im Gegenteil: »Der enge Zusammenhang, der alle Gegenstände des materiellen Universums verbindet, das beständige Fortwähren ihres wechselseitigen Aufeinanderwirkens und Reagierens, beweist hinreichend, daß sie nicht die präzisen Grenzen besitzen, die wir ihnen zuschreiben« (B|MG: 260) und auf die wir uns verlassen. Und ihr wechselseitiges Aufeinanderwirken und Reagieren braucht vor allem eines: Zeit. Um dennoch zu einem reinen Raum zu gelangen, müsste man die Abspannungsbewegung bis zu einem idealen Endpunkt weitertreiben, »an dem die Bewegung der Abspannung als der äußeren Hülle jeder denkbaren Ausdehnung enden« (B: 112) würde. Dort, am äußersten Ende dieser Bewegung, wo alles sich in einem räumlichen Nebeneinander verliert, würden wir zumindest zu einer abstrakten Vorstellung eines reinen, homogenen und unendlich teilbaren Raumes gelangen. Das heißt, den reinen Raum gibt es nicht, er ist nur das Schema dessen, was am Ende dieser Bewegung stünde. Einmal im Besitz der Form Raum, bedient [der Verstand] sich dieser wie eines Netzes, dessen Maschen nach Belieben geknüpft und gelöst werden können und welches über die Materie geworfen diese gerade so aufteilt, wie die Bedürfnisse unserer Handlung es erfordern. (B|SE: 232 f.)

Als Richtung, auf die hin sich Materie entspannt, ist der Raum somit alles andere als eine Illusion, eine Fiktion oder ein Schein. Er wird dies nur, wenn man sich auf den Endpunkt dieser Richtung stellt, an dem jegliche Dauer entschwunden ist, um ihn als bloß gedachtes, ideelles oder abstraktes Schema zur praktischen Einteilung der Welt zu verwenden. Erst auf diesem idealen Endpunkt, diesem Standpunkt des praktischen Lebens, an dem die Dinge strikt getrennt voneinander repräsentiert werden können, treten dann auch alle Dualismen in Erscheinung, die weiter oben erwähnt wurden. Nichtsdestotrotz wird hier ersichtlich, inwiefern Dauer und Materie sich in ihrem Wesensunterschied nicht in einem vulgären Dualismus frontal gegenüberstehen, sondern vielmehr »zwei Prozesse gegensätzlicher Richtung« (B|SE: 231) zum Ausdruck bringen, wobei die eine Richtung in einer immer intensiveren Anspannung und Kontraktion der Seite 124

INTUITION ALS TRANSZENDENTALE METHODE

der Dauer, des Geistes, des Gedächtnis oder der Freiheit zugeneigt ist, während die andere Richtung in einer immer extensiveren Abspannung oder Dilatation der Seite der Materie zugeneigt ist – ohne jemals den Raum als ihren idealen Endpunkt zu erreichen. »Dies ist das Moment des neutralisierten, ausgeglichenen Dualismus« (B: 117), des zweiten Schrittes in der Methode der Intuition. Das bedeutet, dass es bei Bergson nicht die geringste Unterscheidung zwischen zwei Welten gibt, […], sondern lediglich zwei Bewegungen oder vielmehr zwei Richtungen ein und derselben Bewegung, eine, bei der die Bewegung dazu tendiert, in ihrem Ergebnis, ihrem Resultat, das sie unterbricht, zu erstarren, und die andere, die kehrtmacht und in dem Ergebnis die Bewegung wiederfindet, aus der sie resultiert. (EI: 30)

Es kann hier keine Unterscheidung zwischen zwei Welten geben, keine äußerliche Beziehung oder »mysteriöse Übereinkunft« (B|SE: 236), wie Kant sie etwa zwischen Anschauung und Begriff postuliert hatte, denn das, was sich entspannt, ist immer schon Kontrahiertes, und das, was sich kontrahiert, ist immer schon Entspanntes. In diesem Sinne ist es gerade Bergson, der Deleuze wichtige Mittel liefert, um die transzendentale Kritik zu erneuern. Im Unterscheid zu Kant bleibt die Differenz hier nicht mehr äußerlich, sondern erweist sich als innere Differenz zwischen den beiden Richtungen oder Tendenzen einer bewegten Kontinuität. Zwischen den beiden gegenläufigen Richtungen, zwischen Entspannung und Kontraktion, gibt es alle möglichen intermediären Grade. Die Schwierigkeiten des Dualismus kommen also nicht daher, dass sich die beiden Terme, auf die er sich bezieht, wesentlich unterscheiden, sondern daher, dass man übersieht, wie der eine Term als Inversion stetig in den anderen übergeht.11 Das heißt: Wenn Dauer und Materie in einer noch 11 Damit fällt Bergson aber gerade »nicht in eine einfache Anschauung der graduellen Differenzen im allgemeinen« (EI: 73) zurück, denn Entspannung und Kontraktion sind nur insofern Grade der Differenz, als dass sie als Extreme auf ein und derselben Ebene invers zueinander in Beziehung stehen und somit gerade nicht als Abstufungen einer höheren Einheit verstanden werden dürfen. »Der Metaphysik wirft Bergson vor, nicht gesehen zu haben, daß die Entspannung und die Kontraktion invers sind, daß sie glaubte, sie seien lediglich zwei mehr oder weniger intensive Grade in der Abstufung ein und desselben unbewegten, stabilen, ewigen Seins. So wie die Grade sich durch die Differenz erklären und nicht umgekehrt, so erklären sich die Intensitäten durch die Inversion und setzen sie voraus. Am Anfang steht nicht ein unbewegtes und stabiles Sein; wovon wir ausgehen müssen, ist die Kontraktion selbst, eine Dauer, deren Inversion die Entspannung ist. […] Die Differenz ist der wahre Anfang; […]; wenn man von etwas anderem, von einem unbewegten und stabilen Sein ausgeht, erhebt man ein Indifferentes zum Prinzip, man nimmt ein Weniger für ein Mehr, man fällt in die bloße Anschauung der Intensitäten.« (ebd.: 73 f.)

125

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

dualistischen Perspektive (erster und zweiter Moment der Methode) einander in einer unüberwindbaren Beziehung äußerlich gegenüberstehen – »die Materie ist im Raum, der Geist ist außerhalb des Raumes; es gibt keinen möglichen Übergang zwischen ihnen« (B|MG: 274) –, so führt uns die Konzeption beider als gegenläufige Richtungen einer einzigen Bewegung nun auf einen Monismus, in dem die Dauer den höchsten Kontraktionsgrad der Materie und die Materie den höchsten Abspannungsgrad der Dauer darstellt. Zwischen diesen beiden Richtungen bewegt sich die Intuition. Und Bergson zufolge ist »diese Bewegung […] die Metaphysik selber« (B|DW: 211). Dieser Monismus, in dem alle Grade virtuell koexistieren, markiert somit das dritte Moment der Methode der Intuition. Dabei zeigt sich auch eine gewisse Nähe zu Spinoza. So wie Spinoza den Dualismus, den Descartes zwischen einer denkenden und einer ausgehenden Substanz festmacht, auf einen Monismus der Substanz hin überwindet, in dem Denken und Ausdehnung formal verschiedene Attribute ein und derselben Substanz darstellen, so überwindet Bergson den Dualismus, den Kant zwischen den beiden Vermögen des Subjekts festmacht, auf einen Monismus der Dauer hin, in dem Geist und Materie in virtuellen Graden ineinander übergehen (vgl. F: 116). Nicht von ungefähr erklärt Deleuze, eine bekannte Unterscheidung von Spinoza bemühend, die Dauer sei »eine natura naturans und die Materie eine natura naturata« (B: 117). Während die Materie als natura naturata oder geschaffene Natur nur Modus oder Affektion der Substanz ist, d.h. »das, was in einem anderen ist, durch das es auch begriffen wird« (S|E: Id5), so bezeichnet die Dauer als natura naturans oder schaffende Natur die Substanz selbst, d.h. das, »was in sich ist und dadurch begriffen wird« (S|E: Ip29dem). Vor diesem Hintergrund kann folglich vermutet werden, dass Deleuze die Dauer bei Bergson mit Spinoza als immanente Ursache liest. Wie wir weiter unten, im Zusammenhang mit Spinoza, noch sehen werden, ist die immanente Ursache »dadurch definiert, daß die Wirkung in ihr ist, zweifellos als in etwas Anderem, aber in ihr ist und bleibt« (PA: 154). Wirkung und Ursache unterscheiden sich zwar wesentlich voneinander, doch besteht zwischen beiden keinerlei Spur von Äußerlichkeit oder Transzendenz: »Es ist dasselbe Sein, das in sich und in der Ursache bleibt, in dem aber auch die Wirkung bleibt als in etwas Anderem« (ebd.). In diesem Sinne wurde weiter oben gezeigt, dass die Dauer, indem sie in erster Linie von sich selbst differiert, das Geheimnis der Materie bereits in sich birgt: »Wie sollte sie noch das, wovon sie differiert, die andere Tendenz, außerhalb von sich bestehen lassen? Wenn die Dauer von sich differiert, dann ist das, wovon sie differiert, in gewisser Weise immer noch Dauer« (EI: 55). Alles was ist, dauert in der wirklichen Zeit. Die Materie kann insofern nicht als symmetrisches Gegenstück zur Dauer 126

INTUITION ALS TRANSZENDENTALE METHODE

verstanden werden. Sie ist nur das Moment, in dem die Dauer kurz innehaltet: Sie ist ein Moment der Dauer selbst. Das bedeutet, »was differiert, ist selbst zum Ding, zur Substanz geworden. Bergsons These ließe sich folgendermaßen ausdrücken: die reale Zeit ist die Veränderung, und die Veränderung ist die Substanz« (ebd.: 53). Wie Michael Hardt (1993: 15) anmerkt, wird aus der Substanz, die bei Spinoza Ursache ihrer selbst (causa sui) ist, bei Bergson eine Substanz, die in erster Linie von sich selbst differiert. Im Unterschied zu Spinoza ist die Substanz bei Bergson (als Dauer) also reine Differenz. Da Dauer in Materie als ihren äußersten Grad einfriert, bleibt sie darin dennoch bei sich, selbst wenn sie sich wesentlich davon unterscheidet. Was Deleuze bei beiden Autoren findet, ist eine Ontologie, in der Substanz mit Immanenz und Schöpfung gleichgesetzt wird. Was meint Bergson aber, wenn er von Spannungsgraden der Dauer spricht? Nehmen wir an, ein Bewusstsein möchte in der materiellen Welt eine freie Handlung umsetzen. Müssen wir nicht erwarten, zwischen seiner Dauer und der Dauer der Dinge eine solche Spannungsdifferenz zu finden, daß unzählige Momente der materiellen Welt in einen einzigen Moment des bewußten Lebens hineingehen würden, so daß die gewollte, vom Bewußtsein in einem dieser Momente ausgeführte Handlung sich auf eine ungeheure Anzahl von Momenten der Materie verteilen und die gleichsam unendlich kleinen Indeterminiertheiten, die jeder von ihnen enthält, in sich summieren könnte? Mit anderen Worten: würde die Spannung der Dauer bei einem bewußten Wesen nicht genau dessen Handlungsfähigkeit [puissance d’agir] ausmachen, das Quantum an freier, schöpferischer Aktivität, das es in die Welt setzen kann? (Bergson 1928: 15 f.)

Bergson weist darauf hin, »daß alle Arten von Wahrnehmungen, nicht allein diejenigen der Menschen, sondern auch der Tiere und sogar der Pflanzen (diese können sich verhalten, als ob sie Wahrnehmung hätten) insgesamt der Wahl einer gewissen Größenordnung der Verdichtung« (B|DW: 75) oder eben einem gewissen Spannungsgrad der Dauer entsprechen und dass dieser Spannungsgrad damit auch ihr jeweiliges Tätigkeitsvermögen bestimmt. »Jeder dieser aufeinanderfolgenden Grade, der das Maß einer wachsenden Lebensintensität ist, entspricht einer höheren Spannung der Dauer und übersetzt sich nach außen durch eine höhere Entwicklung des sensomotorischen Systems.« (B|MG: 274) Was würde zum Beispiel aus einem Tisch, wenn unsere Wahrnehmung davon (und somit auch unser Tätigkeitsvermögen) der mikrophysikalischen Größenordnung entsprechen würde, die ein Physiker sieht: wir diesen Tisch also bloß auf einer atomaren Ebene wahrnehmen könnten? Es wäre uns unmöglich, in den interagierenden Kraftfeldern, die sich uns dabei als bewegte Kontinuität darbieten würden, auf jenes einfache Rechteck, an dem wir unsere Wahrnehmung praktisch ausrichten, und das unser 127

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

Handlungsvermögen somit gewährleistet, frei zuzugreifen – selbst wenn der Tisch nach wie vor in all seiner Materialität vor uns steht: Im kontinuierlichen Feld atomarer Wechselwirkungen, wo der Spannungsgrad der Dauer auf ein Minimum reduziert ist, gibt es keinen »Tisch« mehr.12 Dasselbe gilt für alle Dinge und für alle Ereignisse: die Welt, in der wir leben, mit den Wirkungen und Rückwirkungen ihrer Teile aufeinander, ist, was sie ist, vermöge einer gewissen Wahl in der Skala von Größen, die ihrerseits wieder durch unser Wirkungsvermögen [puissance d’agir] bestimmt wird. Nichts würde andere Welten, die einer anderen Wahl entsprechen, hindern, mit ihr gleichzeitig an demselben Ort und zur gleichen Zeit zu existieren. (B|DW: 76)

Man erkennt an dieser Stelle gut, was Deleuze meint, wenn er von einer Entwicklung im Denken von Bergson spricht. Denn »die Dauer, die ihm immer weniger auf eine psychologische Erfahrung reduzierbar zu sein scheint, wird zur veränderlichen Essenz der Dinge und avanciert zum Bezugspunkt einer komplexen Ontologie« (B: 50). Die psychologische Dauer, die das menschliche Bewusstsein auszeichnet, ist darin nur ein Fall unter vielen anderen, ist also immer schon in eine Mannigfaltigkeit eingebunden. Die Methode der Intuition verweist uns nämlich auf »das Gefühl einer gewissen spezifischen Spannung, deren Bestimmtheit bereits wie eine Auswahl zwischen einer unendlichen Zahl von möglichen [Dauern] erscheint. Man wird dann beliebig zahlreiche [Dauern] unterscheiden lernen, die untereinander grundverschieden sind« (B|DW: 208). Nicht nur das Bewusstsein, sondern auch die Dinge selbst haben eine Dauer. Und das bedeutet: »Die psychologische Dauer, unsere Dauer, ist nur ein Fall unter anderen.« (B: 99) Die Psychologie dient Bergson also lediglich als »Schwelle zur Ontologie, ein Sprungbrett, von dem aus man ins Sein ›eintauchen‹ kann« (ebd.: 99 f.), in ein Sein, das als Mannigfaltigkeit (im Substantiv) begriffen werden muss. Darin treffen wir nicht nur auf einen Rhythmus der Dauer, sondern auf mannigfaltige Rhythmen, »welche als langsamere oder schnellere ein Maß für den 12 Es ist die Aufmerksamkeit auf das Leben, »eine Aufmerksamkeit, die von Natur aus gewissen Regionen des psychischen Lebens zugewandt und anderen abgewandt ist« (B|SE: 15), die schlussendlich auch für die Wahrnehmung, die unserer Gattung zu eigen ist, verantwortlich ist. Beispielsweise die Auswahl, »die das menschliche Auge ein für allemal getroffen hat, indem es eine bestimmte Region des Spektrums als Licht sieht« (Bergson: 1928: 130 f.) und andere dagegen nicht. Und auf ähnliche Weise, aber ohne Bergson zu erwähnen, erklärt Deleuze, »wie alle Drogen zunächst die Geschwindigkeiten betreffen, die Geschwindigkeitsänderungen, die Wahrnehmungsschwellen, die Formen und die Bewegungen, die Mikro-Wahrnehmungen, die molekular werdende Wahrnehmung, die übermenschlichen oder submenschlichen Zeiten« (SG: 145) oder eben die über- oder submenschlichen Spannungsgrade der Dauer.

128

INTUITION ALS TRANSZENDENTALE METHODE

Grad der Spannung oder der Erschlaffung der verschiedenen Bewußtseine bieten und dadurch deren respektive Plätze in der Reihe der Wesen [série des êtres] festlegen« (B|MG: 257). Damit kulminiert Bergsons Philosophie »in einer Kosmologie, in der alles Veränderung der Spannung und der Energie ist und sonst nichts« (EI: 69). Die Idee einer virtuellen Koexistenz aller Grade oder Spannungsebenen wird so auf das ganze Universum ausgeweitet.13 Zusammenfassend muss festgehalten werden, dass Deleuze in seiner Darstellung der Methode der Intuition zunächst von einem vulgären Dualismus zu einem neutralisierten Dualismus und schließlich zu einem Monismus übergeht. Das Feld der Erfahrung ist immer von unreinen Mischungen bevölkert, in denen die beiden sich wechselseitig voraussetzenden Tendenzen in ihrer Reinheit zu erfassen sind. Eben das bedeutetet es, Wesensunterschiede aufzuzeigen, wo vorher nur graduelle Unterschiede bemerkt wurden. Darin erkennt Deleuze eine neue transzendentale Methode, die über jene von Kant hinausgeht. Und insofern es immer die Dauer ist, d.h. die wirkliche Veränderung in der Zeit, die dabei als primäre oder vorherrschende Tendenz zu begreifen ist, ist es auch die Frage nach der Genese des Neuen, die hier die Erneuerung der transzendentalen Kritik leitet. Das ist allerdings noch nicht alles. Im nächsten Abschnitt werden wir sehen, dass die Methode der Intuition auch ausschlaggebend ist, um den wichtigsten Begriff im Werk von Deleuze zu verstehen: den Begriff der Mannigfaltigkeit.

13 Auch hier ist, der Lektüre von Deleuze folgend, eine gewisse Nähe zu Spinoza nicht von der Hand zu weisen. Wir haben gesehen, dass die Dauer als »Kontinuität des Übergangs« (B|DsW: 27), als das, was durch verschiedene Zustände hindurch dasselbe bleibt, obgleich es variiert, definiert werden kann. Dagegen bezeichnet der Affekt bei Spinoza die Variation, durch die das Tätigkeitsvermögen des Körpers, in Bezug auf verschiedene Affektionen, »vergrößert oder verringert, gefördert oder gehemmt wird« (S|E: IIId3). In beiden Fällen handelt es sich weder um diese oder jene Zustände bzw. Affektionen, sondern gleichermaßen um den gelebten Übergang zwischen diesen. Dabei zeigt sich, inwieweit sowohl Bergson als auch Spinoza dazu beitragen, die Grundlagen des transzendentalen Empirismus von Deleuze zu legen. Im Unterschied zum einfachen Empirismus beruft sich dieser eben nicht auf fertige Elemente der sinnlichen Empfindung, da diese bloß Ausschnitte des Bewusstseins sind. Der transzendentale Empirismus beruft sich vielmehr auf den »Übergang von einer Empfindung zur andern – so nahe sie beieinanderliegen mögen – als Werden, als Steigerung oder Minderung von Vermögen (virtuelle Quantität)« (SG: 365) oder Macht (puissance).

129

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

3.3 Zwei Mannigfaltigkeiten Für Deleuze gehören »jene Seiten, auf denen Bergson den Gang des abstrakten Denkens kritisiert, […] zu den schönsten seines Werkes« (B: 61). Am Beispiel der allgemeinen Gegenüberstellung von Ordnung und Unordnung, von Sein und Nicht-Sein haben wir bereits gesehen, »daß alle kritischen Aspekte der Philosophie Bergsons mit dem einen durchgängigen Thema zu tun haben: Kritik des Negativen als Limitation, Kritik des Negativen als Gegensatz, Kritik von Allgemeinbegriffen« (ebd.: 63 f.). Mehr noch als das Verhältnis zwischen Unordnung und Ordnung oder zwischen Nicht-Sein und Sein ist es aber das Verhältnis zwischen dem Einen und dem Vielen, das von ausschlaggebender Bedeutung für das gesamte Werk von Deleuze ist. Wie schon bei den beiden anderen Negativbegriffen bleibt man auch hier »im hypothetischen Element des bloßen Begriffs, dem man einmal die unendlichen Abstufungen einer identischen Repräsentation, einmal den unendlichen Gegensatz zweier konträrer Repräsentationen unterordnet« (DW: 257). Die Philosophie kennt eine ganze Reihe von Theorien, in denen das Eine und das Viele auf die eine oder andere Weise kombiniert werden. Beispielsweise geht die klassische Metaphysik als eine lange platonische, neuplatonische und mittelalterliche Tradition von einem hierarchischen Universum aus, in dem jedes Seiende durch die Entfernung definiert wird, die es von einer ersten Ursache (Gott) oder einem ersten Prinzip trennt, womit das Viele in Bezug auf das Eine analytisch als lauter Abstufungen desselben zu definieren ist. Darüber hinaus haben wir gesehen, inwieweit Kant und die Transzendentalphilosophie das Viele der sinnlichen Anschauung mit dem Postulat eines Gemeinsinns synthetisch an die Einheit des reinen Ichs bindet, das diesem gegenübersteht. In anderen Worten: »Man sagt uns, das Ich ist Eines (These) und es ist das Viele (Antithese), sodann ist es die Einheit des Vielen (Synthese). Oder auch: Das Eine ist immer schon das Viele, das Sein geht ins Nichts über und bringt das Werden hervor.« (B: 61) Doch handelt es sich dabei immer um Allgemeinbegriffe, von denen man hofft, sie würden in dialektischer Kombination in irgendeiner Weise das Konkrete begründen. Das Eine im Allgemeinen, das Viele im Allgemeinen, das Sein im Allgemeinen, das Nichtsein im Allgemeinen ...: das Wirkliche wird aus Abs­ tracta zusammengestückelt. Aber was ist eine Dialektik wert, die dadurch mit dem Wirklichen in Berührung zu kommen hofft, daß sie die Unzulänglichkeit eines zu weit gefaßten Begriffs durch Berufung auf einen nicht minder allgemein gefaßten Gegenbegriff ausgleicht? Zum Konkreten wird man niemals vorstoßen, indem man die Unzulänglichkeit eines Begriffs mit der Unzulänglichkeit seines Gegensatzes koppelt; 130

ZWEI MANNIGFALTIGKEITEN

man faßt nicht das Singuläre, indem man eine Allgemeinheit durch die andere einschränkt. (ebd.)

Nach Nietzsche ist es vor allem Bergson, den Deleuze gegen Hegel in Stellung bringt. In diesem Sinne betont Deleuze auch, »daß der Bergsonismus mit dem Hegelianismus wie mit jeder dialektischen Methode unvereinbar ist« (ebd.). Denn dieser fasst die Begriffe, mit denen er arbeitet, so weit, dass diese Begriffe nurmehr die »allzu weiten Maschen einer verfälschten Dialektik bilden, die über den Gegensatz verfährt. Die größten Fische entwischen« (DW: 233). Das heißt, das Eine und das Viele bezeichnen leere Allgemeinbegriffe, »die man von außen schon fertig fabriziert an das Objekt heranträgt, sie gleichen Konfektionskleidern, die dem Peter genau so gut wie dem Paul passen, weil sie weder dem einen noch dem anderen auf den Leib zugeschnitten sind« (B|DW: 197 f.). Der Methode der Intuition folgend kommt es aber darauf an, nach Maß zu arbeiten, d.h. für einen Gegenstand einen Begriff zu schaffen, der diesem auf den Leib geschnitten ist, ein Begriff also, der nur noch auf einen Gegenstand anwendbar ist. »Worauf es in der Philosophie wirklich ankommt, ist zu wissen, welch eine Einheit, welch eine Vielheit, welch eine Wirklichkeit hier der abstrakten Einheit oder Vielheit überlegen ist.« (ebd.: 198) Anstatt also danach zu fragen, wie das Eine ganz allgemein zum Vielen oder das Viele ebenso allgemein zum Einen kommt, muss nun ad hoc danach gefragt werden, um welche Einheit des Vielen oder um welches Viele des Einen es sich in jedem Fall handelt. Genau in diesem Sinne kann jedes Ding auch als eine Mannigfaltigkeit konzipiert werden. »Überall ersetzen die Differenzen von Mannigfaltigkeiten und die Differenz in der Mannigfaltigkeit die schematischen und plumpen Oppositionen. Es gibt nur die Varietät der Mannigfaltigkeit, d.h. die Differenz, anstatt des riesigen Gegensatzes des Einen und des Vielen.« (DW: 234) Mit dem Begriff der Mannigfaltigkeit wird zugleich das Eine und das Viele, die Beschränkung des Einen durch das Viele und der abstrakte Gegensatz zwischen Einem und Vielem verabschiedet.14 Eine Mannigfaltigkeit bezeichnet in keiner Weise die Kombination aus Einem und Vielem, »sondern im Gegenteil eine dem Vielen als solchem eigene Organisation, die keinerlei Einheit bedarf, um ein System zu bilden« (ebd.: 233). Aus diesem Grund muss Mannigfaltigkeit aber 14 In diesem Sinne ist es nicht nur falsch, das Eine dem Vielen gegenüber zu bevorzugen; ebenso falsch ist es, das Viele gegenüber dem Einen hervorzuheben, da in beiden Fällen gleichermaßen abstrakte Begriffe gegeneinander abgewogen werden. »Das wahre Substantiv, die Substanz selbst, ist ›Mannigfaltigkeit‹, die das Eine und nicht weniger das Viele überflüssig macht. Die variable Mannigfaltigkeit ist das Wieviel, das Wie, das Jeder Fall.« (DW: 233) Transzendentaler Empirismus meint gerade dies – ein transzendentales Feld ohne Subjekt (Eine) aber auch eine empirische Erfahrung ohne diskrete Objekte (Viele).

131

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

auch als Substantiv verstanden werden, da es sich gerade nicht um ein Prädikat handelt, »das dem Einen entgegengesetzt oder einem in sich einheitlichen Subjekt zugeschrieben werden« (FO: 25) kann. Nur wenn die Mannigfaltigkeit als Substantiv behandelt wird, hat »es zum Einen als Subjekt oder Objekt, als natürliche oder geistige Realität, als Bild und Welt keine Beziehung mehr« (TP: 17). Der Begriff der Mannigfaltigkeit ist für Deleuze konsequentes Ergebnis seiner eigenen Philosophie der Differenz, denn der darin geforderte Vorrang der Differenz über die Identität, der Begriff der Differenz an sich selbst, kommt darin als Heterogenese zum Ausdruck. Bereits das Problem der Bewegung in Zeit und Freiheit bringt Bergson dazu, sich dem Begriff der Mannigfaltigkeit zuzuwenden.15 Noch bevor er die Intuition als wegweisendes Verfahren seiner Philosophie ausgearbeitet hatte, sieht sich Bergson darin vor die Aufgabe gestellt, die physische Erfahrung von Bewegung als ein raumzeitliches Gemisch nach zwei Seiten hin aufzuspalten. Zum einen haben wir den Raum, den die Bewegung durchquert, der unendlich teilbar ist, ohne die Bewegung, die er repräsentiert damit zu verändern. Zum anderen »haben wir die reine Bewegung, die eine Veränderung ist« (B: 65), welche sich als Ganze wesentlich verändert, sobald sie geteilt wird (z.B. die Schritte des Achilles, die, sofern geteilt, wesentlich andere sind). Indem er das Gemisch nach zwei Seiten hin aufspaltet, von denen die eine der Raum und die andere die Dauer ist, legt Bergson auch den Grundstein für die Unterscheidung von zwei Typen von Mannigfaltigkeiten, die sich wesentlich voneinander unterscheiden: »Die reine Dauer erweist sich als ein rein innerliches Nacheinander ohne Äußerlichkeit; der Raum hingegen ist Äußerlichkeit ohne Nacheinander.« (ebd.: 53) Zu unterscheiden ist also zum einen eine quantitative, diskrete oder extensive Mannigfaltigkeit, die den Raum charakterisiert, zum anderen eine qualitative, kontinuierliche oder intensive Mannigfaltigkeit, die die Dauer charakterisiert. Zwar geschieht diese Aufteilung, dem ersten Moment der Methode entsprechend, noch nicht in zwei reine Richtungen, da Bergson das Problem des ontologischen Ursprungs des Raumes zu diesem Zeitpunkt noch nicht gestellt hat und den Raum insofern noch als entstellende Unreinheit konzipiert. 15 Um genau zu sein betont Deleuze, dass sich Bergson dabei an Bernhard Riemann orientiert, einen Physiker und Mathematiker, der, in einem Versuch, über die vorherrschende Euklidische Geometrie hinauszugehen, in seinem Habilitationsvortrag Ueber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen von 1854 erstmals eine begriffliche Unterscheidung zwischen diskreten und kontinuierlichen Mannigfaltigkeiten aufstellt. Obwohl Riemann im gesamten Werk von Bergson unerwähnt bleibt, geht Deleuze davon aus, dass allein schon Bergsons »allgemeines Interesse an der Mathematik« (B: 55) eine bestimmte Vertrautheit mit den Arbeiten von Riemann nahelegt.

132

ZWEI MANNIGFALTIGKEITEN

Dennoch sehen wir hier bereits gut, wie Bergson zu den Dingen selbst gelangt, indem er zunächst, dem ersten Moment der Methode entsprechend, einen Dualismus geltend macht. In anderen Worten: Bergson gelangt zum Begriff der Mannigfaltigkeit, indem er (zunächst) zwei wesentlich verschiedene Typen von Mannigfaltigkeit in einem einfachen Dualismus gegenüberstellt. Wodurch wird der erste Typus von Mannigfaltigkeit definiert? Insofern sie vom Raum verkörpert wird, handelt es sich um eine Mannigfaltigkeit »der Äußerlichkeit, der Gleichzeitigkeit, des Nebeneinander, der Ordnung, der quantitativen Differenzierung, des graduellen Unterschieds, eine numerische [Mannigfaltigkeit], die diskontinuierlich ist und aktuell« (B: 54). Sie ist eine Vielheit diskreter Einheiten, die ihrerseits durch Teilung einer übergeordneten Einheit konstituiert werden (partes extra partes). Zwischen Einem und Vielem besteht also kein wesentlicher Unterschied, denn in beiden Fällen handelt es sich um einen räumlichen Begriff. »Die abstrakte Einheit und die abstrakte Vielheit sind, je wie es einem beliebt, Bestimmungen des Raumes oder Kategorien des Verstandes, da Räumlichkeit und Intellektualität einander nachgeahmt sind.« (B|SE: 292) Das Eine und das Viele sind also gleichermaßen der diskreten, quantitativ-abzählbaren oder extensiven Mannigfaltigkeit zuzuordnen. Deshalb beschreibt Deleuze diese klassische Mannigfaltigkeit auch als Mannigfaltigkeit vom Typus n+1, da das Eine darin stets hinzukommt, um eine Vielheit von Einheiten zu unterteilen. Es ist das damit implizierte Teilungsprinzip, das für die Unterscheidung der beiden Typen von Mannigfaltigkeit schlussendlich ausschlaggebend ist. Denn, dem Schema des Raumes folgend, kann ein Gegenstand »auf unendlich viele Weisen unterteilt werden; bevor diese Unterteilungen vollzogen sind, sind sie nun aber vom Denken als mögliche bereits erfaßt, ohne daß dies an der Gesamterscheinung des [Gegenstandes] das mindeste ändert« (B: 57). Die Art und Weise, in der ein Gegenstand unterteilt werden kann, ist also bereits als abstrakte Möglichkeit in diesem vorgezeichnet, und zwar durch die Repräsentation, die das Denken sich davon macht (z.B. unterteilen wir einen lebendigen Körper selbstverständlich in viele Gliedmaßen). Damit verändert die Unterteilung eines Gegenstandes diesen Gegenstand nicht. Es ist also egal, ob die Unterteilung nun realisiert wird oder nicht: »man wird damit nichts an der Natur dessen ändern, was man unterteilt« (B|MG: 256). Da somit alles schon gegeben ist, wird am Gegenstand auch niemals etwas Neues zu entdecken sein: Eben deshalb handelt es sich beim ersten Typus um eine aktuelle Mannigfaltigkeit. Beim zweiten Typus, der von der Dauer verkörpert wird und somit reine Veränderung in der Zeit ist, handelt es sich dagegen um eine Mannigfaltigkeit »der Verschmelzung, der Organisation, der Heterogenität, der qualitativen oder Wesensunterscheidung, eine [Mannigfaltigkeit], die virtuell und kontinuierlich ist und nicht auf das 133

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

Numerische zurückgeführt werden kann« (B: 54). Im Gegensatz zur anderen Mannigfaltigkeit zeichnet sich diese nun gerade dadurch aus, dass sie sich wesentlich verändert, sobald sie sich teilt. »Obwohl sich Bergson aus Bequemlichkeit öfters so ausdrückt, wäre es äußert irrig anzunehmen, Dauer sei das schlicht Unteilbare. In Wirklichkeit teilt sich die Dauer ohne Unterlaß: insofern ist sie eine [Mannigfaltigkeit].« (ebd.: 59) Die Dauer ist also ganz und gar nicht etwas Unteilbares, wohl aber etwas, das sich immer wesentlich verändert, sobald es sich teilt. Und da sie sich ohne Unterlass teilt, impliziert die Mannigfaltigkeit, die sie verkörpert, auch eine kontinuierliche Veränderung. Bergson hat damit also keine Schwierigkeit, Kontinuität und Heterogenität zusammenzudenken. Im Gegensatz zur aktuellen Mannigfaltigkeit, in der nichts Neues entstehen kann, bezeichnet Deleuze diese zweite Mannigfaltigkeit mit Bergson nun auch als virtuelle Mannigfaltigkeit, insofern sie gerade die fortlaufende Genese des Neuen impliziert. In Zeit und Freiheit und Jahre später in Schöpferische Evolution beschreibt Bergson die Dauer bekanntlich als psychologische Erfahrung, die als kontinuierlicher Übergang und Wandel von einem Zustand zum anderen verstanden werden kann. Beispielsweise können zwei unbestimmte Emotionen auf verworrene Weise ineinander übergehen und somit ohne Widerspruch in einem klaren, wenn auch gemischten Gefühl miteinander koexistieren. Solange aber diese sich nicht mit voller Deutlichkeit abheben, wird man nicht sagen können, daß sie völlig realisiert seien, und sobald das Bewusstsein eine deutliche Perzeption davon gewonnen hat, wird der aus ihrer Synthese sich ergebende psychische Zustand eben dadurch bereits eine Veränderung erfahren haben. (Bergson 2016: 67)

Sobald das Bewusstsein das gemischte Gefühl teilt, wird eine der beiden Emotionen, die zuvor noch unbestimmt in der anderen verschränkt war (z.B. Liebe und Hass), als eine bestimmte Emotion hervortreten und dadurch einen neuen Bewusstseinszustand zum Vorschein bringen. Indem das gemischte Gefühl in eine bestimmte Richtung hin aufgelöst wird, muss sich der psychische Zustand, der damit im Ganzen erreicht wird, auch wesentlich von seinem Vorgänger unterscheiden. Deleuze gibt noch weitere Beispiele, um den Sachverhalt zu veranschaulichen. Teilt man die Bewegung eines Pferdes im Hinblick auf den Raum, den dieses durchquert, wird sich an dieser Bewegung nichts verändern; teilt man dagegen die Bewegung selbst, wird diese mit jeder Teilung ihr Wesen verändern, da sie damit nacheinander in »Galopp, Trab und Schritt« (TP: 670) übergeht – wesentlich verschiedene Qualitäten, die ungeteilt im Vermögen des Pferdes enthalten sind. Eine aktuelle Mannigfaltigkeit setzt sich grundlegend aus Einheiten zusammen, die dem Begriff des Einen unterworfen sind (n+1). Dagegen 134

ZWEI MANNIGFALTIGKEITEN

definiert sich eine virtuelle Mannigfaltigkeit nach Deleuze aber durch die Abwesenheit des Einen (n-1), womit das, was sie zusammensetzt, auch nicht mehr im Sinne diskreter Einheiten verstanden werden darf. Das heißt, die virtuelle Mannigfaltigkeit besteht weder aus dem Einen noch aus dem Vielen. Woraus setzt sich eine (virtuelle) Mannigfaltigkeit dann aber zusammen? Eine Mannigfaltigkeit wird weder durch ihre Elemente, noch durch ein Zentrum der Vereinheitlichung oder des Begriffsvermögens definiert. Sie wird durch die Zahl ihrer Dimensionen definiert; sie läßt sich nicht aufteilen, sie verliert oder gewinnt keine Dimension, ohne ihr Wesen zu ändern. (TP: 340)

Eine virtuelle Mannigfaltigkeit setzt sich nicht aus Einheiten zusammen, die dem Einen in der einen oder anderen Weise unterworfen sind, sondern aus Dimensionen, die sich ohne Vermittlung durch das Eine wechselseitig implizieren. Aus diesem Grund handelt es sich auch nicht um eine diskrete, sondern um eine stetige Mannigfaltigkeit: eine heterogene Kontinuität. Die Dimensionen können folglich unterschieden (Differentiation) werden, ohne sich damit partes extra partes gegenüberstehen zu müssen. Die beste Formulierung für diesen Umstand ist die folgende: »Da taucht ein anderes auf, ohne daß es mehrere gäbe.« (B: 59) Insofern sie nicht dem Einen untersteht, hat eine solche Mannigfaltigkeit als dezentrale, azephale Organisation (n-1) weder Anfang (Genealogie) noch Ende (Teleologie), weist also keine Transzendenz mehr auf, ist vielmehr das, was in einer prozessualen Offenheit dazwischen passiert, da sie mit ihren Dimensionen nur aus der Mitte heraus wachsen kann und sich dabei stets wesentlich verändert (Werden). Immer wieder weist Deleuze darauf hin, »wie wichtig der Begriff der Mannigfaltigkeit« (SG: 345) für ihn ist. Denn neben der Kritik am klassischen Bild des Denkens, die er in Differenz und Wiederholung, Nietzsche und die Philosophie und Proust und die Zeichen ausformuliert, ist es der Begriff der Mannigfaltigkeit, den er als das »das Wichtigste« (ebd.) in seinem gesamten Werk erachtet. In dieser Hinsicht ist Alain Badiou Recht zu geben, wenn er auf die Rolle hinweist, die Bergson im Denken von Deleuze einnimmt: »Deleuze is a marvelous reader of Bergson, who, in my opinion, is his real master, far more than Spinoza, or perhaps even Nietzsche.« (Badiou 1999: 38) Wie Keith Ansell-Pearson (1999: 155) betont, ist es gerade Bergsons Begriff der Mannigfaltigkeit, der nahezu unverändert das gesamte Schaffen von Deleuze bestimmt. In diesem Sinn bemerkt Anne Sauvagnargues (2009: 104), dass die Unterscheidung der beiden Typen von Mannigfaltigkeit bereits leitend für die frühe Philosophie der Differenz von Deleuze war: Auf der einen Seite der auf den Raum hin ausgerichtete Verstand, der, den Notwendigkeiten und Gewohnheiten des Lebens folgend, die Welt verallgemeinert, um sie in 135

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

strikt voneinander getrennte Einheiten zu zerlegen (graduelle Differenzen); auf der anderen Seite die auf die Dauer hin ausgerichtete Intuition, die, den Tatsachenlinien folgend, die innere Differenz der Dinge zum Vorschein bringt (Wesensdifferenz). Es sind zwar nicht ein und dieselben Begriffe, die Deleuze von Bergson übernimmt – Deleuze geht hier vielmehr mit Bergson über Bergson hinaus. Doch die Unterscheidung zwischen Verstand und Intuition, also zwischen einer diskreten und einer kontinuierlichen Mannigfaltigkeit, dient ihm in Differenz und Wiederholung gleichwohl dazu, seine Philosophie der Differenz, die ja auch von einer inneren Differenz oder Differenz an sich selbst ausgeht, gegenüber dem Denken der Repräsentation, das im Hinblick auf Gemeinsinn und gesunden Menschenverstand über strikt voneinander getrennte Territorien verfährt, abzugrenzen. In nahezu allen Werken, die auf Differenz und Wiederholung folgen, ist es genau diese Unterscheidung, die das Denken von Deleuze leiten wird.16 Vor allem in Tausend Plateaus legt Deleuze zusammen mit Félix Guattari »eine Theorie der Mannigfaltigkeiten als solchen« vor, und zwar »genau dort, wo das Mannigfaltige in einen substantivischen Zustand übergeht« (SG: 295). Dabei kann durchaus von einer Wiederaufnahme und Fortsetzung von Bergsons Philosophie »im Zusammenhang 16 In Differenz und Wiederholung von 1968 konzipiert Deleuze den Begriff der Mannigfaltigkeiten als virtuelle Probleme im Unterschied zu aktuellen Lösungen; Obwohl der Begriff der Mannigfaltigkeit in Logik des Sinns von 1969 nicht wörtlich erwähnt wird, dient ihm dieser doch dazu, darin aktuelle Sachverhalte und virtuelle Ereignisse auf eben diese Weise zu unterscheiden; Auch Anti-Ödipus von 1972, das erste Werk, das er zusammen mit Félix Guattari verfasst hat, erwähnt den Begriff der Mannigfaltigkeit zwar nicht wörtlich, orientiert sich aber stark an diesem, wenn es darum geht, zwischen molekularen Wunschmaschinen und molaren Gesellschaftsmaschinen oder einer schizophrenen Flucht und einer paranoiden Besetzung zu unterscheiden; Einige Jahre später soll Dialoge von 1977 die »Existenz und die Aktion von Mannigfaltigkeiten in sehr verschiedenen Bereichen hervorheben« (SG: 291); Im Anschluss daran ist – wieder in Zusammenarbeit mit Guattari – »Tausend Plateaus den Mannigfaltigkeiten als solchen gewidmet« (ebd.: 345); Auch die beiden Bände zum Kino von 1983 und 1985 beziehen sich explizit auf Bergson, um ein auf die Handlung ausgerichtetes Bewegungs-Bild von einem Zeit-Bild zu unterscheiden, das »im Gegensatz zur Aktualität des Bewegungsbildes […] virtuell« (ZB: 61) ist. In Foucault von 1986 weist Deleuze das Schaffen von Foucault als »einen sehr entscheidenden Schritt hin zu einer Theorie-Praxis der Mannigfaltigkeiten« (FO: 26) aus; Schließlich wird in Was ist Philosophie von 1991 – ein letztes Mal mit Guattari – die Aufgabe der Philosophie darin verortet, Begriffe zu schaffen, wobei ein Begriff als »Mannigfaltigkeit« (WP: 21) verstanden wird. In Das Aktuelle und das Virtuelle, einem seiner letzten Texte, definiert Deleuze die Philosophie selbst als Theorie der Mannigfaltigkeiten (vgl. D: 209).

136

ZWEI MANNIGFALTIGKEITEN

mit den heutigen Veränderungen des Lebens und der Gesellschaft sowie den Veränderungen der Wissenschaft« (ebd.: 318) gesprochen werden. Vor diesem Hintergrund sind dann auch die zahlreichen Dualismen zu bewerten, die Deleuze und Guattari darin – vor dem Hintergrund der leitenden Unterscheidung zwischen den beiden Typen der Mannigfaltigkeit – auf allen möglichen Gebieten aufzeigen: z.B. Baum und Rhizom, molare Klassen und molekulare Massen, Strata und Konsistenzebene, Organismus und organloser Körper, Segmente und Strömungen, Mi­kropolitik und Makropolitik, Majorität und Minorität, glatter und gekerbter Raum, königliche und nomadische Wissenschaften oder Staat und Kriegsmaschine. Dennoch stellt sich die Frage, welchen Sinn es macht, den Gegensatz zwischen dem Einen und dem Vielen zu verabschieden, nur um anschließend den Gegensatz zwischen zwei Typen der Mannigfaltigkeit geltend zu machen. Es wäre nun aber falsch, an dieser Stelle, an der die beiden Typen gegenübergestellt werden, stehen zu bleiben, denn dabei handelt es sich, um mit Bergson zu sprechen, nur um das erste Moment in der Methode der Intuition. Das heißt, die Gegenüberstellung zwischen den beiden Typen der Mannigfaltigkeit dient nur dazu, in einem Gemisch zwei reine Formen oder zwei reine Tendenzen, die nur de jure ausweisbar sind, zu unterscheiden. Bei diesen beiden Tendenzen handelt es sich aber nicht um zwei Bewegungen, die rein äußerlich aufeinander verweisen, sondern um »zwei Richtungen ein und derselben Bewegung, eine, bei der die Bewegung dazu tendiert, in ihrem Ergebnis, ihrem Resultat, das sie unterbricht, zu erstarren, und die andere, die kehrtmacht und in dem Ergebnis die Bewegung wiederfindet, aus der sie resultiert« (EI: 30). Beispielsweise beschreibt Bergson in Schöpferische Evolution jede biologische Art als »ein Innehalten der Bewegung; man könnte sagen, daß das Lebendige sich um sich selbst dreht und sich schließt« (B: 130). Die gegenläufige Richtung, der Élan vital, sorgt hingegen dafür, dass die Bewegung beständig fortgesetzt wird, sich auf das Ganze hin öffnet und kontinuierlich etwas Neues hervorbringt. Beide Richtungen sind einander immanent, da es immer die eine Richtung ist, die aus der anderen hervorgeht und umgekehrt – wobei die eine der beiden Richtungen, die Dauer, prinzipiell die vorherrschende ist. Vor diesem Hintergrund müssen also auch die beiden Typen der Mannigfaltigkeit als zwei Tendenzen oder zwei Richtungen ein und derselben Bewegung begriffen werden (vgl. Adkins 2016; 2018). Es genügt also nicht, »den Gegensatz zwischen dem Einen und dem Vielen durch eine Unterscheidung zwischen Typen der Mannigfaltigkeit zu ersetzen. Denn die Unterscheidung von zwei Typen ändert nichts an ihrer Immanenz, da jeder Typus auf seine Weise aus dem anderen ›hervorgeht‹« (TP: 701) und den anderen folglich in einer gemeinsamen Bewegung impliziert. 137

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

Nehmen wir nur einen dieser Dualismen, um zu zeigen, wie die eine Seite darin mit der anderen zusammenhängt. Gleich zu Beginn der Tausend Plateaus greifen Deleuze und Guattari die beiden Typen der Mannigfaltigkeit von Bergson auf, um Bäume und Rhizome bzw. »baum­ artige Mannigfaltigkeiten und rhizomatische Mannigfaltigkeiten« (TP: 52) zu unterscheiden. Mit den Wurzeln, denen er ursprünglich entstammt, und den Ästen und Blättern, in die er zweckmäßig mündet, ist es der Baum, der sich anbietet, dem klassischen Denken ein Bild zu geben (z.B. der Baum des Wissens). Es ist merkwürdig, wie der Baum die Wirklichkeit und das gesamte Denken des Abendlandes beherrscht hat, von der Botanik bis zur Biologie und Anatomie, aber auch die Erkenntnistheorie, die Theologie, die Ontologie, die gesamte Philosophie... der Wurzelgrund, Grund, roots und foundations. […]. Die Transzendenz: eine typisch europäische Krankheit. (ebd.: 32)

Der Baum ruft dabei ein »trauriges Bild des Denkens« (ebd.: 28) hervor, da er stets von einem Zentrum ausgeht, von dem aus alles, was da­ rauf bezogen wird, beurteilt, verglichen und unterteilt werden kann.17 In diesem Sinne sind Baumsysteme wesentlich hierarchisch: »aus eins wird zwei, aus zwei wird vier… Die binäre Logik ist die geistige Realität des Wurzel-Baumes« (ebd.: 14). Die Dinge, die durch diese vertikale Unterteilung konstituiert werden, verdanken die Grenzen, die sie voneinander trennen, sowie die Beziehungen, durch die sie verbunden sind, also stets einem höheren Prinzip. Eben deshalb handelt es sich um eine aktuelle Mannigfaltigkeit vom Typus n+1. Allerdings dürfen baumartige Mannigfaltigkeiten, trotz aller Kritik, nicht einfach pauschal verworfen werden: denn es sind ja gerade »Baumstrukturen, an die wir uns klammern« (ebd.: 310), um die Wirklichkeit ordnend zu denken und damit ein bisschen Normalität in unseren Alltag zu bringen.18 17 Die Psychoanalyse ist hierfür ein besonderes gutes Beispiel. Diese entdeckt zwar das Unbewusste, doch nur um das produktive Vermögen, das diesem innewohnt, hierarchischen Strukturen zu unterwerfen, die es wieder auf eine höhere Einheit (Ödipus, der Vater, der Phallus etc.) reduzieren. »Sobald man sich analysieren läßt, hat man den Eindruck zu reden. Aber man kann reden, was man will, die ganze analytische Maschine ist dazu da, die Voraussetzungen einer wirklichen Aussage zu beseitigen. […]: was immer man sagt, meint etwas anderes« (EI: 399 f.). So berichtet Deleuze von folgendem Fall, der sich tatsächlich zugetragen hat: »Ein Patient sagt: ›Ich möchte gern mit einer Gruppe von Hippies wegfahren.‹ Der Therapeut antwortet: ›Warum betonen Sie groß Pipi?‹« (TP: 28). 18 In Anbetracht dieser Charakterisierung eines durch und durch baumartigen Denkens, erklärt sich auch die Bedeutung, die Deleuze dem dritten Kapitel von Differenz und Wiederholung, in dem unter anderem die Kritik am dogmatischen Bild des Denkens formuliert wird, zuweist. So erklärt Deleuze,

138

ZWEI MANNIGFALTIGKEITEN

Der Begriff des Rhizoms soll demgegenüber ein neues Bild des Denkens charakterisieren, ein Bild, das sich grundsätzlich vom tradierten Bild des Baumes unterscheidet. In der Botanik bezeichnet der Begriff des Rhizoms ein unterirdisch wachsendes Sprossachsensystem (z.B. der Ingwer), das sich dadurch auszeichnet, gerade nicht einem zentralen Wurzelgrund hierarchisch zu entwachsen, sondern an jeder beliebigen Stelle heterarchisch in alle Richtungen hinzusprießen. Für das Bild des Denkens bedeutet das, dass Verbindungen zwischen heterogenen Dingen grundsätzlich möglich sind. Während das arboreszente Denken Verbindungen in einer hierarchischen Ordnung nur einschränkt (z.B. können Orchideen und Wespen diesem Denken zufolge keine intrinsische Beziehung zueinander unterhalten, weil sie darin zwei weit entfernte Welten bevölkern), lässt das rhizomatische Denken Verbindungen von jedem Punkt aus und in alle Richtungen hin wild proliferieren (Orchideen und Wespen unterhalten auch tatsächlich eine intrinsische Beziehung zueinander und bevölkern eine Mitwelt, die scheinbar »unnatürliche« Anteilnahmen zulässt). Ein Rhizom umfasst immer Verbindungen zwischen völlig heterogenen Elementen, gerade weil diese Elemente darin nicht mehr im Hinblick auf die allgemeine Ordnung, die sie definiert, sondern im Hinblick auf das konkrete Gefüge, das sie im Hier-und-Jetzt involviert, begriffen werden. Angesichts dieser Heterogenität betont Deleuze, das Rhizom sei auch »das beste Wort zur Bezeichnung der Mannigfaltigkeiten« (SG: 345). Ein Rhizom hat nämlich weder Anfang noch Ende (n-1), also weder das Eine, auf das sich alles hinbewegt, noch das Eine aus dem alles herkommt, sondern wächst immer aus der Mitte, aus den Umständen, dem Geschehen oder dem Ereignis heraus – aus dem Außen, das es in seinen Verbindungen oder Dimensionen verknüpft und vervielfältigt. Im Unterschied zum alten Modell des Baumes, »bei dem sich differenziertere Formen aus weniger differenzierten entwickeln« (TP: 21), um Entwicklung, Evolution oder Fortschritt durch eine Abstammung zu begründen, impliziert das Rhizom ein Werden, das mit aleatorischen Begegnungen, strategischen Bündnissen oder transversalen Querverbindungen die alten Stammbäume durcheinanderbringt. Ein Virus verbindet zum Beispiel Menschen und Tiere, Natur und Kultur oder Leben und Tod auf eine Weise, die jede taxonomische Ordnung in Frage stellt.19 So unterschiedlich nun baumartige und rhizomatische Mannigfaltigkeiten aber dieses sei »das notwendigste und konkreteste und eine Einführung in die folgenden Bücher […], einschließlich der Untersuchungen, die Guattari und ich gemeinsam vornahmen und in denen wir für das Denken ein pflanzliches Rhizom-Modell im Gegensatz zum Modell des Baums vorschlugen, ein Rhizom-Denken statt eines baumartig sich verzweigenden Denkens« (SG: 289). 19 So ist es die Epidemie, die, wie wir heute nur zu gut wissen, »ganz heterogene Terme ins Spiel bringt, wie zum Beispiel einen Menschen, ein Tier und

139

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

auch sein mögen: sie dürfen einander nicht einfach als zwei verschiedene Dinge oder Welten gegenübergestellt werden, denn einen ontologischen Dualismus oder einen axiologischen Dualismus von Gut und Böse kann es hier nicht geben. Es geht weniger um baumartige Mannigfaltigkeiten und solche, die es nicht sind, vielmehr werden Mannigfaltigkeiten zu Bäumen gemacht. […]. Aber umgekehrt und nicht symmetrisch dazu verlassen Stränge des Rhizoms ständig die Bäume, Massen und Strömungen entziehen sich unaufhörlich, erfinden Konnexionen, die von Baum zu Baum springen und entwurzeln. (ebd.: 701)

Die Mischung, die sie so situationsbedingt bildet, kann allerdings nicht durch eine theoretische Analyse, die von Universalien ausgeht, angemessen unterteilt werden: »Ein allgemeines Rezept gibt es nicht« (D: 201). Denn Baum und Rhizom stehen einander nicht symmetrisch gegenüber, so als wären es zwei allgemeine Begriffe, zwei Orte, zwei Momente in der Geschichte oder gar zwei Kategorien des Geistes, auf die sich alles reduzieren lässt. Gerade dies würde ja bedeuten, das Wirkliche wieder einmal aus leeren Allgemeinheiten zusammenzustückeln. Wir haben gesehen, wie die Dauer sich in zwei Richtungen differenziert, von denen die eine, auf den Raum hin ausgerichtet, an ihrem äußersten Punkt sich von dieser löst, um Schema des Verstandes zu werden, und die andere Richtung die Dauer wieder aufnimmt, um ihre Bewegung fortzusetzen. Auf analoge Art und Weise wird der Baum hier als transzendentes Modell verstanden, das sich vom Rhizom absetzt, das Rhizom dagegen als immanenter Prozess, der das Modell ständig umstößt und verwischt. Auch Baum und Rhizom sind demnach als zwei Richtungen oder Tendenzen ein und derselben Bewegung zu begreifen. Das bedeutet außerdem, dass Baum und Rhizom nicht in einer allgemeinen Analyse, die von Universalien ausgeht, sondern in einer konkreten »Pragmatik« (TP: 27) zu unterscheiden sind, um in jedem einzelnen Fall herauszufinden, welche Elemente einer Mischung wann, wo, wie oder warum nun eher die eine oder die andere Richtung zum Ausdruck bringen. Je nach Fall kann ein Rhizom beispielsweise auch ganz unerwartet Baum- und Wurzelstrukturen entwickeln; ebenso können aber Zweige eines Baumes oder Spitzen einer Wurzel plötzlich beginnen, rhizomartige Knospen zu treiben. In jedem einzelnen Fall ist also herauszufinden, welches Element einer Mischung wann, wo, wie oder warum ein Rhizom bildet und was demgegenüber wieder zu Baumstrukturen zurückführt. Bereits an dieser Stelle kann folglich festgehalten werden, dass Deleuze nicht einfach der Denker der wilden rhizomatischen Verbindungen ist. Rhizom und Baum stehen sich nämlich nicht in einem vulgären eine Bakterie, einen Virus, ein Molekül und einen Mikro-Organismus« (TP: 330).

140

DAS MÖGLICHE UND DAS VIRTUELLE

Dualismus gegenüber, sondern setzen sich in einer gemeinsamen Bewegung vielmehr gegenseitig voraus. Baumstrukturen sind also nicht per se »böse«, denn sie schaffen gerade jene Ordnungen, an die wir uns klammern und die uns Halt geben (ohne eine königliche Wissenschaft, die ständig wieder Baumstrukturen – z.B. Taxonomien, Methodologien, Modelle – einführt, wäre zum Beispiel eine nomadische, rhizomatische Verbindungen herstellende Wissenschaft laut Deleuze und Guattari auch niemals möglich). Wenn Deleuze die Bedeutung des Rhizoms aber besonders hervorhebt, dann weil die rhizomatische Tendenz, angesichts der unüberschaubaren Komplexität dieser Welt, in den Dingen immer die primäre Tendenz ist und eine jede Untersuchung insofern auch von diesem Primat: dem Primat des Neuen auszugehen hat.

3.4 Das Mögliche und das Virtuelle Das Verhältnis der beiden Mannigfaltigkeiten, ihre wechselseitige Immanenz, die über den groben Dualismus von Raum und Zeit hinausgeht, orientiert sich dabei an der Unterscheidung zwischen Aktuellem und Virtuellem. Nur durch diese Unterscheidung lassen sich beide Mannigfaltigkeiten auch als zwei Richtungen oder Tendenzen einer gemeinsamen Bewegung begreifen. Der Begriff des Virtuellen findet sich zwar verstreut bei Bergson, und Deleuze betont auch, dass es Bergson ist, der »am beharrlichsten den Begriff des Virtuellen geltend macht« (DW: 269), doch muss dieser, so wie er hier Verwendung findet, ausdrücklich als begriffliche Neuerung von Deleuze verstanden werden. Es ist kein Geheimnis, dass Deleuze die Autoren, denen er sich – vor allem in seinen philosophiehistorischen Werken – zuwendet, einer unkonventionellen und verfremdenden Leseart unterzieht. Obgleich er stets darauf Wert legt, den Aussagen eines Autors treu zu bleiben, muss dieser, in den Worten von Deleuze, doch »durch alle Arten von Dezentrierungen, Verschiebungen, Brüche, versteckte Äußerungen hindurchgehen, was mir nicht weniger Spaß bereitet hat. Mein Buch über Bergson ist meiner Ansicht nach ­exemplarisch für diese Gattung« (U: 15). Die Leistung von D ­ eleuze besteht dabei vor allem darin, den Begriff der unteilbaren, kontinuierlichen Mannigfaltigkeit von Bergson mit dessen Kritik am Begriff des Möglichen zu verbinden, um daraus einen neuen Begriff zu schaffen: den der virtuellen Mannigfaltigkeit. Wie wir sehen werden, ist es gerade dieser Begriff, den Deleuze heranzieht, um die Frage nach der Genese des Neuen anzugehen. Was meint Deleuze also, wenn er vom Virtuellen spricht? In erster Linie wird der Begriff des Virtuellen dem Begriff des Möglichen gegenübergestellt. Dabei greift Deleuze auch ausdrücklich auf Bergson zurück, der 141

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

in seinen Augen »die Kritik des Möglichen am weitesten vorantreibt« (DW: 269). Bergson zufolge geht man für gewöhnlich davon aus, dass ein Phänomen, noch bevor es sich verwirklicht, bereits irgendwie möglich gewesen sein muss. Wenn das nun bedeuten soll, ein Phänomen war möglich, weil seiner Realisierung kein unüberwindbares Hindernis im Wege stand, dann bereitet der damit herangezogene Begriff des Möglichen auch keine weiteren Schwierigkeiten. Gleichwohl erfahren wir dadurch aber gar nichts über die Entstehung dieses Phänomens. Wenn dagegen aber angenommen wird, dass ein Phänomen immer die Realisierung einer vorhandenen Möglichkeit ist, dann unterliegt man einer Illusion – und die »Folgen dieser Illusion« (B|DW: 33 f.) sind schwerwiegend. Denn falls ein neues Phänomen im Augenblick seiner Realisierung in seinen Grundzügen bereits als Möglichkeit vorhanden ist, dann ist nicht ersichtlich, was eigentlich an Neuem geschaffen wird, sobald diese Möglichkeit realisiert wird. Alles, was sich im Augenblick der Realisierung verändert, ist der Umstand, dass ein und dieselbe Mögliche, die zuvor noch nicht existierte, nun plötzlich doch existiert. Immer wenn wir das Problem in den Begriffen des Möglichen und des Realen stellen, werden wir genötigt, die Existenz als pures Auftauchen, reinen Akt und Sprung zu begreifen, der stets hinter unserem Rücken geschieht, dem Gesetz von allem oder nichts unterworfen. Welcher Unterschied kann dabei zwischen dem Existierenden und Nicht-Existierenden bestehen, wenn das Nicht-Existierende bereits möglich, im Begriff aufgesammelt ist, und zwar mit allen Merkmalen, die ihm der Begriff als Möglichkeit zuschreibt? (DW: 267 f.)

Die Realisierung verleiht der abstrakten Möglichkeit im Begriff eine Existenz in Raum und Zeit, ohne ihre Genese damit aber erklären zu können: Plötzlich ist etwas Neues da, das zuvor noch nicht existiert hat, das aber immer schon möglich war. Durch diesen Begriff des Möglichen unterliegt das Denken laut Bergson einer retrospektiven Illusion. Will man zum Beispiel Bedingungen finden, ohne die die Romantik des 19. Jahrhunderts nicht hätte entstehen können, so kann man bereits im Klassizismus Aspekte hervorheben, die schon auf die entstehende Romantik hindeuten. Wäre man aber auf diese romantischen Aspekte des Klassizismus auch dann gestoßen, wenn es die Romantik gar nicht gegeben hätte? Nein. Denn wenn es die Romantik nicht gegeben hätte, dann hätte man nicht nur niemals etwas von Romantik bei den ehemaligen Klassikern wahrgenommen, sondern es hätte auch wirklich keine Romantik bei den ehemaligen Klassikern gegeben, denn diese Romantik der Klassiker tritt erst dadurch heraus, daß man in ihrem Werk einen gewissen Aspekt heraushebt, […]. Die Romantik hat also retroaktiv auf den Klassizismus gewirkt […]. Retroaktiv hat sie ihre eigene Gestaltung der Vergangenheit 142

DAS MÖGLICHE UND DAS VIRTUELLE

eingebildet und eine Erklärung ihrer selbst durch die vorausgehenden Umstände erst geschaffen. (B|DW: 35)

Hierin besteht die Kritik des Möglichkeitsbegriffs bei Bergson. In dem Maße, wie sich die Realität als etwas Unvorhersehbares und Neues erschafft, »wirft sie ihr Bild hinter sich in eine unbestimmte Vergangenheit; sie erscheint so als zu jeder Zeit möglich gewesen, aber erst in diesem Augenblick beginnt sie, es immer gewesen zu sein« (ebd.: 120 f.). Mit dem Begriff der Möglichkeit unterliegt die Suche nach den Bedingungen des Neuen einer retrospektiven Illusion. Aus diesem Grund eignet sich dieser Begriff des Möglichen auch nicht, die Genese des Neuen zu erfassen. Nicht nur, dass die Bedingungen, die er geltend macht, immer nur retroaktiv in Erscheinung treten: diese Bedingungen sind auch noch das Spiegelbild, die Kopie oder der Abklatsch der Realität, der sie bedingend vorausgehen sollen. Wenn man im Klassizismus Aspekte der sich anbahnenden Romantik findet, dann doch nur, weil man vom Standpunkt der Romantik mit geschultem Blick auf den Klassizismus zurückblickt: in dieser und nur in dieser Hinsicht war die Romantik im Klassizismus bereits möglich. »Dies ist der Makel des Möglichen, ein Makel, der es als nachträglich hervorgebracht, rückwirkend hergestellt denunziert, selbst nach dem Bild dessen gemacht, was ihm ähnelt.« (DW: 268) Das Mögliche ist nur das Bild einer Realität, das in die Vergangenheit zurückgeworfen wird, um sich selbst darin zu bestätigen. Indem man so die Bedingung nach dem Bild des Bedingten konzipiert, hat man sich aber auch schon »aller Mittel beraubt, die über […] den Vorgang schöpferischer Prozesse Aufschluß geben konnten« (B: 123). Das Mögliche verdoppelt das Reale, es ist nur sein abstrakter Doppelgänger, sein neutrales Bild, ohne dass es diesem etwas Neues hinzufügt. Es handelt sich um Bedingungen, die keine innerliche Genese, sondern, aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit dem Bedingten, eine rein äußerliche Bedingtheit markieren. Dies ist es aber, was Deleuze der Transzendentalphilosophie von Kant vorwirft: Sie deckt Bedingungen auf, die dem Bedingten noch äußerlich sind. Ihr Fehler besteht darin, »das Transzendentale nach dem Bild und der Ähnlichkeit dessen zu begreifen, was es begründen soll« (LS: 138). Indem sie somit das Transzendentale den empirischen Formen der Rekognition entnimmt, wählt sie ein Vorgehen, »das im Aufstieg vom Bedingten zur Bedingung besteht, um die Bedingung als einfache Möglichkeit des Bedingten zu begreifen« (ebd.: 37). Da sie sich darauf beschränkt, die abstrakte und logische Möglichkeit von Erfahrung in leeren Allgemeinbegriffen zu begründen, konzipiert sie Bedingungen, die viel umfassender sind als das, was sie bedingen. Die Begriffe, die sie geltend macht, sind, um mit Bergson zu sprechen, wie »Konfektionskleider, die dem Peter genau so gut wie dem Paul passen, weil sie weder dem einen 143

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

noch dem anderen auf den Leib zugeschnitten sind« (B|DW: 197). Da­ raus folgt, dass Kants Konzeption des Transzendentalen, Deleuze zufolge, dem unterliegt, was Bergson in seiner Kritik am Begriff des Möglichen als retro­spektive Illusion bestimmt. In einer Weise, die typisch für sein Schaffen ist, liest Deleuze Bergson also gegen Kant und findet damit einen Weg, die transzendentale Kritik auf entscheidende Weise zu erneuern. Daran zeigt sich, wie wichtig Bergson für Deleuze ist, denn in nahezu allen Arbeiten, die Differenz und Wiederholung vorbereiten, sucht er »die radikale Transformation des Kantianismus, die neuerliche Hervorbringung der Kritik, die Kant im selben Augenblick auch schon verraten hatte, als er sie entwarf, die Wiederholung des kritischen Projekts auf neuen Grundlagen und mit neuen Begriffen« (NP: 59). Neben Nietzsche findet er diese neuen Grundlagen und Begriffe vor allem im Werk von Bergson. Insbesondere der Begriff des Virtuellen ist es, mit dem die transzendentale Kritik erneuert werden soll, da gerade dieser über die retrospektive Illusion des Möglichen hinausweist, die das Transzendentale bei Kant noch an die empirischen Formen der Rekognition bindet, und es damit erst den Gefahren des Psychologismus aber auch des Anthropomorphismus preisgibt. In diesem Sinne betont Deleuze, dass uns Bergson »dem Nicht-Menschlichen und dem Über-Menschlichen (einer Dauer, die niederer oder höher als die unsere ist ...)« öffnen möchte, um die »Bedingungen, unter denen der Mensch steht« (B: 41), die Notwendigkeiten und Gewohnheiten des praktischen Lebens also, hinter sich zu lassen – um hinter die Biegung der banalen Erfahrung zu blicken, dorthin, wo es nur »Modifikationen, Störungen, Änderungen der Spannung oder Energie« (B|MG: 250 f.) gibt. Die Bedingungen sind nicht- oder übermenschlich, gerade weil sie im Element der Dauer auf den Anthropozentrismus verzichten, der den Bedingungen der Transzendentalphilosophie ins Programm geschrieben ist. Die Methode der Intuition, die nun als transzendentale Methode zu verstehen ist, sucht gerade dies, die wesentliche der beiden Seiten: die Dauer, den Geist, das Gedächtnis oder das Virtuelle. Wie an der Differenz zwischen Materie und Geist gezeigt wurde, wird Erfahrung zwar auf die Bedingungen von Erfahrung überschritten, doch handelt es sich dabei um Bedingungen, die weder allgemein noch abstrakt, nicht umfassender als das Bedingte und alles andere als Bedingungen bloß möglicher Erfahrung sind.20 Indem er das Mögliche zugunsten des Virtuellen verabschiedet, 20 Die Möglichkeitsbedingungen, die Kant im Hinblick auf alle Erkenntnis geltend macht, beschränken sich darauf, die allgemeinen Kausalitätsbeziehungen einer (noch) Newtonschen Wissenschaft in den Stand transzendentaler Gewissheit zu heben. Indem er die Frage, wie Erkenntnis möglich ist, vor diesem Hintergrund stellt, bindet er sie unweigerlich an die Ansprüche der damaligen Wissenschaft. Wie Bergson bemerkt, hat Kant »diese Ansprüche selbst jedoch […] keiner Kritik unterworfen« (B|SE: 403 f.).

144

DAS MÖGLICHE UND DAS VIRTUELLE

kann Deleuze mit seinem transzendentalen Empirismus über den transzendentalen Idealismus von Kant hinausgehen. Der Begriff des Virtuellen unterscheidet sich dabei in mindestens zwei Hinsichten vom Begriff des Möglichen. Zum einen ist das Mögliche das Gegenteil des Realen, was bedeutet, dass es selbst keine Realität hat. Es muss ja erst realisiert werden, um tatsächlich zu existieren. Eben deshalb wird es meist durch abstrakte und leere Allgemeinbegriffe formuliert, die, sofern sie in die Existenz übergehen, nichts Neues in die Welt bringen. Dagegen steht das Virtuelle nun aber nicht dem Realen, sondern nur dem Aktuellen gegenüber. Das heißt, »das Virtuelle besitzt volle Realität, als Virtuelles. Vom Virtuellen muß genau das gesagt werden, was Proust von den Resonanzzuständen sagte: Sie seien ›real ohne aktuell zu sein, ideal ohne abstrakt zu sein‹« (DW: 264). Im Unterschied zum Möglichen, das selbst keine Realität besetzt, also immer erst realisiert werden muss, besitzt das Virtuelle eine vollständige Realität, obgleich diese nicht aktuell, sondern immer nur ideal ist. Das heißt, das »Virtuelle muß selber als ein strikt dem Realobjekt zugehöriger Teil definiert werden – als ob das Objekt einen seiner Teile im Virtuellen hätte und darin wie in einer objektiven Dimension eingelassen wäre« (ebd.). Worin besteht nun aber die Realität des Virtuellen? Es sind Probleme, durch die die ideale und objektive Realität des Virtuellen nach Deleuze in Erscheinung tritt. Wenn Probleme, und hier geht Deleuze eindeutig über Bergson hinaus, nicht bloß einen vorläufigen und subjektiven Zustand unserer Erkenntnis darstellen, sondern vielmehr »auf die transzendentale Ebene übertragen werden« (DW: 205) müssen, dann weil sie mit ihren Lösungen nicht einfach verschwinden. Aber gerade dies wird für gewöhnlich verkannt. Denn spätesten dann, wenn eine Lösung vorhanden ist, tendiert das Problem, auf das sich diese Lösung bezieht, »in der Formation des Wissens zu verschwinden« (ebd.), von seiner Lösung also überdeckt und vergessen zu werden. Obwohl das Problem von den Lösungen verdeckt wird, besteht es aber dennoch in der Idee fort, die es auf seine Bedingungen bezieht und die die Entstehung der Lösungen ihrerseits organisiert. Ohne diese Idee hätten die Lösungen keinen Sinn. Das Problematische ist gleichzeitig eine objektive Erkenntniskategorie und eine Art und Weise, vollkommen objektiv zu sein. ›Problematisch‹ qualifiziert genau die idealen Objektivitäten. (LS: 79)

Je nachdem, wie es sich verteilt und damit wichtiges und unwichtiges trennt, sorgt ein Problem aber nicht nur dafür, dass bestehende Lösungen einen Sinn erhalten, sondern, sofern es sich in seinen Bedingungen ereignishaft umverteilt und verwandelt, dass diese Lösungen ihren Sinn auch verlieren und es plötzlich ganz andere Lösungen sind, die gesucht werden müssen. Hierzu ein Beispiel aus der Sportgeschichte: Eine kleine 145

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

materielle Veränderung hat im Hochsprung dafür gesorgt, dass eine vollkommen neue Technik entwickelt wurde, die auch heute noch im Einsatz ist. Dadurch, dass – aus ganz anderen Gründen – weichere Matten ausgelegt wurden, war es plötzlich möglich, rückwärts über die Latte zu springen. Die Problematik hat sich also wirklich verschoben. Der Erfinder dieser neuen Technik, Dick Fosbury, betont seinerseits, dass diese neue Technik damals bereits »in der Luft lag« – genau darin, in den jedem Gegenstand innewohnenden Freiheitsgraden des Unbestimmten liegt die Realität des Virtuellen (vollständig bestimmt ist der Gegenstand dagegen in seiner aktuellen Realität). Das Problematische ist in seiner Unbestimmtheit kein vorläufiger und subjektiver Zustand unserer Erkenntnis, es »ist ein Weltzustand, […]. Es bezeichnet exakt die Objektivität der Idee, die Realität des Virtuellen« (DW: 349). Als Problematik besitzt das Virtuelle eine objektive Struktur, die selbst nicht aktuell ist, da sie ausschließlich unbestimmte Elemente umfasst, die aber dennoch real ist, weil die Beziehungen zwischen diesen Elementen tatsächlich einen ideellen Horizont aufspannen, in Hinblick auf welchen aktuelle Lösungen organisiert werden müssen. »Das Virtuelle besitzt die Realität einer zu erfüllenden Aufgabe, nämlich eines zu lösenden Problems« (ebd.: 269). Kurz: Das Problematische impliziert die genetische Macht des Virtuellen. Das Virtuelle unterscheidet sich aber noch in einer zweiten Hinsicht vom Möglichen. Der Prozess, mit dem sich das Mögliche realisiert, beruht auf zwei allgemeinen Regeln: Gleichartigkeit und Limitation. Denn vom Wirklichen wird gesagt, es sei das Bild des Möglichen, das es realisiert (zu ihm tritt lediglich die Existenz oder die Realität hinzu; das hat man auf die Formel gebracht, vom Begrifflichen her bestehe zwischen Möglichem und Wirklichem kein Unterschied). Und da sich nicht alle Möglichkeiten realisieren, beinhaltet die Realisation eine Limitation, durch die man bestimmte Möglichkeiten zurückgedrängt und verhindert wähnt, während andere ins Wirkliche »übergehen«. (B: 122)

Weil das Mögliche der Realität gleicht, kann der Prozess, der vom Möglichen zum Realen führt, kann die Realisierung der Möglichkeit also nichts Neues mehr produzieren. Die Realisierung läuft bloß darauf hinaus, einer bereits vorhandenen Möglichkeit eine Existenz in Raum und Zeit zu verschaffen. Und die Besonderheit dieser Existenz wird dabei einfach auf jene Möglichkeit zurückgeführt, die sich darin realisiert hat – und zwar unter Ausschluss aller anderen Möglichkeiten, die ihrerseits zwar auch realisierbar gewesen wären, die im Unterschied zu dieser einen Möglichkeit aber nicht realisiert worden sind. Durch diesen Begriff des Möglichen wird das Neue vollständig durch das Negative bestimmt: Zum einen ist es nämlich das Reale, das als reine Möglichkeit vor seiner Realisierung noch nicht existiert; zum anderen impliziert die Realisierung einer bestimmten Möglichkeit immer eine Limitation oder 146

DAS MÖGLICHE UND DAS VIRTUELLE

Beschränkung anderer Möglichkeiten. Aufgrund seiner Negativität kann der Begriff des Möglichen aber das, wodurch sich das Neue auszeichnet, seine Singularität, gerade nicht erfassen. Einerseits ist es immer eine im Allgemeinen bereits vorhandene Möglichkeit, die durch Realisierung eine Existenz in Raum und Zeit erlangt; zum anderen kann die Singularität der realisierten Möglichkeit, ihre Neuheit, nur indirekt, durch eine abstrakte Gegenüberstellung mit anderen, nicht realisierten Möglichkeiten erklärt werden. Das Virtuelle hat sich demgegenüber aber nicht zu realisieren: es aktualisiert sich. Und die Aktualisierung verfährt nicht über Gleichartigkeit und Limitation, sondern über Differenz und Schöpfung. Die Aktualisierung bricht mit der Ähnlichkeit als Prozeß ebenso wie mit der Identität als Prinzip. Niemals ähneln die aktuellen Terme der Virtualität, die sie aktualisieren: […]. Die Aktualisierung […] ist in diesem Sinne stets eine wirkliche Schöpfung. Sie entsteht nicht durch Beschränkung einer präexistenten Möglichkeit. (DW: 268)

Dieser Sachverhalt ist von größter Wichtigkeit. Im Unterschied zum Möglichen kann sich das Virtuelle nur aktualisieren, indem es die Möglichkeit für seine Aktualisierung in positiven Akten selbst erschafft. In anderen Worten: Nicht das Mögliche schafft die Realität, es ist vielmehr die Realität selbst, die aufgrund ihrer Virtualität »eine unaufhörliche Schaffung von Möglichkeiten« (B|DW: 33) impliziert. Das Virtuelle ist vollkommen real, seine Realität ist aber die Realität der Veränderung.21 Im Gegensatz zur Realisierung impliziert die Aktualisierung keine Ähnlichkeit zwischen Bedingung und Bedingten, sie geht vielmehr von einer wesentlichen Differenz zwischen beiden Seiten aus: feste Körper auf der einen Seite; Modifikationen, Störungen, Energieveränderungen und Wechselwirkungen auf der anderen. Das bedeutet, dass die aktuellen Terme niemals der virtuellen Kontinuität ähnlich sind, die sie differenziert aktualisieren. Um zu wahrhaft genetischen Bedingungen zu gelangen, muss also nur begriffen werden, dass die Genese nicht von einem aktuellen Term zu einem anderen aktuellen Term in der Zeit verläuft, »sondern vom Virtuellen zu seiner Aktualisierung, d.h. […], von den Problembedingungen zu den Lösungsfällen« (DW: 235). Für sich betrachtet unterscheiden sich Kreis, Ellipse, Hyperbel, Parabel oder Gerade zum Beispiel sowohl untereinander also auch vom Kegelschnitt, aus dem sie jeweils hervorgehen. Die Aktualisierung erschafft also geometrische Figuren, »von denen jede einzelne einem virtuellen Schnitt entspricht und jeweils die Art einer 21 In den Worten von Brian Massumi: »Deleuze and Guattari, following Bergson, suggest that the virtual is the mode of reality implicated in the emergence of new potentials. In other words, its reality is the reality of change: the event.« (Massumi 2001: 1067)

147

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

Problemlösung repräsentiert« (ebd.: 269). Diese differenzierten Lösungen unterscheiden sich als feste geometrische Figuren aber von den problematischen Singularitätsverteilungen, die die Schnittflächen des Kegels implizieren. Es gibt also zwei Realitätsebenen: die virtuelle Ebene der Probleme mit ihren Singularitätsverteilungen und die aktuelle Ebene der Lösungen mit ihren geometrischen Figuren. Obwohl beide Ebenen einander vollkommen immanent sind, unterscheiden sie sich doch wesentlich voneinander: Während die Differentiation der singulären Punkte »den virtuellen Inhalt der Idee als Problem bestimmt, drückt die Differenzierung die Aktualisierung dieses Virtuellen und die Konstitution der Lösungen« (ebd.: 265) aus.22 Die Aktualisierung beinhaltet darüber hinaus auch keine Limitation. Das Neue wird nicht auf eine Auswahl realisierbarer und sich gegenseitig 22 Der Unterschied zwischen Pflanzen und Tieren beruht nach Bergson beispielsweise darauf, dass sich das Leben in beiden Fällen nach verschiedenen Gesichtspunkten hin neu erfunden hat, nicht darauf, dass zwei präexistierende, einander begrenzende Möglichkeiten gegenüber anderen ausgewählt worden wären. Alle Differenzierungslinien haben somit »einen wahrhaft schöpferischen Grundcharakter: Sie aktualisieren, indem sie Neues erfinden; sie lassen unter physischen, biologischen oder psychischen Bedingungen die verkörperte ontologische Ebene zur Darstellung kommen« (B: 127). Jede Verzweigung, Divergenz oder Differenzierung des Lebens ist Schaffung von Neuem, doch diese Momente sind nicht nach Art eines Planes, der nur darauf wartet, ausgeführt zu werden, bereits vorgesehen – obgleich die Idee eines Lebensschwunges dies zu suggerieren scheint. Ist die Bewegung des Lebens tatsächlich »eine unaufhörlich erneuerte Schöpfung, so erschafft sie nach und nach nicht nur die Lebensformen, sondern auch die Ideen, die einer Intelligenz ermöglichen würden, sie zu verstehen, und die Begriffe, die dazu dienen würden, sie auszudrücken« (B|SE: 124). Gerade darin besteht die Ereignishaftigkeit des Neuen. Es ist dabei auch nicht eine »mysteriöse Kraft« (ebd.: 135), die für die Differenzierung und die damit einhergehende Schaffung von Neuem verantwortlich ist. Da ein »Lebewesen von Natur aus zu dem neigt, was ihm am bequemsten ist, und […] Pflanzen wie Tiere sich, jedes nach seiner Art, bei der Beschaffung des von ihnen benötigten Kohlen- und Stickstoffs für zwei verschiedene Formen der Bequemlichkeit entschieden haben« (ebd.), so ist es das Problem selbst, welches das Leben gegenüber der Widerständigkeit der Materie zu stellen und lösen vermag, das die eine oder andere Richtung nahelegt. Auch deshalb betont Deleuze, dass »der Kategorie des Problems […] nach Bergson eine wesentlich größere biologische Bedeutung zu[kommt] als der – negativen – Kategorie des Bedürfnisses« (B: 145). Und weil das Leben nicht einen Plan ausführt, sondern sich, angesichts der Hindernisse, die ihm die Materie in den Weg wirft, tastend dem Unbestimmten stellt und sich dabei immer auch neu erfindet, ist auch nicht jede Lösung, die daraus hervorgeht, von sich aus erfolgreich. »Wenn wir bei den Tiergattungen nach Glieder- und Wirbeltieren

148

DAS MÖGLICHE UND DAS VIRTUELLE

ausschließender Möglichkeiten zurückgeführt, sondern wird durch die Aktualisierung in positiven Akten selbst geschaffen. Bergson liefert hierzu ein Beispiel. Man kann die Farbe Orange »in einem Sinn als gelb, im anderen als rot auffassen und sagen, daß es eine Zusammensetzung von Rot und Gelb ist« (B|DW: 37). Wäre dies aber auch dann möglich, wenn die beiden Farben Rot und Gelb für uns nicht existieren würden? Könnte man Rot und Gelb also bereits in Orange erkennen, wenn man noch nicht den Unterschied zwischen Rot und Gelb kennt? Offensichtlich nicht. Denn da die Empfindung »rot« und die Empfindung »gelb« auf spezifischen physiologischen Mechanismen und besonderen Dispositionen des Bewusstseins beruhen, handelt es sich bei diesen um »Schöpfungen des Lebens, die entstanden sind, aber die auch nicht hätten entstehen können« (ebd.). Und wären sie nicht entstanden, dann wäre das Orange eine einfache unteilbare Empfindung, da die Möglichkeit, sie als Zusammengesetzte zu begreifen, schlichtweg nicht existieren würde. Mit der Unterscheidung zwischen Rot und Gelb wird also erst die Möglichkeit geschaffen, Organe zu zerlegen. Gerade dem kann die retrospektive Logik aber nicht folgen, da sie davon ausgeht, dass, wenn heute die Möglichkeit besteht, Orange als Zusammensetzung von Rot und Gelb zu begreifen, dies auch immer so gewesen sein muss. Dabei handelt es sich aber um eine reine Illusion, denn die retrospektive Logik gibt nicht zu, daß ein einfacher unteilbarer Zustand, wenn auch sich selbst gleichbleibend, ein zusammengesetzter Zustand werden kann und zwar allein dadurch, daß die Entwicklung neue Gesichtspunkte schafft, in die man ihn geistig auflösen kann. Sie will nicht glauben, dass wenn diese Elemente nicht als Wirklichkeiten aufgetaucht wären, sie auch nicht vorher als Möglichkeiten existiert hätten, da die Möglichkeit einer Sache nur immer die Spiegelung der einmal aufgetauchten Wirklichkeit in eine unbestimmte Vergangenheit bedeutet […]. Wenn sie unter der Form des Möglichen alles, was in der Gegenwart an Wirklichkeit auftaucht, in die Vergangenheit zurückschiebt, so liegt das daran, daß sie nicht zugeben will, daß irgend etwas neu auftaucht, daß irgend etwas geschaffen wird, daß die Zeit eine wirksame Kraft ist. In einer neuen Form oder einer neuen Qualität sieht sie nur eine Neugruppierung alter Elemente, niemals etwas absolut Neues. Jede [Mannigfaltigkeit] löst sich unterteilen, haben wir die beiden anderen Richtungen, die der Schalentiere und Weichtiere, nicht berücksichtigt, die sich für den Elan vital als Sackgasse erwiesen haben. Alles scheint dafür zu sprechen, daß sich auch biologische Organismen falsche Probleme stellen können, die die Gefahr des Untergangs bergen« (ebd.: 130). Vor diesem Hintergrund ist auch verständlich, inwiefern bei Bergson »das Unvorhersehbare, das Indeterminierte nicht zufällig, sondern im Gegenteil das Wesentliche, die Negation des Zufälligen« (EI: 57) darstellt.

149

DIE SUBSTANTIALITÄT DER VERÄNDERUNG BEI BERGSON

für sie in eine bestimmte Anzahl von Einheiten auf. Sie erkennt nicht die Idee einer unbestimmten [Mannigfaltigkeit] oder gar einer ungeteilten [Mannigfaltigkeit] an, die rein intensiver oder qualitativer Art ist, die eine unbegrenzt wachsende Zahl von Elementen in sich einschließt in demselben Maße, wie in der Welt die neuen Gesichtspunkte auftauchen, von denen aus man sie betrachten kann. (ebd.: 37 f.)

Im Virtuellen heben sich neue Gesichtspunkte als ideelle Ereignisse hervor, die, der Wirksamkeit der Zeit entsprechend, Neues in die Welt bringen (z.B. mit der Unterscheidung zwischen Rot und Gelb kommt ein neuer Gesichtspunkt in die Welt, durch den es plötzlich möglich ist, Orange zu zerlegen). Die retrospektive Logik blendet die Entstehung des Neuen aber aus, da sie alles, was einmal geschaffen wurde, fix und fertig in der Gegenwart aufgreift, das Wesentliche davon abstrahiert und dieses dann als Möglichkeit in die Vergangenheit zurück projiziert, um dessen Realisierung ex post zu bejubeln. Die Ereignishaftigkeit des Neuen wird so schlichtweg verkannt.

150

4. Die reine Immanenz nach Spinoza 4.1 Die Univozität des Seins und die Variationen der Macht Wie wir im zweiten Kapitel gesehen haben, ist es die Transzendenz, die das klassische Bild des Denkens auszeichnet – ganz egal ob diese nun als Gott oder als Subjekt, d.h. als Form des Selben in der klassischen Metaphysik oder in der modernen Transzendentalphilosophie auftaucht. Vor allem das Festhalten der Transzendentalphilosophie an der transzendenten Instanz des Subjekts sorgt laut Deleuze dafür, dass sich die Konzeption der transzendentalen Bedingungen in einem Zirkelschluss verfängt, der das Erfahrungsfeld zwar einem Bewusstsein immanent sein lässt, das Bewusstsein mit dem Postulat des Gemeinsinns aber einfach den empirischen Rekognitionsakten – was ich gerade sehe oder höre, ist gleichzeitig auch das, was ich erinnere, begreife usw. – entnimmt und die Bedingungen damit vom Bedingten abpaust. Die Frage nach der Genese des Neuen, nach den Bedingungen, unter denen Neues entsteht, rückt mit diesem Zirkelschluss in weite Ferne. Wenn nun aber dieses klassische, dogmatische Bild des Denkens nur überwunden werden kann, sofern die Immanenzebene von jeder Transzendenz bereinigt wird, die Immanenz also nicht mehr etwas anderem (z.B. Gott, Welt, Ich), sondern nur noch sich selbst immanent ist, dann ist es für Deleuze gerade Spinoza, der diesem Desiderat am ehesten nachkommt. Von allen Autoren, denen er sich in seinen philosophiehistorischen Arbeiten zuwendet, ist es deshalb auch Spinoza, dem sich Deleuze in besonderer Art und Weise verpflichtet fühlt: »Es war Spinoza, über den ich gemäß den Normen der Philosophiegeschichte am gründlichsten gearbeitet habe; doch war er es auch, der mich am nachdrücklichsten einem Luftzug aussetzte, der einem in den Rücken bläst, wenn man ihn liest.« (D: 26) Gerade wegen seinem konsequenten Bestreben, eine reine Philosophie der Immanenz zu entwerfen, eine Philosophie, die keinerlei Kompromiss mit der Transzendenz schließt, ihr vielmehr überall nachstellt, indem sie alle kurzsichtigen Wahrnehmungen, trügerischen Zeichen und lebensverneinenden Wertungen aussondert, die diese auszeichnen, ist Spinoza, laut Deleuze, »der Erste unter den Philosophen« (WP: 57), »der Christus der Philosophen, und die größten Philosophen sind allenfalls seine Apostel, die diesem Mysterium näher oder ferner stehen« (ebd.: 69). Neben (und vor) Nietzsche ist es somit Spinoza, der Deleuze die Gelegenheit bietet, sich im Denken umzuorientieren, das vorherrschende Bild des Denkens hinter sich zu lassen, um selbst 151

DIE REINE IMMANENZ NACH SPINOZA

»Philosophie zu treiben« (SG: 286) und so der tradierten, etablierten und institutionalisieren Philosophie zu entwischen.1 Der damit eröffnete »Taumel der Immanenz« (WP: 57) beruht Deleuze zufolge allerdings auf der Idee eines univoken Seins. Die Univozität des Seins wird sogar zum Grundpfeiler des ganzen Spinozismus erklärt – selbst wenn dieses Wort bei Spinoza überhaupt nicht auftaucht. Es ist vielmehr Deleuze, der in seiner originellen Leseart in Spinoza und das Problem des Ausdrucks und Spinoza: Praktische Philosophie Spinoza zum Verfechter einer Univozität des Seins macht, um damit sein eigenes Projekt voranzutreiben: um also ein Bild des Denkens zu zeichnen, das der Genese des Neuen und der damit eingehergehenden Forderung nach einem Begriff der Differenz an sich gerecht wird. Wie Foucault richtig bemerkt, ist die Univozität des Seins, die Behauptung also, dass alles, was ist, sich in ein und derselben Stimme aussagt, »paradoxerweise die wichtigste Voraussetzung dafür, dass die Identität nicht die Differenz beherrscht und das Identitätsgesetz sie nicht als bloßen Gegensatz im Element des Begriffs fixiert« (F|DE3: 118). Es ist nämlich die Transzendenz, die der Identität zu ihrer privilegierten Position im klassischen Bild des Denkens verhilft. Es kommt folglich darauf an, diese Instanz kompromisslos zu bekämpfen. Und genau diesen Kampf findet ­Deleuze auch bei Spinoza, wenn dieser die Transzendenz in ihrer Gestalt als Äquivozität oder Analogie des Seins und als Eminenz der Ursache anprangert. In seiner Auseinandersetzung mit Spinoza geht Deleuze sogar davon aus, dass dessen Philosophie der Immanenz »zum Teil unverständlich bleibt, wenn man darin nicht den permanenten Kampf gegen die drei Begriffe der Äquivokation, der Eminenz und der Analogie sieht« (PA: 45). Aus diesem Grund werden wir in den folgenden Seiten den Begriff der Univozität in einem ersten Schritt von den Begriffen der Äquivozität und Analogie und in einem zweiten Schritt dann vom Begriff der Eminenz unterscheiden. Einer äquivoken oder analogen Auffassung zufolge muss das Sein in mehreren Stimmen, d.h. in verschiedenen Bedeutungen (Kategorien) ausgesagt werden. Zum Beispiel indem man zwischen Urbild und Abbild, 1 Wie er selbst betont, empfand Deleuze die Philosophiegeschichte von Anfang an als Unterdrückung. »Kurios, daß man auch nach der Befreiung gefangen blieb in Philosophiegeschichte; nur stieg man jetzt eben ins Studium Hegels, Husserls und Heideggers ein. […]. Die Philosophiegeschichte ist von jeher Agent der Macht innerhalb der Philosophie, ja des Denkens gewesen. Ihre Rolle war die des Unterdrückers: Wie wollt ihr denn denken, ohne Platon, Descartes, Kant und Heidegger sowie dieses oder jenes Buch über sie gelesen zu haben? Philosophiegeschichte: eine hervorragende Schule der Einschüchterung« (D: 22 f.). Jedenfalls hatte Deleuze erklärtermaßen mit seinen frühen philosophiehistorischen Studien seine »Schulden abgegolten, durch Nietzsche und Spinoza waren sie getilgt« (ebd.: 23).

152

DIE UNIVOZITÄT DES SEINS UND DIE VARIATIONEN DER MACHT

Original und Kopie, Denken und Ausdehnung, Geist und Materie, Verstand und Sinnlichkeit, primären und sekundären Qualitäten, Möglichkeit und Wirklichkeit oder zwischen Notwendigkeit und Kontingenz unterscheidet. In jedem Fall erfährt das Sein damit eine Teilung oder wird vielmehr erst ausgehend von dieser Teilung konzipiert, um sodann eine der beiden Seiten hierarchisch zu überhöhen. Deleuze greift in diesem Zusammenhang auf die mittelalterliche Theologie und die darin geführte Diskussion über das Problem göttlicher Namen zurück: Ist Gott im selben Sinne gütig, weiße, liebevoll oder gerecht, wie es seine Geschöpfe sind? Ist der Sinn, der in beiden Fällen vom Sein (gütig sein, gerecht sein usw.) ausgesagt wird, derselbe oder nicht? Das Problem betrifft also das Verhältnis zwischen Schöpfer und Schöpfung oder, wie Heidegger sagt, die ontologische Differenz zwischen Sein und Seienden. Die Scholastik konzipiert drei Begriffe, um das Problem zu lösen: Äquivozität, Analogie und Univozität. Um die Transzendenz Gottes zu wahren, wird einer äquivoken Konzeption zufolge das Sein in vollkommen verschiedenen Bedeutungen ausgesagt. Das heißt, man kann zum Beispiel nicht sagen, Gott sei in dem Sinne gütig, in dem auch der Mensch gütig ist. Zwischen Gott und Mensch gibt es kein gemeinsames Maß. Weil aber kein gemeinsames Maß vorausgesetzt werden kann, können Aussagen, die auf den Menschen zutreffen, nicht auch auf Gott zutreffen – denn sie können seiner Transzendenz niemals gerecht werden: es handelt sich nicht um dieselbe Stimme. Gott kann man sich laut negativer Theologie höchstens indirekt annähern. Einer analogischen Konzeption zufolge, die hauptsächlich von Thomas von Aquin vertreten wurde, wird das Sein zwar auch in verschiedenen Stimmen oder Bedeutungen ausgesagt, diesen Bedeutungen kommt aber sehr wohl ein gemeinsames Maß zu. So wie man beispielsweise von einem Organismus sagen kann, er sei gesund, kann man in einem anderen, aber analogen Sinn von einer gesunden Diät sprechen, insofern sie die Gesundheit des Organismus unterstützt. So wie der primäre, übergeordnete Sinn von Gesundheit mittels Analogie auf eine gesunde Diät, einen gesunden Spaziergang oder eine gesunde Gesichtsfarbe verweist, so können auch die Attribute Gottes (z.B. Güte) mittels Analogie von seinen Geschöpfen ausgesagt werden. Aussagen über Gott sind also möglich, ohne damit dessen Transzendenz in Frage stellen zu müssen. Bei alledem handelt es sich für Deleuze aber um weit mehr als die längst vergessenen Probleme der mittelalterlichen Theologie. Zum Beispiel unterscheidet Thomas von Aquin zwei Arten von Analogiebeziehung. Zunächst eine einfache Proportionsanalogie, in der sich die Beziehungen einer Serie analoger Terme (gesunde Diät, gesunde Gesichtsfarbe etc.) nach dem Grad ihrer jeweiligen Ähnlichkeit zu einem einzigen Hauptterm (Gesundheit) richten. Davon wird aber eine Analogie der 153

DIE REINE IMMANENZ NACH SPINOZA

Proportionalität unterschieden, in der nicht mehr Terme, sondern Differenzen aufeinander bezogen werden: »a ist für b das, was c für d ist, […]. Im ersten Fall habe ich Ähnlichkeiten, die sich während einer ganzen Serie oder von einer Serie zur anderen voneinander unterscheiden. Im zweiten Fall habe ich Differenzen, die sich in einer Struktur und von einer Struktur zur anderen ähnlich sind.« (TP: 319 f.) Diese zweite Art von Analogiebeziehung, die sich gegenüber der ersten historisch als »Königsweg« (ebd.: 320) der Wissenschaft durchsetzen konnte, dient Deleuze nun in seiner Kritik am Strukturalismus, wie er beispielsweise bei ­Jacques Lacan oder Claude Lévi-Strauss zu finden ist.2 In seinen Schriften zum Totemismus geht es Lévi-Strauss beispielsweise »nicht mehr darum, Ähnlichkeiten in Grade einzuteilen und in letzter Instanz in einer mystischen Partizipation zu einer Identifikation von Mensch und Tier zu gelangen. Es geht darum, Differenzen zu ordnen, um zu einer Entsprechung von Beziehungen zu gelangen.« (TP: 322) So werden Beziehungen zwischen Menschengruppen mittels struktureller oder symbolischer Homologien auf Beziehungen zwischen Tieren zurückgeführt, so als ob der Sinn der einen Ebene primär in der anderen Ebene verborgen wäre. Der Begriff der strukturellen oder symbolischen Homologie spielt nach Lévi-Strauss auch in der Soziologie von Pierre Bourdieu noch eine zentrale Rolle. Bourdieu möchte nämlich gerade »Struktur- und Funktionshomologien« (Bourdieu/Wacquant 1996: 137) 2 So findet man auch in der Psychoanalyse laut Deleuze eine »theologische Denkweisen wieder« (SG: 86). Zunächst glaubt man, dass es »nur ein einziges Geschlecht gibt, das männliche, das Penis-Organ (Freud), wobei das weibliche Geschlecht, die Klitoris, einer einfachen Proportionsanalogie entsprechend, analog zum Penis begriffen wird: »ein winziger, armseliger, Penis, der nie wachsen wird« (ebd.). Dann, nach Freud, glaubt man, dass es doch zwei Geschlechter gibt. »Diesmal ändert sich die Methode, man geht zu einer Methode der Analogie im wissenschaftlichen Sinn oder zur Homologie über, die, wie bei Lacan, auf dem Phallus-Signifikanten gründet und nicht mehr auf dem Penis-Organ. Das Glaubensbekenntnis des Strukturalismus, wie Lévi-Strauss es zum Ausdruck bringt, findet hier eine vorzügliche Anwendung: über die imaginären Analogien hinausgehen, hin zu strukturalen und symbolischen Homologien.« (ebd.: 86 f.) Egal ob man aber von einer einfachen Proportionsanalogie zwischen Organen oder einer wissenschaftlichen Analogie der Proportionalität zwischen Signifikanten und strukturalen Funktionen spricht, immer »reduziert man die Sexualität, das heißt den Wunsch als Libido, auf den Unterschied der Geschlechter: ein verhängnisvoller Irrtum, ob man diesen Unterschied nun organisch oder struktural, in bezug auf das Penis-Organ oder in bezug auf den Phallus-Signifikanten interpretiert« (ebd.: 87), die jeweils das Eine markieren, auf das hin das Material beurteilt, interpretiert und gerichtet wird. Eine ausführliche Studie der Beziehung von Deleuze zum Strukturalismus findet sich bei Dosse (2012).

154

DIE UNIVOZITÄT DES SEINS UND DIE VARIATIONEN DER MACHT

zwischen sozialen Feldern aufzeigen. Das heißt, Differenzen in heterogenen sozialen Feldern sollen durch Analogiebeziehungen auf Differenzen in einem verborgenen gesellschaftlichen Raum zurückgeführt werden. So sind nach Bourdieu die Kämpfe etwa im philosophischen Feld immer überdeterminiert und funktionieren tendenziell nach einer doppelten Logik. Sie haben politische Implikationen, und zwar aufgrund der Homologie zwischen den Positionen einer bestimmten philosophischen Schule und den Positionen einer bestimmten politischen oder sozialen Gruppe im gesellschaftlichen Raum insgesamt. (ebd.)

Die Beziehungen und Differenzen in sozialen Feldern werden ausgehend von einem anderen, übergeordneten Feld, dem Feld der Macht, bestimmt, das »nicht auf derselben Ebene liegt wie die anderen Felder (das literarische, ökonomische, wissenschaftliche, staatsbürokratische usw. Feld)« (ebd.: 38) und insofern nur als verborgene Ebene oder Struktur in diesen Feldern durch den kritischen Soziologen nachzuweisen ist. Auf diese Weise lassen sich soziale Differenzen ordnen und auf den einen, alles überdeterminierenden sozialen Antagonismus zurückführen, der in der (objektiv mess- und konstruierbaren) Gestalt der sozialen Struktur oder des gesellschaftlichen Raums als verborgene Referenz- oder Analogieebene dient. Dies führt uns auch wieder auf das Problem der Analogie zurück: Obwohl sie zwei verschiedene Analogiebeziehungen darstellen, setzen Proportionsanalogie und Analogie der Proportionalität gleichermaßen eine transzendente Analogieebene voraus, ausgehend von der sie ihre Beziehungen organisieren: »Entweder weil dadurch der Hauptterm einer Entwicklung bestimmt wird, oder weil dadurch proportionale Strukturbeziehungen geschaffen werden.« (TP: 362) Diese Ebene kann »im Geist eines Gottes oder im Unbewußten des Lebens, der Seele oder der Sprache enthalten sein« (ebd.), sie wird darin aber stets eine Transzendenz geltend machen. Es handelt sich also auch dann noch um eine Transzendenzebene, wenn man sie, »ein Höchstmaß an Immanenz zubilligend, in die Tiefen der Natur oder des Unbewußten« (D: 99), der Sprache oder der Gesellschaft versenkt. Auch wenn sie der Natur, dem Unbewussten, der Sprache oder der Gesellschaft immanent ist, verfügt sie darin als Transzendenzebene nämlich »immer über eine zusätzliche Dimension, […] impliziert immer eine Dimension, die den Dimensionen dessen, was gegeben ist, hinzugefügt wird« (S: 166), um es »von oben herab« durch einen übersichtlichen Plan zu organisieren. Die Dimensionen dessen, was gegeben ist, sind also niemals sich selbst immanent, sondern immer etwas anderem: einer übergeordneten Ebene, die als organisierende Dimension bloß hinzukommt (n+1). Indem die Analogie – und das ist das Entscheidende – eine Transzendenzebene einführt, um entweder 155

DIE REINE IMMANENZ NACH SPINOZA

Ähnlichkeiten in den Dingen zu entwickeln oder um Differenzen darin zu ordnen, blendet sie, wie im zweiten Kapitel bereits gezeigt wurde, den Gesichtspunkt des Werdens und damit auch den der Differenz an sich und der Genese des Neuen systematisch aus. Wenn Spinoza nun der erste unter den Philosophen ist, dann insofern, als dass er sich dieser äquivoken und analogen Konzeption des Seins verwehrt, um im Gegensatz zur Transzendenz, die in diesen Ansätzen am Werk ist, eine reine Philosophie der Immanenz zu entwerfen. Ausgangspunkt hierfür ist laut Deleuze die These der Univozität des Seins und die damit einhergehende These der Univozität der Attribute. Der univoken Konzeption zufolge, die, um genau zu sein, zunächst in prominenter Weise von Duns Scotus vertreten wurde, muss das Sein in ein und demselben Sinn von allem ausgesagt werden, was ist – ganz egal ob es sich nun um einen Stein, eine Zecke, um Aristoteles oder um Gott handelt. Wie Deleuze bemerkt, handelt es sich hierbei um einen verrückten Gedanken, der diejenigen, die ihn hegten, geradewegs auf den Scheiterhaufen führte. Denn Gott wird damit ontologisch auf dieselbe Stufe des Menschen gestellt. Im Unterschied zu Duns Scotus gibt es nach Spinoza (mindestens) zwei unendliche Attribute, die univok, d.h. in ein und demselben Sinn sowohl von Gott als auch von seinen Geschöpfen, also sowohl von der unendlichen Substanz als auch von endlichen Modi ausgesagt werden können: Ausdehnung und Denken. Beispielsweise impliziert der Körper das Attribut der Ausdehnung hier in genau demselben Sinn, in dem dieses Attribut auch Attribut der göttlichen Substanz ist. In dieser Hinsicht besitzt Gott nicht die von den »Kreaturen« implizierten Vollkommenheiten in einer von der in den Kreaturen selbst enthaltenen verschiedenen Form: so negiert Spinoza radikal die Begriffe Eminenz, [Äquivozität] und sogar Analogie (denenzufolge Gott sie in einer anderen, höheren Form besäße…). Die spinozistische Immanenz steht demnach genau so im Widerspruch zur Emanation wie zur Schöpfung. Und Immanenz bezeichnet in erster Linie die [Univozität] der Attribute: die selben Attribute werden ausgesagt von der Substanz, die sie zusammensetzen, und den Modi, die sie enthalten. (S: 70)

Das Attribut der Ausdehnung kann also in ein und demselben Sinne von den endlichen Modi und der unendlichen Substanz ausgesagt werden. Im Unterschied zur äquivoken und analogen Konzeption des Seins kann in einer univoken Konzeption demnach keine Form gegenüber anderen überhöht werden, womit die Gefahr der Transzendenz von Anfang an gebannt wird. »Die Attribute sind für Spinoza univoke Seinsformen, die ihre Natur nicht ändern, wenn sich der ›Gegenstand‹ ändert, d.h. wenn man sie vom unendlichen oder von endlichen Seienden, von der Substanz oder von den Modi, von Gott oder von den Geschöpfen aussagt.« (PA: 45) Und obwohl sie wesentlich ein und dieselbe Substanz zum Ausdruck 156

DIE UNIVOZITÄT DES SEINS UND DIE VARIATIONEN DER MACHT

bringen, ist es dennoch möglich, zwischen den Attributen zu unterscheiden: ihr Unterschied ist allerdings formal. Für Deleuze ist Spinoza damit der Erfinder einer »außergewöhnlichen Theorie der Unterscheidungen« (PA: 294). Wie Deleuze zeigt, geht Spinoza nämlich davon aus, dass reale Unterscheidungen nicht numerisch, sondern formal sind. Die reale Unterscheidung geht auf Des­cartes zurück und besagt, dass zwei Dinge dann real unterschieden sind, wenn eines von beiden klar und deutlich begriffen werden kann, ohne all das berücksichtigen zu müssen, was zum Begriff des anderen gehört. Allerdings – und hier liegt das Problem – wird die reale Unterscheidung bei Descartes insgeheim »von einer Teilung der Dinge begleitet, d.h. von einer ihr entsprechenden numerischen Unterscheidung« (ebd.: 32). Damit sind zwei Dinge nicht nur unabhängig voneinander zu begreifen: sie müssen auch getrennt voneinander existieren. Aus diesem Grund sind Ausdehnung (res extensa) und Denken (res cogitans) bei Des­cartes nicht nur unabhängig voneinander zu begreifen, sondern stehen zudem auch für zwei völlig verschiedene Substanzen. Damit wird der Ausgangspunkt für den folgenschweren Dualismus zwischen Körper und Geist begründet. Im Gegensatz hierzu greift Spinoza die reale Unterscheidung bei ­Descartes zwar auf, gibt ihr aber einen völlig neuen Status. Diesen neuen Status charakterisiert Deleuze durch die »Idee der formalen Unterscheidung« (PA: 58), die er ebenfalls bei Duns Scotus findet.3 Wenn die reale Unterscheidung keine numerische Unterscheidung mehr ist, dann muss das, was unabhängig voneinander zu begreifen ist, nicht auch getrennt voneinander existieren: Alles existiert zusammen in einer gemeinsamen Substanz. In anderen Worten: Die Attribute können zwar formal unterschieden werden, ohne damit aber eine Teilung der Substanz zu unterstellen. Ausdehnung und Denken sind dann nicht zwei numerisch verschiedene Substanzen, sie sind vielmehr zwei formal verschiedene Perspektiven auf ein und dieselbe Substanz. Zu sagen, die Attribute seien real-formal unterschieden, bedeutet also, dass jedes Attribut »durch sich selbst begriffen wird, ohne Negation eines anderen und ohne Gegensatz zu einem anderen, und daß sich somit alle als dieselbe Substanz behaupten« (EI: 216). Wenn Denken und Ausdehnung zwar verschiedene, nicht aber zwei getrennte Sachen sind, kann das eine nicht als Negation des anderen konzipiert werden. Deshalb kann es bei Spinoza zwischen 3 Dennoch spricht Spinoza nie von einer formalen Unterscheidung. »Man wird sich fragen, warum Spinoza dieses Wort niemals benutzt und immer nur von der realen Unterscheidung spricht. Eben weil die formale Unterscheidung eine reale ist« (PA: 60). Nicht nur der Begriff der formalen Unterscheidung, auch der der Univozität kommt von Duns Scotus. Deleuze übernimmt diese Begriffe, eignet sie sich an, um sie mit und in Spinoza weiterzuentwickeln.

157

DIE REINE IMMANENZ NACH SPINOZA

beiden auch keinen Dualismus mehr geben.4 Dadurch, dass bei Spinoza »die Logik der realen Unterscheidung […] eine Logik der rein affirmativen Differenz ohne Negation« (ebd.) darstellt, kann die Theorie der Unterscheidung, die Deleuze bei Spinoza aufzeigt, auch als wegweisend für seine eigene Philosophie der Differenz angesehen werden. In beiden Fällen wird nämlich eine Differenz gesucht, die nicht auf den Gegensatz reduziert wird – »Non opposita sed diversa« (PA: 57) – und damit von jeder Negativität befreit ist.5 Der spinozistische Begriff der Immanenz drückt, wie eingangs erwähnt wurde, neben der Univozität der Attribute aber auch die Univozität der Ursache aus. »In der Immanenz wird die Univozität auch ihre eigentliche spinozistische Formulierung finden: Gott wird Ursache von allen Dingen genannt, in eben dem Sinn (eo sensu), in dem er Ursache von sich genannt wird.« (PA: 61) Um diese Aussage zu verstehen, muss zwischen einer transitiven, emanativen und immanenten Ursache unterschieden werden. Als transitiv wird jene Ursache bezeichnet, die dem, was durch sie produziert wird, vollständig äußerlich bleibt. Miguel de Beistegui (2010: 30) gibt hierzu das Beispiel eines Uhrenmachers, der im Verhältnis zu dem, was er produziert, als transitive Ursache begriffen werden kann: Er produziert die Uhr zwar, bleibt dieser, sobald die Produktion abgeschlossen ist, aber äußerlich, veräußert sich also in seinem Produkt (man findet in der Uhr meist keinen Uhrmacher mehr). Im Gegensatz dazu zeichnen sich sowohl die emanative als auch die immanente Ursache dadurch aus, »daß sie beide nicht aus sich herausgehen: sie bleiben in sich, um hervorzubringen« (PA: 153). Beide Ursachen unterscheiden sich aber in der Art und Weise, in der sie eine Wirkung hervorbringen. Die emanative Ursache bleibt in dem, was sie hervorbringt, zwar bei sich, doch das, was sie hervorbringt, bleibt nicht in ihr, 4 Vgl. hierzu insbesondere das dritte Kapitel in Macherey (2019). 5 Michael Hardt betont an dieser Stelle, dass Deleuze den Begriff der Differenz bei Bergson ausgehend von der Theorie der Unterscheidung bei Spinoza liest. »In both Bergson and Spinoza, the essential characteristic of difference is, on one side, its internal causality, and, on the other, its immersion in the absolute. As I have insisted at length, Deleuze’s reading of Bergsonian difference depends heavily on a conception of a being that is productive, of an internal and efficient causal dynamic that can be traced back to the materialist tradition and to the Scholastics. This conception takes on its full import in Spinoza: […] This internal causal dynamic is what animates the real distinction of being. This is the absolutely positive difference that both supports being in itself and provides the basis for all the differences that characterize real being. To this extent, there is a positive correspondence between Bergson’s difference of nature and Spinoza’s real distinction.« (Hardt 1993: 61 f.) Dies zeigt ein weiters Mal auf, inwiefern Deleuze Bergson gerade mit Spinoza liest.

158

DIE UNIVOZITÄT DES SEINS UND DIE VARIATIONEN DER MACHT

ist also nur »ausgeflossene« Wirkung. Die emanative Ursache verlängert sich zwar bis in ihre Wirkungen hinein, sie macht darin aber einen hie­ rarchischen Unterschied geltend, der die Immanenz an eine Transzendenz bindet. »So existiert dann auch die Wirkung, die aus der Ursache herausgeht, nur insofern sie aus der Ursache herausgeht, sie bestimmt ihre Existenz allein in der Rückwendung zur Ursache, aus der sie he­ rausgegangen ist« (ebd.: 154). Damit wird das Seiende hierarchisch geordnet, und zwar durch Rückwendung auf eine erste Ursache: d.h. im Hinblick auf die jeweilige Nähe oder Entfernung aller Seienden zum Einen als transzendentem Prinzip (Scala Naturae). Genau darin gründet die klassische Metaphysik. Oft wurde das »treppenförmige Universum« beschrieben, was einer langen platonischen, neuplatonischen und mittelalterlichen Tradition entspricht. Es ist ein Universum, das am Einen als transzendentem Prinzip hängt und aus einer Reihe von hierarchischen Emanationen und Konversionen hervorgeht. Das Sein ist hier äquivok oder analogisch. Die Wesen haben in der Tat, je nach ihrer Entfernung oder ihrer Nähe in Bezug auf das Prinzip, mehr oder weniger Sein, mehr oder weniger Realität. (SG: 250)

Die emanative Ursache liefert also das Prinzip eines hierarchisierten Universums, in dem das äquivoke oder analoge Sein in Bezug auf das Eine beurteilt wird und die Differenzen im Hinblick auf das Selbe geordnet werden. Im Gegensatz dazu steht nun aber die reine Immanenz. Diese unterscheidet sich nicht nur von jeder negativen Theologie, jeder analogen Methode und jeder hierarchischen Weltkonzeption, sie unterscheidet sich vor allem auch von der emanativen Ursache. Die immanente Ursache bleibt nämlich in dem, was sie hervorbringt, zwar auch in sich, allerdings bleibt das, was sie hervorbringt, weiterhin in ihr – wird also nicht als die immer nur abgestufte oder abgeleitete Wirkung eines übergeordneten, transzendenten Einen konzipiert. Im Unterschied zur emanativen Ursache impliziert die immanente Ursache somit keine hierarchische Einteilung im Sein. Die immanente Ursache ist folglich dadurch zu bestimmen, daß die Wirkung in ihr ist, zweifellos als in etwas Anderem, aber in ihr ist und bleibt. Die Wirkung bleibt ebenso in der Ursache wie die Ursache in sich selbst. In dieser Hinsicht kann die Wesensunterscheidung zwischen Ursache und Wirkung niemals als eine Abstufung interpretiert werden. Aus dem Gesichtspunkt der Immanenz schließt die Wesensunterscheidung eine Seinsgleichheit nicht aus, sondern impliziert sie: es ist dasselbe Sein, das in sich und in der Ursache bleibt, in dem aber auch die Wirkung bleibt als in etwas Anderem. (PA: 154)

159

DIE REINE IMMANENZ NACH SPINOZA

Die hervorgebrachte Wirkung emaniert nicht, sie bleibt ihrer Ursache vielmehr immanent. Gott ist im gleichen Sinn Ursache der Dinge, wie er Ursache seiner selbst ist: Deus sive Natura. Weil die immanente Ursache also keinerlei Trennung und schon gar keine hierarchische Überhöhung in das Sein einführt, ermöglicht sie das Denken einer reinen Immanenz.6 Die immanente Ursache verweist auf die Einheit des Mannigfaltigen, das als Substantiv aber nicht mehr einem übergeordneten Einen unterworfen ist. Hier ist und bleibt das Sein univok: Das heißt, daß die Wesen gleichermaßen Sein sind, in dem Sinne, daß ein jedes sein eigenes Vermögen in unmittelbarer Nachbarschaft zur ersten Ursache ausübt. Es gibt keine entfernte Ursache mehr: der Fels, die Lilie, das Tier und der Mensch singen gleichermaßen den Ruhm Gottes in einer Art gekrönten An-archie. An die Stelle der Emanationen-Konversionen der sukzessiven Ebenen tritt die Koexistenz zweier Bewegungen in der Immanenz, die complicatio und die explicatio, wo Gott »alle Dinge kompliziert«, während gleichzeitig »jedes Ding Gott expliziert«. Das Vielfaltige ist im Einen, das es kompliziert, ebenso wie das Eine im Vielfältigen, das es expliziert. (SG: 250)

Die Univozität der Ursache besagt, dass es dasselbe Sein ist, das sich von der Ursache und der Wirkung aussagt. Anstelle der hierarchischen (oder graduellen) Abstufung im Hinblick auf das transzendente Eine müssen in der Immanenz nun zwei koexistierende Bewegungen – oder, wie bei Bergson, zwei Richtungen ein und derselben Bewegung – unterschieden werden: Die Dinge (Wirkungen, Modi) bleiben genauso in Gott (Ursache, Substanz), der sie kompliziert, wie Gott in den Dingen bleibt, die ihn explizieren (und implizieren). Es ist die immanente Ursache selbst, die sich auf mannigfaltige Art und Weise in ihren Wirkungen ausdrückt. Vor dem Hintergrund der doppelten Univozität, der Univozität der Attribute und der Univozität der Ursache, entwirft Spinoza also eine reine Philosophie der Immanenz. Nun führt aber gerade das zum eigentlichen Problem einer univoken Ontologie. Wenn nämlich das Sein in ein und demselben Sinn von allem gesagt wird, was ist, dann stellt sich die Frage, wie die Seienden zu unterscheiden sind: Wie kann ihre Differenz trotz ihrer Einstimmigkeit begriffen werden? »How can we say that there are differences between beings, and none the less that Being is said in one and the same sense of everything that is?« (Smith 2012: 40) Wenn Seiende durch eine Rückwendung auf Substanz-, Form-, Kategorien-, Gattungs- oder Artdifferenzen unterschieden werden, wird die Einstimmigkeit der Immanenz nämlich verraten und eine äquivoke und analogische Konzeption des Seins rehabilitiert. Zwischen Gott und Menschen, Pflanzen und Tieren darf es einem univoken Seinsverständnis zufolge also 6 Eine Untersuchung zur Bedeutung der immanenten Ursache von Spinoza bei Deleuze und Althusser findet sich unter anderem bei Diefenbach (2013).

160

DIE UNIVOZITÄT DES SEINS UND DIE VARIATIONEN DER MACHT

keine Unterschiede der Substanz, Form, Kategorie, Gattung oder Art geben. Welche Differenz kann es dann noch geben? Die Kontinuität oder Einstimmigkeit des Seins erlaubt nur einen ganz bestimmten Unterschied: die intensive Differenz. Beispielsweise können wir unendlich viele Variationen und Nuancen einer Farbe unterscheiden, ohne dabei von etwas anderem als dieser Farbe zu sprechen. Genauso müssen auch die Unterscheidungen in einem univoken Sein konzipiert werden. Alles was ist, sagt sich in einem einzigen Sinn aus, drückt dabei aber eine (individuierende) Differenz aus, die als differentieller Grad an Macht (puissance) begriffen werden muss. Die einzige Differenz, die an dieser Stelle also noch konzipiert werden kann, ist diejenige, die den Vermögens- oder Machtgrad (degré de puissance) eines Seienden hic et nunc, in seinem Individuationsfeld, zum Ausdruck bringt. Wenn die Konzeption differentieller Machtgrade das Denken der Differenz in einem univoken Sein erlaubt, dann insofern, als dass alle Seienden damit zwar ein und dasselbe univoke Sein realisieren und insofern seine volle Produktivität zum Ausdruck bringen, dies aber stets aufgrund unterschiedlicher Umstände in unterschiedlichen Intensitäten tun. Die Seienden (oder Modi) sind folglich die verschiedenen Grade eines ansonsten ungeteilten Seins, das nur in und durch seine Grade existiert – so »wie sich das Weiß auf verschiedene Intensitäten bezieht, wesentlich aber dasselbe Weiß bleibt« (DW: 59).7 Das bedeutet, dass sich die Dinge (Modi) laut Deleuze nicht mehr auf »Arten reduzieren lassen, weil sie sich in den Attributen nach individuierenden Differenzen aufteilen, die in der Intensität wie Machtabstufungen wirken und durch die sie unmittelbar auf das univoke Sein bezogen werden« (ebd.: 376). Daniel Smith (2012: 41) weist treffend darauf hin, dass Dinge oder Seiende damit nicht länger durch eine qualitative Wesenheit (Analogie des Seins), sondern durch einen quantifizierbaren Machtgrad (Univozität des Seins) unterschieden werden können. Ein Ding wird nicht mehr aufgrund einer vermeintlichen Wesenheit bestimmt (Quidditas), sondern aufgrund der Macht, die es hic et nunc umzusetzen vermag (Haecceitas). »Daraus entspringen eine Bestimmung des Modus als Grad an Fähigkeit [puissance] und eine einzige ›Verpflichtung‹ für den Modus, 7 Auch hier kommt Duns Scotus zu Hilfe. »Kehren wir zu Duns Scotus zurück: die Weiße, sagt er, hat veränderliche Intensitäten; diese verbinden sich nicht mit der Weiße wie eine Sache mit der anderen, wie eine Figur sich mit der Mauer verbindet, auf die man sie malt; die Intensitätsgrade sind innerliche Bestimmungen, innerliche Modi der Weiße, die univok dieselbe bleibt, unter welcher Modalität man sie auch betrachten mag« (PA: 174). Die Intensitäten – das blasse oder kräftige Weiß – sind »dem« Weiß nicht ähnlich, wie eine gesunde Farbe per Analogie der Gesundheit eines Organismus ähnelt: sie sind das Weiß in all seinen Variationen oder Modalitäten (Mannigfaltigkeit als Substantiv).

161

DIE REINE IMMANENZ NACH SPINOZA

nämlich seine ganze Fähigkeit oder sein Sein in der Grenze selbst zu entfalten.« (DW: 64) Die Macht wird folglich durch die Grenze definiert, die ihren Grad im Hier und Jetzt misst.8 Der Begriff der Macht avanciert damit zum Kernbegriff einer radikalen Erneuerung der Ontologie. Da die Dinge nicht mehr im Hinblick auf ihre abstrakte Form begriffen werden, sondern im Hinblick auf das, was sie tatsächlich vermögen, ändert sich die Art und Weise, wie diese bestimmt, definiert und voneinander abgegrenzt werden. Der Begriff der Grenze (definito) ist hier nämlich ein ganz anderer. In der Geometrie markiert eine Grenze für gewöhnlich die Außenlinie, Umrandung oder den Umriss einer Figur (ein Würfel wird zum Beispiel durch sechs Quadrate begrenzt). Es ist auch dieser Begriff der Grenze, der schon seit Platon eine tragende Rolle im Idealismus einnimmt. Alles, was im Idealismus zählt, ist die intelligible Linie, die eine reine Form ab- und begrenzt, weshalb alles, was in dieser Form enthalten ist, vernachlässigt oder ausgegrenzt werden kann. Man kann beispielsweise von der Idee des Kreises sprechen, da es eine reine Grenzlinie gibt, die in einem idealen Raum die Form dieser Idee definiert. Auf analoge Weise wird der Begriff der Grenze aber auch im Hylemorphismus bei Aristoteles verwendet. Die sinnlichen Substanzen setzen sich zwar aus Form und Materie zusammen, doch es ist die Form, die schlussendlich das Wesentliche definiert (die Artdifferenz als vermeintliches Maximum). Auch hier beruht die Definition auf der Vorstellung einer Linie, die eine Form nach innen (Materie) und außen (andere Formen) hin abgrenzt. Es handelt sich dabei um die klassische Alternative: Denn entweder wird etwas den reinen Formen eines vollständig intelligiblen Seins zugeordnet oder es wird in den Abgrund der formlosen Kontingenz verabschiedet. 8 Die Differenz oder das Vielfältige können nicht auf die Identität oder das Eine zurückgeführt werden. Gerade der Hinweis auf die Univozität des Seins scheint dies aber zu suggerieren – sofern nicht größte Sorgfalt auf die Art und Weise angewendet wird, wie Deleuze diesen Begriff definiert. In diesem Sinne ist es Alain Badiou, der zwar die Relevanz der These zur Univozität des Seins im Denken von Deleuze hervorhebt, darin aber eine Art neuplatonischer Restauration des Einen als höchstem Prinzip sehen will. »From beginning to end, and under the constraint of innumerable and fortuitous cases, his work is concerned with thinking thought (its act, its movement) on the basis of an ontological precomprehension of Being as One.« (Badiou 1999: 20) Diese Leseart von Badiou wurde bereits mehrfach kritisiert. So etwa von Daniel Smith, der erklärt: »›Being is univocal‹ and ›Being is One‹ are strictly incompatible theses, and Badiou’s conflation of the two, as has been noted by several commentators, betrays a fundamental misunderstanding of the theory of univocity.« (Smith 2012: 305) Was Badiou zu übersehen scheint, ist der Umstand, dass sich das Sein bei Deleuze von der Differenz aussagt und nicht umgekehrt.

162

DIE UNIVOZITÄT DES SEINS UND DIE VARIATIONEN DER MACHT

Es sind die Stoiker, die demgegenüber einen ganz anderen Begriff der Grenze ins Spiel bringen. Noch vor Spinoza begreifen sie die Dinge nämlich nicht als Ideen, sondern als Körper. Da Körper wesentlich tätig sind, muss die Grenze, die sie definiert, auch dort verortet werden, wo ihre Tätigkeit zur Ruhe kommt. Beispielsweise wird ein Wald in diesem Sinne durch seinen Rand definiert. Doch der Rand verweist hier nicht auf den Umriss einer idealen Form, sondern auf ein Individuationsfeld oder eine Umwelt, in der sein Wachstum aufgrund der darin eingefassten Kräfteverhältnisse – klimatische Verhältnisse, Bodeneigenschaften, Biodiversität oder anthropogene Einflüsse – zum Stillstand kommt. Gefragt wird nicht, was ein Wald ist, sondern was er kann: seine »ökologische Potenz«. Der Waldrand verkörpert insofern die Grenzen seines Vermögens: die intensive Differenz seines Machtgrads.9 Wenn Spinoza um einiges später danach fragt, was ein Körper alles kann, dann knüpft er damit bei den Stoikern an. Und wenn Nietzsche, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, im Anschluss an Spinoza von einem Willen zur Macht spricht, dann meint er damit vielleicht nicht dasselbe, aber sicherlich etwas ähnliches. Die Macht ist, vieler Missverständnisse zum Trotz, nach Nietzsche nämlich nicht etwas, was man will, sondern etwas, was man hat. Die Dinge werden bei Spinoza (und bei Nietzsche) nicht mehr aufgrund ihrer Nähe zu einer idealen Form oder einem höheren Prinzip wie dem Einen bestimmt, sondern aufgrund ihrer Tendenz, bis an das Ende dessen zu gehen, was ihnen im Hier und Jetzt möglich ist oder was situativ in ihrer Macht liegt.10 Man wird einwenden, »bis an das Ende« definiere immer noch eine Grenze. Aber die Grenze, […], bezeichnet hier nicht mehr das, wodurch 9 In diesem Sinne sollte die Formel der politischen Ökologie nach Latour (2001b) auch nicht sein: »›Beschützen wir die Natur!‹, sondern eine andere, die den ständigen Überraschungen ihrer Praxis sehr viel besser entspricht: ›Niemand weiß, was eine Umwelt vermag…‹« (Latour 2001: 114). 10 Deleuze verzichtet hier, wenn er von Tendenz spricht, bewusst auf die Bezeichnung »conatus«, die in diesem Zusammenhang für gewöhnlich verwendet wird. Für Deleuze suggeriert diese Bezeichnung nämlich fälschlicherweise, dass es die Dinge sind, die sich bemühen, im Sein zu verharren, während jedes Ding für Spinoza die situative Umsetzung seiner ganzen Macht ist: »c’est pour ça que je n’aime pas bien l’idée de conatus, l’idée d’effort, qui ne traduit pas la pensée de Spinoza car ce qu’il appelle un effort pour persévérer dans l’être c’est le fait que j’effectue ma puissance à chaque moment, autant qu’il ait en moi.« (Deleuze 1980) Wenn ein Ding die vollständige, hic et nunc mögliche Umsetzung seiner Macht ist, dann muss sein »Bemühen«, also das, was Spinoza als conatus bezeichnet, auch von dieser Grenze her verstanden werden. Conatus meint dann, dass Macht immer vollständig (ohne Rest), d.h. bis zur Grenze dessen, was hier und jetzt möglich ist, umgesetzt ist. In einem seiner Seminare leitet Deleuze diese

163

DIE REINE IMMANENZ NACH SPINOZA

das Ding unter einem Gesetz festgehalten und begrenzt oder abgetrennt wird, sie bezeichnet vielmehr dasjenige, von dem aus es sich ausbreitet und seine ganze Macht entfaltet. (DW: 61)

Tiere, Dinge, Personen oder Gesellschaften definieren sich univok durch das, was ihnen möglich ist, durch die Macht, die sie haben, nicht durch das, was sie sind.11 Ein Kamel kann lange ohne Wasser bleiben, andere Tiere hingegen nicht. Ein Diamant definiert sich durch seinen Härtegrad, seine Wärmeleitfähigkeit oder seine hohe Lichtbrechung und Dispersion. Ebenso lässt sich eine Person durch das charakterisieren, was sie aushalten kann oder wozu sie fähig ist. Eine Gesellschaft weist schließlich eine Reihe kritischer Punkte auf, die ihr Vermögen, sich zu wandeln oder sich zu erhalten, in den verschiedensten Bereichen sozialen Lebens artikulieren. Jedes Ding kann so durch singuläre oder kritische Punkte bestimmt werden, die die Eigenart und den Grad seiner Macht als individuierenden Faktor festlegen. Wann stößt das Kamel an den Punkt, an dem es nicht mehr ohne Wasser auskommt? Wo liegt der Punkt, an dem ein Diamant trotz seiner Härte geschliffen werden kann? Wann erreicht eine Person den Punkt, an dem sie an ihrem Leid zusammenbricht oder an dem sie sich in ihrer Freude nicht mehr zügeln kann? Wieviel Veränderung kann eine Institution verkraften? An welchem Punkt droht eine gesellschaftliche Situation zu kippen? Alle diese Fragen richten sich nicht nach transzendenten Kriterien, fragen also nicht danach, was ein Ding ist oder in Bezug worauf es beurteilt werden muss, sie richten sich vielmehr nach immanenten Kriterien, fragen danach, was es hier und jetzt kann, d.h. wo, wann, wie oder in welchem Fall es sein Vermögen umsetzt. Überlegung folgendermaßen her: »Chaque chose s’efforce. En latin, s’efforcer ça se dit conor, l’effort ou la tendance, le conatus. Voilà que la limite est définie en fonction d’un effort, et la puissance, c’est la tendance même ou l’effort même en tant qu’il tend vers une limite. Tendre vers une limite, c’est çà la puissance. Concrètement, on vivra comme puissance tout ce qui est saisi sous l’aspect de tendre vers une limite.« (Deleuze 1981) 11 In einem anderen, aber eng damit verbundenen Zusammenhang ist es Gabriel Tarde, der, wie Deleuze betont, »die Bedeutung dieser Mutation völlig erfaßt und den nicht rechtfertigbaren Primat das Verbums sein in Frage gestellt« (FA: 178) hat: »Bisher basiert die ganze Philosophie auf dem Verb sein, dessen Definition als Stein der Weisen erschien. Man kann zu Recht behaupten, dass viele unfruchtbare Debatten, viel geistiges Füßestampfen hätten vermieden werden können, wenn sie stattdessen auf dem Verb haben begründet worden wäre. Ich bin – von diesem nichtteilbaren Prinzip kann man trotz größter Subtilität keine andere Existenz als die meine deduzieren; daher auch die Negation der äußeren Wirklichkeit. Aber wenn wir das Postulat Ich habe als grundlegende Tatsache an den Anfang stellen, so ist das gehabt und das habend [l’eu et l’ayant] damit untrennbar verbunden.« (T|MS: 88)

164

4.2 Affektionen und Affekte oder: Was vermag ein Körper? Deleuze nähert sich Spinoza in einer Art und Weise, die den Normen der Philosophiegeschichte weit mehr gerecht wird als die unkonventionelle Vorgehensweise, die er anderen Autoren zuteilwerden lässt. Nichtsdestotrotz ist es ein ganz bestimmtes Element im Denken von Spinoza, das Deleuze auf originelle Weise hervorhebt und für sein eigenes Denken fruchtbar macht: den Körper. Mit dem Körper bietet Spinoza der Philosophie nämlich ein neues Modell an. Dabei geht es freilich nicht darum, dem Körper der Seele gegenüber (oder die Seele dem Körper gegenüber) irgendeinen Vorrang zuzusprechen. Jede derartige Überhöhung des einen über das andere muss nämlich im Hinblick auf Spinozas Substanzmonismus und dem daraus folgenden Parallelismus von Geist und Materie, Seele und Körper, kategorisch ausgeschlossen werden: Es gibt keine Eminenz einer Reihe über die andere – das Sein ist univok. Körper und Geist sind also »ein und dasselbe Ding […], das bald unter dem Attribut des Denkens, bald unter dem der Ausdehnung begriffen wird.« Und daraus folgt, dass »die Ordnung der Handlungen und Leiden unseres Körpers von Natur aus der Ordnung der Handlungen und Leiden unseres Geistes genau entspricht.« (S|E: IIIp2s) Der Geist ist nicht das, was dem Körper als Bewusstsein gebieterisch oder gesetzgebend (im Sinne von Kant) hinzukommt. Vielmehr ist »das, was in der Seele Tätigkeit (action) darstellt, notwendigerweise auch im Körper Tätigkeit; das, was im Körper Leidenschaft (passion) ist, stellt notwendigerweise auch in der Seele Leidenschaft dar« (S: 28). Das heißt, die Ordnung des Körpers ist jener des Geistes nicht äußerlich (von daher ist es auch unnötig, eine Zusammenstimmung zwischen beiden Vermögen im Bewusstsein zu postulieren). Wenn Spinoza auf den Körper verweist, dann aus folgendem Grund. Die zentrale Stelle, auf die sich Deleuze bezieht, um diesen Grund aufzuspüren, findet sich in einer Anmerkung im dritten Teil der Ethik. Darin erklärt Spinoza, dass wir überhaupt »nicht wissen, was der Körper vermag« (S|E: IIIp2s). Wie sich noch zeigen wird, ist es diese Unwissenheitserklärung, die, obwohl sie im Text eher als Provokation verstanden wird, die Leseart, die Deleuze Spinoza zuteilwerden lässt, von Grund auf ausrichtet. Zunächst soll damit jedenfalls aufgezeigt werden, dass der Körper die Erkenntnis, die man von ihm hat, übersteigt, ebenso wie, dem Leitsatz des Parallelismus folgend, das Denken nicht auf das Bewusstsein, das man davon hat, reduziert werden kann.12 12 Vgl. hierzu die Diskussion um die problematische Unterscheidung zwischen einem epistemologischen und einem ontologischen Parallelismus in der Spinoza-Rezeption von Deleuze bei Michael Hardt (1993).

165

DIE REINE IMMANENZ NACH SPINOZA

Es gibt ebensoviele Dinge im Geist, die über unser Bewußtsein hinausgehen, wie Dinge im Körper, die über unsere Erkenntnis hinausgehen. Wir gelangen also nach Möglichkeit durch eine einzige und gleiche Bewegung dahin, das Vermögen des Körpers jenseits der von unserer Erkenntnis gegebenen Bedingungen und das Vermögen des Geistes jenseits der von unserem Bewußtsein gegebenen Bedingungen zu erfassen. (S: 28)

Wenn Spinoza also davon spricht, dass wir nicht wissen, was der Körper alles vermag, dann ist damit das Unbewusste des Denkens ebenso wie das Unbekannte des Körpers gemeint. Die Dinge, die weder auf den (organisierten) Körper noch auf das (zentrierte) Bewusstsein zurückzuführen sind, die also ein Element der Unbestimmtheit einführen, eröffnen, so kann hier bereits festgehalten werden, »die gelebte Realität eines subrepräsentativen Gebiets« (DW: 98), d.h. ein transzendentales Feld ohne Subjekt oder: eine Immanenzebene, die nicht mehr etwas anderem als sich selbst immanent ist. Das Unbestimmte verweist auf Begegnungen (occursus), in denen die Macht (puissance) eines Wesens situativ zum Ausdruck kommt. Was ein Körper (oder ein Bewusstsein) in diesen Begegnungen kann, ist vorher nicht zu wissen, hängt also davon ab, auf welche Art und Weise dieser (oder dieses) seine Macht hier und jetzt umzusetzen vermag. Wenn der Körper zum Modell genommen wird, dann deshalb, weil die Untersuchung, die Machtgrade feststellt, von materiellen kontingenten Begegnungen zwischen Körpern ausgeht, in denen Macht immer nur in situ zum Ausdruck kommen kann. Was ein Körper alles kann, kommt in den Begegnungen, die er macht, vollständig zum Ausdruckt. Das Modell des Körpers wird damit zur Schnittstelle einer komplexen Ontologie. Um zu sehen, wie sich das univoke Sein in ein und derselben Weise von allem aussagt, was ist, das, was ist, aber differiert, also intensive Differenz ist, muss der Begriff des Körpers nun näher betrachten werden. Die Macht eines Körpers wird in erster Linie durch die Eigenart seiner Zusammensetzung bestimmt. In anderen Worten: Das, was ein Körper alles kann, hängt zunächst vom Bau bzw. von der Struktur ab, die ihm zu eigen ist. Denn was der Körper alles vermag, »hat bis jetzt noch niemand festgestellt; […] niemand hat bis jetzt den Bau des Körpers [corporis fabricam] so genau kennengelernt, daß er alle seine Funktionen erklären könnte.« (S|E: IIIp2) Dabei kann ein Körper Deleuze zufolge »alles mögliche sein, es kann ein Tier sein, ein Klangkörper, es kann eine Seele oder eine Idee sein, es kann ein Textcorpus sein, ein sozialer Körper, ein Kollektiv sein« (S: 165). In jedem Fall definiert sich ein Körper durch den charakteristischen Zusammenhang, der unendlich viele extensive Teilchen dazu bestimmt, ihm vorübergehend in einer individuellen Form anzugehören.13 In diesem Sinne kann ein Körper als Mannigfal13 Dem Parallelismus entsprechend ist »auch die Seele, als Idee eines existierenden Körpers, […] aus einer großen Zahl von Ideen zusammengesetzt, die

166

AFFEKTIONEN UND AFFEKTE ODER: WAS VERMAG EIN KÖRPER?

tigkeit aktual unendlicher Gesamtheiten charakterisiert werden. In der Ausdehnung geht ein Körper in die Existenz über, wenn unendlich viele extensive Teile in diesen Zusammenhang eintreten; er existiert weiterhin, solange dieser Zusammenhang in Kraft bleibt. In abgestuften Zusammenhängen also gruppieren sich die extensiven Teile zu verschiedenartigen Gesamtheiten, die verschiedenen Graden an Vermögen entsprechen. Extensive Teile bilden eine mehr oder weniger große unendliche Gesamtheit, insoweit sie in diesen oder jenen Zusammenhang eintreten; in solchem Zusammenhang entsprechen sie einem gewissem modalen Wesen und setzen die Existenz dieses Modus selbst zusammen; in einem anderen Zusammenhang sind sie Teil einer anderen Gesamtheit, entsprechen einem anderen modalen Wesen, setzen die Existenz eines anderen Modus zusammen. (PA: 183)

Das bedeutet, dass, selbst wenn die einfachen Teilchen (corporibus simplicissimis), die sich in einem individuellen Körper verschachteln und ihn so in seiner konkreten Existenz zusammensetzen, sich in jedem Augenblick erneuern, er doch derselbe bleibt, da seine Existenz durch einen charakteristischen Zusammenhang definiert wird, der jeden Austausch überdauert – der menschliche Körper erneuert seine Zellen zum Beispiel alle paar Jahre. Es wäre also falsch, diese Teilchen als fertige Bausteine zu begreifen, aus denen sich der Körper additiv zusammensetzt. Obgleich sie sein Wesen in der Existenz umsetzen, ist es doch der spezifische Zusammenhang selbst, der, indem er diese Teilchen als aktuale Unendlichkeiten wechselseitig aufeinander bezieht, die Eigenart des Körpers konstituiert. Der charakteristische Zusammenhang muss somit, gerade weil er die Teilchen als Hier-und-Jetzt zusammensetzt, als Haecceitas verstanden werden. Die einfachen Teilchen haben auch keine Form, von der aus ihre Beziehungen im Voraus, also vor ihrer Zusammensetzung, zu bestimmen sind, sondern unterscheiden sich rein äußerlich voneinander und vermengen sich dementsprechend auch nur aufgrund äußerlicher Beziehungen.14 Spinoza definiert Beziehungen, die den charakteristischen Zusammenhang den Teilkomponenten des Körpers entsprechen, und die sich äußerlich unterscheiden. Darüber hinaus sind die Fähigkeiten, welche die Seele als Idee eines existierenden Körpers besitzt, tatsächlich extensive Teile, die der Seele nicht mehr angehören, sobald der Körper selbst zu existieren aufhört.« (PA: 177 f.) 14 »Wenn einige Körper gleicher oder verschiedener Größe von anderen so zusammengedrängt werden, daß sie aneinander liegen oder daß sie, wenn sie sich mit gleicher oder verschiedener Schnelligkeit bewegen, einander ihre Bewegungen in irgendeinder bestimmten Weise mitteilen, so sagen wir, daß alle miteinander einen Körper oder ein Individuum bilden, das sich von den der übrigen durch diese Einheit der Körper unterscheidet.« (S|E: IIp13lem3ax2d)

167

DIE REINE IMMANENZ NACH SPINOZA

eines Körpers hic et nunc zusammensetzen, als Verhältnisse von Ruhe und Bewegung oder von Langsamkeit und Schnelligkeit. Spinoza ist ganz radikal vorgegangen, er wollte zu Elementen gelangen, die keine Form und keine Funktion mehr haben, die in diesem Sinne also abstrakt sind, obwohl sie völlig real sind. Sie unterscheiden sich nur durch Bewegung und Ruhe, Langsamkeit und Schnelligkeit. Sie sind keine Atome, das heißt endliche, noch mit einer Form ausgestattete Elemente. Sie sind auch keine unendlich teilbaren Teilchen. Sie sind die letzten, unendlich kleinen Teile eines bestehenden Unendlichen. (TP: 346)

Entscheidend hierbei ist, dass ein Körper nicht (analog) durch eine Form oder Funktion definiert wird, sondern durch die Gesamtheit der Verhältnisse von Schnelligkeit und Langsamkeit, Ruhe und Bewegung »zwischen nicht-geformten Elementen« (S: 161), d.h. zwischen einfachen Teilchen, Partikeln, Korpuskeln oder Molekülen, die ihn erst in dieser oder jener (akzidentiellen) Form, dieser oder jener (akzidentiellen) Funktion unterhalb der repräsentativen Ebene zusammensetzen. Die Funktion ebenso wie die »spezifische Form und der Entwicklungsverlauf einer Form hängen von diesen Verhältnissen ab, nicht umgekehrt« (ebd.). In diesem Sinne kann, wenn man so will, von einer spinozistischen Umkehrung gesprochen werden. Im Unterschied zu anderen Interpreten von Spinoza begreift Deleuze das Verhältnis von Ruhe und Bewegung, Schnelligkeit und Langsamkeit, dabei als »komplexes Verhältnis zwischen Differentialgeschwindigkeiten« (ebd.: 160).15 Ein Beispiel, das Deleuze in diesem Zusammenhang sowohl in Differenz und Wiederholung als auch in Tausend Plateaus heranzieht, ist die Auseinandersetzung zwischen Georges Cuvier und Étienne Geoffroy Saint-Hilaire im Bereich der vergleichenden Anatomie des frühen neunzehnten Jahrhunderts. Bereits seit Aristoteles ging die vergleichende Anatomie davon aus, dass ein bestimmtes Organ ausgehend von der Funktion bestimmt werden muss, die es in einem umfassenden Organismus einnimmt oder durch die es in Bezug auf diesen repräsentiert werden kann. Gerade diese Vorgehensweise erlaubt es auch, taxonomische Klassifizierungen anhand von Analogiebeziehungen zu begründen. Daran hält auch Cuvier fest, wenn er Organe mittels funktionaler Differenzierung des Organismus 15 Martial Guéroult etwa, dessen Studien zu Spinoza aber auch zu Leibniz oder Maimon besonders wichtig für Deleuze waren, begreift das Verhältnis von Ruhe und Bewegung, durch das sich ein Körper in seiner Individualität auszeichnet, im Sinne einer Vibration: »une façon de vibrer qui lui soit spéciale et dont la formule, qui caractérise sa singularité, demeure invariable quelle que soit l’amplitude de cette vibration, quel que soit le transport de ce corps selon toutes les vitesses et dans toutes les directions, même quand un choc vient interrompre sa translation ou changer la vitesse de celle-ci.« (Guéroult 1974: 159)

168

AFFEKTIONEN UND AFFEKTE ODER: WAS VERMAG EIN KÖRPER?

definiert. Indem er Organe so aber durch die Funktion bestimmt, die diese aufweisen, stützt Cuvier seine Erklärung auf evolutionäre Resultate und bleibt folglich »bei einer empirischen Aufteilung von Differenzen und Ähnlichkeiten« (DW: 236) stehen, die, insofern sie über Analogieverhältnisse verfährt, die Form des Selben als Bezugsrahmen setzt und das Problem der Genese damit von vornherein überschattet. So werden die Flossen eines Fisches und die Arme eines Menschen in teleologischer Manier allein aufgrund ihrer funktionalen Differenzen (Schwimmen, Greifen) kategorisch voneinander getrennt, obgleich homologe Merkmale zwischen beiden ja immer eine gemeinsame evolutionäre Abstammung nahelegen – aus Flossen wurden Arme. Das heißt, Flossen und Arme werden als Analoga repräsentiert, insofern das, was Flossen für den Fisch sind, Arme für den Menschen sind (Analogie der Proportion). Durch diese analogische Einschreibung beider Organe in das große, repräsentationslogische Buch der Natur, wird ihre genetische, evolutionäre Abstammungslinie übersehen. Im Gegensatz dazu verweist Deleuze nun auf Geoffroy Saint-Hilaire: Die Sichtweise von Geoffroy ist ganz anders, denn er geht von Organen und Funktionen zu abstrakten Elementen über, die er »anatomisch« nennt, oder sogar zu Partikeln, zu reinen Materialien, die je nach ihrem Grad an Schnelligkeit oder Langsamkeit in verschiedene Kombinationen geraten, ein bestimmtes Organ bilden und eine bestimmte Funktion übernehmen. Schnelligkeit und Langsamkeit, Bewegung und Ruhe, Verzögerung und Beschleunigung sind nicht nur Strukturformen, sondern auch Entwicklungstypen untergeordnet. (TP: 347)

Im Unterschied zu Cuvier erkennt Geoffroy die Bedeutung homologer Merkmale für eine biologischen Systematik. Anstatt einen Körper durch die Form oder Funktionen seiner Teile zu definieren, interessiert sich Geoffroy für die Eigenart der Beziehungen, die zwischen diesen Teilen zu finden sind. Damit ist Geoffroy auch in der Lage, die funktionale Variation homologer Strukturen in heterogenen Organismen zu erklären (z.B. wie aus Flossen Arme werden) und somit bereits zentrale Einsichten der Evolutionstheorie vorwegzunehmen. Mehr noch: Es sind auch nicht mehr empirische Resultate, d.h. bereits geformte Organe (z.B. Flossen, Flügel oder Arme) die hier als »Teile« berücksichtig werden. Geoffroy geht vielmehr von einfachen Teilchen, von rein anatomischen, ungeformten Elementen aus, die sich in differentiellen Verhältnissen wechselseitig bestimmen, um, den daraus resultierenden Verhältnisvariationen entsprechend, in verschiedenen empirischen Resultaten, also in verschiedenen Organen und Funktionen, aktualisiert zu werden (man muss die Flügel nur so lange biegen, strecken und falten, bis daraus Arme werden: die Unterschiede sind fließend, nicht kategorisch). 169

DIE REINE IMMANENZ NACH SPINOZA

Geoffroy träumt davon, »der Newton des unendlich Kleinen zu sein, unterhalb des plumpen Spiels von sinnlich wahrnehmbaren und begrifflichen Differenzen oder Ähnlichkeiten die ›Welt der Einzelheiten‹ oder der idealen Bindungen ›mit ganz kurzer Entfernung‹ zu entdecken« (DW: 236). In diesem Sinne werden beispielsweise Knöchelchen als rein anatomische Elemente oder Teilchen begriffen, die, aufgrund ihrer wechselseitigen Bestimmung, homologe Knochenstrukturen in verschiedenen Tieren ausprägen. »So hat etwa das Zungenbein der Katze neun Knöchelchen, während das des Menschen nur aus fünf besteht, wobei die vier anderen zum Schädel hin verlagert sind, außerhalb des Organs, das somit durch die aufrechte Haltung reduziert wurde.« (ebd.: 236) Mensch und Katze sind insofern »Falten […] eines selben Tieres« (FA: 23). Ebenso lässt sich an homologen Handknochen bei verschiedenen Säugetieren gut erkennen, inwieweit bestimmte Elemente im Verhältnis zu anderen in ihrer Entwicklung verzögert, verlangsamt oder angehalten aber auch beschleunigt, übereilt oder überstürzt werden und wie diese Variationen oder Differentialgeschwindigkeiten schließlich in verschiedene, akzidentielle Formen resultieren. Was zählt, sind also nicht die finalen Formen (Hand, Flügel, Flossen), die Knöchelchen schlussendlich annehmen (dabei würde es sich, um mit Bergson zu sprechen, um eine retrospektive Illusion handeln), sondern die intensiven Beziehungen, durch die diese Knöchelchen als (noch) ungeformte Elemente aufeinander verwiesen, um sich, den Umständen entsprechend, durch Variation (oder Faltung) in unterschiedlichen Tieren auf singuläre Art und Weise zu aktualisieren. Es stimmt zwar, dass diese Knöchelchen bei Geoffroy »noch eine aktuelle, eine allzu aktuelle Existenz besitzen« (DW: 237), da sie nur für sich selbst betrachtet werden, ohne zu berücksichtigen, inwiefern ihre Variationen zum Beispiel durch andere Faktoren wie »die Notwendigkeit der Muskeln« (ebd.) begrenzt und modifiziert werden. Das heißt, an den ungeformten Elementen haftet noch ein Rest aktueller Form, weshalb diese Elemente (noch) nicht vollständig als virtuelle Kräfte in differentiellen Beziehungen aufgehen.16 Dennoch zeigt sich daran, dass die 16 Eine gänzlich neue, über Geoffroy hinausweisende Bestimmung differentieller Elemente und idealer Verbindungen zwischen diesen repräsentiert die Genetik. »Die Chromosomen erscheinen als loci, d.h. nicht bloß als Orte im Raum, sondern als Komplexe von Nachbarschaftsverhältnissen; und die Gene drücken differentielle Elemente aus, die ebensogut einen Organismus auf globale Weise kennzeichnen und die Rolle von ausgezeichneten Punkten in einem doppelten Prozeß von reziproker und durchgängiger Bestimmung übernehmen; der doppelte Aspekt des Gens liegt in der Steuerung mehrerer Merkmale zugleich und darin, daß es nur im Verhältnis mit anderen Genen wirksam wird; die Gesamtheit bildet ein Virtuelles, ein Potential; und diese Struktur verkörpert sich in den aktuellen Organismen, hinsichtlich ihrer Spezifikation ebenso wie hinsichtlich der Differenzierung ihrer Teile, und

170

AFFEKTIONEN UND AFFEKTE ODER: WAS VERMAG EIN KÖRPER?

Individuation der verschiedenen Tierarten nicht auf den Platz verweist, den diese durch Analogieurteil in einer allgemeinen Taxonomie zugewiesen bekommen, sondern auf die konkreten differentiellen Beziehungen zwischen ungeformten Elementen, d.h. auf die intensive Variation oder Faltung einer modalen Materie, die in allen Tierarten – wie die Abstufungen des Weiß – auf differenzierte Art und Weise zum Ausdruck kommt.17 Die Genese der verschiedenen Organismen muss folglich als Aktualisierung »eines allen Tieren gemeinsamen Möglichen« (ebd.) begriffen werden, »wie sie sich gemäß milieubestimmten verschiedenartigen Geschwindigkeiten und Gründen ergibt, gemäß den Beschleunigungen oder Stockungen« (ebd.: 236) einer intensiven und aleatorischen Welt von Begegnungen. Anatomische Elemente können hier oder dort durch molekulare Erschütterung, durch den Einfluß der Umgebung oder Druck durch den Nachbarn aufgehalten oder gehemmt werden, so daß sie nicht einmal mehr dieselben Organe bilden. Die formalen Beziehungen oder Verbindungen müssen dann in ganz anderen Formen und Anordnungen hergestellt werden. Es ist dennoch dasselbe abstrakte Tier, das sich in der gesamten Schicht auf unterschiedlichen Stufen und auf unterschiedliche Art und Weise entwickelt. Und es ist jeweils so vollkommen, wie es im Zusammenhang mit seiner Umgebung und seiner Umwelt nur sein kann. (TP: 68)

Dabei handelt es sich jedoch noch nicht um Evolution, da die verschiedenen Beschleunigungs- oder Verzögerungsquotienten der anatomischen Elemente untereinander bei Geoffroy nur unterschiedliche Entwicklungsstufen eines universellen Begriffs ausdrücken. Dagegen besteht die große Neuerung der Evolutionstheorie Deleuze und Guattari zufolge darin, diese Entwicklungsstufen an lauter differentielle Beziehungen zwischen materiellen Prozessen – »wie etwa dem selektiven Druck, der katalytischen Aktivität, dem Tempo der Vermehrung, den Wachstumsquotienten, der Evolution, der Mutation etc.« (ebd.: 71) – zu knüpfen und die Idee von ursprünglichen, universellen Formtypen durch die von Populationen zu ersetzen – eine bestimmte Art ist dann der statistische Begriff, die kontingente Wirkung oder das zufällige Resultat materieller Prozesse und eng miteinander verstrickter Ereignisse (ein Trugbild). Kommen wir damit aber wieder auf Spinoza zurück. Ein Körper darf nach Spinoza »weder durch seine Form, noch durch seine Organe und Funktionen, noch als Substanz oder Subjekt« (S: 160) definiert werden. zwar den Rhythmen entsprechend, die man eben ›differentiell‹ nennt, der vergleichsweisen Schnelligkeit oder Langsamkeit entsprechend, die die Bewegung der Aktualisierung bemessen.« (DW: 237) 17 Vgl. dazu die umsichtige Studie von Kerstin Andermann (2020) zu Spinozas Individuationsbegriff.

171

DIE REINE IMMANENZ NACH SPINOZA

Damit muss jeder substanzialistische Individuationsbegriff und jeder Rekurs auf eine transzendente Referenz- oder Analogieebene verabschiedet werden. Ein Körper darf auf der Immanenzebene nur »durch die Gesamtheit von materiellen Elementen unter bestimmten Verhältnissen von Bewegung und Ruhe, von Schnelligkeit und Langsamkeit« (TP: 354) definiert werden. Allerdings gibt Spinoza noch eine zweite Definition des Körpers. Wie wir wissen, besitzt ein Körper in Wirklichkeit eine sehr große Zahl an Teilen. Nun bringt es die extensive Natur der Teile mit sich, daß sie sich untereinander ins Unendliche »affizieren«. Daraus schließt man, daß der existierende Modus auf vielfache Weise affiziert ist. Spinoza geht von den Teilen zu deren Affektionen, von deren Affektionen zu den Affektionen des ganzen existierenden Modus. Die extensiven Teile gehören einem Modus nur in einem bestimmten Zusammenhang an. Auch werden die Affektionen eines Modus abhängig von einem bestimmten Affiziertseinkönnen ausgesagt. Ein Pferd, ein Fisch, ein Mensch oder selbst zwei Menschen haben, miteinander verglichen, nicht dasselbe Affiziertseinkönnen: sie werden nicht durch dieselben Dinge affiziert, oder werden durch dasselbe Ding nicht auf dieselbe Weise affiziert. (PA: 191)

Da extensive Teilchen stets in Bewegung sind, treffen sie kontinuierlich auf extensive Teilchen anderer Körper, deren Tätigkeit sie erleiden. So können die extensiven Teilchen der Haut tagsüber nicht von den extensiven Teilchen der Sonne getrennt werden. Dabei kann es unter Umständen und den jeweiligen differentiellen Verhältnissen entsprechend (z.B. das Verhältnis zwischen der Erythemschwellendosis und der Wellenlänge der ultravioletten Strahlung) dazu kommen, dass die Haut Verbrennungen erleidet. Es kann allerdings auch vorkommen, dass zwei Menschen die Wirkung der Sonne auf verschiedene Art und Weise erleiden oder insofern auch unterschiedlich von dieser affiziert werden. Als Affektion wird somit nichts anderes als die Wirkung verstanden, die ein Körper auf einen anderen hat (oder nicht hat), sofern diese Körper in einer Begegnung aufeinandertreffen: Aleatorische Begegnungen implizieren also stets Affektionen zwischen heterogenen Körpern. Zwei verschiedene Körper unterliegen aber niemals denselben Affektionen, werden nicht auf dieselbe Art und Weise bewegt, angetrieben, mitgerissen oder beflügelt. Aus diesem Grund kann die Untersuchung auch nicht von Universalien, Gattungen oder Arten ausgehen, sondern muss fallgerechte Begriffe schaffen, Begriffe, die Spinoza als Gemeinbegriffe bezeichnet.18 18 Die schiere Unmöglichkeit, hier auf Verallgemeinerungen und Pauschalurteile zurückzugreifen, erklärt Spinoza folgendermaßen: »Alle Arten, auf die ein Körper von einem anderen Körper affiziert wird, folgen aus der Natur des affizierenden Körpers und zugleich aus der Natur des affizierenden Körpers, so daß ein und derselbe Körper auf verschiedene Weise bewegt wird,

172

AFFEKTIONEN UND AFFEKTE ODER: WAS VERMAG EIN KÖRPER?

Wir haben gesehen, dass Spinoza die Frage, was ein Körper alles vermag, an die Frage knüpft, was die Struktur (Fabrica) des Körpers ist. Wenn nun die Struktur des Körpers durch den charakteristischen Zusammenhang definiert wird, durch welchen einem Körper unendlich viele extensive Teilchen in bestimmten Verhältnissen von Ruhe und Bewegung angehören, dann wird das, was der Körper vermag, durch seine Macht, affiziert zu werden und zu affizieren definiert: Dem charakteristischen Zusammenhang eines Körpers korrespondiert also immer ein entsprechendes Affiziertseinkönnen. Das heißt, die Beziehungen, die einen Körper in extensiver Hinsicht zusammensetzen, implizieren in intensiver Hinsicht sein Affiziertseinkönnen und damit einen singulären Machtgrad. Daraus ergibt sich nach Deleuze auch schon die Kartographie des Körpers: Der Längengrad (Longitudo) umfasst die materielle Zusammensetzung, also die differentiellen Verhältnisse (Ruhe und Bewegung) zwischen ungeformten Elementen; der Breitengrad (Latitudo) umfasst die korrespondierende Macht, also ein bestimmtes Affiziertseinkönnen (intensiver Zustand), das in einem individuierten Gefüge in situ umgesetzt wird. Die Macht, affiziert zu werden, bezeichnet demnach alles andere als eine Schwäche. Ganz im Gegenteil, »das Affiziertseinkönnen wird als Geeignetheit eines Körpers definiert, zu leiden ebensowohl wie zu wirken« (PA: 195). Diese Geeignetheit (aptitudo) »ist dem Menschen nützlich und um so nützlicher, ja fähiger der Körper dadurch gemacht wird, auf viele Weisen affiziert zu werden und andere Körper zu affizieren« (S|E: IVp38). Je mehr es uns also gelingt, auf vielfältige Weise affiziert zu werden, je höher wird auch unsere Lebensintensität sein: unsere Macht am Leben zu sein.19 Daraus folgt ein zentraler Grundsatz für Spinozas Ontologie: »Etwas hat umso mehr Realität oder Vollkommenheit, auf je vielfältigere Weise es affiziert werden kann: die Quantität an Realität hat ihren Grund immer in einem dem Wesen identischen Vermögen« (PA: 85), in einer dem Wesen identischen Macht: Macht und Wesen eines jeden Dinges sind identisch. Ein Körper ist das, was er tut – er tut aber ausschließlich das, was er hier und jetzt zu tun vermag (Possest). je nach der Verschiedenheit der Natur der bewegenden Körper, und umgekehrt, daß verschiedene Körper von ein und demselben Körper auf verschiedene Weise bewegt werden.« (S|E: IIp13dem) Dieser Relationalismus oder Perspektivismus verbindet Spinoza mit Nietzsche. 19 Michael Hardt drückt dies folgendermaßen aus: »The most powerful is not the one least affected but, on the contrary, the one affected the most and in the most ways. The more you are affected in many ways, the more alive you are, and to the extent you cease to be affected, to the extent you close off from the world, that much you die. Deleuze thus reads in Spinoza a correspondence or equivalence between our power to act and our power to be affected. […] Deleuze aims to recognize here not really an identity but an equivalence between the two powers: to affect and to be affected.« (Hardt 2014: 217 f.)

173

DIE REINE IMMANENZ NACH SPINOZA

Ein Körper wird also weder durch seine Form noch durch seine Organe oder Funktionen definiert, sondern durch seinen charakteristischen Zusammenhang, sowie der Macht, affiziert zu werden, die diesem Zusammenhang korrespondiert. Damit ändert sich einiges. Ausgangspunkt ist nicht mehr ein Sein, das als äquivokes oder analoges Sein konzipiert wird, sondern ein univokes Sein, das sich in ein und demselben Sinne von allen individuierenden Differenzen aussagt. Ein Ding wird, dem Modell des Körpers entsprechend, beispielsweise nicht mehr durch den Platz definiert, den es in der repräsentativen Ordnung einer allgemeinen Taxonomie einnimmt, sondern durch das, »was das Ding affiziert oder von ihm affiziert wird, was sich bewegt oder durch das Ding bewegt wird« (S: 163). Es geht nicht mehr darum, ein Ding auf eine übergeordnete oder transzendente Ebene zu reduzieren, sondern darum, zu sehen, wie ein Ding einem anderen Ding begegnet, wie sie sich auf einer immanenten Ebene kreuzen. Bei einem bestimmen Tier muss beispielsweise danach gefragt werden, vorauf es, seinem Milieu entsprechend, positiv oder negativ reagiert, was ihm gleichgültig oder wichtig ist, wer seine Verbündeten oder seine Feinde sind und vor allem: wodurch seine Macht vermindert, verlangsamt oder auf ein Minimum reduziert wird und wodurch sie vermehrt, beschleunigt und auf ein Maximum gesteigert wird. Demnach ist kein Tier, kein Ding jemals zu trennen von seinen Beziehungen zur Welt: das Innere ist nur ein selektiertes Äußeres, das Äußere ein projiziertes Inneres; Schnelligkeit oder Langsamkeit der Metabolismen, Wahrnehmungen, Aktionen und Reaktionen verketten sich, um solch ein Individuum in der Welt zu konstituieren. (S: 163)

Das Wesen der Dinge wird durch ihre Macht, affiziert zu werden, definiert, »durch die Affektionen, deren sie fähig sind, und die Reize, auf die sie reagieren, diejenigen, die ihnen gleichgültig sind, und diejenigen, die ihre Macht übersteigen und sie krank machen oder sterben lassen (ebd.: 61). Der animalische, menschliche oder soziale Körper ist durch ein Gefüge heterogener Umweltbeziehungen zu bestimmen, in denen sein ganzes Affiziertseinkönnen hic et nunc zum Ausdruck kommt. Mit den Organen, Funktionen, Formen und Verhaltensweisen eines Tieres (oder eines jeden anderen Körpers) kommen durch die Macht, auf vielfältige Weise affiziert zu werden, also immer auch die Eigenart und die Vielzahlt der Beziehungen zum Ausdruck, die das Tier mit einer Umwelt verbünden, und damit den Ausdruck seiner Macht situativ differenzieren (das Innere als selektiertes Äußeres). Das wahre philosophische Tier ist in dieser Hinsicht die Zecke. Deleuze bezieht sich dabei auf einen fernen Nachfolger von Spinoza, Jakob Johann von Uexküll, der in seiner Ethologie die Welt der Zecke nur durch drei Affekte definiert:

174

AFFEKTIONEN UND AFFEKTE ODER: WAS VERMAG EIN KÖRPER?

der erste, lichtbedingt (auf einen Zweig klettern); der zweite durch den Geruch (sich auf das Säugetier, das unter dem Zweig vorbeigeht, fallen lassen); der dritte durch Wärme (die Stelle, die ohne Behaarung und am wärmsten ist, aufsuchen). Eine Welt mit nur drei Affekten für alles, was im riesigen Walde vor sich geht. Eine optimale und eine unterste Schwelle in der Macht, affiziert zu werden: die gesättigte Zecke, die sterben wird, und die Zecke, die sehr lange hungern kann. (S: 162)

Die Zecke als bloß dreidimensionale Mannigfaltigkeit »und doch welches Vermögen« (D: 88)! Es gibt insofern nur mehr eine Frage, die es Wert ist, gestellt zu werden: Was vermag ein Körper, worin liegt seine Macht, affiziert zu werden? Alles, was zählt, ist die Macht eines Körpers, hier und jetzt affiziert zu werden: seine Beziehungen zur Welt, nicht die Universalien, Klassen, Gattungen oder Arten, die ihm durch Spezifikation und Qualifikation zugesprochen werden. Zum Beispiel gibt es in dieser Hinsicht zwischen einem Rennpferd und einem Arbeitspferd einen größeren Unterschied als zwischen einem Ochsen und einem Arbeitspferd, da erstere, obwohl sie derselben Art angehören, nicht über dieselbe Macht verfügen, affiziert zu werden (z.B. hinsichtlich der Belastungen und der damit einhergehenden Krankheiten), und damit auch nicht über dieselben Beziehungen zur Welt. Da ein Arbeitspferd und ein Ochse aber in dasselbe Gefüge und dieselben Beziehungen eingebunden sind, wird ihre Macht, affiziert zu werden, auf homologe Weise auf die Probe gestellt oder umgesetzt und kommt so auch in nahezu übereinstimmenden Existenzweisen zum Ausdruck. Was ein Körper ist, sein Sein, wird ausschließlich durch die Macht bestimmt, die er in seinem Gefüge und den milieuspezifischen Begegnungen, die diesem entsprechen, umzusetzen vermag: Ontologie wird hier zu einer Ethik oder Ethologie und die Philosophie damit »zur Kunst eines Funktionszusammenhangs, eines Gefüges« (ebd.: 90) heterogener Machtverhältnisse.20 20 Martin Saar bemerkt richtig, dass Deleuze es mit seiner Spinoza-Lektüre schafft, »dem im Entstehen begriffenen Poststrukturalismus die Erinnerung an die Ontologie des 17. Jahrhunderts ins Programm« (Saar 2013: 8) zu schreiben. In diesem Sinne erklärt Deleuze auch, er habe sich nie darum gekümmert, über die Metaphysik hinauszugehen. »Mich hat die Überwindung der Metaphysik oder der Tod der Philosophie nie berührt, der Verzicht auf das Ganze, die Einheit, das Subjekt, ich habe nie ein Drama daraus gemacht. Ich habe nie mit einer Art von Empirismus gebrochen, der zu einer direkten Darlegung der Begriffe schreitet. Ich bin nie durch die Struktur hindurchgegangen, auch nicht durch die Linguistik oder die Psychoanalyse, die Wissenschaft und nicht einmal die Geschichte, weil ich glaube, daß die Philosophie ihr Rohmaterial hat, das ihr erlaubt, Beziehungen nach außen, mit diesen anderen Disziplinen anzuknüpfen, Beziehungen, die daher um so notwendiger sind.« (U: 129)

175

DIE REINE IMMANENZ NACH SPINOZA

Mit Spinoza eliminiert Deleuze also nicht nur die Transzendenz, sondern auch den moralischen Unterton im klassischen Bild des Denkens. Wie Daniel Smith (2012: 41) betont, verbindet Deleuze den Begriff der Moral grundsätzlich mit dem der Wesenheit und die damit einhergehende analogische Konzeption des Seins. Bei Aristoteles wird das Wesen des Menschen beispielsweise als rationales Tier spezifiziert. Wenn der Mensch dennoch irrational agiert, dann, so die Überlegung, weil ihn Akzidentien von seinem Wesen, das ihm als zu realisierendes Potential innewohnt, abweichen lassen. Moral kann demnach als das definiert werden, was den Menschen leitet, wenn er versucht, seinem Wesen zu entsprechen, sein ihm wesentlich innewohnendes Potential zu realisieren und insofern »richtig« Mensch zu sein. Man sieht, dass diese moralische Sichtweise nach transzendenten Kriterien verfährt, dass der Mensch da­ rin vor Gericht steht und dementsprechend gerichtet wird. Im Unterschied dazu stehen Seiende in einer Ethik, wie Bruce Baugh (2003) erklärt, nicht aufgrund ihrer Wesenheit in einer Beziehung zum Sein, sondern aufgrund ihrer Existenz. Eine Ethik definiert den Menschen nicht durch das, was er seinem Wesen nach ist und seiner Existenz nach sein soll, sondern durch das, was er seiner Macht nach kann. Insofern Macht immer umgesetzt, also niemals ein unrealisiertes Potential, sondern immer Tätigkeit ist, besteht die Frage nicht mehr darin, was man tun muss, um sein Wesen zu realisieren, sondern darin, was man durch seine Macht hier und jetzt tun kann. Daraus ergibt sich auch ein zentrales politisches Problem: Unter welchen Bedingungen kann man seine Macht maximal umsetzen? Und unter welchen Bedingungen wird man dagegen von seiner Macht getrennt? Wie wir gleich sehen werden, ergibt sich daraus eine ethische Differenz, mit welcher aktive und passive Existenzweisen zu unterscheiden sind, zwei Existenzweisen, zwischen denen sich die Frage nach der Genese des Neuen im Hinblick auf den Begriff des Lebens entscheidet. Das bisher gesagte zeigt jedenfalls, inwiefern die ontologische Konzeption der Macht bei Spinoza zwangsläufig auf eine ganze politische Philosophie hinausläuft und warum Spinoza ein Werk, in dem eine reine Ontologie entworfen wird, überraschenderweise als »Ethik« betitelt.

4.3 Die immanenten Kriterien einer vitalistischen Gesellschaftskritik Kommen wir auf die Affektionsweisen des Körpers zurück. Die Affektionen sind Wirkungen, die durch die Tätigkeit anderer Körper im eigenen Körper erzeugt werden. Eine Affektion impliziert in dieser Hinsicht nichts anderes als eine Zusammensetzung, Mischung oder Komposition von Körpern. Allerdings verweist ein solcher Zusammenhang eher auf 176

DIE IMMANENTEN KRITERIEN EINER VITALISTISCHEN GESELLSCHAFTSKRITIK

den affizierten als auf den affizierenden Körper. Laut Spinoza »stellen wir uns auch vor, wenn wir die Sonne anblicken, sie sei etwa zweihundert Fuß von uns entfernt.« (S|E: IIp34s) Eine derartige Wahrnehmung sagt uns nichts über die Sonne, wohl aber über den Zustand unseres visuellen Systems, in dem diese Wahrnehmung »eigenwillig« erzeugt wird. Wir erleiden regelrecht die Tätigkeit anderer Körper, ohne uns dabei über die Ursachen, d.h. die Natur unseres Körpers, die Natur anderer Körper, sowie ihres charakteristischen Zusammenhangs völlig im Klaren zu sein. Unsere Erkenntnis und unser Bewusstsein sind in dieser Hinsicht lediglich auf das beschränkt, was unserem Körper, unserer Seele zustößt, »d.h. Wirkung eines Körpers auf unseren, die Wirkung einer Idee auf die unsrige« (S: 29). Da wir somit die eigentlichen Ursachen der Zusammenhänge nicht kennen, interpretieren wir sie bloß im Hinblick auf die Wirkungen, die sie in uns erzeugen. Deshalb verfügen wir laut Spinoza nur über Affektionsideen: Sie allein sind uns gegeben: wir nehmen äußere Körper nur wahr, insoweit sie uns affizieren, wir nehmen unseren Körper nur wahr, insoweit er affiziert ist und unsere Seele nehmen wir wahr durch die Idee der Idee der Affektion. Was wir »Gegenstand« nennen, ist allein die Wirkung eines Gegenstands auf unseren Körper; was wir »ich« nennen, ist allein die Idee, welche wir von unserem Körper und von unserer Seele haben, insofern sie eine Wirkung erleiden. (PA: 130)

Nicht nur unsere Erkenntnis, auch das Bewusstsein, das wir von uns selbst haben, hängt also von den Affektionen ab, die wir in den Begegnungen, die wir machen, zunächst immer nur erleiden. »Kurz, die Bedingungen unter den denen wir die Dinge erkennen und Bewußtsein von uns selbst beziehen, verurteilen uns, ausschließlich inadäquate Ideen zu haben, verworrene und verstümmelte, von ihren eigenen Ursachen getrennte Wirkungen.« (S: 29 f.) Nicht ohne Grund definiert Spinoza die Ordnung dieser Bedingungen auch als Ordnung zufälliger Aufei­ nandertreffen, Begegnungen (occursus) oder äußerlicher Bestimmungen: als Ordnung der Leidenschaften. Dabei müssen nun aber zwei Arten von Begegnungen unterschieden werden. Einerseits gibt es nämlich Begegnungen, in denen ein Körper auf einen anderen Körper trifft, der mit seinem übereinstimmt. Das heißt, der Körper, auf den man trifft, hat einen Zusammenhang, »der auf natürliche Weise mit einem der Zusammenhänge zusammengesetzt ist, die mich zusammensetzen, und trägt so dazu bei, meinen Zusammenhang insgesamt zu erhalten« (PA: 210). In anderen Worten, ich treffe auf einen Körper, der gut oder nützlich für mich ist. Ein Apfel ist beispielsweise nicht giftig, sondern verfügt über Nährstoffe, die gut für mich sind und mit meinem Körper übereinstimmen. Andererseits gibt es aber Begegnungen, in denen mein Körper auf einen anderen Körper trifft, der mit 177

DIE REINE IMMANENZ NACH SPINOZA

meiner Natur nicht übereinstimmt, »dessen Zusammenhang sich nicht mit dem meinigen zusammensetzt« (ebd.: 227) oder meinen Zusammenhang sogar zersetzt und somit schlecht oder schädlich für mich ist: der vergiftete Apfel, die verbotene Frucht.21 Daraus folgt, dass es, den beiden Arten der Begegnung entsprechend, auch zwei verschiedene Arten von Affektionen geben muss, die daraus hervorgehen: gute oder schlechte, günstige oder ungünstige, nützliche oder schädliche Affektionen. Die Affektion ist also nicht bloß die augenblickliche Wirkung eines Körpers auf meinen, sie wirkt auch auf meine eigene Dauer, als Lust oder Schmerz, Freude oder Traurigkeit. Übergänge, Werden, Aufstiege und Stürze, kontinuierliche Variationen von Vermögen (puissance) sind es, die von einem Zustand zum anderen führen: Man wird sie Affekte im eigentlichen Sinn nennen und nicht mehr Affektionen. (KK: 188)

Es ist ausgesprochen wichtig, genau zwischen Affektionen (affectio) und Affekten (affectus) zu unterscheiden: Wenn Affektionen die unmittelbaren Wirkungen bezeichnen, die andere Körper auf einen Körper haben, dürfen Affekte im Gegenzug nicht einfach mit den damit einhergehenden Empfindungen oder Emotionen verwechselt werden – zumindest nicht von vornherein.22 Denn Affekte sind vor allem »Formen des Werdens« (D: 87). Ob die Affektionen, die wir erleiden, nun gut oder schlecht sind: In jedem Fall implizieren sie einen Übergang oder ein Werden im Sinne einer Vermehrung oder Verminderung unserer Macht, tätig zu sein und zu denken. Unter Affekten versteht Spinoza »die Affektionen des Körpers, durch die das Tätigkeitsvermögen des Körpers vergrößert oder verringert, gefördert oder gehemmt wird; zugleich auch die Ideen dieser Affektionen« (S|E: IIId3) oder das Denken. Wir vermehren unsere Macht, wenn wir auf Körper treffen, die mit unserer Natur übereinstimmen und somit geeignet sind, sich gut mit unserem Körper zusammenzusetzen. Wir vermindern unsere Macht, wenn wir auf Körper treffen, die nicht mit unserer Natur übereinstimmen und somit die Gefahr bergen, unseren Zusammenhang zu zersetzen oder zu zerstören. Vor diesem Hintergrund bezeichnet Spinoza eine Vermehrung von Macht als Affekt der Freude, eine Verminderung von Macht hingegen als Affekt der Trauer. Wir erfahren also einen Affekt der Trauer oder 21 In den Augen von Spinoza hat Gott Adam nicht verboten, den Apfel zu essen, er hat ihn vielmehr davor gewarnt, dass der Apfel ein Körper ist, der nicht mit seinem zusammenpasst. Es handelt sich also nicht um ein Verbot, sondern eher um »ein Phänomen der Kategorie Verdauungsstörung, Vergiftung: Dieser faule Apfel zersetzt Adams Verhältnis. Adam hat eine schlechte Begegnung. Von daher die Kraft der Frage Spinozas: Was vermag ein Körper? Zu welchen Affekten ist er imstande?« (D: 87) 22 Vgl. hierzu die einflussreiche Studie von Brian Massumi (2002).

178

DIE IMMANENTEN KRITERIEN EINER VITALISTISCHEN GESELLSCHAFTSKRITIK

werden von Trauer affiziert, sobald wir Affektionen erleiden, die unsere Macht vermindern; wir erfahren einen Affekt der Freude oder werden von Freude affiziert, sobald wir Affektionen erleiden, die unsere Macht vermehren. Die Theorie der Affekte beruht folglich auf Strömungen von Freude und Trauer und vor allem auf den damit implizierten Vermehrungen und Verminderungen der Macht. Es sind diese Schlussfolgerungen, die, wie wir noch sehen werden, in grundlegender Weise die politische Theorie von Spinoza aber auch jene von Deleuze (und Guattari) charakterisieren. Vor diesem Hintergrund ist eine weitere Unterscheidung von allergrößter Wichtigkeit. Ganz egal, ob es sich nun um traurige oder freudige Affektionen handelt, um Affektionen also, die unsere Macht vermehren oder vermindern: immer handelt es sich dabei um Wirkungen, die bloß erlitten werden. Vor allem für den Menschen gilt, dass die Ideen, die er unmittelbar besitzt, inadäquate Bilder der Einbildungskraft sind, die vielmehr auf die Körper, die ihn affizieren, verweisen als auf sich selbst. Die inadäquate Idee ist eine Idee, von der wir nicht selbst Ursache sind (sie expliziert sich nicht formal aus unserem Vermögen zu verstehen); diese inadäquate Idee ist selbst (materiale und wirkende) Ursache eines Affekts: wir können also nicht adäquate Ursache dieses Affekts sein; nun ist ein Affekt, von dem wir nicht adäquate Ursache sind, notwendigerweise eine Leidenschaft. Unser Affiziertseinkönnen findet sich also von Beginn unserer Existenz an durch inadäquate Ideen und passive Affekte erfüllt. (PA: 194)

Solange ihre Ursache nicht in uns liegt, müssen Affekte, egal ob es sich dabei um Freude oder Trauer, um Vermehrung oder Verminderung von Macht handelt, als passive Affekte verstanden und folglich der Ordnung der Leidenschaften zugerechnet werden. Das Bewusstsein kann in diesem Sinne auch als »Ort einer Illusion« (S: 30) angesehen werden, da es gänzlich durch Leidenschaften und passive Affekte erfüllt wird, die uns bestimmen, dies oder jenes zu tun, an dies oder an jenes zu denken. Das vermeintliche Primat des Bewusstseins wird damit also auf radikale Weise verabschiedet: Wie der Körper wird es in erster Linie durch die affizierenden Begegnungen bestimmt, die es stets unfreiwillig macht. Bekanntlich vergleicht Spinoza das Bewusstsein mit einem Traum bei geöffneten Augen. »Denn die Menschen sind sich […] wohl ihres Tuns und ihrer Triebe bewußt, aber die Ursachen, von denen sie bestimmt werden, etwas zu erstreben, kennen sie nicht.« (S|E: IVpraef) Die in den Begegnungen mit anderen Köpern (und Ideen) erlittenen Wirkungen oder Affektionen werden zwar bewusst wahrgenommen, die Ursachen, die ihnen vorausgehen, bleiben aber unbekannt oder unbewusst.23 Wie wir noch 23 Insofern ist Nietzsche, wie wir noch sehen werden, nach Deleuze auch »streng spinozistisch« (S: 32), wenn er beispielsweise schreibt: »Unbewußt

179

DIE REINE IMMANENZ NACH SPINOZA

sehen werden, bezeichnet Gabriel Tarde diesen passiven Zustand, den Umstand, Ideen, die bloß suggeriert werden, für spontan zu halten, als sozialen Somnambulismus. Im Unterschied dazu müssen Affekte, deren Ursache wir selbst sind, die folglich auf adäquaten Ideen beruhen, als aktive Affekte bezeichnet werden. Insofern kann auch zwischen einer aktiven Freude, deren Ursache wir selbst sind, und einer passiven Freude, deren Ursache nicht wir selbst sind, unterschieden werden: In beiden Fällen werden wir zwar durch Freude affiziert und vermehren insofern unsere Macht, aber während wir das eine Mal diese Vermehrung bloß erleiden, tätigen wir sie das andere Mal. Gegenüber der ersten Unterscheidung, der zufolge es Affekte der Freude und der Trauer gib, Affekte also, die entweder eine Vermehrung oder Verminderung von Macht implizieren, muss folglich eine zweite Unterscheidung berücksichtig werden, der zufolge (freudige und traurige) Affekte im Hinblick auf ihre Ursache entweder als aktive oder passive Affekte, d.h. als Leidenschaften (passio) oder Tätigkeiten (actio) begriffen werden müssen.24 Freudige oder traurige Affekte, aktive oder passive Affekte: In beiderlei Hinsicht entscheidet sich die ethische Frage, was ein Körper alles kann. Vor diesem Hintergrund müssen die Körper »nach ihrem Vermögen, nach ihren Affekten, zu denen sie fähig sind, aktiv wie passiv« (D: 87 f.), bestimmt werden, und nicht nach Arten, Gattungen, Organen oder Funktionen. Wenn unser Körper mehrheitlich von passiven Affekten oder Leidenschaften erfüllt wird, so hat dies zur Folge, dass unser Machtgrad auf ein Minimum reduziert wird: »je passiver wir sind, umso weniger sind wir in der Lage, auf vielfache Weise affiziert zu werden« (PA: 217). Wir sind dann von dem getrennt, was wir können, weil wir permanent damit beschäftig sind, die Spuren zu besetzen, die passive Affektionen in uns hinterlassen – sei es, um sie zu erhalten, wenn sie freudig sind, sei es, um sie zu beseitigen, wenn sie traurig sind. Selbst wenn wir Körper begegnen, die unsere Macht oder Freude ins unermessliche vermehren, so werden wir dennoch von dem getrennt leben, was wir können, da die Ursache dieser Vermehrung nicht in uns liegt – wir also nicht im vollen Besitz unseres Tätigkeitsvermögens sind, um aktiv über unser Leben ist die große Hauptthätigkeit. Das Bewußtsein erscheint erst gewöhnlich, wenn das Ganze sich wieder einem höheren Ganzen unterordnen will – als Bewußtsein dieses höheren Ganzen, des Außer-sich. Das Bewußtsein entsteht in Bezug auf das Wesen, dem wir Function sein könnten – es ist das Mittel, uns einzuverleiben. […] Die Empfindungen und die Affekte des Organischen sind alle längst fertig entwickelt, bevor das Einheits-gefühl des Bewußtseins entsteht.‹« (N|KSA9: 364 f.) 24 Oder Spinoza: »Wenn wir also die adäquate Ursache einer dieser Affektionen sein können, verstehe ich unter Affekt eine Handlung, im anderen Fall ein Leiden.« (S|E: IIId3)

180

DIE IMMANENTEN KRITERIEN EINER VITALISTISCHEN GESELLSCHAFTSKRITIK

zu entscheiden. Man ist nicht im Vollbesitz seines Tätigkeitsvermögens, weil man, plakativ gewendet, freudigen Affekten planlos hinterherlaufen muss. Darum besitzt die ethische Frage Bedeutung. Wir wissen kaum, was ein Körper kann, sagt Spinoza. Das heißt: Wir wissen kaum, welcher Affektionen wir fähig sind, noch auch, wie weit unser Vermögen geht. Wie könnten wir das im Voraus wissen? Von Anfang unserer Existenz an sind wir notwendigerweise mit passiven Affektionen erfüllt. Der endliche Modus entsteht in solchen Verhältnissen, daß er von vornherein von seinem Wesen oder Grad an Vermögen getrennt ist, getrennt von dem, was er kann, von seinem Tätigkeitsvermögen. (ebd.: 198 f.)

Tatsächlich ist es das Schicksal des Menschen, zunächst nur durch Leidenschaften bestimmt zu werden, getrennt zu sein, von dem, was er kann: getrennt von seinem Tätigkeitsvermögen zu leben. Es handelt sich hierbei um eine passive oder reaktive Existenzweise, in der ein Mensch als Knecht zu charakterisieren ist. Daran anschließend spricht Deleuze, die Terminologie von Nietzsche bemühend, vom schwachen Menschen: »Der Schwache ist derjenige, der von seinem Tätigkeitsvermögen getrennt bleibt, wie stark auch immer er ist, der in der Knechtschaft oder im Unvermögen befangen bleibt.« (ebd.: 238) Ist er hingegen im Besitz seines Tätigkeitsvermögens, gelingt es ihm also, zu adäquaten Ideen und aktiven Affekten zu gelangen, kann von einer aktiven Existenzweise gesprochen werden, in der er als freier oder starker Mensch charakterisiert werden kann. Zwischen einer aktiven und einer reaktiven oder passiven Existenzweise kann also eine ethische Differenz festgemacht werden, die, wie wir noch sehen werden, von allergrößter Wichtigkeit für des Denken von Deleuze ist. Die ethische Konzeption impliziert hier einen kritischen Gesichtspunkt, der in grundlegender Weise auf eine ganze soziale und politische Theorie verweist. Damit reiht sich Spinoza laut Deleuze in eine Tradition von Denkern ein, »eine gebrochene, explosive, ganz und gar vulkanische Linie« (EI: 200), die – von Lukrez bis hin zu Nietzsche, Foucault oder Deleuze – die praktische Aufgabe der Philosophie darin sieht, jede Verklärung, Mystifikation und Entwertung des Lebens anzuprangern. Es findet sich bei Spinoza sehr wohl eine »Lebens«-Philosophie: sie besteht gerade darin, alles aufzuzeigen, was uns vom Leben trennt; alle die gegen das Leben gerichteten transzendenten Werte, die an die Bedingungen und Illusionen des Bewußtseins gebunden sind. Das Leben ist durch die Kategorien von Gut und Böse, Verstoß und Verdienst, Sünde und Erlösung, vergiftet. Der Haß, einschließlich des gegen sich selbst gerichteten Hasses, der Schuld, vergiftet das Leben. (S: 37 f.)

Tatsächlich gründen etablierte Mächte (pouvoir) ihre Herrschaft nur auf »Traurigkeit und Kummer, auf die Minderung des Vermögens anderer, 181

DIE REINE IMMANENZ NACH SPINOZA

auf die Verdunkelung der Welt« (KK: 196) und damit auf passive oder reaktive Existenzweisen. Die Mächte benötigen »unser Eingeständnis, dass das Leben hart und schwer ist. Die Mächte sind weniger darauf angewiesen, uns zu unterdrücken, als uns Angst zu machen oder, […], unsere intimen kleinen Schrecken zu organisieren und zu verwalten.« (D: 89) So liegt für Spinoza das Geheimnis der monarchischen Staaten seiner Zeit auch gerade darin, »die Menschen im Irrthum zu erhalten und die Furcht, mit der man sie bändigt, unter dem glänzenden Namen der Religion zu verhüllen, damit sie für ihre Sklaverei, als wäre es ihr Glück, kämpfen« (Spinoza 2012: 4). Die Frage, warum die Menschen für ihre Knechtschaft kämpfen, als ginge es um ihr Heil, ist für Deleuze und ­Guattari auch heute noch »die grundlegende Frage der politischen Philosophie« (AÖ: 39). Immer sind es traurige Leidenschaften, die uns von Seiten der herrschenden Mächte suggeriert werden, mit denen sie uns affiziert, um uns von dem, was wir können, unserem Tätigkeitsvermögen, zu trennen.25 Es gibt immer jemanden, den man hassen, beschuldigen oder fürchten kann, und falls nicht, dann kann man Hass, Schuld oder Furcht immer noch gegen sich selbst richten. »Wenige Themen erscheinen in der Ethik so regelmäßig wie dieses: Alles, was traurig und schlecht ist, macht uns zu Knechten; alles, was Traurigkeit einschließt, drückt einen Tyrannen aus«. (PA: 239) Lange vor Nietzsche ist es folglich Spinoza, der, in seiner Kritik der trübsinnigen Leidenschaften, »all jene Verfälschungen des Lebens und alle jene Werte, in deren Namen wir das Leben entwerten« (S: 38), anprangert, die unser Tätigkeitsvermögen vermindern, uns von dem trennen, was wir können, und uns somit in passive oder reaktive Existenzweisen stürzen. Wie ist es dagegen aber möglich, zu aktiven Affekten und aktiven Existenzweisen zu gelangen? Es stimmt zwar, dass die zufälligen Begegnungen, die die Ordnung der Leidenschaften bestimmen, nicht nur zu einer Verminderung, sondern, hypothetisch gesehen, auch zu einer Vermehrung unserer Macht führen können. Doch faktisch sind solche Begegnungen, in denen unsere Macht ganz zufällig durch freudige Affektionen vermehrt wird, äußerst selten. In der Regel sind es traurige Affektionen, denen wir in der Ordnung der Leidenschaften begegnen. Das Problem liegt also darin, dass ich in der Ordnung der Leidenschaften nicht bloß »passive Affektionen empfinde, die mich von meinem Tätigkeitsvermögen trennen, sondern darüber hinaus passive, vorherrschend von Traurigkeit bestimmte Affektionen, die unaufhörlich dieses 25 Spinoza selbst richtet seine Kritik dabei gegen jede Form des Aberglaubens. Denn der »Aberglaube ist alles, was uns von unserem Tätigkeitsvermögen getrennt erhält und es unaufhörlich vermindert. So ist die Quelle des Aberglaubens die Verkettung trauriger Leidenschaften, die Furcht, die damit verkettete Hoffnung, die Angst, die uns Wahngebilden ausliefert.« (PA: 239)

182

DIE IMMANENTEN KRITERIEN EINER VITALISTISCHEN GESELLSCHAFTSKRITIK

Vermögen selbst vermindern« (PA: 230). Das heißt, sind wir nicht im Vollbesitz unseres Tätigkeitsvermögen, werden wir in der Ordnung der Leidenschaften meist traurige Affektionen erleiden. Wie schaffen wir es nun aber, regelmäßig auf Körper zu treffen, die mit unserem übereinstimmen, um nicht nur zufällig, sondern dauerhaft zu den freudigen Affekten einer aktiven Existenzweise zu gelangen? Durch die Bildung von Gemeinbegriffen. Im Unterschied zu den einfachen Affektionsideen, die durch die Ordnung der Leidenschaften bestimmt sind, bleiben die Gemeinbegriffe »nicht bei einer äußeren Wahrnehmung zufällig beobachteter Übereinstimmungen stehen, sondern finden in der Gleichartigkeit der Zusammensetzung einen inneren und notwendigen Grund der Übereinstimmung der Körper« (ebd.: 245 f.). Diese Gleichartigkeit verweist aber gerade nicht auf ein Denken der Repräsentation: Sorgfältig unterscheidet Spinoza die Gemeinbegriffe einerseits von den Transzendentalia (Sein, Ding, Etwas) oder den Universalia (Gattungen und Arten, Mensch, Pferd, Hund) andererseits. Gleichwohl sind die Gemeinbegriffe selbst universal, »mehr oder weniger« universal, je nach ihrem Allgemeinheitsgrad; man muß also annehmen, daß Spinoza nicht das Universale angreift, sondern nur eine gewisse Konzeption des abstrakten Universalen. (ebd.: 246)

Gemeinbegriffe sind, um auf Bergson zurückzukommen, vor allem maßgeschneiderte Begriffe, die, ihrem jeweiligen Allgemeinheitsgrad entsprechend, sowohl das beinhalten können, was nur zwei Körpern allein gemeinsam ist, als auch das, was allen Körpern unter einem allgemeinen Gesichtspunkt gemeinsam ist, einen Gesichtspunkt also, der über sie alle hinaus geht (z.B. ihre Ausdehnung). Da sie demnach zwar allgemein, nicht aber abstrakt sind, können Gemeinbegriffe als Ideen begriffen werden, die den Zusammenhang zwischen Körpern auf adäquate Weise zum Ausdruck bringen. In einem seiner Seminare veranschaulicht Deleuze (1981c) die Bedeutung von Gemeinbegriffen mit einem einfachen Beispiel. Wer sich in die Sonne legt, um angenehm von dieser affiziert zu werden, beschränkt sich auf eine passive Affektionsidee, in der der Zusammenhang zwischen Sonne und eigenem Körper nur inadäquat erfasst wird und somit auch extremen Variationen – Entspannung oder Hitzeschlag – unterworfen ist. Wer mehrmals von der Sonne geschädigt wird, wird glauben, es sei die Sonne, die ihm nicht gut tut und damit nur eine inadäquate Affektionsidee von dieser besitzen. Ein Maler wie van Gogh steht dagegen in einem vollkommen anderen Zusammenhang mit der Sonne. Er kennt ihren Einfluss auf seine Umgebung, auf seine Augen, auf die Eigenschaften der Farben, auf die Bewegung der Schatten, auf die Beschaffenheit der Leinwand und selbst auf die Positionierung der Malstaffel. Er kann, durch die Gemeinbegriffe, über die er verfügt, den Zusammenhang zwischen 183

DIE REINE IMMANENZ NACH SPINOZA

Sonne, Umgebung, Schatten, Farben, Leinwand, Malstaffel und Augen in jeder Situation adäquat zusammensetzen. Er ist also imstande, mit diesen Körpern auf eine Weise in Beziehung zu treten, durch die sein Tätigkeitsvermögen in neuen Praktikabilitäten nachhaltig vermehrt wird. Gemeinbegriffe verweisen Deleuze zufolge also auf die Kunst, Zusammenhänge zwischen heterogenen Körpern in adäquater Weise zusammenzusetzen: auf ein dezidiert praktisches Wissen (Savoir-faire), durch welches das Tätigkeitsvermögen und die freudigen Affekte, die damit einhergehen, aktiv vermehrt werden (Savoir-vivre). Der Erwerb epistemischen Wissens ist hier also kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um das Tätigkeits- und Denkvermögen sowie die damit verbundenen Affekte der Freude nachhaltig zu vermehren. Eben deshalb handelt es sich dabei auch um ein ethisches Problem. »Spinoza fragt: wie gelangen wir zur Bildung und zur Hervorbringung von adäquaten Ideen, wenn uns zugleich so viele inadäquate Ideen notwendigerweise gegeben sind, die unser Vermögen ablenken und uns von dem trennen, was wir können?« (PA: 133) In der Leseart, die Deleuze ihm zuteilwerden lässt, gibt Spinoza damit seinen angestammten Platz in der Tradition des Rationalismus auf, um geradewegs in die Tradition eines höheren Empirismus hinüberzuwandern: »Kein lebender Toter, der mit ebenso viel Kraft seinen Grabdeckel hochheben und ähnlich entschieden sagen würde: Ich bin keiner von euch.« (D: 26) Im Unterschied zum Rationalismus hat das Wissen bei Spinoza nämlich immer nur lokale Geltung. Kein Mensch weiß im Voraus, wozu er in den Begegnungen, die er macht, den Gefügen, die ihn involvieren, fähig ist. Immer muss zunächst praktisch-experimentell herausgefunden werden, welche Körper mit dem eigenen Körper auf welche Art und Weise überhaupt übereinstimmen (wenn der menschliche Körper zum Beispiel dem Körper des Meeres begegnet, muss er nach und nach experimentell herausfinden, wie er sich adäquat damit zusammensetzt, wie sich also die extensiven Teilchen des Wassers mit den extensiven Teilchen seines Körpers zusammensetzen lassen, um schwimmen zu können). Das Motto lautet: »Macht Rhizome! Aber ihr wißt nicht, mit wem ihr ein Rhizom machen könnt, welcher unterirdische Strang tatsächlich ein Rhizom bildet oder bilden wird und eure Wüste bevölkert. Probiert es aus.« (TP: 341) Die Kunst der Verkettung, die Selektion und Komposition geeigneter Zusammenhänge, verlangt deshalb ein Vorgehen, mit dem man immer nur explorativ oder tastend – und nicht apodiktisch nach höheren Kriterien – vorankommt, »weil niemand im Voraus die Affekte kennt, deren er fähig ist; es ist Sache langen Experimentierens, langer Umsicht, einer spinozistischen Weisheit« (S: 162). Es kommt für Deleuze also in erster Linie darauf an, zu experimentieren, um in den Begegnungen, die wir machen, neue Zusammenhänge zu schaffen, in denen unsere Macht, auf vielfältige Weise affiziert zu werden, nachhaltig gesteigert wird – nicht darauf, irgendwas wiederzuerkennen, 184

DIE IMMANENTEN KRITERIEN EINER VITALISTISCHEN GESELLSCHAFTSKRITIK

das bereits da ist (z.B. Gesetze). »Finden, begegnen, stehlen statt regeln, statt wieder- und anerkennen, statt richten. Denn Wiedererkennen ist das Gegenteil von Begegnen« (D: 18). Das Primat der Begegnung, das durch das Modell des Körpers eingeführt wird, sorgt folglich dafür, dass »das Vermögen des Körpers jenseits der von unserer Erkenntnis gegebenen Bedingungen und das Vermögen des Geistes jenseits der von unserem Bewußtsein gegebenen Bedingungen zu erfassen« (S: 28) ist. In den Begegnungen geht es nämlich nicht darum, etwas bloß wiederzuerkennen: Das Modell des Körpers steht insofern im Gegensatz zum Modell der Rekognition im tradierten Bild des Denkens. Es geht in Begegnungen vielmehr darum, mittels experimenteller Verfahren neue Zusammenhänge zwischen Körpern (oder Ideen) hervorzubringen, wirkmächtigere Gesamtheiten zu produzieren, insofern also kreativ tätig zu sein und damit seine Macht schöpferisch zu vermehren. Indem er diese schöpferische Praxis hervorhebt und im Sinne einer nun vitalen Genese des Neuen in den Mittelpunkt stellt, geht Deleuze über Spinoza hinaus. Wie er in Differenz und Wiederholung anmerkt, handelt es sich beim Wissen (im tradierten Sinne) immer nur um eine empirische Gestalt, ein bloßes Resultat, das der Erfahrung im Modell der Rekognition entspricht, wohingegen das praktische Lernen, durch die Begegnungen, die es erzwingen, auf das Abenteuer des Unwillkürlichen verweist, in der das Problematische als »wahre transzendentale Struktur« (DW: 215) heraufbeschworen wird – durch eine Ohnmacht, die uns auf unsere Grenzen verweist und dabei paradoxerweise unsere ganze schöpferische Macht entfesselt. Was ist es aber, um wieder auf Spinoza zurückzukommen, das uns eigentlich dazu führt, Gemeinbegriffe zu bilden? Wodurch schafft man es, die Verkettung inadäquater Ideen zu sprengen, zu der wir in der Ordnung der Leidenschaften verurteilt sind, um aktiv zu werden? Wenn wir eine schlechte Affektion empfinden, eine in uns durch einen mit uns nicht übereinstimmenden Körper hervorgebrachte traurige passive Affektion, dann induziert uns nichts, die Idee dessen zu bilden, was diesem Körper und unserem gemeinsam ist. Wenn wir dagegen eine freudige Affektion empfinden, wenn ein Ding für uns gut ist, insofern es mir unserer Natur übereinstimmt, dann induziert uns die freudige Affektion selbst, den entsprechenden Gemeinbegriff zu bilden. Die ersten von uns gebildeten Gemeinbegriffe sind also die am wenigsten universalen, d.h. diejenigen, die auf unseren und auf einen anderen Körper angewandt werden, die direkt mit dem unseren übereinstimmen und ihn mit Freude affizieren. Wenn wir die Bildungsordnung der Gemeinbegriffe betrachten, müssen wir von den am wenigsten universalen ausgehen; denn die universalsten werden auf Körper angewandt, die unserem entgegengesetzt sind und keinerlei Induktionsprinzip in den von uns empfundenen Affektionen finden. (PA: 251)

185

DIE REINE IMMANENZ NACH SPINOZA

Um einen Gemeinbegriff zu bilden, benötigen wir also bloß eine freudige Affektion, die, selbst wenn sie zunächst noch klein, zufällig und flüchtig ist, uns dazu anregt, eine konkrete Idee dessen zu bilden, was unserem Körper und einem anderen Körper gemeinsam ist. Dieser Affekt der Freude, der uns zuvor noch anregte, wird dann aber formal ein anderer sein, da seine Ursache nun, da wir uns seiner annehmen, nicht mehr in der inadä­ quaten Idee eines uns affizierenden Körpers liegt, sondern ins uns selbst. »Dieses Vermögen zu verstehen nun ist das Tätigkeitsvermögen der Seele. Wir sind also aktiv, insoweit wir Gemeinbegriffe bilden. Die Bildung des Gemeinbegriffs bezeichnet den Moment, in dem wir den Vollbesitz unseres Tätigkeitsvermögens erlangen.« (ebd.: 249) Und zwar deshalb, da wir nicht mehr damit beschäftigt sind, die Spuren passiver Affektionen zu besetzen, sondern aktiv unser Vermögen, auf vielfache Weise affiziert zu werden, ausschöpfen können. Aus diesem Tätigkeitsvermögen, »aus dem, was wir verstehen, folgt immer eine aktive Freude« (ebd.: 254) – selbst dann, wenn es Affekte der Trauer sind, die in einem Gemeinbegriff zum Ausdruck kommen. Denn insofern wir es sind, die diesen Affekt adäquat erfassen, wird unser Tätigkeitsvermögen entsprechend vergrößert. »Wenn wir einmal in einigen Punkten unsere Aktivität gewonnen haben, werden wir fähig, Gemeinbegriffe zu bilden, selbst in dazu wenig günstigen Fällen. Es gibt einen ganzen Lernprozeß der Gemeinbegriffe oder des Aktiv-Werdens« (ebd.: 256). Immer sind es zunächst die am wenigsten universalen Gemeinbegriffe, die praktischen Fragen, die uns Gelegenheit geben, aktiv zu werden, da sie in den freudigen Affektionen, die wir passiv erleiden, ein wirksames Induktionsprinzip finden, weitere Gemeinbegriffe zu bilden, in umfassendere und wirkmächtigere Zusammenhänge zu treten und dadurch aktiv zu einer ganzen Reihe freudiger Affektionen und einer fortlaufenden Vermehrung unserer Macht zu gelangen (ein Instrument oder eine Sprache zu lernen, bedeutet nichts anderes). Daraus ergibt sich nun aber ein soziales und politisches Problem, das für die Möglichkeit einer aktiven Existenzweise ausschlaggebend ist. Es reicht nämlich nicht, dass sich der freie oder starke Mensch in den freudigen Leidenschaften, die sein Tätigkeitsvermögen zufällig vergrößern, bloß wiedererkennt und diese aktiv sucht: er muss sie vielmehr organisieren. Wenn der Mensch vernünftig, stark und frei wird, tut er alles in seiner Macht Stehende, um freudige Leidenschaften zu empfinden. Er strengt sich also an, sich von den zufälligen Aufeinandertreffen und der Verkettung trauriger Leidenschaften loszureißen und gute Aufeinandertreffen zu organisieren, er strengt sich an, seinen Zusammenhang mit anderen Zusammenhängen zusammenzusetzen, die sich direkt mit seinem kombinieren, und das mit sich zu vereinen, was naturgemäß mit ihm übereinstimmt, also die vernünftige Assoziation zwischen den Menschen zu bilden; all dies, um mit Freude affiziert zu werden. (PA: 231) 186

DIE IMMANENTEN KRITERIEN EINER VITALISTISCHEN GESELLSCHAFTSKRITIK

Um in den Vollbesitz unseres Tätigkeitsvermögens zu kommen, müssen also gute oder nützliche »Aufeinandertreffen organisiert« (ebd.: 229) werden. Nun ist aber das Allernützlichste, auf das wir überhaupt treffen können, der Mensch selbst. Denn der Mensch stimmt naturgemäß mit dem Menschen überein, sein Zusammenhang setzt sich mit dem eines anderen äußerst passend zusammen. »So ist die Anstrengung, die Aufeinandertreffen zu organisieren, zunächst die Anstrengung, in sich zusammensetzenden Zusammenhängen die Assoziation von Menschen zu bilden.« (ebd.: 230 f.) Bei Spinoza sind Körper »mit einer Spontaneität und Produktivität verbunden, die ihre Entwicklung, das heißt ihre Zusammensetzung ohne jede Vermittlung ermöglichen. Sie sind an sich selbst Elemente der Sozialisierung« (SG: 181), bedürfen folglich keiner übergeordneten, vermittelnden Instanz, um sich zu assoziieren. Gesellschaftliche Institutionen und soziale Ordnung ganz allgemein gehen bei Spinoza demnach primär aus kollektiven Schöpfungen hervor und setzen damit auch keine kontraktualistischen Normen voraus – wie jene, die Hobbes aus »seinem« Naturrecht für die Gesellschaft ableitet.26 Es kommt also darauf an, neue Möglichkeiten zu schaffen, durch die sich Menschen untereinander und mit anderen (nicht-menschlichen) Mächten in umfassenderen Zusammenhängen wirkmächtig assoziieren lassen. Nur so lässt sich in Ausblick stellen, dass wir in den Vollbesitz unseres Tätigkeitsvermögens kommen und dadurch in einer aktiven Existenzweise dauerhaft mit Freude affiziert werden. In seiner originellen Leseart präsentiert Deleuze die affirmative Philosophie der Immanenz von Spinoza nicht nur als eine praktische Philosophie, als den konsequenten Versuch also, selbst aus den Problemen der reinen Ontologie noch vitale Fragen abzuleiten, er schreibt dieser Philosophie überraschenderweise auch die Frage nach der Genese des Neuen ins Programm: Wie kommt man zu aktiven Existenzweisen, wie lassen sich neue Lebensmöglichkeiten schaffen? Wie wir weiter unten noch sehen werden, ist es auch genau diese Frage, die Deleuze zusammen mit Guattari sowohl in Anti-Ödipus als auch in Tausend Plateaus mit dem Begriff der Fluchtlinie aufgreifen wird. Vor allem der Begriff der Multitude von Michael Hardt und Antonio Negri bezieht sich auf diese Deleuzianische Leseart der Assoziationen bei Spinoza. Affirmative Politik wird dabei im Hinblick auf konstitutive Praktiken konzipiert, die das revolutionäre Potential der Menge (multitudo) im Sinne eines subversiven Demokratisch-Werdens zur Entfaltung bringen sollen. Dabei scheinen Hardt und Negri aber insofern an Deleuze vorbeizudenken, als dass die Unterscheidung zwischen potentia und potestas durch eine Klassenkampfromantik flankiert wird, 26 Vgl. dazu das Buch von Antonio Negri (1981), das laut Deleuze »in vieler Hinsicht das Verständnis des Spinozismus erneuert« (SG: 181) hat.

187

DIE REINE IMMANENZ NACH SPINOZA

die eben nicht, wie von Deleuze gefordert, über den »axiologischen Dualismus von Gut und Böse« (TP: 35) hinausgeht. In Empire rekurrieren Hardt und Negri in Marxistischer Manier zum Beispiel wieder auf ein (vermeintlich) subversives Subjekt: Der Arme ist mittellos, ausgeschlossen, er wird unterdrückt und ausgebeutet — und doch lebt er! Er ist der gemeinsame Nenner des Lebens, die Grundlage der Menge [multitude]. […] wer, wenn nicht die Armen, die unterjocht und voller Sehnsucht sind, verarmt und mächtig, ja immer mächtiger werden? Hier, innerhalb dieses Regiments der globalen Produktion, unterscheidet sich der Arme nicht mehr nur durch seine prophetische Fähigkeit, sondern auch durch seine dringend notwendige Präsenz bei der Produktion eines gemeinsamen Wohlstands. Der Arme selbst ist Macht. Es gibt eine Weltarmut, aber vor allem auch eine Weltchance, und einzig der Arme kann sie ergreifen. (Hardt/Negri: 2002: 169 f.)

Wie wir noch sehen werden, definiert sich Gesellschaft bei Deleuze aber nicht primär durch ihre Gegensätze oder Widersprüche, sondern durch ihre Fluchtlinien, durch kritische Punkte, an denen die Ordnung einer Gesellschaft durch unvorhersehbare, kleine oder molekulare Ereignisse unterminiert wird, um neuen Affektionen und Assoziationen virtuell Raum zu geben. Deleuze geht insofern weniger von einem subversiven Subjekt aus, durch welches das Ereignis der Revolution zu begründen wäre. Er geht vielmehr von kleinen, molekularen Verschiebungen und virtuellen Ereignissen aus, in denen sich die Möglichkeit, revolutionär zu werden eröffnet – aber dann natürlich auch ergriffen werden muss.27 Ob es sich nun aber, um die bisherigen Ausführungen hier zusammenzufassen, um die Kritik zerstörerischer Herrschaftsverhältnisse oder um 27 François Zourabichvili bringt die beiden Punkte, an denen Negri von Deleuze abweicht auf den Punkt: »Deleuze n’a jamais cru aux promesses de subversion; en revanche, il était attentif à la manière dont tout ordre, tout institution ne cessent d’être pervertis par des ›lignes de fuit‹. De là une première différence, d’ordre méthodologique: là où Negri propose une théorie globale, Deleuze procède par escarmouches, par déstabilisations locales. [ …] La seconde différence est […] d’ordre chronotopique: les pensées de Deleuze et Negri sont toutes deux gouvernées par la dynamisme général de la sortie dedans, de la fuit immanente […]; mais chez Deleuze on ne fuit qu’en faisant fuir un système donne […], tandis que Negri propose le mythe subversif splendide d’une Exode, compte tenu de ce que l’ordre capitaliste se nourrit du travail coopératif de la multitude qui, par ce travail même, ne cesse de se soustraire davantage à lui.« (Zourabichvili 2002: 140) Negri selbst ist sich dieses Unterschieds zu Deleuze durchaus bewusst. So erklärt er, dass, wenn es eine Differenz gibt, die ihn zu Deleuze trennt, es die fehlende Konzeption des Negativen bei Deleuze ist: »mi resta il problema che con Deleuze ho sempre avuto, le nostre discussioni son valse a risolverlo,

188

DIE IMMANENTEN KRITERIEN EINER VITALISTISCHEN GESELLSCHAFTSKRITIK

die Schöpfung neuer Lebensmöglichkeiten handelt – immer ist es zunächst eine Unterscheidung zwischen guten und schlechten Affektionen, eine Selektion zwischen guten und schlechten Aufeinandertreffen oder Begegnungen, die den Ausgangspunkt der Betrachtung markiert. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine moralische Entgegensetzung zwischen Gut und Böse, sondern um eine ethische Differenz. Wie wir gesehen haben, kann alles als gut oder nützlich bezeichnet werden, was mit einem Körper übereinstimmt und dessen Macht vergrößert; dagegen kann alles als schlecht oder unnütz bezeichnet werden, was nicht mit diesem Körper übereinstimmt und seine Macht vermindert. Was aber für den einen Körper gut ist, kann für einen anderen Körper wiederum schlecht sein. Es handelt sich insofern nicht um eine an Universalien orientierte Selektion im Sinne von Platon, es geht nicht darum, die richtigen Prätendenten auszuwählen, d.h. ihren Anspruch im Hinblick auf eine transzendente Instanz zu prüfen und so das Reine vom Unreinen, das Echte vom Unechten (oder das revolutionäre vom reaktionären Subjekt der Geschichte) zu unterscheiden. »Die Auswahl bezieht sich nicht mehr auf den Anspruch, sondern auf die Macht oder das Vermögen (puissance)« (KK: 185 f.). Was zählt, ist nicht andere Körper zu beurteilen oder zu richten, sondern herauszufinden, wann, wie, wo oder auf welche Art und Weise sie mit unserem Körper übereinstimmen (oder auch nicht übereinstimmen) und inwieweit sie damit unser Tätigkeitsvermögen oder unsere Macht hic et nunc vermehren (oder vermindern). »Wir brauchen die anderen Existierenden nicht richten, sondern bloß spüren, ob sie zu uns passen oder nicht« (ebd.: 183). Was ein Körper kann, welche Zusammensetzungen oder Gefüge er mit anderen Körpern einzugehen vermag, was ihm zusagt oder widerspricht, muss demnach immer ad hoc, d.h. von Fall zu Fall und diesseits grober Verallgemeinerungen, immer praktisch-explorativ herausgefunden werden. In diesem Sinne richtet sich die Selektion auch nicht mehr nach Universalien (Quidditas), sie beschäftigt sich vielmehr mit Singularitäten (Haecceitas). successivi sviluppi del pensiero post-deleuziano son riusciti ad evitarlo. E il problema del negativo. […] Eppure il negativo consiste. Come assumerlo e risolverlo, come soffrirlo e distruggerlo in un mondo senza fuori? Come riagganciare la sofferta coscienza del negativo dentro e contra le riconciliazioni positive dell’essere?« (Negri, Vorwort zu Lesce 2004: 6) Deleuze spricht zwar nicht von Negativität, konzipiert aber sehr wohl ein Außen, das als »Sein des Problematischen« (DW: 256) konzipiert wird und das Wesen der Ereignisse und Fluchtlinien charakterisiert. Die politische Strategie basiert bei Deleuze in erster Linie insofern weniger auf Negation oder Konfrontation und vielmehr auf Problematisierung, also darauf, als soziale Bewegung die Probleme selbst zu stellen. Vgl. hierzu die Kritik von Martin Saar (2013) an Negris politiktheoretische Lektüre von Spinozas Machtbegriff.

189

DIE REINE IMMANENZ NACH SPINOZA

Aus dieser ersten Unterscheidung folgt nun aber eine zweite Unterscheidung zwischen verschiedenen Existenzweisen. Zu unterscheiden sind aktive Existenzweisen, in denen gute Begegnungen durch Gemeinbegriffe organisiert werden, um Macht nachhaltig zu vermehren, und passive Existenzweisen, in denen gute wie schlechte Begegnungen bloß passiv erlitten werden, was allerdings dazu führt, dass die Macht – aufgrund der hohen Wahrscheinlichkeit schlechter Begegnungen – tendenziell vermindert wird. Gut (oder frei, vernünftig oder stark) wird jener geheißen, der sich müht, die Begegnungen so weit es ihm möglich ist, zu organisieren, sich mit dem zu vereinen, was mit seiner Natur übereinstimmt, sein Verhältnis mit zu vereinbarenden Verhältnissen zusammenzusetzen, und von da aus sein Vermögen zu vermehren. Denn das Gut-sein ist Angelegenheit der Dynamik, des Vermögens und der Zusammensetzung von Vermögen. Schlecht oder Knecht, schwach oder töricht, wird jener geheißen, der sich dem Zufall der Begegnungen überläßt, der sich damit zufriedengibt, dessen Auswirkungen zu erleiden; auf die Gefahr hin, zu stöhnen und jedesmal zu klagen, daß die erlittenen Wirkungen sich als entgegengesetzt erweisen und ihm sein eigenes Unvermögen offenbart. (S: 33 f.)

Es geht nicht darum, im Sinne der Moral »das Leben im Namen einer höheren Instanz, des Guten oder des Wahren, zu beurteilen« (ZB: 187), vielmehr geht es darum, alles, was das Leben ausmacht, im Hinblick auf das Leben selbst, d.h. auf die Möglichkeiten eines wirkmächtigeren Lebens hin zu bemessen. Insofern sind es dezidiert immanente Kriterien, die die Untersuchung von Existenzweisen bestimmen und damit jede Transzendenz samt moralischem Beigeschmack verabschieden. »Es gibt weder gut noch böse in der Natur, es gibt keine moralische Entgegensetzung, sondern es gibt eine ethische Differenz. Diese Differenz ist diejenige der immanenten Existenzweisen, die eingeschlossen sind in dem, was wir empfinden, tun, denken.« (PA: 23) Die ethische Sichtweise beurteilt nicht Empfindungen, Handlungen und Gedanken, indem sie diese auf eine transzendente Instanz bezieht (das ist gut, das ist böse…; das ist richtig, das ist falsch...). Sie bewertet vielmehr die immanenten Existenzweisen, in denen diese Empfindungen, Handlungen und Gedanken sich bewegen, um zu sehen, ob unsere Macht oder unser Vermögen darin nachhaltig vermindert oder vermehrt wird. Es gibt Dinge, die man nur tun oder sogar nur sagen, glauben, empfinden, denken kann, wenn man schwach, knechtisch, unvermögend ist; andere Dinge kann man nur tun, empfinden etc., wenn man frei oder stark ist. Die Rückversicherung transzendenter Werte wird derart durch eine Methode der Explikation der immanenten Existenzweisen ersetzt. Die Frage ist jedenfalls: vergrößert zum Beispiel dieser Affekt unser Tätigkeitsvermögen oder nicht? Unterstützt er uns darin, dieses Vermögen in unseren vollen Besitz zu bringen? (ebd.: 238) 190

DIE IMMANENTEN KRITERIEN EINER VITALISTISCHEN GESELLSCHAFTSKRITIK

Existenzweisen müssen insofern für sich betrachtet werden. Es muss von Fall zu Fall untersucht werden, welche Affekte darin zirkulieren, ob diese Affekte dabei eher aktiv oder passiv umgesetzt werden und vor allem inwieweit unsere Macht damit entweder vermindert oder vermehrt wird. Wenn bei Deleuze überhaupt von so etwas wie einer Methode gesprochen kann, dann im Sinne einer Dramatisierung und der entsprechenden »Typologie immanenter Existenzweisen« (S: 34): Darin wird die Transzendenz des Urteils durch die immanente Bewegung des Affekts ersetzt. Die Begriffe Neues, Leben und Macht sind in diesem Zusammenhang als Synonyme zu betrachten. Aus diesem Grund erklärt Deleuze, dass alles, was er je geschrieben hat, im Grunde »vitalistisch« (U: 209) war. Denn was Deleuze in den Mittelpunkt aller Überlegungen stellt, ist die spinozistische und nietzscheanische Frage nach aktiven und passiven Existenzweisen, eine ethische Frage, die auf die Erfindung neuer Lebensmöglichkeiten und die korrespondierenden Variationen der Macht abzielt. Es ist folglich nicht das organische oder organisierte Leben, auf das Deleuze sich beruft und das seinen Neovitalismus auszeichnet, sondern vielmehr »das nicht-organische Leben« (SG: 171 f.) als reine Intensität oder Machtgrad.28 Und die ethische Frage, die auf die Vermehrungen und Verminderungen dieses intensiven Lebens abzielt, liefert Deleuze schließlich auch die immanenten Kriterien für jene Gesellschaftskritik, die er gemeinsam mit Guattari in Anti-Ödipus und vor allem in Tausend Plateaus ausarbeitet.29 Beispielsweise sollte Anti-Ödipus laut Deleuze »eine Art Spinozismus des Unbewußten« (U: 211) sein. In seiner Rezension zu diesem Werk 28 Von daher auch der berühmt-berüchtigte Begriff des organlosen Körpers bei Deleuze: »Wenn alles lebendig ist, dann nicht deshalb, weil alles organisch oder organisiert ist, sondern im Gegenteil, weil der Organismus eine Umkehrung des Lebens ist. Kurz gesagt, ein anorganisches, keimförmiges, intensives Leben, ein kraftvolles Leben ohne Organe, ein Körper, der um so lebendiger ist, als er ohne Organe ist – all das fließt zwischen den Organismen hindurch« (TP: 691) Das intensive Leben resultiert in Organen und Organismen. Es wird also begrenzt, indem es organisiert wird. Insofern kann es auch nicht auf seine Organisationsformen zurückgeführt werden, sondern geht immer über diese hinaus. Jenseits seiner Organisationen ist der organlose Körper die experimentelle Zusammensetzung und korrespondierende Variation von Intensitäten auf einer Ebene der Konsistenz. Aus diesem Grund muss Spinozas Ethik laut Deleuze auch als das »große Buch« (ebd.: 211) über den organlosen Körper gelesen werden. 29 Vor allem Rosi Braidotti (2006) entwickelt diese ethische Frage von Deleuze mit ihrem Begriff einer »nomadischen Subjektivität« und der damit verbundenen Politik der Affirmation weiter. Damit schreibt sich auch Braidotti in die Tradition der neo-vitalistischen Gesellschaftskritik ein, auf die oben bereits hingewiesen wurde: »What is ethics, then? […]. It is a mode

191

DIE REINE IMMANENZ NACH SPINOZA

betont Foucault auch, dass Anti-Ödipus, ein Buch, in dem Deleuze und Guattari sich hauptsächlich mit Fragen der Ethnologie und der Psychoanalyse beschäftigen, in erster Linie »ein Buch der Ethik ist […], das erste Buch einer Ethik, das seit recht langer Zeit in Frankreich verfasst worden ist« (F|DE3: 178 f.). Hier ist es der Faschismus, der das Leben mit Kategorien wie Gut und Böse, Treue und Verrat oder Wir und Sie vergiftet, es mit traurigen Affekten belastet und damit die intimen kleinen Schrecken organisiert, durch die Hass, Schuld und Angst schließlich gedeihen können. Auch hier gibt es Dinge, die man nur tun, empfinden, denken oder sagen kann, wenn man unvermögend ist – »das wird man doch wohl noch sagen dürfen!« Dabei ist es aber nicht die historische Gestalt des Faschismus, es sind vielmehr die vielen Mikro-Faschismen des Alltags, die, gestern wie heute, eine durch und durch passive oder ­reaktive Existenzweise, »eine unbewußte Besetzung faschistischen oder reaktionären Typs« (AÖ: 136) zum Ausdruck bringen.30 Die Macht, neue Lebensmöglichkeiten zu schaffen, wird in dieser äußerst reaktiven Existenzweise drastisch vermindert. Die Losung des Faschismus ist für Deleuze und Guattari nämlich eine einzige: »Es lebe der Tod!« (TP: 315) Demgegenüber ist Anti-Ödipus laut Foucault geradezu als »Einführung in das nicht-faschistische Leben« (F|DE3: 178 f.) zu lesen. Eingangs wurde auf das Desiderat einer reinen Philosophie der Immanenz verwiesen. Gesucht wurde eine Philosophie, in der die Immanenz nicht mehr etwas anderem, sondern nur noch sich selbst immanent ist. Wie wir gesehen haben, findet Deleuze diese Philosophie der reinen Immanenz bei Spinoza. Der spinozistische Monismus hat nämlich keinen Platz mehr für eine Transzendenz-, Referenz- oder Analogieebene. Alle Dinge begegnen und überschneiden sich auf einer einzigen Ebene der Immanenz, einer univoken Ebene, die keine Hierarchien und Abstufungen mehr kennt, in der keine zusätzliche Dimension zu dem hinzukommt, was auf ihr geschieht, und die in diesem Sinne vielleicht als of actualizing sustainable forms of transformation. This requires adequate assemblages or interaction: one has to pursue or actively create the kind of encounters that are likely to favor an increase in active becomings and avoid those that diminish one’s potentia. It is an intensive ethics, based on the shared capacity of humans to feel empathy for, develop affinity with, and hence enter into relation with other forces, entities, beings, waves of intensity.« (Braidotti 2011: 317) 30 Vor diesem Hintergrund und in Anlehnung an Wilhelm Reich gehen Deleuze und Guattari auch davon aus, dass die Massen durch den Faschismus nicht etwa getäuscht worden sind, dass der Faschismus also keine einfache ideologische Verblendung darstellt: »Nein, die Massen sind nicht getäuscht worden, sie haben den Faschismus in diesem Augenblick und unter diesen Umständen gewünscht« (AÖ: 39) und damit einer äußerst reaktiven Existenzweise Ausdruck verschafft.

192

DIE IMMANENTEN KRITERIEN EINER VITALISTISCHEN GESELLSCHAFTSKRITIK

flache Ontologie begriffen werden kann (n-1).31 Auf dieser flachen Immanenz- oder Konsistenzebene wird ein Körper nur durch einen Längengrad und einen Breitengrad bestimmt, das heißt, durch die Gesamtheit von materiellen Elementen unter bestimmten Verhältnissen von Bewegung und Ruhe, von Schnelligkeit und Langsamkeit (Längengrad); durch die Gesamtheit von intensiven Affekten, zu denen er bei einem bestimmten Grad von Macht oder Vermögen fähig ist (Breitengrad). Nichts als Affekte und räumliche Bewegungen, unterschiedliche Geschwindigkeiten. Spinoza gebührt das Verdienst, diese beiden Dimensionen des Körpers herausgearbeitet und den Plan der Natur als reine Länge und Breite definiert zu haben. Längen- und Breitengrade sind die beiden Elemente einer Kartographie. (TP: 354)

Abseits der Transzendenz-, Referenz- oder Analogieebene wird ein Körper – ein Stein, ein Tier, eine Person, eine Idee, ein Textkörper, ein sozialer 31 Wie Zourabichvili erklärt, kann man bei Deleuze, um genau zu sein, aber überhaupt nicht von einer Ontologie sprechen. »If there is an orientation of the philosophy of Deleuze, this is it: the extinction of the term ›being‹ and therefore of ontology. Those for whom to comment on an author consists in inscribing him in the grid of philosophia perennis do not return from it [n’en reviennent pas] (but after all, as Deleuze said, if the eternal return has a meaning, it is that of a selection). However, time and again Deleuze spoke clearly—and literally—of his program: substitution of IS by means of AND or, what amounts to the same thing, substitution of becoming for being. The introduction of A Thousand Plateaus ends with these words: ›esta­blish a logic of the AND, overthrow ontology.‹ Contemporary philosophy—Foucault, Derrida, to say nothing of the Anglo-Saxons—has abandoned or overcome ontology; what fun, naive or perfidious, to want by all means to rediscover one in Deleuze!« (Zourabichvili 2012: 36) An dieser Stelle dennoch von einer flachen Ontologie zu sprechen, soll dazu dienen, die historische Umarbeitung herauszuarbeiten, die Deleuze mit seinem Begriff der Univozität und der damit einhergehenden Wende auf eine heterogenetische Theorie kontinuierlicher Machtintensitäten erreichen möchte. Zwar fällt die Philosophie mit »der Ontologie zusammen, die Ontologie aber mit der Univozität des Seins (die Analogie war immer eine den Formen Gottes, der Welt und des Ich angepaßte theologische, keine philosophische Anschauung). Univozität des Seins heißt nicht, daß es ein einziges und selbes Sein gäbe: Alles Seiende ist im Gegenteil vielfach und different, immer von einer disjunktiven Synthese hergestellt, es ist selbst disjunkt und divergent, membra disjunkta« (LS: 223). In diesem Sinne ist Zourabichvili Recht zu geben, wenn er eher von Heterogenese als von Ontologie bei Deleuze spricht. Dagegen hat vor allem DeLanda den Begriff einer »flachen Ontologie« bei Deleuze stark gemacht. Wie DeLanda selbst betont, geht er mit dem, was er daraus macht, d.h. mit einer »flat ontology of individuals« (DeLanda 2002: 178) aber wesentlich über Deleuze hinaus.

193

DIE REINE IMMANENZ NACH SPINOZA

Körper oder ein Kollektiv – folglich weder durch seine Form, seine Organe und Funktionen, noch als Substanz oder Subjekt bestimmt, sondern als Modus, d.h. als Modifikation einer einzigen, alles umfassenden Sub­ stanz. Im Körper (wie auch im Denken) sind Modi nichts anderes als zusammengesetzte Verhältnisse zwischen ungeformten oder molekularen Elementen (Längengrad) sowie die damit korrespondierenden subjektlosen Individuationen der Intensität, des Affekts und der Macht (Breitengrad). Ähnlichen den präzisen Punkten in einem geographischen Koordinatensystem bestimmen oder kartografieren auch die spinozistischen Längen- und Breitengrade Modi punktgenau auf einer Immanenzebene. In diesem Sinne müssen Modi im Körper wie im Denken auch als Diesheiten (Haecceitas) begriffen werden. Bevölkert ist diese Ebene der Immanenz oder Univozität also nur noch »von Diesheiten, Graden, Intensitäten, Ereignissen und Zufällen, die Individuationen bilden, die von der des wohlgeformten Subjektes, das sie aufnimmt, völlig verschieden sind.« (TP: 346) Die spinozistische Immanenzebene ist insofern als Gegenentwurf zum subjekt- oder bewußtseinszentrierten Feld der Transzendentalphilosophie zu begreifen.32 Oder umgekehrt: Das transzendentale Feld wird nach Deleuze dann (und nur dann) als reine Immanenzebene begriffen, wenn es von Subjekt und Objekt gleichermaßen bereinigt wird, um für kein Sein und keinen Akt mehr, sondern nur noch für ein Leben zu stehen: Für ein immanentes Leben, das »die Ereignisse oder Singularitäten mit sich reißt, die sich in den Subjekten und Objekten lediglich aktualisieren« (SG: 368). Und der Umstand, dass das transzendentale Feld sich durch eine Immanenzebene definiert, die Immanenzebene aber durch ein Leben, schreibt, so D ­ eleuze, »den Spinozismus tief in das Unternehmen der Philosophie« (ebd.: 367) ein. Das Denken weist, um auf die vorherige Frage nach dem Bild des Denkens zurückzukommen, nicht mehr über sich selbst hinaus, auf keine abstrakten Kategorien, die seine Möglichkeitsbedingungen bloß hypothetisch und rein äußerlich festlegen, sondern auf Begegnungen, in denen der Geist genauso affiziert wird wie der Körper und in denen seine Macht (angesichts einer konstitutiven Ohnmacht) durch Zufälle und Ereignisse als Diesheit oder individuierte Intensität vollständig zum Ausdruck kommt. Trotz alledem bleibt aber noch eine allerletzte Schwierigkeit. Obwohl Spinoza niemals einen Kompromiss mit der Transzendenz geschlossen hat, sie vielmehr überall angefochten und damit eine reine Philosophie 32 So erklärt Deleuze: »Das Immanenzfeld ist dem Ich nicht immanent, und es kommt auch nicht aus einem äußeren Ich oder Nicht-Ich. Es ist vielmehr so etwas wie das absolute Außen, das keine Formen von Ich mehr kennt, weil Inneres und Äußeres gleichermaßen Bestandteil der Immanenz sind, in der sie verschmolzen sind.« (TP: 215)

194

DIE IMMANENTEN KRITERIEN EINER VITALISTISCHEN GESELLSCHAFTSKRITIK

der Immanenz entworfen hat, kommt der Begriff der Differenz an sich, der für die Frage nach der Genese des Neuen unumgänglich ist, im Monismus von Spinoza aber dennoch nicht zu seinem Recht: Die spinozistische Substanz wird (in der Immanenz) noch als primäres Identitätsprinzip begriffen. Das heißt, die Modi werden bei Spinoza noch als Modifikationen der Substanz begriffen, womit die Substanz ihren Modifikationen (den intensiven Differenzen) immer noch konstitutiv vorausgeht. An dieser Stelle geht Deleuze nun aber unmissverständlich über Spinoza hinaus: Die Substanz müßte sich selbst von den Modi, und nur von den Modi aussagen. Eine derartige Bedingung kann nur um den Preis einer allgemeineren kategorischen Umkehrung erfüllt werden, derzufolge sich das Sein vom Werden, die Identität vom Differenten, das Eine vom Vielen usw. aussagt. Daß die Identität nicht primär ist, daß sie als Prinzip, aber als sekundäres Prinzip, als gewordenes Prinzip existiert; daß sie um das Differente kreist – dies ist die Natur einer kopernikanischen Revolution, die der Differenz die Möglichkeit ihres eigenen Begriffs eröffnet, anstatt sie unter der Herrschaft eines Begriffs überhaupt festzuhalten, der bereits als identisch gesetzt ist. (DW: 64)

Wie Daniel Smith bemerkt, könnte man die Philosophie der Differenz von Deleuze auch als eine Art »Spinozism minus substance« (Smith 2012: 37) bezeichnen. Was Spinoza als Substanz bezeichnet, wird bei Deleuze nämlich durch den Begriff der Differenz an sich ersetzt. Bereits bei Bergson haben wir gesehen, wie Deleuze die innere Differenz der Dauer als substanzielle Seite aller Dinge begreift und dabei in Anlehnung an Spinoza auch ausdrücklich von einer »natura naturans« (B: 117) spricht. Die Mittel, um die kategorische Umkehrung zu vollziehen, um also die Identität zu einem sekundären, gewordenen Prinzip zu machen und das Primat der Differenz damit zu gewährleisten, finden Deleuze aber erst bei Nietzsche und seinem Begriff der »ewigen Wiederkunft« (DW: 65). Damit wird, wie wir noch sehen werden, der Monismus von Spinoza auf einen wilden Pluralismus hin geöffnet, der in einem mannigfaltigen Werden zufällig aufeinandertreffender Kräftedifferenzen zum Ausdruck kommt. Nun ist nicht mehr die Rede von Modifikationen der Substanz, sondern nur noch von substanziellen Modifikationen. Es sind untergründige, aufsteigende und vor allem irreduzible Kräftedifferenzen, die nun als intensive Faktoren alle Dinge als Haecceitas individuieren. Alles was ist, ist damit Ausdruck eines singulären Spiels von intensiven Differenzen, die sich, da sie ihrerseits keiner übergeordneten Instanz mehr unterstehen, sozusagen »auf Augenhöhe« begegnen. Das Wesentliche der Univozität liegt nach Deleuze also nicht einfach darin, dass »sich das Sein in ein und derselben Bedeutung aussagt. Vielmehr darin, daß es sich in ein und derselben Bedeutung von all seinen individuierenden Differenzen 195

DIE REINE IMMANENZ NACH SPINOZA

oder innerlichen Modalitäten aussagt.« (ebd.: 59) Die Differenz kommt damit zu ihrem eigenen Begriff, ist also primär und nicht mehr der Identität verpflichtet, die ihrerseits nur noch Wirkung ist. Alles ist gleichermaßen ein Spiel von Differenzen, das Spiel ist aber in jedem Fall oder für jede Modalität ein anderes.33

33 »Das Sein ist für all diese Modalitäten dasselbe, aber diese Modalitäten sind nicht dieselben. Es ist für alle ›gleich‹, sie selbst aber sind nicht gleich. Es sagt sich in einer einzigen Bedeutung von allen aus, sie selbst aber haben nicht dieselbe Bedeutung. Es gehört zum Wesen des univoken Seins, daß es sich auf individuierende Differenzen bezieht, diese Differenzen aber besitzen nicht dasselbe Wesen und variieren das Wesen des Seins nicht […]. Das Sein sagt sich in ein und derselben Bedeutung von all dem aus, wovon es sich aussagt, das aber, wovon es sich aussagt, differiert: Es sagt sich von der Differenz selbst aus.« (DW: 59)

196

5. Nietzsche und das Werden der Kräfte 5.1 Pluralismus, Perspektivismus, Relationalismus Eingangs wurde bereits darauf hingewiesen, wie Kant über die klassische Metaphysik hinausgeht: Das Phänomen wird als Erscheinung, nicht mehr als Schein begriffen. Es verweist nicht mehr auf ein Wesen, das sich in diesem als Schein bloß andeutet, sondern auf Bedingungen, die dessen Erscheinung überhaupt erst ermöglichen. Es hat sich dabei allerdings gezeigt, dass die Transzendentalphilosophie damit aber nur Bedingungen aufdeckt, »die dem Bedingten noch äußerlich bleiben. Die transzendentalen Grundsätze sind bedingende Prinzipien, keine einer inneren Genesis.« (NP: 100) Wenn nun Kant »die wahre Kritik nicht geleistet hat« (ebd.: 5), dann ist es Nietzsche, der sich Deleuze zufolge in die Geschichte des Kantianismus einbringt, um eine »radikale Transformation des Kantianismus, die neuerliche Hervorbringung der Kritik, die Kant im selben Augenblick auch schon verraten hatte, als er sie entwarf, die Wiederholung des kritischen Projekts auf neuen Grundlagen und mit neuen Begriffen« (NP: 59) anzustreben. Die Grundlage hierfür finden wir in Nietzsches Vorhaben, »in die Philosophie die Begriffe von Sinn und Wert einzubringen« (ebd.). Der Sinn ist dabei aber »in keiner Weise ein Reservoir, auch kein Prinzip oder Ursprung, ja nicht einmal ein Zweck: er ist eine ›Wirkung‹, eine hervorgerufene Wirkung, deren Produktionsgesetze es aufzudecken gilt« (EI: 197). Diese Produktionsgesetze findet Nietzsche unterhalb der repräsentativen Ordnungen: in Kräfteverhältnissen. Ein Phänomen verweist nun nicht mehr auf ganz allgemeine Möglichkeiten oder subjektive Sinnsetzungen, sondern auf unterschiedliche Kräfte, die ihm zuerst diesen und später jenen Sinn aufzwingen. Möchte man hier also von Bedingungen sprechen, dann ist damit ein wildes Spiel von Kräften gemeint. »Das heißt, daß die Phänomene, die Dinge, die Organismen, die Gesellschaften, die Bewußtseine und die Geister Zeichen oder vielmehr Symptome sind und als solche auf Kräfteverhältnisse verweisen.« (SG: 194) Nietzsche ersetzt die alte metaphysische Dualität von Erscheinung und Wesen, aber auch die (alte) wissenschaftliche Relation von Ursache und Wirkung, durch die Korrelation zwischen Phänomen und Sinn.1 1 Aus diesem Grund warnt Deleuze auch davor, hier den tradierten Sinnbegriff ins Spiel zu bringen. »Der Sinnbegriff kann die Zuflucht eines wiedererstehenden Spiritualismus sein: das, was man manchmal ›Hermeneutik‹ (Interpretation) nennt, setzt fort, was man nach dem Krieg ›Axiologie‹ (Wertlehre) nannte. Dem nietzschanischen, oder diesmal freudianischen, Sinnbegriff droht eine ebenso große Entstellung wie dem des Werts. Man

197

NIETZSCHE UND DAS WERDEN DER KRÄFTE

Voraussetzung hierfür ist aber das, was Deleuze mit Nietzsche als Umkehrung des Platonismus bezeichnet.2 Damit ist jedoch weit mehr als die doppelte Ablehnung der Wesen und Erscheinungen gemeint. Denn bei Platon ist »der Gegensatz von Wesen und Erscheinung, Sein und Werden allemal und zunächst in einer bestimmten Art und Weise des Fragens begründet, in einer Frageform« (NP: 84). Bekanntlich ist es die Frage »Was ist…?«, die im Mittepunkt des Platonismus steht. »So wird man nicht fragen, was schön ist, sondern was das Schöne ist. Nicht wo und wann es Gerechtigkeit gibt, sondern was das Gerechte ist. Nicht wie ›zwei‹ erhalten wird, sondern was die Dyade ist. Nicht wieviel, sondern was…« (EI: 140 f.) Mit den Fragen welche? wo? wann? wie? oder wieviel? gelangen wir Platon zufolge nicht zum Wesentlichen, sondern bloß zum Akzidentiellen. Die Umkehrung des Platonismus beruht nun aber da­ rauf, die Frageform zu wechseln. Gerade das tut Nietzsche, wenn er die aporetische Frage was? zugunsten der tragischen Frage wer? verabschiedet. Wer ist es, der sich in einem Phänomen ausdrückt, manifestiert oder verbirgt? Welche Kräfte sind es, die sich eines Dinges bemächtigen, ihm diesen oder jenen Sinn aufzuzwingen? Die Philosophie wird so zu einer Symptomatologie, einer Semiologie, »einer transzendentalen Kasuistik« (ebd.: 141), in der gerade jene Fragen in den Mittepunkt rücken, die bei Platon noch im Abseits stehen. Das Wesen eines Dings wird in der Kraft ausgemacht, in deren Besitz es ist und die sich in ihm zum Ausdruck bringt, wird in den zu dieser Kraft in Affinität stehenden anderen Kräften entwickelt, schließlich durch die Kräfte, die sich jener Kraft entgegenstellen und über sie siegen können, gefährdet oder zerstört: Das Wesen bildet immer der Sinn und der Wert. (NP: 85)

Wechselt man die Frageform, dann bezeichnet das Unwesentliche oder Akzidentielle also nicht mehr »das Bedeutungslose, sondern im Gegenteil das Tiefste, den Stoff oder das universale Kontinuum, woraus die Wesenheiten selbst schließlich gemacht sind« (DW: 73). In sich selbst sind die Dinge immer schon etwas anderes, etwas maskiertes. Hinter den Masken stehen aber wiederum nur weitere Masken: in jeder Maske wiederholen spricht von ursprünglichem ›Sinn‹, von vergessenem Sinn, getilgtem Sinn, verschleiertem Sinn, wiederverwendetem Sinn usw.: unter der Kategorie des Sinns werden die alten Trugbilder von neuem aus der Taufe gehoben, man läßt die ›Wesenheit‹ auferstehen, man findet alle religiösen und geheiligten Werte wieder. Bei Nietzsche, bei Freud ist das genaue Gegenteil der Fall: der Sinnbegriff ist hier das Instrument einer absoluten Kontestation, einer absoluten Kritik und auch einer ganz bestimmten Schöpfung.« (EI: 197) 2 So erklärt Nietzsche programmatisch: »Meine Philosophie umgedrehter Platonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel.« (N|KSA7: 199)

198

PLURALISMUS, PERSPEKTIVISMUS, RELATIONALISMUS

sich andere Masken bis ins Unendliche. Das Phänomen wird folglich zur prekären Wirkung einer endlosen Verkleidung und Verschiebung. Wegweisend ist hierbei vor allem eine berühmte Passage aus Nietzsches Genealogie der Moral. Dabei bemerkt Nietzsche, dass der Sinn, den ein Ding hat, einzig und allein den Kräften geschuldet ist, die sich seiner bemächtigen konnten. Der Sinn ist folglich eine von Kräften hervorgerufene Wirkung. Sinn wird also nicht attribuiert: er wird produziert. Dabei verweist er auf nichts, was über das kontingente Geschehen, das die Kräfte hic et nunc involviert, hinausweist – keinen gemeinsamen Ursprung, keinen höheren Zweck. Das Sein ist univok, doch es sagt sich von den intensiven Differenzen aus, die aus einem unvorhersehbaren Kräftegeschehen fortlaufend entstehen und vergehen – als ewige Wiederkehr der Differenz. Ein und dasselbe Ding kann so durch eine Reihe verschiedener Kräfte immer wieder zurechtgemacht, auf einen neuen Sinn hin uminterpretiert werden. Das heißt, »die Geschichte eines Dings besteht ganz allgemein in der kontingenten Aufeinanderfolge der Kräfte, die sich seiner bemächtigen sowie im gleichzeitigen Vorhandensein der Kräfte, die um seine Überwältigung ringen« (NP: 7) – und nicht einer linearen Entwicklung.3 Alles, was sich auf den ersten Blick an einem Ding feststellen lässt, ist folglich nur ein »Anzeichen« (N|KSA5: 314) für ein tieferliegendes Machtspiel, für einen irreduziblen, aufsteigenden Untergrund: für verschiedene, heterogene, zufällig aufeinander treffende Kräfte. So erklärt Nietzsche: Die ganze Geschichte eines »Dings«, eines Organs, eines Brauchs kann dergestalt eine fortgesetzte Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen sein, deren Ursachen selbst unter sich nicht im Zusammenhange zu sein brauchen, vielmehr unter Umständen sich bloss zufällig hinter einander folgen und ablösen. »Entwicklung« eines Dings, eines Brauchs, eines Organs ist demgemäss nichts weniger als sein progressus auf ein Ziel hin, noch weniger ein logischer und kürzester, mit dem kleinsten Aufwand von Kraft und Kosten erreichter progressus, – sondern die Aufeinanderfolge von mehr oder minder tiefgehenden, mehr oder minder von einander unabhängigen, an ihm sich 3 Auch hier gilt, ein Ding nicht ausgehend von seiner empirischen Form, einer nachweisbaren Funktion zu beurteilen. »Wenn man die Nützlichkeit von irgend welchem physiologischen Organ (oder auch einer Rechts-Institution, einer gesellschaftlichen Sitte, eines politischen Brauchs, einer Form in den Künsten oder im religiösen Cultus) noch so gut begriffen hat, so hat man damit noch nichts in Betreff seiner Entstehung begriffen: so unbequem und unangenehm dies älteren Ohren klingen mag, – denn von Alters her hatte man in dem nachweisbaren Zwecke, in der Nützlichkeit eines Dings, einer Form, einer Einrichtung auch deren Entstehungsgrund zu begreifen geglaubt, das Auge als gemacht zum Sehen, die Hand als gemacht zum Greifen.« (N|KSA5: 314)

199

NIETZSCHE UND DAS WERDEN DER KRÄFTE

abspielenden Überwältigungsprozessen, hinzugerechnet die dagegen jedes Mal aufgewendeten Widerstände, die versuchten Form-Verwandlungen zum Zweck der Vertheidigung und Reaktion, auch die Resultate gelungener Gegenaktionen. Die Form ist flüssig, der »Sinn« ist es aber noch mehr... (ebd.)

Der Begriff des Sinns impliziert stets die »Pluralität des Sinns, eine Konstellation, ein Komplex von Aufeinanderfolgen, aber auch von Koexistenzen, der die Interpretation zur Kunst werden läßt« (NP: 8). Deleuze zufolge ist Nietzsches Philosophie so lange nicht begriffen, bis nicht der Pluralismus berücksichtigt wird, von dem diese ausgeht. Ein Ereignis, ein Phänomen, ein Wort, eine Tat oder ein Gedanke sind immer mehrdeutig, weil sie aufgrund der Kräfte, die sich ihrer »bemächtigen, sich in ihnen maskieren, bald dies, bald das, bald etwas Komplexeres« (ebd.) sind. Obwohl hier die Rede von »Kräften« ist, sollte also klar sein, dass Kräfte nicht einzeln, allein oder für sich selbst existieren.4 Eine Kraft existiert ausschließlich im Verhältnis zu einer anderen Kraft: in ihrer Wirkung auf diese. Jede Kraft »steht in einem wesentlichen Verhältnis zu einer anderen Kraft. Das Sein der Kraft ist plural; es wäre geradezu absurd, die Kraft singulär zu denken.« (NP: 11) Das bedeutet auch, dass Kräfte grundsätzlich Elemente einer Mannigfaltigkeit sind, die weder auf das Eine noch auf das (vereinzelte) Viele zurückgeführt werden kann: »En d’autres termes la force est déjà une multiplicité. La force est le rapport d’une force avec une autre force. La pensée de la force a toujours été la seule manière de récuser, si on y tenait, l’un. C’est la pensée du multiple, la pensée de la force.« (Deleuze 1986b) Die Frage, wer es ist, der sich in einem Phänomen manifestiert, welche Kräfte sich darin zum Ausdruck bringen, wie verschiedene Gesichtspunkte darin kompliziert werden, die Frage also, die den multiplen, pluralen Sinn der Dinge 4 Die Kraft darf zwar nicht als atomisiertes Element begriffen werden. Der Atomismus impliziert aber bereits eine prototypische Theorie der Kräfteverhältnisse. Denn wenn Demokrit, Epikur oder Leukipp zum Begriff des Atoms gelangen, dann nicht um vereinzelte Elemente zu benennen, sie wollen vielmehr eine grundlegende Mannigfaltigkeit zum Ausdruck bringen. Atome stehen nämlich immer in einer wesentlichen Beziehung zu anderen Atomen. Das Atom ist das, was nicht unabhängig von seiner Beziehung zu anderen Atomen konzipiert werden kann. Die Atome fallen bekanntlich nicht geradewegs ins Leere, sondern erfahren immer eine minimale Abweichung, fallen also entlang einer Linie, auf der sie allen anderen Atomen begegnen und mit diesen in Beziehung treten. Der Begriff des clinamen soll gerade das zum Ausdruck bringen. Der Atomismus läuft also darauf hinaus, »der Materie eine ihr wesentliche Pluralität und Distanz zuzuschreiben, die doch in Wahrheit nur der Kraft zukommen. Nur der Kraft ist die Seinsweise gegeben, sich auf eine andere Kraft zu beziehen. […] So gesehen stellte der Atomismus eine Maske für den entstehenden Dynamismus dar.« (NP: 11)

200

PLURALISMUS, PERSPEKTIVISMUS, RELATIONALISMUS

betrifft, verweist folglich auf den Begriff der Mannigfaltigkeit. Das Denken in Kräfteverhältnissen sowie die tragischen Fragen, die diesen Kräften nachspüren, machen das Mannigfaltige zum Substantiv. Die Frage ist nicht mehr, ob die Idee das Eine oder das Viele ist oder auch beides zusammen: »Mannigfaltigkeit«, als Substantiv verwendet, bezeichnet einen Bereich, in dem die Idee, durch sich selbst, dem Akzidens weit näher ist als dem abstrakten Wesen und nur mit den Fragen wer? wie? wieviel? wo und wann? in welchem Fall? bestimmt werden kann – lauter Formen, die ihre wahren raumzeitlichen Koordinaten beschreiben. (EI: 141)

Gerade weil Kräfte nur in Beziehung zueinander existieren, sich als divergente Gesichtspunkte wechselseitig implizieren und als Masken ineinander verkleiden, haben ihre Verhältnisse auch kein Zentrum, keinen Anfang und kein Ziel, sondern werden durch das Geschehen, das sie involviert, aus ihrem Dazwischen, fortlaufend mitbestimmt. Und weil das Kräftegeschehen, das somit weder Eines noch Vieles ist, über Ereignisse, Umschwünge, Übergriffe und lauter kleine Verschiebungen verläuft, müssen die Fragen, die das Akzidens betreffen, nun auch zwangsläufig in den Mittelpunkt rücken.5 5 Obwohl Deleuze selbst darauf hinweist, dass das Denken in Kräfteverhältnissen die einzige Möglichkeit ist, sich der Vorherrschaft des Einen zu entziehen und dass der Begriff der Kraft immer eine Mannigfaltigkeit impliziert, also genau das zum Ausdruck bringt, was im Zentrum seiner Philosophie steht, geht Levi Bryant fälschlicherweise davon aus, dass es im Werk von Deleuze keine Ontologie der Kräfte gibt. »In the first place, we find nothing resembling active and reactive forces throughout Difference and Repetition or The Logic of Sense. This claim can be made equally of Anti-Oedipus: Capitalism and Schizophrenia, A Thousand Plateaus, and What Is Philoso­ phy? written with Guattari. Regardless of what readers such as Massumi or Hardt might wish to claim, Deleuze simply does not adhere to an ontolo­ gy of forces.« (Bryant 2008: 222) Abgesehen davon, dass Bryant den ersten Teil seines Arguments lediglich darauf aufbaut, dass aktive und reaktive Kräfte, zwei Begriffe also, die Deleuze im Werk von Nietzsche aufzeigt, in seinem eigenen Werk wortwörtlich gar nicht vorkommen, läuft der zweite Teil seines Arguments vollkommen ins Leere. Denn, auch wenn er das Gegenargument vorweg nehmen möchte, dass doch differentielle Beziehungen genau das bezeichnen, was man gemeinhin als Kräfteverhältnisse versteht, geht er von einem Verständnis der Kräfteverhältnisse aus, das es bei Deleuze gerade nicht gibt: »the relation between the differentials dx and dy is one of reciprocal determination, whereas the relationship between a Nietzschean play of forces always involves one force overpowering another, overdetermining it. In short, the relation between forces is external, while that of the differential is internal. For Deleuze’s Nietzsche, active forces are entirely indifferent to reactive forces.« (ebd.) Wie wir gesehen haben, basiert der

201

NIETZSCHE UND DAS WERDEN DER KRÄFTE

Wie wir gesehen haben, sieht Hegel im Hinweis auf die raumzeitlichen Koordinaten einer pluralistischen Idee, also im Hinweis auf »dieses hier« oder auf »dieses jetzt«, »weniger als Nichts« (Hegel 1986a: 82 f.). Dass ein Ding mehrere Bedeutungen haben kann, dass es einen multiplen Sinn besitzt, dass dasselbe Ding also zunächst »dies« dann »das« ist, dass es stets eine Verdichtung von nomadischen Singularitäten ist – darin sieht Deleuze aber gerade »die höchste Errungenschaft der Philosophie, den Sieg des wahren Begriffs, seine Reife« (NP: 8). Die Welt ist Nietzsche zufolge »essentiell Relations-Welt: sie hat, unter Umständen, von jedem Punkt aus ihr verschiedenes Gesicht: ihr Sein ist essentiell an jedem Punkte anders: sie drückt auf jeden Punkt, es widersteht ihr jeder Punkt – und diese Summirungen sind in jedem Falle gänzlich incongruent« (N|KSA13: 271). Pluralismus meint auch »Perspektivismus, vermöge dessen jedes Kraftcentrum – und nicht nur der Mensch – von sich aus die ganze übrige Welt construirt d.h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet« (ebd.: 273). Jede Kraft markiert einen singulären, irreduziblen Gesichtspunkt auf die Gesichtspunkte aller anderen Kräfte, eine Perspektive, die sich, in ihrem Streben nach Macht, allen anderen Perspektiven aufzwingt oder anmaßt und sie damit in ihrer Differenz umfasst.6 Gerade das ist von allergrößter Wichtigkeit, denn die Perspektiven, von denen hier die Rede ist, dürfen keinesfalls als Perspektiven auf etwas verstanden werden – jede Überhöhung im Sein ist ausgeschlossen. »Leibniz bereits lehrte uns, daß es keine Perspektive auf die Dinge gibt, sondern daß die Dinge, die Wesen Perspektiven seien. Nur unterwarf er die Perspektiven exklusiven Regeln, denen zufolge jede sich gegenüber den anderen nur öffnete, sofern sie konvergierten: die Perspektiven auf dieselbe Stadt.« (LS: 216) Das heißt, bei Leibniz kommunizieren die Perspektiven nur insofern, als dass sie dieselbe kompossible Begriff der Kräfteverhältnisse bei Deleuze (und Nietzsche) ausdrücklich darauf, dass Kräfte nur in Beziehung zu anderen Kräften existieren. Dies trifft natürlich auch auf aktive Kräfte zu, denn wenn diese sich als aktive Kräfte bestimmen, dann doch immer nur im Verhältnis zu den reaktiven Kräften, denen sie schaffend vorausgehen. Wie wir gleich sehen werden, ergibt sich die jeweilige Qualität der Kräfte gerade aus der quantitativen Differenz zwischen ihnen. Mit seiner Kritik möchte Bryant offensichtlich den Weg für seine These ebnen, der zufolge Deleuze, der zeitlebens genau das Gegenteil behauptet hat, nicht nur kein Empirist, sondern gleich noch ein Hyper-Rationalist ist (vgl. ebd.: 8). 6 Kraft ist Perspektive. Das heißt, »jedes Kraftcentrum hat für den ganzen Rest seine Perspektive d.h. seine ganz bestimmte Werthung, seine AktionsArt, seine Widerstandsart. […] Die Realität besteht exakt in dieser Partikular-Aktion und Reaktion jedes Einzelnen gegen das Ganze …« (N|KSA13: 371).

202

PLURALISMUS, PERSPEKTIVISMUS, RELATIONALISMUS

oder konvergente Welt ausdrücken, welche Gott aus einer inkompossiblen Unendlichkeit divergenter Welten bereits ausgewählt hat. Leibniz bleibt damit noch einer Welt der Repräsentation verpflichtet, die an der Identität (die »beste« aller Welten) als oberstem Prinzip festhält. Dagegen erklärt D ­ eleuze, dass der Perspektivismus von Nietzsche gegenüber dem von Leibniz »eine tiefere Kunst« (ebd.) ist, »denn die Divergenz ist nicht länger ein Ausschlussprinzip, die Disjunktion nicht länger ein Trennungsmittel, das Inkompossible ist nun ein Kommunikationsmittel« (ebd.). Der Sinn wird durch Kräfte hervorgebracht, die zufällig aufeinander treffen, die nichts gemeinsam haben und einzig und allein über ihre Differenzen kommunizieren, durch die Resonanz ihrer Verschiedenartigkeit, durch die Art und Weise also, in der sich ihre divergenten Per­spektiven wechselseitig wiederholen, sich ineinander verkleiden und voneinander distanzieren. Divergenz ist bei Nietzsche ein Inklusionsprinzip. Zudem war Nietzsche »immer der Meinung, daß die Kräfte quantitativ seien und sich quantitativ zu definieren hätten« (NP: 49) – eine Kraft ist stärker als eine andere. Eine quantitative Definition meint hier aber keineswegs, dass die ungleichen Kräfte auf eine übergeordnete, gemeinsame Maßeinheit verweisen, in der ihre Ungleichheit festgelegt wird. Eine solche Definition bliebe abstrakt. Sie geht nämlich davon aus, die Verhältnisse, in die die Kräfte unmittelbar eingebunden sind, seien durch Zahlen ganz allgemein vergleichbar und in ihrer vollen Differenz damit repräsentierbar. Wenn es aber stimmt, dass Kräfte nur mit anderen Kräften in Beziehung stehen, dann müssen auch ihre Quantitäten unmittelbar in Bezug aufeinander bestimmt werden. Die Quantität einer Kraft kann gegenüber einer anderen nur größer oder kleiner sein – ihre Differenz ist also ordinal, nicht kardinal. Kräfte, die sich ausgleichen, wären keine Kräfte mehr, würden untereinander also keine Wirkung mehr hervorrufen. »Folglich ist die Quantität nicht von der Quantitäts-Differenz selbst zu trennen. Die Quantitäts-Differenz bildet die Essenz der Kraft, das Verhältnis der Kraft auf Kraft.« (NP: 49) Nietzsche kritisiert demnach die Quantität als abstrakten Begriff, da in diesem die Differenz in einer übergeordneten, gemeinsamen Maßeinheit ausgelöscht oder getilgt wird. Diese Gleichmacherei muss konsequent vermieden werden. Denn Kräfte treten nur insofern zueinander in Beziehung, wie eine inkommensurabel Differenz sie als Kräfte zueinander in Beziehung setzt. Kräfteverhältnisse können demnach niemals ausgeglichen oder auf ein gemeinsames Maß überführt werden: Ihre Differenz ist gerade das, was sie aufeinander bezieht und wirken lässt. Aufgrund dieses konstitutiven Ungleichgewichts sind Kräfteverhältnisse aber auch stets prekär, anfällig für jede noch so kleine Verschiebung und insofern auch andauernd in Bewegung: »Gesetzt, die Welt verfügte über ein Quantum von Kraft, so liegt auf der Hand, daß jede Macht-Verschiebung an irgend einer Stelle das 203

NIETZSCHE UND DAS WERDEN DER KRÄFTE

ganze System bedingt – also neben der Causalität hinter einander wäre eine Abhängigkeit neben und miteinander gegeben.« (N|KSA12: 137) Aufgrund der inkommensurablen Differenz, der unauflösbaren Spannung in ihren Verhältnissen, entfaltet sich das Spiel der Kräfte in einem allumfassenden Werden. Kräfte treten nicht von allein aus in Beziehung. Es ist vielmehr der Zufall, der sie in Beziehung setzt: »Der Zufall ist das In-Beziehung-Setzen der Kräfte« (NP: 59). Es ist der Zufall, der entscheidet, welche Kräfte wie, wo, wann und auf welche Weise in Beziehung treten.7 Ihre Stärke, die quantitative Differenz, die sie aufeinander bezieht, wird erst in diesen Begegnungen bestimmt. Wie schon bei Spinoza liegt der Ausgangspunkt auch hier in aleatorischen, würfelartigen Begegnungen. Gerade deshalb können Kräfte auch nicht pauschal verglichen oder abstrakt verrechnet werden, sondern bedürfen immer einer nuancierten, differentiellen und fallgerechten Interpretation. Dies gilt umso mehr, wenn Kräfteverhältnisse tatsächlich prekär und instabil sind und folglich auch jederzeit kippen können. Immer besteht nämlich die Gefahr, dass plötzlich, d.h. durch Zufall, eine andere, stärkere Kraft auftaucht, die sich ein gegebenes Kräfteverhältnis aneignet, darin die Rangfolge der involvierten Kräfte neuverteilt und damit alles grundlegend verändert. In diesem Sinne ist für Nietzsche auch »alles Geschehen, alle Bewegung, alles Werden als ein Feststellen von Grad- und Kraftverhältnissen, als ein Kampf ...« (N|KSA12: 384) zu begreifen. Unsere oberflächliche Welt fußt, wie Foucault in Anschluss an Nietzsche betont, auf »dem bebenden Sockel der Kräfteverhältnisse, die durch ihre Ungleichheit« (F|WW: 45) alles Feste und Beständige fortlaufend der Gefahr des Anderswerdens aussetzen. Wegen ihrer irreduziblen Quantitätsdifferenz: weil immer eine Kraft stärker als eine andere ist, müssen in jedem einzelnen Fall also herrschende und beherrschte Kräfte unterschieden werden. Aus dieser quantitativen Unterscheidung folgt nach Nietzsche nun auch eine weitere: eine qualitative Unterscheidung. Das bedeutet allerdings nicht, dass Qualitäten auf Quantitäten reduziert werden: Qualitäten werden vielmehr auf Quantitäts-Differenzen zurückgeführt. »Die Qualitäten sind nichts 7 In der Genealogie wird die Innerlichkeit des Wesentlichen durch die Äußerlichkeit des Akzidentiellen ersetzt. Diesen Umstand bringt Foucault in seinem wegweisenden Aufsatz zur historischen Methodik bei Nietzsche folgendermaßen zum Ausdruck: »Das komplizierte Netz der Herkunft aufdröseln heißt vielmehr festhalten, was in der ihr eigenen Zerstreuung geschehen ist; es heißt die Zufälle, die winzigen Abweichungen – oder totalen Umschwünge –, die Irrtümer, falschen Einschätzungen und Fehlkalkulationen nachvollziehen, die hervorgebracht haben, was für uns existiert und Geltung besitzt; es heißt entdecken, dass an der Wurzel dessen, was wir erkennen und was wir sind, nicht die Wahrheit liegt und auch nicht das Sein, sondern die Äußerlichkeit des Zufalls.« (F|DE2: 172)

204

PLURALISMUS, PERSPEKTIVISMUS, RELATIONALISMUS

außer der Quantitäts-Differenz, der sie in zwei Kräften, deren Beziehung zumindest unterstellt wird, entsprechen« (NP: 49). In diesem Sinne werden die starken, überlegenen oder herrschenden Kräfte als aktive und die schwachen, unterlegenen oder beherrschten Kräfte als reaktive Kräfte qualifiziert. »Aktiv und reaktiv sind genaugenommen Urqualitäten, die die Beziehung der Kraft zur Kraft zum Ausdruck bringen« (ebd.: 46). Was Nietzsche als Rangfolge bezeichnet, ist genau diese quantitative Differenz zwischen entsprechend qualifizierten Kräften. Kräfte können demnach nicht pauschal vermessen werden, sondern müssen immer ad hoc verglichen, gegeneinander gewichtet oder abgeschätzt werden, um sie entsprechend qualifizieren und interpretieren zu können. Jede Interpretation ist eine Festlegung des Sinns eines Phänomens. Ihr Sinn besteht in eben dem Verhältnis von Kräften, nach denen in einem komplexen und hierarchischen Zusammenhang die einen agieren und andere reagieren. Wie komplex ein Phänomen auch sein mag, wir können immer primäre, aktive Kräfte der Eroberung und der Unterjochung und sekundäre, reaktive Kräfte der Anpassung und Regulierung erkennen. Diese Unterscheidung ist nicht nur quantitativ, sondern qualitativ und typologisch. Denn das Wesen der Kraft besteht darin, mit anderen Kräften in Beziehung zu sein; und aus dieser Beziehung gewinnt sie ihr Wesen oder ihre Qualität. (N: 25)

Reaktive Kräfte können auf das, was aktive Kräfte vorgeben, immer nur reagieren. Sie zeichnen sich insofern auch durch Anpassung, Regulierung, Einschränkung, Verzögerung oder Verhinderung aus. Die reaktiven Kräfte schlechthin sind für Nietzsche bekanntlich das Ich, das man Bewusstsein nennt, sowie das Gedächtnis und die Gewohnheit, die damit einhergehen.8 Wenn anpassen, regulieren, einschränken, verzögern oder verhindern Eigenschaften der reaktiven Kraft sind, dann sind »aneignen, bemächtigen, unterwerfen, beherrschen […] Eigenschaften der aktiven Kraft. Aneignen heißt Formen aufzuzwingen, Formen zu schaffen, indem Umstände ausgebeutet werden« (NP: 46). Eine Kraft ist also dann aktiv, wenn sie »die Fähigkeit aufweist, sich umzuwandeln. Macht zur Transformation, dionysische Macht, ist die erste Bestimmung der Aktivität.« (NP: 48) Und durch ihren spontanen, angreifenden, übergreifenden, 8 Der höhere Empirismus von Deleuze setzt genau hier an. Wird das Bewusstsein nämlich als reaktive Kraft gefasst, als etwas, das lediglich reagiert und insofern gehorcht, dann ist es der Körper, auf den dabei reagiert wird, der also agiert und gebietet. »Wie Freud denkt auch Nietzsche, daß das Bewußtsein die von der äußeren Welt affizierte Region des Ich ist.« (NP: 45) Es gibt hier kein Selbstbewusstsein, sondern nur ein blasses Ich, das sich seiner körperlichen Affektionen, der Kräfte, die sich seiner bemächtigen, bewusst wird und damit bloßes Resultat oder Symptom ist – es ist Sklave in Bezug auf die große Haupttätigkeit des Körpers (und seiner Affektionen).

205

NIETZSCHE UND DAS WERDEN DER KRÄFTE

neu-auslegenden, neu-richtenden und schöpferischen Typus kommt aktiven Kräften schließlich auch ein prinzipieller »Vorrang« (N|KSA5: 316), ein Primat, gegenüber allen reaktiven Kräften zu. Aktive Kräfte stehen, wie wir noch sehen werden, für die Genese des Neuen.

5.2 Eine verkehrte Welt: Das Reaktiv-Werden der Kräfte Da Kräfte aufgrund ihrer irreduziblen Quantitätsdifferenz wesentlich zu anderen Kräften in Beziehung stehen, können sie niemals für sich allein betrachtet werden. Kräfte existieren nur im Verhältnis zu anderen Kräften: Sie implizieren immer ein unauflösbares Gewirr von wild ineinander verschränkten Perspektiven. Es ist dieser Pluralismus, der Nietzsches Philosophie in den Augen von Deleuze auszeichnet. Wir haben bereits gesehen, dass Dinge immer einen multiplen Sinn besitzen. Das sorgsame Abwägen, die differentielle Bewertung »von Diesem und Jenem, die heikle Gewichtung der Dinge und ihres Sinns, die Einschätzung der Kräfte, die zu jedem Zeitpunkt die Aspekte eines Dings und seiner Verhältnisse zu den anderen definieren – all das (oder all dies) geht aus der höchsten Kunst der Philosophie, der Interpretation, hervor« (NP: 8). Die pluralistische Interpretation bringt folglich eine Wahrheit ans Tageslicht, die »als Wahrheit der Relativität (und nicht als Relativität des Wahren)« (FA: 40) begriffen werden muss. Aus diesem Grund interessiert sich Nietzsche auch nicht für die einzelnen Qualitäten der Kräfte, sondern für die Dynamik, die sich zwischen den Kräften und ihren jeweiligen Qualitäten entfaltet: Genau das nennt er einen Typus. Ein Kräftetypus bezeichnet nicht nur eine Qualität, sondern ein Verhältnis von Kräften. Der aktive Typus bezeichnet nicht nur aktive Kräfte, sondern ein nach Rangfolgen organisiertes Ganzes, in dem die aktiven Kräfte über die reaktiven siegen und diese zum Wirken gebracht werden; umgekehrt bezeichnet der reaktive Typus ein Ganzes, in dem die reaktiven Kräfte triumphieren und die aktiven Kräfte von dem trennen, was diese können. (NP: 94)

Wie bereits im Zusammenhang mit Spinoza angedeutet wurde, muss auch bei Nietzsche, einer ethischen Differenz entsprechend, zwischen einer aktiven und einer reaktiven Existenzweise unterschieden werden. Eine Existenzweise ist hier ein »Kräfteverhältnis, insofern es einen Typus bildet, der sich durch Zeichen und Symptome ausdrücken läßt« (SG: 194). Ein einfacher Satz ist beispielsweise bereits »eine Gesamtheit von Symptomen, die eine Seinsweise oder eine Existenzweise desjenigen, der spricht, zum Ausdruck bringen, das heißt das Kräfteverhältnis, das 206

EINE VERKEHRTE WELT: DAS REAKTIV-WERDEN DER KRÄFTE

jemand mit sich selbst und den anderen unterhält oder zu unterhalten sich bemüht« (ebd.). Es gibt Dinge, die man nur tun, sagen oder denken kann, wenn man eine reaktive oder aber eine aktive Existenzweise aufweist. Zu unterscheiden ist insofern zwischen einer Existenzweise, in der reaktive Kräfte überwiegen und dem Kräfteverhältnis als Ganzem damit einen reaktiven Typus aufzwingen, und, umgekehrt, einer Existenzweise, in der aktive Kräfte überwiegen und dem Kräfteverhältnis als Ganzem damit zu einem aktiven Typus verhelfen. Dabei handelt es sich aber nicht um eine pauschale Gegenüberstellung oder einen axiologischen Dualismus zwischen Gut und Böse, sondern um die differenzierte Einschätzung eines dynamischen Geschehens. Interpretation ist vor allem eine Frage der Differenz und der damit einhergehenden Rangfolge. Ein Kräfteverhältnis involviert stets ein dynamisches Geschehen, in welchem eine bestimmte Rangfolge der Kräfte zum Ausdruck kommt. Zu fragen ist deshalb, um welche Rangfolge es sich handelt: setzen sich in einem solchen Geschehen also eher aktive Kräfte oder eher reaktive Kräfte durch? Setzen sich die reaktiven Kräfte durch, so nicht etwa deshalb, weil sie den aktiven Kräften zahlenmäßig überlegen sind. Der Sieg der reaktiven Kräfte »hängt nicht im mindesten von der absoluten Quantität, vielmehr von der relativen Wirkung« (NP: 68) zu anderen Kräften ab. Was reaktive Kräfte bei anderen Kräfte bewirken können, ist, dass diese selbst reaktiv werden. Das heißt, ein Kräftegeschehen kann tendenziell entweder aktiv oder reaktiv werden. Die Auslegung dieses Geschehens, die Interpretation, wird damit zur subtilen Kunst. Es muss dem unübersichtlichen Werden aller Kräfte nämlich über alle Windungen und Biegungen, Umkehrungen und Verkehrungen folgen. Dabei ist zudem ein zweifaches Werden zu unterschieden: »Aktiv- und Reaktiv-werden, Aktiv-werden reaktiver Kräfte und Reaktiv-werden aktiver Kräfte« (ebd.: 79). Eine reaktive Typologie bezeichnet folglich eine Existenzweise, in der aktive Kräfte dahin tendieren oder dazu gebracht werden, selbst reaktiv zu werden; eine aktive Typologie bezeichnet dagegen eine Existenzweise, in der reaktive Kräfte tendenziell aktiv werden. Alles, was zählt, ist also das Werden zwischen den beiden, qualitativ verschiedenen Kräftetypen. Daraus ergibt sich aber auch eine gewisse Ambivalenz.9 Diese Ambivalenz zeigt sich vor allem daran, dass reaktive Kräfte zwar siegen können, 9 »Eine Krankheit beispielsweise trennt mich von dem, was ich kann: eine reaktive Kraft, macht sie mich selbst reaktiv, beschneidet meine Möglichkeit und schwört mich auf ein begrenztes Milieu ein, dem ich mich nur noch anpassen kann. Auf eine andere Weise offenbart sie mir aber auch eine neue Macht und Stärke, stattet mich mit einem Willen aus, den ich zu dem meinen machen kann, indem ich bis ans Ende dessen gehe, was diese seltsame Macht mir gibt. […] In diesen Ausführungen wird eine Ambivalenz erkennbar, die Nietzsche teuer zu sein scheint: Von allen Kräften, deren reaktiven Charakter er bloßstellt, gesteht er einige Seiten oder Zeilen weiter, daß sie

207

NIETZSCHE UND DAS WERDEN DER KRÄFTE

aber »ohne damit aufzuhören, von geringer Quantität, reaktiver Qualität und auf ihre Art Sklaven zu sein« (NP: 65). Ausschlaggebend ist hier eine ethische Differenz – wie bei Spinoza. So haben wir gesehen, dass der Schwache bei Spinoza derjenige ist, der von dem, was er kann, »von seinem Tätigkeitsvermögen getrennt bleibt, wie stark auch immer er ist, der in der Knechtschaft oder im Unvermögen befangen bleibt« (PA: 238). Er bleibt niedrig, reaktiv und unvermögend, verfügt über eine geringere Quantität an Macht (puissance), selbst wenn er über alle Herrschaftsmacht (pouvoir) verfügt. Er gehorcht (den vorherrschenden Werten), selbst wenn er herrscht. Der Starke oder Aktive ist hingegen derjenige, der bis an die Grenzen seiner schöpferischen Macht (puissance) geht, der von dem, was er kann, also nicht getrennt und damit im Vollbesitz seines Tätigkeitsvermögens ist. Das heißt, die reaktiven Kräfte bilden, selbst wenn sie sich vereinigen, keine größere Kraft, die zudem noch aktiv wäre. Sie gehen ganz anders vor: sie lösen auf; sie trennen die aktive Kraft von dem, was sie kann; sie entziehen der aktiven Kraft einen Teil ihrer Macht, fast die ganze; damit werden sie nicht etwa selbst aktiv, im Gegenteil; sie richten es so ein, daß die aktive Kraft sich zu ihnen gesellt, selbst in einem neuen Sinn reaktiv wird. (NP: 63)

Die reaktiven Kräfte, die Schwachen, siegen, nicht weil sie in Summe stärker sind, sondern weil sie die aktiven Kräfte, die Starken, von dem trennen, was diese können und damit dafür sorgen, dass sie ihre Macht aufgeben und selbst reaktiv werden. Eben deshalb muss nicht die absolute Quantität gemessen, sondern die relative Wirkung fallweise interpretiert werden. In der Regel sind es aber die reaktiven Kräfte, die siegreich sind, die sich nach oben setzen, um Herren durch Sklaven zu ersetzen. Die Sklaven hören dabei aber nicht auf, Sklaven zu sein, da sie, anstatt selbst Werte zu schaffen, »ihre Herrschaftsmacht nach der Zuweisung geläufiger Werte« (DW: 81) bemessen. Sie schaffen nichts, verfügen über keinerlei schöpferische Macht und lassen sich ihre Herrschaftsmacht unter Berufung auf die Rekognition bestehender Werte bloß zuerkennen. Der den reaktiven Typus auszeichnende Sieg der reaktiven Kräfte beruht also auf der konservativen Ordnung der Repräsentation. Die Manie zu repräsentieren, repräsentiert zu werden, sich repräsentieren zu lassen; Repräsentanten und Repräsentierte zu besitzen: es ist dies die allen Sklaven gemeinsame Manie, die einzige Beziehung, die sie untereinander begreifen, und die sie, mit ihrem Sieg, auferlegen. Der Begriff der Repräsentation ist Gift für die Philosophie; unmittelbar Produkt von Sklaven und der Sklavenbeziehung, stellt sie ihn faszinierten, daß sie sublim ihres Blickwinkels wegen seien, den sie uns eröffnen […]. Sie verschaffen uns neue Affektionen, lehren uns neue Arten, affiziert zu werden.« (NP: 73 f.)

208

EINE VERKEHRTE WELT: DAS REAKTIV-WERDEN DER KRÄFTE

die schlimmste Interpretation der Macht dar, die erbärmlichste und niedrigste. (NP: 89)

Nicht von ungefähr ist der Mensch wesentlich Herdentier, im Kern also reaktiv und folglich als »schwach« zu bezeichnen. Was ihn und seine Welt konstituiert, ist das Reaktiv-werden aller Kräfte, eine zutiefst reaktive Existenzweise – nur in diesem Sinne muss der (reaktive) Mensch auf einen (aktiven) Übermenschen hin überwunden werden. Und genau in diesem Sinne ist auch Nietzsches Abneigung gegenüber den Schwachen zu verstehen, gegen das Schwachwerden, für das der Schwache in seiner Reaktivität steht: »So seltsam es klingt: man hat die Starken immer zu bewaffnen gegen die Schwachen« (N|KSA13: 304). Die »detaillierte Analyse des reaktiven Typus, der Art und Weise, in der die reaktiven Kräfte den Sieg davontragen und des Prinzips, unter dem sie dies tun« (NP: 95), ist nach Deleuze »einer der originellsten Punkte in Nietzsches Denken« (SG: 194). Wie genau schaffen es die reaktiven Kräfte aber, die aktiven Kräfte von dem zu trennen, was sie können, sie also selbst reaktiv werden zu lassen und damit einen reaktiven Typus, eine reaktive Existenzweise durchzusetzen? Mit seiner Genealogie der Moral widmet Nietzsche dem reaktiven Typus ein ganzes Buch. Die darin dargelegten Untersuchungen des Ressentiments, schlechten Gewissens und asketischen Ideals sollen zeigen, dass der Sieg der reaktiven Kräfte auf einer Umkehrung der wertsetzenden Perspektive beruht. Diese Umkehrung besteht darin, das Leben, anstatt es zu bejahen, von vornherein zu verneinen: Im reaktiven Typus des Sklaven impliziert die wertsetzende Perspektive ein grundsätzliches Nein zu allem, was anders ist. Während die vornehme Moral also »aus einem triumphirenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem ›Ausserhalb‹, zu einem ›Anders‹, zu einem ›Nichtselbst‹: und dies Nein ist ihre schöpferische That« (N|KSA5: 271). Es handelt sich hier um eine typologische Unterscheidung zwischen zwei Arten des Wertschätzens, zwei Perspektiven, die auf folgende Formulierungen oder Syllogismen hinauslaufen. Entweder man sagt, »Ich bin gut, also bist du böse« oder man sagt, »Du bist böse, also bin ich gut«. Die Typologie und ihre jeweilige Perspektive hängt von der Art dieser Schlussfolgerungen ab. Wenden wir die Methode der Dramatisierung an, so stellt sich die Frage: Wer ist das, der anfängt zu sagen: »Ich bin gut«? Gewiß nicht derjenige, welcher sich mit anderen vergleicht oder seine Taten und Werke an höheren oder transzendenten Werten mißt. […]. Wer »Ich bin gut« sagt, erwartet nicht, daß man nun erwidert, er sei gut. Er nennt sich so, gibt sich diese Bezeichnung in dem Maße, wie er agiert, bejaht und genießt. Gut kennzeichnet die Aktivität, die Bejahung, die Freude, die sich in ihrem Vollzug erweisen. (NP: 131) 209

NIETZSCHE UND DAS WERDEN DER KRÄFTE

Für den, der agiert und insofern mit einer Bejahung beginnt, der also von vorherein sagt »Ich bin gut« – für den ist die Verneinung »also bist du nicht gut« immer nur etwas Sekundäres, eine indirekte Aggressivität, die aus der positiven Prämisse, der primären Bejahung, folgt: »das Negative als Produkt von Aktivität, das Negative als Folge einer Macht zur Bejahung« (ebd.: 132). Nun ändert sich aber alles, wenn wir die andere Formulierung betrachten. Denn das Negative geht nun in die Prämisse ein, »wohingegen das Positive als Schlußfolgerung gefaßt wird, als Schlußfolgerung aus negativen Prämissen. Im Negativen ist das Wesentliche enthalten, wohingegen das Positive nur durch die Negation Bestand hat.« (ebd.) Diese Perspektive beginnt mit einer Negation und bedarf gleich einer doppelten Negation, um überhaupt zu einer Bejahung zu gelangen: »Du bist nicht gut, ich bin nicht wie du, also bin ich gut.«10 In der niedrigen Moral, der reaktiven Existenzweise des Sklaven, ist nun die Verneinung primär, die Bejahung ist dagegen bloß sekundär: das Positive als Produkt von Reaktion, die Bejahung als Folge einer Macht zur Verneinung. Weil die reaktive Existenzweise mit einer Verneinung beginnt, weil sie die Welt stets ausgehend von einer Negation erfasst, begründet sie eine zutiefst verkehrte Welt: die Welt der Repräsentation. Wer aber ist das, der anfängt, zu sagen: »Du bist böse«? Es handelt sich Nietzsche zufolge um den Menschen des Ressentiments, der hier für die reaktive Existenzweise schlechthin steht. »Der Mensch des Ressentiments muß sich notgedrungen ein Nicht-Ich ausdenken, sich dann 10 Diese doppelte Negation im Syllogismus des Sklaven verweist auch schon auf die philosophische Form, in welcher die Sklavenmoral Deleuze zufolge bisher am besten zum Ausdruck gekommen ist: »in Form der Dialektik. Die Dialektik als Ideologie des Ressentiments.« (NP: 132) Laut Deleuze ist es Hegel, gegen den Nietzsche gelesen werden muss. »Die gesamte Philosophie Nietzsches bleibt abstrakt und unverstanden, solange nicht ausgemacht ist, gegen wen sie sich richtet. […]. Wie ein roter, aggressiver Faden durchzieht der Anti-Hegelianismus das Werk Nietzsches. Schon in der Theorie der Kräfte können wir ihm folgen. Niemals wird bei Nietzsche das wesentliche Verhältnis einer Kraft zu einer anderen als ein im Wesen negatives Element begriffen. In ihrem Verhältnis zu einer anderen negiert die Kraft, die gehorchen läßt, nicht etwa die andere Kraft oder das, was sie nicht ist; sie bejaht vielmehr ihre eigene Differenz und genießt sie.« (ebd.: 13) Hegel »dialektisiert« Verhältnisse und überträgt sie dadurch, entsprechend der reaktiven Sichtweise des Sklaven, auf die fiktive Ebene der Repräsentation. Laut François Zourabichvili (2012: 80) zeigt sich dies etwa darin, wie das dialektische Verhältnis zwischen Herr und Knecht bei Hegel konzipiert wird. Da beide Seiten nur durch wechselseitige Negation aufeinander verweisen, kann das Verhältnis, das sie aufeinander bezieht, nur ein widersprüchliches sein. Der Widerspruch existiert aber bloß im Begriff, auf der repräsentativen Ebene, die dem differentiellen Geschehen des Kampfes enthoben ist.

210

EINE VERKEHRTE WELT: DAS REAKTIV-WERDEN DER KRÄFTE

diesem Nicht-Ich entgegensetzen, um sich schließlich als Selbst zu setzen.« (NP: 132) Wenn reaktive Kräfte siegen, wenn sie aktive Kräfte also von dem trennen, was sie können, und sich damit über diese Kräfte setzen, dann durch eine solche Fiktion, Mystifikation oder Falsifikation. Denn in der Repräsentationsordnung, die sie moralisch begründen, stellen sie die Valenz der Kräfte völlig auf den Kopf. Nietzsche veranschaulicht dies treffend an dem, was er in der Genealogie der Moral den Syllogismus des blökenden Lamms nennt. Das Lamm sagt: »Die Raubvögel sind böse, ich bin das Gegenteil eines Raubvogels, also bin ich gut«. Wenn der Raubvogel aber böse ist, nur weil er wie ein Raubtier handelt, dann unterstellt dies, dass er, wenn er nur wollte, auch anderes handeln könnte. Weil er dies nicht tut, weil er also von dem, was er kann, nicht absieht, ist er dem Lamm zufolge böse. Doch was wäre ein Raubvogel, der beschließt, nicht wie ein Raubtier zu handeln? Die »Fiktion einer Kraft, die getrennt ist von dem, was sie kann« (NP: 134). Wie kommt diese Fiktion zustande? Obwohl eine Kraft immer vollständig in ihren Wirkungen aufgeht, führt das reaktive Denken eine abstrakte Unterscheidung an sie heran, eine Unterscheidung, in der etwas Wirkendes von einem Wirken, ein Tun von einem Täter getrennt wird. »Wenn ich sage ›der Blitz leuchtet‹, so habe ich das Leuchten einmal als Thätigkeit und das andere Mal als Subjekt gesetzt: also zum Geschehen ein Sein supponirt, welches mit dem Geschehen nicht eins ist, vielmehr bleibt, ist, und nicht ›wird‹.« (N|KSA12: 103 f.) Dass alles Tun einen Täter voraussetzt, einen Täter, dem es zudem auch noch freistehen soll, tätig zu sein, ist nach Nietzsche eine reine Fiktion: Denn »es giebt kein ›Sein‹ hinter dem Thun, Wirken, Werden; ›der Thäter‹ ist zum Thun bloss hinzugedichtet, – das Thun ist Alles« (N|KSA5: 279). Wenn es aber stimmt, dass das Tun alles ist, dass letzte »Einheiten fingirt sind« (N|KSA13: 258), dann müssen auch alle Begriffe (Subjekt, Atom, Substanz usw.), die dem Tun einen Täter, der Wirkung ein Wirkendes, dem Werden ein Sein oder, wie Bergson sagen würde, der Veränderung einen Träger hinzudichten, als nützliche Fiktionen verabschiedet werden. Eliminieren wir aber diese Fiktionen, »so bleiben keine Dinge übrig, sondern dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältniß zu allen anderen dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältniß zu allen anderen Quanten besteht, in ihrem ›Wirken‹ auf dieselben« (N|KSA13: 259). Wenn »alles eine Frage von Kräften ist« (ZB: 185 f.), dann zählen also nur noch die quantitativen oder intensiven Differenzen und das Werden der Kräfte auf einer allumfassenden Ebene der Univozität. Durch die Unterscheidung zwischen Subjekt und Akt, Täter und Tun oder Sein und Werden wird eine Repräsentationsordnung begründet, ausgehend von welcher die Dinge – im Platonischen Sinne – beurteilt und gerichtet werden können. Das heißt, sobald ein Ding von dem getrennt 211

NIETZSCHE UND DAS WERDEN DER KRÄFTE

wird, was es kann, wird es als Identität fixiert, wird sein Tun durch einen idealen Täter repräsentiert, um es dann an dieser Fiktion zu messen und zu richten. Es handelt sich hierbei um die selektive Prüfung von Platon. So könnte man, um hier auf die darin abgezielte Selektion der Prätendenten zurückzukommen, fragen, wer von den Raubvögeln nun der »echte« Raubvogel ist, wer dem idealen Raubvogel also ähnlich ist und wer, der verkehrten Sichtweise des Ressentiments folgend, davon absieht, sich wie ein Raubvogel zu verhalten. Wenn nun aber verkannt wird, dass das Tun alles ist, dass es hinter dem Tun keinen Täter gibt, hinter dem Werden kein Sein, hinter der Differenz keine Identität und dass es überhaupt keine Hinterwelt gibt – wenn alles dies verkannt wird, dann »unter der Verführung der Sprache« (N|KSA5: 279), die in ihren Urteilen immer wieder eine Transzendenzoder Analogieebene in das univoke Sein einführt. Nietzsche zufolge handelt es sich dabei um den Fetisch einer Subjekt-Prädikat-Ontologie, einer Sprach-Metaphysik, die vom alten Substanzdenken der klassischen Metaphysik bis hin zum neueren Subjektbegriff der modernen Philosophie immer dieselbe geblieben ist.11 Man glaubt an’s »Ich«, an’s Ich als Sein, an’s Ich als Substanz und projicirt den Glauben an die Ich-Substanz auf alle Dinge – es schafft erst damit den Begriff »Ding« ... Das Sein wird überall als Ursache hineingedacht, untergeschoben; aus der Conception »Ich« folgt erst, als abgeleitet, der Begriff »Sein« … […] ... Sehr viel später, in einer tausendfach aufgeklärteren Welt kam die Sicherheit, die subjektive Gewissheit in der Handhabung der Vernunft-Kategorien den Philosophen mit Überraschung zum Bewusstsein: sie schlossen, dass dieselben nicht aus der Empirie stammen konnten, – die ganze Empirie stehe ja zu ihnen in Widerspruch. Woher stammen sie? (N|KSA6: 77)

Natürlich aus einer anderen, übersinnlichen und insofern wahren Welt, die dieser Welt hier, die folglich eine falsche sein muss, dialektisch entgegensteht. »Die Welt scheiden in eine ›wahre‹ und eine ›scheinbare‹, sei es in der Art des Christenthums, sei es in der Art Kant’s (eines hinterlistigen Christen zu guterletzt) ist nur eine Suggestion der décadence, 11 Wie wir gesehen haben, ändert der Tod Gottes nichts daran. In der modernen Philosophie übernimmt das Subjekt die transzendente Instanz der Substanz, um damit das alte Identitätsprinzip weiterhin abzusichern. So auch Widder: »In each case, something is exempted from the world of becoming, which allows becoming to be condemned as unworthy. For Nietzsche, these valuations continue into a modern liberal and scientific age because the denigration of becoming and the elevation of identity can survive even in the absence of a God who in the past served as an ontological guarantee for them – although not without nihilistic consequences.« (Widder 2012: 78)

212

EINE VERKEHRTE WELT: DAS REAKTIV-WERDEN DER KRÄFTE

– ein Symptom niedergehenden Lebens« (ebd.: 79), Zeichen einer reaktiven Existenzweise. Denn derjenige, der das Wahre will, der wahrhaftige Mensch, setzt »das Leben der Erkenntnis, diese Welt einer anderen Welt, einer jenseitigen, eben der wahrhaftigen, entgegen« (NP: 105). Es handelt sich um eine Unterscheidung, einen Gegensatz moralischen Ursprungs, in der diese Welt, die Welt, so wie sie ist, bereits von vornherein negiert und vor diesem Hintergrund auch verurteilt wird. Es geht Nietzsche (und Deleuze) aber nicht darum, die »wahre« Welt, wie sie vom Platonismus bis zum Christentum, vom Kantianismus bis zum Positivismus, nacheinander postuliert wurde, anzuprangern, sondern vielmehr die fiktive Unterscheidung, den irreführenden Gegensatz selbst zu hinterfragen, der jeder Teilung von Welt vorauseilt. So erklärt Nietzsche (im hellsten Moment des Tages): »Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? ... Aber nein! Mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!« (N|KSA6: 81) Es geht darum, die vermeintliche Notwendigkeit, eine wahre von einer falschen Welt zu unterscheiden, ein für alle Mal zu verabschieden. Den Platonismus umkehren bedeutet demnach nicht, Wesenheiten und Erscheinungen abzuschaffen, sondern, die Motivation zu hinterfragen, die der damit einhergehenden Unterscheidung zugrunde liegt. Wie wir weiter oben gesehen haben, unterscheidet der Platonismus laut Deleuze zwischen Wesenheiten und Erscheinungen, um dadurch eine wahre Welt des Seins, in der Urbilder und Abbilder (»wahre« Erscheinungen) Platz finden, von einer falschen Welt des Werdens zu unterscheiden, in der die Trugbilder (»falsche« Erscheinungen) ausgegrenzt werden. Den Platonismus umkehren bedeutet demnach, die Trugbilder an die Oberfläche aufsteigen zu lassen und damit auf eine Verurteilung allen Werdens, auf »die Lehre vom Gericht« (ebd.: 215) zu verzichten. Die Welt zu scheiden, eine selektive Prüfung zu vollziehen und damit die alte Alternative wieder einzuführen – also die wahre, intelligible Welt des Seins auf der einen Seite, die falsche, abgründige Welt des Werdens auf der anderen Seite –, bedeutet also nicht nur, die Welt zu repräsentieren, sondern auch, ein Bild des Denkens zu zeichnen, das grundsätzlich moralisch ist. Das Werden, aber auch die Differenz, das Viele und der Zufall können dabei niemals etwas Gutes verheißen. Diesem moralischen Bild zufolge kann die Welt beurteilt, beschuldigt oder auch gerühmt werden – und zwar ausgehend von höheren Instanzen, dem Guten oder dem Wahren, die ihrerseits der wahren Welt entsprechen. Und damit kommen reaktive Kräfte auch zum Sieg. Im Gegensatz zu aktiven Kräften, die ihrerseits beschuldigt werden, ihre Kraft ungezügelt auszuüben, werden reaktive Kräfte nämlich dafür gerühmt, sich zurückzuhalten. Ihr Verdienst besteht paradoxerweise darin, auf die Ausübung einer Kraft zu verzichten, über die sie gar nicht verfügen.Wie Nietzsche sagt: »Die billige, bescheidene, sich einordnende, 213

NIETZSCHE UND DAS WERDEN DER KRÄFTE

gleichsetzende Gesinnung, das Mittelmaass der Begierden kommt zu moralischen Namen und Ehren« (N|KSA5: 123). Die Fiktion einer Welt, die auf dem Kopf steht, in der der wertsetzende Blick umgekehrt wird, sorgt letztendlich dafür, dass das Lamm über den Raubvogel siegt. Denn in dieser verkehrten Welt wird seine Schwäche, seine niedrige Gemeinheit und sein Mittelmaß geradezu als Stärke ausgegeben. In dieser verkehrten Welt des Ressentiments »repräsentieren sich die reaktiven Kräfte als die überlegenen« (NP: 137), als Herren – obgleich sie Sklaven bleiben, Sklaven der herrschenden Werte, durch die sie ihre Herrschaftsmacht anerkennen lassen. Sich auf die repräsentative Ordnung berufend, führen sie alle aktiven Kräfte, die Kräfte, die das Leben bejahen, zu Tribunal, klagen sie an und beschuldigen sie, dem Anspruch, der an sie gerichtet wird, nicht gerecht zu werden. Um Nein sagen zu können zu Allem, was die aufsteigende Bewegung des Lebens, die Wohlgeratenheit, die Macht, die Schönheit, die Selbstbejahung auf Erden darstellt, musste hier sich der Genie gewordne Instinkt des Ressentiment eine andre Welt erfinden, von wo aus jene Lebens-Bejahung als das Böse, als das Verwerfliche an sich erschien. (N|KSA6: 192)

Woher kommt aber diese Fiktion? Wer ist es, der die Anklage führt, die Umkehrung vollzieht, eine andere Welt erfindet? Es ist der Priester. Nietzsche beglückwünscht sich dafür, in seiner Genealogie der Moral »die erste Psychologie des Priesters« (ebd.: 353) geleistet zu haben, den philosophischen Begriff, die Begriffsperson des Priesters erfunden zu haben.12 Wenn es stimmt, dass die aktive Kraft auf fiktive Weise von dem abgetrennt wird, was sie kann, dann bedeutet dies jedoch nicht, dass sie selbst nicht wirklich reaktiv wird. Ganz egal was auch immer der Grund ist, wodurch eine aktive Kraft der materiellen Bedingungen ihres Vollzugs beraubt wird, formal von dem getrennt wird, was sie kann – immer folgt daraus, dass sie sich nach innen und damit auch gegen sich selbst wendet. Das ist der Ursprung des schlechten Gewissens. »Sich verinnerlichen, 12 Im Unterschied zu Nietzsche haben laut Deleuze und Guattari nur »wenige Philosophen so stark mit Begriffspersonen operiert […], sympathischen (Dionysos, Zarathustra) wie antipathischen (Christus, der Priester, die höheren Menschen, der selbst antipathisch gewordene Sokrates…)«. (WP: 73 f.) Und als Begriffsperson ist auch das zu lesen, was hier als Priester bezeichnet wird, sowie die Bedingungen, unter denen diese Begriffsperson erfunden worden ist: dem Judentum und dem Christentum. »Eine Weltgeschichte des Ressentiments und des schlechten Gewissens, vom jüdischen und vom christlichen Priester bis hin zum heutigen Laienpriester, ist in Nietzsches historischem Perspektivismus wesentlich (Nietzsches vorgeblich antisemitische Texte sind in Wirklichkeit Texte über den ursprünglichen Typus des Priesters).« (SG: 195)

214

EINE VERKEHRTE WELT: DAS REAKTIV-WERDEN DER KRÄFTE

sich gegen sich selbst kehren stellt die Art dar, in der die aktive Kraft wirklich reaktiv wird« (NP: 140). In einem ersten Moment bedarf es der Intervention des Priesters, um die Anklage zu führen, das Ressentiment durch die Negation des anderen zu organisieren. »Schau dort die Menschen, die sich gut heißen, ich sage dir, sie sind böse« (ebd.:143). In einem zweiten Moment bedarf es der Intervention des Priesters, um die Richtung des Ressentiments zu ändern, die Ursache allen Leidens in sich selbst zu suchen, sich seine Schuld einzugestehen. »›Recht so, mein Schaf! irgend wer muss daran schuld sein: aber du selbst bist dieser Irgend-Wer, du selbst bist daran allein schuld, – du selbst bist an dir allein schuld!‹« (N|KSA5: 375). Als guter Hirte weist er nicht nur darauf hin, dass jedes Leid die Folge einer Sünde ist, der Priester vergiftet nicht nur »die Herde, er organisiert sie, verteidigt sie. Er denkt sich die Mittel aus, die uns das vermehrte, das verinnerlichte Leiden ertragen lassen. Er macht die Schuld, die er uns einimpft, zu etwas, womit man leben kann.« (NP: 156) Damit wird das Leben nicht nur der Erkenntnis gegenübergestellt, um es unter Anklage zu stellen, es wird auch eine Macht über das Leben begründet. Diese Macht wird Foucault bekanntlich »als Pastoralmacht bezeichnen« (F|DE3: 691), eine Macht, die gegenüber politischen, juridischen oder ökonomischen Machtformen abzugrenzen ist.13 Die priesterliche Macht zeichnet sich dadurch aus, dass sie eine unendliche Schuld ins Spiel bringt. Nietzsche bemerkt, dass »jener moralische Hauptbegriff ›Schuld‹ seine Herkunft aus dem sehr materiellen Begriff ›Schulden‹ genommen hat« (N|KSA5: 297). Während der Begriff der Schulden aber in Aussicht stellt, eines Tages beglichen zu werden, wird im Begriff der Schuld »die Aussicht auf eine endgültige Ablösung einfür-alle-Mal« (ebd.: 330 f.) ausgeschlossen. Die Erfindung einer unauflösbaren, unendlichen Schuld ist laut Nietzsche gerade der Geniestreich des Christentums: Gott selbst sich für die Schuld des Menschen opfernd, Gott selbst sich an sich selbst bezahlt machend, Gott als der Einzige, der vom Menschen 13 So erklärt Foucault, die Pastoralmacht sei »eine Macht religiösen Ursprungs, es ist die, die beansprucht, die Menschen während ihres gesamten Lebens und in jeder Lebenssituation zu führen und zu leiten, eine Macht, die die Existenz der Menschen in allen Details und in ihrer gesamten Entwicklung von der Geburt bis zum Tod in Beschlag nehmen will, und zwar um sie zu einer bestimmten Weise des Verhaltens, zu ihrem Seelenheil zu zwingen.« (F|DE4: 691) Foucault greift hier auf die Psychologie des Priesters zurück, die er bei Nietzsche findet, »aber er treibt die Analyse in eine andere Richtung: er definiert sie als ›individuierend‹, d.h. sie will sich die Individuierungsmechanismen der Herdenmitglieder aneignen. In Überwachen und Strafen hatte er gezeigt, wie die politische Macht im 18. Jahrhundert – durch die ›Disziplinierung‹ – individuierend wurde; aber den Ursprung dieser Bewegung entdeckt er schließlich in der pastoralen Macht.« (U: 168 f.)

215

NIETZSCHE UND DAS WERDEN DER KRÄFTE

ablösen kann, was für den Menschen selbst unablösbar geworden ist – der Gläubiger sich für seinen Schuldner opfernd, aus Liebe (sollte man’s glauben? –), aus Liebe zu seinem Schuldner! (ebd.: 331)

Damit ist der Weg des modernen Menschen, des Menschen, der versprechen darf, vorgezeichnet: seine unauflösbare Schuld gegenüber »der ›Gottheit‹, der ›Sozietät‹, dem ›Staat‹, gegenüber reaktiven Instanzen« (NP: 154), aber auch »der historische Druck eines Staates, einer Kirche usw. auf die Individuen, die es einzugliedern gilt« (ebd.: 146), das Verfahren, durch das der Mensch diszipliniert, zum Herdentier, zum gutwilligen und zahmen Geschöpf gemacht wird, durch das er, wie Foucault in seinen Ausführungen zur Disziplinargesellschaft zeigen konnte, im Rahmen einer »Normalisierungsmacht« (F|ÜS: 237) letztendlich zum Individuum wird.14 In ihrer Kritik an der Psychoanalyse greifen Deleuze und Guattari das Thema der unendlichen Schuld auch im Anti-Ödipus auf: »Ist es möglich, daß derart die Psychoanalyse den alten Versuch, zu unterdrücken und zu erniedrigen, uns zu Schuldigen zu stempeln, wiederaufnimmt?« (AÖ: 62) Tatsächlich erfindet die Psychoanalyse Deleuze und Guattari zufolge mit der Figur des Analytikers auch einen »neuen Typus von Priester, eines Pädagogen des schlechten Gewissens: es macht einen krank, aber es heilt einen auch wieder« (ebd.: 429). Aus den kleinen Verfehlungen einer sündigen Seele werden nun die schmutzigen Geheimnisse eines zahlenden Patienten. Weil die Interpretation dabei an kein Ende kommt, weil selbst das Schweigen Urteile spricht, weil stets neue »Konflikte« ans Tageslicht treten, beruht das Machtverhältnis zwischen 14 Deleuze zufolge liegt die Größe Nietzsches darin, »dass er ohne jedes Zögern gezeigt hat, dass die Beziehung Gläubiger/Schuldner jedem Tausch vorausgeht. Man beginnt mit dem Versprechen, und die Schuld entsteht nicht gegenüber einem Gott, sondern gegenüber einem Partner, und zwar aufgrund von Kräften, die zwischen den Parteien spielen, eine Zustandsänderung hervorrufen und in ihnen etwas erschaffen: den Affekt.« (KK: 173) In Anti-Ödipus betonen Deleuze und Guattari, dass »das große Buch der modernen Ethnologie […] weniger Mauss’ Essai sur le don als Nietzsches Genealogie der Moral« (AÖ: 244) ist. »Zumindest sollte es das sein. Denn die zweite Abhandlung der Genealogie stellt den äußerst erfolgreichen Versuch einer Interpretation der primitiven Ökonomie in Begriffen von Schuld dar, unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Schuldner und Gläubiger und unter Elimination aller den Tausch oder Interessen ›englischer Art‹ betreffender Überlegungen. Und wenn sie von Psychologie gereinigt werden, so nicht, um sie in die Struktur zu verlegen. Nietzsche besitzt nur kärgliches Material über altes germanisches Recht, ein wenig über das Recht der Hindu. Aber er zögert nicht wie Mauss zwischen Tausch und Schuld (ebensowenig wird Bataille unter Nietzsches Inspiration zögern).« (ebd.)

216

EINE VERKEHRTE WELT: DAS REAKTIV-WERDEN DER KRÄFTE

Analytiker und Analysanden, wie zuvor schon das zwischen Priester und Gläubigen, auf einer unauflösbaren, unvergesslichen und insofern unendlichen Schuld.15 Festzuhalten bleibt, um auf Nietzsche zurückzukommen, dass Ressentiment (es ist deine Schuld) und schlechtes Gewissen (es ist meine Schuld) nicht einfach psychologische, historische, moralische oder metaphysische 15 Das Thema der Schuld hat Foucault im Anschluss an Nietzsche Ende der siebziger Jahre in seinen Vorlesungen am Collège du France als Problem einer damals noch neuen neoliberalen Gouvernementalität behandelt. Zwar sind es marktrationale Koordinaten, an denen sich die Subjektivierung darin orientiert, der damit vorgezeichnete »Unternehmer seiner selbst« (Foucault 2006: 321) steht allerdings auch für eine gewisse »moralische Qualität« (Lemke 2000: 38). »Eigenverantwortung, private Vorsorge, selbsttätige Prävention – sämtliche Varianten der Optimierung der eigenen Sicherheit sind im Rahmen dieser Programmatik zugleich Zeichen persönlicher Autonomie und Ausweis sozialer Verantwortlichkeit, gehorchen gleichermaßen einer individuellen wie einer gesellschaftlichen Rationalität, Geboten der Klugheit und der Moralität. Umgekehrt muß unter solchen Auspizien die unterlassene Hilfeleistung der Individuen gegenüber sich selbst als nicht nur irrationaler, sondern zudem auch unmoralischer Akt erscheinen: Mangelnde oder fehlende Eigenverantwortung steht nicht nur für die Unfähigkeit des einzelnen, von seiner Freiheit rationalen Gebrauch zu machen, sondern darüber hinaus für die Weigerung, gesellschaftlichen Bedürfnissen gerecht zu werden, sozialen Imperativen zu gehorchen.« (Lessenich 2003: 87, Hervorh. d. d. Verf.) Als neoliberales Selbst ist der Mensch jemand, der versprechen darf. Im Unterschied zu den anderen, die schuldig sind, dasselbe nicht zu tun (Ressentiment), ist er bereit, alle Kosten und Risiken, die Unternehmen und Staaten auf ihn abwälzen, eigenverantwortlich zu tragen. Schafft er dies nicht, muss er sich sein Versagen, seine Schuld, nicht ausreichend gehandelt zu haben, eingestehen (schlechtes Gewissen). Maurizio Lazzarato hat kürzlich gezeigt, dass das, was in Anschluss an Foucault als neoliberale Subjektivierung bezeichnet wird, auf den Begriff der Schuld(en), wie er zunächst von Nietzsche und dann von Deleuze und Guattari bestimmt worden ist, zurückgeführt werden kann. »In seinem Schnelldurchlauf durch die Geschichte der Schulden macht Deleuze auf einen […] fundamentalen Übergang aufmerksam: Während die ›verinnerlichte Schuld‹ der christlichen Religion noch von transzendentaler Natur war, wurde sie im Kapitalismus ›immanent‹. Das vom Christentum in die Religion eingebrachte Unendliche wird im Kapitalismus auf ökonomischer Ebene neu erfunden: die Bewegung des Kapitals als Selbstbewegung des Wertes, als Geld, das Geld erzeugt und das dank der Schulden seine eigenen Grenzen überschreitet. Mit dem Kapitalismus wird die kapitalistische Valorisation zu einem unendlichen Prozess.« (Lazzarato 2012: 76) Vor diesem Hintergrund sind es materielle Schulden, die in einem verkehrten Verhältnis zur moralischen Schuld »die Subjektivität abrichten, zähmen, fabrizieren, modularisieren und modellieren« (ebd.: 49).

217

NIETZSCHE UND DAS WERDEN DER KRÄFTE

Bestimmungen sind. Mit dem asketischen Ideal zusammen bilden sie nämlich das, was Nietzsche als Nihilismus bezeichnet: den Geist der Rache, der das Leben verneint und das Dasein entwertet. Dieser Geist der Rache »wurde in Jahrtausenden dermaßen über die Menschheit Herr, daß die ganze Metaphysik, Psychologie, Geschichtsvorstellung, vor Allem aber die Moral mit ihm abgezeichnet worden ist. So weit auch nur der Mensch gedacht hat, so weit hat er den Bacillus der Rache in die Dinge geschleppt.« (N|KSA13: 425) Äußert sich der Geist der Rache im Menschen psychologisch, historisch, moralisch oder metaphysisch, so verweist das jeweils auf eine bestimme »Typologie, diesem Meisterstück der Philosophie Nietzsches.« (NP: 40). Wenn der Philosophie von Nietzsche eine Systematik innewohnt, dann muss sie nach Deleuze in seiner Typologie gesucht werden. Mit seiner typologischen Untersuchung kommt Nietzsche zu folgendem Schluss: Für gewöhnlich ist es ein reaktiver Typus, eine passive oder reaktive Existenzweise, die in dem, was ein Mensch fühlt, tut, sagt oder denkt zu diagnostizieren ist. Der Geist der Rache, der sich, das Leben verneinend, in dieser Existenzweise zum Ausdruck bringt, ist folglich »das genealogische Element unseres Denkens, das transzendentale Prinzip unserer Weise zu denken« (ebd.: 41). Angesichts dieser verheerenden Diagnose besteht das Ziel, das Nietzsche seiner Philosophie vorgibt, auch darin, das Denken vom Geist der Rache, vom Nihilismus und seinen lebensverneinenden Formen, zu befreien, um, ausgehend von einer radikalen Umwertung, ein Aktiv-Werden des Denkens zu erzwingen, ein aktives Denken, in dem völlig neue Lebensmöglichkeiten geschaffen werden. Das ganze Problem läuft schlussendlich also darauf hinaus, »Ressentiment zu hegen oder keines zu hegen: Es gibt, jenseits von Psychologie, jenseits von Geschichte und jenseits von Metaphysik keinen größeren Unterschied. Es ist die wahre Differenz oder die transzendentale Typologie – die genealogische oder hierarchische Differenz« (NP: 41). Im Folgenden soll nun gezeigt werden, dass es die Frage nach der Genese des Neuen ist, die Deleuze dabei im Blick hat, dass es also darum geht, das Primat des Neuen als leitenden Gesichtspunkt hervorzuheben. Dies wird uns zu den beiden (asymmetrischen) Qualitäten in Nietzsches Willen zur Macht führen, die dann auch in den letzten beiden Kapiteln dieser Arbeit wichtig sein werden.

5.3 Der Wille zur Macht zwischen Affirmation und Negation Wie bereits dargelegt wurde, zeichnet sich Nietzsches Philosophie dadurch aus, nicht von der Frage »Was ist?«, sondern von der Frage »Wer ist?« auszugehen. Mit Hilfe der Methode der Dramatisierung wird danach 218

DER WILLE ZUR MACHT ZWISCHEN AFFIRMATION UND NEGATION

gefragt, wer es ist, der etwas Bestimmtes tun, sagen, empfinden oder denken kann. Dabei kommt es allerdings darauf an, sich jedes personalistischen Bezugs zu entledigen. »›Wer‹ verweist nicht auf ein Individuum, eine Person, sondern eher auf ein Ereignis, das heißt auf die Kräfte, die in einem Satz oder in einem Phänomen miteinander in Beziehung stehen, sowie auf das genetische Verhältnis, das diese Kräfte (Macht) determinieren.« (SG: 195) »Wer« ist immer eine Maske, in der sich etwas ganz anderes zum Ausdruck bringt: Kräfte, die der Zufall darin in Beziehung setzt, sie wie in einem Würfelspiel kombiniert. Stehen Kräfte aber in Beziehung, dann einzig und allein, um sich anderer Kräfte zu bemächtigen, diesen ihre Perspektive aufzuzwingen, sich auf diese Weise ein immer größeres Realitätsquantum anzueignen und ihre Macht damit beständig zu vermehren. Daraus schließt Nietzsche, dass »das Stärker-werden-wollen von jedem Kraftzentrum aus die einzige Realität ist« (ebd.: 261), die von Belang ist. Wenn eine jede Kraft durch ein solches Bestreben bestimmt ist, dann ist klar, dass Kräfte früher oder später einander begegnen müssen. Ähnlich wie Spinoza erklärt auch Nietzsche, dass eine Kraft in diesen Begegnungen alles zurückstoßen wird, was ihrer Vermehrung widerstrebt, und sich umgekehrt mit allem arrangieren oder verbünden wird, was ihrer Vermehrung zugutekommt – »so conspiriren sie dann zusammen zur Macht« (N|KSA11) oder gehen, um mit Spinoza zu sprechen, mächtigere Zusammenhänge ein. Es ist dieses unersättliche Streben, sich anderer Kräfte zu bemächtigen, seine Macht kontinuierlich auszuweiten, das Nietzsche Wille zur Macht nennt.16 Der siegreiche Begriff »Kraft«, mit dem unsere Physiker Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm ein innerer Wille zugesprochen werden, welchen ich bezeichne als »Willen zur Macht«, d.h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht; oder Verwendung, Ausübung der Macht, als schöpferischen Trieb usw. (ebd.: 361) 16 Wie Wolfgang Müller-Lauter bemerkt, hat sich bei diesem Zitat von Nietzsche ein Fehler eingeschlichen. Im Original muss dem Begriff der Kraft nicht ein »innerer Wille«, sondern eine »innere Welt« zugeschrieben werden. Dass Deleuze aber aufgrund dieses Umstandes »noch immer einen Dualismus« voraussetzt, einen Dualismus »zwischen dem Willen zur Macht und den Kräften, […] den Nietzsche grundsätzlich zugunsten der ›monistischen’ Auffassung von Machtquanten […] zurückgelassen hat« (Müller-Lauter 1995: 258), scheint aber eine ungerechtfertigte Schlussfolgerung zu sein. Denn obwohl Deleuze die wesentliche Differenz zwischen dem Willen zur Macht und den Kräften aufzeigt, geht er, wie wir noch sehen werden, doch davon aus, dass der Wille zur Macht den Kräften als genetisches Prinzip stets immanent ist. Wenn dem Begriff der Kraft nun eine innere Welt zugesprochen werden muss, dann ist es die Welt quantitativer Differenzen, in denen sich die Willen zur Macht ausdrückt.

219

NIETZSCHE UND DAS WERDEN DER KRÄFTE

Wie ist es aber möglich, sich hier auf »die Theorie eines in allem Geschehn sich abspielenden Macht-Willens« (N|KSA5: 315) zu berufen, wenn vorhin noch behauptet wurde, dass das Tun alles ist und es nichts gibt, was über die kontingenten »Complexe des Geschehens« (N|KSA12: 382) hinausgeht? Es ist zumindest nicht die Macht, die der Wille will. Damit bricht Nietzsche radikal mit seinen Vorgängern, denn von Hobbes bis Hegel ging die Philosophie des Willens davon aus, dass die Macht etwas sei, das es zu erlangen gilt. Dies ist aber in dreifacher Hinsicht falsch. Erstens setzt dies voraus, dass die Macht etwas ist, das angestrebt wird und damit Gegenstand einer Repräsentation ist. Im dialektischen Verhältnis zwischen Herr und Knecht konzipiert Hegel Macht beispielsweise nicht als Wille zur Macht, »sondern als Repräsentation derselben, als Repräsentation der Überlegenheit, als Anerkennung der Überlegenheit des ›einen‹ durch den ›anderen‹ […]. Was die Wollenden bei Hegel wollen, ist die Anerkennung [recognition], die Repräsentation ihrer Macht« (NP: 15). Wer hat es aber nötig, dass ihm seine Überlegenheit anerkannt wird? Natürlich der Sklave, der sich trotz seiner Schwäche als Herr repräsentiert, dessen Macht (pouvoir) aber nur eine zu- oder anerkannte ist und insofern ein Modell der Rekognition voraussetzt. Was diesem missratenen Willen zur Macht als Motiv korrespondiert, ist deshalb nichts anderes als »Eitelkeit, Hochmut, Eigenliebe, Prahlerei oder selbst noch das Minderwertigkeitsgefühl« (ebd.: 89) einer zutiefst reaktiven Existenzweise. Dies bedeutet zweitens, dass Macht, wird sie als Gegenstand einer Repräsentation begriffen, von den herrschenden Werten einer Gesellschaft (Geld, Ansehen, Herrschaft usw.) abhängt, auf deren Grundlage sie entweder an- oder aberkannt wird. Als Wille, anerkannt zu werden, wird aus dem Willen zur Macht dann aber der Wille, den vorhandenen Werten einer Gesellschaft zu gehorchen – letztendlich also Sklave zu sein. »Symptomatisch ist denn auch in dieser Philosophie des Willens: der Konformismus, das vollständige Verkennen des Willens zur Macht als Erschaffung neuer Werte.« (NP: 90) Als Wille, in Bezug auf etablierte Werte anerkannt zu werden, gestaltet sich das, was man fälschlicherweise als Wille zur Macht bezeichnet, drittens, als Kampf, Krieg, Rivalität, Gegenüberstellung und Vergleich zwischen »Sie« und »Wir« oder »Du« und »Ich«. Deleuze zufolge verkennt Nietzsche nicht die Existenz des Kampfs, sieht darin aber etwas Konservatives. Der Machtkampf wird nämlich in Bezug auf etablierte Werte geführt, Werte, die vorab schon die Fronten festlegen: der Kampf selbst schafft keine neuen Werte, keine neuen Fronten, also nicht etwas absolut Neues. Eben deshalb ist »der Widerspruch […] nicht die Waffe des Proletariats, sondern eher die Art, wie sich die Bourgeoisie verteidigt und bewahrt, der Schatten, hinter dem sie ihren Anspruch auf Entscheidung der Probleme aufrecht erhält.« 220

DER WILLE ZUR MACHT ZWISCHEN AFFIRMATION UND NEGATION

(DW: 336) Alles wird zum bloßen Schaukampf, sobald sich die beiden Seiten eines Produktionsverhältnisses, das selbst nicht mehr zur Diskussion steht, zur gemeinsamen Lohnverhandlung einfinden. Mehr noch als jeder Kampf zwischen Gegensätzen ist es für Nietzsche aber das Ereignis des Neuen, die Schaffung neuer Werte, die, aufgrund ihres affirmativen Charakters, die grausamsten, rücksichtslosesten und zügellosesten Zerstörungen nach sich zieht.17 Was Nietzsche als Wille zur Macht bezeichnet, impliziert also keinen Anthropomorphismus. Die Macht ist nicht etwas, was der Wille will, sie ist das, was im Willen will. Was also ist Macht? »Nietzsche hat kaum Vorgänger. Abgesehen von den sehr alten Vorsokratikern bekennt er sich nur zu einem einzigen Vorgänger: Spinoza.« (SG: 194) In Spinozas ethischer Sichtweise werden Dinge im Hinblick auf das bestimmt, was sie können, durch die Macht, die sie haben oder umsetzen können, nicht durch das, was sie sind, nicht im Hinblick auf ihr vermeintliches Wesen. Ein Ding wird dabei umso mehr Macht haben, »auf je vielfältigere Weise es affiziert werden kann« (PA: 85), je wirkmächtiger also die Zusammenhänge sind, in die es eingebunden ist. Es geht folglich nicht darum, eine Herrschaftsmacht (pouvoir) zu erobern oder sich diese anerkennen zu lassen, es geht vielmehr darum, bis ans Ende dessen zu gehen, was man kann: seine Macht (puissance), affiziert zu werden, bis zum Äußersten zu erweitern. »Schwer nur läßt sich an dieser Stelle eine spinozistische Inspiration bei Nietzsche leugnen.« (NP: 69)18 Wenn nämlich 17 Wenn Deleuze mit Nietzsche primär von jeder Negation absieht, dann also nicht, um einer schönen Seele das Wort zu Reden. Auch Affirmation kann zerstörerisch und gewaltsam sein. In Differenz und Wiederholung gibt Deleuze ein hervorragendes Beispiel, um zwischen bejahender und verneinender Zerstörung zu unterscheiden: »Wir sagen ganz allgemein, daß es zwei Arten gibt, an ›notwendige Zerstörungen‹ zu appellieren: die des Dichters, der im Namen einer schöpferischen Macht spricht, die alle Ordnungen und Repräsentationen umzustürzen vermag, um die Differenz im Status permanenter Umwälzung der ewigen Wiederkunft zu bejahen; und die des Politikers, der sich zunächst um die Verneinung des ›Abweichenden‹ kümmert, um eine bestehende Ordnung in der Geschichte zu bewahren und zu festigen, oder um eine historische Ordnung zu errichten, die in der Welt bereits auf die Formen ihrer Repräsentation drängt.« (DW: 79) Wie wir noch sehen werden, zeichnet sich die politische und soziale Philosophie von Deleuze gegenüber anderen Ansätzen vor allem dadurch aus, prinzipiell auf jede Form von Negation zu verzichten. 18 Bekanntlich erkannte Nietzsche selbst in Spinoza einen Vorgänger. Wie Marc Rölli hervorhebt, hat es insofern auch etwas zu bedeuten, »wenn sich Nietzsche euphorisch in Spinoza wiedererkennt, zu einer Zeit, als er die tragenden Koordinaten seiner Philosophie entwirft. Im Zarathustra finden sich Überlegungen zu lebensverneinenden, versklavenden Affekten, die

221

NIETZSCHE UND DAS WERDEN DER KRÄFTE

Kräfte wesentlich zueinander in Beziehungen stehen, dann ist ihre Beziehung in »jedem einzelnen Fall dadurch bestimmt, daß eine Kraft, niederen oder höheren Rangs, von einer anderen affiziert wird. Daraus folgt, daß der Wille zur Macht sich als ein Vermögen, affiziert zu werden, äußert.« (ebd.) Die Vermehrung und Verminderung von Macht, der Affekt, der in einem solchen Affektionsgeschehen impliziert wird, entspricht laut Deleuze folglich dem, was Nietzsche Wille zur Macht nennt. Wenn bei Spinoza also jedem differentiellen Verhältnis von Ruhe und Bewegung (longitudo) ein bestimmtes Vermögen, zu affizieren und affiziert zu werden (latitudo), korrespondiert, dann korrespondiert bei Nietzsche einem jedem Kräfteverhältnis ein bestimmter Wille zur Macht. Und auch hier bedeutet das den Willen zur Macht charakterisierende Vermögen, affiziert zu werden, nicht notwendig Passivität, sondern Affektivität, Sensibilität, Empfindung. In diesem Sinne sprach Nietzsche, schon bevor er den Begriff des Willens zur Macht sich erarbeitet und ihm seine umfassende Bedeutung zuerkannt hatte, von einem Machtgefühl: Macht wurde da noch von ihm als Sache des Gefühls und der Sensibilität erachtet, bevor es später zu einer Sache des Willens werden sollte. (ebd.)

Der höhere, transzendentale Empirismus von Deleuze, der, wie wir weiter oben gesehen haben, bei dem ansetzt, was zunächst nur empfunden werden kann, der intensiven Differenz, kann also ebenso auf die körperlichen Affektionen und die damit impliziten Variationen des Affekts im Sinne von Spinoza als auch auf die – stets einen Körper bildenden – Kräftedifferenzen und die damit impliziten Variationen der Macht, dem Machtgefühl, im Sinne von Nietzsche zurückgeführt werden. Für Nietzsche kann Macht niemals an etwas anderem, nie an ihrer Repräsentation gemessen werden. Man kann Macht weder repräsentieren, interpretieren oder abschätzen, denn es ist immer sie, »die interpretiert, die schätzt, die will« (NP: 93). Wie kann es aber die Macht sein, die will, wenn doch dem Affektionsgeschehen kein Täter hinzugedichtet werden darf? Gerade an diesem Punkt bricht Nietzsche mit der Philosophie des Willens, die er anfangs bei Schopenhauer noch bewundert hatte. Es geht nämlich um die zentrale Frage, »ob der Wille einzig mit Spinozas Überlegungen korrespondieren. Und hier liegen auch zentrale Punkte der Entstehungsgeschichte des Ressentiments, wie es von Nietzsche in der Genealogie der Moral entwickelt wird.« (Rölli 2018a: 107) Das soll zwar nicht heißen, »dass Nietzsche von Spinoza abhängig ist, dass er durch ihn zu verstehen ist, dass Spinoza einen Schlüssel für die Lektüre seiner Texte abgibt«. Wohl aber, »dass in Spinoza und v.a. in der Ethik Überlegungen angestellt werden, die in der Sache eine Nähe zu Nietzsche aufweisen – und dies besonders im Kontext einer Theorie der Affekte inklusive einer Genealogie des Ressentiments« (ebd.: 107 f.).

222

DER WILLE ZUR MACHT ZWISCHEN AFFIRMATION UND NEGATION

oder vielfach ist. Alles weitere folgt daraus.« (ebd.: 11) Vor dem Hintergrund seines perspektivischen Pluralismus verwirft Nietzsche die bis dahin postulierte Einheit des Willens: »Wollen scheint mir vor Allem etwas Complicirtes, Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist« (N|KSA5: 31). Der Wille ist keine Einheit, die hinter einer Aktivität steht und agiert, er ist nicht geboren aus Einem bestimmten Triebe, sondern er ist ein Gesamtzustand, […] und resultirt aus der augenblicklichen Macht-Feststellung aller der uns constituirenden Triebe – also des eben herrschenden Triebes sowohl als der ihm gehorchenden oder widerstrebenden. Der nächste Gedanke ist ein Zeichen davon, wie sich die gesammte Macht-Lage inzwischen verschoben hat. (N|KSA12: 26)

Was im Willen will, ist keine Einheit, in ihm kommt vielmehr die augenblickliche Macht-Lage, das bewegende Ungleichgewicht, die Disparität oder Differenz einer Pluralität widerstrebender Kräfte zum Ausdruck. Wenn dagegen doch von einer Einheit des Willens die Rede ist, dann handelt es sich bloß um jene Illusion, die dem, was kontingent aus einem Kräftegeschehen resultiert, rückblickend ein wollendes Ich als vermeintlichen Urheber unterstellt: »L’effet c’est moi« (N|KSA5: 34). Der banale Nikotinmangel bringt sich bei manch einem Raucher beispielsweise als tiefgründige Bekenntnis zum Hedonismus oder als heroische Verteidigung der individuellen Freiheit zum Ausdruck – was wirklich spricht, ist aber ein tiefsitzendes Ungleichgewicht. Der Wille »grenzt ab, bestimmt Grade, Machtverschiedenheiten. Bloße Machtverschiedenheiten könnten sich noch nicht als solche empfinden: es muß ein wachsen-wollendes Etwas da sein, das jedes andere wachsen-wollende Etwas auf seinen Werth hin interpretirt« (N|KSA12: 139). Dieses wachsen-wollende Etwas, »ein Überwältigen-wollen, ein Formen, An- und Umbilden, bis endlich das Überwältigte ganz in die Macht des Angreifers übergegangen ist und denselben vermehrt hat« (ebd.: 424) – dieser Wille zur Macht ist es, wodurch eine Kraft auf andere Kräfte verwiesen wird, wodurch es überhaupt zu einer augenblicklichen Macht-Feststellung kommt, wodurch das Ungleichgewicht, die Disparität oder Differenz zum leitenden Gesichtspunkt wird. In seinem Wille nach mehr kann sich der Wille nur an dem äußern, was ihm widersteht, der Differenz, so wie »viele kleine Widerstände, immer wieder überwunden, leicht und wie in einem rhythmischen Tanze eine Art Kitzel des Machtgefühls mit sich bringen« (ebd.: 302). Der Wille zur Macht beruht also nicht auf einem Mangel, die Macht ist nicht etwas, was fehlt, er entspringt vielmehr aus dem Druck der Fülle: der Spannungsdifferenz von Kräften. Wenn eine Kraft nämlich nur im Verhältnis zu anderen Kräften existiert, dann kann sie, wie wir bereits gesehen haben, nicht unabhängig von einer quantitativen Differenz zu diesen begriffen 223

NIETZSCHE UND DAS WERDEN DER KRÄFTE

werden. Im Inneren eines jeden Kräfteverhältnisses steht somit ein treibendes Ungleichgewicht: eine grundlegende Distanz. So verstanden verweist die Quantitäts-Differenz nun mit Notwendigkeit auf ein differentielles Element der in Beziehung stehenden Kräfte, das ebensosehr das genetische Element der Qualitäten dieser Kräfte ist. So ist denn der Wille zur Macht: das genealogische Element der Kraft, zugleich differentiell und genetisch. Der Wille zur Macht ist jenes Element, aus dem zugleich die Quantitäts-Differenz der in Beziehung gebrachten Kräfte als auch die Qualität entspringt, die innerhalb dieser Beziehung einer jeden Kraft zukommt. Der Wille zur Macht enthüllt an dieser Stelle seine Natur: er ist Prinzip der Synthesis der Kräfte. (NP: 56)

Der Wille zur Macht ist es, der die Kräfte nicht trotz, sondern aufgrund ihrer Differenz aufeinander bezieht und sie damit, entsprechend der daraus sich ergebenden Kräftekonstellation oder Machtlagen, augenblicklich als herrschende oder beherrschte, als aktive oder reaktive Elemente qualifiziert. Weil in Kräfteverhältnissen alles durch inkommensurable Differenzen geschieht, »durch Resonanz des Verschiedenartigen, des Standpunktes auf den Standpunkt, durch Verschiebung der Perspektive, Differenzierung der Differenz« (LS: 218), kommt dem Willen zur Macht auch die Rolle einer »ursprünglichen, reinen, synthetischen Differenz an sich« (DW: 165 f.) zu. Mit dem Willen zur Macht wird ein Begriff von Differenz unterstellt, den Deleuze mit seiner eigenen Philosophie der Differenz auch selbst einfordert. Die Differenz ist nicht Differenz zu etwas oder innerhalb einer Sache, sie wird somit auch nicht einer begrifflichen Identität, einer beurteilten Analogie, einem vorgestellten Gegensatz oder einer wahrgenommenen Ähnlichkeit untergeordnet: Sie ist nicht Teilung und Trennung, sondern Verknüpfung und Verbindung. Sie ist das, »wodurch das Differente gleichzeitig versammelt wird, anstatt unter der Bedingung einer vorgängigen Ähnlichkeit, Identität, Analogie, eines vorgängigen Gegensatzes repräsentiert zu werden« (ebd.: 155). Der Wille zur Macht ist der Differentiator der Differenz, er ist es, »der das Differente auf das Differente bezieht« (EI: 143). Laut François Zourabichvili liegt darin die vielleicht wichtigste Idee von Deleuze: »difference is just as much communication, contagion of heterogeneities; […] a divergence never erupts without a reciprocal contamination of points of view.« (Zourabichvili 2012: 121) Der von Deleuze gesuchte Begriff der Differenz an sich selbst findet in Nietzsches Willen zur Macht einen wichtigen Fürsprecher. Nietzsche wirft bekanntlich allen höheren Prinzipien vor, gegenüber dem, was sie bedingen oder regulieren, viel zu allgemein zu sein. Dieser Vorwurf trifft allerdings nicht auf den Willen zur Macht zu. Denn obwohl er als Prinzip der Synthesis die Beziehungen der Kräfte bestimmt, 224

DER WILLE ZUR MACHT ZWISCHEN AFFIRMATION UND NEGATION

ist er den Kräften gegenüber nicht transzendent. Er ist vielmehr immanent in ein jedes Kräftegeschehen eingebunden. Wenn der Wille zur Macht also ein »gutes« Prinzip darstellt, so weil er ein wesentlich plastisches Prinzip ist, das keinen größeren Umfang aufweist als jeweils das, was es bedingt, das sich mit dem Bedingten verwandelt, sich ein jedes Mal mit dem bestimmt, was es selbst bestimmt. Der Wille zur Macht ist in der Tat nie von diesen und jenen bestimmten Kräften, ihren Quantitäten, ihren Qualitäten, ihren Richtungen zu trennen – und niemals den Determinationen übergeordnet, die er innerhalb eines Kräfteverhältnisses vollzieht: stets plastisch also und in Verwandlung begriffen. (NP: 57)

Wenn die Bedingungen bei Kant noch dafür kritisiert worden sind, zu allgemein sein und dem Bedingten äußerlich zu bleiben, wird der Wille zur Macht hier nun als »Prinzip einer internen Genese« (ebd.: 100) gefeiert, als Bedingung, die plastisch, also wirklich und nicht abstrakt und insofern auch niemals umfassender als das ist, was durch sie bedingt wird. Wie das Affektionsvermögen bei Spinoza, so ist auch der Wille zur Macht bei Nietzsche immer vollständig umgesetzt, uneingeschränkt im Kräftegeschehen, das er leitet und bedingt, realisiert. Er ist augenblickliche Macht-Feststellung. Wie bestimmt der Wille zur Macht aber das jedem Kräftegeschehen inhärente Werden? Wir haben gesagt, dass Kräfte nicht unabhängig voneinander, sondern nur in Beziehung zueinander existieren und stets in einem Werden begriffen sind: Entweder sind es reaktive Kräfte, die aktiv werden; oder es sind aktive Kräfte, die reaktiv werden. Setzen sich reaktive Kräfte durch, handelt es sich um eine reaktive Typologie; setzen sich aktive Kräfte durch, handelt es sich um einen aktive Typologie. Wenn der Wille zur Macht nun die Beziehung zwischen den Kräften determiniert, dann muss es auch der Wille zur Macht sein, der das damit implizierte Werden der Kräfte leitet. So wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Sieg der reaktiven Kräfte, das Reaktiv-werden aller Kräfte, eine grundlegende Verneinung oder Negation voraussetzt, in Bezug auf welche sich Ressentiment und schlechtes Gewissen überhaupt erst bilden können. Umgekehrt können wir davon ausgehen, dass der Sieg der aktiven Kräfte, das Aktiv-werden aller Kräfte, eine grundlegende Bejahung oder Affirmation voraussetzt. Bejahung und Verneinung sind demnach die beide unmittelbaren Qualitäten des Werdens: »Die Bejahung ist nicht die Aktion, aber die Macht zum Aktiv-werden, das Aktiv-werden in eigener Gestalt; die Verneinung ist nicht die einfache Reaktion, sondern ein Reaktiv-werden.« (NP: 61) Die das Aktiv-werden der Kräfte leitende Bejahung ist aber ebenso eine Qualität des Willen zur Macht wie die das Reaktiv-werden der Kräfte leitende Verneinung. Der Wille zur Macht hat also selbst zwei Qualitäten, von denen das Werden der Kräfte jeweils 225

NIETZSCHE UND DAS WERDEN DER KRÄFTE

abhängt: die Bejahung und Verneinung, das Wertschätzen oder Wertmindern. In jedem Werden der Kräfte kommen mit dem Willen zur Macht diese beiden Qualitäten zum Ausdruck: Bejahung oder Verneinung. Es ist folglich der Wille zur Macht, der den wertsetzenden Gesichtspunkt bildet, der durch seine beiden Qualitäten, Bejahung und Verneinung, eine bestimmte Typologie, ein bestimmtes Verhältnis von Kräften bedingt, der folglich in einer reaktiven oder aktiven Existenzweise zum Ausdruck komm. Er ist es, der mit der Frage »Wer will?« gesucht wurde. »Der Wille zur Macht will ein derartiges Verhältnis von Kräften, eine derartige Qualität derselben. Und auch eine derartige Qualität der Macht: zu bejahen und zu verneinen.« (NP: 94) Die Frage »Wer?« verweist weder auf ein Individuum noch auf eine Person, sondern auf ein Ereignis, auf ein Kräftegeschehen, in dem der Wille zur Macht sich entweder bejahend oder vereinend zum Ausdruck bringt. Kurz: »aktiv und reaktiv bezeichnen die Urqualitäten der Kraft, bejahend und verneinend (affirmativ und negativ) aber bezeichnen die primordialen Qualitäten des Willens zur Macht.« (ebd.: 60) Deleuze misst der Unterscheidung der beiden Qualitäten im Willen zur Macht allergrößte Bedeutung zu, »weil sie sich allenthalben im Zentrum der Philosophie Nietzsches wiederfindet« (ebd.). Und wie wir weiter unten sehen werden, ist es auch diese typologische Unterscheidung, die in seinen weiteren Werken, vor allem in Anti-Ödipus und Tausend Plateaus (z.B. bei der typologischen Unterscheidung zwischen den beiden Zuständen der abstrakten Maschine) eine zentrale Rolle spielen wird. Wie bestimmen die beiden Qualitäten im Willen zur Macht nun das jeweilige Kräftegeschehen? Wenn die reaktiven Kräfte siegen, dann nur weil im Willen zur Macht, der das Kräftegeschehen bestimmt, Negation und Verneinung überwiegen, sich der »Nihilismus, das Negative, die Macht des Neinsagens, der Wille zum Nichts, der einem universellen Reaktiv-werden seine Form aufprägt« (NP: 184), als asketisches Ideal durchsetzt. Denn »niemals würden die reaktiven Kräfte ohne einen die Projektionen vollziehenden und die unerklärlichen Fiktionen organisierenden Willen zum Erfolg kommen.« (ebd.: 158) Es ist dieser Wille zum Nichts, der das Leben und alles, was darin aktiv ist, entwertet, der diese Welt verneint, ihr eine Fiktion entgegensetzt, sie dieser gegenüber als Schein verurteilt und so die Entstehung von Ressentiment und schlechtem Gewissen Schritt für Schritt begleitet. Die Vorstellung einer anderen, einer übersinnlichen Welt mit allen ihren Formen (Gott, das Wesen, das Gute, das Wahre), die Vorstellung von über dem Leben stehenden Werten bildet kein Beispiel unter anderen, sondern ist das konstitutive Moment einer jeden Fiktion. Die über dem Leben stehenden Werte lassen sich nicht von ihrem Effekt trennen: der Entwertung des Lebens, der Verneinung dieser Welt. (ebd.: 161) 226

DER WILLE ZUR MACHT ZWISCHEN AFFIRMATION UND NEGATION

Auch wenn es sich hierbei um »einen Willen zum Nichts, einen Widerwillen gegen das Leben, eine Auflehnung gegen die grundsätzlichsten Voraussetzungen des Lebens« (N|KSA5: 412) handelt – »Es ist und bleibt ein Wille!« (ebd.) Was der Wille zum Nichts vernichten will, ist nicht so sehr das Sein, denn dieses ist, wie wir an der Kritik am Negativen gesehen haben, »dem Nichts ähnlich wie einem Bruder« (N: 35). Was vernichtet oder verneint wird, ist vielmehr das Leben, die Differenz, der Zufall, das Werden und das Viele. Die vermeintliche Wahrhaftigkeit einer anderen, besseren Welt wird bejaht, indem zunächst alles, was ihr widersteht, verneint wird. Der Wille zum Nichts ist nicht nur Wille zur Macht in seiner negativen Qualität, er ist in dieser Hinsicht auch Grund von Erkenntnis, »ratio cognoscedi des Willens zur Macht im allgemeinen. Alle bekannten und erkennbaren Werte sind ihrer Natur nach solche, die dieser ratio entspringen.« (NP: 187) Es sind reaktive Kräfte, die sich im Rahmen der Erkenntnis des Denkens bemächtigen und ein negatives Denken evozieren, das sich die Aufgabe vorgibt, über das Leben zu urteilen, es an höheren Werten zu bemessen, um darin Differenz, Zufall, Werden und Vieles zu begrenzen. Wir haben bereits gesehen, dass im Modell der Rekognition jede Differenz, die nicht auf das Identische, Ähnliche, Analoge oder Entgegengesetzte zurückgeführt werden kann, als maßloses, undenkbares und unheimliches Ungeheuer verstanden wird, und deshalb in den Abgrund oder das Nicht-Sein der Kontingenz verbannt werden muss. Gerade darin besteht die selektive Prüfung, durch welche die Welt der Repräsentation in ihrer Wahrhaftigkeit begründet wird. Man braucht sich also »nicht darüber zu wundern, daß die Differenz verflucht erscheint, als Verstoß oder Sünde, als die der Sühne anheimgestellte Gestalt des Bösen« (DW: 50). Das Bestreben, die Differenz zu vereinen, der Wille zum Nichts, muss nach Nietzsche folglich vor dem Hintergrund eines umfassenderen, moralischen Unternehmens begriffen werden, das darin besteht, das Leben selbst zu verneinen. Deshalb haben wir auch gesagt, dass das Bild des Denkens als »dogmatisches oder orthodoxes Bild, moralisches Bild« (ebd.: 172) begriffen werden muss. Sind es nun aber reaktive Kräfte, die sich dem Leben entgegensetzen, ist es der Wille zum Nichts, der, diese Kräfte zum Sieg führend, das Negative ins Denken einführt, dann wird auch verständlich, warum Deleuze das gesamte Werk von Nietzsche als verallgemeinerten Anti-Hegelianismus auslegt. »Die Dialektik stellt die natürliche Ideologie des Ressentiments, des schlechten Gewissens dar. Sie ist Denken aus der Perspektive des Nihilismus und von den reaktiven Kräften aus.« (NP: 173) Nur ausgehend von der wertmindernden Perspektive des Nihilismus, vom Willen zum Nichts, der den reaktiven Kräften zum Sieg verhilft, kann die Differenz der Kräfte als Negation begriffen werden, kann ihre positive Distanz in einen negativen Gegensatz verkehrt werden: »Die Kräftedifferenz 227

NIETZSCHE UND DAS WERDEN DER KRÄFTE

wird, unter dem Blickwinkel der Reaktion, zur Opposition der reaktiven Kräfte gegen die aktiven Kräfte« (ebd.: 137). Unter dem Gesichtspunkt des Sklaven wird die Differenz zur Negation: z.B. wird die Distanz zwischen Gut und Schlecht in einen strikten Gegensatz zwischen Gut und Böse verkehrt. Wann immer also von einem Gegensatz die Rede ist, muss gefragt werden, wer sich in dieser Rede zum Ausdruck bringt: Es ist immer eine reaktive Sichtweise.19 Es gibt Gegensätze nur, um Herrschaftsansprüche im fiktiven Element der Repräsentation abzusichern. Damit soll die eigentliche Rangordnung umgekehrt werden, soll der prinzipielle Vorrang der schöpferischen Kräfte, die positive Distanz, die sie auszeichnet, in einen moralischen Gegensatz verkehrt werden. Wie wir noch sehen werden, charakterisieren auch Deleuze und Guattari Herrschaftsmächte durch die Art und Weise, in der diese Dualismen und Binaritäten (z.B. zwischen »Mann« und »Frau«) im Element der Repräsentation festlegen, um, darauf aufbauend, ihren Herrschaftsanspruch anerkennen zu lassen. Festzuhalten ist hier jedenfalls, dass die reaktive Sichtweise, die durch den Willen zum Nichts, die wertmindernde Qualität im Willen zum Macht, angetrieben wird, darin besteht, ein differentielles Kräftegeschehen in einen moralischen Gegensatz zu verkehren. Wenn das differentielle Kräftegeschehen nun aber nicht von »unten«, von der »Frosch-Perspektive« (N|KSA5: 13) des Sklaven, sondern von »oben«, vom bejahenden Gesichtspunkt des Herren betrachtet wird, erweisen sich Gegensatz und Negativität als das, was sie wirklich sind: einfache Epiphänomene einer tieferliegenden Differenz. Was benötigt wird, ist demnach eine Umkehrung des Gesichtspunkts, ein Qualitätswechsel im Willen zur Macht: An die Stelle der Verneinung muss die Bejahung treten. Ist ein Denken in Gegensätzen aber ausschließlich dem reaktiven Gesichtspunkt des Sklaven zuzuschreiben, so können die beiden Gesichtspunkte, die beiden Qualitäten im Willen zur Macht: können Verneinung und Bejahung nicht selbst als Gegensätze behandelt werden. Zwischen der wertmindernden und der wertmehrenden Perspektive kann demnach kein symmetrischen Verhältnis bestehen. »Die Verneinung steht im Gegensatz zur Bejahung, wohingegen die Bejahung von der Verneinung abweicht, differiert. Wir dürfen nicht die Bejahung als eine solche denken, die ihrerseits zur Verneinung ›in Gegensatz steht‹. Das hieße, das Negative in sie einzuführen.« (NP: 203) Die Frage ist hier wiederum, 19 So etwa Nietzsche: »Man darf nämlich zweifeln, erstens, ob es Gegensätze überhaupt giebt, und zweitens, ob jene volksthümlichen Werthschätzungen und Werth-Gegensätze, auf welche die Metaphysiker ihr Siegel gedrückt haben, nicht vielleicht nur Vordergrunds-Schätzungen sind, nur vorläufige Perspektiven, vielleicht noch dazu aus einem Winkel heraus, vielleicht von Unten hinauf, Frosch-Perspektiven gleichsam, um einen Ausdruck zu borgen, der den Malern geläufig ist?« (N|KSA5: 16)

228

DER WILLE ZUR MACHT ZWISCHEN AFFIRMATION UND NEGATION

Ressentiment zu hegen oder kein Ressentiment zu hegen. Die wertmehrende Perspektive (»Ich bin gut, also bis du böse«) steht niemals in einem Gegensatz, weil sie nicht mit einer Negation beginnt. Sie beginnt mit einer Affirmation, sie schafft Neues und differiert damit. Wenn es hier noch eine Negation gibt, dann bloß sekundär, d.h. als Folge. Die wertmindernde Perspektive (»Du bist böse, also bin ich gut«) steht dagegen immer schon in einem Gegensatz, weil sie mit einer Negation beginnt. Sie bedarf einer doppelten Negation – »Du bist nicht gut, ich bin nicht wie du, also bin ich gut« – um zu einer Affirmation zu gelangen. Das bedeutet, dass beide Qualitäten im Willen zur Macht, Bejahung und Verneinung, in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander steht. Von oben nach unten, aus der Perspektive des Herrn, »ist der Wille zur Macht Bejahung, Bejahung der Differenz, Spiel, Lust und Geschenk, Schaffung der Distanz« (EI: 175). Von unten nach oben, aus der Perspektive des Sklaven, »kehrt sich alles um, die Bejahung wird zur Negation, die Differenz zum Gegensatz; nur die Dinge von unten haben das Bedürfnis, sich dem, was sie nicht sind, entgegenzustellen« (ebd.). Eben deshalb ist das Verhältnis nicht symmetrisch.20 Trotz der zahlreichen Dualismen, die er aufstellt (das Dionysische und Apollinische, das Vornehme und Gemeine, das Hohe und Niedrige, die aktiven und reaktiven Kräfte, die Herren und Sklaven, die Bejahung und Verneinung), muss also vermieden werden, »das Denken von Nietzsche auf einen simplen Dualismus zu reduzieren« (N: 27). Die Leseart, die Deleuze dabei vorschlägt, ist mit der vergleichbar, die bereits bei Bergson angewandt wurde. So wie bei Bergson nämlich reine Dualismen auf die empirischen Formen praktischen Lebens verwiesen wurden, so wird auch hier das Denken in Gegensätzen (Gut und Böse; die wahre Welt und falsche Welt etc.) einer reaktiven Sichtweise und damit dem mittelmäßigen Denken der Rekognition zugesprochen. Wenn bei Bergson dieser vulgäre Dualismus in einem zweiten Schritt mittels Intuition neutralisiert wurde, um daraus zwei asymmetrische Tendenzen oder Richtungen in der Dauer eines Dinges zu machen, dann werden die beiden Qualitäten im Willen zur Macht auch hier als zwei ungleiche Richtungen – eine 20 In Tausend Plateaus wird Deleuze gemeinsam mit Guattari etwa zeigen, dass in jedem Phänomen zwei Bewegungen zu unterscheiden sind, die wie die beiden Qualitäten im Willen zur Macht in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander stehen. So wird im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen glatten und gekerbten Räumen zum Beispiel darauf hingewiesen, dass es immer »zwei nicht symmetrische Bewegungen gibt, eine, die das Glatte einkerbt, und eine andere, die ausgehend vom Eingekerbten wieder zum Glatten führt.« (TP: 666). Oder im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen Baum und Rhizom wird betont, dass Rhizome zwar immerfort zu Bäumen gemacht werden, dass »aber umgekehrt und nicht symmetrisch dazu […] Stränge des Rhizoms ständig die Bäume« (ebd.: 701) wieder verlassen.

229

NIETZSCHE UND DAS WERDEN DER KRÄFTE

Tendenz zur Vereinfachung, Begrenzung und Konservierung gegen eine Tendenz zur Vervielfachung, Entgrenzung und Transformation – begriffen, zwei Richtungen, die jedes einzelne Kräftegeschehen gleichzeitig entfalten kann. In einem dritten Schritt markiert der Dualismus bei Nietzsche nun aber nicht »eine provisorische Etappe, die in einen Monismus übergeht wie bei Spinoza oder bei Bergson« (FO: 116). Der Dualismus markiert vielmehr »eine vorläufige Einteilung, die im Inneren eines Pluralismus operiert« (ebd.), eine Teilung, die immer wieder aus dem dynamischen Werden der Kräfte resultiert, die in jeder zufälligen Begegnung, von neuem entsteht und wieder vergeht. Deshalb steht Nietzsche in der kurzen Geschichte der Univozität, die Deleuze in Differenz und Wiederholung aufzeigt, nach Duns Scotus und Spinoza auch an dritter und letzter Stelle.21 Wenn der wertsetzende Gesichtspunkt nun umgekehrt wird und die Bejahung zur höchsten Macht des Willens wird, dann ist das, was bejaht wird, das Leben selbst. Bejaht wird darin die Differenz, also das, was vorhin noch Gegenstand der Verneinung war: der Zufall als distributive Differenz, das Werden als Differenz zu sich und das Viele als Differenz des Dazwischen. Das heißt, der Zufall ist nicht mehr dem Urteil der Notwendigkeit, das Viele nicht mehr dem Urteil des Einen und das Werden nicht mehr dem Urteil des Seins unterworfen. Zufall und Notwendigkeit, »Werden und Sein, Vieles und Eins werden nicht mehr gegeneinander gestellt« (N: 37), es handelt sich nicht mehr um jene verhängnisvolle Ausgrenzung, die der Platonismus durch seine selektive Prüfung begründet hatte. Die beiden großen Negativbegriff, Begrenzung und Gegensatz, werden als allzu reaktive Sichtweise verworfen. Nietzsches Pluralismus weist einen anderen Weg, eine andere Sichtweise: »Man bejaht das Eine des Vielen und das Sein im Werden. Ebenso bejaht man, wie Nietzsche sagt, die Notwendigkeit des Zufalls.« (ebd.) Die Umwertung der Werte, der Qualitätswechsel im Willen zur Macht, sorgt also dafür, dass die Bejahung an die Stelle der Verneinung rückt, dass die traurige Arbeit 21 Giovanna Borradori verweist hier auf den Umstand, dass Deleuze vieles von dem, was er zuvor noch im Denken von Bergson thematisiert hatte, nun im Denken von Nietzsche wiederfindet – wenngleich in einem völlig anderen Begriffsapparat. »In the transition from Bergson to Nietzsche, Deleuze’s interest shifts from the ontological realm to the social-historical perspective. This shift is evident in the massive change in terminology that his encounter with Nietzsche brings about. Tendencies become forces, and eventually powers, not in the codified sense of pouvoir, but in the unstructured and vitalistic pressure of a puissance. The purely differential conceptual pair external-internal translates into the antagonism between reactive and active. And finally, the ontological category of virtuality, which for Bergson means the world as affected by duration, is reborn as the selective principle of affirmation whose law is the eternal return.« (Borradori 2001: 12)

230

DER WILLE ZUR MACHT ZWISCHEN AFFIRMATION UND NEGATION

des Negativen durch eine spinozistische Ethik der Freude, der spekulative Gegensatz durch eine praktische Differenz, die dialektische Schwere durch eine schöpferische Leichtigkeit ersetzt wird. Wenn hier von Bejahung die Rede ist, dann meint dies aber nicht, zu allem, was ist, blindlings Ja zu sagen. Dies wäre nämlich das I-A eines Esels, das Ja eines reaktiven Tiers, das mit der Zeit geht. Denn insofern der Esel Ja sagt, ohne Nein sagen zu können, läuft seine Bejahung da­ rauf hinaus, sich mit allem, was ist, zu beladen. »Auf das Wirkliche, wie es ist, eingehen, die Realität, wie sie ist, auf sich nehmen. Eine Eselsidee, dies Wirkliche wie es ist.« (NP: 196) Bejahen heißt nicht, »das Leben mit dem Gewicht höherer Werte [zu] belasten, sondern neue Werte schaffen, die solche des Lebens sind, die das Leben zum Leichten, zum Aktiven erheben« (ebd.: 200). Die Umwertung der Werte besteht folglich nicht da­ rin, neue Werte gegen alte auszutauschen, so »als ob die geltenden Werte zu ihrer Zeit neu gewesen wären und als ob die neuen Werte bloß Zeit bräuchten, um sich häuslich einzurichten« (DW: 177). Was ausgetauscht wird, sind nicht die Werte selbst, es ist der wertsetzende Gesichtspunkt, aus dem diese hervorgehen. Es besteht insofern eine wesentliche Differenz zwischen den beiden Gesichtspunkten: Der eine impliziert die Schaffung, der andere die Rekognition von Werten. Und diese Differenz muss auch im Hinblick auf den Qualitätswechsel im Willen zur Macht berücksichtig werden. Es geht, dem affirmativen Gesichtspunkt folgend, also nicht mehr darum, sich Werte zuweisen zu lassen, sich Macht (pouvoir) in Bezug auf alte oder neue Werte anerkennen zu lassen, es geht vielmehr darum, seine Macht (puissance) durch die Schaffung völlig neuer Werte, neuer Existenzweisen zu vermehren. Während das Neue im Modell der Rekognition immer schon eine bestehende Ordnung voraussetzt, in Bezug auf die es als Neues anerkannt oder historisch eingeordnet wird, steckt in der Schaffung neuer Werte »etwas, was alle anerkannten, etablierten Werte sprengt und imstande ist, in einem Zustand permanenter Schöpfung neue Dinge zu schaffen, die sich jeder Ankerkennung, jeder Etablierung entziehen« (EI: 197). Es gibt im Modell der Rekognition also relativ neue Werte, die bereits als etablierte entstehen und nur in Erscheinung treten, in dem sie eine Ordnung der Rekognition beanspruchen, auch wenn sie auf günstige historische Bedingungen warten müssen, um tatsächlich anerkannt zu werden. Dagegen gibt es ewig neue, ewig unzeitgemäße, ihrer Schaffung stets zeitgleiche Werte, die, selbst wenn sie anerkannt, von einer Gesellschaft assimiliert zu sein scheinen, sich in Wirklichkeit an andere Kräfte und in dieser Gesellschaft selbst anarchische Mächte von anderer Natur wenden. Nur diese neuen Werte sind transhistorisch, suprahistorisch, zeugen von einem genialen Chaos, einer schöpferischen Unordnung, die sich auf keine Ordnung reduzieren läßt. (ebd.: 183)

231

NIETZSCHE UND DAS WERDEN DER KRÄFTE

Es gibt Werte, die auf ewig neue sind, da sie dem Denken absolut neue Horizonte eröffnen. Sie sind trans- oder suprahistorisch, weil sie sich einer historischen Einordnung entziehen und vielmehr die Notwendigkeit einer vollkommen neuen Geschichte erkennbar machen. Im Gegensatz zu reaktiven Existenzweisen, die sich grundsätzlich an vorherrschende Repräsentationsordnungen halten und somit immer zeitgemäß sind, sind aktive Existenzweisen in ihren Abenteuern, jenseits aller Rekognitionsmöglichkeiten, immer schon als unzeitgemäß zu bezeichnen. Aktiv sein bedeutet nach Nietzsche, »unzeitgemäß – das heißt gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zugunsten einer kommenden Zeit – zu wirken« (N|KSA1: 247). Im Unterschied zu den Sklaven bezeichnet Nietzsche die Herren deshalb auch als »die Unzeitgemäßen, jene, die erschaffen und die zerstören, um zu erschaffen, nicht um zu bewahren« (EI: 189). Das Unzeitgemäße steht folglich für »ein besonderes Element der Unruhe« (ebd.: 188), eine schöpferische Öffnung oder, wie wir noch sehen werden, eine Fluchtlinie, die sich dem Beständigen fortlaufend entzieht, die damit eine vollständige Schließung permanent verhindert, die insofern gegen die Zeit, zugunsten einer kommenden Zeit wirkt und damit auf »ewig« absolut Neues am Horizont erscheinen lässt. Der Qualitätswechsel im Willen zur Macht, die Umkehrung, durch welche die dem Modell der Rekognition innewohnende Negation durch eine Affirmation ersetzt wird, sorgt dafür, dass mit dem Leben auch die Differenz, das Werden, das Viele und der Zufall bejaht werden, dass aktive Kräfte im Denken erweckt werden, »die weder heute noch morgen der Rekognition zugehören, Mächte eines ganz anderen Modells, in einer niemals wiedererkannten oder wiedererkennbaren terra inco­ gnita« (DW: 177). Im Modus der Affirmation gehen Denken und Leben in dieselbe Richtung, setzen sich wechselseitig voraus: Das Leben ist die aktive Kraft des Denkens, aber das Denken ist die bejahende Macht des Lebens. Das Denken unterliegt nicht mehr dem Modell der Rekognition, geht nicht mehr vom Negativen aus. Ihm kommt nun eine vollkommen neue Bedeutung zu: Denken bedeutet »entdecken, neue Möglichkeiten des Lebens erfinden.« (NP: 111) Dadurch, dass es das Leben bejaht, sich an der Bejahung des Vielen, des Zufalls und des Werdens erfreut, dabei (indirekt) gegen die Zeit wirkt und damit neue Lebensformen erfindet, hört das Denken auf, reaktiv zu sein, um endlich aktiv zu werden. In seiner aktiven Existenzweise verbündet sich das Denken mit einem – im Sinne von Spinoza – freudigen und aufsteigenden Leben, »das fähig ist, sich, entsprechend den Kräften, die es vorfindet, zu wandeln und zu verändern. Mit ihnen bildet es eine immer größer werdende Macht, indem es beständig die Lebenskraft steigert und neue ›Möglichkeiten‹ eröffnet.« (ZB: 187) Wenn es einen Gedanken gibt, der sich durch alle seine Schriften zieht, dann ist es laut Nietzsche der: dass »jede Machterweiterung neue Perspektiven aufthut und an neue Horizonte glauben heißt« 232

DER WILLE ZUR MACHT ZWISCHEN AFFIRMATION UND NEGATION

(N|KSA12: 114). Wie schon bei Spinoza können auch hier bei Nietzsche die Begriffe Neues, Leben und Macht mit Deleuze als Synonyme verstanden werden. Wenn der ethische Gesichtspunkt bei Spinoza auf die Unterscheidung zwischen starken und schwachen, freien und geknechteten Menschen verweist, dann verweist derselbe Gesichtspunkt hier, bei Nietzsche, auf die Unterscheidung zwischen dem Hohen und Niedrigen, dem Vornehmen und Gemeinen. »Hoch und vornehm bezeichnen für Nietzsche die Überlegenheit der aktiven Kräfte, ihre Affinität zur Bejahung, ihre Tendenz, aufzusteigen, ihre Leichtigkeit. Niedrig und gemein bezeichnen den Triumph der reaktiven Kräfte, ihre Affinität zum Negativen, ihre Schwere und Schwerfälligkeit« (NP: 94). Auch hier kommt es also nicht darauf an, ganz allgemein »dem« falschen Leben »das« richtige Leben entgegenzustellen, sondern ad hoc zu sehen, was für ein Leben gut oder auch schlecht ist. Und was für das eine Leben gut ist, kann für ein anderes Leben schlecht sein. Was aber ist dabei unter »gut« und unter »schlecht« zu verstehen? Gut ist »alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen steigert« (N|KSA13: 480); schlecht ist alles, was die Macht im Menschen vermindert. Das gute Leben ist Ausdruck »eines aktiven Existenzmodus« (NP: 7), der sich durch ein aktives Denken und die damit einhergehende »Schöpfung neuer Möglichkeiten« (ZB: 187) auszeichnet, durch ein fröhliches Werden, das primär Bejahung und Affirmation ist, und das die Negation (allen traurigen Lebens) bloß sekundär als zwangsläufige Konsequenz seiner Bejahung nach sich zieht. Wie wir weiter oben gesehen haben, verweist das dogmatische Bild des Denkens auf eine moralische Orientierung, die nicht nur die gute Natur des Denkens und den guten Willen des Denkers, sondern auch eine Affinität zwischen dem Denken und dem Wahren begründet, die das Denken also wesentlich auf das Gute verpflichtet. Nietzsche ist laut Deleuze nun der Erste, der diese moralischen Koordinaten des Denkens anprangert, um ein anderes, ein neues Bild des Denkens zu zeichnen. Mit Nietzsche ist es nicht mehr das Wahre, das bestimmt, wodurch das Denken sich auszeichnet. »Nicht das Wahre und Falsche machen dessen Kategorien aus, sondern das Vornehme und das Gemeine, das Hohe und das Niedrige, entsprechend den Kräften, die sich des Denkens bemächtigen.« (NP: 114) Das Denken eines Individuums oder Kollektivs verweist in jedem Fall auf ein komplexes Kräfteverhältnis, auf Kräfte, die sich darin, einer bestimmten Typologie und Rangfolge entsprechend, zum Ausdruck bringen. Selbst ein einfacher Gedanken kann vor diesem Hintergrund schon das Zeichen oder das Symptom für eine durchgängig reaktive Existenzweise sein. Eine reaktive Existenzweise steht für ein niedriges oder gemeines Denken, für ein mittelmäßiges Denken, das sich auf die banalen Formen 233

NIETZSCHE UND DAS WERDEN DER KRÄFTE

im Modell der Rekognition beschränkt. Die allergrößte Gefahr für das Denken besteht insofern auch nicht darin, sich zu irren, sondern darin, niedrig oder gemein zu sein. Ein niedriges oder gemeines Denken ist zu vermeiden, nicht weil es falsch ist – es kann auch gänzlich aus Wahrheiten besteht –, sondern weil es dumm ist – zumindest in der Definition, die wir weiter oben von der Dummheit gegeben haben: die ständige Verwirrung bezüglich dem, was wichtig und unwichtig, gewöhnlich oder singulär ist. Man kennt einfältige Gedanken, einfältige Reden, die gänzlich aus Wahrheiten bestehen; aber diese sind niedrig, Erzeugnisse einer niedrigen, platten Seele, schwer wie Blei. Die Dummheit, und weitergehender, das, dessen Symptom sie ist: eine niedrige Weise des Denkens. Dies drückt in Wirklichkeit ein von reaktiven Kräften dominiertes Denken aus. In der Wahrheit wie im Irrtum deckt ein stupides Denken nur die niedrigsten Wahrheiten und Irrtümer, nur das Niedrigste auf, das den Sieg der Sklaven, die Herrschaft erbärmlicher Werte oder die Macht einer festgefügten Ordnung wiedergibt. Nietzsche, im Kampf mit seiner Zeit, hört nicht auf zu entlarven: Wieviel Niedrigkeit gehört dazu, um dies sagen, um jenes denken zu können! (NP: 115)

In seiner reaktiven Existenzweise ist das Denken von reaktiven Kräften erfüllt, zur Herdenhaftigkeit und Dummheit verdammt. Gesunder Menschenverstand, Gemeinsinn (concordia facultatum) und Modell der Rekognition stehen hier für ein zutiefst moralisches und dogmatisches Bild des Denkens. Das Problem des Denkens hängt weniger davon ab, wahrhaftig zu denken, es hängt vielmehr davon ab, tatsächlich zu denken. Deshalb liegt die Wesensdifferenz, die zu beachten ist, auch »zwischen den mittleren und den extremen Formen (neuen Werten)« (DW: 81 f.). Sie liegt zwischen den mittelmäßigen Rekognitionsformen, in denen die Differenz verneint wird, um das vorwegzunehmen, was wirklich zu denken gibt, und den extremen (grenzwertigen) Formen, in denen die Differenz bejaht wird, um Denken im Denken entstehen zu lassen. Aufgrund des Willen zum Nichts, der Negation, die sich darin zum Ausdruck bringt, impliziert eine reaktive Existenzweise grundsätzlich das Inaktivsein des Denkens, den Umstand, noch nicht zu denken. Die Fiktionen, durch die die reaktiven Kräfte sich in einer reaktiven Existenzweise durchsetzen, »sind die niedrigsten im Denken, machen die Art und Weise aus, in der es inaktiv bleibt und sich damit beschäftigt, nicht zu denken.« (NP: 118) Dagegen wird eine aktive Existenzweise dort geschaffen, wo das Denken gezwungen wird, aktiv zu werden, sich gänzlich der Affirmation zu verschreiben, um neue Denk- und Lebensmöglichkeiten zu erfinden. Es handelt sich hier nun nicht mehr um ein niedriges oder gemeines, sondern um ein hohes oder vornehmes Denken, ein schöpferisches Denken, das 234

DER WILLE ZUR MACHT ZWISCHEN AFFIRMATION UND NEGATION

sich der Genese des Neuen verschreibt und damit als Denken schlechthin bezeichnet werden kann. Die Typologie immanenter Existenzweisen zeichnet damit ein neues Bild des Denkens, ein Bild, in dem Denken nicht mehr nach transzendenten Kriterien, das Wahre (und Falsche) oder das Gute (und Böse), beurteilt wird, sondern nur noch an immanenten Kriterien bemessen wird: Einer aktiven Existenzweise entspricht ein hohes oder vornehmes Denken, das sich, der bejahenden Qualität im Willen zur Macht folgend, dadurch auszeichnet, neue Lebensmöglichkeit zu schaffen und die darin umgesetzte Lebensmacht damit zu vermehren; einer reaktiven Existenzweise entspricht dagegen ein niedriges oder gemeines Denken, ein Denken, das, der verneinenden Qualität im Willen zur Macht folgend, von vornherein Differenz, Werden, Vieles und Zufall verneint oder ausgrenzt und in seiner dogmatischen Mittelmäßigkeit (Gemeinsinn, gesunder Menschenverstand) alle Lebensmacht damit auf ein Minimum reduziert.

235

6. Die Kraftlinie von Foucault 6.1 Die singulären Punkte der Aussage Der in den beiden letzten Kapiteln herausgearbeitete ethische Gesichtspunkt ist nicht nur auf die »große Einheit Spinoza-Nietzsche« (U: 197) beschränkt: er leitet Deleuze in gewisser Hinsicht auch in seiner Auseinandersetzung mit dem Werk von Michel Foucault. Wenn es zum Beispiel, wie Foucault im Anschluss an Nietzsche festhält, keine Universalien mehr gibt, an denen sich eine Untersuchung im Sinne transzendenter Kriterien orientieren kann, wenn vor dem Hintergrund einer historischen Kritik also nicht nur auf die Universalität eines begründenden Subjekts, sondern auch auf die vermeintliche Universalität der Vernunft schlechthin zu verzichten ist: nach welchen Kriterien soll man sich dann noch richten, um nicht einem »schlechten« bzw. einem nihilistischen Relativismus zu verfallen? Wie ist, in anderen Worten, ein Gegenstand zu bewerten, »wenn man sich nicht auf transzendente Werte als universelle Koordinaten berufen« (SG: 327) kann? Statt auf transzendente Werte zurückzugreifen, bezieht sich Foucault in der Leseart von Deleuze schlussendlich auch auf Existenzweisen oder Lebensstile, auf den konkreten »Gehalt an ›Möglichkeiten‹, an Freiheit, Schöpferkraft« (ebd.), der diesen zukommt (oder fehlt), und richtet seine Untersuchung damit an rein immanenten Kriterien aus. Eben deshalb ist Foucault in den Augen von Deleuze auch in dieselbe vitalistische Tradition mit Spinoza und Nietzsche einzureihen. »Spinoza sagte: Wir wissen nicht, was ein menschlicher Körper vermag, sobald er sich von den Disziplinen des Menschen befreit. Und Foucault: wir wissen nicht, was der Mensch ›als lebendiges Wesen‹, als Gesamtheit von ›Widerstandskräften‹ vermag.« (FO: 130) In diesem Sinne sucht die Lebenskunst in Foucaults später Ästhetik der Existenz laut Deleuze nach »Kriterien des Lebens, die jedesmal die Forderungen nach einem transzendenten Urteil durch eine immanente Bewertung ersetzen« (SG: 327). Das Problem der Subjektivierung verweist dabei eben nicht auf die vieldiskutierte Rückkehr zum Subjekt, sondern, wie Deleuze betont, auf »die Bildung von Existenzweisen oder, wie Nietzsche sagte, die Erfindung neuer Lebensmöglichkeiten« (U: 138) und mehr noch: auf die konkrete Art und Weise, in der diese Momente aktiven Lebens im Laufe der Geschichte machtstrategisch vereinnahmt worden sind.1 1 So wird Foucault laut Deleuze zum Beispiel »die griechischen und christlichen Existenzweisen analysieren, wird analysieren, wie sie in Wesensformen übergehen, wie sie Kompromisse mit der Macht eingehen. Aber an sich sind

237

DIE KRAFTLINIE VON FOUCAULT

Es gibt also auch bei Foucault »Dinge, die man nur aus niederer Gesinnung tun oder sagen kann, aus haßerfülltem Leben oder aus Rache am Leben.« (U: 145) Im Sinne einer rein immanenten Kriterien folgenden Untersuchung ist deshalb zu fragen: »Was sind wir ›fähig‹ zu sehen und zu sagen (im Sinne der Aussage)?« (ebd.) Weit mehr noch als Spinoza oder Nietzsche übersetzt die historische Kritik, in der Foucault dieser Frage nachgeht, die ethische Differenz aber in ein komplexes Spiel gesellschaftlicher Kräftekonstellationen. Damit kommt der Leseart, die Deleuze dem Werk von Foucault zukommen lässt, hier nun auch eine besondere Scharnierfunktion zu. Deleuze arbeitet mit Foucaults Begriff der Aussage nämlich nicht nur dezidiert immanente Selektionskriterien heraus, er führt auch die Theorie der Probleme aus dem ersten Kapitel und die Kräftemetaphysik aus dem fünften Kapitel in Foucaults Mikrophysik der Macht zusammen. Damit finden viele der bisher besprochenen Begriffe – Problem, Ereignis, Singularität, Kräfteverhältnis, Mannigfaltigkeit oder Außen – eine exemplarische Anwendung und Kombination. Vor allem aber werden dadurch bereits die Grundlagen für die beiden letzten Kapitel vorbereitet, in denen es insbesondere darum gehen wird, die sozial- und politiktheoretischen Dimensionen im Werk von D ­ eleuze im Hinblick auf die Frage nach der Genese des Neuen zu beleuchten. So werden wir weiter unten, bei der Diskussion des Molekularen, der abs­ trakten Maschine oder des Gefüges, auch wieder auf die Mikrophysik der Macht, den Panoptismus oder das Dispositiv bei Foucault zurückkommen. Beginnen wir mit dem Begriff der Aussage. Was meint Foucault, wenn er von einer Aussage spricht? Dem Begriff der Aussage geht Foucault vor allem in der Archäologie des Wissens nach. Eine Aussage ist niemals auf das reduzierbar, was gesagt wurde. Damit unterscheidet sie sich grundsätzlich von den Wörtern, Sätzen oder Propositionen, mit denen sich beispielsweise eine historische Untersuchung wie die klassische Ideengeschichte beschäftigt. Andererseits versucht Foucault damit keineswegs, die sprachlichen Gegebenheiten einfach zu umgehen, um »hinter« diesen ein verborgenes Element zu entdecken, das sich, ohne selbst erkannt zu werden, durch sie hindurch aussagt oder emaniert. In dieser Hinsicht geht Foucault auch unmissverständlich über den Begriff der Ideologie hinaus. Paradox an der Aussage ist, dass sie, auch wenn sie nicht verborgen ist, niemals unmittelbar sichtbar ist: »Man bedarf einer bestimmten sie [für Foucault] anderer Natur. Die Kirche als pastorale Macht wird beispielsweise ständig versuchen, die christlichen Existenzweisen zu erobern, diese aber werden immer wieder die Macht der Kirche in Frage stellen, sogar vor der Reformation« (U: 143) und damit für schöpferische Momente aktiven Lebens: für die permanente Erfindung neuer Lebensmöglichkeiten stehen.

238

DIE SINGULÄREN PUNKTE DER AUSSAGE

Wendung des Blicks und der Haltung, um sie erkennen und in sich selbst betrachten zu können. Vielleicht ist sie dieses zu Bekannte, das sich unaufhörlich entzieht; vielleicht ist sie wie jene vertrauten Transparenzen, die auch, wenn sie in ihrer Dichte nichts verbergen, nicht in aller Klarheit gegeben sind.« (F|AW: 161) In Der Wille zum Wissen zeigt Foucault beispielsweise, dass trotz allem, was im viktorianischen Zeitalter auch unternommen wurde, um ein Sprechen vom Sex zu unterbinden, doch ununterbrochen davon gesprochen wurde. Um aber dieses ohrenbetäubende Schweigen um den Sex in den Blick zu bekommen, kommt es nicht so sehr darauf an, das zu berücksichtigen, was tatsächlich über den Sex gesagt wurde, »ob man nun ja oder nein zum Sex sagt, ob man Verbote oder Erlaubnisse ausspricht, ob man seine Bedeutung bejaht oder seine Wirkungen verleugnet, ob man die Worte, mit denen man ihn bezeichnet, zügelt oder nicht« (F|WW: 18 f.). Es kommt vielmehr darauf an, »daß man davon spricht, wer davon spricht, […] die Orte und Gesichtspunkte, von denen aus man spricht, die Institutionen, die zum Sprechen anreizen und das Gesagte speichern und verbreiten« (ebd.) – es kommt also darauf an, den Sex, um hier mit Deleuze zu sprechen, zu dramatisieren, die tragischen Fragen im Sinne von Nietzsche zu stellen und den Sex vor diesem Hintergrund als verstreutes diskursives Ereignis zu betrachten: die Kirche mit ihrer detaillierten Befragung im Spiel der Beichte, ihren minutiösen Regeln der Selbstprüfung im Rahmen der pastoralen Seelenführung; die Regierung mit ihren biopolitischen Modulationen des Lebens, der Kontrolle der Geburtenrate, der Handhabung von Verhütungsmethoden; oder, um hier noch ein drittes Beispiel zu nennen, die Erziehungseinrichtungen, in denen der Sex zwar nie zur Sprache kommt, der aber dennoch alle Bereiche, von der Einrichtung der Klassenzimmer oder der Schlafsäle bis hin zur Handhabung von frühreifen oder auffälligen Jugendlichen, insgeheim bestimmt. In all diesen heterogenen Fällen wird deutlich, dass sich moderne Gesellschaften nicht dadurch auszeichnen, dass sie »Sex ins Dunkel verbannen, sondern daß sie unablässig von ihm sprechen und ihn als das Geheimnis geltend machen« (F|WW: 40). Das Sprechen über den Sex wird durch die Macht nicht unterdrückt, es wird durch die Macht vielmehr ununterbrochen und aus allen möglichen Perspektiven hervorgerufen. Es handelt sich dabei also nicht um eine repressive Bewegung, die bloß darauf aus ist, »den wilden Sex in irgendeine dunkle und unzugängliche Gegend zu verstoßen, sondern im Gegenteil um Prozesse, die ihn an der Oberfläche der Dinge und der Körper ausstreuen, die ihn anreizen, kundmachen und zum Sprechen bringen« (ebd.: 75). Die Sexualität markiert ein Geheimnis, das sich allerdings selbst enthüllt, denn es kommt, ohne sich verbergen zu müssen, ununterbrochen zur Sprache, selbst wenn dies, aufgrund der Worte, in denen es formuliert wird, nicht 239

DIE KRAFTLINIE VON FOUCAULT

unmittelbar ersichtlich ist. Eben darin liegt die heimtückische Produktivität, die der Macht laut Foucault innewohnt. Die Worte und Blicke, die der Normalisierung und ihrer Ausrichtung an der Norm folgen, sind unmittelbarer Ausdruck einer reaktiven Existenzweise. Nach Deleuze liegt das wichtigste historische Prinzip von Foucault dabei darin, dass, auch wenn in einer Epoche immer alles gesagt wird, die Aussage an sich aber dennoch verborgen bleibt, solange man nicht – durch eine gekonnte Wendung des Blicks – zu ihren Bedingungen, zum Sockel, auf dem sie aufsitzt, vordringt. Dabei wendet sich Foucault aber entschieden gegen alle Versuche, der Sprache einen ursprünglichen Anfang zu verleihen, egal ob es sich dabei nun um das »ich spreche« einer grammatischen oder psychologischen Person, dem »es spricht« einer linguistischen oder sozialen Struktur oder dem »Sprechen der Welt« eines phänomenologischen oder transzendentalphilosophischen Gemeinsinns handelt. Der so begriffene Diskurs ist nicht die majestätisch abgewickelte Manifestation eines denkenden, erkennenden und es aussprechenden Subjekts: Im Gegenteil handelt es sich um eine Gesamtheit, worin die Verstreuung des Subjekts und seine Diskontinuität mit sich selbst sich bestimmen können. Es ist ein Raum der Äußerlichkeit, in dem sich ein Netz von unterschiedlichen Plätzen entfaltet. Vorhin haben wir gezeigt, daß es sich weder um die »Wörter« noch um die »Sachen« handelte, wenn man das System der einer diskursiven Formation eigenen Gegenstände definieren wollte. Ebenso muß man jetzt erkennen, daß es weder durch den Rückgriff auf ein transzendentales Subjekt noch durch den Rückgriff auf eine psychologische Subjektivität zu leisten ist, wenn es um die Definition des Systems seiner Äußerungen geht. (F|AW: 82)

In Abwesenheit eines Anfangs muss im Dazwischen angesetzt werden, muss die Aussage nicht auf die ferne Präsenz eines Ursprungs oder das innere Geheimnis einer begründenden Subjektivität wie bei Kant verweisen, wohl aber »im Mechanismus [ihres] Drängens behandelt« (ebd.: 39) werden, muss, »um ihr Einwirken als Ereignis wiederzufinden« (ebd.: 177), von einem prä-individuellen oder unpersönlichen »man spricht« ausgegangen werden, ähnlich dem, was Nietzsche ein »vorsichtiges tückisches leises Munkeln und Zusammenflüstern aus allen Ecken und Winkeln« (N|KSA5: 282) nennt: einem anonymen Murmeln also, das sich über die Äußerlichkeit seiner Verstreuung und der Eindringlichkeit seines Erscheinens definiert und in dem die mögliche Stellung eines Subjekts immer erst vorgezeichnet wird.2 Zwar kann dieses anonyme Mur2 Im »man spricht« erkennt Deleuze die ganze Pracht des Ereignisses. »Wie sehr differiert dieses man von dem der Alltagsbanalität. Es ist das man der unpersönlichen und präindividuellen Singularitäten, das man des reinen

240

DIE SINGULÄREN PUNKTE DER AUSSAGE

meln nur das beinhalten, was zu einem bestimmten Zeitpunkt auch tatsächlich gesagt wurde, also alle Wörter, Sätze und Propositionen jener Zeit und in ihrer vollen Positivität, doch liefern diese nun das Material, aus dem eine diskursive Gesamtheit, eine »Aussagegegebenheit« (F|AW: 162) oder, was Deleuze besonders hervorhebt, ein Korpus der Aussage gebildet werden kann.3 Die Originalität von Foucault liegt für Deleuze in der Verfahrensweise, durch die er vom scheinbar Unwesentlichen – verstreute Wörter, obskure Texte und völlig überholte Propositionen – zum Wesentlichen gelangt und damit eine Selektion vollzieht, die, indem sie nach immanenten Kriterien verfährt, das Wichtige vom Unwichtigen, das Singuläre vom Regulären trennt. Damit versammelt sie das Korpus einer historischen Formation. Diese Selektion operiert aber weder als Funktion von Häufigkeitsverteilungen oder linguistischen Konstanten noch in Abhängigkeit von den persönlichen Qualitäten derjenigen, die sprechen oder schreiben (große Denker, berühmte Staatsmänner usw.). […] Er wählt Wörter, Sätze und basale Propositionen weder nach der Struktur noch nach einem Autor-Subjekt, aus dem sie hervorgegangen sind, sondern entsprechend der einfachen Funktion, die sie in einer Gesamtheit ausüben: zum Beispiel Regeln der Internierung für das Asyl oder auch für das Gefängnis; Disziplinarreglements für die Armee oder die Schule. (FO: 30)

Nach welchen immanenten Kriterien wird ein Korpus also gebildet: wie wird eine diskursive Gesamtheit bestimmt? Um ein Korpus zu bilden, müssen jene Wörter, Sätze und Propositionen selektiert werden, die im Umkreis der diffusen Brennpunkte der Macht (und des Widerstandes) plötzlich in Erscheinung treten. Es sind dies Brennpunkte, an denen sich plötzliche Umschwünge und unerwartete Wendungen ereignen, wo drängende Fragen aufgeworfen werden, Fragen, die um sich greifen, sich wechselseitig aufgreifen und um die herum sich eine transversale Pro­blematik entzündet – eine disruptive Bewegung also, die wie ein Lauffeuer von einem Brandherd zum anderen wandert. Geht Ereignisses, in dem es stirbt wie es regnet. Die Pracht dieses man ist die des Ereignisses selbst oder der vierten Person. Aus diesem Grund gibt es nicht private Ereignisse und andere kollektive; wie es auch keine des Individuellen oder des Universellen, der Besonderheiten und der Allgemeinheiten gibt.« (LS: 190) 3 Die Dinge in ihrer Positivität aufgreifend, bezeichnet Foucault sich humorvollerweise als Positivisten. »Wenn man an die Stelle der Suche nach den Totalitäten die Analyse der Seltenheit, an die Stelle des Themas der transzendentalen Begründung die Beschreibung der Verhältnisse der Äußerlichkeit, an die Stelle der Suche nach dem Ursprung die Analyse der Häufungen stellt, ist man ein Positivist, nun gut, ich bin ein glücklicher Positivist, ich bin sofort damit einverstanden.« (F|AW: 182)

241

DIE KRAFTLINIE VON FOUCAULT

es beispielsweise um das Korpus der Sexualität im 19. Jahrhundert, so wird man »die Wörter und die Sätze suchen, die um den Beichtstuhl herum ausgetauscht werden, die Propositionen, die sich in einem kasuistischen Handbuch auftürmen, und man wird auch die anderen Brennpunkte berücksichtigen, die Schule, Geburt und Heirat betreffenden Institutionen« (ebd.: 30 f.). Allerdings spricht Foucault in der Archäologie des Wissens, wenn es darum geht, den Begriff der Aussage zu definieren, noch nicht explizit von Brennpunkten der Macht. Von Brennpunkten der Macht wird erst einige Jahre später in Der Wille zum Wissen die Rede sein, zu einem Zeitpunkt, an dem Foucault mit Überwachen und Strafen also bereits von der Thematik des Wissens zu jener der Macht übergegangen ist. Wenn das besagte Kriterium dennoch »in der Archäologie praktisch am Werk ist, obgleich die dazugehörige Theorie erst später hinzutritt« (FO: 31), dann, so Deleuze, in Gestalt eines nahezu synonymen Begriffs, der den der Brennpunkte bereits theoriearchitektonisch vorwegnimmt: den der Singularitäten.4 Das heißt, die Brennpunkte der Macht, in deren Nachbarschaft sich jene Wörter, Sätze und Propositionen versammeln, die das Korpus einer historischen Formation zusammensetzen, werden von Deleuze als Singularitäten bezeichnet. Ausgehend von diesen Singularitäten – Kipppunkte, Wendungen, Umbrüche usw. – kann nach und nach, d.h. von Singularität zu Singularität oder von Brennpunkt zu Brennpunkt, das problematische Feld abgesteckt werden, in Bezug auf welches ein »Korpus von Worten und Texten« (F|AW: 162) als konsistentes Phänomen zum Vorschein kommt. Das Problem der Sexualität zieht beispielsweise eine transversale Kraftlinie durch ganz verschiedene Brennpunkte in der Medizin, Psychiatrie, Erziehung, Seelsorge oder Justiz. Und die Brennpunkte oder Singularitäten, die diese transversale Linie verknüpft, 4 Es stimmt zwar, dass Foucault, zumindest wenn man sich an den Originaltext hält, ununterbrochen von Singularitäten oder singulären Ereignissen spricht, auf welche die jeweiligen Aussagen zurückzuführen sind: »il s’agit de saisir l’énoncé dans l’étroitesse et la singularité de son événement« (Foucault 1969: 40). Dabei erkennt Deleuze aber selbst an, dass Foucault, obwohl er hier und da davon spricht, das Wort »Singularität« nicht im Sinne eines eigenständigen Begriffes verwendet. Hierbei zeigt sich die Vorgehensweise von Deleuze besonders gut. Denn in einem seiner Seminare erklärt er in diesem Zusammenhang, dass es im Werk eines zu lesenden Philosophen immer zwei Arten von Wörtern gibt: jene, denen explizit eine Bedeutung zugesprochen wird (z.B. der Begriff der Aussage bei Foucault) und jene, die implizit Verwendung finden, damit aber nicht minder von Bedeutung sind. Es sind dies Begriffe, die eher dem entsprechen, was Deleuze als Augenzwinkern – »c’est des concepts ›clin d’œil‹ ou ›coup d’œil‹« (Deleuze 1985) – bezeichnet und an denen er seine eigene, verfremdende Vorgehensweise orientiert.

242

DIE SINGULÄREN PUNKTE DER AUSSAGE

die Widerständigkeiten und Machteffekte, markieren damit dezidiert immanente Kriterien.5 In der Archäologie liefert Foucault ein eher seltsames, fast schon humoristisches Beispiel, um zu zeigen, was somit unter einer Aussage zu verstehen ist. Darin wird erklärt, dass zwar die Tastatur einer französischen Schreibmaschine keine Aussage ist, »aber die gleiche Serie von Buchstaben A, Z, E, R, T, in einem Lehrbuch für das Schreibmaschineschreiben aufgezählt, ist die Aussage der alphabetischen Ordnung, die für die französischen Schreibmaschinen angewendet wird« (F|AW: 125). Was Foucault damit zeigen will, ist in erster Linie, dass eine Aussage sich nicht auf Sprache, auf ihre Grammatik oder Syntax, zurückführen lässt – »obwohl sie aus Zeichen zusammengesetzt ist, die in ihrer Individualität nur innerhalb eines natürlichen oder künstlichen sprachlichen Systems definierbar sind« (ebd.) –, aber ebensowenig auf eine referentielle Materialität, wie jene, die beispielweise einer Handvoll Druckbuchstaben zukommt – »obwohl sie immer mit einer bestimmten Materialität ausgestattet ist und man sie stets gemäß räumlich-zeitlichen Koordinaten einordnen kann« (ebd.). Was ist es also, das dafür sorgt, dass aus einer Serie von Zeichen eine Aussage wird? Foucault erklärt, eine Serie von Zeichen »wird zur Aussage unter der Bedingung, daß sie zu ›etwas anderem‹ (was ihr seltsamerweise ähnlich und quasi identisch wie in dem gewählten Beispiel sein kann) eine spezifische Beziehung hat, die sie selbst betrifft, – und nicht ihre Ursache, nicht ihre Elemente« (ebd.: 129). Die Aussage wird durch eine geheime, verkleidete Wiederholung belebt, sie ist »in sich Wiederholung, obgleich das, was sie wiederholt, etwas anderes ist als sie selbst« (FO: 22), etwas anderes, das ihr aber dennoch »seltsamerweise ähnlich und quasi identisch« (ebd.: 129) ist. Was ist dieses andere, das sich in der Aussage wiederholt? »Es ist ein Außen. Es ist eine reine Emission von Singularitäten als Punkten der Unbestimmtheit, da sie noch nicht durch eine Aussagenkurve determiniert und spezifiziert sind, die sie verbindet und die in ihrer unmittelbaren Nähe diese oder jene Form annimmt« (ebd.: 23). Als reine Emission singulärer Punkte ist es dieses Außen, das sich in der Aussage als problematisches oder problematisierendes Ereignis wiederholt, das dadurch erst den Sockel der Kräfteverhältnisse 5 In Der Wille zum Wissen zählt Foucault Brennpunkte auf, »die vom 18. oder 19. Jahrhundert an begonnen haben, Diskurse über den Sex hervorzubringen« (F|WW: 36). Die Medizin, insofern sie beginnt, von Geisteskrankheiten zu sprechen; die Psychiatrie, die beginnt, »Ausschweifungen« als Perversionen zu problematisieren; die Strafjustiz, die beginnt, sich mit geringfügigen Vergehen zu beschäftigen, und dabei auf widernatürliche Verbrechen stößt; und alle Institutionen sozialer Kontrolle, die beginnen, sich dem Leben und insofern auch der Sexualität anzunehmen.

243

DIE KRAFTLINIE VON FOUCAULT

konstituiert, auf dem die Aussage fußt und der ihre Bedingungen damit historisch festlegt. Was ist hier nun aber unter einer reinen Emission singulärer Punkte zu verstehen? Bleiben wir beim Beispiel der Tastenfolge AZERT, die für eine französische Schreibmaschine typisch ist. Die Beziehungen zwischen den Buchstaben, ihre Anordnung, ist nicht völlig aus der Luft gegriffen, sondern verweist auf mindestens zwei Gesichtspunkte. Zunächst muss berücksichtigt werden, dass gewisse Buchstabenfolgen in einer Sprache oder von einer Sprache zu einer anderen in ihrer Frequenz variieren. Deleuze weist darauf hin, dass zum Beispiel die Buchstabenfolge WH im Englischen sehr viel häufiger vorkommt als im Französischen, dass zwischen den Buchstaben W und H im Englischen also eine höhere »Anziehungskraft« vorherrscht als im Französischen. Ganz allgemein definiert sich eine jede Sprache also durch eine ganz bestimmte Frequenz in ihren Buchstabenfolgen: es sind dies differentielle Beziehungen, durch die eine Sprache spezifisch zum Ausdruck kommt. Des Weiteren musste bei der Tastaturbelegung auch auf die mechanischen Eigenschaften der Schreibmaschine geachtet werden. So wurden Buchstaben, die in einer Sprache häufig aufeinander folgen, in der Regel nicht nebeneinander platziert, um dadurch Anschlagszeit einzusparen. Buchstaben, die auf einer mechanischen Schreibmaschine nebeneinander liegen, laufen nämlich Gefahr, dass ihre Typenhebel sich verhaken – vor allem dann, wenn sie schnell nacheinander angeschlagen werden. Deshalb macht es auch Sinn, Buchstaben, die häufig aufeinander folgen, zwischen den beiden Händen auf der Tastatur zu verteilen, um ein solches Verhaken und den damit einhergehenden Stillstand des Schreibprozesses zu vermeiden. Im Problem der optimalen Tastenbelegung werden also völlig heterogene Dimensionen (Sprache, Körper, Maschine) in Beziehung zueinander gesetzt. Zwischen den Abständen der einzelnen Finger, den spezifischen Frequenzen der Buchstabenfolgen in einer Sprache und den mechanischen Nachbarschaften der Typenhebeln in einer Schreibmaschine: zwischen all diesen singulären Punkten, aus ihrer Emission, ergibt sich nun ein komplexes Kräfteverhältnis, das zur Auflösung drängt. AZERT ist in Frankreich das, was aus diesem Kräfteverhältnis und den singulären Punkten, die darin ein Tastenbelegungsproblem markieren, als Lösung hervorgeht. Daraus folgert Deleuze nun, dass »AZERT, auf der Tastatur, eine Gesamtheit von Brennpunkten der Macht ist, eine Gesamtheit von Kräftebeziehungen zwischen den Buchstaben des französischen Alphabets und ihren Häufigkeiten einerseits und den Fingern der Hand und ihren Abständen andererseits« (FO: 24). An diesem Beispiel wird deutlich, dass das, was hier als Kräfteverhältnis bezeichnet wird, nicht (nur) in einem rein gesellschaftlichen oder politischen Sinne, sondern vor allem auch in einem metaphysischen Sinne zu verstehen ist – bei Foucault muss alles als ein Spiel von Kräften 244

DIE SINGULÄREN PUNKTE DER AUSSAGE

begriffen werden (selbst Buchstaben, Typenhebel und Finger). Wenn aber alles als ein Spiel von Kräften begriffen wird, dann gibt es auch nichts mehr, was sich diesem Spiel entzieht. Es gibt nichts mehr, was sich dem Werden der Kräfte in irgendeiner Weise entzieht: Kraft bezieht sich nur auf Kraft. Die Idee, dass eine Kraft wesentlich zu anderen Kräften in Beziehung steht, dass es also nichts gibt, was diesen Beziehungen vorausgeht, kommt zwar ursprünglich von Nietzsche, wird von Foucault, dem von Deleuze auch »ein tiefsitzender Nietzscheanismus« (FO: 100) attestiert wird, aber aufgegriffen und in eine neuartige Machttheorie »verlängert« (U: 130).6 Macht darf dabei nicht mit Ideologie oder Gewalt verwechselt werden, denn während es sich bei der Ideologie um eine Kraft handelt, die sich auf Seelen richtet, handelt es sich bei der Gewalt um eine Kraft, die sich auf Körper richtet. Die Kraft richtet sich in beiden Fällen auf etwas, das selbst nicht Kraft ist (Seele, Körper), das die Ausübung von Macht bloß passiv hinnimmt und insofern auch nur für eine unilaterale Beziehung steht. Aber, »wenn die Macht immer nur unterdrückend wäre, wenn sie niemals etwas anderes tun würde als Nein zu sagen« (F|DE3: 197), dann würde ihr niemand mehr gehorchen. Wenn Foucault demgegenüber erklärt, dass Macht immer produktiv ist, dann in dem Sinne, dass eine Kraft sich grundsätzlich auf eine andere Kraft bezieht, um in dieser etwas zu bewirken. Die aktive, befehlende Kraft setzt sich durch, aber nicht indem sie die reaktive, gehorchende Kraft negiert oder gar vernichtet, sondern indem sie sich dieser annimmt und sie auf eine bestimmte Art und Weise zum Wirken bringt.7 Kräfteverhältnis6 Zwar sprechen Foucault und Deleuze ständig von »Macht«, meinen damit aber nicht (immer) dasselbe. Während Foucault nämlich vor allem Herrschaftsmacht (pouvoir) im Sinne hat, beruft sich Deleuze in der Regel auf Handlungsmacht (puissance) im Sinne eines virtuellen Vermögens. Zwar ist die Macht auch bei Foucault produktiv und beschränkt sich nicht bloß darauf, ihre Subjekt zu unterwerfen: das absolute Primat einer unbedingten Schöpfung, welches Deleuze mit seinem Begriff der Macht zum Ausdruck bringen will, kommt dabei aber dennoch zu kurz. Um diese beiden Machtbegriffe zu unterscheiden, wird fortan, falls nötig, auf das französische Original verwiesen (pouvoir vs. puissance). 7 Wie Kräfte, die nur in Beziehungen zu anderen Kräften existieren, kommt Macht in Handlungen zum Ausdruck, die immer auf andere Handlungen wirken. Macht ist insofern »ein Ensemble aus Handlungen, die sich auf mögliches Handeln richten, und operiert in einem Feld von Möglichkeiten für das Verhalten handelnder Subjekte. Sie bietet Anreize, verleitet, verführt, erleichtert oder erschwert, sie erweitert Handlungsmöglichkeiten oder schränkt sie ein, sie erhöht oder senkt die Wahrscheinlichkeit von Handlungen, und im Grenzfall erzwingt oder verhindert sie Handlungen, aber stets richtet sie sich auf handelnde Subjekte, insofern sie handeln oder handeln können. Sie ist auf Handeln gerichtetes Handeln.« (F|DE4: 286) Die

245

DIE KRAFTLINIE VON FOUCAULT

se beruhen, wie wir bereits gesehen haben, auf einem konstitutiven Ungleichgewicht. Und dieses Ungleichgewicht ergibt sich aus der singulären Art und Weise, in der sich Kräfte durch Zufall begegnen – es wird also zwischen (und nicht hinter) den involvierten Kräften festgelegt.8 Der Ansatz von Foucault (und Nietzche) ist also rein relational. Mit dem Verweis auf Kräfteverhältnisse geht aber nicht automatisch eine rein relationale Sichtweise einher. So wird oft auf Kräfteverhältnisse zwischen gesellschaftlichen Klassen oder auf antagonistische Positionen in einem sozialen Raum verwiesen. Obwohl in diesem Zusammenhang ausdrücklich betont wird, dass es sich um eine relationale Sichtweise handelt, muss doch darauf hingewiesen werden, dass es etwas gibt, was sich den Relationen entzieht: die Relationsglieder oder Relata selbst. So geht Bourdieu etwa davon aus, dass »die sozialen Felder […] Kraftfelder« (Bourdieu 1985: 74) sind und dass sie als Kraftfelder relational zu bestimmen sind: »Was in der sozialen Welt existiert, sind Relationen« (Bourdieu/ Wacquant 2006: 127). Diese Einsicht geht laut Bourdieu auf den Strukturalismus zurück: mit ihm wurde »das relationale Denken in die Sozialwissenschaften eingeführt« (Bourdieu 1993: 12). Damit sollte insbesondere ein Bruch mit der Alltagssicht der sozialen Welt erreicht werden. Denn die Alltagssicht kennt zwar Relationen, macht sie aber »ausschließlich an sichtbaren Dingen fest« (Bourdieu 1985: 71) – z.B. an Individuen, Gruppen, Interaktionen und Handlungen. Dagegen definiert sich ein soziales Feld nach Bourdieu nun nicht mehr durch sichtbare Dinge, sondern durch ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen […]. Diese Positionen sind in ihrer Existenz und auch in den Determinierungen, denen die auf ihnen befindlichen Akteure oder Institutionen unterliegen, objektiv definiert, und zwar durch ihre aktuelle und handelnden Subjekte sind zwar gewissermaßen »frei«, ihr Handlungsspielraum wird aber so moduliert, dass bestimmte Handlungen wahrscheinlicher werden als andere. Wie wir weiter oben gesehen haben, erklärt Spinoza auf ähnliche Weise, dass Menschen, erliegen sie reaktiven Affekten, sich ihrer Handlungen zwar bewusst sind, weniger jedoch der Ursachen, die sie dazu bestimmen, diese zu erstreben. In diesem Sinne legt Deleuze nun auch Machtverhältnisse bei Foucault aus. Was erlitten wird, sind Handlungen, die, indem sie das Handlungsfeld anderer gestalten, aktive Affekte ausdrücken: »Anregen, veranlassen, produzieren […] sind aktive Affekte, und angeregt werden, veranlaßt werden, zum Produzieren bestimmt werden und einen ›Nutzen‹ bewirken sind reaktive Affekte.« (FO: 100) 8 Das heißt, »die Kräfte, die in der Geschichte am Werk sind, gehorchen weder einer Bestimmung noch einer Mechanik, sondern nur den Zufällen des Kampfes. Sie manifestieren sich nicht als sukzessive Ausprägungen einer ursprünglichen Absicht und nehmen auch nicht die Gestalt von Ergebnissen an, sondern erscheinen stets nur als das einzigartige Zufällige des Ereignisses.« (F|DE2: 180)

246

DIE SINGULÄREN PUNKTE DER AUSSAGE

potentielle Situation (situs) in der Struktur der Distribution der verschiedenen Arten von Macht (oder Kapital). (Bourdieu/Wacquant 2006: 127)

Die objektiven Relationen sind durch den Beobachter in Bezug auf ein Feld der Macht zu konstruieren, das selbst aber nicht auf derselben Ebene wie die sozialen Felder liegt – obwohl es in diesen Feldern stets als eine verborgene Struktur präsent ist. Wenn soziale Felder von Bourdieu relational bestimmt werden, so sind die Relationen in diesen Feldern aber immer schon an die vorauseilende Konzeption der Relata als antagonistische Positionen in einem transzendenten Feld der Macht gebunden. Die Relationen verweisen also immer schon über sich hinaus, auf eine transzendente Analogieebene, wo sie durch die begriffliche Bestimmung ihrer Relata von vornherein eingeengt werden. Die strukturelle Methode ist insofern nicht vollständig relational: Relationen sind ihren Relata immer noch innerlich. Dagegen betont Deleuze aber ausdrücklich, dass Relationen ihren Relata gegenüber äußerlich sein müssen. Das heißt, der Relator, der die Relata in einer Relation relationiert, muss die Äußerlichkeit der Begegnung und eben nicht die Innerlichkeit des Begriffs benennen.9 Kommen wir damit aber wieder zum Begriff der Kräfteverhältnisse bei Foucault zurück. Denn die Kräfteverhältnisse und die Verteilung der singulären Punkte, die diesen Verhältnissen entspricht, bilden noch nicht die Aussage. Sie bilden nur die Bedingungen, in Bezug auf welche eine Aussage lesbar oder sichtbar wird – sie konstituieren den Aussagesockel. Eine Aussage wird nach Foucault erst durch ihre Regelmäßigkeit definiert. Was bedeutet hier aber Regelmäßigkeit? Deleuze greift an dieser Stelle tief in seinen Werkzeugkasten. Er liest Foucault nämlich mit Albert Lautman, einem relativ unbekannten Mathematiker und Philosophen, der, ausgehend von der geometrischen Interpretation der Theorie differentieller Gleichungen im mathematischen Werk von Henri Poincaré, eine originelle Theorie der Probleme vorlegt, die Deleuze in Differenz und Wiederholung und Logik des Sinns für seine eigene Problematologie fruchtbar macht.10 Wie wir bereits gesehen haben 9 In der Archäologie des Wissens weist Foucault darauf hin, dass die Aussage von jeder Form von Innerlichkeit befreit werden muss, denn obgleich diese vorgibt, eine »andere Geschichte, die unterhalb der Geschichte verläuft«, ans Tageslicht zu bringen, handelt es sich dabei nur um das alte »historisch-transzendentale Thema, das sich neu einkleidet« (F|AW: 171). Dagegen kommt es darauf an, »die Aussagen in ihrer reinen Verstreuung wiederherzustellen, um sie in einer Äußerlichkeit zu analysieren, die zweifellos paradox ist, weil sie auf keine umgekehrte Form der Innerlichkeit verweist« (ebd.), die aber gerade deshalb die kontingenten Kräfteverhältnisse aufzuzeigen vermag, auf denen sich die Aussage ereignishaft errichtet. 10 Spätestens seit Manuel DeLandas Intensive Science and Virtual Philosophy orientieren sich die Rezeption von Deleuze mehr und mehr an der Theorie

247

DIE KRAFTLINIE VON FOUCAULT

wird ein Problem nur durch die singulären Punkte bestimmt, die seine Bedingungen ausdrücken. Wir behaupten nicht, daß das Problem dadurch gelöst sei – im Gegenteil, es ist als Problem bestimmt. In der Theorie der Differentialgleichungen zum Beispiel sind die Existenz und die Verteilung der Singularitäten relativ zu einem problematischen Feld, das durch die Gleichung als solche definiert wird. Und die Lösung wird nur mit den Integralkurven und der Form sichtbar, die sie in der Nachbarschaft von Singularitäten in einem Feld von Vektoren annehmen. (LS: 78)

Obwohl sie sich wechselseitig voraussetzen und obwohl sie einander stets immanent sind, müssen dennoch zwei mathematische Realitätsebenen wesentlich oder formal-real voneinander unterschieden werden: Die Ebene der Probleme umfasst nämlich ein Vektorfeld, das durch die Existenz und Verteilung oder die Emission von Singularitäten charakterisiert ist; die Ebene der Lösungen umfasst dagegen Integralkurven, die zwar »in der Nachbarschaft von Singularitäten in einem Feld von Vektoren« (ebd.: 137) verlaufen, sich als diskrete Formen aber wesentlich von der intensiven Kontinuität dieses Feldes abheben. Deleuze zufolge lässt Foucault »daraus eine Methode hervorgehen, auf die sich die Archäologie« (FO: 110) stützt, wenn sie die Regelmäßigkeit der Aussage bestimmt.11 dynamischer Systeme. Neben den Arbeiten von DeLanda sind dabei jene von Henry Somers-Hall (2012) und Miguel de Beistegui (2004) hervorzuheben. 11 Wenn Deleuze darauf hinweist, dass Singularitäten »im mathematischen Sinne« (SG: 333) zu verstehen sind, dann ist damit in erster Linie die Reihenentwicklung in der Analysis gemeint. Wie Simon Duffy (2013; 2016) zeigt, kann die Entwicklung einer Potenz- oder Taylorreihe als Polynom formuliert werden, wobei die Terme dieses Polynoms Koeffizienten darstellen, die für die fortlaufende oder wiederholte Differentiation des singulären Punktes einer unbekannten Funktion stehen. Durch die wiederholte Differentiation wird nicht nur der singuläre Punkt approximiert, an dem eine Kurve ihr Wesen (z.B. Wendepunkt) ändert, sondern auch alle regulären Punkte, die in der Nachbarschaft dieses Punktes liegen: in die sich der singuläre Punkt also verlängert. Das heißt, die Potenzreihe konvergiert mit der unbekannten Funktion, indem sie nach und nach einen stetig differenzierbaren Abschnitt derselben in der Nachbarschaft des singulären Punktes generiert. Als Konvergenzkriterium gilt dabei, dass die Potenzreihe an jedem Punkt dieser Nachbarschaft analytisch sein muss (Konvergenzradius). Von einem Konvergenzradius zum nächsten, d.h. von der Nachbarschaft einer Singularität bis hin zur Nachbarschaft einer anderen, kann so Stück für Stück eine analytische Funktion generiert werden. Was mit Lautman hier nun als Integration bezeichnet wird, meint zunächst als lokale Integration die Konvergenz regulärer Punkte in der Nachbarschaft eines singulären Punktes und als globale Integration, die analytische Kontinuität der singulären Punkte über die gesamte Kurve. Wenn hier also die Rede von einer Integration ist, dann nicht in dem Sinne, in dem gewöhnlich eine Stammfunktion durch die inverse Operation der Differentiation

248

FORM UND KRAFT ODER: WAS IST MIKROPHYSIK?

Aufgabe der Integralkurven ist es, die problematische Verteilung der Singularitäten in einer Kurvenform aufzulösen. Weil die Singularitäten in einem Vektorfeld nur als unbestimmte Punkte existieren, lösen die Integralkurven dadurch auf, dass sie diese Punkte bestimmen und das heißt: sie entlang einer stetig fortsetzbaren Kurve vereinigen oder regulieren. Was also ist unter Regelmäßigkeit der Aussage zu verstehen? Kommen wir auf das Beispiel AZERT zurück. In ihrer Regelmäßigkeit ist die Aussage die Kurve, die die singulären Punkte vereinigt, das heißt, die die Kräfteverhältnisse verwirklicht und aktualisiert, die in der französischen Sprache zwischen den Buchstaben und den Fingern je nach Häufigkeit und Nähe (oder, im anderen Beispiel, nach einer Zufallsverteilung) bestehen. Aber die singulären Punkte selbst und ihre Kräfteverhältnisse waren noch keine Aussage: [sie sind] das Außen der Aussage, dem die Aussage auf seltsame Weise gleichen kann, mit dem sie quasi identisch sein kann. (FO: 111)

Was Foucault unter Regelmäßigkeit versteht, hat nach Deleuze also »einen sehr präzisen Sinn« (ebd.: 109): Es handelt es sich um eine Kurve, die Kräfteverhältnisse entlang singulärer Punkte kontinuierlich verbindet, und diese Kräfteverhältnisse damit als diskrete Formen des Sagbaren (oder des Sichtbaren) zum Ausdruck bringt. »Die Aussagekurve integriert in der Sprache die Intensität der Affektionen, die differentiellen Kräfteverhältnisse, die Singularitäten der Macht (Potentialitäten).« (ebd.: 111) Eine Aussage ist, in anderen Worten, integrierter Ausdruck eines verstreuten Kräftegeschehens. Foucault spricht vielleicht nicht von einer Integralkurve, wohl aber von einer großen transversalen Kraftlinie, die die Singularitäten oder »lokalen Konfrontationen durchkreuzt und verbindet« und bei diesen damit »auch Neuverteilungen, Angleichungen, Homogenisierungen, Serialisierungen und Konvergenzen herbeiführen kann« (F|WW: 94), die ihrerseits dann in den historischen Formen des Wissens verkörpert und aktualisiert werden.

6.2 Form und Kraft oder: Was ist Mikrophysik? Damit stoßen wir schon auf das Verhältnis von Wissen und Macht, das für Foucault bekanntlich zentral ist. Auch dieses Verhältnis kann in den bestimmt wird. Gerade deshalb kann zwischen beiden Operationen auch ein Wesensunterschied geltend gemacht werden, was im Fall einer einfachen Inversion nicht möglich ist. »Die Integration ist in diesem Sinne keineswegs die Umkehrung der Differentiation, sondern bildet eher einen ursprünglichen Differenzierungsprozeß« (DW: 265), durch den eine stetige Kurve aus einem grundlegenden Differentialverhältnis (Vektorfeld) generiert wird.

249

DIE KRAFTLINIE VON FOUCAULT

Augen von Deleuze nun mit Lautman und seiner Interpretation der Theorie der Differentialgleichungen verstanden werden. Und zwar folgendermaßen: auf der einen Seite die Ebene der Macht mit ihren instabilen Kräfteverhältnissen als Verteilung unbestimmter Singularitäten in einem intensiven Vektorfeld; auf der anderen Seite die Ebene des Wissens als lauter Integralkurven, die um die Nachbarschaften dieser Singularitäten herum verlaufen und sie in bestimmte Formen des Sagbaren oder Sichtbaren integrieren. Während die Instabilität der Kräfteverhältnisse also permanent wechselnde Problemkonstellationen erzeugt, werden entsprechende Lösungen kontinuierlich durch Integralkurven (oder Kraftlinien) als historische Formen des Wissens etabliert.12 Oder kurz: Virtuelle Kräfteverhältnisse werden fortlaufend in aktuellen Wissensformen integriert. Das Verhältnis zwischen Problemen und Lösungen, zwischen Vektorfeld und Integralkurven, zeichnet sich bei Lautman aber durch »drei Aspekte« (DW: 229) aus: Die Wesensdifferenz zwischen der Ebene der Pro­ bleme und der Ebene der Lösungen, die Immanenz der Probleme in ihren Lösungen und die Transzendenz der Probleme durch ihre Lösungen hindurch. Parallel dazu liest Deleuze nun auch das Verhältnis von Macht und Wissen bei Foucault: »Zwischen der Macht und dem Wissen gibt es 12 Tatsächlich betont auch Foucault, dass das, was er als Problem oder Problematisierung bezeichnet, ein zentraler Grundbegriff ist, der allen seinen Untersuchungen seit Wahnsinn und Gesellschaft eine »gemeinsame Form« (F|DE4: 825) verleiht. Im Hinblick auf die Geschichte des Denkens, die bekanntlich den Leitfaden dieser Untersuchungen bildet, gilt es für Foucault, nicht »die Verhaltensweisen und auch nicht die Ideen, nicht die Gesellschaften und auch nicht ihre ›Ideologien‹ […] zu analysieren, sondern die Problematisierungen, durch welche sich das Sein als eines gibt, das gedacht werden kann und gedacht werden muss, und die Praktiken, von denen ausgehend sie sich bilden« (ebd.: 847). In Wahnsinn und Gesellschaft geht es beispielsweise um die Frage, wie und warum der Wahnsinn zu einem gewissen Zeitpunkt durch eine bestimmte institutionelle Praxis problematisiert wurde; in der Ordnung der Dinge geht es dagegen um die Problematisierung des Lebens, der Sprache und der Arbeit mittels diskursiver Praktiken; in Überwachen und Strafen werden Veränderungen in der Problematisierung des Verbrechens und des kriminellen Verhaltens vor dem Hintergrund bestimmter Strafpraktiken und Institutionen der Strafverfolgung analysiert; und in den vier Bänden von Sexualität und Wahrheit geht es um die Art und Weise, in der bereits seit der Antike sexuelle Aktivitäten und Lüste durch Praktiken des Selbst problematisiert worden sind (Koopman 2016). Im Unterschied zur tradierten Geschichte der Ideen und Mentalitäten kommt es in einer Geschichte des Denkens nach Foucault darauf an, »die Bedingungen zu bestimmen, unter denen das menschliche Sein das ›problematisiert‹, was es ist, was es tut, und die Welt, in der es lebt« (F|DE4: 666). Es geht sozusagen darum, die Existenzweise derjenigen zu untersuchen, die sprechen oder sehen, denken oder handeln.

250

FORM UND KRAFT ODER: WAS IST MIKROPHYSIK?

eine Wesensdifferenz, eine Heterogenität; aber auch wechselseitiges SichVoraussetzen und gegenseitiges Vereinnahmen; und schließlich den Primat des einen über das andere« (FO: 103). Mit Lautman geht Deleuze also davon aus, dass das Verhältnis zwischen Wissen und Macht bei Foucault durch diese drei Aspekte – der Wesensunterschied, die Immanenz sowie die Transzendenz oder das Primat – zu verstehen ist. Was ist also unter einem Wesensunterschied zwischen Wissen und Macht zu verstehen? Für Foucault ist eine jede Form Ausdruck einer bestimmten Verbindung von Kräfteverhältnissen. Und es ist auch, wie Deleuze eingesteht, genau dieses von Foucault erdachte »Verhältnis zwischen Formen und Kräften, das [ihn selbst] beeinflußt« (U: 130) hat.13 Die Ebene des Wissens umfasst Foucault zufolge so ausschließlich Formen, die, ob es sich nun um Formen des Sagbaren oder des Sichtbaren handelt, immer nur historische Resultate repräsentieren, die bereits fix und fertig gegeben sind und in etwa dem entsprechen, was wir bisher als empirische Formen im Modell der Rekognition oder, den praktischen Erfordernissen des Lebens folgend, als unbewegliche Schnitte einer bewegten Kontinuität bei Bergson bezeichnet haben. Davon ist nun wesentlich die Ebene der Macht mit ihren Kräfteverhältnissen zu unterscheiden, und zwar genau so, wie die Ebene des Vektorfeldes von jener der Integralkurven bei Lautman zu unterscheiden ist. Denn während die Formen des Wissens stets global, stabil und diskret sind, verläuft Macht immer über kontinuierliche Kräfteverhältnisse, die aufgrund des unvermeidlichen Werdens der involvierten Kräfte ausschließlich »lokal, instabil und diffus« (FO: 103) sein können. Für Foucault entwächst die Macht also niemals einer transzendenten Form, die besessen (Klasse), verortet (Staat) oder anerkannt (Gesetz) werden kann, die jemanden qualifiziert (Herrscher), unterdrückt (Repression) oder manipuliert (Ideologie). Die institutionellen, juridischen, politischen, kulturellen oder sozialen Formen, denen für gewöhnlich Macht zugesprochen wird, sind nach Foucault also nichts anderes als der vorübergehende Gesamteffekt eines zufälligen und prekären Kräftegeschehens.14 Diese Formen verweisen folglich auf das, was Nietzsche ihren Entstehungsherd nennt, das heißt, auf einen bebenden Sockel der Kraftverhältnisse, die durch ihre Ungleichheit unablässig Machtzustände erzeugen, die immer lokal und instabil sind. 13 Tatsächlich gesteht Foucault, dass »die Lektüre der Bücher von Deleuze (vom Nietzsche bis hin zu [seinen] ersten Eindruck von Capitalisme et schizophrénie)«, für ihn so wesentlich war, weil darin »unter dem alten Thema des Sinns, des Signifikats, des Signifikanten usw. […] endlich die Frage der Macht, der Ungleichheit der Mächte und ihrer Kämpfe zur Sprache« (EI: 309) kommt. Vgl. hierzu Protevi 2016 und Mader 2016. 14 Der Begriff des Entstehungsherdes kommt von Nietzsche und wird von Foucault dazu verwendet, um jenen des Ursprungs zu umgehen. »Die Entstehung

251

DIE KRAFTLINIE VON FOUCAULT

Allgegenwart der Macht: nicht weil sie das Privileg hat, unter ihrer unerschütterlichen Einheit alles zu versammeln, sondern weil sie sich in jedem Augenblick und an jedem Punkt – oder vielmehr in jeder Beziehung zwischen Punkt und Punkt – erzeugt. Nicht weil sie alles umfaßt, sondern weil sie von überall kommt, ist die Macht überall. Und »die« Macht mit ihrer Beständigkeit, Wiederholung, Trägheit und Selbsterzeugung ist nur der Gesamteffekt all dieser Beweglichkeiten, die Verkettung, die sich auf die Beweglichkeiten stützt und sie wiederum festzumachen sucht. (F|WW: 94, Hervorh. d. d. Verf.)

Um nun aber eine Wesensdifferenz zwischen Wissen und Macht zu betonen, wird Foucault sagen, dass sich Macht grundsätzlich auf eine Mikrophysik bezieht, die ihrerseits von den makroskopischen Wissensformen, die sie als reine Machteffekte hervorbringt, zu unterscheiden ist. Die Analytik der Macht muss sich, in anderen Worten, von der molaren Makroebene, die lediglich oberflächliche Massenwirkungen umfasst, auf die molekulare Mikroebene verlagern, der ein informelles Differenzgeschehen innewohnt, aus welchem große Formen als bewegliche Resultate immer erst hervorgehen. Um diesen genetischen Gesichtspunkt nicht aus den Augen zu verlieren, muss davon abgesehen werden, die Makroebene bloß als Vergrößerung der Mikroebene oder, umgekehrt, die Mikroebene bloß als Miniaturisierung der Makroebene zu begreifen. Wie weiter oben bereits festgehalten wurde, muss, will man zu den genetischen Bindungen vordringen, auf jede Ähnlichkeit zwischen Bedingungen und Bedingtem verzichtet werden. Die Mikroebene (Bedingung) muss sich von der Makroebene (Bedingtes) also nicht der Größe nach unterscheiden: sie muss sich der Natur oder dem Wesen nach unterscheiden. Wenn Foucault von Mikrophysik spricht, dann weil das, was in der Physik für gewöhnlich unter einem Atom verstanden wird, gerade nicht – wie es teilweise auch heute noch in populärwissenschaftlichen Modellen dargestellt wird – eine kleine, abgrenzbare und einheitliche Kugelform mit aus Elektronen bestehenden Umlaufbahnen ist. Ist hier also von einer sozialen oder politischen Mikroebene die Rede, dann soll das nicht bedeuten, dass große Formen aus kleineren Formen zusammengesetzt sind. Es bedeutet vielmehr, dass alles, was Form ist, ungeachtet seiner Größe der Makroebene angehört. Auf dieser Ebene sind Formen immer nur das grobe Resultat eines detailreichen Kräftegeschehens, das »unterhalb«, auf der Mikroebene stattfindet. Die Analytik der Macht muss sich, in anderen Worten, von der molaren Makroebene, die lediglich oberflächliche Massenwirkungen umfasst, vollzieht sich stets innerhalb eines bestimmten Kräfteverhältnisses. Die Analyse der Entstehung muss daher zeigen, wie diese Kräfte aufeinander einwirken, wie sie miteinander streiten oder gegen widrige Umstände ankämpfen oder wie sie – durch Aufspaltung – versuchen, dem Verfall zu entgehen und aus der eigenen Schwäche neue Kräfte zu ziehen.« (F|DE2: 175)

252

FORM UND KRAFT ODER: WAS IST MIKROPHYSIK?

auf die molekulare Mikroebene verlagern, der ein informelles Differenzgeschehen innewohnt, aus welchem große Formen als bewegliche Resultate immer erst hervorgehen. Um diesen genetischen Gesichtspunkt nicht aus den Augen zu verlieren, muss davon abgesehen werden, die Makroebene bloß als Vergrößerung der Mikroebene oder, umgekehrt, die Mikroebene bloß als Miniaturisierung der Makroebene zu begreifen. Wie weiter oben bereits festgehalten wurde, muss, will man zu den genetischen Bindungen vordringen, auf jede Ähnlichkeit zwischen Bedingungen und Bedingtem verzichtet werden. Die Mikroebene (Bedingung) muss sich von der Makroebene (Bedingtes) also nicht der Größe nach unterscheiden: sie muss sich der Natur oder dem Wesen nach unterscheiden. Wenn Foucault von Mikrophysik spricht, dann weil das, was in der Physik für gewöhnlich unter einem Atom verstanden wird, gerade nicht – wie es teilweise auch heute noch in populärwissenschaftlichen Modellen dargestellt wird – eine kleine, abgrenzbare und einheitliche Kugelform mit aus Elektronen bestehenden Umlaufbahnen ist. Ist hier also von einer sozialen oder politischen Mikroebene die Rede, dann soll das nicht bedeuten, dass große Formen aus kleineren Formen zusammengesetzt sind. Es bedeutet vielmehr, dass alles, was Form ist, ungeachtet seiner Größe der Makroebene angehört. Auf dieser Ebene sind Formen immer nur das grobe Resultat eines detailreichen Kräftegeschehens, das »unterhalb«, auf der Mikroebene stattfindet. Die neue politische Anatomie beispielsweise, welche der Disziplinargesellschaft und ihren institutionellen und individuellen Formen zugrunde liegt, ist, wie Foucault in Überwachen und Strafen zeigt, nicht als plötzliche Entdeckung zu verstehen. Sondern als eine Vielfalt von oft geringfügigen, verschiedenartigen und verstreuten Prozessen, die sich überschneiden, wiederholen oder nachahmen, sich aufeinander stützen, sich auf verschiedenen Gebieten durchsetzen, miteinander konvergieren – bis sich allmählich die Umrisse einer allgemeinen Methode abzeichnen. Man findet sie sehr früh in den Kollegs; später in den Elementarschulen; sie haben langsam den Raum des Spitals eingekreist; und binnen weniger Jahrzehnte haben sie das Militärwesen umgestaltet. Gelegentlich wandeln sie rasch von einem Punkt zum andern (zwischen der Armee und den technischen Schulen oder zwischen den Kollegs und den Gymnasien); manchmal wandeln sie langsam und diskret (schleichende Militarisierung der großen Werkstätten). Aber beinahe immer haben sie sich durchgesetzt, um in konkreten Situationen bestimmten Erfordernissen zu genügen: hier eine industrielle Neuerung, dort der Ausbruch epidemischer Krankheiten, anderswo die Erfindung des Gewehrs und die Siege Preußens. (F|ÜW: 177)

Von solchen mikrophysikalischen Prozessen erklärt Gabriel Tarde, dem Foucault hier sehr nahe ist, dass sie trotz oder gerade aufgrund ihres infinitesimalen Charakters, »die wahren Akteure und [ihre] unendlich 253

DIE KRAFTLINIE VON FOUCAULT

kleinen Veränderungen die wahren Aktionen« (T|MS: 26) sind, aus denen die »großen« gesellschaftlichen Gesamtheiten immer nur als grobe Resultate oder, wie Foucault sagt, als »Endformen« (F|WW: 93) hervorgehen. Wenn, wie Tarde betont, »alles im unendlich Kleinen entsteht, bedeutet dies, dass ein Element, ein einziges Element, der Ursprung jedweder Veränderung ist, ganz gleich, ob es sich nun um Bewegung oder Evolution, geistige oder soziale Transformationen handelt« (T|MS: 27). Im Unterschied zur Makroebene, auf der Wissensformen stets im Gleichgewicht sind, zeichnet sich die Mikroebene der Macht dadurch aus, ständig im Ungleichgewicht zu sein. Während die juridischen, moralischen, politischen, kulturellen oder sozialen Formen also relativ stabil sind, laufen Kräfteverhältnisse andauernd Gefahr, bereits durch geringfüge Verschiebungen zu kippen und dadurch die Formen, die als »große« Gesamteffekte auf ihnen fußen, tiefgreifend und nachhaltig zu verändern. Im Unterschied zur Makroebene kann es auf der Mikroebene niemals ein Gleichgewicht oder eine Stabilität geben – genau darin besteht der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Ebenen (und eben nicht in ihrer Größenordnung).15 15 Um zu zeigen, dass eine Mikrophysik der Macht nicht eine einfache Miniaturisierung von Macht darstellt, verweist Deleuze auf das Problem des Gesetzes, wie es von Foucault im vierten Kapitel von Überwachen und Strafen dargestellt wird. Was für gewöhnlich unter einem Gesetz verstanden wird, basiert auf dem allgemeinen Gegensatz von Gesetzlichkeit und Ungesetzlichkeit. Geht es hier nun aber um Mikrophysik, dann bedeutet dies nicht, dass ein allgemeingültiges Gesetz miniaturisiert im Alltag situiert oder dort wiederentdeckt wird, sondern dass mit der Mikroebene ein ganz anderer Gesichtspunkt zum Vorschein kommt. Die Mikrophysik ist nach Foucault »keine Frage der Größenordnung und keine Frage eines Abschnitts dieser Größenordnung, sondern eine Frage des Gesichtspunkts.« (Foucault 2006: 261 f.) Wo der makroskopische Gesichtspunkt nämlich einen abstrakten oder molaren Gegensatz zwischen Gesetzlichem und Ungesetzlichem geltend macht, verweist der mikroskopische Gesichtspunkt seinerseits auf eine molekulare Komplementarität zwischen den Gesetzen und den Möglichkeiten, diese zu umgehen. Weil es sich bei diesen Möglichkeiten nicht um das Negativ zum allgemeinen Gesetz, nicht um das Ungesetzliche, handelt, erfindet Foucault hierfür auch gleich einen neuen Begriff: den der Gesetzesübertretungen (illegalismes). Eine jede Gesetzesübertretung verweist nämlich auf ein Kräfteverhältnis, das sich nicht auf den abstrakten, allgemeinbegrifflichen Gegensatz zwischen Gesetzlichem und Ungesetzlichem reduzieren lässt, sondern vielmehr den mikrophysikalischen Untergrund bereitstellt, auf dem konkrete Gesetze und die Möglichkeit ihrer Übertretung fortlaufend ausverhandelt werden. Durch den Begriff der Gesetzesübertretungen eröffnen sich also ein neuer Gesichtspunkt auf das Gesetz. Dass die Gesetze immer auch die Möglichkeit implizieren, umgangen zu werden, dass Gesetzesübertretungen dem Gesetz nicht äußerlich sind, sondern dieses von

254

FORM UND KRAFT ODER: WAS IST MIKROPHYSIK?

Kommen wir nun aber zum zweiten der drei angesprochenen Aspekte: der wechselseitigen Immanenz zwischen Wissen und Macht. Wie Pro­ bleme ihren Lösungen immanent sind, so sind molekulare Kräfteverhältnisse auch den molaren Formen immanent, in denen sie integriert und fixiert werden. Das heißt, »die Wesensdifferenz von Macht und Wissen schließt wechselseitiges Voraussetzen und Vereinnahmen, wechselseitige Immanenz nicht aus« (FO: 105). Denn Kräfteverhältnisse aktualisieren sich in Formen, die ohne sie nichts zu verwirklichen hätten, und umgekehrt bleiben die Kräfteverhältnisse »nur virtuell, potentiell, instabil, flüchtig, molekular […], soweit sie nicht in ein makroskopisches Ganzes eingehen, das imstande ist, ihrer fließenden Materie und ihrer diffusen Funktion eine Form zu geben« (ebd.: 56). Aus diesem Grund sind die beiden Ebenen auch nicht voneinander zu trennen, sondern sind einander vielmehr immanent: Was auf der Ebene der Macht aufgrund des Werdens aller Kräfte passiert, wird auf der Ebene des Wissens als Form fixiert – der Unterschied zwischen den beiden Ebenen ist formal, nicht numerisch. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Aktualisierungsprozess, durch den Kräfteverhältnisse über eine Reihe unbestimmter Singularitäten in bestimmten Formen stabilisiert und fixiert werden, mit Lautman als Integration zu begreifen ist. Dabei handelt es sich um »eine Operation, die darin besteht, ›eine allgemeine Kraftlinie‹ zu ziehen, die Singularitäten zu verknüpfen, sie aneinanderzureihen, sie zu homogenisieren, in Serien anzuordnen und konvergieren zu lassen.« (ebd.: 106) Was auf der Ebene des Wissen fixiert und formiert in Erscheinung tritt, ist also bloß der kontingente Effekt eines tieferliegenden Kräftegeschehens. Die großen, institutionalisierten Formen einer Gesellschaft sind folglich nicht »Ursprünge oder Wesenheiten, sie besitzen weder Wesen noch Innerlichkeit. Es sind Praktiken, operative Mechanismen, die die Macht nicht erklären, da sie deren Beziehungen voraussetzen und sich innen her artikulieren, zeigt sich beispielsweise am Handelsrecht, wo eingebaute Grauzonen gezielt die Möglichkeit bereitstellen, Zahlungen von Schulden oder Steuern geschickt zu umgehen. Auf der Mikroebene ist das Gesetz damit die strategische Verwaltung und »Verteilung der Gesetzesübertretungen« (FO: 46), die entweder den herrschenden Klassen erlaubt sind, gar für diese erfunden werden, oder die man den beherrschten Klassen gegenüber einfach als Kompensation toleriert (z.B. Schwarzarbeit in strukturschwachen Regionen). Die Mikrophysik der Macht verweist Gesetze auf eine »Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen« (F|WW: 93), in welchen sich Gesetzliches und Ungesetzliches nicht einfach allgemein gegenüberstehen, sondern wo die konkrete Formulierung und Einhaltung von Gesetzen fortlaufend ausverhandelt wird. Was sich in einem sozialen Feld oder von einem sozialen Feld zum anderen ändert, ist demnach die Art und Weise, bestimmte Gesetze zu übertreten: die Existenz und Verteilung singulärer Punkte der Gesetzesübertretung.

255

DIE KRAFTLINIE VON FOUCAULT

damit begnügen, diese in reproduktiver und nicht produktiver Funktion zu ›fixieren‹«. (ebd.) Weil es, wie wir weiter oben gesehen haben, darauf ankommt, Probleme nicht ausgehend von ihren Lösungen, die Bedingungen nicht nach dem Bild des Bedingten zu konzipieren, so muss auch hier davon abgesehen werden, von den großen, institutionalisierten Formen einer Gesellschaft (also von bereits gegebenen Institutionen wie dem Staat, der Familie, der Religion, der Produktion, dem Markt, der Kunst oder der Moral) auszugehen. So darf Staatlichkeit zum Beispiel auch nicht ausgehend vom Staat begriffen werden. In Bezug auf das Problem des Staates erklärt Foucault nämlich, dass der Staat, weit davon entfernt, eine ursprüngliche Quelle der Macht zu sein, nur der »bewegliche Effekt« (Foucault 2000: 70) oder »der bewegliche Zuschnitt einer ständigen Verstaatlichung oder ständiger Verstaatlichungen« (ebd.: 69) ist. Wenn der Staat die verschiedensten Bereiche des Lebens erfasst, dann nicht, weil diese durch sukzessive Erweiterung aus ihm hervorgegangen sind – dies wäre in etwa mit dem vergleichbar, was Bergson als retrospektive Illusion bezeichnet –, sondern weil sich »im Bereich der Pädagogik, der Justiz, der Ökonomie, Familie, Sexualität eine Operation ›kontinuierlicher Durchstaatlichung‹ vollzieht, die auf eine globale Integration zielt« (FO: 107), welche in dem, was man für gewöhnlich »den Staat« nennt, ihren großen, molaren Ausdruck findet. Als Integralkurve ist der Aktualisierungsprozess dabei »eine Gesamtheit fortschreitender, zunächst lokaler, dann umfassender oder immer umfassender werdender [Integrationen], die eine Ausrichtung, eine Homogenisierung, eine Summierung der Kräfteverhältnisse herbeiführen« (ebd.: 56 f.). Auf diese Art und Weise wird erst ein Regime »vielfältiger Gouvernementalitäten« (Foucault 2000: 70) zwischen Regierenden und Regierten um die molare Instanz »des« Staates organisiert. Aber nicht nur der Staat, sondern auch alle anderen Institutionen, alle anderen juridischen, moralischen, kulturellen oder sozialen Formen, müssen als Integralkurven und insofern als ergebnisoffene Prozesse oder Praktiken begriffen werden, durch die diffuse Kräfteverhältnisse über große Kraftlinien um molare Instanzen herum integrieren werden. Wenn es bei Foucault hier nun eine Bedingungsanalyse gibt, die ihn in gewisser Hinsicht in die Tradition des Neukantianismus einreiht, dann besteht, so Deleuze, dennoch eine wesentliche Differenz zu Kant. Denn im Unterschied zu Kant sind die Bedingungen bei Foucault »solche der wirklichen Erfahrung und nicht solche jeder möglichen Erfahrung (die Aussagen beispielsweise setzen ein bestimmtes Korpus voraus); sie befinden sich auf der Seite des ›Objekts‹, auf der Seite der historischen Formation, und nicht auf der eines universellen Subjekts (das Apriori ist selbst historisch).« (FO: 86) In ihrer Äußerlichkeit verweisen die Bedingungen damit auf die Existenz und Verteilung, auf die Emission, der Singularitäten, die, mikrophysikalischen Beziehungen von Kräften entsprechend, 256

FORM UND KRAFT ODER: WAS IST MIKROPHYSIK?

durch die eiserne Hand des Zufalls und nicht durch ein universelles Subjekt (auch nicht der Geschichte) determiniert werden. Die Bedingungen sind insofern niemals umfassender als das, was sie bedingen. Und weil es sich bei der Integration der Singularitäten um (fakultative) Regeln zur Verbindung von Heterogenitäten – z.B. Verbindungen »zwischen Institutionen, ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen, Verhaltensformen, Normsystemen, Techniken, Klassifikationstypen und Charakterisierungsweisen« (F|AW: 68) – handelt, kann Foucault, Deleuze zufolge, auch in keiner Weise der Tradition des Strukturalismus zugerechnet werden. Denn während das, was in dieser Tradition (und darüber hinaus) als Struktur verstanden wird, ein homogenes System darstellt, welches auf einer universellen Ebene angesiedelt ist, handelt es sich bei der Verknüpfung der Singularitäten um eine Mannigfaltigkeit, die mehrere Ebenen, heterogene Dimensionen oder Gesichtspunkte durchkreuzt, in Resonanz versetzt und transversal dazu als verstreutes Ereignis aufsteigt.16 Schließlich gibt es, dem dritten Aspekt entsprechend, ähnlich der Trans­zendenz des Problems in den Lösungen, der Art und Weise also, wie es in diesen als etwas anderes insistiert und mitunter neue Lösungen evoziert, hier nun auch das Primat der Macht gegenüber dem Wissen. Es stimmt zwar, dass Kräfteverhältnisse flüchtig, instabil, molekular und virtuell bleiben, solange sie nicht in historischen Formen des Sagbaren oder Sichtbaren integriert werden. Nichtsdestotrotz determinieren die mikrophysikalischen Kräfteverhältnisse aber nicht nur die Beziehungen zwischen diesen beiden historischen Formen, sondern schaffen aufgrund ihres Werdens auch die genetischen Bedingungen, die in diesen Formen wirksam sind. Wegen der erwähnten Immanenz gibt es nämlich nichts, das jenseits der historisch geschichteten Formationen zu verorten wäre (z.B. keine Ideologie, die insgeheim »hinter« den Aussagen agiert). Dennoch gibt es aber eine gewisse Transzendenz der Macht gegenüber dem Wissen. Und zwar aus folgendem Grund: »Die mobilen, verschwindenden, diffusen Kräfteverhältnisse sind nicht außerhalb der Schichten, sondern sind deren Außen. Darum sind die Aprioris der Geschichte selbst geschichtlich.« (FO: 117) Wir haben bereits gesehen, wie das Außen, entfernter als alle äußerliche Welt, die Modalität bezeichnet, in der das Denken sich selbst affiziert, in der es also in seinem Inneren etwas entdeckt, was undenkbar oder ungedacht ist und angesichts dieser 16 In diesem Sinne erklärt Foucault, man brauche nicht zu staunen, »daß man für die Aussage keine strukturellen Einheitskriterien gefunden hat. Das liegt daran, daß sie in sich selbst keine Einheit ist, sondern eine Funktion, die ein Gebiet von Strukturen und möglichen Einheiten durchkreuzt und sie mit konkreten Inhalten in der Zeit und im Raum erscheinen läßt.« (F|AW: 126 f.) Foucault folgt also nicht dem Strukturalismus, sondern macht laut De­leuze »einen sehr entscheidenden Schritt hin zu einer Theorie-Praxis der Mannigfaltigkeiten« (FO: 26).

257

DIE KRAFTLINIE VON FOUCAULT

Ohnmacht dazu genötigt wird, aktiv zu werden und wirklich etwas (neues) zu denken.17 Wenn das Denken genötigt wird, aktiv zu werden, dann weil die Kräfte, die es in Besitz nehmen, »aus dem Außen kommen und nur im Zustand der Bewegung, des Verschmelzens, der Umgestaltung und Veränderung existieren« (ebd.: 121). Das Außen steht für das Ereignis des Neuen. Durch das damit impliziert Werden der Kräfte werden bestehende Formen immer wieder in Frage gestellt: plötzlich werden die Dinge nicht mehr in der gewohnten Art und Weise wahrgenommen, beschrieben, charakterisiert, klassifiziert, repräsentiert, gewusst oder ausgesagt. Der Zufall sorgt hier für ein unablässiges Werden aller Kräfte, für eine permanente Instabilität, die stets ein irreduzibles, aber eindringliches Außen in den historischen Wissensformen als Disruption des Neuen zum Ausdruck bringt. Was Foucault unter Macht- oder Kräfteverhältnissen versteht, verweist demnach weniger auf die Frage, wer »die« Macht hat, wo sie liegt, wodurch sie legitimiert oder auch gewaltsam durchgesetzt wird: »vielmehr gilt es das Schema der Modifikationen zu suchen, das die Kraftverhältnisse in ihrem Spiel implizieren« (F|WW: 99). Dieses Schema der Modifikationen – eine echte abstrakte Maschine – besitzt, da es aus dem absoluten Außen kommt, keinen Ort, es verweist vielmehr auf einen Nicht-Ort, das heißt, auf bewegliche und nicht lokalisierbare Beziehungen in einem diffusem Transformationsgeschehen: »Ein Ort ist es nur für die Mutationen« (SG: 242). Wenn den mikrophysikalischen Kräfteverhältnissen also ein Primat zukommt, dann weil sie in ihrem konstitutiven Ungleichgewicht und in ihrem Werden die Realität der Veränderung abstecken, eine Veränderung, »mit der nichts endet, da nichts begonnen hat, sondern in der alles sich wandelt« (FO: 125) und ausschließlich als Differenz wiederkehrt. Das Primat der Macht kann in der Leseart von Deleuze folglich als Primat des Neuen begriffen werden. 17 In Die Ordnung der Dinge bringt Foucault diesen Sachverhalt auf den Punkt, indem er ihn gegen die klassische Transzendentalphilosophie abgrenzt. So »findet das transzendentale Denken in seiner modernen Form den Punkt seiner Notwendigkeit nicht wie bei Kant in der Existenz einer Wissenschaft: der Natur (gegen die sich der stündige Kampf und die Unsicherheit der Philosophen sträuben), sondern in der stummen, dennoch sprachbereiten und gewissermaßen insgeheim von einem virtuellen Diskurs durchlaufenen Existenz jenes Nichtbekannten, von dem aus der Mensch unaufhörlich zur Erkenntnis seiner selbst aufgerufen ist. Die Frage lautet nicht mehr, wie die Erfahrung der Natur notwendigen Urteilen Raum gibt, sondern wie es kommt, daß der Mensch denkt, was er nicht denkt, wie er auf die Weise einer stummen Besetzung in dem wohnt, was ihm entgeht, in einer Art geronnenen Bewegung jene Gestalt seiner selbst belebt, die sich ihm in der Form einer hartnackigen Exteriorität präsentiert« (F|OD: 391).

258

7. Gesellschaft als Mannigfaltigkeit 7.1 Ordnung und Umordnung Der Mai 68 hat das Denken von Deleuze nachhaltig geprägt. Es ist nämlich jenes Ereignis, das seine Aufmerksamkeit auf Probleme lenkt, die, im Unterschied zu den philosophiehistorischen Fragen, die ihn bis dahin beschäftigt haben, vor allem sozialer und politischer Natur sind. Dabei handelt es sich aber keineswegs um einen abrupten Bruch oder eine Diskontinuität. Denn soziale und politische Fragen spielen bereits in seinem allerersten Buch, der frühen Studie zu David Hume von 1953, eine erhebliche Rolle und es sind auch derartige Fragen, die in den darauf folgenden Studien, in denen sich Deleuze mit anderen Denkern ausei­ nandersetzt, immer wieder auf die eine oder andere Art und Weise aufgegriffen werden.1 Vor diesem Hintergrund müssen die sozial- und politiktheoretischen Arbeiten, denen sich Deleuze nach dem Mai 68 widmet, vor allem als »Fortsetzung und Radikalisierung« (Krause/Rölli 2010: 30 f.) jener Philosophie der Immanenz verstanden werden, die er bis dahin bereits in ihren Grundzügen skizziert hatte – nicht nur in Differenz und Wiederholung oder Logik des Sinns, wo Deleuze »versucht, in eigenem Namen zu sprechen« (SG: 288), sondern auch schon in den philosophiehistorischen Arbeiten, die diese beiden Werke begrifflich vorbereiten. Wenn sich Deleuze nun aber vermehrt sozial- und politiktheoretischen Problemen zuwendet, wenn diese also in den Mittelpunkt seines theoretischen (und praktischen) Interesses rücken, dann ist dies auch dem Umstand geschuldet, dass er kurz nach den Ereignissen des Mai 68 Félix Guattari kennenlernt, mit dem er kurzerhand beschließt, eine Zusammenarbeit zu beginnen – eine Zusammenarbeit, die sich für beide als äußerst produktiv erweisen wird.2 Bereits ihr erstes gemeinsames Buch, Anti-Ödipus aus dem Jahr 1972, sorgte in Frankreich bei seinem 1 So erklärt Deleuze beispielsweise, dass ihn immer schon »die kollektiven Schöpfungen mehr als die Repräsentationen« interessiert haben und dass es gerade dies war, was ihn zu Hume und später zu Masoch geführt hat. »In den ›Institutionen‹ gibt es eine eigene Bewegung, die etwas anderes ist als Gesetze und Verträge. Bei Hume fand ich eine sehr schöpferische Konzeption der Institution und des Rechts. Anfangs interessierte ich mit mehr für Recht als für Politik. Was mir bei Masoch und bei Sade gefiel, waren die völlig schrägen Konzeptionen des Vertrags (bei Masoch) und der Institution (bei Sade), die auf die Sexualität bezogen werden.« (U: 243) 2 Spätestens mit Guattari beginnt Deleuze, selbst Philosophie zu schaffen: »Was ich in meinen früheren Büchern versucht hatte, war die Beschreibung einer bestimmten Ausübung des Denkens; die Beschreibung war aber noch

259

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

Erscheinen für große Aufregung, da die darin vorgetragene Kritik an den Grundsätzen der etablierten Psychoanalyse, eine Disziplin, die damals in intellektuellen Kreisen einen hohen Stellenwert hatte, von vielen Intellektuellen geradewegs als Affront aufgefasst wurde. Neben den weiteren Büchern, die Deleuze und Guattari daraufhin gemeinsam verfasst haben – Kafka oder Was ist Philosophie? –, ist vor allem Tausend Plateaus aus dem Jahr 1980 zu nennen, ein Buch, das, obgleich es an Anti-Ödipus anknüpft und die darin ausformulierten Überlegungen weiterführt, bei weitem nicht denselben Erfolg verzeichnen konnte wie noch sein Vorgänger. Nichtsdestotrotz betrachtet Deleuze Tausend Plateaus, das erklärtermaßen »den Mannigfaltigkeiten als solchen gewidmet (Werden, Linien usw.)« (SG: 345) ist, nicht nur als das Beste, was er gemeinsam mit Guattari geschrieben hat: er betrachtet es auch als das Beste, was er überhaupt geschrieben hat.3 Es stimmt zwar, dass in Tausend Plateaus in gewisser Hinsicht »alles […] politisch« (TP: 290) ist, ganz egal, ob darin nun, wie in den einzelnen Kapiteln oder »Plateaus« dargelegt, Themen der Psychoanalyse, Geologie, Linguistik, Biologie, Musikwissenschaft, Anthropologie oder Wissenschaftstheorie verhandelt werden. In Bezug auf die eingangs erwähnte Wende hin auf soziale und politische Probleme muss dabei vor allem das neunte Plateau »Mikropolitik und Segmentarität« hervorgehoben werden. In diesem Plateau wird nämlich der Begriff der Mikropolitik formuliert, ein Begriff, der zweifellos zu den wichtigsten gehört, die Deleuze und Guattari an die soziale und politische Theorie herantragen. Dabei ist allerdings zu erwähnen, dass die Unterscheidung zwischen Mikro- und Makropolitik eher von Guattari als von Deleuze kommt. So erklärt Deleuze in einem Interview mit Arnaud Villani: La distinction du macro et du micro est très importante, mais elle appartient peut-être plus à Félix qu’à moi. Moi, c’est plutôt la distinction des deux types de multiplicités. C’est cela l’essentiel pour moi: que l’un de ces deux types renvoie à des micro-multiplicités, ce n’est qu’une conséquence. Même pour le problème de la pensée, et même pour les sciences, la notion de multiplicité, […], me semble plus importante que celle de microphysique. (Deleuze 1999: 131)

Tatsächlich hat sich Guattari »auch vor und nach seiner Zusammenarbeit mit Deleuze […] intensiv mit der mikropolitischen Dimension des Politischen befasst« (Antonioli 2010: 18). Der Begriff des Mikropolitischen diente Guattari insbesondere dazu, die Transversalität politischer Kämpfe begrifflich zu fassen. Insbesondere handelte es sich dabei um nicht die Ausübung des Denkens in eben dieser Weise. […] Mit Félix wurde dies alles möglich, sogar noch unser Scheitern.« (D: 28) 3 Vgl. hierzu das Interview mit Didier Eribon im Nouvel Observateur (­Deleuze 1995).

260

ORDNUNG UND UMORDNUNG

Kämpfe, die in Form neuer sozialer Bewegungen und den damit verbundenen Subjektivitätsentwürfen dazu tendierten, den großen, festgefahrenen Klassengegensätzen und den darauf aufbauenden begrifflichen Registern zu entfliehen. Dies soll nun aber nicht bedeuten, dass es einen Teil der Tausend Plateaus gibt, der mehr oder weniger auf Guattari und einen anderen, der mehr oder weniger auf Deleuze zurückzuführen ist. Wie Deleuze im oben angeführten Interview bemerkt, wurde Tausend Plateaus – wie auch Anti-Ödipus oder Kafka – von Guattari und Deleuze gemeinsam verfasst – allerdings aus unterschiedlichen Gesichtspunkten. Soll aber der eine Gesichtspunkt gegenüber dem anderen hervorgehoben werden, dann, so die weitere Anweisung von Deleuze, nur um die theoretische Kontinuität von einem der beiden Autoren nachzuzeichnen.4 Gerade dies soll nun auch in Bezug auf Deleuze und jene Begriffe, die bisher besprochen worden sind, verfolgt werden. Guattari wird in diesem Rahmen als »Fürsprecher« (U: 181) von Deleuze behandelt, als jemand, der neben Bergson, Nietzsche oder Spinoza das Denken von Deleuze nicht nur entschieden mitgeprägt hat, sondern mit seinen Begriffen immer auch im Denken von Deleuze präsent ist:5 »Keine dieser 4 So erklärt Deleuze im selben Interview mit Arnaud Villani: »Votre point de vue reste juste, et l’on peut parler de moi sans Félix. Reste que L’Anti-Œdipe et Mille plateaux sont entièrement de lui, comme entièrement de moi, suivant deux points de vue possibles. D’où la nécessité, si vous voulez bien, de marquer que, si vous vous en tenez à moi, c’est en vertu de votre entreprise même, et non du tout d’un caractère secondaire ou ›occasionnel‹ de Félix. C’est très important, et vous saurez le dire mieux que moi.« (Deleuze 1999: 126) 5 Völlig unzulässig ist demnach ein Ansatz wie jener von Kleinherenbrink (2019), der kurzerhand jeglichen Einfluss von Guattari auf das Denken von Deleuze leugnet. Dabei stützt er sich auf ein einziges, aus dem Kontext gerissenes Zitat aus einem Interview von Deleuze. Darin erklärt Deleuze, dass der frühe Begriff der Maschine bei Guattari (noch) Reste von »Struktur, Signifikant, Phallus etc.« (U: 25) enthalten hat. Was Kleinherenbrink nicht anführt, ist der Satz, der darauf folgt: »Das war unvermeidlich, er verdankt Lacan derart viel (ich auch).« (U: 25) Tatsächlich spielt Lacan auch in Differenz und Wiederholung und Logik des Sinns noch eine wichtige Rolle. So wird das virtuelle Objekt mit Lacan darin »beispielhaft« (DW: 136) als »Phallus« (ebd.: 137) beschrieben. Es ist insofern mehr als ungerechtfertigt, den Hinweis auf zu viel »Struktur, Signifikant, Phallus« ­ eleuze als Todschlagargument gegen Guattari ins Feld zuführen. Zumal D in einem anderen Interview sogar erklärt: »nicht ich war es, der Félix von der Psychoanalyse abgebracht hätte, sondern er mich. In meiner Studie zu Masoch, dann in Logik des Sinns, glaubte ich zu Ergebnissen über die falsche Einheit des Sadomasochismus oder vielmehr über das Ereignis gekommen zu sein, die zwar nicht mit der Psychoanalyse übereinstimmen, aber noch mit ihr vereinbar sein mochten. Félix dagegen war und blieb

261

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

Ideen und Gedanken, die nicht von Felix stammten, von Felix’ Seite (schwarzes Loch, Mikropolitik, Deterritorialisierung, abstrakte Maschine etc.).« (D: 31) Hier nun den Gesichtspunkt von Deleuze zu betonen, bedeutet also nicht, Guattari auszublenden, ist dieser mit seinen Begriffen doch integraler Bestandteil dieses Gesichtspunkts. Oder in den Worten von Deleuze: »Ich bestahl Felix, und ich hoffe, er tat das gleiche mit mir.« (ebd.: 24) Zum Beispiel werden wir sehen, dass der Begriff der abstrakten Maschine zwar von Guattari kommt, in den Tausend Plateaus dann aber ebenso auf die Unterscheidung der beiden Qualitäten (Affirmation und Negation) im Willen zur Macht zurückverweist, die Deleuze einige Jahr zuvor bereits im Werk von Nietzsche herausgearbeitet hatte. Ohne die Bedeutung von Guattari zu schmälern, soll also ein roter Faden durch das Werk von Deleuze gezogen und damit eine Kontinuität aufgezeigt werden, die vor allem im Begriff der Mannigfaltigkeit zum Ausdruck kommt. Wie Deleuze in der oben zitierten Passage anmerkt, ist es dieser Begriff, sein wichtigster Begriff, ein Begriff, den wir weiter oben im Zusammenhang mit Bergson bereits begegnet sind, der seine Perspektive auf die Dimension des Mikropolitischen bestimmt. Oder in anderen Worten: Am Ende dieses Kapitels wird sich zeigen, inwiefern der Begriff der Mikropolitik für Deleuze eine Konsequenz ist, die sich aus der Unterscheidung der beiden Typen von Mannigfaltigkeit ergibt. Wie wir wissen, stehen Mannigfaltigkeiten weder für die Einheit des Vielen noch für die Vielheit des Einen. Sie müssen vielmehr als »ein Vieles-Sein und nicht ein Eines-Sein, Ganz-Sein oder Sein als Subjekt« (SG: 291) begriffen werden: »Die Mannigfaltigkeiten sind die Realität und setzen keine Einheit voraus, gehen in keine Totalität ein, ebensowenig wie sie auf ein Subjekt verweisen« (ebd.: 295), das sie als das Viele eines Einen bloß wieder verklären würde. Gerade deshalb erhebt Deleuze die pluralistische Interpretation mit Nietzsche auch zur »höchsten Kunst der Philosophie« (NP: 8). Denn Mannigfaltigkeit steht, ungeachtet des tradierten Gegensatzes zwischen Einem und Vielem, immer für »eine Gesamtheit von Linien oder Dimensionen […], die sich nicht aufeinander zurückführen lassen« (SG: 290). Wenn die Linien einer Mannigfaltigkeit sich aber nicht aufeinander zurückführen lassen, wenn also keine Dimension einer Mannigfaltigkeit den anderen gegenüber zu überhöhen ist – z.B. als übergeordnete Einheit, determinierende Psychoanalytiker, Lacan-Schüler, aber wie ein ›Sohn‹, der bereits weiß, daß seine Versöhnung nicht mehr möglich ist.« (U: 209 f.) Und mehr noch: In seinem Vorwort zu einem 1972 erschienen Essayband von Guattari lobt Deleuze diesen ausdrücklich dafür, dass er »das Prinzip der Maschine als solches aus der Hypothese der Struktur löst und sich von den strukturellen Bindungen abtrennt« (Guattari 1972: 22), die damals selbst noch sein eigenes Denken bestimmt hatten.

262

ORDNUNG UND UMORDNUNG

Totalität oder zentrierende Subjektivität –, wenn alle Linien sich folglich auf einer gemeinsamen Immanenzebene wild miteinander verknoten, dann ist alles, was zählt, »das, was ›dazwischen‹ ist, das between, eine Gesamtheit nicht voneinander zu trennender Beziehungen« (ebd.) in einer Mannigfaltigkeit. Zudem wissen wir, dass eine Mannigfaltigkeit immer eine Bewegung impliziert, in der grundsätzlich zwei reine Tendenzen zu unterscheiden sind, zwei Tendenzen, die sich aber nicht äußerlich sind, die einander vielmehr immanent sind und sich insofern auch wechselseitig voraussetzen. Es handelt sich, um auf Bergson zurückzukommen, um »zwei Richtungen ein und derselben Bewegung, eine, bei der die Bewegung dazu tendiert, in ihrem Ergebnis, ihrem Resultat, das sie unterbricht, zu erstarren, und die andere, die kehrtmacht und in dem Ergebnis die Bewegung wiederfindet, aus der sie resultiert« (EI: 30). Bei Bergson haben wir zum Beispiel gesehen, dass die Bewegung der Dauer in zwei Richtungen differiert, von denen die eine auf den abstrakten und homogenen Raum hinführt, um sich dabei graduell als Materie anzuspannen, während die andere die Dauer wieder aufnimmt, sich entspannt und die Bewegung weiter fortsetzt. Vor diesem Hintergrund sind nun auch die verschiedenen Linien einer Mannigfaltigkeit in zwei entsprechende Typen zu unterteilen. Ein Ding wird demnach als Mischung oder multilineare Gesamtheit begriffen, in der fallweise zwei Linientypen nachzuzeichnen sind: konservative Linien, die eine Mannigfaltigkeit beschränken; oder aber transformative Linien, die eine Mannigfaltigkeit öffnen. Beide Linientypen konstituieren zwar verschiedene Dimensionen ein und derselben Mannigfaltigkeit, sind de jure darin aber wesentlich voneinander zu unterscheiden. Wie sehen die beiden Linientypen nun vor dem Hintergrund der sozialen und politischen Probleme aus, auf die eingangs hingewiesen wurde? Welche Linien durchziehen sowohl Individuen wie Kollektive? Und vor allem: Wie verhalten sie sich zueinander? Ob als Individuum oder als Kollektiv – man wird Deleuze und Guattari zufolge von allen Seiten und in alle Richtungen segmentarisiert.6 »Wohnen, fahren, arbeiten, spielen: Das Leben ist räumlich und gesellschaftlich segmentarisiert. Ein Haus ist der Nutzung seiner Zimmer entsprechend segmentarisiert; die Straßen entsprechend der Anlage der Stadt; die Fabrik nach der Art der Arbeiten und Tätigkeiten.« (TP: 284) Deleuze und Guattari sprechen in diesem Zusammenhang von einer 6 In der Ethnologie werden Gesellschaften, die nicht durch hierarchische, sondern durch heterarchische Institutionen organisiert sind, als segmentäre Gesellschaften bezeichnet. Wenn Deleuze und Guattari diesen Begriff nun an dieser Stelle heranziehen, dann in einem anderen Sinn. Das Segmentäre wird hier nicht mehr dem Zentralisierten gegenübergestellt, sondern ganz allgemein als (harte und weiche) Unterteilung menschlichen Lebens begriffen.

263

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

molaren Linie der Segmentarität. Als reine Tendenz umfasst dieser erste (konservative) Linientypus also all jene Prozesse, die ein Phänomen in irgendeiner Weise beschränken, unterteilen oder fixieren. Vor diesem Hintergrund kann dann, in einem zweiten Schritt, analytisch zwischen: einer binären, zirkulären und linearen Segmentarisierung unterschieden werden – obgleich diese drei Figuren der Segmentarisierung de facto immer zusammenhängen, ineinander übergehen und sich auch verändern können. Die binäre Segmentarisierung unterteilt das Leben eines Individuums oder Kollektivs in einheitliche Gegensatzpaare: männlich oder weiblich; reich oder arm; weiß oder schwarz; einheimisch oder migrantisch; jung oder alt; öffentlich oder privat; Arbeit oder Freizeit. Dieses Unterteilungsverfahren ist aber nicht nur auf globale Dualismen (bi-univoke Beziehungen) beschränkt, sondern kann in sukzessiven Entscheidungsebenen auch diachronisch über Dichotomisierungen (binäre Beziehungen) operieren: Weder Mann noch Frau? Also queer!? Auf einer zweiten Entscheidungsebene wird also zwischen der Ausgangsunterscheidung und dem, was sich dieser Binarisierung entzieht, eine neue Binarität festgemacht (Mann/Frau//queer). Das heißt, von Entscheidungsebene zu Entscheidungsebene werden selbst noch die periphersten Devianzen binarisierte und damit an eine Norm gebunden (z.B. Heteronormativität). Auf diese Weise spannt die binäre Segmentarität von Ebene zu Ebene »ein spezifisches Raster aus, wobei alles, was nicht durch dieses Raster geht, im materiellen Sinn nicht zu verstehen ist« (D: 33).7 Das bedeutet, dass man, ganz egal wie groß die Abweichung von der jeweiligen Norm auch sein mag, »auf jeden Fall erkannt« (TP: 244) wird. Differenz ist demnach nur denkbar, sofern sie sich repräsentieren lässt: wenn sie in einer vorherrschenden repräsentativen Ordnung also auch ihren Platz findet und somit vom Abgrund der Kontingenz gerettet wird. Dies zeigt sich besonders deutlich am europäischen Rassismus, der den globalen Gegensatz zwischen Schwarz und Weiß immer wieder auf perfide Weise verlängert hat. Dieser Rassismus besteht nämlich in der Festlegung von Abweichungsgraden im Verhältnis zum Gesicht des Weißen Mannes, das abweichende Merkmale in immer exzentrischeren 7 Die Binärmaschine operiert mit vorherdefinierten Fragen oder mit Problemen, die anderswo gestellt werden. »In einer Sendung über Gefängnisse beispielsweise heißen die Gegensatzpaare Jurist – Gefängnisdirektor, Richter – Anwalt, Sozialarbeiter – interessanter Fall; außerhalb des Rasters und außerhalb des Themas bleibt die Meinung all der durchschnittlichen Insassen, die die Gefängnisse bevölkern. In diesem Sinne ist man vom Fernsehen immer schon ›reingelegt‹; der Verlierer und Dumme bist allemal du. Selbst wo man nur für sich zu sprechen wähnt, spricht man stets auch an Stelle eines anderen, der nicht sprechen kann.« (D: 33 f.)

264

ORDNUNG UND UMORDNUNG

und retardierenderen Wellenbewegungen auffangen will, um sie entweder an bestimmten Orten, unter bestimmten Bedingungen, in einem bestimmten Getto zu tolerieren, oder sie von der Wand zu wischen, die Andersartigkeit nicht erträgt (das ist ein Jude, ein Araber, ein Neger, ein Verrückter... etc.). Aus der Sicht des Rassismus gibt es keine Außenwelt und keine Menschen, die draußen sind. Es gibt nur Menschen, die wie wir sein sollten und deren Verbrechen darin besteht, daß sie es nicht sind. Der Einschnitt wird nicht mehr zwischen innen und außen gemacht, sondern […] innerhalb von aufeinanderfolgenden subjektiven Entscheidungen. (TP: 244 f.)

Ausgehend vom Gesicht des weißen Mannes (z.B. Jesus-Christus), das für die Norm steht, verbreitet der europäische Rassismus »Wellen des Gleichen, bis zur Ausrottung dessen, was sich nicht identifizieren läßt (oder sich nur mit einem bestimmten Abweichungsgrad identifizieren läßt)« (ebd.: 245). Anders gewendet: Angesichts der Frage »Wer ist der wahre Mensch?«, vollzieht der europäische Rassismus eine selektive Prüfung, anhand welcher verschiedene Prätendenten (Jude, Araber, Neger, Verrückter… etc.) auf ihre inhärente Ähnlichkeit hin mit einer Identität – dem als Urbild gesetzten Gesicht des weißen Mannes – beurteilt und aufgrund ihres jeweiligen Abweichungsgrads davon in einer hierarchischen Reihe eingeordnet werden. Das, was sich dieser Einordnung entzieht, wird nicht einfach ausgegrenzt und vergessen, es wird vielmehr beschuldigt, nicht genau so zu sein, wie es sein sollte – es ist die politische Wendung der selektiven Prüfung nach Platon. Der Umstand nun, dass der europäische Rassismus von einem Zentrum aus operiert, das Gesicht des weißen Mannes als Bezugspunkt für die hierarchische Einordnung also stets voraussetzt, verweist auch schon auf die zweite Figur der Segmentarität. Es wurde bereits betont, inwiefern gerade die binäre Logik grundlegend für ein baumartiges Denken ist: »aus eins wird zwei, aus zwei wird vier…« (TP: 14). Jede Unterteilung leitet sich jeweils aus dem Einen ab: Das Eine wird den Elementen, die unterteilt werden, dabei immer als leere Dimension (Übercodierung), in der diese Teilung erfolgt, hinzuaddiert (n+1). In ihrer Operationsweise verweist die binäre Segmentarisierung insofern auch bereits auf eine zirkuläre Segmentarisierung: gerade weil die immer weitläufigeren Unterteilungsebenen konzentrisch um eine zentrale Einheit herum totalisiert werden. Diese Einheit wirkt allerdings nicht als fester Mittelpunkt, in dem alles andere aufgeht, sondern als »Resonanzpunkt am Horizont« (TP: 306). Beispielsweise fungiert der weiße, alte, europäische, urbane, heterosexuelle, …, rationale Mann als Maß aller Dinge oder, um eine weitere Dualität aufzugreifen, die Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus ins Spiel bringen, als Majorität im Gegensatz zu gewissen Minoritäten. Allein, »Minoritäten und Majoritäten unterscheiden sich nicht durch die 265

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

Zahl. Eine Minorität kann größer sein als eine Majorität. Die Majorität definiert sich durch ein Modell, mit dem man konform gehen muß.« (ebd.: 248) Der weiße, …, vernünftige Mann stellt die Majorität, nicht weil er zahlreicher ist als »Mücken, Kinder, Frauen, Schwarze, Bauern, Homosexuelle etc.« (ebd.: 147), sondern weil er in erster Linie einen universellen Standard setzt, eine Norm, die diese Segmente übercodiert, die somit in allem widerhallt und aufgrund der damit erzeugten Redundanzen auch überall »mehrheitlich« vertreten ist (z.B. bei Frauen als sogenannte »Geschlechter-Datenlücke«).8 Der linearen Segmentarität kommt nun, drittens, eine besondere Bedeutung zu. Im wechselseitigen Zusammenspiel mit den beiden anderen Figuren der Segmentarität sorgt sie nämlich dafür, dass »jedes Segment für sich unterstrichen, begradigt und homogenisiert wird, und zwar auch im Verhältnis zu anderen Segmenten« (TP: 288). Es handelt sich also um eine harte oder molare Segmentarität, »wo alles berechenbar und vorhersehbar erscheint« (ebd.: 267), und zwar ebenso der Anfang und das Ende eines Segments wie auch der Übergang von einem Segment zum anderen: »Ein ganzes Zusammenspiel von genau definierten, genau geplanten Territorien« (ebd.), weshalb die Linie der Segmentarität auch Territorialisierunslinie genannt werden kann.9 Die lineare Segmentari8 Demselben Sachverhalt, um hier noch ein weiteres Beispiel anzuführen, sind wir auch schon im Rahmen der Analytik der Macht von Foucault begegnet: Dabei ist der Staat »kein Punkt, der alle anderen auf sich zieht, sondern eine Resonanzbox für alle Punkte« (TP: 306), die, heterogene gesellschaftliche Institutionen markierend, von einer molaren Integralkurve als zu verstaatlichende Segmente aneinandergereiht, serialisiert und totalisiert werden. Gerade weil Foucault diese zirkuläre, konzentrische oder kurvilineare Segmentarität entdeckt, kann er zeigen, dass die Möglichkeitsbedingungen der Macht eben »nicht in der ursprünglichen Existenz eines Mittelpunktes, nicht in einer Sonne der Souveränität« (F|WW: 93) liegen. Der Staat ist vielmehr eine sehr spezifische Funktion, »nämlich die Übercodierung aller Segmente, und zwar ebenso derjenigen, die er zu einem gegebenen Zeitpunkt übernimmt, wie jener, die er außerhalb seiner beläßt« (D: 181) und insofern nicht durchstaatlicht. Ein weiteres Beispiel ist das der Sexualität. In Der Wille zum Wissen zeigt Foucault, »wie sich die differentiellen Beziehungen einer ›Sexualität ohne Sex‹ im spekulativen Element des Sex ›als einzigem und universellem Signifikanten‹ integrieren, der das Begehren normalisiert, indem er die Sexualität ›hysterisiert‹« (FO: 107 f.). 9 Wenn Deleuze und Guattari hier von Territorien sprechen, dann geht das, was damit gemeint ist, weit über eine räumliche Unterteilung hinaus. Ein Territorium verweist in erster Linie nämlich auf existentielle Besitztümer, die über kritische Abstände markiert sind: »Was mir gehört, ist in erster Linie mein Abstand, ich besitze nur Abstände.« (TP: 436) Erving Goffman (1971) spricht in diesem Zusammenhang beispielsweise von Territorien des Selbst, von kritischen Punkten, die nicht nur einen physischen Raum, sondern auch

266

ORDNUNG UND UMORDNUNG

tät ist in diesem Sinne als reine Geometrie zu verstehen, »nach der alles nach seinen Umrissen, Individuen oder Gruppen beurteilt und begradigt wird« (ebd.: 274). Deleuze und Guattari beziehen sich hier auf Paul Virilio, der darauf hinweist, wie das Römische Reich (noch stärker als der griechische Stadtstaat) eine geometrische oder lineare Staatsraison durchsetzt, die ein allgemeines Schema von Lagern und befestigten Plätzen umfaßt, eine universelle Kunst, »durch Linienführungen Grenzen zu ziehen«, eine Aufteilung von Territorien, eine Substitution des Raumes durch Orte und Territorialitäten, eine Umwandlung der Welt in die Stadt, kurz, eine immer härtere Segmentarität. (ebd.: 288)

Das soll sicherlich nicht bedeuten, dass die Geometer die Macht in ihren Händen halten, »wohl aber, daß die Euklidische Geometrie jenes Wissen oder jene Wissenschaft konstituiert, die abstrakte Maschine, die der Staat zum Zweck der Organisation von Macht, Raum und Zeit braucht« (ebd.: 241). Das Privateigentum ist beispielsweise »mit einem Raum verbunden, der durch das Kataster übercodiert und gerastert wird« (ebd.: 288). Das Wissen um diese Rasterung kommt aber von der Euklidischen Geometrie, die den Raum des Privateigentums damit präzise determiniert oder einkerbt. Als politische Technologie oder abstrakte Übercodierungsmaschine sichert die Euklidische Geometrie folglich »die Homogenität der verschiedenen Segmente, garantiert deren Austausch- und Übertragbarkeit, regelt das jeweilige Übergleiten, unter Einhaltung der bestehenden Vorherrschaft« (D: 181), und begründet damit das mit dem Privateigentum und seiner politischen Repräsentation einhergehende Prinzip der Grenzziehung. Ein weiteres, aber gleichwohl berühmteres Beispiel für eine solche abs­trakte Übercodierungsmaschine ist das Panoptikum von Jeremy Bentham – zumindest in der Beschreibung durch Foucault. Das Wissen, auf welches das Panoptikum sich bezieht, seine Axiomatik, geht nicht mehr aus der Euklidischen Geometrie hervor, sondern aus der Architektur. Es ist aber eine Architektur, die, wie Foucault schreibt, nun »eine gewisse Macht des Geistes über den Geist ermöglicht« (F|DE2: 735). Als politische Technologie artikuliert sie nämlich vor allem Machtverhältnisse in Raum einen intimen, persönlichen, sozialen oder öffentlichen Abstand zu anderen abstecken. Wer beispielsweise ins Museum geht, kann davon ausgehen, dass, sobald er vor einem Gemälde stehenbleibt, andere Besucher sein Blickfeld auf dieses Gemälde respektieren werden, obgleich er dieses durch seine Haltung nur implizit als das Seine beansprucht. »Überdies muß man gleichzeitig zwei Aspekte des Territoriums berücksichtigen: es sichert und regelt nicht nur die Koexistenz von Mitgliedern derselben Art, indem es sie trennt, sondern es macht auch ein Zusammenleben von sehr vielen Arten in einem einzigen Milieu möglich, indem es sie spezialisiert.« (TP: 437)

267

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

und Zeit.10 Jedes Wissen und jede Wissenschaft kann insofern als vorherrschende Axiomatik eine abstrakte Maschine in Gang bringen. Zwar ist es die Philosophie, die als altehrwürdige Wissenschaft im Laufe der Geschichte immer schon eine verhängnisvolle Nähe zu den etablierten Herrschaftsmächten unterhalten hat, heutzutage, im Zeitalter der Kontrollgesellschaften, zeigen diese Mächte laut Deleuze aber ein sehr viel größeres Interesse an den Humanwissenschaften oder »an Physik, Biologie und Informatik« (D: 125). Die lineare Segmentarität zieht also »Linien, die uns zerlegen und die Kerben eines homogenen Raumes aufzwingen« (TP: 701), in dem alles und jeder auf seinen »Platz« hin verwiesen wird. Wie Henry Somers-Hall (2018) betont, handelt es sich bei dem, was Deleuze und Guattari hier ­ eleuze einen eingekerbten Raum nennen, im Wesentlichen um das, was D in Differenz und Wiederholung noch als sesshafte Verteilung bezeichnet, eine Verteilung, die sich, dem dogmatischen Bild des Denkens folgend, an den »Territorien in der Repräsentation« (DW: 59) orientiert, um das Gegebene aufzuteilen und in geordneter Art und Weise miteinander zu verbinden. Auf ähnliche Weise wird in Tausend Plateaus nun auch der Prozess der Einkerbung konzipiert. Dieser besteht nämlich darin, das Gegebene vor dem Hintergrund einer »Makrogeometrie des Seßhaften« (TP: 312) aufzuteilen, also allem und »jedem seinen festen Anteil zuzuweisen und die Verbindungen zwischen den Teilen zu regulieren« (ebd.: 523). Beispielsweise stellte sich das Problem der Einkerbung bereits sehr früh bei der Navigation auf hoher See. Im Unterschied zum ländlichen Raum wird der maritime Raum, der angesichts der Abwesenheit globaler Orientierungspunkte zunächst als glatter oder nomadischer Raum begriffen werden muss, 10 In seinen Studien zur Gouvernementalität weist Foucault etwa darauf hin, dass mit Ökonomie und Statistik zwei Axiomatiken erschienen sind, durch die eine neue Art und Weise des Regierens entstehen konnte, die über das alte Problem der Souveränität hinausging. »Um einen Staat zu regieren, wird man die Ökonomie einsetzen müssen, eine Ökonomie auf der Ebene des Staates als Ganzem, d.h. man wird die Einwohner, die Reichtümer und die Lebensführung aller und jedes Einzelnen unter eine Form von Überwachung und Kontrolle stellen, die nicht weniger aufmerksam ist als die des Familienvaters über die Hausgemeinschaft und ihre Güter.« (F|DE3: 804) »Doch ebenso gut ließe sich behaupten, dass dank der Wahrnehmung der spezifischen Probleme der Bevölkerung und dank der Abgrenzung jenes Realitätsniveaus, das man als Ökonomie bezeichnet, das Problem der Regierung endlich außerhalb des juristischen Rahmens der Souveränität gedacht, reflektiert und erwogen werden konnte. Und so wird jene Statistik, die im Rahmen des Merkantilismus stets nur innerhalb und gewissermaßen zum Vorteil einer monarchischen Administration funktionieren konnte, die selbst in der Form der Souveränität funktionierte, zum technischen Hauptfaktor.« (ebd.: 815)

268

ORDNUNG UND UMORDNUNG

ausgehend von zwei Errungenschaften, einer astronomischen und einer geographischen, eingekerbt: durch den Punkt der Position, den man durch eine Reihe von Berechnungen auf der Grundlage einer genauen Beobachtung der Sterne und der Sonne bekommt; und durch die Karte, die die Meridiane und Breitenkreise, sowie die Längen- und Breitengrade verbindet und so die bekannten oder unbekannten Regionen rastert (wie das Periodensystem von Mendelejew). (ebd.: 664)

Der maritime Raum wird durch eine neue Axiomatik also auf eine allgemein übertragbare Referenzebene verwiesen und damit in einen gekerbten Raum verwandelt, der aufgrund seiner festen Bezugspunkte und seiner abgeleiteten Entfernungen und Verbindungen eine sesshafte Verteilung gewährleistet. Dennoch handelt es sich dabei um einen Raum, der, obwohl er von allen Seiten her und in alle Richtungen hin eingekerbt und unterteilt ist, gerade durch seine Homogenität charakterisiert werden muss. Die Einkerbung impliziert also keine Heterogenität, sondern geht vielmehr von einer grundlegenden Homogenität oder Homogenisierung aller Dinge aus (d.h.: Meere, Strömungen, Küsten oder Seewege als Elemente einer Karte). Der homogene Raum der Einkerbung verweist Somers-Hall zufolge auf das, was Deleuze mit Bergson als numerische oder räumliche Mannigfaltigkeit bezeichnet: eine Mannigfaltigkeit, die sich dadurch auszeichnet, dass ihre Elemente einander äußerlich (partes extra partes) sind, gerade weil sie im homogenen Medium des Raumes strikt voneinander getrennt werden können. In Zeit und Freiheit, wo der Begriff der Mannigfaltigkeit zum allerersten Mal auftaucht, erklärt Bergson, eine beliebige Menge könne nur dann abgezählt werden, wenn die darin enthaltenen Elemente auch »untereinander identisch« (Bergson 2016: 60) sind – oder wenigstens als identisch gedacht werden können, sobald man sie abzählt. Um einzeln gezählt werden zu können, müssen sie sich aber auch in irgendeiner Weise voneinander unterscheiden. Dies erreicht man laut Bergson, indem man sich diese Elemente nebeneinander in einem idealen Raum vorstellt, um sie darin nacheinander als diskrete Einheiten abzuzählen. Das bedeutet aber, dass die Zählung einen idealen Raum voraussetzt, in dem die gezählten Elemente als homogene Einheiten repräsentiert werden. Wären sie nicht homogen, könnten sie ja nicht nebeneinander gereiht werden. Das bedeutet aber auch, dass die Vorstellung eines solchen homogenen Raums, den Elementen, die darin gezählt werden sollen, äußerlich ist. Es ist dieser Raum, in dem sie als homogene, abzählbare Einheiten repräsentiert werden. Der homogene Raum ist dem, was darin gezählt wird, also übergeordnet: Er wird den gezählten Elementen als Referenzebene oder als Organisations-, Analogie- oder Transzendenzplan hinzuaddiert (n+1). Weil sie ihre Elemente in diesem Sinne übercodiert, verläuft die lineare Segmentarität immer »über eine Übercodierungsmaschine, die more geometrico den homogenen Raum schafft und Segmente herauslöst, die durch 269

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

ihre Substanz, ihre Form und ihre Beziehungen bestimmt sind« (TP: 289). Gemeinsam mit den anderen beiden Figuren der Segmentarität bildet die lineare Segmentarität folglich jene Tendenz, die zur Übercodierung führt, die eine Mannigfaltigkeit durch Prozesse der »Zentrierung, Vereinheitlichung, Totalisierung, Integration, Hierarchisierung und endgültige Formierung« (ebd.: 61) in harte oder molare Segmente überführt. Die Linien der ­Segmentarität stehen für ein arboreszentes Denken. Alle drei Typen der Segmentarität kommen nämlich »durch einen Baum zum Ausdruck […]. Der Baum ist ein Knoten der Baumstruktur oder ein Prinzip der Dichotomie; er ist eine Rotationsachse, die die Konzentrizität gewährleistet; er ist eine Struktur (oder ein Netz), durch die das Mögliche gerastert wird.« (ebd.: 289) Von den zwei Richtungen, die, wie nun schon mehrmals betont wurde, in ein und derselben Bewegungen fortlaufend voneinander divergieren, verweist die molare Linie der Segmentarität auf die Richtung, in der die Bewegung dazu tendiert, in ihren Resultaten zu erstarren, bei der die Bewegung in harte, feste oder molare Segmente überführt wird, um damit eine bestimmte Ordnung zu stabilisieren. Wie sieht im Unterschied hierzu nun aber jene andere Richtung aus, die dazu tendiert, die Bewegung in ihren Resultaten wieder aufzunehmen und fortzusetzen? Einen ersten Eindruck davon liefert zum Beispiel der historische Gegensatz zwischen Ost- und Westblock, der die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gekennzeichnet hat. Nehmen wir an, daß sich zwischen West und Ost eine bestimmte Segmentarität etabliert, in Gegensätzen gehalten in einer binären Maschine, arrangiert in Staatsapparaten, übercodiert durch eine abstrakte Maschinerie als Entwurf einer internationalen Ordnung. Unter solchen Vorzeichen erfolgt nun die »Entstabilisierung«, wie Giscard d’Estaing melancholisch vermerkt, von Nord nach Süd: ein Bach, ja »ein Rinnsal« gräbt sich ein, das den Organisationsplan durcheinanderbringt und alles wieder von vorn beginnen lässt. Hier ein Korse, da ein Palästinenser, ein Flugzeugentführer, ein sich wehrender Stamm, eine Feministenbewegung, ein »Grüner«, ein russischer Dissident – es wird immer eine(n) geben, die (der) im Süden auftaucht. (D: 183 f.)

Der molare Gegensatz zwischen Ost- und Westblock wird also ständig von kleinen oder molekularen Rissen, die fortlaufend aus einem Außen eindringen, in Frage gestellt. Es sind dies unsichtbare Brüche, die sich nicht in den molaren Gegensatz integrieren lassen, die ihn vielmehr von innen her untergraben und dafür sorgen, dass der Gegensatz zwischen den beiden Segmenten, weit davon entfernt, dialektisch aufgehoben zu werden, zunehmend an Bedeutung verliert und verschwimmt. Vor diesem Hintergrund erklären Deleuze und Guattari nun, dass alles und jeder seinen »Süden«, seine molekularen Strömungen und Fluchtlinien hat. Die beiden Geschlechter verweisen zum Beispiel 270

ORDNUNG UND UMORDNUNG

auf vielfache molekulare Kombinationen, die nicht nur den Mann in der Frau und die Frau im Mann ins Spiel bringen, sondern die Beziehung von jedem im anderen zum Tier, zur Pflanze, etc.: tausend kleine Geschlechter. Und die gesellschaftlichen Klassen verweisen selber auf »Massen«, die nicht dieselbe Bewegung haben, nicht dieselbe Aufteilung, nicht dieselben Ziele und dieselbe Art zu kämpfen. (TP: 291)

Es sind zwar solche molare Gegensätze, die, ob nun zwischen Geschlechtern oder Klassen, den gesellschaftlichen oder politischen Raum einkerben oder organisieren und in Form binärer Entscheidungen repräsentieren, »aber der Bereich des Entscheidbaren bleibt sehr klein« (ebd.: 302), da die eigentlichen Bewegungen woanders stattfinden. Eine molare Organisation versinkt nämlich zwangsläufig in einer abgründigen, molekularen Ordnung oder: Umordnung, in der nicht mehr dieselben Dinge wahrgenommen, gefühlt oder erlebt werden. Es genügt beispielsweise nicht, eine Bürokratie durch ein molares Organigramm zu definieren, »mit der Abgeschlossenheit von aneinander gereihten Büros, einem Bürochef in jedem Segment und der entsprechenden Zentralisierung am Flurende oder an der Spitze des Hochhauses« (TP: 286). Denn eine Bürokratie wird auch durch ein molekulares Geschehen bestimmt, das quer durch die Büros hindurchgeht, bestehende Hierarchien zwischen Segmenten unterwandert oder umverteilt und durch »einen permanenten Erfindungsreichtum oder eine durchgängige Kreativität« (ebd.: 291) die gesamte bürokratische Segmentierung nachhaltig transformieren kann. In diesem Sinne ist Deleuze und Guattari zufolge auch Franz Kafka und nicht etwa Max Weber der »größte Theoretiker der Bürokratie« (ebd.). Denn gerade Kafka hat gezeigt, dass es weniger die molaren Strukturen und Hierarchien sind, die für eine bürokratische Ordnung entscheidend sind, es zählt vielmehr »das molekulare Hin und Her auf den Korridoren, in den Kulissen, hinter den Türen und in den Nebenzimmern« (K: 69), die ganze molekulare Umgebung also, in die diese verstrickt ist, und die in der Zeit nach Weber auch zunehmend Gegenstand organisationssoziologischer Untersuchungen geworden ist. Die Unterscheidung zwischen Molarem und Molekularem darf hier jedoch nicht mit jener zwischen Kollektivem und Individuellem verwechselt werden. Molares und Molekulares findet man nämlich sowohl in kollektiven wie auch in individuellen oder zwischenmenschlichen Phänomenen. Mehr noch: Die Unterscheidung selbst zwischen Individuum und Kollektiv muss in ihrer Binarität selbst als molare Unterscheidung verstanden werden. Ein Beispiel für die Unterscheidung zwischen Molarem und Molekularem in einem individuellen Phänomen ist das Problem des Alterns. In seiner Novelle Der Knacks beschreibt F. Scott Fitzgerald die entscheidenden Abschnitte, die sein Leben geprägt haben: »reicharm, jung-alt, Erfolg-Verlust des Erfolgs, Gesundheit-Krankheit, LiebeVersiegen der Liebe, Kreativität-Sterilität« (D: 177). Dabei steht jeder 271

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

einzelne Abschnitt in Verbindung mit einem sozialen Ereignis, das diesen Abschnitt im Sinne eines signifikanten Einschnitts Bedeutung verleiht oder als molares Segment übercodiert (Wirtschaftskrise, Börsenkrach, Aufstieg des Faschismus usw.). Das Altern wird hier rückblickend als geordnetes Nacheinander gesonderter Lebensabschnitte rekonstruiert oder nacherzählt. Gegenüber dieser groben, molaren Linie der Segmentarität erwähnt Fitzgerald nun aber auch ein anderes Altern, ein Altern, das über eine feine, molekulare Bruchlinie verläuft, die, so könnte man sagen, insgeheim seinen eigenen »Süden« markiert.11 Es gibt zwar auch auf dieser Linie ein Altern, aber auf andere Weise: wenn man auf dieser Linie altert, spürt man es auf der anderen Linie nicht, man merkt es auf der anderen Linie erst, wenn »es« auf dieser schon passiert ist. In einem solchen Moment, der nicht den Altersstufen auf der anderen Linie entspricht, erreicht man einen Grad, ein Quantum, eine Intensität, über die man nicht hinausgehen kann. […] Aber was ist eigentlich passiert? In Wirklichkeit nichts Bestimmbares oder Wahrnehmbares; molekulare Veränderungen, Umverteilungen von Begehren, so daß, wenn etwas passiert, das Ich, das es erwartete, schon tot ist oder das Ich, das es erwarten würde, noch nicht da ist. (TP: 272)

Das Altern auf dieser Linie unterscheidet sich wesentlich von dem der molaren Linie. Im Unterschied zum molaren Einschnitt bildet sich der molekulare Bruch nämlich unbemerkt, er zeichnet sich dadurch aus, dass er unwahrnehmbar ist oder erst dann wahrgenommen oder bemerkt wird, sobald er sich bereits ereignet hat. Wenn er schließlich in Erscheinung tritt, dann als Frage: Was ist passiert? Auf den ersten Blick ist aber nicht wirklich etwas passiert, zumindest nicht in molarer Hinsicht. Der molekulare Bruch, der Knacks, fällt also mit keinem historischen Einschnitt zusammen, verweist also auf keinen Börsenkrach, keinen politischen Skandal, keinerlei Krise. Im Grunde hat sich aber sehr wohl etwas verändert: denn von einem Tag auf den anderen erträgt man nicht mehr, »was man früher, noch gestern ertrug, die Wünsche haben sich anders verteilt, das Verhältnis von Schnelligkeit und Langsamkeit in uns hat sich geändert, eine nie zuvor empfundene Angst überkommt uns, aber auch eine neue Klarheit und innere Ruhe« (D: 177 f.) – das Vermögen, affiziert zu werden, hat sich grundlegend gewandelt. Das Altern ist also »vollständig molekularisiert und hat Geschwindigkeiten, die über die Schranken der gewöhnlichen Wahrnehmung hinausgehen« (TP: 269). 11 Es gibt, wie Fitzgerald schreibt, »noch eine andere Art von Schlägen, die von innen kommen und die man nicht spürt, bis es zu spät ist, etwas dagegen zu tun, bis einem endgültig klar wird, daß man als Mensch in dieser Hinsicht nie wieder soviel taugt wie früher. Die erste Art von Knacks kommt rasch, die zweite Art kommt, fast ohne daß man es merkt, aber dann spürt man es plötzlich um so mehr.« (Fitzgerald 1984: 9)

272

ORDNUNG UND UMORDNUNG

Es handelt sich um lauter unwahrnehmbare Verschiebungen, um die unbemerkte Überschreitung bestimmter Schwellen und kritischer Punkte, untergründige Bewegungen, die »oben«, auf der molaren Ebene, immer erst dann bemerkt werden, wenn es bereits zu spät ist. Das Molekulare ist aber auch nicht das, was einem Individuum »innerlich« ist oder seiner persönlichen Einbildungskraft entspringt, sondern steht für eine eigene Realität, die quer durch das Individuelle und das Kollektive verläuft. Denn »Was ist passiert?« ist eine Frage, die ein Individuum ebenso erschüttern kann wie ein Kollektiv. Die molekularen Linien durchziehen folglich Gesellschaften und Gruppen ebenso wie Einzelwesen. Doch zeichnen sie kleine Veränderungen, machen Umwege, skizzieren Abschwünge und Aufschwünge; sie sind deshalb nicht minder präzis, ja, sie steuern sogar irreversible Prozesse. Statt um molare Segmentlinien handelt es sich um molekulare Ströme mit Schwellen oder Quanten. Eine Schwelle wird überschritten, die nicht zwangsläufig mit einem Segment der sichtbaren Linien zusammenfällt. Hier, auf diesen Linien, ereignet sich mancherlei: vielfältiges Werden, Mikro-Werden, dessen Rhythmus ein anderer ist als der unserer »Geschichte«. (D: 175)

Jede Gesellschaft aber auch jedes Individuum ist von zwei Linien gleichzeitig durchzogen: »die eine ist molar und die andere molekular« (TP: 290). Wenn sie sich unterscheiden, dann nicht, weil die molekulare Linie, einem psychologischen Gesichtspunk folgend, nicht das Kollektive, sondern nur das Individuelle betrifft oder weil sie, einem axiologischen Gesichtspunkt folgend, im Gegensatz zur molaren Linien gar »besser« (oder »schlechter«) ist. Der Unterschied zwischen Molarem und Molekularem fällt weder mit dem zwischen Individuum und Kollektiv noch mit jenem zwischen Innen und Außen oder Gut und Böse zusammen: Und noch weniger fällt er mit der Unterscheidung zwischen »Groß« und »Klein« zusammen. Denn auch wenn sich das Molekulare aus lauter kleinen Ereignissen, geringfügigen Verschiebungen und einem entsprechenden Mikro-Werden zusammensetzt, unterscheidet es sich vom Molaren nicht einfach der »Größe« nach – was immer das auch bedeuten mag. »Es ist zwar richtig, daß das Molekulare im Detail wirksam wird und durch kleine Gruppen vordringt, aber es verhält sich zum gesamtgesellschaftlichen Bereich ebenso koextensiv wie die molare Organisation« (ebd.: 293). Beispielsweise gründet der Aufstieg des Faschismus weniger auf jene großen, molaren Einschnitte, auf die Historiker für gewöhnlich verweisen und durch welche sich der Faschismus meist auch gerne selbst inszeniert. Er impliziert vielmehr unzählige kleine Verschiebungen, die ihrerseits als molekulare Differenzen dann aber meist ganz unbemerkt bis in die Kapillaren einer Gesellschaft hinein ausströmen und dort für ein umfassendes Faschistisch-werden aller Lebensbereiche einer Gesellschaft sorgen. 273

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

Der Faschismus wird durch seine mikro-politische oder molekulare Macht gefährlich, denn er ist eine Massenbewegung: eher ein krebsbefallener Körper als ein totalitärer Organismus. Das amerikanische Kino hat diese molekularen Unruheherde oft gezeigt, den Faschismus der Bande, der Gang, der Sekte, der Familie, des Dorfes, des Stadtteils und des Autos, der niemanden verschont. […] Es ist allzu leicht, auf molarer Ebene ein Antifaschist zu sein, ohne den Faschisten zu sehen, der man selber ist, den man unterstützt und nährt und an dem man selber mit persönlichen und kollektiven Molekülen liebevoll hängt. (ebd.)

Die infinitesimalen Veränderung auf der molekularen Linien mögen auf den ersten Blick vielleicht unbedeutend erscheinen, sie markieren aber jene kritischen Punkte, die, werden sie überschritten, den Faschismus dammbruchartig zum Sieg führen (z.B. die unbemerkten Augenblicke, in denen der Faschismus plötzlich »salonfähig« wird). In diesem Sinne ist das Molekulare immer koextensiv zum Molaren. Die Unterscheidung zwischen Molekularem und Molarem ist demnach weder auf die Unterscheidung zwischen Innen- und Außenwelt, Individuum und Kollektiv oder Mikro- und Makroebene zurückzuführen. Das Molare kann weder als Abstufung noch als Gegensatz zum Molekularen gefasst werden. Beide unterscheiden sich, um auf Bergson zurückzukommen, also nicht graduell oder negativ, sondern wesentlich oder formal-real. Während das Molare nämlich aus extensiven und diskreten Einheiten besteht, umfasst das Molekulare ausschließlich intensive und kontinuierliche Differenzen. Foucault bezieht sich beispielswiese auf eine Mikrophysik, nicht weil diese auf eine Welt verweist, die sich einfach der Größe nach von der Welt der Makrophysik unterscheidet. Mikro- und Makrophysik gehen nicht von zwei getrennten Welten aus, einer »kleinen« und einer »großen«, sondern von nur einer Welt, in der allerdings zwei Realitätsebenen wesentlich voneinander zu unterscheiden sind: Während die Makrophysik nämlich nur mit festen Körpern (oder statistischen Größen) zu tun hat, beschäftigt sich die Mikrophysik mit den »unkörperlichen« Differenzen, die diese Körper voraussetzen: Kraftfelder, Wechselwirkungen, Intensitäten, Schwellen, Wellen, Fluktuationen, Interferenzen, Gradienten, Zustandsänderungen etc. Parallel dazu ist nun auch der Unterschied zwischen Molarem und Molekularem zu begreifen: Es handelt sich folglich um zwei Realitätsebenen, die sich hinsichtlich ihrer Beschaffenheit wesentlich voneinander unterscheiden. Während das Molare feste und stabile Segmente (in Individuen und Kollektiven, im Innen und Außen, im Großen und Kleinen) bezeichnet, steht das Molekulare für alles, was, quer dazu, einen metastabilen Untergrund bereitstellt. Um diese Art von Unterscheidung zwischen Molarem und Molekularem hervorzuheben, sprechen Deleuze und Guattari von segmentierten Linien auf der einen Seite und von Quanten-Strömungen auf der anderen. Dazu geben sie folgendes Beispiel: 274

TARDE UND DIE SOZIOLOGIE SOZIALER STRÖMUNGEN

Nehmen wir eine monetäre Linie mit Segmenten. Diese Segmente können unter verschiedenen Gesichtspunkten bestimmt werden. Zum Beispiel aus der Sicht des Gesamtetats eines Unternehmens: Reallöhne, Reingewinne, Gehälter der Geschäftsleitung, Kapitalzinsen, Rücklagen, Investitionen... etc. Aber diese Linie des Geldes als Zahlungsmittel ist mit einem ganz anderen Aspekt verbunden, nämlich einer Strömung von Geld als Finanzmittel, die keine Segmente mehr enthält, sondern Pole, Singularitäten und Quanten (die Pole der Strömung sind die Schaffung und Vernichtung von Geld, die Singularitäten sind nominal verfügbare Gelder, die Quanten sind Inflation, Deflation, Stagflation, etc.). (TP: 295 f.)

Geld kann sowohl aus einer molaren als auch einer molekularen Perspektive betrachtet werden: Zum einen kann Geld als einfaches Zahlungsmittel begriffen werden, in Bezug auf welches zum Beispiel der Gesamtetat eines Unternehmens in feste Bestandteile oder Segmente unterteilt und organisiert wird. Zum anderen kann Geld aber auch als Finanzmittel begriffen werden, wobei nicht mehr von festen Segmenten, sondern nur noch von Umlaufgeschwindigkeiten, Multiplikatoreffekten, Zinsniveaus usw. die Rede ist. Damit geht das Geld von einem festen Zustand in einen flüssigen über, in welchem es nur noch anhand intensiver Differenzen begriffen werden kann: durch Pole, Quanten, Strömungen, kritische Punkte, Schwellen, Geschwindigkeiten etc. »Kurz gesagt, das Molekulare […] wird nicht durch die Kleinheit [seiner] Elemente definiert, sondern durch die Art [seiner] ›Masse‹ – durch die Quanten-Strömung, im Gegensatz zur molaren, segmentierten Linie« (ebd.: 296). Das Molare ist eine diskrete und extensive Mannigfaltigkeit, das Molekulare ist dagegen eine kontinuierliche und intensive Mannigfaltigkeit: es sind zwei Realitätsebenen einer Bewegung. Damit zeigt sich auch, dass die Unterscheidung zwischen einer molaren und einer molekularen Realitätsebene, die Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus aber auch schon in Anti-Ödipus vorschlagen, jene Unterscheidung wieder aufgreift, die Deleuze in Bezug auf Lautman sowohl in Differenz und Wiederholung als auch in Logik des Sinns vorbereitet hatte: einerseits die problematische Verteilung von singulären Punkten in einem intensiven Feld von Vektoren, andererseits die extensiven Formen, die durch Integralkurven in der Nachbarschaft dieser Punkte als Lösungen gezogen werden.

7.2 Tarde und die Soziologie sozialer Strömungen Um ihre Unterscheidung zwischen Molarem und Molekularem zu untermauern, verweisen Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus mit einer regelrechten »Hommage« (TP: 298) auf die molekulare Soziologie 275

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

von Gabriel Tarde. Tatsächlich ist bereits mehrfach darauf hingewiesen worden, dass diese Unterscheidung, die für Deleuze und Guattari zentral ist, »ohne Tarde nicht vorstellbar wäre« (Balke 2009: 137). Auch der Begriff der Wunschmaschine, den sie in Anti-Ödipus vorstellen, ist in gewisser Hinsicht dem Denken von Tarde verpflichtet, selbst wenn dieser im besagten Buch nominell abwesend ist. Vor allem Deleuze ist dem Werk von Tarde in besonderer Weise verbunden.12 Denn Deleuze ist nicht nur derjenige, der die Soziologie von Tarde nach langer Vergessenheit als erster wiederendeckt, dem also die »Rehabilitierung von Tardes Werk zu verdanken ist« (Alliez 2009: 127), es kann, wie Eric Alliez weiter bemerkt, auch davon ausgegangen werden, dass »Deleuze nur als Tardianer die neuen Bedingungen einer Philosophie der Differenz bestimmen konnte« (ebd.: 128) – eine neue Philosophie, die, wie wir gesehen haben, auch grundlegend für alles war, was Deleuze nach Differenz und Wiederholung alleine oder gemeinsam mit Guattari geschrieben hat. So ist bei Tarde zu lesen, dass existieren immer differieren heißt: »Die Differenz ist nämlich gewissermaßen die substantielle Seite der Dinge, dasjenige, was sie gleichzeitig als Eigenstes und als Gemeinsamstes haben. Davon muß man ausgehen und sich davor hüten, es zu erklären, vor allem durch die Identität, von der fälschlicherweise so oft ausgegangen wird.« (T|MS: 71 f.) Genau diese (kopernikanische) Umkehrung, die der Differenz das Primat zuerkennt, sie sogar zur substanziellen Seite aller Dinge macht und die Identität damit einfach als den oberflächlichen Effekt 12 So bemerkt Deleuze bereits 1953 in seinem richtungsweisenden Aufsatz Der Begriff der Differenz bei Bergson, dass Tarde – so als würde dieser bereits im 19. Jahrhundert das philosophische Projekt von Deleuze vorwegnehmen – »seine eigene Philosophie als eine Philosophie der Differenz charakterisierte und sie von den Philosophien des Gegensatzes unterschied« (EI: 59). Nicht von ungefähr betont Deleuze einige Jahre später in Differenz und Wiederholung, dass die ganze Philosophie von Tarde »auf den beiden Kategorien von Differenz und Wiederholung« (DW: 45) beruht und dass die vor diesem Hintergrund konzipierte »differentielle und differenzierende Wiederholung […] in allen Gebieten den Gegensatz ablösen« (ebd.) soll. Und Deleuze profitiert Latour zufolge auch noch »mehr von Tarde […], als aus der langen Anmerkung in Differenz und Wiederholung ersichtlich ist« (Latour 2001a: 362). In den Jahren nach Differenz und Wiederholung taucht Tarde namentlich nicht nur in Tausend Plateaus auf, sondern auch in Foucault, wo die Mikrophysik der Macht von Foucault »zur Mikro-Soziologie von ­Tarde in Beziehung« gesetzt wird, oder auch in Die Falte, wo Tarde und sein Aufsatz Monadologie und Soziologie herangezogen wird, um die metaphysische »Substitution des Seins durch das Haben« (FA: 178) im Denken von Leibniz hervorzuheben. Vor diesem Hintergrund bemerkt auch der Biograph von Deleuze, François Dosse, dass Tarde »extremely important for ­Deleuze« (Dosse 2010: 167) war.

276

TARDE UND DIE SOZIOLOGIE SOZIALER STRÖMUNGEN

eines untergründigen Spiels von Differenzen fasst, ist es auch, die Deleuze mit seiner eigenen Philosophie der Differenz anstrebt. Nicht ohne Grund bemerkt Deleuze (1986a) in einem seiner Seminare, dass er davon träumt, eines Tages auch Tarde ein Seminar widmen zu können. Obgleich es nie dazu gekommen ist, stellt es doch unter Beweis, wie wichtig Tarde für das Denken von Deleuze ist. Denn für gewöhnlich war die Vorbereitung eines Seminars bei Deleuze auch mit der Publikation einer Monografie zum behandelten Thema verbunden. Dennoch wurde die Rolle, die Tardes Soziologie im Denken von Deleuze einnimmt, bislang kaum näher beleuchtet.13 Gerade dies soll hier, zumindest ansatzweise, nachgeholt werden, um damit auch den Begriff der molekularen Fluchtlinie (oder Quanten-Strömung) näher zu beleuchten, den Deleuze und Guattari den molaren Segmentierungslinien gegenüber in Tausend Plateaus in Stellung bringen. Inwiefern fungiert Tarde also als Sichtwortgeber für Deleuze und Guattari? Es waren vor allem Durkheim und seine Schüler, die Tarde, der damals als wichtigster Widersacher Durkheims angesehen wurde, nicht nur zu Lebzeiten in vernichtender Art und Weise kritisiert, sondern auch sichergestellt haben, dass dessen Beitrag zur Soziologie postum relativ bald in Vergessenheit geraten ist. Insbesondere wurde dabei versucht, Tardes Texte als einfache Belletristik zu liquidieren, ihm also jeden wissenschaftlichen Anspruch abzusprechen, um sich damit eine akademische Vorrangstellung zu sichern, die, so wissen wir heute, bei der Gründung der Soziologie als wissenschaftlicher Disziplin in Frankreich schlussendlich ausschlaggebend war. Um der Soziologie ihren Gegenstand zu geben und sie somit als eigenständige Disziplin zu begründen, unterscheidet Durkheim (1976) bekanntlich zwischen individuellen und kollektiven Repräsentationen, zwischen zwei Tatsachenbereichen, die in all ihrer Gegensätzlichkeit einfach als gegeben vorausgesetzt werden. Dabei sind es aber kollektive Repräsentationen, denen sich die Soziologie Durkheim zufolge als soziale Tatsachen zuzuwenden hat, womit individuelle Repräsentationen als psychologische Phänomene vernachlässigt bzw. der Psychologie überlassen werden können. Gerade damit begründet Durkheim aber eine Soziologie, die ihren Ausgangspunkt in den großen gesellschaftlichen Gesamtheiten hat, die, insofern sie weithin segmentiert, also »binär, resonant, übercodiert sind« (TP: 298), laut Deleuze auch einer dezidiert molaren Sichtweise entsprechen. Da sich Tarde nun aber weigert, den Ausgangspunkt seiner Soziologie in den großen repräsentationslogischen Gesamtheiten (oder Identitäten) anzusetzen, wird er von Durkheim kurzerhand beschuldigt, in seinen Überlegungen einem 13 Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang jedenfalls die Monographie von Sergio Tonkonoff (2017).

277

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

oberflächlichen Individualismus oder gar einem vulgären Psychologismus zu verfallen.14 Diese Anschuldigung ergibt allerdings nur dann Sinn, wenn man überhaupt einen strikten Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft (oder zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen Groß und Klein) als gegeben voraussetzt. Bruno Latour zufolge weigert sich Tarde nun aber gerade, einen solchen Gegensatz überhaupt anzuerkennen, geschweige denn, damit zu arbeiten. Er hält diesen Gegensatz für vollkommen unfruchtbar, weshalb er es ablehnt, in ihm auch nur den Ansatz einer Lösung zu sehen. In Wirklichkeit gibt es für ihn weder Individuum noch Gesellschaft. Der Soziologe soll vielmehr seine Aufmerksamkeit auf ein ganz anderes Phänomen lenken, das niemals die obligatorischen Kategorien des »Sozialen« oder des »Psychologischen«, von »Makro« oder »Mikro«, der »Struktur« oder des »Elements« durchläuft. (Latour 2009: 9)

Wie Deleuze bemerkt, wäre es »völlig falsch, die Soziologie Tardes auf einen Psychologismus oder gar auf eine Interpsychologie zu reduzieren« (DW: 107). Denn nach Tarde, und das ist das Entscheidende, »liegt der Unterschied keineswegs zwischen Gesellschaftlichem und Individuellem (oder Zwischenmenschlichem) sondern zwischen dem molaren Bereich von kollektiven oder individuellen Vorstellungen und dem molekularen Bereich« (TP: 299) sozialer Strömungen, »in dem die Unterscheidung von Gesellschaftlichem und Individuellem jede Bedeutung verliert, da die Strömungen weder Individuen zugeordnet, noch von kollektiven Signifikanten übercodiert werden können« (ebd.). Wenn Latour also fordert, die Soziologie solle ihre Aufmerksamkeit auf ein ganz anderes Phänomen lenken, ein Phänomen, das die großen Dualismen durchquert, mit denen sich die Soziologie immer schon herumgeschlagen hat, dann sind damit diese molekularen Strömungen gemeint. Beschließt Durkheim, von kollektiven Repräsentationen auszugehen, so gibt er sich, wie Deleuze erklärt, gerade das vor, »was erklärt werden muß, nämlich ›die Gleichartigkeit von Millionen von Menschen‹« (DW: 107). Das heißt, anstatt das, was in einer Gesellschaft gegeben ist, einfach mittels Abstraktion ins Allgemeine zu heben, nur um dort ein Gesetz zu postulieren, das, umhüllt vom mysteriösen Schleier der 14 In Der Selbstmord spricht Durkheim dem Werk von Tarde gleich seine Wissenschaftlichkeit ab, insofern die darin vertretene Hypothese, so Durkheim, »nicht einmal den Anfang eines experimentellen Beweises für sich hat. […] Die Soziologie könnte nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, als Wissenschaft ernst genommen zu werden, wenn es ihren Vertretern weiterhin erlaubt sein würde, so zu dogmatisieren und sich damit offenbar der Verpflichtung zu entziehen, ihre Behauptungen auch zu beweisen.« (Durkheim 1983: 149 f.) Einen guten Überblick zur Auseinandersetzung zwischen Durkheim und Tarde bieten Candea (2010), sowie Borch und Stäheli (2009).

278

TARDE UND DIE SOZIOLOGIE SOZIALER STRÖMUNGEN

Transzendenz, »die Gesamterscheinungen dazu zwingen würde, sich zu reproduzieren, sich unverändert in einer bestimmten Ordnung zu wiederholen, anstatt so das Kleine durch das Große, das Einzelne durch das Ganze zu erklären« (T|SG: 24), erklärt Tarde die Gesamterscheinungen, also die »Gleichartigkeit von Millionen von Menschen«, durch die Anhäufung kleiner elementarer Aktionen und in diesem Sinne das Große durch das Kleine oder das Ganze durch das Detail. Wenn Tarde davon spricht, das Große durch das Kleine zu erklären, dann soll dies nicht bedeuten, im Kollektiven bloß die Summe individueller Einheiten zu sehen. Tarde orientiert sich eher an den wissenschaftlichen Diskussionen seiner Zeit. Dabei ist nicht nur die Evolutionstheorie zu nennen, die damals viele beeinflusst hat, sondern vor allem auch die Infinitesimalrechnung. In diesem Sinne bemerkt Tarde etwa, den Begriff der Integration ähnlich wie Deleuze gebrauchend, dass eine bestimmte Schmetterlingsart nichts weiter als »das Integral zahlloser Differenzierungen oder individueller Variationen« (T|MS: 23) ist. Das Verhältnis zwischen Großem und Kleinem verweist bei Tarde demnach auf das Verhältnis zwischen Finitem und Infinitesimalem: zwischen einer finiten Form auf der einen Seite und einer Mannigfaltigkeit infinitesimaler Veränderungen auf der anderen Seite. Zwischen diesen beiden Seiten oder Ebenen ist folglich nicht quantitativ (z.B. der Größe nach) zu unterscheiden: Der Unterschied ist »qualitativer Art« (ebd.: 25). Während das »Große« für alles Feste und Beständige steht (also für Individuen ebenso wie für Kollektive), verweist das »Kleine« auf eine Vielzahl integrierbarer Veränderungen und Differenzen. Die Mikrosoziologie von Tarde beschäftigt sich nicht mit individuellen Repräsentationen oder Handlungen und kann insofern nicht der Tradition des methodologischen Individualismus zugeordnet werden. Sie beschäftigt sich primär mit kleinen, infinitesimalen Veränderungen, die als virtuelle Ereignisse sowohl Kollektive wie Individuen durchströmen und wegen ihres Strömungscharakters dem »Großen« stets koextensiv sind (deshalb wäre ein Größenunterschied hier auch irreführend). Diese virtuellen Ereignisse (und nicht die einzelnen Individuen) sind Tarde zufolge »die wahren Akteure und jene unendlich kleinen Veränderungen«, die diese implizieren, »die wahren Aktionen« (T|MS: 26), denen sich die Soziologie zuwenden muss. Damit zeigt sich, inwiefern für Tarde, der hier seinen Leibnizianismus unter Beweis stellt, »die Quelle des Geordneten, der Grund des Seins und des Endlichen, […] im Unendlichen, im nicht mehr wahrnehmbar Kleinen« (ebd.) zu suchen ist, in einer infinitesimalen Realität, die Deleuze und Guattari als molekulare Ebene bezeichnen. Tarde verschreibt sich damit einer dezidiert genetischen Per­ spektive: Die großen, beständigen und geordneten Gesamtheiten sind auf der molaren Ebene immer nur die groben und oberflächlichen Effekte von kleinen, zusammenhängenden Veränderungen auf der molekularen 279

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

Ebene. Sie stehen für jenen irreduziblen Untergrund der Differenz, auf den weiter oben bereits hingewiesen wurde. Die molekulare Soziologie von Tarde zeichnet sich in den Augen von Deleuze insofern auch durch »die Setzung der Differenz als Realität eines virtuellen multiplen Feldes und die Bestimmung von Mikroprozessen in jedem Gebiet« (DW: 259) aus. Wenn die besagte Hinwendung auf das Infinitesimale nun aber da­ rauf hinausläuft, »die Welt zu pulverisieren« (T|MS: 31), sie also in kleine Aktionen aufzulösen, wie kann dann noch der innere Zusammenhalt erklärt werden, der diese im Großen und Ganzen ausmacht? Um diese Frage zu beantworten, beruft sich Tarde zunächst auf die Monadologie von Leibniz. In seiner Monadologie definiert Leibniz eine Monade als einfache Substanz, die alle anderen Monaden und folglich das gesamte Universum unter einem bestimmten Blickwinkel impliziert oder, was dasselbe ist, diese in unterschiedlichen Schattierungen und somit auf singuläre Art und Weise expliziert. Weil Monaden bei Leibniz aber als Entelechien in sich geschlossen sind, also bekanntlich keine Fenster haben, durch die »etwas in sie hineintreten oder sie verlassen könnte« (Leibniz 2000: § 7), wird die Ordnung, in der sie zusammenwirken, bekanntlich durch eine von Gott prästabilierte Harmonie erklärt.15 Demgegenüber stellt sich Tarde aber die Frage, ob man nicht von »offenen Monaden« (T|MS: 48) ausgehen könnte, von Monaden, die sich wechselseitig durchdringen, die ihre Ordnung also nicht einer prästabilierten Harmonie verdanken, sondern den akzidentiellen Modalitäten, gemäß welcher sie sich begegnen. Vor diesem Hintergrund wird darauf hingewiesen, dass gerade die Fortschritte der Wissenschaft die Geburt einer erneuerten Monadologie begünstigen. Die newtonsche Entdeckung der Anziehungskraft, jener Fernwirkung zwischen materiellen Elementen, zeigt, inwiefern man deren Undurchdringbarkeit in Frage stellen muss. Jedes dieser Elemente, welche ehedem als einzelne Punkte angesehen wurden, wird zu einer Sphäre mit stark erweitertem Wirkungsbereich […]; und all diese einander durchdringenden Sphären, die wir fälschlicherweise für einen einzigen Raum halten, sind jeweils eigene Bereiche der Elemente, die trotz ihrer Verbindungen deutlich voneinander abgegrenzt sind. […] Folgt man dieser Auffassung, so hört das Atom auf, ein Atom zu sein – wenigstens im Sinne des newtonschen Gesetzes 15 Dabei bemerkt Tarde, dass Leibniz »eine ähnliche Vorstellung von der prästabilierten Harmonie [hatte] wie die Materialisten, die zur Ergänzung der umherstreunenden blinden Atome universale Gesetze geltend machen – oder jene Urformel, in der all diese Gesetze enthalten sind und der alles Seiende wie einem mystischen Befehl gehorcht, welche jedoch selbst aus keinem Wesen hervorgeht, wie ein unaussprechliches und unverständliches Wort, das, obwohl es niemals und von niemandem ausgesprochen wurde, überall und immer gehört wird.« (T|MS: 47 f.)

280

TARDE UND DIE SOZIOLOGIE SOZIALER STRÖMUNGEN

[…]; es ist ein universales Milieu – oder strebt wenigstens danach, eines zu sein, ein Universum für sich, nicht nur, wie Leibniz es beschrieb, ein Mikrokosmos, sondern ein vollständiger Kosmos, der von einem einzigen Wesen erobert und inkorporiert wurde. (ebd.: 48 f.)

Ein monadisches Element wird also nicht als diskrete Einheit, sondern vielmehr als eine Sphäre begriffen, die sich über einen bestimmen Wirkungsbereich definiert, die also als kontinuierliche und intensive Mannigfaltigkeit betrachtet werden muss, insofern sie andere Sphären ebenso durchdringt (oder affiziert) wie sie von diesen durchdrungen (oder affiziert) wird.16 Laut Maurizio Lazzarato (1999: 107) greift Tarde hier jenen Grenzbegriff auf, den Leibniz im Rahmen seiner Infinitesimalrechnungen entwickelt, den man im Grunde aber bereits bei den Stoikern und danach bei Spinoza findet. Wie wir gesehen haben, markiert die Grenze dabei »nicht mehr das, wodurch das Ding unter einem Gesetz festgehalten und begrenzt oder abgetrennt wird, sie bezeichnet vielmehr dasjenige, von dem aus es sich ausbreitet und seine ganze Macht entfaltet« (DW: 61). Weil nun die infinitesimalen Elemente, von denen Tarde ausgeht, keine Einheiten, sondern Aktionen sind, muss die Grenze, durch die sie definiert werden, auch dort angesetzt werden, wo die Wirkmacht ihrer Aktion zur Ruhe kommt. In diesem Sinne betont Tarde, dass es weniger darum geht, die Umrisse der Dinge nachzuzeichnen, sondern einem monadischen Punkt zu folgen, der »bestrebt scheint, ewig fortzustrahlen, bis zu dem Augenblick, da ihn widrige Umwelteinflüsse unbarmherzig zwingen, sich zu schließen, um fortzubestehen« (T|MS: 22 f.). Ähnlich den Willen zur Macht bei Nietzsche, streben die monadischen Element bei Tarde also danach, ihren Wirkungsbereich beständig auszuweiten, sich damit ein immer größeres Realitätsquantum anzueignen und andere monadische Elemente so für sich in Besitz zu nehmen. Anstatt einfach eine Perspektive unter 16 Lazzarato weist darauf hin, dass sowohl Tarde als auch Bergson sich auf ­Joseph John Thomsons Idee herumwirbelnder Atome berufen. Ein Atom wird dabei nicht als unteilbares und homogenes Element begriffen, sondern als intensive Mannigfaltigkeit im Sinne von Bergson und Deleuze, insofern es als reine Bewegung durch die Interpenetration mit anderen Atomen (oder Bewegungen) definiert wird. »Or on sait que l’›entre-pénétrabilité‹ des éléments définit chez Bergson les multiplicités intensives; celles-ci se différencient des multiplicités extensives qui sont au contraire partes extra partes. Il y a donc deux types de multiplicité: l’une est appelée multiplicité de juxtaposition, multiplicité numérique, multiplicité distincte, multiplicité actuelle, multiplicité matérielle; l’autre est multiplicité de pénétration, multiplicité qualitative, virtuelle. La monade de Tarde est une multiplicité de ce second genre.« (Lazzarato 1999: 118) Dabei betont Lazzarato zurecht, dass das Verhältnis zwischen Tarde und Bergson einer genaueren Untersuchung bedarf.

281

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

vielen auf ein Universum zu sein, streben sie danach, alle anderen Per­ spektiven der eigenen Perspektive zu unterwerfen, damit ein »universales Milieu« (ebd.: 49) für diese zu konstruieren und so »ein Universum für sich« (ebd.) zu werden (z.B. eine biologische Mutation, die sich endlos reproduziert). Ein monadisches Element ist in diesem Sinne »nicht nur eine Gesamtheit, sondern eine Virtualität bestimmter Art« (ebd.: 97), ein Universum für sich oder eine kosmische Idee, »die zwar immer berufen, doch nur selten auserwählt ist, sich tatsächlich zu realisieren« (ebd.) oder sich überall auszubreiten. In ihrem Streben, Universum für sich zu werden, verbinden sich monadische Elemente in einer besitzergreifenden Perspektive, die das unendlich Kleine mit dem unendlich Großen, das Singuläre mit dem Universellen, aber auch das Materielle mit dem Spirituellen verknüpft, so als »würde man die Ideen Platons in den Atomen Epikurs, oder besser: Empedokles’ beherbergen« (ebd.).17 Weil das Universelle also immer nur das mehr oder weniger erfolgreiche Projekt eines singulären Bestrebens ist und weil dieses Bestreben im Verlauf seines Siegeszugs immer eine Vielzahl rivalisierender Projekte oder Perspektiven in sich aufnimmt oder vereinnahmt, muss Realität grundsätzlich auch als Mannigfaltigkeit (im Substantiv) oder als Pluriversum begriffen werden. Da sich monadische Bestrebungen dabei aber mehr oder weniger besitzen können, muss auch hier »alles Geschehen, alle Bewegung, alles Werden als ein Feststellen von Grad- und Kraftverhältnissen« (N|KSA12: 384) im Sinne von Nietzsche begriffen werden. So bezeugt laut Nietzsche »die unabänderliche Aufeinanderfolge gewisser Erscheinungen […] kein ›Gesetz‹, sondern ein Machtverhältniß zwischen 2 oder mehreren Kräften« (ebd.: 135 f.), die sich vorübergehend im Gleichgewicht halten. Ebenso erklärt Tarde, dass Phänomene, die sich ähneln oder wiederholen, nicht »im Dienste der Gesetze« (T|MS: 79) stehen, also nicht, um wieder mit Nietzsche zu sprechen, »in Folge eines Gehorsams gegen ein Gesetz« (N|KSA12: 137), das sie transzendiert, immer genau so sind, wie sie sind. Ganz im Gegenteil: Was als Gesetzmäßigkeit in ähnlichen und sich wiederholenden Phänomenen festgestellt wird, ist Tarde zufolge, der hier grundsätzlich von Durkheim abweicht, immer nur »durch den Triumph einiger Monaden zu erklären, welche diese Gesetze wollten« (T|MS: 49). Es sind diese Monaden, die, sich verändernd, um zu erobern, andere Monaden dabei mehr oder weniger in Besitz nehmen, 17 Beispielsweise stammen alle »universellen« Ideen einer Gesellschaft – die Ideen, »daß wir ›Mitglieder einer Gesellschaft sind‹, oder daß wir ›zurechenbar‹ sind, daß wir ›juristisch verantwortlich sind‹, daß ›Gender etwas anderes ist als Geschlecht‹, daß ›wir eine Verantwortung gegenüber der nachfolgenden Generation haben‹, daß wir ›soziales Kapital verloren haben‹, etc.« (Latour 2010a: 396 f.) – zunächst aus einem singulären Punkt: »sie existierten zuerst in Form einer in einigen Gehirnzellen latenten Idee, bevor sie ein ungeheuer großes Gebiet bedeckten.« (T|SG: 83)

282

TARDE UND DIE SOZIOLOGIE SOZIALER STRÖMUNGEN

sich mit diesen zusammenschließen und in einem vorübergehenden Aggregat mit diesen die beobachtbaren (molaren) Gleich- oder Gesetzmäßigkeiten physikalischer, biologischer und gesellschaftlicher Phänomene hervorrufen. Dabei ist es immer der Zufall, der über den Zusammenschluss verschiedener monadischer Elemente entscheidet. Weil monadische Elemente den Plan ihrer geometrisch wachsenden Verbreitung in sich tragen, gehen sie grundsätzlich ihren eigenen Weg und müssen folglich irgendwann aufeinandertreffen. Wie die Körper bei Spinoza und die Kräfte bei Nietzsche implizieren auch die Monaden bei Tarde einen aleatorischen Materialismus/Spiritualismus der Begegnung. Früher oder später werden monadische Elemente auf rivalisierende Bestrebungen treffen, die sich ihnen diametral entgegenstellen, ihnen vorübergehend unüberschreitbare Grenzen aufzeigen und sie zwingen, »zufällig, nicht aus naturgemäßer Notwendigkeit, eine Zeitlang in diesem gleichbleibenden Zustand verharren« (T|GN: 135). Derartige Zustände müssen als prekäre oder »gefährdete Gleichgewichte« (ebd.) verstanden werden, als metastabile Gleichgewichte, in denen rivalisierende Kräfte sich vorübergehend gegenseitig aufheben. Diese metastabilen Gleichgewichte, die Tarde bemerkenswerterweise als »Plateaus« (ebd.: 136) bezeichnet, verdanken ihren gleichbleibenden Zustand also keiner transzendenten Notwendigkeit und keinem universellen Gesetzt: es ist vielmehr der Zufall, der rivalisierende Kräfte auf bestimmte Art und Weise aufeinander bezieht. Die Form metastabiler Gleichgewichte geht grundlegend also auf den Zufall zurück, auf den Umstand, dass die einzelnen Kräfte oder Bestrebungen, die sich darin wechselseitig kompensieren, »hier statt dort, zu dieser statt zu jener Zeit und schließlich überhaupt entstanden sind, anstatt einfach zu verschwinden« (ebd.: 135) oder unrealisiert zu bleiben. Es ist der Zufall, der in einem Plateau eine »Menge elementarer Virtualitäten, deren jede charakterisiert und anspruchsvoll auftritt, und deren jede ihr bestimmtes Universum in sich trägt« (T|SG: 107), differenziert und koordiniert. Daraus ist zu nun schließen, dass gleichbleibende Zustände, »Ordnung und Einfachheit nur von kurzer Dauer sind, lediglich Retorten, in denen sich gewissermaßen die elementare und wirksam verwandelte Verschiedenheit sublimiert« (T|MS: 76). Das metastabile Gleichgewicht kann jederzeit kippen, die eingeschlossenen Monaden können immerzu ausbrechen, ihren Siegeszug fortsetzen und damit das ganze Plateau zum Wanken bringen. In diesem Sinne können wir Tarde zufolge auch sicher sein, dass der Grund der Dinge nicht so arm, so glanz- und farblos ist, wie man es annimmt. Die Typen sind lediglich Schranken, die Gesetze nur Dämme, die sich vergeblich der Flut revolutionärer Unterschiede in den Weg stellen, denn im Inneren nehmen die zukünftigen Gesetze und Typen heimlich Gestalt an, und sie werden trotz ihrer 283

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

mannigfaltigen Unterjochung, […] eines Tages alle Barrieren niederreißen und sich deren Überreste selbst zum Werkzeug nehmen, um sich da­ raus eine noch größere Vielfältigkeit zu zimmern. (ebd.: 80)

Wie Tarde bekräftigt, liegt im Herzen der Dinge die Verschiedenheit und nicht die Einheit, die Differenz und nicht die Identität, denn was darin in einem metastabilen Zustand eingeschlossen ist, ist eine Mannigfaltigkeit elementarer Virtualitäten, die nur darauf warten, bei der geringsten Verschiebung auszubrechen – ein aufrührerischer und irreduzibler Untergrund der Differenz, der nur darauf wartet, an die Oberfläche aufzusteigen. Wenn Deleuze darauf verweist, dass Tarde »die Möglichkeit einer Mikrosoziologie auf eine regelrechte Kosmologie gründet« (DW: 108), dann im Hinblick auf seine Neomonadologie. Denn ebenso wie physikalische Schwingungen oder biologische Mutationen danach streben, sich in ihrem Milieu so weit wie möglich auszubreiten, so streben auch alle sozialen Neurungen danach – ganz egal, ob es sich dabei nun um »ein Industrieerzeugnis, ein Gedicht, eine Formel, eine politische Idee oder sonstige Erscheinungen, die eines Tages in einem Winkel irgendeines Hirns auftauchte« (T|MS: 99) handelt – sich »tausend- und millionenfach zu vermehren und überall auszubreiten, wo es Menschen gibt« (ebd.). An dieser Stelle muss allerdings einem möglichen Einwand zuvorgekommen werden. Denn »diese Art von immanentem und unermesslichen Streben« (T|GN: 375), auf welches sich Tarde beruft, um seine Mikrosoziologie metaphysisch zu untermauern, »scheint alle Entdeckungen und alle, selbst die belanglosesten Erfindungen, einschließlich aller individuellen, auch unbedeutenden Neuerungen, dazu anzutreiben, sich im gesamten, unendlich vergrößerten sozialen Feld zu verbreiten« (ebd.). Kann man von sozialen Neuerungen, von Erfindungen oder Entdeckungen, aber behaupten, sie würden danach »streben«, ihr Umfeld zu erobern? Können soziale Neuerungen tatsächlich als Bestrebungen begriffen werden? Es stimmt, dass jede Neuerung, »egal ob sie nun im Sozialen, Organischen oder Physikalischen, also durch Nachahmung, Vererbung oder Schwingung stattfindet« (ebd.: 31), dazu tendiert, sich in ihrem Milieu wellenartig auszubreiten. Aber, so fügt Tarde hinzu, unter dieser Tendenz verstehe ich übrigens nichts Mysteriöses, sie bedeutet etwas sehr Einfaches. Wenn sich zum Beispiel in einer Gruppe das Bedürfnis fühlbar macht, eine neue Idee durch ein neues Wort auszudrücken, so braucht der Erste, der einen Ausdruck ersinnt, der geeignet ist, dieses Bedürfnis zu befriedigen, denselben nur auszusprechen, und er wird, sich weiter und weiter verbreitend, bald von den Lippen aller Glieder der Gruppe wiederklingen, und wird sich später auch in die Nachbargruppen verbreiten. Dies soll nun nicht im mindesten heißen, dass dieser Ausdruck eine Seele besitzt, die diese Verbreitung bewirkt, ebensowenig wie der Physiker, der sagt, dass eine Schallwelle sich in der 284

TARDE UND DIE SOZIOLOGIE SOZIALER STRÖMUNGEN

Luft fortzupflanzen strebt, dieser einfachen Form eine eigene Kraft, eine ehrgeizige, gierige Kraft zuschreibt. Nein, diese Redensart besagt in dem einen Falle, dass die den Molekülen der Luft innewohnende Triebkraft in der wellenförmigen Wiederholung einen Ausweg gefunden hat, und im anderen Fall, dass das den Individuen der besagten Gruppe innewohnende Bedürfnis Befriedigung in dieser nachahmenden Wiederholung gefunden hat, die ihrer Trägheit (gleich der Beharrung der Materie) die Mühe des Selbsterfinders erspart. (T|SG: 32)

Wenn eine soziale Neuerung also danach strebt, sich in ihrem Milieu auszubreiten, dann ist damit ganz einfach gemeint, dass die individuellen Kräfte, die dieses Milieu zusammensetzen, »eine gemeinsame Richtung einnehmen« (T|GN: 41), und zwar auch dann, wenn es sich bei diesen Kräften um gegenläufige Bestrebungen handelt. Um Energie einzusparen, tendiert eine flüssige Oberfläche zum Beispiel dazu, ihre Oberflächenspannung zu minimieren. Weil die Kugel unter allen Körpern die kleinste Oberfläche aufweist, haben Seifenblasen oder Wassertropfen (ohne die Einwirkung von anderen Kräften oder Intensitäten) deshalb auch eine sphärische Gestalt. In diesem Sinne kann man sagen, dass ein ideales Spannungsminium danach strebt, sich in seinem Milieu auszubreiten, dieses einzunehmen und den molekularen Veränderungen darin eine gemeinsame Richtung zu geben. Ebenso streben nach Tarde auch soziale Neuerungen oder Ideen, für die diese stehen, danach, sich in ihrem Milieu auszubreiten, es zu erobern und damit universell zu werden. Vor diesem Hintergrund können infinitesimale Bestrebungen, insofern sie sich in ihrem Milieu ausbreiten, nun auch als Strömungen bezeichnet werden. Wie Latour bemerkt, betrachtet Tarde »das Soziale als etwas Fluides, das zirkuliert« (Latour 2010a: 31) und überall hin ausströmt. Die Ausbreitung einer Strömung bezeichnet Tarde als Nachahmung, ein Begriff, den er auch in den Mittelpunkt seiner Soziologie stellt. Gerade in Bezug auf diesen Begriff wurde er von Durkheim und seinen Anhängern aber beschuldigt, nicht Soziologie, sondern einfache Psychologie zu betreiben, da eine gewöhnliche Nachahmung, so die Anschuldigung, immer von einem Individuum zum anderen geht und somit ein dezidiert individuelles Phänomen darstellt, das eher dem Tatsachenbereich der Psychologie als jenem der Soziologie zuzuschreiben ist.18 Wie Deleuze und Guattari aber bemerken, ist das »nur scheinbar oder auf den ersten Blick richtig: Eine Mikro-Nachahmung kann sehr wohl zwischen zwei Individuen stattfinden. Gleichzeitig und auf einer grundlegenderen Ebene betrifft sie aber eine Strömung oder eine Welle, und nicht das Individuum. Nachahmung ist die Ausbreitung einer Strömung.« (TP: 298) Was Tarde Nachahmung nennt, kann also nicht einfach auf individuelle 18 Vgl. hierzu die lange Fußnote zum Begriff der Nachahmung in Durkheims (1984: 112) Regeln der soziologischen Methode.

285

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

Handlungen reduziert werden. Es bezeichnet vielmehr die anonyme Dynamik eines mikrophysikalischen Affektions- oder Suggestionsgeschehens, »ohne dass man es je wirklich mit dem Sozialen oder Individuellen zu tun bekommt« (Latour 2009: 9). Individuen wie Kollektive, Personen wie Institutionen, sind gleichermaßen als singuläre Verdichtungen von gesellschaftlichen Neuerungen zu begreifen, Neuerungen, die entweder schon seit langem (Tradition) oder erst seit kurzem (Mode) zirkulieren. In diesem Sinne definieren Tardes’ Gesetze der Nachahmung laut Latour auch so etwas wie eine Epidemiologie hochgradig angsteckender Neuerungen oder Ideen. Diese Ideen sind die wahren Akteure und ihre Zirkulation und Diffusion die wahren Aktionen, denen sich eine soziologische Betrachtung zuzuwenden hat. Als präindividuelle oder präpersonale Strömung kann eine Nachahmung deshalb auch »bewußt oder unbewußt sein, überlegt oder spontan, freiwillig oder unfreiwillig« (T|GN: 210). Die Strömung ist auf einer molekularen Ebene zu situieren, auf der derartige Unterscheidungen (noch) keine Rolle spielen. Beispielsweise affiziert eine Nachahmungsströmung nicht nur diejenigen, die sich dieser bejahend anschließen, sondern auch diejenigen, die sich dieser negierend verweigern. Denn »weder diese noch jene lassen […] zu, dass man sich im Moment mit etwas anderem als mit der ihnen so gestellt und auferlegten Frage beschäftigen könnte« (ebd.: 14), dass man also, gleich einem großen »anonymem Murmeln« (FO: 79), bewusst oder unbewusst, überlegt oder spontan, freiwillig oder unfreiwillig, zu diesem Zeitpunkt von etwas anderem sprechen könnte. Und diesen Sachverhalt bezeichnet Tarde – ähnlich den inadäquaten Ideen, die man laut Spinoza durch passive Affektionen erleidet – als sozialen Somnambulismus: eine tiefgreifende Illusion, bei der Ideen, die man direkt oder indirekt suggeriert bekommt, kurzerhand für spontan gehalten werden. Damit liefert Tarde laut Karsenti (2010) einen Ansatz, der nicht nur über den sozialen Determinismus und den Zwangscharakter der Gesellschaft im Sinne von Durkheim hinausweist, sondern auch auf den methodologischen Individualismus verzichtet, der im Gegensatz dazu die absolute Freiheit des Individuums betont. Obwohl der Somnambule keinem Zwang unterliegt und insofern immer »frei« ist, »konzentriert sich die ganze Kraft seines Glaubens und Begehrens auf einen einzigen Punkt« (T|GN: 101). Das heißt, der Somnambule sieht und hört zwar nur, »›was in die Sorgen seines Traumes eindringt‹« (ebd.), ist darin aber vollkommen bei sich. Deshalb ist die Betäubung »im somnambulen Zustand nur Schein. Sie verdeckt eine extreme Überreizung. Daher die Glanzleistungen und Kunststücke, die der Somnambule ohne sein Wissen vollführt« (ebd.). Auf diese Weise lässt sich individuelle Spontaneität und gesellschaftliche Bedingtheit zusammendenken. Und es lässt sich auch erklären, warum »die Menschen für ihre Knechtschaft [kämpfen], als ginge es um ihr Heil« (AÖ: 39). In seinen Grundzügen nimmt 286

TARDE UND DIE SOZIOLOGIE SOZIALER STRÖMUNGEN

der Begriff des sozialen Somnambulismus von Tarde bereits den Begriff der Mikrophysik der Macht von Foucault sowie den Begriff der Mikropolitik des Wunsches von Guattari vorweg.19 Diesen somnambulen Zustand nennt Tarde gelegentlich auch das »merkwürdige Gefühl der Aktualität« (Tarde 2015: 11), ein Gefühl, das grundlegend für das intensive Leben einer zunehmend vernetzten Gesellschaft ist. Damit stellt Tarde auch die Aktualität seiner eigenen Soziologie unter Beweis. So erklärt er, dass das Nachahmungsgeschehen als eine interzerebrale Kommunikation von Geist zu Geist in modernen Gesellschaften immer weniger auf körperlicher Nähe basiert. Diese Bedingung ist immer weniger erfüllt, wenn in unseren zivilisierten Gesellschaften Ströme von Meinungen auftreten. Nicht in Menschansammlungen auf öffentlichen Straßen und Plätzen fließen diese sozialen Ströme, entsteht dieser starke Sog, der noch das unbeirrbarste Herz, den kühlsten Kopf mitreißt und imstande ist, von Parlamenten oder Regierungen Gesetze oder Dekrete zu erwirken. Merkwürdig: Die Menschen, die derart einander mitreißen, suggestiv beeinflussen oder vielmehr die Suggestion von höherer Stelle weiterreichen, stehen nicht in Berührung miteinander, sehen oder hören sich nicht. Sie sitzen, über ein weiteres Gebiet verstreut, ein jeder für sich zu Hause und lesen dieselbe Zeitung. (Tarde 2015: 10 f.)

Es wäre demnach falsch, Tardes Soziologie auf eine Massentheorie wie jene von Gustave Le Bon zu reduzieren. Ganz im Gegenteil: Mit seiner auf interzerebralen Suggestionen basierenden Soziologie ansteckender Nachahmungswellen nimmt Tarde, so Sampson (2012; 2020), bereits die mediale Verfasstheit digitalisierter Gesellschaften vorweg.20 Tarde interessiert sich also weniger für Individuen (oder Kollektive), die von einer Nachahmungsströmung affiziert werden, sondern für das, was in dieser Strömung transportiert wird. Was in einer Nachahmungsströmung nachgeahmt wird, ist »immer eine Idee, ein Wille, ein Urteil oder eine Absicht, in denen sich eine gewisse Dosis Überzeugung und Begehren ausdrückt« (T|GN: 163). Überzeugung und Begehren sind zwei Begriffe, die, wie Didier Debaise (2008) erklärt, den Begriffen der 19 Was konkret unter Mikrophysik der Macht, Mikropolitik des Wunsches aber im weitesten Sinne auch unter einem sozialen Somnambulismus verstanden werden kann, hat Grégoire Chamayou (2019) mit seiner Genealogie des autoritären Liberalismus gezeigt. 20 In diesem Zusammenhang ist auch seine Theorie des »Publikums« (Tarde 2015: 10) hervorzuheben, mit dem Tarde bereits 1989 über den Klassenbegriff der industriellen Massengesellschaft hinausweist und damit schon das andenkt, was heute gemeinhin unter »Filterblasen« verstanden wird. Lazzarato (2013) bringt den Begriff des Publikums bei Tarde mit dem der Kontrollgesellschaft bei Deleuze in produktive Ver­ bindung.

287

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

Perzeption und Appetition nachempfunden sind, durch die Leibniz in seiner Monadologie die variierenden Besitzverhältnisse von Monaden konzipiert. Laut Latour (2010b) greift Tarde diese Begriffe nun folgendermaßen auf: Während das Begehren von einem Ding zum nächsten die Reichweite oder die Wirkungsmacht einer neuen Idee bestimmt, bestimmt die Überzeugung das Ausmaß, in dem es dieser gelingt, diese Dinge zu integrieren, zu ordnen und zu stabilisieren. Eine Idee, ein Wille, ein Urteil oder eine Absicht werden nachgeahmt und können sich insofern in ihrem Umfeld verbreiten, gerade weil sie ein gewisses Quantum an Überzeugung oder Begehren mobilisieren. Wenn sich etwas durch Nachahmung ausbreitet, dann von Individuum zu Individuum, von Punkt zu Punkt. Die Dynamik entfaltet sich also zwischen den Individuen, nicht in oder über ihnen. Deshalb ist die soziale Grundtatsache für Tarde auch nicht Gegenstand einer intra-zerebralen Psychologie, worunter er die Psychologie im herkömmlichen Sinne versteht, sondern einer »interzerebralen Psychologie, […], welche die Entstehung von bewußten Beziehungen zwischen mehreren, zunächst zwischen zwei Individuen studiert« (T|SG: 14 f.) und insofern als Soziologie im wahrsten Sinne des Wortes zu verstehen ist. Es ist also egal, welche besonderen Motive ein Individuum hat, eine bestimmte Idee nachzuahmen, solange die Idee für diese Motive anschlussfähig bleibt.21 Wichtig ist, dass eine Idee übernommen und weitergegeben wird. Individuen fungieren insofern als Überträger für hochansteckende Ideen. »Legt doch jede Handlung, die einer von uns begeht, den anderen, die sie bezeugen, die mehr oder weniger unbedachte Idee nahe, sie nachzuahmen.« (ebd.: 100) Und daran sieht man auch, warum eine Nachahmung ansteckend ist: Wer etwas nachmacht, macht gleichzeitig auch etwas vor. Wer sich ansteckt, ist auch ansteckend.22 Von Individuum zu Individuum mobilisieren zirkulierende Ideen damit Überzeugungen oder Begehren in einer zunehmend umfassenderen und intensiveren Bewegung. Es entsteht daraus »ein homogener und ununterbrochener Strom, der unter der Färbung der jedem Individuum eigenen Art der Affektivität bald geteilt und 21 Beispielsweise »bleibt auch ein Feldzugsplan, den ein grämlicher, melancholischer Feldherr anderen Feldherrn von lebhaftem und sanguinischem oder von phlegmatischem und resigniertem Temperament eingibt, ganz genau der gleiche. Dazu genügt einmal, daß er sich auf die gleiche Reihe von Operationen bezieht, und dann, daß er von ihnen mit der gleichen Intensität gewollt wird, ungeachtet der ganz speziellen und individuellen Art des Gefühls, das jeden zu dem Wunsche treibt.« (T|SG: 17) 22 In diesem Sinne ist Howaldt, Kopp und Schwarz (2015) auch zuzustimmen, wenn sie die Anschlussfähigkeit von Tardes Nachahmungssoziologie für zeitgenössische Praxistheorien unterstreichen. Als verkörpertes (oder zur Schau getragenes) Vollzugswissen verfügen soziale Praktiken über eine ungeheure Suggestionskraft.

288

TARDE UND DIE SOZIOLOGIE SOZIALER STRÖMUNGEN

verstreut, bald konzentriert, sich immer gleich bleibend zirkuliert, und der unverändert von einer Person zur anderen oder von einer Perzeption zur anderen in einer jeden von ihnen übergeht« (T|SG: 17). Daraus ergibt sich für Tarde auch ein dezidiert »epidemiologisches Verständnis des Sozialen« (Opitz 2015: 129). Was zählt, ist die Intensität, mit der eine gesellschaftliche Neuerung Überzeugungen und Begehren – quer durch die Überträger dieser Neuerung hindurch – mobilisieren und variieren kann. Aus diesem Grund verweist der Begriff der Nachahmung weniger auf eine individuelle Handlung und vielmehr auf so etwas wie präindividuelle Wellen, die in differentiellen Beziehungen, in Verhältnissen von Ruhe und Bewegung, aufeinander verweisen. Gegenstand der Soziologie von Tarde sind also »nicht Menschen, sondern Innovationen, Veränderungsquanten mit einem Eigenleben« (Latour 2010a: 35) und einer entsprechenden gesellschaftlichen Dynamik. Das damit einhergehende Affektionsgeschehen muss Tarde zufolge nun aber auch deshalb in den Mittelpunkt der soziologischen Betrachtung rücken, weil es als homogene Strömung quantifiziert werden kann. So erklären Deleuze und Guattari: Überzeugungen und Begehren sind Grundlage jeder Gesellschaft, weil sie Strömungen sind, die als solche »quantifiziert« werden können, wahrhaftige gesellschaftliche Quantitäten, während Empfindungen qualitativ und Vorstellungen schlichte Resultanten sind. Die infinitesimale Nachahmung, die winzig kleinen Gegensätze und die geringsten Erfindungen sind so etwas wie Strömungsquanten, die eine Verbreitung, Binarisierung oder Vereinigung von Überzeugungen und Begehren anzeigen. Daher die Bedeutung der Statistik, vorausgesetzt, sie beschäftigt sich mit Grenzbereichen und nicht nur mit dem »unveränderlichen« Bereich von Vorstellungen. (TP: 298 f.)

Während individuelle oder kollektive Repräsentationen gleichermaßen molare Einheiten oder »festgelegte Segmente definieren, sind Überzeugungen und Begehren Strömungen, die durch Quanten gekennzeichnet werden, die erschaffen, ausgeschöpft oder umgewandelt werden und die hinzugefügt, abgezogen oder kombiniert werden« (ebd.: 299) und gerade aufgrund dieser gesellschaftlichen Arithmetik auch eine echte Wissenschaft des Sozialen begründen. Von daher auch die »große Sympathie« (Balke 2009: 154), die Tarde, der unter anderem auch Leiter der Gerichtsstatistik im Pariser Justizministerium war, für die Übersetzung von Nachahmungsströmungen in statistische Kurven hegte. Die Aufgabe der soziologischen Statistik besteht dann darin, »die besonderen Überzeugungen und Begehren zu messen und die direktesten Verfahren anzuwenden, um diese so schwer zu gewinnenden Zahlenmengen so scharf wie möglich zu umreißen« (T|GN: 130). Daraus ergeben sich dann variierende Kurven, die entweder »zu- oder abnehmen, je nachdem, ob eine 289

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

helfende oder feindliche, bestätigende oder widersprechende neue Erfindung auftaucht« (ebd.: 136) und ein gegebenes Plateau entweder aus dem Gleichgewicht bringt oder stabilisiert.23 Wenn es aber stimmt, dass eine jede soziale Neuerung – »ein Dogma, eine Redensart, ein wissenschaftliches Prinzip, eine Sitte, ein Gebet, ein industrielles Verfahren« (T|SG: 68) – danach strebt, sich durch nachahmende Wiederholung auszubreiten, dann ist klar, dass die daraus resultierenden Nachahmungsstrahlen sich auf vielfältige Weise kreuzen werden. Das gesamte gesellschaftliche Leben besteht nach Tardes »aus einer wirren Kreuzung solcher Strahlungen« (ebd.: 51), ganz egal, ob es sich um Strahlungen handelt, die sich in Bezug auf ihre Quellen (Wissenschaft, Politik, Recht, Kultur etc.) wesentlich voneinander unterscheiden. Das heißt, es gibt Interferenzen zwischen Nachahmungsstrahlen, -wellen oder -strömungen wie es auch Interferenzen zwischen physikalischen Wellen oder genetischen Abstammungslinien gibt. Und ebenso wie bei diesen kann auch im sozialen Leben zwischen destruktiven und konstruktiven Interferenzen unterschieden werden. Im Falle destruktiver Interferenzen handelt es sich um mindestens zwei Strömungen, die sich gegenseitig behindern oder auflösen und in diesem 23 Diese Kurven sind aber »nur eine Notlösung. Denn allein eine psychologische Statistik, die namentlich die individuelle Zu- und Abnahme der von einem Erneuerer ursprünglich hervorgebrachten Überzeugungen und Bedürfnisse festhielte, sofern dies denn praktisch möglich wäre, lieferte die tieferen Ursachen für die von der gewöhnlichen Statistik erbrachten Zahlen.« (T|GN: 125) Praktisch möglich ist diese Statistik erst heutzutage. Tarde hat seinerzeit aber bereits davon geträumt: »Wenn die Statistik den Fortschritt der letzten Jahre weiterführt und sich die Informationen, die sie uns liefert, weiterhin verbessern, beschleunigen, regulieren und vermehren, könnte der Moment kommen, in dem aus jeder sozialen Tatsache, noch während sie stattfindet, sozusagen automatisch eine Zahl zum Vorschein kommt, die sofort ihren Platz in den von der Tagespresse öffentlich gemachten Registern der Statistik einnimmt« (ebd.: 152). Tardes Soziologie ist auf eine Statistik zugeschnitten, die es zu seiner Zeit noch nicht gab (vgl. Freitas 2016). Ein soziales Medium wie Twitter würde Tarde sicherlich große Freude bereiten. Dagegen konnte man Durkheims kollektive Repräsentation mit den damals vorhandenen Mitteln aber einfach mit rudimentären Mittelwerten darstellen. Ein Grund, warum Tarde gegen Durkheim verloren hat, besteht Latour zufolge auch darin, dass Tarde seiner Zeit voraus war, also eine Soziologie entworfen hat, deren technische Mittel erst heute verfügbar sind. »In an unfair twist, it has been those who had only rudimentary tools, who have appeared more scientific than the one who was envisioning a much more refined and accurate type of data. Digital navigation through point-to-point datascapes might, a century later, vindicate Tarde’s insights« (Latour 2010b: 161).

290

TARDE UND DIE SOZIOLOGIE SOZIALER STRÖMUNGEN

Sinne in Opposition zueinander geraten. Daraus zieht Tarde nun aber den Schluss, dass eine Opposition, obgleich sie gewöhnlich »als ein Maximum von Verschiedenheit aufgefasst« (T|SG: 44 f.) wird, im Grunde nichts anderes ist als die polarisierende Verallgemeinerung einer Mannigfaltigkeit interferierender Strömungen. Gerade diesen Umstand betont Deleuze auch ausdrücklich, wenn er an Tarde anknüpfend schreibt, dass Oppositionen, »alles andere als autonom, als ein Maximum an Differenz, […] nur summarische Resultate oder vereinfachte und vergröberte Prozesse sind« (DW: 259). Vor diesem Hintergrund fordert Deleuze, dass die nachahmende und zugleich erfinderische Wiederholung »nach Tarde in allen Gebieten den Gegensatz ablösen« (ebd.: 45) soll. Nicht ohne Grund betont Alliez (2009), dass die Kritik, die Tarde an Hegel und »seinen hochtrabenden Generalisationen« (T|SG: 41) richtet, von zentraler Bedeutung für sein Denken ist. Denn obgleich sich diese Kritik ihrem Umfang nach auch in Grenzen hält, so verweist sie doch auf die Grundzüge seiner eigenen Philosophie der Differenz. Dagegen war etwa seine Polemik gegen die Durkheimsche Soziologie von Anfang in einem begrifflichen Rahmen (z.B. der Gegensatz zwischen Individuellem und Kollektivem) gefangen, der von Durkheim und seinen Schülern an ihn herangetragen wurde – weshalb Tarde auch zwangsläufig »von vornherein die Fehlinterpretationen kritisierte, deren Opfer« (TP: 299) seine Soziologie werden sollte. Das soll nun aber nicht bedeuten, dass Tarde den Begriff des Gegensatzes vollkommen verwirft. Denn obwohl er (1999b) daran festhält, große gesellschaftliche Oppositionen nur als summarische Resultate, als molare Repräsentationen eines molekularen Interferenzgeschehens oder, um mit Deleuze zu sprechen, als groben Zuschnitt einer feingesponnenen Umgebung von sich wechselseitig durchdringender Perspektiven zu begreifen – so weist Tarde doch darauf hin, dass in diesem Interferenzgeschehen gewisse Oppositionen sehr wohl eine Rolle spielen. Dabei handelt es sich nun aber um infinitesimale Oppositionen, die, sich der repräsentationslogischen Reduktion auf das Negative entziehend, eher auf außergewöhnliche Momente des Zweifels, des Zögerns oder der inneren Unruhe verweisen, also auf inkommensurable Differenzen, die sich durch eine wiederholende Nachahmung ansteckend in einer Gesellschaft verbreiten, und eben nicht auf eine pauschale Abgrenzung in der Allgemeinheit eines Begriffs reduziert werden können. Als kontingente Interferenzen zwischen zwei oder mehreren Strömungen markieren diese nämlich keine Gegensätze, sondern fundamentale Begegnungen, die sich dem Denken – eines Individuums oder eines Kollektivs – gewaltsam aufzwingen, die es nötigen, etwas in Frage zu stellen, die folglich das heraufbeschwören, was wir weiter oben mit Proust bereits als das Abenteuer des Unwillkürlichen bezeichnet haben – jenen Imperativ, der das Denken auf sich selbst verweist und so dafür sorgt, 291

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

dass dieses, in Anbetracht seiner eigenen Ohnmacht, aktiv wird und etwas Neues schafft.24 Aus diesem Grund besteht die Rolle des (infinitesimalen) Gegensatzes vor allem darin, »daß er eine Anspannung der entgegenwirkenden Kräfte erzeugt, die geeignet ist, Erfindungen ins Leben zu rufen« (T|SG: 69). Was Tarde als Neuerung oder Erfindung bezeichnet, ist also gerade das, was, ähnlich dem Begriff der Transduktion bei Gilbert Simondon, eine problematische Spannung in einer neuen Dimension zur Auflösung bringt.25 Das heißt, »der Mensch erfindet nicht zum Spaß, sondern aus einer empfundenen Notwendigkeit heraus« (ebd.: 113), die sich ihm primär in der Begegnung mit einem universellen Außen stellt, einem »dehors universel« (Tarde 2003: 80), dem er sich zu stellen hat, um den Rahmen oder die Ebene vorzubereitet (die Problematik), auf der etwas Neues entstehen kann. Eine soziale Neuerung hat ihren Ursprung somit auch nicht in einem Individuum, das diese ex nihilo hervorbringt, nicht in einem Täter, der, wie Nietzsche sagen würde, zum erfinderischen Tun hinzugedichtet wird, sondern in einer fundamentalen Begegnung, einer problematischen Kreuzung zwischen heterogenen Strömungen, die zunächst nur im Gehirn eines Individuums oder, um genauer zu sein, in einer »Zelle dieses Gehirns« (T|SG: 104), als imperativisches Element aufsteigt und die Erfindungsebene vorbereitet. Und nicht nur das: Die Erfindung selbst, die daraus lösend hervorgeht, ist ihrerseits ebenfalls nichts anderes »als das besondere Zusammentreffen von unterschiedlichen Nachahmungen in einem […] Gehirn« (T|GN: 112 f.), also die konstruktive Interferenz 24 In diesem Sinne hält Tarde auch fest, »daß alle Zweifel, alle Unschlüssigkeiten, unter denen der einsamste, in dem wildesten der Stämme geborene Mensch leidet, ihren Grund entweder in der Begegnung zweier Beispielsstrahlen haben, die sich in seinem Gehirn gekreuzt haben, oder in der Kreuzung eines solchen mit einer Sinneswahrnehmung.« (T|SG: 50) Und genau diese Unschlüssigkeit (hésitation), »die sich im Leben eines Volkes jeden Augenblick in Millionen von Malen reproduziert, ist der unendlich kleine und unendlich fruchtbare Gegensatz der Geschichte; er führt in der Soziologie eine ruhige und tiefe Umwälzung herbei.« (ebd.: 42) 25 Auf die Gemeinsamkeiten von Simondon und Tarde, vor allem im Hinblick auf den Begriff der Erfindung, verweist Combes (2013). Simondon selbst definiert den Begriff der Transduktion im Bereich des Wissens folgendermaßen als Erfindung: »La transduction peut être une opération vital; elle exprime en particulier le sens de l’individuation organique; elle peut être opération psychique et procédé logique effectif, bien qu’elle ne soit nullement limitée à la pensée logique. Dans le domaine du savoir, elle définit la véritable démarche de l’invention, qui n’est ni inductive ni déductive, mais transductive, c’est-à-dire qui correspond à une découverte des dimensions selon lesquelles une problématique peut être définie; elle est l’opération analogique en ce qu’elle a de valide.« (Simondon 1964: 33)

292

TARDE UND DIE SOZIOLOGIE SOZIALER STRÖMUNGEN

von heterogenen Strömungen »in einem ganz bestimmten Winkel dieses Gehirns« (T|MS: 27), in einem singulären Punkt. Wenn, wie ­Deleuze und Guattari schreiben, die Nachahmung also »die Ausbreitung einer Strömung« und der Gegensatz »die Binarisierung von Strömungen« ist, dann ist die Erfindung ihrerseits »eine Vereinigung oder Verbindung von unterschiedlichen Strömungen« (TP: 298) auf einer neuen Ebene. Vor diesem Hintergrund warnt Tarde, mögliche Einwände gegenüber seinem Begriff der Erfindung vorwegnehmend, auch ausdrücklich vor einem »platten Individualismus, der die gesellschaftlichen Veränderungen mit der Laune einiger großer Männer erklärt« (T|GN: 26).26 So hat man Tarde zufolge auch fälschlicherweise von großen Männern gesprochen, »wo man von großen Ideen hätte sprechen sollen, welche oft in sehr unbedeutenden Menschen aufgestiegen sind« (T|SG: 96), von Ideen, »auf die schwer oder leicht zu kommen war und zum Zeitpunkt ihres Entstehens nicht wahrgenommen werden, die also für gewöhnlich fast ausschließlich ruhm- und namenlos erscheinen« (T|GN: 26), die darum aber, ähnlich den kleinen disziplinartechnologischen Neuerungen in Foucaults Überwachen und Strafen, nicht weniger wirkmächtig sind. Gegenstand von Tardes Mikrosoziologie sind, wie Deleuze bemerkt, »weder die großen Gesamtheiten noch die großen Männer, sondern die kleinen Ideen der kleinen Leute, das Abzeichnen eines Schriftstücks durch einen Beamten, ein neuer lokaler Brauch, eine linguistische Abweichung, die Verbreitung einer verdrehten Sicht« (FO: 104) – ganz unscheinbare Neuerungen also, deren »Größe« sich an der Macht bemisst, mit der sie ihr Milieu erobern, um es auf einer molekularen Ebene nachhaltig zu verändern.27 Auch deshalb ist Deleuze und Guattari zufolge Tarde gerade dann »am besten, wenn er zum Beispiel eine winzige bürokratische oder sprachliche Neuerung untersucht« (TP. 298), wenn er also »eine Materie unterhalb der Vorstellung« (ebd.), molekulare Elemente unterhalb der molaren Repräsentationen anspricht 26 Tarde selbst gesteht ein, dass sein Begriff der Erfindung (wie auch jener der Nachahmung) weit erfolgreicher gewesen wäre, hätte er hierfür »einen Neologismus aus dem Griechischen« (T|GN: 11) verwendet. Ob es sich nun aber um Erfindungen, Neuerungen, Entdeckungen oder Innovationen handelt, immer sind damit Ereignisse gemeint, die etwas Neues in »sozialen Phänomenen wie Sprache, Religion, Politik, Recht, Industrie oder Kunst« (ebd.: 26) zum Vorschein bringen. 27 In ihrer Innovationssoziologie erklären Akrich, Callon und Latour ganz im Sinne von Tarde: »An innovation in the making reveals a multiplicity of heterogeneous and often confused decisions made by a large number of different and often conflicting groups, decisions which one is unable to decide a priori as to whether they will be crucial or not« (Akrich/Callon/Latour 2002: 191). Dabei kann es auch vorkommen, dass »amongst all of these decisions, those which appear secondary at the moment they are made may later transpire to be as crucial as those thought to be strategic« (ebd.: 193).

293

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

und wie Nietzsche davon ausgeht, dass es »hinter den lauten Ereignissen die kleinen stillen Ereignisse gibt, die gleichsam die Herausbildung neuer Welten« (EI: 189) inaugurieren.28 Was eine »große« Erfindung auszeichnet, ist der Umstand, dass sie, ganz egal, wie klein, unbedeutend oder unscheinbar sie zunächst auch sein mag, mit ihrer Genese direkt oder indirekt eine Reihe neuer Möglichkeiten schafft, Möglichkeiten, die ex ante noch undenkbar waren. Als aktive Kräfte einer Gesellschaft sind sie deshalb stets unzeitgemäß, wirken gegen die Zeit und zugunsten einer kommenden Zeit. Jede Erfindung, die entsteht, ist ein realisiertes Mögliches von Tausenden möglichen oder vielmehr unter gegebenen Bedingungen notwendigen Erfindungen, die die Muttererfindung, aus der jene Erfindung kommt, in ihrem Schoß trägt. Durch ihr Erscheinen macht sie den Großteil der möglichen Erfindungen unmöglich, dafür jedoch eine Vielzahl anderer Erfindungen möglich, die bis dahin nicht möglich waren. (T|GN: 67)

Weil sie einige Erfindungen unmöglich machen, gleichzeitig aber auch dafür sorgen, dass die Möglichkeit neuer Erfindungen geschaffen wird, zeichnen sich erfolgreiche Erfindungen dadurch aus, dass sie den Raum des Möglichen differenzieren und damit einen geistigen Raum schaffen, in welchem sich neue Verbindungen anbahnen. Weil sie neue Möglichkeiten schaffen und nicht einfach bestehende Möglichkeiten realisieren, entziehen sich Erfindungen im Sinne von Tarde auch der Kritik am Begriff des Möglichen, wie sie bei Bergson zu finden ist. 28 Deleuze betont in einem seiner Seminare (1986a) ausdrücklich die große Nähe zwischen Foucault und Tarde. »Or, là, je crois – je veux pas dire du tout qu’il y ait eu influence – qu’il y a souvent chez Foucault un véritable ton ›Tardien‹.« In Überwachen und Strafen zeigt Foucault etwa, wie kleine, oft unscheinbare disziplinartechnologische Erfindungen sich »gegenseitig gestützt und am leichtesten verallgemeinert haben« (T|ÜS: 177). Zwar wäre es nach Foucault »ungerecht, die Disziplinarprozeduren solchen Erfindungen wie der Dampfmaschine oder dem Mikroskop von Amici gegenüberzustellen. Sie sind viel weniger; in gewisser Weise sind sie allerdings viel mehr.« (T|ÜS: 288) Ihre Bedeutung wird nämlich darauf zurückgeführt, dass sie es waren, die »eine bestimmte politische und detaillierte Besetzung des Körpers, eine neue ›Mikrophysik‹ der Macht« (ebd.: 177) durchgesetzt haben. Die Art und Weise, in der Foucault diesen Sachverhalt dabei schildert, erinnert stark an Tarde. So wird erklärt, dass diese kleinen Erfindungen seit dem 17. Jahrhundert nicht aufgehört haben »immer weitere Gebiete zu erobern – so als wollten sie den gesamten Gesellschaftskörper einnehmen. Kleine Hinterlistigkeiten von großer Verbreitungsmacht; subtile Maßnahmen von scheinbarer Unschuld, aber tiefem Mißtrauen; Einrichtungen, die uneingestehlichen Ökonomien gehorchen oder Zwänge ohne Größe ausüben – sie sind es, welche die Mutation des Strafwesens an der Schwelle zur Moderne durchgesetzt haben.« (ebd.: 177)

294

TARDE UND DIE SOZIOLOGIE SOZIALER STRÖMUNGEN

Indem eine Erfindung durch Nachahmung wiederholt wird, strömt oder strahlt diese nicht nur aus, um sich in ihrem Milieu zu konsolidieren, sie begegnet dabei auch den Nachahmungsstrahlen anderer, alter oder neuer Erfindungen. Dabei »kann sie entweder neue Kämpfe hervorrufen, oder sie erzeugt, direkt oder indirekt durch ihre Kämpfe, neue kompliziertere Erfindungen, die dann ihrerseits wieder Nachahmungsstrahlen aussenden und so fort bis ins Unendliche« (T|SG: 68). Denn obgleich eine Erfindung stets die Antwort auf eine Frage ist, sorgt die Tendenz, sich in ihrem Milieu zu wiederholen, auch dafür, dass neue Fragen aufkommen, die ihrerseits wieder neue Antworten und folglich neue Erfindungen notwendig werden lassen, in denen die initiierende Erfindung sich verändert und von sich selbst differiert. Was sich wiederholt, ist also nicht nur eine fertige Erfindung, sondern vor allem auch die Frage, auf welche diese antwortet, eine Differenz, die in ihren Antworten insistiert und somit dafür sorgt, dass die Bereiche, in die eine Erfindung vordringt, grundlegend problematisiert werden – womit sie die Bedingungen ihrer Diffusion fortlaufend selbst erzeugt. Durch »die außerordentliche Macht der Wiederholung« (DW: 257) kann selbst die kleinste Erfindung die absolute Notwendigkeit vieler weiterer Erfindungen ins Leben rufen. »Erfindungen sind also weit davon entfernt, die einfache Wirkung der sozialen Notwendigkeiten zu sein, sie sind vielmehr ihr Grund« (T|GN: 114). Erfindungen antworten nicht nur auf soziale Notwendigkeiten, sie rufen diese Notwendigkeiten, also das, was einer Gesellschaft tatsächlich zu denken gibt, auch direkt oder indirekt ins Leben. Indem sie eine Linie des Außen ziehen, sind sie »zugleich Außersein und Insistenz« (LS: 41), besitzen folglich die »Realität einer zu erfüllenden Aufgabe, […] eines zu lösenden Problems« (DW: 269), welches mitunter eine ganze Reihe weiterer Erfindungen notwendig macht. Beispielsweise »irgendeine philosophische, wissenschaftliche, juridische, ästhetische Erfindung, die mit einem Schlage unzählige Diskussionen beendet, später allerdings neue hervorrufen kann« (T|SG: 69), die ihrerseits wiederum neue Erfindungen vorbereiten, neue Dimensionen, in denen eine Problematik variiert. Es kommt folglich darauf an, sie als heterogene Prozesse zu denken, Erfindungen, wie Tarde betont, »in ihren mannigfaltigen Modifikationen und Verkleidungen zu folgen« (T|GN: 121). Vor diesem Hintergrund erklärt Bruno Latour auch, dass seine Akteur-Netzwerk-Theorie gerade in Tarde einen ihrer wichtigsten »Vorfahren« (Latour 2001a: 361) hat.29 Im Unterschied zu Hegel liegt das oberste Gesetz dieser Bewegung damit »nicht in der Negation – und noch weniger in der Negation der 29 So erklärt Latour: »To follow those rays (or ›actor-networks‹ if you feel more comfortable with some updated vocabulary) is to encounter, depen­ ding on the moment, individual innovations and then aggregates, followed afterwards by more individual innovations.« (Latour 2010b: 153) Den

295

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

Negation –, sondern in der Invention, der Erfindung, die, sobald sie einmal wiederholt worden ist, unzählige Kämpfe auslöst, aus denen man nur durch andere Erfindungen herausfindet« (Latour/Lépinay 2010: 51) – und so weiter und so fort. Der Wiederholung kommt dabei eine besondere Funktion zu. Denn zum einen ist sie es, die in ihrer Macht, ihr Umfeld zu erobern, auch überall infinitesimale Oppositionen (oder Diskussionen) erzeugt, die ihrerseits, selbst wenn sie zufällig zustande kommen, die Notwendigkeit neuer Erfindungen heraufbeschwören (destruktive Interferenz); zum anderen ist auch sie es, die dafür sorgt, dass Erfindungen sich durch Nachahmung grenzüberschreitend ausbreiten, dabei mit Erfindungen aus völlig anderen Bereichen zusammentreffen und sich mit diesen in gänzlich neuen Erfindungen verbinden (konstruktive Interferenz). Eine Erfindung mag zunächst zwar eine festlegebare Quelle haben, ihre Diffusion involviert, da sie transversal zu allen gesellschaftlichen Bereichen verläuft, aber immer eine wachsende Mannigfaltigkeit heterogener Dimensionen.30 Die Erfindung der Presse darf nach Tarde beispielsweise nicht nur als publizistische oder kommunikationstechnologische Neuerung verstanden werden. Sie steht auch für eine epochale soziale Innovation, der Idee der Öffentlichkeit, die ihrerseits von einer Reihe technischer Neuerungen im Druckverfahren abhängt, und weiter eine Reihe tiefgreifender politischer Innovationen nach sich zieht: die Entstehung des modernen Parlamentarismus, die Erfindung des Zusammenhang zwischen Latour, Deleuze und Guattari thematisiert dagegen Roar Høstaker (2014). 30 Eine Innovation setzt sich weniger im Sinne des klassischen, stark kommunikationswissenschaftlich geprägten Diffusionsmodells durch (Rogers 2003). Das heißt, eine Erfindung ist nicht eine Botschaft, die, von einem absendenden Erfinder einmal fertig ausgesprochen, eine Gesellschaft wie ein Medium durchquert, um schließlich von Adoptoren empfangen zu werden. Es handelt sich vielmehr um das, was Latour als »Übersetzungsmodell« (Latour 2006: 198) bezeichnet: Darin geht es weniger darum, wie eine fertige Neuerung (oder Botschaft) von A nach B gelangt, sondern, wie diese, um überhaupt übertragen zu werden, fortlaufend transformiert, d.h. in heterogene Realitäten übersetzt werden muss. In diesem Sinne betonen Deleuze und Guattari ganz im Sinne von Tarde, dass das Problem der Diffusion falsch verstanden wird, »solange man ein Zentrum voraussetzt, von dem die Verbreitung ausgeht. Nur durch die Kommunikation von Potentialen ganz unterschiedlicher Art kommt es zu einer Verbreitung. Jede Verbreitung findet im Dazwischen statt, durch das Dazwischen, wie alles, was wie ein Rhizom ›wächst‹.« (TP: 603) Eine Diffusion wird durch ihren Verlauf oder ihre Trajektorie, durch ihre Begegnungen, ihre Interferenzen oder Divergenzen und die entsprechende Resonanz von Potentialen bestimmt, und nicht durch ihren vermeintlichen Ursprung. Was zählt, sind weder Anfangs- noch Endpunkt, sondern das, was Dazwischen passiert: die Kreuzungen heterogener Linien.

296

TARDE UND DIE SOZIOLOGIE SOZIALER STRÖMUNGEN

repräsentativ-demokratischen Mehrheitsdenkens sowie die historische Transformation der Souveränität (Tarde 2015: 70 ff.). Wie Deleuze bemerkt, ist für Tarde die Differenz damit »zugleich der Ursprung und das Ziel der Wiederholung, und zwar in einer zunehmend ›mächtigen und erfinderischen‹ Bewegung« (DW: 45), einer Bewegung, in der destruktive und konstruktive Interferenzen in einem dezentrierten Kreis dauernd ineinander übergehen. In ihrem Durchgang durch die Differenz ist die Wiederholung im Sinne von Tarde ein mannigfaltiger und konnektiver Prozess, der viel wirkmächtiger ist als jener der Antithese und somit auch viel besser geeignet ist, einen Gegenstand grundlegend zu erneuern. Darüber hinaus muss auf ein zentrales Paradoxon von Innovationen hingewiesen werden. Dieses Paradoxon besteht darin, dass Neuerungen, indem sie sich ausbreiten, rivalisierende Erfindungen und Entdeckungen eliminieren oder zur Anpassung zwingen und damit ihr Umfeld transformativ homogenisieren, durch diese Homogenisierung aber gleichzeitig auch den Boden für neue Erfindungen und Innovationen schaffen. Beispielsweise bewirkt die Verbreitung einer Standardsprache zwar den Verlust dialektaler Akzente, Intonationen, Stimmfarben und Gesten, schafft aber gerade aufgrund dieser homogenisierenden Vereinheitlichung auch den Boden, auf dem (z.B. aufgrund der größeren Reichweite von Texten) völlig neue dichterische Strömungen entstehen können, die ihrerseits die Sprachgemeinschaft durch neue sprachliche Harmonien bereichern und in sich diversifizieren. Es muss also zwischen zwei Tendenzen unterschieden werden, zwei Tendenzen, die simultan am Werk sind und fortlaufend ineinander übergehen: »der nachahmenden, gleichförmig machenden, und der erfinderischen, systematisierenden« (T|SG: 87) Tendenz. Die Soziologie muss diesen Unterschied, diese Spannung zwischen gleichmachenden Prozessen, die Variation minimieren und andersmachenden Prozessen, die Variation maximieren, in jedem einzelnen Phänomen berücksichtigen. Eine Erfindung tendiert demnach nicht nur dazu, ihr Milieu durch Nachahmung vollkommen einzunehmen. Sie tendiert auch dazu, im Verlauf ihrer Ausbreitung anderen Erfindungen zu begegnen, sich mit diesen in neuen Erfindungen logisch zu verbinden, damit neue Harmonien zu schaffen, die ihrerseits, indem sie sich wiederholen und ausbreiten, wiederum anderen Erfindungen oder Harmonien begegnen, und zwar so lange, bis daß durch allmähliche Komplikationen und Harmonisierungen von Harmonien jene Gesamtwerke des menschlichen Geistes entstehen, als eine Grammatik, eine Theologie, eine Enzyklopädie, ein Rechtskodex, eine natürliche oder künstliche Organisation der Arbeit, eine Ästhetik, eine Moral. (T|SG: 104)

297

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

Gesellschaftliche Formen (bzw. Harmonien) werden also nicht auf eine übergeordnete Transzendenz- oder Analogieebene verwiesen, sondern als stets kontingente »Ordnungsmuster von Strömen« (Seyfert 2018: 378) auf einer Immanenzebene verortet. Soziale Ordnung muss insofern als das komplizierte Interferenzmuster von mehr oder weniger wirkmächtig ausströmenden Erfindungen begriffen werden. Um im Gegensatz zu Durkheim darauf hinzuweisen, dass gesellschaftliche Formen nicht einfach makrosoziale Tatsachen sind, die, einem irreführenden Dualismus folgend, mikrosozialen Variationen gegenüberzustellen sind, betont ­Tarde, dass, gerade weil »die Wiederholung die kleinen Variationen summiert und integriert« (DW: 108), es sich bei diesen Formen um »das Integral zahlloser Differenzierungen oder individueller Variationen« (T|MS: 23) handelt. Ähnlich der allgemeinen Kraftlinie, die nach Deleuze bei Foucault heterogene Singularitäten nach und nach in lokalen Integrationen verknüpft, aneinanderreiht und homogenisiert, um sie schließlich in gesellschaftlichen Institutionen wie dem Staat, der Familie oder dem Markt als globale Integration zum Ausdruck zu bringen, geht auch Tarde davon aus, dass gesellschaftliche Institutionen oder Gesamtheiten allmählich durch die fortlaufende Integration heterogener Singularitäten gebildet oder umgebildet werden. Dabei ist aber hinzuzufügen, dass diese Singularitäten oder problematischen Ereignisse, im Unterschied zu Foucault, bei Tarde nicht unbedingt Brandherde der Macht, sondern primär infinitesimale Augenblicke der Schöpfung oder, wie wir gleich sehen werden: Fluchtlinien markieren, die sich durch eine molekulare Verschiebung von Quanten an Überzeugung und Begehren auszeichnen. Indem sie sich durch nachahmende Wiederholung verbreitet, sorgt also selbst die kleinste, unbedeutendste und unscheinbarste Neuerung dafür, dass heterogene Realitäten womöglich direkt oder indirekt harmonisiert, kompliziert oder assoziiert werden. Im Gegensatz zu Leibniz geht Tarde nicht mehr von einer vorherbestimmten Harmonie aus, er will vielmehr zeigen, dass eine jede Harmonie, ganz egal, ob diese nun in physikalischen, organischen oder gesellschaftlichen Realitäten beobachtet wird, auf elementare Neuerungen und ihre Verbindungen zurückzuführen ist.31 Gerade deshalb kommt diesen Neuerungen auch ein ontologisches Primat bei der »Mikrofundierung des Sozialen« (Howaldt/Kopp/ 31 In seiner Neomonadologie geht Tarde davon aus, dass ein Ding – ein Molekül, ein Lebewesen, eine gesellschaftliche Gruppe oder ein Sonnensystem – keine universelle Harmonie voraussetzt, sondern vielmehr aus einem singulären Harmonisierungsprozess hervorgeht, in welchem heterogene Elemente miteinander assoziiert werden. In diesem Sinne erklärt Tarde auch, »dass jedes Ding eine Gesellschaft ist« und dass alle Wissenschaften »dazu bestimmt, Zweige der Soziologie zu werden« (T|MS: 51). Im Anschluss an Tarde bezeichnet Latour mit dem Wort »Sozial« keine mysteriöse Substanz

298

TARDE UND DIE SOZIOLOGIE SOZIALER STRÖMUNGEN

Schwarz 2014: 27) zu. Zum Beispiel »ist die Arbeitsteilung in unseren Gesellschaften nichts anderes als die Assoziation […] der verschiedenen Arbeiten dank aufeinanderfolgender Erfindungen« (T|SG: 106) – und nicht die mysteriöse Ausdifferenzierung von Gesellschaften (Gesellschaft ist für Tarde nicht etwas, das ausdifferenziert wird). Es sind in erster Linie Erfindungen oder Innovationen, durch die neue Arbeitsaufgaben sowohl in sich spezifiziert als auch funktional aufeinander abgestimmt werden. Ebenso verdankt sich die Übereinkunft ökonomischer Interessen am Markt, wie Tarde in Psychologie économique (1902a) ausführt, nicht der unsichtbaren Hand von Adam Smith, sondern kann immer nur durch Kunstgriffe erreicht werden, Kunstgriffe, die durch kleine, meist unscheinbare Erfindungen zustande kommen. Die erfinderische Leistung eines Produzenten besteht nach Tarde etwa darin, ein Produkt zu schaffen, in dem Angebot und Nachfrage erfolgreich miteinander assoziiert werden. »Wenn zwischen Produzent und Konsument ein Austausch stattfinden soll, […], muß der Produzent zuerst zwei Ideen zugleich gehabt haben, diejenige eines Bedürfnisses des Konsumenten, […], und diejenige eines zu dessen Befriedigung geeigneten Mittels.« (T|SG: 84) Das Produkt muss nämlich nicht nur kostengünstig angeboten werden, es muss auch ein Bedürfnis geschaffen werden, das eine gewisse, minimale Nachfrage sicherstellt. In diesem Sinne muss der Produzent laut Tarde erst eine neue Assoziation zwischen Produktion und Konsumption erfinden.32 Anstatt den Markt als soziale Tatsache vorauszusetzen mehr, sondern die konkrete »Assoziation zwischen heterogenen Bestandteilen« (Latour 2010: 17). Als Wissenschaft des Sozialen wird die Soziologie damit auf »das Nachzeichnen von Assoziationen« (ebd.) oder, so könnte man an dieser Stelle anfügen, von Fluchtlinien verpflichtet. 32 Die Wirtschaftssoziologie von Tarde hat, indem sie dem Kapitalismus eine kreative Dynamik ins Programm schreibt, durchaus Ähnlichkeiten mit Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (2006). Im Unterschied zu Schumpeter und seiner Figur des genialen Unternehmers geht ­Tarde aber gerade nicht von »der Laune einiger großer Männer« (T|GN: 26) aus. Erfindungen oder Innovation sind niemals persönliche Leistungen, sondern vielmehr der anonyme Vernetzungsprozess infinitesimaler Variationen. »L’apparition du génie, a qui Tarde réserve, malgré ce que nous venons de dire, une place importante dans l’actualisation des inventions, doit elle-même être comprise à l’intérieur de cette dynamique de la multiplicité à la fois sociale et infinitésimale, pour ne pas être réduite à l’individualisme banal et vague des théories néoclassiques ou schumpetériennes de l’innovation. L’invention s’engendre par la ›collaboration naturelle ou accidentelle‹ de beaucoup de consciences en mouvement, c’est-à-dire qu’elle est l’œuvre, selon Tarde, d’une multiconscience. Tout s’opère primitivement par multiconscience et seulement par la suite l’invention peut se manifester à travers une uniconscience.« (Lazzarato 2002: 281)

299

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

und davon auszugehen, dass Angebot und Nachfrage sich »von selbst« finden, um das – im Hinblick auf ein bestimmtes Gut – stets singuläre Verhältnis zwischen beiden Seiten bloß abstrakt durch individuelle Interessen oder gegebene gesellschaftliche Normen zu erklären, betont Tarde nachdrücklich, dass ein jedes Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage immer erst durch (mindestens) eine Erfindung geschaffen werden muss. Das Große (in dem Fall ein Markt) wird primär durch das Kleine, d.h. durch elementare Innovationen erklärt und nicht als soziale Tatsache vorausgesetzt.33 Aber nicht nur im Bereich der Arbeitsteilung oder am Markt, sondern auch in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen, in denen eine gewisse Ordnung oder Organisation zu beobachten ist, muss die damit implizierte Assoziation zwischen den Menschen primär auf die »die Assoziation zwischen Ideen« (T|SG: 84) in einer Erfindung zurückgeführt werden (Latour/Lépinay 2010). Alle Arten von sozialen Beziehungen gehen insofern auf mindestens eine Erfindung oder Fluchtlinie zurück. Als Ideenharmonie ist die Erfindung damit »die Mutter aller Harmonien unter den Menschen« (T|SG: 84). Jede gesellschaftliche Institution – eine Arbeitsteilung, ein Markt, eine Kultur, eine Sprache, eine Organisation, eine Norm – beruht nach Tarde also auf einer oder mehreren Erfindungen und es sind genau diese Innovationen, die, gerade weil sie die Eigenschaften der betreffenden Institutionen determinieren, Gegenstand einer jeden Analyse sein müssen. Gesellschaft wird fortlaufend erfunden. Durch ihre mannigfaltigen Dimensionen schafft eine gesellschaftliche Erfindung neue Beziehungen, durch die sich Menschen in umfassenderen Zusammenhängen wirkmächtig assoziieren können und steht insofern für eine aktive Existenzweise, in der Neues im Sinne neuer Lebensmöglichkeiten kreiert wird.

7.3 Die Fluchtlinien der Gesellschaft Damit kommen wir auf die eingangs erwähnte Unterscheidung der beiden Mannigfaltigkeitstypen zurück. Fassen wir zusammen: Die molare Linie der Segmentarität oder die Linie der (Re-)Territorialisierung weist jene Richtung aus, »bei der die Bewegung dazu tendiert, in ihrem Ergebnis, ihrem Resultat, das sie unterbricht, zu erstarren« (EI: 30). Damit 33 Eine ähnliche Vorgehensweise schlägt auch Michel Callon (2021) vor, wenn er dem tradierten Marktbegriff den Begriff des Marktgefüges (market agencement) gegenüberstellt und damit das abstrakte Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage durch konkrete Singularisierungspraktiken ersetzt. Obwohl er als Großvater der ANT gilt, findet Tarde dabei aber überraschenderweise keine Erwähnung.

300

DIE FLUCHTLINIEN DER GESELLSCHAFT

sind folglich jene Prozesse einer Mannigfaltigkeit gemeint, die diese mittels binärer, zirkulärer oder linearer Segmentarisierung beschränken und fixieren. Dagegen weist die molekulare Fluchtlinie oder die Linie der (absoluten) Deterritorialisierung jene andere Richtung aus, »die kehrtmacht und in dem Ergebnis die Bewegung wiederfindet, aus der sie resultiert« (ebd.). Damit sind jene Prozesse einer Mannigfaltigkeit gemeint, die festgefahrene Segmente wieder aufbrechen und Veränderungsquanten strömen lassen, Prozesse also, die sich allen Beschränkungen und Fixierungen entziehen, gerade weil sie, ähnlich den infinitesimalen Neuerungen bei Tarde, ein absolutes Außen verlängern, das sich zwangsläufig allen Einordnungsversuchen entzieht. Und obwohl beide Linientypen trotz ihrer Wesensdifferenz einander immanent sind und sich insofern auch auf mannigfaltige Art und Weise wechselseitig voraussetzen, so kommt der molekularen Fluchtlinie dabei doch ein grundlegender Vorrang zu, der nun näher beleuchtet werden soll. In einem Interview mit Antonio Negri erklärt Deleuze, dass alles, was er in Tausend Plateaus gemeinsam mit Guattari geschrieben hat, grundsätzlich auf »drei Hauptrichtungen« (U: 246) hinausläuft, von denen die erste und vielleicht wichtigste darin besteht, dass eine Gesellschaft primär nicht durch ihre Widersprüche, sondern durch ihre Fluchtlinien zu definieren ist. Es heißt zu unrecht (vor allem im Marxismus), daß eine Gesellschaft durch ihre Widersprüche definiert wird. Das stimmt nur im großen und ganzen. Aus der Sicht der Mikropolitik wird eine Gesellschaft durch ihre Fluchtlinien definiert, die molekular sind. Immer fließt oder flüchtet etwas, das den binären Organisationen entflieht, dem Resonanzapparat, der Übercodierungsmaschine entgeht – was man mit einem »Sittenwandel« erklärt, Jugendliche, Frauen, Verrückte etc. (TP: 294 f.)

Gesellschaftliche Widersprüche existieren Deleuze und Guattari zufolge nur als summarische Allgemeinbegriffe in molaren Repräsentationen, entsprechen, um mit Nietzsche zu sprechen, immer reaktiven Sichtweisen, existieren also als operative Fiktionen. Damit verdecken sie aber »einen Pluralismus von freien, wilden oder ungezähmten Differenzen« (DW: 77), ein unübersichtliches Gewirr von ineinander verschränkten Gesichtspunkten, das ihnen als irreduzibles Kräftegeschehen genetisch vorausgeht. Selbst Tarde weist darauf hin, dass der Grund der Dinge nicht so arm ist, wie man für gewöhnlich annimmt, dass im Untergrund, unter den groben Verallgemeinerungen und übereilten Polarisierungen, immer eine vulkanische »Flut revolutionärer Unterschiede« nur darauf wartet, sich »ihrer mannigfaltigen Unterjochung« (T|MS: 80) zu entledigen, um die Form, die ihnen aufgezwungen wurde, radikal zu verwandeln. Die Vorstellung, wonach »der Untergrund ohne Differenz sei, während er doch davon wimmelt, ist die äußerste Illusion« 301

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

(DW: 346) eines dogmatischen Denkens, das in seiner Unfähigkeit, die Differenz fernab ihrer allgemeinbegrifflichen Einordnung zu denken, der vierfachen Fessel – Identität, Ähnlichkeit, Widerspruch, Analogie – der Repräsentation unterliegt. Vor diesem Hintergrund ist nun davon auszugehen, dass in einer Gesellschaft ständig alles flieht, dass es also immer etwas gibt (z.B. Minoritäten wie Jugendliche, Frauen oder Verrückte), das sich der gewohnten Einordnung entzieht und insofern der binären, zirkulären und linearen Segmentierung entkommt. Beispielsweise leckt »ein System wie der Kapitalismus […] auf allen Seiten, es leckt, und dann dichtet der Kapitalismus die Risse ab, macht Knoten, sorgt für Verklammerungen, um zu verhindern, daß die Fluchten zu zahlreich werden. Ein Skandal hier, eine Kapitalflucht dort usw.« (EI: 406) Während es auf der einen Seite, auf einer molaren Ebene, auch den Anschein hat, dass im Grunde nichts passiert, zumindest nichts, was wirklich einen Unterschied machen würde, dass also alles gut läuft und funktioniert, gibt es immer eine andere Seite, eine molekulare Ebene (den »Süden«), auf der sich etwas unbemerkt verändert, auf der sich schleichend infinitesimale Veränderungen durchsetzen, geringfügige Verschiebungen von meist impliziten Kräfteverhältnissen, die womöglich aber zu irreversiblen Transformationsprozessen auf der molaren Ebene führen: »Urheberin dieses Werdens ist die Fluchtlinie.« (D: 74) In diesem Sinne bestehen die revolutionären Wahrscheinlichkeiten auch »nicht in den Widersprüchen des kapitalistischen Systems, sondern in den stets unerwarteten, immer wieder von neuem entstehenden Fluchtbewegungen, die es untergraben« (EI: 406), die hier und dort auftauchen, die selbst uneinholbar sind und ein System wie den Kapitalismus damit nachhaltig und tiefgreifend verändern – selbst wenn diese Bewegungen irgendwann und irgendwo gestoppt oder umgeleitet werden. Gesellschaft ist primär durch ihre Fluchtlinien, durch ihre Deterritorialisierungsspitzen oder Deterritorialisierungsströme zu definieren, durch das, was sich an (absolut) Neuem darin ereignet und disruptiv verbreitet. Dabei berufen sich Deleuze und Guattari auch ausdrücklich auf Tarde, der, seiner genetischen Perspektive entsprechend, fordert, soziale Veränderungen immer »im Kleinsten zu erfassen, um die sozialen Zustände zu verstehen« (T|SG: 101), die daraus im Großen hervorgehen. Und das Gegenteil davon – also die Vorstellung, kleine Variationen wie Durkheim von großen sozialen Tatsachen aus zu beurteilen – »ist nicht richtig« (ebd.). Man mag nämlich »noch so viele Feststellungen der sozialen Zustände aller Länder der Erde aufeinanderhäufen, das Gesetz ihrer Bildung würde nicht zutage treten, es würde eher unter der Last der angehäuften Dokumente verschwinden« (ebd.). Daran anschließend betonen Deleuze und Guattari auch, dass man, »wie Gabriel Tarde sagte«, beispielsweise wissen müsse, »welche Bauern in welchen Regionen Südfrankreichs damit angefangen haben, die benachbarten Grundbesitzer 302

DIE FLUCHTLINIEN DER GESELLSCHAFT

nicht mehr zu grüßen« (TP: 295), um gerade jene molekularen Verschiebungen aufzuspüren, die unterhalb der molaren Ebene als dunkle Vorboten bereits auf eine kommende Zeit hinweisen. So könnte der folgende Auszug, der aus Tardes Gesetze der Nachahmung stammt, ohne weiteres auch in Tausend Plateaus von Deleuze und Guattari zu lesen sein. Übrigens dringt der Keim der Auflösung an dem Tag in den sozialen Körper ein, an dem ein Gelehrter, wie etwa Galilei, auf das geringste Gesetz oder die kleinste wissenschaftliche Tatsache kommt, die dem kürzesten heiligen Vers entgegensteht; oder an dem ein Monarch sich das kleinste Dekret gegen das zweitrangigste Gebot der herrschenden Religionen einfallen lässt, zum Beispiel die Erlaubnis, in der Fastenzeit Fleisch zu verkaufen oder an Sonntagen zu arbeiten; oder an dem schließlich in einem Land eine Industrie- oder Kunstrichtung zu erblühen beginnt, die von der Religion als unmoralisch oder gottlos angesehen wird, zum Beispiel ein profanes Theater oder eine freigeistige Zeitung. Dieser Keim muss entweder mit aller Kraft, insbesondere durch die Inquisition, entfernt werden oder er muss ebenfalls mit aller Kraft durch philosophische, revolutionäre oder reformatorische Verbreitung wachsen und sich bis zum dem Punkt entwickeln, an dem die soziale Ordnung auf neuen Fundamenten errichtet wird. (T|GN: 299, Hervorh. d. d. Verf.)

Wenn sich Tarde für die Welt im Detail und das unendlich Kleine inte­ ressiert, dann nicht um Mikrosoziologie im tradierten Sinne zu machen, nicht, um sich auf kleine soziale Einheiten zu beschränken. Im Sinne einer »Philosophie der universellen Einfügung« (ebd.: 203) will er vielmehr zeigen, dass, wenn es sich erfolgreich ausbreitet, selbst ein infinitesimales Ereignis ausreicht, um das metastabile Gleichgewicht lokaler Mächte umzustürzen und eine bestimmte soziale Ordnung damit auf neuen Fundamenten zu errichten.34 Vor diesem Hintergrund kann das 34 Die Erfindung des Kompass hatte nach Tarde zum Beispiel eine (virtuelle) Verschiebung des geopolitischen Gleichgewichts zur Folge: »On ne sait ni quel jour ni par qui la boussole fut inventée; ce jour-là cependant un événement s’accomplissait qui devait avoir pour conséquence l’essor du commerce maritime, la prospérité de Venise, puis la découverte du Nouveau Monde, et le transport occidental, océanien, de la civilisation européenne prodigieusement élargie, arrachée aux bords méridionaux de la Méditerranée. […] Par voie d’insertion, en cas pareil, non par voie d’agression directe, une nouveauté s’introduit timidement dans le monde, destinée bientôt à le changer du tout au tout.« (Tarde 2009b: 142) Vor diesem Hintergrund ist klar, inwiefern die These von Deleuze und Guattari, der zufolge sich Gesellschaften durch ihre Fluchtlinien definieren, bereits bei Tarde zu finden ist. In diesem Sinne erklärt Tarde auch: »Quand je dis que les transformations sociales s’expliquent par les initiatives individuelles imitées, je ne dis pas que l’invention, l’initiative réussie, soit la seule force agissante, ni même la plus

303

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

infinitesimale, aber stets disruptive Ereignis bei Tarde auch mit dem Begriff des Clinamen bei Lukrez verglichen werden, denn auch hier sind es geringfügige Abweichungen, die, indem sie sich über wirbelartige Nachahmungsströmungen organisieren, den großen sozialen Ordnungen konstitutiv zugrunde liegen.35 Derselben Devise verschreiben sich auch Deleuze und Guattari: »infinitesimale Fluchtlinien statt Perspektiven großer Einheiten.« (AÖ: 361) Denn »auch wenn sie nur mit einem winzigen Rinnsal beginnt« (TP: 294), so führt eine Fluchtlinie doch stets dazu, dass vorherrschende Territorien verlassen werden, dass binäre, zirkuläre oder lineare Segmentierungen aufgebrochen werden, »so als risse uns etwas fort, quer durch unsere Segmente, aber auch über unsere Schwellen hinweg, einem unbekannten, unvorhersehbaren, noch nicht existierenden Ziel entgegen« (D: 176). Wie Robert Seyfert (2019) in Erinnerung ruft, meint das französische fuite im Begriff der Fluchtlinie (ligne de fuite) nicht nur, dass etwas entwischt oder entweicht, sondern auch, dass etwas fließt oder strömt – Ereignis und Affekt. Es handelt sich insofern um eine abstrakte Linie, die, wird sie vorher nicht blockiert, den Bruch oder »die Explosion« (TP: 270) aller involvierten Segmente nach sich zieht. In genau diesem Sinne gibt es »immer so etwas wie eine Kriegsmaschine, die auf diesen Linien wirksam ist« (ebd.: 303). Die begriffliche Fassung dieser »Kriegsmaschine« markiert neben dem Begriff der Fluchtlinie – und dem Begriff der Minoritäten – Deleuze zufolge nun auch die dritte Hauptrichtung, die in Tausend Plateaus eingeschlagen wird. Tatsächlich taucht der Begriff der Kriegsmaschine aber bereits vorher auf, in einem Aufsatz, den Guattari noch vor seiner (persönlichen) Begegnung mit Deleuze verfasst hat und der den wegweisenden Titel Maschine und Struktur trägt. Jede neue Entdeckung im Bereich etwa der wissenschaftlichen Forschung durchläuft das strukturelle Feld der Theorie wie eine Kriegsmaschine, sie bringt es durcheinander und verändert es bis zur radikalen Umgestaltung. Der Forscher selbst wird von den Folgen dieses Prozesses mitgerissen. Seine Entdeckung überholt ihn, sie interveniert in ganze Forschungszweige und entwurzelt jeweils den Stammbaum der wissenschaftlichen und technischen Implikationen. (Guattari 1976: 130, Hervorh. d. d. Verf.)

Eine Kriegsmaschine durchläuft und verändert ihr Umfeld wie eine Erfindung bei Tarde, eine Erfindung, die sich, indem sie sich ausbreitet, forte a vrai dire, mais je dis que c’est la force directrice, déterminante, explicative.« (Tarde 1902b: 561) Selbst, wenn das Ereignis des Neuen durch konservative Kräfte erstickt wird, so gibt es dennoch die Richtung vor, in welche sich diese Kräfte bewegen. 35 Eine richtungsweisende Studie zum Begriff des Clinamen hat Michel Serres (1977) vorgelegt.

304

DIE FLUCHTLINIEN DER GESELLSCHAFT

weitere Erfindungen evoziert, durch welche nicht nur ihr Umfeld, sondern auch sie selbst fortlaufend mitverändert wird. Dabei ist die Kriegsmaschine »immer etwas, was von außen kommt und nomadischen Ursprungs ist: die große abstrakte Mutationslinie.« (SG: 13) Und weil sie eine abstrakte Linie des Außen zieht, existiert die Kriegsmaschine auch »nur in ihren Metamorphosen; sie existiert in einer industriellen Erneuerung, in einer technologischen Erfindung, in einem Handelskreislauf, in einer religiösen Schöpfung, in all diesen Strömen und Strömungen« (TP: 494), die nur in einem zweiten Moment wieder blockiert oder umgeleitet werden können. Mit dem Begriff der Kriegsmaschine ist also (auch) das gemeint, was in einem (rein) ökonomischen Zusammenhang spätestens seit Joseph Schumpeter als kreative Zerstörung bezeichnet wird. Eine Kriegsmaschine hat folglich also gar »nicht den Krieg zum Ziel […], sondern die Bahnung einer schöpferischen Fluchtlinie, die Bildung eines glatten Raumes und die Bewegung der Menschen in diesem Raum« (ebd.: 584). Die Zerstörung dient der Kreation neuer Assoziations- oder Existenzweisen. Sofern es ihr gelingt, gegebene Einkerbungen einzureißen oder vorhandene Segmente aufzusprengen, kann demnach selbst »eine künstlerische, wissenschaftliche und ›ideologische‹ Bewegung […] eine potentielle Kriegsmaschine sein« (ebd.). Das heißt, es kommt immer dann zum Krieg, wenn aktive Kräfte, »die erschaffen und die zerstören, um zu erschaffen, nicht um zu bewahren« (EI: 189), mit reaktiven »Kräften (der Einkerbung), die dem positiven Ziel entgegenstehen« (TP: 576), zusammenstoßen. Als Kriegsmaschine entspricht der Fluchtlinie damit die schöpferische Macht der Bejahung, eine Macht, »die alle Ordnungen und Repräsentationen umzustürzen vermag« (DW: 79), die zwar zerstört, ohne sich dabei aber primär der Negation zu bedienen. Dabei stellt sich unweigerlich die Frage, warum etwas, das auf den ersten Blick überhaupt nichts mit dem Krieg zu tun hat, dennoch als Kriegsmaschine bezeichnet wird. Paul Patton gibt hierzu zwei Antworten. Zum einen kann davon ausgegangen werden, dass Deleuze und Guattari mit dem Begriff der Kriegsmaschine an die Konzeption des Willens zur Macht bei Nietzsche anschließen. »Nevertheless, despite the fact that the will to power for a long time was manifest in forms of bloody confrontation with others or with oneself, it has become increasingly refined in the course of cultural development so that it can now be satisfied by artistic, intellectual or social activities that have no relation to bloodshed or physical pain.« (Patton 2018: 221) Zum anderen antworten D ­ eleuze und Guattari mit dem Begriff der Kriegsmaschine auch auf das intellektuelle Milieu, in dem dieser Begriff geschaffen worden ist. Wie Foucault in einer seiner Vorlesungen zeigt, kann das Machtverständnis, das damals vorherrschend war, mit einer Umkehrung des Clausewitz’schen Aphorismus folgendermaßen auf den Punkt gebracht werden: »Die Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln« (F|DE3: 227). In 305

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

diesem Sinne können soziale Bewegungen auch nur noch im Verhältnis zu repressiven Staatsapparaten konzipiert und als Kriegsmaschinen bezeichnet werden. Gerade diese insbesondere in den 70er Jahren vorherrschende Machtkonzeption hat, wie Deleuze (1995) betont, aber auch dazu geführt, dass der Begriff der Kriegsmaschine (und Tausend Plateaus insgesamt) in den 80er Jahren an Aktualität verloren hat und insofern nur mäßigen Erfolg hatte. Als Kriegsmaschinen sorgen schöpferische Fluchtlinien immer dafür, dass neue Verbindungen zum Vorschein kommen, Verbindungen, die bis dahin noch undenkbar waren, dass es insofern zu nomadischen Gebietsüberschreitungen kommt, die in der vorherrschenden Ordnung der Repräsentation nicht vorgesehen waren, dass der Raum des Möglichen transformiert wird: Genau in diesem Sinne sorgen Fluchtlinien dafür, dass ein gekerbter Raum geglättet wird. Während Linien der Segmentierung den Raum des Möglichen nämlich einkerben und abschließen, sind es Fluchtlinien, die diesen immer wieder glätten oder öffnen. Im Unterschied zum gekerbten Raum der Cogitatio universalis, in dem Wege, denen man methodisch zu folgen hat, Punkt für Punkt vorgezeichnet sind, versetzen Fluchtlinien, insofern sie eine imperativische Linie des Außen ziehen, »das Denken in einen glatten Raum, den es besetzen muß, ohne ihn ausmessen zu können, und für den es keine mögliche Methode, keine vorstellbare Reproduktion gibt, sondern nur Schaltstellen, Zwischenspiele und Neuanfänge« (TP: 518) – ein Raum, der nicht vorausgesetzt wird, um Bewegungen vorzuzeichnen, der vielmehr erst durch eine explorative und kreative Bewegung geschaffen werden muss. Wir haben zum Beispiel gesehen, dass der maritime Raum ein glatter Raum war, bevor er durch Punkt und Karte eingekerbt wurde. Das bedeutet aber nicht, dass der maritime Raum vorher über keinerlei Ordnung verfügte, »denn vor der recht späten Bestimmung der Längengrade hat es bereits eine empirische und komplexe nomadische Navigation gegeben, die die Winde, die Geräusche, die Farben und Klänge des Meeres miteinbezog« (TP: 664). Die Bewegung richtet sich hier nicht nach globalen Orientierungspunkten, sondern erfolgt explorativ »in einem absolut lokalen Bereich, in einem Absoluten, das sich lokal manifestiert und in einer Serie von lokalen Vorgängen mit unterschiedlichen Orientierungen erzeugt wird« (ebd.: 526). In Abwesenheit einer allgemeinen Referenzebene wird also auf Sicht navigiert, wird ein offener oder glatter Raum nur Stück für Stück: von einer Nachbarschaft zur nächsten erschlossen. Eben darum ist der glatte Raum als »eine amorphe Ansammlung von nebeneinandergelegten Stücken« (ebd.: 660) oder eben als Mannigfaltigkeit zu begreifen. Tatsächlich geht der Begriff des glatten Raumes, den Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus ausarbeiten, auch auf den mathematischen Begriff des Riemannschen Raumes zurück: »Mathematisch sehr gut definiert, im Zusammenhang mit 306

DIE FLUCHTLINIEN DER GESELLSCHAFT

Funktionen, impliziert dieser Raumtypus die Konstitution von kleinen benachbarten Stücken, deren Anschluß auf unendlich viele Weisen hergestellt werden kann.« (U: 179) Es ist ein glatter Raum, weil er offen ist für mannigfaltige Anschlussmöglichkeiten in alle Richtungen: Die Winde, die Geräusche, die Farben und Klänge des Meeres treten hier unmittelbar miteinander in Beziehung. Als regelrechtes Patchwork ist der glatte Raum also wesentlich heterogen und inkommensurabel, wohingegen der gekerbte Raum wesentlich homogen ist, da er alles einem einheitlichen Medium einschreibt und es damit kommensurabel und unterteilbar macht. Die Fluchtlinie glättet nicht nur einen virtuellen Raum, sie stellt auch neue Beziehungen zwischen vollkommen heterogenen Elementen her und definiert dadurch erst eine Mannigfaltigkeit. Es genügt also nicht, einfach zu rufen: »Es lebe das Mannigfaltige!« – das Mannigfaltige muss immer erst gemacht werden. Es wird allerdings nicht gemacht, indem man dem Vielen immer wieder eine Eins hinzuaddiert (n+1). Das würde nämlich bedeuten, wieder auf die abstrakten Begriffe des Einen und des Vielen zurückzufallen. Im Unterschied dazu besteht eine Mannigfaltigkeit auch »nicht aus Einheiten, sondern aus Dimensionen« (TP: 36). Auch hier wird relational gedacht, doch weniger im Sinne statischer Relationen (einer Struktur) und mehr im Sinne dynamischer Relationierungen: Relationen sind (in) Bewegung. Beziehungen, die geschaffen werden, implizieren immer neue Dimensionen, die das multidimensionale Ganze wesentlich verändern. Insofern ist es das Ereignis des Neuen, das Mannigfaltigkeiten konstituiert. Die ökologische Bewegung zum Beispiel, eine waschechte Kriegsmaschine, hat es laut Latour geschafft, »alles – vom Rindfleisch über die Haie, die Feuchtgebiete, den Mais, die Pestizide, den Diesel, den Urbanismus oder die Flugplätze bis zum Klima – zum Thema einer lebendigen Kontroverse zu machen, so dass jedes materielle Objekt eine ›ökologische Dimension‹ gewonnen hat« (Latour 2018: 57). Die politische Ökologie zieht folglich eine Fluchtlinie, die, indem sie transversal zu allem verläuft, vollkommen heterogene Bereiche in einer entsprechenden Mannigfaltigkeit verknüpft. So auch bei Tarde: In »ihren mannigfaltigen Modifikationen und Verkleidungen« (T|GN: 121) ist eine Erfindung als multidimensionale Mannigfaltigkeit zu begreifen. Sie ist ein »Ereignis als solches, das diverse Strukturen und spezifizierte Gesamtheiten oder Mengen kreuzt« (D: 93). Eine Erfindung mag zunächst noch rein technisch, ökonomisch, organisatorisch oder sozial sein, ihre erfolgreiche Diffusion involviert aber ganz unterschiedliche Begegnungen und Interferenzen, so dass sie in ihrem zeitlichen Verlauf, in ihrer Dauer, als ein Innovationsprozess begriffen werden muss, der zunehmend seine Dimensionen vermehrt. Die Erfindung der Presse ist zwar zunächst eine rein mediale Neuerung, impliziert, spätestens nachdem sie erfolgreich verbreitet wurde, aber auch eine politische (neuer 307

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

Parlamentarismus), soziale (neue Öffentlichkeit) oder rechtliche (neues Souveränitätsverständnis) Dimension. Als multidimensionales Geschehen hat eine Mannigfaltigkeit weder einen Ursprung, der sie determiniert, noch ein Ziel, das sie anzieht. Vergangenheit und Zukunft werden in einer kontingenten Bewegung immer wieder neu verhandelt. Sie hat also »weder Anfang noch Ende, aber immer eine Mitte, von der aus [sie] wächst und sich ausbreitet« (TP: 36). Mit jeder Dimension, die im Verlauf ihrer Fluchtbewegung hinzukommt (n-1), wird sie von innen, aus ihrer Mitte heraus, erneuert und transformiert. Mannigfaltigkeiten sind in genau diesem Sinne flach, sie benötigen keine zusätzliche bzw. höhere Ebene (n+1), um Beziehungen herzustellen und zu wachsen. Das heißt: Mannigfaltigkeiten werden durch das Außen definiert: durch die abs­ trakte Linie, die Flucht- oder Deterritorialisierungslinie, mit deren Verlauf sie sich verändern, indem sie sich mit anderen verbinden. […] Die Fluchtlinie markiert gleichzeitig: die Realität einer Anzahl von endlichen Dimensionen, die die Mannigfaltigkeit tatsächlich ausfüllt; die Unmöglichkeit, irgendeine Dimension hinzuzufügen, ohne daß sich die Mannigfaltigkeit dieser Linie entsprechend verändert; die Möglichkeit und Notwendigkeit, all diese Mannigfaltigkeiten auf ein und derselben Ebene der Konsistenz oder Äußerlichkeit flachzudrücken, welche Dimensionen sie auch haben mögen. (ebd.: 19)

Während die Linie der Segmentarität eine Mannigfaltigkeit unter Berufung auf das Eine in ihrer Bewegung blockiert, sorgt die Fluchtlinie, ein Außen (z.B. die imperative Frage der Ökologie) verlängernd, fortlaufend dafür, dass ihre Bewegung fortgesetzt wird. Eine Mannigfaltigkeit ist, dieser schöpferischen Tendenz folgend, »nicht mehr dem Einen untergeordnet, sondern bekommt eine eigene Konsistenz« (ebd.: 700), eine Konsistenz, die das stets multidimensionale Geschehen ihrer Bewegung nicht nur zusammenhält, sondern im Verlauf dieses Geschehens, das heißt, entlang der Fluchtlinie, immer auch selbst mitgeschaffen wird. Ganz im Unterschied zur Analogie-, Organisations- oder Transzendenzebene, die grundsätzlich von einer Einheit über den Dingen ausgeht, handelt es sich hier um eine Konsistenzebene, die ihrerseits von Fluchtlinien zwischen den Dingen gezogen wird. Sie ist insofern eine echte Immanenzebene, »weil sie über keine sonstigen Dimensionen verfügt als die des Geschehens auf ihr – ein Kreuzen und Überkreuzen ihrer Dimensionen mit dem vielfältig Geschehenden, ohne dass damit ihr Flächencharakter gestört würde« (D: 131). Auf dem durch die Fluchtlinie gezogenen Konsistenzplan verbinden sich heterogene Elemente als rhizomatische Mannigfaltigkeiten. Es handelt sich dabei aber nicht um eine (allgemeinbegriffliche) Vereinheitlichung, sondern um ein praktisches oder maschinelles Ko-Funktionieren: Nicht um ein undifferenziertes Chaos, sie ist 308

DIE FLUCHTLINIEN DER GESELLSCHAFT

sehr wohl differenziert, denn »sie trifft die Wahl, […] was auf der Ebene zusammensetzbar ist und was nicht« (TP: 226). Die ökologische Dimension, von der Latour spricht, spannt, indem sie überall eindringt und alles problematisiert, beispielsweise einen Konsistenzplan auf, eine ökologische Kriegsmaschine, in der Luftfahrt und Steuergesetzgebung, Stadtplanung und Automobilindustrie, Landwirtschaft und soziale Bewegungen konkret in Resonanz zueinander treten. Wie wir gesehen haben, verbinden rhizomatische Mannigfaltigkeiten, oder, um genau zu sein, die rhizomatische Tendenz einer Mannigfaltigkeit, vollkommen heterogene Elemente – »semiotische Kettenglieder, Machtorganisationen, Ereignisse aus Kunst, Wissenschaften und gesellschaftlichen Kämpfen« (TP: 17) – in hybriden Netzwerken oder Assoziationen.36 Diese Verbindungen setzen ihrerseits einen eigenen Konsistenzplan voraus. Dieser berücksichtig alles gleichzeitig, noch bevor hierarchische Unterscheidungen das Sein unterteilen, auf einer allumfassenden Ebene der Univozität, auf der die Dinge vor allem zusammen funktionieren müssen oder, um mit Spinoza zu sprechen: auf der ihre charakteristischen Zusammenhänge sich zusammensetzen lassen müssen, um noch wirkmächtigere Zusammensetzungen zu bilden (was etwas ganz anderes ist, als grundverschiedene Dinge einfach einem allgemeinen Begriff unterzuordnen und damit seinen Umfang auf Kosten seines Inhalts zu erweitern). Weil der Konsistenzplan »Stück für Stück geschaffen« wird, kommt es »unvermeidlich zu monströsen Kreuzungen« (ebd.: 216). Denn, ähnlich dem Körper bei Spinoza, kann »niemand, nicht einmal Gott«, im Voraus sagen, was möglich ist: »ob bestimmte heterogene Elemente eine Symbiose eingehen, eine Mannigfaltigkeit der Konsistenz oder des Ko-Funktionierens bilden, die zu einer Transformation fähig ist« (ebd.: 341) – oder nicht. Vor allem Spinoza und Nietzsche »haben eine solche Konsistenz­ ebene ausgemessen. Niemals Vereinheitlichungen oder Totalisierungen, sondern Konsistenzen oder Konsolidierungen« (ebd.: 702) eines univoken Seins. Wenn sie das Heterogene (z.B. Natur und Kultur, Mensch und Maschine, Dinge und Worte, Materielles und Geistiges) aber verbindet, dann nur insofern, als dass alles, was sich auf dieser Konsistenzebene versammelt, auf der Flucht ist. Das heißt, das Heterogene kommuniziert, aber nur als bereits deterritorialisiertes: losgelöst (oder »abstrahiert«) von den Territorien und ihren Begrenzungen, auf einer gemeinsamen Fluchtlinie. Fluchtlinien ziehen bedeutet also nicht, der Welt zu entfliehen. Es bedeutet vielmehr, »sie fliehen zu lassen« (TP: 279). Es geht nicht darum, 36 Bruno Latour hat wohl diesen Umstand im Sinn, wenn er eingesteht, dass er das, was nun als ANT bekannt ist, zunächst noch »Aktant-Rhizom-Ontologie« (Latour 2010a: 24) nennen wollte: »Put too simply, ANT is a change of metaphors to describe essences: instead of surfaces one gets filaments (or rhyzomes in Deleuze’s parlance).« (Latour 1996: 370)

309

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

einer gesellschaftlichen Realität zu entkommen, weder durch eine Flucht in die Kunst und die Einbildungskraft noch durch eine Flucht in die Utopie oder in die Ideologie. Es geht vielmehr darum, gesellschaftliche Realitäten zu schaffen, die Heterogenitäten, die darin zusammenkommen, ihre molekulare Konsistenz und ihre transversalen Verbindungen durch Fluchtlinien zu kreieren. »Tatsächlich heißt fliehen keineswegs, auf Taten verzichten – nichts Aktiveres als eine Flucht! […] Fliehen, das heißt eine oder mehrere Linien zu ziehen, eine ganze Kartographie anzufertigen. Neue Welten werden nur mittels einer langwierigen, immer wieder unterbrochenen Flucht entdeckt.« (D: 57) Fluchtlinien entfliehen keiner Realität, sie schaffen Realität: »Fluchtlinien sind Realitäten« (TP: 279): die Realität der Veränderung. Fluchtlinien begründen Gesellschaft, indem sie diese zu Grunde gehen lassen, indem sie permanent einen molekularen Untergrund – unerwartete Begegnungen, irreduzible Differenzen, pro­ blematische Ereignisse, unabsehbare Prozesse des Werdens, unrepräsentierbare Kontaminationen, insistierende Fragen – aufsteigen lassen, auf dem diese fortlaufend von neuem gegründet werden muss. Gerade deshalb definiert sich eine Gesellschaft, wie eingangs erwähnt, auch primär durch ihre Fluchtlinien.

7.4 Ereignis und Zeit des Neuen Dieses Primat darf nun aber nicht als chronologischer oder ontologischer Vorrang missverstanden werden. Es verweist weder auf eine historische Kausalität noch auf eine ewige Allgemeinheit: Es »ist vielmehr Faktum und Recht des Unzeitigen, Unzeitgemäßen« (D: 190). Es ist Nietzsche, der die Geschichte nicht der Ewigkeit, sondern Geschichte und Ewigkeit dem Unzeitgemäßen gegenüberstellt. Denn »im Unzeitgemäßen stecken sehr viel dauerhaftere Wahrheiten als historische und ewige Wahrheiten zusammen: die Wahrheiten kommender Zeiten« (NP: 118). Das Unzeitgemäße steht für das, was sich ereignet, für »das Neue, das Ausgezeichnete, das Inte­ressante«, für Singularitäten, »die an die Stelle der Erscheinung der Wahrheit treten und anspruchsvoller als diese sind« (WP: 129). Wenn Nietzsche also vom Unzeitgemäßen spricht, dann spricht er »von dem, was zustande kommt, vom Ereignis selbst oder vom Werden« (U: 244). Fluchtlinien sind primär, nicht weil sie einen chronologischen oder ontologischen Vorrang besitzen, sondern weil es reine Ereignisse sind, die über molekulare Schwellen hinweg Prozesse des Werdens einleiten, Prozesse, die sich ihrer Zeit entziehen, um einer kommenden Zeit, »einem unbekannten, unvorhersehbaren, noch nicht existierenden Ziel« (D: 176) entgegenzueilen. Daher unterscheidet Deleuze auch zwischen Geschichte und Werden. Die Geschichte bezeichnet zwar die Gesamtheit der Bedingungen, auf 310

EREIGNIS UND ZEIT DES NEUEN

die ein Werden sich bezieht, aber es bezieht sich darauf nur, um sich davon abzuwenden, um etwas anderes zu werden und etwas Neues zu schaffen. Wie sollte auch »etwas von der Geschichte herkommen? Ohne die Geschichte bliebe das Werden unbestimmt, bedingungslos, aber das Werden ist nicht geschichtlich.« (WP: 110) Wie François Zourabichvili (2012) betont, dient die Unterscheidung zwischen Geschichte und Werden insbesondere dazu, die Frage nach den Bedingungen des Neuen zu beantworten: Es ist das reine Ereignis der Flucht, das in seinem Werden die Bedingungen schafft, unter denen etwas Neues entstehen kann. Auch deshalb erklärt Deleuze, er habe in all seinen Büchern vor allem eines gesucht: »die Natur des Ereignisses« (U: 206). Die Frage nach der Genese des Neuen verweist also auf die Natur des Ereignisses. Um einen Begriff des Ereignisses zu schaffen, bezieht sich Deleuze insbesondere auf Charles Péguy, der in seinem Meisterwerk Clio, das als großes philosophisches Buch gefeiert wird, zwei Arten unterscheidet, das Ereignis zu fassen. Einerseits ist das Ereignis das, was sich in der Geschichte, in Sachverhalten und Erlebnissen, verwirklicht und insofern auch in seiner historischen Bedingtheit rekonstruiert werden kann. Andererseits entzieht sich »das Ereignis in seinem Werden, in der ihm eigenen Konsistenz« (WP: 129) mit einem Teil aber immer der Geschichte, den Sachverhalten und Erlebnissen, in denen es sich verwirklicht. Dieser Teil »ist das Virtuelle, das sich vom Aktuellen unterscheidet« (ebd.: 182), d.h. die problematische Idee, die sich von ihren Lösungen unterscheidet, obgleich sie in diesen insistiert. Um diesen Teil zu entdecken, kommt es darauf an, das ideale Ereignis in den realen Ereignissen aufzuspüren, in den Sachverhalten und Erlebnissen, denen es innewohnt. Man muss verstehen, »sich in ihm wie in einem Werden einzurichten« (ebd.: 129), seiner Fluchtbewegung zu folgen, um den Horizont, den es eröffnet, zu erfassen. In Was ist Philosophie? lassen Deleuze und Guattari Péguy auch direkt zu Wort kommen, um das dem idealen Ereignis innewohnende Werden zu beschreiben. Es kann vorkommen, dass in der Geschichte sich nichts ändert oder zu ändern scheint, aber im Ereignis ändert sich alles, und wir ändern uns in ihm: »Nichts ist geschehen. Und ein Problem, dessen Ende man nicht absah, ein auswegloses Problem, … existiert mit einem Mal nicht mehr, und man fragt sich, wovon die Rede war«; es ist in andere Probleme übergegangen; »nichts ist geschehen, und man ist in einem anderen Volk, in einer neuen Welt, in einem neuen Menschen«. (ebd.: 129 f.)

Während sich auf der molaren Ebene nichts zu ändern scheint, kann es sein, dass auf der molekularen Ebene etwas passiert, wodurch man sich abrupt in einer neuen Welt wiederfindet, einer Welt, die, ohne dass man es bemerkt hätte, plötzlich ganz anders geworden ist. Bereits in Differenz und Wiederholung und Logik des Sinns bezieht sich Deleuze auf 311

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

diesen Passus, um zu zeigen, inwiefern das Problem zur Ordnung des Ereignisses gehört, inwiefern es seine Bedingungen also in idealen Ereignissen hat, die wesentlich von jenen realen oder historischen Ereignissen zu unterscheiden sind, in denen sich seine Lösungen verwirklichen. Vor allem aber zeigt diese Textpassage, die Deleuze über die Jahre immer wieder mit unterschiedlichen Akzenten zitiert, dass das Ereignis zwei fundamentale Ebenen der Zeit umfasst, eine Zeit der Geschichte und eine Zeit des Werdens: Chronos und Äon. Als Zeit der Geschichte ist Chronos die Zeit der Gegenwart. Das bedeutet, dass allein die Gegenwart existiert, dass nur die Gegenwart den Verlauf der Zeit erfüllt, während Vergangenheit und Zukunft nur zwei »auf die Gegenwart bezogene Dimensionen sind« (LS: 203). Was auf eine Gegenwart folgt, ist also immer eine andere oder zukünftige Gegenwart, die ihrerseits dafür sorgt, dass die Gegenwart, auf die sie folgt, zu einer (nun) vergangenen Gegenwart wird. In dieser Hinsicht muss Zeit als eine Verschachtelung von diskreten Gegenwarten verstanden werden, als eine Kreisbewegung, in der eine Gegenwart (historisch) von einer anderen abgelöst wird, in der also immer nur eine Gegenwart wiederkehrt. Es ist eine abstrakte Zeit. Denn es ist eine Zeit, die sich von der materiellen Bewegung der Dinge aussagt, die Sachverhalten und Erlebnissen ein Maß gibt, die »von der Materie abhängt, von der sie begrenzt und erfüllt wird« (ebd.: 88), die also bloßes Attribut dieser Dinge und nicht ihr Wesen ist. Beispielsweise misst die Gegenwart der Umlaufbahn, auf der die Erde die Sonne umkreist, genau ein Jahr. Was wir unter einem Jahr verstehen, ist also nichts anderes als das abstrakte Maß für die materielle Bewegung der Himmelskörper – und nicht Bewegung an sich. Chronos ist demnach die lineare Zeit, in der Geschichte geschrieben wird, in der sich Sachverhalte und Erlebnisse aneinandergereiht verwirklichen. Chronos ist aber auch die rhythmische Zeit, in der das individuelle und gesellschaftliche Leben durch Gewohnheiten, Regelmäßigkeiten und Synchronizitäten zeitlich strukturiert wird. Kurz: Chronos steht für die gewohnte Richtung der Zeit und damit für die Möglichkeit der Vorausschau im gesunden Menschenverstand. Äon ist dagegen nicht mehr die Zeit der Gegenwart, sondern die Zeit des Augenblicks. Er ist nicht mehr die Zeit, in der das Ereignis sich vergegenwärtigt, sondern die Zeit, in der es sich seiner Vergegenwärtigung entzieht – »Jetzt« ist niemals jetzt. Er ist nicht mehr die Zeit, in der die Gegenwart sich Vergangenheit und Zukunft als ihre beiden Dimensionen unterwirft, sondern die Zeit, in der die Gegenwart permanent »in Vergangenheit und Zukunft und in beide Richtungen zugleich« (LS: 206) geschieden wird. Jeder Augenblick verteilt Vergangenheit und Zukunft und erschafft sie damit immer wieder von neuem: Der nächste Augenblick kann bereits eine völlig neue Vergangenheit heraufbeschwören und damit gleichzeitig auch eine völlig neue Zukunft 312

EREIGNIS UND ZEIT DES NEUEN

einleiten. Der Augenblick ist die Zeit des reinen Ereignisses und seines Werdens.37 So sehr die Gegenwart die zeitliche Verwirklichung des Ereignisses mißt, das heißt seine Verkörperung in einem Dingzustand, so wenig ist das Ereignis für sich und in seiner Unempfindlichkeit, seiner Undurchdringlichkeit eines der Gegenwart, sondern weicht zurück und schreitet voran, in zwei Richtungen zugleich, und immerwährendes Objekt einer doppelten Frage: Was wird sich gleich ereignen? Was hat sich soeben ereignet? Genau das macht das Beängstigende des reinen Ereignisses aus, daß es stets etwas ist, was sich vollkommen gleichzeitig gerade ereignete und gleich ereignen wird, und niemals etwas, was sich ereignet. (ebd.: 88 f.)

Wenn Äon die Zeit ist, in der das reine Ereignis seiner Gegenwart kontinuierlich entflieht, dann insofern, als dass das Ereignis darin niemals etwas ist, was sich gerade ereignet, sondern etwas, was sich gerade ereignet hat und sich gleich ereignen wird, was also im Werden ist. In diesem Sinne unterteilt der Augenblick die Zeit fortlaufend in zwei Richtungen, produziert als Zäsur also gleichzeitig eine neue Vergangenheit und eine neue Zukunft und sorgt damit für die ewige Wiederkehr einer anderen oder unzeitgemäßen Zeit. Während Chronos für eine Reihe diskreter Episoden und damit für die Wiederholung des Selben steht, steht Äon für die unablässige Wiederkehr der Differenz.38 37 Deleuze greift hier offensichtlich auf Nietzsche zurück. So lässt dieser seinen Zarathustra sagen: »Zwei Wege kommen hier zusammen: die ging noch niemand zu Ende. Diese lange Gasse zurück: die währt eine Ewigkeit. Und jene lang Gasse hinaus – das ist eine andre Ewigkeit. Sie widersprechen sich, diese Wege; sie stoßen sich gerade vor den Kopf- und hier, an diesem Torwege, ist es, wo sie zusammenkommen. Der Name des Torwegs steht oben geschrieben: ›Augenblick‹«. (N|KSA4: 406) 38 Mit der Unterscheidung zwischen Chronos und Äon geht Deleuze über den Begriff der Dauer im Sinne von Bergson hinaus. »La dualité d’Aion et de Chronos montre comment Deleuze transforme la durée bergsonienne, en la débarrassant du dualisme qui l’oppose à l’espace, mais surtout en la délivrant de sa part de présence: la Durée, pour Deleuze, devient Aion, et ne dure pas. Ce point de césure, par lequel Deleuze se sépare de Bergson, lui permet d’insister sur le fait que virtuel et actuel n’entretiennent pas un rapport chronologique. Le virtuel n’est pas antérieur à l’actuel mais problématique et coexistant.« (Sauvagnargues 2009: 350) Außerdem reformuliert Deleuze mit dieser Unterscheidung die Konzeption der drei (passiven) Synthesen, denen er in Differenz und Wiederholung nachgegangen ist. Während Chronos für die erste Synthese steht, die als unmittelbare Gegenwart körperlicher Gewohnheiten gefasst wird, verbindet Äon die zweite und dritte Synthese, d.h. die virtuelle Vergangenheit nach Bergson mit der leeren Zeitform der Zukunft nach Nietzsche.

313

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

Diese Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Zukunft drückt sich im Paradoxon allen Werdens aus. Um diese Paradoxität des Werdens zu veranschaulichen, greift Deleuze in Logik des Sinns auf Lewis Carrolls ­Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln zurück. Wenn ich sage »Alice wächst«, will ich sagen, daß sie größer wird, als sie war. Doch eben dadurch wird sie auch kleiner, als sie jetzt ist. Sicherlich ist sie nicht zur gleichen Zeit größer und kleiner. Es ist aber die gleiche Zeit, in der sie es wird. Sie ist jetzt größer, und sie war zuvor kleiner. Man wird jedoch zur gleichen Zeit mit einem Schlag größer, als man war, und macht sich kleiner, als man wird. Darin besteht die Gleichzeitigkeit eines Werdens, dessen Eigenheit es ist, sich dem Gegenwärtigen zu entziehen. (LS: 15)

Immer schon vergangen und ewig noch bevorstehend, entzieht sich Äon dem Gegenwärtigen und charakterisiert damit eine Zeit, die ausschließlich dem Werden zu eigen ist. Es ist eine Zeit, die aus ihren Angeln gehobene ist, die ihr Verhältnis zur materiellen Bewegung der Dinge umkehrt, die also nicht mehr um Inhalte kreist (z.B. die Himmelskörper) und insofern »als leere und reine Form« (DW: 122) einer tieferen Bewegung begriffen werden muss. Jenseits von Zyklen zieht sich die Zeit dabei in die Länge, auf einer geraden Linie, die allerdings labyrinthisch ist, weil Vorher und Nachher darauf niemals zusammenfinden: Das, was vorher noch fest stand und auch nachher noch hätte feststehen sollte, ist mit einem Mal verschwunden: »Nichts ist geschehen. Und ein Problem, dessen Ende man nicht absah, ein auswegloses Problem, … existiert mit einem Mal nicht mehr, und man fragt sich, wovon die Rede war« (WP: 129 f.). Weil Anfang und Ende sich nicht länger reimen, steht Äon für alles, was dazwischen passiert: für das Werden. Da es gleichzeitig voranschreitet und zurückweicht, der Gegenwart also fortwährend entflieht, kann das reine Ereignis in seiner Fluchtbewegung auch niemals auf einen bestimmten Zeitpunkt festgemacht werden, weder in einer kausalen Reihe noch in einer historischen Abfolge. Aber auch wenn es sich in diesem Sinne seiner eigenen Gegenwart entzieht und insofern auch nicht wirklich »existiert«, muss doch davon ausgegangen werden, dass es in allen gegenwärtigen, existierenden Sachverhalten und Erlebnissen insistiert, persistiert oder subsistiert. Der Mai 68 in Frankreich wird von Deleuze öfters herangezogen, um den Begriff der Fluchtlinie sowie den Begriff des insistierenden reinen Ereignisses, das sich auf der Fluchtlinie als Zäsur in die Länge zieht, zu veranschaulichen. Der Mai 68 war Deleuze zufolge vor allem ein Werden, das abrupt in die Geschichte eingebrochen ist. Deshalb haben es die Historiker so schlecht begriffen und deshalb haben es die historischen Gesellschaften auch so schlecht angenommen. Denn alle, die die Vorgänge damals mit molaren Begriffen beurteilt haben, haben vom »Ereignis 314

EREIGNIS UND ZEIT DES NEUEN

nichts begriffen, weil ihnen irgend etwas entging, das nicht einzuordnen war« (TP: 295), das sich nicht hat repräsentieren lassen – gerade deshalb ging man auch lieber davon aus, dass »es sich schon bald legen werde«. Der Mai 68 entzog sich einer Einordnung, entfloh ihr, weil er molekular war: »Eine molekulare Strömung hat sich abgespalten, zunächst war sie winzig, dann wurde sie immer größer, ohne deshalb besser eingeordnet werden zu können« (ebd.). Nichts ist passiert, aber man fand sich plötzlich in einem anderen Volk, in einer fremden Welt und in einem neuen Menschen wieder. Tatsächlich kann das, »was uns in ein Werden hineintreibt, […] irgend etwas sein, etwas ganz Unerwartetes oder Unbedeutendes« (TP: 397), selbst ein flüchtiges Detail, »das immer wichtiger wird und von dem man mitgerissen wird« (ebd.). In diesem Zusammenhang verweist Deleuze auf Ilya Prigogine, der in der Physik dissipative Strukturen aufgezeigt hat, das heißt: gleichgewichtsferne Systeme, in denen kleine »Differenzen sich ausbreiten, statt sich gegenseitig aufzuheben, und bei denen völlig unabhängige Phänomene in Resonanz, in Verbindung treten« (SG: 220) können. So wurden Turbulenzen in der Physik beispielsweise lange mit Unordnung gleichgesetzt. Wie Prigogine gemeinsam mit Isabelle Stengers aber erklärt, wissen wir heute, »daß das nicht der Fall ist. Auf der makroskopischen Ebene erscheint die turbulente Bewegung zwar als irregulär und chaotisch, doch ist sie auf der mikroskopischen Ebene im Gegenteil hochgradig organisiert.« (Prigogine/Stengers 1981: 150) Eben in diesem Sinne ist das reine Ereignis auch etwas, was sich einer großen oder molaren Einordnung durch gesellschaftliche Determinationen oder historische Kausalitäten zwar entzieht, deshalb aber noch lange nicht ungeordnet oder chaotisch ist, sondern vielmehr einem molekularen Werden eine gewisse Konsistenz verleiht.39 In historischen Phänomenen wie der Revolution von 1789, der Pariser Kommune, der Revolution von 1917 ist immer etwas von einem Ereignis, das sich nicht auf die gesellschaftlichen Determinationen, die kausalen Reihen reduzieren läßt. Die Historiker mögen diesen Aspekt nicht sehr: sie stellen Kausalitäten nachträglich wieder her. Aber das Ereignis selbst koppelt sich von den Kausalitäten ab oder bricht mit ihnen: es ist eine Abzweigung, eine Abweichung in bezug auf die Gesetze, ein instabiler Zustand, der ein neues Feld von Möglichkeiten öffnet. (SG: 220)

So gehört auch der Mai 68, fernab aller Determinismen und Kausalitäten, zur Ordnung des reinen Ereignisses. Freilich gab es damals »viele 39 Prigogine und Stengers beziehen sich dabei auch selbst auf soziale Phänomene, wenn sie einige Seiten später schreiben, dass »kleine, von der übrigen Gesellschaft isolierte und sogar verfolgte Gruppen […] Neuerungen hervorbringen [können], welche die gesamte Gesellschaft verändern« (Prigogine/ Stengers 1981: 182).

315

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

Erregungen, Gebärden, Worte, Torheiten, Illusionen« (ebd.), Phänomene also, die mittlerweile längst soziologisch, politisch oder historisch eingeordnet wurden. Aber auch dann, wenn das Ereignis damit konterkariert, unterdrückt, verwertet oder gar verraten wird, verschwindet es nicht einfach, es enthält nämlich etwas Unüberwindliches: »Das Ereignis selbst mag noch so alt sein, es läßt sich nicht überwinden: es ist Öffnung von Möglichem« (ebd.) und als solches insistiert, persistiert oder subsistiert es auch. Auch deshalb wird heute noch davon gesprochen, bereitet dasselbe Ereignis immer noch Probleme. Wie François Zourabichvili (1998) bemerkt, heißt dies allerdings nicht, dass das, was zuvor nicht möglich war, nun möglich ist, dass Träume, Imaginationen, Hoffnungen, Pläne oder Vorhaben etwa, die zuvor noch – aus dem einen oder anderen Grund – unmöglich waren, durch das Ereignis plötzlich ermöglicht werden. Dies würde nämlich bedeuten, dass das, was nun möglich ist, zuvor schon da war, wenngleich als etwas, das einfach noch nicht realisierbar war. So gesehen würde das Ereignis aber nichts Neues schaffen, sondern lediglich dazu beitragen, bestehende Möglichkeiten zu realisieren, das heißt, diesen eine räumliche und zeitliche Existenz zu verschaffen. Wie wir wissen, ist es aber gerade dieser Begriff des Möglichen, den Bergson kritisiert, wenn er festhält, dass »das Wirkliche […] das Mögliche, und nicht das Mögliche das Wirkliche« (B|DW: 124) schafft. Es besteht also ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Möglichen, das nur darauf wartet, realisiert zu werden, und dem Möglichen, das erst geschaffen werden muss. Damit ist nun auch die besagte Öffnung von Möglichen zu verstehen, denn »das Mögliche besteht nicht bereits vorher, es wird durch das Ereignis geschaffen« (SG: 221). Was dabei geschaffen wird, ist das, was Nietzsche laut Deleuze Möglichkeiten des Lebens nennt – zumindest dann, wenn man dem Ereignis gerecht wird, wenn man es genügend bejaht. Damit sind weniger einzelne Möglichkeiten im Leben gemeint, sondern vielmehr Gefüge möglichen Lebens: neue Existenzweisen. Das Ereignis ist insofern auch eine Lebensfrage, denn es »schafft eine neue Existenz, es erzeugt eine neue Subjektivität (neue Beziehungen zum Körper, zur Zeit, zur Sexualität, zum Milieu, zur Kultur, zur Arbeit ...)« (SG: 221). Quer durch alle gesellschaftlichen Dimensionen schafft es eine neue Art und Weise, affiziert zu werden, eine neue Macht (puissance), mit sich selbst, mit anderen und der Welt in Beziehung zu treten. »Auf den Fluchtlinien darf es nurmehr eins geben: das Leben als Experiment. Man weiß nie im Voraus, was eintreten wird, weil man weder Zukunft noch Vergangenheit mehr hat.« (D: 71) Eben deshalb muss das Ereignis des Neuen, die Fluchtlinie, aus ihrer Mitte heraus oder in ihrem Milieu begriffen werden. Dabei muss auf die ethische Perspektive zurückgegriffen werden, die Deleuze bei Spinoza und Nietzsche findet. Es sind dann nicht mehr abstrakte Kriterien, durch die das Milieu der Flucht zu 316

WIDER DEN DUALISMUS: DIE TYPOLOGIE ABSTRAKTER MASCHINEN

beurteilen ist, es sind vielmehr Kriterien des Leben, die darin auf eine »Typologie immanenter Existenzweisen« (S: 34) verweisen.

7.5 Wider den Dualismus: Die Typologie abstrakter Maschinen Wie eingangs erwähnt wurde, ist der Wesensunterschied zwischen den beiden Typen von Mannigfaltigkeit für Deleuze wegweisend. So orientieren sich die meisten Begriffspaare, die in Tausend Plateaus unterschieden werden, in der einen oder anderen Weise an diesem Wesensunterschied: Baum und Rhizom, molare Klassen und molekulare Massen, Segmente und Strömungen oder glatter und gekerbter Raum. Damit fallen wir aber freilich nicht auf ein Denken in Dualismen zurück. Die analytische Unterscheidung zwischen den beiden Typen von Mannigfaltigkeiten steht nämlich für zwei Tendenzen in ein und derselben Bewegung, für zwei Richtungen, die einander nicht nur immanent sind, sondern sich in einer gemeinsamen Bewegung auch wechselseitig voraussetzen. In genau diesem Sinne ist, den beiden Tendenzen oder Richtungen entsprechend, nun auch zwischen zwei Linientypen zu unterscheiden. Einerseits eine molare Linie der Segmentarität oder der (Re-)Territorialisierung, die, von einer übergeordneten Einheit ausgehend (n+1), die Bewegung der Mannigfaltigkeit verlangsamt, umleitet oder blockiert; andererseits eine molekulare Fluchtlinie oder Linie der (absoluten) Deterritorialisierung, die, von einem imperativischen Außen ausgehend (n-1), die Bewegung der Mannigfaltigkeit initiiert, beschleunigt oder überstürzt. Und obwohl sich beide Linientypen wechselseitig voraussetzen, muss ihr Verhältnis als ein asymmetrisches begriffen werden, weil die Fluchtlinie aufgrund ihres unzeitgemäßen Charakters stets primär ist. Die Modalitäten, in welchen die beiden Linientypen sich wechselseitig voraussetzen, ihr asymmetrisches Verhältnis, ist nun aber immer in concreto, das heißt: »im Rahmen konkreter sozialer Felder und in einem spezifischen historischen Moment zu analysieren« (D: 189). Und das ist es auch, was Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus bezwecken, wenn sie jedes Plateau mit einem eigenen Datum versehen, das die darin behandelte Thematik in Bezug auf ein historisches Ereignis zur Diskussion stellt. Während Anti-Ödipus noch von Kant geprägt ist und insofern »eine Art Kritik der reinen Vernunft auf der Ebene des Unbewußten« (SG: 295) sein soll, geht es in Tausend Plateaus vor allem um »eine Theorie der Mannigfaltigkeiten als solchen, genau dort, wo das Mannigfaltige in einen substantivischen Zustand übergeht« (ebd.). Das heißt, während sich Anti-Ödipus noch darauf beschränkt, einfach »Arten von Dualitäten festzustellen« (EI: 405) – z.B. indem durch die 317

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

Unterscheidung zwischen einem legitimen (immanenten) und einem illegitimen (transzendenten) »Gebrauch der Synthesen« (AÖ: 96) eine Dualität zwischen molaren Einheiten und molekularen Strömungen festgestellt wird –, möchte Tausend Plateaus zeigen, wie genau »das eine im anderen verankert ist, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt« (ebd.) und wie das eine mit dem anderen konkret ein Gefüge bildet. Wie wir wissen, ist es die Fluchtlinie, die molekulare Strömungen mit sich reißt und als deterritorialisierte und deterritorialisierende Kräfte miteinander verbindet. Ein Beispiel hierfür geben Deleuze und G ­ uattari unter anderem im Hinblick auf die Fluchtbewegung der Kreuzzüge. Vom 10. bis zum 14. Jahrhundert lassen sich folgende Strömungen oder Massen beobachten: die Massen der letzten Eindringlinge, die von Norden, Osten und Süden kamen; militärische Massen, die zu plündernden Banden wurden; kirchliche Massen, die mit Ungläubigen und Häretikern zu kämpfen hatten und sich immer deterritorialisiertere Ziele setzten; Bauernmassen, die die Besitztümer der Grundherren verließen; Massen von Grundbesitzern, die ihrerseits Ausbeutungsmöglichkeiten finden mußten, die weniger territorial als die Leibeigenschaft waren; städtische Massen, die sich vom Umland trennten und in den Städten immer weniger territorialisierte Arbeitsmittel fanden; Massen von Frauen, die sich vom alten Leidenschafts- und Ehe-Code lösten; Geldmassen, die nicht mehr angehäuft wurden, sondern in große Handelskreisläufe flössen. Man kann die Kreuzzüge als Beispiel für eine Verbindung dieser Strömungen anführen, von denen jede die anderen auslöste und beschleunigte. (TP: 300)

Die in dieser Verbindung angebahnte Fluchtlinie sorgt dafür, dass sich, ähnlich den turbulenten Bewegungen von Prigogine und Stengers, Differenzen wechselseitig vervielfältigen, anstatt sich gegenseitig aufzuheben, weshalb auch völlig heterogene Phänomene in Resonanz zueinander treten, sich kreativ verbünden und »ihre Differenz in einem neuen Gefüge« (Krause/Rölli 2010: 134) entfalten. Allerdings impliziert die Fluchtbewegung der Kreuzzüge auch eine andere, gegenläufige Richtung, jene Richtung, die dazu tendiert, die deterritorialisierende Bewegung der Strömungen zu verlangsamen, umzuleiten oder aufzuhalten, um sie in feste Strata zu verwandeln. Das heißt, gleichzeitig, und untrennbar damit verbunden, kommt es zu Übercodierungen und Reterritorialisierungen. Die Kreuzzüge wurden vom Papst übercodiert und bekamen territoriale Zielsetzungen. Das Heilige Land, der Gottesfrieden, eine neue Art von Klöstern, neue Geldformen, neue Arten der Ausbeutung des Bauern durch Verpachtung, Lohnarbeit (oder auch Rückgriffe auf die Sklaverei) und Reterritorialisierungen der Stadt, etc. bildeten ein komplexes System. (TP: 300 f.) 318

WIDER DEN DUALISMUS: DIE TYPOLOGIE ABSTRAKTER MASCHINEN

Während die Fluchtlinie also durch die Verbindung (Konnexion) von Strömungen dafür sorgt, dass heterogene Kräfte sich in einer deterritorialisierenden Bewegung »wechselseitig Auftrieb geben, ihre gemeinsame Flucht beschleunigen und ihre Quanten vermehren oder aufheizen« (ebd.: 301), arbeitet gleichzeitig eine Linie der Segmentarität immer schon an der erneuten Vereinheitlichung oder Vereinigung (Konjugation) dieser Strömungen, an einer Integration und Stratifizierung der involvierten Kräfte, indem sie »die Fluchtlinien verstopft oder verschließt, eine allgemeine Reterritorialisierung bewirkt und die Strömungen der Vorherrschaft einer Strömung unterstellt, die sie übercodieren kann« (ebd.). Beispielsweise steht das aufsteigende Handelsbürgertum historisch für genau eine solche vorherrschende Strömung: »So vereinigt oder kapitalisiert das Handelsbürgertum der Städte ein Wissen, eine Technologie, Gefüge und Kreisläufe, in deren Abhängigkeit Adel, Kirche, Handwerker und auch Bauern geraten.« (ebd.) Das heißt, gerade weil das Handelsbürgertum mit seinen disruptiven Neuerungen »eine Speerspitze der Deterritorialisierung war«, vereinnahmte und übercodierte es gleichzeitig auch alle anderen Strömungen und setzte damit »die Reterritorialisierung des Ganzen« (ebd.) an der Schwelle zur Moderne wieder in Gang. Als reine Tendenzen können beide Linientypen also durch einzelne Individuen oder Kollektive historisch verkörpert werden, sie können aber ebenso innerhalb eines Individuums oder Kollektivs unterschieden werden. Weil sie also fortlaufend ineinander übergehen, sich wechselseitig voraussetzen und sich selbst in ein und demselben Individuum oder Kollektiv noch verknoten, schlagen Deleuze und Guattari vor, die beiden Linientypen einfach »als simultane Zustände der abstrakten Maschine zu betrachten« (ebd.: 304). Was genau ist unter dem Begriff der abstrakten Maschine nun aber zu verstehen? Im bereits erwähnten Aufsatz Maschine und Struktur von 1969 entwickelt Guattari den Begriff der Maschine in Abgrenzung zu jenem der Struktur, um damit »die besondere Position der Subjektivität in ihrem Verhältnis zum Ereignis und zur Geschichte ausfindig zu machen und zu erhellen« (Guattari 1976: 127). Obwohl er ihm erst nach dem Verfassen dieses Aufsatzes persönlich begegnen sollte, bezog sich Guattari dabei aber bereits in grundlegender Art und Weise auf »die von Gilles ­Deleuze eingeführten Kategorien« (ebd.: 138). Während der Begriff der Struktur auf die Allgemeinheit eines Gesichtspunkts verweist, »demgemäß ein Term gegen einen anderen ausgetauscht oder durch einen anderen Term ersetzt werden kann« (DW: 15), verweist der Begriff der Maschine nun auf die Singularität eines Gesichtspunkts, dem Deleuze eine dynamische Wiederholung einschreibt, in der sich ein Ereignis verlängert: »Wiederholen heißt sich verhalten, allerdings im Verhältnis zu etwas Einzigartigem oder Singulärem das mit nichts anderem ähnlich oder äquivalent ist« (ebd.). Wenn die (statische) Wiederholung im ersten Gesichtspunkt 319

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

also darauf beschränkt ist, die Allgemeinheit eines Begriffs (Ähnlichkeit, Äquivalenz) in besonderen, numerisch geschiedenen Fällen wiederzufinden, entfaltet sich die (dynamische) Wiederholung im zweiten Gesichtspunkt »als reine schöpferische Bewegung« (ebd.: 42), die immer nur das Differente einbehält, um es von Fall zu Fall aufeinander zu beziehen und sich so in den »verrücktesten Begriffsschöpfungen« (ebd.: 13) immer weiter von ihrem Ausgangspunkt zu entfernen – »die Wiederholung als Potenz des Begriffs: das Anschließen einer Region an eine andere« (U: 214). So erklärt Deleuze einige Jahre später, dass unter dem, was er mit Guattari als »Maschine« bezeichnet, »nichts Mechanisches« zu verstehen ist, keine Koppelung von abhängigen Teilen, sondern ein »›Nachbarschafts‹-Ensemble« (D: 145) von unabhängigen Elemente, die im offenen Raum der Flucht über ihre Nachbarschaften (oder Regionen) kommunizieren. Damit bezeichnet die abstrakte Maschine die unmittelbare Verbindung von heterogenen Elementen: »Mensch, Werkzeug, Tier und Ding« (D: 146). Sie ist diesen Elementen gegenüber das Primäre, da sie die Fluchtlinien zieht, die durch diese Elemente »hindurch verläuft und sie in einen gemeinsamen Funktionszusammenhang bringt« (ebd.). Die abstrakte Maschine ist also »keine in letzter Instanz entscheidende Infrastruktur und auch keine in höchster Instanz entscheidende transzendente Idee« (TP: 196), sondern vielmehr ein bunter, konnektiver und vor allem ergebnisoffener Funktionsablauf. Deleuze und Guattari stehen damit für einen neuen Funktionalismus.40 So erklärt Guattari: »Wir sind rein funktionalistisch: uns interessiert, wie etwas geht, funktioniert, welche Maschine es ist.« (U: 37) Im Unterschied zu einer Struktur, die unbewegliche Positionen anordnet und dabei ein Minimum an Homogenität voraussetzt, ist die abstrakte Maschine Verbindung in Bewegung oder: die bewegliche Verbindung von Heterogenitäten.41 Als konnektiver (oder konjunktiver) Prozess ist die abstrakte Maschine nicht dazu da, um etwas zu repräsentieren, sei es auch etwas Reales, sondern um etwas zukünftig Reales zu konstruieren, einen neuen Typus von Realität. 40 Neu ist dieser Funktionalismus aus folgendem Grund: »Das Scheitern des Funktionalismus erklärt sich daher, daß man ihn in Bereichen einzuführen versucht hat, die ihm fremd sind, in großen strukturierten Ganzheiten; diese bilden sich jedoch nicht in derselben Weise, in der sie funktionieren. Dagegen ist der Funktionalismus König in der Mikro-Vielheit, der MikroMaschinen, der Wunschmaschinen, der molekularen Formationen. […] Die einzige Frage ist, wie es funktioniert, mit Intensitäten, Strömen, Prozessen, Partialobjekten – lauter Dinge, die nichts sagen wollen.« (U: 37) 41 Ein Beispiel für eine solche Fehleinschätzung wäre Theodore Schatzki, der in The Site of the Social Deleuze und Guattari mit ihrem Begriff sozialer Gefüge als »chief competitor« (Schatzki 2013: 89) zu seinem theoretischen Ansatz ansieht. Dabei verbannt er beide Autoren aber gerade in jene

320

WIDER DEN DUALISMUS: DIE TYPOLOGIE ABSTRAKTER MASCHINEN

Sie steht also nicht außerhalb der Geschichte, sondern ist vielmehr der Geschichte immer »voraus«, in jedem Moment, in dem sie Punkte der Schöpfung oder Potentialität konstituiert. Alles flieht, alles erschafft, aber niemals ganz allein, sondern im Gegenteil mit einer abstrakten Maschine, die Kontinuen von Intensität, Verbindungen von Deterritorialisierung und Extrakte von Ausdruck und Inhalt erzeugt. (ebd.)

Die abstrakte Maschine hat demnach eine reine »Pilotfunktion« (ebd.). Und zwar in dem Sinne, in dem das Virtuelle die Realität einer zu erfüllenden Aufgabe besitzt: Eine Problematik, die, indem sie in ihren Lösungen insistiert, diese ausrichtet, bedingt und erzeugt. Insofern ist sie den konkreten Gefügen, die sie in Gang setzen und in denen sie vollständig umgesetzt wird, immer immanent: Sie ist die immanente Ursache dieser Gefüge. Die abstrakte Maschine ist folglich nicht universell oder allgemein, sondern singulär und plastisch; hier und jetzt; »nicht aktuell, sondern virtuell-real; sie hat keine obligatorischen oder invariablen Regeln, sondern fakultative Regeln, die unaufhörlich mit der Variation selber variieren, wie in einem Spiel, bei dem jeder Zug die Regeln verändert« Tradition, die diese bemüht sind, hinter sich zulassen: den Strukturalismus (im Sinne von Lévi-Strauss, Giddens oder Bourdieu). Nach einem Hinweis, dass strukturalistische Ansätze (historische) Ereignisse kaum berücksichtigen, bringt Schatzki seinen Unmut gegenüber virtuellen Strukturen zum Ausdruck: »What is problematic about this thesis is best clarified by returning to the general idea that the prefiguration of action is a delimitation of fields of possibility (via constraint and enablement).« (ebd.: 219) Tatsächlich haben wir aber gesehen, dass Deleuze im Anschluss an Bergson die virtuelle »Struktur« gerade nicht als ein Feld präexistierender Möglichkeiten begreift und schon gar nicht auf einen Negativbegriff wie jenen der Begrenzung (constraint) zurückgreift. Im Gegenteil: Die Aktualisierung des Virtuellen ist immer »eine wirkliche Schöpfung. Sie entsteht nicht durch Beschränkung einer präexistenten Möglichkeit.« (DW: 268) Insofern wartet das Virtuelle auch nicht darauf, realisiert zu werden, sondern ist selbst immer schon Reales. Dies verkennend begreift Schatzki nun auch die abstrakte Maschine fälschlicherweise als »superstructure« (ebd.: 240), als abstrakte Struktur, die das soziale Leben transzendiert, um bestimmte Möglichkeiten darin vorherzubestimmen. In diesem Sinne moniert Schatzki: »Deleuze and Guattari did not embed abstract machines in any phenomenon, structure, or mechanism in social life.« (ebd.: 96) Dagegen betonen Deleuze und Guattari aber, dass die abstrakte Maschine ihren Gefügen stets immanent ist: »Die abstrakte Maschine existiert ebensowenig unabhängig vom Gefüge, wie das Gefüge unabhängig von der Maschine funktioniert.« (TP: 140) Die Art und Weise, in der abstrakte Maschinen soziale Gefüge zum Funktionieren bringen, bleibt dabei auch nicht »mysterious« (Schatzki 2013: 96), sondern wird stets durch das jeweilige Ereignis bestimmt, das in seinem mannigfaltigen Werden eine bestimmte abstrakte Maschine impliziert und sich in einem bestimmten konkreten Gefüge expliziert.

321

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

(ebd.: 139). Der Begriff der abstrakten Maschine knüpft sowohl an den Begriff der problematischen Idee in Differenz und Wiederholung wie auch an den Begriff des idealen Ereignisses in Logik des Sinns an. Und wenn von einer »abstrakten« Maschine die Rede ist, so steht sie doch »im Gegensatz zum Abstrakten im üblichen Sinne« (ebd.: 706). Denn sie »abstrahiert« gerade von den empirischen Formen, um ihre Elemente ungeachtet der damit einhergehenden taxonomischen Ordnungen als Wirkmächte einer gemeinsamen Bewegung zu verbinden. Weil die abstrakte Maschine also Machteinheiten komponiert und damit Kontinuen von Intensitäten herstellt, darf das Abstrakte auch nicht im Gegensatz zum Konkreten, sondern muss im Gegensatz zum Diskreten der empirischen Formen der Rekognition begriffen werden. Wie sehen nun aber die beiden Zustände der abstrakten Maschine aus? Paul Patton (2000: 58) betont, dass die Unterscheidung dieser beiden Zustände vorwiegend auf den Begriff des Willens zur Macht bei Nietzsche zurückgeht – oder vielmehr auf dessen Interpretation durch Deleuze. Wir haben gesehen, dass der Wille zur Macht, der das Werden der Kräfte, ihre Differenz und wechselseitige Beziehung bestimmt, selbst zwei Qualitäten hat: einerseits die Bejahung und den damit einhergehenden Sieg der aktiven Kräfte; andererseits die Verneinung und den damit einhergehenden Sieg der reaktiven Kräfte. Dabei handelt es sich freilich nicht um einen platten Dualismus, sondern um eine typologische Unterscheidung, die, nach einem sorgsamen Abwägen und Bewerten (pluralistische Interpretation), in jedem Kräfteverhältnis den vorherrschenden Typus, das heißt, entweder ein tendenzielles Aktiv- oder Reaktiv-werden der darin eingebundenen Kräfte zum Ausdruck bringt. Am Ende von Tausend Plateaus bemerken Deleuze und Guattari, dass auch abstrakte Maschinen eine »analyse typologique« (Deleuze/Guattari 1980: 640) erfordern, »car il y a des types généraux de machines abstraites« (ebd.). In diesem typologischen Sinn wird nun der erste Zustand der abstrakten Maschine (Planomene) als abstrakte Mutationsmaschine bezeichnet. Die abstrakte Mutationsmaschine zieht die Fluchtlinien: sie steuert die Quanten-Strömungen, sichert die Schaffung und Verbindung von Strömungen und sendet neue Quanten aus. Sie selber ist auf der Flucht und errichtet auf ihren Linien Kriegsmaschinen. Sie bildet deswegen einen Gegenpol, weil die harten oder molaren Segmente unaufhörlich die Fluchtlinien versperren, verstopfen und blockieren, während sie sie ständig »zwischen« den harten Segmenten und in eine andere, sub-molekulare Richtung fließen läßt. (TP: 305)

Es ist die abstrakte Mutationsmaschine, die aktive Fluchtlinien zieht, auf denen sich virtuelle Mannigfaltigkeiten konstituieren; die einen glatten Raum absteckt, Potentialen verteilt und die Strömungen darin konsistent verbindet; die ein Außen verlängert und die singulären Punkte, die 322

WIDER DEN DUALISMUS: DIE TYPOLOGIE ABSTRAKTER MASCHINEN

sich würfelartig entlang der Fluchtlinie verteilen, miteinander verknüpft – in ihr werden, um auf Nietzsche zurückzukommen, also Differenz, Werden, Zufall und Vieles bejaht und die Bedingungen für die Genese des Neuen geschaffen. Als schöpferisches Geschehen ist sie immanentes Prozessverhältnis. Dies schließt nun aber »nicht aus, daß ›die‹ abstrakte Maschine unter ganz besonderen Bedingungen als transzendentes Modell dienen kann« (TP: 708). Ebenso wie der Wille zur Macht, der sich durch eine Verkehrung der wertsetzenden Perspektive der Negation verschreibt, der Verneinung von Differenz, Werden, Zufall und Vielem, und somit als Wille zum Nichts das Reaktiv-Werden der Kräfte bewirkt, so kann auch die abstrakte Maschine in einen konträren Zustand oder Typus wechseln. Diesen Zustand oder Typus der abstrakten Maschine (Ökumene) bezeichnen Deleuze und Guattari als abstrakte Maschine der Übercodierung. Die abstrakte Maschine der Übercodierung ist es, die die reaktiven Linien der binären, zirkulären und linearen Segmentierung zieht; die alle Entitäten damit als harte Segmente einer arboreszenten Struktur reproduziert; die dafür sorgt, dass divergierende und turbulente Strömungen auf eine laminare Strömung hin konvergieren, dieser Strömung unterstehen (pouvoir) und dadurch vereinheitlicht werden; die »einen teilbaren, homogenen, eingekerbten Raum in alle Richtungen erweitert« (ebd.: 305) und damit eine Wissensordnung, eine Axiomatik absteckt, in Bezug auf welche alles andere übercodiert und more geometrico auf einem Transzendenzplan organisiert werden kann – ein Plan, der die Dinge nicht hier und jetzt (Haecceitas), sondern von woanders her und auf ewig hin erfasst (Quidditas). Wie wir am Beispiel der Euklidischen Geometrie gesehen haben, darf die abstrakte Maschine, die die Übercodierung der Dinge leitet, dabei aber nicht auf einen Staatsapparat reduziert werden – auch wenn es für Deleuze und Guattari meist dieser ist, der die abstrakte Maschine der Übercodierung historisch in Gang setzt. Anders gesagt, der Staatsapparat bildet ein konkretes Gefüge, das die Übercodierungsmaschine einer Gesellschaft zur Wirkung bringt. Diese Maschine ist folglich nicht der Staat selbst, sie ist die abstrakte Maschine zur Organisierung der herrschenden Aussagen und der etablierten Ordnung einer Gesellschaft, der herrschenden Sprachen und Wissensformen, der konformen Handlungen und Gefühle, der über die übrigen obsiegenden Segmente. Die abstrakte Übercodierungsmaschine sichert die Homogenität der verschiedenen Segmente, garantiert deren Austausch- und Übertragbarkeit, regelt das jeweilige Übergleiten, unter Einhaltung der bestehenden Vorherrschaft. Nicht sie selbst, wohl aber ihre Wirksamkeit hängt gleicherweise vom Staat und von dem Gefüge ab, das sie innerhalb eines gesellschaftlichen Feldes zur Ausführung bringt. (D: 181)

323

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

So stellt das, was Foucault als »Panoptismus« bezeichnet, Deleuze zufolge eine solche abstrakte Übercodierungsmaschine »jenseits« der damit verbundenen Staatsapparate dar. Nicht von ungefähr definiert Foucault die Herrschaftsmacht, die diesem Begriff zugrunde liegt, auch als »eine Maschinerie, die funktioniert« (T|ÜS: 228 f.). Obwohl es dabei immer dieselbe abstrakte Maschine der Übercodierung ist, die für alle Machteinrichtungen (Gefängnis, Schule, Kaserne, Klinik, Fabrik usw.) ein und dieselbe panoptische Axiomatik (das Problem der Einsperrung) definiert, sind es dennoch die Machteinrichtungen selbst, die diese Maschine durch ihre eigenen disziplinartechnologischen Maßnahmen (Überwachen, Erziehen, Drillen usw.) in Gang setzen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass Deleuze und Guattari grundsätzlich mit Foucault übereinstimmen, wenn es darum geht, den Zustand der abstrakten Maschine zu definieren, den sie als abstrakte Übercodierungsmaschine bezeichnen. Im Unterschied zu Foucault, der nur den einen Maschinentypus kennt (und von Nietzsches Willen zur Macht auch nicht viel hält), gehen Deleuze und Guattari allerdings davon aus, dass das, was in einer abstrakten Maschine primär ist, nicht die Widerstände (und die Herrschaftsmächte) sind, sondern die Fluchtlinien.42 Die abstrakte Maschine hat »Fluchtlinien, die primär sind, die in einem Gefüge keine Phänomene des Widerstands oder Gegenangriffs sind, sondern Punkte der Schöpfung und der Deterritorialisierung.« (TP: 194) In ihrer molekularen Realität entsprechen diese Punkte im Grunde dem, was Tarde als Erfindung bezeichnet. Damit wird erst ersichtlich, wie wichtig die neomonadologische Soziologie von Tarde für die politik- und sozialtheoretischen Überlegungen von Deleuze und Guattari ist. Obwohl sie in vielen Gesichtspunkten mit Foucault übereinstimmen, berufen sie sich nämlich im Hinblick auf den wichtigsten Gesichtspunkt, dem des Primats, gerade auf Tarde. Wenn es nun möglich ist, zwischen zwei Zuständen einer abstrakten Maschine zu unterscheiden, dann stehen die beiden Linientypen, die durch den jeweiligen Maschinenzustand gezogen werden, einander aber nicht in einem Dualismus gegenüber. Je nach Zustand zieht die abstrakte Maschine nämlich Fluchtlinien und Segmentierungslinien – und oft beides zugleich! In diesem Sinne relativieren sich auch die damit einhergehenden dualistischen Unterscheidungen zwischen Transzendenz- und 42 So erklärt Foucault etwa in einem Interview, man müsse »einen umgearbeiteten und theoretisch vertieften Inhalt für den hochtrabenden und geheimnisvollen Begriff des ›Willens zur Macht‹ finden, und man [müsse] zugleich einen Inhalt finden, der der Wirklichkeit besser entspricht, als dass er zu Nietzsche passt.« (F|DE3: 760) Aus Willen zur Macht wird bei Foucault deshalb Strategie, ein Begriff, der inhaltlich nicht auf eine Metaphysik, sondern auf die Wirklichkeit gesellschaftlicher Kämpfe verweist. Eben deshalb sind bei Foucault auch Widerstände und nicht Schöpfungen primär.

324

WIDER DEN DUALISMUS: DIE TYPOLOGIE ABSTRAKTER MASCHINEN

Immanenzplan oder zwischen glattem und gekerbtem Raum. Die abstrakte Maschine operiert, je nach Zustand, nämlich auf zwei Ebenen oder mit zwei Plänen zugleich: Sie entwickelt einen transzendenten Organisationsplan, der, von »oben« kommend, Formen und Subjekte determiniert; sie steckt aber auch einen immanenten Konsistenzplan ab, der, vom absoluten Außen kommend, nur noch Affekte, Ereignisse und Prozesse des Werdens umfasst. Beide Pläne setzen sich dabei wechselseitig voraus. Im Hinblick auf das linguistische Problem der Standardsprache lässt sich ausgehend vom ersten Plan beispielsweise die These vertreten, das Amerikanische kontaminiere heute alle übrigen Sprachen, sei imperialistisch; vom zweiten her ist gerade das AngloAmerikanische der Ansteckung durch die vielfältigsten Systeme ausgesetzt, das black, yellow, red oder white english, und »flieht« von allen Seiten und an allen Ecken: New York, die sprachlose Stadt. (D: 163)

Einerseits konvergieren alle Sprachen heute auf das Amerikanische (Anglizismen); andererseits divergiert gerade das Amerikanische aufgrund der vielen Begegnungen mit anderen Sprachen. Es handelt sich also um das, was Tarde als Komplikation begreift: den paradoxen Umstand, dass Homogenisierung auch neue Differenzen generiert. Gerade den Formen und den Subjekten des Organisationsplans entreißt der Konsistenzplan also die Affekte, Ereignisse und Werden, die ihn ausfüllen; gleichzeitig dazu erhebt sich der Organisationsplan aber über den Konsistenzplan und beginnt darauf seine Arbeit: »Blockierung der Bewegung, Fixierung der Affekte, Organisierung der Formen und Subjekte« (ebd.: 185). Und ebenso finden sich die beiden Zustände der abstrakten Maschine in den noologischen Räumen wieder, die durch die zwei Linientypen abgesteckt werden: Einerseits der Prozess des Einkerbens, durch den das Denken einem geschlossenen Raum unterstellt wird; anderseits der Prozess des Glättens, durch den das Denken wieder zu einem offenen Raum gelangt. Was dabei zählt, ist aber weniger die Gegenüberstellung der beiden Räume, sondern vielmehr die kontinuierlichen »Übergänge und Kombinationen bei den Glättungs- und Einkerbungsvorgängen. Wie der Raum unaufhörlich unter der Einwirkung von Kräften eingekerbt wird, die in ihm wirksam sind; aber auch wie er andere Kräfte entwickelt und inmitten der Einkerbung neue glatte Räume entstehen läßt.« (TP: 693) Zum Beispiel wurde das offene Meer durch den Punkt und die Karte zwar eingekerbt, es erlangte, wie Deleuze und Guattari mit Paul Virilio anmerken, aber wieder einen gewissen glatten Raum zurück. So sorgte die Erfindung der Präsenzflotte zum Beispiel dafür, dass der zuvor noch geschlossene Raum der Handels- und Transportrouten in einen offenen und strategischen Raum der Kriegsführung übersetzt wurde. Und schließlich zeigt sich nun auch, warum eingangs darauf hingewiesen wurde, dass der sozial- und politiktheoretische Begriff der 325

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

Mikropolitik laut Deleuze eine Konsequenz ist, die sich aus der Unterscheidung der beiden Mannigfaltigkeiten und der entsprechenden Linientypen zwangsläufig ergibt. Tatsächlich sprechen Deleuze und Guattari aber, »äußerst verwirrend, manchmal von mindestens drei unterschiedlichen Linien, dann wieder nur von zwei und zuweilen sogar nur von einer« (D: 191). Diese äußerst verwirrende Herangehensweise, die in gewisser Hinsicht an die Methode der Intuition von Bergson anknüpft, hängt allerdings davon ab, von welchem Gesichtspunkt aus das Geschehen einer Mannigfaltigkeit betrachtet wird. Man kann nur von einer Linie sprechen, wenn man vom Primat der Fluchtlinie ausgeht und beobachtet, wie diese ein Außen verlängert, das in einer molekularen Mannigfaltigkeit zunächst verhandelt oder relativiert wird und in einer molaren Mannigfaltig dann fixiert wird und an ein Ende kommt. Beispielsweise haben wir gesehen, dass das absolute Außen bei Foucault für eine reine Emission (Würfelwurf) singulärer Punkte steht und dass diese Singularitäten immer Kräfteverhältnisse implizieren, die schlussendlich in gesellschaftlichen Formen integriert und aktualisiert werden. Das heißt, man folgt dem verstreuten Ereignis des Neuen entlang der großen Kraftlinie der Integration bis hin zu seiner historischen Stabilisierung. Man kann aber auch von zwei Linien sprechen, wenn man davon ausgeht, dass es sich, wie bislang dargelegt wurde, immer um zwei Richtungen ein und derselben Bewegung handelt, dass die Fluchtlinie und die Segmentierungslinie, die respektive für die beiden Typen von Mannigfaltigkeit stehen, also ständig ineinander übergehen, sich kombinieren und wechselseitig voraussetzen – auch wenn ihr Verhältnis dabei asymmetrisch bleibt, weil die Fluchtlinie darin stets primär ist. Man kann nun aber auch von drei Linien sprechen, wenn man davon ausgeht, dass es zwischen der Fluchtlinie und der Linie der Segmentierung alle möglichen Verflechtungen, Zwischenfälle und Kombinationen gibt, einen ganzen »Bereich der Verhandlung, der Übersetzung und der im eigentlichen Sinne molekularen Überführung […], in dem molare Linien manchmal schon von Rissen durchzogen und angeknackst sind und Fluchtlinien« (TP: 305) schon auf dem Weg sind, wieder verlangsamt, umgeleitet oder blockiert zu werden. Es ist diese molekulare Zwischenwelt, die durch ihre Zwiespältigkeit ständig zwischen den beiden Zuständen der abstrakten Maschine hin und her oszilliert, in der die abstrakte Maschine der Übercodierung und die abstrakte Mutationsmaschine also koexistieren und sich verschränken, in der sich der transzendente Organisationsplan und der immanente Konsistenzplan überkreuzen und in der sich der glatte und der einkerbte Raum gegenseitig überschneiden. Neben der Linie der Segmentarität (Reterritorialisierung) und der Fluchtlinie (absolute Deterritorialisierung) kann, um diese Zwischenwelt hier nun zu benennen, von einer molekularen Linie (relative Re- und Deterritorialisierung) gesprochen werden, das heißt, von einer 326

WIDER DEN DUALISMUS: DIE TYPOLOGIE ABSTRAKTER MASCHINEN

dritten Linie, die »zwischen den beiden Linien festgehalten wird, bereit, sich der einen oder anderen Seite zuzuneigen« (ebd.: 280), entweder zu fliehen oder wieder eingefangen zu werden. »Kurz gesagt, es gibt eine Fluchtlinie, die mit ihren Singularitäten schon komplex ist; aber es gibt auch eine gewohnte oder molare Linie mit ihren Segmenten; und zwischen den beiden (?) gibt es eine molekulare Linie mit ihren Quanten, durch die sie zur einen oder anderen Seite neigt.« (ebd.: 277) Die Linie der Segmentarität und die Fluchtlinie überkreuzen sich auf mannigfaltige Weise in einem molekularen Zwischenbereich: Sie werden darin entlang einer molekularen Linie fortlaufend miteinander verknotet. Und es ist diese molekulare Linie, die, zwischen den anderen beiden Linien verlaufend, das ganze Gebiet der Mikropolitik absteckt.43 In ihren sozial- und politiktheoretischen Untersuchungen gehen Deleuze und Guattari also de jure der analytischen Unterscheidung und de facto der konkreten Verknotung dieser Linienarten nach.44 Was sie dabei »mit vielfältigen Namen belegen: Schizo-Analyse, Mikro-Politik, Pragmatik, Diagrammatismus, Rhizomatik, Kartographie, hat zum alleinigen Objekt das Studium dieser Linien in den Gruppen und in den Individuen« (D: 176). Ähnlich dem Interferenzgeschehen in der molekularen Soziologie von Tarde werden individuelle und kollektive Phänomene damit als »unentwirrbare Knoten« (WP: 77) begriffen, als komplexe Verstrickungen, in denen sich die verschiedenen Linien auf singuläre Art und Weise verknoten. Das bedeutet aber nicht, dass »diese Linien präexistent wären; wechselseitig immanent, ineinander verwoben, zeichnen und bilden sie sich in dem Moment« (D: 186), in dem sie sich ineinanderfügen. Sie bilden sich in situ durch ihre meist zufällige Begegnung.45 In diesem Sin43 Weil es sich um einen umkämpften Zwischenbereich handelt, in welchem die beiden Typen der abstrakten Maschine sich fortlaufend auseinandersetzen, kann im Sinne der beiden Machtypologien, die Deleuze im Anschluss an Spinoza unterscheiden, hier auch respektive von puissance und pouvoir gesprochen werden: von der typologischen Unterscheidung zwischen aktiven und reaktiven Existenzweisen. »The power of change arising from and increasing with connections among quantum flows, versus the power to conjugate, arrest and dominate flows. It is because the zone of indiscernibility is the site of this key power struggle that Deleuze and Guattari attach such importance to micropolitics.« (Holland 2018: 162) 44 Zum Beispiel verweisen Deleuze und Guattari in Anti-Ödipus auf »paranoische Integrationslinien« auf der einen Seite und »schizophrene Fluchtlinien« (AÖ: 439) auf der anderen Seite. 45 Es ist beispielsweise ein mannigfaltiges Ereignis, das in seiner Dispersion die Geburtsstunde des Kapitalismus markiert. Insofern basiert die Universalgeschichte des Kapitalismus laut Deleuze und Guattari auch auf der Kontingenz molekularer Begegnungen. Grundsätzlich folgen Deleuze und Guattari

327

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

ne weiß man weder von vornherein, was als Fluchtlinie fungieren wird, »noch kennt man die Form dessen, was dieser einmal den Weg versperren wird« (ebd.). Wie schon bei Spinoza, der daran erinnert, dass man nie von vornherein wissen kann, was ein Körper alles kann, zu welchen Zusammensetzungen er in der Ordnung der Begegnungen fähig sein wird, weiß man hier, im Gefüge heterogener Linien, auch nie im Voraus, »was eintreten wird, weil man weder Zukunft noch Vergangenheit mehr hat« (ebd.: 71) und immer zwischen drinnen ist, in einem Werden ohne Anfang und Ende.46 Die Bestimmung der Linientypen hängt also »nicht von theoretischen Analysen ab, die von Universalien ausgehen, sondern von einer Pragmatik, die Mannigfaltigkeiten oder Intensitätskomplexe zusammensetzt« (TP: 27) und dabei stets ad hoc verfährt. Da man dabei Marx und definieren den Kapitalismus als »das Zusammentreffen zweier wesentlicher Elemente: auf der einen Seite der deterritorialisierte Arbeiter, der frei und bloß geworden ist, nur seine Arbeitskraft zu verkaufen hat, auf der anderen Seite das decodierte Geld, das Kapital geworden und instand gesetzt ist, jene zu kaufen. Daß diese beiden Elemente aus der Segmentarisierung des despotischen Staates im Feudalismus und aus der Auflösung des Feudalsystems selbst und seines Staates hervorgehen, erschafft [aber] noch nicht die äußerliche Konjunktion dieser beiden Ströme, des Produzenten- und des Geldstroms« (AÖ: 289), wie sie für den Kapitalismus dann charakteristisch sein wird. Es gibt bei Deleuze und Guattari nun aber keine Geschichtsphilosophie mehr, um das Aufeinandertreffen der beiden Elemente (Arbeit und Kapital) im Ausklang der alten feudalen Gesellschaft zu erklären. Warum treffen beide Ströme, Arbeitsstrom und Geldstrom, aber dann aufeinander? »Kontingente Faktoren aller Art begünstigen die Vereinigungen.« (ebd.: 290) Für den Arbeiter: »Deterritorialisierung von Grund und Boden durch Privatisierung; Decodierung der Produktionsinstrumente durch Enteignung; Privation der Konsumtionsmittel durch Auflösung der Familie und der Zünfte; schließlich Decodierung des Arbeiters zugunsten der Arbeit selbst oder der Maschine – und für das Kapital Deterritorialisierung des Reichtums durch Geldabstraktion; Decodierung der Produktionsströme durch Handelskapital; Decodierung der Staaten durch Finanzkapital und öffentliche Schulden, Decodierung der Produktionsmittel durch Bildung des Industriekapitals, usw.« (ebd.: 289) Die Analyse muss hier molekular werden, sie muss sich in das verstreute Ereignis hineinversetzen, dabei Linien folgen, Begegnungen notieren, Verknotungen auflösen, Beschleunigungen oder Verlangsamungen aufzeichnen – sie muss ein multidimensionales Strömungsgeschehen kartografieren. 46 Auch Tarde betont die Notwendigkeit, eine jede Untersuchung nicht in einem Ursprung, sondern im Dazwischen beginnen zu lassen: »Ne remontons pas à l’origine des choses, au début des sociétés. Le seul moyen d’éclairer un peu le problème des origines, en toute matière, c’est de se placer d’abord in medias res, et d’y saisir l’action de forces qui, plus tard, pourront servir à expliquer la formation de choses dont elles expliquent d’abord les transformations.« (Tarde 1902b: 562)

328

WIDER DEN DUALISMUS: DIE TYPOLOGIE ABSTRAKTER MASCHINEN

nämlich nie von vornherein wissen kann, was in einem bestimmten Fall eine Fluchtbewegung auslöst, wie sie verläuft, wen sie einbezieht, wer sich ihr entgegenstellt oder warum sie plötzlich in ihr Gegenteil umschlägt – weil das alles den Umständen geschuldet ist und weil die Umstände sich mit der Bewegung selbst bewegen, muss auf eine pluralistische »Interpretation« im Sinne von Nietzsche zurückgegriffen werden. Mit Nietzsche geht Deleuze also davon aus, »daß ein Ding mehrere Bedeutungen, einen multiplen Sinn besitzt, […], daß es mehrere Dinge, daß es ›dies und dann das‹ für ein und dasselbe Ding gibt« und dass diese pluralistische Idee »die höchste Errungenschaft der Philosophie« (NP: 8) darstellt. Man kann demnach niemals im Voraus sagen, dass eine der Linien »von Natur aus und zwangsläufig gut oder schlecht wäre« (TP: 309), man kann bloß ihre »Wege und Bewegungen kennzeichnen und mit Koeffizienten für Gelingen und Gefahr versehen« (U: 54). Man muss den Linien folgen. Dann wird sich zum Beispiel zeigen, dass die molare Linie der Segmentarität nicht automatisch unterdrückerisch und »schlecht« ist. Sie sorgt nämlich immer auch für eine gewisse »Sicherheit, die große molare Organisation, die uns stützt, Baumstrukturen, an die wir uns klammern, binäre Maschinen, die uns einen wohldefinierten Status geben, Resonanzen, an denen wir uns beteiligen, das System der Übercodierung, das uns beherrscht – all das wünschen wir uns« (TP: 310). Ganz egal, ob es sich um unsere Wahrnehmungen, Handlungen, Lebensarten oder Deutungsmuster handelt: immer bietet uns die Linie der Segmentarität durch ihre harten Segmente eine Flucht vor der Flucht: »Je härter die Segmentarität ist, um so mehr beruhigt sie uns« (ebd.). Ordnung, Sicherheit, Gewissheit, Übersichtlichkeit und Voraussicht sind Dinge, die wir brauchen: die, um mit Bergson zu sprechen, die Notwendigkeiten unseres praktischen Lebens erfordern und insofern »gut« sind. Gleichzeitig ist diese Linie, selbst dann, wenn sie tatsächlich von einem unterdrückerischen Machtzentrum ausgeht, aber alles andere als souverän. Es wäre beispielsweise »ein Irrtum zu erklären: Es gibt einen immer umfassender werdenden Staat, Herr seiner Pläne, der fortwährend seine Fallstricke legt; […]. Tatsächlich ist selbst der zentralisierteste Staat keineswegs Herr seiner Pläne, selbst er ist aufs Experiment verwiesen« (D: 202). Er ist sogar durch seine »Machtlosigkeit im Verhältnis zu den Strömungen und Quanten« (TP: 309) zu charakterisieren. Er kann diese Strömungen auf einer molekularen Ebene vielleicht umleiten oder verlangsamen, sie sind ihm in ihrer Fluchtbewegung aber stets einen Schritt voraus sind: »Man hat nicht mal die Vermehrung der ›Geldmenge‹ im Griff« (ebd.: 308).47 47 Wo es aber gelingt, Strömungen und Quanten umzulenken oder zu verlangsamen, ist ein Machtzentrum immer »molekular und übt seine Macht in

329

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

Es ist aber ebenso ein Irrtum, »zu glauben, es wäre damit getan, endlich die Fluchtlinie oder die Linie des Bruchs zu nehmen« (D: 195). Zunächst muss die Fluchtlinie einmal gezogen werden. Dabei stellt sich die Frage, ob eine Fluchtlinie sich mit anderen Fluchtlinien verbindet oder von diesen sogar behindert wird. Beispielsweise ist »die Fluchtlinie von irgendjemandem, einer Gruppe oder einem Individuum, […] möglicherweise nicht günstig für die von jemand anderem; sie kann sie ihm im Gegenteil versperren, verstopfen und ihn um so tiefer in die harte Segmentarität zurückstoßen« (TP: 280). Die Einschätzung der Fluchtlinien erfordert also stets eine pluralistische Interpretation, die die »Wahrheit der Relativität« (FA: 40) und eben nicht die Relativität des Wahren zum Ausdruck bringt. In diesem Sinne kann, unter besonderen Umständen, sogar noch das härteste Segment dazu dienen, eine Flucht einzuleiten oder sie in ihrem Verlauf zu beschleunigen.48 Und überhaupt wären »molekulare Fluchtbewegungen […] nichts, wenn sie nicht über molare Organisationen zurückkehren würden« (TP: 295), Organisationen, in denen sie sich konsolidieren und ihre Errungenschaft einstweilen absichern können. Selbst das deterritorialisierende Denken nomadischer Wissenschaften erfordert »eine Reterritorialisierung im Begriffsapparat« (ebd.: 514), also die Maßbestimmungen, Kategorien, Taxonomien, Methodologien oder Modelle der sesshaften Wissenschaft – die womöglich aber wieder Fluchtgelegenheiten in ganz anderen Bereichen bieten.49 Es kann aber auch vorkommen, dass sich eine schöpferische Fluchtlinie in ihr Gegenteil verkehrt: »in schlichte und einfache Vernichtung, in eine Lust am Vernichten« (TP: 313). Während der totalitäre Staat zum Beispiel »alle möglichen Fluchtlinien verstopfen will, entsteht der Faschismus auf einer intensiven Fluchtlinie, die er in eine reine Zerstörungs- und Vernichtungslinie verwandelt« (ebd.: 314). Das heißt, auch einem mikrologischen Gewebe aus, in dem es nur noch diffus, verstreut, vereinfacht und verkleinert vorhanden ist und unaufhörlich verschoben wird, indem es mit feinen Segmentierungen arbeitet und im Detail, im Detail von Details wirksam wird« (TP: 306). In diesem Sinne spricht Foucault auch von Unruheherden der Macht, von ambivalenten und offenen Konfrontationspunkten, »an denen Umschichtungen und Akkumulationen, aber auch Ausbrüche und Fluchtbewegungen zusammenstoßen und an denen es zu Umkehrungen kommt« (ebd.), zu Umkehrungen von Kräfteverhältnissen, die jeweils problematische Ereignisse zum Ausdruck bringen. 48 Wie Mariana Mazzucato (2014) zum Beispiel gezeigt hat, war der Staat historisch gesehen nicht etwa ein Hindernis, sondern sogar die Voraussetzung für die meisten technologischen und wirtschaftlichen Innovationen. 49 Auf ähnliche Art und Weise erklärt Tarde, dass der Mensch dem Joch der Gebräuche nur entkommt, »um wieder unter seinen Einfluss zurückzufallen, d.h. um jene Errungenschaften zu verwurzeln und zu stärken, die er seiner vorübergehenden Emanzipation verdankt« (T|GN: 264).

330

WIDER DEN DUALISMUS: DIE TYPOLOGIE ABSTRAKTER MASCHINEN

wenn er schlussendlich in den Tod führt und damit eine reaktive Existenzweise zum Ausdruck bringt, ist der Faschismus zunächst doch eine echte Fluchtbewegung. In diesem Sinne wird der Faschismus auch gerade durch seine »molekulare Macht gefährlich, denn er ist eine Massenbewegung: eher ein krebsbefallener Körper als ein totalitärer Organismus.« (ebd.: 293) Auch dann, »wenn der nationalsozialistische Staat sich etabliert hat, ist er auf das Weiterbestehen dieser Mikro-Faschismen angewiesen, die ihm ein unvergleichliches Handlungsmittel gegenüber den ›Massen‹ geben« (ebd.: 292) und es erlauben, eine Gesellschaft auf einer molekularen Ebene zu durchströmen und besetzen. »Das amerikanische Kino hat diese molekularen Unruheherde oft gezeigt, den Faschismus der Bande, der Gang, der Sekte, der Familie, des Dorfes, des Stadtteils.« (ebd.: 293) Weder autoritärer Zwang noch ideologische Täuschung: Der Faschismus stützt sich vielmehr auf vielgestaltige Alltags-Faschismen, die »bereits das Verhalten, die Einstellung, die Wahrnehmung, die Antizipationen, die Semiotiken etc. prägen« (ebd.) und ein echtes Begehren nach Faschismus als reaktive Existenzweise zum Ausdruck bringen. Eben deshalb gehen Deleuze und Guattari auch davon aus, dass es allzu leicht ist, »auf molarer Ebene ein Antifaschist zu sein, ohne den Faschisten zu sehen, der man selber ist, den man unterstützt und nährt und an dem man selber mit persönlichen und kollektiven Molekülen liebevoll hängt« (ebd.).50 Diese grundsätzliche Ambivalenz einer jeden Fluchtbewegung verweist nun auch auf das Problem, dem sich Deleuze und Guattari vorrangig in ihrer Politik zuwenden: was kann man angesichts eines Systems [Kapitalismus], das wirklich überall leckt und das gleichzeitig nicht aufhört, die Lecks, die Fluchten 50 Hartmut Rosa (2016) schlägt eine ähnliche Faschismustheorie vor, wenn er wie Deleuze und Guattari darauf hinweist, dass die Massen den Faschismus gewissermaßen herbeigewünscht haben, insofern dieser es verstanden hat, an den Wunsch nach Resonanz der Menschen zu appellieren: »In den Liedern, den Fackeln, den Umzügen und in den Massenversammlungen, in den feierlichen Beschwörungen und den Uniformen inszenierten die Nazis ein gewaltiges Resonanzspektakel, das die Menschen unmittelbar ›viszeral‹ zu berühren verstand« (Rosa 2016: 370), sie also tiefgreifend affizierte. Zum anderen zeigt Rosa aber auch, dass die Fluchtwege, die der Faschismus den Massen damit aufgezeigt hat, sich in ihr Gegenteil verkehrt und direkt in den Tod geführt haben. Denn von Anfang an liefen die Fluchtwege auf ein stummes, entfremdetes Weltverhältnis hinaus. Über den Faschismus hinaus scheint die Resonanztheorie von Rosa in einem regelrechten Resonanzverhältnis zu Deleuze zu stehen. So können die beiden Maschinenzustände, d.h., die Vermehrung und Verminderung mächtiger Beziehungen oder die aktive und reaktive Existenzweise, die, der ethischen Differenz entsprechend, daraus jeweils hervorgehen, in gewisser Hinsicht mit

331

GESELLSCHAFT ALS MANNIGFALTIGKEIT

mit allen Mittlen zu verhindern, zu unterdrücken oder abzudichten, was kann man tun, damit diese Fluchten nicht bloß individuelle Versuche oder Versuche kleiner Gemeinschaften bleiben, sondern wirklich eine revolutionäre Maschine bilden? (EI: 406)

Wenn Fluchtlinien primär sind, muss man sich weniger darum kümmern, wie oder wo Widerstand möglich ist, sondern darum, wie Veränderung, sobald sie sich ereignet, sobald also irgendwo etwas leckt oder flieht, nachhaltig organisiert werden kann. Revolution ist für Deleuze und Guattari also vor allem ein Organisationsproblem: »Wie könnte eine Kriegsmaschine allen Fluchten, die im gegenwärtigen System auftreten, Rechnung tragen, ohne sie zu unterdrücken, zu liquidieren und ohne einen Staatsapparat zu reproduzieren?« (ebd.: 407) Wie lassen sich heterogene gesellschaftliche Kräfte – z.B. die neuen sozialen Bewegungen, die am Ende des 20. Jahrhunderts entstanden sind – in einer gemeinsamen Fluchtbewegung organisieren, ohne dabei auf eine restriktive, konservative Ordnung zurückzufallen. Wie lässt sich also verhindern, dass eine Fluchtbewegung verhärtet oder gar zerstörerisch wird? Wa­ rum sind Revolution bisher so schlecht verlaufen? Man denke nur an die frühe Euphorie der französischen Revolution und an die darauf folgende Terrorherrschaft. Es hat bislang »auf dem revolutionären Feld keine Kriegsmaschine gegeben, die auf ihre Weise nicht auch etwas ganz anderes reproduziert hätte, nämlich einen Staatsapparat, den Organismus der Unterdrückung schlechthin« (ebd.). Genau darin, eine Flucht vor der Flucht so weit wie möglich zu vermeiden, liegt das praktische Problem, dem Deleuze und Guattari in ihrer politischen Zusammenarbeit nachgehen. Eine Mannigfaltigkeit umfasst also alle Linientypen gleichzeitig. Und vor allem umfasst sie alle Beziehungen und Verflechtungen, die sich zwischen den Linien und ihren singulären Verläufen ergeben. Weil sie von diesem Dazwischen ausgehen, gibt es für Deleuze und Guattari auch keine Universalien, keine Transzendentalien, nicht das Eine, kein Subjekt (kein Objekt), keine Vernunft, es gibt nur Prozesse; das können Prozesse der Vereinheitlichung, der Subjektivierung, der Rationalisierung sein, mehr aber nicht. Diese Prozesse wirken in konkreten ›[Mannigfaltigkeiten]‹, die [Mannigfaltigkeit] ist das wahre Element, in dem irgend etwas passiert. […] Alle Prozesse finden auf der Immanenzebene statt und in einer angebbaren [Mannigfaltigkeit]: Vereinheitlichung, Subjektivierung, Rationalisierung, Zentralisierung haben keinerlei Privileg, es sind oft Sackgassen oder Umzäunungen, die das Wachstum der [Mannigfaltigkeit], die Verlängerung und Entwicklung ihrer Linien, die Produktion von Neuem verhindern. (U: 212 f.) der Unterscheidung zwischen resonanten und stummen Weltbeziehungen bei Rosa verglichen werden.

332

WIDER DEN DUALISMUS: DIE TYPOLOGIE ABSTRAKTER MASCHINEN

Die Linien einer Mannigfaltigkeit sind »regelrechte Prozesse des Werdens« (SG: 291) und diese lassen sich »nicht nach dem Resultat beurteilen, das sie beenden, sondern nur nach der Qualität ihres Verlaufs und der Stärke ihres Fortgangs« (U: 213) zwischen allen anderen Prozessen.51 Es mag Prozesse oder Linien geben, die eine Mannigfaltigkeit subjektivieren, rationalisieren oder zentralisieren und ihre Bewegung damit verlangsamen, umleiten oder aufhalten: Diese Prozesse befinden sich aber immer »in der Mannigfaltigkeit, zu der sie gehören, und nicht umgekehrt« (SG: 290). Sie gehören zur selben Mannigfaltigkeit, wie die Prozesse, die ihnen entgegenlaufen und sich ihnen entziehen. Alles findet also dazwischen, auf einer Immanenzebene statt: »Immer Dinge, die sich kreuzen, niemals Dinge«, die sich auf etwas anderes (das Eine, die Vernunft, das Subjekt usw.) »reduzieren« (D: 155). Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass die entscheidenden Differenzen nicht zwischen Individuum und Kollektiv, Makro und Mikro, Natur und Kultur, Mensch und Maschine oder »Gut« und »Böse« liegen. Anstatt von diesen allzu allgemeinen Dualismen oder Binaritäten auszugehen, werden Linientypen oder Prozessualitäten unterschieden: dividierende und dualisierende Prozesse auf der einen Seite (samt den arboreszenten Binaritäten, die daraus resultieren); unterminierende und multiplizierende Prozesse auf der anderen Seite (samt den rhizomatischen Verbindungen, die diese produzieren). Diese Unterscheidung de jure dient aber nur dazu, um zu sehen, wie beide Linientypen oder Prozessualitäten sich de facto wechselseitig voraussetzen, konkret verknoten und damit »einer Mannigfaltigkeit entsprechen – ebendies heißt die Linien ziehen, […], die Natur dieser Linien bestimmen, beobachten, wie sie sich verflechten, sich verbinden, abzweigen, die Brennpunkte vermeiden oder nicht« (SG: 291). Die Linien und ihre Verläufe, ihre Wendungen und Windungen, Verknotungen und Verbindungen, die Weise, in der sie sich den Umständen entsprechend wechselseitig voraussetzen oder auch behindern und vor allem das Primat, das in diesem Geschehen der Fluchtlinie zukommt – alles das bringen Deleuze und Guattari mit dem, was sie als Gefüge (agencement) bezeichnen, auf den Begriff. Deshalb wird dieser Begriff im folgenden Kapitel nun auch näher besprochen.

51 Marc Rölli weist darauf hin, dass hier auch »ein Motiv für die philosophische Aktualität von Deleuze und die häufig geäußerte Ansicht [liegt], dass man für die heute gesuchte Ontologie der Prozesse, der Natur oder des Lebens, der Existenzweisen und Kollektive oder auch eines neuen Realismus und einer neuen Metaphysik noch am ehesten in seiner Differenzontologie fündig werde. Allerdings macht man es sich hier auch schnell zu leicht, indem man die Differenzontologie der Prozesse mit einer Romantik der Unbestimmtheit verwechselt.« (Rölli 2018b: 197)

333

8. Was ist ein soziales Gefüge? 8.1 Werden im Gefüge Der Begriff multilinearer Mannigfaltigkeiten steht für eine entscheidende Entwicklung im Denken von Deleuze. Wenn in Differenz und Wiederholung, aber auch in den philosophiehistorischen Studien, die diesem frühen Hauptwerk vorausgehen, noch versucht wird, die transzendentale Kritik zu erneuern, diese von ihren repräsentationslogischen Illusionen zu befreien, um anhand einer originellen Unterscheidung zwischen Aktuellem und Virtuellem der Differenz an sich selbst ihren eigenen Begriff zu verleihen – dann verschiebt sich die Aufmerksamkeit von D ­ eleuze in den darauf folgenden Arbeiten mehr und mehr auf praktische oder »funktionalistische« Probleme. Der kritische Ansatz der frühen Arbeiten wird dabei zwar nicht verabschiedet, es geht nun aber weniger darum, die repräsentationslogische Unterwerfung der Differenz unter das Identische und damit die empirischen Formen im Modell der Rekognition (Gemeinsinn und gesunder Menschenverstand) pauschal zu kritisieren: Es geht vielmehr darum, die komplexe Interdependenz zwischen virtuellen und aktuellen Differenzordnungen in konkreten gesellschaftlichen Phänomenen zu untersuchen. Die Theorie der Linientypen, wie sie etwa in Anti-Ödipus, Kafka und vor allem Tausend Plateaus konzipiert wird, bringt diese Akzentverschiebung exemplarisch zum Ausdruck. Wie Anne Sauvagnargues bemerkt, werden darin soziale und politische, aber auch linguistische, literarische, biologische oder geologische Phänomene nämlich als Linienbündel konzipiert, als multidimensionale Mannigfaltigkeiten, in denen das Aktuelle dem Virtuellen nicht mehr als Endpunkt gegenübersteht, sondern als (gegenläufiger) Prozess selbst an der Genese dieser Phänomene mitwirkt. So haben wir gesehen, dass eine Mannigfaltigkeit nicht nur Linientypen umfasst, auf denen ein virtuelles Ereignis sich in die Länge zieht, eine molekulare Veränderung bewirkt und die Mannigfaltigkeit damit öffnet und bewegt, sondern auch andere Linientypen, die diese Bewegung verlangsamen, umleiten oder blockieren und dafür sorgen, dass sich in einem aktuellen Phänomen eine ganz bestimmte Form der Vereinheitlichung, Subjektivierung, Rationalisierung, Zentralisierung oder Totalisierung durchsetzt. Vor allem in Tausend Plateaus – wo das Hauptaugenmerk nicht mehr darauf gerichtet ist, prinzipiell »Arten von Dualitäten festzustellen« (EI: 405), sondern darauf, wie genau »das eine im anderen verankert ist, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt« (ebd.) – wird gezeigt, dass schöpferische Prozesse nie von gegenläufigen Prozessen getrennt werden können. Aus diesem Grund interessiert sich Deleuze 335

WAS IST EIN SOZIALES GEFÜGE?

auch zunehmend für die »historische und vielgestaltige Konfrontation« (SG: 127) dieser Prozesse, für die Art und Weise, in der diese sich in historischen Phänomenen in concreto verflechten. Es ist auch dieses Interesse, das in den Jahren nach Differenz und Wiederholung all jene Studien leitet, in denen Deleuze sich mit so unterschiedlichen Gegenständen wie dem klassischen und modernen Kino, der Malerei von Francis Bacon, der englischsprachigen Literatur und vor allem auch mit politischen und gesellschaftstheoretischen Problemen beschäftigt. Interessiert sich Deleuze nun mehr und mehr dafür, wie genau virtuelle oder molekulare Kräfteverhältnisse in historischen Formationen aktualisiert, konsolidiert oder geschichtet werden, dann ist dies auch auf den großen Einfluss zurückzuführen, den Michel Foucault auf sein Denken ausübt. Dabei ist es vor allem ein völlig neues Verhältnis zur Geschichte, das Deleuze bei Foucault bewundert. Foucault betreibt zwar historische Studien, leistet aber nicht die Arbeit eines Historikers, bleibt vielmehr Philosoph und schafft insofern auch eine »streng philosophische Art des Fragens, die ihrerseits neu ist und auf die Geschichte zurückwirkt« (FO: 71). Damit geht Foucault nicht nur über (ältere) teleologische Geschichtsphilosophien, sondern auch über jene (linearen) Geschichtsschreibungen hinaus, die er in der Archäologie des Wissens humoristisch als das »liebenswerte, aber verspätete Spielchen von Historikern in kurzen Hosen« (F|AW: 205) bezeichnet. Im Sinne dieser neuen, philosophischen Art des Fragens werden »die historischen Formationen als Mannigfaltigkeiten betrachtet. Diese entziehen sich der Herrschaft des Subjekts ebenso wie dem Reich der Struktur« (FO: 26 f.) und stehen laut Deleuze vielmehr für aleatorische Kräfteverhältnisse, in denen sich ein singuläres Werden ereignishaft zum Ausdruck bringt. Das Werden gehört für Deleuze damit nicht zur Geschichte. Denn was diese vom Ereignis erfasst, ist nur dessen Verwirklichung in empirische Sachverhalten, bloße Resultate, die, einer retrospektiven Illusion unterliegend, meist kausal eingeordnet werden (Chronos), ohne dabei dem Werden, das mit dem Ereignis gewaltsam hereinbricht (Äon), auch nur ansatzweise gerecht zu werden. Letztlich »bezeichnet die Geschichte lediglich die Gesamtheit der wie immer rezenten Bedingungen, von denen man sich abwendet, um zu werden, das heißt, um etwas Neues zu schaffen. […] Ohne die Geschichte bliebe das Werden unbestimmt, bedingungslos, aber das Werden ist nicht geschichtlich.« (WP: 110) In diesem Sinne begreift Deleuze nun auch das neue Verhältnis zur Geschichte, das er bei Foucault findet. Die Geschichte ist damit nicht mehr das, was uns umgibt, was uns sagt, wer wir sind und damit unsere Identität begründet. Sie ist vielmehr das, wovon wir uns gerade unterscheiden, uns also zeigt, was wir gerade hinter uns lassen, um etwas anderes zu werden. Darum beschäftigt sich Foucault auch mit historischen Serien 336

WERDEN IM GEFÜGE

aus der jüngeren Vergangenheit (Gefängnis, Sexualität, Wahnsinn usw.). »Und selbst wenn er, wie in seinen letzten Büchern, eine Serie von langer Dauer in Betracht zieht, angefangen bei den Griechen und Christen, so geschieht das, um herauszufinden, worin wir keine Griechen, keine Christen mehr sind und anderes werden.« (U: 137) Es kommt insofern darauf an, die Linien zu entwirren, den Anteil der Geschichte und den des Werdens zu unterscheiden, um ihr Verhältnis für uns zu bestimmen. Wenn Foucault ein großer Philosoph ist, so deshalb, weil er sich der Geschichte zugunsten von etwas anderem bedient hat: wie Nietzsche sagte, gegen die Zeit wirken und damit auf die Zeit einwirken, »zugunsten, hoffentlich, einer künftigen Zeit«. Was Foucault zufolge als das Aktuelle oder das Neue erscheint, ist das, was Nietzsche das Unzeitgemäße, das Nichtaktuelle nannte, jenes Werden, das mit der Geschichte abzweigt, jene Diagnose, die auf anderen Wegen die Analyse ablöst. (SG: 329)

Ausgehend von den Interviews, die er im Laufe seines Lebens gegeben hat, begreift Deleuze Foucaults historische Studien vor allem als Gegenwartskritik.1 Wenn Foucault nämlich auf historisches Material zurückgreift, dann um zu zeigen, was wir gerade werden, welche Gegenwart es ist, die wir hinter uns lassen, um anders zu werden. Deshalb betont Deleuze auch, dass für Foucault insbesondere die Differenz zwischen Gegenwärtigem und Aktuellem zählt, zwischen dem, was wir noch sind und dem, was wir gerade dabei sind, zu werden. So gesehen markiert das Aktuelle das Neue, die Differenz, das Interessante, das Unzeitgemäße: Ein ereignishaftes Werden, das sich dem Zeitlosen der Ewigkeit ebenso entzieht, wie der Zeit der Geschichte. Damit setzt Deleuze das Internelle bei Péguy, das Unzeitgemäße bei Nietzsche und das Aktuelle 1 Vor allem Überwachen und Strafen, das sich auf das 18. und 19. Jahrhundert bezieht, ist »nicht zu trennen vom heutigen Gefängnis und der Gefangenen-Informationsgruppe, die Foucault und Defert nach 68 ins Leben gerufen hatten. Die historischen Formationen interessieren ihn nur deshalb, weil sie zeigen, woher wir kommen, was uns umgibt und womit wir gerade brechen, um neue Verhältnisse zu finden, die uns ausdrücken. Was ihn wirklich interessiert, ist das Verhältnis, das wir heute zum Wahnsinn haben, unser Verhältnis zu den Strafen, unser Verhältnis zur Macht, zur Sexualität. Nicht die Griechen, sondern unser Verhältnis zur Subjektivierung, unsere Weise, uns als Subjekt zu konstituieren.« (U: 153) Aus diesem Grund müssen die Gespräche, die Foucault zum Erscheinen seiner Bücher gegeben hat und in denen er Bezug auf aktuelle Phänomene genommen hat, Deleuze zufolge auch als Teil seines Werkes angesehen werden. »Wenn Foucault bis zum Ende seines Lebens seinen Gesprächen so große Bedeutung beimaß, in Frankreich und mehr noch im Ausland, so nicht aus Vorliebe für das Interview, sondern weil er darin jene Aktualisierungslinien zog, die eine andere Ausdrucksweise erforderten als die assimilierbaren Linien in den großen Büchern.« (SG: 331)

337

WAS IST EIN SOZIALES GEFÜGE?

bei Foucault auf eigenwillige Art und Weise mit seinem eigenen Begriff des Werdens gleich.2 Exemplarisch für dieses neue Interesse an unzeitgemäßen Werdensprozessen ist die Unterscheidung zwischen Majorität und Minorität in Tausend Plateaus. Was Deleuze und Guattari als Majorität bezeichnen, bezieht sich, wie wir bereits gesehen haben, nicht auf die relative Größe einer Menge, sondern auf die Bestimmung eines Standards, demgegenüber selbst die größte Menge noch eine Minorität darstellt: z.B. der weiße, europäische, städtische, heterosexuelle, …, rationale Mann. Es geht also nicht darum, dass es beispielsweise mehr Männer als Frauen gibt, sondern darum, dass »der Mann« einen Standard markiert, »auf den bezogen die Männer notwendigerweise (analytisch) eine Mehrheit darstellen.« (TP: 396) Wenn das Majoritäre den Standard markiert, mit dem man konform gehen muss, dann kann das Minoritäre nur eine bestimmte Abweichung davon sein. Dabei bezeichnet das Minoritäre aber nicht einfach ein Gegenmodell zum Standardmodell, es bezeichnet vielmehr einen ergebnisoffenen Prozess, eine molekulare Strömung, ein reines Werden, das der Majorität und damit jedem Modell entflieht. Das Minoritäre darf also nicht mit einer Minderheit verwechselt werden. Es genügt nicht, sich etwas selbstgerecht auf die Seite einer bestimmten Minderheit zu schlagen, um der Majorität zu entkommen. Denn auch Minderheiten können einen Standard markieren, der sie implizit auf das Majoritäre bezieht: die sanfte, fürsorgliche, …, empathische Frau als molares Pendant zum Mann.3 Mehr noch: Um der Majorität zu entfliehen müssen die Minderheiten selbst minoritär werden. Wie die Black Panthers sagten, müssen sogar die Schwarzen schwarz werden. Sogar die Frauen müssen Frau werden. Sogar die Juden müssen 2 Die Leseart, die Deleuze hier anbietet, ist, wie schon bei anderen Autoren, durchaus originell und dient insbesondere dazu, seine eigene Position zu entwickeln. Eine kritische Auseinandersetzung in diesem Zusammenhang liefert Paul Patton. »Deleuze’s characterization of Foucault in these passa­ ges closely resembles the terms in which he describes his own conception of philosophy. However, […], this characterization of Foucault is profoundly misleading. His conception of philosophy is not the same as that of Deleuze. He has a different usage of the term ›actuality‹ and a different relationship with history.« (Patton 2012: 70) 3 Sofern sich eine Minorität selbst ein Modell erschafft, wird sie unweigerlich selbst majoritär. Deleuze und Guattari bestreiten nun aber nicht, dass es für Minoritäten äußerst wichtig ist, sich als Majorität zu konstituieren, beispielsweise um eine entsprechende Anerkennung oder die damit einhergehenden Ansprüche politisch einfordern zu können. Sie betonen aber, dass die Kraft einer minoritären Bewegung gerade darin liegt, bestehende Modelle zu unterwandern, indem beispielsweise bestimmte Probleme in einer neuen, d.h. aus einer eigenen Perspektive gestellt werden. So ist es »sicher unerläßlich,

338

WERDEN IM GEFÜGE

Jude werden (dazu gehört mehr als nur ein Status). Aber wenn das so ist, dann betrifft das zwangsläufig ebenso die Nicht-Juden wie die Juden. Frau-Werden betrifft Männer ebenso wie Frauen. In gewisser Weise ist immer der »Mann« das Subjekt eines Werdens; aber er ist dieses Subjekt nur, wenn er ein Minoritär-Werden beginnt, das ihn aus der Mehrheitsidentität herausreißt. (ebd.)

Wenn der weiße, europäische, urbane, heterosexuelle, …, rationale Mann jenen Standard markiert, der ebenso Mehrheiten wie Minderheiten definiert, dann bedeutet Minoritärwerden, diesem Standard zu entfliehen. Weil jeder Mensch in dieser oder jener Hinsicht von diesem Standard abweicht, repräsentiert das Majoritäre genaugenommen niemanden, weswegen das Minoritärwerden aber auch jeden erfassen kann – »ein Frau-Werden, das den Menschen als Ganzen betrifft« (ebd.: 147). Werden Männer wie Frauen gleichermaßen zur Frau, dann insofern, als dass sich ihr FrauWerden der majoritären Geschichte (des Mannes) entzieht und etwas Neues in die Welt bringt, das sowohl »den Mann« wie »die Frau« hinter sich lässt. In diesem Sinne ist alles Werden […] ein Minoritär-Werden« (ebd.: 396), das sich der Geschichte der Majorität entzieht. Das Minoritärwerden verweist damit auf Fluchtlinien, virtuelle Ereignisse, die gegen ihre Zeit und insofern gegen die Zeit der Majorität wirken, die in einem sozialen Feld unerwartet als molekulare Veränderungen – »Jugendliche, Frauen, Verrückte etc.« (ebd.: 294 f.) – auftauchen und womöglich eine neue Geschichte aus den virtuellen Tiefen der Vergangenheit heraufbeschwören. Gemeinsam mit Guattari interessiert sich Deleuze deshalb auch für ganz verschiedene Möglichkeiten des Minoritärwerdens (nicht nur für ein Frau- oder Kind-Werden, sondern auch für das heutzutage mehr als aktuelle Nicht-Menschlich-Werden: Tier-, Pflanze- oder Mineral-Werden), weil in diesen Werdensprozessen immer etwas absolut Neues entsteht und es gerade die Genese des Neuen ist, die Deleuze in den Mittelpunkt seines Denkens setzt: »Wo tauchen heute die Keime einer neuen – individuellen oder gemeinschaftlichen – Existenzweise auf, und gibt es solche Keime in mir?« (U: 153) In einem Interview mit Roberto Maggiori erklärt Deleuze, dass das, was ihn grundsätzlich mit Foucault verbindet, gerade dieses Interesse für die Genese des Neuen ist, also die Suche nach den Bedingungen, unter denen etwas Neues entsteht. daß Frauen eine molare Politik verfolgen, durch die sie ihren eigenen Organismus, ihre eigene Geschichte, ihre eigene Subjektivität zurückgewinnen: ›Wir als Frauen...‹ tritt dann als Subjekt der Aussage auf. Aber es ist gefährlich, sich auf ein solches Subjekt einzuschränken, das nicht funktioniert, ohne eine Quelle auszutrocknen oder eine Strömung aufzuhalten« (TP: 375 f.), insofern es noch der alten binären Logik entspringt, die durch eine minoritäre Per­spektive gerade verabschiede werden soll. Frau-Werden heißt nicht, Position zu ergreifen, sondern über die duale Maschine (des Mannes) hinauszukommen.

339

WAS IST EIN SOZIALES GEFÜGE?

Wir waren nicht auf der Suche nach Ursprüngen, nicht einmal verlorenen oder annullierten, sondern wollten die Dinge dort anpacken, wo sie sprießen, in der Mitte: die Dinge aufbrechen, die Worte aufbrechen. Wir wollten nicht das Ewige suchen, nicht einmal die Ewigkeit der Zeit, sondern die Formierung von Neuem, die Emergenz oder das, was Foucault die »Aktualität« nannte. Das Aktuelle oder das Neue ist vielleicht die energeia, Aristoteles nahe, aber mehr noch Nietzsche (auch wenn Nietzsche es das »Unzeitgemäße« nannte). (ebd.: 126)

Die Suche nach den Bedingungen des Neuen verweist auf unzeitgemäße Ereignisse, in denen Geschichte und Werden auseinanderfallen. Diese Ereignisse implizieren immer ganze Linienbündel, die zu entwirren sind, Bewegungen und Gegenbewegungen, Kräfteverhältnisse und unerwartete Wendungen. Eben deshalb finden Foucault und Deleuze »keinen Geschmack an Abstraktionen, an der Einheit, am Ganzen, an der Vernunft, am Subjekt«, sondern sehen ihre Aufgabe vielmehr darin, »gemischte Zustände zu analysieren, Gefüge, Verkettungen, von Foucault Dispositive genannt« (ebd.: 125 f.). Im Anschluss an Spinoza und Nietzsche orientiert sich die Analyse gemischter Zustände aber nicht an universellen Koordinaten, setzt also keine transzendenten Kriterien (das Gute, das Wahre) voraus, sondern folgt immanenten Kriterien und beurteilt jede Mischung pragmatisch »nach ihrem Gehalt an ›Möglichkeiten‹, an Freiheit, Schöpferkraft, ohne jede Berufung auf transzendente Werte« (SG: 327). In jeder Mischung oder in jedem Linienbündel »müssen der spezifische Wert, die jeweilige Geltung der vorhandenen Fluchtlinien herausgefunden werden: Wie sie hier mit einem negativen Zeichen versehen sind, dort eine Positivität erlangen« (D: 164), wie sie hier eine Bewegung einleiten, beschleunigen oder überstürzen, diese Bewegung dort aber wieder verlangsamt, umgeleitet oder blockiert wird, wie sie hier neue Möglichkeiten schaffen, sich dort aber in ihr Gegenteil verkehren und alles zerstören, was in ihren zerstörerischen Sog (»schwarzes Loch«) gerät. Und weil dies alles gleichzeitig geschieht, kommt es darauf an, allen Linien zu folgen, eine genaue Kartographie zu erstellen, das Gewirr irreduzibler Gesichtspunkte darin zu entwirren, den multiplen Sinn der Dinge sorgsam abzuwägen, plötzliche Wendungen ernst zu nehmen, infinitesimale Differenzen und Details zu berücksichtigen und in diesem Sinne Mikroanalyse zu betreiben – »von Foucault Mikrophysik der Macht genannt und von Guattari Mikropolitik des Wunsches« (U: 125). Die Art und Weise, in der verschiedene Linien sich konkret verknoten und sich damit als heterogene Dimensionen einer Mannigfaltigkeit verschränken, wird von Foucault als Dispositiv und von Deleuze und Guattari als Gefüge oder Verkettung (agencement) bezeichnet.4 4 Nach der Publikation von Anti-Ödipus beschließen Deleuze und Guattari den Begriff der Wunschmaschine, der, wie Buchanan (2015) betont,

340

WERDEN IM GEFÜGE

Eine Mannigfaltigkeit ist genau das, was wir Gefüge nennen. Ein Gefüge, gleich welcher Beschaffenheit, umfasst notwendigerweise Linien harter und binärer Segmentarität genauso wie molekulare Linien oder Umrandungs-, Flucht- oder Neigungslinien. […] So besteht beispielsweise zwischen den abstrakten Übercodierungsmaschinen und den abstrakten Veränderungsmaschinen kein Verhältnis der Gegensätzlichkeit: Während diese von jenen segmentarisiert, organisiert, übercodiert werden, werden jene von diesen unterminiert; beide Maschinentypen wirken innerhalb des Gefüges aufeinander ein. (D: 185)

Um die mannigfaltige Verflechtung von molaren Linien der Segmentarität und molekularen Fluchtlinien »im Rahmen konkreter sozialer Felder und in einem spezifischen historischen Moment zu analysieren« (ebd.: 189), müssen Gefüge ad hoc betrachtet werden. Denn in diesen verflechten sich nicht nur verschiedene Linientypen, auch die beiden abstrakten Maschinen, die diese Linientypen jeweils vorzeichnen, kommen darin in ihrer wechselseitigen Voraussetzung zum Ausdruck. Die Genese des Neuen muss in diesem spannungsgeladenen Gefüge entlang der darin durchbrechenden Fluchtlinien nachgezeichnet werden. Das Neue verweist folglich auf eine Theorie der Gefüge und insofern auf die Differenz »zwischen den beiden Grenzen jedes möglichen Gefüges« (ebd.: 460). Im Mittelpunkt steht also das asymmetrische Verhältnis zwischen einer (primären) transformativen Tendenz, durch die ein Gefüge seine Dimension multipliziert und sich öffnet (Mutationsmaschine), und einer konservativen Tendenz, durch die das Gefüge seine Dimension einer übergeordneten (leeren) Dimension unterordnet und sich damit gegenüber dem (absolut) Neuen verschließt (Übercodierungsmaschine). Obwohl Deleuze an mehreren Stellen betont, dass das, was er zusammen mit Guattari als Gefüge bezeichnet, in großen Zügen dem entspricht, was Foucault als Dispositiv bezeichnet, wird doch erwähnt, dass es auch entscheidende Unterschiede zwischen beiden Begriffen gibt.5 wahrscheinlich dem Komplex bei Freud entlehnt ist, »nicht mehr zu verwenden« (EI: 405) und ihn stattdessen durch den »Begriff des Gefüges« (SG: 169) zu ersetzen. 5 Es mag sein, dass, wie Deleuze bemerkt, sein Begriff des Gefüges Foucault »bei seiner Analyse der ›Dispositive‹ geholfen« (U: 130) hat. Im Grunde liest Deleuze den Begriff des Dispositivs dabei aber im Sinne einer multilinearen Mannigfaltigkeit, also so, als handle es sich um ein Gefüge. So ist zu lesen: »Die Komponenten der Dispositive sind also Sichtbarkeitslinien, Aussagelinien, Kraftlinien, Subjektivierungslinien, Linien eines Sprungs, eines Risses, eines Bruchs, die sich alle durchkreuzen und verwickeln und von denen die einen die anderen wiederholen oder aber andere hervorrufen, mittels Veränderungen oder sogar Mutationen des Gesamtgefüges. Das hat für eine Philosophie der Dispositive zwei wichtige Konsequenzen. Die erste ist die Verwerfung der Universalien. Denn das Universale erklärt gar nichts, es muß selber

341

WAS IST EIN SOZIALES GEFÜGE?

Denn im Unterschied zu den Dispositiven bei Foucault sind für Deleuze und Guattari »Gefüge nicht in erster Linie Gefüge der Macht, sondern des Begehrens, da das Begehren immer Gefüge bildet und die Macht [ihrerseits nur] eine stratifizierte Dimension des Gefüges ist« (TP: 194). Es wird also nicht abgestritten, dass Gefüge Machtverhältnisse beinhalten, doch es wird darauf bestanden, dass Macht – zumindest als Herrschaftsmacht (pouvoir) – in einem Gefüge niemals primär ist. Das bedeutet, dass Machteinrichtungen und -beziehungen für Gefüge nicht konstitutiv sind, sondern darin nur eine Dimension unter vielen anderen markieren – eine gefährliche Dimension allerdings, die ein Gefüge jederzeit vereinnahmen kann. Daraufhin befragt, was ihn von Foucault trennt, erklärt Deleuze, diese Frage des Primats aufgreifend, folgendes: Für mich ist eine Gesellschaft etwas, was unaufhörlich an allen Ecken und Enden entflieht. […] Es flieht monetär, es flieht ideologisch. Es besteht wirklich aus lauter Fluchtlinien. So daß das Problem einer Gesellschaft das folgende ist: Wie läßt sich verhindern, daß es flieht? Für mich erklärt werden. Alle Linien sind Variationslinien, die nicht einmal konstante Koordinaten haben. Das Eine, das Ganze, das Wahre, das Objekt, das Subjekt sind keine Universalien, sondern einem bestimmten Dispositiv innewohnende singuläre Prozesse der Vereinheitlichung, Totalisierung, Verifizierung, Objektivierung, Subjektivierung. Deshalb ist jedes Dispositiv eine Mannigfaltigkeit, bei der derartige werdende Prozesse wirken, verschieden von denen, die in einem anderen am Werk sind. Und in diesem Sinne ist Foucaults Philosophie ein Pragmatismus, ein Funktionalismus, ein Positivismus, ein Pluralismus. […] Die zweite Konsequenz einer Philosophie der Dispositive ist eine Richtungsänderung, die sich vom Ewigen abwendet, um das Neue zu erfassen. Das Neue soll nicht die Mode bezeichnen, sondern im Gegenteil die je nach den Dispositiven variable Kreativität – gemäß der Frage, die im 20. Jahrhundert aufzukommen begann: Wie ist in der Welt der Produktion etwas Neues möglich?« (SG: 327 f.) Und selbst wenn Foucault im Dispositiv tatsächlich das Neue, das im Werden begriffen ist, erfassen möchte, dann richtet sich die Aufmerksamkeit dabei eher auf die Produktivität der Macht und weniger auf schöpferische Fluchtlinien, die Deleuze im Blick hat. So wird unter einem Dispositiv das verstanden, was »zu einem historisch gegebenen Zeitpunkt vor allem die Funktion hat, einer dringenden Anforderung nachzukommen. Das Dispositiv hat also eine dominante strategische Funktion. Dies konnte zum Beispiel die Aufnahme einer unsteten Bevölkerungsmasse sein, die eine Gesellschaft mit einer Ökonomie von im Wesentlichen merkantilistischer Art lästig fand: Es hat damit einen strategischen Imperativ gegeben, der als Matrix für ein Dispositiv fungierte, das nach und nach zum Dispositiv für die Kontrolle und Unterwerfung des Wahnsinns, der Geisteskrankheit und der Neurose wurde.« (F|DE3: 393) ­Deleuze selbst weist darauf hin, dass darin ein Unterschied zu Foucault liegt: »für ihn war ein soziales Feld von Strategien durchzogen, für uns flieht es von allen Punkten aus« (U: 222).

342

WERDEN IM GEFÜGE

kommen die [Herrschafts-]Mächte erst danach. Foucault wunderte sich eher darüber, daß man es all diesen Mächten, all ihrer Tücke, all ihrer Heuchelei zum Trotz dennoch schafft, Widerstand zu leisten. Ich dagegen wundere mich über das Gegenteil. Daß es allenthalben flieht und die Regierungen es dennoch schaffen, die Lücken zu schließen. Wir gehen das Problem von verschiedenen Seiten an. (SG: 267)

Für Deleuze ist Gesellschaft der fortlaufende Versuch, Fluchtlinien zu stopfen – insofern ist die Frage nach der Genese des Neuen auch zen­ tral. Dagegen geht Foucault davon aus, dass es dort, wo es Macht (pouvoir) gibt, immer auch Widerstand gibt. Eben deshalb liegt aber »der Widerstand niemals außerhalb der Macht‹ (F|WW: 116). Die Macht ist für Foucault bekanntlich überall und insofern auch immer bereits da oder: primär. Nach Deleuze kann Macht – verstanden als Herrschaftsmacht (pouvoir) und nicht als Schöpfungsmacht (puissance) – aber niemals primär sein. Das Primat einer solchen Art von Macht würde die Genese des Neuen nämlich auf Widerständigkeiten reduzieren. Diese sind aber alles andere als aktiv, da sie auf die Herrschaftsmacht und die Probleme, die diese stellt, immer nur reagieren. Im Gegensatz dazu betont Deleuze, dass sich ein soziales Feld nicht durch seine Widersprüche definiert. Denn »der Begriff des Widerspruchs ist ein globaler, inadäquater Begriff, der bereits eine starke Komplizenschaft der ›Widersprüchlichkeiten‹ in den Machtdispositiven impliziert (zum Beispiel die beiden Klassen, Bourgeoisie und Proletariat).« (SG: 121) Bereits in Differenz und Wiederholung wird bemerkt, dass der Widerspruch gerade nicht die Waffe des Proletariats ist, »sondern eher die Art, wie sich die Bourgeoisie verteidigt und bewahrt, der Schatten, hinter dem sie ihren Anspruch auf Entscheidung der Probleme aufrecht erhält« (DW: 336) und festigt. Für Deleuze sind alle Widersprüchlichkeiten und die Dualismen (z.B. Bourgeoisie und Proletariat), auf denen diese ausgetragen werden, also bereits Wirkungen der Herrschaftsmacht. Wie wir gesehen haben, ist es die Herrschaftsmacht, die durch eine binäre Segmentarisierung das Leben fortlaufend in Gegensätze und Dualismen unterteil, um sich dadurch gewisse Macheffekte zu sichern: Mann oder Frau, Einheimisch oder Migrantisch, Schwarz oder Weiß usw. Wenn die Dualismen aber ausschließlich der Dimension der Herrschaftsmacht »zugehören, steht eine andere Dimension des Gefüges gerade nicht in einer dualistischen Beziehung zu ihr« (D: 185), und zwar: die schöpferische Dimension der Fluchtlinien. Das heißt, wenn es in einem Gefüge einzig und allein die molare Linie der Herrschaftsmacht ist, die Gegensätze und Dualismen aufstellt (Sklaven-Perspektive bei Nietzsche: »du bist ›böse‹, also bin ich ›gut‹«), dann kann die schöpferische Linie (Herren-Perspektive) ihrerseits gerade nicht im Gegensatz dazu begriffen werden. Sie beginnt nämlich nicht mit einer Verneinung, sondern mit einer Bejahung. Wenn sie dennoch etwas negiert (z.B. die historischen 343

WAS IST EIN SOZIALES GEFÜGE?

Bedingungen, von denen sich eine Fluchtbewegung absetzt, um anders zu werden), dann ist die damit gemeinte Negation bloß die indirekte Konsequenz der vorausgehenden, schöpferischen Affirmation: z.B. eine disruptive Erfindung, die, indem sie einen absolut neuen Gesichtspunkt einführt und affirmiert, alle Gegensätze, die zuvor noch heiß diskutiert worden sind und unüberwindbar schienen, mit einem Mal in Luft auflöst (obwohl sie vorrangig auf die Negation verzichtet, zieht die Affirmation gerade die größten Zerstörungen nach sich). Anstatt also Dualismen und Gegensätze aufzustellen, wird vielmehr formal-real zwischen: einer dividierenden, dualisierenden oder arboreszenten und einer multiplizierenden, verbindenden und rhizomatischen Tendenz unterschieden, um mit dem Begriff des Gefüges zu zeigen, wie sich beide wechselseitig bedingen und ineinanderfügen. Und weil Gegensätze und Dualismen ausschließlich auf der einen Seite dieser Unterscheidung liegen, also Resultate einer dieser Linien sind, kann die andere Seite, die Fluchtlinie, ihrerseits nicht symmetrisch dazu als Gegensatz begriffen werden: Sie schafft, differiert und ist damit primär.

8.2 Begehren als Konnexionsprozess Die Affirmation des Neuen konzipieren Deleuze und Guattari als désir, ein Begriff, der abwechselnd mit Begehren oder Wunsch übersetzt wurde. Es ist nicht die Herrschaftsmacht, die in einem Gefüge primär ist, es ist das Begehren, da sich dieses »genau in den Fluchtlinien befindet« (SG: 121), die das Gefüge konstituieren. Das Begehren ist die schöpferische Realität der Gefüge, die treibende und konnektive Kraft aller Fluchtbewegungen. Dieser Begriff bringt allerdings einiges an Ballast mit sich. So moniert Foucault etwa, dass er »das Wort désir, Wunsch, nicht ausstehen« (ebd.: 124) kann. Schaut man nämlich auf die Geschichte des Begehrens, von der christlichen Konkupiszenz bis hin zur freudianischen und post-freudianischen Konzeption des Wunsches, so wird man sehen, dass dieser Begriff für gewöhnlich mit einem Verbot oder einem Mangel gleichgesetzt wurde: Sag mir was du begehrst, und ich sage dir, wer du bist, ob du krank oder gesund, normal oder abnormal, sündig oder nicht sündig bist.6 6 Eben weil der Begriff des Begehrens historisch immer schon mit einer verhängnisvollen Subjektanalyse verbunden war, lehnt Foucault diesen Begriff, trotz der Neudefinition von Deleuze und Guattari, auch vehement ab. »Deleuze and Guattari obviously use the notion in a completely diffe­ rent way. But the problem I have is that I’m not sure if, through this very word, despite its different meaning, we don’t run the risk, despite Deleuze and Guattari’s intention, of allowing some of the medico-psychological

344

BEGEHREN ALS KONNEXIONSPROZESS

Um zu begreifen, warum Deleuze und Guattari diesem Begriff aber eine dermaßen wichtige Bedeutung in der Gesamtarchitektur eines Gefüges zuweisen, müssen diese tradierten Konzeptionen des Begehrens verabschiedet werden. Diese gehen nämlich davon aus, dass das, was begehrt wird, immer ein fehlendes oder verbotenes Objekt ist, und dass es insofern auch ein entsprechendes Subjekt gibt, dem Begehren eingeschrieben oder vorgeworfen wird. Von dem getrennt, was es begehrt, von einem Objekt, das immer schon verloren ist, wird das Subjekt des Begehrens dann durch einen wesentlichen Mangel konstituiert, weshalb ihm von Anfang an bereits das Negative innewohnt. Gerade dem widerspricht Deleuze, indem er bemerkt, dass »das alles […] doch nichts anderes als eine Priester-Vorstellung [ist]: das im Innersten des Begehrens sich konstituierende Gesetz, das als Mangel konstituierte Begehren, die heilige Kastration, das gespaltene Subjekt, der Todestrieb, die absonderliche Kultur des Todes.« (D: 126) Dagegen wendet Deleuze gemeinsam mit Guattari ein, dass ein Begehren, das bloß auf ein Objekt reduziert wird, zwangsläufig abstrakt und leer bleibt. Was wirklich begehrt wird, ist nämlich niemals nur ein Objekt, sondern etwas, was ein ganzes Ensemble von Individuen, Kollektiven, Gegenständen, Beziehungen, Zeichen, Ereignissen oder Erfahrungen involviert. Begehren ist ein Gefüge mannigfaltiger Dimensionen. Abstrahiert von diesen Gefügen kann es kein Begehren geben: »das Begehren ist immer mit einem Gefüge verbunden, und das Begehren ist das, was das Gefüge zum Dasein bringt« (TP: 313), die mannigfaltige Realität des Gefüges selbst. Und es ist auch nie »man« selbst, »der« begehrt: Das Begehren hat nämlich kein Subjekt. »Weit entfernt, ein Subjekt vorauszusetzen, ist das Begehren nur dort zu verwirklichen, wo einer der Macht, Ich zu sagen, entledigt ist. Weit entfernt, zu einem Objekt zu streben, ist das Begehren nur dort zu erreichen, wo einer ebensowenig ein Objekt sucht oder erfasst, wie er sich selbst als Subjekt erfasst.« (D: 126) Das Begehren produziert sich selbst, indem es zirkuliert, es durchströmt Heterogenitäten und ladet sich dabei mit Intensitäten (mehr Macht) auf, die es investieren und weiter antreiben. Es ist also ein reiner Konnexionsprozess, eine nomadische Bewegung, die Stück für Stück eine Konsistenzebene zusammensetzt. Es ist ein vitales Experiment, ein ergebnisoffener Prozess, in dem dich »irgendeine Versuchung packt, von dir Besitz ergreift, immer mehr Verbindungen herstellt, dich für Verbindungen öffnet« (SG: 146). Es beruht nicht auf einen wie auch immer konzipierten Mangel, der bloß zu interpretieren ist, es entspringt vielmehr dem Druck der Fülle, der sich im Verlauf einer explorativen Konstruktion immer ganz von selbst ergibt: aus der Mitte heraus, von einer Nachbarschaft zur nächsten. Es presuppositions that were built into desire, in its traditional sense, to be reintroduced.« (Foucault 2011: 389)

345

WAS IST EIN SOZIALES GEFÜGE?

»ist folglich weder einem Subjekt inhärent, noch strebt es einem Objekt zu. Das Begehren ist vielmehr einer Ebene immanent, dieser nicht präexistent, einer Ebene, die es zu konstruieren gilt« (D: 126), um das Begehren weiter zirkulieren zu lassen: die Konsistenzebene. Weil es konstruiert wird und »funktionieren« muss, kann es auch nicht auf eine natürliche oder spontane Realität reduziert werden. Wenn das Begehren nur zwischen heterogenen Elementen existiert, muss danach gefragt werden, in welche Gefüge diese Elemente eintreten, wie genau sie sich praktisch oder maschinisch verbinden und zusammen funktionieren. »Es gibt keinen inneren Trieb im Begehren, sondern nur Gefüge« (TP: 313), Verbindungen und entsprechende Machtgewinne. Gefragt wird folglich nicht, »welchen Triebregungen [Gefüge] entsprechen, welchen Erinnerungen oder Fixierungen sie ihre Prävalenz verdanken, auf welche Vorfälle sie verweisen, sondern mit welchen äußerlichen Elementen sie sich verbinden, um dergestalt ein Begehren, ja, Begehren schlechthin hervorzubringen« (D: 136). Das Begehren, der Wunsch, ist äußerlich-konstruktivistisch, nicht innerlich-spontan, er existiert nur, insofern er in konkreten Gefügen zirkuliert, zwischen den Elementen, die er darin verbindet und die ihn erfüllen – niemals jenseits derselben. Und aufgrund seines Funktionalismus läuft der Wunsch auch niemals Gefahr, einer »Romantik der Unbestimmtheit« (Rölli 2019: 154) zu verfallen. Im Gegensatz zur Psychoanalyse betonen Deleuze und Guattari, dass das Begehren auf kein Theater verweist, in dem ständig die gleiche (Familien-)Szene reproduziert wird, sondern auf eine Fabrik, in der permanent etwas Neues produziert wird. In diesem produktiven Sinne ist der Wunsch eine Maschine. »Der Wunsch repräsentiert nie etwas, er verweist nicht auf etwas anderes im Hintergrund, auf eine familiale oder private Szene. Der Wunsch arrangiert, er machiniert, er stellt Verbindungen her« (EI: 413) Er sucht fortlaufend nach Möglichkeiten, die Beziehungen, die ihn zusammensetzen, zu vermehren, um seine Konsistenzebene auszuweiten.7 Und weil er »immer noch mehr Verknüpfungen will« (TP: 77), mehr Möglichkeiten, sich zu erfüllen, ist der Wunsch gleichzeitig auch ein »immanenter revolutionärer Prozess« (D: 135), ein Prozess, der permanent über sich selbst hinausweist. Deshalb darf das Begehren auch nicht auf die Lust und deren Feste reduziert werden, denn diese binden es an ein Ende, an einen Punkt, an dem sein Prozess zwangsläufig 7 In Differenz und Wiederholung versteht Deleuze den Wunsch bereits »als eine Kraft des Suchens, als fragende und problematisierende Kraft, die sich auf einem anderen Feld als dem von Bedürfnis und Befriedigung entfaltet. Fragen und Probleme sind keine spekulativen Akte, die als solche völlig vorläufig blieben und die momentane Unwissenheit eines empirischen Subjekts kennzeichneten.« (DW: 142) Sie implizieren vielmehr einen fortlaufenden Konnexionsprozess in eben dem Sinne, in dem hier der Begriff des Wunsches oder Begehrens definiert worden ist.

346

BEGEHREN ALS KONNEXIONSPROZESS

unterbrochen wird. »Nichts ist dafür bezeichnender als die Vorstellung einer Lustabfuhr: Einmal Lust gehabt, ist dann wenigstens eine Weile Ruhe, bis das Ganze sich von Neuem regt« (ebd.: 139). Beispielsweise haben wir gesehen, dass ein erfahrener Maler wie van Gogh es meisterhaft versteht, Sonne, Wind, Umgebung, Schatten, Farben, Konturen, Leinwand, Malstaffel und seine Augen wirkmächtig zusammenzusetzen. Damit beginnen diese Elemente, trotz oder gerade aufgrund ihrer Heterogenität miteinander zu kommunizieren und Resonanzen herzustellen. Auf diese Weise werden auch fortlaufend neue Perspektiven, Beziehungen und Affektionsweisen geschaffen, aufgrund welcher etwas Neues gemalt werden kann. Was das Begehren auszeichnet, ist nicht ein ursprünglicher Mangel, ein natürliches Bedürfnis oder eine vorübergehende Lust, sondern das Können und die Freude im ethischen Sinne von Spinoza: eine Vermehrung von Macht (puissance) und Vermögen. Mit seinem Begriff des Begehrens knüpft Deleuze folglich am Begriff des Affekts bei Spinoza und am Begriff der Willen zur Macht bei Nietzsche an. Insofern kann ein Gefüge auch als Modus oder Existenzweise begriffen werden. Bei Spinoza hat etwas »umso mehr Realität oder Vollkommenheit, auf je vielfältigere Weise es affiziert werden kann: die Quantität an Realität hat ihren Grund immer in einem dem Wesen identischen Vermögen« (PA: 85). In diesem Sinne kann auch ein Gefüge quantitativ durch seinen Grad an Realität bestimmt werden. Das heißt, durch den Konsistenzgrad, den es aufgrund seines Vermögens oder seiner Macht, Verbindungen zu vervielfältigen, situativ aufweist. Ähnlich dem Willen zur Macht, wie er, laut Deleuze, von Nietzsche konzipiert wird, sucht also auch das Begehren nach Möglichkeiten, die Verbindungen im Gefüge zu vermehren und damit eine Konsistenzebene in alle Dimensionen auszuweiten. »Begehren: Wer, außer den Priestern, wollte das ›Mangel‹ nennen? Nietzsche nannte es ›Wille zur Macht‹.« (D: 128) Wie wir bereits gesehen haben, deutet eine aktive Existenzweise bei Nietzsche darauf hin, dass der Wille zur Macht, der sich darin zum Ausdruck bringt, nicht der negativen Qualität der Negation, sondern der positiven Qualität der Affirmation entspricht und somit danach strebt, seine Macht (puissance) zu vermehren: d.h. neue Beziehungen, neue Affektionen und neue Lebensmöglichkeiten zu finden. Ebenso muss zwischen den beiden Zuständen der abstrakten Maschine unterschieden werden, die sich in einem Gefüge gleichzeitig als »zwei ganz unterschiedliche Existenzmodi« (TP: 81) zum Ausdruck bringen (ethische Differenz). Entweder überwiegt der positive Typus, die abstrakte (und lebendige) Mutationsmaschine, die Verbindungen im Gefüge konsistent vermehrt und auf der Fluchtlinie, die sie zieht, die Bewegung des Begehren intensiviert; oder es überwiegt der negative Typus, die abstrakte Übercodierungsmaschine, die Verbindungen durch Vereinigungen ersetzt, Strömungen organisiert, deren Fluchtlinien blockiert 347

WAS IST EIN SOZIALES GEFÜGE?

und die Bewegung des Begehrens bremst, indem sie diesem, ausgehend von einer transzendenten Instanz (Signifikant, Subjekt, Gesetz), die Negativität des Mangels einschreibt.8 Vor diesem Hintergrund sind nun auch die kritischen Anmerkungen zu verstehen, die Deleuze in einem kurzen Text mit dem Titel Begehren und Lust an Foucault richtet, um darin die zentralen Schwierigkeiten anzusprechen, die sich bei diesem, seiner Meinung nach, durch das postulierte Primat der Macht (pouvoir) ergeben. Gerade weil sie immer schon gegen die Herrschaftsmacht gerichtet sind, also niemals außerhalb dieser liegen, stellt sich nämlich die Frage, welchen Status man den Widerstandsphänomenen zuschreiben muss – wenn man sie in ihrer Widerständigkeit überhaupt als eigenständige Gegenmächte konzipieren will. Während sich für Deleuze im Begehren (désir) ein Leben artikuliert, das den Machtverhältnissen entflieht und die Mechanismen der Lust unterläuft, beziehen sich Foucaults Überlegungen zum »Widerstand« eher auf die Lüste (plaisirs), die in der modernen Darstellung der Sexualität »fehlen«. Sie bilden ein Korrektiv der erlittenen Machtwirkungen. (Krause/Rölli 2005: 206)

Wo Foucault bemerkt, dass er das Wort désir nicht ausstehen kann, erklärt Deleuze, dass er »das Wort plaisir, Lust, nur schwer ertragen« (SG: 124) kann. Da Lust die Konstruktion eines Immanenzfeldes irgendwo unterbricht (Lustabfuhr), ist sie Deleuze zufolge auch nicht dazu geeignet, den problematischen Status der Widerstandsphänomene zu klären. Obwohl Deleuze in Begehren und Lust aber noch betont, dass es sich gerade »nicht um einen Streit um Wörter« (ebd.) handelt, scheint sich die Kontroverse zwischen beiden Begriffen in den darauf folgenden Jahren mehr und mehr abzuschwächen. Denn spätestens seit Der Gebrauch der Lüste entdeckt Deleuze voller Begeisterung eine neue Dimension im Denken von Foucault: Prozesse der Subjektivierung, die in seinen Augen aber »die Bildung von Existenzweisen oder, wie Nietzsche sagte, die Erfindung neuer Lebensmöglichkeiten« (U: 138) implizieren und damit als Fluchtlinien – deren Fehlen im Werk von Foucault er vorher noch beklagt hatte – oder Prozesse des Werdens begriffen werden können. Daraus ergibt sich für Deleuze »eine ganze Typologie der subjektiven Formationen in beweglichen Dispositiven. Und überall zu entwirrende Mischungen: Subjektivitätsproduktionen entziehen sich der Macht und dem Wissen eines Dispositivs, um sich unter anderen, künftigen Formen in die eines neuen Dispositivs wieder einzubringen« (SG: 326) und dort 8 Was Deleuze zusammen mit Guattari als organlosen Körper bezeichnet, »ist das Immanenzfeld des Begehrens, die dem Begehren eigene Konsistenzebene (dort, wo das Begehren als Produktionsprozeß definiert wird, ohne Bezug auf irgendeine äußere Instanz, einen Mangel, der das Begehren vertieft, eine Lust, die es erfüllt)« (TP: 212).

348

BEGEHREN ALS KONNEXIONSPROZESS

eine neue Herrschaftsmacht oder eine neue Wissensform zu etablieren. »Die Kirche als pastorale Macht wird beispielsweise ständig versuchen, die christlichen Existenzweisen zu erobern, diese aber werden immer wieder die Macht der Kirche in Frage stellen, sogar vor der Reformation.« (U: 143) Wenn Deleuze zuvor also noch Bedenken hatte, Widerstandsformen als Lusttechniken zu konzipieren, so zerstreuen sich diese Bedenken spätestens mit dem neuen Begriff der Subjektivierung in Der Gebrauch der Lüste und der damit einhergehenden Frage nach den Technologien des Selbst.9 In seinem Spätwerk nähert sich Foucault in gewisser Hinsicht aber auch dem Begriff des Begehrens von Deleuze an, wenn er, ausgehend von einer dezidiert ethischen Konzeption der Selbstsorge, Technologien des Selbst bei den alten Griechen und den frühen Christen thematisiert. Im Hinblick auf die mit der Lebensführung verbundenen Frage nach der Sexualität erläutert Foucault in einem Interview beispielsweise, »dass sich mit unseren Begierden und durch sie neue Formen von Beziehungen, neue Formen von Liebe und neue Formen von Schöpfung herstellen lassen. Der Sex ist nichts Schicksalhaftes; er ist eine Möglichkeit, Zugang zu einem schöpferischen Leben zu erhalten.« (F|DE4: 910). Diese Entwicklung im Denken von Foucault ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass Deleuze einige Jahr nach seiner Kritik am Widerstandsbegriff in seinem Foucault-Buch plötzlich davon spricht, dass bei Foucault »der Widerstand primär ist« (FO: 125), dass der Widerstand der Macht gewissermaßen vorausgeht und insofern als Fluchtlinie zu verstehen ist. Wie kann Widerstand aber primär sein? Daniel Smith zufolge kann bei Foucault mit Nietzsche zwischen einem reaktiven und einem aktiven Widerstandsbegriff unterschieden werden.10 Während der Widerstandsbegriff in den 70er Jahren noch eher reaktiv konnotiert ist, da damit vor allem eine Aktivität bezeichnet wird, die sich im Gegensatz zu etwas anderem, der Macht, bestimmt (»du bist böse, 9 Dennoch scheint Deleuze noch einige Vorbehalte gegenüber der Bezeichnung »Subjektivierung« zu haben, gerade weil damit noch so etwas wie eine »Rückkehr zum Subjekt« mitschwingen könnte, die Foucault aber natürlich nicht im Sinn hatte. Eben deshalb sei davon auszugehen, »daß die Subjektivierung sehr wenig mit einem Subjekt zu tun hat. Es handelt sich eher um ein elektrisches oder magnetisches Feld, eine Individuierung, die über Intensitäten verläuft (niedrige sowohl wie hohe), über individuierte Felder und nicht Personen oder Identitäten.« (U: 135) 10 Auf diesen eher reaktiv ausgerichteten Machtbegriff bei Foucault hat bereits Scott Lash hingewiesen: »The problem is that Foucault, unlike Deleuze, operates without a developed notion of desire or its equivalent; thus Foucault’s body is only the prey of reactive forces – normalizing and individuating forces – and Foucault’s genealogy remains incomplete.« (Lash 1990: 64)

349

WAS IST EIN SOZIALES GEFÜGE?

also bin ich gut«), sucht Foucault in seinen späten Überlegungen mit den Praktiken der Selbstsorge vermehrt nach einem aktiven Widerstandsbegriff. Macht wird aktiv, wenn sie nicht mehr gegen etwas anderes, sondern nur noch gegen sich selbst gewendet wird: »Resistance becomes active in the relation to oneself, the ability each of us has to affect oneself, the affect of the self by itself. In affecting myself, I open up the possibility of creating myself in a way that differs from the present forms of knowledge, and the present constraints of power.« (Smith: 2016: 268) Deleuze nimmt diesen aktiven Widerstandsbegriff euphorisch auf: Wenn die Macht (pouvoir) sich das Leben zum Objekt nimmt, sich also gegen das Leben richtet, dann wird das Leben, das aktive Leben, das Foucault zufolge »neue Formen von Liebe und neue Formen von Schöpfung« (F|DE4: 910) hervorbringt, automatisch auch »zum Widerstand gegen die Macht. […] Wenn die Macht zur Bio-Macht wird, so wird der Widerstand zur Macht des Lebens, zur lebendigen Macht, die sich nicht in Arten einsperren läßt, in Milieus oder in die Bahnen dieses oder jenes Diagramms.« (FO: 129) Richtet sich die Herrschaftsmacht (pouvoir) gegen das Leben, dann, so Deleuze, weil das widerständige, schöpferische Leben zur größten Macht (puissance) geworden ist. Natürlich soll dies nicht bedeuten, dass Foucault und Deleuze in ihren Ansätzen am Ende übereinstimmen, wohl aber, dass, wie Morar und Gracieuse (2016) betonen, die Begriffe des Begehrens und der Macht alles andere als inkompatibel sind, selbst wenn sie aufgrund der jeweiligen Priorisierung zwei verschiedene Perspektiven auf das komplizierte Verhältnis zwischen Leben und Macht werfen.11

8.3 Heterogenese oder: Die Macht der Gefüge Die konnektive Grundausrichtung der Gefüge sorgt dafür, dass völlig heterogene Elemente aufgrund neuartiger Beziehungen konsistent 11 Wie Krause und Rölli bemerken, steckt in diesem Annährungsversuch von Deleuze auch einiges an eigenwilliger Interpretation. Die alles entscheidende Frage stellt Deleuze dabei selbst: »Das Sich-durch-sich-selbst-Affizieren, ist das eher Lust oder eher Begehren?« (FO: 149) Für Deleuze ist es eher: Begehren! Vor diesem Hintergrund legt Deleuze die Lusttechniken der Subjektivierung auch eigenwillig als Fluchtbewegungen aus. In anderen Worten: Es ist zu vermuten, »dass Deleuze unter der Hand die Lüste in seinem Sinne als Begehren gedeutet hat – ungeachtet des nicht nur terminologischen Unterschieds, der zwischen den beiden Begriffen und ihren Verwendungsweisen besteht. Noch einmal gesagt: Selbst wenn Deleuze hier im Zeichen der Lust mit Foucault das Subjektivierungsmodell entwirft, so hat sich doch still und heimlich die Lust bereits in Begehren verwandelt.« (Krause/Rölli 2005: 216)

350

HETEROGENESE ODER: DIE MACHT DER GEFÜGE

miteinander verbunden werden. Ähnlich dem Dispositiv, das Foucault zufolge stets »eine entschieden heterogene Gesamtheit« (F|DE3: 392) umfasst, also ganz unterschiedliche Elemente wie Diskurse, Institutionen, architektonische Einrichtungen etc. miteinander verknüpft, zeichnet sich also auch das Gefüge gerade dadurch aus, dass es »sehr heterogene Elemente zusammenhält« (SG: 171). Ganz egal, ob es sich nun um natürliche oder künstliche, materielle oder semiotische, technische oder kulturelle Elemente handelt: Ein Gefüge antwortet immer auf ein bestimmtes Konsistenzproblem, indem es völlig heterogene Elemente durch einen neuen Funktionszusammenhang zusammensetzt. Im feudalen Gefüge Pferd-Steigbügel-Lanze wird die Haltung des Reiters, die Art und Weise, wie dieser die Lanze hält, beispielsweise zur natürlichsten Sache der Welt, während das Pferd, das ihn trägt, zum technischen Problem wird, da es nun der Schwung des Pferdes ist, der durch die Stoßkraft der Lanze effizient umgesetzt werden muss. Dadurch treten Mensch und Tier plötzlich in eine völlig neue Beziehung zueinander. Sie treten in einen, um mit Spinoza zu sprechen, mächtigeren Zusammenhang, in dem attribuierte Klassen, Gattungen oder Arten zunächst irrelevant sind, in dem es auf einer univoken Ebene eher darum geht, die aufeinandertreffenden (menschlichen und nicht-menschlichen) Körper so zusammenzusetzen, dass ihre Macht, affiziert zu werden und zu affizieren, nachhaltig erfüllt und vermehrt wird.12 Das ritterliche Gefüge beschränkt sich aber nicht bloß auf die Erfindung des Steigbügels. Denn im Fall des Steigbügels ist es die Landschenkung, für den Beschenkten mit der Pflicht verknüpft, auf Wunsch des Schenkers diesem mit seinem Pferd zu Diensten zu stehen, die der neuen Reiterei zum Durchbruch verhilft und das Werkzeug in das komplexe Gefüge einfängt: Feudalwesen. (Vordem wird der Steigbügel zwar benutzt, aber im Kontext eines ganz andersartigen Gefüges, etwa dem der Nomaden; oder er ist bekannt, wird doch gar nicht oder nur beschränkt gebraucht, so in der Schlacht bei Andrinopel). (D: 100)

Das feudale Gefüge involviert also nicht nur Dinge und Sachverhalte, sondern auch Wörter und Aussagen – wie etwa den performativen Akt der Landschenkung. Dadurch, dass es völlig neue Beziehungen zur Erde (Landschenkung, Heeresfolge), zu Tieren (Pferd), zur Kultur (Turniere, Feste), zum Krieg (Panzerreiterei) oder den Frauen (ritterliche Liebe, 12 In diesem Sinne wurde der Begriff des Gefüges von Deleuze und Guattari auch intensiv im neuen Materialismus rezipiert. Jane Bennett betont dabei insbesondere dessen spinozistische Herkunft, wenn sie von vibrant matter spricht: »The key idea I want to take form Spinoza’s rich and contestable philosophy, an idea I will put to work for a vital materialism, is this: bodies enhance their power in or as a heterogeneous assemblage.« (Bennett (2010: 23)

351

WAS IST EIN SOZIALES GEFÜGE?

Minnesang) schafft, steckt das feudale Gefüge eine eigene Konsistenz­ ebene ab, auf der alle diese Elemente funktional aufeinander verweisen: In der Praxis funktioniert kein Element ohne seine Verbindung zu allen andern. Es wäre nun aber falsch, das Gefüge lediglich als eine bunte Kollektion unterschiedlicher Teile zu begreifen, so als bezeichne dieser Begriff lediglich ein wildes Sammelsurium von Dingen und Worten. Bereits die Übersetzung aus dem Französischen bereitet hierbei Schwierigkeiten. Denn es stimmt, dass das, was Deleuze und Guattari im französischen Original agencement nennen, immer etwas Zusammengesetztes bezeichnet, ein Arrangement heterogener Elemente oder eine zeitweilig funktionierende Anordnung derselben. Aber ebenso bezeichnet es eine bestimmte Aktivität, durch die etwas fortlaufend zusammengesetzt, kombiniert, arrangiert oder (neu) angeordnet wird. Der Begriff des Gefüges meint also ebenso Zusammengesetztes wie Zusammensetzen, ebenso Verkettetes wie Verketten: Relationalität genauso wie Prozessualität. Eben diese zweite Bedeutung von agencement scheint aber mit der englischen Übersetzung als assemblage verlorengegangen zu sein.13 Wie Ian Buchanan (2017; 2021) anmerkt, entfernt sich dieses Wort sogar deutlich von dem, was Deleuze und Guattari mit ihrem Begriff ursprünglich im Sinn hatten. Es vermittelt nämlich den Eindruck, als ginge es lediglich darum, wie bereits fertige Einheiten trotz ihrer Heterogenität kompiliert werden, wo es doch darum geht, wie offene Prozesse des Werdens sich aufgrund ihrer Heterogenität wechselseitig komponieren. Das heißt, die heterogenetische Grundausrichtung, die für Deleuze und Guattari im Begriff des Gefüges ausschlaggebend ist, wird durch die Übersetzung ins Englische eher verschleiert. Laut Buchanan (2017: 458) verdankt sich der rasche Zulauf, den die Assemblage-Theorie derzeit in den Sozialwissenschaften erfährt, auch eher dieser irreführenden Übersetzung, insofern das Wort »Assemblage« die Heterogenität der Phänomene auf einer rein semantischen Ebene nahelegt. Das heißt, selbst wenn anerkennend auf Deleuze und Guattari verwiesen wird, so bleiben beide Autoren aber meist abwesend, denn es ist in der Regel bloß das Wort »Assemblage«, ein einfaches Sammelsurium, mit dem dabei gearbeitet wird, und eben nicht der Begriff des Gefüges, der sich davon in vielen Punkten unterscheidet. 13 In den Worten von John Law: »A large French dictionary offers dozens of synonyms for ›agencement‹ which together reveal that the term has no single equivalent in English. This means that while ›assemblage‹ is not exactly a mistranslation of ›agencement‹ much has got lost along the way. In particular the notion has come to sound more definite, clear, fixed, planned and rationally centred than in French. It has also come to sound more like a state of affairs or an arrangement rather than an uncertain and unfolding process.« (Law 2004: 41)

352

HETEROGENESE ODER: DIE MACHT DER GEFÜGE

Exemplarisch hierfür ist die Assemblage-Theorie von Manuel DeLanda. Zwar merkt DeLanda (2006a: 4) an, dass diese, falls erwünscht, auch als »Neo-Assemblage Theorie« oder »Assemblage Theorie 2.0« bezeichnet werden kann, hält aber dennoch daran fest, dass die Grundsätze dieser Theorie im Begriff des Gefüges bei Deleuze zu finden sind. Was DeLanda dabei jedoch als Deleuzianische Sozialtheorie ausgibt, hat mit Deleuze selbst (oder Guattari?) eher wenig gemeinsam und ist vielmehr anderen Autoren wie Fernand Braudel, Erving Goffman, Max Weber oder Charles Tilly verpflichtet.14 So bezeichnet der Begriff der Assem­ blage bei DeLanda (2006a; 2016) das relative Verhältnis zwischen vielen Teilen und einem Ganzen, wobei das Ganze immer emergent aus der Interaktion seiner Teile hervorgeht. DeLanda geht damit von einer multiskalaren sozialen Ontologie aus, bei der es nicht ausreicht, zwischen einer Mikro-, Makro- und womöglich auch noch Mesoebene zu unterscheiden, sondern eher darauf ankommt, viele weitere Größenordnungen zwischen diesen Ebenen zu berücksichtigen. Auf einer ersten Größenordnung gibt es beispielsweise interagierende Individuen; aus diesen Interaktionen entstehen zwischenmenschliche Netzwerke, die ihrerseits eine zweite Größenordnung darstellen; obwohl diese Netzwerke in Bezug auf ihre Individuen ein emergentes Ganzes bilden, müssen sie selbst wiederum als interagierende Teile angesehen werden, insofern aus ihrer Interaktion eine institutionelle Organisation entsteht, die als emergentes Ganzes eine dritte Größenordnung darstellt usw. Von einer Größenordnung zur nächsten, von Individuen zu Nachbarschaften bis hin zu Nationalstaaten oder internationalen Organisationen wird so alles stufenweise ineinander verschachtelt. So gesehen wäre eine Stadt bzw. eine urbane Assemblage beispielsweise das, was aus der Interaktion heterogener Teile (z.B. Individuen, Nachbarschaftsnetzwerke, öffentliche Organisationen oder infrastrukturelle Komponenten wie Gebäude und Straßen) stufenweise als emergentes Ganzes hervorgeht. Mit seinem Begriff der Assemblage unterscheidet sich DeLanda nun aber grundsätzlich von Deleuze. Für die vorliegende Argumentation sind dabei vor allem zwei Punkte von Interesse. Zum einen ist ein Gefüge im Sinne von Deleuze und Guattari ein Linienverhältnis oder ein Beziehungsgeflecht zwischen heterogenen Prozessen des Werdens und nicht ein Verhältnis zwischen vielen Teilen und einem Ganzen. Die Unterscheidung zwischen Vielem und Einem sollte mit dem Begriff der 14 Wie Buchanan betont, geht es hier nicht darum, dogmatisch an Deleuze festzuhalten. »The problem here is not simply that something that is not Deleuzian is presented as Deleuzian, again it runs much deeper than that. The real problem is that ›Deleuze 2.0‹ is conceptually stunted in comparison with the ›original‹. DeLanda ›improves‹ on Deleuze and Guattari by reformula­ ting their concept in such a way that it lacks all analytic power.« (Buchanan 2015: 387)

353

WAS IST EIN SOZIALES GEFÜGE?

Mannigfaltigkeit ja bereits überwunden sein. Es stimmt zwar, dass in einer Assemblage der Unterschied zwischen Teilen und Ganzem aufgrund der fortlaufenden Verschachtelung immer relativ bleibt, da jedes Ganze in einer übergeordneten Größenordnung immer auch als Teil fungieren kann, es ist und bleibt aber ein Größenunterschied, durch den die konstitutiven Teile und das konstituierte Ganze definiert werden: Immer sind es Mikroeinheiten, die sich zu Makroeinheiten verschachteln. Dabei beruft sich DeLanda explizit auf Deleuze und Guattari und erklärt, dass Teile molekular sind, während das Ganze molar ist. Wie wir bereits gesehen haben, betonen Deleuze und Guattari im Gegensatz dazu aber ausdrücklich, dass beide »Formen nicht einfach durch ihre Dimensionen, wie eine kleine und eine große Form« (TP: 293), zu unterscheiden sind, dass sich die molekulare Ordnung also »nicht durch die Kleinheit ihrer Elemente definiert, sondern durch die Art ihrer ›Masse‹ – durch die Quanten-Strömung, im Gegensatz zur molaren, segmentierten Linie.« (ebd.: 296) Der Unterschied zwischen Molekularem und Molarem ist, um mit Bergson zu sprechen, nicht graduell, sondern wesentlich. Foucault bezieht sich zum Beispiel auf die Mikrophysik, weil diese einen Bereich umfasst, der sich von der Makrophysik nicht der Größe, sondern dem Wesen nach unterscheidet. Während die Makrophysik nämlich mit festen Einheiten oder diskreten Körpern zu tun hat, beschäftigt sich die Mikrophysik mit Differenzen in Kontinuitäten: Intensitäten, Diffusionen, Kraftfelder, Fluktuationen, kritische Schwellen oder plötzliche Zustandsänderungen. Dem ungeachtet begreift DeLanda molekulare Elemente aber als kleine Teile eines großen Ganzen. »Although Deleuze does not use the terms ›micro‹ and ›macro‹ he does refer to levels distinguished by order of magnitude, which he calls ›the molecular‹ and ›the molar‹ […] what is molecular at any one scale is that which plays the role of component or part, while the molar is the statistical result of molecular populations at any given level of scale« (DeLanda 2013: 252). Für DeLanda ist das Molekulare also genau das, was es für Deleuze (und Guattari) gerade nicht sein darf: eine einfache Miniaturisierung. Eine Bürokratie ist bei DeLanda beispielsweise »macro relative to the persons that compose it, but micro relative to the larger government to which it belongs« (DeLanda 2016: 20). In Bezug auf das Problem des Staates bei Foucault warnt Deleuze in einer Vorlesung dagegen ausdrücklich vor einer solchen Vorgehensweise. »Il ne s’agit pas, encore une fois, de multiplier des petits états, il faut vraiment qu’il y ait différence de nature entre le domaine microphysique et le domaine macrophysique.« (Deleuze 1986b) Es wäre demnach falsch, das Molekulare wie DeLanda als reine Miniaturisierung zu verstehen, so als ob der Staat oder die Bürokratie aus vielen kleinen staatlichen oder bürokratischen Einheiten bestehen würde. Molare (Makrophysik) und molekulare Ebene (Mikrophysik) sind nicht nach ihrer (absoluten oder relativen) Größe zu unterscheiden, sondern ihrer Natur nach. 354

HETEROGENESE ODER: DIE MACHT DER GEFÜGE

Zum anderen kann die Genese eines Gefüges nicht einfach durch die Interaktion fester, bereits individuierter Einheiten (Individuen, Nachbarschaften, Körperschaften, Unternehmen, Straßen, Gebäude usw.) erklärt werden. Weil diese Einheiten im Begriff der Assemblage bereits fix und fertig gegeben sind, kann es sich dabei auch nur um aktuelle Elemente handeln, die in übergeordneten Größenordnungen stufenweise kompiliert werden. Damit wird aber der Prozess der Heterogenese, der für Deleuze im Gefüge im Mittelpunkt steht, zwangsläufig ausgeblendet. Bezeichnenderweise bemerkt DeLanda (2016: 133), dass seine Assem­ blage-Theorie auf Fluchtlinien verzichten kann, obwohl wir gesehen haben, dass es gerade diese sind, die laut Deleuze primär sind und das Gefüge konstituierten. Bereits in Differenz und Wiederholung verdeutlicht Deleuze, »daß sich die Genese nicht von einem aktuellen Term, wie klein er auch sein mag, zu einem anderen aktuellen Term in der Zeit vollzieht, sondern vom Virtuellen zu seiner Aktualisierung, d.h. […], von den Problembedingungen zu den Lösungsfällen« (DW: 235). Die Genese hat ihre problematischen Bedingungen in singulären Punkten, die zunächst noch unbestimmt sind und grundsätzlich der Ordnung des Ereignisses angehören, nicht in gewöhnlichen Punkten, die bereits individuierte, empirische Formen markieren und insofern auf aktuelle Resultate wie Individuen, Institutionen, Städte, Nationalstaaten oder internationale Organisationen verweisen. Kurz: Das Gefüge im Sinne von Deleuze und Guattari bezeichnet die generative Aktivität, durch die heterogene Prozesse des Werdens dynamische Beziehungen knüpfen, nicht die statische Anordnung bereits fertiger Einheiten. Wenn ein Gefüge sich aber gerade dadurch auszeichnet, dass es sehr heterogene Elemente – Sachverhalte und Körperregime ebenso wie Aussagen und Zeichenregime – zusammenhält, dann stellt sich die Frage, wie dieser Zusammenhalt konzipiert werden muss, um das, was damit bezeichnet wird, nicht einfach – wie etwa bei DeLanda – auf ein buntes Sammelsurium fertiger Einheiten zu reduzieren. Wie wir gesehen haben, sind die Gefüge »Ensembles von Linien« (SG: 170), umfassen also sowohl Linientypen, die das Gefüge segmentieren, territorialisieren, bezeichnen, zuordnen, organisieren oder stratifizieren, wie auch Linientypen, die darin gleichzeitig immer auch einen Fluchtweg anbahnen. Möchte man nun aber die »historische und vielgestaltige Konfrontation« (ebd.: 127) dieser Linientypen untersuchen, die Art und Weise, in der sie sich in konkreten Phänomenen verknoten, so ist zunächst von historischen Formationen auszugehen. Im Sinne von Foucault ist damit die vorübergehende Stabilisierung von instabilen Kräfteverhältnissen in vorherrschenden Wissensformen zu verstehen. Eine historische Form ist insofern »geschichtet, archiviert und relativ starr segmentiert« (FO: 103). Sie ist prekäres Resultat eines multilinearen Geschehens. Nach Foucault kommen in diesen historischen, geschichteten Formationen 355

WAS IST EIN SOZIALES GEFÜGE?

grundsätzlich zwei heterogene Wissensformen zum Ausdruck: Dinge und Wörter, Sehen und Sprechen, sichtbare und sagbare Segmente, Zonen der Sichtbarkeit und Felder der Lesbarkeit, diskursive und nicht-diskursive Praktiken. Die Aufgabe des Genealogen ist es folglich, das Archiv zu öffnen, historische Wissensformen aufzubrechen, um das singuläre Verhältnis von Dingen und Wörtern darin zu untersuchen und damit die Bedingungen der historischen Formationen ans Tageslicht zu bringen. In Überwachen und Strafen untersucht Foucault zum Beispiel ein »Ding« wie das Gefängnis und ein »Wort« wie das der Delinquenz. Obwohl sie irgendwie aufeinander verweisen, haben beide Wissensformen aber absolut nichts miteinander gemeinsam, sind heterogen, haben also nicht dieselbe Genealogie, tauchen aber zur selben Zeit auf. Das Strafrecht definiert den Begriff der Delinquenz im Anschluss an eine historische Entwicklung, aufgrund welcher das Verbrechen nicht mehr vor dem Hintergrund der Rache eines Souveräns, sondern vor dem Hintergrund der Verteidigung der Gesellschaft begriffen wird. Dagegen geht das moderne Gefängnis – vollkommen unabhängig davon – aus einer historischen Entwicklung hervor, die den Körper als plastischen Gegenstand der Macht entdeckt. Während das Strafrecht mit dem Begriff der Delinquenz die Form des Sagbaren im Bereich der Kriminalität bestimmt, die Art und Weise also, Verbrechen auszusagen, zu klassifizieren und selbst zu begehen (Klassifikation der Vergehen, Kalkulation der Strafen), bestimmt das Gefängnis die Form des Sichtbaren im Bereich der Einschließung, die Art und Weise also, Verbrechen zu sehen und sichtbar zu machen (Beleuchtung der Verbrechen und des Verbrechers). Obwohl beide Formen dabei in keiner Beziehung zueinander stehen, kommen sie dennoch unablässig miteinander in Berührung, durchdringen sich wechselseitig und entreißen einander ihre Bestandteile: das Strafrecht erneuert beständig das Gefängnis und liefert Gefangene, während das Gefängnis unablässig die Delinquenz reproduziert, sie zum »Objekt« macht und die Zielsetzungen realisiert, die das Strafrecht auf andere Weise ins Auge faßte (Verteidigung der Gesellschaft, Umwandlung des Verurteilten, Veränderung der Strafen, Individuation). Beide Formen setzen sich wechselseitig voraus. Und dennoch gibt es keine gemeinsame Form, keine Konformität, ganz zu schweigen von einer Korrespondenz. (FO: 50)

Eine Schicht oder historische Formation besteht demnach aus zwei heterogenen Wissensformen, aus Dingen und Wörtern, Sachverhalten und Aussagen, die sich gegenseitig durchdringen, obwohl sie in keiner Beziehung zueinander stehen, sich nicht kausal bedingen und keine gemeinsame Form haben. Die Frage besteht folglich darin, wie es möglich ist, dass beide Formen sich trotz ihrer Nicht-Beziehung dennoch durchdringen und aneinander anpassen können. 356

HETEROGENESE ODER: DIE MACHT DER GEFÜGE

Um hervorzuheben, dass beide Wissensformen, Sachverhalte und Aussagen, vollkommen voneinander getrennt sind und in keiner Beziehung zueinander stehen, vor allem nicht in einer Beziehung, die eine Teilung der Welt – z.B. als Signifikant und Signifikat, Zeichen und Referent, Repräsentation und Gegenstand, Ursache und Wirkung, ideologischer Überbau und ökonomische Basis, gesellschaftliche Struktur und semantische Ordnung – voraussetzt, berufen Deleuze und Guattari sich in Tausend Plateaus auf den dänischen Linguisten Louis Hjelmslev, um mit dem Raster, das sie bei diesem finden, Sachverhalte und Aussagen oder Körper und Zeichen auf einer gemeinsamen Ebene als Inhalts- und Ausdrucksform zu unterscheiden. Das Gefängnis wäre dann zum Beispiel eine Inhaltsform, in der ein komplexer Zusammenhang von Sachverhalten oder Körpermischungen in einem neuen Regime der Sichtbarkeit in Erscheinung tritt. Dagegen wäre die Delinquenz eine Ausdrucksform, in der ein komplexer Zusammenhang von Aussagen oder Zeichensystemen in einem neuen Regime des Sagbaren in Erscheinung tritt. Anstatt also Wörter und Dinge in einem klassischen Repräsentationsverhältnis auf zwei getrennte Ebenen zu verteilen, interessieren sich Deleuze und Guattari vielmehr dafür, wie Formen des Inhalts und Formen des Ausdrucks auf einer gemeinsamen Ebene ineinander verwickelt sind. Als Inhaltsform dient das Gefängnis also nicht als Referent für Aussagen über die Delinquenz; als Ausdrucksform ist die Delinquenz, umgekehrt, aber auch nicht Repräsentation der Sachverhalte im Gefängnis. Beide Formen stehen für sich, unterhalten keine Beziehung, affizieren sich aber gegenseitig und verweisen insofern ständig aufeinander.15 Wie ist dieser Zusammenhang nun zu erklären? Wie ist es möglich, dass Inhaltsform und Ausdrucksform und damit Körper und Zeichen 15 Hierzu kann auch noch ein Beispiel aus der Archäologie des Wissens von Foucault herangezogen werden. Um die Nicht-Beziehung zwischen diskursiven (Aussagen) und nicht-diskursiven Praktiken (Inhalten) zu veranschaulichen, verweist Foucault auf den Zusammenhang zwischen medizinischem Diskurs und politischer Praxis seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Dabei hat die politische Praxis der Medizin zwar keine neuen Gegenstände auferlegt, sie hat aber, völlig unabhängig von dieser, neue Gemarkungsfelder für medizinische Gegenstände eröffnet. Diese Felder werden beispielsweise »von der Masse der Bevölkerung gebildet, die von der Administration erfaßt und überwacht, […] wird; sie werden auch von den großen Volksarmeen […] gebildet; darüber hinaus werden sie von den Einrichtungen der Krankenhausfürsorge gebildet« (F|AW: 233 f.), in denen medizinische Phänomene erstmals sichtbar werden. Es geht folglich nicht darum, »wie die politische Praxis einer gegebenen Gesellschaft die medizinischen Begriffe und die theoretische Struktur der Pathologie konstituiert oder modifiziert hat; sondern darum, wie der medizinische Diskurs […], sich über Praktiken artikuliert, die ihm äußerlich und selbst nicht diskursiver Natur sind« (ebd.: 234),

357

WAS IST EIN SOZIALES GEFÜGE?

ständig aufeinander verweisen, sich wechselseitig durchdringen, einander einzelne Bestandteile entreißen und sich verwickeln, wenn zwischen ihnen doch absolut keine Beziehung festzumachen ist? Es stimmt zwar, dass es zwischen den Formen des Inhalts und den Formen des Ausdrucks keine Beziehung gibt: Es gibt allerdings sehr wohl eine Beziehung zwischen Elementen, die den Formalisierungsprozessen von Inhalt und Ausdruck genetisch vorausgehen. Sofern Inhalte und Ausdrücke in einem Gefüge als geschichtete Formen betrachtet werden, solange das Gefüge also als ein gegebenes Sammelsurium heterogener, aber fertiger Einheiten betrachtet wird, kann zwar klar und deutlich zwischen einer Form des Inhalts und einer Form des Ausdrucks, zwischen Sachverhalten auf der einen Seite und Aussagen auf der anderen Seite, unterschieden werden: Wie sie miteinander in Berührung kommen, sich wechselseitig durchdringen und einander Bestandteile entreißen, wird damit aber verdeckt. »In dem Maße, wie die Gefüge der Unterscheidung von Inhalt und Ausdruck unterworfen bleiben, gehören sie noch zu den Schichten« (TP: 699). Um zu sehen, wie Sachverhalte und Aussagen miteinander in Beziehungen treten, muss unter die historischen Schichten geschaut werden, ins Nicht-Geschichtete, dort, wo es keine diskreten Unterscheidungen oder molaren Dualitäten gibt und damit auch keine Formen mehr. Man muss die Dinge und die Wörter im Gefüge aufbrechen, um zu sehen, wie den Formen des Inhalts und Ausdrucks molekulare Prozesse der Formalisierung vorausgehen, die sich unterhalb der Schichten wechselseitig einfangen. Inhaltsform und Ausdrucksform verweisen auf zwei sich voraussetzende, parallele Formalisierungen: es ist offensichtlich, daß ihre Segmente sich ständig überschneiden und verschachteln, aber ihre Formen entstammen einer abstrakten Maschine und maschinellen Gefügen, die ihre Beziehungen regeln. (ebd.: 96)

Ein Gefüge vereint folglich zwei unterschiedliche Prozesse: Auf der einen Seite formalisiert es den Ausdruck und kann durch diesen Prozess als kollektives Äußerungsgefüge definiert werden; auf der anderen Seite formalisiert es den Inhalt und kann durch diesen Prozess als körperliches Maschinengefüge definiert werden. Anstatt also bei den geschichteten Formen stehen zu bleiben und das Gefüge bloß als eine Verschachtelung heterogener Einheiten zu betrachten, muss versucht werden, an etwas heranzukommen, »das grundlegender ist« (ebd.: 194) als das Geschichtete: Es muss versucht werden, an eine andere Ebene heranzukommen, die der molaren Ebene der geschichteten Formen genetisch vorausgeht. denen es in Gestalt »politischer Ereignisse, ökonomischer Phänomene und institutioneller Veränderungen« (ebd.: 231) aber dennoch gelingt, diesen tiefgreifend zu vereinnahmen.

358

HETEROGENESE ODER: DIE MACHT DER GEFÜGE

Auf dieser anderen Ebene befindet sich nun auch das, was diese Prozesse, noch bevor sie in ihren jeweiligen Formen geschichtet zur Ruhe kommen, verbindet: die abstrakte Maschine, die durch das Gefüge in Gang gesetzt wird. Eine richtige abstrakte Maschine hat keine Möglichkeit, allein von sich aus zwischen einer Ausdrucksebene und einer Inhaltsebene zu unterscheiden, weil sie nur ein und dieselbe Konsistenzebene vorzeichnet, die dann Inhalte und Ausdrücke den Schichten oder Reterritorialisierungen entsprechend formalisiert. Aber da die abstrakte Maschine selber destratifiziert und deterritorialisiert ist, hat sie keine Form (und auch keine Substanz) und unterscheidet in sich selbst nicht zwischen Inhalt und Ausdruck, obwohl sie außerhalb ihrer selbst diese Unterscheidung vorgibt und sie in den Schichten, den einzelnen Bereichen und Territorien verbreitet. (TP: 195)

Wenn von einer abstrakten Maschine die Rede ist, dann gerade in dem Sinne, dass sie von den diskreten, empirischen oder geschichteten Formen abstrahiert, also Dinge und Worte aufbricht, um das, was in diesen eingeschlossen ist, zu extrahieren und auf einer eigenen Konsistenzebene in Beziehung zu bringen oder, was dasselbe ist, zu maschinisieren. »Aus dieser Sicht gehört die wechselseitige Durchdringung von Sprache, gesellschaftlichem Bereich und politischen Problemen zum innersten Bereich der abstrakten Maschine und nicht zur Oberfläche« (ebd.: 121) der historischen Schichten. Während auf der molaren Ebene der historischen Schichten zwischen Sachverhalten und Aussagen stets binär zu unterscheiden ist, kann auf der molekularen Ebene nichts mehr unterschieden und dualisiert werden – alle Formen zerfließen und werden ununterscheidbar. Die Unterscheidung zwischen einer Inhalts- und einer Ausdrucksform kommt also nur in den Schichten und durch die Schichten zustande: Sie allein »trennen eine geformte Inhaltsebene von einer geformten Ausdrucksebene« (TP: 198). Warum gibt es eine solche Trennung aber nur in den Schichten? Es sind die beiden Richtungen ein und derselben Bewegung, auf die nun schon öfter verwiesen wurde. In den Schichten drückt sich jene Richtung aus, in der die Bewegung einer Mannigfaltigkeit dahin tendiert, »in ihrem Ergebnis, ihrem Resultat, das sie unterbricht, zu erstarren« (EI: 30), in der sich also der negative Zustand der abstrakten Maschine durchsetzt, durch den die Bewegung segmentarisiert, reterritorialisiert oder eben geschichtet und damit unterteilt, binarisierte oder dualisiert wird.16 Auf diese Art und Weise entstehen erst alle un16 Warum sind es aber gerade zwei Formen? Wie wir bei Bergson gesehen haben, kann sich das Virtuelle nur aktualisieren, indem es sich differenziert oder spaltet, also zwei divergierende Formen schafft und sich auf diese verteilt. »Dort treten folglich die großen Dualitäten der Klassen, von

359

WAS IST EIN SOZIALES GEFÜGE?

terscheidbaren Formen: »Der Ausdruck konstituiert dann Indizes, Ikonen oder Symbole, die in Regime oder Semiotiken eingehen. Der Inhalt bildet dann Körper, Dinge oder Objekte, die in physikalische Systeme, in Organismen oder Organisationen eingehen.« (TP: 197) Nachdem die abstrakte Maschine semiotische und materielle Elemente fertig formalisiert hat, existieren diese als Formen der Aussage und als Formen des Inhalts säuberlich getrennt in historischen Schichten (z.B. als Gefängnis und als Delinquenz). In die andere Richtung oder in ihrem positiven Zustand zieht die abstrakte Maschine aber eine Fluchtlinie, entlang welcher eine entsprechende Konsistenzebene aufgespannt wird. Auf dieser Konsistenzebene gibt es nun aber keine diskreten Formen mehr, keine Inhalts- und keine Ausdrucksform, keine abgrenzbaren Segmente (partes extra partes), weder Dinge noch Worte, sondern nur noch ununterscheidbare und deterritorialisierte Elemente: intensive Kontinuitäten, Wellen und Strömungen, Kraftfelder und Turbulenzen, kritische Schwellen und plötzliche Umwandlungen, unerwartete Begegnungen, verstreute Ereignisse, Echos und Resonanzen. Auf dieser Ebene spielen gängige Repräsentationsformen auch keine Rolle mehr: Alles, was zählt, sind konsistente Verkettungen subrepräsentativer Teilchen, zusammensetzbare Intensitäten und die entsprechenden Variationen der Macht (puissance). Von dieser immanenten Ebene gilt, daß sich auf ihr die disparatesten Dinge und Zeichen bewegen: ein semiotisches Fragment liegt neben einer chemischen Interaktion, ein Elektron stößt mit einer Sprache zusammen, ein schwarzes Loch fängt eine genetische Botschaft ein, eine Kristallisation erzeugt eine Leidenschaft, Wespe und Orchidee durchziehen einen Brief... Dabei gibt es kein »wie«, es ist nicht »wie ein Elektron«, »wie eine Interaktion« etc. Die Konsis­ tenzebene ist die Abschaffung aller Metaphern; alles, was besteht, ist real. Es sind tatsächliche Elektronen, wirkliche schwarze Löcher, reale Zellorganellen, authentische Zeichensequenzen. Nur sind sie aus ihrer Schicht herausgerissen, destratifiziert, decodiert, deterritorialisiert, und das macht ihre Nachbarschaft und wechselseitige Durchdringung auf der Konsistenzebene möglich. Ein stummer Tanz. Die Konsistenzebene weiß nichts von Niveauunterschieden, von Größenordnungen oder Abständen. Sie weiß nichts vom Unterschied zwischen Künstlichem und Natürlichem. Sie weiß nichts von der Unterscheidung zwischen Inhalten und Ausdrücken oder zwischen Formen und geformten Substanzen; all das existiert nur durch und in Beziehung zu den Schichten. (TP: 98) Regierenden und Regierten, von Öffentlichem und Privatem in Erscheinung. Aber mehr noch, dort divergieren oder differenzieren sich zwei Formen der Aktualisierung, die Ausdrucksform und die Inhaltsform, diskursive und nicht-diskursive Form, die Form des Sichtbaren und die Form des Sagbaren.« (FO: 57) Das heißt, Inhalts- und Ausdrucksform aktualisieren jeweils die virtuelle Bewegung einer abstrakten Maschine.

360

HETEROGENESE ODER: DIE MACHT DER GEFÜGE

In ihrem positiven Zustand arbeitet die abstrakte Maschine, die Mutationsmaschine, unterhalb der historischen Schichten also ausschließlich mit deterritorialisierten oder nicht-geschichteten Elementen: mit Elementen, die, gerade weil sie an keine Form (oder Funktion) gebunden sind, unbegrenzt miteinander kommunizieren können.17 Es handelt sich demnach um jene Teilchen, die, wie Deleuze und Guattari im Anschluss an Spinoza erklären, »keine Form und keine Funktion mehr haben, die in diesem Sinne also abstrakt sind, obwohl sie völlig real sind. Sie unterscheiden sich nur durch Bewegung und Ruhe, Langsamkeit und Schnelligkeit« (ebd.: 346) und das korrespondierende Vermögen, zu affizieren und affiziert zu werden. Getrennt existieren Natur und Kultur, Technik und Gesellschaft, Worte und Dinge, Sachverhalte und Aussagen nur bereits geschichtet auf der molaren Ebene. Unterhalb, auf der molekularen Ebene, affizieren sie sich aber andauernd. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Je nach Zustand der abstrakten Maschine bezieht sich entweder alles auf einen transzendenten Organisationsplan, auf dem Formen (und Subjekte) unterschieden werden, oder aber auf einen immanenten Konsistenzplan, auf dem nur noch Intensitäten (Machtquanten) miteinander kommunizieren. Während Inhalts- und Ausdruckselemente in der einen Richtung also reterritorialisiert und entsprechend formalisiert und dualisiert werden, kommen sie in der anderen Richtung, auf der Konsistenzeben, dagegen als deterritorialisierte Elemente oder Ereignisfragmente unablässig miteinander in Berührung, durchdringen sich wechselseitig und entreißen einander ihre Bestandteile. Als formalisierte Elemente unterhalten Gefängnis und Delinquenz, um auf unser Beispiel zurückzukommen, also keine Beziehung, als (noch) nicht-formalisierte Elemente, d.h. als molekulare Kräfte, affizieren sie sich aber permanent im Resonanzraum problematischer Ereignisse. Alles spielt sich demnach zwischen den beiden Richtungen oder Zuständen der abstrakten Maschine ab, in einem molekularen Zwischenbereich, wo die Bewegung der Fluchtlinie alle Dinge mit sich reißt, sie ihren jeweiligen Ordnungen und Territorien entreißt und dadurch 17 Die das Projekt der Moderne charakterisierende Trennung von Natürlichem und Künstlichem durch Praktiken der Reinigung hat Latour (2008) beschrieben. Die beiden Dichotomien, die Latour dabei in Anschlag bring – zum einen die Dichotomie zwischen Natur (nicht-menschliche Wesen) und Kultur (menschliche Wesen) auf einer bereinigten Ebene; zum anderen die Dichotomie zwischen der bereinigten Ebene selbst und einer hybriden Ebene – erinnert stark an die beiden Achsen eines Gefüges bei Deleuze und Guattari: zum einen die Unterscheidung zwischen materiellen und semiotischen Elementen auf einer molaren Ebene; zum anderen die Unterscheidung zwischen der molaren Ebene arboreszente Formen und der molekularen Ebene rhizomatische Strömungen. Vgl. hierzu das suggestive Schaubild bei Latour (2008: 20).

361

WAS IST EIN SOZIALES GEFÜGE?

rhizomatische Verbindungen zwischen heterogenen Elementen herstellt; wo aber auch andere, relativierende oder gegenläufige Bewegungen eingreifen, um den Dingen erneut eine Ordnung oder ein Territorium zuzuweisen, sie wieder einzuordnen und damit arboreszente Verhältnisse sicherzustellen, in denen das Werden, die Differenz und der Zufall inhibiert werden. Anstatt hierarchisch zwischen zwei Welten – Signifikant und Signifikat, Zeichen und Referent, Ursache und Wirkung, ideologischer Überbau und ökonomische Basis, gesellschaftliche Struktur und semantische Ordnung – zu unterscheiden und anhand dieser Zweiteilung der Welt Sachverhalte und Aussagen in einem Repräsentationsverhältnis zu verteilen, gehen Deleuze und Guattari von zwei wechselseitig immanenten Richtungen aus und zeigen, wie semiotische und materielle, natürliche oder künstliche Teilchen je nach Richtung entweder formalisiert und damit in binär unterscheidbare Ausdrucks- und Inhaltsformen überführt oder aber durcheinander gewirbelt und damit unbegrenzt miteinander verknüpft werden. Zwischen den beiden Richtungen, in einem molekularen Zwischenbereich, ergeben sich alle möglichen Grade (Quanten) von Deterritorialisierung. Das heißt, in jedem Gefüge müssen mehr oder weniger stark deterritorialisierte Elemente unterschieden werden – je nachdem, ob ein Element in einem Gefüge eher den Fluchtbewegungen oder eher den Schichten, der »Flucht vor der Flucht«, zugeneigt ist. »Worauf es in jedem Einzelfall ankommt, ist der Vergleich der Deterritorialisierungsbewegungen und der Prozesse der Reterritorialisierung, die in einem Gefüge auftreten.« (D: 186 f.) Gerade aufgrund der verschiedenen Deterritorialisierungsgrade können dabei immer deterritorialisierende und deterritorialisierte Elemente unterschieden werden. Dabei bringt »das am stärksten deterritorialisierte Element […] das andere dazu, eine Schwelle zu überschreiten, die eine Verbindung ihrer jeweiligen Deterritorialisierung ermöglicht, eine gemeinsame Beschleunigung« (TP: 196). Damit ist nun auch der mysteriöse Zusammenhang von Inhalts- und Ausdrucksform zu erklären. Noch bevor sie auf den Schichten ihre entsprechende Form erhalten, durchdringen Inhalt und Ausdruck sich als deterritorialisierende oder deterritorialisierte Elemente einer abstrakten Maschine, kommunizieren also wie Fragmente eines einzigen idealen Ereignisses. In jedem Fall, in jeder einzelnen abstrakten Maschine (oder in jedem idealen Ereignis), muss sorgsam abgeschätzt werden, was eine Fluchtbewegung einleitet, was in dieser Bewegung mitgerissen und was dabei mehr oder weniger stark deterritorialisiert wird. Formen des Inhalts wie des Ausdrucks, des Ausdrucks wie des Inhalts können nicht von einer Bewegung der Deterritorialisierung getrennt werden, die sie mitreißt. Ausdruck und Inhalt, beide sind mehr oder weniger deterritorialisiert, sind relativ deterritorialisiert, je nach dem Zustand ihrer Form. In dieser Hinsicht gibt es kein Primat des Ausdrucks 362

HETEROGENESE ODER: DIE MACHT DER GEFÜGE

gegenüber dem Inhalt oder umgekehrt. Es kommt vor, daß die semiotischen Komponenten stärker deterritorialisiert sind als die materiellen Komponenten, aber auch das Umgekehrte ist möglich. So kann zum Beispiel ein mathematischer Zeichenkomplex stärker deterritorialisiert sein als eine Menge von Teilchen; und umgekehrt können Teilchen experimentelle Wirkungen haben, die das semiotische System deterritorialisieren. Eine kriminelle Handlung kann gegenüber einem vorhandenen Zeichenregime deterritorialisierend sein […]; und das Zeichen, das den Akt der Verdammung ausdrückt, kann seinerseits gegenüber allen Aktionen und Reaktionen deterritorialisierend sein. Kurz gesagt, es gibt [Deterritorialisierungsgrade], die die jeweiligen Formen quantifizieren und denen entsprechend Inhalte und Ausdrücke sich konjugieren, aneinander anschließen, einander beschleunigen oder im Gegenteil stabilisieren und eine Reterritorialisierung in Gang setzen. (TP: 123 f.)

Neue kriminelle Praktiken affizieren den strafrechtlichen Diskurs (z.B. Cyberkriminalität), aber neue strafrechtliche Bestimmungen affizieren ihrerseits wiederum kriminelle Praktiken (z.B. durch Grauzonen). Folgendes ist demnach festzuhalten: Inhalt und Ausdruck werden (vor ihrer Formalisierung auf den Schichten) in und durch Deterritorialisierungsbewegungen entlang der Fluchtlinie eines Gefüges miteinander verbunden. Die Verbindung der beiden Aspekte des Gefüges geschieht durch Deterritorialisierungsbewegungen, die ihre Formen quantifizieren. Deshalb wird ein gesellschaftlicher Bereich weniger durch seine Konflikte und Widersprüche definiert als durch die Fluchtlinien, die ihn durchziehen. Ein Gefüge hat weder Basis noch Überbau, weder Tiefenstruktur noch Oberflächenstruktur, sondern es glättet all seine Dimensionen zu ein und derselben Konsistenzebene, auf der die gegenseitigen Voraussetzungen und die wechselseitigen Einschübe ablaufen. (ebd.: 126)

Weil diese Deterritorialisierungsbewegungen von schöpferischen Fluchtlinien vorgezeichnet werden, einem Begehren, das sowohl Inhalts- als auch Ausdrucksmerkmale mit sich reißt, ist Gesellschaft nicht durch Widersprüche, sondern primär durch das, was sich an Neuem darin ereignet und ausbreitet zu definieren: durch Fluchtlinien. Nur entlang der Fluchtlinien (und den entsprechenden Deterritorialisierungsbewegungen) verbinden sich die noch nicht zu Inhalt oder Ausdruck formalisierten Teilchen als »Intensitätskontinuen« (ebd.: 99) auf einer »flachen« Ebene der Konsistenz. Das heißt, »die Formen von Ausdruck und Inhalt kommunizieren durch eine Vereinigung ihrer Deterritorialisierungsquanten, indem sie ineinander intervenieren und wirksam werden.« (TP: 123 f.) Wie interveniert ein Ausdruck aber konkret in einen Inhalt? Beispielsweise können körperliche Modifikationen, die dafür sorgen, dass ein Körper altert, als Inhalte begriffen werden. Unabhängig davon gibt es aber Aussagen wie »Du bist kein Kind mehr…«, die sich dem betreffenden Körper zwar 363

WAS IST EIN SOZIALES GEFÜGE?

zuschreiben, nicht aber um diesen zu repräsentieren, sondern um eine körperlose Transformation zu bewirken. Als reiner Sprechakt ist eine körperlose Transformation »an ihrer Direktheit, an ihrer Unmittelbarkeit zu erkennen, an der Gleichzeitigkeit der Aussage, die sie ausdrückt, und der Wirkung, die sie hervorruft« (ebd.: 113). So auch die Verurteilung eines Verbrechers: Was vorher geschieht, das Verbrechen, dessen man jemanden beschuldigt, und was hinterher geschieht, die Bestrafung des Verurteilten, sind Tun-Erleiden, von dem Körper affiziert werden (der Körper des Eigentums, der Körper des Opfers, der Körper des Verurteilten, der Körper des Gefängnisses); aber die Verwandlung des Angeklagten in einen Verurteilten ist eine reine unmittelbare Handlung oder ein körperloses Attribut, das der Ausdruck des richterlichen Urteils ist. (ebd.)

Wenn man einem Körper – ganz unabhängig von seinen Modifikationen, seinen aktiven oder passiven Affektionen – ein nicht-körperliches Attribut (z.B. Erwachsensein oder Schuldigsein) hinzufügt, »dann repräsentiert man nicht, dann stellt man keine Referenz her, sondern man interveniert in irgendeiner Weise, und das ist ein Sprechakt« (ebd.: 122) im Sinne von John L. Austin. Eine derartige Intervention funktioniert aber nur dann, wenn eine Reihe von Umständen, die Variablen des Gefüges, gegeben sind. »Wenn irgend jemand ruft ›Ich befehle die Generalmobilmachung‹, dann ist das eine kindische Aktion oder Schwachsinn; es ist nur dann ein Äußerungsakt, wenn es eine tatsächlich vorhandene Variable gibt, die das Recht zum Aussagen gibt.« (TP: 115) Oder wenn jemand, um eine Bank zu überfallen, ruft: »Hände hoch«, ohne eine Waffe, ohne über die nötigen materiellen Mittel zu verfügen – dann ist es auch kein Banküberfall. Es gibt keine performative Aussagen außerhalb der Umstände, die sie erst zu einer solchen machen. Die Umstände sind der Aussage aber nicht äußerlich, sondern variieren mit dieser. »›Ich schwöre es‹ bedeutet etwas anderes, je nachdem, ob man es in der Familie, in der Schule, in einer Liebesbeziehung, in einer Geheimgesellschaft oder vor Gericht sagt: es ist nicht dieselbe Sache und auch nicht dieselbe Aussage; es ist nicht dieselbe körperliche Situation und auch nicht dieselbe körperlose Transformation.« (TP: 115) Wenn hier von Umständen die Rede ist, dann ist damit nicht einfach der pragmatische Rest linguistischer Konstanten gemeint, aber auch nicht informelle Regeln (der Rekognition) in einem Sprachspiels nach Wittgenstein (2003). Die Umstände müssen – wie alles andere bei Deleuze – in Bewegung gedacht werden. So beziehen sich Deleuze und Guattari auf Lenin, demzufolge die Parole »Alle Macht den Räten« als performative Aussage nur »vom 27. Februar bis zum 4. Juli« (TP: 117) gelten konnte, also nur im Rahmen einer gewissen gesellschaftlichen und politischen Dynamik momentan einen Sinn ergeben konnte. Es handelt sich insofern nicht 364

HETEROGENESE ODER: DIE MACHT DER GEFÜGE

um eine statische Sinnstruktur, sondern um eine dynamische Sinngenese, deren Variablen Deleuze und Guattari eben als kollektives Äußerungsgefüge bezeichnen. Verkettet werden dabei aber nicht nur semiotische, sondern eben auch materielle Variablen. Auf der Konsistenzebene stellt ein kollektives Äußerungsgefüge also immer eine rhizomatische Verkettung zwischen heterogenen Dimensionen dar: semiotische Kettenglieder aller Art sind hier in unterschiedlicher Codierungsweise mit biologischen, politischen, ökonomischen etc. Kettengliedern verknüpft, wodurch nicht nur unterschiedliche Zeichenregime ins Spiel gebracht werden, sondern auch unterschiedliche Sachverhalte. Kollektive Äußerungsgefüge funktionieren tatsächlich unmittelbar in maschinellen Gefügen, und man kann keinen radikalen Einschnitt zwischen Zeichenregimen und ihren Objekten machen. (ebd.: 16)

Eine Aussage verweist demnach sowohl auf wissenschaftliche, künstlerische oder ökonomische Ereignisse, wie auch auf gesellschaftliche Kämpfe, politische Umschwünge und prekäre Machtverhältnisse, auf heterogene Elemente also, die im Hinblick auf ein bestimmtes Problem kommunizieren. Daraus ergeben sich fortlaufend, mit jeder neuen Verkettung von materiellen und semiotischen Elementen, auch die beweglichen Umstände einer Aussage. Sie stehen für eine Emission singulärer Punkte und damit für die innere Charakteristik eines Problems: Sie bringen die Aussagen mit einem »Außen in Beziehung« (ebd.: 116). Weiter oben haben wir etwa am Beispiel der Schreibmaschinentastatur gesehen, dass AZERT als Aussage sowohl sprachliche (Frequenzen zwischen Buchstaben) wie materielle Dimensionen (Finger und Typenhebel) umfasst und dass die entsprechenden Beziehungen im Hinblick auf das Tastenbelegungsproblem als transversale Emission singulärer Punkte zu fassen ist.18 Wenn Deleuze und Guattari von einem kollektiven Äußerungsgefüge sprechen, dann ist damit kein Subjekt der Äußerung und auch nicht eine individuelle Aussage gemeint, sondern die Art und Weise, in der sich 18 Bezeichnend hierfür ist auch die Antwort von Deleuze auf eine Frage, die ihn in Bezug auf Derridas Dekonstruktionsmethode gestellt wurde. »Was die Methode der Dekonstruktion der Texte betrifft, so sehe ich zwar genau, was sie ist, ich bewundere sie sehr, aber sie hat nichts mit der meinen zu tun. Ich präsentiere mich in keiner Weise als Kommentator von Texten. Für mich ist ein Text lediglich ein kleines Rad in einer außertextuellen Praxis. Es geht nicht darum, den Text mit Hilfe einer Dekonstruktionsmethode oder einer Methode textueller Praxis oder anderen Methoden zu kommentieren, sondern darum, herauszufinden, wozu das in der außertextuellen Praxis dient, die den Text verlängert.« (EI: 379) Das schwierige, aber nicht abwesende Verhältnis von Deleuze zur Sprache hat Jean-Jacques Lecercle (2002) untersucht.

365

WAS IST EIN SOZIALES GEFÜGE?

materielle und semiotische Variablen zu einer Aussage verketten, einer Aussage, in der sich ein »man spricht« als ein Außen ausdrückt. Ein Äußerungsgefüge ist kollektiv, weil es immer »aus multiplen, Personen wie Dinge fortreißenden und sich in Mannigfaltigkeiten aufteilenden oder gruppierenden Strömungen zusammengesetzt« (D: 167) ist. Für Deleuze und Guattari gibt es also weder eine individuelle Aussage noch ein Subjekt der Aussage: Es gibt immer nur ein kollektives Äußerungsgefüge. Dabei beruft sich gerade Deleuze auf Foucault. Am meisten hat ihn nämlich dessen Theorie der Aussage »beeinflußt […], weil sie eine Konzeption der Sprache als heterogenes und ungleichgewichtiges Ensemble enthält und weil sie die Formierung neuer Aussagetypen in allen Bereichen zu denken erlaubt« (U: 218). Auch wenn sie völlig banal, folgenlos und womöglich auch schnell wieder vergessen ist, ist eine Aussage, Foucault zufolge, »doch stets ein Ereignis, das weder die Sprache noch der Sinn völlig erschöpfen können« (F|AW: 44). Was Foucault unter einem diskursiven Ereignis versteht, ist nämlich »kein Ereignis, das in einem Diskurs oder einem Text stattfände, sondern ein Ereignis, das zerstreut ist zwischen Institutionen, Gesetzen, politischen Siegen und Niederlagen, Forderungen, Verhaltensweisen, Revolten und Reaktionen. Eine Mannigfaltigkeit, die man in dem Maße als Diskursereignis erkennen und charakterisieren kann.« (Foucault 2019: 250) Und wenn Foucault hier festhält, dass ein Ereignis in seiner Streuung stets als »Mannigfaltigkeit« (ebd.) zu begreifen ist, dann geschieht dies unter Berufung auf »die Beschreibung des Ereignisses« (ebd.: 258), die Deleuze in Logik des Sinns vorschlägt. Als Beispiel für eine Aussage wird in Tausend Plateaus das »Wunder der Rentenmark« herangezogen, das am 20. November 1923 in Deutschland, zur Zeit der Hyperinflation, stattgefunden hat. Was Deleuze und Guattari dabei interessiert, ist weniger die wirtschaftspolitische Geschichte der Weimarer Republik, es ist vielmehr die körperlose Transformation, die sich an dem Tag ereignet hat. Um die bis dahin grassierende Hyperinflation zu beenden, gab die kurz zuvor gegründete Deutsche Rentenbank Inhaberschuldverschreibung aus, die aufgrund ihrer fiktiven Deckung durch Sachwerte als »Rentenmark« bezeichnet wurden. Entscheidend ist nun die Tatsache, dass genau zum 20. November 1923 ein Wechselkurs festgelegt wurde, dementsprechend eine Rentenmark für eine Billion Papiermark gehandelt werden konnte. Damit wurde die Inflation plötzlich, wie durch ein Wunder, gestoppt und der Geldkörper konnte wieder stabilisiert werden. Diese performative Festlegung markiert laut Deleuze und Guattari genau das, was sie unter einer körperlosen Transformation verstehen – weshalb das entsprechende Kapitel »20. November 1923 – Postulate der Linguistik« in Tausend Plateaus auch genau mit diesem Datum versehen worden ist. Diese performative Festlegung steht als Aussage aber nicht allein, sondern impliziert ein kollektives Äußerungsgefüge, das als seine Umstände 366

HETEROGENESE ODER: DIE MACHT DER GEFÜGE

sowohl Ausdrucks- wie Inhaltsvariablen einbezieht. Dazu zählt zunächst »die deterritorialisierende Inflation des Geldkörpers« (TP: 123), aber auch die darauf folgende Ernennung von Gustav Stresemann zum Reichskanzler, das Ereignis der Ruhrbesetzung und der anschließende Aufruf zum Ruhrkampf, die Ablehnung der Papiermark durch landwirtschaftliche und industrielle Produzenten, die Verordnung über die Gründung der Deutschen Rentenbank sowie die verkündete Deckung der Rentenmark durch Sachwerte – womit schlussendlich auch eine Reterritorialisierung des Ganzen eingeleitet wurde. Die Umstände ergeben sich hier also aus einem Geschehen, das fortlaufend heterogene Dimensionen involviert. Diese verketten sich in einem kollektiven Äußerungsgefüge zu einer Aussage, die sich ihrerseits dem Geschehen aber wieder als neue Dimension einfügt. Was ist also ein soziales Gefüge? Zusammenfassend können zwei Achsen angegeben werden, über die ein Gefüge zu definieren ist. Auf der ersten Achse enthält ein Gefüge sowohl Inhalte wie Ausdrücke: Es ist sowohl ein Maschinengefüge, in dem die verschiedensten Körper (z.B. Menschenkörper, Sprachkörper, Textkörper, Geldkörper, Staatskörper, Rechtskörper, Datenkörper oder Antikörper) sich wechselseitig affizieren, zusammensetzen und modifizieren, dabei Affekte austauschen und intensive Machtverhältnisse im Sinne von Spinoza bilden; es ist aber gleichzeitig auch ein kollektives Äußerungsgefüge, in dem Aussagen gebildet werden, die zu den Körpern hinzukommen, sich diesen attribuieren, um als körperlose Transformationen oder diskursive Ereignisse im Sinne von Foucault darin eine plötzliche Veränderungen zu bewirken. Beide Prozesse lassen sich etwa im feudalen Gefüge veranschaulichen. Man betrachte die Körpermischungen, durch die der Feudalismus definiert wird: der Körper der Erde und der Gesellschaftskörper, der Körper des Lehnsherren, des Vasallen und des Leibeigenen; der Körper des Ritters und des Pferdes, und die neue Beziehung, die sie zum Steigbügel, zu Waffen und Werkzeugen bekommen, die eine Symbiose der Körper gewährleisten – das Ganze ist ein Maschinengefüge. Und auch die Aussagen, die Ausdrücke, das Rechtssystem der Wappen, sämtliche körperlosen Transformationen, besonders die Eide mit ihren Variablen, der Treueeid, aber auch der Liebeslied, etc.: das ist ein kollektives Äußerungsgefüge. (TP: 124 f.)

Man muss also in jedem Gefüge in einem ersten Schritt eine Inhalts- und eine Ausdrucksform finden, ihre Unterschiede nachzeichnen und ein Inventar oder das Territorium der geschichteten Bestandteile anfertigen. Das ist aber nur der Ausgangspunkt. Man muss in einem zweiten Schritt nämlich die Wörter und die Dinge aufbrechen, um an etwas heranzukommen, das unter den geschichteten Formen liegt: die Formalisierung 367

WAS IST EIN SOZIALES GEFÜGE?

der Inhalte (Maschinengefüge) und die Formalisierung der Ausdrücke (Äußerungsgefüge). »In jedem Fall muß man beides aufspüren: was macht man und was sagt man? Zwischen beiden, zwischen Inhalt und Ausdruck entsteht eine neue Beziehung, die es in den Schichten noch nicht gab« (ebd.: 698) und nicht geben konnte. Diese neue Beziehung verweist auch schon auf die zweite Achse, durch die ein Gefüge zu definieren ist. Wenn auf der ersten Achse Inhalt und Ausdruck zu unterscheiden sind, dann sind auf der zweiten Achse nun die beiden Richtungen ein und derselben Bewegung zu unterscheiden, die sich darin ineinanderfügen: die Richtung der (re-)territorialisierenden Linien der Segmentarisierung und die Richtung der deterritorialisierenden Fluchtlinien. Dabei entspricht die eine Richtung dem negativen Zustand der abstrakten Maschine; die andere Richtung entspricht dagegen dem positiven Zustand der abstrakten Maschine. Die eine Richtung übersetzt alles auf eine Transzendenz- oder Organisationsebene; die andere Richtung stürzt dagegen alles auf eine Konsistenzebene. Die eine Richtung greift nicht-formalisierte Elemente aus einem molekularen Untergrund auf, um sie auf den Schichten als Inhalts- oder Ausdrucksform zu fixieren und zu unterscheiden; die andere Richtung entreißt den Schichten aber immer wieder semiotische oder materielle Partikel, macht sie ununterscheidbar und verbindet sie in einer umfassenden Fluchtbewegung. Das heißt, in der einen Richtung unterscheidet das Gefüge eine Ausdrucksform, in der es als kollektives Äußerungsgefüge erscheint, von einer Inhaltsform, in der es als Maschinengefüge von Körpern erscheint; es paßt eine Form an die andere an, eine Erscheinung an die andere, sich wechselseitig voraussetzend. [In der anderen Richtung] hat es keine zwei Seiten mehr, es hat nur noch Ausdrucks- und Inhaltsmerkmale, aus denen es Grade von Deterritorialisierung herauslöst, die sich aneinanderfügen, und Kanten, die sich miteinander verbinden. (TP: 200)

Das Gefüge ist gleichzeitig Tendenz zur Dualisierung und Tendenz zur Multiplizierung. Beide Richtungen, »beide Maschinentypen wirken innerhalb des Gefüges aufeinander ein« (D: 185), sind aber »nicht gleichwertig, gleichen sich nicht gegenseitig aus, sind nicht symmetrisch. […]. Sollte das die Rückkehr zum Dualismus sein? Nein, denn beide Bewegungen sind ineinander verwoben, das Gefüge umschließt die eine wie die andere, alles geschieht zwischen den beiden« (ebd.: 103). In einem Gefüge verflechten sich nicht nur verschiedene Linien, auch die abstrakte Maschine, die diese Linien vorzeichnet, wechselt darin ihre Zustände: Beide Richtungen sind einander immanent. Deshalb spricht ­Deleuze auch nicht von einem »Dualismus zwischen zwei Arten von ›Dingen‹, sondern von einer Mannigfaltigkeit von Dimensionen, Linien und Richtungen innerhalb eines Gefüges« (ebd.: 186). 368

HETEROGENESE ODER: DIE MACHT DER GEFÜGE

Die Untersuchung eines Gefüges ist deshalb stets äußerst komplex – so komplex, wie die Wirklichkeit selbst! In jedem Fall müssen die Linien, die sich darin überkreuzen, entwirrt werden, muss ad hoc danach gefragt werden, wie genau eine Bewegung verläuft, wodurch sie eingeleitet und beschleunigt oder auch verlangsamt, umgeleitet und blockiert wird und was der entsprechende Zustand der abstrakten Maschine ist. Da die Fluchtlinie dabei aber primär ist, da sie es ist, die als Mutationsmaschine eine jede Bewegung vorgibt, muss sich die Untersuchung zunächst immer an dieser orientieren und sie zum Ausgangspunkt aller Überlegungen machen. »Was ein Gefüge zusammenhält, ist nicht das Zusammenspiel von umrahmenden Formen oder von linearen Kausalitäten, sondern seine am stärksten deterritorialisierte Komponente, sein vorhandener oder möglicher Ansatz zur Deterritorialisierung« (TP: 459) – seine Fluchtlinie. Die Fluchtlinie zieht Gefüge nach sich.19 Deshalb, aufgrund dieses Primats, sind beide Richtungen im Gefüge auch asymmetrisch und gleichen sich niemals vollständig aus – immer gibt es etwas, das flieht. Das heißt auch, dass das Kriterium, an dem die Untersuchung auszurichten ist, die Genese des Neuen ist, die Art und Weise, in der ein Gefüge einer Fluchtlinie folgt, sich dabei mehr oder weniger öffnet, seine Verbindungen vermehrt und die Dimensionen seiner Mannigfaltigkeit vervielfältigt: In erster Linie ist ein Gefüge »genau diese Zunahme von Dimensionen in einer Mannigfaltigkeit« (TP: 18). Und diese Zunahme misst stets eine virtuelle Quantität, einen Machtgrad (puissance), durch welchen sich das entsprechende Gefüge auszeichnet. In diesem Sinne hat ein Gefüge niemals »dieselben Deterritorialisierungskräfte oder -geschwindigkeiten wie ein anderes; man muß jedesmal die Indizes und Koeffizienten berechnen […] man kann nur die Deterritorialisierungsvermögen [puissances de déterritorialisation] berechnen und vergleichen« (ebd.: 418). Je mehr es neue Verbindungen ermöglicht und vervielfacht, »je mehr es über eine Fähigkeit zur Metamorphose verfügt« (ebd.: 709), je umfassender also die Konsistenzeben ist, die es damit absteckt, umso größer wird auch sein Machtgrad sein; je mehr schöpferische Verbindungen (n-1) darin aber durch Vereinheitlichungen (n+1) ersetzt werden, je 19 Paul Patton erinnert daran, dass der Begriff der Fluchtlinie im Mittelpunkt steht, wenn es darum geht, Gefüge zu analysieren: »The line of flight or absolute deterritorialization is the primary object of their analysis of the virtual dynamics of assemblages – whether as nomadology, schizoanalysis, pragmatics, micropolitics, or noology – precisely because it is the source or condition of the emergence of the new. The exploration and elaboration of the realm of pure eventness or becoming is important because this dimension is immanent to the social field, its history, and its public forms of individuation. Far from being opposed to history, or a matter of flight from the world, becoming, eventness, and lines of flight are the condition of movement or change within the world.« (Patton 2010: 99)

369

WAS IST EIN SOZIALES GEFÜGE?

mehr seine Fluchtbewegungen umgeleitet, blockiert oder verhindert werden, umso kleiner wird sein Machtgrad sein. »Es findet also eine wirkliche Auswahl von Gefügen statt, entsprechend ihrer Fähigkeit, eine Konsistenzebene mit sich überschneidenden Verbindungen zu umreißen.« (ebd.) Es handelt sich um eine Auswahl, eine prüfende Selektion, die sich, im Unterschied zu jener von Platon, aber nicht nach transzendenten Kriterien (das Wahre, das Gute) richtet, sondern, indem sie sich im Ereignis des Neuen, seinem Werden, einrichtet, rein immanenten Kriterien folgt: Was kann hier und jetzt zu einer mächtigeren Zusammensetzung zusammengesetzt werden? Damit kommen wir schlussendlich auch auf die Frage der ethischen Differenz zurück, der wir bei Nietzsche und Spinoza bereits nachgegangen sind. Der Zustand der abstrakten Maschine misst nämlich »den Existenzmodus und die Realitätskonsistenz der [Gefüge] nach dem Maß ihrer erwiesenen Fähigkeit, die eigenen Segmente zu zerstören, Deterritorialisierungsspitzen hervorzutreiben, auf der eigenen Fluchtlinie abzufahren und das Immanenzfeld voll zu durchdringen.« (K: 120) Wie wir gesehen haben, ist mit Spinoza davon auszugehen, dass ein Ding umso mehr Realität hat, »auf je vielfältigere Weise es affiziert werden kann: die Quantität an Realität hat ihren Grund immer in einem dem Wesen identischen Vermögen« (PA: 85). Ebenso bemessen Deleuze und Guattari, wie Ray Brassier anmerkt, ein Gefüge nach dessen »capacity for increasing degrees of connectivity and dimensions of consistency« (Brassier 2018: 273). Vor diesem Hintergrund ist somit auch hier zu fragen: Kommt in einem konkreten Gefüge eher ein aktiver oder eher ein reaktiver Existenzmodus zum Ausdruck? Tendieren die Verbindungen in einem Gefüge eher dazu, eine Mannigfaltigkeit zu vervielfachen (Konnexion: n-1) oder zu vereinfachen (Konjugation: n+1)? Und wie genau ist das asymmetrische Verhältnis zwischen den beiden Richtungen in der Bewegung eines Gefüges dabei zu beurteilen? Die Beurteilung von Gefügen orientiert sich dabei nicht an transzendenten Kriterien, sondern richtet sich, wie wir mit Spinoza und Nietzsche (aber auch Foucault) gesehen haben, nach immanenten Kriterien: der virtuellen Quantität ihrer Macht (puissance) und der entsprechenden Schöpfung neuer Lebensmöglichkeiten. Die Untersuchung sozialer Gefüge verweist also grundsätzlich auf die vitale Frage nach der Genese des Neuen.

370

Siglen B|DW B|MG B|SE B BB FA DW EI FO KP KK LS N NP PZ SG PA S U ZB AÖ K TP WP D F|DE[1–4] F|AW F|OD F|ÜW F|WW N|KSA[1–13] S|E T|GN T|MS T|SG

Henri Bergson. Denken und schöpferisches Werden Henri Bergson. Materie und Gedächtnis Henri Bergson. Schöpferische Evolution Gilles Deleuze. Bergson zur Einführung Gilles Deleuze. Das Bewegungs-Bild Gilles Deleuze. Die Falte Gilles Deleuze. Differenz und Wiederholung Gilles Deleuze. Die Einsame Insel Gilles Deleuze. Foucault Gilles Deleuze. Kants kritische Philosophie Gilles Deleuze. Kritik und Klinik Gilles Deleuze. Logik des Sinns Gilles Deleuze. Nietzsche Gilles Deleuze. Nietzsche und die Philosophie Gilles Deleuze. Proust und die Zeichen Gilles Deleuze. Schizophrenie und Gesellschaft Gilles Deleuze. Spinoza und das Problem des Ausdrucks Gilles Deleuze. Spinoza Gilles Deleuze. Unterhandlungen Gilles Deleuze. Das Zeit-Bild Gilles Deleuze und Félix Guattari. Anti-Ödipus Gilles Deleuze und Félix Guattari. Kafka Gilles Deleuze und Félix Guattari. Tausend Plateaus Gilles Deleuze und Félix Guattari. Was ist Philosophie? Gilles Deleuze und Claire Parnet. Dialoge Michel Foucault. Schriften in vier Bänden Michel Foucault. Archäologie des Wissens Michel Foucault. Die Ordnung der Dinge Michel Foucault. Überwachen und Strafen Michel Foucault. Der Wille zum Wissen Friedrich Nietzsche. Kritische Studienausgabe. Bd. I–XIII Baruch de Spinoza. Ethik Gabriel Tarde. Die Gesetze der Nachahmung Gabriel Tarde. Monadologie und Soziologie Gabriel Tarde. Die sozialen Gesetze

371

Literatur Adkins, Brent (2016): Deleuze and Guattari’s A Thousand Plateaus. A Critical Introduction and Guide, Edinburgh: Edinburgh University Press. – (2018): »One or Several Wolves: The Wolf-Man’s Pass-Words«, in: Henry Somers-Hall/Jeffrey A. Bell/James Williams (Hg.), A Thousand Plateaus and Philosophy, Edinburgh: Edinburgh University Press, 28–45. Alliez, Éric (2009): »Die Differenz und Wiederholung von Gabriel Tarde«, in: Christian Borch/Urs Stäheli (Hg.), Soziologie der Nachahmung und des Begehrens – Materialien zu Gabriel Tarde, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 125–134. Akrich, Madeleine/Callon, Michael/Latour, Bruno (2002): »The Key Success in Innovation Part 1: The Art of Interessement«, in: International Journal of Innovation Management 6 (2), 187–206. Andermann, Kerstin (2020): Die Macht der Affekte. Spinozas Theorie immanenter Individuation, Hamburg: Felix Meiner. Ansell-Pearson, Keith (1999). Germinal Life: The Difference and Repetition of Deleuze, London: Routledge. Antonioli, Manola (2010): »Fluchtlinien des Politischen: Über mikropolitische Gefüge und das Minoritär-Werden«, in: Marc Rölli/Ralf Krause (Hg.), Mikropolitik, Wien: Turia + Kant, 7–25. Aristoteles (1966): Metaphysik, Reinbeck: Rowohlt. Badiou, Alain (1999[1997]): Deleuze: The Clamor of Being, Minneapolis: University of Minnesota Press. Balke, Friedrich (2009): »Eine frühe Soziologie der Differenz: Gabriel ­Tarde«, in: Christian Borch/Urs Stäheli (Hg.), Soziologie der Nachahmung und des Begehrens – Materialien zu Gabriel Tarde, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 135–163. Baugh, Bruce (2003): French Hegel. From Surrealism to Postmodernism London, New York: Routledge. – (2013): »Real Essences without Essentialism«, in: Constantin V. Boundas (Hg.), Deleuze and Philosophy. Edinburgh: Edinburgh University Press, 31–42. Bauman, Zygmunt (2003[2000]): Flüchtige Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Beistegui, Miguel de (2004): Truth and Genesis. Philosophy as Differential Ontology, Bloomington: Indiana University Press. – (2010): Immanence. Deleuze and Philosophy, Edinburgh: Edinburgh University Press. Bennett, Jane (2010): Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, Durham/London: Duke University Press. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1969[1966]): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M.: Fischer. 373

LITERATUR

Bergson, Henri (1928[1919]): Die seelische Energie. Aufsätze und Vorträge, Jena: Eugen Diederichs. – (1985[1903]): »Einführung in die Metaphysik«, in: ders., Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, Hamburg: Europäische Verlagsgesellschaft, 180–225. – (1985[1911]): »Die Wahrnehmung der Veränderung«, in: ders., Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, Hamburg: Europäische Verlagsgesellschaft, 149–179. – (1985[1930]): »Das Mögliche und das Wirkliche«, in: ders., Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, Hamburg: Europäische Verlagsgesellschaft, 110–125. – (1985[1939]): »Einleitung (Erster Teil)«, in: ders., Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, Hamburg: Europäische Verlagsgesellschaft, 21–41. – (1985[1939]): »Einleitung (Zweiter Teil)«, in: ders., Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, Hamburg: Europäische Verlagsgesellschaft, 42–109. – (2013[1907]): Schöpferische Evolution, Hamburg: Felix Meiner. – (2015[1896]): Materie und Gedächtnis. Versuch über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg: Felix Meiner. – (2016[1889]): Zeit und Freiheit. Versuch über das dem Bewußtsein unmittelbar Gegebene, Hamburg: Felix Meiner. Borch, Christian/Stäheli, Urs (2009): »Einleitung – Tardes Soziologie der Nachahmung und des Begehrens«, in: Christian Borch/Urs Stäheli (Hg.), Soziologie der Nachahmung und des Begehrens – Materialien zu Gabriel Tarde, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 7–38. Borradori, Giovanna (2001): »The temporalization of difference: Reflections on Deleuze’s interpretation of Bergson«, in: Continental Philosophy Review 34, 1–20. Bourdieu, Pierre (1985[1984]): Sozialer Raum und »Klassen«. Zwei Vorlesungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc J. D. (1996 [1992]): Reflexive Anthropologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Braidotti, Rosi (2006): Transpositions: On Nomadic Ethics, Cambridge: Polity Press. – (2011): Nomadic Theory: The Portable Rosi Braidotti, New York: Columbia University Press. Brassier, Ray (2018): »Concrete Rules and Abstract Machines: Form and Function in A Thousand Plateaus«, in: Henry Somers-Hall/Jeffrey A. Bell/ James Williams (Hg.), A Thousand Plateaus and Philosophy, Edinburgh: Edinburgh University Press, 260–279. Bryant, Levi R. (2008): Difference and Givenness. Deleuze’s Transcendental Empiricism and the Ontology of Immanence, Evanston: Northwes­ tern University Press. Buchanan, Ian (2015): »Assemblage Theory and Its Discontents«, in: ­Deleuze Studies 9 (3), 382–392. 374

LITERATUR

– (2017): »Assemblage Theory, or, the Future of an Illusion«, in: Deleuze Studies 11 (3), 457–474. – (2021): Assemblage Theory and Method. An Introduction and Guide, London, New York: Bloomsbury. Callon, Michel (2021): Markets in the Making. Rethinking Competition, Goods, and Innovation. New York: Zone Books. Candea, Matei (2010): »Revisiting Tarde’s house«, in: Matei Candea (Hg.), The Social after Gabriel Tarde. Debates and assessments, London, New York: Routledge, 1–23. Chamayou, Grégoire (2019[2018]): Die unregierbare Gesellschaft. Eine Genealogie des autoritären Liberalismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Combes, Muriel (2013[1999]): Gilbert Simondon and the Philosophy of the Transindividual, Cambridge: MIT Press. Debaise, Didier (2008): »The Dynamics of Possession: An Introduction to The Sociology of Gabriel Tarde«, in: David Skrbina (Hg.), Mind that ­Abides: Panpsychism in the new millennium, Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins Publishing, 221–230. – (2016): »The Dramatic Power of Events: The Function of Method in Deleuze’s Philosophy«, in: Deleuze Studies 10 (1), 5–18. DeLanda, Manuel (2002): Intensive Science and Virtual Philosophy, London/New York: Continuum. – (2006a): A New Philosophy of Society. Assemblage Theory and Social Complexity, London/New York: Continuum. – (2006b): »Deleuzian Social Ontology and Assemblage Theory«, in: Martin Fuglsang/Bent Meier Sørensen (Hg.), Deleuze and the Social, Edinburgh: Edinburgh University Press, 250–266. – (2016): Assemblage Theory, Edinburgh: Edinburgh University Press. Deleuze, Gilles (1976[1962]): Nietzsche und die Philosophie, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt. – (1978[1964]): Proust und die Zeichen, Berlin: Merve. – (1979[1965]): Nietzsche. Ein Lesebuch von Gilles Deleuze, Berlin: Merve. – (1988[1981]): Spinoza. Praktische Philosophie, Berlin: Merve. – (1989[1966]): Bergson zur Einführung, Hamburg: Junius. – (1990[1963]): Kants kritische Philosophie. Die Lehre von den Vermögen, Berlin: Merve. – (1992[1968]): Differenz und Wiederholung, München: Wilhelm Fink. – (1992[1987]): Foucault, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (1993[1968]): Spinoza und das Problem des Ausdrucks, München: Wilhelm Fink. – (1993[1969]): Logik des Sinns, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (1993[1972]): »Gespräch über den Anti-Ödipus (gemeinsam mit Félix Guattari)«, in: ders., Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 25–40. – (1993[1973]): »Brief an einen strengen Kritiker«, in: ders., Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 11–24. – (1993[1983]): »Über Das Bewegungs-Bild«, in: ders., Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 70–85. 375

LITERATUR

– (1993[1983]): »Über Das Bewegungs-Bild«, in: ders., Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 70–85. – (1993[1985]): »Das Leben als Kunstwerk«, in: ders., Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 136–196. – (1993[1986]): »Die Dinge Aufbrechen, die Worte aufbrechen«, in: ders., Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 121–135. – (1993[1986]): »Das Leben als Kunstwerk«, in: ders., Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 136–146. – (1993[1986]): »Ein Portrait Foucaults«, in: ders., Unterhandlungen 1972– 1990, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 147–171. – (1993[1986]): »Die Fürsprecher«, in: ders., Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 175–135. – (1993[1988]): »Über die Philosophie«, in: ders., Unterhandlungen 1972– 1990. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 197–226. – (1993[1989]): »Gespräch über Tausend Plateaus«, in: ders., Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 41–54. – (1993[1990]): »Kontrolle und Werden«, in: ders., Unterhandlungen 1972– 1990, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 243–253. – (1993[1990]): »Postskriptum über die Kontrollgesellschaft«, in: ders., Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 254–262. – (1995): »Le ›Je me souviens‹ de Gilles Deleuze«, in: Le Nouvel Observateur 1619 (16–22 novembre), 50–51. – (1997[1953]): David Hume, Frankfurt a. M.: Campus. – (1997[1983]): Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (1997[1985]): Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (1999): »Réponse à un série de questions«, in: Arnaud Villani (Hg.), La ­Guepe et L’Orchidee. Essai sur Gilles Deleuze, Paris: Belin, 129–133. – (2000[1988]); Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (2000[1993]): »Schluss mit dem Gericht«, in: ders., Kritik und Klinik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 171–183. – (2000[1993]): »Platon, die Griechen«, in: ders., Kritik und Klinik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 184–186. – (2000[1993]): »Spinoza und die drei Ethiken«, in: ders., Kritik und Klinik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 187–204. – (2003[1956]): »Bergson, 1859–1941«, in: ders., Die Einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 28–43. – (2003[1956]): »Der Begriff der Differenz bei Bergson«, in: ders., Die Einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 44–75. – (2003[1966]): »Gilbert Simondon, das Individuum und seine physikobiologische Genese«, in: ders., Die Einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 127–132. – (2003[1967]): »Die Methode der Dramatisierung«, in: ders., Die Einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 139–170. 376

LITERATUR

– (2003[1967]): »Schlussfolgerungen über den Willen zur Macht und die ewige Wiederkunft«, in: ders., Die Einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 171–185. – (2003[1967]): »Nietzsches Gelächter«, in: ders., Die Einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 186–189. – (2003[1968]): »Über Nietzsche und das Bild des Denkens«, in: ders., Die Einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 195–205. – (2003[1969]): »Gilles Deleuze spricht über Philosophie«, in: ders., Die Einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 206–209. – (2003[1969]): »Spinoza und die allgemeine Methode von Martial Guéroult«, in: ders., Die Einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 210–225. – (2003[1973]): »Nomaden-Denken«, in: ders., Die Einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 366–380. – (2003[1973]): »Fünf Thesen über die Psychoanalyse«, in: ders., Die Einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 398–407. – (2005[1974]): »Zwei Systeme von Verrückten«, in: ders., Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 12–17. – (2005[1983]): »Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Nietzsche und die Philosophie«, in: ders., Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 193–198. – (2005[1984]): »Der Mai 68 hat nicht stattgefunden«, in: ders., Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 220–222. – (2005[1984]): »Über die wesentlichen Begriffe von Michel Foucault«, in: ders., Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 231–249. – (2005[1994]): »Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Differenz und Wiederholung«, in: ders., Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 286–289. – (2005[1987]): »Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Dialoge«, in: ders., Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 290–293. – (2005[1987]): »Vorwort zur italienischen Ausgabe von Tausend Plateau«, in: ders., Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 294–297. – (2005[1988]): »Was ist ein Dispositiv?«, in: ders., Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 322–331. – (2005[1988]): »Antwort auf eine Frage nach dem Subjekt«, in: ders., Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 332–334. 377

LITERATUR

– (2005[1993]): »Vorwort und Brief an Jean-Clet Martin«, in: ders., Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 334–346. – (2005[1995]): »Die Immanenz: ein Leben«, in: ders., Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 365–370. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1976[1975]): Kafka. für eine kleine Literatur, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (1977[1972]): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (1980): Mille Plateaux. Capitalisme et Schizophrénie II, Paris: Les Èditions de Minuit. – (1992[1980]): Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin: Merve. – (2000[1991]): Was ist Philosophie?, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Deleuze, Gilles/Parnet, Claire (2019[1977]): Dialoge, Berlin: August. Diefenbach, Katja (2013): »Althusser with Deleuze. How to Think Spinoza’s Immanent Cause«, in: Katja Diefenbach/Sara R. Farris/Gal Kirn/Peter Thomas (Hg.), Encountering Althusser. Politics and Materialism in Contemporary Radical Thought, London/New York: Bloomsbury, 165–184. Dosse, François (2010): Gilles Deleuze and Félix Guattari. Intersecting L ­ ives, New York: Columbia University Press. – (2012): »Deleuze and structuralism«, in: Daniel W. Smith/Henry SomersHall (Hg.), The Cambridge Companion to Deleuze, New York: Cambridge University Press, 126–150. Duffy, Simon (2013): Deleuze and the History of Mathematics. In Defense of the »New«, London/New York: Bloomsbury Publishing. – (2016): The Logic of Expression. Quality, Quantity and Intensity in Spinoza, Hegel and Deleuze, New York: Routledge. Durkheim, Émile (1976[1924]): Soziologie und Philosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (1983[1897]): Der Selbstmord, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (1984[1895]): Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dyk, Silke van (2012): »Poststrukturalismus. Gesellschaft. Kritik: Über Potenziale, Probleme und Perspektiven«, in: PROKLA. Zeitschrift für Kritische Sozialwissenschaft 42 (167), 185–210. Rogers, Everett M.: (2003[1962]): Diffusion of Innovations, New York: Free Press. Fitzgerald, Francis Scott (1984[1936]): Der Knacks, Berlin: Merve. Foucault, Michel (1969): L’archéologie du savoir, Paris: Gallimard. – (1973[1969]): Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (1974[1966]): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (1976[1975]): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 378

LITERATUR

– (1977[1976]): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (2000[1984]): »Staatsphobie«, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/ Thomas Lemke, Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 68–71. – (2002[1970]): »Theatrum philosophicum«, in: ders., Schriften, Bd. 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 93–122. – (2002[1971]. »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: ders., Schriften, Bd. 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 166–191. – (2002[1974]): »Die Wahrheit und die juristischen Formen«, in: ders., Schriften, Bd. 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 669–792. – (2003[1977]): »Das Leben der infamen Menschen«, in: ders., Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 309–332. – (2003[1978]): »Die Einbindung des Krankenhauses in die moderne Technologie«, in: ders., Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 644–660. – (2003[1978]): »Die analytische Philosophie der Politik«, in: ders., Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 675–695. – (2003[1978]): »Sexualität und Macht«, in: ders., Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 695–717. – (2005[1982]): »Subjekt und Macht«, in: ders., Schriften, Bd. 4, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 269–294. – (2005[1983]): »Gebrauch der Lüste und Techniken des Selbst«, in: ders., Schriften, Bd. 4, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 658–686. – (2005[1983]): »Die Sorge um die Wahrheit«, in: ders., Schriften, Bd. 4, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 823–836. – (2005[1984]): »Was ist Aufklärung?«, in: ders., Schriften, Bd. 4, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 837–948. – (2006[2004]): Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (2011): »The Gay Science«, in: Critical Inquiry 37 (3), 385–403. – (2019[2011]): Über den Willen zum Wissen. Vorlesungen am Collège de France 1970–1971. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Freitas, Elizabeth de (2016): »The New Empiricism of the Fractal Fold: Rethinking Monadology in Digital Time«, in: Cultural Studies 16 (2), 224– 234. Goffman, Erving (1971): Relations in Public. Microstudies of the Public Order, New York: Basic Books. Guattari, Félix (1976[1972]): »Maschine und Struktur«, in: ders., Psychotherapie, Politik und die Aufgaben der institutionellen Analyse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 127–138. – (2006): The Anti-Oedipus Papers, Cambridge: MIT Press. Guéroult, Martial (1974): Spinoza. L’Âme (Ethique, II), Paris: Aubier. Hardt, Michael (1993): Gilles Deleuze. An Apprenticeship in Philosophy, London: UCL Press Limited. – (2014): »The Power to be Affected«, in: International Journal of Politics, Culture and Society 28, 215–222. 379

LITERATUR

Hardt, Michael/Negri, Antonio (2002[2000]): Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt a. M., New York: Campus. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986a[1807]): Phänomenologie des Geistes, in: Werke, Bd. 3, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (1986b[1812/13]): Wissenschaft der Logik I, in: Werke, Bd. 5, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Heidegger, Martin (1991[1929]): Kant und das Problem der Metaphysik, in: Gesamtausgabe, Bd. 3, Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. Høstaker, Roar (2014): A Different Society Altogether. What Sociology Can Learn from Deleuze, Guattari, and Latour, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing. Holland, Eugene W. (2018): »Micropolitics and Segmentarity«, in: Henry Somers-Hall/Jeffrey A. Bell/James Williams (Hg.), A Thousand Plateaus and Philosophy, Edinburgh: Edinburgh University Press, 152–171. Howaldt, Jürgen/Kopp, Ralf/Schwarz, Michael (2014): Zur Theorie sozialer Innovationen. Tardes vernachlässigter Beitrag zur Entwicklung einer soziologischen Innovationstheorie, Weinheim/Basel: Beltz Juventa. – (2015): »Soziale Innovation im Wechselspiel von Erfindung und Nachahmung – Eine praxistheoretische Perspektive mit Rekurs auf die Sozialtheorie von Gabriel Tarde«, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 40 (4), 411–428. Kant, Immanuel (1956[1781/87]): Kritik der reinen Vernunft, Hamburg: Felix Meiner. Karsenti, Bruno (2010): »Imitation: returning to the Tarde-Durkheim ­debate«, in: Matei Candea (Hg.), The Social After Gabriel Tarde. ­Debates and Assessments, New York: Routledge, 44–61. Kleinherenbrink, Arjen (2019): Against Continuity. Gilles Deleuze’s Speculative Realism, Edinburgh: Edinburgh University Press. Koopman, Colin (2016): »Critical Problematization in Foucault and D ­ eleuze: The Force of Critique without Judgment«, in: Thomas Nail/Daniel W. Smith (Hg.), Between Deleuze and Foucault, Edinburgh: Edinburgh University Press, 87–119. Krause, Ralf/Rölli, Marc (2005): »Die Subjektivierung der Macht: Zu Begehren und Lust bei Gilles Deleuze und Michel Foucault«, in: Ulrike Kadi/ Gerhard Unterthurner (Hg.), sinn macht unbewusstes. unbewusstes macht sinn, Würzburg: Königshausen u. Neumann, 192–229. – (2010): Mikropolitik. Eine Einführung in die politische Philosophie von ­Gilles Deleuze und Félix Guattari, Wien/Berlin: Turia + Kant. Lampert, Jay (2006): Deleuze and Guattari’s Philosophy of History, London/New York: Continuum. Lash, Scott (1990): Sociology of Postmodernism, London/New York: Routledge. Latour, Bruno (1996): »On actor-network theory: A few clarifications plus more than a few complications«, in: Soziale Welt 47 (4), 369–381. – (2001a): »Gabriel Tarde und das Ende des Sozialen«, in: Soziale Welt 52 (3), 361–375. 380

LITERATUR

– (2001b): Das Parlament der Dinge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – (2006[1986]): »Die Macht der Assoziation«, in: Andréa Bellinger/Krieger, David J. (Hg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld. transcript, 195–212. – (2008[1991]): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (2010a[2005]): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (2010b): »Tarde’s idea of quantification«, in: Matei Candea (Hg.), The Social After Gabriel Tarde. Debates and Assessments, New York: Routledge, 145–162. – (2009): »Eine andere Wissenschaft des Sozialen? Vorwort zur deutschen Ausgabe von Gabriel Tardes Monadologie und Soziologie«, in: Monadologie und Soziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 7–15. Latour, Bruno/Lépinay, Vincent (2010[2008]): Die Ökonomie als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen. Eine Einführung in die ökonomische Anthropologie Gabriel Tardes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Law, John (2004): After Method: Mess in Social Science Research, New York: Routledge. Lazzarato, Maurizio (1999): »Gabriel Tarde: un vitalisme politique«, in: Monadologie et sociologie, Paris: Les Empêcheurs de penser en rond, 103–150. – (2002): Puissances de l’invention. La psychologie économique de Gabriel Tarde contre l’économie politique, Paris: Les Empêcheurs de penser en rond. – (2012[2011]): Die Fabrik des Verschuldeten Menschen. Essay über das neoliberale Leben, Berlin: b_books. – (2013): »The Concepts of Life and the Living in the Societies of Control«, in: Martin Fuglsang/Bent Meier Sørensen (Hg.), Deleuze and the Social, Edinburgh: Edinburgh University Press, 171–190. Lecercle, Jean-Jacques (2002): Deleuze and Language, New York: ­Palgrave MacMillan. Leibniz, Gottfried Wilhelm (1996[1744]): Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels, in: Philosophische Werke in vier Bänden. Bd. 4, Hamburg: Felix Meiner. – (2002[1714]): Monadologie und andere metaphysische Schriften, Hamburg: Felix Meiner. Lemke, Thomas (2000): »Neoliberalismus, Staat und Selbsttechnologien: Ein kritischer Überblick über die ›governmentality studies‹«, in: Politische Vierteljahresschrift 41 (1), 31–47. Lesce, Antonio (2004): Un’Ontologia Materialista: Gilles Deleuze e il XXI Secolo, Milano: Mimesis. Lessenich, Stephan (2003): »Soziale Subjektivität«, in: Mittelweg 36 (4), 80–93. Macherey, Pierre (1996): »In Spinoza denken«, in: Friedrich Balke/Joseph Vogl (Hg.), Gilles Deleuze: Fluchtlinien der Philosophie, München: Wilhelm Fink, 55–60. – (2019[1988]): Hegel oder Spinoza, Wien: Turia + Kant. 381

LITERATUR

Mader, Mary Beth (2016): »The Regularities of the Statement: Deleuze on Foucault’s Archaeology of Knowledge«, in: Thomas Nail/Daniel W. Smith (Hg.), Between Deleuze and Foucault, Edinburgh: Edinburgh University Press, 212–222. Massumi, Brian (2001): »Sensing the virtual, building the insensible«, in: Gary Genosko (Hg.), Deleuze and Guattari. Critical Assessments of Leading Philosophers, Bd.. 3, London: Routledge, 1066–1084. – (2002). Parables for the Virtual: Movement, Affect, Sensation, Durham: Duke University Press. Mazzucato, Mariana (2014): Das Kapital des Staates: Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum, München: Kunstmann. Müller-Lauter, Wolfgang (1995): »›Der Wille zur Macht‹ als Buch der ›Krisis‹ philosophischer Nietzsche-Interpretation«, in: Nietzsche-Studien 24 (1), 223–260. Mol, Annemarie/Law, John (1994): »Regions, Networks and Fluids: Anaemia and Social Topology«, in: Social Studies of Science 24 (4), 641–671. Morar, Nicolae/Gracieuse, Marjorie (2016): »Against the Incompatibility Thesis: A rather Different Reading of the Desire-Pleasure Problem«, in: Thomas Nail/Daniel W. Smith (Hg.), Between Deleuze and Foucault, Edinburgh: Edinburgh University Press, 232–246. Nadaud, Stéphan (2006): »Introduction: Love Story between an Orchid and a Wasp«, in: The Anti-Oedipus Papers, Cambridge: MIT Press, 12–22. Negri, Antonio (1981): L’anomalia selvaggia. Saggio su potere e potenza in Baruch Spinoza. Milano: Feltrinelli. Nietzsche, Friedrich (1988[1886]): Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 1, hrsg. von Giorgio Colli/Montinari, Mazzino, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 9–156. – (1988[1874]): Unzeitgemäße Betrachtungen, Zweites Stück. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 1, hrsg. von Giorgio Colli/Montinari, Mazzino, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 243–334. – (1988[1874]): Unzeitgemäße Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher, in: Kritische Studienausgabe. Bd. 1, hrsg. von Giorgio Colli/ Montinari, Mazzino, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 335–428. – (1988[1882]): Die Fröhliche Wissenschaft, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 3, hrsg. von Giorgio Colli/Montinari, Mazzino, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 343–653. – (1988[1883]): Also sprach Zarathustra I, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 4, hrsg. von Giorgio Colli/Montinari, Mazzino, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 9–102. – (1988[1886]): Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 5, hrsg. von Giorgio Colli/ Montinari, Mazzino, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 9–244. – (1988[1887]): Die Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 5, hrsg. von Giorgio Colli/Montinari, Mazzino, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 245–412. 382

LITERATUR

– (1988[1889]): Götzen-Dämmerung. Wie man mit dem Hammer philosophiert, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 6, hrsg. von Giorgio Colli/Montinari, Mazzino, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 55–162. – (1988[1889]): Der Antichrist. Fluch auf das Christentum, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 6, hrsg. von Giorgio Colli/Montinari, Mazzino, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 165–254. – (1988[1889]): Ecce homo. Wie man wird, was man ist, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 6, hrsg. von Giorgio Colli/Montinari, Mazzino, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 255–374. – (1988[1985–1987]): Nachgelassene Fragmente 1884–1885, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 11, hrsg. von Giorgio Colli/Montinari, Mazzino, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 8–485. – (1988[1985–1987]): Nachgelassene Fragmente. Herbst 1885 bis Anfang Januar 1889, 1. Teil: Herbst 1885 bis Herbst 1887 (1–10), in: Kritische Studienausgabe, Bd. 12, hrsg. von Giorgio Colli/Montinari, Mazzino, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 9–582. – (1988[1985–1987]): Nachgelassene Fragmente. Herbst 1885 bis Anfang Januar 1889, 2. Teil: November 1887 bis Anfang Januar 1889 (10–25), in: Kritische Studienausgabe, Bd. 13, hrsg. von Giorgio Colli/Montinari, Mazzino, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 9–648. Opitz, Sven (2015): »Verbreitete (Un-)Ordnung: Ansteckung als soziologischer Grundbegriff«, in: Ulrich Bröckling/Christian Dries/Mario Leanza/Matthias Leanza/Tobias Schlechtriemen (Hg.), Das Andere der Ordnung. Theorie des Exzeptionellen, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 127–148. Patton, Paul (2000): Deleuze and the Political, London: Routledge. – (2010): Deleuzian Concepts. Philosophy, Colonization, Politics, Stanford: Stanford University Press. – (2012): »Deleuze, Foucault and History«, in: Bernd Herzogenrath (Hg.), Time and History in Deleuze and Serres, London, New York: Continuum, 69–84. – (2018): »1227: Treatise on Nomadology – The War Machine«, in: Henry Somers-Hall/Jeffrey A. Bell/James Williams (Hg.), A Thousand Plateaus and Philosophy, Edinburgh: Edinburgh University Press, 206–222. Prigogine, Ilya/Stengers, Isabelle (1981[1979]): Dialoge mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens, München: Piper. Protevi, John (2016): »Foucault’s Deleuzian Methodology of the Late 1970s«, in: Thomas Nail and Daniel W. Smith (Hg.), Between Deleuze and Foucault, Edinburgh: Edinburgh University Press, 120–127. Proust, Marcel (1964[1927]): Die wiedergefundene Zeit, in: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Werkausgabe, Bd. 13, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 383

LITERATUR

Rölli, Marc (2004): »Begriffe für das Ereignis: Aktualität und Virtualität. Oder wie der radikale Empirist Gilles Deleuze Heidegger verabschiedet«, in: Marc Rölli (Hg.), Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, München: Wilhelm Fink, 337–361. – (2018a): Immanent denken: Deleuze – Spinoza – Leibniz, Wien: Turia + Kant. – (2018b): »Deleuze als Theoretiker der Macht«, in: Katrin Felgenhauer/Falk Bornmüller (Hg.), Macht:Denken. Substantialistische und relationalistische Theorien – eine Kontroverse, Bielefeld: transcript, 193–210. – (2019): Macht der Wiederholung. Deleuze – Kant – Nietzsche, Wien: Turia + Kant. Saar, Martin (2013): Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Sampson, Tony D. (2012): Virality. Contagion Theory in the Age of Networks, Minneapolis: University of Minnesota Press. – (2020): A Sleepwalker’s Guide to Social Media, Medford: Polity Press. Sartre, Jean-Paul (1982[1937]): Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931–1939, Hamburg: Rowohlt. Sauvagnargues, Anne (2009): Deleuze. L’empirisme transcendantal, Paris: Presses Universitaires de France. – (2016): »Becoming and History: Deleuze’s Reading of Foucault«, in: Thomas Nail/Daniel W. Smith (Hg.), Between Deleuze and Foucault, Edinburgh: Edinburgh University Press, 174–199. Schatzki, Theodore (2013): The Site of the Social. A philosophical account of the constitution of social life and change, Pennsylvania: Pennsylvania State University Press. Schumpeter, Joseph (2006[1912]): Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin: Duncker und Humblot. Serres, Michel (1977): La Naissance de la physique dans le texte de Lucrèce, Paris: Les Éditions de Minuit. Seyfert, Robert (2018): »Lebenssoziologie – eine intensive Wissenschaft«, in: Heike Delitz/Frithjof Nungesser/Robert Seyfert (Hg.), Soziologien des Lebens: Überschreitung – Differenzierung – Kritik, Bielefeld: transcript, 373–408. – (2019): Beziehungsweisen. Elemente einer relationalen Soziologie, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Simondon, Gilbert (1964): L’Individu et sa genèse physico-biologique: L’individuation à la lumière des notions de forme et d’information, Paris: Presses Universitaires de France. Smith, Daniel W. (2012): Essays on Deleuze, Edinburgh: Edinburgh University Press. – (2016): »Two Concepts of Resistance: Foucault and Deleuze«, in: Thomas Nail/Daniel W. Smith (Hg.), Between Deleuze and Foucault, Edinburgh: Edinburgh University Press, 264–282. Somers-Hall, Henry (2012): Hegel, Deleuze, and the Critique of Representation, New York: State University of New York Press. 384

LITERATUR

– (2018): »The Smooth and the Striated«, in: Henry Somers-Hall/Jeffrey A. Bell/James Williams (Hg.), A Thousand Plateaus and Philosophy, Edinburgh: Edinburgh University Press, 242–259. Spinoza, Benedictus de (1990[1677]): Ethik nach der geometrischen Methode dargestellt. Lateinisch und Deutsch, Stuttgart: Reclam. – (2012[1670]): Theologisch-politischer Traktat, in: Sämtliche Werke, Bd.. 3, Hamburg: Felix Meiner. Tarde, Gabriel (1902a): Psichologie économique, Paris: Félix Alcan. – (1902b): »L’invention considere´e comme moteur de l’évolution sociale«, in: Revue internationale de sociologie, 10 (7), 562–574. – (1908[1898]): Die sozialen Gesetze. Skizze einer Soziologie, Marburg: Metropolis. – (1999a[1895]): La Logique sociale, Paris: Les Empêcheurs de penser en rond. – (1999b[1897]): L’Opposition universelle. Essai d’une théorie des contraires, Paris: Les Empêcheurs de penser en rond. – (2003[1899]: Les transformations du pouvoir, Paris: Les Empêcheurs de penser en rond. – (2009[1883]): Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (2009[1893]): Monadologie und Soziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (2015[1901]): Masse und Meinung, Konstanz: Konstanz University Press. Tonkonoff, Sergio (2017): From Tarde to Deleuze and Foucault, London: Palgrave Macmillan. Voss, Daniela (2012): Conditions of Thought. Deleuze and Transcendental Ideas, Edinburgh: Edinburgh University Press. Widder, Nathan (2012): Political Theory after Deleuze, London, New York: Continuum. Williams, James (2011): Gilles Deleuze’s Philosophy of Time: A Critical Introduction and Guide, Edinburgh: Edinburgh University Press. Wittgenstein, Ludwig (1963[1925]): Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (2003[1953]): Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Zourabichvili, François (1998): »Deleuze et le possible (de l’involontaris­ me en politique)«, in: Éric Alliez (Hg.), Gilles Deleuze. Une vie philosophique, Paris: Les Empêcheurs de penser en rond, 335–358. – (2002): »Les deux pensées de Deleuze et Negri: Une richesse et une ­chance«, in: Multitudes 9 (3), 137–141. – (2012[1994]): Deleuze. A Philosophy of the Events together with The Vocabulary of Deleuze, Edinburgh: Edinburgh University Press.

Internetquellen Deleuze, Gilles (1980): »Sur Spinoza«, webdeleuze 16.12.1980, https:// www.webdeleuze.com/textes/10 (Zugriff: 08.03.2022). 385

LITERATUR

Deleuze, Gilles (1981): »Sur Spinoza,«, webdeleuze 17.03.1981, https:// www.webdeleuze.com/textes/35 (Zugriff: 08.03.2022). Deleuze, Gilles (1985): »Sur Foucault: les formations historiques«, webdeleuze 17.12.1985 https://www.webdeleuze.com/textes/271 https://www. webdeleuze.com/textes/271(Zugriff: 08.03.2022). Deleuze, Gilles (1986a): »Sur Foucault: le pouvoir«, webdeleuze 07.01.1986 https://www.webdeleuze.com/textes/272 (Zugriff: 08.03.2022). Deleuze, Gilles (1986b): »Sur Foucault: le pouvoir«, webdeleuze 14.01.1986 https://www.webdeleuze.com/textes/273 (Zugriff: 08.03.2022)

386

Sozialtheorie bei Velbrück Wissenschaft

Elena Beregow Fermente des Sozialen Thermische Figuren in der Sozialtheorie 484 Seiten · br. · ISBN 978-3-95832-267-7 Elena Beregows Studie entwickelt eine Soziologie der Temperierung. Sie lotet dazu gesellschaftliche Natur-Kulturen, Thermopolitiken und Temporalitäten anhand der thermischen Figuren des Feuers, der Maschine und der bislang übersehenen Gärung aus. Letztere steht im Mittelpunkt der Arbeit und wird in sechs theoretischen Lektüren erschlossen. So werden neue sozialtheoretische Figuren des ›Kleinen‹ ebenso erkennbar wie utopische Hoffnungen und ›dunkle‹ Momente des Sozialen.

Robert Seyfert Beziehungsweisen Elemente einer relationalen Soziologie 280 Seiten · br. · ISBN 978-3-95832-189-2 Beziehungsweisen stellt eine relationale Soziologie vor, die die Existenzweisen und Weltverhältnisse von Subjekten, Systemen und Netzwerken nicht aus deren Aktivität hervorgehen sieht, sondern aus sozialen Beziehungen – und diese können sowohl interaktiv als auch -passiv sein. Außerdem nimmt diese Soziologie auch die Vielfalt der menschlichen und nicht-menschlichen Akteure und Passeure in den Blick. Zwei Fallstudien illustrieren den Perspektivenwechsel dieser relationalen Soziologie.

Kurt Röttgers Das Soziale denken Leitlinien einer Philosophie des kommunikativen Textes 756 Seiten · br. · ISBN 978-3-95832-239-4 Kurt Röttgers legt eine Sozialphilosophie vor, die nicht wie klassische moderne und spätmoderne Konzeptionen von einem Subjekt ausgeht und von dorther versucht, das Soziale verständlich zu machen. Stattdessen wird hier von demjenigen »Zwischen« ausgegangen, welches das Soziale ist und begreifbar werden lässt, was Subjekte sind und wie sie im sozialen Prozess konstituiert werden. Dieses »Zwischen« stellt sich dar als ein Prozess der Kommunikation, der die Gestalt eines Textes einnimmt. www.velbrueck-wissenschaft.de