Die Falle des Kalifats. Der Islamische Staat oder die Rückkehr der Geschichte [1. ed.]
 9783868549157, 9783868543100

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Pierre-Jean Luizard

Die Falle des Kalifats Der Islamische Staat oder die Rückkehr der Geschichte Mit einem aktuellen Nachwort

Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 36 20148 Hamburg www.hamburger-edition.de © der E-Book-Ausgabe 2017 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-915-7 E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde © der deutschen Ausgabe 2017 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-310-0 © der Originalausgabe 2015 by Éditions La Découverte Titel der Originalausgabe: »Le piège Daech. L’État islamique ou le retour de l’Histoire« Umschlaggestaltung und Grafik: Wilfried Gandras

Inhalt Einleitung

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Das Auftauchen des Islamischen Staates Die Faktoren eines Erfolgs »Staat« oder »Terrororganisation«? Den Krieg internationalisieren

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Von Sykes-Picot bis Dscharubiyya, die Rückkehr der Geschichte Gebrochene Versprechen Panarabische Schimären

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Im Irak, ein Staat gegen seine Gesellschaft Arabischer Nationalstaat nach europäischem Vorbild oder sunnitischer Staat? Am Ursprung der sunnitisch-schiitischen Spaltung Die blutige Rückkehr der »irakischen Frage«

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Der syrische Staat, vom Konfessionalismus eingeholt Ein konfessioneller Flickenteppich in engen Grenzen Assad, sein autoritäres Regime und die Alawiten

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Stehen wir vor einem Umbruch im Nahen Osten? Der Islamische Staat vor den Toren des Libanon Ein erstarrtes Jordanien Saudi-Arabien: Der König ist nackt Türkei: Erdoghan tappt in seine eigene Falle

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Die Falle des Kalifats Syrien, Irak: ein gleichzeitiger Vormarsch Der erklärte Wille, einen Staat aufzubauen Ein zukünftiger Staat? Propaganda und Kommunikation: auf hohem Niveau Die Behandlung von Minderheiten als Falle

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Schluss

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Nachwort (Oktober 2016)

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Zum Autor

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Einleitung Über Jahre hinweg war die Situation im Irak von den Titelseiten westlicher Medien verschwunden und sorgte allenfalls noch anlässlich von Wahlen oder besonders blutigen Attentaten für Schlagzeilen. Das Land schien in einer Art »Krieg niederer Intensität« versunken zu sein bzw. in der Sackgasse eines ziemlich chaotischen politischen Prozesses zu stecken, den offenbar nur noch Experten der Region durchschauen konnten. Das Jahr 2014 brachte die Wende. In Rekordzeit drängte ein neuer Akteur, der Islamische Staat, auf die politische Bühne, zunächst im Irak, dann in Syrien, und sorgte dafür, dass im ganzen Nahen Osten »die Rollen neu verteilt« wurden. Und die westlichen Medien standen fassungslos vor etwas, was ihnen als »politisches UFO « erschien, eine Armee von Dschihadisten, die aus dem Nichts aufgetaucht und anscheinend von niemandem aufzuhalten war.1 1

Ich werde im weiteren Verlauf des Textes die Bezeichnung »Islamischer Staat« verwenden, die neutraler ist als »Daesch«, das Akronym des arabischen al-dawla al-islamiyya fil-Iraq wa al-scham (Islamischer Staat im Irak und der Levante), das von den erklärten politischen Gegnern des Islamischen Staates benutzt wird.

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Dabei hatte es zahlreiche Vorzeichen gegeben, die dieses geopolitisch bedeutsame Ereignis ankündigten. In den Jahren 2003 bis 2008, während der amerikanischen Besatzung, war der Irak Schauplatz eines blutigen Konfessionskrieges zwischen Sunniten und Schiiten gewesen, eines Konflikts, wie es ihn in der langen Geschichte der Beziehungen zwischen den beiden großen muslimischen Glaubensgemeinschaften des Landes noch nicht gegeben hatte, mit Hunderttausenden von Toten, größtenteils Schiiten, und einem Prozess territorialer Zersplitterung und Abschottung, für den Bagdad ein bleibendes Symbol ist. In dieser Sieben-Millionen-Einwohner-Metropole hatten Schiiten und Sunniten lange Zeit Tür an Tür gelebt, zum Teil in gemischten Quartieren, besonders im Stadtzentrum. Bagdad beherbergte ebenso viele Schiiten wie Sunniten. Diese Koexistenz hatte den langsamen Niedergang der irakischen Gesellschaft, der durch eine Folge von Tragödien, angefangen mit dem iranisch-irakischen Krieg (1980 – 1988), beschleunigt wurde, halbwegs überstanden. Der Konfessionskrieg der 2000er Jahre, eine unmittelbare Konsequenz des Krieges und der amerikanischen Besatzung von 2003, endete mit einer konfessionellen Säuberung, infolge derer die sunnitische Bevölkerung ganze Stadtviertel verließ. Um den Preis Tausender Toter war es den schiitischen Milizen gelungen, die Sunniten zu vertreiben und Bagdad zu einer mehrheitlich schiitischen Stadt zu machen, während die ehemals gemischten Quartiere praktisch verschwanden. Ein Vorfall von Anfang 2014 macht deutlich, dass diese irakische Geschichte bis heute andauert. Ein Konvoi der irakischen Armee wurde nördlich von Bagdad von dschihadistischen Kämpfern angehalten, vermutlich Mitgliedern des Islamischen Staates im Irak und der Levante (der Name des Islamischen Staates bis Juni) oder seiner Verbündeten. Sie

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zwangen die Soldaten, aus ihren Fahrzeugen zu steigen, und befahlen ihnen zu beten. Die Absicht war klar: Es ging darum, die Schiiten unter ihnen zu identifizieren. Sunniten und Schiiten vollziehen nämlich beim Gebet nicht die gleichen Gesten. Auch die rituellen Waschungen erfolgen auf unterschiedliche Weise. Die schiitischen Soldaten, die ahnten, was ihnen drohte, versuchten, die sunnitischen Gebetsgesten nachzuahmen, doch die meisten verrieten sich durch »Fehler«, die sie als Schiiten entlarvten. Die sunnitischen Soldaten wurden verschont, die Schiiten hingegen kurzerhand erschossen. Macht und Sichtbarkeit des Islamischen Staates haben sich seit der Ausdehnung seiner politisch-militärischen Ambitionen auf das benachbarte Syrien, wo seit 2012 ebenfalls ein mörderischer Bürgerkrieg tobt, vor allem aber seit der Ausrufung des Kalifats auf einem Teile beider Länder umfassenden Territorium durch den Führer der Organisation, Abu Bakr AlBaghdadi, sprunghaft erhöht. Die erklärte Absicht einer einstmals kleinen salafistisch-dschihadistischen Gruppe unter vielen, einen Staat zu errichten, hat tatsächlich alle lokalen und internationalen Akteure überrumpelt. Die unglaubliche, in Rekordzeit zustande gebrachte territoriale Expansion und die Kriegserklärung an die Staaten der Region sowie die Mächte der »Ungläubigen« haben diesem Phänomen im Nu eine globale Dimension verschafft. Die Krise der Staaten, eine Folge des Arabischen Frühlings und der amerikanischen Besetzung des Irak, ist auch die der traditionell mit diesen Staaten verbündeten sunnitischen Religionsführer. Ihr Verschwinden, im Kontext allgemeiner Auflösung der sunnitischen Religionsmacht, hinterließ ein Vakuum, in das der Islamischen Staat hineingestoßen ist. Aufgeschreckt durch die vom Islamischen Staaten zelebrierten Verbrechen und Massaker haben die westlichen Län-

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der in aller Eile ein breites Militärbündnis geschmiedet, dem auch die meisten sich bedroht fühlenden arabischen Staaten beitraten (Jordanien, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Katar). Doch die größte Schwäche dieser Koalition bleibt das Fehlen eines politischen Projekts für eine Region, die sich mitten im Umbruch befindet. Und es liegt auf der Hand, dass militärische Stärke allein nicht genügt, um mit einem entschlossenen Gegner fertigzuwerden, der zudem über beachtliche Ressourcen verfügt. Das Anliegen des vorliegenden Buches ist, den raschen Erfolg des Islamischen Staates zu erklären bzw. zu verstehen, wie und warum es ihm gelungen ist, die westliche Mächte in die Falle zu locken, indem er sie in seinen Krieg verwickelte. Dazu ist ein Blick zurück in die Geschichte unerlässlich. Sowohl die jüngste Geschichte, mit der amerikanischen Besetzung des Irak und dem Ausbruch des Arabischen Frühlings, als auch die längerfristige Geschichte mit der Entstehung der arabischen Staaten unter britischer und französischer Mandatsherrschaft. Denn was sich derzeit vor unseren Augen abspielt, ist nichts weniger als eine grundlegende Veränderung des Nahen Ostens, wie wir ihn seit nahezu einem Jahrhundert kennen, als unmittelbare Folge einer plötzlichen – aber dennoch vorhersehbaren – Rückkehr der Geschichte.

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1 Das Auftauchen des Islamischen Staates Der kometenhafte Aufstieg des Islamischen Staates im Nahen Osten bewirkte eine Art Schockstarre, sowohl auf internationaler Bühne als auch bei den politischen Eliten vor Ort. Zum ersten Mal formulierte eine salafistische Gruppe offen das Ziel, ein geografisches Gebiet zu besetzen, um darauf einen Staat zu errichten.

Die Faktoren eines Erfolgs Zwar zeichnete sich das Projekt des Islamischen Staates in Ansätzen bereits in den Jahren 2012 und 2013 ab, es begann jedoch erst im Januar 2014, mit der Besetzung Falludschas, einer der größten Städte der irakischen Westprovinz Al-Anbar, konkrete Formen anzunehmen: Eine Großstadt, nur 60 Kilometer westlich der Hauptstadt Bagdad gelegen, entglitt dauerhaft der Kontrolle einer Regierung, die sich als unfähig erwies, sie zurückzuerobern. Die Besetzung dieser Stadt markierte

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auch einen starken symbolischen Einschnitt. Falludscha hatte schwere Zeiten erlebt, besonders 2004, während des Aufstands der wichtigsten Stämme der Stadt und ihrer Umgebung gegen die amerikanische Besatzung. Zehn Jahre später hat es, trotz der zwischenzeitlichen Illusionen, die tragenden Kräfte der örtlichen Bevölkerung würden das von den USA geförderte Projekt eines Wiederaufbaus des irakischen Staates auf föderaler Grundlage unterstützen, ganz den Anschein, als bedeute der Abfall Falludschas das Ende der Integration einer der Gründergemeinschaften des irakischen Staates, nämlich der arabischen Sunniten. Es gilt festzuhalten, dass die irakischen und die amerikanischen Behörden über Monate hinweg nicht in der Lage waren, die Tragweite der Eroberung Falludschas zu begreifen. Ihre realitätsverleugnende Politik verleitete sie zu der Annahme, der Verlust der Stadt sei nur vorübergehend und hätte keine politischen Auswirkungen auf den Rest des Irak. Wenn man sich jedoch ansieht, auf welche Weise der Sieg dessen, was man als den »zweiten Aufstand von Falludscha« bezeichnen könnte, zustande kam, erkennt man bereits einen für den Islamischen Staat sehr typischen Modus Operandi, der sich dann, im Juni 2014, in den nördlicher gelegenen irakischen Gouvernements, besonders in Mossul, wiederholen sollte. Diese spezielle Vorgehensweise erklärt, warum es einer einfachen salafistisch-dschihadistischen Gruppe gelungen ist, sich zu behaupten und der irakischen Armee eine vernichtende Niederlage beizubringen. Die Faktoren für die anfänglichen Erfolge des Islamischen Staates waren nicht militärischer Natur. Zwar trat der Islamische Staat als bewaffnete Avantgarde in Erscheinung, die imstande war, die irakische Armee aus einer Reihe von Städten und Gebieten zu vertreiben, doch im Gegensatz zum

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Vorgehen von Al-Qaida in den Jahren 2003 und 2004 – namentlich in Falludscha, Ramadi und anderen Städten der Provinz Al-Anbar – gebärdete er sich der örtlichen Bevölkerung gegenüber nicht als fremde oder fremd empfundene Besatzungsmacht. Seine gänzlich andere Strategie beruhte auf der Rückgabe der örtlichen Macht, in jeder der genannten Städte, an lokale Akteure. Dieser Prozess vollzog sich mit äußerster Schnelligkeit, sowohl in Falludscha als auch in den anderen irakischen Großstädten, die im Juni 2014 in die Hände des Islamischen Staates fielen, besonders Mossul und Tikrit. Einige Monate zuvor hatten syrische Städte aus dem Euphrattal wie Al-Raqqa oder Deir Al-Zor als Erste dieses Modell kennengelernt: Gleich am ersten oder zweiten Tag nach dem Sieg organisierte der Islamische Staat eine Machtübergabe an örtliche Stammesführer, Clanoberhäupter und Bezirksvorsteher, die mit der Aufgabe betraut wurden, die Stadt, unter gewissen Auflagen, zu verwalten. Zu diesen Auflagen zählten unbedingte Loyalität gegenüber dem Islamischen Staat, das Verbot, andere Hoheitszeichen als die der Organisation zu verwenden, sowie die Verpflichtung, in Fragen der Moral den Anordnungen der Dschihadisten zu folgen. Diese Machtübergabe entsprach den Wünschen der lokalen Akteure, für die die irakische Armee, die unter dem Befehl der Bagdader Regierung des schiitischen Ministerpräsidenten Nuri Al-Maliki stand, sich in eine regelrechte Besatzungsarmee verwandelt hatte. Das gilt für Falludscha, aber auch für Tikrit und Mossul, wo die irakische Armee wahllos friedliche Demonstrationen und Sit-ins unter Beschuss nahm, die aus Protest gegen die politische Marginalisierung der arabisch-sunnitischen Gemeinschaft organisiert worden waren. Die Demonstranten übernahmen bei dieser Gelegenheit eine Reihe demokratischer Schlagworte aus dem Arabischen Früh-

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ling – insbesondere die Forderung nach einem Ende des despotisch-autoritären Vorgehens der amtierenden Regierung, nach Meinungsfreiheit, gleichen staatsbürgerlichen Rechten für alle usw. In Mossul war es während des Jahres 2013 und der ersten Jahreshälfte 2014 zu Dutzenden außergerichtlicher Exekutionen durch Staatsorgane, insbesondere durch die Polizei, gekommen. Generalleutnant Mahdi Al-Gharawi, der Befehlshaber der irakischen Polizei in der Stadt, gilt der Bevölkerung noch heute als Mörder, der den »Krieg gegen den Extremismus« als Vorwand benutzte, um Geld zu erpressen und den Bewohnern mit Freiheitsberaubung und Ermordung zu drohen. Das macht verständlich, warum die Kämpfer des Islamischen Staates im Januar in Falludscha, im Juni in Tikrit, Mossul und anderswo von einem Großteil der örtlichen Bevölkerung als Befreier begrüßt wurden. In allen diesen arabisch-sunnitischen Gebieten bezeichnete man die irakische Armee häufig als check point army, weil sie sich allenfalls dafür eignete, die Bewegungen der Bevölkerung einer pedantischen Kontrolle zu unterwerfen, was das Leben buchstäblich zur Hölle machte – man brauchte manchmal Stunden, um ein paar Kilometer zurückzulegen –, ohne dadurch ein Klima auch nur minimaler Sicherheit zu erzeugen, da die häufig von Schläferzellen des Islamischen Staates verübten Attentate weiterhin ihre Ziele fanden, unter anderem in der örtlichen Prominenz. Diese »Checkpoints«, diese allgegenwärtigen Straßensperren, wurden übrigens nicht nur von der Armee kontrolliert, sondern auch von den mit ihr verbündeten örtlichen Clanmilizen, was der Willkür Tür und Tor öffnete. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass der Irak, wie jeder weiß, ein Ölförderland ist und dass die Einnahmen aus dem Abbau von fossilen Energieträgern seit 2003

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praktisch unaufhörlich gestiegen sind. Verschiedene Regierungen benutzten diese Erdölrente als Werkzeug, um sich die Loyalität lokaler Klientengruppen zu erkaufen und sich der Dienste von Clanmilizen zu versichern. Die Regierung von Nuri Al-Maliki, die diesen Klientelismus am intensivsten betrieb, brach mit der amerikanischen Politik, die sunnitischen Milizen fürs Stillhalten zu bezahlen, und zog es vor, sich die Loyalität einer Reihe von Führern und Honoratioren aller Konfessionen auf direktem Wege zu erkaufen. Das erklärt die Wohlstandsinseln, die beispielsweise in manchen Vierteln von Mossul inmitten massenhaften Elends existieren konnten. Der Islamische Staat ließ es sich nicht nehmen, den unverschämten Reichtum, den die Verbündeten und Nutznießer des Regimes angehäuft hatten, öffentlich zu machen, wie ein im September 2014 ins Netz gestelltes Video beweist, auf dem man sieht, wie Milizionäre des Islamischen Staates den »Palast« von Usama Al-Nudschaifi stürmten – einem Politiker aus Mossul und Vertreter der Staatsmacht in Bagdad, wo er den Posten des Parlamentspräsidenten bekleidete – und dort tonnenweise Goldbarren fanden! Diese Inszenierung knüpfte unmittelbar an manche Episoden des Arabischen Frühlings an, wie die Entdeckung der Paläste Ben Alis durch das tunesische Volk, und erinnert an die Ankunft amerikanischer Soldaten in den Palästen und Domizilen Saddams. Neben dieser »Überdosis« Korruption auf lokaler Ebene erfuhren die Bewohner regelmäßig, dass bestimmte politische Repräsentanten aus den örtlichen sunnitischen Eliten in Bagdad einer systematischen Strafverfolgung unter verschiedenen und wechselnden Anklagepunkten ausgesetzt waren, die sie zwang, zu fliehen und ins Exil zu gehen – der berühmteste Fall ist der des Vizepräsidenten Tariq Al-Haschimi, der erst in Kuwait, dann in Saudi-Arabien und schließlich in der Türkei

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Zuflucht suchte. Für die Bevölkerung dieser Regionen war damit das Scheitern jeder Hoffnung auf Integration in das politische System des Irak, an die doch viele hatten glauben wollen, besiegelt – ein Scheitern, für das, nicht ohne Grund, größtenteils die Regierung von Nuri Al-Maliki verantwortlich gemacht wurde. Das ganze Jahr 2013 über äußerte sich diese tiefgreifende Unzufriedenheit zunächst in friedlichen Protestbewegungen, die, wie erwähnt, Schlagworte des Arabischen Frühlings aufgriffen. Auch wenn die westliche Öffentlichkeit dies kaum zur Kenntnis nahm, wurden diese Proteste im Irak häufig mit der gleichen Brutalität unterdrückt wie 2011 und 2012 die friedlichen Demonstrationen der syrischen Bevölkerung vom Regime Baschar Al Assads. Im Irak, vor allem in Tikrit und Mossul, schreckte die Armee ebenso wenig wie in Syrien davor zurück, schwere Artillerie einzusetzen und mit TNT gefüllte Fassbomben über Wohngebieten, Krankenhäusern und Schulen abzuwerfen. Der Rückgriff auf solche Methoden brachte die Stimmung unter einer Bevölkerung zum Kippen, die erlebt hatte, was mit den berühmten »Erweckungsräten« geschehen war, arabisch-sunnitischen Milizen, die ab 2006 von den Amerikanern bewaffnet und bezahlt wurden, um gegen Al-Qaida zu kämpfen. Diese Bevölkerung musste sich von Ministerpräsident Nuri Al-Maliki persönlich anhören, dass die von einer schiitischen Mehrheit kontrollierten Behörden in Bagdad nicht bereit seien, mehr als 20 Prozent dieser sunnitischen Milizionäre in die irakische Armee einzugliedern, was einen Großteil dieser Kämpfer – die doch einen wesentlichen Beitrag zum Kampf gegen Al-Qaida im Irak geleistet hatten – zu Arbeitslosigkeit und Marginalisierung verurteilte. Die Verbitterung ist umso größer, als die irakische Armee, wie wir noch sehen wer-

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den, einst das Rückgrat des ersten irakischen Staates bildete, der über achtzig Jahre lang von sunnitischen Arabern kontrolliert wurde. Die Armee bot ihnen wichtige soziale Aufstiegschancen, was zu gut ausgebildeten und ausgerüsteten Militäreliten führte, die häufig den großen sunnitischen Familien Bagdads und Mossuls entstammten. Dieses Gefühl des Ausschlusses und der Marginalisierung ging mit einer tiefen Abneigung gegen das spektakuläre Ausmaß an Korruption einher, das durch die Besatzerlogik einer Nationalarmee gefördert wurde, die sich in Regionen mit sunnitischer Mehrheit wie ein fremdes Heer verhielt. Es bildeten sich zum Beispiel lokale Klientel-Netzwerke heraus, die so weit gingen, für eine künstliche Verknappung von Grundnahrungsmitteln zu sorgen, um die Preise in die Höhe zu treiben. Als der Islamische Staat im Januar 2014 Falludscha und dann im Spätfrühling 2014 mehrere nördliche Großstädte sowie den Rest der Provinz Al-Anbar einnahm, war jeweils eine der ersten Maßnahmen der Dschihadisten, auf symbolträchtige Weise gegen die Korruption vorzugehen. So schritten in Mossul Milizionäre des Islamischen Staates gleich nach ihrem Sieg zur öffentlichen Exekution von Personen, die der Korruption beschuldigt wurden, und organisierten im Anschluss daran eine Machtübergabezeremonie an örtliche Clanchefs und Honoratioren der Stadt, die mit der Aufgabe betraut wurden, solche Praktiken zu bekämpfen. Des Weiteren legte der Islamische Staat von Beginn an großen Wert auf die Wiederherstellung der öffentlichen Versorgung. Zum Beispiel kehrten eine Reihe von Produkten auf die Märkte von Mossul zurück, die zuvor Gegenstand spekulativer Verknappung geworden waren, mit teilweise halbierten Preisen für Grundnahrungsmittel. Die Exekution von Verursachern solcher Versorgungs-

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engpässe und Betreibern diverser Formen von Schwarzhandel wurde übrigens vom Islamischen Staat unter großem Medienaufwand inszeniert, insbesondere durch Enthauptungen und Kreuzigungen, die darauf abzielten, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen und den Kontrast zwischen der neuen Macht und der Regierung von Nuri Al-Maliki zu betonen. Man beschuldigt den Islamischen Staat oft des illegalen Handels und Exports von Erdöl. Allerdings ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass der Ölschmuggel in Richtung Iran und Türkei eine Praxis ist, die seit Langem, schon seit den Zeiten Saddam Husseins, vom irakischen Staat gefördert wird. Zum Repertoire der Vergünstigungen, die Nuri AlMaliki seinen lokalen Verbündeten gewährte, gehörte eben der Zugang zu diesem Schmuggel mitsamt den daraus resultierenden Profiten. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Kurden mit einer ganzen Tankwagenflotte einen nicht abreißenden Erdölexport in die Türkei organisierten, während im Süden des Landes eine Reihe lokaler Potentaten der mit der Staatsmacht verbündeten Schiitenparteien das gleiche Spiel in Richtung Iran betrieben.

»Staat« oder »Terrororganisation«? Ab Juni 2014 sorgte der geradezu atemberaubende Vormarsch des Islamischen Staates dafür, dass er mehr als drei Viertel der arabisch-sunnitischen Gebiete des Irak praktisch kampflos erobern konnte. Hinzu kam die politische und symbolische Tragweite, die insbesondere die Einnahme Mossuls besaß, einer Stadt von mehr als zwei Millionen Einwohnern – die zweitgrößte des Landes –, die zum religiösen Zentrum des

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Islamischen Staates auserkoren wurde. Denn von hier aus, von der Minbar (der Kanzel) einer Moschee der Stadt, rief sich Abu Bakr Al-Baghdadi am 29. Juni 2014 zum Kalifen aus. Die irakische Armee desertierte, praktisch ohne zu kämpfen. Auf dem Papier wurde Mossul damals von 25000 Mann, Soldaten und Polizisten, verteidigt. In Wirklichkeit waren es nicht mehr als 10000, in der Mehrzahl Phantomsoldaten, die ihren Vorgesetzten die Hälfte ihres Soldes überließen, um sich vor ihrem Dienst drücken zu können. Abgesehen vom Zusammenbruch einer wenig motivierten, unter Korruption leidenden und in sunnitischen Regionen als parasitärer Fremdkörper wahrgenommenen irakischen Armee (ein Großteil der Soldaten desertierte mit Beginn der IS -Offensive) profitierte der Vormarsch des Islamischen Staates vornehmlich von der ethnisch-religiösen Segmentierung der politischen Landschaft des Irak, die sich in diesen Regionen in einer ausdrücklichen Vereinbarung zwischen manchen Kurdenführern (Mas’ud Barzani, Präsident der kurdischen Regionalregierung im Nordirak, und sein Umfeld) und dem Islamischen Staat äußerte, eine Vereinbarung, die sich auf die Aufteilung einer Reihe von Gebieten bezog. Dem Islamischen Staat kam dabei die Rolle zu, die irakische Armee in die Flucht zu schlagen, während sich die Peschmerga, die kurdischen Kämpfer, verpflichteten, den Einmarsch der dschihadistischen Truppen in Mossul (die Stadt liegt nur ein paar Dutzend Kilometer von den kurdischsprachigen Zonen entfernt) und ihre Vorstöße nach Süden, in Richtung Tikrit und der multikonfessionellen und multiethnischen Provinz Diyala, nicht zu behindern. Gleichzeitig und im Gegenzug setzten sich die Kurden dauerhaft in den arabischkurdischen bzw. sunnitisch-schiitischen Mischgebieten fest, die oft auch von christlichen oder jesidischen Minderheiten bewohnt werden.

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Das berühmteste dieser »umkämpften« und von den Kurden beanspruchten Territorien ist die Region Kirkuk, eine besonders ölreiche Region, die sich rings um diese traditionell multiethnische Stadt erstreckt. Was man weiß, ist, dass Truppen des Islamischen Staates am 11. und 12. Juni 2014 in den Vororten von Kirkuk auftauchten, aber, im Rahmen des Abkommens mit den Kurden, den geordneten Rückzug antraten, sobald die Peschmerga sich näherten. Andererseits machten die Streitkräfte des Islamischen Staates in der strategisch wichtigen Provinz Diyala, östlich von Bagdad, zunächst im Juni 2014 große Geländegewinne und gelangten in Reichweite der irakischen Hauptstadt, mussten dann aber nach heftigen Gefechten die in nicht mehrheitlich arabisch-sunnitischen Zonen eroberten Stellungen wieder aufgeben. In dem ethnischreligiösen »Strategiespiel«, das den Irak beherrscht, paktierten andere Kurdenführer (die aus Sulaimaniyya, der Hochburg von Talabanis Patriotischer Union Kurdistans, der Rivalin von Barzanis Demokratischer Partei Kurdistans) dieses Mal mit der Regierung in Bagdad, um eine dauerhafte und folgenschwere Besetzung der Provinz zu verhindern. Was dem punktuellen Bündnis zwischen Kurden und Islamischem Staat ein Ende setzte, wobei sich Letzterer auf die mehrheitlich arabisch-sunnitischen Regionen zurückgeworfen sah. Die sunnitischen Araber akzeptierten in der Mehrheit den Islamischen Staat, die einen passiv, die anderen aktiv, weil er es ihnen ermöglichte, über dieses »Markenzeichen« an politischer Sichtbarkeit zurückzugewinnen. Doch im Laufe der Wochen und Monate verwandelte sich diese Minimalakzeptanz eines gemeinsamen Emblems allmählich in eine, zunächst bedingte, Zustimmung zum transnationalen Projekt des Islamischen Staates: Haben die sunnitischen Araber eine annehmbare Zukunft in einem irakischen Staat zu erwarten, der von

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einer schiitischen Mehrheit dominiert wird? Sollen sie sich nicht lieber ihren arabischen Religionsbrüdern aus dem Euphrattal jenseits der syrischen Grenze zuwenden? Im Unterschied zu Al-Qaida zeichnet sich der Islamische Staat somit durch ein Bemühen um die territoriale Verankerung einer Macht aus, die fortan auf einen im Aufbau befindlichen Staat, einen Souverän (den Kalifen), eine Armee – und nicht bloß eine Gruppe von Mudschahedin wie die Al-QaidaKämpfer –, ja sogar eine Währung verweisen kann! Ein weiterer wichtiger Unterschied zu Al-Qaida besteht darin, dass der Islamische Staat über enorme Geldmengen verfügt, um Krieg zu führen, und dieses Geld ihn nicht von den Staaten der Region abhängig macht. Es stammt entweder von privaten Spendern aus Kuwait, Katar, den Emiraten, Saudi-Arabien und anderen Ländern oder aus Plünderungen vor Ort, wie der Fall der Zentralbank von Mossul beweist, wo die IS -Kämpfer eine beträchtliche Summe in Dollars und Goldbarren erbeuteten. Allein die Kriegsbeute aus Mossul, die auf 313 Millionen Euro geschätzt wird, verschaffte dem Islamischen Staat eine beispiellose finanzielle Stärke, während er von den Westmächten und den arabischen Staaten weiterhin als bloße »Terrororganisation« eingestuft wurde. Man weiß, dass der Islamische Staat von der irakischen Armee in großem Umfang amerikanisches Militärgerät erbeutet hat – zum Beispiel schwere Artillerie in Mossul – und dass sich viele ehemalige Offiziere der Armee Saddam Husseins seinen Truppen angeschlossen haben und seine Kämpfer im Umgang mit diesem Gerät sowie in verschiedenen Gefechtstaktiken ausbilden. Die Organisation kann Panzer einsetzen und hätte, speziell in Syrien, die Möglichkeit, mit den auf dem Stützpunkt Deir Al-Zor erbeuteten russischen Flugzeugen auch aus der Luft zu agieren. Kurzum, der Islamische

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Staat verfügt im Kern über eine echte Armee, unter Führung qualifizierter Kader und bestehend aus extrem motivierten Soldaten, die mit der Aussicht auf das Märtyrertum in den Kampf ziehen, ganz im Gegensatz zu den äußerst demotivierten Truppen der irakischen Armee, ja selbst zu den häufig schlecht bewaffneten und ausgebildeten Peschmerga. Nicht nur, dass diese Professionalisierung an sich eine militärische Trumpfkarte darstellt, sie ist außerdem Bestandteil eines Aufbauprozesses staatlicher Souveränität, der auch im Zivilleben und im Bereich der Verwaltung zum Tragen kommt. Es ist oft zu hören, der IS würde in den von ihm kontrollierten Regionen Schutzgelderpressung im großen Stil praktizieren. Es sei jedoch daran erinnert, dass der IS in den Wochen nach der Einnahme Falludschas, ab Februar 2014, sein eigenes islamisches Steuersystem einführte, mit Steuern wie der Zakat, dem gesetzlichen Almosen, sowie der Sadaqa und der Dschizja1 , die es ermöglichten, Löhne zu zahlen, während unter dem Regime von Nuri Al-Maliki die Beamtengehälter häufig als Vergeltungsmaßnahme einbehalten wurden. In dieser Hinsicht entwickelte sich Falludscha zu einer Art Prototyp einer Lokalregierung, der ab Juni auf andere Städte übertragen wurde. Als die IS -Truppen in Mossul einmarschierten, war die Bevölkerungsmehrheit weder salafistisch noch dschihadistisch, sondern einfach … passiv. Diejenigen, die Grund hatten, sich zu fürchten, wie die Minderheiten, flohen, und die anderen warteten ab. Und was sie erlebten, was unbestreitbar eine

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Die Sadaqa ist die freiwillige Gabe zugunsten von Bedürftigen, die Dschizja die »Schutzsteuer«, die Dhimmis [Nichtmuslime] zahlen müssen.

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Verbesserung gegenüber dem vorherigen, unerträglich gewordenen Zustand. Deshalb konnte der Islamische Staat seine Kontrolle festigen, die, im Gegensatz zur Praxis von Al-Qaida, auf der Übertragung von Befugnissen auf lokale Akteure basierte. Eine Übertragung, die nicht bloß auf dem Papier stand: In Falludscha und Mossul zogen sich die IS -Milizionäre sehr bald nach der Eroberung der Stadt aus dem Zentrum an die Peripherie zurück, um von dort aus die Stadt und ihre Umgebung zu verteidigen. Natürlich sind sich sowohl der IS als auch die lokalen Akteure der Unzuverlässigkeit der Stammespolitik und der örtlichen Honoratioren voll und ganz bewusst, doch im Zuge der voranschreitenden territorialen Konsolidierung und Erweiterung seiner Hegemonie besteht die Strategie des Islamischen Staates gerade darin, die Logik umstandsbedingter »Markenbildung« möglichst rasch durch das reale Bekenntnis zu einem »islamischen Rechtsstaat« zu ersetzen, der zwar mit westlichen Gepflogenheiten und dem internationalen Recht nicht zu vergleichen ist, sich aber gleichwohl als Rechtsstaat versteht. In den ersten Wochen der IS -Herrschaft wurden in Mossul und der Provinz Al-Anbar Stimmen laut, die meinten, dass, wenn die Regierung von Nuri Al-Maliki den arabischsunnitischen Bevölkerungen dieselben Rechte zugestehen würde wie der Islamische Staat, diese sich wieder auf die Seite der Bagdader Behörden schlagen könnten. Seltsamerweise ging der IS nicht gegen diejenigen vor, die sich in diesem Sinne äußerten. Warum? In Wahrheit wussten die Dschihadisten ganz genau, dass die Regierung von Nuri Al-Maliki nicht in der Lage sein würde, solche Forderungen zu erfüllen, weil sie viel zu sehr in einem System religiöser Zugehörigkeiten gefangen war, das dafür sorgt, dass man den einen nur geben kann, was man den anderen wegnimmt, einschließlich im Bereich politi-

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scher Repräsentation. Mit der Zeit ließen sich immer mehr lokale Akteure, die zunächst skeptisch oder unentschlossen waren, vom IS davon überzeugen, dass der irakische Staat nicht reformierbar, dass er ein Konstrukt der Amerikaner, des Kolonialismus sei – genau wie alle anderen Staaten der Region.

Den Krieg internationalisieren Diese Bewusstseinsveränderung muss zu den verschiedenen Phasen militärischer Eroberung durch den Islamischen Staat in Beziehung gesetzt werden. Wie gesehen wurde der spektakuläre Erfolg der ersten Phase im Juni 2014 durch das Abkommen mit den Kurden in Verbindung mit dem Verrat der korrupten Armeegeneräle ermöglicht. Doch Ende Juni ging diese Vereinbarung in die Brüche, womit sich die Chance eines unbegrenzten Vormarsches auf irakischem Territorium jäh zerschlug. Bis dahin war das erklärte Ziel des Islamischen Staates die Eroberung Bagdads gewesen, der ehemaligen Hauptstadt des Abbasidenkalifats – einer seit der Vertreibung eines Großteils der sunnitischen Bevölkerung zwischen 2006 und 2008 mehrheitlich schiitischen Stadt. Der Plan war, die Hauptstadt zwischen der Provinz Diyala, die der IS dank des Doppelspiels der Kurden schnell erobern zu können glaubte, und der Provinz Al-Anbar, wo noch zahlreiche Flüchtlingslager der von schiitischen Milizen aus Bagdad vertriebenen Sunniten bestanden, in den Zangengriff zu nehmen. Zu diesem Zeitpunkt sprachen die Wortführer des Islamischen Staates noch davon, nicht nur Bagdad, sondern obendrein die heiligen Städte Al-Nadschaf und Kerbala zu erobern, als symbolische Kampfansage an die Schiiten. Die Antwort der schiitischen Geistlichkeit ließ nicht

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lange auf sich warten: Am Freitag, den 13. Juni, rief Großajatollah Ali Al-Sistani zum Dschihad gegen den Islamischen Staat auf. Ende Juni geriet der Vormarsch des Islamischen Staates in der Provinz Diyala aufgrund der massiven Mobilisierung schiitischer Milizen ins Stocken, eine Wende, die durch den Sinneswandel der Kurden begünstigt wurde, die sich dieses Mal dafür entschieden, der Zentralregierung, die diesen Milizen freie Hand ließ, zur Hilfe zu eilen. In der Folge sah sich der IS gezwungen, eine Reihe von Städten und Dörfern mit sunnitisch-schiitischer Mischbevölkerung aufzugeben – darunter von schiitischen Turkmenen2 bewohnte Dörfer. Für den Islamischen Staat bedeutete dies das Ende der Illusionen, nämlich auf eine dauerhafte Übereinkunft mit den Kurden und auf eine Eroberung der Hauptstadt, und perspektivisch des ganzen Irak. Den Führern des Islamischen Staates wurde schnell klar, dass sie sich mit einem arabisch-sunnitischen, also ethnisch und religiös definierten Territorium würden begnügen müssen. Aus dieser Einsicht erklärt sich die zweite militärische Expansionsphase mit dem begleitenden politischen Projekt, der Ausrufung des Kalifats am 29. Juni 2014 und der symbolischen Abschaffung der »Sykes-Picot-Grenze« zwischen dem Irak und Syrien. Der Islamische Staat trat die »Flucht nach vorn« an: Aufgrund der Widerstände diverser Art, auf die sie in beiden Ländern, Syrien und dem Irak, stießen, verabschie2

Ein zentralasiatisches Nomadenvolk, das nach und nach von verschiedenen muslimischen Herrschern am Südrand Kurdistans angesiedelt wurde, um den Schmuggel zu kontrollieren und Kurden und Araber zu trennen. 60 Prozent von ihnen sind Sunniten, der Rest Schiiten.

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deten sich die IS -Führer von Kurdistan und den schiitischen Regionen, im Grunde vom Irak als solchem, verzichteten auf eine schnelle Eroberung Bagdads und entschieden sich, über den Aufbau eines transnationalen Staates, bewusst für eine gleichzeitige Regionalisierung und Internationalisierung des Konflikts. Sie begannen, die Staaten der Region als »betrügerische« Gebilde zu kritisieren und sie für die Probleme der muslimischen Gemeinschaft verantwortlich zu machen. Statt auf weitere Expansion zu setzen, konzentrierte der Islamische Staat ab Ende Juli 2014 seine Kräfte auf eine territoriale Homogenisierung der von ihm kontrollierten Räume. So zu beobachten in der Provinz Al-Anbar, wo es darum ging, noch von Regierungstruppen gehaltene Enklaven aufzulösen. Dafür sprach aber auch die Besetzung der Grenzzonen zu Syrien, Jordanien und Saudi-Arabien, was übrigens von den beiden letztgenannten Ländern als tödliche Bedrohung empfunden wurde – darauf wird im vierten Kapitel ausführlicher eingegangen –, sowie die Besetzung von Gebieten, die nicht unbedingt eine sunnitische Bevölkerungsmehrheit aufwiesen, wie den christlichen Dörfern in der Ebene von Mossul oder dem von Jesiden3 bewohnten Dschabal Sindschar, einem Höhenzug, der sich über die irakische Grenze hinaus nach Syrien erstreckt. Diese Besetzung entsprach einer doppelten Logik: einerseits der geostrategischen Notwendigkeit, ein zusammenhängendes Territorium zu konsolidieren, andererseits der Vertreibung oder Versklavung einer Bevölkerung

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Die häufig zu Unrecht als »Teufelsanbeter« bezeichneten Jesiden sind eine synkretistische Sekte, die den Sufismus mit Elementen des Manichäismus kombiniert. Sie leben überwiegend auf dem Dschabal Sindschar im irakisch-syrischen Grenzgebiet.

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vermeintlicher Polytheisten und Teufelsanbeter wie der Jesiden. In beiden Fällen ging es eindeutig darum, einen um das Schicksal von Minderheiten besorgten Westen (sofern es ihm gerade ins Konzept passt, möchte man hinzufügen) zum Eintritt in den Konflikt zu bewegen. Diese Strategie der Regionalisierung/Internationalisierung des Konflikts und der territorialen Konsolidierung ging mit einer »Politik der Extreme« einher, die darauf abzielte, den Westen zu provozieren, mit einem offenen Bekenntnis zu allem, was geeignet schien, in der westlichen Öffentlichkeit für Entsetzen zu sorgen. Was man dabei nicht übersehen sollte, ist die Tatsache, dass der zunehmend systematische Charakter dieser Praktiken, bei allem Abscheu, den sie hervorriefen, vor allem Widerhall der Schwierigkeiten oder vielmehr der geostrategischen und militärischen Grenzen war, auf die der Islamische Staat im Irak und, auf andere Weise, in Syrien stieß. Über die vorsätzliche Internationalisierung des Konflikts und die generelle Delegitimierung der Staaten der Region nahm der Islamische Staat (auf eine aus westlicher Sicht paradoxe Weise) für sich in Anspruch, der einzige wirkliche Erbe des Arabischen Frühlings zu sein, der zur Schwächung eben dieser Staaten beigetragen habe. Er präsentierte sich als einziger vollkommen autonomer, allein von seinen Basen in der lokalen Zivilgesellschaft abhängiger Protagonist (die zahlreichen Stämme, die ihn unterstützen, sind ebenfalls Produkte der Zivilgesellschaft, während zum Beispiel die anderen Oppositionsgruppen in Syrien allesamt von den Regionalstaaten wie Katar, Türkei, Saudi-Arabien usw. unterstützt werden). In gewisser Hinsicht könnte man behaupten, dass die grenzüberschreitende Expansion und Strategie des Islamischen Staates auch aus der ethnisch-religiösen Begrenztheit

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seiner irakischen Herkunft resultiert. Aus dem Willen, diese Schranke zu überwinden und den eng gezogenen ethnischterritorialen Charakter seiner Ausgangsbasis zu kaschieren, erklärt sich zumindest teilweise ein kämpferisch universalistischer Diskurs, der sich an eine globale Gemeinschaft richtet. Man hat das beispielsweise an den per Videobotschaft verbreiteten, auf großes Medienecho gestoßenen Exekutionen sehr deutlich erkennen können: Gegen die internationale Koalition seiner Widersacher bietet der Islamische Staat seine eigene Koalition auf, die nichts spezifisch Arabisches mehr hat, in der Europäer, Usbeken, Tschetschenen usw. kämpfen. Er stellt damit eine machiavellistische Raffinesse und ein ausgeprägtes politisches Gespür unter Beweis, im Gegensatz nicht nur zu den von ihm bekämpften autoritären Regimen – die kaum mehr als das Repertoire blindwütiger Repression kennen –, sondern, leider, auch zu den westlichen Demokratien. Diese »Flucht nach vorn« ist für den Islamischen Staat auch eine Strategie, seine Grenzen und Defizite zu überwinden, indem er eine Langzeitperspektive einnimmt – daher seine Bezüge auf die Geschichte, wie später noch zu sehen sein wird. Es sei daran erinnert, dass in der arabischen Welt, allen panarabischen Bekenntnissen der nationalistischen Bewegungen zum Trotz, die von den Kolonialmächten gezogenen Grenzen bisher niemals wirklich ernsthaft infrage gestellt wurden. Daraus bezog der symbolische, und nicht nur symbolische Gewaltakt, die Grenze zwischen Syrien und dem Irak abzuschaffen, seine Stärke. Der Islamische Staat war gewissermaßen der Erste, der laut und deutlich aussprach, dass der König nackt sei, und der das Ende eines irakischen (und folgerichtig auch syrischen) Staates verkündete, der eigentlich nur noch von einer im Namen der Schiiten sprechenden politischen Klasse verteidigt werde.

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Aber um die Tragweite dieses Gewaltaktes ermessen zu können, muss man auf die koloniale und postkoloniale Geschichte der Region zurückkommen sowie auf den Entstehungsprozess von Staaten, die heute vor der vielleicht größten Herausforderung ihrer nahezu hundertjährigen Geschichte stehen.

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2 Von Sykes-Picot bis Dscharubiyya, die Rückkehr der Geschichte Auf Bildern, die von islamischen Websites und über Twitter verbreitet wurden, sieht man, wie Dschihadisten mit einem Bulldozer einen Sandwall planieren und auf diese Weise eine Piste schaffen, die anschließend von Lkw und Pkw befahren wird, während ein Rebell die schwarze Fahne des Islamischen Staates schwenkt. Das erste Foto der Serie, die auf den 10. Juni 2014 datiert ist, trägt den Titel »Die Sykes-Picot-Grenze durchbrechen«, in Anspielung auf das 1916 zwischen Großbritannien und Frankreich unterzeichnete Abkommen, das die Aufteilung des Nahen Ostens nach dem Ende des Ersten Weltkriegs vorsah. Diese inszenierte Aufhebung der Grenze zwischen dem Irak und Syrien in Dscharubiyya war ein Schlüsselmoment, ein bewusster Versuch des Islamischen Staates, Elemente der Langzeitgeschichte des Nahen Ostens, die auf den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und die Gründung arabischer Nationalstaaten unter europäischem Mandat zurückreichen, symbolisch für seine Zwecke zu instrumentalisieren.

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Gebrochene Versprechen Im Gegensatz zu dem, was oft zu hören ist, sah das Geheimabkommen von 1916 zwischen dem britischen Unterhändler Sykes und dem Franzosen Picot über die Aufteilung der jeweiligen Einflusszonen der beiden Mächte im Nahen Osten die Grenze zwischen Syrien und dem Irak keineswegs an der Stelle vor, wo sie vom Islamischen Staat symbolisch zerstört wurde. Das hinderte die Dschihadisten indes nicht daran, an diesem Tag, vor allem in den sozialen Netzwerken, das Ende der »ungerechten, vom Sykes-Picot-Abkommen aufgezwungenen« geopolitischen Ordnung zu verkünden. Im Grunde genommen handelte es sich um eine Art »kreativen Irrtum«, der es dem Islamischen Staat ermöglichte, seinen Kampf als Teil der langfristigen Geschichte der Staaten der Region – und ihres Scheiterns – zu begreifen. Im ursprünglichen Sykes-Picot-Abkommen gab es keine Trennung zwischen den Regionen Mossul und Aleppo, beide sollten den Plänen nach dem als »A-Zone« bezeichneten französischen Einflussgebiet angegliedert werden. Erst zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich 1925, wurde das Vilayet1 Mossul, eine Verwaltungsregion des Osmanischen Reiches mit ethnisch und religiös sehr gemischter Bevölkerung, in der Araber, Kurden und Turkmenen neben chaldäischen Assyrern und Jesiden lebten, endgültig dem Irak zugeschlagen. Erdölfunde in Kirkuk bewogen die Briten dazu, das Vilayet einem irakischen Staat unter ihrer Mandatsherrschaft einzuverleiben. Die vom

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Vilayet (türkisch) oder Wilaia (arabisch): Provinz, größte Verwaltungseinheit des Osmanischen Reiches und seiner Nachfolgestaaten.

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Islamischen Staat »beseitigte« syrisch-irakische Grenze entstand erst nach der Angliederung Mossuls an den Irak und hat mit Sykes und Picot folglich nichts zu tun. Freilich kam es den IS -Führern nicht auf jene Art von historischer Wahrheit an, die zu einem Masterabschluss in Geschichte führt, ihnen ging es vielmehr darum, einen Mediencoup zu lancieren, der die koloniale Herkunft nahezu aller Grenzen der Region ins Bewusstsein rückt. Dieser Coup reihte sich auch in die lange ideologische Tradition islamistischer Bewegungen ein, ob Muslimbrüder oder Salafisten, manchen arabischen Staaten gewohnheitsmäßig vorzuhalten, nicht nur Ausgeburten des Kolonialismus, sondern der Sitz von Mächten zu sein, die ihre Gesellschaften mithilfe von Minderheiten, die der sunnitischen Umma »feindlich« gesinnt waren, autoritär regierten – womit sie allerdings die Tatsache unterschlugen, dass es im Irak die arabisch-sunnitische Minderheit war, die den Staat mehr als 80 Jahre lang beherrschte. Daher ist es wichtig, auf die Geschichte der Staatenbildung in der Region zurückzublicken, um zu verstehen, warum die Formel »Sykes-Picot« sinnbildlich für die nicht eingehaltenen Versprechen der Alliierten gegenüber den Arabern – und anderen – im Ersten Weltkrieg steht. Am Vorabend des Konflikts bildete der gesamte Nahe Osten eine in Verwaltungsprovinzen gegliederte Einheit innerhalb des Osmanischen Reiches. In der uns interessierenden Region waren das beispielsweise die Provinzen Basra, Bagdad, Mossul, Deir Al-Zor, Aleppo, Damaskus und Beirut. Jede dieser Provinzen hatte ihren eigenen Gouverneur, doch unterstanden alle dem gleichen Rechtssystem (mit bemerkenswerter Ausnahme des Libanon, wo die europäischen Großmächte im 19. Jahrhundert einen Sonderstatus zum Schutz der dort lebenden Christen durchsetzten). Die Nationalstaaten, die in der Folgezeit entstanden und sich bald wie

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Der Nahe Osten als Teil des Osmanischen Reiches

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belagerte Festungen verhielten, zerrissen also geografische und demografische Einheiten wie das Euphrattal oder Al-Dschazira. Das Osmanenreich war ein Vielvölkerstaat, der sich auf die religiöse Treuepflicht der sunnitischen Muslime, ob Türken, Araber oder Kurden, gegenüber dem Sultan-Kalifen von Istanbul gründete. Die anerkannten religiösen Minderheiten (hauptsächlich Christen und Juden) lebten unter dem MilletSystem2 , das ihnen eine gewisse Autonomie bei der Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten zugestand. Die Schiiten erfuhren im Osmanischen Reich keine besondere Anerkennung, sondern wurden dem sunnitischen Mehrheitsislam subsumiert. Die europäischen Mächte versuchten seit Beginn des 19. Jahrhunderts, diese (sehr prekäre) Einheit zu untergraben. Sie stützten sich dabei zugleich auf die ethnischen und religiösen Minderheiten, denen sie »Schutz« versprachen, und förderten nach Kräften die Entstehung ethnischer Nationalismen nach europäischem Vorbild, in der Tradition jener Bewegungen, die sich damals, ob in Mitteleuropa oder auf dem Balkan, im Aufwind befanden. Frankreich warf sich zur »Schutzmacht« der Katholiken auf, Russland zu der der GriechischOrthodoxen und in gewissem Maße der Armenier, während Großbritannien die »Patenschaft« für die Drusen3 und die Assyro-Chaldäer übernahm. Ihr Vorgehen wurde durch die Tatsache erleichtert, dass jede dieser Gemeinschaften mehr oder

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Millet, türkisches Wort für die vom Osmanischen Reich offiziell anerkannten Religionsgemeinschaften, die in der Regelung ihrer internen Angelegenheiten autonom waren. Drusen: heterodoxer Zweig der Schi’a. Angehörige dieser Gemeinschaft leben heute im Libanon (7–8 Prozent der Bevölkerung), in Syrien (Dschabal Al-Duruz – 3 Prozent der Bevölkerung), in Jordanien und in Palästina/Israel.

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weniger schwerwiegende Gründe für Unzufriedenheiten mit der osmanischen Herrschaft hatte, von denen das Massaker an den maronitischen Christen im Libanon (1860) nicht der geringste Grund war. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs traten Abgesandte der europäischen Mächte mit den Bewegungen der Araber, Kurden, Armenier, Assyrer usw. in Kontakt. Sie ermunterten sie zum Aufstand gegen die Herrschaft der Osmanen und zum Bündnis mit den alliierten Armeen, vor allem den britischen Truppen, die bereits 1914 im Süden des Irak gelandet waren. Das alles begleitet von vollmundigen, aber oft widersprüchlichen Versprechungen, die sich im Übrigen häufig auf die gleichen Territorien bezogen. Hierbei ist die seinerzeit führende und spezielle Rolle Großbritanniens in der Region zu beachten. Aufgrund der Größe des britischen Weltreichs war seine Handhabung der Muslimfrage zwischen verschiedenen Tendenzen hin- und hergerissen. Während das Arabische Büro in Kairo dafür eintrat, den Kampf gegen das Osmanenreich im Namen des arabischen Nationalismus und des Islam zu führen, misstraute das Indian Office, das Indische Büro, aus Gründen, die mit der Situation in Indien zusammenhingen, jeder potenziell panislamischen Agitation, zumal der Sultan-Kalif von Istanbul zur gleichen Zeit zum allgemeinen Dschihad gegen die Alliierten aufrief. Eines der zentralen Dokumente zur Beurteilung der seinerzeit den Arabern gemachten Versprechungen ist die berühmte Korrespondenz zwischen dem britischen Hochkommissar in Kairo, Sir Henry McMahon, und dem Scharif 4 von

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»Scharif« (Plural »Aschraf«) ist die sunnitische Bezeichnung für alle Nachkommen des Propheten (zum Beispiel Hussein, der Scharif von Mekka).

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Einflusszonen der Mandatsmächte Großbritannien und Frankreich

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Mekka, Hussein Ibn Ali, dem offiziellen Wächter der heiligen Stätten, der große Teile des Al-Hidschas regierte. Husseins Familie, die Haschimiten, wurde von den Briten kontaktiert, um ihr die Errichtung eines arabischen Königreichs auf den Ruinen des Osmanischen Reiches in Aussicht zu stellen. In diesem sehr regen Briefwechsel aus den Jahren 1915 und 1916 verpflichtete sich Scharif Hussein, die gesamten arabischen Provinzen zum Aufstand aufzurufen, im Tausch gegen das Versprechen der Alliierten, ein vereinigtes arabisches Königreich in allen von osmanischer Vorherrschaft befreiten arabischen Regionen zu errichten. Es sei daran erinnert, dass der Nationalgedanke für die verschiedenen Völker des Osmanischen Reiches zum damaligen Zeitpunkt noch etwas sehr Neues war. Er machte sich übrigens stärker in den levantinischen Provinzen bemerkbar, die im 19. Jahrhundert die Nahda, die Wiedergeburt der arabischen Kultur und Literatur, erlebt hatten, an der zahlreiche Christen in Syrien und dem Libanon, aber auch in Ägypten, beteiligt waren. Diese Bewegung, die ausgesprochen protonationalistische Züge trug, trat rasch durch spezifisch politische Autonomieforderungen hervor. In der Levante war diese Renaissance folglich auch das Werk von Intellektuellen aus Gemeinschaften, die viel engere Beziehungen zum Westen unterhielten, vor allem Christen, ungeachtet der Präsenz vieler Muslime. Für sie ging es darum, über den Import der europäischen Vorstellung einer ethnischen Nation den Status einer Minderheit gegenüber der osmanischen Staatsmacht und dem Islam zu überwinden, indem sie die zivilrechtliche Gleichstellung auf der Grundlage gemeinsamer Arabität forderten. Syrien, der Libanon und Palästina erlebten also Anfang des 20. Jahrhundert das Aufkommen von Vereinigungen überwiegend städtischer Honoratioren und Intellektueller, die sich

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explizit auf einen sprachlich und ethnisch begründeten arabischen Nationalismus beriefen. In seiner Eigenschaft als religiöses Oberhaupt konnte der Scharif von Mekka dieser Art von ethnonationalistischem und weltlich orientiertem Projekt freilich nicht aus voller Überzeugung zustimmen. Er musste also die aufkeimenden Nationalbestrebungen mit einer religiösen Forderung verbinden, indem er geltend machte, die Türken hätten das Amt des Kalifen vereinnahmt, das seiner Meinung nach selbstverständlich einem arabischen Souverän zustünde. Wenn man heute die Hussein-McMahon-Korrespondenz liest, ist man überrascht von den ausweichenden Antworten des britischen Diplomaten und von der Vagheit und Unzuverlässigkeit seiner Versprechungen. Manchmal klingt es so, als würde McMahon einem zukünftigen arabischen Königreich den gesamten Nahen Osten versprechen, dann wieder macht er Ausnahmen unter Berufung auf den nichtarabischen, nichtmuslimischen Charakter dieser oder jener Region, wie des (von Alawiten bewohnten) Al-Ansariyya-Gebirges oder Kilikiens, einer Region in Südanatolien, die heute zur Türkei gehört – einschließlich dem überwiegend arabischsprachigen Sandschak5 Alexandretta, den Frankreich aus Syrien ausgliederte und 1939 Ankara überließ. Vergessen wir nicht die heikle Palästinafrage, die diese Korrespondenz insofern berühmt machte, als die arabische und die englische Version des Briefwechsels zwischen Hussein und McMahon in diesem Punkt vollkommen voneinander abweichen: Erstere schlägt Palästina dem arabischen Königreich zu, Letztere ist in diesem Punkt uneindeutig.

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Osmanische Verwaltungseinheit innerhalb eines Vilayet.

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Das Ausweichende und Unbestimmte der Briefe erklärt sich nicht nur aus einer möglichen Täuschungsabsicht McMahons oder der englischen Regierungsstellen (denn als die Bolschewiki das Sykes-Picot-Abkommen publik machten, hielt sich McMahon für diskreditiert und trat zurück), sondern auch aus den Widersprüchen und Spannungen der britischen Großmachtpolitik (die Versprechungen McMahons und das Sykes-Picot-Abkommen waren unvereinbar) und der Rivalität mit Frankreich. Wie bereits erwähnt, beargwöhnte das Indische Büro McMahons Förderung der nicht nur panarabischen, sondern obendrein islamischen Ambitionen des Scharifs von Mekka in höchstem Maße und wollte von einem Kalifat absolut nichts wissen. Der Irak stand dabei insofern im Zentrum dieser Unstimmigkeiten, als die britische Armee, die 1914 das Land erobert hatte, zu 90 Prozent eine indische und dem Indischen Büro unterstehende Armee war. Erst später, nämlich 1920, wurde Bagdad wieder vom Arabischen Büro in Kairo übernommen. Die im eigentlichen Sinne militärischen Konsequenzen dieses britischen Engagements zugunsten Husseins sind im Westen über die Lawrence-von-Arabien-Legende bekannt. 1916 initiierte Scharif Hussein mithilfe der Briten und von Oberst Lawrence seinen arabischen Aufstand. Vom Al-Hidschas aus setzte sich die Armee des Scharifs unter Führung von Faisal, einem der Söhne Husseins, in Marsch, besiegte die osmanischen Truppen in Akaba (1917), eroberte wenig später Jaffa und Jerusalem und stieß bis Damaskus vor, das im September 1918 fiel. Somit war das gesamte Bilad Al-Scham (Großsyrien, das heutige Syrien unter Einschluss des Libanon, Palästinas und Transjordaniens) sowie der Al-Hidschas von osmanischer Herrschaft befreit. In Damaskus ließ sich Faisal zum »König von Syrien« krönen, ein Herrschaftsgebiet, das in

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seinen Augen und denen seiner arabischen Zeitgenossen nahezu den gesamten Nahen Osten, den Libanon, Jordanien, Palästina und einen Teil des Vilayet Mossul, mit Ausnahme der mehrheitlich schiitischen Regionen des Irak, umfasste. Am 7. März 1920 erklärte ein syrischer Nationalkongress die Unabhängigkeit Syriens und seine territoriale Einheit mit Palästina und Transjordanien. Emir Faisal wurde unter dem Namen Faisal I . offiziell zum »konstitutionellen Monarchen« des arabischen Königreichs Syrien ausgerufen. Das Schicksal der Region war schnell besiegelt: Am 25. April 1920 beschloss der Oberste Rat der Alliierten Mächte auf der Konferenz von San Remo, auf der kein arabischer Vertreter anwesend war, Frankreich das Mandat über Syrien und den Libanon, Großbritannien das Mandat über den Irak, Palästina und Transjordanien zu erteilen. Diese Entscheidungen, die gegen die 1918 proklamierten Grundsätze des Selbstbestimmungsrechts der Völker und die Versprechen gegenüber den Arabern verstießen, erzeugten in Damaskus das schmerzliche Gefühl, verraten worden zu sein. Faisal verlor seinen syrischen Thron nach einer militärischen Niederlage gegen die Franzosen, und die Levante wurde in ein »kleines« Syrien und einen von ihm abgetrennten Libanon geteilt, beide unter französischem Mandat. Palästina kam unter britische Mandatsherrschaft, um den jüdischen Forderungen nach einer nationalen Heimstätte in Palästina gerecht werden, die über die Balfour-Deklaration (1917) anerkannt worden waren. Auch Transjordanien und der Irak fielen unter britisches Mandat: Im Zuge dessen bestiegen zwei Söhne Scharif Husseins den Thron zweier arabischer Rumpfstaaten ohne klar definierte Grenzen. Faisal wurde von den Briten als Aushängeschild eines irakischen Staates unter britischem Mandat nach Bagdad geschickt. Dieser irakische Staat, 1920 vom britischen Zivilbe-

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auftragten Sir Percy Cox ins Leben gerufen, war das Produkt des Aufeinandertreffens zweier Projekte: der britischen Mandatsmacht und der Eliten der arabisch-sunnitischen Minderheit im Irak. Sein Aufbau erfolgte unter der Vormachtstellung der arabisch-sunnitischen Minderheitsgemeinschaft und stand deshalb von vornherein auf permanentem Kriegsfuß mit der eigenen (mehrheitlich schiitischen) Bevölkerung, ein Konflikt, der sich durch alle nachfolgenden irakischen Regime zog.

Panarabische Schimären Der Traum des Scharifs vom vereinigten arabischen Königreich war am Zynismus der alliierten Mächte zerbrochen. Und die grenzüberschreitende Geste des Islamischen Staates vom 10. Juni 2014 in Dscharubiyya zielte darauf ab, an diesen Verrat zu erinnern. Sie sollte zum Ausdruck bringen, dass zum ersten Mal eine politische Macht in der Region einen konkreten Schritt in Richtung Überwindung der Mandatsgrenzen zu unternehmen schien, im Gegensatz zu den säkularen oder pseudo-säkularen panarabischen Nationalisten der Vergangenheit, Ba’athisten, Nasseristen usw., deren Verlogenheit nicht mehr eigens bewiesen werden musste. Bei Letzteren fungierte das Gerede von den arabischen Einheit schon seit Langem nur noch als Lippenbekenntnis, um die Tatsache zu verschleiern, dass ihr vorrangiges Ziel die politische Kontrolle der aus der Mandatszeit stammenden Staaten war. Der Panarabismus war nur ein Mittel, um ihnen den Zugang zur Macht zu erleichtern. Und in der Tat: Jedes Mal, wenn es so schien, als sei der panarabische Einheitstraum auf dem Weg, in Erfüllung zu ge-

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hen, wie im Fall des Zusammenschlusses von Ägypten und Syrien zur Vereinigten Arabischen Republik (VAR , 1958 – 1961), hatten die säkularen syrischen »Einheits«nationalisten nichts Eiligeres zu tun, als ihn zum Scheitern zu bringen. Denn offenkundig war ihnen nicht daran gelegen, in einem von Ägypten oder einem anderen Land beherrschten Komplex aufzugehen, sie wollten vielmehr die panarabische Einheitsrhetorik dazu benutzen, sich die Kontrolle über die bestehenden Staatsapparate zu sichern. Im Fall des Irak diente der panarabische Diskurs der national gesinnten arabisch-sunnitischen Eliten dem alleinigen Zweck, die schiitische Bevölkerungsmehrheit des Irak zu behandeln, als wäre sie eine Minderheitsgemeinschaft. Die mit dieser künstlichen Einheitsrhetorik verbundenen imaginären Legitimationskämpfe erklären zu einem Gutteil die Häufigkeit und Systematik der Spaltungen zwischen Nasseristen und Ba’athisten und zwischen den verschiedenen ba’athistischen Fraktionen in der gesamten Region über mehr als vier Jahrzehnte hinweg (von den 1960er Jahren bis zum Sturz des Saddam-Hussein-Regimes 2003). Es stellt sich allerdings die Frage, ob das »Sykes-PicotSyndrom« im arabischen Kollektivbewusstsein noch hinreichend virulent ist, um dem symbolischen Mediencoup des Islamischen Staates eine reale Wirkung zu verschaffen. Um diese Frage zu klären, muss man die Paradoxien des panarabischen Diskurses analysieren. Kaum waren die arabischen Staaten unter westlichem Mandat gegründet, gerieten sie ins Visier der lokalen Eliten, der wirtschaftlich, konfessionell und/oder militärisch dominierenden Schichten. Diese Eliten hatten nur einen Gedanken: die Staaten zu kontrollieren, die ihnen durch die Willkür der Mandatsherrschaft und ihrer Folgen zugefallen waren. Infolgedessen verschwand die Frage der Legitimität dieser Staaten und ihrer Grenzen aus den öffentlichen Reden.

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Mit Ausnahme der von Antun Sa’adas Syrischer Sozial-Nationalistischer Partei vertretenen politischen Strömung (die im Libanon und Syrien zeitweilig populär war, aber nie an die Macht gelangte) reichten die Bekenntnisse zu einem vereinigten arabischen Nahen Osten nie sehr weit und blieben weitgehend Rhetorik. Zwar gilt das Sykes-Picot-Abkommen in irakischen und syrischen Geschichtsbüchern nach wie vor als Ausdruck der Arglist und des Verrats der westlichen Mächte und Faisal als Opfer dieser Heimtücke. Doch überschreitet diese Darstellung nicht das Maß berechtigter patriotisch-antikolonialer Entrüstung und stellt die bestehenden Grenzen, geschweige denn die Staaten, nicht infrage. Der Bruch der seinerzeit von den westlichen Mächten gemachten Versprechungen betraf nicht allein die arabischen Bevölkerungen, sondern zum Beispiel auch die Assyrer, Bewohner der bergigen Region von Hakkari, die der neuen Türkei Mustafa Kemals zugeschlagen wurde. Während des Ersten Weltkriegs schleusten die Briten Zehntausende Angehörige dieser traditionell als kriegerisch geltenden Gemeinschaft nach Persien – ein weiterer Kriegsschauplatz –, um dort der osmanischen Armee entgegenzutreten. Als Mustafa Kemal den Assyrern die Rückkehr auf türkisches Territorium untersagte, schlugen die Briten vor, ihnen eine nationale Heimstätte in der Region Mossul zu errichten. Ein weiteres Versprechen, das toter Buchstabe blieb. Die Briten im Irak rekrutierten die Assyrer als Hilfstruppen für ihre berühmten Levies, konfessionelle Milizen, die zum Kampf gegen Kurden und Schiiten eingesetzt wurden. Als der Irak 1932 offiziell unabhängig wurde, erhoben sich die assyrischen Levies und forderten ihre Ansiedlung auf dem ihnen zugesagten Autonomiegebiet. Die Briten schlugen die Revolte nieder. Daraufhin kam es zu Massakern an den Assyrern auf Betreiben eines kurdischen Generals, Bakr

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Sidqi, der dann 1936 im Zuge eines Staatsstreichs die Macht in Bagdad übernahm. Ein Großteil der Überlebenden folgte ihrem Patriarchen ins Exil. Wie wir noch sehen werden, blieben die Kurden selbst von Tragödien nicht verschont. Der zum Scheitern verurteilte Vertrag von Sèvres (10. August 1920) sah nicht nur eine weitgehende Lokalautonomie für die türkischen Kurden vor, sondern sogar, falls von der Mehrheit der Kurden gewünscht (was der Fall war), die Gründung eines unabhängigen Staates im kurdischen Teil des Vilayet Mossul (Artikel 62 und 64), wo ein Geistlicher, Scheikh Mahmud Barzindschi, sich von Sulaimaniyya aus zum König von Kurdistan ausrief. Dieses Versprechen blieb genauso uneingelöst wie das der Großmächte gegenüber den Assyrern, und im Vertrag von Lausanne, der den Triumph Mustafa Kemals besiegelte, war von den Kurden nicht mehr die Rede. Die Konsolidierung der kemalistischen Türkei und die Eingliederung des Vilayet Mossul in den irakischen Staat (1925), der sich in seiner Verfassung als »arabisch« definierte und ständig Krieg gegen seine kurdische Bevölkerung führte, beendeten diesen Traum von der Unabhängigkeit. Tatsächlich spielt die Kritik am Bruch des Vertrags von Sèvres in gewisser Hinsicht bei den Kurden noch heute die gleiche Rolle wie der Bezug auf das Sykes-Picot-Abkommen und die Hussein-McMahon-Korrespondenz bei den Arabern. Dennoch bleiben das Sykes-Picot-Abkommen und der Verrat der Alliierten für die politischen Akteure ferne Referenzen. Wenn die staatliche Ordnung der Region heute vom Zusammenbruch bedroht ist, dann in erster Linie aufgrund ihres Versagens und ihrer unerträglich gewordenen inneren Widersprüche. Es ist nicht das von Abu Bakr Al-Baghdadi ausgerufene Kalifat, das heute den irakischen Staat gefährdet. Es waren keine IS -Kämpfer, die den Selbstzerstörungsprozess

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des Assad-Regimes einleiteten, das ganz Syrien in seinem chaotischen und nicht enden wollenden Sturz mitreißt. In Wirklichkeit besteht die Stärke des Islamischen Staates in der Schwäche seiner Gegner, und er gedeiht auf den Ruinen von Institutionen, die im Zusammenbruch begriffen sind. Dieser lange Delegitimierungs- und Verfallsprozess von Staaten, deren Lebensfähigkeit von vornherein unter einem schlechten Stern stand, soll im Folgenden untersucht werden.

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3 Im Irak, ein Staat gegen seine Gesellschaft Wie lässt sich die »irakische Frage« formulieren, die sich zwischen 1920 und 2003 mit allem Nachdruck einer ganzen Gesellschaft stellte? Sie war, kurz gesagt, durch ein doppeltes Herrschaftsverhältnis charakterisiert: durch ein konfessionelles, der Sunniten über die Schiiten, aber auch durch ein ethnisches, der Araber über die Kurden. Der Aufbau des irakischen Staates zwischen 1920 und 1925 erfolgte, wie erwähnt, unter dem Vorzeichen der Konvergenz von zwei politischen Projekten: dem der Mandatsmacht – Großbritannien – und dem der arabisch-sunnitischen Eliten, die nach ihrer Statthalterrolle im Osmanischen Reich nunmehr die gesamte, vor allem militärische Macht für sich beanspruchten.

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Arabischer Nationalstaat nach europäischem Vorbild oder sunnitischer Staat? Der erste irakische Staat war nicht nur seiner Zusammensetzung, sondern auch seiner Konzeption nach sunnitisch. Seine Herkunft aus der Mandatsherrschaft und seine konfessionelle Prägung fanden ihre ideologische Legitimation in einem arabistischen Denken und einer aus Europa importierten Vorstellung von ethnischer Nation. In der Levante (Syrien, Libanon, Palästina, Jordanien) erlangte der Nationalgedanke »europäischer Art« seit Beginn des 20. Jahrhunderts einen Anflug von Legitimation und zwar hauptsächlich aus zwei Gründen: aufgrund der intensiveren und längeren Kontakte dieser Regionen zu Europa und weil, wie gesehen, die levantinischen Protagonisten der Nahda oft aus Minderheiten stammten, die den ethnischen Nationalismus und die arabische Staatsbürgerschaft als Medium zur Legitimierung und Verbesserung ihres Status in den lokalen Gesellschaften wahrnahmen. Im Falle Iraks hingegen war diese Vorstellung praktisch inexistent, sodass die Einführung des europäischen Nationalstaatsmodells einem regelrechten Erdbeben gleichkam. Zwar bezeichnete man sich dort als »Araber« – zumal die ursprüngliche Gründungserklärung des irakischen Staates sich lediglich auf die Vilayets Bagdad und Basra bezog, also zu 95 Prozent arabische Regionen (die Kurden und andere nichtarabische Minderheiten kamen erst mit dem späteren Anschluss Mossuls hinzu) –, doch dieses arabische Selbstverständnis blieb zunächst an ein überschaubares Territorium und eine Stammeszugehörigkeit gebunden. Jenseits des Territoriums hielt man sich lieber an eine religiöse Autorität. Im Fall der Schiiten waren das Großajatollahs mehrheitlich persischer, nicht arabischer Herkunft. Es handelte sich hierbei also nicht um einen

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Nationalismus des ethnisch definierten, exklusiven Typus, sondern um eine flexiblere und zivilisiertere Vorstellung von Arabertum als ’Uruba, weit entfernt vom »arabischen Nationalismus« der ba’athistischen und nasseristischen Ära. Der irakische Staat entwickelte sich also im Namen von Vorstellungen, die denen der großen Mehrheit der irakischen Bevölkerung vollkommen fremd waren. Die Idee einer arabischen Nation ermöglichte einer konfessionellen Minderheit, die Macht an sich zu reißen, über Eliten, die nicht aufhörten, die schiitische Mehrheit des Landes im Namen des Arabismus als Minderheit zu behandeln. Zum Zeitpunkt der Staatsgründung war die Idee einer arabischen Nation noch kaum verbreitet unter den Offizieren des Scharifs, häufig Angehörige der großen sunnitischen Familien des Irak, die unter Führung Faisals am arabischen Aufstand in der Levante teilgenommen hatten. Es sei hier daran erinnert, dass in der osmanischen Zeit den Kindern der sunnitischen Elite zwei große Karrieremöglichkeiten offenstanden: einerseits die religiöse Karriere, wenn man zum Beispiel Sayyid oder Sharif war, also Nachkomme des Propheten, oder einer Sufi-Bruderschaft angehörte, andererseits die Beamten- oder Soldatenkarriere. Als lokale Vertreterin einer osmanischen Macht, die sich als Bannerträgerin der Sunna gegen das schiitische Persien, das konkurrierende islamische Großreich, verstand, beherrschte die fast ausschließlich aus Sunniten bestehende Kaste der Efendis (osmanische Verwaltungsbeamte) den Bereich der zivilrechtlichen Angelegenheiten. Was die Armeekarriere betraf, so ging man zum Studium an die Militärakademien in Istanbul, damals ein Sammelbecken europäischer Ideen, wie jener der Nation als Quelle staatlicher Legitimation. Die aus dem Irak stammenden Absolventen der osmanischen Militärakademien schlossen sich 1916 dem arabischen

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Aufstand an und nahmen an den Kämpfen gegen die Osmanen in der Levante teil. Nach dem Waffenstillstand kehrten sie in den Irak zurück und wurden von den Briten mit der Führung der irakischen Armee betraut. In einem symbolischen Akt legte Dschaf ’ar Al-Askari, einer der prominentesten Vertreter dieser Scharif-Elite, den Grundstein der Armee. Eine weitere Führungsfigur dieser Prätorianerschicht war Nuri Al-Sa’id, ein zum Politiker gewordener Offizier, bei der Bevölkerung verhasst als »Mann der Engländer«. Während des Aufstands von 1958, der die Monarchie beendete, versuchte er, als Frau verkleidet das Land zu verlassen, wurde aber schließlich erkannt und von den Aufständischen zusammen mit der Königsfamilie ermordet. Der arabische Nationalismus war also paradoxerweise das bevorzugte Werkzeug der Kolonialmacht in einer Region, in der sich Zugehörigkeiten vorrangig über den Ort, den Stamm, den Clan und die Religion definierten. Die Gründung des irakischen Staates erfolgte 1920 im Rahmen des britischen Mandats, parallel zum französischen Mandat über Syrien und den Libanon, und stieß auf einhellige Ablehnung seitens der Schiiten, die bis zum Anschluss des Vilayet Mossul an den Irak mehr als 75 Prozent der Bevölkerung stellten. Der konfessionelle Charakter des neuen Staates, der sich auf den Arabismus berief, wurde verschleiert, da nirgendwo in den Gesetzes- und Verfassungstexten von Schiiten oder Sunniten die Rede war. Gleichwohl stellte sich 1924 anlässlich der Verabschiedung des irakischen Staatsbürgerschaftsgesetzes heraus, dass diejenigen, die Bürger des Osmanischen Reiches gewesen waren, automatisch die irakische Staatsangehörigkeit erhielten. Das betraf aber nur Sunniten, da die Schiiten die Legitimität des Sultan-Kalifen nicht anerkannt und überwiegend in der Zentralmacht unzugänglichen Stammesgebieten gelebt hatten. Zudem besaß ein Teil von ihnen die persi-

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sche Nationalität, sei es aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, was häufig bei Bewohnern der heiligen schiitischen Städte Al-Nadschaf und Kerbala der Fall war, sei es, weil sie arabischen Stämmen angehörten, die sich für die persische Nationalität entschieden hatten, um der Wehrpflicht zu entgehen. Die große Mehrheit der Schiiten besaß keine Ausweispapiere; sie hatten keine Nationalität und wussten zumeist nicht einmal, was es bedeutet, »eine Nationalität zu haben«. Als sie 1924 einen irakischen Ausweis beantragen sollten, sahen sie sich in der Verlegenheit, ihr »Irakertum« zu beweisen. Man führte schließlich zwei Arten von irakischem Staatsbürgerschaftsnachweis ein, A und B. Der erste bezog sich auf die irakische Nationalität »osmanischer Herkunft«, die automatisch erteilt wurde, selbst wenn man nicht auf irakischem Boden geboren war. Nachweis B galt der »iranischen Herkunft« und war sehr viel problematischer. Dieses Doppelsystem sorgte für einigermaßen surreale Situationen. So entließ etwa ein Bildungsminister, Sati’ Al-Husri, 1928 einen berühmten schiitischen Dichter, Muhammad Mahdi Al-Dschawahiri, mit der Begründung aus dem Schuldienst, er sei »kein echter Iraker«. Al-Dschawahiri besaß jedoch keinerlei familiäre Bindungen außerhalb des irakischen Territoriums, auf dem seine Familie seit Generationen lebte, während Sati’ Al-Husri, Vordenker des arabischen Nationalismus, gebürtiger Jemenite war und die … syrische Staatsbürgerschaft besaß! Diese diskriminierende Auffassung überlebte alle Revolutionen. Sie diente Saddam Hussein ab Ende der 1960er Jahre als Vorwand, um Iraker »iranischer Herkunft« ins Exil zu treiben und später massenhaft zu deportieren. Als er 1979 alle Hebel der Macht an sich riss, indem er seinen Förderer, Ahmad Hassan Al-Bakr zwangsweise in den Ruhestand versetzte, richteten sich seine ersten Maßnahmen gegen die Faili-Kurden,

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die das doppelte Pech hatten, zugleich Kurden und Schiiten zu sein. In mehreren Wellen wurden sie in den 1980er Jahren in den Iran vertrieben. Noch 1990, am Vorabend des zweiten Golfkriegs, wandte sich Saddam Hussein mit dem Vorwurf gegen die schiitischen Araber der Sumpfgebiete, die sich gegen das Regime erhoben hatten, sie seien weder »echte« Iraker noch »richtige Araber«. Er beschuldigte sie, ihren Bräuchen nach zu den »polytheistischen Persern« zu gehören und nicht Mitglied der arabischen Nation zu sein. Die Unterscheidung zwischen Nationalität A und Nationalität B (die sogenannte »iranische Herkunft«) wurde bei dieser Gelegenheit wiederbelebt und auch gegen die schiitische Geistlichkeit im Irak eingesetzt. Sie schwebte als ständiges Damoklesschwert drohend über der schiitischen Gemeinde, die immer damit rechnen musste, als »fünfte Kolonne« des Iran im Irak diffamiert zu werden. In den 1920 Jahren richtete sich diese Art der Diskriminierung vor allem gegen die schiitischen ’Ulama, die fast alle persischer Herkunft und zugleich die wichtigsten Gegner des britischen Mandats und des neuen irakischen Staates waren. Die Briten waren sogar die Ersten, die arabistische Töne anschlugen und sich abfällig über die »Fremden im Irak« äußerten, die hinausgeworfen werden müssten, um die Reinheit des arabischen Irak nicht zu gefährden. 1923 verwies die irakische Regierung, auf Druck Großbritanniens, die höchsten Ajatollahs, unter Bezug auf ihre ausländische Herkunft, des Landes. Tatsächlich hatten die Großajatollahs den Schiiten die Teilnahme an jeglicher Form von Wahl unter einem ausländischen Besatzungsregime untersagt. Ihr Oberhaupt allerdings, Scheich Mahdi Al-Khalisi, war ein Araber tribaler Abstammung und hatte keinerlei persische Wurzeln. Als man ihn in seinem Haus verhaftete, waren die mit der Festnahme beauftragten Offi-

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ziere von einem Dolmetscher begleitet. Der Scheich konnte noch so viel protestieren, dass er kein Persisch spreche, er wurde in einen Zug gesetzt und zur iranischen Grenze befördert, wo ihn der britische Konsul in Empfang nahm – es handelte sich immerhin um eine bedeutende Persönlichkeit – und in seinem offiziellen Bericht vermerkte, er sei sehr erstaunt gewesen, dass der Ajatollah »kein Wort der Sprache des Landes spricht, aus dem er stammt, und in Persien ein vollkommen Fremder zu sein scheint«! Einigen dieser Großajatollahs gestattete man 1924, in den Irak zurückzukehren, allerdings unter der ausdrücklichen Bedingung, dass sie keine Politik mehr machen. Paradoxerweise waren es die iranischen Ajatollahs, die diese Bedingungen annahmen und sich wieder in Al-Nadschaf niederließen, während der einzige Araber, Scheich AlKhalisi, den Rest seiner Tage in Maschhad, im iranischen Exil, verbrachte. Abgesehen von dieser wiederkehrenden Diskriminierung der Schiiten führte die Armee, die zugleich Rückgrat des neuen Staates und Quasi-Monopol der Sunniten war, einen permanenten Krieg gegen die abtrünnigen Gemeinschaften. So im Fall der Assyrer, die dafür 1932 und 1933 einen hohen Preis bezahlten, und vor allem der Kurden, die nur wenige Jahre des Friedens erlebten.1 Was die Schiiten betrifft, so brachten sie von vornherein ihre Ablehnung der britischen Besatzung, des Mandats und des neuen Mandatsstaates, mitsamt der aus ihm resultierenden Herrschaft der arabisch-sunnitischen Eliten, massiv zum Ausdruck. Sie waren dem Aufruf ih-

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Zwischen 1959 und 1962, unter dem ersten republikanischen Regime von General Kassem, und zwischen 1972 und 1976, zu Beginn der Alleinherrschaft von Saddam Hussein.

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rer Großajatollahs zum Dschihad gegen die britischen Invasoren (1914 – 1918) gefolgt, hatten an der Seite der osmanischen Armee gekämpft und sich danach für einen »arabischen und islamischen, von fremden Mächten unabhängigen irakischen Staat« eingesetzt. Nach ihren beiden großen militärischen Niederlagen, dem Dschihad gegen die britische Armee und der Revolution von 1920 gegen das Mandat, sowie dem erzwungenen Exil ihrer Großajatollahs von 1923, brach für ihre geistlichen Führer eine lange Durststrecke an, die bis in die 1950er Jahre dauerte. Dann trat ein neuer schiitischer Klerus in Erscheinung, der eine Wiederbelebung der Religionsbewegung initiierte. Die Ankunft Ajatollah Khomeinis, der ab 1965 im irakischen Exil lebte, brachte eine zusätzliche Motivation für diese jungen Angehörigen eines Klerus, der bestrebt war, der kommunistischen Partei die Vorherrschaft über die schiitische Gemeinde streitig zu machen und die Führungsrolle zurückzugewinnen, die er bis 1925 innegehabt hatte. Ende der 1970er Jahre erfolgte diese schiitische Wiedergeburt im Rahmen eines Zusammenwirkens aller Oppositionskräfte gegen das Ba’ath-Regime, parallel zum Wiederaufflammen des Krieges in Kurdistan und dem Abtauchen der Kommunisten in die Illegalität. Der irakische Staat war zwar über drei Jahrzehnte hinweg, von 1930 bis 1960, überwiegend als Bollwerk gegen die eigene Gesellschaft entstanden, dennoch gelang es dem Mythos »Nation«, einen gemeinsamen Horizont für die verschiedenen politischen Lager zu definieren. Der Gedanke beispielsweise, dass Sozialreformen den Konfessionsstreit beilegen könnten, stieß auf breite Zustimmung. Weswegen viele Schiiten für die Ideale des Kommunismus aufgeschlossen waren. Darüber hinaus spielten die Schiiten bei der Entstehung der Ba’ath-Partei 1952 eine wichtige Rolle. Allerdings wurden sie rasch von der

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»irakischen Frage« eingeholt. Die arabisch-sunnitischen Eliten der Monarchie wurden nach der Revolution von 1958 durch neue Eliten ersetzt, auch sie sunnitische Araber, aber stärker durch ihre Zugehörigkeit zur Armee und ihre provinzielle Herkunft geprägt. Mossul, Ana, Falludscha, Ramadi und schließlich Tikrit waren die Geburtsstätten der neuen Herrscher des Landes. Der erste ba’athistische Staatsstreich markierte 1963 die blutige Rückkehr der »irakischen Frage« und einen brutalen Bruch zwischen Ba’ath und den Schiiten. Die ba’athistischen Schiiten mussten erkennen, dass die (sunnitischen) Militärs in der Partei vom Hass auf die Kommunisten nicht weniger als von dem auf die Schiiten getrieben wurden. Das schiitische Bekenntnis zum Kommunismus und zum Ba’athismus war ganz offensichtlich Ausdruck »irakistischer« Bestrebungen, das heißt, es zielte darauf ab, die Identität des mehrheitlich schiitischen Irak innerhalb einer mehrheitlich sunnitischen arabischen Welt zu bewahren. Die Schiiten glaubten einen Moment lang, im Ba’athismus eine levantinische Version des arabischen Nationalismus gefunden zu haben, innerhalb dessen sie sich gegenüber einem stark sunnitisch geprägten Nasserismus positionieren konnten. Der Bruch war umso schmerzlicher. Damit beschleunigte sich der Reduktionsprozess der sozialen Basis der Macht, die schließlich vom sunnitischen Takriti-Clan Saddam Husseins ergriffen wurde. Ab Ende der 1980er geriet auch die arabisch-sunnitische Gemeinschaft mehr und mehr in die Spirale der Gewalt, die das Regime, von Feinden umringt, in Gang setzte. Die wiederholten Säuberungswellen, mit denen Saddam Hussein beispielsweise die nicht in Tikrit beheimateten ba’athistischen Militärclans überzog, verkleinerten nach und nach die soziale und politische Basis des Regimes, das folgerichtig gegen Ende der 1970er hätte zusammenbrechen müssen, wäre es

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nicht im Wesentlichen durch zwei Faktoren gerettet worden: den Ölboom der 1970er Jahre und das strategische Bündnis mit dem Westen, vor allem den Vereinigten Staaten und Frankreich. Die Verstaatlichung der Ölindustrie verschaffte Saddam 1972 die nötigen Mittel, um sein Regime zu retten und eine völlig überdimensionierte Streitmacht aufzubauen, die es ihm ab 1979 ermöglichte, sich in den Augen der Westmächte als einzig mögliches Bollwerk gegen die islamische Revolution im Iran zu präsentieren. Eine Revolution, die vom Ba’ath-Regime insofern als tödliche Bedrohung wahrgenommen wurde, als nicht wenige schiitische ’Ulama im Irak der Meinung waren, die Ereignisse im Iran seien Vorboten eines historischen Triumphes über eine mit dem Westen verbündete sunnitische Macht. Doch bevor wir zu der apokalyptischen Verkettung blutiger Konflikte kommen (erster Golfkrieg zwischen dem Iran und dem Irak von 1980 bis 1988, zweiter Golfkrieg 1990 – 1991 nach der irakischen Besetzung Kuwaits, allgemeine Intifada der Schiiten und Kurden gegen das Saddam-Regime im Februar– März 1991, amerikanische Invasion und Besetzung des Irak ab 2003, erster Religionskrieg zwischen Schiiten und Sunniten 2003 bis 2008, zweiter noch andauernder Religionskrieg), die von einem regelrechten Absturz des Landes ab Ende der 1970er Jahre begleitet war, wollen wir genauer auf die grundlegenden Eigenschaften jener irakischen Gesellschaft eingehen, die sich ständiger räuberischer Attacken eines unter besonders konfliktträchtigen Umständen entstandenen Staates ausgesetzt sah.

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Am Ursprung der sunnitisch-schiitischen Spaltung Als Ursprung des aktuellen Konflikts zwischen Sunniten und Schiiten ist zunächst sowohl die oft missverstandene oder unzutreffend als archaisches Überbleibsel beschriebene tribale Dimension als auch die soziale Dimension zu berücksichtigen. Die irakischen Schiiten sind in ihrer großen Mehrheit Araber. Es gibt ein paar turkmenische und kurdische Minderheitengruppen unter ihnen, aber im Wesentlichen gehören Schiiten und sunnitische Araber zur selben, vom Wertekanon der Beduinen geprägten arabischen Kulturwelt. Zwar wird ein Schiit niemals den Vornamen der ersten usurpatorischen Kalifen wie Abu Bakr, ’Umar oder ’Uthman annehmen. Auch hinsichtlich ihrer Art, zu beten und die rituellen Waschungen zu vollziehen, unterscheiden sich Schiiten und Sunniten. Doch weder Nachname noch Akzent lassen erkennen, wer Schiit und wer Sunnit ist. Das ist auch der Grund, weswegen man in Bagdad oft gefragt wird, in welchem Viertel man wohnt: Nur so lässt sich die Religionszugehörigkeit feststellen. Arabische Schiiten und Sunniten sind im Irak mehrheitlich Nachkommen von Nomadenstämmen der arabischen Halbinsel, die im Laufe der Jahrhunderte auf den mehr oder minder fruchtbaren Ebenen von Euphrat und Tigris sesshaft wurden. Mesopotamien war somit das letzte große Zielgebiet der Beduineninvasionen in der Welt, die letzte Wanderungswelle datiert gerade erst vom Beginn des 20. Jahrhunderts, mit der Ankunft der Schammar, die von ihren saudischen Rivalen aus dem Al-Nadschd vertrieben wurden. Die Bekehrung der ursprünglich sunnitischen Stämme zur Schi’a ist ein seit Jahrhunderten andauernder Prozess. Was ist der Grund? Große Teile der Mitte und des Südens von Mesopotamien standen schon wegen der Nähe der heiligen Städte unter starkem schi-

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itischen Einfluss. Um sich besser in das örtliche Sozialgefüge einzugliedern, übernahmen die Neuankömmlinge, gleichsam per Osmose, den herrschenden Ritus. Manche Stämme wie die Dschuburi haben deshalb einen schiitischen und einen sunnitischen Zweig, je nachdem, auf welchem Gebiet sie sich niederließen. Das Gleiche gilt für die Schammar. Doch das erklärt noch nicht zur Gänze die Motive, sich zur Schi’a zu bekehren. Aufgrund ihrer Botschaft, ihrer Praktiken und Rituale wirkt die Schi’a besonders anziehend auf unterdrückte oder sich in einer subalternen Position befindende Bevölkerungen, da sie die Pflicht jedes Gläubigen betont, sich gegen Unrecht, Tyrannei und illegitime Mächte aufzulehnen. Die großen Kamelzüchterstämme, die der Sunna treu blieben, erlangten die Herrschaft über die sesshaften oder semisesshaften Bauern-, Hirten- und Fischerstämme. In dieser neuen Hierarchie innerhalb der Beduinenwelt liegt der Ursprung der Konversionsbewegung zur Schi’a. Die Masse der landlosen Bauern entdeckte in der Schi’a einen geeigneten Rahmen zum Ausdruck ihres Leids und ihrer Erniedrigung. Die Bekehrung zur Schi’a wurde von den religiösen Machtzentren der heiligen Städte vorangetrieben, eine Art missionarische Reaktion des schiitischen Klerus, die sich angesichts der zentralistischen Tendenzen und panislamischen Bestrebungen des Osmanenreichs im Laufe des 19. Jahrhunderts noch verstärkte. Deshalb sind die irakischen Schiiten in der Mehrzahl ehemalige Sunniten, zum Teil noch Konvertiten jüngeren Datums (bis in die 1920er Jahre). Den Großajatollahs von Kerbala und Al-Nadschaf ist es somit gelungen, innerhalb weniger Jahrzehnte die Bildung eines nahezu homogenen schiitischen Landes zustande zu bringen, das sich vom Süden Bagdads bis nach Basra erstreckt, mit nur wenigen verbliebenen sunnitischen Mini-Enklaven.

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Die im 19. Jahrhundert von den Osmanen begonnene und von den Briten fortgesetzte Privatisierung von Grund und Boden brachte vor allem die Schiiten in eine an Leibeigenschaft grenzende Abhängigkeit. Das ging so weit, dass einem Bauern verboten wurde, das Gut eines Landbesitzers zu verlassen, sofern er nicht in der Lage war, eine Bescheinigung vorzulegen, dass er Letzterem gegenüber keine Schulden besaß (ein entsprechendes Gesetz wurde in den 1930er Jahren im irakischen Parlament diskutiert). Das ganze 20. Jahrhundert über verließen die landlosen schiitischen Bauern massenhaft die ländlichen Regionen, um dem Elend und der Tyrannei der Scheichs zu entkommen. Besonders in der Zeit von den 1930er bis zu den 1950er Jahren erlebte der Irak eine in der arabischen Welt beispiellose Landflucht, sodass Saddam Hussein noch zwanzig Jahre später gezwungen war, ägyptische Arbeiter anzuwerben, weil es nicht mehr genug Iraker gab, um das Land zu bestellen. Diese Bevölkerungsmassen bäuerlicher Herkunft strömten in die Slums der großen städtischen Ballungszentren, insbesondere die berühmte Sadr City in Bagdad, wo sie die bevorzugte Rekrutierungsbasis der irakischen kommunistischen Partei bildeten. Die sunnitischen Stämme erlebten eine ähnliche Landfluchtbewegung, allerdings mit dem Unterschied, dass diese städtischen Neubürger bald von Netzwerken profitierten, die einen Zugang zur Macht besaßen und ihnen den Eintritt in die Armee oder die Verwaltung eröffneten, wodurch sie zumeist der politischen Unterdrückung und sozialen Deklassierung entgingen, die das Schicksal von Millionen Schiiten wurde. Am unteren Ende der irakischen Gesellschaftspyramide befand sich also eine überwiegend schiitische Bevölkerung. Ob unter den Osmanen, in haschimitischer Zeit oder in der re-

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publikanischen Ära, stets hatten die Sunniten das Machtmonopol und verfügten damit über Wege des sozialen Aufstiegs, besonders in der Armee. Während den Schiiten eine militärische oder politische Karriere gänzlich verschlossen war, nahmen sie ein viel breiteres Spektrum gesellschaftlicher Tätigkeiten wahr: von einer zahlenmäßig starken, aber landflüchtigen Bauernschaft, über eine bedeutende Arbeiterklasse – daher die wechselseitige Durchdringung von Schi’a und Kommunismus seit den 1930er Jahren – bis zu einer bürgerlichen Schicht von Gewerbetreibenden, die viele Gemeinsamkeiten mit den jüdischen Kaufleuten aufwies, da eine unternehmerische Karriere in beiden Fällen eine Form des sozialen Aufstiegs bot, die den Ausschluss aus der politischen und militärischen Sphäre kompensierte. Außerdem verfügten die schiitischen Geschäftsleute dank der Beziehungen des schiitischen Klerus über internationale Netzwerke, die irakische Version des iranischen Basars. Kurz gesagt, die ärmsten Iraker sind überwiegend Schiiten, die reichsten aber auch. Die tribale Dimension der irakischen Gesellschaft hat sich durch die erwähnte massive Landflucht komplett verändert. Natürlich gibt es noch genealogische Verbindungen, aber die heutigen Stämme haben nicht mehr viel mit dem zu tun, was sie beispielsweise zu Zeiten des antibritischen Dschihad von 1914 – 1918 waren. Heutzutage leben die Stämme in den Städten und haben den städtischen Raum im buchstäblichsten Sinne des Wortes »besetzt«, da diese Neubewohner und ihre Nachkommen gegenwärtig mehr als drei Viertel der Bagdader Bevölkerung ausmachen. Einst auf dem Land definierte sich die Stammeszugehörigkeit zugleich durch Blutsverwandtschaft und ein in ökonomischer Hinsicht relativ autarkes Territorium. Im städtischen Milieu ist der Stamm als Wirtschaftseinheit kaum noch von Bedeutung, und der Abstammungsnach-

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weis wird höchst problematisch. Die Besetzung städtischer Quartiere erfolgte also auf der Grundlage der Herkunftsorte und -dörfer sowie der Verwandtschaftsverhältnisse (die ebenso gut real wie fiktiv sein können). In einem großen, am Reißbrett entstandenen Viertel wie Sadr City wird jeder Block von tatsächlichen oder vermeintlichen Blutsverwandten bewohnt. Viele von ihnen haben sich einen neuen Stammbaum zugelegt, um ihren Lebensunterhalt verdienen zu können, denn in der Stadt ist es unmöglich, als einfaches Individuum zu überleben: Man überlebt dank der Gruppe, dank der Nachbarschaft – und heute dank der lokalen Miliz. Diese auf Verwandtschaft und Abstammung gegründeten Solidaritäten – die Michel Seurat sehr gut für ein Viertel im libanesischen Tripoli anhand der von Ibn Khaldun entlehnten Kategorie der Asabiyya analysiert hat – bilden die Basis für Formen ökonomischer Reziprozität und Umverteilung, die wesentlich durch klientelistische Netzwerke vermittelt sind. Es gab eine Zeit, als man glaubte, die Städte seien das Grab der Stämme. Doch das genaue Gegenteil ist eingetreten: Bagdad ist moderne Stadt und Stammesmetropole zugleich. Die Stammesstruktur fungiert als eine Art Schutzbund gegen eine feindselige Staatsmacht. Wie vielerorts in der arabischen Welt wird der Staat als eine Asabiyya2 unter vielen betrachtet, ein korporativer Clanverband, gegen den man sich wehren muss.

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Seurat ging sogar bis zu der Behauptung, »der Staat im Nahen Osten [sei] eine gelungene Asabiyya«!

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Die blutige Rückkehr der »irakischen Frage« Diese fragmentierte und parzellierte, in einem immer offeneren Krieg gegen die Staatsmacht befindliche Gesellschaft wurde, nachdem sie auf sehr ungleiche Weise vom Ölboom der 1970er Jahre profitiert hatte, von der Eskalationsdynamik strategischer und geopolitischer Interessen in der Region erfasst, die zunächst das Saddam-Hussein-Regime künstlich am Leben erhielt, um schließlich für seinen Zusammenbruch und das Ende des ersten irakischen Staates zu sorgen. Die islamische Revolution von 1979 im Iran wurde vom Bagdader Regime schnell als tödliche Gefahr erkannt. Elektrisiert durch die Ereignisse in Teheran sah der engagierte junge schiitische Klerus in den heiligen Städten die Stunde der Abrechnung gekommen. Sehr schnell eroberte sich die aufstrebende Religionsbewegung den Platz zurück, den sie zwischenzeitlich an eine hegemoniale kommunistische Partei verloren hatte. Nach einem für die Region nicht unüblichen Muster kehrten viele Exaktivisten der säkularen Linken in den Schoß der Religion zurück. Insofern muss der achtjährige Krieg, den das SaddamRegime 1980 gegen die junge islamische Republik anzettelte, als über die Landesgrenzen hinausreichende Verlängerung eines latenten irakischen Bürgerkriegs verstanden werden. In der Folge entstand aufgrund einer noch nie dagewesenen Interessenkonvergenz eine regelrechte strategische Partnerschaft zwischen dem Saddam-Regime und den Westmächten, allen voran den Vereinigten Staaten. Der Ölboom erwies sich als wahre Goldgrube und ermöglichtes Saddam Hussein, wie erwähnt, sich über jedes Maß und jede Vernunft hinaus zu bewaffnen. Allerdings führten die Kosten der Krieges gegen den Iran zu einer massiven Staatsverschuldung, die nur durch

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die strategische Stützung des Saddam-Regimes durch die Vereinigten Staaten ermöglicht wurde. Der Aufbau seines unglaublichen Waffenarsenals kostete den Irak Hunderte von Milliarden Dollar an High-Tech-Rüstungsimporten aus Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien und den USA . Zwar wurde der Krieg Bagdads gegen den Iran überwiegend von den Petromonarchien am Golf finanziert, dennoch sollte man nicht vergessen, dass die Vereinigten Staaten durch ständig verlängerte Kredite für die Zahlungsfähigkeit des Regimes bürgten. Kaum war der Iran-Irak-Krieg 1988 beendet, korrigierten die Vereinigten Staaten ihren Kurs, weil sie zu der Einschätzung gelangt waren, die militärische Stärke des Ba’athRegimes sei eine Bedrohung für ihre Bündnispartner in der Region. Folglich drängte Washington die Petromonarchien der Golfstaaten, von Bagdad die Rückzahlung seiner offenen Schulden zu verlangen, wohl wissend, dass die Erfüllung dieser Forderungen aufgrund der Zerstörung der Erdölinfrastruktur und des Zusammenbruchs der irakischen Wirtschaft vollkommen illusorisch war. Die Besetzung Kuwaits war eine Folge davon und eine Reaktion des Saddam-Regimes, das angesichts des drohenden Staatsbankrotts die Flucht nach vorne antrat. An dieser Stelle ist auf das Doppelspiel der Vereinigten Staaten hinzuweisen. Die proirakische Lobby in Washington bestärkte Saddam ständig in dem Glauben, das Ende des IranIrak-Kriegs bedeute nicht das Ende der Allianz zwischen Washington und Bagdad und der Konflikt zwischen dem Irak und Kuwait sei nur Ausdruck eines unbedeutenden innerarabischen Familienstreits. Gleichzeitig drängte das Weiße Haus die kuwaitische Führung, ihre Schulden einzufordern, was Saddam – teilweise zu Recht – mit dem Argument konterte, der Irak

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habe den Preis bereits im Krieg gegen den Iran mit dem Leben von Hunderttausenden seiner Soldaten bezahlt, die auch gefallen seien, um die Privilegien der Emire und Monarchen am Golf zu verteidigen. Mit der gleichen Absicht ermunterte Washington die Kuwaitis, den Markt mit ihrem Öl zu überschwemmen, um für einen Preisverfall zu sorgen und damit den irakischen Staatsbankrott zu beschleunigen. Die Amerikaner schlugen Bagdad in dieser Situation vor, die Wirtschaft und das Öl des Irak quasi unter Aufsicht internationaler Organisationen zu stellen. Was Saddam Hussein natürlich nicht akzeptieren konnte. Noch am Vorabend des irakischen Einmarsches in Kuwait wiegte April Glaspie, die amerikanische Botschafterin im Irak, den Diktator von Bagdad in Sicherheit, indem sie das Ausmaß der Zwistigkeiten zwischen dem Irak und Kuwait herunterspielte. Die Falle, in die die Amerikaner Saddam gelockt hatten, schnappte zu. Doch anstatt zum Sturz des Regimes zu führen, sicherte der Konflikt mit den Vereinigten Staaten und deren fragwürdiger Umgang mit den regionalen Herausforderungen den jeder Vernunft spottenden Fortbestand der Macht Saddam Husseins, deren Basis auf ein Minimum geschrumpft war, selbst innerhalb des Takriti-Clans, der durch Säuberungen und verdächtige Sterbefälle bis in die Familie des Diktators hinein dezimiert war. Trotz des allgemeinen Aufstands der Kurden und Schiiten im Februar/März 1991 und des Abfalls von 15 der 18 Provinzen des Landes konnte das Saddam-Hussein-Regime sich wider Erwarten behaupten, auch dank einer stillschweigenden Übereinkunft zwischen Saddam und dem amerikanischen Generalstab, der immer noch von der iranischen Gefahr besessen war. Im Widerspruch zu den offiziellen Waffenstillstandsbedingungen gestatteten die Amerikaner Saddam den

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Einsatz von schwerer Artillerie und Massenvernichtungswaffen gegen die Aufständischen. So konnten amerikanische – und französische – Truppen in der Gegend von Nasiriyya aus wenigen Kilometern Entfernung die bei einem Angriff gegen die Schiiten aufsteigenden Giftgaswolken beobachten. Zu allem Überfluss durfte das Regime seine Rache durch die Bombardierung der heiligen schiitischen Stadt Kerbala mit chemischen Kampfstoffen krönen, ohne dass der geringste Protest vonseiten der Westmächte laut wurde … Die 1990er Jahre zeichneten sich durch eine Entmündigung des irakischen Staates im Rahmen des Handelsembargos aus, mit zunehmender Einschränkung seiner Souveränität durch die Einrichtung von Flugverbotszonen über bestimmten südlichen und nördlichen Breitengraden sowie die UNO Kontrolle seiner Erdölressourcen. Ganz zu schweigen von den Kurdengebieten, die, dank der Operation Provide Comfort und entsprechender UN -Resolutionen, unter der Obhut der beiden großen kurdischen Parteien – der Patriotischen Union Kurdistans (PUK ) von Talabani und der Partei der Demokratischen Union (PYD ) von Barzani – eine wachsende Autonomie zu entwickeln begannen. Obwohl nach wie vor durch ein hohes Maß an Scheinheiligkeit geprägt, gehorchte der amerikanische Umgang mit der Irakfrage in den 1990er Jahren einer vergleichsweise rationalen strategischen Ausrichtung. Der Irak wurde durch die Instrumentalisierung von UN -Resolutionen entmündigt, und Washington erhielt faktisch den Zugriff auf das irakische Erdöl, was es den Amerikanern vor allem ermöglichte, die Preise zu manipulieren, um Druck auf seine Handelskonkurrenten auszuüben, die stärker vom irakischen Öl abhingen, wie China, Japan, einige europäische Länder oder Russland – während der Irak für die USA ein eher untergeordneter Öllieferant

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war. Die Invasion von 2003 hingegen war selbst vom Standpunkt der amerikanischen Machtinteressen aus eine sehr viel irrationalere Reaktion. Allerdings muss man erwähnen, dass sich die Lage durch den 11. September entscheidend verändert hatte. In dem verbissenen Bestreben, einen neuen Sündenbock für die Al-QaidaAttentate auf amerikanischem Boden zu finden, fiel die Wahl Washingtons auf den vorgestrigen Verbündeten und gestrigen Schuldner. Der ideologische Reflex der Neokonservativen ging dabei mit einem bestürzenden Dilettantismus des Besatzungsregimes einher sowie mit einem totalen Unverständnis für die Geschichte und Dynamik der Beziehungen zwischen dem irakischen Staat und seiner Gesellschaft. Das SaddamHussein-Regime war die letzte Erscheinungsform des 1920 von den Briten eingeführten politischen Systems gewesen. Sein Sturz besiegelte auch den Zusammenbruch des bestehenden irakischen Staates. Ein gravierendes Ereignis, auf das Washington offensichtlich nicht vorbereitet war. Die Amerikaner suchten zunächst verzweifelt nach einem sunnitischen Ersatz für das gestürzte Regime, bevor sie dem Druck der Schiiten und Kurden nachgaben und die Macht der »Mehrheit« überließen, als seien sie zu der Überzeugung gelangt, dass demografische Mehrheiten auch eine demokratische Mehrheit ergeben könnten. Die Ausgeschlossenen des alten Regimes, Schiiten und Kurden, wurden zu den hauptsächlichen Nutznießern des neuen Systems befördert. Die ethnisch-religiöse Segmentierung wurde durch einen irreführenden (durch die Verfassung von 2005 offiziell bestätigten) Föderalismus kaschiert, der darüber hinwegtäuschte, dass die Fundamente der neuen Macht alles andere als staatsbürgerliche waren. Tatsächlich wurde jeder auf der Grundlage seiner Gemeinschaftszugehörigkeit an-

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gesprochen … Politische Parteien räumten den Platz für religiöse und ethnische Parteien. Der Nachteil eines solchen Systems ist, dass es stets einen Verlierer gibt: Traumatisiert vom Verlust ihres Monopols auf den Staat, das sie seit den ersten Jahrhunderten des Islam innegehabt hatten, boykottierten die sunnitischen Araber zunächst die Institutionen und die Wahlen, bevor sie sich, nach dem Scheitern ihrer Widerstandsbewegung gegen die Besatzung (2003 – 2004), eines anderen besannen. Der anfängliche Boykott der sunnitischen Araber wich einer von Mal zu Mal massiveren Beteiligung bei den Wahlen von 2010 und 2013. Die Dreiteilung der Macht (nach libanesischem Vorbild) zwischen Schiiten, Kurden und Sunniten führte zu einer Absurdität und Dysfunktionalität beispiellosen Ausmaßes, weil sie die Machtzentren innerhalb des Staatsapparats vervielfachte. Der Staatspräsident muss Kurde sein, der Regierungschef Schiit und der Parlamentspräsident Sunnit! Die neue irakische Armee ist genauso schiitisch, wie ihre Vorläuferin sunnitisch war. Kaum installiert, mutierte der neue Staat zur institutionellen Fassade für Mechanismen der Ressourcenvereinnahmung und Abschöpfung der Erdölrente zugunsten einer bestimmten Region oder ethnisch-religiösen Gruppierung. Was im Übrigen auch das mitunter verblüffende Entwicklungsgefälle im Irak erklärt, wo manche Regionen über nagelneue Krankenhäuser, Flughäfen und Autobahnen verfügen, während andere, wie zum Beispiel die Hauptstadt, vollkommen verwahrlost sind. Der erste, von den Briten gegründete irakische Staat hatte trotz Kriegen und Aufständen achtzig Jahre Bestand. Die Amerikaner mussten die ebenso leidvolle wie paradoxe Erfahrung machen, dass es einfacher ist, mit einer (sunnitischen) Minderheit zu regieren, als auf (kurdische und schiitische) Mehrheiten zu setzen. Zehn Jahre nach seiner Neugründung

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durch die Amerikaner liegt der irakische Irak in den letzten Zügen. Der Versuch, den Staat mit den Ausgegrenzten des alten Regimes neu aufzubauen, mündete in den Jahren 2005 bis 2008 in den vorläufig letzten großen Aderlass, einen konfessionellen Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten mit Hunderttausenden von Toten. Mit der Rückkehr einer autoritären und repressiven Macht unter Nuri Al-Maliki wiederholte sich das irakische Muster eines gegen seine Gesellschaft Krieg führenden Staates, dieses Mal im Dienst einer Koalition schiitischer Gemeinschaften, die sich durch schrankenlose Korruption und Vetternwirtschaft hervortun. Die Hoffnungen, die die sunnitischen Araber trotz allem noch in den irakischen Staat gesetzt haben mochten, zerschlugen sich mit der brutalen Unterdrückung ihrer Demonstrationen in den Jahren 2013 und 2014. Somit wird begreiflich, warum der Islamische Staat mit seiner Schaffung eines »sunnitischen Landes« bei dieser Gemeinschaft auf so großen Anklang stieß.

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4 Der syrische Staat, vom Konfessionalismus eingeholt Zwar steht die Wiege des Islamischen Staates im Irak, dennoch war es Syrien, wo der »Islamische Staat im Irak und der Levante« (wie er sich bis Juni 2014 selbst nannte) seine ersten Gebiete eroberte, zumeist auf Kosten anderer Rebellengruppen. Auf diese Weise gerieten Al-Raqqa und Deir Al-Zor im Euphrattal im Dezember 2013 unter Kontrolle der Organisation, einen Monat vor der Einnahme Falludschas im Irak. Im Unterschied zum Irak, wo der Staat stets einen konfessionellen Anstrich wahrte, wurde Syrien erst im Laufe der Zeit vom Konfessionalismus eingeholt. Der syrische Staat war durch Amputation eines Großteils des Bilad Al-Scham entstanden, und es gelang ihm nie, eine eigene staatsbürgerliche Identität zu entwickeln. So besann sich die syrische Bevölkerung auf ihre ursprünglichen Solidarsysteme, die Asabiyyas und die Gemeinschaft, zurück. Die Entstehungsgeschichte des syrischen Staates erklärt, warum er zum bevorzugten Streitobjekt der Asabiyyas wurde und dieser Prozess im Triumph des Konfessionalismus endete.

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Ein konfessioneller Flickenteppich in engen Grenzen In osmanischer Zeit war Syrien, genau wie der Irak, in Vilayets gegliedert, Verwaltungsbezirke, zwischen denen man sich frei bewegen konnte, von Palästina nach Aleppo und von Aleppo nach Mossul. Syrien hieß zu dieser Zeit Bilad Al-Scham – eine Bezeichnung, die der Islamische Staat heute aufgreift – und umfasste das heutige Syrien, den Libanon, Transjordanien und Palästina. Die Vilayets waren an Hauptstädten orientiert: das Vilayet Deir Al-Zor, das einen Teil der heutigen Provinz AlAnbar im Irak einschloss, das Vilayet Damaskus (das sich mit Transjordanien deckte) oder das Vilayet Aleppo (das weit bis in das heutige türkische Staatsgebiet hineinragte). Beirut stand an der Spitze einer Verwaltungseinheit, die sich über die gesamte Mittelmeerküste, von Lattakia über den heutigen Libanon bis Haifa und Galiläa erstreckte. Hinzu kam das Libanongebirge, das wegen seiner drusischen und maronitischen Bevölkerung seit den Verträgen zwischen der Hohen Pforte und den westlichen Mächten im 19. Jahrhundert einen Sonderstatus genoss. Auch Jerusalem war Hauptstadt einer Provinz mit eigenen Gesetzen, die aber nur den südlichen Teil des heutigen Palästina einnahm. Wie erwähnt waren im Osmanenreich nicht alle Minderheiten gleichermaßen offiziell anerkannt. Der Millet-Status galt nur für die Angehörigen nichtmuslimischer Buchreligionen, also Christen (ungefähr 10 Prozent der heutigen syrischen Bevölkerung) und Juden, nicht jedoch für Schiiten, Alawiten1,

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Heterodoxer Zweig der Schi’a, deren Name »Anhänger Alis« bedeutet, in der Vergangenheit auch häufig als »Nusairier« bezeichnet. Sie sind hauptsächlich in Syrien ansässig (10 bis 12 Prozent der Bevöl-

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Ismailiten2 oder Drusen – bei Letzteren mit Ausnahme der libanesischen Gemeinschaft, die dem Osmanenreich diesen Status durch ihre militärische Stärke und räumliche Konzentration hatte abringen können. Die Nichtsunniten unter den muslimischen Bevölkerungsgruppen, wie die Zwölferschiiten und die Anhänger mehr oder minder synkretistischer Religionen, wie die Alawiten (10 bis 12 Prozent der aktuellen syrischen Bevölkerung) und die Drusen (circa 3 Prozent der syrischen Bevölkerung), waren also besonders stark marginalisiert. Faktisch ähnelte der Status schiitischer Bauern im Libanon, die dem Gesetz der Großgrundbesitzer unterworfen waren, in abgemilderter Form der Semileibeigenschaft und Unterdrückung landloser schiitischer Bauern im Irak. Während die Levante und Mesopotamien den multiethnischen und multikonfessionellen Kontext teilten, bestand der grundlegende strukturelle Unterschied des syrischen Raumes – im historischen wie im aktuellen Sinne – darin, dass hier, anstelle von drei Großgemeinschaften wie im Irak, einer großen arabisch-sunnitischen Bevölkerungsmehrheit eine Vielzahl von Minderheiten gegenüberstand (69 Prozent der heute auf syrischem Staatsgebiet lebenden Personen sind sunnitische Araber, zu denen noch 6 Prozent ebenfalls sunnitische Kurden hinzukommen). Im Vergleich zum Irak sind die nichtsunnitischen und nichtmuslimischen Gemeinschaften also vielfälti-

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kerung), im Al-Ansariyya-Gebirge und an der Mittelmeerküste, sowie im Nordlibanon und der türkischen Provinz Hatay. Zweig der Schi’a, der nur sieben Imame statt der zwölf der Zwölferschiiten anerkennt. Sie leben überwiegend auf dem indischen Subkontinent (die Anhänger Aga Khans) und bilden in Syrien eine winzige Minderheit, die in Dörfern nördlich der libanesischen Grenze lebt.

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ger, zerstreuter, kleiner und oft in Grenzregionen ehemaliger Vilayets oder an der Mittelmeerküste ansässig. Innerhalb dieses Gemenges mit deutlicher arabisch-sunnitischer Mehrheit bekannten sich die protonationalistischen arabischen Vereine, die Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, anfangs zu einer Form des osmanischen Reformismus, der sich für Dezentralisierung und Anerkennung der arabischen Identität einsetzte. Doch angesichts des Scheiterns dieser Strategie schwenkten die meisten im Ersten Weltkrieg auf das Projekt eines arabischen Königreichs um, das, wie im zweiten Kapitel beschrieben, die Briten der Haschimiten-Dynastie in Aussicht gestellt hatten. Trotz ihrer militärischen und diplomatischen Dominanz in Syrien, Palästina und Transjordanien waren die Briten gezwungen, auf die – mehr dem Libanon geltenden – regionalen Interessen ihrer französischen Verbündeten Rücksicht zu nehmen, ganz zu schweigen von der den Zionisten versprochenen »nationalen Heimstätte für das jüdische Volk« in Palästina und dem Druck des kemalistischen Aufstands in Anatolien. Der Traum der Scharif-Armee und des arabischen Nationalkongresses, der im März 1920 in Damaskus zusammentrat, nämlich die Schaffung eines vereinigten arabischen Königreichs von Gaza bis Aleppo, wich der Ernüchterung. London ließ Faisal fallen, während die Franzosen auf Damaskus marschierten. Die Armee des Scharifs wurde am 24. Juli 1920 bei Maisalun, 30 Kilometer westlich von Damaskus, geschlagen und das historische Territorium Syriens, das Bilad Al-Scham, in vier Einheiten geteilt: Syrien und der Libanon unter französischem Mandat, Transjordanien und Palästina unter britischem Mandat. Am Beispiel der Drusen und Maroniten im Libanon orientiert, versuchte Frankreich zunächst, seine Herrschaft

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über dieses »Rumpfsyrien« dadurch zu sichern, dass es die arabische Nationalbewegung unterdrückte und sich auf die drusischen und alawitischen Minderheiten stützte, denen es im Rahmen halbstaatlicher Strukturen eine gewisse Autonomie gewährte. Zum vermeintlichen Schutz religiöser Minderheiten trennte Frankreich am 1. September 1920 den »Großlibanon« von Syrien ab und teilte den Rest in verschiedene politische Einheiten: Im September 1920 entstand ein Staat Aleppo (mit einem Sonderstatus für den Sandschak Alexandretta), ein Staat Damaskus, ein Alawitengebiet (das 1922 zum Staat wurde) und, im März 1921, ein Drusenstaat. Diese Teilungspolitik rief den Zorn der syrischen Nationalisten hervor. Auf Maisalun folgte zwischen 1920 und 1925 eine Reihe sunnitischer Lokalrevolten, vor allem in Aleppo, in Homs und in der Region Deir Al-Zor. Auch Drusen und Alawiten waren keineswegs mit den »Privilegien« zufrieden, die ihnen die Franzosen zugestanden, und traten ihrerseits regelmäßig in den Aufstand, wie die große Revolte von 1925 im Drusenstaat, aber auch die vereinzelt bis 1921 im Al-AnsariyyaGebirge aufflammenden Rebellionen belegen. Hierin liegt ein weiterer Unterschied zum Irak, insofern der irakische Staat von Anfang an als alleiniges Projekt der arabisch-sunnitischen Minderheit konzipiert war. Der syrische Mandatsstaat hingegen wurde von vornherein von allen Gemeinschaften, aus unterschiedlichen Gründen, infrage gestellt und beruhte nicht strukturell auf der Hegemonie der einen über die anderen. Im Grunde war jede Gemeinschaft gespalten in eine winzige Elite, die mit den Franzosen paktierte und Posten in der Mandatsverwaltung besetzte, und der großen Mehrheit, die die französische Herrschaft ablehnte und deren periodisches Aufbegehren blutig unterdrückt wurde. Auch wenn Frankreich keine systematische Begünstigung der einen oder an-

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deren Minderheit betrieb (mit Ausnahme der katholischen Christen), war die sunnitische Mehrheit sicherlich insofern am stärksten benachteiligt, als sie sich durch die Teilung des historischen Syriens geschwächt und zerrissen fühlte. Denn zweifellos hatten beispielsweise die Sunniten aus dem libanesischen Tripoli stets größere Gemeinsamkeiten mit ihren Glaubensbrüdern in Damaskus, Homs oder Hama als mit den Schiiten aus dem Dschabal Amil im Südlibanon oder den Maroniten des Libanongebirges, sodass es eine Weile dauerte, bis sich ein »Syrertum« oder ein »Libanesentum« herausbildete und bei diesen Gemeinschaften auf eine gewisse, wenn auch fragile Akzeptanz stieß. Ungeachtet dessen verabschiedeten sich die vom arabischen Nationalismus inspirierten politischen Parteien Syriens – genau wie im Irak – ziemlich schnell vom Projekt des Scharifs und jeder panarabischen Perspektive, außerhalb der üblichen rhetorischen Beschwörungen. Dass die lokalen Eliten so schnell die Legitimität des bestehenden Staates in den von den Mandatsmächten festgelegten Grenzen anerkannten, war darauf zurückzuführen, dass dieser Staat das Objekt ihrer Machtambitionen bildete. Dieses »Nach-unten-Korrigieren« panarabischer Ziele lässt sich gut an der Geschichte der Ba’ath-Partei veranschaulichen, die in den 1930er Jahren von drei Personen, Michal Aflaq, Zaki Al-Arsuzi und Salah Al-Din Al-Bitar, in Syrien gegründet wurde. Alle drei waren ehemalige Sorbonne-Studenten, durchdrungen von französischer Kultur und dem damals in Europa florierenden nationalistischen Gedankengut. Aflaq war Geschichtslehrer griechisch-orthodoxer Herkunft, Arsuzi alawitischer Philosophielehrer aus Antiochia (das 1939 an die Türkei fiel) und Bitar, der einzige Wissenschaftler unter den dreien, sunnitischer Araber.

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Während sich im Engagement Aflaqs und Arsuzis der Einsatz der syrischen Minderheiten für die Ba’ath-Partei spiegelte, schlossen sich die Sunniten zunächst nur zögerlich dem ba’athistischen Projekt an. Ganz anders war die Situation im Irak, wo die örtliche Ba’ath-Partei übrigens von Syrern gegründet wurde. Sie war in ihren Anfängen eindeutig multikonfessionell, bis 1963 die Schiiten, traumatisiert vom brutalen Vorgehen der Ba’athisten gegen die irakischen Kommunisten, aus der Partei austraten und den sunnitischen Militärs das Feld überließen (innerhalb weniger Monate sank der Anteil der Schiiten in der Führung der irakischen Ba’ath-Partei von 57 auf 7 Prozent und in der Folge fast auf null). Im Irak wie in Syrien sprach Ba’ath die Minderheiten an, sunnitische Araber im Irak, minoritäre Gemeinschaften im Syrien. Stets in dem gleichen Bestreben: den Minderheitenstatus zu überwinden. Während sich die syrische und die irakische Ba’ath-Partei somit am Ende hinsichtlich ihrer ethnisch-religiösen Zusammensetzung nahezu gänzlich unterschieden, war es gleichwohl in beiden Ländern die Zugehörigkeit zur Militärkaste, die den innerparteilichen Aufstieg begünstigte. In Syrien waren es Alawiten und Drusen, die am intensivsten eine Laufbahn in der Armee, und damit in der Ba’ath-Partei, anstrebten. Bis zum Auftauchen des Nasserismus blieb Ba’ath marginal, weil sie als zu stark in diesen kleinen Bevölkerungsgruppen verwurzelt wahrgenommen wurde. Erst ab 1952, im Zuge der panarabischen Begeisterungswelle, die die Revolution der Freien Offiziere in Ägypten ausgelöst hatte, schlossen sich die syrischen Sunniten massenhaft den verschiedenen Strömungen des säkularen arabischen Nationalismus an, darunter Ba’ath. Die harmonische Beziehung zwischen syrischen Ba’athisten und Nasser führte 1958 zur Ausrufung der Vereinigten Arabischen Republik (VAR ).

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In den 1950er Jahren trat eine neue Ba’athistengeneration um den aus einer einflussreichen sunnitischen Familie in Hama stammenden Akram Al-Hawrani in Erscheinung, die bald auf Distanz zu den, wie gesehen, eher den Minderheiten angehörenden Gründervätern der Partei ging. Das kurzlebige Experiment der VAR (1959 – 1961) schien anfangs alle militärischen Fraktionen des Ba’ath hinter dem Vereinigungsprojekt mit dem nasseristischen Ägypten zu versammeln. Doch schon bald regte sich Widerspruch gegen die Dominanz Kairos, die die Nasseranhänger in der Ba’ath-Führung in Misskredit brachte. Die Übernahme Syriens durch die ägyptischen Geheimdienste, die Tatsache, dass sich das Land auf den Status einer den Kairoer Hegemoniebestrebungen unterworfenen Provinz verwiesen sah, und die Selbstauflösung von Ba’ath in die Arabische Nationalunion (die Partei Nassers) riefen Unmut in der Bevölkerung hervor und führten zu einem separatistischen Staatsstreich, der Al-Hawrani isolierte. Letzterer befürwortete übrigens am Ende selbst die Abspaltung, und die syrische Ba’ath-Partei formierte sich neu, immer noch mit nationalistisch-panarabischen Vorsätzen, die allerdings nur noch als rhetorisches Feigenblatt für eine strikt syrischnationalistische Ausrichtung fungierten. De facto wurde die nasserfreundliche Tendenz aus der Partei ausgeschlossen. Die religiösen Minderheiten waren, verständlicherweise, innerhalb der Partei die erbittertsten Gegner der ägyptischen Vereinnahmung Syriens, weil sie den Nasserismus als Ausdruck sunnitischer Dominanz empfanden. Ein weiterer Staatsstreich brachte im März 1963 eine Gruppe junger, in Ägypten ausgebildeter ba’athistischer Offiziere an die Macht, die sich der Gründergeneration entgegenstellte, die Partei umstrukturierte und wenig später die Ära der sogenannten »Neoba’athisten« begründete, die progressi-

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ven, tendenziell sozialistischen Reformen gegenüber aufgeschlossener war. In einem Spiel komplexer Positionierungen bestätigten sie den Bruch mit der VAR und setzten sich zugleich von den Sezessionisten ab. Zu dieser Zeit begann die »Kolonisierung« der Armee durch die Alawiten. Einer dieser jungen Offiziere, Salah Dschadid, ergriff im Februar 1966 die Macht und vertraute das Verteidigungsministerium seinem Waffengefährten Hafiz AlAssad an, der wie er aus Qardaha, einem abgelegenen Dorf im Alawitengebirge, stammte. Ihr Aufstieg stand sinnbildlich für die Erneuerung der Armeeführung. Die alten Offiziersfamilien, die die militärischen Kommandostrukturen beherrschten, wurden nach und nach durch neue Prätorianergarden aus den armen Randgebieten des Landes ersetzt, ein wenig vergleichbar mit dem, was unter Saddam mit dem Takriti-Clan im Irak passierte. Doch im Unterschied zum Irak, wo die drei Großgemeinschaften, Sunniten, Schiiten und Kurden, durchsichtigere politische Strategien verfolgten, war die allmähliche Durchdringung der syrischen Militärhierarchie mit Alawiten, Drusen und Ismailiten nicht Ausdruck einer bewussten und politisch koordinierten Gemeinschaftsstrategie. Es handelte sich eher um punktuelle Strategien des gesellschaftlichen Aufstiegs vonseiten randständiger Gruppen, die keinen Zugang zu den ökonomischen Ressourcen des sunnitischen Bürgertums in den Städten hatten – das Alawitengebiet war seinerzeit eine von der Entwicklung abgekoppelte Armutsregion. Zahlenmäßig betrachtet war der Zuwachs der Minderheiten in der Armee spektakulär. Im Jahr 1963 stellten Drusen, Ismailiten und Alawiten 15 Prozent der höheren Offiziere, was noch unterhalb ihres Anteils an der Gesamtbevölkerung lag. Im Jahr 1975, fünf Jahre nach der Machtergreifung Hafiz Al-

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Assads, nahmen sie 60 Prozent der höheren Offiziersposten ein, während die Mannschaftsränge sunnitisch blieben. Doch im Innern dieses ba’athistischen Militärkosmos, in dem vor allem Alawiten mehr und mehr dominierten, führten Machtinteressen zu blutigen Konkurrenzkämpfen zwischen Fraktionen, die auf viel schmaleren Grundlagen beruhten: lokalen Asabiyyas oder Generationszugehörigkeiten zwischen Offizieren desselben Jahrgangs.

Assad, sein autoritäres Regime und die Alawiten In diesem Kontext der komplexen Fraktionskämpfe, der Ausschaltung von Zivilisten und dem Verschwinden der Ba’athGründergeneration, das Ganze mit einer dünnen Schicht arabischem Verbalnationalismus überzogen, begann Assads eigener Kampf um die Macht in der Partei und der Armee. 1970 stürzte er Dschadid und begründete ein lang andauerndes, von einer Clanstruktur beherrschtes, autoritäres Regime, an dessen Ende der Zerfall der syrischen Gesellschaft und die Rückkehr der verdrängten Konfessionsfrage stand. Dennoch kann dieses Regime nicht, wie gelegentlich zu hören, als »Alawitenregime« beschrieben werden. Der erste irakische Staat (1920 – 2003) war seiner Konzeption und seiner Zusammensetzung nach sunnitisch. Doch was wäre unter einem alawitischen Staat zu verstehen? Die alawitische Religion weist stark esoterische Momente auf, die sie kaum geeignet erscheinen lassen, ein politisches Projekt zu tragen. In Syrien erfolgte der Rückzug in ethnisch und religiös geprägte Gemeinschaften viel später als im Irak, wo sich die Ba’ath-Partei schon 1963 fast vollständig »sunnitisierte«. In Damaskus gehorchte die

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Asabiyya-Strategie, wenigstens anfangs, keiner konfessionellen, sondern eher einer familiären Logik: die fünf Brüder Präsident Assads, die wichtige Posten in der Partei, der Armee und der Regierung bekleideten, bildeten für ihn eine verlässliche Stütze. Einer von ihnen, Rifaat Al-Assad, leitete ab 1970 die berühmten »Verteidigungsbrigaden«, Einheiten zum Schutz des Regimes. Was ihn allerdings nicht davor bewahrte, 1984 in Ungnade zu fallen. Andere Mitglieder des Clans leiteten die zwielichtigen Muhabarats, die von der Bevölkerung gefürchteten Geheimdienste. Bereits in den 1970er Jahren bemerkten externe Beobachter die Entstehung stark ethnisch und religiös ausgerichteter Protestbewegungen auf syrischem Boden, die von den noch weitgehend im Traum von der Nation befangenen Syrern selbst kaum zur Kenntnis genommen wurden. Tatsächlich begannen die syrischen Muslimbrüder damals mit ihrer Agitation gegen das »säkulare und gottlose Regime« der Ba’athPartei. Die Abkehr der Sunniten vom Assad-Regime erreichte ein kritisches Ausmaß, als Damaskus 1979 mit der Unterstützung der islamischen Revolution im Iran eine einschneidende Wende vollzog. War diese Unterstützung Ausdruck einer verborgenen Sympathie für die schiitische Religion? Die Beziehungen zwischen den majoritären Zwölferschiiten und der Alawitensekte in Syrien reichen zwar bis ins frühe 20. Jahrhundert zurück, waren aber nie intensiv genug, um diese These bestätigen zu können. Viel plausibler ist die geopolitische Erklärung: Aus Rivalität mit dem Irak, der von einem verfeindeten Zweig der Ba’ath-Partei beherrscht wurde, entschied sich das Assad-Regime für den Iran. Das Bündnis zwischen Damaskus und Teheran war allerdings der Beginn einer beispiellosen Öffnung gegenüber der Schi’a in Syrien. Während

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sunnitische Prozessionen von den Sicherheitskräften verboten oder ins Innere der Moscheen verbannt wurden, durfte sich die zahlenmäßig sehr kleine schiitische Gemeinde von Damaskus einer Vorzugsbehandlung durch den strategischen Bündnispartner Teherans erfreuen. Die Gräber von Sayyida Zainab und Rukaiyya in Damaskus wurden, angesichts des erschwerten Zugangs zu den heiligen Städten im Irak, zu immer stärker frequentierten schiitischen Pilgerstätten. Es ist also ein Leichtes, die Gefahr des »schiitischen Halbmondes« heraufzubeschwören, wie es die Sunniten der Region regelmäßig tun. In dieser Zeit traten, vor allem in Aleppo und Hama, Akteure auf den Plan, die im Namen des sunnitischen Islam gewaltsamen Widerstand gegen das Ba’ath-Regime leisteten. Diese von den Muslimbrüdern mobilisierten Bewegungen wurden von der syrischen Armee, die auch vor dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen die Bevölkerung nicht zurückschreckte, brutal unterdrückt. Die blutige Reaktion des Regimes forderte Zehntausende Tote und führte 1982 zur fast völligen Zerstörung der Altstadt von Hama. Der Gedanke, dass die Ba’ath-Diktatur ein gottloses und antimuslimisches Regime sei und die Armee unter totaler Kontrolle einer illegitimen und repressiven Minderheit stehe, begann seither sich in den Köpfen festzusetzen und die Sichtweise von Teilen der Opposition zu bestimmen. In den 1990er und 2000er Jahren bildeten sich im Untergrund verschiedene Bewegungen und Parteien, die im Februar/März 2011, als die Schockwelle des Arabischen Frühlings Syrien erreichte, an die Öffentlichkeit traten. Die Protestierenden äußerten anfangs friedliche Losungen im Namen der Zivilgesellschaft und warben für gemeinschafts- und religionsübergreifende Mobilisierungen. Wahid, wahid, wahid!

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Al-sch’ab Al-Suri wahid! (»Eins, eins, eins – das syrische Volk ist eins!«) war damals der meistgehörte Slogan. Doch einmal mehr begünstigte die blutige Repression durch das Regime die ethnische und konfessionelle Spaltung des Volksaufstands. Ab Ende 2011 begannen Teile der sunnitischen Mehrheit, ihren antialawitischen Zorn auf offenere und mitunter sehr radikale Weise kundzutun. Man vergisst oft, dass Syrien einst die Hochburg des Hanbalismus war, die konservativste Schule des sunnitischen Islam, die starken Einfluss auf das Entstehen des Wahabismus3 auf der arabischen Halbinsel hatte. Dieses tief verwurzelte Denken, aus dem sich insbesondere ein virulenter Antischiismus speist, begünstigte das Aufkommen sektiererischer Einstellungen gegenüber den islamischen Minderheiten. Dementsprechend machten sich bald innerhalb der bewaffneten Opposition die ersten salafistischen und dschihadistischen Gruppen bemerkbar, darunter, als deren wichtigste, die Dschabhad Al-Nusra (Al-Nusra-Front), die Al-Qaida die Treue schwor. Um diesen Radikalisierungsprozess von Teilen der sunnitischen Gemeinde in Syrien nicht über Gebühr zu vereinfachen und dessen relativ spätes Einsetzen zu verstehen, sei daran erinnert, dass es dem Assad-Regime in den 1990er und 2000er Jahren durchaus gelungen war, eine ihm gewogene Schicht anerkannter sunnitischer Religionsführer zu installieren. Zum Beispiel Scheich Ahmad Kuftaru (1915 – 2004) in Damaskus, Befürworter des interreligiösen Dialogs und Großmufti der Arabischen Republik Syrien ab 1964, oder Scheich

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Von Muhammad Ibn Abd Al-Wahhab (1703 – 1792) begründete, in Saudi-Arabien und Katar vorherrschende Strömung, die auf einer fundamentalistischen Auslegung des Hanbalismus beruht.

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Al-Buti (1929 – 2013), beide kurdischer Herkunft und sufistischen Glaubens, waren keineswegs bloße Marionetten in den Händen des Regimes, sondern verkörperten das faktische Bündnis zwischen der ba’athistischen Macht und einem erheblichen Teil des urbanen sunnitischen Bürgertums, das zwar von Führungspositionen im Staats- und Militärapparat weitgehend ausgeschlossen war, aber weder etwas von seinem sozialen Ansehen noch von seiner ökonomischen Macht verloren hatte. Im Gegenteil, Letztere wuchsen sogar noch aufgrund der Infitah-Politik, der wirtschaftlichen Öffnung und Liberalisierung, die Hafiz Al-Assad gegen Ende seiner Amtszeit initiierte und die sein Sohn Baschar fortsetzte. Orientiert am Umgang des Osmanischen Reiches mit dem Islam, aber auch an Nassers Kontrolle der Al-Azhar4 und der Sufibruderschaften, ging Hafiz Al-Assad ziemlich rasch auf Distanz zum ursprünglichen Säkularismus der Ba’ath-Partei und ließ keine Gelegenheit aus, seinen Respekt vor den Institutionen des sunnitischen Islam zu bezeugen. Ein Mufti der Republik, ein Ministerium für religiöse Stiftungen (Waqf 5), die islamische Abu Al-Nur-Stiftung in Damaskus, das renommierte Institut für Glaubens- und Religionsfragen der SchariaFakultät an der Universität Damaskus, das viele, vor allem europäische Imame ausbildet, all das sind Einrichtungen eines syrischen Staatsislam. Man konnte sogar miterleben, wie sich Assad eine »krypto-sunnitische« Identität zulegte, indem er demonstrativ in die Umaiyyaden-Moschee zum Beten ging, 4 5

Berühmte Moschee und Universität in Kairo, deren Scheich von den sunnitischen Muslimen als geistiges Oberhaupt betrachtet wird. Waqf (»Gut der toten Hand«), Schenkung oder Vermächtnis eines Gutes oder Besitzes für alle Zeiten an den Islamischen Staat zugunsten frommer Werke oder gemeinnütziger Zwecke.

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obwohl es sich dabei um eine den Alawiten vollkommen fremde Praxis handelt. Das Ba’ath-Regime praktizierte also gegenüber der sunnitischen Mehrheit lange Zeit eine Mischung aus religiöser Charmeoffensive, ökonomischer Bestechung und Klientelpolitik, die teilweise erklärt, warum ein nicht unerheblicher Teil der wohlhabenden sunnitischen Städter Baschar Al-Assad bis heute die Treue hält.6 Ab 2011 reagierte Assad auf den Volksaufstand mit einer Eskalationspolitik und setzte auf die Karte einer extremen Konfessionalisierung des Konflikts, was die perverse Übereinstimmung des Assad-Regimes mit den Zielen der in diesem Augenblick entstehenden dschihadistischen Kräfte offenbarte. In der bewussten Absicht, die am stärksten säkular ausgerichteten, um eine friedliche Lösung bemühten Strömungen innerhalb der Opposition zu schwächen, ließen die syrischen Behörden 2011 Hunderte von salafistisch-dschihadistischen Gefangenen frei7, die sich ihren Waffenbrüdern an den diversen Aufstandsfronten anschlossen. Ferner war dem Regime daran gelegen, vorrangig Stellungen und Einheiten der Freien Syrischen Armee (FSA ) zu bombardieren, dem militärischen Hauptgegner des Regimes zu Beginn des Bürgerkriegs, bestehend aus ehemaligen Offizieren der syrischen Armee, bei denen sich arabischer Nationalismus mit einem Kampf für die Demokratie paart.8 Es hat auf diese Weise dafür gesorgt, dass

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Gleichwohl markiert die Ermordung von Scheich Al-Buti, der im März 2013 bei einem Selbstmordattentat auf ihn ums Leben kam, das endgültige Scheitern des sunnitischen Staatsislam in Syrien. Darunter Abu Mus’ab Al-Suri, der als neuer Chefideologie des globalen Dschihad gilt. Die FSA war gespalten und mit ihren Kräften am Ende, bis sie ab Frühjahr 2014, auf Initiative der USA , von Saudi-Arabien, Jorda-

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die salafistischen Milizen das von ihnen kontrollierte Gebiet ausdehnen konnten. Das war eine Botschaft, die Assad gleichermaßen an den Westen wie an die eigene Bevölkerung richtete, insbesondere ein sunnitisches Bürgertum, das zwischen ängstlicher Loyalität und versuchtem Aufbegehren schwankt. Sie lautete: Entweder ich oder das Chaos! Doch angesichts der zunehmenden Zerstückelung des syrischen Territoriums machte sich allenthalben das Chaos breit, und in diesem Kontext struktureller Gewalt, institutionellen Zerfalls und territorialer Fragmentierung betrat der Islamische Staat die Bühne und sicherte sich den Zugriff auf nahezu den gesamten Nordosten des Landes. Wir werden im sechsten Kapitel noch genauer untersuchen, wie der syrische Teil der Dschihad-Strategie des Islamischen Staates vor Ort funktionierte. Schließlich entschied sich der IS dafür, seine Verwaltungshauptstadt nicht in Mossul, sondern in Al-Raqqa, 160 Kilometer östlich von Aleppo, in Syrien, einzurichten. Die militärische Besetzung des Irak durch die Amerikaner und der Arabische Frühling in Syrien liefen also auf das gleiche Resultat hinaus: den Zerfall des Staates und das Auseinanderbrechen seines Territoriums entlang ethnischer und religiöser Linien. Dennoch weist dieser Prozess nicht unerhebliche Unterschiede in jedem der beiden Länder auf. Während der Islamische Staat im Irak einstweilen die mehrheitliche Unterstützung der sunnitischen Araber gewonnen hat, verteilen sich die Sympathien der sunnitischen Gemeinde in Syrien

nien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Frankreich, seit Dezember 2014 auch von der Türkei bewaffnet und trainiert wurde. Die FSA ist in den Regionen Aleppo, Damaskus, Homs und Dar’a, nahe der Grenze zu Jordanien, aktiv.

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auf verschiedene Tendenzen, einschließlich mehrerer salafistischer Tendenzen. So beherrscht der Islamische Staat die beduinischen Wüsten- und Steppengebiete im Osten und Nordosten des Landes, während die zu Al-Qaida gehörende Al-Nusra-Front eher bestrebt ist, sich das Monopol auf die Vertretung eines wachsenden Teils der sunnitischen Bevölkerung in den westlichen Großstädten Hama, Homs, Aleppo und Damaskus zu sichern. Ferner sind salafistische, aber nicht dschihadistische Aufstandsbewegungen, denen es vorrangig um ein Leben im Dienste des Glaubens zu tun ist, in verschiedenen »befreiten« oder noch vom Regime gehaltenen Gebieten verankert. Trotz vereinzelter Gefechte oder lokal beschränkter Offensiven, die zum Gewinn oder Verlust dieser oder jener unbedeutenden Ortschaft durch eine der Kriegsparteien führen können, befinden sich im Irak die Grenzen zwischen den drei großen ethnischen Zonen (IS -sunnitisch, schiitisch und kurdisch) bisher in einer Phase der Stabilisierung und umfassen relativ geschlossene und homogene Territorien. Das ist in Syrien mitnichten der Fall. Dort weist das Territorium aufgrund der bisweilen schnellen Veränderungen und Umschwünge ein »leopardenfellartiges« Aussehen auf. Und der syrische Staat scheint derzeit gänzlich außerstande zu sein, in den Regionen, die sich seiner Kontrolle entzogen haben, dauerhaft wieder Fuß zu fassen. Bei aller Konfusion und blutigen Ungewissheit kann man davon ausgehen, dass das Schicksal Syriens heute stark von der weiteren Entwicklung im Irak abhängt. Wenn die faktische Unabhängigkeit Irakisch-Kurdistans weiterbesteht, wenn die Bagdader Regierung nur noch die schiitische Bevölkerung repräsentiert und der Islamische Staat seine Stellung in den sunnitischen Gebieten des Landes festigt, wird der Zusammenbruch des irakischen Staates un-

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ausweichlich sein und früher oder später den des syrischen Staates nach sich ziehen. Von den anderen Staaten der Region wird jeder auf seine Weise und mit jeweils unvorhersehbaren Folgen die Druckwelle dieses geopolitischen Erdbebens zu spüren bekommen.

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5 Stehen wir vor einem Umbruch im Nahen Osten? Welche Folgen der Zerfall des irakischen und des syrischen Staates im Zusammenhang mit dem Auftauchen des IS auf die anderen Staaten der Region hat, muss je nach Entstehungsgeschichte jedes einzelnen von ihnen unterschiedlich beurteilt werden. Tatsächlich müssen solche Staaten wie der Libanon und Jordanien, die genau wie Syrien und der Irak Produkte der Mandatsherrschaft und zutiefst von ihrem kolonialen Ursprung und der Aufteilung der Region unter den Siegermächten des Ersten Weltkriegs geprägt sind, von den übrigen Anrainerstaaten wie der Türkei und Saudi-Arabien unterschieden werden.1 1

Wenn in diesem Kapitel nicht die Rolle des Iran thematisiert wird, obwohl die Islamische Republik selbstverständlich ein Teil der durch die Entstehung und Vorgehensweise des IS eskalierenden Konfliktdynamik ist, dann weil sie nur als Akteur auftritt, dem es um die Wahrung geopolitischer Interessen in der Region geht, die zwar wesentlich für Teheran sind, aber keine größeren Destabilisierungsrisiken aufgrund innenpolitischer Probleme enthalten, anders als beispielsweise bei der Türkei oder Saudi-Arabien.

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Der Islamische Staat vor den Toren des Libanon Von allen Ländern des Nahen Ostens ist der Libanon zweifellos am meisten vom Islamischen Staat bedroht, nicht nur verbal, sondern durch eine konkrete Invasion vor Ort, denn die Dschihadisten stehen an der syrisch-libanesischen Grenze und haben bereits Überfälle auf libanesisches Territorium unternommen. Mit der Gründung des libanesischen Staates und seiner Abtrennung vom historischen Syrien bekundeten die Franzosen ihren Willen, im Nahen Osten einen Staat mit mehrheitlich christlicher Bevölkerung zu errichten. Doch indem sie Beirut und das christlich-drusische Libanongebirge um Regionen wie Tripoli, Akkad oder die Beka’a-Ebene ergänzten, um dem neuen Staat ein größeres Territorium zu verschaffen, schufen sie ein regelrechtes politisches Puzzle und stellten die christliche Mehrheit wieder infrage. Tatsächlich waren es nicht weniger als 18 verschiedene Glaubensgemeinschaften, die sich das Gebiet des Libanon teilten, und 1943 wurde dieses buntscheckige Gebilde in einen unabhängigen Staat überführt, der auf einem zwar stillschweigenden – weil nicht verfassungsmäßig festgeschriebenen –, aber dennoch systematisch praktizierten institutionellen Arrangement basierte: dem politischen Konfessionalismus. Auf allen Ebenen des Staates ist jede der 18 Konfessionen entsprechend ihrer tatsächlichen oder mutmaßlichen Bevölkerungsstärke vertreten, mit der bekannten Dreiteilung zwischen maronitischem Staatspräsidenten, sunnitischem Premierminister und schiitischem Parlamentspräsidenten an der Spitze. Diese Teilung vervielfacht sich auf Ebene der Ministerien und Behörden. Nach dem Ablauf des Mandats (die letzten französischen Truppen verließen 1946 den Libanon) mündete dieses

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System in eine Art politischen Pluralismus, der so lange funktionierte, wie Frankreich als Schutzmacht im Libanon massiv präsent blieb, aber infrage gestellt zu werden begann, je weiter sich Paris zurückzog und die Kräfteverhältnisse zwischen den Gemeinschaften sich veränderten. Denn ab den späten 1950er Jahren konnte man die Anfänge eines unumkehrbaren Prozesses beobachten: der Emanzipation der in der Geschichte des Libanon allzu oft vergessenen schiitischen Gemeinde, die zur politisch und militärisch führenden Gemeinschaft des Landes avancierte (30 Prozent der libanesischen Bevölkerung sind Schiiten, gegenüber 21 Prozent Sunniten). Später als andere machten auch die schiitischen Libanesen schließlich eine regelrechte soziale Revolution in ihren Reihen durch: Die benachteiligten schiitischen Massen schüttelten das feudale Joch der sie beherrschenden Großgrundbesitzerfamilien ab und gaben sich eine neue religiöse Führung, die den ihr zustehenden Platz auf der politischen Bühne des Landes einforderte. Den Anfang machte Musa AlSadr (1928 – 1978) in den 1960er Jahren, und seine 1973 gegründete »Bewegung der Entrechteten« kämpfte für mehr Bürgerrechte und eine Verbesserung des Lebensstandards der ärmsten Schiiten. Seine Miliz, die Amal, ging 1982, nach internen Konflikten und Spaltungen, in der Hisbollah auf. Im Übrigen verschärften die wiederholten Kriege zwischen der arabischen Welt und Israel die inneren Spannungen im Libanon. Und die Hunderttausende von palästinensischen Flüchtlingen, die ab 1948 in Wellen ins Land strömten, stellten das demografische Gleichgewicht auf den Kopf und sorgten für eine weitere Destabilisierung des politischen Systems. Alle diese Faktoren zerstörten das prekäre, von den Franzosen hergestellte Gleichgewicht, auch wenn sich am Ende, genau wie im Irak und Syrien, eine gewisse »National-

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illusion« breitmachte, insbesondere über die allmähliche »Libanisierung« jener Gemeinschaft, die am meisten an Großsyrien hing und sich am schwersten getan hatte, sich im neuen Staat wiederzuerkennen, nämlich der Sunniten. Konsequenz dieses zerstörten Gleichgewichts war der Bürgerkrieg oder vielmehr die konfuse Abfolge ethnisch-religiöser Kriege1, die von 1975 bis 1990 dauerten und in deren Verlauf sich Libanesen (Christen, später Schiiten) und Palästinenser, später Christen und Muslime gegenüberstanden, Konflikte, in die auch Drusen und Schiiten auf ihre Weise verwickelt waren und die eine Reihe interner Bruchlinien, Allianzen und Kehrtwendungen erzeugten, die zu komplex sind, um hier analysiert zu werden. Alle Konflikte der Region schienen seinerzeit im Libanon einen Resonanzboden zu finden. Das vom Abzug der Franzosen hinterlassene Vakuum wurde in den 1950er Jahren zunächst von den Vereinigten Staaten und später, ab 1976, durch die syrische Besatzung gefüllt, die zwar drei Jahrzehnte dauerte, aber den Bürgerkrieg ebenfalls nicht beenden konnte. Mit dem beginnenden Abzug der Syrer im Jahr 2004 kehrte der Libanon zu seinen alten Dämonen zurück. Als nach der Ermordung des saudi-libanesischen Premierministers Rafiq Al-Hariri 2005 die syrischen Truppen endgültig das Land verließen, teilten sich die politischen Kräfte des Libanon in zwei Lager: das prosyrische Lager, das im Wesentlichen die Schiiten und einen Teil der Christen hinter General ’Aoun ver-

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Die erste massenhaft von Sunniten unterstützte Aufstandsbewegung war 1958 die zugunsten Nassers und der Vereinigten Arabischen Republik. Sie wurde von den Vereinigten Staaten niedergeschlagen, die ihre Armee nach Beirut schickten.

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einte, und das antisyrische Lager mit den Sunniten, einer christlichen Mehrheitsfraktion und den Drusen von Waled Dschumblat. Das wichtigste Ergebnis war jedoch, dass die einst wesentliche und strukturgebende Konfliktlinie zwischen Christen und Muslimen einer islaminternen Konfrontation zwischen Schiiten und Sunniten wich. Mit der islamischen Revolution im Iran von 1979 nahm der Aufstieg der libanesischen Schiiten zur Macht seinen Anfang. In den 2000er Jahren galt die Hisbollah als regelrechter »Staat im Staate« und bündelte den gegen sie gerichteten Widerstand des antisyrischen Lagers, anfangs unter Führung gemäßigter sunnitischer Honoratioren. Doch die Expansion der Hisbollah radikalisierte bedeutende Teile der sunnitischen Gemeinde, insbesondere in den Provinzen, wo neue religiöse Akteure die traditionelle Führungsrolle des sunnitischen Beiruter Bürgertums infrage stellten (vor allem nach der Ermordung Rafiq Al-Hariris und dem Rückzug der syrischen Truppen 2005). Seit den 1980er Jahren sind vor allem in Tripoli, Sidon und den sunnitischen Gebieten der Beka’a-Ebene salafistische Strömungen entstanden. Die Eskalation des syrischen Volksaufstands zu einem konfessionellen Bürgerkrieg ab März 2011 vertiefte die Kluft zwischen Schiiten und Sunniten im Libanon, wo es bereits zu blutigen Zusammenstößen gekommen war, wie 2011 in Sidon, zwischen der Miliz des salafistischen Scheichs Ahmad Al-Assir und den Schiiten der Hisbollah. In Tripoli hat das brisante Gegenüber zweier Stadtteile, des zum Symbol gewordenen sunnitischen Bab Al-TabbanehViertels und des mehrheitlich alawitischen Dschabal MohsinViertels, Dimensionen einer Dauerkonfrontation angenommen. Ein wachsender Teil der sunnitischen Bevölkerung des Libanon unterstützte die syrischen Rebellen, zu Anfang die der Freien Syrischen Armee, später zunehmend die Dschiha-

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disten der Al-Nusra-Front. Gleichzeitig ist der massive Zustrom syrischer Flüchtlinge in den Libanon – 1,1 Millionen nach UN -Angaben, ein Viertel der libanesischen Bevölkerung und drei Mal so viele wie Palästinenser – zu einem neuen Destabilisierungsfaktor geworden. Diese Masse mehrheitlich sunnitischer Flüchtlinge ist zwischen Anhängern des Aufstands und Anhängern des Assad-Regimes gespalten. Ihre Anwesenheit führte zu einer völligen Destabilisierung der lokalen Arbeitsmärkte, weil ein syrischer Arbeiter nur ein Drittel eines libanesischen Beschäftigten kostet. Daher die Anzeichen schwindender Akzeptanz in der libanesischen Gesellschaft, die sich in symbolischen Aktionen ausdrückt, wie der Auflösung eines syrischen Flüchtlingslagers, Burdsch Al-Schamali, durch den schiitischen Bürgermeister von Tyros, oder gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Schiiten und Sunniten, wie in der Beka’aEbene. Ein wesentliches, die Krise verschärfendes Element ist das massive und fortgesetzte Eingreifen von Hisbollah-Kämpfern in den syrischen Konflikt seit 2012, was die symbolische (wenn nicht konkrete) Aufhebung der Grenze zwischen Syrien und dem Libanon zur Folge hat und damit der transnationalen Propaganda der salafistisch-dschihadistischen Gegner der mächtigen schiitischen Miliz in der Sache recht gibt. In diesem explosiven Umfeld trat nun der Islamische Staat in Erscheinung, indem er zunächst die an die Beka’aEbene, die Straße Beirut–Damaskus oder den Nordlibanon angrenzenden Regionen auf syrischer Seite besetzte, die zuvor von der Al-Nusra-Front kontrolliert wurden – sei es direkt oder durch Übertritt lokaler Al-Nusra-Brigaden –, und anschließend spektakuläre Vorstöße auf libanesisches Territorium unternahm, wie die zeitweilige Besetzung der mehrheit-

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lich von Sunniten bewohnten Stadt Arsal in der Beka’a-Ebene im August 2014. Genau wie mit seinem Verzicht, schiitisches Gebiet im Irak zu erobern, macht sich der Islamische Staat auch in einem so multikonfessionellen Land wie dem Libanon keine Hoffnungen auf dauerhafte Geländegewinne. Und das aus mehreren offensichtlichen Gründen: der massiven Präsenz der Schiiten, die von den kampferprobten Truppen der Hisbollah verteidigt werden, der einer christlichen Gemeinde, die, wenn auch geschwächt, ein größeres politisch-militärisches Gewicht hat als die Christen oder Jesiden im Irak, und einer libanesischen Armee, die, wenn auch nur mit erheblicher finanzieller Unterstützung Saudi-Arabiens, aber auch der Vereinigten Staaten und Frankreichs, heute eine größere Stabilität und Schlagkraft besitzt als zu Zeiten des Bürgerkriegs 1975 – 1990. Die Überfälle des Islamischen Staates verfolgen hingegen eine extrem gut durchdachte Provokationsstrategie, die darauf abzielt, den prekären Zusammenhalt der libanesischen Gesellschaft weiter zu zersetzen. Tatsächlich hat die »Falle des Kalifats« im Libanon bereits insofern zugeschnappt, als es den Dschihadisten des Islamischen Staates besonders in Arsal und Tripoli gelungen ist, die libanesische Armee direkt in den Syrienkonflikt zu verwickeln, ihre Neutralität infrage zu stellen und sie in den Augen vieler Sunniten als faktischen Erfüllungsgehilfen der Hisbollah in Verruf zu bringen. Die Geiselnahme libanesischer Militärs (Anfang August 2014) durch IS -Kämpfer, die im Austausch die Freilassung in Beirut inhaftierter libanesischer Salafisten verlangten, und das energische – von Artillerie unterstützte – Eindringen der libanesischen Armee in manche sunnitische Viertel von Tripoli schürten die Gerüchte. In dem offenen und mit aller Härte geführten Krieg

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zwischen Hisbollah und Islamischem Staat droht der libanesischen Armee jederzeit, weiter gehen zu müssen, als sie es bisher hat tun wollen. Die Angst, in den Konflikt im Nachbarland hineingezogen zu werden, sorgt allerdings nach wie vor dafür, dass die Libanesen massiv hinter ihrer Armee stehen. Mit dieser Strategie versucht der Islamische Staat, wachsende Teile der sunnitischen Gemeinschaft auf seine Seite zu ziehen, indem er ihr Selbstverständnis als »Libanesen« untergräbt und antischiitische (in Tripoli, der zweitgrößten Stadt des Landes, auch antialawitische) Ressentiments schürt, die den salafistischen Strömungen vor Ort Auftrieb verleihen. Dies geschieht in der Absicht, Krisenherde und »befreite« Zonen zu schaffen wie in Tripoli (die sunnitischen Viertel Bab Al-Tabbaneh und Qubba), wo salafistische Imame und sunnitische Lokalmedien sich in den letzten Monaten zum Islamischen Staat bekannten und wo die schwarze Fahne des dschihadistischen Kalifats über manchen Vierteln wehte.

Ein erstarrtes Jordanien Als weiterer Folgestaat des uneingelösten Versprechens an den Scharif von Mekka teilte Transjordanien – wie es 1921 bei seiner Gründung hieß, bevor es 1949 zu Jordanien wurde, auch wenn das Staatsgebiet 1967 wieder auf die Größe von Transjordanien zusammenschrumpfte – mit dem Irak die Eigenschaft, eine der beiden Ersatzlösungen für das entgangene Königreich zu sein, die der Haschimiten-Dynastie, nach dem arabischen Aufstand, angeboten wurden. Tatsächlich wurde 1921, auf der Konferenz von Kairo, der Thron über das transjordanische Territorium dem dritten Sohn von Scharif Hus-

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sein, Abdallah I ., zuerkannt – unter Aufsicht eines Vertreters der britischen Regierung. Von allen Mandatsstaaten ist Jordanien derjenige, dessen politische Existenz und territorialer Zusammenhalt am unmittelbarsten durch die Palästinafrage und die unvorhersehbaren Entwicklungen des Konflikts zwischen Israel und der arabischen Welt gefährdet sind. Der Zustrom Hunderttausender Palästinenser Ende der 1960er Jahre hatte eine tief greifende Destabilisierung des Königreichs zur Folge. In den Flüchtlingslagern war man zum Aufstand bereit. Diese Unruhen wurden von einer von den USA trainierten jordanischen Armee blutig niedergeschlagen – eine Operation, die 1970, während der als »Schwarzer September« bekannt gewordenen Episode, die Form eines regelrechten Feldzugs annahm. Heute ist die Mehrheit der jordanischen Bevölkerung palästinensischer Herkunft, auch wenn sie verschiedenen Migrationswellen angehört und sich durch unterschiedliche Grade der »Jordanisierung« auszeichnet. Im Zuge der seit Ende der 1980er Jahre stattfindenden Demokratisierung förderte die politische und wirtschaftliche Liberalisierung des Landes die Meinungsfreiheit der verschiedenen Gemeinschaften und entfachte neue Spannungen zwischen Jordaniern und Palästinensern: Die seinerzeit entstandenen politischen Parteien deckten sich weitgehend mit den ethnischen Grenzen. Viele Palästinenser engagierten sich für fortschrittliche Parteien, die den palästinensischen Gruppierungen im Westjordanland und Gaza nahestanden, aber auch für Organisationen aus dem Umkreis der Muslimbrüder. Jordanien ist seit den 1980er Jahren auch eine Hochburg des Salafismus, wie Abu Mus’ab Al-Zarqawi, der berühmte Al-Qaida-Führer im Irak, bezeugt, der aus Zarqa stammte und 2006 bei einem amerikanischen Luft-

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schlag im Irak ums Leben kam. Die jordanischen Salafisten erhielten Zulauf durch den Golfkrieg von 1990, im Anschluss an die irakische Besetzung Kuwaits. In jüngerer Zeit demonstrierten sie regelmäßig für die Freilassung von Abu Muhammad Al-Maqdisi, dem ehemaligen Mentor Abu Mus’ab Al-Zarqawis – er wurde schließlich im Dezember 2014 auf freien Fuß gesetzt –, und Abu Sajaf, mit richtigem Namen Muhammad Al-Schalabi, der 2002, nach bewaffneten Zusammenstößen im Süden Jordaniens, wegen Terrorismus verurteilt worden war. Im Süden des Landes, dem Armenhaus Jordaniens, ist die Stadt Ma’an, wo sich Abu Sajaf als örtlicher Führer etabliert hat, inzwischen der Kontrolle der Regierung entglitten und befindet sich praktisch in den Händen der Salafisten, sodass bereits von einem »Falludscha« Jordaniens die Rede ist. Die jordanische Regierung schätzt die Zahl der jordanischen Dschihadisten, die in Syrien und dem Irak kämpfen, auf mehr als 2000. Paradoxerweise ist Jordanien einerseits das Land, das sich durch die geringe Legitimität seines Staates und seiner Institutionen, durch die Brüchigkeit seines demografischen Fundaments und durch den besonders künstlichen Charakter seiner Grenzen auszeichnet, während es andererseits, weil es von den USA und den Regionalmächten als zentraler Akteur im Nahen Osten und im Israel-Palästina-Konflikt betrachtet wird, als Land gilt, das vor allen Destabilisierungsgefahren unbedingt zu bewahren und zu beschützen ist. Da der Islamische Staat inzwischen auch vor den Toren des haschimitischen Königreichs steht, ist es nicht verwunderlich, dass das jordanische Regime sich in der vordersten Reihe der regionalen Koalition gegen die Dschihadisten befindet. Diese Führungsrolle äußert sich in einem seit 2011 erhöhten Verfolgungsdruck gegen die salafistische Strömung im Land, mit Massenverhaftungswellen und einer minutiösen

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Überwachung der sozialen Netzwerke und der Predigten in den Moscheen. Ungefähr 130 Sympathisanten des Islamischen Staates werden derzeit von den Sicherheitskräften festgehalten, die die Zahl der zum Kampf in Syrien und im Irak bereiten jordanischen Salafisten-Dschihadisten auf mehrere Tausend schätzen. Die jordanischen Muslimbrüder, die über eine starke Parlamentsfraktion verfügen, kritisieren diese Politik der systematischen Repression mit der Begründung, dass sie kontraproduktiv sei und nur Gefahr laufe, dem Dschihadismus in die Hände zu arbeiten. Sie warnten den König und die Regierung vor der wachsenden Radikalisierung und der Abkehr vom bestehenden politischen System, die sie in ihren eigenen Reihen feststellen würden. Zudem halten sich derzeit mehr als 600000 syrische Flüchtlinge auf jordanischem Boden auf und werden mit noch größerem Argwohn als die Palästinenser in den 1970er Jahren betrachtet, weil sie als potenziell subversive und destabilisierende Elemente gelten. An der syrisch-jordanischen Grenze sind heute eher die Kämpfer der Al-Nusra-Front oder der Freien Syrischen Armee in der Übermacht, besonders in der Region Dar’a, entlang der Straße zwischen Damaskus und Amman. Doch auch dort setzt der Islamische Staat auf Eskalation und führt Angriffe auf Grenzposten durch, mit dem Ziel, zugleich das haschimitische Königreich zu provozieren und die Unterstützung der Al-Nusra-Kämpfer oder anderer salafistischer Gruppen zu gewinnen. Genau wie im Libanon zielen diese provokatorischen Überfälle darauf ab, den jordanischen Staat und seine Armee aus der Reserve zu locken und sie in den Krieg zu verwickeln. Tatsächlich ist Jordanien wenige Wochen nach dem Überfall auf einen Grenzposten offiziell der Anti-IS -Koalition

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der regionalen Staaten an der Seite Saudi-Arabiens und der Golfemirate beigetreten. Die jordanische Luftwaffe bombardierte Stellungen der Dschihadisten in Al-Raqqa und Deir AlZor und die bisher in den Emiraten stationierten französischen Flugzeuge starten inzwischen von jordanischen Stützpunkten aus. Die jordanische Führung fürchtet vor allem den Zusammenbruch der irakischen Armee. Die Angst geht um in den jordanischen Machtzirkeln, die sich bemühen, eine Art Pufferzone an ihren Grenzen zu errichten, namentlich an der Grenze zum Irak, indem sie Verhandlungen mit den Rebellenstämmen der Provinz Al-Anbar führen, um diese zur Schaffung einer zehn Kilometer breiten entmilitarisierten Zone entlang der Demarkationslinie zwischen beiden Ländern zu bewegen. Der Islamische Staat hat mit der Haschimiten-Monarchie noch eine Rechnung offen: Denn die Informationen, die es den Amerikanern ermöglichten, Abu Mus’ab Al-Zarqawi zu töten, stammten vom jordanischen Geheimdienst. König Abdallah II . von Jordanien stufte den laufenden Konflikt mit dem Islamischen Staat als »dritten Weltkrieg« ein und fügte hinzu, dies sei »ein Krieg innerhalb des Islam zwischen Extremisten und Gemäßigten«.

Saudi-Arabien: Der König ist nackt Dieser Grenzsicherungswahn kennzeichnet auch Saudi-Arabien, das heute mit dem Aufbau eines mehr als 800 Kilometer langen Überwachungssystems entlang seiner Grenze zum Irak beschäftigt ist. Bald wird ein mit Radarwarnanlagen ausgerüsteter Grenzzaun mitten in der Wüste das saudische Territorium von der sunnitischen Aufstandsprovinz Al-Anbar so-

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wie den schiitischen Provinzen Al-Nadschaf und Al-Muthanna trennen. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass sich das saudische Königreich vom Zerfall der aus der Mandatsherrschaft hervorgegangenen Staaten und vom Vormarsch des Islamischen Staates mittlerweile besonders bedroht fühlt. Die Saudis, die sich als Wächter der heiligen Stätten und Wahrer einer gewissen islamischen Orthodoxie wahabitischer Provenienz verstehen, während sie zugleich ganz und gar von den geopolitischen Interessen und dem Ölhunger der Amerikaner abhängig sind, haben lange versucht, ihre unglaublichen Widersprüche durch die globale Verbreitung einer rigoristischen Version des Islam zu verschleiern, womit sie Bewegungen zu einem dauerhaften Erfolg verhalfen, die sich heute gegen sie wenden. Sie fanden zunächst in den Muslimbrüdern eine transnationale Basis, die ihrer Ideologie zum Teil aufgeschlossen war. Man erinnere sich beispielsweise an die ägyptischen Muslimbrüder, die sich der Nasser’schen Repression durch massenhafte Flucht nach Saudi-Arabien entzogen, um von dort die Ideale und Gebräuche des saudischen Wahabismus in ihr Land zu reimportieren. Doch als Prediger aus dem Umkreis der Bruderschaft 1991 dagegen wetterten, dass die amerikanische Luftwaffe die irakischen Truppen in Kuwait von saudischem Boden aus bombardierte, gingen die Brüder öffentlich auf Distanz zur saudischen Politik, und ihre Beziehungen zu Riad kühlten sich zusehends ab. Der Bruch vollzog sich umso schneller, als die Muslimbrüder vom saudischen Regime stets als potenzielle Rivalen betrachtet worden waren. Übrigens sprang Katar umgehend in die Bresche und wurde zum neuen Sponsor der Brüderbewegung. Auf der Suche nach neuen Verbündeten begannen die Saudis, verschiedene salafistische Strömungen, darunter bisweilen selbst abtrünnige Muslimbrüder, zu unterstützen und großzügig zu finanzieren.

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Heute erweist sich dieser missionarische Eifer paradoxerweise als Bumerang und trägt dazu bei, die Widersprüche und Spannungen der saudischen Gesellschaft und Monarchie offenzulegen. Das von Ibn Sa’ud begründete Königreich sieht sich mittlerweile mit drei großen Gefahren konfrontiert: der schiitischen Frage, der Situation im Jemen und der salafistisch-dschihadistischen Subversion. Die mehrheitlich in Al-Hasa, der Ölregion am Persischen Golf, ansässigen Schiiten sind für das Regime Anlass zu größter Sorge, sowohl wegen der Nähe zu ihren aufständischen Glaubensbrüdern im Bahrain als auch aufgrund der religiösen Verwandtschaft mit dem Iran und den irakischen Schiiten. Nach dem Kuwaitkrieg von 1991, bei dem das Saudi-Regime die anti-irakische Koalition unter Führung der USA tatkräftig unterstützt hatte, vollzog Riad einen grundlegenden politischen Wandel gegenüber seiner schiitischen Bevölkerung. Das Regime hatte erkannt, dass die salafistisch-dschihadistische Bewegung auf der arabischen Halbinsel vollkommen außer Kontrolle geraten war und auf das Königreich überzugreifen drohte, sei es durch die Vermehrung unabhängiger Gruppen und Prediger oder durch extremistische Versuchungen, die bis in mehr oder weniger marginalisierte oder abtrünnige Zweige der Königsfamilie selbst hineinreichten. Da es sich außerstande sah, an zwei Fronten zugleich zu kämpfen, betrieb das Regime ab 1993 eine spektakuläre Annäherung zwischen der Monarchie und den saudischen Schiiten. Die Attentate vom 11. September 2001 und der Sturz Saddam Husseins initiierten eine beispiellose Öffnung der Al-Sa’ud-Dynastie gegenüber ihrer schiitischen Bevölkerung. Beispielsweise wurde man 2004 und 2005 Zeuge von Gipfeltreffen zwischen Vertretern des wahabitischen Religionsestablishments und den schiiti-

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schen ’Ulama mit ihrem charakteristischen Turban. Und anlässlich der ersten Kommunalwahlen, die 2005 im Königreich stattfanden, erhielten auch religiöse schiitische Parteien das Recht, Kandidaten aufzustellen, und erzielten in manchen Regionen ein sehr gutes Ergebnis. Doch der Fortbestand einer Reihe von Diskriminierungen – wie dem Verbot für schiitische Manager und Ingenieure, in Führungspositionen des staatlichen Erdölkonzerns Aramco aufzusteigen – und die Schiitenverfolgungen in Bahrain stellten diese Bemühungen letztlich wieder infrage. Die vom Arabischen Frühling geweckten Erwartungen und die blutige Konfessionalisierung des Konflikts im Irak und in Syrien trieben einen Großteil der schiitischen Gemeinde Saudi-Arabiens ins Lager der Opposition und zerstörten die Aussicht auf eine historische Versöhnung, die dem Regime einen größeren Handlungsspielraum im Kampf gegen den salafistisch-dschihadistischen »Hauptfeind« hätte verschaffen können. Im Jemen sieht sich Riad einer äußerst komplexen und explosiven Situation ausgesetzt, die die saudische Führung zwingt, zwischen der bewaffneten Zaiditenbewegung2 im Norden, der Regierung in Sanaa, den Separatisten von Aden und dem Al-Qaida-Netzwerk, das in den östlichen Wüstenregionen, der Provinz Ta’izz und im Hadramaut fest verankert ist, hin und her zu lavieren. Die Existenz des jemenitischen Staates als solche steht auf dem Spiel. Saudi-Arabien ist also an seinen Grenzen bedroht und eingeschlossen zwischen Unruheherden, die die Nachbarstaaten im Norden und im Südwesten gleichzeitig infrage stellen.

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Zaiditen: Vertreter eines Zweigs der Schiiten, häufig als »Anhänger der fünf Imame« bezeichnet, die überwiegend im Jemen leben.

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Dazu muss man wissen, dass der Jemen zum Zufluchtsort für saudische Al-Qaida-Kämpfer geworden ist: Hier wurde 2009 Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAP ) gegründet, eine Vereinigung saudischer und jemenitischer Dschihadisten. Zwischen der Zaiditenmiliz Ansar Allah (die Helfer Gottes) und Al-Qaida herrscht seither ein erbitterter Krieg. Ansar Allah gelang es im September 2014, die Hauptstadt Sanaa einzunehmen. Die Zaiditen, eine schiitische Minderheitsströmung, besaßen ein Imamat, das jahrhundertelang die jemenitischen Hochebenen beherrschte und bis 1962 bestand. Sie beklagen sich heute, dass die Regierung sie in politischer, wirtschaftlicher und religiöser Hinsicht benachteiligt. In die Konfessionalisierung des Regionalkonflikts zwischen Sunniten und Schiiten werden, wie man sieht, mittlerweile auch Gemeinschaften involviert, die nur eine entfernte Beziehung zur majoritären Zwölferschi’a haben. Keiner der beiden Protagonisten des aktuellen Konflikts im Jemen kann für die saudische Monarchie von Nutzen sein. Die Ereignisse vom 11. September 2001 haben die saudischen Dschihadisten, allen voran Usama Bin Laden, ins Zentrum des Zeitgeschehens befördert. Selbst innerhalb des Königreichs sind radikalsalafistische Bewegungen heute in manchen Regionen sehr präsent, in der Nähe der jemenitischen Grenze etwa, und vor allem im Al-Nadschd, der Wiege der Sa’ud-Dynastie. Obwohl die Predigten streng überwacht werden, suchen manche Prediger nach Mitteln und Wegen, um ihre Botschaft zu verbreiten, dass das Regime im Dienst der Amerikaner und der Israeli steht. In diesem Kontext vielfacher Herausforderungen schloss sich Saudi-Arabien der Anti-IS -Koalition an, während der Großmufti des Königreichs den selbsternannten Kalifen Abu Bakr Al-Baghdadi beschuldigte, ein Usurpator zu sein, den

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man um jeden Preis bekämpfen müsse. So erklärte der saudiarabische Großmufti im August 2014 im Hinblick auf den Islamischen Staat und Al-Qaida: »Die Ideen des Extremismus, des Radikalismus und des Terrorismus […] haben nichts mit dem Islam zu tun, und (ihre Befürworter) sind die Feinde Nummer eins des Islam.« Er fügte hinzu: »Die Muslime sind die Hauptopfer dieses Extremismus, wie an den Verbrechen des sogenannten Islamischen Staates, Al-Qaidas und der mit ihnen verbündeten Gruppen zu sehen ist«, um abschließend einen Koranvers zu zitieren, in dem dazu aufgerufen wird, die Urheber von Taten, die dem Islam zum Nachteil gereichen, zu »töten«. In der Folge entschloss sich Riad, zahlreiche Bewegungen als »terroristisch« einzustufen, die wenige Jahre, ja selbst noch wenige Monate zuvor die treusten Garanten des wahabitischen Einflusses in der Region gewesen waren. Es scheint, als habe sich das saudische Regime in Rekordzeit der Vermittler entledigt, die bereit waren, in der muslimischen Welt ein politisches System der extremen Gegensätze (zugleich Verbreiter eines wahabitischen Islam in der Welt und Statthalter amerikanischer Interessen in der Region) zu legitimieren, wie es kaum ein anderes Regime auf der Welt mit einer solchen Fülle an Paradoxien verkörpern konnte.

Türkei: Erdoghan tappt in seine eigene Falle Man sollte meinen, dass der türkische Staat, aufgrund seiner institutionellen Stabilität, und das als »gemäßigt« geltende islamische Regime Recep Tayyip Erdoghans, aufgrund seiner Beliebtheit bei Volk und Wählern, besser gewappnet seien als ihre arabischen Nachbarstaaten, um den vom Aufstieg des Is-

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lamischen Staates ausgelösten Turbulenzen in der Region zu widerstehen. Doch selbst die Türkei bekommt, wenn auch in keinem mit dem Fiasko mancher arabischer Staaten vergleichbaren Maße, die Auswirkungen der »Falle des Kalifats« und der mit ihr verbundenen gefährlichen Tendenz zur Konfessionalisierung der politischen Probleme in der Region zu spüren. Die Regierungsübernahme der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) markierte 2002 einen Bruch im Umgang des türkischen Staates mit den ethnischen und konfessionellen Minderheiten im eigenen Land. Während der 2000er Jahre war die Regierung, zum Teil auf Druck Europas, den Kurden entgegengekommen und hatte eine Reihe von Forderungen, vor allem im kulturellen Bereich, erfüllt, ohne allerdings je das Wagnis einzugehen, die Kurden offiziell anzuerkennen, um die in dieser Frage höchst empfindliche Armee nicht zu brüskieren. Eine weitere bedeutende Minderheit profitierte von dieser Öffnungspolitik: die Aleviten, die 15 bis 20 Prozent Prozent der Bevölkerung stellen und nicht mit den syrischen Alawiten zu verwechseln sind, auch wenn es viele gemeinsame Züge zwischen beiden Sekten gibt, die aus der Schi’a hervorgegangen sind und gnostische, sufistische, synkretistische und, im Falle des Alevitentums, sogar schamanistische Elemente vereinen. Die Alawiten sind allerdings Araber, die Aleviten hingegen zu 80 Prozent Türken und zu 20 Prozent Kurden. Wie viele Minderheiten im Nahen Osten fühlten sich auch die Aleviten von Ideologien angesprochen, die ihnen die rechtliche Gleichstellung im Rahmen einer für alle geltenden Staatsbürgerschaft zu verheißen schienen. So tendierte die alevitische Gemeinde lange zu einer progressiven Version des säkularen türkischen Nationalismus, was sie zu einer Stütze der türkischen Linken und der Gewerkschaftsbewe-

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gung machte. Die Aleviten bekannten sich in ihrer großen Mehrheit zum Kemalismus, ohne mit Kritik an dessen autoritären Tendenzen zu sparen. Doch ab den 1980er Jahren machte sich bei ihnen ein ähnlicher Trend bemerkbar wie bei allen anderen Gemeinschaften der Region, nämlich das allmähliche Schwinden säkularer Ideale und eine partielle Rückkehr zum Glauben, was sich darin äußerte, dass eine Anzahl identitärer Forderungen in den Vordergrund rückten. Die Aleviten kritisieren die Schwierigkeit, anerkannte Orte der Religionsausübung zugestanden zu bekommen, und wehren sich gegen die Pflicht, am sunnitischen Islamunterricht an Schulen teilzunehmen (von dem die Christen in der Türkei befreit sind), da sie offiziell dem vorherrschenden sunnitischen Islam subsumiert werden. Sie fordern ferner eine Reform des Dyanet, des Präsidiums für Religionsangelegenheiten, entweder um eine eigene alevitische Abteilung zu erhalten (die somit unter Kontrolle des Staates stünde) oder um die Rolle dieser Institution zu reduzieren. Unter der AKP-Regierung fanden erstmals, bis hinein ins Parlament, öffentliche Debatten über die religiöse Identität der Türkei statt, und die Frage nach der Legitimität der alevitischen Religion und Glaubenspraxis wurde öffentlich gestellt und diskutiert – in dem Wissen, dass es sich dabei insofern um eine besonders komplizierte Frage handelt, als sich nicht einmal die Aleviten untereinander darauf einigen können, ob sie überhaupt Muslime, nämlich ein Zweig der Schi’a, oder doch etwas anderes sind. In ihrer ersten, »liberalen« Phase trat die AKP also dafür ein, mit der kulturellen Uniformität des Kemalismus zu brechen, sowohl um ihre eigene Version des politischen Islam propagieren zu können als auch um die Brüsseler Forderungen zugunsten des Multikulturalismus zu erfüllen. Doch diese »Pluralisierung« der türkischen Identität konnte nur dazu füh-

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ren, die Gleichsetzung von »Türkentum« und Zugehörigkeit zum sunnitischen Islam infrage zu stellen, eine Gleichsetzung, die im Kemalismus, ungeachtet seiner laizistischen Fassade, explizit vorgesehen ist. Und die aufstrebenden muslimischen Eliten, die im Windschatten Erdoghans an die Macht gelangt waren, mussten diese Öffnung insofern mit gemischten Gefühlen betrachten, als ihre konservativen Neigungen – im Einklang mit denen eines Gutteils der Gesellschaft – sie argwöhnen ließen, der Multikulturalismus sei nichts anderes als eine Neuausgabe der klassischen Strategie der Europäer und des Westens, die Minderheiten im Nahen Osten nur zu fördern und zu »schützen«, um die Muslime besser spalten und unterwerfen zu können. Ab 2011 stieß die »Liberalität« der AKP auf zwei große Hindernisse: den Arabischen Frühling und die Gezi-Park-Bewegung, die sich 2013 aus einer Protestwelle gegen ein umstrittenes Bauprojekt im Zentrum Istanbuls entwickelte und die Frustration weiter Teile der Gesellschaft über den zunehmenden Autoritarismus der AKP und insbesondere Recep Erdoghans zum Ausdruck brachte. Auf diplomatischer Ebene verfolgte die AKP im Umgang mit den Staaten der Region zunächst eine Strategie, die sich von der traditionellen Politik des Kemalismus insofern unterschied, als sie sich den östlichen Nachbarn gegenüber öffnete und ihre Beziehungen zur arabischen Welt deutlich ausbaute – übrigens auch zu Irakisch-Kurdistan, in das von türkischer Seite massiv investiert wurde. In den 2000er Jahren waren die Beziehungen zum Assad-Regime besonders herzlich, und Aleppo verwandelte sich praktisch in ein Zentrum der türkischen Wirtschaft. Mit den arabischen Aufständen änderte sich die Lage von Grund auf. Die AKP hegte nunmehr den Traum, eine Art muslimischer Mentor des Arabischen Frühlings zu werden. Umso schmerzhafter war das Erwachen.

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Gleich in der Anfangsphase des syrischen Aufstands nahm die AKP Kontakt zur Opposition auf und verdammte das Assad-Regime in Grund und Boden, während sich zur selben Zeit ihre Beziehungen zur schiitischen Mehrheitsregierung in Bagdad verschlechterten. Diese Parteinahme war vor allem Ausdruck einer konfessionellen Voreingenommenheit, die dazu führte, dass Ankara wahllos eine ganze Reihe von Bewegungen unterstützte, die sich innerhalb der syrischen Opposition auf den sunnitischen Islam beriefen, und das selbst dann noch, als sich die Al-Nusra-Front offiziell zu Al-Qaida bekannte. Angesichts der bedrohlichen Eskalation des Syrienkonflikts wurde diese Strategie in der Türkei immer heftiger kritisiert, nicht nur von der Armee und den Kemalisten, sondern von einem Großteil der AKP-Wähler selbst. Allen Umfragen zufolge verurteilten mehr als 60 Prozent der Türken die Politik Erdoghans im Irak und in Syrien, und die Anwesenheit von mehr als zwei Millionen syrischen Flüchtlingen auf türkischem Boden erzeugte wachsende Spannungen und beförderte ein Gefühl der Verbitterung. Dieses Gefühl ist besonders ausgeprägt in der Region Inskanderun (Provinz Hatay), wo die arabische und alawitische Mehrheit der örtlichen Bevölkerung Baschar Al-Assad unterstützt und die syrischen Flüchtlinge als potenzielle Agenten der dschihadistischen Bewegungen betrachtet. Im Grunde besteht das Problem der AKP darin, dass sie glaubte, den Prozess der ethnisch-religiösen Aufspaltung des Syrienkonflikts beherrschen zu können, der nicht nur ernsthafte Probleme an den Grenzen des Landes entstehen lässt, sondern mittlerweile auf das politische Feld der Türkei selbst übergegriffen hat. Als es anlässlich der Demonstrationen zum Erhalt des Gezi-Parks 2013 zu gewalttätigen Ausschreitungen kam, stellten die staatlichen Medien die Aleviten an den Pran-

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ger, wobei dieses Wort übrigens auf Türkisch ausgesprochen wurde, als handele es sich um Alawiten, und die Istanbuler Polizei veröffentlichte Berichte, in denen sie mit verblüffender Genauigkeit den Anteil der Aleviten an den Gezi-Park-Demonstranten auf 78 Prozent bezifferte. Die unterschwellige Botschaft ist klar: Die Protestierenden sind nichts als Renegaten des Islam, Apostaten, Agenten Baschar Al-Assads und Verräter an der türkischen Nation. Die alevitische Gemeinde als solche wäre die fünfte Kolonne einer Verschwörung ausländischer Mächte, die Erdoghan ausdrücklich mit Israel, dem Westen, den ägyptischen Generälen und dem »Alawitenregime« von Damaskus in Verbindung bringt. Diese Kontaminierung des politischen Lebens in der Türkei ist nicht nur konfessioneller, sondern auch ethnischer Natur. Die AKP wiegte sich in der Illusion, die Existenz der Kurden beim irakischen Nachbarn in vollem Umfang anerkennen zu können, ohne sie im eigenen Land anerkennen zu müssen, trotz eines verheißungsvollen Auftakts zu Friedensverhandlungen mit der PKK (Kurdische Arbeiterpartei, die wichtigste Kurdenpartei in der Türkei). Im Oktober/November 2014 war Ankara, auf internationalen Druck hin, aber auch durch eine bisweilen gewalttätige Protestwelle der kurdischen Bevölkerung in der Türkei, gezwungen, kurdischen Peschmerga aus dem Irak, die ihren kurdischen Brüdern in der vom Islamischen Staat belagerten syrischen Stadt Kobane zur Hilfe eilen wollten, das Passieren seines Territoriums zu gestatten. Eine solche Verletzung der nationalen Souveränität, zumal in einem Land, das in dieser Hinsicht traditionell sehr empfindlich ist, impliziert eine stillschweigende Anerkennung der Kurden in Syrien, aber ebenso in der Türkei, eine unfreiwillige zwar, aber zweifellos eine mit unumkehrbaren Folgen.

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Das ist der PKK-Führung nicht verborgen geblieben. Sie nutzt die gravierenden Probleme der türkischen Syrien- und Irakpolitik zu ihren Gunsten, indem sie sich sogleich in die Gönnerrolle wirft und der Regierung in Ankara ein an gewisse Bedingungen geknüpftes Bündnis zum Schutz der Türkei gegen den Islamischen Staat vorschlägt. Was so viel heißt wie: »Wir stehen auf Seiten unserer Brüder von der PYD (Partei der demokratischen Union, das syrische Pendant der türkischen PKK ) in Syrien und der Regierung in Ankara, um der vom Islamischen Staat ausgehenden Gefahr zu begegnen; wir kämpfen folglich im selben Lager.« Doch um sicherzugehen, dass es wirklich dasselbe Lager ist, müsste die türkische Regierung genau das tun, wozu sie sich während des ganzen bisherigen Syrienkonflikts nicht hat durchringen können: ihren wahren Feind zu benennen. Diese hartnäckige Weigerung, angesichts zweier Gefahren einer den Vorrang zu geben, erklärt, warum Ankara trotz westlichen Drucks nicht bereit ist, einer Anti-IS -Koalition beizutreten, von der die AKP fürchtet, dass sie nur den Kurden nützt. Sie erklärt auch, warum die türkischen Behörden lange zusahen, wie ihre Grenze zu Syrien immer durchlässiger wurde (wir verfügen über Zeugnisse junger französischer Dschihadisten, die beteuern, niemals so leicht eine Grenze überquert zu haben), wobei sie die Augen vor den ins Land einsickernden Dschihadisten verschlossen und sich der Illusion hingaben, sie könnten die Situation kontrollieren, indem sie je nach Interessenlage mal die eine, mal die andere der Aufstandsparteien unterstützen. Diese Politik des bewussten »Zuschauens und Geschehenlassens« zielte darauf ab, zugleich das Assad-Regime und die Kurden zu schwächen, ebenso wie die anfängliche Passivität angesichts der Belagerung von Kobane dem Wunsch entsprach, Kurden und IS -Dschihadisten sich

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gegenseitig abschlachten zu lassen, in der Annahme, daraus doppelten Nutzen ziehen zu können. Doch bei diesem Machtpoker hat die AKP fast alle Partien verloren. Heute gehen der türkischen Regierung in der arabischen Welt die Verbündeten aus, nachdem sie sich zu lange in der Rolle des Zauberlehrlings versucht hat. Ihre Beziehungen zur Freien Syrischen Armee sind miserabel – sie haben sich deutlich verschlechtert, seitdem Letztere zugunsten der Kurden in Kobane intervenierte –, und sie befindet sich mittlerweile, wenngleich mit Verzögerung, im offenen Konflikt mit der Al-Nusra-Front und dem Islamischen Staat. Als potenzielle Bündnispartner stehen Ankara nur noch wenige Vertreter aus dem Umfeld der Muslimbrüder zur Verfügung, die aber vor Ort allemal in der Minderheit und im Vergleich zu den diversen salafistischen Milizen sehr geschwächt sind. Die AKP hatte geglaubt, die Religionskonflikte in der arabischen Welt zu ihrem Vorteil nutzen zu können, indem sie sich auf die sunnitischen Gemeinden stützt, um ihren Einfluss zu vergrößern, wurde aber von der Tatsache überrollt, dass diese Konflikte mittlerweile auf ihrem eigenen Territorium angelangt sind und die sunnitische »Nische« vom Islamischen Staat besetzt ist. Letzterer hat die Türkei von einem wesentlichen Teil ihrer lokalen Basis abgeschnitten, nämlich der großen Mehrheit der sunnitischen Araber im Irak und einem Großteil der Sunniten in Syrien. Obendrein hat der Militärputsch Generals Al-Sisis in Ägypten jede Hoffnung Ankaras auf eine Führungsrolle in der islamischen Welt zerstört. Die Türkei, die ohnehin der Arroganz und der neo-osmanischen Überheblichkeit verdächtigt wird, hat ihre Fähigkeit, die arabischen Zivilgesellschaften anzusprechen, weitgehend verloren. Daher die Isoliertheit und der Rückgang der türkischen Diplomatie, die einen auffälligen Kontrast zu ihrer Dynamik in

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den 2000er Jahren bilden. Ankara versucht inzwischen, mit den Zielen der Anti-IS -Koalition konform zu gehen, widersetzt sich aber trotz allem einer direkten militärischen Intervention in Syrien und dem Irak. Denn für die türkische Regierung genießt nach wie vor der Sturz Baschar Al Assads oberste Priorität, während die Koalition ihr Hauptziel klar benannt hat: den Islamischen Staat zu besiegen, und sei es um den Preis einer Aussöhnung mit dem Iran, wenn nicht gar mit dem Regime in Damaskus. Die »Falle des Kalifats« hat in dem Sinne zugeschnappt, als der Traum der AKP, eine neo-osmanische Einflusssphäre zu begründen, zur Demaskierung der sträflichen Zweideutigkeit der türkischen Strategie und zur faktischen Rekonfessionalisierung der Innen- und Außenpolitik Ankaras führte. Auch in dieser Hinsicht bemühte sich der Islamische Staat nach Kräften, das Gift des Konfessionalismus so weit wie möglich zu streuen. Das war beispielsweise im August 2014, anlässlich der Vertreibung der Jesiden vom Dschabal Sindschar, zu erkennen. Ein Teil von ihnen musste in türkischen Flüchtlingslagern aufgenommen werden, was einen Streit in der türkischen Presse auslöste und führende Köpfe der AKP zu der Aussage verleitete, sie seien wohl bereit, Christen und Muslime auf türkischem Boden zu dulden, »aber keine Teufelsanbeter«. Der Islamische Staat ist unbestritten zu einem wichtigen Akteur und wesentlichen Störenfried im politischen Leben der Türkei geworden.

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6 Die Falle des Kalifats Die relative Konsolidierung des Islamischen Staates in den sunnitischen Gebieten des Irak und vor allem seine erfolgreiche »Flucht nach vorn«, die es ihm gestattete, der Gefahr ethnischer Abschottung zu entgehen, wäre allerdings nicht möglich gewesen ohne die gleichzeitige Ausdehnung des von Dschihadisten kontrollierten Raumes auf einem vom Krieg gebeutelten syrischen Territorium. Das Schicksal des Irak ist inzwischen mit dem syrischen eng verknüpft. Es empfiehlt sich also, auf diese Expansionsdynamik zurückzukommen, bevor wir die Organisations- und Entscheidungsstrukturen untersuchen, die dieser im Aufbau befindliche Staat in Syrien wie im Irak umzusetzen versucht.

Syrien, Irak: ein gleichzeitiger Vormarsch Seitdem er 2013 begonnen hatte, sich von der Al-Nusra-Front abzugrenzen, verfolgte der Islamische Staat in Syrien eine Eroberungsstrategie, die sich insbesondere gegen bereits von der Freien Syrischen Armee oder verschiedenen salafistischen

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Der Nahe Osten und der Islamische Staat

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Milizen besetzte Regionen richtete. So im Fall der Al-NusraFront, die im März 2013 Al-Raqqa eingenommen hatte, bis sie zwischen Dezember 2013 und Januar 2014 vom IS aus der Stadt vertrieben wurde. Der IS nutzte die Gelegenheit, um die Truppen der rivalisierenden Miliz teilweise abzuwerben, eine Strategie, die er vielerorts an der syrischen Front wiederholte. Der Islamische Staat besetzte bald das gesamte Euphrattal, von Abu Kamal über Deir Al-Zor bis Al-Raqqa, in einem Vorstoß, der praktisch zeitgleich mit der Einnahme Falludschas im Irak im Januar 2014 erfolgte. Während bis Juni 2014 der syrische Vormarsch noch auf einem »leopardenfellartigen« Territorium vonstattenging, waren parallel dazu die Konsolidierung des dschihadistischen Territoriums in den sunnitischen Regionen des Irak und eine Homogenisierung der IS -kontrollierten Zonen in Syrien zu beobachten. Das äußerte sich vor allem in der Besetzung der meisten irakisch-syrischen Grenzposten, in den Provinzen Al-Anbar und Ninawa auf irakischer Seite, Deir Al-Zor, Homs und Al-Hasaka auf syrischer Seite (ein Teil dieser Grenzposten wurde allerdings von den irakischen Kurden und der irakischen Armee im Dezember 2014 zurückerobert). Man kann sagen, dass es Ende 2014 in Syrien faktisch zwei homogene, relativ stabile Territorien gibt, eines, das vom Assad-Regime, das andere, das vom Islamischen Staat kontrolliert wird. Das übrige Land unterliegt einer extremen Zersplitterung, mit Grenzen, die sich ständig ändern, und Enklaven, die unaufhörlich von Hand zu Hand wechseln. In Syrien und im Irak führte der Islamische Staat zwei nahezu gleichzeitige Offensiven durch, jedoch mit verschiedener, dem jeweiligen Kriegsgeschehen angepasster Strategie. Auf syrischer Seite erfolgte diese Offensive zugleich über das Eindringen irakischer Dschihadisten auf syrisches Territo-

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rium und durch Rekrutierung syrischer Dschihadisten. Man findet heute an der Spitze der IS -Hierarchie in Syrien sowohl Syrer als auch Iraker, dennoch ist eine gewisse Tendenz der Iraker zu beobachten, sich als Führer einer Bewegung zu präsentieren, der die Syrer sich einzufügen haben. Nach Zeugenaussagen, die uns aus Al-Raqqa vorliegen, wurde die Stadt von zumeist ausländischen Milizionären – darunter vor allem vielen Tunesiern – besetzt, die in der Regel unter dem Kommando von Irakern stehen. Die gleiche hegemoniale Logik äußerte sich zum Beispiel in der Tatsache, dass Abu Bakr Al-Baghdadi am 9. April 2013 die Al-Nusra-Front einseitig zum syrischen Zweig des Islamischen Staates im Irak und der Levante erklärte, bis die syrische Führung der Al-Nusra-Front diese erzwungene Loyalität aufkündigte und im Juni des gleichen Jahres ihr Treuebekenntnis zu Al-Qaida erneuerte. Ungeachtet dieses gescheiterten »Übernahmeversuchs« und der Feindschaft zwischen den Führern beider Gruppierungen1 ist vor Ort eine konstante Abwanderung von Teilen der Al-NusraTruppen und anderer salafistischer Milizen zum Islamischen Staat zu verzeichnen. Dafür gibt es gute Gründe. Denn in dem Augenblick, als einer der konkurrierenden Akteure im salafistisch-dschihadistischen Lager die Errichtung des Kalifats verkündete (29. Juni 2014), setzte er damit eine Pro- oder Contra-Dynamik in Gang. Und insofern das Kalifat nicht einfach aus einer versteckten Höhle in Afghanistan heraus oder auf einer Salafisten-Homepage im Internet ausgerufen wurde, sondern über ein Minimum an territorialer Verankerung verfügte, handelte

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Im Irak ist Al-Qaida, im Unterschied zu Syrien, Teil des Islamischen Staates.

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es sich um weit mehr als einen bloß symbolischen Gewaltstreich: Man hatte es fortan mit einer Realität zu tun, deren Anziehungskraft um ein Vielfaches höher lag. Was den Islamischen Staat von allen anderen dschihadistischen Bewegungen unterscheidet, ist gerade seine Entschlossenheit, die Scharia auf einem bestimmten, mit eigenem Staat und eigenen Institutionen versehenen Territorium anzuwenden. Er vollzieht damit insofern eine grundlegende Abkehr von der Al-Qaida-Praxis, als er den von ihm umworbenen sunnitischen Gemeinden eine »nach vorn gerichtete Lösung« bietet, während Al-Qaida nur mit Terrorismus und ewigem Krieg aufwarten kann – und der sehr fernen und wenig realistischen Aussicht auf die Errichtung des Kalifats.

Der erklärte Wille, einen Staat aufzubauen Im Juni 2014 wurde der »Islamische Staat im Irak und der Levante« zum »Islamischen Staat«. Wenn der IS auch Staatsgrenzen ablehnt, so beachtet er doch in der Praxis sehr realistisch die ethnisch-religiösen Grenzen, wie die Tatsache beweist, dass er darauf verzichtete, schiitische und kurdische Gebiete im Irak zu erobern. Vor Ort sind die meisten der Kämpfer, auf die er sich stützt, Stammesangehörige, doch zählen die Truppen des Kalifats auch einen hohen Anteil ausländischer Kämpfer, Araber, Tschetschenen aus Zentralasien, Jugendliche aus westlichen Ländern, darunter eine kleine Zahl von Konvertiten. Die circa 30000 Mann starke Armee im Irak und in Syrien soll zu einem Drittel aus Ausländern bestehen. Zwar ist sicher, dass der Islamische Staat eine Reihe von Ämtern eingerichtet hat, die Ansätze eines modernen Staates

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verkörpern, doch muss die Frage, wer die eigentlichen Führer sind, vorerst offen bleiben. Tatsächlich kann heute niemand ernsthaft überprüfen, ob Abu Bakr Al-Baghdadi der wirkliche Machthaber ist. Die einzige andere Person, neben dem Kalifen, die sich in den Propagandamedien des IS namentlich äußert, ist Abu Muhammad Al-Adnani aus der syrischen Provinz Idlib, der offizielle Sprecher der Gruppierung2 . Doch alles, was man über den konkreten Aufbau des Islamischen Staates weiß, gründet sich auf lückenhafte Beobachtungen und Mutmaßungen von Forschern, Journalisten oder Geheimdiensten, die mehr oder weniger weit vom Geschehen entfernt sind. Ebenso wenig weiß man, ob es Machtkämpfe und interne Differenzen im IS gibt, doch hatte die Ausrufung des Kalifats offenkundig auch die Funktion, nach außen hin symbolisch die Einheit der Kommandogewalt (nach dem Bild der Einheit Gottes) zu demonstrieren. Tatsächlich ist dieses Bild makelloser Einheit, dass der IS gerne von sich vermittelt, bisher von keinem der verschiedenen Protagonisten innerhalb der Organisation dementiert worden, weder von potenziellen internen Fraktionen noch von den doch oft aufsässigen Stämmen, auf die er sich im Irak und in der Region Deir Al-Zor stützt. Zwar hat der Islamische Staat in Al-Anbar, Al-Raqqa und Deir Al-Zor Angehörige von Stammesgruppen massakriert, doch handelte es dabei nicht um abtrünnige Parteigänger der Dschihadisten. Diese rebellischen Stämme waren dem IS entweder von vornherein mit offener Feindseligkeit begegnet und hatten sich an den »Erweckungsräten« im Irak beteiligt, oder sie waren von alters her Verbündete des Assad-Regimes. Es ist also einer der großen Erfolge des IS , dass er

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Abu Muhammad Al-Adnani starb 2016.

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einstweilen, wie es scheint, noch keine nennenswerten Abspaltungen hat hinnehmen müssen, weder an der Basis noch in der Führungsriege.

Ein zukünftiger Staat? Als erster salafistischer Staat, der diese Bezeichnung für sich in Anspruch nahm, führte der Islamische Staat zahlreiche Neuerungen ein. Zwar gibt es im Islamischen Staat keine Ministerien im eigentlichen Sinne, doch findet man eine funktionale Arbeitsteilung und spezialisierte Verwaltungsabteilungen. Schon die Namen dieser Ämter und Abteilungen beschwören zugleich eine imaginäre Wiedergeburt der ersten islamischen Staaten aus der Ära der Gefährten des Propheten und die bürokratische Spezialisierung eines modernen Staates herauf. Das Territorium ist in sieben Provinzverwaltungen unterteilt, von der Provinz Aleppo bis zur Provinz Kirkuk (da der IS einen Teil dieser Region kontrolliert), die sich bezeichnenderweise nicht immer an bestehende Staatsgrenzen halten. Am bemerkenswertesten im Sinne dieser grenzüberschreitenden Symbolik ist das Wilaia Al-Firat (die Euphratprovinz), das die syrische Provinz Deir Al-Zor mit einem Teil der irakischen Provinz Al-Anbar vereint. Eine erkennbare Justizverwaltung beruht auf der Ernennung religiöser Richter, der Qadis, auf dem gesamten Gebiet des Islamischen Staates. Diese Qadis verfügen über eine Polizei, die die Einhaltung der auf Grundlage ihrer Sicht der Scharia getroffenen Entscheidungen überwacht. Im Irak sind diese Richter oft ehemalige sunnitische Qadis, die sich dem Islamischen Staat zur Verfügung gestellt haben, sowie Teile des

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bereits vorhandenen religiösen Establishments – dessen Unterwanderung durch Salafisten schon zu Zeiten Saddam Husseins begann. Inzwischen ist eine zunehmende Durchdringung zwischen diesen Exbeamten des ba’athistischen Regimes und den dschihadistischen Aufständischen zu verzeichnen. Eine weitere Behörde, die für die Einhaltung der Hisba sorgt, orientiert sich am Vorbild der von Kalif Omar (634 – 644) eingeführten Muhtasibin. Das waren seinerzeit Beamte, denen die Aufgabe zukam, die Märkte zu beaufsichtigen, Maße und Gewichte zu kontrollieren und ganz allgemein über das ordentliche Betragen aller in der Öffentlichkeit zu wachen sowie gegebenenfalls Übertretungen zu ahnden, gemäß der koranischen Norm, auf die sich die Hisba gründet: »Gebieten, was rechtens, und verbieten, was verwerflich ist.« Heute handelt es sich um eine »Sittenpolizei«, die zu kontrollieren hat, ob das Verhalten mit den drastischen Normen des Islamischen Staates übereinstimmt: Geschlechtertrennung, Vollverschleierung der Frauen in der Öffentlichkeit, Verbot von Musik und Tanz, Alkoholverbot usw. Die Qadis und Muhtasibin werden auch in Korruptionsangelegenheiten aktiv. Der berühmteste Fall ist der eines IS -Führers, eines Syrers namens Abu Muntazir, der wegen »Diebstahl und Veruntreuung von Geldern« enthauptet und gekreuzigt wurde – selbst wenn man natürlich nicht ausschließen kann, dass sich hinter dieser Strafe politische Differenzen verbargen. Die Sittenpolizei übt auch eine sehr strenge Preiskontrolle auf den Märkten aus, und es sind zahlreiche Hinrichtungen wegen »Spekulation und Wucher« dokumentiert. Geheime Berichte aus Al-Raqqa besagen, dass die weiblichen Al-Khansa’a-Brigaden (benannt nach einer legendären Poetin aus dem 7. Jahrhundert, die zum Islam konvertierte und den Beinamen »Mutter der Märtyrer« trägt), die darüber wa-

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chen sollen, dass die jungen Frauen in der Stadt sich an die islamischen Kleidungs- und Verhaltensregeln halten, überwiegend aus jungen Westlerinnen bestehen. Wie eine junge Syrerin berichtet: »Wenn sie uns auf der Straße anhalten, wissen wir meistens nicht, was sie uns sagen wollen, da sie nicht oder kaum Arabisch sprechen.« Diese Milizionärinnen kümmern sich auch um die Einhaltung der strikten Geschlechtertrennung in Verkehrsmitteln, an Schulen und öffentlichen Orten, da jedes Miteinander der Geschlechter verboten ist und streng bestraft wird. Frauen, die allein das Haus verlassen, müssen eine Ausgeherlaubnis ihres Vormunds (Vater, Bruder usw.) bei sich tragen. Der Islamische Staat besitzt keine Legislative im westlichen Sinne des Wortes. Da die Scharia allein genügen soll, alle Probleme des Lebens zu regeln, bedarf es keiner weiteren Gesetze. Ersatz für eine gesetzgebende Gewalt ist die Madschlis Al-Schura, eine beratende Versammlung, die jedoch nicht nach dem Mehrheitsprinzip funktioniert, sodass sie mit einem Parlament islamischen Typs, wie es im Iran existiert, nichts zu tun hat. Aus praktischen Gründen gibt es eine Madschlis im Irak und eine in Syrien. Auf irakischer Seite sitzen dort eine Reihe von Predigern und Moscheevorstehern aus der Saddam-Hussein-Ära sowie Stammesführer und Honoratioren großstädtischer Clans. Ferner findet man in der Organisation ehemalige Offiziere der Armee Saddam Husseins, von denen sich manche bereits vor dem Sturz des Ba’ath-Regimes im Jahr 2003 zum Salafismus bekannten, während andere sich später dem Islamischen Staat anschlossen, getrieben von einer je unterschiedlichen Mischung aus Opportunismus und aufrichtiger Überzeugung. Man darf nicht vergessen, dass es Saddam persönlich war, der dieser Rekonfessionalisierung ehemaliger Ba’athisten ab Ende der 1970er Jahre den Boden bereitete. Anlässlich des

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Krieges gegen den Iran begann der irakische Diktator, sich als Verteidiger der arabischen Identität und des sunnitischen Islam gegen die »persische Häresie« der Schiiten zu gebärden. Die islamischen Töne, die das Ba’ath-Regime seinerzeit anschlug, berühren sich übrigens manchmal mit der heutigen Propaganda des Islamischen Staates – so bezog sich Saddam ebenfalls lobend auf Al-Khansa’a, jene zum Islam konvertierte Dichterin, deren Söhne allesamt in der Schlacht von Kadesia (636) gegen die polytheistischen Perser fielen und der die sehr kosmopolitisch zusammengesetzte Sittenpolizei der AlKhansa’a-Brigade ihren Namen verdankt. Die zum dschihadistischen Salafismus bekehrten ehemaligen Ba’ath-Offiziere spielen bekanntlich eine wichtige Rolle in der Armee und im Geheimdienst, zwei lebenswichtigen Organen des Islamischen Staates. Ein weiterer Schlüsselsektor des im Entstehen begriffenen Staatsapparats ist die Verwaltung der Finanzmittel, ob es sich dabei um die Einnahmen aus dem Erdölschmuggel, das Raubgut aus den Banken – vor allem in Mossul – oder die zahlreichen Privatspenden handelt, die nach wie vor aus Saudi-Arabien und Ländern wie Katar, Kuwait und den Emiraten eingehen. Was die islamischen Steuern betrifft, deren Anfänge und Hintergründe wir im ersten Kapitel untersucht haben, so bestehen sie in regelmäßigen Abgaben, die auf formalisierten Verfahren und Bemessungsgrundlagen basieren sollen. Die Erziehung, die natürlich in erster Linie darauf abzielt, Menschen zu guten Muslimen zu machen, wurde vom Islamischen Staat zur vorrangigen Aufgabe erklärt. Dieser betont in seinen Medien und Propagandaorganen die Notwendigkeit, Schulen und Universitäten wiederzueröffnen. Wir verfügen allerdings nur über spärliche Informationen, was diesbezüglich in Mossul oder Al-Raqqa geschieht. Was man

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weiß, ist, dass bei der Wiederöffnung von Schulen Fächer wie Philosophie, Geschichte und Sozialkunde systematisch gestrichen wurden. Auch der Kunstunterricht gilt als Sakrileg, weil er zu eng mit der Darstellung der menschlichen Gestalt verbunden ist. Musik und Sport sind ebenfalls verboten. Ein Großteil der Zeit entfällt auf den Koranunterricht und das Erlernen der Hadithe. Die Schulen, die in Al-Raqqa noch in Betrieb sind, verfügen über Lehrbücher, die, an saudische Vorbilder angelehnt, keinerlei Fotos oder Abbildungen von Menschen enthalten. Anfangs ermutigte der Islamische Staat das örtliche Lehrpersonal, im Amt zu bleiben, und einige Monate lang wurden sogar auf syrischer Seite von den Behörden in Damaskus die Löhne weitergezahlt. Doch inzwischen ist vor allem aufgrund des Krieges und der Luftschläge der Koalition der Schulunterricht in Al-Raqqa stark eingeschränkt. Hingegen haben die Universitäten in Mossul ihren Betrieb wieder aufgenommen. Ein Teil der Dozenten, die nicht nach Kurdistan oder Bagdad geflohen sind, haben sich bereit erklärt, ihre Fächer zu unterrichten, wenn sie die Erlaubnis erhalten. Doch auch die Naturwissenschaften bleiben vom strengen und wachsamen Auge des Islamischen Staates nicht verschont, insbesondere die Darwin’sche Biologie sowie manche chemischen und physikalischen Theorien. Diese drastische Reduzierung des Bildungsbereichs läuft zwar mittelfristig Gefahr, für den IS problematisch zu werden, doch in der aktuellen Phase des revolutionären Umbruchs gilt die vordringliche Sorge nicht wirklich den kommenden Abiturprüfungen. Was Syrien betrifft, so ist bürgerkriegsbedingt das Schulwesen in den restlichen Landesteilen weitgehend zusammengebrochen, sodass Beobachter schon von der Gefahr sprechen, dass in Syrien eine ganze Generation junger Analphabeten heranwächst.

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Propaganda und Kommunikation: auf hohem Niveau Ein ausschlaggebender Faktor für den Erfolg des Islamischen Staates ist sein Medienapparat, insbesondere sein unter dem Namen Al-Furqan firmierendes Kommunikationsteam im Internet. Dieses Team verbreitet spektakuläre Videos von Hinrichtungen und Enthauptungen von »Feinden« und »Kriminellen«, Steinigungen von Ehebrechern, Morden an Homosexuellen, Massenexekutionen, Zerstörung von Kultstätten der »Gottlosigkeit«, wie schiitischen Heiligtümern, Grabmälern von Sufi-Heiligen oder dem Grab des biblischen Propheten Jona in Mossul, das gesprengt wurde. Ganz zu schweigen von der vorsätzlichen Plünderung mancher archäologischer Fundstätten … An dem aufwendig produzierten Online-Magazin des Islamischen Staates, Dabiq, sind offensichtlich englische Muttersprachler als Redakteure sowie talentierte Profilayouter beteiligt. Der Titel hat natürlich eine symbolische Bedeutung: Dabiq ist ein Dorf nördlich von Aleppo, nahe der türkischen Grenze, wo, mehreren Hadithen zufolge, die endzeitliche Entscheidungsschlacht im Krieg der Zivilisationen geschlagen wird, in der die Muslime die christlichen Heere endgültig besiegen und anschließend Byzanz und Rom erobern werden. Die Kommunikationspolitik des Islamischen Staates beruht auf einer ausgeklügelten Mischung aus sensationsheischender Reklame, bei der die von ihm begangenen Verbrechen geschickt in Szene gesetzt werden, und strikter Geheimhaltung, oder vielmehr auf der Trennung zwischen universeller Ansprache und dem Beschweigen lokaler Angelegenheiten, selbst wenn diese sich ganz in seinem Sinne entwickeln. Gegenüber den Querelen der zu Spaltung und Dissens neigenden

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polytheistischen Stämme klingt der strikte islamische Monotheismus wie ein Wunsch nach Einigung, fernab der Gefahren lokaler oder tribaler Bündnisse. So war die große Versammlung, die Ende Juni 2014 in Mossul stattfand und auf der eine Reihe von Bezirksvorstehern und Clanoberhäuptern schworen, dass sie die Rückkehr der irakischen Polizei und Armee in die Stadt niemals zulassen werden, kein Gegenstand irgendwelcher Inszenierungen in den Propagandamedien des Islamischen Staates. Ebenso wenig ist beispielsweise zu erkennen, ob die über das Internet verbreiteten Bilder öffentlicher Hinrichtungen in Syrien oder dem Irak aufgenommen wurden. Diese makaberen Inszenierungen scheinen der rigoros bilderfeindlichen Einstellung des salafistischen Puritanismus zu widersprechen. In Wirklichkeit gehorchen sie einer genau durchdachten und konsequenten ikonografischen Strategie des Islamischen Staates. Zum Beispiel zeigen die Medien der Organisation nie ein Porträt des Kalifen. Die Predigt Abu Bakr Al-Baghdadis in Mossul wurde zwar auf YouTube verbreitet, aber man sieht ihn nie von Nahem – es ist die Institution des Kalifats selbst, die von der Kanzel herab spricht. Die einzigen menschlichen Figuren sind nicht näher erkennbare Kämpferscharen oder eben die Porträts von »Ungläubigen«. Denn wo es um die verachteten Feinde geht, wie Barack Obama, François Hollande oder andere, scheut man sich nicht, sie in Großaufnahme zu zeigen …

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Die Behandlung von Minderheiten als Falle Ein Aspekt der IS -»Innen«politik verdient nähere Aufmerksamkeit, gerade weil die Dämonisierung dieser Organisation – für die die Dschihadisten mit ihrer bewussten Provokationsstrategie selbst gesorgt haben – zu Missverständnissen führen kann: die Behandlung von Minderheiten. Selbstverständlich reagiert der Westen äußerst sensibel auf das Schicksal der Christen, auch wenn dieses Problem bisweilen falsch interpretiert wird. Es geht nicht darum, das tragische Los der ältesten christlichen Gemeinden der Welt zu beschönigen, sondern um die Feststellung, dass der Umgang des Islamischen Staates mit ihnen bestimmten Regeln gehorcht, so abwegig uns diese auch erscheinen mögen, und dass sich der IS um die Einhaltung dieser Regeln bemüht. Da die Christen Angehörige einer »Buchreligion« sind, haben sie das Recht als »Schutzbefohlene«, als Dhimmis3 , auf dem vom IS kontrollierten Territorium zu bleiben, allerdings unter der Bedingung, dass sie auf gleiche Bürgerrechte verzichten und eine spezielle Steuer, die Dschizja, zahlen. Die islamischen Behörden sind gehalten, ihre Glaubensstätten und ihren Besitz zu respektieren. Bei den Attacken auf den Bischofspalast der katholischen Syrer und eine chaldäische Kathedrale in Mossul scheint es sich eher um unkontrollierte Übergriffe gehandelt zu haben. Tatsächlich hat der Islamische Staat überall dort, wo er auf Christen stieß, diese Regeln angewandt. Er hat ihnen aus-

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»Schutzbefohlene« bezieht sich auf die »Buchreligionen«, die vom Islam als monotheistisch anerkannten Religionsgemeinschaften (Christen, Juden, Sabier und Zoroastrier).

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drücklich anheimgestellt, zwischen der Konversion zum Islam, dem Dhimmi-Status inklusive Zahlung der Dschizja oder dem Exil zu wählen. Wer diese Wahl ablehnte, riskierte sein Leben. In einer Stadt wie Al-Raqqa gab es nur noch wenige Dutzend Christen, und sie benötigten Schutz – in Aleppo wütete der Krieg, und Damaskus war schwer zu erreichen. Sie entschieden sich also zumeist für den Dhimmi-Status und blieben vor Ort. Ihre Glaubensstätten werden im Allgemeinen respektiert, wenngleich unter gewissen Auflagen, denen sie sich wohl oder übel fügen müssen. Die Christen von Mossul, einer Stadt, die mehrere Bischofssitze beherbergt und einen hohen christlichen Bevölkerungsanteil aufweist, trafen eine andere Wahl. Die Bischöfe der verschiedenen christlichen Konfessionen setzten sich zusammen und entschieden gemeinsam, die Bedingungen des Islamischen Staates nicht zu akzeptieren. Somit war das Exil die vorherrschende Option, und die Mossuler Christen flohen in Massen nach Kurdistan. Doch im Gegensatz zu dem, was häufig zu hören ist, kann man nicht behaupten, dass die christlichen Gemeinden der totalen Willkür einer Vernichtungspolitik ausgeliefert wären: Die Regeln, so grausam und widerwärtig sie zweifellos sind, wurden im Großen und Ganzen eingehalten. Inzwischen gibt es keine Christen in Mossul mehr. Hingegen wurde in Bezug auf die Jesiden tatsächlich eine unbarmherzige Ausrottungspolitik betrieben, weil sie vom Islamischen Staat als Ketzer und Abtrünnige betrachtet werden, die sich vom Islam losgesagt haben und folglich nicht in den Vorteil des Dhimmi-Status kommen können. Das ist die rechtlich-theologische Begründung ihrer brutalen Vertreibung und der an ihnen begangenen Gräueltaten, Versklavung inklusive. Auch die Rechtfertigung der letzteren Praxis nimmt für sich in Anspruch, auf die Ursprünge des Islam zu verweisen, der un-

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ter polytheistischen arabischen Gesellschaften entstand, in denen die Sklaverei weit verbreitet war. Tatsächlich gab sich die neue Religion in diesem Kontext einen eher freiheitlichen Anstrich, und die ersten islamischen Rechtsgelehrten versuchten, die Praxis der Sklaverei zu regulieren, in dem Bestreben, sie zu begrenzen. Allerdings legitimierten sie diese damit auch, denn ihre Lehre sah lediglich vor, dass kein Muslim einen anderen versklaven dürfe – die Sklaverei als solche wurde nicht abgeschafft. Allenfalls wurde, neben weiteren Vorbehalten, die dringende Empfehlung ausgesprochen, die eigenen Sklaven gut zu behandeln, oder im Falle ihrer Freilassung die Gunst Allahs in Aussicht gestellt. Tatsächlich blieb die Sklaverei, unter diversen politischen und religiösen Vorwänden, in allen islamischen Reichen eine florierende Praxis, bis zu ihrer Abschaffung im Zuge der von den Osmanen initiierten sogenannten Tanzimat-Reformen (1839 – 1876). Ungeachtet dessen bestanden sklavereiähnliche Zustände lange über dieses Datum hinaus fort, wie die – oben erwähnte – Situation der schiitischen Bauern im Irak oder, noch heute, die Lage vieler Arbeitsmigranten in Saudi-Arabien oder den Golfstaaten bezeugt, ganz zu schweigen von etlichen Ländern der Sahelzone. Heutzutage wird die Sklaverei von offiziellen religiösen Autoritäten wie der Al Azhar verurteilt, aber von dschihadistischen Gruppen, allen voran vom Islamischen Staat, gegen Polytheisten und weitere, manchmal nicht genau definierte Kategorien eingefordert. Die Dschihadisten sehen darin einen dreifachen Nutzen, nämlich zu den vermeintlich urislamischen Prinzipien der Gefährten des Propheten zurückzukehren, »Ungläubige« terrorisieren und den Westen provozieren zu können. Was Frauen und Kinder betrifft, so wurde deren Versklavung in einer Ausgabe der Dabiq unter Berufung auf die in den Frühzeiten des Islam gängige Praxis gerechtfertigt.

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Wie bereits zu Anfang erwähnt, könnte man in der Tat den Eindruck gewinnen, als würde der Islamische Staat regelrecht eine Liste dessen »abarbeiten«, was die westliche Öffentlichkeit alles verabscheuenswert findet: Verstöße gegen Frauen- und Minderheitenrechte, namentlich Zwangsheiraten, Hinrichtungen von Homosexuellen, Wiedereinführung der Sklaverei, ganz zu schweigen von haltlosen Gerüchten, die der IS aber auch nicht wirklich zu dementieren versucht, wie die Zwangsbeschneidung von Frauen (während im Irak dieser Brauch eher in manchen Kurdenregionen praktiziert wird). Ganz zu schweigen auch von Enthauptungsszenen und Massenexekutionen. Dennoch beschränkt sich der Diskurs des Islamischen Staates keineswegs auf die exzentrischen Eigenarten einer barbarischen Kultur, sondern beinhaltet eine stark universalistische Dimension, deren Attraktivität weit über seine nahöstlich-arabisch-sunnitische Basis hinausreicht. Beim Wiederlesen von Samuel Huntingtons Kampf der Kulturen stellt man mit Erstaunen fest, welch spiegelbildliche Symmetrie sich zwischen seinen Auffassungen und denen des dschihadistischen Salafismus ergibt. Der Islamische Staat übernimmt manchmal wörtlich die Thesen Huntingtons, um einen solchen »Kampf« zu inszenieren. Tatsächlich handelt es sich aber um keinen Konflikt zweier Kulturen, Orient und Okzident, Arabertum und euroatlantische Welt, sondern um einen Titanenkampf zwischen dem Islam und dem Unglauben. Und im Islam ist jeder willkommen, sogar blonde und blauäugige Europäer katholischer Herkunft, während der Unglaube auch Araber und schlechte Muslime einschließt. Dieser Diskurs ist also sehr universalistisch und losgelöst von lokalen Interessen, bezieht aber paradoxerweise seine Attraktivität – die ungleich größer ist als diejenige Al-Qaidas – allein aus der Tatsache, dass der Is-

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lamische Staat auch in einem Territorium verankert ist. Es sind zugleich diese alle Partikularismen überschreitende Universalität und dieses Involviertsein in den Aufbau einer konkreten »Utopie« vor Ort, die bei manchen im Westen lebenden Jugendlichen starken Widerhall finden. Mit dem beharrlichen Verweis auf die Kolonialgeschichte der Region berührt der Islamische Staat ein Thema, das in Ländern wie Frankreich, Großbritannien oder den USA »ankommt«. Indem er die Muslime als ewige Opfer eines dominanten und ungläubigen Westens präsentiert, erzeugt er bei manchen Jugendlichen ein diffuses Unrechtsempfinden. Im Übrigen sind die IS -Führer bestens informiert, wie das politische Geschäft in westlichen Ländern funktioniert, sie wissen um die Bedeutung der öffentlichen Meinung und die Tatsache, dass die Politiker sehr empfindlich auf momentane Stimmungen reagieren. Indem sie sich dieser Hebel bedienten, haben sie ihr Ziel voll und ganz erreicht: die schnelle Bildung einer Militärkoalition unter Führung der Amerikaner, noch bevor diese Koalition auch nur das geringste politische Ziel im Hinblick auf die Region formuliert hätte.

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Schluss In vielerlei Hinsicht hat der Islamische Staat mit der Verwicklung des Westens in seinen Krieg erreicht, was er wollte. Die westlichen Initiatoren der Anti-IS -Koalition haben zwar eine vordringliche Gefahr nicht nur für die Staaten der Region, sondern für die westlichen Demokratien ausgemacht, weigern sich aber, die vollen Konsequenzen ihres Kriegseintritts zu tragen, da sie keine Bodentruppen schicken. Schlimmer noch, sie verlassen sich vor Ort auf Partner, die für den Zusammenbruch der nahöstlichen Staatenordnung verantwortlich sind: aktuell die irakische Armee und die Kurden, morgen vielleicht schon Baschar Al-Assad … Vor allem aber hält die Anti-IS -Koalition nicht den Hauch einer politischen Perspektive für die Bevölkerungsgruppen bereit, die sich dem IS angeschlossen haben oder seine Herrschaft als das kleinere Übel betrachten, im Vergleich zu den repressiven Regimen, unter denen sie im Irak und in Syrien gelitten haben. Eine Refomierung des politischen Systems im Irak ist heute nicht mehr möglich. Die sunnitischen Araber des Irak werden sich nicht noch einmal auf »Erweckungsräte« einlassen, und die »Lösung« eines auf die Spitze getriebenen Födera-

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lismus mit einer sunnitischen »National«garde ist Augenwischerei. Als Laurent Fabius beispielsweise davon sprach, »der Bagdader Regierung bei der Wiederherstellung ihrer Souveränität zu helfen«, war er sich da bewusst, dass dies sicherlich das Letzte ist, was die Bewohner von Mossul, Tikrit und Falludscha sich heute wünschen? Und was brächte die militärische Niederlage des Islamischen Staates in Syrien, wenn man nicht in der Lage ist, das Problem des Assad-Regimes, und darüber hinaus das des territorialen Auseinanderbrechens von Syrien, zu lösen? Die westlichen Diplomatien scheinen sich des Irreparablen, das den Staaten des Nahen Ostens heute zustößt, nicht im Klaren zu sein. 2014 könnte sich als das Jahr erweisen, in dem die Situation kippte. Auf dem Territorium des irakischen Staates stehen sich mittlerweile drei Gebilde mit staatlichen Ambitionen gegenüber. Jedes hat sein eigenes Territorium, seine Armee, seine Fahne (im Falle des IS sogar seine Währung!), seine Institutionen. Die Bagdader Regierung vertritt nur noch die Eliten, die im Namen der schiitischen Mehrheit sprechen. Kurdistan hat alles, was es für eine Souveränität braucht, ihm fehlt nur noch die regionale und internationale Anerkennung. Der Islamische Staat ist durch den auf regionaler Ebene eskalierenden Religionskonflikt zwischen Sunniten und Schiiten groß geworden. Dieser Konflikt ist aus der Unfähigkeit der bestehenden Staaten entstanden, die politisch-soziale Emanzipationsbewegung der Schiiten in der arabischen Welt gesellschaftlich einzubinden. Der Islamische Staat, der sich auf die sunnitischen Araber stützt, hat allen den Krieg erklärt – in einer gewagten Pokerpartie, deren Ausgang ungewiss bleibt. Die Bagdader Regierung versucht, die Illusion »nationaler« Repräsentativität aufrechtzuerhalten. Doch sollte man sich von der Regierungsbeteiligung der Kurden, die ihr eige-

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nes Spiel betreiben, sowie einiger sunnitischer Politiker, die bei ihren eigenen Leuten diskreditiert sind, nicht täuschen lassen. Am 17. Oktober 2014 bestätigte die irakische Regierung die letzten Ernennungen des Kabinetts Al-Abbadi. Ein Sunnit aus Mossul, Khalid Al-Obaidi, wurde zum Verteidigungsminister, ein Schiit, Muhammad Al-Ghabban, zum Innenminister ernannt. Khalid Al-Obaidi ist ein Vertrauter des neuen (sunnitischen) Vizepräsidenten Usama Al-Nudschaifi (Ex-Präsident des irakischen Parlaments) und seines Bruders, Athil Al-Nudschaifi, Gouverneur der Provinz Ninaua, der mit seiner Autorität die Übergriffe (höflich ausgedrückt) an den Mossulern deckte, bevor er angesichts des heranrückenden IS die Flucht ergriff. Muhammad Al-Ghabban gehört zur Badr-Brigade, der mächtigen schiitischen Miliz, die von den iranischen Pasdaran trainiert und bewaffnet wird. Als Innenminister kontrolliert er die Geheimdienste, was ihm auch Einfluss in den Streitkräften verschafft. Die irakische Führung war von den Amerikanern und den Europäern aufgefordert worden, eine »inklusive« Regierung zu bilden … das ist dabei herausgekommen! Bagdad wird inzwischen von mehreren schiitischen Milizen verteidigt, die jeweils einen eigenen Sektor zugewiesen bekamen: die Badr-Brigade, Asa’ib Ahl Al-Haq (der Bund der Tugendhaften, hervorgegangen aus der Mahdi-Armee Muqtada Al-Sadrs), Dschaisch Al-Salam (die Armee des Friedens, sie vertritt die sadristische Strömung) und andere … Diese Milizen befolgen auch den Dschihad-Aufruf gegen die Takfiri (die Exkommunizierer, wie die Dschihadisten von ihren muslimischen Gegnern genannt werden), den führende schiitische Geistliche, allen voran Ajatollah Sistani, im Juni 2014 erließen. Es sei daran erinnert, dass Nuri Al-Maliki, der Amtsvorgänger Al-Abbadis, diese Milizen als Kern der zukünftigen irakischen Armee präsentierte … Unterdessen hört

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der Islamische Staat nicht auf, weiter mit täglichen Attentaten auf Schiiten Angst und Schrecken in Bagdad zu verbreiten. Man wird unter diesen Umständen schwerlich behaupten können, dass der irakische Staat noch existiert. Zumal die Auseinandersetzung längst zu einer regionalen geworden ist: Die Hisbollah bekämpft die Widersacher des Assad-Regimes auf syrischem Boden, die schiitischen Milizen aus dem Irak machen es ebenso, syrische Dschihadisten besetzen die libanesische Stadt Arsal, kurdische Peschmerga aus dem Irak nehmen den Weg über die Türkei, um gegen den Islamischen Staat im syrischen Kobane zu kämpfen, die türkische PKK beteiligt sich im Dezember 2014 an der Offensive gegen den Islamischen Staat im irakischen Sindschar-Gebirge … Es ist offenkundig schwierig, die Zukunft des Islamischen Staates vorherzusagen, der heute von feindlichen Kräften ringsum in die Zange genommen wird. Doch seine militärische Niederlage bliebe folgenlos, wenn man die Gründe seines anfänglichen Erfolges außer Acht ließe. Die ehemaligen Mandatsmächte tun sich schwer mit der Bewältigung ihrer Kolonialvergangenheit. Viele der aufklärerischen Ideale, die explizite Leitvorstellungen der Kolonisierung und insbesondere der Mandatsverwaltung bildeten, standen im Widerspruch zur Realität imperialer Herrschaft. Es genügt, an Jules Ferry zu erinnern, den Begründer des französischen laizistischen Schulsystems, der mit aller Macht für die Kolonisierung Tunesiens eintrat … Die »zivilisatorische Mission« Europas diente als Vorwand für zügellose koloniale Begehrlichkeiten. Die Weigerung, sich der Vergangenheit zu stellen, erklärt, warum es der westlichen Diplomatie so schwer fällt, eine Zukunft für den Nahen Osten zu antizipieren. Eine lange historische Periode geht zu Ende: Es führt kein Weg zurück in den Nahen Osten, den wir für nahezu ein

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Jahrhundert kannten. Ist ein ohne politische Perspektiven begonnener Krieg nicht im Voraus verloren? Das ist die Falle, die der Islamische Staat den westlichen Demokratien stellt, für die er zweifellos eine tödliche Gefahr verkörpert. Die Lektionen der Geschichte müssen auch dazu dienen, den IS zu bekämpfen.

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Das Manuskript dieses Buches wurde wenige Tage vor den Ereignissen des 7.– 9. Januar, der willkürlichen Hinrichtung der Charlie-Hebdo-Redaktion, der Tötung einer Polizistin in Montrouge und der Ermordung von vier Personen jüdischen Glaubens in einem koscheren Supermarkt an der Porte de Vincennes, abgeschlossen. Ungeachtet ihrer immensen Rückwirkungen, auf Frankreich und die ganze Welt, war es mir lieber, keine Analyse dieser tragischen Ereignisse in das vorliegende Werk aufzunehmen, dessen Thesen meines Erachtens durch das Geschehene nicht entkräftet werden. P.-J. Luizard, 12. Januar 2015

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Nachwort (Oktober 2016) Der »Arabische Frühling« (wie zuvor schon die amerikanische Besetzung des Irak) hat zum Zerfall mehrerer arabischer Staaten (Irak, Syrien, Libyen, Jemen) geführt und damit ein Vakuum geschaffen, in das der Islamische Staat hineingestoßen ist. Letzterer ist nicht, wie gelegentlich zu hören, für diesen Zusammenbruch verantwortlich, vielmehr bildet dieser Zusammenbruch den Ausgangspunkt für den Erfolg dieses neuen Akteurs auf der politischen Bühne des Nahen Ostens. Mit anderen Worten, der Islamische Staat entfaltet sich dort, wo die Staaten versagt haben. Diese ursächliche Beziehung wird häufig von den westlichen Diplomatien übersehen, die zu Recht fürchten, dass mit der Infragestellung der politischen Systeme und Grenzen einer Region, die ebenso reich an religiösen Konflikten wie an fossilen Brennstoffen ist, eine Büchse der Pandora geöffnet wird. Doch ist es nicht auf Dauer gefährlicher, diese Realität zu verdrängen, als einem Prozess Rechnung zu tragen, dessen Folgen unumkehrbar sein könnten? Ein militärischer Sieg würde nichts ändern, wenn er nicht mit einer politischen Neuordnung auf regionaler Ebene einhergeht. Irak, Syrien, Libanon: Das Gemeinsame dieser Staaten besteht in ihrer Herkunft aus der französischen (Syrien, Liba-

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non) und britischen (Irak) Mandatsherrschaft. Sie, die 1920 auf den Ruinen des Osmanischen Reiches errichtet wurden, unter Missachtung des den Arabern von den Alliierten gegebenen Versprechens auf ein unabhängiges, großarabisches Königreich, mussten sich vom Moment ihrer Gründung an des bewaffneten Widerstands konfessioneller Mehrheiten (Schiiten im Irak, Sunniten in Syrien) erwehren. Die Vorliebe der Mandatsmächte für Minderheiten in Verbindung mit der fehlenden Legitimität der Staaten und ihrer Grenzen reduzierte den Staat auf einen bloßen Ort der Macht und verwandelte ihn rasch in ein Objekt der Begehrlichkeiten für Regionalgruppen und Clanverbände – mit dem Konfessionalismus als Ergebnis. Die Minderheiten entschieden sich, im Rahmen autoritärer Regime, allzu oft für den Konfessionalismus, weil er zumeist die einzige Möglichkeit bot, sich vor den Mehrheiten zu schützen. Es sei daran erinnert, dass zwar nichtmuslimische (hauptsächlich christliche) Minderheiten anerkannt sind, nicht jedoch die aus dem Islam hervorgegangenen Sekten (Alawiten, Drusen, Jesiden, Aleviten, Ismailiten, Kaka’i …). Allein die libanesischen Drusen haben sich eine Anerkennung erkämpft, allerdings im Rahmen eines maroden Systems, dem des politischen Konfessionalismus im Libanon. Der Libanon und der Irak müssen schmerzlich erfahren, dass die politische Emanzipation von (schiitischen) Mehrheiten im Rahmen eines solchen Systems unmöglich ist. Zur Frage nach dem Status islamischer Minderheiten kommt der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, der die Region derzeit in ein blutiges Chaos stürzt. Im Wechsel der autoritären Regime, die einander folgten, ist es diesen Staaten nie gelungen, die verschiedenen Mehrheitsidentitäten zu repräsentieren, egal, ob sie mit der panarabischen Utopie oder einem irakischen, syrischen oder libanesischen Nationalismus in Verbindung standen. Es ist dieses

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Versagen, einen gemeinsamen staatsbürgerlichen Raum zu begründen, das der Arabische Frühling vor Augen führte und als dessen wesentlicher Nutznießer sich der Islamische Staat erweist.1

Die Rache der Staaten? Soll man nach politischen Lösungen suchen, die Rücksicht nehmen auf die Ängste der IS -treuen Bevölkerungen, oder den Wiederaufbau der gescheiterten Staaten betreiben? Die Nachbarländer (Iran, Türkei) haben sich, ebenso wie die Großmächte (USA , Russland, Europa), unmissverständlich für letztere Alternative entschieden. Allein gegen eine Welt, der er den Krieg erklärt hat und die ihm feindlich gesinnt ist, hat sich der Islamische Staat eindrucksvoll behauptet. Zunächst gegen den Bombenkrieg der Koalition unter Führung der USA und dann gegen die russische Intervention. Diese Intervention hat, im September 2015, das Kräfteverhältnis verändert und einem abgewirtschafteten syrischen Regime die Chance eröffnet, verlorenen Boden zurückzugewinnen. Die türkische Armee wiederum ist ab Ende August 2016 nördlich von Aleppo in Aktion getreten, mit dem vorrangigen Ziel, die Entstehung eines geschlossenen kurdischen Autonomiegebiets entlang der Grenzen zur Türkei zu verhindern. Das stillschweigende Zusammenwirken von Amerikanern und Iranern bei der Un-

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Vgl. A. Bozzo & P.J. Luizard (Hg.) Vers un nouveau Moyen-Orient? États arabes en crise entre logiques de division et sociétés civiles, RomaTre-Press, online (Juli 2016), http://romatrepress.uniroma3.it/ojs/index.php/ MO rient [17. 12. 2016].

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terstützung der irakischen Regierung hat die Rückeroberung mehrerer Städte ermöglicht. Um die »Souveränität« der Krisenländer wiederherzustellen, setzen die Staaten der Anti-IS -Koalition auf lokale, in den Konflikt involvierte Akteure, denen sie ihre Waffen zur Verfügung stellen, um keine eigenen Bodentruppen entsenden zu müssen. So sehen sich die irakische Armee, kurdische Peschmerga im Irak, gelegentlich kurdische Kämpfer in Syrien oder manche der sogenannten Rebellengruppen in Syrien jeweils mit der Aufgabe betraut, dem Islamischen Staat die Territorien, die er 2014 und 2015 erobert hat, wieder abzunehmen. Und hat sich nicht selbst die Armee Baschar Al Assads, klammheimlich und opportunistisch, in eine Kraft verwandelt, mit der im Kampf gegen den IS -Feind zu rechnen ist? Im Irak kam es im Zuge der Rückeroberung von Tikrit, Ramadi und Falludscha zu Ausschreitungen gegen die sunnitische Zivilbevölkerung vonseiten schiitischer Milizen, die die irakische Armee begleiteten. Die Kurden haben sich weite Gebiete im Irak und in Syrien angeeignet und beanspruchen gemeinsam mit Arabern und Turkmenen bewohnte Regionen für sich. Von Opfern sind die Kurden zu einer Bedrohung für Nichtkurden geworden, wie man in Tuz Kurmatu und Kirkuk im Irak oder Al-Dschazira in Syrien sehen kann. Letztere Region, von alters her Schauplatz von Rivalitäten zwischen arabischen Nomadenstämmen und sesshaften kurdischen Bauern, wird so lange eine Hochburg des IS bleiben, wie er sich als Beschützer der in die Defensive gedrängten sunnitischen Araber präsentieren kann. Der Terror, mit dem der IS unter hohem Medienaufwand seine Widersacher sowie manche (jesidischen, schiitischen und christlichen) Minderheiten überzog, reicht natürlich als alleinige Erklärung für die Schwäche des antidschihadistischen Widerstandes nicht aus.

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Die direkten Interventionen der Nachbarstaaten (Iran, Türkei) und der Großmächte (USA , Russland, Europa) in Syrien und dem Irak verdeutlichen, dass das Schicksal dieser Länder längst nicht mehr in den Händen ihrer Bevölkerungen liegt. Dabei verfolgt jeder Protagonist des Anti-IS -Kampfes seine eigenen, von denen der anderen verschiedenen Ziele, sodass die wechselseitigen Allianzen, zum Beispiel in Syrien, zu einem undurchsichtigen Spiel geworden sind. Unterstützen die Russen die Kurden der YPG (Volksverteidigungseinheiten, bewaffneter Arm der PYD ) gegen die Türkei? Haben es die Türken in Syrien nicht eher auf die Kurden als den Islamischen Staat abgesehen? Wie vermitteln die Amerikaner zwischen den Interessen ihres türkischen Bündnispartners und ihrer Unterstützung für bewaffnete, mehrheitlich kurdische Gruppen? Welche Rolle spielt das von Russland und dem Iran unterstützte Regime in Damaskus im Kampf der westlichen Länder gegen den Islamischen Staat? Das Schicksal der arabisch-sunnitischen Bevölkerungen ist zwar für das aktuelle politische Geschehen zentral, dennoch geht es nicht allein um sie. Denn die bestehenden politischen Systeme sind derart marode, dass sie nicht zwangsläufig denen zugutekommen, die offiziell die Macht innnehaben. So geht die mehrheitlich schiitische Bevölkerung des Irak seit Sommer 2015 gegen die ständigen Stromausfälle auf die Straße. Diese Bewegung hat ein bisher unerreichtes Ausmaß angenommen, an den Demonstrationen in Bagdad beteiligen sich Hunderttausende Iraker. Am Pranger stehen das Versagen des Staates, der Verfall des öffentlichen Dienstes, die Korruption der politischen Klasse und, davon nicht zu trennen, der Konfessionalismus, der für das Elend verantwortlich gemacht wird, in dem die große Mehrheit der Iraker lebt, während beispielsweise in der »grünen Zone«, wo die regierenden Eliten

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wohnen und die staatlichen Institutionen ihren Sitz haben, nach wie vor unerhörter Luxus herrscht. Bism al-din, baghuna al-haramiyya! (»Die Diebe bestehlen uns im Namen der Religion!«) lautete der meistgehörte Slogan auf den Demonstrationen, die den Zorn einer erschöpften Bevölkerung zum Ausdruck brachten und mitnichten das Resultat eines parteipolitischen Aktivismus waren (auch wenn die Parolen bisweilen den Einfluss der kommunistischen Partei und der säkularen Parteien verrieten). In Anbetracht des Umfangs der Bewegung versuchte sich Muqtada Al-Sadr als »Befürworter von Reformen« zu präsentieren und den schiitischen Premierminister Haidar AlAbadi unter Zugzwang zu setzen, indem er ihn aufforderte, unfähige Minister und Beamte zu entlassen und durch »Technokraten« zu ersetzen. Beeindruckt von der Wucht der Proteste brachte der Premierminister mehrere Reformpakete auf den Weg und engagierte sich im Kampf gegen die Korruption … bis er angesichts des Widerstands von Abgeordneten seiner eigenen Partei oder von Richtern, die ihm mit dem Entzug ihrer Unterstützung drohten, falls er damit fortfahren sollte, einen Rückzieher machte! Jeden Freitag steht die Regierung am Rande des Rücktritts, heißt es in Bagdad, und jeden Samstag erholt sie sich wieder! Die Verzweiflung der Bevölkerung mündete am 30. April 2016 in einen Vorfall, der die ganze Situation auf den Punkt bringt: Zu Zehntausenden drangen Demonstranten in die »grüne Zone« ein und stürmten das Parlament. Es war ein denkwürdiger Tumult, in dessen Verlauf die Abgeordneten, von der Menge bedroht, die Flucht ergriffen, um den Zorn derer zu entgehen, die sie als »Diebe« und »Bestochene« beschimpften. Manche Abgeordnete nahmen in behelfsmäßigen Kähnen Reißaus, in denen sie eilends den Tigris überquerten … Muqtada Al-Sadr hatte sich zum Mentor die-

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Die Falle des Kalifats, 9783868543100, 2017

ser Bewegung aufgeworfen, doch schon am nächsten Tag bat er die Demonstranten, die »grüne Zone« zu räumen … Was war geschehen? Ganz einfach, der Premierminister hatte ihm gedroht, ihn für jede weitere »Entgleisung« verantwortlich zu machen, und Abgeordnete seiner eigenen Parlamentsfraktion beschworen ihn, sich dem Premierminister zu fügen! Muqtada musste erkennen, dass man nicht den Ast absägen kann, auf dem man sitzt … Das 2003 von den Amerikanern begründete und 2005 in der Verfassung verankerte konfessionelle System ist offenkundig nicht reformierbar. Die Libanesen haben schon vor Langem die bittere Lektion gelernt: Es ist sehr einfach, ein konfessionelles politisches System einzuführen, aber es ist praktisch unmöglich, es auf friedlichem Wege wieder abzuschaffen. Bemerkenswerterweise fand parallel zum Aufruhr der Zivilgesellschaft in Bagdad eine ähnliche Mobilisierung in Beirut statt, dort wegen der Nichtbeseitigung des Mülls. Wie in Bagdad wurden Korruption und Konfessionalismus als ein und dasselbe Problem wahrgenommen. Wie in Bagdad, und aus den gleichen Gründen, kam die Protestbewegung, bei aller Massivität, wieder zum Erliegen, mangels Ansprechpartner auf staatlicher Ebene, mit denen sie hätte verhandeln können. Es sind also marode und nicht lebensfähige politische Systeme dieser Art, die die Staaten der Region und die Großmächte wiederherstellen möchten, als wären ihnen die wahren Gründe für das Auftauchen des Islamischen Staates völlig entgangen. Die Nichtreformierbarkeit der irakischen Institutionen ist der höchste Trumpf des Islamischen Staates. Selbst wenn das selbsternannte Kalifat seine territoriale Grundlage verlieren sollte, wird es sich metastasenartig über die Gebiete verbreiten, die seinem derzeitigen Herrschaftsbereich entsprechen. Man denke nur an den Feldzug der kurdischen PUK-

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Truppen (der Patriotischen Union Kurdistans Dschalal Talabani) von 2001 /2002, der dem »kurdischen Tora-Bora« in der Region von Halabdscha ein Ende setzte und die dschihadistischen Kämpfer der Ansar Al-Islam (Helfer des Islam) über das arabische Gebiet des Irak versprengte! Ansar Al-Islam ist eine der sechs Gruppen, die 2006 den Islamischen Staat im Irak gründeten.

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Zum Autor Pierre-Jean Luizard, Historiker, ist directeur de recherche im Centre national de la recherche scientifique (CNRS ) in Paris und dort verantwortlich für die Forschungsgruppe Sociétés, Religions, Laïcités (GSRL ). Luizard verbrachte viele Jahre in zahlreichen arabischen Ländern, vor allem in Syrien, im Libanon, im Irak, in den Golfstaaten und in Ägypten. Für sein Buch »Die Falle des Kalifats« wurde Luizard im März 2016 mit dem Prix Étudiant du Livre Politique – France Culture ausgezeichnet.

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