Die Erschaffung der landständischen Verfassung: Kreativität, Heuchelei und Repräsentation in Hessen (1509-1655) 9783412211530, 9783412209803

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Die Erschaffung der landständischen Verfassung: Kreativität, Heuchelei und Repräsentation in Hessen (1509-1655)
 9783412211530, 9783412209803

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Symbolische Kommunikation in der Vormoderne Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst Herausgegeben von Gerd Althoff, Barbara Stollberg-Rilinger und Horst Wenzel

Studies presented to the International Commission for the History of Representative and Parliamentary Institutions XCIII Études présentées à la Commission Internationale pour l’Histoire des Assemblées d’États

Tim Neu

Die Erschaffung der landständischen Verfassung Kreativität, Heuchelei und Repräsentation in Hessen (1509–1655)

2013 Böhlau Verlag Köln Weimar Wien

Dieser Band ist im Sonderforschungsbereich 496 »Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution« an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-20980-3

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.1 Forschungskontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Konstitutionell, etatistisch, institutionell: Drei Erkenntnisinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Repräsentation und Dualismus: Zwei überwundene Kategorien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Die ‚landständische Verfassung‘: Ein unproblematischer Begriff? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte . . . . . . . . . 2.2.1 Regeln und Regelinterpretationen: Institutionen (-theorie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Instrumentelle und symbolische Macht: Aspekte des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Untersuchungszeitraum, -territorium und Quellengrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert? . . . . . . . 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2 3.2.1

Die Einungen im Kontext der Vormundschaftskämpfe (1509–1514) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergemeinschaftung und Legitimation: Die ständische Einung von 1509 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Kampf um die ‚gemeine Landschaft‘: Die fürstlichständische Einung von 1514 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verschwindende Vermittler: Die Funktion der Einungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ständische Vielfalt: Die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung seit 1527 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reformation und Türkenhilfe: Die Wiederaufnahme allgemeiner Landtage durch Philipp den Großmütigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14 15 39 56 64 71 78 83 92 97 101 105 116 130 135

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3.2.2 Landesrepräsentation als Spezialfall: Die Bedeutung der Reichssteuern und die Vielfalt der Landtagsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 3.2.3 „Garanten der Einheit“? Die Landesteilung 1567 und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 3.3 Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht (ca. 1590–1623) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3

4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.4

Gesamtständisch und gesamthessisch: Normative Zentrierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesamtständisch, aber ‚kasselisch‘: Faktische Zentrierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Marburger Erbfolgestreit: Institutionalisierte Heuchelei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verstetigung und Verdichtung: Der Siegeszug der Landkommunikationstage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verfassung in Zeiten des Krieges: Zeitnot, Entscheidungsdruck und die Auseinandersetzungen um das Landtagsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alte Verfahren, neue Funktionen: Die Reaktivierung von Ausschuss- und Kurienlandtagen . . . . . . . . . . . . Radikale Maßnahmen: Der Angriff auf das landständische Beratungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . Integration versus Autonomie: Die Verfahrenskämpfe im Kontext der Verfassungsgenese . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

186 201 203 221

239 244 256 264 278

5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 5.1

Der Strukturkonflikt, oder: Wer ist die niederhessische Ritterschaft? (1623–26) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Un-/gehorsam und handlungsfähig: Die ‚Quasi-Landtage‘ der Besatzungszeit . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Ein neuer politischer Akteur: Die ‚Erfindung‘ der niederhessischen Ritterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Konflikt, Entfremdung, Experiment: Die Folgen der ‚Erfindung‘ und die Unausgetragenheit der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5.2 5.2.1 5.2.2

5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5 5.4

Die Zwischenkonfliktzeit: Normative Anerkennung und faktische Durchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine zweistufige Verfassungsordnung: Der Hauptaccord von 1627 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Landtag Ä Geldtag: Die Entkoppelung von Stände- und Finanzpolitik nach dem Bündnis von Werben (1632) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Necessitas und Patrioten: Der Konflikt in der Forschungsdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutungskonflikte deuten: Das Konzept der Rechtfertigungsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das ständische Argumentationsarsenal bei Ausbruch des Ständekonflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der „Weg Rechtens“: Das Reichskammergericht und die Rechtfertigung in Reinform . . . . . . . . . . . . . . Der „Weg des Bitten undt Flehens“: Rechtfertigen, Verhandeln und der Vergleich von 1655 . . . . . . . . . . . Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

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334 344 357 369 380 411 444 470

6. Eine Verfassung „in fieri“ – Zusammenfassung und Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 6.1

Die Erschaffung der landständischen Verfassung in Hessen – Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Verfassungsgenese in der Vormoderne – Synthese . . . . 6.2.1 Die landständische Verfassung „in fieri“ – Folgerungen für die Historische Ständeforschung . . . . 6.2.2 Diskontinuität in der Kontinuität – Folgerungen für die Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . .

478 486 487 495

Abbildungs-, Siglen- und Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . 501 1. 2. 3.

Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504

Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 1. 2. 3.

Anmerkungen zur Textgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . 506 Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 Edierte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510

VIII 4. 5.

Inhaltsverzeichnis

Literatur bis 1806 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Literatur ab 1806 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572 1. 2.

Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2011/12 an der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen und für den Druck geringfügig überarbeitet. Schreiben muss man Bücher zwar letztlich ‚in Einsamkeit‘, aber schaffen kann man das nur im ‚Zusammenwirken‘ mit anderen – seien es Lehrer, Kollegen, Freunde oder Verwandte. Daher möchte ich mich für die vielfältige Unterstützung zu bedanken, die ich in den letzten Jahren erfahren habe. Das gilt vor allem für Barbara Stollberg-Rilinger, ohne die es dieses Buch nicht gäbe. Sie hat mein Dissertationsprojekt nicht nur angestoßen und stets mit wichtigen Anregungen und weiterführender Kritik begleitet, sondern mir als Mitarbeiter an ihrem Lehrstuhl überhaupt erst die Möglichkeit gegeben, es auch in die Tat umzusetzen. Für das in mich und meine Arbeit gesetzte Vertrauen, fachlichen Rat und persönlichen Zuspruch bin ich ihr in herzlicher Dankbarkeit verbunden. Daneben gilt mein Dank Stefan Brakensiek, der mir mehrfach bei konzeptionellen Fragen zur Seite stand und das Zweitgutachten verfasste, sowie Gerd Althoff und Horst Wenzel, die zusammen mit Barbara Stollberg-Rilinger die Aufnahme der Arbeit in die Reihe ‚Symbolische Kommunikation in der Vormoderne‘ möglich machten. Der International Commission for the History of Representative and Parliamentary Institutions und vor allem Alastair Mann bin ich darüber hinaus für die Aufnahme in die Publikationsreihe der Kommission dankbar. Ich hatte das große Glück, in Münster in einem Umfeld arbeiten zu können, das gleichermaßen kollegial wie intellektuell anregend war. Aus dem Kontext des Sonderforschungsbereichs 496 danke ich stellvertretend für viele andere meinen Projektkollegen Michael Sikora und Thomas Weller, von denen ich eine Menge gelernt habe. Aus dem weiteren Umkreis des Lehrstuhls möchte ich Barbara Groß, Matthias Pohlig, Matthias Köhler, Stefanie Rüther, Marian Füssel, Matthias Bähr, Teresa Schöder, Christina Schröer und Debora Gerstenberger nennen, die als Kollegen und Freunde dankenswerterweise Teile der Arbeit gelesen und mit mir diskutiert haben. Das gleiche gilt auch für Steffen Hölscher und Dieter Wunder. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Althessischen Ritterschaft danke ich für Druck- bzw. Satzkostenzuschüsse sowie den Mitarbeitern der von mir besuchten Archive in Marburg, Darmstadt und Oberkaufungen für ihre Unterstützung; stellvertretend seien hier Gerhard Menk und Hauprecht Freiherr Schenck zu Schweinsberg hervorgehoben. Mein Dank gilt ferner Christoph Ohlig, der mein Interesse an

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Vorwort

der Geschichte geweckt hat, und Markus Rieger-Ladich, der mich für die Welt der Theorie begeisterte. In Sarah Wessel hatte ich eine Weggefährtin, ohne die mein Horizont in vielen Dingen beschränkter wäre und die mir während der gesamten Zeit liebevoll Kraft gab. Sie hat größeren Anteil an der Arbeit, als ihr vielleicht bewusst ist. Last, but not least, möchte ich ganz besonders meiner Familie danken, ohne deren Rückhalt ich diesen Weg nicht hätte gehen können. Meine Schwestern Sarah und Lena Neu waren immer für mich da. Für ihre vielfältige Hilfe im Großen wie im Kleinen bin ich sehr dankbar. Meine Eltern Gerda und Christoph Neu haben stets an mich geglaubt und mich immer bedingungslos unterstützt. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Göttingen, im Dezember 2012

Tim Neu

1. Einleitung

Die Verfassung ist also, aber ebenso wesentlich wird sie, das heißt, sie schreitet in der Bildung fort. Dieses Fortschreiten ist eine Veränderung, die unscheinbar ist und nicht die Form der Veränderung hat. Georg Wilhelm Friedrich Hegel 1

Die moderne Verfassung beruht auf Diskontinuität: Im wahrhaft ‚revolutionären‘ Akt der Verfassungsgebung wird eine neue Herrschaftsordnung begründet und eine schriftlich fixierte Verfassung als unhintergehbarer normativer Kern dieser Ordnung installiert. 2 Und auch bei einer Verfassungsänderung wird immerhin noch eine relative Diskontinuität erzeugt, insofern auch diese Änderung in Form einer expliziten Setzung erfolgt und damit einen klaren Vorher/Nachher-Unterschied einzieht – wenngleich im Rahmen der Verfassungsordnung. 3 Die vormoderne Verfassung hingegen beruhte auf Kontinuität: Im wiederholten Vollzug hergebrachter Handlungs- und Sprechakte wurde die bestehende Herrschaftsordnung immer wieder aktualisiert und eine Verfassung in actu als Ausdrucksform des Gesamtzustandes dieser Ordnung fortgeschrieben. 4 Und obwohl auch in vorkonstitutioneller Zeit Verfassungsänderungen die Regel waren, so hatten diese doch zumindest nicht die ‚Form der Veränderung‘ (Hegel): Zwar wurde das System der zeremoniellen und rhetorischen Elemente im Hinblick auf den veränderten Gesamtzustand immer wieder behutsam angepasst und neu austariert, aber im performativen Verfassungsakt selbst wurden diese Veränderungen zugunsten der Inszenierung von Kontinuität unsichtbar gemacht. 5 Damit ist ‚vormodern‘ hier mehr als ein rein formaler Abgrenzungsbegriff gegenüber der inhaltlich ohnehin präzise bestimmten ‚modernen‘ 1 2 3 4

5

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 465. Vgl. einführend Dreier, Verfassung; Mohnhaupt, Grimm, Verfassung. Vgl. Winterhoff, Verfassung – Verfassungsgebung – Verfassungsänderung. Der Begriff der ‚Verfassung in actu‘ wurde geprägt von Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Von Holenstein nur zur Charakterisierung der Huldigung verwendet, wird der Begriff seit einigen Jahren auch für die Charakterisierung der vormodernen Verfassung in ihrer Gesamtheit gebraucht; vgl. etwa Stollberg-Rilinger, Verfassung und Fest, S. 12. Vgl. etwa Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation als praktizierter Mythos; Berning, Die böhmischen Königskrönungen der Frühen Neuzeit.

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1. Einleitung

Verfassung, 6 sondern bezeichnet den inzwischen gut belegten Sachverhalt, dass hinsichtlich der verfassungsrelevanten Formensprache in der Zeit vor amerikanischer und französischer Revolution tatsächlich eine grundlegende – in den Verfassungsakten allerdings überbetonte – Kontinuität bestand. 7 Krönung, Huldigung, Belehnung und öffentliche Beratung, um nur einige zu nennen, basierten als zentrale Verfassungsakte bis zum Ende der Frühen Neuzeit im Kern auf mittelalterlichen Formen und es galt: „Die Form ist die älteste Norm“. 8 Die Einführung der heute weitgehend anerkannten Unterscheidung zwischen ‚modernen‘ und ‚vormodernen‘ Verfassungselementen und -ordnungen ist Teil eines grundlegenden Transformationsprozesses der Verfassungsgeschichte. 9 Schon seit Otto Brunners Land und Herrschaft von 1939 stand die Forderung im Raum, den „künstlich verengten Verfassungsbegriff“ 10 zu überwinden, mit dem die Kategorien des modernen Verfassungsrechts auf mittelalterliche (und frühneuzeitliche) Gemeinwesen projeziert wurden. Allerdings sollte es noch Jahrzehnte dauern, bis eine „auf das Verständnis politischen Handelns ausgerichtete ‚Strukturgeschichte‘ “ 11 tatsächlich möglich wurde, denn bis weit in die 1960er

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Vgl. Grimm, Entstehungs- und Wirkungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus, v. a. S. 48: Die moderne Verfassung wirkt „nicht herrschaftsmodifizierend, sondern herrschaftskonstituierend“, „nicht punktuell, sondern umfassend“ und „nicht partikular, sondern universal“. – Die Verbindung von Moderne und Diskontinuität wird ebenfalls betont von Giddens, Konsequenzen der Moderne. Vgl. etwa Stollberg-Rilinger u. a. (Hg.), Spektakel der Macht. – Damit entspricht dieses Verständnis von ‚Vormoderne‘ weitgehend dem ‚Alteuropa‘-Konzept in der Fassung von Gerhard, Old Europe. Ebel, Recht und Form, S. 14. Aus der umfangreichen Literatur zu den genannten Akten vgl. nur überblicksweise Steinicke, Weinfurter (Hg.), Investitur- und Krönungsrituale; Holenstein, Die Huldigung der Untertanen; Schnettger, Rang, Zeremoniell, Lehnssysteme; Peltzer, Schwedler, Töbelmann (Hg.), Politische Versammlungen und ihre Rituale. Vgl. Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert; Schnettger, Von der „Kleinstaaterei“ zum „komplementären Reichs-Staat“; Grothe, Zwischen Geschichte und Recht, sowie zuletzt Ders., Neue Wege der Verfassungsgeschichte in Deutschland, und Waldhoff, Stand und Perspektiven der Verfassungsgeschichte aus Sicht der Rechtswissenschaft. Brunner, Land und Herrschaft, S. 130. Die Tatsache, dass Brunner 1939 eine völkische Ideologie und einen an Carl Schmitt orientierten Verfassungsbegriff vertrat, schmälert nicht die Bedeutung seiner grundlegenden Einsicht; die umfangreiche Forschungsliteratur zu Brunner zuletzt aufgearbeitet in Grothe, Zwischen Geschichte und Recht, S. 223f. Vgl. auch einführend Boldt, Otto Brunner und die deutsche Verfassungsgeschichte. Brunner, Land und Herrschaft, S. 164.

1. Einleitung

3

Jahre hinein hielt sich die von Brunner kritisierte „Verfassungs-Rechtsgeschichte“. 12 Erst danach führte die – von Brunner mit angestoßene – sozialgeschichtliche Wende zu einer Erweiterung der Verfassungsgeschichte, insofern neben den politisch-rechtlichen zunehmend auch die sozialen Strukturen der Gemeinwesen in die Untersuchungen einbezogen wurden; 13 in den Mittelpunkt rückte nun vor allem die „Analyse der Herrschaftsinstitutionen und ihrer Träger“. 14 Damit war zwar einer notwendigen Erweiterung des Verfassungsbegriffs Bahn gebrochen, gleichzeitig aber die Möglichkeit eröffnet, dass die Verfassungsordnung in die sie tragende Sozialstruktur nicht nur eingebettet, sondern gleich vollständig auf sie zurückgeführt werden würde. Hans Boldt wies in diesem Kontext darauf hin, dass gegenüber einer auf diese Weise überzogenen „Verfassungs-Sozialgeschichte“ die relative Eigengesetzlichkeit des politisch-rechtlichen Bereichs der Ausgangspunkt verfassungsgeschichtlicher Arbeit bleiben müsse. 15 Nichtsdestoweniger war seit der sozialgeschichtlichen Wende allgemein akzeptiert, dass die Untersuchung vormoderner Herrschaftsordnungen einen erweiterten Verfassungsbegriff voraussetze. 16 Worin genau aber die Eigengesetzlichkeit der vormodernen Verfassungen bestand, war damit noch keineswegs geklärt, auch wenn insbesondere die Mediävistik stets an dieser Frage weiterarbeitete. Hier bietet nun seit einigen Jahren ein im weitesten Sinne kulturhistorischer Ansatz neues

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Der Begriff nach Boldt, Einführung in die Verfassungsgeschichte, passim; vgl. auch Grothe, Zwischen Geschichte und Recht, S. 414f. Greifbar wird diese Kontinuität daran, dass Fritz Hartungs zuerst 1914 veröffentlichte Verfassungsgeschichte noch 1969 erneut aufgelegt wurde; vgl. Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart (1969). Vgl. etwa Dipper, Sozialgeschichte und Verfassungsgeschichte; in diesem Kontext steht auch die Renaissance, die das Werk Otto Hintzes seit den sechziger Jahren erfuhr; vgl. Grothe, Zwischen Geschichte und Recht, S. 389–402. So die Selbstbeschreibung eines für die Reichsgeschichte zentralen Forschungsprojekts: Moraw, Press, Probleme der Sozial- und Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, S. 99. Neben der strukturgeschichtlichen Perspektive dokumentiert der Aufsatz auch den Einfluss des AlteuropaKonzepts; ein typischer Titel der Zeit ist auch Quaritsch (Hg.), Gesellschaftliche Strukturen als Verfassungsproblem. Boldt, Einführung in die Verfassungsgeschichte, S. 22 und S. 170. Vgl. etwa die jüngeren Überblickswerke: Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte; Duchhardt, Deutsche Verfassungsgeschichte 1495–1806; Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte („rechtliche Grundordnungen“, ebd., S. 2); Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands („rechtliche Regeln und Strukturen, die das Gemeinwesen und damit die politische Ordnung prägen“, ebd., S. 2).

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1. Einleitung

Erklärungspotential, denn unter dem ‚ethnologischen Blick‘ 17 der Kulturhistoriker wurde zunächst die Alterität der vormodernen Verfassung noch deutlicher sichtbar und dann zum Gegenstand verstärkter, auch methodischer und konzeptioneller Forschungsanstrengungen. 18 Unter Heranziehung einer Reihe kulturtheoretischer Interpretamente entstand dann nach und nach ein neues Gesamtbild, das – wie eingangs geschildert – die ‚vormoderne Verfassung‘ als eine Verfassung in actu zeigt, als eine Herrschaftsordnung, die durch periodisch angepasste und wiederholte, performativ wirkende Verfassungsakte ritueller und zeremonieller Art auf Dauer gestellt wurde. 19 Mit diesem konzeptionell neu gefassten und empirisch angereicherten Verfassungsbegriff, der erst möglich wurde durch die Betonung der Mittelalter und Frühe Neuzeit zusammenschließenden longue durée der verfassungsrelevanten Formensprache, ist die Eigengesetzlichkeit vormoderner Herrschaftsordnungen zweifellos besser beschreibbar geworden. 20

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Vgl. etwa Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, S. 588. Vgl. Reinhard, Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte; Blänkner, La storia costituzionale come storia culturale; Stollberg-Rilinger, Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte. – Die Betonung der Alterität ist nur Ausgangspunkt, nicht Selbstzweck, geht es doch darum, „sich die Vergangenheit zu entfremden und wieder anzueigenen“ (Burke, Historiker, Anthropologen und Symbole, S. 23). – Auch für moderne Verfassungsordnungen werden solche Ansätze fruchtbar gemacht, was hier jedoch nur erwähnt werden kann; vgl. etwa Vorländer (Hg.), Integration durch Verfassung, und Brodocz, Die symbolische Dimension der Verfassung. Erste Synthesen zur so verstandenen Verfassungsgeschichte der Vormoderne: Althoff, Die Macht der Rituale; Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. – Zu den wichtigsten Interpretamenten gehören Ritual-, Performanz- und Praxistheorie; vgl. dazu ausführlicher unten 2.2. – Es sei an dieser Stelle betont, dass rituelle und zeremonielle Akte immer auch eine wichtige sprachliche Komponente haben; vgl. Schorn-Schütte, Politische Kommunikation als Forschungsfeld, S. 10f.; Feuchter, Helmrath (Hg.), Politische Redekultur in der Vormoderne. Zur Rezeption vgl. Schneidmüller, Von der deutschen Verfassungsgeschichte zur Geschichte politischer Ordnungen und Identitäten im europäischen Mittelalter; Dilcher, Zu Rechtsgewohnheiten und Oralität, Normen und Ritual, Ordnungen und Gewalt, S. 69: „Verfassung also als Kette wiederkehrender Repräsentationen von Ritualen und Zeremonien“; Carl, Das Alte Reich in der neueren Forschungsliteratur. – Der Begriff der longue durée bekanntlich nach Braudel, Histoire et Sciences sociales. La longue durée, S. 725–753. – Derzeit wird ebenfalls versucht, unter dem Begriff der ‚Verfassungskultur‘ eine Forschungsperspektive zu etablieren, in der die Unterscheidung vormodern/modern aufgehoben ist; vgl. etwa Brandt, Schlegelmilch, Wendt (Hg.), Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit; Daum u. a. (Hg.), Kommunikation und Konfliktaustragung. Allerdings ist hier in Weiterführung des Arguments von Boldt, Einführung in die Verfassungsgeschichte, zu warnen, dass eine ‚Verfassungs-Kulturgeschichte‘, die die Verfassung nur noch oder vornehmlich als Kulturphänomen auffasst,

1. Einleitung

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Allerdings erweist sich die entstehende ‚Verfassungsgeschichte der Vormoderne‘ in mindestens einer Hinsicht als tendenziell problematisch. Dieses Problem lässt sich am präzisesten in einer kommunikationstheoretischen Fassung darstellen: Es hat sich als konzeptionell fruchtbar und empirisch weiterführend erwiesen, die frühneuzeitlichen und mittelalterlichen Herrschaftsordnungen unter dem Begriff der ‚vormodernen Verfassung‘ zusammenzuziehen, was nichts anderes heißt, als dass diese Herrschaftsordnungen vornehmlich im Hinblick auf Kontinuität beobachtet werden. 21 Damit werden sie aber zunächst einmal nicht im Hinblick auf Diskontinuität beobachtet. 22 Das mag banal klingen, hat aber erhebliche Folgen, denn in dieser Beobachtungsperspektive werden Ereignisse und Prozesse, die verfassungsgeschichtlichen Wandel nahelegen, wahrscheinlich als Anpassungs- und Austarierungsprozesse im Rahmen der mit sich selbst identisch bleibenden Verfassungsordnung erscheinen – und eben nicht als relative oder absolute Unterbrechungen dieser Kontinuität. Diese ‚Optik‘ wird nun im Fall der neuen Verfassungsgeschichte deshalb zumindest theoretisch zu einem Problem, weil sie den lebensweltlichen Interessen der zeitgenössischen politischen Eliten (einschließlich ihrer gelehrten Berater) entgegenkommt. Da nämlich die Observanz, der „Gebrauch von undenklichen Zeiten“, 23 nicht nur generell, sondern auch im Hinblick auf die Verfassungsordnung und ihre Elemente Rechtsansprüche begründete, war ‚Kontinuität‘ eine zutiefst politische Katego-

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der Eigengesetzlichkeit der Verfassung ebenso wenig gerecht würde wie die rechts- und sozialgeschichtlichen Varianten. Die Wendung ‚im Hinblick auf Kontinuität‘ scheint mir den Sachverhalt, dass sich Beobachtung kommunikationstheoretisch als „die Einheit einer Unterscheidung und einer Bezeichnung“ darstellt, am wenigsten kompliziert auszudrücken: Beobachtung ist ein Vorgang, in dem eine Unterscheidung (hier: Kontinuität/Diskontinuität) und eine Bezeichnung, mit der nur eine der beiden Seiten der Unterscheidung markiert wird (hier: Kontinuität), miteinander verbunden sind (Zitat: Stegmaier, Differenzen der Differenz, S. 47; vgl. auch Fuchs, Der Sinn der Beobachtung). – Für die Konzeption einer kommunikationstheoretisch fundierten Geschichtswissenschaft vgl. etwa zuletzt Schlögl, Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden, S. 166–168, der allerdings Beobachtung vor allem als Handhabung von Unterscheidungen fasst und den Aspekt der Bezeichnung kaum thematisiert. Vgl. Stegmaier, Differenzen der Differenz, S. 47: „Die Beobachtung ist dann die Beobachtung nach einer Form oder Unterscheidung: Sie beobachtet etwas und lässt dabei anderes unbeobachtet, und sie markiert die Seite, die sie beobachtet, durch eine Bezeichnung. So ist sie die Einheit einer Unterscheidung und einer Bezeichnung. Welche Seite sie durch eine Bezeichnung markiert, ist kontingent, aber um sie zu bezeichnen, braucht sie Zeit und kann in dieser Zeit nichts anderes beobachten.“ [Anon.], Observantia, die Observanz, Ehrerbietung.

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1. Einleitung

rie. 24 Und daher hatten vormoderne Akteure ein strategisches Interesse daran, verfassungsgeschichtliche Kontinuitätslinien zu überzeichnen, sie gelegentlich zu erfinden und sogar Diskontinuitäten unsichtbar zu machen, was auch und gerade für ‚wissenschaftliche‘ Akteure galt, denn die Historie war in der Frühen Neuzeit vornehmlich eine „Hilfswissenschaft“ des Verfassungsrechts. 25 Wenn aber nun, wie gezeigt, die heutigen Verfassungshistoriker vornehmlich im Hinblick auf Kontinuität beobachten, dann wird es ihnen schwer fallen, die geschichtspolitischen Überzeichnungen und Erfindungen der vormodernen Zeitgenossen aufzudecken und an deren Stelle eine Beschreibung der unsichtbar gemachten Diskontinuitäten zu setzen. Damit aber wäre es der Verfassungsgeschichte strukturell kaum noch möglich, „Geschichte als Delegitimation“ 26 zu betreiben, was sie jedoch einer – sowohl wissenschaftlich wie gesamtgesellschaftlich – unverzichtbaren Funktion berauben würde. Eine solche Verfassungsgeschichte liefe tendenziell darauf hinaus, an die Stelle der ‚anachronistischen‘ Fremdbeschreibung durch das moderne Verfassungsrecht die ‚parteiische‘ Selbstbeschreibung durch die zeitgenössischen Akteure zu setzen. Was ist also zu tun, damit dieses Problem gar nicht erst akut wird? Einen falschen Weg würde man einschlagen, wenn man nun als Konsequenz den auf die Kontinuität der Formensprache gegründeten Verfassungsbegriff aufgeben wollte, denn dieser hat sich ja als konzeptionell tragfähig und empirisch fruchtbar erwiesen. Man sollte vielmehr die grundlegende Unterscheidung von Kontinuität und Diskontinuität nicht nur beibehalten, sondern sie sogar auf der Seite der Kontinuität ein weiteres Mal einführen, also – kommunikationstheoretisch gesprochen – ein re-entry vollziehen. Ein solcher Wiedereintritt „der Unterscheidung in das Unterschiedene“ 27 würde es nämlich möglich machen, die vormodernen Verfassungsordnungen zum einen weiterhin global als einen 24 25

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Vgl. Simon, Geltung; Garré, Consuetudo; Perreau-Saussine, Murphy (Hg.), The Nature of Customary Law. Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung, S. 44–67, S. 63: Aufgrund der „Suprematie“ der Jurisprudenz habe die Geschichte „lediglich instrumentelle Zuständigkeit“ besessen. Reinhard, Geschichte als Delegitimation. Vgl. Luhmann, Die Form „Person“, S. 138; den Begriff übernahm Luhmann von Spencer Brown, Laws of form. – Ein Beispiel: Ich beobachte, dass ich im Regen stehe. Dann habe ich eine Unterscheidung angewandt (‚Regen/kein Regen‘) und eine Seite der Unterscheidung bezeichnet (‚Regen‘). In diesem Kontext lässt sich nun mit der Unterscheidung ‚Regenschirm/kein Regenschirm‘ ein re-entry vornehmen: Jetzt kann ich nämlich entweder beobachten, dass ich nicht im Regen stehe (‚Regenschirm‘), während ich im Regen stehe (‚Regen‘), oder, dass ich im Regen stehe (‚kein Schirm‘), während ich im Regen stehe (‚Regen‘). Gesucht ist also ein verfassungsgeschichtliches Äquivalent zum Regenschirm.

1. Einleitung

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Bereich der Kontinuität markiert zu halten und zum andern innerhalb dieses Bereichs lokal noch einmal nach Kontinuität und Diskontinuität unterscheiden zu können. Damit sollte sich das Differenzierungsvermögen der Verfassungsgeschichte so weit erhöhen lassen, dass sich das oben beschriebene Problem gar nicht erst stellt: Erstens können dann – in kritischer Absicht – auch noch die raffiniertesten Kontinuitätsbehauptungen der Zeitgenossen hinterfragt werden, weil nun die Verfassungsgeschichte die Unterscheidung selbst handhaben und bei Bedarf auch im Hinblick auf Diskontinuität beobachten kann. Und zweitens kann – in konstruktiver Absicht – dann auch beschrieben und analysiert werden, wie Diskontinuitäten im Rahmen einer übergeordneten, tatsächlich auf Kontinuität gegründeten ‚Verfassungskultur‘ auftreten und sich entwickeln. Damit stellt sich die Aufgabe, einen verfassungsgeschichtlichen Ansatz zu entwickeln, mit dem – zugespitzt gesprochen – Diskontinuität in der Kontinuität beobachtet werden kann. Eben ein solcher Ansatz ist gemeint, wenn im Titel der vorliegenden Arbeit von der ‚Erschaffung der landständischen Verfassung‘ die Rede ist: Mit dem Begriff der ‚Erschaffung‘ ist zum einen die „Frage nach dem Gemacht-worden-sein“ 28 aufgeworfen, also die Frage nach der Diskontinuität, die das ‚Machen‘ bzw. Entstehen einer im emphatischen Sinn ‚neuen‘ Herrschaftsordnung bedeutet. Zum andern wird die Frage im Hinblick auf die ‚landständische Verfassung‘ gestellt, also eine genuin ‚vormoderne‘ Herrschaftsordnung, deren Erschaffung sich unter Bedingungen vollzog, die von einer Verfassungskultur vorgegeben waren, die ganz im Zeichen der Kontinuität stand. 29 Um es noch einmal anders, vielleicht anschaulicher zu sagen: Der Begriff der Verfassung in actu wurde von André Holenstein geprägt und von der Forschung übernommen, weil er so prägnant zum Ausdruck

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Landwehr, Die Erschaffung Venedigs, S. 18. Geht es Landwehr darum, in Bezug auf ‚den Staat‘ „zu zeigen, dass und wie er gemacht wurde“ (ebd., S. 13), so will die vorliegende Studie eben dies in Bezug auf ‚die Verfassung‘ zeigen. Während jedoch Landwehr einen diskursanalytischen Zugang wählt, wird hier ein institutionentheoretischer Ansatz verfolgt. – ‚Die Erschaffung‘ wird hier also im Sinne des englischen ‚The Making of‘ verwendet, das den Aspekt des Gemacht-seins noch präziser markiert, sich aber nicht gut übersetzen lässt. Vgl. den locus classicus: Edward P. Thompson, The Making of the English Working Class, London 1963, S. 9: „Making, because it is a study in an active process, which owes as much to agency as to conditioning. The working class did not rise like the sun at an appointed time. It was present at its own making.“ (Hervorhebung im Original). Vgl. einführend nur das aktuelle Überblickswerk: Krüger, Die landständische Verfassung, und den letzten Forschungsbericht: Eßer, Landstände im Alten Reich.

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bringt, dass die vormoderne Verfassung ‚im Handeln‘, also in den solennen Verfassungsakten zur Existenz kam. 30 Und in den letzten Jahren ist deutlich geworden, dass auch die landständische Verfassung in diesem Sinne eine Verfassung in actu war. 31 Allerdings kann man auch noch eine andere Konnotation aktivieren, denn bei den Scholastikern meint „in actu esse“ vor allem eines: „wirklich sein“. 32 Man kann den Begriff daher auch so verstehen, dass er die in den zeremoniellen Ausdrucksformen begründete, die Vormoderne umschließende Kontinuität der Verfassungsordnung betont, also nicht nur die Verfassung ‚im Handeln‘, sondern auch die (durch das Handeln) auf Dauer gestellte, wirklich-seiende Verfassung bezeichnet, die man daher auch als Verfassung in facto bezeichnen könnte. In diesem Sinn ist die landständische Verfassung schon seit dem frühen 19. Jahrhundert beschrieben worden: Aus noch älteren Vorstufen zuerst im Spätmittelalter entstanden, habe sie während der drei frühneuzeitlichen Jahrhunderte die politische Kultur der Reichsterritorien geprägt und sei dann selbst zu einer Vorläuferin der konstitutionellen Monarchie geworden. 33 Die dominante Forschungsmeinung geht also dahin, dass die landständische Verfassung eine Verfassung in facto war, eine während der ganzen Frühen Neuzeit ‚faktisch‘ existierende Ordnung. Nimmt man aber die institutionalisierten fürstlich-ständischen Beziehungen in einem konkreten Territorium genauer in den Blick, so wie es in der vorliegenden Untersuchung für die Landgrafschaft Hessen(-Kassel) getan wird, 34 dann 30 31

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Vgl. Holenstein, Die Huldigung der Untertanen, und Stollberg-Rilinger, Verfassung und Fest, S. 12. Vgl. etwa Stollberg-Rilinger (Hg.), Politisch-soziale Praxis und symbolische Kultur der landständischen Verfassungen im westfälischen Raum; Gehrke (Hg.), Aufbrüche in die Moderne; Neu, Sikora, Weller (Hg.), Zelebrieren und Verhandeln. Zimmermann, Ipsum enim ‚est‘ nihil est, S. 292. Vgl. auch ebd.: „Man kann gewiß bei keiner Beschreibung des von Thomas hier gemeinten ‚in actu esse‘ ohne Verwendung von Nomina wie ‚das Sein‘, ‚das Wirklichsein‘ oder ‚die Wirklichkeit‘ auskommen.“ So explizit bei Krüger, Die landständische Verfassung, S. XI und S. 1; vgl. auch Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter, S. 44; Press, Vom ‚Ständestaat‘ zum Absolutismus, S. 319; Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 218; Koenigsberger, Parliaments in the Sixteenth Century and Beyond, S. 269; Blickle, Das Alte Europa, S. 53. Es handelt sich um eine pragmatische Kurzbezeichnung. Mit ‚Landgrafschaft Hessen‘ meint man in der Regel die composite monarchy der landgräflichen Dynastie, also den nur durch die Person des regierenden Landgrafen zusammengehaltenen Verbund von Territorien. In diesem Verständnis bilden auch Territorien einen Teil der Landgrafschaft, die nicht zum eigentlichen Reichslehen „Landgrafschaft und Fürstentum Hessen“ gehören. ‚Landgrafschaft Hessen-Kassel‘ ist noch ungenauer, denn trotz der Erbteilung von 1567 gab es lehnsrechtlich weiterhin nur eine Landgrafschaft Hessen, mit der das fürstliche Samthaus belehnt wurde. Korrekter wäre daher der zeitgenössische Ausdruck ‚Landgraf-

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verkompliziert sich das Bild, denn dann wird für die Zeit vom Ende des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts auf einmal eine von radikalen institutionellen Umwälzungen geprägte politische Praxis sichtbar, deren Radikalität die Zeitgenossen jedoch gleichzeitig zu verschleiern suchten. Abstrakt gesprochen liegt damit empirisch eben jene Konstellation vor, für die ein verfassungsgeschichtlicher Ansatz entwickelt werden soll – Diskontinuität in der Kontinuität. Die Geschichte der landständischen Verfassung in Hessen-(Kassel) kann daher nicht allein als Geschichte einer vormodernen Verfassung in facto, einer seit dem späten Mittelalter ‚seienden‘ Ordnung verstanden werden, sondern muss, so die These, zumindest für die Zeit um 1600 vielmehr auch als Geschichte einer vormodernen Verfassung in fieri, einer ‚im Werden‘ begriffenen neuen Ordnung konzipiert werden. 35 Genauer: Die Geschichte der landständischen Verfassung in Hessen(-Kassel) wird als Geschichte einer vormodernen Verfassungsgenese im oben skizzierten Sinne beschrieben, als Geschichte einer Verfassung in fieri, die unter den Bedingungen der frühneuzeitlichen politischen Kultur gleichwohl als Verfassung in facto ausgegeben werden musste – und später tatsächlich zu einer solchen wurde. 36 Diese Konzeption bietet dann den Rahmen zur Entfaltung eines im Hinblick auf Kontinuität und Diskontinuität differenzierten verfassungsgeschichtlichen Zugriffs: Im Hinblick auf die Diskontinuität wird deutlich werden, dass der Erfindung neuer institutioneller Formen und der Erschaffung neuer Kollektivakteure eine zentrale Rolle zukam und dass die institutionelle Form der Verfassung selbst dynamisch wirkte. Und erst im Kontrast dazu werden auch die Mechanismen der Kontinuität besser erkennbar: Die bedrohliche ‚Neuheit‘ der entstehenden landständischen Verfassung wurde sowohl durch die Konstruktion von Erinnerungsräumen entschärft als auch in der poli-

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schaft Hessen kasselischen Anteils‘. Zusätzlich zu ihrem Anteil an der Landgrafschaft herrschte die Kasseler Linie ebenfalls über weitere Gebiete. Relevant sind diese Unterscheidungen, weil ständischer Repräsentationsbereich und fürstlicher Herrschaftsbereich nicht deckungsgleich waren. Vgl. Guthrie, In fieri: „A thing is said to be in fieri when it is beginning to be, but is not yet complete. It is said to be in facto when it exists completely in the nature of things with those constituent parts with which it remains. Thus a picture is in fieri, when the painter is painting the canvas, but it is said to be in facto when the picture has already been painted.“ Seit 1655 besteht in Hessen-Kassel eine landständische Verfassung; vgl. etwa Demandt, Die Hessischen Landstände nach dem 30jährigen Krieg, S. 162f.; Hollenberg, Einleitung III, S. XIX–XXXVII. Wobei daran zu erinnern ist, dass die Behauptung, die landständische Verfassung in Hessen und anderswo sei immer schon eine Verfassung in facto gewesen, im Grunde bis in die jüngste Zeit akzeptiert worden ist.

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tischen Praxis durch institutionalisierte Heuchelei unterhalb der Thematisierungsschwelle gehalten. In einem Satz: Der Genese der landständischen Verfassung in Hessen(-Kassel) soll wieder die ‚Form der Veränderung‘ (Hegel) gegeben werden, die unter den Bedingungen einer auf Kontinuität basierenden politischen Kultur unkenntlich gemacht wurde. Damit versteht sich die vorliegende Untersuchung in erster Linie als ein Beitrag zur allgemeinen Verfassungsgeschichte und insbesondere als Versuch, Prozesse der Verfassungsgenese unter vormodernen, insbesondere frühneuzeitlichen Bedingungen beschreibbar zu machen. Darüber hinaus ist die Untersuchung auch im Kontext der hessischen Landesgeschichte und der Historischen Ständeforschung zu verorten. Während sich ersteres von selbst versteht, liegt der Bezug zur allgemeinen Ständegeschichte darin, dass der Analyse ein verallgemeinerter Begriff der landständischen Verfassung zugrunde gelegt wird, so dass aus den Erkenntnissen zum hessischen Fall auch Fragen und Hypothesen für andere Territorien mit landständischen Verfassungsstrukturen gewonnen werden können. Die Untersuchung nimmt dabei folgenden Gang: Zunächst werden begriffliche und methodische Vorarbeiten geleistet (2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie). Die Vorstellung einer kleinschrittigen, ‚evolutionären‘ Entwicklung der landständischen Verfassung ist so sehr im Zentrum der Ständeforschung verankert, dass kein adäquates Analyseinstrumentarium zur Verfügung steht, mit dem man die fast ‚revolutionär‘ zu nennenden Ereignisse und Prozesse der Verfassungsgenese beschreiben kann. Zum Teil lässt sich ein solches Instrumentarium durch die Präzisierung von Begriffen gewinnen, die in der Ständeforschung entwickelt worden sind. Ebenfalls im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Forschungsgeschichte wird dann eine Definition der landständischen Verfassung im Sinne eines Strukturtypus erarbeitet. An diesem Punkt werden institutionentheoretische Überlegungen eingeschaltet, da die Ständegeschichte über keine Konzepte zur Beschreibung der Genese dieses Strukturtypus anbietet. Das erarbeitete Analyseinstrumentarium wird dann zunächst eingesetzt, um die bisher ‚kanonische‘ Kontinuitätsannahme einer Kritik zu unterziehen (3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?). Ausgehend von der Vorstellung, die landständische Verfassung habe sich schon im Mittelalter entwickelt und sei daher für die gesamte Frühe Neuzeit eine prägende politische Struktur, wird gezeigt, dass es im 16. Jahrhundert noch keine landständische Verfassung im Sinne des Strukturtypus gegeben hat. Es wird zum einen nachvollzogen, dass die Landstände in der Vormundschaftszeit (1509–1518) zwar als Kollektivakteur auftraten, ihre Vergemeinschaftung aber nicht dauerhaft war und auch nicht sein

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sollte, so dass nicht von einer Verfassung gesprochen werden kann. Zum andern wird gezeigt, dass die fürstlich-ständischen Beziehungen nach den 1530er Jahren zwar institutionalisiert wurden, aber in Form einer ‚Verfassung ständischer Vielfalt‘, einer Verfassungsordnung eigenen Typs. Da aber nach 1655 eine landständische Verfassung bestand, muss zwischen dem Ende des 16. und der Mitte des 17. Jahrhunderts eine Diskontinuität eingetreten sein, insofern die Verfassung ständischer Vielfalt von der landständischen Verfassung abgelöst wurde. Dieser Prozess wird dann nachfolgend in zwei Schritten rekonstruiert. Zunächst wird der Aufbau landständischer Verfassungsstrukturen untersucht, der seit den 1590er Jahren von den Ständen auf gesamthessischer Ebene eingefordert und dann im ‚Jahrzehnt der institutionellen Verfestigung‘ (1609–1620) von Fürsten und Ständen gemeinsam geleistet wurde – allerdings auf der Ebene der Teilterritorien (4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht (ca. 1590–1623)). Im Zentrum steht das Wechselverhältnis zwischen radikalen Veränderungen – Erfindung neuer institutioneller Formen, Erschaffung neuer Akteure – einerseits und den Versuchen, diesen Veränderungen die ‚Form der Veränderung‘ zu nehmen und den Anschein von Kontinuität zu erwecken. Als Ergebnis dieses Prozesses war bis 1620 tatsächlich eine landständische Verfassung in Hessen-Kassel entstanden, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass der Landgraf mit dem Versuch scheiterte, die Autonomie der nunmehr entstandenen politischen Institution drastisch zu senken. Dass die Entstehung der landständischen Verfassung damit nicht abgeschlossen war, wird anhand der Untersuchung der beiden Ständekonflikte deutlich, die sich in den 1620er und 1640/50er Jahren ereigneten (5. Ständekonflikte – die Verfassung in der Krise (1623–1655)). Dabei handelte es sich um genuine Verfassungskonflikte, denn umstritten war vor allem, ob neben der Ständegesamtheit – der Zentralinstitution der landständischen Verfassung – auch der Ritterschaft eine eigenständige politische Rolle zukomme oder nicht. In einer Ausnahmesituation, der Landgraf befand sich im Exil und das Land war von ligistischen Truppen besetzt, konstituierte sich die Ritterschaft 1625 als politischer Kollektivakteur eigenen Rechts und versetzte die landständische Verfassung damit in einen Zustand gesteigerter ‚Unausgetragenheit‘. Zwar wurde der erste Ständekonflikt dann unter äußerem Druck beigelegt, aber ohne dass die Ursache – der ungeklärte Status der Ritterschaft – beseitigt worden wäre. Nachdem sich die landständische Verfassung in den 1630er Jahren endgültig als die maßgebliche Form der fürstlich-ständischen Beziehungen durchgesetzt hatte, wurde im zweiten Ständekonflikt auch die Unausgetragenheit beseitigt. In Form eines vor dem Reichskammergericht und in direkten Verhandlungen ausgetragenen Deutungskonflikts wurde die

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genuin ‚hessische‘ institutionelle Praxis nachträglich ‚theoretisiert‘ und auf allgemeine Begriffe gebracht. Und im Verlauf dieses Prozess erwies sich, dass der Anspruch der Ritterschaft auf eigenständige politische Teilhabe argumentativ nicht aufrecht erhalten werden konnte. Folgerichtig wurde im Oktober 1655 ein Vergleich geschlossen, der eine landständische Verfassung im Sinne des Strukturtypus fundamentalgesetzlich festschrieb. Diese lex fundamentalis galt dann unverändert bis zum Ende des Ancien Régime – aus einer Verfassung in fieri war eine Verfassung in facto geworden. 37

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Damit soll erstens nicht gesagt sein, dass sich die landständische Verfassung in der Zeit von 1655 bis 1806 nicht mehr verändert oder dass es keine Konflikte mehr gegeben hätte. Der qualitative Unterschied besteht jedoch darin, dass sich alle weiteren Veränderungen und Konflikte im Rahmen der 1655 fixierten Verfassungsordnung abspielten, die selbst nicht in Frage gestellt wurde, während vor 1655 dieser Rahmen selbst überhaupt erst erschaffen wurde und in den Ständekonflikten Gegenstand der Auseinandersetzung war. Zweitens ist zu beachten, dass die landständische Verfassung auch als Verfassung in facto eine Verfassung in actu war, also ständig im praktischen Vollzug reaktualisiert werden musste.

2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

Die Erforschung der deutschen Landstände kann immer noch als in hohem Maße unkoordiniert gelten. Damit ist weniger gemeint, daß diese oder jene regionale Lücke klafft, sondern daß man sich […] meist unmittelbar den Quellen zuwendet, ohne zuvor parallele Studien […] systematisch ausgewertet zu haben. Peter Moraw 1 Scharfe Scheidung ist in der Realität oft nicht möglich, klare Begriffe sind aber dann deshalb nur um so nötiger. Max Weber 2

Um die Geschichte der landständischen Verfassung als Geschichte einer Verfassung in fieri schreiben zu können, bedarf es zu Beginn einiger begrifflicher und methodischer Vorarbeiten, da die Ständegeschichte nicht über Beschreibungskategorien und Erklärungsmodelle verfügt, mit denen die Entstehung einer Verfassungsordnung adäquat untersucht werden könnte. Zunächst muss also ein präziser Begriff der landständischen Verfassung erarbeitet werden, denn nur dann, wenn geklärt ist, was unter einer landständischen Verfassung im strengen Sinne zu verstehen ist, können die Kriterien formuliert werden, die erfüllt sein müssen, um vom Bestehen einer solchen Verfassungsordnung überhaupt sprechen zu können. Tatsächlich lässt sich ein solcher Begriff gewinnen, indem die Geschichte der Historischen Ständeforschung aufgearbeitet, die verschiedenen Forschungsstränge und ihre erkenntnisleitenden Interessen sowie die wichtigsten Forschungsprobleme herausgestellt und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Damit verfügt man zwar über die Kriterien für das Bestehen einer landständischen Verfassung, kann also angeben, ob eine solche vorliegt oder nicht. Um aber darüber hinaus auch die Frage beantworten zu können, wie und warum es im Einzelfall dazu kommt, dass nach und nach alle Kriterien erfüllt werden, reicht eine Beschäftigung mit der For-

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Moraw, Zu Stand und Perspektiven der Ständeforschung im spätmittelalterlichen Reich, S. 7. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 123.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

schungsgeschichte nicht aus, weshalb im Anschluss kulturtheoretische Überlegungen in die Untersuchung eingeschaltet werden. Der vorher aus der Aufarbeitung der Forschungsgeschichte gewonnene Begriff der landständischen Verfassung wird dabei institutionentheoretisch neu gefasst, um Erklärungsmodelle für die Verfassungsgenese zu entwickeln.

2.1 Forschungskontexte Eines ist vorauszuschicken: Geschichte und derzeitiger Stand der Ständeforschung werden hier nicht im Sinne eines einführenden Überblicks dargestellt, sondern sie werden im Hinblick auf ein konkretes Ziel aufgearbeitet und dieses Ziel ist die Entwicklung eines möglichst präzisen Begriffs der landständischen Verfassung – die Ständegeschichte wird also nicht als abzubildende ‚Forschungslandschaft‘, sondern als auszubeutender ‚Forschungssteinbruch‘ verstanden. Eine solche Aufarbeitung kann sich nicht darin erschöpfen, die kanonischen Selbstdeutungen der Disziplin zu wiederholen, sondern muss die Deutungsarbeit selbst übernehmen, sich also ‚reflexiv‘ zur Geschichte des eigenen Forschungsfeldes verhalten. Wissenschaftliche Reflexivität richtet sich nach Loïc Wacquant allgemein auf „das in die wissenschaftlichen Werkzeuge und Operationen eingegangene soziale und intellektuelle Unbewußte“. 3 Zur Thematisierung dieses ‚Unbewussten‘ eignet sich nun die historische Kontextualisierung des in Frage stehenden Wissenschaftszweiges, also seine Disziplingeschichte, denn – wie Pierre Bourdieu präzisierte – „das Unbewusste eines Fachs, das ist […] dessen Geschichte“. 4 Und daher kann gerade eine reflexive Aufarbeitung der Forschungsgeschichte helfen, das eigene „akademische Unbewusste aufzuklären“. 5 Gemeint ist damit konkret, dass eine reflexive Herangehensweise versucht, durch die Beschäftigung mit der Geschichte der Ständeforschung die Bedingtheit des aktuellen Forschungsstandes – des eigenen Blickpunktes – in den Blick und damit in den Griff zu bekommen. Im folgenden werden drei Problemkomplexe namhaft gemacht, die zwar kaum je thematisiert werden, also metapho-

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Wacquant, Auf dem Weg zu einer Sozialpraxeologie, S. 63. Bourdieu, Für eine Soziologie der Soziologen, S. 79. Friebertshäuser, Rieger-Ladich, Wigger, Reflexive Erziehungswissenschaft: Stichworte zu einem Programm; vgl. dazu die Rezension aus Sicht der Geschichtswissenschaft von Neu.

2.1 Forschungskontexte

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risch ‚unbewusst‘ sind, deren Aufarbeitung aber für die Schärfung des Begriffsinstrumentariums unentbehrlich ist.

2.1.1 Konstitutionell, etatistisch, institutionell: Drei Erkenntnisinteressen Das erste Problem, das ‚bewusst‘ gemacht werden muss, hat mit der Frage zu tun, ob die gegenwärtige Ständeforschung eher als ein homogenes oder ein heterogenes Forschungsfeld anzusehen ist. Bedeutsam ist diese Frage, weil die Antwort das weitere Vorgehen vorgibt: Ist das Forschungsfeld heterogen, kann die Begriffsschärfung möglicherweise durch einen internen Abgleich der verschiedenen Forschungsstränge erfolgen, während bei weitgehender Homogenität die Ständeforschung zusätzlich mit anderen Forschungsdisziplinen kontrastiert werden müsste. Nur: Was für ein Kriterium ist in Anschlag zu bringen, um diese Frage zu beantworten? Nun ist es für ein jedes wissenschaftliches Feld – wie für soziale Felder überhaupt – bestimmend, „dass die spezifischen Interessen und Interessenobjekte definiert werden, die nicht auf die für andere Felder charakteristischen Interessen und Interessenobjekte reduzierbar sind“. 6 Solche ‚spezifischen Interessen‘ oder ‚Erkenntnisinteressen‘, die die Ständeforschung als Feld überhaupt erst definieren, werden im Folgenden als Kriterium herangezogen. 7 Da der Begriff des Feldes durchaus 6 7

Bourdieu, Über einige Eigenschaften von Feldern, S. 107. Da es sich hier also um eine Rekonstruktion der Ständeforschung unter einer bestimmten Perspektive und nicht um einen Literaturbericht oder eine bibliographie raisonnée handelt, kann kein Anspruch auf bibliographische Vollständigkeit erhoben werden. Vgl. dazu stattdessen die Literaturberichte und Forschungsüberblicke in chronologischer Reihenfolge: Moser, Von der Teutschen Reichs-Stände Landen, S. 313–321; Pütter, Litteratur des Teutschen Staatsrechts, III, S. 275–281; Klüber, Oeffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten, II, S. 437–499; Unger, Geschichte der deutschen Landstände, I, S. XI–XXXVIII; Ders., Geschichte der deutschen Landstände, II, S. V–IX; Below, System und Bedeutung der landständischen Verfassung (1900), S. 163– 282; Ders., System und Bedeutung der landständischen Verfassung (1923), S. 53–160; Cam, Marongiu, Stökl, Recent Work and Present Views on the Origins and Development of Representative Assemblies; Brunner, Land und Herrschaft, S. 394–440; Gerhard, Probleme ständischer Vertretungen im frühen achtzehnten Jahrhundert und ihre Behandlung in der gegenwärtigen internationalen Forschung; Birtsch, Die landständische Verfassung als Gegenstand der Forschung; Oestreich, Auerbach, Die Ständische Verfassung in der westlichen und in der marxistisch-sowjetischen Geschichtsschreibung; Moraw, Zu Stand und Perspektiven der Ständeforschung im spätmittelalterlichen Reich; Blickle, Perspektiven ständegeschichtlicher Forschung; Krüger, Die landständische Verfassung, S. 33–86; Eßer, Landstände im Alten Reich.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

die Metapher des Kraftfeldes beinhaltet, kann man sich die spezifischen Interessen als die ‚Gravitationszentren‘ der Ständeforschung vorstellen: Die gesellschaftlichen Umstände laden bestimmte Problemstellungen mit Bedeutung auf, die dann im Kontext wissenschaftlicher Felder als spezifische Interessen wirken. Auf den ersten Blick scheint die Frage allerdings schon eindeutig zugunsten der Homogenität entschieden zu sein, denn die Geschichte der Ständeforschung wird in der Regel als eine einheitliche Geschichte konzipiert, in der einzelne Phasen aufeinander folgen: Nach einer Vorgeschichte im Ancien Régime entstehe eine genuin historische Ständeforschung zu Beginn des 19. Jahrhunderts – im Zeichen der Auseinandersetzungen um die Auslegung des Artikels 13 der Deutschen Bundesakte: „In allen Bundesstaaten wird eine landesständische Verfassung Statt finden.“ 8 In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts – nach der Reichsgründung und in Reaktion auf diese – beginne dann eine zweite Phase, in der nicht mehr, wie zuvor, die adäquate Form der Volksvertretung, sondern die Staatsbildung das erkenntnisleitende Problem darstelle. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sich dieser Lesart zufolge zunächst die schon seit dem Kaiserreich herrschende Lehre, das heißt das etatistische Interesse an der Staatsbildung im Verein mit einer negativen Bewertung der Landstände weiter behaupten, 9 wurde dann aber seit dem Impuls, den insbesondere Francis Ludwig Carstens 1959 erschienenes Werk Princes and Parliaments der deutschen Forschung vermittelt hatte, 10 durch eine „Ahnensuche nach demokratisch-parlamentarischen Vorformen“ 11 abgelöst. Dieser Phase – gerne definiert über ihre Legitimationsfunktion für die frühe Bundesrepublik – lässt man dann die ‚aktuelle‘ Ständeforschung folgen, die weder den fürstlichen noch den ständischen Pol überschätzt, sondern gleichsam als Synthese von etatistischer These und parlamentaristischer Antithese anzusehen ist. 12 8

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Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht 1806 bis 1918, Dokument Nr. 31, S. 591–601, hier S. 598. Zu diesem Artikel und dem Problem der landständischen Verfassung auf dem Wiener Kongress vgl. Mager, Das Problem der landständischen Verfassungen auf dem Wiener Kongress 1814/15; Wunder, Landstände und Rechtsstaat. Vgl. Hartung, Herrschaftsverträge und ständischer Dualismus in den deutschen Territorien; Oestreich, Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des Reiches, S. 317–365. Vgl. Carsten, Princes and Parliaments in Germany. In diesem Kontext ebenfalls oft genannt wird Grube, Der Stuttgarter Landtag 1457–1957. Oestreich, Ständetum und Staatsbildung in Deutschland. Auch in Ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Vgl. Krüger, Die landständische Verfassung, S. 61–86; Eßer, Landstände im Alten Reich, S. 260f.; Kummer, Landstände und Landschaftsverordnung unter Maximilian I.

2.1 Forschungskontexte

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Allerdings lässt sich nur ein Teil der Forschungsgeschichte in dieser Weise als Abfolge bestimmter Phasen beschreiben; ab einem gewissen Zeitpunkt ist anstatt von einer ‚Abfolge‘ eher von einer ‚Ausdifferenzierung‘ zu sprechen. Damit ist gemeint, dass es zumindest nach 1945 kein einheitsstiftendes Erkenntnisinteresse in der Ständeforschung mehr gab. Tatsächlich bildete sich eine schon seit der Zwischenkriegszeit in Ansätzen vorhandene Vielfalt erst richtig aus und seitdem wird das Forschungsfeld von drei ‚Gravitationszentren‘ gleichzeitig geprägt – Heterogenität statt Homogenität. Um diese These plausibel zu machen, wird zunächst die Genese der beiden älteren Erkenntnisinteressen, des konstitutionellen und des etatistischen, skizziert, um dann die mit der Durchsetzung des jüngsten, institutionellen Interesses verbundene Ausdifferenzierung deutlich zu machen. Die historische Ständeforschung war seit ihrer Entstehung zu Beginn des 19. Jahrhunderts während einer etwa sechzig Jahre währenden ersten Phase ‚konstitutionell‘ ausgerichtet, das heißt sie fragte – analytisch gesprochen – nach den Machtrelationen zwischen den an der Regierung eines Gemeinwesens beteiligten individuellen und kollektiven Akteuren. 13 Um Missverständnisse zu vermeiden: Der Begriff ‚konstitutionell‘ wird hier nicht im – sehr engen – Sinn des deutschen Sprachgebrauchs verwendet, meint also nicht Herrschaftssysteme mit einer positivierten Verfassung und insbesondere nicht die spezifisch deutsche Form der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts. 14 Vielmehr soll hier an das sehr weite Verständnis dessen angeschlossen werden, was im angelsächsischen Bereich unter constitutional history verstanden wird. Helen M. Cam, einer der wichtigsten Protagonistinnen der internationalen Ständeforschung, ist eine ebenso knappe wie eingängige Definition dieser Forschungsrichtung und des ihr zugrunde liegenden Erkenntnisinteresses zu verdanken: „Constitutional history is concerned with the working of government; that is with the interplay of forces.“ 15 Um zu verstehen, wie der konkrete Regierungsprozess funk-

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von Bayern, S. 13–15; Kruse, Stände und Regierung – Antipoden?, S. 11; Buchholz, Öffentliche Finanzen und Finanzverwaltung im entwickelten frühmodernen Staat, S. 1–9. Zur Vorgeschichte der Ständeforschung im Ancien Régime vgl. unten 2.1.2. Zu den Problemen des Begriffs vgl. Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert, S. 11–94. Definiert man hingegen – wie Otto Gierke es tat – „das Konstitutionelle als die organische Verbindung von Königtum und Volksfreiheit“ (Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert, S. 149), so handelt es sich beim monarchischen Konstitutionalismus um einen spezifisches Arrangement innerhalb des ‚konstitutionellen‘ Problemhorizonts. So Helen M. Cam in einem Brief an Isao Higashide aus dem Jahr 1956, zitiert nach Cosgrove, Reflections on the Whig Interpretation of History, S. 163.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

tioniert, konzipiert und untersucht ihn die ‚konstitutionelle‘ Historikerin also als Wechselspiel politischer ‚Kräfte‘. Constitutional history in diesem Sinne hat in der angelsächsischen Geschichtsschreibung eine lange Tradition und reicht mindestens bis in die Zeit zurück, in der sich auch die deutsche Ständeforschung formierte – und zwar mit einem ähnlichen Erkenntnisinteresse. 16 Um diese Ähnlichkeiten sichtbar zu machen, ist die konstitutionelle Problemstellung bisher sehr abstrakt bestimmt worden als das Interesse an den Machtrelationen zwischen den an der Regierung eines Gemeinwesens beteiligten individuellen und kollektiven Akteuren; in der historiografischen Praxis allerdings prägte es sich in unterschiedlichen Varianten aus. Einige Forscher äußerten ihr Interesse an politisch relevanten Machtrelationen in der Form, dass sie von den ‚Freiheitsrechten‘ der Landstände sprachen, die es zu erforschen galt. So hielt es etwa Adolf Wohlwill noch 1867 in einem der letzten Werke der konstitutionellen Phase für die „Hauptfrage“ seiner Arbeit über die landständische Verfassung im Bistum Lüttich, „das Werden und Wachsen der landständischen Freiheiten richtig zu erfassen und darzustellen“. 17 Der Akzent liegt hier eher auf dem Abwehrcharakter der ständischen Privilegien gegenüber den stets wachsenden Zumutungen von Seiten des Fürstenstaats. Für die zweite Variante steht beispielsweise Friedrich Wilhelm Unger, der mit seiner zweibändigen Geschichte der deutschen Landstände im Jahre 1844 eine erste Gesamtübersicht versuchte. Der erste Band hebt an mit einer programmatischen Aussage: Die weisen aller zeitalter haben das grösste lob den statsverfassungen zuerkannt, welche nicht die ganze oberste gewalt ungetheilt und unbeschränkt in die hand eines einzigen mannes oder einer einzigen corporation legen, indem sie vielmehr einer mehr oder minder grossen anzahl von männern aus dem beherrschten volke das recht und den beruf verleihen, neben dem herrscher durch einen gewissen grad eigener und unabhängiger thätigkeit an den handlungen und geschäften des states theil zu nehmen. 18

Mit der ‚Anteilname an den Staatsgeschäften‘ – den „Geschäften des Landes“ (Freyberg), den „öffentlichen Angelegenheiten“ (Dobbeler), dem 16

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Vgl. etwa Hallam, The Constitutional History of England from the Accession of Henry VII. to the Death of George II., der bemerkte: „The title which I have adopted, appears to exclude all matter not referrible [sic!] to the state of government, or what is loosely denominated the constitution.“ Wohlwill, Die Anfänge der landständischen Verfassung im Bistum Lüttich, S. 2f. Vgl. auch Rudhart, Die Geschichte der Landstände in Bayern, I, S. VI f.; Neumann, Geschichte der Land-Stände des Markgrafthums Niederlausitz und deren Verfassung, S. 22. Unger, Geschichte der deutschen Landstände, I, S. 3.

2.1 Forschungskontexte

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„öffentlichen Leben“ (Pfeiffer) oder der „Staatsgewalt“ (Maurer) 19 – akzentuieren diese Forscher eher politische Partizipationsrechte, welche die Landstände in Bezug auf die Regierung des Landes für sich reklamieren. Ob nun aber die ‚negativen‘ Abwehrrechte oder die ‚positiven‘ Partizipationsrechte im Mittelpunkt stehen, in beiden Fällen geht es nicht einfach um die Beschreibung von Machtpositionen, sondern um das ‚konstitutionelle‘ Problem der politischen Machtverhältnisse; um Rechte, welche die Landstände gegen den Fürsten oder in Konkurrenz zu ihm besitzen und damit tatsächlich um ein ‚interplay of forces‘ (Cam). Wie man die beiden Varianten – überspitzt: Freiheit vom Staat und Teilhabe am Staat – miteinander verbinden konnte, lässt sich am Werk Karl Friedrich Eichhorns demonstrieren, was auch deshalb nahe liegt, weil Eichhorns vierbändige Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte (1808– 1822) und die darin enthaltene Darstellung der landständischen Verfassung den normativen Referenzpunkt der ‚konstitutionellen‘ Ständeforschung darstellt. 20 Er sieht die landständische Verfassung da entstehen, wo vorher unverbundene Stände untereinander Einungen aufrichten, und stellt fest: „Alle diese Vereinigungen hatten bei ihrer Entstehung den Zweck, hergebrachte Rechte, vornehmlich der vereinigten Stände, zu sichern. Denn diese handelten zunächst nur für sich, obwohl sie für das Beste des ganzen Landes zu sorgen, sich auch ermächtigt hielten, und in sofern ein Landesrepräsentationsrecht auszuüben, wenigstens allmälig zu ihren Befugnissen rechneten“. 21

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Vgl. Freyherr von Freyberg, Geschichte der bayerischen Landstände und ihrer Verhandlungen, I, S. 3; Dobbeler, Ueber geschichtliche Entstehung, Charakter und zeitgemäße Fortbildung der landständischen Verfassung des Herzogthums Braunschweig und Fürstenthums Blankenburg, S. 40; Pfeiffer, Geschichte der landständischen Verfassung in Kurhessen, S. 199; Maurer, Landstände (geschichtlich), S. 251. Die Ausführungen zur landständischen Verfassung in: Eichhorn, Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, III, S. 223–259; Ders., Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, IV, S. 382–397. Zu Person und Werk vgl. Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert, S. 48–73; Bader, Eichhorn, Karl Friedrich; Sellert, Karl Friedrich Eichhorn – ‚Vater der deutschen Rechtsgeschichte‘; Dilcher, Eichhorn. – Die meisten frühen Ständeforscher nehmen zustimmend auf ihn Bezug, beispielsweise Dobbeler, Ueber geschichtliche Entstehung, Charakter und zeitgemäße Fortbildung der landständischen Verfassung des Herzogthums Braunschweig und Fürstenthums Blankenburg, S. 15; [Anon.], Versuch einer kurzen Geschichte der Landstände des Königreichs Hannover und des Herzogthums Braunschweig bis zum Jahre 1803, S. 4; Pfeiffer, Geschichte der landständischen Verfassung in Kurhessen, S. 2: „Meisterwerk“; Hegel, Geschichte der meklenburgischen Landstände bis zum Jahr 1555 mit einem UrkundenAnhang, S. 7. Eichhorn, Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, III, S. 213.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

Man sieht, dass es sich um eine Frage der Perspektive handelt: Als einzelne Stände (des Landes) verfügen Prälaten, Ritterschaft und Städte jeweils für sich über bestimmte jura quaesita, die als Abwehrrechte gegen den Fürsten fungieren; aber als einheitliche Korporation, als ‚gemeine Landschaft‘, die das Land repräsentiert, verfügen die Landstände über „Einfluß auf die Landesregierung“. 22 Als letzter Vertreter des konstitutionellen Erkenntnisinteresses ist Otto von Gierke anzusehen, der in seiner Eigenschaft als ‚Erfinder‘ des ‚ständestaatlichen Dualismus‘ später noch genauer vorgestellt wird. 23 War die Publikationsfrequenz schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts rückläufig, so kommt die Ständeforschung nach Gierkes Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft von 1868 in den 70er Jahren fast völlig zum Erliegen. Erst mit den Studien Georg von Belows zur landständischen Verfassung in Jülich-Berg, die er seit 1885 veröffentlichte, beginnt die zweite Blütezeit der Ständeforschung. 24 Aber es wird nicht einfach an die bisherige Forschungstradition angeknüpft, sondern die zweite Phase beginnt mit einem schon von den Zeitgenossen wahrgenommenen Bruch und einer Neuorientierung – kaum überraschend angesichts der veränderten politischen Rahmenbedingungen seit 1870/71. Dieser ‚Bruch‘ bestand konkret darin, dass ein neues ‚Gravitationszentrums‘ wirksam wurde, was schon in der Einleitung von Belows erster ständehistorischer Veröffentlichung deutlich wird: [D]ie Herrschaft des deutschen Dynasten des 13. Jahrhunderts war ein Konglomerat von Einzelrechten […]. Bis aus demselben ein Staat geworden ist, hat es langer und ernster Arbeit bedurft. Für den größeren Teil dieser Arbeit schulden wir den Landesherren unsern Dank. Aber sie haben Genossen in ihrer Arbeit gehabt, deren großartige Thätigkeit für die Ausbildung des deutschen Territorialstaats die Forschung in helleres Licht zu stellen erst angefangen hat: Es sind die Landstände. 25 22 23 24

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Eichhorn, Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, IV, S. 384. Zu Gierke vgl. allgemein Boldt, Otto von Gierke. Vgl. auch die Ausführungen zum Dualismus im folgenden Unterkapitel. Vgl. Below, Die landständische Verfassung in Jülich und Berg bis zum Jahre 1511, Kap. I und II; Ders., Die landständische Verfassung in Jülich und Berg bis zum Jahre 1511 (Kap. III); Ders., Geschichte der direkten Staatssteuern in Jülich und Berg bis zum geldrischen Erbfolgekriege. Alle Artikel auch zusammen erschienen als Ders., Die landständische Verfassung in Jülich und Berg bis 1511. Im folgenden wird jedoch nach den Zeitschriftenaufsätzen zitiert. Vgl. die Synthese in Below, System und Bedeutung der landständischen Verfassung (1900), sowie die erheblich veränderte Fassung Below, System und Bedeutung der landständischen Verfassung (1923). Zu Below vgl. umfassend Cymorek, Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900. Below, Die landständische Verfassung in Jülich und Berg bis zum Jahre 1511, Kap. I und II, S. 175.

2.1 Forschungskontexte

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Hier dokumentiert sich eine Verschiebung des spezifischen Erkenntnisinteresses: Im konstitutionellen Problemrahmen war das Interesse auf die politischen Machtrelationen innerhalb des Gemeinwesens gerichtet, in der konstitutionellen Ständeforschung konkret auf das Verhältnis von Landesherr und Landständen und ihr jeweiliges Handeln. Für Below aber steht gerade nicht die ständische bzw. fürstliche „Thätigkeit“ als solche im Mittelpunkt, sondern nur die „großartige Thätigkeit für die Ausbildung des deutschen Territorialstaats“ – es geht nicht mehr um Machtverhältnisse innerhalb eines Gemeinwesens, sondern um den Machtzuwachs des Gemeinwesens im Hinblick auf moderne Staatlichkeit. Below fragt nicht mehr, wie die Ständeforscher vor ihm, nach der politischen Verfaßtheit, sondern nach der Staatsbildung: Es handelt sich um einen Bruch mit dem konstitutionellen zugunsten eines etatistischen Interesses. Nachdem Felix Rachfahl und Hans Spangenberg neben Below zu den führenden Vertretern des etatistischen Erkenntnisinteresses avanciert waren, 26 gipfelte der Siegeszug dieser neuen Lehre während des Kaiserreiches schließlich in der endgültigen Kanonisierung, die der „dualistische Territorialstaat“ durch Fritz Hartung erfuhr. Seine 1914 veröffentlichte Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart war die erste ihrer Art und prägte als Lehrbuch für ein halbes Jahrhundert Generationen von Studenten – zuletzt erschien sie 1969 in neunter Auflage. 27 Inhaltlich schloss er sich an die großen Drei – Below, Rachfahl, Spangenberg – an, aber die immer weiter zunehmende Betonung der Staatsbildung verschob das Urteil über die Stände mehr und mehr ins Negative: Nunmehr erschien die landständische Verfassung als „Rückbildung“ gegenüber dem „erstarkten Fürstentum des 15. Jhs.“, das „auf eine einheitliche Staatsgewalt ausgegangen“ sei. 28 Und hatte Below noch davon gesprochen, die Stände hätten sich „ein nicht hoch genug anzuschlagendes Verdienst“ 29 in Bezug auf die Staatsbildung erworben, so hieß es nun, die Landstände seien „nur eine Beschränkung der fürstlichen Gewalt“ und trügen „Mitschuld an den großen Unterlassungen jener Staaten, an dem Verfall der kostspieligen, aber unentbehrlichen militärischen Macht, an der schwächlichen auswärtigen Politik, die allen Gefahren 26

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Vgl. Rachfahl, Die Organisation der Gesamtstaatsverwaltung Schlesiens vor dem dreissigjährigen Kriege; Ders., Der dualistische Ständestaat in Deutschland; Ders., Alte und neue Landesvertretung in Deutschland; Ders., Waren die Landstände eine Landesvertretung?; Spangenberg, Hof- und Zentralverwaltung der Mark Brandenburg im Mittelalter; Ders., Vom Lehnstaat zum Ständestaat. Vgl. Grothe, Zwischen Geschichte und Recht, S. 105–113. Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, S. 55. Below, Die landständische Verfassung in Jülich und Berg bis 1511, I, S. 175.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

durch Passivität begegnen zu können vermeinte“. 30 Die Landstände als Verhinderer fürstenstaatlicher Machtentfaltung und Staatsbildung, das war die herrschende Lehre, nachdem das etatistische Erkenntnisinteresse eine Generation gewirkt hatte. Bis hierhin erscheint die Entwicklung der Ständeforschung tatsächlich als homogene Abfolge einzelner Phasen, aber schon in der Zwischenkriegszeit mehren sich die Anzeichen für die folgende Ausdifferenzierung. Bleiben das etatistische Interesse und das Konzept des Dualismus auch weiterhin dominant, so mehren sich nach dem Ersten Weltkrieg gleichwohl Anzeichen für eine Neubewertung des ständischen Beitrags zur Staatsbildung. Galt es seit Hartung als ausgemacht, dass die landständische Verfassung eine Rückbildung gewesen sei und die allein vom Fürsten vorangetriebene Staatsbildung überwiegend gehemmt hätte, so hielt etwa der Schweizer Historiker Werner Näf den von ihm so genannten „ständischen Staat“ ganz im Gegenteil für die erste Ausprägung des modernen Staates überhaupt und meinte, die Stände stünden „also von Haus aus der modernen und spezifisch staatlichen Entwicklung nicht entgegen“; und nicht nur das, sie seien sogar ein aktives „Wirkungszentrum, ein Organ des modernen Staates“. 31 Mit dieser Einschätzung und auch, weil er weiterhin von einem Dualismus ausging, der durch den „Fürstenstaat“ aufgehoben werden musste, kehrt Näf damit letztlich zu einer Position zurück, die derjenigen Belows sehr nahe steht. Daneben wurde das konstitutionelle Erkenntnisinteresse erneut etabliert – nachdem es vor mehr als einem halben Jahrhundert nach Otto von Gierke seine Stellung als ein ‚Gravitationszentrum‘ der Ständeforschung verloren hatte. Diese Wiederaufnahme ist untrennbar mit dem Namen Otto Hintzes verbunden. 32 Hintzes intellektuelle Entwicklung muss hier keine genauere Darstellung erfahren, denn ausschlaggebend 30

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Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, S. 56. Und auch in der neunten Auflage von 1969 sind die Passagen zur landständischen Verfassung im wesentlichen unverändert; vgl. Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart (1969), S. 90: „Auch ist der Dualismus nicht etwa von vornherein im Wesen des Territorialstaats begründet gewesen, er ist vielmehr eine Rückbildung. Das erstarkte Fürstentum des 15. Jahrhunderts ist durchaus auf eine einheitliche Staatsgewalt ausgegangen.“ Die Passage zur Mitschuld der Stände ist sogar durch eine sozialpolitische Erweiterung verschärft worden: „Mitschuld an den großen Schwächen des Territorialstaats, vor allem an der sozialen Ungerechtigkeit, die alle Staatslasten auf Kleinbürger und Bauern abwälzte, ebenso wie an dem Verfall der kostspieligen, aber unentbehrlichen militärischen Macht, an der schwächlichen auswärtigen Politik, die allen Gefahren durch Passivität begegnen zu können vermeinte.“ (ebd., S. 91). Näf, Der geschichtliche Aufbau des modernen Staates, S. 37. Eine Biographie Hintzes fehlt, vgl. aber die Skizze von Neugebauer, Otto Hintze (1861– 1940). Zum Gesamtwerk vgl. Gerhard, Otto Hintze: His Work and His Significance

2.1 Forschungskontexte

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für die Ständeforschung wurde vor allem sein Spätwerk und insbesondere die beiden großen Abhandlungen „Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes“ und „Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung“, die 1930 und 1931 in der Historischen Zeitschrift erschienen. 33 Gegenüber dem weiterhin dominanten Etatismus restituiert Hintze in diesen Aufsätzen das konstitutionelle Interesse, 34 denn für ihn steht wieder der moderne Rechtsstaat mit Repräsentativverfassung im Mittelpunkt der Betrachtung, nicht mehr der anstaltliche Machtstaat. Das führt auch dazu, dass die Landstände wieder positiver bewertet werden, denn die ständische Verfassung ist nicht mehr als „Rückbildung“ (Hartung) zu betrachten, sondern als „Vorform des modernen konstitutionellen Systems, das […] im Parlamentarismus gipfelt“. 35 Auch das für den konstitutionellen Fragehorizont charakteristische Interesse an den Machtverhältnissen kehrt mit Hintze zurück: Seine Typologie der ständischen Verfassungen will ja unter Rückgriff auf den Feudalismus gerade klären, warum in einigen Staaten die ständische, in einigen die fürstliche Seite die Führung übernahm. 36 Gleichwohl kam die Diversifikation der Ständeforschung zunächst über Ansätze nicht hinaus: Sowohl Näf als auch Hintze wurden erst nach dem Weltkrieg intensiver rezipiert. 37 Anders verhielt es sich hingegen im Falle der Internationalisierung der Ständeforschung, die mit der

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in Historiography; Oestreich, Ständestaat und Ständewesen im Werk Otto Hintzes; zuletzt Grothe, Zwischen Geschichte und Recht, S. 55–79 und S. 133–148. Hintze, Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes; Ders., Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung. Hartungs Verfassungsgeschichte erschien 1922 in zweiter, 1928 in dritter und 1933 in vierter Auflage. Vgl. Grothe, Zwischen Geschichte und Recht, S. 136, der geradezu von einer „Monopolstellung“ spricht. Überhaupt ist die Geschichtswissenschaft von einer großen Kontinuität vom Kaiserreich zur Weimarer Republik hin gekennzeichnet. Vgl. ebd., S. 117, und Kehr, Neuere deutsche Geschichtsschreibung. Hintze, Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung, S. 47. Und damit wird der Absolutismus, der für die etatistischen Forscher die Endstufe des modernen Staates hervorgebracht hat, wieder zu einem „Übergangszustand“, nach dem das „repräsentative Prinzip“ „in der neuen Form der konstitutionellen Verfassung“ wiederauflebt (ebd., S. 42). Vgl. Hintze, Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes, S. 232. Dazu kommt, dass auch Hintze sogar den Begriff ‚konstitutionell‘ im weiten Sinne der constitutional history versteht. Man vgl. nur: „Damit stimmt, daß wir an vielen Stellen die römische Kurie geradezu bestrebt sehen, im Sinne der Herstellung ständisch-konstitutioneller Zustände einzuwirken. Es kam ihr dabei im allgemeinen darauf an, die weltliche Herrschergewalt überhaupt einzuschränken“ (Hintze, Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung, S. 19). Vgl. Grothe, Zwischen Geschichte und Recht, S. 148.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

Gründung der Commission Internationale pour l’Histoire des Assemblées d’États im Jahre 1936 einen gewaltigen Schub erhielt. 38 Eingerichtet auf maßgebliches Betreiben des Belgiers Émile Lousse und des Franzosen François Olivier-Martin, sollte die noch heute bestehende Commission die internationale Vernetzung der Ständeforschung organisieren. 39 Ein Beispiel für die Wirkung dieser Zusammenarbeit ist das Werk des langjährigen Geschäftsführers und Präsidenten der Commission, Émile Lousse, der die deutsche Diskussion um den „Ständestaat“ intensiv rezipierte und in die französischen Forschungsdebatten einbrachte. Aus der Beschäftigung mit der etatistischen Deutung Belows und seiner Nachfolger einerseits und dem konstitutionellen Neuansatz Hintzes andererseits entwickelte er das Konzept des „Korporatismus“, den er in polemischer Absicht einem von ihm sogenannten „Parlamentarismus“ entgegensetze. 40 Den Parlamentaristen warf Lousse vor, sie würden die vormodernen Ständeversammlungen auf anachronistische Weise an den Parlamenten ihrer eigenen Gegenwart messen und den politisch-sozialen Kontext der Ständeversammlungen zugunsten einer isolierenden Analyse der Einzelinstitution ausblenden. 41 Im Hinblick auf die Internationalisierung belegen Lousses Werke erstens eindrücklich, dass die Ständeforschung außerhalb Deutschlands bis in die Zwischenkriegszeit ununterbrochen von der konstitutionellen Problemstellung geprägt war, und zweitens, dass die Konzentration auf die Staatsbildung eine deutsche Sonderentwicklung darstellte, die erst zu dieser Zeit international rezipiert wurde. 42 Gleichzeitig kommt im Korporatismus auch die schon geschilderte Tendenz zur Diversifikation der Ständeforschung zum Ausdruck, denn indem Lousse und andere die sozialen Grundlagen des politischen Ständetums betonten und, mehr noch, Stand und Korporation zur fundamentalen Organisationsform der vormodernen Gemeinwesen aufwerteten, folgten sie letztlich keinem der beiden etablierten Erkenntnisinteressen. Stattdessen 38

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Vgl. dazu Rogister, The International Commission for the History of Representative and Parliamentary Institutions; Cam, The Commission for the History of Representative and Parliamentary Institutions. Dazu gibt die Commission mit „Parliaments, Estates & Representation“ eine eigene Zeitschrift heraus und verfügt über eine eigene Publikationsreihe, „Studies presented to the International Commission for the History of Representative and Parliamentary Institutions“, in der bisher über neunzig Veröffentlichungen erschienen sind. Vgl. Lousse, Parlamentarismus oder Korporatismus?; zuerst als Ders., Parlamentarisme ou corporatisme? Vgl. Lousse, Parlamentarismus oder Korporatismus?, S. 283. Dagegen etwa Cam, Theorie und Praxis der Repräsentation im mittelalterlichen England. Vgl. Lousse, La société d’Ancien Régime, S. 1–62.

2.1 Forschungskontexte

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stellten sie Themen und Ansätze bereit, die nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in ein gänzlich neues Erkenntnisinteresse einfließen sollten, um dann im Rahmen der allgemeinen Hinwendung zur Sozialgeschichte auch von den konstitutionellen und etatistischen Forschungssträngen rezipiert zu werden. 43 Zuerst aber machte eben jener Krieg – nachdem schon vorher wichtige Historiker emigriert waren – die geschilderten Ansätze zu Diversifikation und Internationalisierung zunichte. Wie eingangs erwähnt, wird auch die Geschichte der Ständeforschung nach 1945 als eine einheitliche Entwicklung konzipiert. Hier jedoch versagt das Modell der ‚Abfolge‘ vollends und muss durch ein Modell der ‚Ausdifferenzierung‘ ersetzt werden. Dies wird deutlich an der Aufnahme von Carstens Princes and Parliaments, das angeblich die Überwindung des Etatismus zugunsten der Suche nach parlamentarischen Traditionen eingeleitet hatte. In der bisher verwandten Terminologie verfolgte Carsten tatsächlich ein eindeutig konstitutionelles Anliegen, urteilte er doch auf der letzten Seite seines Buches über die Landstände: „They preserved the spirit of constitutional government and liberty in the age of absolute monarchy“. 44 Zwar untersucht Carsten auch die Beiträge der Stände zur Staatsbildung, etwa den Aufbau einer ständischen Finanzverwaltung, aber diese sind für ihn nur relevant als Instrumente in der ständigen Auseinandersetzung mit dem Landesherrn. Ob bewusst oder nicht, in Tradition der englischen constitutional history geht es dem Emigranten Carsten um die Opposition der Landstände gegenüber dem Fürsten, also um die Machtverhältnisse, nicht den Machtzuwachs des Gemeinwesens insgesamt. Wie aber wirkte dieser ‚konstitutionelle‘ Impuls in Deutschland? Als typisch kann die Rezension angesehen werden, die Peter Herde zwei Jahre später veröffentlichte. Anders als für Carsten war es für ihn im Hinblick auf die Landstände entscheidend, „ob sie […] neue Formen des politischen Lebens und neue Institutionen zu schaffen vermochten, sich von der bloßen Abwehrhaltung zur positiven Mitwirkung bei der Entstehung neuer Verfassungsformen erhoben und damit einen Anteil an der Entwicklung des modernen Verfassungsstaates für sich beanspruchen können“. 45 Hier artikuliert sich nun erneut das bisher herrschende 43

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Namentlich stellt der Korporatismus eine der Quellen des institutionellen Erkenntnisinteresses dar, ist aber nicht mit diesem identisch, ebenso wenig wie der von Lousse angegriffene Parlamentarismus mit dem konstitutionellen Interesse identisch ist. Carsten, Princes and Parliaments in Germany, S. 444. Das Schlusskapitel auch in deutscher Übersetzung als Ders., Die deutschen Landstände und der Aufstieg der Fürsten, S. 340: „Sie bewahrten den Geist verfassungsmäßiger Regierung und der Freiheit auch in der Zeit des Absolutismus.“ Herde, Deutsche Landstände und englisches Parlament, S. 289.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

etatistische Interesse: Was von Carsten ausdrücklich als ein freiheitlicher Traditionsstrang von Opposition gegen den absolutistischen Fürstenstaat geschätzt wird, erscheint Herde als „bloße Abwehrhaltung“, die gerade nicht zum Aufbau des modernen Staates beitrug. 46 Das hier offensichtlich vorliegende Missverständnis resultiert aus den unterschiedlichen Erkenntnisinteressen, von denen beide Forscher jeweils geprägt sind. Dass es sich um ein Missverständnis handelt, heißt aber keineswegs, dass der konstitutionelle Impuls Carstens keine Auswirkungen gehabt hätte, nur führte er eben nicht zu einer ‚Ablösung‘ des etatistischen Fragehorizonts, sondern ‚nur‘ dazu, dass der Beitrag der Landstände zur Staatsbildung in diesem Horizont erneut thematisiert und zunehmend positiver eingeschätzt wurde. 47 Aber der von außen kommende Anstoß erschöpfte sich nicht darin, die Bewertung der landständischen Verfassung im Rahmen der etatistischen Ständeforschung zu verändern; vielmehr etablierte sich nunmehr erneut und – nach ersten Ansätzen durch Hintze in der Zwischenkriegszeit – auch dauerhaft ein spezifisch konstitutionelles Forschungsinteresse, das seitdem neben dem Interesse an der Staatsbildung das Forschungsfeld zu prägen begann und bis heute prägt. Die Anziehungskraft, welche die beiden spezifischen Interessen jeweils auf die Forschung ausübten, veränderte sich zwar von Zeit zu Zeit, aber in der Rückschau zeigt sich, dass keines der beiden ‚Gravitationszentren‘ wieder verschwand. Diese Ausdifferenzierung wird deutlich, wenn man Aussagen gegenüberstellt, in denen bedeutende Ständeforscher ihr eigenes Erkenntnisinteresse thematisieren. Für den Etatismus ist der Befund eindeutig, denn eine der wohl meistzitierten Forschungsfragen der Nachkriegszeit lautet bekanntlich: „Haben die deutschen Stände einen positiven oder negativen Beitrag zum Aufbau der inneren und äußeren Struktur des werdenden modernen Staates seit dem Spätmittelalter bis zum Ende der landständischen Verfassung geleistet?“ 48 Aber obwohl diese 1967 von Gerhard Oestreich formulierte Problemstellung in den folgenden Jahrzehnten extrem einflussreich wurde, ging etwa der ebenso renommierte 46 47

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Vgl. ebd., S. 297: „Moderne politische Einrichtungen schuf in Deutschland nur der absolutistische Staat mit seinen Zentralinstitutionen.“ Zur Aufwertung der landständischen Verfassung seit den sechziger Jahren vgl. Oestreich, Ständetum und Staatsbildung in Deutschland, S. 47; Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes?, S. 3f.; Krüger, Die landständische Verfassung, S. 61–67; Eßer, Landstände im Alten Reich, S. 261. Oestreich, Ständetum und Staatsbildung in Deutschland; zitiert u. a. von HaugMoritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus, S. 7; paraphrasiert in Krüger, Landesherr und Landstände in Kursachsen auf den Ständeversammlungen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, S. 15.

2.1 Forschungskontexte

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Helmut G. Koenigsberger, der wie Carsten in Großbritannien lebte und lehrte, noch zehn Jahre später wie selbstverständlich von einem konstitutionellen Interesse aus und sah daher auch eine ganz andere Frage als zentral an: „[H]ow did this varying distribution of political powers between kings and parliaments arise?“ 49 Treffender kann man wohl die unterschiedlichen Erkenntnisinteressen nicht auf den Punkt bringen: Einem Teil der Ständeforscher geht es seit Carsten und Koenigsberger um die ‚distribution of powers‘, das heißt die Machtverhältnisse; ein anderer Teil untersucht mit Herde und Oestreich den ‚Aufbau des modernen Staates‘, das heißt den staatlichen Machtzuwachs. Aber der Prozess der Ausdifferenzierung seit dem Weltkrieg geht auch darin noch nicht auf, dass nunmehr beide ‚traditionellen‘ Erkenntnisinteressen der Ständeforschung gleichzeitig verfolgt werden, denn darüber hinaus entstand eine neue, dritte Perspektive – das ‚institutionelle‘ Erkenntnisinteresse. Die Begriffswahl erklärt sich daraus, dass nun die ständischen Institutionen selbst in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückten: Sie interessieren nicht mehr in ihrem ‚Für-Andere-Sein‘, sondern in ihrem ‚An-Sich-Sein‘. In konstitutioneller wie etatistischer Perspektive erscheint die landständische Verfassung zweifelsohne als wichtiger Gegenstand, aber nicht als ein zu erklärender Gegenstand sui generis, sondern als Mittel für die Erklärung der Machtverhältnisse im Gemeinwesen bzw. für die Erklärung der Staatsbildung. Das institutionelle Interesse hingegen richtet sich auf die Eigentümlichkeit der ständischen Institutionen, die ihnen eigenen Logiken, Strukturen und Funktionsweisen. So stellte etwa Dietrich Gerhard, den man zusammen mit Otto Brunner als den Begründer dieses Erkenntnisinteresses ansehen kann, im einleitenden Beitrag zu einem der wichtigsten, von ihm selbst herausgegebenen Sammelbände der Ständeforschung fest, dass es darauf ankomme, „die ursprüngliche Struktur von Institutionen […] besser zu verstehen“. 50 Und Otto Brunner hatte es explizit als die Aufgabe der Verfassungsgeschichte begriffen, den „Versuch einer Darstellung des inneren Baues der politischen Verbände“ zu machen und in diesem Zusammenhang auch von deren „Eigengesetzlichkeit“ gesprochen, nach der die Fachwissenschaft zu fragen habe. 51 49 50

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Koenigsberger, Dominium Regale or Dominium Politicum et Regale?, S. 46. Gerhard, Probleme ständischer Vertretungen im frühen achtzehnten Jahrhundert und ihre Behandlung in der gegenwärtigen internationalen Forschung, S. 31. Diese Position vertrat Gerhard schon seit den fünfziger Jahren, vgl. Ders., Regionalismus und ständisches Wesen als Grundthema europäischer Geschichte. Beide Zitate in Brunner, Land und Herrschaft, S. 163f. Auch Kurt von Raumer gehört im weiteren Sinne zu den Begründern dieses spezifischen Forschungsinteresses, sprach er doch schon 1957 von der „alteuropäischen Ordnungswelt“ (Raumer, Absoluter Staat,

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

Aus welcher gesellschaftlichen Situation entsprang nun dieses spezifische Interesse? Am Anfang stehen wohl tiefgreifende Diskontinuitätsbzw. Verlusterfahrungen einer Generation von Forschern, welche die ‚Krise der Moderne‘ seit 1900 und den zweifachen Zusammenbruch der staatlichen Ordnung Deutschlands intensiv erlebt hatte. 52 Dietrich Gerhard (geb. 1896) etwa bekannte 1948 in einem Brief an seinen akademischen Lehrer Friedrich Meinecke, seine eigenen wissenschaftlichen Interessen und Projekte hingen auf Engste „mit dem Bewusstsein zusammen, die Gefährdung und weitgehende Zerstörung der alten europäischen Ordnung seit meiner Jugendzeit miterlebt zu haben“. 53 Und auch der in etwa gleichaltrige Otto Brunner (geb. 1898) thematisierte diese Erfahrung immer wieder: Im Vorwort zu seiner 1949 erschienenen dritten größeren Monographie Adeliges Landleben und europäischer Geist heißt es beispielsweise an prominenter Stelle, das Buch handele „von einer Welt, die in den letzten Jahrhunderten versunken ist und in keiner Weise wiederkehren kann“. 54 Diese Erfahrungen führten zu einem gesteigerten Distanzbewusstsein, dem die vormodernen politischen Institutionen zunehmend als fremdartig erschienen und das sich hauptsächlich in zwei Hinsichten äußerte. 55 Erstens schärfte die wahrgenommene Fremdartigkeit in methodischer

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korporative Libertät und persönliche Freiheit, S. 96). In einem seiner letzten Aufsätze erwähnte auch Oestreich, Zur Vorgeschichte des Parlamentarismus, S. 267, die „Eigengesetzlichkeit der Institutionen“. Vgl. dazu allgemein vom Bruch, Graf, Hübinger (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900; Nitschke u. a. (Hg.), Jahrhundertwende. Dietrich Gerhard an Friedrich Meinecke, 30. August 1948, in: Meinecke, Akademischer Lehrer und emigrierte Schüler, S. 176–184, S. 178. Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist, S. 10. An dem zitierten Satz lässt sich die ‚Wende‘ nachvollziehen, die Brunner nach dem Krieg vollzog: Die im ersten Halbsatz ausgedrückte Überzeugung, dass die vormoderne Welt untergegangen sei, vertrat Brunner auch schon vor 1945. Allerdings erhoffte er sich zuerst von der völkischen Bewegung und später vom Nationalsozialismus die Überwindung der modernen Trennung von Staat und Gesellschaft nach dem Vorbild dieser untergegangenen Welt. Von dieser „radikal-totalitären Gemeinschaftsideologie“, die mit den Begriffen ‚Volk‘ und ‚Reich‘ verbunden ist, distanzierte sich Brunner nach dem Krieg, was sich im zweiten Halbsatz dokumentiert. Vgl. zu dieser „Wende von der germanozentriert-völkischen Ideologie zum alteuropäischen Konservatismus“ Blänkner, Von der ‚Staatsbildung‘ zur ‚Volkswerdung‘, hier S. 98 und 111. Die umfangreiche Forschungsliteratur zu Brunner zuletzt aufgearbeitet in Grothe, Zwischen Geschichte und Recht, S. 223f. Vgl. auch Boldt, Otto Brunner und die deutsche Verfassungsgeschichte. Ausdrücklich in Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist, S. 10: „Wir haben daher heute die Distanz gewonnen, sie [die Institutionen, T. N.] in ihrer geschichtlichen Wesenheit zu erkennen.“ Vgl. auch Blänkner, Von der ‚Staatsbildung‘ zur ‚Volkswerdung‘, S. 104.

2.1 Forschungskontexte

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Hinsicht das Einsicht, dass mittels moderner Begriffe (etwa ‚Staat‘), Konzepte (etwa ‚Repräsentation‘) und Deutungsrahmen (etwa ‚Staatsbildung‘) die vormoderne Ordnung, ihre Strukturen und Prozesse nicht hinreichend verstanden und erklärt werden können – mehr noch, dass ihre vormoderne Spezifizität sogar Gefahr läuft, verstellt und verzerrt zu werden. Für dieses ‚Gefahrenbewusstsein‘ steht der Name Brunners gleichsam als Chiffre und der Verweis auf ihn soll in der Regel signalisieren, dass man das Problem anachronistischer Rückprojektionen reflektiert hat. Aber das gesteigerte Distanzbewusstsein äußerte sich nicht nur als Kritik, sondern zweitens auch in konstruktiver Hinsicht dahingehend, dass versucht wurde, die unverstandene Fremdartigkeit der Vormoderne in eine begriffene Andersartigkeit zu transformieren. Dafür steht zunächst der Versuch Brunners, eine zwar auf die Gegenwart bezogene, gleichzeitig aber nicht anachronistische, sondern unter Rückgriff auf die Sprache der Quellen reflektierte Terminologie für die mittelalterliche Verfassungsgeschichte zu erarbeiten. 56 Ebenso lässt sich das zwar auch von Brunner, stärker aber noch von Gerhard propagierte ‚Alteuropa‘-Konzept als ein Versuch ansehen, die so deutlich empfundene Andersartigkeit auf den Begriff zu bringen. 57 Gleichzeitig ist hier eine enge Verbindung mit dem neuen, institutionellen Erkenntnisinteresse unübersehbar, denn sowohl für Brunner wie auch für Gerhard ist der Begriff ‚alteuropäisch‘ nicht geistes- oder politikgeschichtlich bestimmt, sondern bezogen auf den strukturellen Aufbau der politisch-sozialen Institutionen eines Gemeinwesens. 58 Insgesamt lässt sich festhalten, dass das institutionelle Erkenntnisinteresse zwar ursprünglich einer vor allem konservativen, teils sogar völkischen

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Das Missverständnis, Brunner hätte schlicht die direkte Übernahme der Quellentermini gefordert, ist immer noch weit verbreitet. Vgl. aber dagegen Blänkner, Von der ‚Staatsbildung‘ zur ‚Volkswerdung‘, S. 103, und Boldt, Otto Brunner und die deutsche Verfassungsgeschichte, S. 197f. Vgl. dazu programmatisch Gerhard, Old Europe, und zum Kontext Bödeker, Hinrichs (Hg.), Alteuropa – Ancien Régime – Frühe Neuzeit, und Schorn-Schütte (Hg.), Alteuropa oder Frühe Moderne. Seit der Jahrtausendwende steigt übrigens die Zahl der Veröffentlichungen, die ‚Alteuropa‘ oder ‚alteuropäisch‘ im Titel führen, wieder deutlich an. Vgl. Gerhard, Old Europe, S. 6: „I believe that a description of the whole of institutional features, from family and house via the different estates to institutionalized religion and political administration, can circumscribe the essence of a long-range epoch, without any ideological implications, whether Hegelian or Marxian.“ Vgl. auch Brunner, Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte, S. 476, wo Brunner fragt, ob es eine „einheitliche alteuropäische Sozialstruktur“ gegeben habe. Vgl. auch Bödeker, Hinrichs, Alteuropa – Frühe Neuzeit – Moderne Welt?, S. 26.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

Grundhaltung entsprang, 59 unabhängig davon aber einen enormen Historisierungsschub im Hinblick auf die Vormoderne darstellt, der bedingt ist durch die Verfremdungseffekte, die sich in Folge der ‚Zerstörung der alteuropäischen Ordnung‘ (Gerhard) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einstellten. Damit tritt das institutionelle Interesse seit dem Zweiten Weltkrieg als neues und drittes neben die beiden alten Problemstellungen und die seitdem bestehende Situation ließe sich metaphorisch folgendermaßen beschreiben: Die konstitutionell ausgerichtete Ständeforschung (Carsten, Koenigsberger) schaut – von den Ständen aus gesehen – ‚zur Seite‘ auf die anderen politischen Kräfte und untersucht die zwischen diesen bestehenden Machtverhältnisse; der etatistische Zweig (Herde, Oestreich) schaut ‚nach oben‘ auf den die politischen Akteure übersteigenden Staat und fragt nach dessen Machtzuwachs; die institutionelle Perspektive (Brunner, Gerhard) schließlich schaut auf die ständischen Institutionen selbst und thematisiert damit die Voraussetzungen und Mechanismen der ständischen Macht. Seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts sind damit drei unterschiedliche Erkenntnisinteressen in der Ständegeschichte etabliert und prägen das Forschungsfeld bis heute. Zu einer spürbaren Intensivierung der Forschungsaktivitäten kam es jedoch – trotz der Bücher von Helbig (1955), 60 Grube (1957) und Carsten (1959) – erst seit den späten sechziger Jahren: Einflussreiche Standardwerke wurden neu herausgegeben 61 und neben der Debatte um eine Neubewertung der Stände, von den arrivierten Forscher hauptsächlich in Aufsatzform geführt, 62 entstanden nach und nach die ersten Qualifikationsarbeiten ihrer Schüler. 63 Den Durchbruch markiert das Erscheinen des ersten großen – und seitdem immer wieder 59

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Vgl. Gerhard an Meinecke, S. 183, wo Gerhard von sich selbst sagt, er sei „im Grunde ein Konservativer, dessen Herz sehr weitgehend bei der vorindustriellen Welt ist“. Zu Brunner vgl. umfassend Blänkner, Von der ‚Staatsbildung‘ zur ‚Volkswerdung‘. Helbig, Der wettinische Ständestaat. Das Buch endet mit einer grundsätzlichen Zurückweisung der Thesen Brunners für Mitteldeutschland. Spangenberg, Vom Lehnstaat zum Ständestaat (1964); Below, Die landständische Verfassung in Jülich und Berg (1965); Moser, Von der teutschen Reichs-Stände Landen (1967/68). Deutlich früher war wieder aufgelegt worden Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht (1954). Gesammelt in Rausch (Hg.), Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung, I und II. Obwohl die beiden Bände 1974 bzw. sogar erst 1980 erschienen, stammen die enthaltenen Aufsätze überwiegend aus den sechziger Jahren. Vgl. Sapper, Die Schwäbisch-Österreichischen Landstände und Landtage im 16. Jahrhundert; Schubert, Die Landstände des Hochstifts Würzburg; Lücke, Die landständische Verfassung im Hochstift Hildesheim 1643–1802; Renger, Landesherr und Landstände im Hochstift Osnabrück in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Arbeit von

2.1 Forschungskontexte

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zitierten – Sammelbandes Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert im Jahr 1969, der von Dietrich Gerhard herausgegeben wurde. 64 Seither reißt der Strom an ständehistorischen Arbeiten aus allen drei Forschungssträngen bis in die Gegenwart nicht mehr ab; insbesondere waren es weitere programmatische Sammelbände, die das folgende erste Jahrzehnt bestimmten: War Gerhards Band zu den ständischen Vertretungen eindeutig dem institutionellen Interesse zuzurechnen, folgen mit Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung (1974, 1980) und Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation (1977) konstitutionell orientierte Sammelbände, die 1983 gefolgt wurden von Ständetum und Staatsbildung in BrandenburgPreußen; ein Werk, das sein Erkenntnisinteresse schon im Titel trägt. 65 Die wachsende Heterogenität der Ständeforschung zeigt sich aber nicht nur darin, dass die drei ‚Gravitationszentren‘ eigene Sammelwerken inspirierten, sondern viel mehr noch darin, dass in diesen Bänden – egal wie der programmatische Titel lautete – stets Vertreter aller drei Interessen publizierten. 66 Im Rahmen des konstitutionellen Erkenntnisinteresses lassen sich bis heute zwei Entwicklungslinien ausmachen, die sich darin unterscheiden, in welche Perspektive sie das im Zentrum stehende interplay of forces (Cam) zwischen Landesherrn und Landständen einbetten. Eine erste Richtung begreift die landständische Verfassung – oft unter Bezug auf Hintze – vor allem als Vorläuferinstitution des modernen Parlamentarismus und spricht daher beispielsweise vom „europäischen Frühparlamentarismus“ oder der „lange[n] parlamentarische[n] Tradition“ Bay-

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Sapper regte Walter Grube an; die Aufnahme der Renger’schen Arbeit in die Publikationsreihe des Max-Planck-Instituts für Geschichte ist u. a. Dietrich Gerhard zu verdanken. Gerhard (Hg.), Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert. So auch Seitz, Die landständische Verordnung in Bayern im Übergang von der altständischen Repräsentation zum modernen Staat, S. 14, und Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus, S. 8. Vgl. Rausch (Hg.), Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung, I; Bosl (Hg.), Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation; Rausch (Hg.), Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung, II; Baumgart (Hg.), Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen. In einen ähnlichen Kontext gehört auch Boockmann (Hg.), Die Anfänge der ständischen Vertretungen in Preußen und seinen Nachbarländern. In Baumgart (Hg.), Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen, vertritt beispielsweise der Herausgeber das etatistische (Baumgart, Zur Einführung und Problemstellung), Koenigsberger, Formen und Tendenzen des europäischen Ständewesens im 16. und 17. Jahrhundert, das konstitutionelle und Press, Formen des Ständewesens in den deutschen Territorialstaaten des 16. und 17. Jahrhunderts, das institutionelle Interesse.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

erns. 67 Um diese Kontinuitätslinien ziehen und Ähnlichkeiten entdecken zu können, wird als tertium comparationis zumeist ein vorgeblich universeller Repräsentationsbegriff verwendet, hinter dem sich jedoch in der Regel ein modern-naturrechtliches und damit anachronistisches Begriffsverständnis verbirgt. 68 Der Repräsentationsproblematik verdankt sich auch die thematische Fokussierung auf ständische Institutionen, in denen Korporationen eine führende Rolle spielten, die große Teile der Untertanenschaft vertraten, etwa Landgemeinden oder Städte – dazu gehören etwa die süddeutschen Landschaften (Blickle) und die niederländischen Generalstaaten (Blockmans). 69 Und obwohl dieser ‚parlamentarische‘ Zweig letztlich gar nicht so viele Einzeluntersuchungen hervorgebracht hat, 70 stellt er doch das derzeit wohl wirkmächtigste Deutungsmuster für das politische Ständetum bereit, das auch als einziges über die Ständeforschung hinaus Beachtung findet. Diese enorme Wirkung beruht wohl nicht zuletzt auf der unermüdlichen Publikationstätigkeit Peter Blickles, dessen scharfe und eingängige Entgegensetzung von Herrschaft und Landschaft sich fast wie eine Wiederauflage Gierke’scher Thesen liest, 71 und der politischen Unterstützung durch die Landtage der Bundesrepublik. 72

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Krüger, Die landständische Verfassung, S. 1, und Schlögl, Stationen des Parlamentarismus in Bayern, S. 19. So bei Bosl, Die Geschichte der Repräsentation in Bayern, S. 1–12, und immer noch bei Blickle, Politische Landschaften in Oberschwaben. Vgl. Blickle, Landschaften im alten Reich, und Blockmans, A Typology of Representative Institutions in Late Medieval Europe; Ders., Stände und Repräsentation von Bürgern und Bauern in Europa. Neben Grube, Der Stuttgarter Landtag 1457–1957, Bosl, Die Geschichte der Repräsentation in Bayern, und Blickle, Landschaften im Alten Reich, gehört eigentlich nur Neugebauer, Politischer Wandel im Osten, dazu, der aber mit deutlich mehr Vorsicht gegenüber modernistischen Begrifflichkeiten arbeitet. Wichtiger waren wohl die Sammelbände Rausch (Hg.), Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung, I, II, und Bosl (Hg.), Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation. Jetzt auch Gehrke, Aufbrüche in die Moderne. Vgl. Blickle, Landschaften im Alten Reich; Ders., Kommunalismus, Parlamentarismus, Republikanismus; Ders., Perspektiven ständegeschichtlicher Forschung; Ders. (Hg.), Landschaften und Landstände in Oberschwaben; Ders., Das Alte Europa. Seit einigen Jahre propagieren auch Kersten Krüger und Michael Mitterauer das ‚parlamentarische Narrativ‘, obwohl dieser früher dem institutionellen und jener dem etatistischen Problemkontext zuzurechnen waren. Vgl. Krüger, Die landständische Verfassung, und Michael Mitterauer, Warum Europa? Vgl. die von den Landtagen unterstützten Werke: Grube, Der Stuttgarter Landtag 1457– 1957; Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg (Hg.), Von

2.1 Forschungskontexte

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Daneben gibt es aber auch eine zweite Gruppe von ebenfalls konstitutionell orientierten Forschern, die einen wesentlich kürzeren Zeithorizont wählen und die Machtbeziehungen zwischen Landesherrn und Landständen im Kontext des, wie Francis L. Carsten treffend formulierte, „Aufstieg[s] der Fürsten“ untersuchen, 73 das heißt im Kontext des frühneuzeitlichen Prozesses der fürstlichen Herrschaftsausweitung und -intensivierung. Ausgehend von der Grundannahme, dass sich dieser Prozess nicht entfalten konnte, ohne dass es zu mehr oder minder gravierenden Auseinandersetzungen zwischen Fürst und Ständen kam, richten diese Forscher ihr Interesse vor allem darauf, diese ‚Ständekonflikte‘ und die aus ihnen resultierende „Veränderung der Machtbalance zwischen Landesherr und Ständen“ 74 umfassend zu analysieren. Neben der Gesamtdarstellung einzelner Ständekonflikte 75 wurden in diesem Zusammenhang beispielsweise thematisiert: die Erosion ständischer Privilegien, 76 die Veränderungen der Konzepte fürstlicher Herrschaft, 77 verschiedene Konflikttypen und -verläufe 78 sowie die Auseinandersetzungen um ‚innenpolitische‘ Fragen wie Policeyordnungen und Steuerverwaltung. 79 Das Ziel dieser auf den ersten Blick sehr heterogen scheinenden Ansätze ist jedoch immer die Erklärung, warum und wie sich die Machtverhältnisse verschoben, verändert oder aufrecht erhalten wurden – womit dieser Zweig des konstitutionellen Erkenntnisinteresses die

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der Ständeversammlung zum demokratischen Parlament; Franz, Wolf, Landstände und Landtage in Hessen; Ziegler (Hg.), Der Bayerische Landtag vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart; Thüringer Landtag (Hg.), Landstände in Thüringen. Carsten, Die deutschen Landstände und der Aufstieg der Fürsten. Dieser Titel, ursprünglich die Überschrift des Schlusskapitels von Princes and Parliaments, macht deutlich, dass Carsten gerade nicht für die eben geschilderte ‚parlamentarische‘ Perspektive reklamiert werden kann – zur Frage der Kontinuität zwischen vormodernem und modernem Parlamentarismus hat sich Carsten nicht geäußert. Lange, Die politischen Privilegien der schleswig-holsteinischen Stände 1588–1675, S. 15. Vgl. Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus; Maruhn, Necessitäres Regiment. Vgl. auch Jahns, ‚Mecklenburgisches Wesen‘ oder absolutistisches Regiment?, und Arnold, Ständeherrschaft und Ständekonflikte im Herzogtum Preußen. Vgl. Lange, Die politischen Privilegien der schleswig-holsteinischen Stände 1588–1675. Vgl. Fürbringer, Necessitas und Libertas. Vgl. Walz, Stände und frühmoderner Staat. Zur Typisierung ständischer Konflikte vgl. auch Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus, S. 5– 42, und Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 216–234. Vgl. Stieglitz, Landesherr und Stände zwischen Konfrontation und Kooperation; Schaupp, Die Landstände in den zollerischen Fürstentümern Ansbach und Kulmbach im 16. Jahrhundert.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

wohl größte Schnittmenge mit den (wenigen) internationalen Veröffentlichungen hat, die auch die deutschen Territorien im Blick haben. 80 Das spezifische Interesse an der Staatsbildung, der zweite große Problemkomplex, hat eine deutlich homogenere Forschungsliteratur hervorgebracht: Wer Ständeforschung aus etatistischer Perspektive betrieb, interessierte sich – in der Nachfolge der wegweisenden Unterscheidung Gerhard Oestreichs – in erster Linie für den „Finanzstaat“ und/oder für den „Militär-, Wirtschafts- und Verwaltungsstaat“ 81, also für den Themenkomplex ‚Bürokratie‘ 82 mit einer besonderen Konzentration auf den Teilbereich der Steuerverwaltung. 83 Allerdings ist festzuhalten, dass wesentliche Entwicklungen der jüngeren Absolutismus- und Staatsbildungsforschung nicht rezipiert wurden, 84 denn auch in neueren Studien ist weder eine Hinwendung zur konkreten Herrschafts- und Verwaltungspraxis noch die Einbeziehung der lokalen und regionalen Handlungsebenen festzustellen: Es dominiert weiterhin der Blick auf die Ergebnisse der fürstlich-ständischen Verhandlungen auf zentraler Ebene und die Rekonstruktion der ständischen Verwaltungseinrichtungen anhand der normativen Vorgaben, nicht anhand ihres praktischen Funktionierens. 85 Eine Ausnahme stellen die aus dem neu erwachten Interesse an der habsburgischen Monarchie entstandenen Ansätze dar, 80

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Vgl. Myers, Parliaments and Estates in Europe to 1789; Koenigsberger, Dominium Regale or Dominium Politicum et Regale?; Ders., Parliaments and Estates; Graves, The Parliaments of Early Modern Europe. Oestreich, Ständetum und Staatsbildung in Deutschland, S. 50. Daran schon im Titel anknüpfend Baumgart (Hg.), Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen. Vgl. Oestreich, Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des Reiches; Seitz, Die landständische Verordnung in Bayern im Übergang von der altständischen Repräsentation zum modernen Staat; Kummer, Landstände und Landschaftsverordnung unter Maximilian I. von Bayern; Schmidt-Salzen, Die Landstände im Fürstentum Lüneburg zwischen 1430 und 1546; Krüger, Landesherr und Landstände in Kursachsen auf den Ständeversammlungen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts; Paringer, Die bayerische Landschaft; Godsey, Jr., Stände, Militärwesen und Staatsbildung in Österreich zwischen Dreißigjährigem Krieg und Maria Theresia. Vgl. auch die anderen Beiträge in Ammerer u. a. (Hg.), Bündnispartner und Konkurrenten der Landesfürsten? Vgl. Lanzinner, Fürst, Räte und Landstände; Krüger, Finanzstaat Hessen 1500–1567; Quarthal, Landstände und landständisches Steuerwesen in Schwäbisch-Österreich; Buchholz, Öffentliche Finanzen und Finanzverwaltung im entwickelten frühmodernen Staat. Vgl. Asch, Freist (Hg.), Staatsbildung als kultureller Prozess, und Blockmans, Holenstein, Mathieu (Hg.), Empowering Interactions; Mat’a, Winkelbauer (Hg.), Die Habsburgermonarchie. Sehr deutlich bei den jüngsten Arbeiten: Kummer, Landstände und Landschaftsverordnung unter Maximilian I. von Bayern, sowie Krüger, Landesherr und Landstände in Kursachsen auf den Ständeversammlungen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.

2.1 Forschungskontexte

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die das forschungsleitende Interesse an der Staatsbildung nicht nur explizit mit den neueren Ansätzen in der Staatsbildungs- und Absolutismusforschung verbinden, sondern auch den Landständen einen gewichtigen Platz zuweisen. 86 Auch der dritte Forschungsstrang, der sich der Wirkung des institutionellen Erkenntnisinteresses verdankt, lässt sich am besten mit einer Wendung zusammenfassen, die Gerhard Oestreich geprägt hat – gefragt wurde und wird hier nach dem „Nichtabsolutistischen im Absolutismus“. 87 Besonders hilfreich ist diese Bestimmung, weil sie rein negativ formuliert ist und daher unterschiedlichste Ansätze zusammenfassen kann, die nur das Merkmal gemeinsam haben, sich für etwas nicht zu interessieren, wobei unter diesem Etwas namens ‚Absolutismus‘ hier im weitesten Sinne alle Betrachtungsweisen zu verstehen sind, die auf den modernen Staat abzielen – letztlich gehört dazu auch das Konzept eines ‚europäischen Frühparlamentarismus‘ (Krüger). Und in der Tat sind die Sammelbände, Monographien und Aufsätze, die dem spezifisch institutionellen Interesse zuzurechnen sind, in thematischer Hinsicht äußerst vielfältig und kommen nur darin überein, die ständischen Institutionen selbst, ihr Werden, Funktionieren und ihre Transformationen in den Blick zu nehmen. Wie für die Ständeforschung insgesamt typisch, erlebte auch die institutionell orientierte Forschung erst in den späten sechziger Jahren ihren Durchbruch – sowohl in Deutschland als auch international. 88 Die in dieser Zeit entstandenen Arbeiten stehen allerdings noch deutlich in der Tradition der älteren, rechtsgeschichtlichen Institutionengeschichte. 89 86

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Vgl. die beiden Sammelbände Ammerer u. a. (Hg.), Bündnispartner und Konkurrenten?, und Mat’a, Winkelbauer (Hg.), Die Habsburgermonarchie. Im letztgenannten Sammelband behandeln immerhin vier (Hengerer, Mat’a, Winkelbauer, Hochedlinger) von dreizehn Autoren explizit die Landstände. Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, S. 183. Oestreich selbst erkannte diese „Kontinuität ständisch-landschaftlichen Wesens“ (ebd., S. 184) zwar an, gleichwohl blieb er dem etatistischen Erkenntnisinteresse verpflichtet, denn das von ihm entwickelte Konzept der Sozialdisziplinierung sollte ja das traditionelle Interesse an der Staatsbildung in einem neuen Rahmen weiterführen; vgl. Schulze, Gerhard Oestreichs Begriff ‚Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit‘, S. 282. Für den deutschsprachigen Kontext steht, wie schon häufiger erwähnt, der 1969 erschienene Sammelband von Gerhard (Hg.), Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert; auf internationaler Ebene markiert die 1967 vorgelegte englische Übersetzung eines ursprünglich schon 1949 erschienen Werkes des Italieners Antonio Marongiu die endgültige Hinwendung zum institutionellen Ansatz: Marongiu, Medieval Parliaments. Vgl. Sapper, Die Schwäbisch-Österreichischen Landstände und Landtage im 16. Jahrhundert; Schubert, Die Landstände des Hochstifts Würzburg; Lücke, Die landständi-

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In den folgenden Jahrzehnten aber verlagerte sich der Akzent, vor allem indem die Anregungen und Vorarbeiten von Volker Press und Rudolf Vierhaus aufgenommen wurden. 90 In den Vordergrund rückten die vornehmlich adeligen Gruppen, die sowohl die fürstlichen als auch die ständischen Institutionen trugen – statt verfassungsrechtlicher Konfrontation erschien zunehmend die strukturelle und personale Verflechtung von fürstlicher und ständischer Sphäre als Normalfall. 91 In der Folge trat an die Stelle des herkömmlichen Dualismusmodells zunehmend die Auffassung, die landständische Verfassung sei nicht gegen, sondern als Element der fürstlichen Herrschaftsverdichtung im Spätmittelalter entstanden. 92 Die Betonung des Adels und die Hereinnahme der landständischen Entwicklung in den Prozess der Herrschaftsverdichtung führten dann mehr oder weniger zwangsläufig zu einer Kontroverse mit den Forschern der konstitutionell-parlamentarischen Richtung, allen voran Peter Blickle, mit dem sich Volker Press intensiv auseinandersetze. 93 Neben die bis dahin üblichen Gesamtdarstellungen nach dem Muster ‚Die Landständische Verfassung in X‘ traten dann seit den achtziger Jahren vermehrt auch monografische Untersuchungen, die sich spezi-

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sche Verfassung im Hochstift Hildesheim 1643–1802; Renger, Landesherr und Landstände im Hochstift Osnabrück in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Vgl. Press, Steuern, Kredit und Repräsentation; Ders., Herrschaft, Landschaft und ‚Gemeiner Mann‘ in Oberdeutschland vom 15. bis zum frühen 19. Jahrhundert; Ders., Vom ‚Ständestaat‘ zum Absolutismus; Ders., Formen des Ständewesens in den deutschen Territorialstaaten des 16. und 17. Jahrhunderts; Vierhaus, Ständewesen und Staatsverwaltung in Deutschland im späten 18. Jahrhundert; Ders., Land, Staat und Reich in der politischen Vorstellungswelt deutscher Landstände im 18. Jahrhundert. Vgl. Ruppert, Die Landstände des Erzstifts Köln in der frühen Neuzeit; Reden, Landständische Verfassung und fürstliches Regiment in Sachsen-Lauenburg (1543–1689); Greindl, Untersuchungen zur bayerischen Ständeversammlung im 16. Jahrhundert; Jäger, Das geistliche Fürstentum Fulda in der frühen Neuzeit; Speck, Die vorderösterreichischen Landstände im 15. und 16. Jahrhundert; Kruse, Stände und Regierung – Antipoden?; Bei der Wieden, Handbuch der niedersächsischen Landtags- und Ständegeschichte, I. Vgl. Press, Vom ‚Ständestaat‘ zum Absolutismus, Thesen 1 bis 13; Vierhaus, Land, Staat und Reich in der politischen Vorstellungswelt deutscher Landstände im 18. Jahrhundert, S. 41; Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter, S. 97. Press, Herrschaft, Landschaft und ‚Gemeiner Mann‘ in Oberdeutschland vom 15. bis zum frühen 19. Jahrhundert, ist im wesentlichen eine Rezension von Blickle, Landschaften im Alten Reich. Vgl. auch zusammenfassend Press, Kommunalismus und Territorialismus? – Daneben wurde auch gleich das etatistische Interesse verabschiedet: „Was überholt scheint, ist die klassische Frage nach der positiven oder negativen Wirkung von Ständen auf die Staatsbildung“ (Moraw, Zu Stand und Perspektiven der Ständeforschung im spätmittelalterlichen Reich, S. 25).

2.1 Forschungskontexte

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elleren Aspekten widmeten, etwa den ständischen Ausschüssen oder den Repräsentationskonzepten der politischen Theorie. 94 Einen erneuten Aufschwung verzeichnet die institutionell orientierte Ständeforschung etwa seit der Jahrtausendwende, was darauf zurückzuführen ist, dass die Impulse des cultural turn zu diesem Zeitpunkt auch den Bereich der Politik- und Verfassungsgeschichte erreichten und zu methodischen und inhaltlichen Neuorientierungen führten, die seit einiger Zeit unter den Überschriften ‚Neue Politikgeschichte‘ bzw. ‚Kulturgeschichte des Politischen‘ debattiert werden. 95 Von diesen Entwicklungen konnte insbesondere die institutionalistische Ständeforschung profitieren, weil der zu den methodischen Kernforderungen der Neuen Kulturgeschichte gehörende ‚ethnologische Blick‘, verstanden als eine „Perspektive der Fremdheit“, 96 von Beginn an – wenngleich nicht unter diesem Namen – zu den wesentlichen Anliegen des institutionellen Forschungsinteresses gehörte, war dieses doch gerade aus einem gesteigerten lebensweltlichen Distanzbewusstsein und der wissenschaftlichen Unzufriedenheit mit modernistischen und damit auf Vertrautheit aufbauenden Narrativen wie ‚Staatsbildung‘ oder ‚Parlamentarisierung‘ entstanden. Im Zuge dieser Entwicklungen sind wichtige Querverbindungen hergestellt worden: Auf der Suche nach theoretischen Anknüpfungspunkten hat man sich über die Disziplingrenzen hinaus explizit auf die politikwissenschaftliche und soziologische Institutionenforschung bezogen – was die Benennung des ‚institutionalistischen‘ Zweiges der Ständegeschichte um so plausibler macht. 97 Daneben stehen Anleihen etwa bei der Hegemoniethorie 98 oder der Theorie der ‚Legitimation durch Verfahren‘, wie sie von Niklas Luhmann ausgearbeitet wurde. 99 Innerhalb der 94

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Vgl. Lange, Landtag und Ausschuß, und Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes. Ein weiteres Thema, allerdings nur in Aufsatzform behandelt, ist beispielsweise die Mitwirkung der Landstände an der Gesetzgebung. Vgl. dazu Mohnhaupt, Die Mitwirkung der Landstände an der Gesetzgebung; Würgler, Desideria und Landesordnungen. Zur ‚kulturwissenschaftlichen Wende‘ vgl. Bachmann-Medick, Cultural Turns; für die Geschichtswissenschaft vgl. Lehmann (Hg.), Wege zu einer neuen Kulturgeschichte; Daniel, Kompendium Kulturgeschichte; Landwehr, Kulturgeschichte; zu den Auswirkungen auf die Politikgeschichte vgl. einführend Stollberg-Rilinger (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, und Frevert, Haupt (Hg.), Neue Politikgeschichte. Zur Rezeption durch die Ständeforschung vgl. zuletzt Gehrke, Landtag und Öffentlichkeit, S. 23–26. Stollberg-Rilinger, Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Einleitung, S. 12. Referenzautoren sind hier vor allem der Soziologe Karl-Siegbert Rehberg und der Politikwissenschaftler Gerhard Göhler. Zur Bezugnahme vgl. etwa Stollberg-Rilinger, Herstellung und Darstellung politischer Einheit, und Neu, Inszenieren und Beschließen. Vgl. Tieben, Politik von unten. Vgl. hierzu Sikora, Der Sinn des Verfahrens, und Neu, Zeremonielle Verfahren.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

Geschichtswissenschaften hat die Ständegeschichte zudem die Forschungen zu symbolischer Kommunikation, zu Ritualen und Inszenierungen100 ebenso produktiv rezipiert wie die Fragestellungen der politischen Oratorik. 101 Ebenfalls im weiteren Kontext einer Kulturgeschichte des Politischen, zu deren Anliegen die Hinwendung zur politischen Praxis gehört, werden etwa einzelne ‚Ständelandschaften‘, 102 fürstlich-ständische Normensysteme, 103 die Repräsentation der Landbevölkerung 104 oder Beziehungen und Kontakte zwischen Königtum und Landständen untersucht. 105 Und obwohl es derzeit so scheint, als ob die institutionell orientierte Forschung – befördert durch die Konjunktur der Kulturgeschichte des Politischen – gegenüber den beiden ‚traditionellen‘ Forschungszweigen die Oberhand gewinnt, 106 so muss gleichzeitig festgestellt werden, dass es sich dabei um nicht mehr als eine Tendenz handelt und dass die Ständeforschung immer noch über drei wirksame ‚Gravitationszentren‘ verfügt – weiterhin sind fürstlich-ständische Machtbeziehungen, staatlicher Machtzuwachs und ständische Machtmechanismen relevante Forschungsinteressen. Da sich nun herausgestellt hat, dass die Ständegeschichte ein hochgradig ausdifferenziertes Forschungsfeld ist, in dem heterogene Interessen nebeneinander existieren, muss man sich erstens nicht nur entscheiden, welches forschungsleitende Interesse man der eigenen Arbeit zugrunde legt, sondern man muss angesichts der Wahlmöglichkeiten auch begründen, warum man eben diese Entscheidung getroffen hat. Die 100

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Zur symbolischen Kommunikation auf dem Reichstag vgl. schon sehr früh Luttenberger, Pracht und Ehre; grundlegend dann die Studien zum Reichstag: StollbergRilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren, und Dies., Die Symbolik der Reichstage; die Ausweitung des Ansatzes in komparatistischer Perspektive in Neu, Sikora, Weller (Hg.), Zelebrieren und Verhandeln, und Peltzer, Schwedler, Töbelmann (Hg.), Politische Versammlungen und ihre Rituale; vgl. auch Harding, Landtag und Adligkeit. Zur politischen Oratorik vgl. schon sehr früh Bisson, Celebration and Persuasion; dann grundlegend Braungart, Hofberedsamkeit, und Mack, Elizabethan Rhetoric; die Einführung in die deutsche Ständeforschung durch Helmrath, Der europäische Humanismus und die Funktionen der Rhetorik; erste Ergebnisse in Feuchter, Helmrath (Hg.), Politische Redekultur in der Vormoderne. Vgl. Stollberg-Rilinger (Hg.), Politisch-soziale Praxis und symbolische Kultur der landständischen Verfassungen im westfälischen Raum. Vgl. Seresse, Politische Normen in Kleve-Mark während des 17. Jahrhunderts. Vgl. Dillinger, Die politische Repräsentation der Landbevölkerung. Vgl. Metz, Der Stände oberster Herr. Vgl. etwa die jüngsten Sammelbände Lorenz, Rückert (Hg.), Auf dem Weg zur politischen Partizipation?; Thüringer Landtag (Hg.), Landstände in Thüringen; Gehrke (Hg.), Aufbrüche in die Moderne; Neu, Sikora, Weller (Hg.), Zelebrieren und Verhandeln.

2.1 Forschungskontexte

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folgende Untersuchung orientiert sich dabei vor allem am institutionellen Ansatz, gründet dieser doch auf einer Erfahrung der Diskontinuität, während der etatistische wie auch der konstitutionelle Ansatz sich den großen Kontinuitätslinien – Parlamentarisierung und Staatsbildung – verschrieben haben. Da es aber in diesem Kapitel nicht um solche transepochalen Prozesse geht, sondern darum, den Begriff der landständischen Verfassung möglichst präzise zu fassen, ist es sinnvoll, an die institutionell orientierte Forschung anzuknüpfen, der es laut Dietrich Gerhard eben darum zu tun ist, „die ursprüngliche Struktur von Institutionen […] besser zu verstehen“ 107, wozu deren „Eigengesetzlichkeit“ 108 in den Blick zu nehmen ist. Außerdem lässt sich zweitens davon ausgehen, dass auch die Heterogenität selbst genutzt werden kann, um im internen Abgleich der Positionen die Begriffe noch weiter zu schärfen.

2.1.2 Repräsentation und Dualismus: Zwei überwundene Kategorien? Im vorigen Kapitel wurde anhand der drei leitenden Erkenntnisinteressen die zumeist übersehene Heterogenität des Forschungsfeldes herausgestellt. Der zweite Problemkomplex, der im Folgenden ‚bewusst‘ zu machen ist, liegt insofern ‚quer‘ zu dieser Heterogenität, als es um Kategorien geht, die in allen drei Forschungssträngen gleichermaßen eine prominente Rolle spielen. Mit der Mehrheitsmeinung der Ständeforschung müsste man allerdings im Präteritum formulieren, dass sie eine prominente Rolle spielten, denn beide Kategorien – Repräsentation und Dualismus – gelten heute als ‚überwunden‘ oder es wird weniger martialisch behauptet, sie würden in der Forschung nicht mehr angewandt und seien nur noch von disziplinhistorischem Interesse. Mein Eindruck ist jedoch, dass die mit den Begriffen bezeichneten Konzepte auch weiterhin wirksam sind und faktisch von Forschern auch im Sinne von Kategorien benutzt werden, das heißt um Fragen an das empirische Material zu formulieren und Quellenbefunde zu synthetisieren – allerdings zumeist ohne explizite Bezugnahme auf die entsprechenden Begriffe. 107

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Gerhard, Probleme ständischer Vertretungen im frühen achtzehnten Jahrhundert und ihre Behandlung in der gegenwärtigen internationalen Forschung, S. 31. Diese Position vertrat Gerhard schon seit den fünfziger Jahren, vgl. Ders., Regionalismus und ständisches Wesen als Grundthema europäischer Geschichte. Brunner, Land und Herrschaft, S. 164. Vgl. auch Raumer, Absoluter Staat, korporative Libertät und persönliche Freiheit, S. 96, und Oestreich, Zur Vorgeschichte des Parlamentarismus, S. 267.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

Wenn das aber der Fall ist, dann muss dieses latente Weiterwirken nicht nur ‚bewusst‘ gemacht werden, sondern man wird auch Stellung beziehen müssen, wie man selbst mit diesen Kategorien umzugehen gedenkt. Dazu sind zunächst Genese und Gehalt beider Kategorien zu skizzieren, um dann zu rekonstruieren, wie und warum sie erst diskreditiert und ‚überwunden‘, dann aber implizit weiter genutzt wurden. Die ältere Kategorie ist die der Repräsentation, genauer der politischen Repräsentation. 109 Alle wesentlichen Argumente und Positionen der bis in die Gegenwart immer wieder aufflammenden Debatte um den Repräsentativcharakter der Landstände wurden schon im 18. Jahrhundert ausgebildet und sind das Resultat einer erheblichen Veränderung des Repräsentationskonzepts. 110 Ursprünglich stammte dieses aus der spätmittelalterlichen Korporationstheorie: Diese konstruierte Korporationen jeglicher Art – von der Zunft bis hin zum Reich – als universitates, das heißt als Gesamtheiten, die zwar aus konkreten Einzelpersonen bestehen, aber kraft einer fictio juris (Rechtsfiktion) selbst als Personen gelten, die dann beispielsweise selber Güter besitzen oder vor Gericht angeklagt werden können. 111 Damit stellte sich aber das Problem, wie eine solche persona ficta Entscheidungen treffen und handeln könne. Prinzipiell sprachen die Juristen das Recht der korporativen Willensbildung der Mitgliedergesamtheit zu, deren Beschlüsse, ob nun einstimmig oder mit Mehrheit gefasst, als Beschlüsse der Korporation selbst galten. 112 Da die Einberufung von Vollversammlungen jedoch in der Praxis auf vielerlei Probleme stieß, behalf man sich mit einer weiteren fictio juris, eben dem Konzept der Repräsentation. 109

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Vgl. einführend Podlech, Repräsentation, und grundlegend Hofmann, Repräsentation. Vgl. ferner Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert; Pitkin, The Concept of Representation; Vieira, Runciman, Representation; Rehfeld, Towards a General Theory of Political Representation. Saward, The Representative Claim. Wenn im Folgenden von Repräsentation gesprochen wird, ist immer politische Repräsentation gemeint; zu einem kulturgeschichtlichen Verständnis von Repräsentationen im Sinne „kultureller Vorstellungen“ vgl. Chartier, Die Welt als Repräsentation. Vgl. nur einführend Stollberg-Rilinger, Was heißt landständische Repräsentation? Vgl. immer noch grundlegend Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht; Blickle, Kommunalismus, II, S. 286–298; Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes, S. 81– 91; Coing, Europäisches Privatrecht, I, S. 262ff.; Michaud-Quantin, Universitas. Allerdings war das schon in der mittelalterlichen Korporationstheorie nicht unumstritten: Die Kanonisten etwa beharrten gegenüber den Legisten darauf, dass selbst die Gesamtmitgliederversammlung ‚nur‘ eine repräsentative Versammlung sei und universitates daher prinzipiell nicht per se ipsa handeln könnten. Vgl. Hofmann, Repräsentation, S. 218; Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, III, S. 461–466; StollbergRilinger, Vormünder des Volkes, S. 85.

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Näherhin handelt es sich um eine „Identitätsfiktion“, 113 die darin besteht, dass bei „der vollwirksamen Repräsentation der Gesammtheit durch generell hierzu ermächtigte Kollegien, deren Beschlüsse und Handlungen mit Beschlüssen und Handlungen der ‚universitas ipsa‘ gleiche Kraft haben sollten“. 114 Es handelt sich also um eine formale Zurechnungsregel, die mit dem Übergang zur Frühen Neuzeit – zunächst nur in Einzelfällen, später generell – auch auf die Landstände angewandt wurde, was dann konkret hieß: Treten diese in ordnungsgemäßer Form zum Landtag zusammen, gelten sie als ‚ermächtigtes Kollegium‘, dessen Beschlüsse dem ‚Land‘ als universitas und damit allen Einwohnern verbindlich zugerechnet werden. 115 Allerdings handelte es sich, das verdient festgehalten zu werden, um eine Deutung, die erst nachträglich auf eine schon bestehende politische Ordnung angewandt wurde, da die Landtage nicht ursprünglich im Sinne der Korporationstheorie als ‚ermächtigte Kollegien‘ des Landes entstanden waren. 116 Und obwohl das Repräsentationstheorem zunächst nur da herangezogen wurde, wo es um das landständische Steuerbewilligungsrecht, dessen Ausgestaltung und Folgen ging, avancierte es im 18. Jahrhundert gera-

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Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, III, S. 479. Zur Identitätsrepräsentation vgl. auch Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes, S. 85–87, und Hofmann, Der spätmittelalterliche Rechtsbegriff der Repräsentation in Reich und Kirche. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, III, S. 733. Vgl. auch die Fassung des Repräsentationsbegriffs bei Max Weber: „Unter Repräsentation wird primär […] verstanden: daß das Handeln bestimmter Verbandszugehöriger (Vertreter) den übrigen zugerechnet wird oder von ihnen gegen sich als ‚legitim‘ geschehen und für sie verbindlich gelten gelassen werden soll und tatsächlich wird“ (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 171). Sehr frühe Beispiele sind etwa bei Reusner, Consiliorum Sive Responsorum Volumen Tertium, cons. 3 Nr. 35ff., und Bocer, Tractatus de Iure Collectarum, S. 33: „Hae autem Collectae Provinciales imponuntur adhibito Subditorum consensu, vel eorum, qui Subditos repraesentant, ut sunt: die Land-Stände.“ Diese Formel wird ein Gemeinplatz im späteren Landständediskurs, vgl. Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes, S. 77. Vgl. Koenigsberger, Parliaments and Estates; mit Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 216–226, wird man das Ständewesen als „monarchische Veranstaltung“ (S. 218) charakterisieren und von „einem einheitlichen Entstehungsprozess […] durch Erweiterung der Curia Regis“ (S. 224f.) ausgehen müssen. Vgl. auch Moraw, Zu Stand und Perspektiven der Ständeforschung im spätmittelalterlichen Reich, S. 9f. Vgl. aber dagegen Blockmans, Stände und Repräsentation von Bürgern und Bauern in Europa, der „das selbstständige Handeln von Gemeinden“ in den Mittelpunkt stellt und meint, dass „Repräsentation des dritten Standes […] überhaupt nicht an eine höhere Autorität gebunden sein [musste]“. Vgl. auch schon die frühere Kontroverse zwischen Blickle, Landschaften im alten Reich, und Press, Herrschaft, Landschaft und ‚Gemeiner Mann‘ in Oberdeutschland vom 15. bis zum frühen 19. Jahrhundert.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

dezu zum Definitionskriterium der Landstände. 117 Entscheidend in diesem Zusammenhang ist nun, dass die Korporationstheorie gerade keine Aussagen darüber machte, wie denn eine Ermächtigung zu ‚vollwirksamer‘ Identitätsrepräsentation legitimerweise zu Stande komme – das Verhältnis der Repräsentanten zu den von ihnen Repräsentierten wurde nicht näher thematisiert bzw. als gewohnheitsrechtlich etabliert vorausgesetzt. 118 Gerade in diesem Punkt aber kam es mit dem Siegeszug des modernen Naturrechts im 18. Jahrhundert zu einer grundlegenden Veränderung des Repräsentationskonzepts. 119 Das moderne Naturrecht, wie es von Thomas Hobbes Mitte des 17. Jahrhunderts begründet worden war, arbeitete mit einer resolutiv-kompositorischen Methode: Erstens wurde die bestehende politische Ordnung als vollständig aufgelöst vorgestellt und der daraus resultierende ‚Naturzustand‘ beschrieben, der sich mindestens durch Gleichheit und Freiheit der Individuen auszeichnete; dann wurde zweitens eine politische Ordnung mittels eines hypothetischen ‚Vertrags‘ eingerichtet, in den alle Akteure aus wohlverstandenem Eigeninteresse einwilligten. 120

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So findet sich das Repräsentationstheorem bei Fritsch, Tractatio De Conventibus Provincialibus, S. 31, gerade nicht in der Definition des Landtags, sondern wird erst da eingeführt, wo es um die Steuerbewilligung geht. Ebenso bei Stryk, Reder, De Statibus Provincialibus, S. 48. Später aber wird die Repräsentationsfunktion Teil der Definition, etwa bei Pestel, Becker, Dissertatio inauguralis iuridica de comitiis provincialibus Vulgo Land-Tagen, S. 19, wo es heißt: „Vocantur ad comitia status provinciales die Land-Stände, qui proprie cives sunt & populum totius provinciae repraesentant.“ Vgl. auch Estor, Fech, De comitiis et ordinibus Hassiae praesertim Cassellanae provincialibus Opusculum, S. 4: „Etenim ordines provinciales populum repraesentant, quum deliberandi ergo de communi salute conveniunt.“ Vgl. auch Walz, Stände und frühmoderner Staat, S. 27. So schon bei Ulrich Zasius (1461–1535), der lehrte: „Nach den ‚mores nostrae Germaniae‘ repräsentiert auch bei den wichtigsten Akten, wie bei Statuten, das ‚majus consilium‘ den totus populus“ (Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, III, S. 677); vgl. auch Besold, De Jure Universitatum, S. 242. Vgl. auch Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes, S. 102. Ein Zwischenschritt wird hier übergangen: Auch schon vorher war die rein formale Zurechungsregel in materialer Hinsicht um das Argument ergänzt worden, die Landstände seien die „Vormünder“ des Volkes, übten also eine die Interessen des Volkes berücksichtigende Stellvertretungsfunktion aus. Vgl. Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes, S. 103–110; Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, III, S. 397f.; Moser, Von der Teutschen Reichs-Stände Landen, S. 843: „Sie [die Landstände, T. N.] seynnd Repräsentanten des Landes in favorabilibus & odiosis, Custodes Legum & Jurium Patriae, Vorstehere, und gleichsam Vormündere, des Landes.“ Zum modernen Naturrecht vgl. allgemein Ilting, Naturrecht; zur ‚resolutiv-kompositorischen‘ Methode vgl. Euchner, Die Staatsphilosophie des Thomas Hobbes; zum

2.1 Forschungskontexte

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Diese rein formale Methode präjudizierte dabei weder die inhaltliche Ausgestaltung des Naturzustandes noch die der vertraglich begründeten Herrschaftsordnung; im Hinblick auf letztere kann man daher von einem ‚Verfassungsrelativismus‘ des Naturrechts sprechen, denn prinzipiell ließ sich jede real existierende politische Ordnung mittels dieser Methode begründen. 121 Und als nun das rationale Naturrecht im 18. Jahrhundert zur dominanten politischen Sprache wurde, konnte und musste auch die landständische Verfassung mit naturrechtlichen Argumenten legitimiert werden – mit weitreichenden Folgen. 122 Zunächst musste plausibel gemacht werden, dass die Herrschaftsrechte der Landstände Bestandteile des ursprünglichen, die politische Ordnung konstituierenden Vertrags gewesen sein konnten, denn für das moderne Naturrecht gab es nur diese eine Quelle legitimer Herrschaft – unabgeleitete, autogene Herrschaftsrechte konnte es nicht mehr geben. Warum aber sollten die im Naturzustand lebenden Haushaltsvorstände im einstimmig zu beschließenden Herrschaftsvertrag eine Institution vorsehen, die eine gesellschaftliche Minderheit mit politischen Partizipationsrechten ausstattete, während der überwiegenden Mehrheit solche Rechte verwehrt blieben? Die Lösung lag in einer Neuausrichtung des Repräsentationsbegriffs: Die Gesamtheit der Naturzustandsbewohner hatte die Landstände mit Herrschaftsrechten ausgestattet unter der Bedingung, dass die auf diese Weise privilegierte Minderheit auf den Landtagen die Interessen Aller vertreten werde. Die rein formale Zurechnungsregel der Korporationstheorie wurde inhaltlich angereichert durch die naturrechtlich begründete Forderung einer überprüfbaren Interessenvertretung, womit das Verhältnis von Repräsentanten und Repräsentierten in den Fokus der Aufmerksamkeit geriet und als mandatierte Interessenvertretung aufgefasst wurde. 123

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Naturzustand vgl. Hofmann, Naturzustand; zum Kontraktualismus vgl. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. Vgl. Klippel, Naturrecht als politische Theorie; Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes, S. 115; Kersting, Philosophie des Gesellschaftsvertrages, S. 235f.; nach Dreitzel, Absolutismus und ständische Verfassung in Deutschland, S. 130, tendierten sogar alle politischen Theorien im Reich zum Verfassungsrelativismus. Das folgende im wesentlichen nach: Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes, S. 120–126. Ein Beispiel ist Francke, Kohlschütter, De Iure Standi In Comitiis Provincialibus Commentatio, S. 6: Im ersten Paragraphen („De comitiorum notione et divisione“) wird festgestellt, dass zur Beratung der „negotia publica universalia“ der „totus populus“ entweder „vere“ oder „per eos […] in quos huius rei causa iura sua transtulit, et quos Ordines imperii dicunt“ zusammen tritt. Hier wird klar ausgesprochen, dass erstens die politische Partizipation der Stände kein ihnen eigenes, sondern ein ursprünglich

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

Einerseits konnte die landständische Verfassung auf diese Weise kurzfristig vom Legitimationspotential des Naturrechts profitieren. Andererseits gerieten die Landstände in Folge dieser Neuausrichtung langfristig in ein argumentatives Dilemma. Wenn ihre hergebrachten Sonderrechte unter den Bedingungen des Naturrechtsdiskurses auch weiterhin als legitimer Teil der politischen Ordnung gelten sollten, dann mussten sich die Landstände auch als mandatierte Interessenvertreter des Volkes ansprechen lassen; ein Maßstab, den sie letztlich weder erfüllen wollten noch konnten – in dieser Tradition steht später Karl von Rotteck. 124 Die Alternative war allerdings ebenso unbefriedigend: Waren die Landstände keine Repräsentanten des Volkes, dann konnten sie zwar legitimerweise ihre eigenen Interessen verfolgen, aber gleichzeitig verloren alle ständischen Sonderrechte ihren politischen Charakter und wurden zu privatrechtlichen Privilegien, womit der Fürst zum einzigen Vertreter des Gemeinwohls aufrückte und die politischen Partizipationsrechte der Stände tendenziell preisgegeben wurden – in dieser Tradition steht später Friedrich Gentz. 125 Damit war der Problemhorizont, innerhalb dessen sich die Ständeforschung später bewegen sollte, schon im Ancien Régime abgesteckt und das modern-naturrechtliche Repräsentationskonzept wurde für das gesamte 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts eine fraglos akzeptierte Grundkategorie zur Untersuchung und – mehr noch – zur Bewertung der Landstände. Mehrheitlich kamen die Ständeforscher übrigens immer wieder – allerdings aus sehr unterschiedlichen Gründen – zu dem Ergebnis, dass die Landstände tatsächlich Repräsentanten des Landes gewesen seien oder zumindest als solche gegolten hätten. 126 Die zweite Grundkategorie der Ständegeschichte – der Dualismus – ist deutlich jünger und ihre Entstehung deutlich präziser einzugrenzen, denn im Grunde könnte man sogar von ihrer ‚Erfindung‘ durch Otto (von)

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dem Volk zustehendes und von diesem übertragenes Recht ist und dass zweitens diese Übertragung zweckgebunden ist. Vgl. Rotteck, Ideen über Landstände, und den Auszug in Brandt (Hg.), Restauration und Frühliberalismus 1814–1841, S. 158–167. Vgl. auch Ders., Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz, S. 255–266. Vgl. Gentz, Über den Unterschied zwischen den landständischen und Repräsentativ-Verfassungen, und Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz, S. 51–58. Das gilt sogar für so unterschiedliche Forscher wie Gierke und Below; vgl. StollbergRilinger, Vormünder des Volkes, S. 11f. Hier ist übrigens nur von der Ständeforschung die Rede; die politischen Publizisten des frühen 19. Jahrhunderts kamen in dieser Frage zu teilweise ganz anderen Ergebnissen. Die große Ausnahme in der Ständeforschung ist nicht zufällig kein Historiker, sondern Staatsrechtler: Tezner, Technik und Geist des ständisch-monarchischen Staatsrechts.

2.1 Forschungskontexte

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Gierke sprechen. 127 Zuallererst ist der Dualismus das Ergebnis theoretischer Annahmen und daher muss man Gierke erst als Sozialtheoretiker lesen, bevor man ihn als Verfassungs- und Ständehistoriker verstehen kann: 128 Für Gierke gibt es zwei – und nur zwei – wesentliche Prinzipien, welche die politisch-soziale Realität bestimmen, nämlich Herrschaft und Genossenschaft. 129 Man hat es hier nicht mit der geläufigen Unterscheidung von politischem Staat und privater Gesellschaft zu tun, denn für Gierke verkörpern sich beide Prinzipien in Institutionen, die Recht schaffen können und damit genuin politischen Charakter haben. 130 Es handelt sich für Gierke um antagonistische Prinzipien, die in einem dialektischen Verhältnis miteinander verbunden sind. Die damit eingeführte geschichtliche Dynamik macht dann die Verfassungsgeschichte lesbar als den „Kampf dieser beiden großen Principien“. 131 Gierkes 1868 erschienene Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft ist damit vor allem die historische Durchführung eines vorgängigen sozialtheoretischen Programms. Die landständische Verfassung nahm in diesem Panorama eine wichtige Stellung ein, denn das Verhältnis von Landesherr und Landständen ist für Gierke eine der folgenreichsten historischen Konkretisierungen des Widerstreits von Herrschaft und Genossenschaft. 132 Die Einpassung der landständischen Verfassung, die bisher mittels ganz anderer Denkmuster analysiert worden war, in dieses dualistische System zog nun erhebliche Folgen nach sich. Da sie das genossenschaftliche Prinzip verkörperten, mussten die „landständischen Körperschaften“ erstens durch eine „genos-

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Vgl. Krüger, Die landständische Verfassung, S. 40; Lange, Der ständestaatliche Dualismus, S. 311; Walz, Stände und frühmoderner Staat, S. 3. Zu Gierke vgl. neben Boldt, Otto von Gierke, auch Janssen, Otto von Gierkes Methode der geschichtlichen Rechtswissenschaft; Bader, Gierke, Otto Friedrich von; Oexle, Otto von Gierkes ‚Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft‘. Vgl. auch Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert, S. 162 und passim; Boldt, Otto von Gierke, S. 21; Oexle, Otto von Gierkes Rechtsgeschichte, S. 202–206. Vgl. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, I, S. 1–7; vgl. Blickle, Otto Gierke als Referenz?, S. 246. Vgl. Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert, S. 153: „So stehen Gierkes genossenschaftliche Staatslehre und seine Consoziationstheorie zur Unterscheidung und Trennung von Staat und Gesellschaft gewissermaßen quer.“ Gierke, Genossenschaftsrecht, I, S. 3. Vgl. Blickle, Otto Gierke als Referenz, S. 245. Vgl. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, I, S. 534–581 und S. 801–833. Vgl. auch Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert, S. 169–171; Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes, S. 11f.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

senschaftliche Einung der Stände“ entstanden sein. 133 Dieser Entstehung, die vor allem im Spätmittelalter angesiedelt wurde, war es dann zweitens zu verdanken, dass die politischen Rechte der korporativ verfassten Landstände als vollständig autogen, das heißt nicht vom Landesherrn oder einer anderen Instanz abgeleitet gelten konnten, was die Landstände dann drittens zu einem in wahrsten Sinne des Wortes ‚gleichberechtigten‘ Machtfaktor aufwertete – neben dem Landesherrn, der das herrschaftliche Prinzip vertrat: „Landesherr und Landschaft wurden so zwei von einander unabhängige Mächte, von denen keine ihr Recht von der andern ableitete.“ 134 Die Konsequenz für das Gemeinwesen lag auf der Hand, es ergab sich ein „Dualismus der Staatspersönlichkeit“. 135 Gierke war, wie im vorhergehenden Kapitel erwähnt, einer der letzten Vertreter der ersten, konstitutionellen Phase der Ständeforschung, die dann von einer etatistischen Phase gefolgt wurde, die vor allem von Georg von Below initiiert wurde. Wie schon beim Problem der politischen Repräsentation, so zeigt sich auch bei der Dualismuskategorie, dass der Bruch mit der bisherigen Ständeforschung und insbesondere mit Gierke, den Below zeitlebens als seinen „alten Gegner“ wahrnahm, 136 nicht vollständig war, denn die Kategorisierung der verfassungsrechtlichen Verhältnisse der spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Territorien als ‚dualistisch‘ übernahm Below uneingeschränkt. So hieß es ebenso knapp wie eindeutig schon 1890: „Der ältere deutsche Territori-

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Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, I, S. 535. Damit konstituieren sich die Stände als „eine besondere, dem Landesherrn und seinem ganzen Herrschaftsverbande gegenüber zur politischen und privatrechtlichen Gesammtpersönlichkeit konstituirte Landesgemeinde“ (ebd., S. 576). Dass die landständische Verfassung einzig und allein aus dem Einungswesen entstanden sei, ist im Rahmen von Gierkes Sozialtheorie zwar konsequent, aber gerade wegen der damit verbundenen Ausschließlichkeit immer wieder attackiert worden. Letztlich steht Gierke mit dieser Meinung allein: Weder die konstitutionelle Forschung vor ihm noch die etatistische nach ihm folgen diesem Ansatz. Vgl. nur Eichhorn, Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, III, S. 213, und Below, System und Bedeutung der landständischen Verfassung (1900), S. 174. Auch heute noch wird dem Einungswesen nur ein geringer Anteil an der Entstehung der landständischen Verfassung zugemessen, vgl. Krüger, Die landständische Verfassung, S. 7; Moraw, Zu Stand und Perspektiven der Ständeforschung im spätmittelalterlichen Reich. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, I, S. 357; vgl. auch Walz, Stände und frühmoderner Staat, S. 1f.; Lange, Der ständestaatliche Dualismus, S. 314. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, II, S. 860. Krüger, Die landständische Verfassung, S. 40, und mit ihm einige andere Forscher meinen jedoch, dass Gierke selbst den Dualismusbegriff noch nicht verwendet hätte. Zitat nach Oexle, Die mittelalterliche Zunft als Forschungsproblem, S. 31, wo auch die Kontroverse zwischen Below und Gierke eingehender behandelt wird.

2.1 Forschungskontexte

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alstaat ist dualistisch; er besteht aus den beiden Teilen Landesherr und Land, dessen Organ die Landstände sind.“ 137 Dieser dualistische Etatismus Belows etablierte sich bis zur Jahrhundertwende unter dem Begriff des ‚dualistischen Ständestaates‘ als hegemoniale Deutung. So gab etwa Friedrich Tezner – selbst ein ausgesprochener Kritiker der nunmehr herrschenden Lehre – schon 1901 unumwunden zu, Below nehme die Stellung des „unbestrittenen Führers der modernen historischen Erforscher des Ständerechts ein“ 138 und der Dualismus sei derzeit „die schulgemäße Charakteristik des Ständestaats“. 139 Dieser Zustand blieb bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs im wesentlichen erhalten. Kurz: Repräsentation und Dualismus waren seit ihrer Entstehung die Grundkategorien der Ständegeschichte, was sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg vermeintlich grundlegend änderte. Ungeachtet der schon geschilderten Ausdifferenzierung der Ständeforschung seit 1945, die dazu führte, dass seitdem ein konstitutioneller, ein etatistischer und ein institutioneller Forschungsstrang nebeneinander existierten, sind auch zwei Tendenzen zu verzeichnen, die auf die Ständegeschichte in ihrer Gesamtheit einwirkten: die Ablehnung moderner verfassungsrechtlicher Analysekategorien einerseits und die Hinwendung zur Sozialgeschichte im weiteren Sinne andererseits. Die erstgenannte Tendenz war zwar ursprünglich, wie schon erwähnt, mit der institutionellen Problemstellung verbunden; gleichwohl setzte sich aber sehr bald im gesamten Forschungsfeld die Überzeugung durch, dass vormoderne Herrschaftsgefüge nicht mit modernen verfassungsrechtlichen Kategorien beschreibbar seien – was zu einem erheblichen Historisierungsschub führte. Und obwohl er mitnichten der einzige war, der vor den verzerrenden Folgen solcher Rückprojektionen warnte, fungiert Otto Brunner seit mehr als fünfzig Jahren als der maßgebliche Referenzautor, wann immer in einem ständegeschichtlichen Text signalisiert werden soll, dass selbstverständlich keine anachronistischen Begriffe und Kategorien verwendet werden. Am stärkten getroffen hat dieser Historisierungsschub wohl die bisher zentrale Kategorie der politischen Repräsentation. Nachdem er die wesentlichen Stationen der Debatte um den Repräsentativvcharakter abgeschritten war, stellte Brunner in seinem zum locus classicus gewordenen Diktum apodiktisch fest: „Dieser ganze Vertretungsbegriff ist auf die Landstände nicht anwendbar, die Stände ‚vertreten‘ nicht das Land, 137 138 139

Below, Geschichte der direkten Staatssteuern in Jülich und Berg bis zum geldrischen Erbfolgekriege, I, S. 1f. Tezner, Technik und Geist des ständisch-monarchischen Staatsrechts, S. 3. Ebd., S. 85.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

sondern sie ‚sind‘ es.“ 140 Wie Brunner selber betonte, liegt das Problem darin, was unter dem Begriff ‚Land‘ jeweils verstanden wird: Für die von ihm des Anachronismus bezichtigte ältere Forschung war das Land eine alle Untertanen umfassende Gesamtheit, der bestimmte politische Rechte zustanden. 141 Und diese Rechte hatten die Landstände als privilegierter Teil der Untertanengesamtheit zu vertreten – man erkennt den modernnaturrechtlichen Repräsentationsbegriff. Für Brunner aber bilden gerade nicht alle Untertanen eine Gesamtheit, sondern die von ihm so genannte „Landesgemeinde“ oder auch „Landschaft“ besteht gerade nur aus den Personen und Korporationen, die – analog zum Landesherrn – selber Herrschaft ausüben; diese Gruppe ist aber identisch mit den Landständen und daher gibt es keine Rechte (und keine dazugehörige Gesamtheit), die sie vertreten könnten: Die Stände sind schlicht und einfach deshalb das Land, weil die übrigen Untertanen gar nicht zum Land dazugehören. 142 Es ist unbestritten, dass Brunner damit den naturrechtlich-modernen Repräsentationsbegriff zur Beschreibung der landständischen Verfassung endgültig diskreditiert hat. Allerdings ist auch er nicht zum korporationstheoretischen Repräsentationsverständnis durchgedrungen, denn dann hätte er sehen müssen, wie Karl Kroeschell zu Recht anmerkte, dass „gerade diese Verkörperung des Landes in den Ständen ihren Repräsen-

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Brunner, Land und Herrschaft, S. 423. Vgl. Rachfahl, Der dualistische Ständestaat in Deutschland, S. 199, wo er von der „Vertretung des Landes, d. h. der Gesamtheit der Unterthanen“ redet. Ebenso Below, System und Bedeutung der landständischen Verfassung (1923), S. 127: „Wenn nun Repräsentation oder Vertretung im staatlichen Sinne diejenige Einrichtung ist, vermöge welcher der einem Teil oder der Gesamtheit der Untertanen zustehende Einfluß auf Staatsgeschäfte durch eine kleinere Anzahl aus der Mitte der Beteiligten, in ihrem Namen und verpflichtend für sie besorgt wird, so findet die Bezeichnung Repräsentation auf die Stände der älteren deutschen Territorien Anwendung“; vgl. Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, S. 51. Vgl. Brunner, Land und Herrschaft, S. 412 und S. 435. Problematisch ist, dass der Begriff ‚Land‘ von Brunner in doppelter Hinsicht gebraucht wird: Im weiteren Sinne sind Landesherr und Landesgemeinde zusammen das Land; im engeren Sinne aber kann auch die Landesgemeinde selbst als Land bezeichnet werden. Der immer wieder zitierte Satz Brunners bezieht sich offensichtlich auf die engere Bedeutung. Vgl. dazu ebd., S. 438. – Brunners Ansicht, allein die Landstände bildeten die Landesgemeinde, hat Vorläufer in der politischen Theorie der Frühen Neuzeit: Bevor sich die korporationstheoretische Identitätstheorie durchsetzte, wurden die Landstände gelegentlich – in aristotelischer Tradition – mit den Bürgern, den cives, gleichgesetzt, die zusammen den populus bildeten. Vgl. etwa Binn, Hugo, De Statu Regionum Germaniae, Et Regimine Principum Summae Imperii Reip. Aemulo, IV, 12, und zusammenfassend Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes, S. 80f.

2.1 Forschungskontexte

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tativcharakter ausmacht“. 143 Letztlich wurde erst mit den Forschungen von Hasso Hofmann und Barbara Stollberg-Rilinger eine Historisierung des Repräsentationskonzepts erreicht – seitdem kann landständische Repräsentation eigentlich nur noch als zeitgenössischer Geltungsanspruch oder als faktische Zurechnungsbeziehung untersucht werden, aber nicht mehr im Hinblick auf Interessenvertretung der Untertanengesamtheit bewertet werden. 144 Zudem wird der Verweis auf Brunner gelegentlich auch genutzt, um sich mit dem Problem der Repräsentation gar nicht auseinander setzen zu müssen und sich dadurch methodische Begriffsarbeit zu sparen. 145 Wie dem auch sei, sicher ist, dass der Verweis auf Brunner und der damit signalisierte Historisierungsschub, der sich vor allem in einer neuartigen terminologischen Sensibilität zeigt, für die gesamte Ständeforschung kanonisch geworden ist. 146 Der zweite Großtrend besteht – wenig überraschend angesichts der allgemeinen Entwicklung der Geschichtswissenschaft nach 1945 – in der

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Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, II, S. 194. Vgl. auch Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes, S. 13f. Vgl. neben Hofmann, Repräsentation, vor allem Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes; Dies., Ständische Repräsentation – Kontinuität oder Kontinuitätsfiktion? und Dies., Was heißt landständische Repräsentation? Neben dem pflichtgemäßen Verweis auf Brunner kommt es zuweilen auch zu Fehlinterpretationen: Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter, etwa meint, mit seinem Diktum habe Brunner die ältere Lehrmeinung vom „Repräsentativcharakter der Stände“ (ebd., S. 96) verteidigen wollen, tatsächlich sei es aber so, dass „die Stände ihre eigenen Interessen und nicht die des Landes vertraten“ (ebd., S. 99). Schubert entgeht, dass Brunner einen völlig anderen Landesbegriff verwendet. Derselbe Fehler unterläuft seinem Schüler Schmidt-Salzen, Die Landstände im Fürstentum Lüneburg zwischen 1430 und 1546, S. 11 und S. 236–239. Schon 1967 spricht Gerhard Oestreich von einer „von den deutschen Verfassungs- und Rechtshistorikern allgemein anerkannten Formel“ (Oestreich, Ständetum und Staatsbildung in Deutschland, S. 60). Vgl. zusammenfassend Krüger, Die landständische Verfassung, S. 59, und Eßer, Landstände im Alten Reich, S. 261f. Vgl. im einzelnen etwa Blickle, Landschaften im Alten Reich, S. 40; Bosl, Die Geschichte der Repräsentation in Bayern, S. 9; Quarthal, Landstände und landständisches Steuerwesen in Schwäbisch-Österreich, S. 2; Kappelhoff, Absolutistisches Regiment oder Ständeherrschaft?, S. 2; Stieglitz, Landesherr und Stände zwischen Konfrontation und Kooperation, S. 4; Schmidt-Salzen, Die Landstände im Fürstentum Lüneburg zwischen 1430 und 1546, S. 11–14; Paringer, Die bayerische Landschaft, S. 11; Kummer, Landstände und Landschaftsverordnung unter Maximilian I. von Bayern, S. 15; Kraus, Grundzüge des deutschen Parlamentarismus vor 1848, S. 59; schon sehr früh kritisch Renger, Landesherr und Landstände im Hochstift Osnabrück in der Mitte des 18. Jahrhunderts, S. 45, der Brunners Diktum für eine „sibyllinische Antwort“ hielt; ebenfalls kritisch Birtsch, Die landständische Verfassung als Gegenstand der Forschung, S. 38–43, und auch Walz, Stände und frühmoderner Staat, S. 24–35.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

verstärkten Hinwendung zur Sozialgeschichte. 147 Da es sich allerdings um einen Sammelbegriff handelt und sich dahinter sehr heterogene Traditionslinien verbergen, muss genauer bestimmt werden, welche Spielart der Sozialgeschichte in der Ständeforschung denn tatsächlich wirksam wurde. Und obwohl die Berlin-Bielefelder Richtung, die unter HansUlrich Wehler und Jürgen Kocka eine an den systematischen Sozialwissenschaften ausgerichtete und gesellschaftskritische ‚Historische Sozialwissenschaft‘ anstrebte, heutzutage immer noch vielen als Inbegriff der sozialgeschichtlichen Wende gilt, 148 war für die Ständeforschung viel eher die ‚Heidelberger Variante‘ bedeutsam, also die aus der diskreditierten Volksgeschichte hervorgegangene Form der Sozialgeschichte. 149 Das lag sicherlich nicht zuletzt daran, dass neben Werner Conze und Theodor Schieder auch Otto Brunner zu den Begründern dieses zuerst unter dem Label ‚Strukturgeschichte‘ laufenden Ansatzes zählte. 150 Für Brunner stand der „innere Bau, die Struktur, der menschlichen Verbände“ 151 im Zentrum der sozialgeschichtlichen Betrachtungsweise und Schieder sprach von Struktur als einem „Element relativer Stabilität im sozialen Geschehen“, das gleichsam die „Dauer“ repräsentiere – womit er sich, wie auch Conze, explizit an die Schule der Annales anlehnte. 152 Es ist offensichtlich, dass der so verstandene strukturgeschichtliche Zugriff und das institutionelle Erkenntnisinteresse eng miteinander verflochten sind; gleichwohl konnte sich das allgemeine Anliegen der Sozialgeschichte, die (idealistische) Konzentration auf Personen und Ereignisse um eine Perspektive auf „menschliche Gruppen in ihrem Vergesellschaf147 148 149

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Vgl. allgemein Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, S. 281–301, und zuletzt Cornelißen, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945. Vgl. etwa Mooser, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Historische Sozialwissenschaft, Gesellschaftsgeschichte, S. 579f., und Eibach, Sozialgeschichte. Vgl. dazu allgemein Oexle, Von der völkischen Geschichte zur modernen Sozialgeschichte, und Oberkrome, Entwicklungen und Varianten der deutschen Volksgeschichte (1900–1960). Schon 1956 veröffentliche Brunner eine Zusammenstellung eigener Aufsätze unter dem Titel Neue Wege der Sozialgeschichte. Vgl. auch Brunner, Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte. Zu diesem vgl. Blänkner, Von der ‚Staatsbildung‘ zur ‚Volkswerdung‘. Zu Conze vgl. Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Vgl. auch Grothe, Zwischen Geschichte und Recht, S. 385–390. Zum Strukturbegriff vgl. Suter, Hettling (Hg.), Struktur und Ereignis. Brunner, Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte, S. 471. Vgl. auch Conze, Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht. Zur Strukturgeschichte Conzes vgl. Kocka, Sozialgeschichte zwischen Strukturgeschichte und Erfahrungsgeschichte, S. 68–73. Schieder, Strukturen und Persönlichkeiten in der Geschichte, S. 159. Vgl. auch Schöttler, Zur Geschichte der Annales-Rezeption in Deutschland (West).

2.1 Forschungskontexte

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tetsein“ 153 zu erweitern, in allen Zweigen der Ständeforschung weitgehend durchsetzen. Dies war wahrscheinlich auch deshalb der Fall, weil sich die Ständegeschichte als Teil der Verfassungsgeschichte immer schon für Strukturen interessiert hatte – allerdings für rechtlich-normative, denen die soziostrukturellen nunmehr zur Seite gestellt werden konnten; in diesem Kontext steht auch die Renaissance, die das Werk Otto Hintzes seit den sechziger Jahren erfuhr. 154 Wie sehr diese strukturgeschichtliche Erweiterung die Ständeforschung prägte und wie sie konkretisiert wurde, belegt beispielhaft das 1975 begonnene Projekt einer „Sozial- und Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches“: Peter Moraw und Volker Press – beide ausgewiesene Ständehistoriker institutioneller Prägung – nahmen in ihrem programmatischen Aufsatz zu diesem Projekt einer „Strukturanalyse des Reichskörpers“ wörtlich Bezug auf Schieders „Elemente relativer Stabilität“ und wollten die Verbindung von Sozial- und Verfassungsgeschichte einlösen durch eine „Analyse der Herrschaftsinstitutionen und ihrer Träger“. 155 Letzteres Zitat könnte in der Tat auch insgesamt als Überschrift für die sozialhistorische Erweiterung der Ständeforschung stehen, war doch bald anerkannt, dass die bisher vorwiegend verfassungs- und rechtsgeschichtlich orientierte Forschung, die sich auf die landständischen Institutionen konzentriert hatte, durch eine personen- und gruppengeschichtliche Perspektive ergänzt werden musste. 156 153 154

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Brunner, Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte, S. 493. Vgl. Grothe, Zwischen Geschichte und Recht, S. 389–402. Hintzes Werk war gleich in mehrfacher Hinsicht anschlussfähig: Er hatte sich mit dem Zusammenhang von Sozialstruktur und politischer Verfassung beschäftigt, was im Zuge der sozialgeschichtlichen Erweiterung für die Ständeforschung insgesamt relevant wurde. Zudem hatte er Beiträge zu allen drei Erkenntnisproblemen publiziert; zur Entwicklung des Repräsentativsystems, zur Staatsbildung und zur Eigenart der europäischen Institutionen. Vgl. Gerhard, Otto Hintze: His Work and His Significance in Historiography, und Büsch, Erbe (Hg.), Otto Hintze und die moderne Geschichtswissenschaft. Moraw, Press, Probleme der Sozial- und Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (13.–18. Jahrhundert), S. 96 und S. 99. Neben der strukturgeschichtlichen Perspektive dokumentiert der Aufsatz auch den Einfluss des Alteuropa-Konzepts. Vgl. dazu vor allem die Beiträge von Volker Press, etwa Ders., Herrschaft, Landschaft und ‚Gemeiner Mann‘ in Oberdeutschland vom 15. bis zum frühen 19. Jahrhundert; Ders., Formen des Ständewesens in den deutschen Territorialstaaten des 16. und 17. Jahrhunderts, und Ders., Vom ‚Ständestaat‘ zum Absolutismus; vgl. zusammenfassend Krüger, Die landständische Verfassung, S. 78f., und Eßer, Landstände im Alten Reich, S. 265; vgl. ferner im Einzelnen Reden, Landständische Verfassung und fürstliches Regiment in Sachsen-Lauenburg (1543–1689), S. 11; Vierhaus, Land, Staat und Reich in der politischen Vorstellungswelt deutscher Landstände; Lanzinner, Fürst,

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

Schlug der erste Großtrend, der mit dem Namen Brunners verbundene Historisierungsschub, vor allem auf das Konzept der Repräsentation durch, so führte der zweite, sozialgeschichtliche Trend, also das Bemühen, die landständischen Institutionen nicht mehr nur als verfassungsrechtlich relevante Normensysteme, sondern in Verbindung mit ihren soziostrukturellen Grundlagen und Kontexten zu betrachten, nunmehr dazu, auch noch die Zentralkategorie des Dualismus zu destruieren. Denn je mehr die (vornehmlich: adeligen) Personen und Gruppen in den Vordergrund rückten, 157 welche die ständischen Institutionen trugen, desto mehr verschwammen die verfassungsrechtlich angeblich so klaren Grenzen zwischen den beiden Polen des ‚dualistischen Ständestaates‘. Stattdessen wurde, wie Rudolf Vierhaus – Schüler Kurt von Raumers und Weggefährte Dietrich Gerhards am Max-Planck-Institut für Geschichte – formulierte, in der politischen Praxis des frühneuzeitlichen Fürstenstaats eine „breite Zone vielschichtiger Durchdringung landherrlicher [sic!] und landständischer Kompetenzen“ 158 sichtbar. Volker Press zog daraus in seinen wegweisenden „50 Thesen“ den Schluss, dass das „herkömmliche Dualismusmodell“ zu relativieren sei, denn es hebe „sich vielfach auf in den Personen, die gleichzeitig Angehörige der Stände, der Bürokratie und des Hofes sind“. 159 In der Folge wurde die Kategorie allerdings nicht nur relativiert, sondern letztlich sogar vollständig dekonstruiert. Gierke hatte den von ihm eingeführten Dualismus aus sozialtheoretischen Gründen vor allem als Antagonismus bestimmt, genauer als dialektischen Antagonismus von Herrschaft und Genossenschaft. Bei der folgenden Rezeption des Dualismusbegriffs durch die etatistische Ständeforschung wurde jedoch nur

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Räte und Landstände, S. 15–18; Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus, S. 9; Speck, Die vorderösterreichischen Landstände im 15. und 16. Jahrhundert, I, S. 10; Bulst, Rulers, Representative Institutions, and their Members as Power Elites; Stieglitz, Landesherr und Stände zwischen Konfrontation und Kooperation, S. 6; Paringer, Die bayerische Landschaft, S. 20; Schaupp, Die Landstände in den zollerischen Fürstentümern Ansbach und Kulmbach im 16. Jahrhundert, S. 28f.; Kruse, Stände und Regierung – Antipoden?, S. 11; Metz, Der Stände oberster Herr, S. 10. Vgl. dazu programmatisch Press, Adel im Reich um 1600, S. 41: „Um die Aktivitäten der Stände konsequent zu analysieren, bedarf es der prosopographisch-personengeschichtlichen Untersuchungen, wieweit es Verklammerungen der einzelnen Ständemitglieder mit Hof und Regierung des Fürsten gab.“ Vierhaus, Land, Staat und Reich in der politischen Vorstellungswelt deutscher Landstände im 18. Jahrhundert, S. 56. Press, Vom ‚Ständestaat‘ zum Absolutismus, S. 320. So auch schon 1975 in Ders., Herrschaft, Landschaft und ‚Gemeiner Mann‘ in Oberdeutschland vom 15. bis zum frühen 19. Jahrhundert, S. 176.

2.1 Forschungskontexte

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dieser antagonistische Zug, nicht jedoch die dahinter stehende Sozialtheorie übernommen und seitdem stellte der ständische Konflikt für die meisten Forscher den anzunehmenden Normalfall in den frühneuzeitlichen Territorien dar. 160 Als Reaktion auf die eben geschilderte Kritik, die im Zuge der sozialgeschichtlichen Wende seit den siebziger Jahren laut wurde, versuchten einige Forscher zunächst, das Konzept neu und genauer zu fassen, um es zu einem theoretisch abgesicherten Analyseinstrument weiterzuentwickeln: Rainer Walz unterschied unter Bezug auf soziologische Ansätze verschiedene Typen ständischer Konflikte, von denen nur einer den Dualismus im eigentlichen Sinne hervorbringe; Ulrich Lange hingegen wollte Dualismus als reinen Relationsbegriff verwendet wissen und damit von allen weiteren Bestimmungen, insbesondere der des Antagonismus, freihalten. 161 Letztlich aber ist wohl Gabriele Haug-Moritz darin zuzustimmen, dass das Dualismusmodell, so wie es von Gierke konzipiert worden war, „für das Verständnis frühmoderner Staatlichkeit als unangemessen, ja als die historische Wirklichkeit verzerrend“ erscheint und daher nicht mehr Verwendung finden sollte. 162 Damit ergibt sich eine bemerkenswerte Situation. Einerseits sind zwei tragende Konzepte der Ständeforschung sowohl aus theoretischen Gründen verabschiedet als auch in der Praxis widerlegt worden: Der Repräsentationsbegriff wurde so vollständig historisiert, dass er zumindest nicht mehr zur Begründung von Werturteilen über die Landstände taugt, 163 und der Dualismusbegriff wurde so vollständig dekonstruiert, dass von seiner Verwendung überhaupt abgeraten wird. Andererseits scheinen beide 160 161

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Vgl. Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus, S. 14, und Lange, Der ständestaatliche Dualismus, S. 314. Vgl. insbesondere Walz, Stände und frühmoderner Staat, S. 3–24, und Lange, Der ständestaatliche Dualismus. Beide verweisen insbesondere auf die Infragestellung des Dualismuskonzepts durch die sozialgeschichtliche Ständeforschung: Walz, Landstände und frühmoderner Staat, S. 6f; Lange, Der ständestaatliche Dualismus, S. 317. Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus, S. 14. So auch Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter, S. 98; Krüger, Die landständische Verfassung, passim; Moraw, Zu Stand und Perspektiven der Ständeforschung im spätmittelalterlichen Reich, S. 2; Kummer, Landstände und Landschaftsverordnung unter Maximilian I. von Bayern, S. 15; Quarthal, Landstände und Fürstenverträge süddeutscher Territorien im Spätmittelalter, S. 42. Vgl. auch Mat’a, Landstände und Landtage in den böhmischen und österreichischen Ländern (1620– 1740), S. 352f. Werturteile hier verstanden im Anschluss an Max Weber als „praktische Wertungen sozialer Tatsachen als, unter ethischen oder unter Kulturgesichtspunkten oder aus anderen Gründen, praktisch wünschenswert oder unerwünscht“ (Weber, Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, S. 461).

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

Termini, oder zumindest die damit bezeichneten Konzepte, weiterhin unersetzlich zu sein: Immer wieder wird – sogar explizit unter Heranziehung eines angeblich universalen „Prinzip[s] der Repräsentation“ 164 – die Bewertung der Landstände davon abhängig gemacht, ob und inwieweit die Stände das Gemeinwohl repräsentiert hätten, 165 und immer noch spiegelt sich im Aufbau ständehistorischer Arbeiten der längst überwunden geglaubte Dualismus wieder. 166

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Löwenthal, Kontinuität oder Diskontinuität: Zur Grundproblematik des Symposions, S. 346. Dieses Prinzip bestimmt der Politikwissenschaftler dahingehend, „daß zur Legitimität der Regierung der Konsens der Regierten zu Regierungsform und Regierungsentscheidungen gehört, und daß dieser Konsens durch Repräsentanten vermittelt wird“. Auf diesen Aufsatz von 1977 beziehen sich bis heute immer wieder vor allem Peter Blickle (Ders., Das Alte Europa, S. 270; Ders., Perspektiven ständegeschichtlicher Forschung, S. 35f.) und Kersten Krüger (Ders., Die landständische Verfassung, S. 80; Ders., Versuch einer Typologie ständischer Repräsentationen im Reich, S. 35f.). Angeführt werden nur neuere Arbeiten, die erschienen, nachdem der Repräsentationsbegriff historisiert war. Zur Verwendung in älteren Werken vgl. Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes, S. 1–16, v. a. S. 16. So bei Krüger, Die landständische Verfassung, S. 30; Kummer, Landstände und Landschaftsverordnung unter Maximilian I. von Bayern, S. 158 und passim; Paringer, Die bayerische Landschaft, S. 310f.; Krüger, Landesherr und Landstände in Kursachsen auf den Ständeversammlungen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, S. 309; Schmidt-Salzen, Die Landstände im Fürstentum Lüneburg zwischen 1430 und 1546, S. 237: „Die Stände vertraten also nicht die Interessen des Landes, sondern ihre eigenen“; Kruse, Stände und Regierung – Antipoden?, S. 200; Seitz, Die landständische Verordnung in Bayern im Übergang von der altständischen Repräsentation zum modernen Staat, S. 23; Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter, S. 99. Für die älteren Arbeiten vgl. vor allem Bosl, Die Geschichte der Repräsentation in Bayern, S. 3f. und passim. Bezeichnend ist die Aussage von Kummer, Landstände und Landschaftsverordnung unter Maximilian I. von Bayern, S. 15, die erst den Begriff ablehnt, um dann im Folgesatz genau den Tatbestand zu behaupten, den der Begriff meint: „Das interessanteste Ergebnis des neuen Ansatzes ist die Erkenntnis, dass der Dualismus als Modell für das Verhältnis zwischen Fürst und Ständen viel zu statisch ist. Sicherlich wird niemand die Tatsache bestreiten, dass das Verhältnis zwischen Landesfürst und Landständen zu einem wesentlichen Teil vom Kampf um Machtpositionen gekennzeichnet war.“ Vgl. auch Schirmer, Die ernestinischen Stände von 1485–1572, S. 25. – Ein wesentliches Indiz dafür, dass dualistische Vorstellungen immer noch vorherrschend sind, ohne dass der Begriff benutzt wird, ist darin zu sehen, dass viele Autoren nunmehr von ‚Kooperation‘ sprechen, offenbar in der Annahme, Dualismus ließe sich mit Antagonismus gleichsetzen. Vgl. etwa Kramer, Die bayerischen Landstände im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung, S. 100; Krüger, Landesherr und Landstände in Kursachsen auf den Ständeversammlungen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, S. 16; Schaupp, Die Landstände in den zollerischen Fürstentümern Ansbach und Kulmbach im 16. Jahrhundert, S. 3; Krüger, Die landständische Verfassung, S. 10; Kruse, Stände und Regierung – Antipoden?, S. 200; Stieglitz, Landesherr und Stände zwischen Konfrontation und Kooperation, S. 14 – Dass Repräsentation und Dualismus darüber hinaus in der all-

2.1 Forschungskontexte

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Zur Charakterisierung dieser Situation ließe sich wohl zwanglos ein Titel übernehmen, unter dem jüngst die Absolutismusforschung behandelt wurde: „Totgesagte leben länger.“167 Auch der Begriff des Absolutismus scheint trotz aller Kritik weiter unersetzlich zu sein, genauso wie ‚Repräsentation‘ und ‚Dualismus‘. Warum es offensichtlich so schwer ist, eingeführte und zentrale Forschungsbegriffe zu ersetzen, muss hier nicht geklärt werden; sehr wohl aber muss man mit dieser Situation umgehen. Da die reflexive Aufarbeitung der Ständeforschung bis hierher also gezeigt hat, dass die Kategorien ‚politische Repräsentation‘ und ‚Dualismus‘ latent weiterhin wirksam sind, so lässt sich als ein wichtiges Ergebnis festhalten, dass sich auch die im Folgenden vorgenommene Analyse der landständischen Verfassung an diesen Deutungsmustern wird abarbeiten müssen. Im Hinblick auf den Repräsentationsanspruch werde ich vorschlagen, diesen als diskursives Herrschaftsinstrument zu begreifen, also nicht zu fragen, ob die Landstände die Interessen der Gesamtheit vertraten, sondern die Perspektive umzukehren und zu untersuchen, ob und wie die Landstände es vermochten, ihre eigenen Interessen – im Sinne politischer Hegemonie – als die Interessen der Gesamtheit zu artikulieren und letztere damit überhaupt erst zu definieren. 168 Diese Neufassung des Repräsentationsbegriffs hat dann auch Auswirkungen auf den Umgang mit dem Problem des Dualismus: Es wird zu zeigen sein, dass es trotz aller sozialgeschichtlichen Verflechtungen auch weiterhin sinnvoll ist, von einem Dualismus da zu sprechen, wo zwei Akteure – ein individueller (Landesherr) und ein kollektiver (Landstände) – als legitime politische Repräsentanten gelten und für sich das Recht in Anspruch nehmen, ‚im Namen des Ganzen‘ zu sprechen. Eine solche, genuin politische Situation ist jedoch nicht einfach als gegeben zu unterstellen, sondern es ist jeweils im Einzelfall zu prüfen, ob und wie die landständische Verfassung eines Territoriums einen dualistischen Charakter annimmt (und gegebenenfalls auch wieder abstreift). Kurz: Beide Begriffe müssen ent-substantialisiert und anhand ihrer ‚Gemachtheit‘ und ‚Prozesshaftigkeit‘ neu gefasst werden.

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gemeinen Geschichtsschreibung als Deutungsmuster weiter tradiert werden, muss wohl nicht extra betont werden. Eichhorn, Geschichtswissenschaft zwischen Tradition und Innovation, S. 199. Zum Stand der Absolutismusforschung vgl. Schilling (Hg.), Absolutismus, ein unersetzliches Forschungskonzept?, und Freist, Absolutismus. Vgl. zur methodischen Umsetzung unten 2.2.2. und grundsätzlich zur Hegemonietheorie Laclau, Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Ein ähnliches Anliegen im Bereich der Ständegeschichte verfolgt Tieben, Politik von unten.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

2.1.3 Die ‚landständische Verfassung‘: Ein unproblematischer Begriff? Mit dem dritten und letzten Zusammenhang, der ‚bewusst‘ gemacht werden muss, beginnt nun die eigentliche Begriffsarbeit, denn er betrifft den Untersuchungsgegenstand selbst – die landständische Verfassung. Wenig bekannt ist nämlich, dass es sich ursprünglich um eine Begriffsprägung aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts handelt. Zunächst ist also eine begriffliche Kontinuität vom Ancien Régime bis in die aktuelle Forschung festzuhalten: Johann Jakob Moser sprach schon 1769 von den „Landständischen Verfassungen in allen Provinzien Teutschlands“ 169 und das aktuelle, 2003 erschienene Überblickswerk zum Thema trägt ebenfalls den schlichten Titel Die landständische Verfassung. 170 Der grundlegende Forschungsbegriff ist offensichtlich trotz der drei unterschiedlichen Erkenntnisinteressen, trotz der scharfen Auseinandersetzungen um ‚Repräsentation‘ und ‚Dualismus‘ und auch trotz völlig konträrer Bewertungen der „politischen Leistung“ (Gerhard) des Ständetums immer derselbe geblieben – was durchaus erstaunen kann angesichts der heftigen Auseinandersetzungen, die in der Geschichtswissenschaft zuweilen um forschungsleitende Begriffe wie etwa ‚Absolutismus‘ oder ‚Staat‘ geführt werden. Bei der bis heute idealtypischen ‚landständischen Verfassung‘ handelt es sich also zumindest in Teilen um ein Konzept des 17. und 18. Jahrhunderts, mithin auch um eine Selbstbeschreibung der frühneuzeitlichen Gesellschaft, muss man doch man in Rechnung stellen, dass Moser und die Reichs- bzw. Territorialpublizisten in einem nicht primär wissenschaftlich-theoretischen, sondern einem juristischpragmatischen Diskurs agierten und ihre Argumente – und damit auch das Konzept der landständischen Verfassung – auf das jeweils geltende Staatsrecht hingeordnet waren. 171 Zudem hat die seit 250 Jahren unun169

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Moser, Von der Teutschen Reichs-Stände Landen, S. 840; vgl. auch andere Komposita, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts vorkommen: „Reichs-Ständische Verfassung“ (Moser, Sammlung der neuesten und wichtigsten Deductionen in Teutschen Staatsund Rechts-Sachen, I, S. 492), „landschaftliche Verfassung“ (Moser, Einleitung in das Chur-Fürstlich-Bayrische Staats-Recht, S. 367f. und 372) und „Ständische Verfassung“ (Büsching, Wöchentliche Nachrichten von neuen Landcharten, geographischen, statistischen und historischen Büchern und Schriften 11,2, S. 16). Vgl. Krüger, Die landständische Verfassung. Vgl. Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung, S. 44– 67, der von der „Suprematie“ der Jurisprudenz über die Geschichte spricht, die daher „Hilfswissenschaft“ bleibt und eine „lediglich instrumentelle Zuständigkeit“ besitzt (ebd., S. 63); vgl. weiterführend Dreitzel, Absolutismus und ständische Verfassung in Deutschland.

2.1 Forschungskontexte

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terbrochene Begriffsverwendung dazu geführt, dass der Begriff mit den verschiedensten Deutungen aus den drei beschriebenen Forschungszweigen angereichert wurde. Wie ist mit einer solchen Situation umzugehen? Wie schon im Fall der Kategorien ‚Repräsentation‘ und ‚Dualismus‘ wäre es auch hier nicht hilfreich, wenn man nun den Begriff mitsamt Konzept vollständig ablehnen und verabschieden würde, denn damit brächte man sich um die Möglichkeit, kritisch und produktiv an die zweihundertjährige Forschungstradition anzuknüpfen. Will man aber an ihm festhalten, so verschärft sich das Problem nur noch: Einerseits sollen dann die vielen richtigen Ergebnisse und Einsichten im Hinblick auf konkrete Verfassungsordnungen, aus denen der Idealtyp synthetisiert wurde und die – mit Hegel gesprochen – in ihm ‚aufgehoben‘ sind, nicht verworfen werden; andererseits aber fordert das institutionelle Erkenntnisinteresse, mit allen generalisierenden und gegenwartsgenetischen Deutungen, die ebenfalls im Begriff der landständischen Verfassung enthalten sein mögen, genau das zu tun, nämlich sie zu verwerfen. Hier nun erweist sich die oben herausgestellte Heterogenität der Erkenntnisinteressen innerhalb der Ständeforschung als ausgesprochener Vorteil. Über die allgegenwärtige Verwendung des bloßen Begriffs der landständischen Verfassung hinaus lässt sich nämlich eine Schnittmenge bilden, die von praktisch allen Forschern geteilte inhaltliche Bestimmungen enthält: Egal, ob man im 18. Jahrhundert allgemeines Territorialstaatsrecht lehrte, ob man im 19. Jahrhundert den Kampf um die Volkssouveränität im Register der Ständeforschung austrug oder ob man später konstitutionell, etatistisch oder institutionell orientierte Ständegeschichte betrieb, immer lag den Forschungen ein Set von Annahmen zugrunde, das so etwas wie den strukturellen Kern der landständischen Verfassung beschreibt. Und dieses Set lässt sich für die hier verfolgten Zwecke problemlos übernehmen, denn man kann davon ausgehen, dass die Konkurrenz der verschiedenen Erkenntnisinteressen innerhalb der Ständeforschung dafür gesorgt hat, dass das Set nur Annahmen enthält, die nicht oder nur sehr schwach mit den ‚großen‘, also generalisierenden oder gegenwartsgenetischen Deutungen verbunden sind – die spezifischen Interessen haben sich sozusagen gegenseitig aus der Schnittmenge ‚herausgekürzt‘. Dieses Set lässt sich in fünf Bestimmungen konkretisieren, die zusammen einen empirisch gesättigten ‚Strukturtypus‘ ausmachen, der im umfassenderen Idealtypus der landständischen Verfassung enthalten ist. Im Folgenden wird dieser anhand des für die Ständeforschung wohl folgenreichsten Werks des 18. Jahrhunderts konturiert, Johann Jakob Mosers Von der Teutschen Reichs-Stände Landen; in den Anmerkungen wird

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

gleichzeitig an einem Sample der wichtigsten Beiträge zur Ständeforschung aufgezeigt, dass sich dieser Strukturtypus bis in die aktuelle Forschung hinein nicht grundlegend verändert hat. Der Begriff ‚landständische Verfassung‘ bezeichnet demnach eine Form der politischen Verfasstheit, für die fünf Eigenschaften charakteristisch sind: 172 (1) Politische Partizipation: „ ‚Land-Stände seynd und heisset das Corpus derienigen Unterthanen, welche, Krafft der Landes-Freyheiten und Herkommens, von dem Landes Herrn in gewissen Landes-Angelegenheiten um ihren Rath, oder auch Bewilligung, angesprochen werden müssen‘ “. 173 – Die Regierung des Gemeinwesens obliegt nicht dem Landesherren allein, sondern eine Gruppe namens ‚die Landstände‘ verfügt über politische Teilhaberechte. 174 (2) Ständische Heterogenität: „So verschiden der Ursprung und die Schicksale derer Land-Stände in denen verschiedenen Provinzien Teutschlands seynd; so verschidene Classen oder Sorten von LandStänden trifft man auch darinnen an“. 175 – Wie die Pluralform ‚die Landstände‘ schon andeutet, kommt das Merkmal, ein Landstand zu sein, die

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Ebenso wäre es möglich, einen europäisch-vergleichenden Typus der ‚ständischen Verfassung‘ zu konturieren, wie es vor allem Otto Hintze versucht hat. Das würde der Arbeit zwar einen transnationalen Anstrich geben, führte jedoch in die Irre, da es eben ein auf die Verhältnisse in den Reichsterritorien abgestellter Idealtyp ist, der die Forschung bestimmte und von dem daher zunächst auszugehen ist. Für die europäisch-vergleichende Perspektive vgl. Hintze, Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes; Ders., Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung; Marongiu, Medieval Parliaments. Moser, Von der Teutschen Reichs-Stände Landen, S. 322. Moser übernimmt diese Definition aus einem eigenen Werk, daher das Zitat im Zitat: Moser, Compendium Juris Publici Moderni Regni Germanici, Oder, Grund-Riß der heutigen Staats-Verfassung des Teutschen Reichs, S. 564. Vgl. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, I, S. 536f.; Below, System und Bedeutung der landständischen Verfassung (1900), S. 173; Rachfahl, Alte und neue Landesvertretung in Deutschland, S. 98f.; Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, S. 55; Brunner, Land und Herrschaft, S. 413; Gerhard, Regionalismus und ständisches Wesen als Grundthema europäischer Geschichte, S. 319; Birtsch, Die landständische Verfassung als Gegenstand der Forschung, S. 46; Oestreich, Ständetum und Staatsbildung in Deutschland, S. 47; Bosl, Geschichte der Repräsentation in Bayern, S. 13; Blockmans, A Typology of Representative Institutions, S. 192; Press, Vom ‚Ständestaat‘ zum Absolutismus, S. 321; Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter, S. 41; Krüger, Die landständische Verfassung, S. 1. Moser, Von der Teutschen Reichs-Stände Landen, S. 411f.

2.1 Forschungskontexte

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Landstandschaft, in der Regel mehreren, ständisch heterogenen Gruppen zu. 176 (3) Politische Homogenität: „Weiter stehen die Land-Stände unter sich […] in einer natürlichen Verbindung; mithin auch […] in einer unverrücklichen Gemeinschaft und Theilnehmung an allen dem Corpori zustehenden Gerechtsamen und Befügnissen“. 177 – Trotz der ständischen Hetereogenität bilden die Landstände in politischer Hinsicht eine Korporation, das heißt Träger der politischen Teilhaberechte ist die Gesamtheit der Landstände. 178 (4) Repräsentationsfunktion: „Ein Land-Ständisches Corpus stellet in Landes-Sachen die gesamte Landes-Innwohnerschaft vor; so, daß dasienige, was man auf einem allgemeinen Land-Tag beschliesset, eben so angesehen wird, als wann die samtliche Landes-Eingesessene Mann vor Mann darein bewilliget hätten; dahero dergleichen Schlüsse eine allgemeine Verbindlichkeit nach sich ziehen“. 179 – Als Korporation repräsentieren die Landstände das ‚Land‘, das heißt die Handlungen und Entscheidungen der Landstände gelten als Handlungen des ‚Landes‘ selbst und werden

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Vgl. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, I, S. 537–541; Below, System und Bedeutung der landständischen Verfassung (1900), S. 243; Rachfahl, Alte und neue Landesvertretung in Deutschland, S. 109; Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, S. 30; Brunner, Land und Herrschaft, S. 404f.; Gerhard, Regionalismus und ständisches Wesen als Grundthema europäischer Geschichte, S. 325; Birtsch, Die landständische Verfassung als Gegenstand der Forschung, S. 42; Oestreich, Ständetum und Staatsbildung in Deutschland, S. 51; Bosl, Geschichte der Repräsentation in Bayern, S. 14; Blockmans, A Typology of Representative Institutions, S. 196; Press, Vom ‚Ständestaat‘ zum Absolutismus, S. 319; Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter, S. 42–43; Krüger, Die landständische Verfassung, S. 2–4. Moser, Von der Teutschen Reichs-Stände Landen, S. 844. Vgl. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, I, S. 561–564; Below, System und Bedeutung der landständischen Verfassung (1900), S. 244; Rachfahl, Alte und neue Landesvertretung in Deutschland, S. 123; Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, S. 50; Brunner, Land und Herrschaft, S. 438; Gerhard, Regionalismus und ständisches Wesen als Grundthema europäischer Geschichte, S. 319; Oestreich, Ständetum und Staatsbildung in Deutschland, S. 48; Bosl, Geschichte der Repräsentation in Bayern, S. 43f. und S. 65; Press, Formen des Ständewesens in den deutschen Territorialstaaten des 16. und 17. Jahrhunderts, S. 284; Krüger, Die landständische Verfassung, S. 3. Moser, Von der Teutschen Reichs-Stände Landen, S. 716; vgl. auch: „Sie seynd Repräsentanten des Landes in favorabilibus & odiosis, Custodes Legum & Jurium Patriae, Vorstehere, und gleichsam Vormündere, des Landes“ (ebd., S. 843).

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

damit allen Personen und Korporationen, die Angehörige des Landes sind, verbindlich zugerechnet. 180 (5) Zentralität des allgemeinen Landtags: „Ob sich gleich alle Landesoder Land-Ständische Angelegenheiten ordentlicher Weise einzig und allein für die bißhero erzählte Gattungen von Conventen derer LandStände qualificiren“. 181 – Die landständische Verfassung, verstanden als das abstrakte Gesamtgefüge politischer Teilhaberechte, findet ihren wirksamen Ausdruck in der Praxis vor allem in der Zentralinstitution des allgemeinen Landtags. 182

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Repräsentation wird hier ausschließlich im analytischen Sinn als ‚Zurechnungsregel‘ verstanden, vgl. oben 2.1.2.; daher ist es auch unerheblich, wie die nachfolgend genannten Forscher zur Frage des Repräsentativcharakters der Landstände im Sinne der modernnaturrechtlichen ‚mandatierten Interessenvertretung‘ stehen: Es ist daher möglich zu behaupten, die Landstände seien keine ‚wahren‘ Repräsentanten und gleichzeitig das faktische Bestehen der verbindlichen Entscheidungszurechnung zuzugeben. Vgl. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, I, S. 572–576; Below, System und Bedeutung der landständischen Verfassung (1900), S. 244; Rachfahl, Alte und neue Landesvertretung in Deutschland, S. 106; Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, S. 52; Brunner, Land und Herrschaft, S. 434; Gerhard, Assemblies of Estate and the Corporate Order, S. 307; Oestreich, Ständetum und Staatsbildung in Deutschland, S. 51; Bosl, Geschichte der Repräsentation in Bayern, S. 124 und passim; Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter, S. 49; Krüger, Die landständische Verfassung, S. 10f. Moser, Von der Teutschen Reichs-Stände Landen, S. 1529. Die Zentralität zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Landtagsbesuch das ausschlaggebende Kriterium für die Landstandschaft darstellt, da „alles einig und allein auf das Siz- und Stimm-Recht auf Land-Tägen ankommt: Wer dieses hat, ist ein Land-Stand; und wer es nicht hat, ist keiner“ (ebd., S. 322). Zentral sind allein die allgemeinen Landtage; Ausschusslandtage und Versammlungen von einzelnen Landständen sind nicht gleichwertig. Zwar gilt: „Es gibt zwey Haupt-Gattungen von dergleichen Zusammenkünfften: 1. Allgemeine, und 2. besondere“ (ebd., S. 1386). Allerdings konzipiert Moser die besonderen Landtage derart, dass Ausschusslandtage nur eine besondere Form von allgemeinen Landtagen darstellen, die durch einen weiteren Repräsentationsakt entstehen (ebd., S. 1517), und Partikularversammlungen keine allgemein verbindlichen Beschlüsse fassen können, weshalb sie auch nicht ‚Landtage‘, sondern „Classen-Convente“ heißen (ebd., S. 1517). Vgl. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, III, S. 477–480; Below, System und Bedeutung der landständischen Verfassung (1900), S. 243; Rachfahl, Alte und neue Landesvertretung in Deutschland, S. 92; Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, S. 51; Brunner, Land und Herrschaft, S. 437; Gerhard, Probleme ständischer Vertretungen; Birtsch, Die landständische Verfassung als Gegenstand der Forschung, S. 50; Oestreich, Ständetum und Staatsbildung in Deutschland, S. 48; Bosl, Geschichte der Repräsentation in Bayern, S. 75; Blockmans, A Typology of Representative Institutions, S. 196; Press, Vom ‚Ständestaat‘ zum Absolutismus, S. 319; Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter, S. 44; Krüger, Die landständische Verfassung, S. 10.

2.1 Forschungskontexte

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Aus den typologisierenden und generalisierenden Bemühungen ganzer Generationen von Ständeforschern lässt sich auf diese Weise die überzeugende Definition eines Strukturtypus gewinnen, der die Bedingungen angibt, die erfüllt sein müssen, um eine gegebene Verfassungsordnung als ‚landständisch‘ qualifizieren zu können. Damit aber ist ein noch viel grundlegenderes Problem aufgeworfen: Welche Bedingungen müssen gegeben sein, damit man vom Bestehen einer Verfassung sprechen kann? Denn es muss ja zunächst geklärt sein, dass überhaupt eine Verfassung besteht, bevor man untersuchen kann, ob diese als eine spezifisch ‚landständische‘ Verfassung klassifiziert werden kann. Lassen sich also die Bedingungen für die Verwendung des Adjektivs ‚landständisch‘ aus dem Idealtypus und damit direkt aus der Ständeforschung gewinnen, so ist man im Hinblick auf die hinreichenden und notwendigen Kriterien für die Existenz einer Verfassungsordnung hingegen auf das übergeordnete geschichtswissenschaftliche Teilgebiet verwiesen, zu dem die Ständeforschung gehört: die Verfassungsgeschichte. 183 Schon die Begriffsgeschichte von ‚Verfassung‘ enthält Hinweise auf die entsprechenden Kriterien. Erstens meint Verfassung seit etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts, wie dem Großen vollständigen UniversalLexikon zu entnehmen ist, „so viel als eine Einrichtung, Anordnung, Regel, Vorschrift, Constitution u. s. w.“. 184 Damit ist aber der Bedeutungsgehalt noch nicht erschöpft, denn neben den Regeln als solchen bezeichnete der Begriff auch das Produkt der Anwendung eben jener Regeln, also den „in folge getroffener einrichtungen, herrichtungen entstandene[n] zustand“. 185 Beide Aspekte sind bis heute konstitutiv für die Begriffsverwendung innerhalb der Geschichtswissenschaft, was sich etwa an der präzisen Definition von Peter Moraw ablesen lässt, der Verfassung bestimmt als „das relativ dauerhafte innere Gefüge und Regelwerk des Gemeinwesens und dessen gleichwohl eintretende Wandlungen; nicht

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Zur neueren Verfassungsgeschichtsschreibung, die auch die Frühe Neuzeit mitbehandelt, zählen etwa Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit; Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte; Duchhardt, Deutsche Verfassungsgeschichte 1495–1806; Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt; Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Alten Reich bis Weimar (1495–1934); Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands; Frotscher, Pieroth, Verfassungsgeschichte. – Zur Geschichte der Verfassungsgeschichte vgl. Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert, und Grothe, Zwischen Geschichte und Recht. [Anon.], Verfassung, Sp. 561. Grimm, Grimm, Verfassung, Sp. 314.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

nur ein Normenkatalog, sondern ein wie auch immer organisierter allgemeiner Zustand ist damit angesprochen“. 186 Eine Verfassung besteht also dann, und nur dann, wenn es in Bezug auf die Herrschaftsordnung eine wechselseitige und dynamische Beziehung zwischen einer verstetigten Praxis einerseits und einem normativen Anspruch andererseits gibt – die Verfassung ist, mit den Worten Hermann Hellers, „normgeformtes Sein“. 187 Nun hat insbesondere die Verfassungsgeschichte lange Zeit mit einem weit ‚engeren‘, allein auf Normativität abgestellten Verfassungsbegriff gearbeitet. Diese Vergangenheit wirkt immer noch nach, denn auch in jüngster Zeit wird gelegentlich das Bild einer Verfassungsgeschichte gezeichnet, die notorisch die Prägekraft der Verfassungsregeln überhöht, die relevanten Institutionen verdinglicht und daher einer methodischen Generalüberholung bedarf. Eine solche Schilderung wäre allerdings vielleicht noch für die Verhältnisse zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts angemessen, 188 in Bezug auf die aktuelle Verfassungsgeschichtsschreibung aber wäre sie ein Zerrbild. Die meisten Verfassungshistoriker – gleich ob juristischer oder geschichtswissenschaftlicher Herkunft – arbeiten inzwischen wie selbstverständlich mit einem weiten Verfassungsbegriff, der es erlaubt, die Verfassung nicht nur als statisch-normative Form anzusehen, sondern auch ihren historischen Wandel und die ihr entsprechende Verfassungswirklichkeit einzubeziehen. So hat Hasso Hofmann noch kürzlich festgestellt: „Verfassungsgeschichte hat nicht statische Ordnungsmodelle zum Gegenstand, sondern Ordnungsgefüge in Bewegung und Wandel.“ 189 Und auch in der Politikwissenschaft findet inzwischen der weitere Verfassungsbegriff Verwendung. 190 In Anwendung dieses weiten Begriffsverständnisses kann dann präzisiert werden, dass eine landständische Verfassung erst dann besteht, wenn 186

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Moraw, Neuere Forschungen zur Reichsverfassung des späten Mittelalters, S. 454. Vgl. auch Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter, S. 44: „Denn Verfassung lebt unter anderem aus der Wiederholbarkeit der Regelhandlungen.“ Heller, Staatslehre, S. 250. Vgl. etwa ebd., S. 32–65, wo Heller davor warnt, den Staat und auch die Verfassung als „fetischistisch verdinglichte Formen“ (ebd., S. 34) anzusehen und klarstellt: „So wenig Dynamik und Statik, so wenig dürfen Normalität und Normativität, Sein und Sollen im Begriff der Verfassung völlig getrennt gedacht werden“ (ebd., S. 283). Hofmann, Verfassungsgeschichte als Phänomenologie des Rechts, S. 4; vgl. auch die beiden jüngsten Überblicke aus Sicht der beteiligten Fächer: Grothe, Neue Wege der Verfassungsgeschichte in Deutschland, und Waldhoff, Stand und Perspektiven der Verfassungsgeschichte aus Sicht der Rechtswissenschaft. Vgl. mit weiterer Literatur Brodocz, Die symbolische Dimension der Verfassung.

2.1 Forschungskontexte

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die fünf inhaltlichen Bedingungen in beiden Registern – als Anspruch und als Praxis – verwirklicht sind. Konkret: Der allgemeine Landtag muss als die institutionelle Form, in der die Gesamtheit der (sozialständisch heterogenen) Landstände als korporativer Träger politischer Teilhaberechte und Repräsentant des Gemeinwesen auf- und dem Landesherrn gegenübertritt, gleichermaßen in der politischen Praxis effektiv verankert und normativ anerkannt sein. 191 Erst jetzt, auf Grundlage dieser präzisierten Bestimmung, kann die Frage, wann, wie und warum in einem bestimmten Territorium eine landständische Verfassung entsteht, überhaupt gestellt werden. 192 Die zur Beantwortung dieser Frage notwendigen Kategorien und Erklärungsansätze können nun – anders als der strukturelle Kern – gerade nicht ohne weiteres aus der Beschäftigung mit der Geschichte der Ständeforschung gewonnen werden, denn in diesen Punkten lässt sich eben keine Schnittmenge ausmachen, was ja darauf hinweist, dass es gerade diese Probleme sind, die am engsten mit den ‚großen‘ Deutungen wie Parlamentarisierung und Staatsbildung verbunden sind. Gleiches gilt, wie oben schon gezeigt wurde, auch für die Konzepte ‚Repräsentation‘ und ‚Dualismus‘. Um sich also nicht schon in der methodischen Grundlegung der Arbeit den Blick auf die Individualität der landständischen Verfassung in Hessen selbst zu verstellen, werden an dieser Stelle allgemeinere kulturtheoretische und -historische Überlegungen eingeschaltet, um Kategorien, Instrumente und Hypothesen zu entwickeln, mit deren Hilfe die zunächst noch sehr abstrakte Fragestellung theoretisch ausgearbeitet und methodisch handhabbar gemacht werden kann.

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Vgl. auch Vorländer, Emergente Institution, S. 256f.: „Das Resümee lautet also, daß es mithin der politischen Anerkennung und Akzeptanz von politischen Akteuren und Bürgern genauso wie der Ausprägung einer regelkonformen gesellschaftlichen und politischen Praxis bedarf, um einer Verfassung den institutionellen Charakter zu geben, der ihre regulativ-steuernden Funktionen und orientierend-integrativen Leistungen ermöglicht.“ – Für eine instruktive Beschreibung einer solchen Verfassungsordnung vgl. Renger, Landesherr und Landstände im Hochstift Osnabrück in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Zur Frage der Genese gehört eigentlich auch ihr Komplement, die Frage nach der Auflösung der landständischen Verfassung. Diese kann hier nicht thematisiert werden, aber gleichwohl kann aufgrund der Forschungslage davon ausgegangen werden, dass die politischen Umwälzungen um 1800 das Ende der landständischen Verfassung als genuin frühneuzeitlicher politischer Institution bedeuteten. Vgl. Strathmann, Altständischer Einfluß auf die deutschen Territorialverfassungen der Jahre 1814 bis 1819; Löwenthal, Kontinuität oder Diskontinuität: Zur Grundproblematik des Symposions; Vierhaus, Von der altständischen zur Repräsentativverfassung; Stollberg-Rilinger, Ständische Repräsentation – Kontinuität oder Kontinuitätsfiktion?

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

2.2 Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte Die reflexive Aufarbeitung der Forschungsgeschichte hat also – neben einer Neubeschreibung eben dieser Geschichte als Ausdifferenzierung statt als Abfolge – einerseits zu ersten Klärungen und Festlegungen geführt: Angesichts von drei sehr unterschiedlichen Forschungszweigen stellt sich diese Arbeit in die Tradition des institutionellen Erkenntnisinteresses und klammert damit die anderen beiden spezifischen Interessen, das konstitutionelle wie das etatistische, bewusst aus. In Bezug auf den Untersuchungsgegenstand konnte aus dem problematischen, weil von generalisierenden und gegenwartsgenetischen Perspektiven geprägten Idealtypus der landständischen Verfassung ein engerer Strukturtypus gewonnen werden, mit dessen Hilfe der Untersuchungsgegenstand klar definiert werden kann. Andererseits sind erhebliche Probleme zum Vorschein gekommen, die sich nicht allein im Rahmen der Stände- bzw. Verfassungsgeschichte bearbeiten ließen: Die überwunden geglaubten Kategorien Repräsentation und Dualismus sind – obwohl als Begriffe verdrängt – offensichtlich immer noch unabdingbar, weshalb sie begrifflich neu gefasst werden müssen. Gleiches gilt für die Frage danach, wie eine landständische Verfassung im Sinne des Strukturtypus überhaupt entstehen konnte, weshalb auch für den Prozess der Verfassungsgenese Beschreibungskategorien und Erklärungsmodelle gefunden werden müssen. Es fehlen also, mit den Worten Jürgen Kockas, „Begriffs- und Kategoriensysteme, die der Erschließung und Erklärung von bestimmten historischen Phänomenen und Quellen dienen, aber nicht hinreichend aus den Quellen abgeleitet werden können“, weshalb die Einbeziehung von sozialtheoretischen Überlegungen und Ansätzen angezeigt ist. 193 Das heißt aber keineswegs, einfach irgendwelche Theorien aus irgendwelchen Nachbarwissenschaften zu übernehmen, denn unter Sozialtheorie werden gerade die theoretischen Anstrengungen verstanden, die eine konzeptionelle Basis für alle Sozialwissenschaften – einschließlich der Geschichtswissenschaft – bereitstellen wollen. Mit Anthony Giddens lässt sich Sozialtheorie daher verstehen als ein Projekt, das Problemfelder umgreift, die ich für das Anliegen aller Sozialwissenschaften halte. Bei diesen Problemen geht es um das Wesen menschlichen Handelns und der handelnden Person; um die Frage der Konzeptualisierung von Inter193

Kocka, Theorien in der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, S. 9. Zur Frage des Theoriegebrauchs in der Geschichtswissenschaft vgl. nur die beiden jüngsten Sammelbände, jeweils mit weiterführender Literatur: Hacke, Pohlig (Hg.), Theorie in der Geschichtswissenschaft, und Baberowski (Hg.), Arbeit an der Geschichte.

2.2 Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte

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aktion und ihrer Beziehung zu Institutionen; und schließlich um die praktische Bedeutung sozialwissenschaftlicher Analysen. 194

Im Unterschied also zur Theoriebildung in den einzelnen Sozialwissenschaften, die darauf zielt, material gehaltvolle Theorien zu erarbeiten, mit denen Einzelphänomene erklärt werden können, widmet sich die Sozialtheorie der Aufgabe, die formalen Kategorien, die jeder Forscher immer schon implizit an seine Phänomene heran trägt, reflexiv einzuholen und systematisch auszuarbeiten – sie erklärt nicht, sondern expliziert die Bedingungen, unter denen Erklärungen möglich sind. Dass theoretische Beschreibungskategorien und Erklärungsmodelle diese Funktion haben, ist auch unter Historikern im Wesentlichen unumstritten: Im oben angeführten Zitat sprach Jürgen Kocka schließlich davon, dass Theorien der „Erschließung und Erklärung von bestimmten historischen Phänomenen und Quellen dienen“. 195 Darin kommt Kocka sogar mit einem der schärfsten Kritiker der Bielefelder Schule, Hermann Lübbe, überein, für den die theoretischen Sozialwissenschaften, „in der relativen Funktion von Hilfswissenschaften, ein Angebot von Konzepten und Theorien repräsentieren, die die Geschichtswissenschaften nutzen müssen, um Potential und Standard ihrer Unterscheidungen und Erklärungen zu verbessern“. 196 Damit ist noch einmal klargestellt, dass die Theorien selber gar nichts erklären, sondern dass sie den Historikern dazu „dienen“, ihre eigenen, also geschichtswissenschaftlichen Erklärungen zu „verbessern“. Diese genuin historischen Erklärungen sind nun im Kern, trotz der Einbeziehung theoretischer Elemente, narrativ verfasst, denn sie behandeln „singuläre Ereignis- oder Zustandsabfolgen, die, ihrer Singularität wegen, als Regelabfolgen zu behaupten sinnwidrig wäre“197 – und die daher ‚erzählt‘ werden müssen. 194

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Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, S. 30; vgl. auch: „Historische Forschung ist sozialwissenschaftliche Forschung und umgekehrt“ (ebd., S. 416.). Ebenso ist die Position Pierre Bourdieus, der davon spricht, dass „Geschichte und Soziologie ein und denselben Gegenstand haben und auch über dieselben theoretischen und technischen Instrumente verfügen könnten, um ihn zu konstruieren und zu analysieren“ (Bourdieu im Gespräch mit Raphael, Über die Beziehungen zwischen Soziologie und Geschichte in Deutschland und Frankreich, S. 68). Zur Sozialtheorie als gemeinsamer Grundlage aller Sozial- und Kulturwissenschaften vgl. Joas, Knöbl, Sozialtheorie; speziell für die Geschichtswissenschaft Acham, Geschichte und Sozialtheorie. Kocka, Theorien in der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, S. 9. Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, S. 251. Ebd., S. 12f. Das heißt nun keineswegs, dass die historischen Erklärungen nicht wiederum Rückwirkungen auf die Theoriebildung haben könnten; tatsächlich stehen historische und theoretische Sozialwissenschaften ebenfalls in einem Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung; vgl. ebd., S. 251f.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

Schließlich verdankt sich die Art und Weise, wie in den historischen Erklärungen die allgemeinen Theorieannahmen mit dem besonderen historischen Material verknüpft werden, der praktischen Urteilskraft des Historikers, für die – wie schon Kant für die Urteilskraft überhaupt klarstellte –, „nicht immer wiederum Regeln gegeben werden können“. 198 Kurz: Die kultur- bzw. sozialtheoretische Präzisierung dient nur der Gewinnung von Fragestellungen und möglichen Erklärungsansätzen – die eigentliche Erklärung, die hoffentlich zu einem besseren Verstehen der fürstlich-ständischen Ordnungsgefüge führt, muss nach wie vor am empirischen Material erarbeitet werden. 199 Giddens bezog sich daher zu Recht auf Forscher, die feststellten, dass auch die Historiker sich ihrer „unvermeidlichen Verstrickung in die Sozialtheorie zunehmend bewusst geworden“ 200 seien. Die Frage ist also nicht, ob sozialtheoretische Annahmen und Ansätze für das methodische Vorgehen der Historiker furchtbar gemacht werden können, sondern zu fragen ist vielmehr, wie und auf welche Weise das geschehen kann. 201 Auf diese Frage kann keine allgemeingültige Antwort gefunden werden, zu sehr variieren Forschungsgegenstände und -interessen. Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit soll versucht werden, den Prozess der Begriffsschärfung durch theoretische Anleihen mit der Formel ‚Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte‘ auf den Punkt zu bringen: ‚Verfassungsgeschichte‘ bezeichnet die geschichtswissenschaftliche Teildisziplin, in deren Zuständigkeit die angestrebte Untersuchung politischer Institutionen fällt, und die Qualifizierung ‚als Kulturgeschichte‘ meint zunächst ganz einfach eine kulturgeschichtliche Perspektive auf eben diese Teildisziplin. 202 Kulturgeschichte ist nämlich – anders als etwa die Verfassungsgeschichte – gerade kein Teilgebiet der Geschichtswissen-

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Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, S. 275. Vgl. dazu Pohlig, Geschmack und Urteilskraft. Die Formulierung macht deutlich, dass ich die Gegenüberstellung von kausalem Erklären und hermeneutischem Verstehen für nicht überzeugend halte, sondern die Formel „Erklären, um zu verstehen“ (Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, S. 48) vorziehe; vgl. auch zuletzt Frings, Marx (Hg.), Erzählen, Erklären, Verstehen, darin insbesondere die Beiträge von Andreas Frings und Karl Acham. Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, S. 417. Vgl. immer noch grundlegend Koselleck, Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft. Vgl. auch Schnettger, Von der „Kleinstaaterei“ zum „komplementären ReichsStaat“, S. 153, der sich von einer kulturtheoretisch gewendeten Verfassungsgeschichte „[w]ichtige Impulse“ verspricht.

2.2 Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte

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schaft, sondern eine bestimmte Herangehensweise, die auf alle Teilgebiete der Geschichte angewandt werden kann. 203 Nun besteht keineswegs Konsens darüber, welche Merkmale für diese Perspektive konstitutiv sind und wie sie im Einzelnen zu gestalten ist, sondern mit dem Sammelbegriff ‚Kulturgeschichte‘ wird eine sehr heterogene Gruppe von methodischen Ansätzen bezeichnet. 204 Darüber hinaus handelt es sich nicht nur um einen catch-all-term, sondern auch um einen disziplinpolitischen Begriff, dessen Verwendung oft eine strategische Positionierung im Feld der Geschichtswissenschaft signalisiert. Gleichwohl ist die Begriffswahl hier nicht in erster Linie strategisch motiviert, sondern soll auf eine noch näher zu bestimmende theoretische Grundausrichtung verweisen, von der aus die begriffliche Neufassung der landständischen Verfassung unternommen wird: Kulturgeschichtlich ist diese Perspektive, weil sie kulturtheoretische Annahmen einführt, wobei Kulturtheorie wiederum eine besondere Art der Sozialtheorie darstellt, die – in Abgrenzung von utilitaristischen und normativistischen Ansätzen – menschliches Handeln konzipiert „als ermöglicht und eingeschränkt durch kollektive kognitiv-symbolische Strukturen“. 205 Wie eine solche Perspektive dann genannt wird, ob der hier verfolgte Ansatz eher Verfassungsgeschichte ‚als Kulturgeschichte‘ betreibt, oder nicht doch einer „kulturwissenschaftlich erweiterten Sozialgeschichte“ 206 zuzurechnen ist, scheint mir letztlich unerheblich zu sein. Die prägnantere Formulierung ‚als Kulturgeschichte‘ verweist also schlicht darauf, dass es im Folgenden darum geht, einige für das Untersuchungsthema ‚landständische Verfassung‘ relevante kultur- bzw. sozialtheoretische Annahmen in die Verfassungsgeschichte zu übernehmen. 207 Damit ist klar, 203

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Vgl. neben anderen Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, S. 8f.; Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme, S. 229; Landwehr, Stockhorst, Einführung in die europäische Kulturgeschichte, S. 14; Landwehr, Kulturgeschichte, S. 12. Vgl. Dinges, Neue Kulturgeschichte, S. 192. Vgl. Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien, S. 62: „Unser Ausgangspunkt ist hier, daß die Aufgabe von Sozialtheorien darin besteht, begriffliche Muster zur Erklärung von Verhalten und Handeln zu liefern. Sozialtheorien unterscheiden sich dann voneinander in der Form ihrer Handlungserklärung, und die Kulturtheorien formulieren eine spezifische Fassung dieser Erklärung.“ Sieder, Sozialgeschichte auf dem Weg zu einer historischen Kulturwissenschaft?, S. 465. Im Hinblick auf die vielfältigen kulturhistorischen Ansätze wird häufig die Position vertreten, deren Einheit liege in der Beschäftigung mit Bedeutungsstrukturen (vgl. etwa Deile, Die Sozialgeschichte entlässt ihre Kinder, S. 23). Das ist zwar im Kern richtig, die verwendeten Formulierungen laden jedoch häufig zu Fehldeutungen ein: Kulturhistoriker vertreten zwar die Auffassung, dass die adäquate Analyse eines historischen Phänomens immer auch die zeitgenössischen Bedeutungsstrukturen einbeziehen muss

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

dass sich die im Folgenden vorgenommenen Erweiterungen, die auf dem allgemein akzeptierten weiten Verfassungsbegriff aufbauen, als ein Vorschlag zur Präzisierung des allgemeinen Analyseinstrumentariums der Verfassungsgeschichte zu verstehen sind und nicht etwa als Versuch, die Verfassungsgeschichte zum bloßen „Anhängsel der Kulturgeschichte“ zu machen, die dann als „eigenständiges Forschungsfeld unterzugehen droht“. 208 Was aber sind nun die wesentlichen theoretischen Grundannahmen, die für eine kulturwissenschaftlich inspirierte Verfassungsgeschichte heuristisch fruchtbar werden können? 209 Neben der allgemeinen Debatte um die kulturgeschichtliche Perspektive bietet sich hier vor allem die seit einiger Zeit geführte Diskussion um eine ‚Kulturgeschichte des Politischen‘ bzw. eine ‚Neue Politikgeschichte‘ als Stichwortgeber an. 210 Drei Punkte sind in diesem Zusammenhang wichtig: Erstens der schon in der Einleitung genannte ‚ethnologische Blick‘, der eine Perspektive der Fremdheit etabliert; zweitens das ‚Wechselverhältnis von Praxis und Struktur‘, das darin besteht, dass individuelle Praktiken und über-individuelle Struk-

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(vgl. nur Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, S. 17, und Landwehr, Kulturgeschichte, S. 11). Das heißt aber eben nicht, dass eine kulturhistorische Analyse nur auf Sinn und Bedeutung abzielt. Solche Deutungen lassen sich zwar durch Äußerungen führender Kulturhistoriker stützen und werden auch von der Prominenz des Kulturbegriffs von Clifford Geertz nahe gelegt, bergen aber letztlich die Gefahr, dass Kulturgeschichte doch wieder als historisches Teilgebiet verstanden und der Vorstellung Vorschub geleistet wird, es ließe sich sauber unterscheiden zwischen ‚weichen‘ Bedeutungsstrukturen, die von Kulturhistorikern untersucht werden, und ‚harten‘ Fakten, die die Domäne der Politik- und Sozialhistoriker bilden. Ein Beispiel für ein derartiges ‚Komplementaritätsmodell‘ bietet etwa Rödder, Klios neue Kleider. So die Formulierung bei Grothe, Neue Wege der Verfassungsgeschichte in Deutschland, S. 140. Grothe teilt diese Befürchtungen im übrigen selbst nicht, sondern referiert sie nur. – Die Arbeit am Begriff ist also nie Selbstzweck, sondern dient immer dazu, das Verständnis der historischen Strukturen und Praktiken zu verbessern. Diese richtige Einsicht liegt auch Otto Brunners oft gescholtener Maxime zugrunde, dass das Begriffsinstrumentarium der historischen Analyse „soweit als möglich den Quellen selbst entnommen sei“ (Brunner, Land und Herrschaft, S. 163). Auch für Brunner ist das kein Selbstzweck, sondern nur insofern gerechtfertigt, als es sicherstellt, „daß die so beschriebenen Verbände in ihrem tatsächlichen Handeln begriffen werden können“ (ebd.) – das ist „das Entscheidende“ (ebd.). Vgl. dazu jetzt grundsätzlich mit weiterer Literatur Stollberg-Rilinger, Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte; vgl. auch Reinhard, Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte. Vgl. die Beiträge in Stollberg-Rilinger (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, und Frevert, Haupt (Hg.), Neue Politikgeschichte; ferner Vernon, What is a Cultural History of Politics?; Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik; Landwehr, Diskurs – Macht – Wissen; Nicklas, Macht – Politik – Diskurs; Rödder, Klios neue Kleider; Schorn-Schütte, Historische Politikforschung.

2.2 Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte

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turen stets miteinander gekoppelt sind und wechselseitig aufeinander einwirken; und drittens die ‚Unhintergehbarkeit von Sinn und Bedeutung‘, die in der Unterscheidung von instrumentellen und symbolischen Aspekten ihre methodische Gestalt gewinnt. Der ethnologische Blick meint dabei zunächst nur eine bestimmte Grundeinstellung gegenüber der Vergangenheit: So wie dem Ethnologen die von ihm untersuchte Gesellschaft zunächst fremd und unverständlich erscheint, so soll auch der Historiker davon ausgehen, dass seine Forschungsobjekte ihm ‚fremd‘ sind. 211 Ist die Fremdheit im Falle der ethnographischen Arbeit jedoch eine unabweisbare persönliche Erfahrung, so muss der Historiker sich die Perspektive der Fremdheit immer wieder neu erarbeiten, denn gerade bei Themen, die für die Gegenwart relevant sind – und dazu gehört in jedem Fall der Komplex von Politik und Verfassung – liegt das Gegenteil nahe, eine Perspektive der Vertrautheit. Der ethnologische Blick ist also vor allem eine Warnung und soll verhindern, dass die eigenen Werte und Kategorien vorschnell unter dem Deckmantel des ‚Einfühlens‘ oder angeblicher anthropologischer Konstanten in die Vergangenheit rückprojiziert werden. 212 Es gilt also, um mit Peter Burke zu sprechen, „sich die Vergangenheit zu entfremden und wieder anzueignen“. 213 Neben dieser stets zu berücksichtigenden Warnung fungiert der ethnologische Blick hier insbesondere als Schnittstelle, die eine Verbindung zwischen kulturgeschichtlicher Perspektive und der Verfassungsgeschichte der landständischen Verfassung herstellt. Dies gelingt, weil das institutionelle Erkenntnisinteresse, das in der Ständeforschung schon lange vor dem cultural turn entwickelt wurde, ebenfalls von einer Perspektive der Fremdheit ausgeht und damit unmittelbar anschlussfähig ist an die Impulse der Kulturgeschichte. Der ethnologische Blick ist demnach nicht nur eine kulturwissenschaftliche Grundforderung, sondern für die Ständeforschung institutioneller Prägung auch schon seit langem

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Zur Geschichte der Ethnologie vgl. Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, S. 233– 253. Der explizite Bezug auf den ‚ethnologischen Blick‘ schon früh bei Medick, Missionare im Ruderboot, S. 302, und aktuell etwa bei Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, S. 588, und Stollberg-Rilinger, Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte, S. 8. Vgl. Sokoll, Kulturanthropologie und Historische Sozialwissenschaft, S. 263, der davon spricht, dass die „traditionelle Vorstellung des historischen Verstehens, die eine (hoch)kulturelle Identität des Forschers mit seinem Objekt unterstellt und unter dem Motto der ‚Einfühlung‘ zu ebenso naiven wie elitären Rückprojektionen führt“. Vgl. auch Nicklas, Macht – Politik – Diskurs, S. 19, der die Politik zu einer anthropologischen Konstante hypostasiert. Burke, Historiker, Anthropologen und Symbole, S. 23.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

Teil der wissenschaftlichen Praxis. 214 Stellt die Fremdheitsannahme somit die allgemeine Schnittstelle dar, über die kulturgeschichtliche Perspektive und Geschichte der landständischen Verfassung aufeinander zu beziehen sind, so lassen sich die beiden anderen Impulse sehr viel konkreter auf die eingangs aufgeworfenen methodischen Probleme beziehen. Es ist jedoch noch eine weitere Schnittstelle nötig. Folgt man Hans Boldt, so lässt sich ‚Verfassung‘ definieren als ein Komplex mehr oder weniger zahlreicher und mehr oder weniger stark aus einem gesellschaftlichen Kontext ausdifferenzierter Institutionen (Handlungseinheiten oder Gremien), die die Funktion einer Integrierung und Steuerung größerer Gesellschaften haben und die in bestimmten Beziehungen (institutionalisierten Vorgehensweisen) zueinander und zu ihrer Umwelt stehen. 215

Festzustellen, dass es sich bei Verfassungen um Komplexe von politischen Institutionen handelt, klingt zunächst banal; gleichwohl muss diese Zuordnung hier explizit gemacht werden, denn ‚politische Institution‘ wird hier als Mittelbegriff eingeführt, der es erst ermöglicht, die allgemeinen kulturtheoretischen und -historischen Ansätze und die sehr konkrete landständische Verfassungsordnung aufeinander zu beziehen. Insofern wird im Folgenden die landständische Verfassung als ‚politische Institution‘ thematisiert, die zu demjenigen Komplex politischer Institutionen gehört, die die Verfassungsordnung eines Territoriums ausmachen. Es existiert zwar eine schier unübersehbare Vielzahl von Vorschlägen, wie der Institutionenbegriff inhaltlich zu füllen und methodisch handhabbar zu machen sei; 216 gleichwohl stimmen die meisten Ansätze im Grundsatz darin überein, dass Institutionen als objektiv dauerhafte und subjektiv als normativ erlebte Sozialgebilde betrachtet werden können – was exakt dem weiten Verfassungsbegriff entspricht. 217

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Vgl. oben 2.1.1., Neu, Sikora, Weller, Einleitung, und Gehrke, Landtag und Öffentlichkeit, S. 23–26. Boldt, Einführung in die Verfassungsgeschichte, S. 18f. Auch die juristische Verfassungsgeschichte arbeitet inzwischen mit einem erweiterten Verfassungsbegriff, so etwa Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, S. 2: „Ich verstehe unter Verfassung diejenigen rechtlichen Regeln und Strukturen, die das Gemeinwesen und damit die politische Ordnung prägen.“ Vgl. Göhler, Wie verändern sich Institutionen?, S. 21–24, der auf die unterschiedlichen Herangehensweisen des organisationswissenschaftlichen Neo-Institutionalismus und der polito- bzw. soziologischen Institutionentheorie hinweist. Auch der Begriff der Institution wird später noch genauer spezifiziert werden müssen; vgl. anstatt vieler anderer nur für die Wissenssoziologie Berger, Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 49–97; für die Philosophie: Gehlen, Urmensch und Spätkultur, S. 35–49; für die Soziologie: Eder, Institution; für die

2.2 Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte

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2.2.1 Regeln und Regelinterpretationen: Institutionen(-theorie) Wenn die landständische Verfassung also in Bezug auf die offenen Frage nach der Verfassungsgenese als politische Institution begriffen werden soll, so stellen sich zwei Fragen: Was sind Institutionen? Und: Was macht bestimmte Institutionen ‚politisch‘? Die zunächst zu beantwortende Frage nach den Institutionen kann die zweite Grundannahme der Kulturgeschichte (des Politischen) beantworten helfen, die ein ‚Wechselverhältnis von Praxis und Struktur‘ postuliert. 218 Die Formulierung soll ein scheinbares Paradox auflösen: Auf der einen Seite lässt sich zeigen, dass die über-individuellen Strukturen faktisch sehr weitgehend das Handeln der individuellen Akteure prägen; und dem entspricht auch, dass der einzelne Akteur die sozialen Strukturen in der Regel als ihm äußerlich und zwingend, eben als ‚objektiv‘ erfährt. Auf der anderen Seite haben vor allem Wissenssoziologie und Praxeologie herausgearbeitet, dass die eben geschilderte Objektivität und Dauerhaftigkeit nur zustande kommt, indem die Strukturen ständig durch die individuellen Praktiken reproduziert werden. 219 Weil aber die damit gegebenen Wiederholungsstrukturen schon prinzipiell zu kleinsten – aber sich akkumulierenden – Abweichungen führen, 220 und weil sich die Akteure darüber hinaus die Strukturen in gewissen Grenzen für ihre eigenen Zwecke aneignen können, 221 kurz: weil Handeln nicht nur reproduktiv, sondern auch transformativ wirkt, prägen auch die Praktiken die Strukturen – beide stehen in einem nicht aufzulösenden Wechselverhältnis. 222

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Politikwissenschaft: Göhler, Politische Institutionen und ihr Kontext; für die Ökonomie: North, Institutions. Es gibt die unterschiedlichsten begrifflichen Fassungen dieses Problems: Handlung vs. Struktur, Subjektivismus vs. Objektivismus, Mikro- vs. Makrosoziologie (oder -geschichte) usw. Unabhängig von der Formulierung kommen aber die meisten Sozialtheoretiker zumindest darin überein, dass jede Form des Reduktionismus, der einen der beiden Begriffe auf den anderen zurückführt, unangemessen für die Beschreibung der sozialen Wirklichkeit ist. Wie aber die Beziehung der beiden Begriffe im Einzelnen zu konzipieren ist, darüber herrscht kein Konsens. Vgl. nur Bourdieu, Sozialer Sinn, S. 246–258, der das Problem durch die Einführung des Habitusbegriffs lösen will, und Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, S. 25–50, der zum gleichen Zweck das Konzept der „Dualität der Struktur“ entwickelt. Vgl. grundlegend Berger, Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 49–98. Vgl. allgemein Ortmann, Regel und Ausnahme, S. 47–53, und für die Geschichtswissenschaft Füssel, Neu, Doing Discourse. Zur Aneignung vgl. Füssel, Die Kunst der Schwachen. Vgl. statt vieler anderer Reckwitz, Struktur, und für die Geschichtswissenschaft die Beiträge in Suter, Hettling (Hg.), Struktur und Ereignis; für die Kulturgeschichte des

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

Diese Einsicht hat methodische Konsequenzen für alle historischen Teildisziplinen, die sich vornehmlich mit Strukturen beschäftigen, denn nunmehr erscheinen etwa Normensysteme und Klassenlagen nicht mehr nur als zwingende Mächte, sondern auch als riskierte, immer wieder neu zu stabilisierende Produkte gesellschaftlicher Praxis. 223 Insbesondere gilt das für eine Verfassungsgeschichte, die sich als „politische Strukturgeschichte“ 224 versteht: Verfassungsordnungen sind zwar unbestreitbar objektive Strukturen, aber gerade als Strukturen sind sie – aufgrund des Wechselverhältnisses – gleichzeitig auch Serien wiederholter Handlungen. 225 Und eine kulturgeschichtliche Perspektive konzentriert sich deshalb auf die Praktiken, weil erst auf dieser Ebene die institutionelle Dynamik sichtbar wird: Was auf den ersten Blick eine statische Struktur zu sein scheint, entpuppt sich als ein Zusammenhang, der stets aufs Neue durch eine historisch situierte Verkettung von konkreten Praktiken hergestellt und aufrechterhalten bzw. angefochten und verändert oder sogar aufgehoben wird – jede soziale Struktur und damit auch jede Verfassungsordnung ist konstituiert als ein Gefüge von Praktiken. 226 Aber wird durch diese Konzentration auf die Praktiken nicht gerade eine Grundeinsicht wieder aufgegeben, die dem weiten Verfassungsbegriff zugrunde liegt und die besagt, dass ‚verfasste‘ Herrschaftsformen gerade dann vorliegen, wenn es ein Wechselverhältnis zwischen verstetigter Praxis und normativen Ansprüchen gibt? Der Vorschlag, Verfassungen als Gefüge von Praktiken zu beschreiben, kann also nur dann überzeugen, wenn auch das Merkmal der Normativität in diese Beschreibung integriert werden kann. Dass Institutionen von den Akteuren als normativ erlebt werden, heißt ja zunächst nichts anders, als dass im Kontext der Institution bestimmte

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Politischen vgl. Landwehr, Diskurs – Macht – Wissen, S. 77; Stollberg-Rilinger, Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Einleitung, S. 11. Vgl. Stollberg-Rilinger, Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte, S. 6: „Was sie ehemals als objektive Gegebenheiten, starre Normensysteme und festgefügte Institutionen beschrieben haben, das verflüssigt sich nun gleichsam zu lauter kommunikativen Akten.“ Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, I, S. 13; der Strukturbegriff findet auch Verwendung bei Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, S. 2. So auch der Ansatzpunkt von Arnold Gehlen: In Urmensch und Spätkultur – „bis heute eine der anregendsten Quellen für eine soziologische Institutionenanalyse“ (Rehberg, Vorwort zur 6. Auflage, S. IX) – versteht er Institutionen als Geflechte von sozialen Verhaltenserwartungen, die aus „Systemen stereotypisierter und stabilisierter Gewohnheiten“ (Gehlen, Urmensch und Spätkultur, S. 20) bestehen; vgl. dazu Rehberg, Eine Grundlagentheorie der Institutionen: Arnold Gehlen. Vgl. Landwehr, Die Erschaffung Venedigs, S. 19.

2.2 Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte

73

Regeln für das Verhalten der Akteure gelten – der Zusammenhang ist so eng, dass Institutionen bisweilen sogar ausdrücklich als Regeln definiert werden. 227 Diese Identifikation muss man nicht teilen, aber unbestritten ist, dass der Regelbegriff sich zur Konkretisierung der Funktionsweise von Institutionen anbietet, denn in ihm verbinden sich Verpflichtungscharakter und materialer Gehalt des institutionellen Gefüges, oder kurz: „Institutionen sind zu sozialen Regeln geronnene kulturelle Vorstellungen.“ 228 Und damit entspricht dieses Verständnis im Grunde sowohl dem Ansatz der Verfassungsgeschichte, die vor allem auf die „sozialen Regeln“ abhebt, als auch dem der neueren Kulturgeschichte, die sich der „kulturellen Vorstellungen“ annimmt. Das Problem lässt sich also folgendermaßen reformulieren: In welchem Verhältnis stehen die Regeln – als Ausdruck der für Institutionen spezifischen Normativität – zu den verstetigten Praktiken? Hier helfen nun die institutionentheoretischen Überlegungen weiter, die Anthony Giddens im Rahmen seiner umfassenden ‚Theorie der Strukturierung‘ entwickelt hat. 229 Giddens’ Regelbegriff weicht dabei deutlich vom alltäglichen Sprachverständnis ab, wenn er Regeln „als Techniken oder verallgemeinerbare Verfahren der Praxis“ 230 definiert. Die Pointe ist hier, dass die Regeln für Giddens gleichsam in den Praktiken enthalten sind; sie sind ‚verallgemeinerbar‘ im Sinne zunächst impliziter ‚Regelmäßigkeiten‘ der Praxis, die erst der Forscher aus der Praxis heraushebt, in eine allgemeine Form bringt und damit handhabbar macht – prinzipiell aber „stecken sie im Handeln der Akteure“. 231 Für den Alltagsverstand jedoch stecken die Regeln gerade nicht im Handeln, sondern stehen dem Handeln vielmehr gegenüber und konstituieren damit eine von der Praxis abgesonderte normative Sphäre, so wie man von Rechtsregel und Rechtswirklichkeit spricht. Für solche normativen Ansprüche, ‚Regeln‘ im Sinne des Alltagsverständnisses, ist nun charakteristisch, dass sie in sprachlicher Form und 227

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So etwa in der Institutionenökonomik; vgl. etwa North, Institutions, S. 97: Institutionen „consist of both informal constraints […], and formal rules“; vgl. auch Acham, Struktur, Funktion und Genese von Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht, S. 28. Eder, Institution, S. 159. Zu Giddens’ Theorie der Strukturierung und dem damit verbundenen Begriff der Institution vgl. Thompson, The Theory of Structuration; Outhwaite, Agency and Structure; Görg, Der Institutionenbegriff in der ‚Theorie der Strukturierung‘; Ortmann, Sydow, Windeler, Organisation als reflexive Strukturation; Walgenbach, Giddens’ Theorie der Strukturierung. Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, S. 73. Vgl. Ortmann, Sydow, Windeler, Organisation als reflexive Strukturation, S. 329.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

zumeist auch noch schriftlich vorliegen. Für Giddens jedoch handelt es sich dann gerade nicht um Regeln im engeren Sinne: „Formulated rules – those that are given verbal expression as canons of law, bureaucratic rules, rules of games and so on – are thus codified interpretations of rules rather than rules as such.“ 232 Man kann also unterscheiden zwischen den Regeln, die implizit im faktischen, eben ‚regelmäßigen‘ Handeln enthalten sind, und den expliziten und normativen Interpretationen dieser impliziten Regeln, die im Folgenden der Einfachheit halber ‚Regelinterpretationen‘ oder ‚Ansprüche‘ genannt werden. 233 Mit dieser Unterscheidung zwischen Regeln und Regelinterpretationen gelingt zunächst die Integration der normativen Aspekts von Institutionen in eine praxeologische Perspektive, denn Regelinterpretationen lassen sich als eine besondere Form von diskursiver Praxis verstehen: Innerhalb des verstetigten Gefüges von Praktiken, das eine Institution bildet, lässt sich eine besondere Klasse von diskursiven Praktiken ausmachen, die sich reflexiv auf das Gesamtgefüge beziehen und normative Erwartungen zum Ausdruck bringen. Gleichzeitig liefert diese Unterscheidung einen Mechanismus, der die Genese und den Wandel von Institutionen besser beschreibbar macht, denn anders als im Alltagsverständnis stehen sich nicht mehr Norm und Wirklichkeit statisch und unverbunden gegenüber; stattdessen wird sichtbar, dass die implizit-faktischen Regeln der Praxis und die explizit-normativen Interpretationen dieser Regeln wechselseitig aufeinander bezogen sind, also sowohl strukturierend wirken als auch strukturiert werden: Regelinterpretationen sind (auch) Reaktionen auf wahrgenommene Regelmäßigkeiten und zielen darauf, als Ansprüche die Praxis anzuleiten; implizite Regelmäßigkeiten ergeben sich (auch) als Folge von durchgesetzten Regelinterpretationen und liefern als verstetigte Praxis das Material für neue Ansprüche. 234 232

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Giddens, The Constitution of Society, S. 21. Hier musste aus dem englischen Original zitiert werden, da die deutsche Ausgabe „interpretations of rules“ missverständlich als „Interpretationsregeln“ (Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, S. 73) übersetzt. Vgl. aber ebd., S. 74: „Die meisten Regeln, die in die Produktion und Reproduktion sozialer Praktiken einbegriffen sind, werden von den Akteuren nur stillschweigend verstanden: sie wissen, sich zurechtzufinden. Die diskursive Formulierung einer Regel ist bereits eine Interpretation eben dieser Regel“; vgl. auch Ortmann, Sydow, Windeler, Organisation als reflexive Strukturation, S. 329. Und eben nicht „Interpretationsregeln“, wie in Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, S. 73, fehlerhaft übersetzt wird; vgl. auch Reckwitz, Struktur, S. 121, der dasselbe Phänomen mittels der Unterscheidung von „präskriptiven“ und „kognitiv-evaluativen“ Regeln bezeichnet. Es kann an dieser Stelle nicht genauer ausgeführt werden, worin sich Regeln und Regelinterpretationen, neben der Tatsache, dass erstere implizit und letztere explizit sind, noch

2.2 Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte

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Das jeweils in Klammern gesetzte ‚auch‘ soll andeuten, dass hier keine vollständige wechselseitige Strukturierung vorliegt, sondern auch externe Faktoren eine Rolle spielen können. Gleichwohl spielt dieses Wechselverhältnis von Regel und Regelinterpretation, das die institutionentheoretische Konkretisierung des allgemeinen Wechselverhältnisses von verstetigter Praxis und normativem Anspruch darstellt, eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, die Genese der landständischen Verfassung zu beschreiben. Allerdings reicht es nicht aus, Institutionen in diesem Sinn als Regelsysteme zu verstehen, denn würde „man behaupten“, so Andreas Reckwitz, „soziale Praktiken seien allein aus Regeln erklärbar, wäre ein kulturalistisch-normativistischer Bias die Folge“. 235 Wenn aber die Regeln und vor allem ihre normative Kraft überschätzt werden, was wird dann unterschätzt und wie könnte das Unterschätzte in den Begriff der Institution mit aufgenommen werden? Denkt man beispielsweise an die landständische Verfassung, so deutet die schon in der Frühen Neuzeit sprichwörtlich gewordene Redewendung „Landtage sind Geldtage“ 236 an, was bei der Präzisierung des Institutionenbegriffs bisher überhaupt nicht zur Sprache kam. Das Sprichwort bringt zwar durchaus eine praktische Regel zum Ausdruck, aber das Geld selbst ist weder eine soziale Regel noch eine kulturelle Vorstellung, sondern – eine Ressource. Und da man Hans-Ulrich Wehler darin zustimmen kann, dass zu den „zentrale[n] Phänomene[n] des gesellschaftlichen Lebens“ auch der „eingeschränkte Zugang zu Lebenschancen und Ressourcen“ 237 gehört, müssen die in

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unterscheiden; es muss der Hinweis genügen, dass sie unterschiedlichen Logiken folgen, einer „praktischen Logik“ im Falle der Regeln und einer „logischen Logik“ im Falle der Regelinterpretationen, um eine Unterscheidung von Pierre Bourdieu zu übernehmen (vgl. Bourdieu, Sozialer Sinn, S. 187–189): Erstere ist u. a. gekennzeichnet durch „Einheitlichkeit des Stils“, letztere durch „Strenge“ und „Schlüssigkeit“. Ebenfalls einschlägig ist hier Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 268–381, der die Unterschiede unter dem Titel „Formalisierung und faktisches Verhalten“ thematisiert. – Vgl. für einen ähnlichen Ansatz auch Forst, Günther, Die Herausbildung normativer Ordnungen, S. 3, die von einer grundlegenden „Spannung zwischen Rechtfertigungsansprüchen und geronnener Ordnung“ ausgehen. Reckwitz, Struktur, S. 99. Vgl. dazu auch das Kapitel „Eine stille Produktion. Über Ressourcen und ihre Veränderungen im Gebrauch“ in Ortmann, Organisation und Welterschließung, S. 185–210. Wander (Hg.), Deutsches Sprichwörter-Lexikon, II, S. 1782. Dass das Sprichwort zeitgenössisch ist, belegt seine Verwendung in Stryk, Oetken, De Militia lecta provinciali, Von der Land-Milice, Kap. 1, § 11. Das Sprichwort wird auch in den aktuellen Überblicksdarstellungen zur landständischen Verfassung zitiert, vgl. Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter, S. 44, und Krüger, Die landständische Verfassung, S. 8. Wehler, Defizite der „neuen Kulturgeschichte“, S. 77. Wehler hält der Kulturgeschichte vor, dass sie genau diese Phänomene „verdrängt“ (ebd.). Insofern versucht der hier ver-

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

Institutionen einlagerten bzw. durch sie erreichbaren Ressourcen aufgewertet und in die Fragestellung einbezogen werden. Daher kann ich mich dem maßgeblich von Karl-Siegbert Rehberg unter dem Titel Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen entwickelten Ansatz, innerhalb dessen „Institutionen als symbolische Ordnungen“ 238 verstanden werden, deren Spezifikum vor allem in der „Darstellung von Ordnungsprinzipien (z. B. ‚Leitideen‘)“ 239 liegen soll, nicht anschließen, obwohl dieses Konzept gerade in der Geschichtswissenschaft sehr prominent ist. 240 Stattdessen wird auch hier die Konzeption von Anthony Giddens zu Grunde gelegt, der den Begriff der Institution nicht auf den Bereich der symbolischen Produktion von Ordnungsvorstellungen und Normbehauptungen beschränkt, sondern für den institutionelle Analyse ganz allgemein „Institutionen als fortwährend reproduzierte Regeln und Ressourcen thematisiert“. 241 Was Giddens nun unter Ressourcen versteht, weicht deutlich weniger vom allgemeinen Sprachgebrauch ab als sein schon erläuterter, sehr differenzierter Regelbegriff: Bei Ressourcen handelt es sich ganz allgemein um alle Mittel, die es Akteuren ermöglichen, etwas zu tun, zu dem sie ansonsten nicht in der Lage wären – Ressourcen sind „Handlungsmittel“ 242 und bilden in ihrer Gesamtheit daher „die Medien der Ausdehnbarkeit von Macht“. 243 Nach Giddens gibt es zudem zwei Typen von Ressourcen; 244 diese Kategorisierung, der sich andere an die Seite stellen

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folgte Ansatz, die Kritik Wehlers produktiv aufzunehmen, was angesichts der polemischen Schärfe Wehlers nicht immer einfach ist. Rehberg, Institutionen als symbolische Ordnungen; vgl. auch Ders., Institutionenwandel und die Funktionsveränderung des Symbolischen, S. 101. Rehberg, Die stabilisierende ‚Fiktionalität‘ von Präsenz und Dauer, S. 387; vgl. auch noch Ders., Weltrepräsentanz und Verkörperung. Der Ansatz von Rehberg wurde insbesondere im Rahmen des Dresdner Sonderforschungsbereiches „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ für historische Analysen genutzt; vgl. dazu allgemein die Beiträge in Blänker, Jussen (Hg.), Institutionen und Ereignis; Melville (Hg.), Institutionen und Geschichte; Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung; Melville, Vorländer (Hg.), Geltungsgeschichten. Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, S. 430, Hervorhebung von mir, T. N. Reckwitz, Struktur, S. 99: Ressourcen sind „Handlungsmittel“, in denen „Macht und somit die Fähigkeit, Gegenstände oder andere Akteure so zu kontrollieren, daß die sozialen Praktiken auch in die Tat umgesetzt werden können, inkorporiert sind“. Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, S. 316; vgl. Schiller-Merkens, Institutioneller Wandel und Organisationen, S. 145; Zum Zusammenhang von Macht und Handeln-Können vgl. Popitz, Phänomene der Macht, S. 22f. Giddens unterscheidet in der Folge „zwei Arten von Ressourcen, aus denen sich Herrschaftsstrukturen aufbauen: allokative und autoritative“ (Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, S. 315). Gemeinsam ist beiden Arten, dass sie in der Form von Verfügungs-

2.2 Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte

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ließen, 245 scheint jedoch wenig weiterführend, da prinzipiell alles (materielle Objektive, kulturelle Objektivationen, menschliche Akteure) ein Machtmittel sein kann, was schon schon Max Weber erkannt und in der bekannten Formulierung: „Der Begriff ‚Macht‘ ist soziologisch amorph“, zum Ausdruck gebracht hat. 246 Eine andere Unterscheidung ist hingegen wichtig: Zum einen kann die Institution selbst als Ressource thematisiert werden; zum andern sind die Ressourcen von Interesse, die durch den Einsatz der institutionellen Machtmittel regelmäßig erreichbar werden, aber außerhalb der Institution liegen. Beispielsweise erscheint die landständische Verfassung selbst als Ressource, insofern sie etwa kollektiv verbindliche Steuerbewilligungen ermöglicht; die Steuergelder selbst hingegen sind Ressourcen, die nur mittelbar – durch den Einsatz des allgemeinen Landtags als Machtmittel – zugänglich werden. Die sehr weite Fassung des Begriffs der Ressource als Machtmittel, die aus dem ‚amorphen‘ Charakter der Macht folgt, im Verein mit der Unterscheidung von unmittelbaren und mittelbaren Ressourcen hat den Vorteil, dass jegliche Form des Reduktionismus, sei es ein materialistischer oder ein kulturalistischer, ausgeschlossen wird und für jede Institution im Einzelnen bestimmt werden kann und muss, in welchen Hinsichten sie selbst als Machtmittel fungiert und welche weiteren Ressourcen dadurch erreichbar werden. Institutionen können also in einem praxeologischen Rahmen nicht nur als Komplexe von Regeln und Regelinterpretationen, sondern auch als nutzbare Ressourcen beschrieben werden. Letztere Perspektive führt dann geradewegs zur Thematisierung von institutioneller Macht. 247 Und

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gewalt oder -rechten auftreten; unterscheiden lassen sie sich danach, worüber inhaltlich verfügt werden kann: Bei ersteren handelt es sich um „materielle Ressourcen einschließlich der natürlichen Umwelt und physischer Artefakte“, bei letzteren um „nichtmaterielle Ressourcen, die sich aus dem Vermögen, die Aktivitäten menschlicher Wesen verfügbar zu machen, herleiten“ (beide Zitate: ebd., S. 429). Dass diese Unterscheidung im Folgenden nicht weiter verfolgt wird, soll nicht heißen, dass man sie nicht anwenden könnte: Das prototypische allokative Machtmittel im Rahmen der landständischen Verfassung ist sicherlich die Verfügungsgewalt über Steuerleistungen; eine typische autoritative Ressource wäre etwa darin zu sehen, dass das Abhalten von Landtagen die fürstliche Landeshoheit symbolisiert und damit aufrecht erhält. Vgl. etwa Kreckel, Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, der vier Ressourcen beschreibt; Bourdieu, Ökonomisches Kapital – kulturelles Kapital – soziales Kapital, der drei Kapitalsorten und mit dem symbolischen Kapital einen besonderen Modus konzipiert. „Alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen können jemand in die Lage versetzen, seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen“ (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 29). Vgl. Brodocz (Hg.), Institutionelle Macht.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

an dieser Stelle kann die zweite der eingangs aufgeworfenen Fragen aufgenommen werden, denn da Macht und Politik offensichtlich – auf eine noch näher zu bestimmende Weise – zusammenhängen, kann über die Präzisierung des Ressourcencharakters herausgestellt werden, was Institutionen politisch macht.

2.2.2 Instrumentelle und symbolische Macht: Aspekte des Politischen „Alle politischen Institutionen sind Manifestationen und Materialisationen von Macht“. 248 Diese Einschätzung Hannah Arendts resultiert zwar aus einem sehr speziellen Machtbegriff, aber es ist wohl unbestreitbar, dass Politik und Macht in einem engen Zusammenhang stehen. 249 Wenn es also das Spezifikum politischer Institutionen ist, dass sie in besonderer Weise Träger von Macht sind, so ist zu fragen, wie sich dieser Zusammenhang genauer beschreiben lässt – es sei denn, man wolle sich stattdessen einer Machtmetaphysik hingeben und damit auf die Behauptung von Natürlichkeit und Notwendigkeit hereinfallen, die immer nur den Herrschenden nützt, getreu dem Motto: „Macht, die schmerzliche Asymmetrie menschlicher Beziehungen, wird nicht konstruiert. Sie ist einfach da.“ 250 Hier lässt sich der dritte der oben genannten Punkte, die eine kulturgeschichtliche Perspektive ausmachen, konzeptionell nutzbar machen, nämlich die ‚Unhintergehbarkeit von Sinn und Bedeutung‘: Dieses „kulturgeschichtliche Credo“ 251 besagt, dass die historische Analyse unter keinen Umständen zu Aussagen über ‚objektive‘ Tatsachen, Zustände und Strukturen gelangen kann, wenn objektiv im naiven Sinn von beob-

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Arendt, Macht und Gewalt, S. 42. Vgl. etwa klassisch Droysen, Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, S. 259: „der Staat […] herrscht, weil er die Macht hat. […] Das ist die Summe aller Politik“; Weber, Politik als Beruf, S. 36: „Wer Politik treibt, erstrebt Macht“; Le Goff, Ist Politik noch immer das Rückgrat der Geschichte?, S. 343: „Der erste und wichtigste Beitrag von Soziologie und Anthropologie zur politischen Geschichte besteht darin, ihr als zentrales Konzept und essentielles Ziel der Untersuchung den Begriff der Macht und die von ihr abgedeckten Realitäten geliefert zu haben“; vgl. aus der aktuellen Diskussion ferner Landwehr, Diskurs – Macht – Wissen, S. 112, und Kraus, Nicklas, Einleitung, S. 1. Für die Politikwissenschaft: Patzelt u. a., Institutionelle Macht, S. 9: „Macht ist und bleibt eine Zentralkategorie der Analyse politischer Institutionen.“ Nicklas, Macht – Politik – Diskurs, S. 6. Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, S. 17.

2.2 Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte

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achterunabhängig verstanden wird. 252 Stattdessen ist historische Erkenntnis (als Spezialfall sozialwissenschaftlicher Erkenntnis) immer in doppelter Hinsicht beobachterrelativ, weil sie eine Beobachtung zweiter (oder höherer) Ordnung darstellt. 253 Weil Historiker also beobachten, wie Akteure in der Vergangenheit sich selbst und ihre Wirklichkeit beobachtet haben, kann es keinen Durchgriff auf eine beobachterunabhängige Wirklichkeit geben 254 – Historiker können von Sinnstiftungsprozessen und gesellschaftlichen Bedeutungssystemen prinzipiell nicht absehen. 255 Diese Einsicht ist aber nicht nur in geschichtstheoretischer Hinsicht von Belang, sondern hat auch unmittelbar methodische Konsequenzen, weil nun in den Blick kommt, dass jeder Forschungsgegenstand gleichermaßen daraufhin zu untersuchen ist, was er bewirkt und was er bedeutet. Dieser Einsicht verdankt sich dann die methodische Unterscheidung zwischen ‚instrumentellen‘ und ‚symbolischen‘ Aspekten. Nun dient diese Unterscheidung in der Politikwissenschaft schon seit einiger Zeit zur Beschreibung politischer Institutionen, 256 und wurde jüngst auch in der Ständeforschung aufgegriffen. 257 252

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Zum Unterschied zwischen beobachterrelativen („observer-relative“) und beobachterunabhängigen („intrinsic“) Eigenschaften vgl. Searle, The Construction of Social Reality, S. 9–13. Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Teilbd. 2, S. 766–770, und zur Anwendung auf die Geschichtstheorie Becker, Reinhardt-Becker, Systemtheorie. Die Unhintergehbarkeit von Sinn und Bedeutung zu behaupten, heißt nicht zu behaupten, dass es nur Sinn und Bedeutung gäbe. Niemand bestreitet, dass es entia physica gibt. Behauptet wird allerdings, dass sie der Analyse nur zugänglich sind, insofern ihnen auch entia moralia ‚zugelegt‘ sind, sie also mit Bedeutung versehen oder angereichert werden. So schon Pufendorf, Acht Bücher, Vom Natur- und Völcker-Rechte, S. 1–57; vgl. auch Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 3. Aus der Unhintergehbarkeit folgt auch nicht, dass eine so verstandene Geschichtswissenschaft nur die Selbstbeschreibungen der Zeitgenossen unkritisch wiederholt. Vielmehr gilt für den Historiker als Beobachter, „daß er weniger und anderes sehen kann als der beobachtete Beobachter. Für ihn gewinnt daher auch der Begriff der Latenz einen anderen Sinn, bezogen nämlich auf den blinden Fleck des beobachteten Beobachters, auf das, was er nicht sehen kann“ (Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Teilbd. 2, S. 1119). Vgl. auch Vierhaus, Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten, S. 16; Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, S. 17; Landwehr, Diskurs – Macht – Wissen, S. 73; Vietta, Europäische Kulturgeschichte, S. 30; Stollberg-Rilinger, Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte, S. 8. Vgl. dazu vor allem Göhler, Politische Institutionen und ihr Kontext, und Ders. (Hg.), Institution – Macht – Repräsentation; vgl. auch Brodocz, Die symbolische Dimension der Verfassung, der in der Unterscheidung zwischen symbolischen und instrumentellen Aspekten sogar die gemeinsame „Leitdifferenz“ (ebd., S. 17) der meisten institutionentheoretischen Ansätze sieht. Zur Verwendung dieser Unterscheidung innerhalb der Stände- bzw. Parlamentarismusgeschichtegeschichte vgl. etwa Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

Daher liegt es nahe, auf der Suche nach einem besseren Verständnis von politischen Institutionen als Machtträgern diese Unterscheidung anzuwenden und davon auszugehen, dass politische Institutionen bestimmte Formen instrumenteller und symbolischer Macht erzeugen und ausüben. 258 Dass es sinnvoll ist, diese beiden Machtformen zu unterscheiden, wird in der Diskussion um Reichweite und Grenzen der Kulturgeschichte des Politischen inzwischen auch von den Vertretern einer sich selbst als ‚traditionell‘ verstehenden Politikgeschichte in der Sache nicht mehr bestritten. 259 Instrumentelle Macht bedeutet in diesem Zusammenhang das Vermögen, Entscheidungen zu fällen, die nicht nur für die betreffende Institution, sondern darüber hinaus für das gesamte Gemeinwesen bindend sind – die institutionellen Praktiken dienen hier als Mittel zur Erreichung bestimmter Zwecke, nämlich kollektiv verbindlicher Entscheidungen. 260 Dass ‚Entscheidungen‘ bezweckt werden, heißt jedoch nicht, dass ihnen auch ‚Taten‘ im weitesten Sinne folgen müssten, denn unter die Kategorie gehören neben den Fällen, in denen institutionell entschieden wird, dass keine definitive Entscheidung gefällt wird (oder werden muss), auch die Fälle, in denen entschieden wird, dass nicht gehandelt wird. Diese Qualifikation ist insbesondere für frühneuzeitliche Institutionen relevant, für die Aufschiebung und Nicht-Handeln in der Regel legitime Entscheidungsoptionen und damit Zwecke für den Einsatz von Macht waren – und gerade kein Zeichen von Ohnmacht. 261 Angesichts dieser Abwei-

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Republik, S. 21; Stollberg-Rilinger, Herstellung und Darstellung politischer Einheit; Gehrke, Zwischen altständischer Ordnung und monarchischem Konstitutionalismus, S. 8f.; Neu, Inszenieren und Beschließen; Ders., Sikora, Weller, Einleitung; Körber, Landtage im Herzogtum Preußen als symbolische Darstellung von Öffentlichkeitsvorstellungen und Machtbeziehungen von 1525 bis 1635. Vgl. dazu vor allem Göhler, Der Zusammenhang von Institution, Macht und Repräsentation, und daran anknüpfend Patzelt u. a., Institutionelle Macht. Vgl. etwa Rödder, Klios neue Kleider, S. 685f., den man so lesen kann, auch wenn er die Ebene der Sinn- und Bedeutungskonstitution letztlich als eine der ‚eigentlichen‘ Politik vorgelagerte Ebene ansieht. In der Sache aber anerkennt er die Wichtigkeit symbolischer Macht. Damit handelt es sich um eine Machtform, die der Weber’schen Definition von Macht entspricht: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28). Vgl. auch Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 84: „das Bereithalten der Kapazität zu kollektiv bindendem Entscheiden.“ Viele Forscher sehen im kollektiv verbindlichen Entscheidungshandeln sogar den Kern des Politischen; vgl. nur Stollberg-Rilinger, Einleitung; Schlögl, Politik beobachten, S. 589; Garrad, Social History, Political History and Political Science, S. 107. Vgl. etwa Würgler, ‚Reden‘ und ‚mehren‘, für den die Tagsatzung daran zu messen ist „ob und in welchem Maß sie in der Lage war, die Kommunikation zwischen den

2.2 Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte

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chung vom Alltagsverständnis ist es vielleicht sinnvoll, den Begriff der Entscheidung nicht so sehr ins Zentrum zu rücken, und daher zu formulieren, dass durch den Einsatz instrumenteller Macht das ‚Lenken und Leiten‘ des Gemeinwesens ermöglicht wird. 262 Symbolische Macht hingegen ist „Benennungsmacht“ 263; mit ihrer Hilfe lassen sich Bedeutung und Sinn erzeugen. Wer symbolische Macht ausübt, macht sich die performative Kraft bestimmter Formen zeichenhaften und/oder sprachlichen Handelns zunutze, 264 um Kategorien und Relationen (wie etwa ‚Prüfer‘, ‚Doktorand‘ und ‚Dissertation‘) zu erschaffen und diese zu komplexen sozialen Situationen (wie etwa ‚Disputation‘) zu verknüpfen. 265 Allerdings wird symbolische Macht in den verschiedensten Intensitätsgraden stets und überall ausgeübt; im engeren Sinne ‚politisch‘ wird dieses performative Handeln jedoch erst, wenn es – analog zu den instrumentellen Entscheidungen – den Charakter kollektiver Verbindlichkeit aufweist. Politische Institutionen zeichnen sich also dadurch aus, dass sie (als Teile des Gemeinwesens) diejenigen Kategorien, Relationen und Erklärungsmodelle hervorbringen, mit denen das Gemeinwesen als Ganzes effektiv wahrgenommen und damit realisiert wird. Und in dieser Deutungshoheit, also der Möglichkeit, allein durch Benennung umfassend definieren zu können, was die Gestalt und die Identität des Gemeinwesens ausmacht, liegt die symbolische Macht politischer Institutionen begründet. 266 Während instrumentelle Macht innerhalb einer Ordnung ausgeübt wird, ermöglicht symbolische Macht gerade das ‚Stiften und Stützen‘ eben dieser Ordnung des Gemeinwesens.

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Bundesgenossen aufrechtzuerhalten“. Und das „beinhaltete die Notwendigkeit, einige Probleme gerade nicht zu entscheiden“ (Neu, Sikora, Weller, Einleitung, S. 15f.); vgl. auch Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund 1530–1541/42, S. 256–271. Vgl. Göhler, Der Zusammenhang von Institution, Macht und Repräsentation, S. 52–54, der hier von „Steuerung“ spricht; vgl. auch Patzelt u. a., Institutionelle Macht, S. 15f. Bourdieu, Sozialer Raum und „Klassen“, S. 23; vgl. dazu Göhler, Speth, Symbolische Macht, und Audehm, Die Macht der Sprache. Zur Performanz vgl. Wulf, Göhlich, Zirfas (Hg.), Grundlagen des Performativen; Soeffner, Tänzler (Hg.), Figurative Politik, und zur Rezeption in der Geschichtswissenschaft Martschukat, Patzold (Hg.), Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Vgl. grundlegend Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Das in den Beispielen für Kategorien im engeren Sinne soziale (‚Betreuer‘ und ‚Doktorand‘) und gegenständliche Kategorien (‚Dissertation‘) zusammengezogen werden, soll noch mal betonen, dass symbolische Macht umfassend die ‚soziale Konstruktion der Wirklichkeit‘ (inklusive der Gegenstände) und nicht nur die ‚Konstruktion der sozialen Wirklichkeit‘ meint. Vgl. allgemein Münkler, Bluhm (Hg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn. Vgl. Göhler, Der Zusammenhang von Institution, Macht und Repräsentation, S. 54f., der hier von „Integration“ spricht; vgl. auch Patzelt u. a., Institutionelle Macht, S. 16–19.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

Politische Institutionen, so lässt sich für beide Machtformen zusammenfassend formulieren, müssen effektiv in der Lage sein, „im Namen des Ganzen zu sprechen“. 267 Damit aber liegt beiden Aspekten politischer Machtausübung ein Repräsentationsprozess zugrunde: 268 Konkrete Institutionen (oder Personen) entscheiden und stiften Sinn für das abstrakte Gemeinwesen, repräsentieren es also im Vollzug dieser Handlungen – und bringen es auf diese Weise überhaupt erst effektiv hervor. 269 Wenn aber der politische Charakter von Institutionen darauf gründet, dass sie das Gemeinwesen repräsentieren, es also entweder vertreten oder – im ‚intensiveren‘ Modus der Identitätsrepräsentation – effektiv ‚sind‘, dann handelt es sich immer um eine Fiktion, ein „Verhältnis des Als-ob“. 270 Und daher beruht der politische Charakter von Institutionen auf der Effektivität von Repräsentationsfiktionen und ist somit als Produkt von Geltungsbehauptungen und Geltungszuschreibungen zu verstehen. Kurz: Bestimmte Institutionen sind nicht ‚an sich‘ politisch, sondern sie sind es nur solange, wie sie für sich selbst effektiv die Befugnis zur „Repräsentation der Allgemeinheit“ 271 in Anspruch nehmen können. 272

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Dyrberg, Diskursanalyse als postmoderne politische Theorie, S. 24. Vgl. insbesondere Laclau, Identity and Hegemony, S. 50–56, und allgemein Laclau, Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Es handelt sich entweder um Stellvertretungsrepräsentation oder um Identitätsrepräsentation. Zugegebenermaßen trifft die Chiffre Sprechen-im-Namen-des-Ganzen nicht direkt den Sachverhalt der Identitätsrepräsentation, aber sie ist eingängig und wird daher – wenngleich mit Bedenken – verwandt. Vgl. Hofmann, Der spätmittelalterliche Rechtsbegriff der Repräsentation in Reich und Kirche. – Außerdem darf der frühneuzeitliche Repräsentationsbegriff nicht mit dem hier verwendenden sozialtheoretischen Repräsentationsbegriff vermischt werden; letzterer ist deutlich umfassender. Vgl. dazu Rehfeld, Towards a General Theory of Political Representation. Vgl. Sofsky, Paris, Figurationen sozialer Macht, S. 162: „Zur Struktur der Anerkennung kommt ein zirkulärer Prozeß der Symbolisation. Die Gruppe erschafft den Delegierten, der in ihrem Namen spricht. Aber ebenso erschafft der Delegierte die Gruppe.“ Ebd., S. 161. Vgl. oben 2.1.2.; Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, III, S. 733; Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 171; Morgan, Government by Fiction; Stollberg-Rilinger, Herstellung und Darstellung politischer Einheit, S. 73–76. Nonhoff, Politischer Diskurs und Hegemonie, S. 20, und als Fallstudie Tieben, Politik von unten. Vgl. grundsätzlich Saward, The Representative Claim. Dabei ist vorausgesetzt, dass die Institution schon besteht. Es ist aber auch der Fall denkbar, dass auch die Institution selbst erst konstituiert werden muss. Dann hat man es mit zwei Repräsentationsprozessen zu tun: Zunächst muss „die rein serielle Mannigfaltigkeit der isolierten einzelnen zu einer moralischen Person, die collectio personarum plurium zur corporatio, zur konstituierten Körperschaft“ werden (Bourdieu, Sozialer Raum und „Klassen“, S. 39), was einen Repräsentationsprozess erfordert. Und erst dann können der oder die Repräsentanten die Institution „als sozialen Akteur auftreten lassen“ (ebd.). In einem zweiten

2.3 Untersuchungszeitraum, -territorium und Quellengrundlage

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Damit ist ein weiteres wichtiges Kriterium gewonnen: Wie oben gezeigt wurde, steht der allgemeine Landtag im Zentrum der landständischen Verfassung, weshalb deren Genese als politische Institution mit der Entwicklung des Anspruchs beginnt, im Rahmen des allgemeinen Landtags werde ‚im Namen des Ganzen‘ gesprochen und entschieden. Da nun der allgemeine Landtag eine institutionelle Form darstellt, die dadurch definiert ist, dass sie den Landesherrn und die Ständegesamtheit als eigenständige Akteure aufeinander bezieht, und der politische Status des Landesherrn nicht in Frage steht, rückt die Ständegesamtheit in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die Genese der landständischen Verfassung wird also in materieller Hinsicht vor allem anhand der Geschichte des politischen Status der Ständegesamtheit rekonstruiert werden müssen. Zu fragen ist also unter anderem, ab wann, warum und in welchen Formen die Ständegesamtheit – entweder faktisch oder dem Anspruch nach – an der instrumentellen Leitung und der symbolischen Stiftung des Gemeinwesens beteiligt war und wie sich dieser Status entwickelte. Und dazu gehört auch die Frage danach, ob es noch andere Akteure gab, die ebenfalls einen solchen Status beanspruchten.

2.3 Untersuchungszeitraum, -territorium und Quellengrundlage Um den Untersuchungszeitraum abzustecken, ist noch einmal auf den Idealtypus der landständischen Verfassung zurückzukommen, denn dieser benennt nicht nur die strukturellen Merkmale, die vorliegen müssen, um von einer landständischen Verfassung sprechen zu können, sondern er enthält darüber hinaus auch eine Behauptung über den Entstehungszeitraum: Die landständische Verfassung sei in den meisten Territorien, nach einer mittelalterlichen oder sogar antiken Vorgeschichte, im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit entstanden. 273

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Schritt kann dann die so konstituierte Körperschaft versuchen, im Namen des Ganzen zu sprechen und als Repräsentant des Gemeinwesens zu agieren. Vgl. Moser, Von der Teutschen Reichs-Stände Landen, S. 347: „Es ist ein Unterschid zu machen zwischen denen Landen, welche in der Haupt-Sache sich noch in eben dem Stande befinden, wie vor siben hundert biß tausend Jahren, und denen, welche erst nach und nach zusammen gekommen und in ihren heutigen Umfang und Verfassung erwachsen seynd. Zu jenen gehören z. E. Böhmen, Mähren, Oesterreich, Steyermarck, Cärnthen, Bayern u. s. w. Deren Land-Stände seynd schon in denen ältesten Teutschen Geschichten und Urkunden der Haupt-Sache nach auf eben die Weise anzutreffen, wie

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

Allerdings ist diese Behauptung wahrscheinlich das problematischste Element des im Kern frühneuzeitlichen Idealtypus, denn die Reichs- und Territorialpublizisten des 17. und 18. Jahrhunderts hatten ein spezifisches Interesse daran, den landständischen Verfassungen ihrer eigenen Gegenwart eine möglichst lange Geschichte zuzuschreiben und dementsprechend einen möglichst frühen Entstehungszeitraum festzulegen. So verzichtete kaum ein Werk, egal ob Lehrbuch oder Dissertation, ob aus Reichs- oder Territorialpublizistik, darauf, in Bezug auf die ständischen Partizipationsrechte weitreichende Traditionslinien zu konstruieren. Die frühneuzeitlichen Landstände, die regelmäßig erst in den Quellen des 14. und 15. Jahrhunderts zu greifen sind, wurden von den Gelehrten in der Regel mindestens bis auf die fränkischen Reichsversammlungen zurückgeführt, häufig wurde mittels des taciteischen Konstrukts der ‚germanischen Freiheit‘ sogar eine Kontinuität seit der germanischen Vorzeit angenommen. 274 Dieses Bemühen um Kontinuität entsprach zwar sicherlich auch der Eigenlogik der frühneuzeitlichen Wissenschaftskultur, hatte allerdings auch lebensweltliche Wurzeln: Wer sich mit Landständen befasste, der agierte in der Regel nicht nur in einem wissenschaftlich-theoretischen, sondern auch in einem juristisch-pragmatischen Kontext, und so waren historische und politiktheoretische Abhandlungen in der Frühen Neuzeit meistens auch hingeordnet auf die aktuell geltende Verfassungsordnung und sollten in diesem Rahmen Ansprüche und Zustände, die primär (gewohnheits-)rechtlich legitimiert waren, zusätzlich historisch

274

sie noch heutiges Tages vorhanden seynd: Doch seynd auch bey disen die Landschafftliche Ausschüsse und deren Convente wohl überall erst im 16den Jahrhundert: In der anderen Art von Landen aber seynd die Land-Stände bald früher, bald später […], fürnemlich aber da entstanden, wann die Landes-Herrn gern ansehnliche Hülffen an Geld oder Leuten von ihren Ländern verlangt und erhalten haben: Und werden die meiste solche Land-Stände ihren Ursprung höchstens in dem 14den, eher aber erst in dem 15. 16. und 17den Jahrhundert zu suchen haben.“ Vgl. etwa Binn, Hugo, De Statu Regionum Germaniae, Et Regimine Principum Summae Imperii Reip. Aemulo, IV, 14, wo das Dreikuriensystem der Landtage auf die fränkische Reichsversammlung zurückgeführt wird, und ebd., IV, 28, wo es heißt: „Antiqui enim moris est Germanici; ut Principes de rebus, quae totius Regionis salutem spectant, una cum Ordinibus provincialibus Conventu publico quandoque deliberent.“ Auf letztere Stelle beziehen sich dann auch zustimmend Stryk, Reder, De Statibus Provincialibus, S. 6, und Fritsch, Tractatio De Conventibus Provincialibus, S. 7. Die ‚germanische‘ Interpretationslinie nahm daraufhin kanonische Geltung an; vgl. Strube, De statuum provincialium origine et praecipuis iuribus, S. 165. Zur ‚altgermanischen Freiheit‘ vgl. auch Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert, S. 85f., und Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes, S. 234–240, mit weiterer Literatur.

2.3 Untersuchungszeitraum, -territorium und Quellengrundlage

85

absichern. 275 Zumindest in dieser Hinsicht war Wissenschaft ein Mittel, das eine Art von historischer Zusatzlegitimation für die landständische Verfassung bereitstellte, deren Identität im Kern auf der faktischen Ausübung politischer Rechte beruhte. 276 Die Ständeforschung hat nun bis heute einhellig an der Meinung festgehalten, dass die landständische Verfassung im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit entstanden sei. 277 Vergegenwärtigt man sich jedoch noch einmal das lebensweltlich begründete Interesse der Reichsund Territorialpublizisten, die landständische Verfassung in möglichst alte Traditionslinien zu stellen, erscheint diese Behauptung hinsichtlich der Genese als problematisch. Die zeitliche Erstreckung der Verfassungsgenese kann also nicht mehr einfach aus der Literatur übernommen werden, sondern muss anhand der verfassungsgeschichtlichen und institutionentheoretischen Kriterien am empirischen Material erst noch erarbeitet werden. Die traditionellen Eckdaten müssen dabei aber weiterhin als Ausgangspunkte dienen, weshalb die Untersuchung am Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit einsetzen muss. Wie schon einleitend erwähnt, wird die Entstehung der landständischen Verfassung für die Landgrafschaft Hessen, nach der Erbteilung 275

276

277

Dieser Zusammenhang zeigt sich nicht zuletzt daran, dass viele Autoren, die zur landständischen Verfassung veröffentlichten, gleichzeitig Angestellte ständischer Körperschaften waren: Johann Jakob Moser etwa diente lange Zeit den württembergischen Landständen als Konsulent (vgl. Aretin, Moser, Johann Jakob) und David Georg Strube bekleidete fast zwanzig Jahre Lang das Amt des Syndikus der Landstände des Hochstifts Hildesheim (vgl. Frensdorff, Strube, David Georg). Dass diese Form der Zusatzlegitimation überhaupt notwendig war, liegt am Gewohnheitsrecht und seinem ‚usualen Geltungdenken‘ (vgl. Simon, Geltung). Insofern waren historische Argumente zwar immer auch notwendig, aber nicht hinreichend; vgl. auch Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung, S. 44–67. Das gilt im Übrigen auch da, wo die Landstände von den verschiedenen Zweigen der nicht-naturrechtlichen Politiktheorie (Spätaristotelismus, Neostoizismus, politica christiana, etc.) thematisiert wurden. Im Haupttext wird der Schwerpunkt auf den juristischen Diskurs und das moderne Naturrecht gelegt, weil nur diese beiden Stränge nach 1800 aufgenommen wurden. Vgl. weiterführend Dreitzel, Absolutismus und ständische Verfassung in Deutschland. Vgl. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, I, S. 534–537; Below, System und Bedeutung der landständischen Verfassung (1900), S. 168 und S. 178; Rachfahl, Alte und neue Landesvertretung in Deutschland, S. 93 und S. 98f.; Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, S. 31f. und S. 50f.; Brunner, Land und Herrschaft, S. 430; Gerhard, Assemblies of Estate and the Corporate Order, S. 305–309; Oestreich, Ständetum und Staatsbildung in Deutschland, S. 51; Bosl, Geschichte der Repräsentation in Bayern, S. 43f.; Press, Vom ‚Ständestaat‘ zum Absolutismus, S. 319; Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter, S. 44; Krüger, Die landständische Verfassung, S. 1 und S. 7.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

im Jahre 1567 vornehmlich für die Landgrafschaft Hessen-Kassel untersucht. 278 Zwei pragmatische Gründe waren ausschlaggebend für die Wahl dieses Untersuchungsterritoriums. Erstens musste ein Territorium gefunden werden, für das genügend ständegeschichtliche Vorarbeiten zur Verfügung stehen. Eine Untersuchung, die zunächst von einem potentiell die gesamte Frühe Neuzeit umfassenden Untersuchungszeitraum auszugehen hat und die sich nicht auf normative Quellen wie Landtagsladungen und -abschiede beschränken kann, sondern aufgrund ihres Institutionenbegriffs die Praxis der landständischen Verfassung in den Blick nehmen muss, kann nicht noch gleichzeitig Grundlagenforschung betreiben. Daher kamen nur Territorien in Betracht, für die die institutionellen Rahmendaten der landständischen Verfassung zur Verfügung stehen, also bekannt ist, wann und wo Landtage stattfanden, wer sie besuchte und welche Ergebnisse erzielt wurden. Das ist für Hessen der Fall: Neben der älteren Edition von Landtagsakten für den Zeitraum von 1508 bis 1521, die Hans Glagau zu Beginn des 20. Jahrhunderts besorgte, 279 liegt mit der seit 2007 abgeschlossenen, mustergültigen und umfassenden Edition der Landtagsabschiede aller Teilterritorien eine tragfähige Grundlage für weitergehende Untersuchungen vor. 280 Die mit einer Ausnahme von Günter Hollenberg herausgegebenen Bände bieten dabei viel mehr als eine bloße Wiedergabe aller Landtagsabschiede, denn über die zahlreichen Anmerkungen lassen sich die Fundorte der Landtagsakten und viele Hinweise auf die Landtagspraxis erschließen. Ohne diese Edition wäre eine Arbeit wie die vorliegende nicht möglich. Zweitens musste ein Territorium gefunden werden, in dem zwar hinreichend viele, aber auch nicht übermäßig viele Landtage stattfanden. Die Spannbreite ist hier nämlich beträchtlich: In einigen Territorien, wie etwa Bayern, wurden seit der Mitte des 17. Jahrhunderts gar keine allgemeinen Landtage mehr abgehalten, so dass sich eine Analyse auf den Sonderfall von Ausschussversammlungen hätte beschränken müssen, was angesichts der Zentralität des allgemeinen Landtags für die landständische Verfassung nicht akzeptabel gewesen wäre. 281 In anderen Territorien, vor allem 278

279 280

281

Vgl. einführend die landeshistorischen Standardwerke: Rommel, Geschichte von Hessen, I–X; Heinemeyer (Hg.), Das Werden Hessens; Demandt, Geschichte des Landes Hessen; vgl. auch den Forschungsüberblick Gräf, Dynastien, Territorien und Land. Vgl. Glagau (Hg.), Hessische Landtagsakten, I (= Glagau, Landtagsakten). Vgl. Hollenberg (Hg.), Hessische Landtagsabschiede 1526–1603 (= Hollenberg I); Ders. (Hg.), Hessische Landtagsabschiede 1605–1647 (= Hollenberg II); Ders. (Hg.), Hessen-Kasselische Landtagsabschiede 1649–1798 (= Hollenberg III); Murk (Hg.), Hessen-darmstädtische Landtagsabschiede 1648–1806. Zum bayerischen Landtag vgl. zuletzt die Beiträge in Ziegler (Hg.), Der Bayerische Landtag vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart.

2.3 Untersuchungszeitraum, -territorium und Quellengrundlage

87

den geistlichen Fürstentümern, trat hingegen der Landtag fast jedes Jahr zusammen; 282 wollte man ein solches Territorium untersuchen, könnte man angesichts der Menge von Quellen nicht alle Landtage in die Analyse mit einbeziehen. Innerhalb dieser Spannbreite nimmt Hessen(-Kassel) nun eine mittlere Position ein: Zwar gab es während der Zeit der Ständekämpfe des frühen 17. Jahrhunderts Phasen mit mehreren Landtagen pro Jahr und auch später tagte man in Krisenzeiten jährlich, aber insgesamt lagen zwischen den Landtagen im Durchschnitt immer mehrere Jahre. Damit ist die Menge der hessen-kasselischen Landtage einerseits hinreichend groß genug dafür, dass die Genese der landständischen Verfassung untersucht werden kann, andererseits ist sie hinreichend klein, so dass alle Landtage in die Analyse einbezogen werden können. Eine weitere Überlegung spielte jedoch keine Rolle bei der Auswahl, nämlich die Vorannahme, Hessen(-Kassel) 283 sei in bestimmten Hinsichten ‚exemplarisch‘ oder ‚typisch‘ für die Gruppe kleiner und mittlerer Reichsterritorien. 284 Diese Auffassung wird in der Literatur vertreten und es sei auch nicht in Abrede gestellt, dass sich eine solche Exemplarizität für bestimmte historische Verlaufsformen oder Strukturen feststellen ließe. 285 Für die hier verfolgte Fragestellung wäre eine solche Vorannahme allerdings äußerst problematisch, denn davon auszugehen, dass die landständische Verfassung in Hessen(-Kassel) ein exemplum ist, also „ein aus einer Menge gleichartiger Dinge Ausgewähltes, woran die ihnen gemeinschaftlichen Eigenschaften anschaulich werden“ 286, würde ja voraussetzen, dass die ‚gemeinschaftlichen Eigenschaften‘, die als Kriterium fungieren, schon bekannt sind – was dann aber nichts anderes heißt, als dass der Idealtypus der landständischen Verfassung als Vergleichsmaßstab fungieren muss, um feststellen zu können, ob Hessen(-Kassel) im Vergleich mit anderen Territorien als ein exemplum anzusehen ist. 282 283

284 285

286

So etwa im Fürstbistum Münster; vgl. dazu die umfassenden statistischen Untersuchungen in Weidner, Landadel in Münster 1600–1760, S. 162–177. Die Schreibweise ‚Hessen(-Kassel)‘ ist nicht sehr elegant, muss aber in den Kontexten Verwendung finden, in denen sowohl die Zeit vor und nach der Landesteilung 1567 gemeint ist. In den folgenden Kapiteln wird sich diese Schreibweise vermeiden lassen, da dann jeweils eindeutig von Hessen oder Hessen-Kassel die Rede sein kann. Vgl. allgemein Gerner (Hg.), Das exemplarische Prinzip. Vgl. etwa Brakensiek, Adlige und bürgerliche Amtsträger in Staat und Gesellschaft, S. 17: „Auch wenn Hessen-Kassel exemplarisch für ein Gutteil der mittleren und kleineren Territorien innerhalb des Reiches bzw. des Deutschen Bundes westlich der Elbe stehen kann, zeichnen es doch Eigentümlichkeiten aus“; vgl. auch Puppel, Die Regentin, S. 18. Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Sp. 2539.

88

2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

Aber genau das ist hier nicht der Fall, denn die meisten Merkmale des Idealtypus, etwa die spätmittelalterliche Entstehung oder die politische Repräsentation, stehen ja gerade zur Überprüfung an, hat doch die institutionentheoretische Neufassung die materialen Eigenschaften des Idealtypus problematisiert und aus ihnen formale Fragestellungen gewonnen – Fragen, die gewinnbringend für jedes Territorium mit landständischer Verfassung gestellt werden können. Daher kann nicht von vornherein davon ausgegangen werden, dass das Untersuchungsterritorium ‚exemplarisch‘ ist – was nicht ausschließt, dass sich später zeigen könnte, dass Hessen tatsächlich über eine ‚typische‘ landständische Verfassung verfügte. Der Endpunkt der Untersuchung ist damit ohne Probleme festzulegen, da in Hessen 1655 die Existenz einer landständischen Verfassung endgültig in Form einer lex fundamentalis festgeschrieben wurde, womit der Entstehungsprozess einen Abschluss fand und die landständische Verfassung von einer Verfassung in fieri zu einer Verfassung in facto wurde. 287 Damit ist die Frage der Quellengrundlage aufgeworfen. Die Auswahl der Quellen reflektiert die institutionelle Struktur der landständischen Verfassung, welche daher hier kurz skizziert werden muss: Der gesamthessische Landtag und der hessen-kasselische Landkommunikationstag 288 verfügten jeweils über zwei Kurien, die ‚Prälaten und Ritterschaft‘ bzw. ‚Landschaft‘ genannt wurden. 289

287

288

289

Das heißt nicht, dass es nach 1655 keinen Wandel mehr gegeben hätte. Der qualitative Unterschied besteht darin, dass sich alle weiteren Veränderungen und Konflikte im Rahmen der 1655 fixierten Verfassungsordnung abspielten, während zuvor dieser Rahmen selbst überhaupt erst erschaffen wurde und in den Ständekonflikten Gegenstand der Auseinandersetzung war. Zusätzlich ist zu beachten, dass die landständische Verfassung auch als Verfassung in facto auf die ständige Reaktualisierung im praktischen Vollzug angewiesen war. Vgl. für die Geschichte der landständischen Verfassung nach 1655 Hollenberg, Die hessen-kasselischen Landstände im 18. Jahrhundert; Demandt, Die hessischen Landstände im Zeitalter des Frühabsolutismus; Ders., Die Hessischen Landstände nach dem 30jährigen Krieg; Würgler, Desideria und Landesordnungen; Neu, Sitzen, Sprechen und Votieren; Ders., The Importance of Being Seated; Ders., Rhetoric and Representation. Landkommunikationstage nannte man seit 1614 die separaten Ständeversammlungen der Teilterritorien Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt (vgl. Hollenberg II, S. 74, Anm. 101; zu den Gründen dafür vgl. unten 4.2.1). Da sie den gesamthessischen Landtagen strukturell analog waren, wird im folgenden der Kürze halber auch von hessenkasselischen Landtagen gesprochen, wie es auch in der Literatur üblich ist. Vgl. die in den Landtagsabschieden stereotyp gebrauchte Formel praelaten, ritter und landschaft, hier zitiert nach dem letzten gesamthessischen Landtagsabschied (= LTA) vom Jahre 1628 (LTA 1628 März, S. 260).

2.3 Untersuchungszeitraum, -territorium und Quellengrundlage

89

Beide Namen sind leicht missverständlich: In der ersten Kurie saßen mit Ausnahme des Landkomturs der Deutschordensballei zu Marburg nämlich keine Prälaten mehr, sondern Vertreter von Institutionen, die als Rechtsnachfolger der Äbte auch deren Landstandschaft ausübten. 290 Dazu gehörten die Obervorsteher der adeligen Stifte Kaufungen und Wetter, der Obervorsteher der vier hessischen Samthospitäler und die Universität Marburg. Da die Obervorsteher der Hospitalien meist, die von Kaufungen und Wetter immer, ebenso der Komtur Adelige waren, die Vertreter der Universität als Gelehrte Standespersonen, deren allgemeine Interessen von denen des Adels vermutlich wenig verschieden waren, und damit die Mehrheit der ‚Prälaten‘ meistens aus der hessischen Ritterschaft kam, die zusammen mit den ‚Prälaten‘ die erste Kurie bildete, wurde die Kurie insgesamt von den Interessen der Ritterschaft dominiert und man kann mit einigem Recht auch abkürzend von der Adels- oder Ritterkurie sprechen. Die zweite Kurie umfasste trotz ihres Namens keine Landgemeinden oder Ämter, sondern hier kamen ausschließlich die landtagsfähigen Städte zusammen, weshalb im weiteren auch von der Städtekurie gesprochen wird. Kurz: Im Rahmen des allgemeinen Landtags stand dem jeweiligen Landgrafen (oder der Landgräfin im Falle einer Vormundschaft) und den fürstlichen Räten die Ständegesamtheit gegenüber, die sich wiederum aus zwei Kurien zusammensetzte, wobei die Ritterkurie politisch deutlich einflussreicher war als die ihr auch in Bezug auf Stand und Rang nachstehende Städtekurie. 291 Die Quellenauswahl versucht nun, so viele Akteure und institutionelle Ebenen wie möglich zu berücksichtigen. Zuoberst stehen die Landtagsabschiede, bei denen es sich nach Günter Hollenberg um die „Ergebnisse der Landtage […] rechtsförmlich zusammenfassende Verträge“ 292 handelt und die daher als Willensausdruck des Landtags und damit aller Akteure 290

291

292

Mit Einführung der Reformation in Hessen und der Aufhebung der Klöster 1527 verschwanden auch die prälatischen Landstände weitgehend – übrig blieb nur der Landkomtur der Deutschordensballei zu Marburg. Dass die Prälaten in vorreformatorischer Zeit Landstände waren, ist zwar unbestritten; ob sie aber vor 1527 auch eine eigene Kurie mit eigenem Votum bildeten, kann mangels einschlägiger Quellen nur vermutet werden. Dafür spricht etwa das Testament Landgraf Wilhelms II.: Dieses sah vor, dass die Regenten, die Hessen bis zur Mündigkeit Philipps des Großmütigen regieren sollten, jährlich vor einem ständischen Ausschuss Rechenschaft ablegen sollten. Das zwölfköpfige Gremium sollte paritätisch mit jeweils vier Prälaten, Rittern und Städtevertretern besetzt sein (vgl. Glagau, Landtagsakten, Nr. 1, S. 4f.). Hier muss dieser grobe Überblick genügen; für den hessischen Landtag vgl. Hollenberg, Einleitung I, S. 15–20; für den hessen-kasselischen Landkommunikationstag vgl. Hollenberg, Einleitung III, S. XXV–XXX. Ebd., S. XVI.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

der landständischen Verfassung zu gelten haben. Diese Dokumente waren in hohem Maße formalisiert und in ihrer sprachlichen Gestalt an den vorangegangenen Abschieden orientiert, was angesichts ihrer „verfassungsrechtliche[n] Verbindlichkeit“ 293 nicht verwundern kann. Die Abschiede sind, wie erwähnt, vollständig ediert, konnten daher für den gesamten Untersuchungszeitraum leicht konsultiert werden und bilden das Grundgerüst der Untersuchung. Und obwohl schon in den Abschieden teilweise der Ablauf der Landtage dargestellt wird, liegt der Fokus dieser Quellen gleichwohl auf den Ergebnissen. 294 Daher sind zweitens Landtagsakten einbezogen worden. Darunter sind alle diejenigen Schriftstücke zu verstehen, die im direkten Zusammenhang mit dem Landtagsgeschehen entstanden sind. 295 Im Laufe des Institutionalisierungsprozesses haben sich verschiedene Typen solcher Landtagsdokumente herausgebildet: 296 Die typischen Dokumente der Eröffnungsphase sind die fürstlichen Ladungsschreiben und die ebenfalls fürstliche Proposition, die die zu behandelnden Materien der Verhandlungen enthält. Im Verlauf des Landtags berieten die Stände dann neben der Proposition gemeinsame oder kurienspezifische Gravamina 297 und kommunizierten untereinander und mit den Landtagskommissaren schriftlich mittels formloser Promemoria. 298 Die fürstliche Seite reagierte darauf mit Dekreten, die jedoch ebenfalls formlos waren und trotz des Namens weniger Befehls-, sondern eher Mitteilungscharakter hatten. 299 293 294 295

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Ebd., S. XVI, ‚Verfassungsrechtlich‘ kann hier von Hollenberg nur im Sinne eines erweiterten Verfassungsbegriffs verstanden werden. Vgl. dazu insgesamt Hollenberg I–III, die maßgebliche Edition der hessischen und hessen-kasselischen LTA. Vgl. Glagau, Vorwort, S. XI–XII, nach dem diese Quellengruppe vor allem aus „Landtagsprotokollen, Ausschussverhandlungen, landständischen Einungen und Beschwerdeartikeln“ besteht. Damit bezieht sich Glagau auf die Editionsgrundsätze von Below (Hg.), Landtagsakten von Jülich-Berg 1400–1610, I. Die einzelnen Typen werden hier auch deshalb kurz erwähnt, um eine eindeutige Terminologie zur Bezeichnung der Quellen zur Verfügung zu stellen. Daraus folgt, dass die gewählten Bezeichnungen auch da benutzt werden, wo die Quellen sie noch nicht kennen, aber ersichtlich ist, dass es sich um ein Dokument dieses Typus handelt. Diese begegnen in den Quellen auch als ‚Petita‘ oder ‚Desideria‘. Im Interesse einer einheitlichen Begrifflichkeit wird im folgenden der in der Forschung gebräuchlichere Begriff „Gravamina“ verwendet. Vgl. einführend Nubola, Würgler (Hg.), Formen der politischen Kommunikation in Europa vom 15. bis 18. Jahrhundert. Ledderhose, Von der landschaftlichen Verfassung der Hessen-Casselischen Lande, S. 98, spricht von „Erklärungen und Desiderien der Stände“, Hollenberg, Einleitung I, S. XLIV, von „formlosen Mitteilungen (‚Promemoria‘)“. Ich folge hier Hollenberg. Ledderhose, Von der landschaftlichen Verfassung der Hessen-Casselischen Lande, S. 99, spricht nur von Dekreten, Hollenberg, Einleitung III, S. XLV, führt noch an, dass die landesherrlichen Mitteilungen zunächst auch Promemoria, dann aber Reso-

2.3 Untersuchungszeitraum, -territorium und Quellengrundlage

91

Hinzu kommen interne Dokumente der fürstlichen Seite und der beiden Kurien, wie etwa Landtagsprotokolle. Während für das frühe 16. Jahrhundert eine umfangreiche Landtagsaktenedition von Hans Glagau vorliegt, 300 musste für den restlichen Untersuchungszeitraum auf archivalische Quellen zurückgegriffen werden. Die wichtigsten Bestände lagern in den Staatsarchiven Marburg und Darmstadt. In der Auswahl der Landtagsakten wurde versucht, sowohl die fürstliche wie die ständische Seite gleichberechtigt zu berücksichtigen, was jedoch nicht immer möglich war, da insbesondere auf ständischer Seite die Überlieferung teilweise lückenhaft ist. 301 Allerdings konnten nicht alle Fragen, die eine institutionentheoretische Verfassungsgeschichte aufwirft, allein mit Quellen beantwortet werden, die im weiteren Rahmen von Landtagen produziert wurden – daher mussten drittens auch sonstige Quellen herangezogen werden. Dass es sich um eine rein formale Sammelkategorie handelt, bedarf keiner weiteren Erläuterung und es gibt auch keine allgemein-methodische Begründung, sondern nur verschiedene pragmatische Gründe, warum in einigen Fällen noch weitere Quellen außerhalb des Bereichs der landständischen Verfassung hinzugezogen wurden und in anderen Fällen nicht. Diese Quellen entstammen hauptsächlich zwei institutionellen Kontexten, mit denen die landständische Verfassung stets oder teilweise in näherer Verbindung stand. Erstens wurde auf die Bestände der adeligen Stifte Kaufungen und Wetter zurückgegriffen. Diese beiden Einrichtungen waren 1527 der hessischen Ritterschaft von Landgraf Philipp geschenkt worden und bildeten die Basis einer sich außerhalb und neben den Landtagen entwickelnden ritterschaftlichen Organisation, denn die Stifte verfügten „über finanzielle Mittel und vor allem eine organisatorische Verfasstheit, auf der man aufbauen konnte“. 302 Da zu diesen organisatorisches Vorteilen auch ein eigenes Archiv gehörte, kann man sich über viele Interna der politisch

300 301

302

lutionen und zuletzt Dekrete genannt worden seien. Die begriffliche Unterscheidung sollte wohl deutlich machen, „dass Landtagsverhandlungen […] nicht Verhandlungen zwischen Gleichgestellten, sondern zwischen Herrn und Untertanen waren“ (ebd.). Vgl. Glagau, Landtagsakten. Die für den Untersuchungszeitraum wichtigsten Bestände für die fürstliche Seite sind: Hessisches Staatsarchiv Marburg (= StAM) 5 (Geheimer Rat); StAM 17 I. (Landgräflich Hessische Regierung Kassel: Alte Kasseler Räte); Hessisches Staatsarchiv Darmstadt (= StAD) E 2 (Landstände); auf Seiten der Landstände: StAM 340v. Dörnberg (Familienund Herrschaftsarchiv v. Dörnberg); StAM 73 (Hessische Landstände); StAM 304 (Stift Kaufungen (Dep.)); StAD F 27 A (Herrschaft Riedesel zu Eisenbach – Samtarchiv). Vgl. auch Hollenberg (Hg.), Repertorien des Hessischen Staatsarchivs Marburg. Bestand 73: Hessische Landstände 1509–1866, der die Überlieferungsgeschichte darstellt. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 41. Und nur deswegen konnten sie während der Ständekonflikte zum „Kristallisationspunkt der adeligen Opposition werden“.

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2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

führenden Ritterschaft am besten über diesen Bestand nähern. 303 Zweitens sind noch die Akten des Reichskammergerichts zu nennen, denn im Zuge des letzten großen hessischen Ständekonflikts von 1646 bis 1655 verklagte die niederhessische Ritterschaft die Landgräfin Amalie Elisabeth dort. 304

2.4 Zwischenergebnis Um überhaupt mit einer Untersuchung zur Genese der landständischen Verfassung beginnen zu können, mussten zunächst einige begriffliche und methodische Vorarbeiten geleistet werden: Erstens musste die ‚landständische Verfassung‘ begrifflich näher bestimmt werden, um einen Kriterienkatalog entwickeln zu können, mit dem man Herrschaftsordnungen als ‚landständisch verfasst‘ klassifizieren kann. In einem zweiten Schritt mussten dann Beschreibungskategorien und Erklärungsmodelle entwickelt werden, mit denen die Genese der nunmehr inhaltlich bestimmten Verfassungsordnung analysiert werden konnte. Während die Begriffsschärfung durch eine Aufarbeitung der Forschungsgeschichte geleistet werden konnte, mussten für die Konzeptualisierung des Entstehungsprozesses theoretische Überlegungen eingeschaltet werden. Die zunächst vorgenommene reflexive Aufarbeitung der Geschichte der Ständeforschung zeigte zunächst, dass die Ständegeschichte keineswegs ein homogenes Forschungsfeld darstellt, sondern drei Forschungsstränge umfasst, die je ein spezifisches Erkenntnisinteresse verfolgen. Da im Rahmen dieser Arbeit ein verfassungsgeschichtlicher Ansatz entwickelt werden soll, der im Hinblick auf Diskontinuität beobachtet, erwies es sich als sinnvoll, dafür an das ‚institutionelle‘ Erkenntnisinteresse anzuknüpfen, das seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die spezifisch frühneuzeitliche Funktionsweise fürstlich-ständischer Ordnungsgefüge in den Mittelpunkt stellt. Der ‚konstitutionelle‘ und der ‚etatistische‘ Forschungszweig kamen hingegen nicht in Betracht, da ihre wichtigsten Deutungsmuster – Parlamentarisierung und Staatsbildung – zu sehr an epochenübergreifenden Kontinuitätslinien orientiert sind. 303

304

Heute in StAM 304 (Stift Kaufungen (Dep.)) und im Archiv der Althessischen Ritterschaft Kaufungen (= AARK). Zu den Stiften vgl. zeitgenössisch Ledderhose, Von den adelichen Stiften, Kaufungen und Wetter in Hessen, und jetzt Wunder, Fürstenmacht und adlige Selbstbehauptung. Vgl. dazu grundlegend Maruhn, Necessitäres Regiment, und unten 5.3. Die Akten des Reichskammergerichtsprozesses finden sich in StAM 255 (Reichskammergericht) Nr. 139, Nr. 139 1/2 und Nr. 140.

2.4 Zwischenergebnis

93

Die chronologische Aufarbeitung der Forschungsgeschichte im Hinblick auf die Erkenntnisinteressen wurde dann ergänzt durch eine problemorientierte Betrachtung. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wurden zwei Kategorien, die bis dahin im Zentrum der Ständegeschichte gestanden hatten, massiv kritisiert und gelten heute als ‚überwunden‘. Erstens führte die Kritik an der ‚Verfassungs-Rechtsgeschichte‘ (Boldt), die moderne verfassungsrechtliche Kategorien auf die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gemeinwesen projezierte, dazu, dass der Begriff der politischen Repräsentation diskreditiert wurde und aus der Ständegeschichte verschwand. Ein ähnliches Schicksal erfuhr zweitens der Dualismusbegriff, der im Zuge des Aufstiegs der Sozialgeschichte ebenfalls zurückgewiesen wurde. Allerdings, so zeigte sich, werden in der aktuellen Ständeforschung nur die Begriffe nicht mehr verwendet – die mit ihnen bezeichneten Kategorien jedoch sind offenbar immer noch unentbehrlich, so dass eine Präzisierung des Begriffs der landständischen Verfassung auch diese Kategorien mit einbeziehen muss. Die schon vorher aufgezeigte Heterogenität des Forschungsfeldes ermöglichte es nun, die drei Forschungsstränge so gegeneinander in Stellung zu bringen, dass sich abseits der ‚großen‘, auf Kontinuität bedachten Deutungsmuster ein gemeinsamer Strukturtypus abzeichnete, der zur Präzisierung des Begriffs der landständischen Verfassung herangezogen werden konnte: Eine landständische Verfassung ist dann gegeben, wenn der allgemeine Landtag als die institutionelle Form, in der die Gesamtheit der (sozialständisch heterogenen) Landstände als korporativer Träger politischer Teilhaberechte und Repräsentant des Gemeinwesen auf- und dem Landesherrn gegenübertritt, gleichermaßen in der politischen Praxis effektiv verankert und normativ anerkannt ist. An dieser Definition wird auch deutlich, dass auf ‚Repräsentation‘ und ‚Dualismus‘ nicht verzichtet werden kann. Repräsentation ist erstens Teil der Definition und meint zunächst nur, dass Entscheidungen der Ständegesamtheit (als Teil des Gemeinwesens) dem Gemeinwesen als Ganzem zugerechnet werden. Zweitens ist eine solche Ordnung zumindest dahingehend ‚dualistisch‘, dass sie genau zwei politische Akteure kennt – den Landesherrn und die Ständegesamtheit. Damit sind Repräsentation und Dualismus zunächst rein formale, aber unentbehrliche Eigenschaften der landständischen Verfassung, was jedoch nicht heißt, dass sie nicht auf sehr kontroverse Weise inhaltlich konkretisiert werden können (und wurden). Die Frage jedoch, mit welchen Kategorien und Modellen die Genese einer solchen Verfassungsordnung analysiert werden könnte, ließ sich nicht mit Rückgriff auf die Ständeforschung beantworten, weshalb einige theoretische Überlegungen eingeschaltet wurden. Dazu wurde die landständische Verfassung zunächst im Rahmen einer kulturhistorisch erwei-

94

2. Die landständische Verfassung – Geschichte und Theorie

terten Verfassungsgeschichte als ‚politische Institution‘ bestimmt. 305 Damit musste zunächst geklärt werden, was Verfassungsordnungen als Institutionen auszeichnet, um im Anschluss daran die besonderen Eigenschaften ‚politischer‘ Institutionen zu beschreiben. Verfassungsordnungen erscheinen in einer institutionentheoretischen Perspektive als verstetigte Gefüge von Praktiken, die bestimmte Regelmäßigkeiten zeigen. Dann wurde mit Anthony Giddens zwischen Regeln (im Sinn von Regelmäßigkeiten) und Regelinterpretationen unterschieden. Damit gelang zunächst die Integration des normativen Aspekts von Institutionen in eine praxeologische Perspektive: Innerhalb des verstetigten Gefüges von Praktiken, das eine Institution konstitutiert, besteht eine besondere Klasse von diskursiven Praktiken, die sich reflexiv auf das Gesamtgefüge beziehen und normative Erwartungen zum Ausdruck bringen. Gleichzeitig lieferte diese Unterscheidung einen Mechanismus, der die Genese von Institutionen besser beschreibbar macht: Regelinterpretationen sind (auch) Reaktionen auf wahrgenommene Regelmäßigkeiten und zielen darauf, als Ansprüche die Praxis anzuleiten; implizite Regelmäßigkeiten ergeben sich (auch) als Folge von durchgesetzten Regelinterpretationen und liefern als verstetigte Praxis das Material für neue Ansprüche. Dieses Wechselverhältnis von Regel und Regelinterpretation, das die institutionentheoretische Konkretisierung des allgemeinen Wechselverhältnisses von verstetigter Praxis und normativem Anspruch darstellt, wird eine zentrale Rolle spielen, wenn es darum geht, die Genese der landständischen Verfassung zu beschreiben. Eine weitere Beschreibungskategorie ließ sich gewinnen, indem nach dem Spezifikum ‚politischer‘ Institutionen gefragt wurde. Ausgehend von der kulturtheoretisch zentralen ‚Unhintergehbarkeit von Sinn und Bedeutung‘ wurden zwei Machtformen unterschieden, die von politischen Institutionen ausgeübt werden: das instrumentelle Lenken und Leiten des Gemeinwesens und das symbolische Stiften und Stützen der Ordnung des Gemeinwesens. Die Ausübung dieser Machtformen setzt aber in jedem Fall des Bestehen einer Repräsentationsbeziehung voraus, denn (kollektive oder individuelle) Akteure können nur dann ‚im Namen des Gemeinwesens‘ entscheiden und Sinn stiften, wenn diese Handlungen dem Gemeinwesen effektiv zugerechnet werden können. Zurechnung ist aber ein Verhältnis des ‚Als-Ob‘, das immer wieder neu behauptet und beansprucht werden muss, woraus folgt, dass auch der ‚politische‘ Status von Institutionen von Geltungsbehauptungen und -zuschreibungen abhängt. 305

So auch Haug-Moritz, Zur Genese des württembergischen Landtags in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts.

2.4 Zwischenergebnis

95

Damit lässt sich die Frage nach der Verfassungsgenese nun auch materiell konkretisieren: Wie oben gezeigt wurde, steht der allgemeine Landtag im Zentrum der landständischen Verfassung, weshalb deren Genese als politische Institution mit der Entwicklung des Anspruchs beginnt, im Rahmen des allgemeinen Landtags werde ‚im Namen des Ganzen‘ gesprochen und entschieden. Da nun der allgemeine Landtag eine institutionelle Form darstellt, die dadurch definiert ist, dass sie den Landesherrn und die Ständegesamtheit als eigenständige Akteure aufeinander bezieht, und der politische Status des Landesherrn nicht in Frage steht, rückt die Ständegesamtheit in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die Genese der landständischen Verfassung wird also in materieller Hinsicht vor allem anhand der Geschichte des politischen Status der Ständegesamtheit rekonstruiert werden müssen. Zu fragen ist also unter anderen, ab wann, warum und in welchen Formen die Ständegesamtheit – entweder faktisch oder dem Anspruch nach – an der instrumentellen Leitung und der symbolischen Stiftung des Gemeinwesens beteiligt war und wie sich dieser Status entwickelte. Und dazu gehört auch die Frage danach, ob es noch andere Akteure gab, die ebenfalls einen solchen Status beanspruchten. Mit dem dynamischen Wechselverhältnis von verstetigten Praktiken und normativen Ansprüchen und der Abhängigkeit des politischen Status von Geltungsbehauptungen und -zuschreibungen lässt sich nun die Entstehung der landständischen Verfassung in einem Territorium untersuchen. Dazu wurde die Landgrafschaft Hessen(-Kassel) ausgewählt, da für dieses Territorium genügend ständegeschichtliche Vorarbeiten zur Verfügung stehen.

3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

Ab antiquissimis temporibus in singulis provinciis Germaniae Statuum consensus vel consilium rogatum est, ubi graviora negotia discussa fuerunt. Georg David Strube 1 Nachträgliche Vernünftigkeit. – Alle Dinge, die lange leben, werden allmählich so mit Vernunft durchtränkt, dass ihre Abkunft aus der Unvernunft dadurch unwahrscheinlich wird. Klingt nicht fast jede genaue Geschichte einer Entstehung für das Gefühl paradox und frevelhaft? Widerspricht der gute Historiker im Grunde nicht fortwährend? Friedrich Nietzsche 2

Die Vorstellung, dass die landständische Verfassung schon vor der Frühen Neuzeit entstanden sei, ist nicht nur in den Idealtypus der Ständeforschung inkorporiert worden und seitdem Bestandteil der allgemeinen Ständegeschichte; auch für Hessen behaupteten schon im Ancien Régime Territorialstaatsrechtler wie Johann Georg Estor oder Conrad Wilhelm Ledderhose, dass die landständische Verfassung ihrer Gegenwart eine weit in die Vergangenheit zurückreichende Geschichte besaß. 3 Auch in der modernen hessischen Landesgeschichte finden sich bis heute solche Behauptungen. 1952 etwa äußerte sich Ludwig Zimmermann in einem Aufsatz zur „Entstehungsgeschichte der hessischen Landstände“. Diese begann seiner Meinung nach schon 1247, als angeblich ein Landtag zusammentrat, um den Erbanspruch von Heinrich, dem unmündigen Sohn der Herzogin Sophie von Brabant, auf Hessen zu bestätigen: „Die hessischen Stände treten also bei dieser Gelegenheit

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Strube, De statuum provincialium origine et praecipuis iuribus, S. 164. Nietzsche, Morgenröthe, S. 19. Estor, Fech, De comitiis et ordinibus Hassiae praesertim Cassellanae provincialibus Opusculum, S. 3: „Nemo fere est, qui ignorat, comitia hodierna provincialia, quae indicunt principes et ordines Germaniae, esse reliquias veterum institutorum sive dispositionis, quae statum provinciae ordinabant“; Ledderhose, Von der landschaftlichen Verfassung der Hessen-Casselischen Lande, S. 14: „Alle diese landschaftlichen Glieder waren weit älter als die Landeshoheit.“ Vgl. auch Pfeiffer, Geschichte der landständischen Verfassung in Kurhessen, S. 17f.

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schon als handlungsfähige Korporation auf.“ 4 Eine 1983 anlässlich des Hessentags gezeigte Ausstellung, die die Geschichte der Landstände und Landtage von der „Einung des Mittelalters zur demokratischen Volksvertretung“ zum Thema hatte, begann zwar auch mit dem Verweis auf die Ereignisse von 1247, aber die Autoren des Katalogs datierten den Beginn der landständischen Verfassung schon deutlich später, wenn sie davon sprachen, dass die „Stände zur organisierten Repräsentation des gesamten Landes“ 5 erst 1467 geworden seien, als sie im dynastischen Streit zwischen den Landgrafen Ludwig II. und Heinrich III. vermittelten. 6 Und Eckhart G. Franz, einer der Autoren des eben genannten Katalogs, hat zuletzt noch 1997 in einem Band, der in einer von der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Schriftenreihe erschien, festgehalten, dass man sehr wohl schon „ein korporatives Auftreten der hessischen Stände in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts“ erkennen könne. 7 Die Behauptung, dass die landständische Verfassung im Kern eine (spät-)mittelalterliche Institution sei, wird also nicht nur in der hessischen Landesgeschichte vertreten, sondern genießt offensichtlich auch politische Unterstützung. 8 Schließt man sich dieser Forschungsmeinung an, dann folgt daraus, dass es während der gesamten Frühen Neuzeit in Hessen eine landständische Verfassung gegeben hat. Aber noch 2005 hat der wohl beste Kenner der hessischen Ständegeschichte, Günter Hollenberg, festgestellt: „Die Formationsphase der hessischen Landstände im Spätmittelalter ist leider noch wenig erforscht.“ 9 4

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Zimmermann, Zur Entstehungsgeschichte der hessischen Landstände, S. 67; vgl. dazu Hollenberg, Einleitung I, S. 9: „Man darf annehmen, daß diese Darstellung eher die Vorstellung des um 1500 schreibenden Chronisten Wigand Gerstenberg von landständischer Zustimmung als die Vorgänge von 1247 wiederspiegelt.“ Die Chronik in: Diemar (Bearb.), Die Chroniken des Wigand Gerstenberg von Frankenberg. Zu Sophie vgl. auch Puppel, Die Regentin, S. 148–150. Franz, Wolf, Landstände und Landtage in Hessen, ohne Seitenzählung. Vgl. Rommel III, S. 20–45. vgl. auch Rommel II, Anmerkungsband, S. 150f., der die Entstehung der Landstände ebenfalls in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts verlegt. Auch Hollenberg, Einleitung I, S. 9, vermutet, dass die Landtage in der Zeit von 1459– 1472 „für die landständische Traditionsbildung in Hessen sehr bedeutend gewesen sein dürften“. Franz, Landstände und Landtage in Hessen bis zum Ende des Alten Reiches, S. 17. Franz, Wolf, Landstände und Landtage in Hessen, enthält ein Geleitwort des hessischen Ministerpräsidenten und ein Grußwort des Präsidenten des hessischen Landtags; Bernd Heidenreich und Klaus Böhme, die Herausgeber des Bandes, in dem Franz, Landstände und Landtage in Hessen bis zum Ende des Alten Reiches, erschien, sind oder waren Direktoren des Hessischen Landeszentrale für Politische Bildung. Hollenberg, Die Repräsentation von Land und Leuten in Hessen, S. 33. Vgl. aber Ders., Einleitung I, S. 7–11, und Birkelbach, Hessen unter Landgraf Hermann II. (1367/76– 1413) im Hinblick auf die Entwicklung der hessischen Landstände, mit Übersicht über

3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

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Tatsächlich werden die soeben angeführten Daten zur Entstehung der landständischen Verfassung von den Autoren eher behauptet als belegt, weshalb man mangels weitergehender Forschung sehr vorsichtig sein sollte mit der Angabe solcher Zeitpunkte und -räume. Angesichts dieses Befundes ist man daher gut beraten, sich der, wie Hollenberg anmerkte, „ersten und bisher einzigen quellenmäßig fundierten Analyse der landständischen Verfassung Hessens im 16. Jahrhundert“ 10 zuzuwenden, die Hans Siebeck schon 1914 vorlegte. Das im Hinblick auf die landständische Verfassung entscheidende Kriterium, das seine Untersuchung leitete, definierte Siebeck im Anschluss an seinen Lehrer Felix Rachfahl: „Von einer landständischen Verfassung kann in einem Territorium erst dann die Rede sein, wenn es als Organ ständischer Teilnahme an der Regierung den Landtag als dauernde Verfassungseinrichtung zur Vertretung des Landes aufweist.“ 11 In Anwendung dieses Kriteriums kam Siebeck zu einem Ergebnis, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt: Genauer läßt sich als der Zeitpunkt, von dem an das Bestehen einer landständischen Verfassung in Hessen festzustellen ist, das Jahr 1532 betrachten, in dem die Ritterschaft zum ersten Mal neben den Städten zum Zweck einer Steuerbewilligung berufen wurde. 12

Siebecks Kriterium scheint dabei weitgehend mit demjenigen übereinzustimmen, das im letzten Kapitel aus der Kombination des ständehistorischen Strukturtypus mit institutionentheoretischen Überlegungen gewonnen wurde. Dieses besagte ja, dass eine landständische Verfassung dann vorliegt, wenn der allgemeine Landtag als die institutionelle Form, in der die Gesamtheit der (sozialständisch heterogenen) Landstände als korporativer Träger politischer Teilhaberechte und Repräsentant des Ge-

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die ältere Literatur und die einschlägigen Quellen. Wichtig sind vor allem Küch (Bearb.), Quellen zur Rechtsgeschichte der Stadt Marburg; Kopp (Hg.), Bruchstücke zur Erläuterung der Teutschen Geschichte und Rechte II; Demandt, Regesten der Landgrafen von Hessen; Rommel II und III; Ruppersberg, Die hessische Landsteuer bis zum Jahre 1567; Landau, Der Spiess. Hollenberg, Einleitung I, S. 6. Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 1. Vgl. dazu Rachfahl, Alte und neue Landesvertretung in Deutschland, S. 92: „[V]on Landständen dürfen wir erst sprechen, wenn auch die Existenz eines Landtags als eines dauernden Verfassungsinstituts zur Vertretung des Landes nachweisbar ist.“ Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 1. Siebeck meint hier eindeutig und nur den allgemeinen Landtag. Städte- und Ritterlandtage sind für ihn „Sondertagungen“ (ebd., S. 80) und engere Landtage, das heißt Versammlungen, zu denen nur ein vom Fürsten bestimmter Teil der Stände geladen wurde, gelten ihm als „unvollständige Landtage“ (ebd., S. 71). Beide Formulierungen machen klar, dass der allgemeine Landtag die Norm darstellt.

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meinwesens auf- und dem Landesherrn gegenübertritt, gleichermaßen in der politischen Praxis effektiv verankert und normativ anerkannt ist. 13 Der entscheidende Unterschied liegt jedoch in der Bedeutung des von Siebeck gebrauchten Begriffs „dauernde Verfassungseinrichtung“. Siebeck, der als Vertreter der älteren Verfassungsgeschichtsschreibung mit einem engen, und das heißt normativistischen Verfassungsbegriff arbeitete, meint damit eine Institution, die dauernd sein soll. Aus Sicht der heutigen Verfassungsgeschichte muss man aber, wie es die soeben wiederholte Definition auch tut, darauf abstellen, dass die jeweilige Institution dauernd sein soll und es auch faktisch ist. Von daher lässt sich Siebecks Datierung zwar nicht einfach übernehmen, aber sie gibt erste Anhaltspunkte für die Frage der Genese. Fokussiert man jedoch nicht so stark auf 1532 und nimmt das frühe 16. Jahrhundert insgesamt in den Blick, dann zeigt sich, dass auch Siebeck schon vor 1532 „Ansätze zur Ausbildung einer ständischen Verfassung“ erkannt hatte, die sich in der Zeit der „Vormundschaftskämpfe“ von 1509 bis 1514 gezeigt hätten. 14 Ihren konkreten Ausdruck fanden diese Ansätze in zwei Einungen, die 1509 bzw. 1514 aufgerichtet wurden. Siebeck zufolge handelte es sich dabei um rein „politische Akte“, die „keineswegs Äußerungen eines verfassungsmäßig bestehenden Rechtsverhältnisses“ seien. 15 Die Einungen sind allerdings auch als die „zwei ältesten schriftlichen Grundlagen der landständischen Verfassung in dem Fürstenthum Hessen“ 16 bezeichnet worden, und da die neuere Verfassungsgeschichte ganz allgemein die „Einung als Verfassungsalternative“ 13

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Vgl. auch Moraw, Zu Stand und Perspektiven der Ständeforschung im spätmittelalterlichen Reich, S. 11: „Ein bestimmtes Maß von Institutionalisierung oder von Eigengesetzlichkeit der Stände, eine gewisse Häufigkeit oder gar Regelmäßigkeit der Einberufung sind als Kriterien zu fordern.“ Vgl. auch im internationalen Kontext Marongiu, Medieval Parliaments, S. 51. So charakterisierte auch Ernst Schubert in der Einleitung zum Handbuch der niedersächsischen Landtags- und Ständegeschichte die Entwicklung der Landstände mit dem Stichwort der Institutionalisierung und meinte damit einen Vorgang, „der sich aus der allmählich entwickelnden Regelhaftigkeit landständischer Versammlungen ergab und erst den Ausdruck landständische Verfassung rechtfertigt“ (Schubert, Einleitung, S. 16f.). Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 1 und S. 2. Ebd., S. 5. Diese Unterscheidung ist nicht überzeugend, da nicht hinreichend klar gemacht wird, woran sich entscheiden lässt, wann bestimmte Regelungen als ‚nur‘ politisch bzw. wann sie als ‚verfassungsrechtlich‘ anzusehen sind. Vgl. ablehnend auch Hollenberg, Einleitung I, S. 7, Anm. 29. Rebelthau, Die zwei ältesten schriftlichen Grundlagen der landständischen Verfassung in dem Fürstenthum Hessen und den anhangenden Grafschaften, S. 247. Hierbei handelt es sich um die Edition der beiden Einungen.

3.1 Die Einungen im Kontext der Vormundschaftskämpfe (1509–1514)

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ansieht, 17 ist auch schon für die Zeit der Einungen zu Beginn des 16. Jahrhunderts zu fragen, ob eine landständische Verfassung bestand. Das zentrale Kriterium muss also sein, ob der allgemeine Landtag mit Repräsentationsfunktion in beiden Registern – als Anspruch und als Praxis – verwirklicht ist.

3.1 Die Einungen im Kontext der Vormundschaftskämpfe (1509–1514) Zunächst geht es also um die Jahre von 1509 bis 1518, die Zeit der Minderjährigkeit Landgraf Philipps, den man später ‚den Großmütigen‘ nannte. 18 Als dessen Vater, Landgraf Wilhelm II., am 11. Juli 1509 starb, war Philipp gerade einmal vier Jahre alt – eine geradezu ‚klassische‘ dynastische Herrschaftskrise war die Folge, in deren Zentrum die Frage stand, wer die Regentschaft für den unmündigen Thronerben für sich würde reklamieren können. 19 Auf der einen Seite stand Anna, die Witwe des Landgrafen und eine geborene Herzogin von Mecklenburg, auf der anderen Seite die hessischen Stände. Die Landgräfin begründete ihren Anspruch auf die ‚vormundschaftliche Regentschaft‘ 20 mit dem Verweis auf das Testament Wilhelms II.

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Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, S. 119. Im Folgenden werden die Beinamen der hessischen Landgrafen nur bei der ersten Nennung der Person erwähnt bzw. nur benutzt, um Verwechslungen auszuschließen. Für Philipp vgl. Schmitt, Landgraf Philipps Beiname ‚Der Großmütige‘. Vgl. einführend zuletzt Moeller, Hessen in Deutschland um 1500, und zur Person Puppel, Der junge Philipp von Hessen. Zur Einschätzung als Herrschaftskrise vgl. Nolte, Vergleichende Beobachtungen zu Dynastie- und Herrschaftskrisen um 1500, ausgehend vom Landgrafen von Hessen; zur Regentschaftszeit selbst vgl. vor allem die Quellenedition von Glagau, Landtagsakten, und die jüngsten Darstellungen in Puppel, Der Kampf um die vormundschaftliche Regentschaft zwischen Landgräfinwitwe Anna von Hessen und der hessischen Ritterschaft 1509/14–1518, Dies., Formen von Witwenherrschaft, und allgemeiner Dies., Die Regentin, S. 158–188; vgl. ferner Glagau, Anna von Hessen. Nicht verwendbar ist hingegen Scheepers, Regentin per Staatsstreich?; vgl. die Rezensionen von Puppel (in: Zeitschrift für Historische Forschung 35 (2008), S. 326–328) und Arndt (in: Historische Zeitschrift 287 (2008), S. 186–188). Vgl. zu diesem Terminus Puppel, Die Regentin, S. 34–57. Dabei meint ‚Regenschaft‘ die faktische Vertretung des unmündigen Fürsten in herrschaftlichen Angelegenheiten (vgl. Wolf, Regentschaft), während ‚vormundschaftlich‘ auf die normative Basis dieser Regenschaft verweist, die Vormundschaft (vgl. Erler, Vormundschaft).

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

vom 29. Januar 1508. 21 In diesem hatte der Landgraf – in Abänderung eines ersten Testaments von 1506 – seine Gemahlin Anna als obirsten vormunden 22 an die Spitze eines sechsköpfigen Vormundschaftskollegiums berufen, dem neben Kurfürst Hermann von Köln, dem Onkel Wilhelms, noch Konrad von Mansbach, Hermann IV. Riedesel, Dr. Heinrich Ruland und Peter von Treisbach angehören sollten. 23 Diese Änderung scheint dabei Teil einer grundlegenden Umwälzung der Machtverhältnisse am Kasseler Hof gewesen zu sein, denn etwa zur selben Zeit wurde Hofmeister Konrad von Wallenstein abgesetzt, der bisher im Namen des unter fortgeschrittener Syphilis leidenden Landgrafen regiert hatte. 24 An seine Stelle trat nun Landgräfin Anna und führte die stellvertretende Regierung für ihren Gemahl in den kommenden anderthalb Jahren. 25 Nach dessen Tod, so bestimmte es das neue Testament, würde Annas stellvertretende Regierung im Namen Wilhelms dann umgewandelt werden in eine vormundschaftliche Regentschaft für den jungen Philipp. Allerdings hatte Wilhelm auch vorgesehen, dass das Testament grafen, ritterschaft und lantschaft eröffnet werden musste – und die hatten ganz andere Vorstellungen davon, wie die Regentschaft für den unmündigen Fürsten einzurichten sei. 26

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Das Testament findet sich gedruckt in Schenk zu Schweinsberg, Das letzte Testament Landgraf Wilhelm II. von Hessen vom J. 1508 und seine Folgen, S. 43ff. Ein Teildruck, teilweise in Synopse mit dem ersten Testament von 1506, in Glagau, Landtagsakten, Nr. 1, S. 2–13; vgl. allgemein Duchhardt, Das politische Testament als ‚Verfassungsäquivalent‘. ‚Testament Landgraf Wilhelm des Mittleren. 1508 Jan. 29‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 1, S. 4. Im ersten Testament (Teildruck in Glagau, Landtagsakten, Nr. 1, S. 2–13) waren mit Konrad von Wallenstein (Hofmeister), Friedrich Trott (Marschall), Ludwig von Boyneburg (Statthalter an der Lahn), Konrad von Mansbach (Amtmann zu Vach) und Rudolf von Waiblingen nur adelige Räte zu Vormündern berufen worden. Zu den Personen vgl. Puppel, Regentin, S. 159f. Zur Krankheit Wilhelms vgl. Midelfort, Verrückte Hoheit, S. 66–68; vgl. allgemein Hirschbiegel, Paravicini (Hg.), Der Fall des Günstlings, und darin den Beitrag von Rabeler, Vertrauen und Gunst, der auch auf Wallenstein Bezug nimmt. Vgl. Puppel, Die Regentin, S. 160f.; Rommel III, S. 178–180. Zum Sturz Konrads von Wallenstein vgl. auch ‚Landgraf Wilhelms Klageschrift gegen seine Räte‘, in Glagau, Landtagsakten, Nr. 3, S. 13–20. Vgl. ‚Testament Landgraf Wilhelms des Mittleren. 1508 Jan. 29‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 1, S. 5f.: Es ist auch unser meinungen, das dise unser ordenunge und lester wille, sobalde die nach unser totlichen hinfurt eruffint wirdet, das die durch … unser vormunden, vorweser und usrichter sol gelesen und geoffenbert werden unsern grafen, ritterschaft und lantschaft, einem teil am Spiss und dem andern zu Butzbach, odir sie

3.1 Die Einungen im Kontext der Vormundschaftskämpfe (1509–1514)

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Dies zeigte sich während des allgemeinen Landtags, den Anna für den 24. Juli 1509 zum ‚Spieß‘, einer offenen Hochfläche zwischen Ziegenhain und Homberg/Efze, wo traditionell Landtage gehalten wurden, 27 einberufen hatte, um den Ständen das Testament zu eröffnen und die Regenschaft für sich zu beanspruchen. 28 Die Stände jedoch waren der Meinung, dass sulch regiment kein frauenwerk sei, denn schließlich habe vormals keine frau die lant regirt. 29 Daher, so fasste ein sächsischer Bericht das

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allesampt gein Marpurg zusamenbescheiden, wie das zur zeit unsers totlichen abschits sich am bequemlichsten und besten fugen wil. Zum Spieß als Landtagsort vgl. Estor, Fech, De comitiis et ordinibus Hassiae praesertim Cassellanae provincialibus opusculum, S. 134–136; Hollenberg, Bei jedem Wetter; Landau, Der Spiess. ‚Spieß‘ ist ursprünglich der Name eines Waldes zwischen Ziegenhain und Homberg/Efze. Die vor diesem Wald liegende Hochfläche galt als Grenze zwischen Hessen- und Lahngau bzw. später als die Grenze zwischen Nieder- und Oberhessen. Versammlungsorte unter freiem Himmel in geographisch zentraler Lage waren im Spätmitelalter durchaus üblich, vgl. etwa Kirchhoff, Ständeversammlungen und erste Landtage im Stift Münster 1212–1278 und der erste Landtagsplatz auf dem Laerbrock. Zuvor war das Vorhaben gescheitert, nur einem Teil der Stände das Testament zu eröffnen. Dazu hatte Anna schon am 19. Juli die Stände des Niederfürstentums zum Spieß bestellt, wozu sie laut Testament berechtigt war. Bevor sie jedoch das Testament verkünden konnte, wurde ihr mitgeteilt: Doruf die lantschaft gesaget mit underteniger beite, einen nit zu vorargen, diweile di lantschaft des obern fürstentums zu Hesen nit bei ein weren, geboret einen aleine nichtes zu horen an diselbigen. Dan orer gebruch – heten auch des fursten vorschribunge – were also, das si nit gesundert solten werden, und so die lantschaft ale zusamenkomen, wolten sich onverweislich halten (‚Friedrich Thun an die Ernestiner. Homberg 1509 Juli 20‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 4, S. 23–27, S. 25). Obwohl formal nur auf das Herkommen verwiesen wird, handelt es sich im Grunde um ein geschlechtsspezifisches Argument. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Geschlecht als Analysekategorie in dieser Arbeit ernst genommen wurde: Versteht man Verfassungsordnungen als verstetigte Gefüge von Praktiken, dann kann das nicht anders sein, da Praktiken von Akteuren ausgeführt werden, die unter anderem auch geschlechtlich markiert sind. Und insofern muss Geschlecht im Sinne des Intersektionalitätskonzepts immer auch als Dimension in die Analyse mit einbezogen werden (vgl. allgemein Lutz, Herrera Vivar, Supik, Fokus Intersektionalität – eine Einleitung, und für die Geschichtswissenschaft Ulbrich, Ständische Ungleichheit und Geschlechterforschung, S. 97–102). Damit wird nach der Bedeutsamkeit von Geschlecht im Kontext aller sich in einer Situation ‚kreuzenden‘ Dimensionen gefragt, wobei zunächst offen ist, wie stark oder schwach diese spezifische Dimension strukturierend wirkt. Für den Gegenstand dieser Arbeit kann hier schon vorweggenommen werden, dass nur in der extremen Ausnahmesituation des Jahres 1509 situativ auf ein gender-Argument zurückgegriffen wurde mit dem Ziel, die junge Landgräfin von der Regentschaft fernzuhalten. Seit der zweiten Einung (vgl. 3.1.2) und bis zum Ende des Untersuchungszeitraums jedoch spielen geschlechtsbezogene Argumente oder Praktiken keine wesentliche Rolle, weder unter den männlichen Fürsten, noch den weiblichen Regentinnen. Damit ist nur eine Aussage über die fürstlich-ständischen Beziehungen getroffen; dass fürstliche Herrschaft in vielen anderen Hinsichten intensiver von der Geschlechtsdimension geprägt ist, zeigen etwa Hohkamp, Marital Affairs as a Public Matter within the Holy Roman Empire, und

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

Begehren der Stände zusammen, haben sie gebeten, das mein g. frau ires leipguts wolle begnugig sein, des regiments mussig gehen 30 – die Stände lehnten eine Regentschaft der jungen Landgrafenwitwe kategorisch ab und verwiesen gegen die ausdrücklichen Bestimmungen des Testaments darauf, dass eine weibliche Regentschaft wider das Herkommen sei. 31 Dass das Zitat übrigens aus dem Brief eines sächsischen Rates stammt, ist kein Zufall, sondern verweist auf die dritte involvierte Partei in der Auseinandersetzung um die Regentschaft, die Wettiner. Diese waren seit 1373 mit dem Landgrafenhaus erbverbrüdert, das heißt die beiden Dynastien hatten sich für den Fall, dass eine von ihnen aussterben sollte, gegenseitig zu Alleinerben eingesetzt. 32 Zwar regelte die Erbverbrüderung den Fall der Vormundschaft nicht explizit, aber gleichwohl leiteten die Wettiner aus ihr ein Anrecht auf die Vormundschaft ab und waren dementsprechend auf dem Landtag am Spieß mit eigenen Räten präsent. 33 Diese waren es auch, die zwischen Landgräfin und Ständen vermittelten und den Konflikt zunächst dadurch einhegen konnten, dass man überein kam, die Wettiner als Schiedsrichter anzurufen. 34

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Hull, Sexuality, State, and Civil Society in Germany, 1700–1815; vgl. auch allgemein Hohkamp, Macht, Herrschaft und Geschlecht, und Scott, Gender. ‚Heinrich von Schleinitz an Herzog Georg von Sachsen. 1509 Juli 25‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 5, S. 27f., S. 27. Vgl. Puppel, Die Regentin, S. 161–166. Später zogen die Stände auch das Testament selbst in Zweifel und behaupteten, Wilhelm II. sei zum Zeitpunkt der Abfassung nicht mehr testierfähig gewesen. Zu den Argumenten im Streit um die Regentschaft vgl. das zentrale ‚Protokoll des Schiedstages zu Mühlhausen [Mühlhausen 1509 November 15 – Dezember 1]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 16, S. 49–79. Vgl. dazu Löning, Die Erbverbrüderungen zwischen den Häusern Sachsen und Hessen und Sachsen, Brandenburg und Hessen, und Demandt, Geschichte des Landes Hessen, S. 156f.; zuletzt auch Müller, Besiegelte Freundschaft, S. 91–100. Vgl. Puppel, Die Regentin, S. 45. Vgl. ‚„Abrede“ zwischen den Räten der Wettiner und den hessischen Ständen. [Am Spiess] 1509 Juli 25‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 6, S. 28f. In dieser Abrede wurde auch die Einsetzung einer provisorischen Regierung vereinbart. Daran fühlten sich die Stände jedoch später nicht mehr gebunden und verwiesen darauf, dass sie die Abrede nie unterzeichnet hätten. Vgl. Glagau, Landtagsakten, S. 28, Anm. 2.

3.1 Die Einungen im Kontext der Vormundschaftskämpfe (1509–1514)

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3.1.1 Vergemeinschaftung und Legitimation: Die ständische Einung von 1509 In dieser ungeklärten Situation wurde am 29. Juli, nur fünf Tage nach dem Landtag am Spieß, die erste der beiden in Frage stehenden Einungen aufgerichtet. 35 Nach der einleitenden Anrufung Gottes werden die Einungsgenossen genannt: Wir Prelaten Graffen Ritterschafft und Stett mitsambt ingeleibten und zuegewandten Graffschafften des löblichen Fürstenthumbs zue Hessen. Es handelt sich also um eine Vereinigung von vier ständischen Gruppen, die sich dem Fürstentum Hessen zugehörig fühlen. 36

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Vgl. ‚Einung der hessischen Landstände auf Sonntag nach Jacobi 1509‘, in: Rebelthau, Die zwei ältesten schriftlichen Grundlagen der landständischen Verfassung in dem Fürstenthum Hessen und den anhangenden Grafschaften, S. 251–256; gekürzter Druck mit Inhaltsübersicht: ‚Einung der hessischen Stände [Am Spiess] 1509 Juli 29‘, in Glagau, Landtagsakten, Nr. 8, S. 31–34. Die Einung wurde auch schon in der Frühen Neuzeit gedruckt: ‚Erb-Einigung derer Praelaten, Grafen, Ritterschafft und Städte des Fürstenthums Hessen, d.d. Sonntag nach Jacobi, Anno 1509‘, in: Lünig (Hg.), Collectio Nova. Worinn der mittelbahren, oder landsäßigen Ritterschaft in Teutschland, welche unter d. Kayser, auch Chur-Fürsten u. Herren angesessen […] Praerogativen u. Gerechtsamen, auch Privilegia u. Freyheiten, enthalten sind, Bd. 2, Frankfurt/Leipzig 1730, Sp. 799–803; unter demselben Titel auch in: Ders. (Hg.), Das teutsche Reichs-Archiv, Pars Specialis, Continuation 2, Teil 2, Leipzig 1712, S. 769–772. Normativer Referenzpunkt war das Fürstentum Hessen. Die ingeleibten Grafschaften sind diejenigen, die im 15. Jahrhundert auf dem Erbwege an die Landgrafen gekommen waren: 1450 fiel die Grafschaft Ziegenhain, 1479 dann die Grafschaft Katzenelnbogen an Hessen. Beiden Grafschaften waren allerdings schon vorher andere Grafschaften inkorporiert worden, so dass mit dem Anfall von Ziegenhain auch die ehemalige Grafschaft Nidda und mit dem Anfall von Katzenelnbogen die ehemalige Grafschaft Diez an Hessen kamen. Alle vier Grafschaften sind spätestens seit dem Reichslehnbrief von 1569 Bestandteil des Reichslehens ‚Landgrafschaft und Fürstentum Hessen‘. 1509 galt noch der Reichslehnbrief von 1505, der die Grafschaft Katzenelnbogen gesondert aufführte (vgl. Rommel V, S. 285–319, insbesondere S. 296–308). In der Praxis wurde ZiegenhainNidda vollständig in die Landgrafschaft eingegliedert, während Katzenelnbogen-Diez eine gewisse organisatorische Eigenständigkeit behielt (vgl. Hollenberg, Einleitung I, S. 13–15). Der Repräsentationsbereich des hessischen Landtags entspricht dabei der Ausdehnung des Reichslehens ‚Fürstentum Hessen‘, umfasst also Hessen, Katzenelnbogen, Diez, Ziegenhain und Nidda – so wie es auch im Titel der Landgrafen heißt. Die Trennung zwischen Nieder- und Oberhessen ist lehnsrechtlich nicht relevant. Unter den zuegewandten Grafschaften werden diejenigen verstanden, die von eigenen Dynastien regiert werden, die jedoch die betreffende Grafschaft vom Landgrafenhaus vollumfänglich zu Lehnen tragen. Es handelt sich um die Grafschaften Waldeck, Wittgenstein, Rittberg und die Herrschaft Plesse; vgl. Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 38, und die unter Wilhelm IV. angelegte ‚Specification aller grävelichen und adelichen lehenleut des Niedern Furstenthumbs Heßen sambt dero Niedern Gra-

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

Der folgende Text gliedert sich dann in zwei Teile. Im Stil einer narratio wird zunächst erläutert, warum die Einung überhaupt nötig wurde. Ausgangspunkt ist die allgemeine Einsicht, dass es allein einigkeit, fridde und hanthabung der gerechtigkeit seien, die gemeinen nutz, uffnemen und wolfardt erhalten und vergrößern. In den letzten Jahren der Regierung Wilhelms II. hingegen sei der entgegengesetzte Zustand eingetreten: uneinigkeidt, zwietracht und verdruckunge friddens und rechtens hätten landesweit zu abnemen, verberben, erstörung und unüberwindtlichen schaden geführt. Vier Vorwürfe konkretisieren dieses Bild: Erstens habe Wilhelm II. – angestiftet durch missgönner und verhinderer der wolfart – bestimmte Gebiete verpfänden wollen; zweitens habe er die Stände bei Entscheidungen über Krieg- und Finanzfragen nicht einbezogen; drittens seien die Stände sogar voneinander getrennt worden und viertens sei die Rechtspflege ins Stocken geraten. 37 In bewachtung der und viel anderer ursachen, so wird der dispositive Teil der Urkunde eingeleitet, haben die genannten vier Stände daraufhin ein göttliche erliche rechtmesszige löbliche vereinigung und freundtschafft für uns unsere nachkommen erben und erbnemer, gemacht und ufgericht. 38 Sinn und Zweck dieser Einung, so wird in den folgenden Artikeln deutlich, besteht darin, die Gesamtheit der Rechtsansprüche eines jeden einzelnen Einungsgenossen, aber auch alle kollektiven Privilegien der vereinigten Stände vor jeder Form von Schaden zu bewahren – es handelt sich um ein allgemeines Defensivbündnis. 39 Dabei werden drei mögliche Schadensverursacher ausdrücklich genannt und für jeden Fall die entsprechenden Gegenmaßnahmen spezifiziert: Die Einung schützt ihre Mitglieder gegen die fürsten von hessen, darüber hinaus auch gegen alle frembden fürsten, grafen oder jemandt anderm, also gegen alle nicht-hessischen Obrigkeiten, sowie auch gegen Einungsgenossen, die aus eigenen muthwillen und widder recht sich befleissigt […] jemand wer der were zue beschedigen oder gewalt anzue-

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veschaft Catzenelnpogen und der herrschaft Pleß‘, in: Zimmermann, Der ökonomische Staat Landgraf Wilhelms IV., II, S. 1–26. Alle Quellenzitate des vorstehenden Absatzes: ‚Einung der hessischen Landstände auf Sonntag nach Jacobi 1509‘, in: Rebelthau, Die zwei ältesten schriftlichen Grundlagen der landständischen Verfassung in dem Fürstenthum Hessen und den anhangenden Grafschaften, S. 251. Ebd., S. 252. Geschützt werden unser und eines iglichen recht gerechtigkeit billichkeit freyheidt gnad und privilegien, alt herkommen oder löblich gewonheit (ebd., S. 253), also die Gesamtheit der individuellen und kollektiven Rechtsansprüche.

3.1 Die Einungen im Kontext der Vormundschaftskämpfe (1509–1514)

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legen. 40 Und da die Einung niemandem zum Nachteil gereichen soll, sondern gudt, nützlich und erlich sei, wird sie dann in unser und ander der prelaten, graffen, ritterschafft und stette namen auch bevehlch und mandat derselbigen und aller inwoner des fürstenthumbs zue hessen ingeleibter und verwandter gravschafften beschworen und aufgerichtet. 41 Die Einung entwirft keine landständische Verfassung; sie enthält im Grunde nicht einmal ein ausformuliertes politisches Aktionsprogramm. Zwar wird in der narratio die Verletzung von ständischen Beteiligungsrechten gerügt, aber die vereinbarten Verfahren für den Fall, dass ein Einungsgenosse an seinen Rechten und Freiheiten geschädigt wird, sind nur rudimentär beschrieben und erkennbar defensiv ausgerichtet. 42 Es ging nicht darum, konkrete politische Partizipationsrechte oder institutionelle Ordnungen zu errichten oder festzuschreiben, sondern viel grundlegender darum, die verschiedenen Stände des Landes überhaupt erst zu einer Partei zusammenzuschweißen. Angesichts der unklaren politischen Lage und des nur suspendierten Konflikts mit der Landgräfin sollte die Einung eine sehr allgemeine Legitimationsbasis bereitstellen, auf die man den Widerstand gegen den Regentschaftsanspruch Annas gründen konnte: Das Ziel war eine legitime Vereinigung der Stände zum Zwecke gemeinsamer Handlungsfähigkeit. 43 Und daher ist in diesem Fall

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Ebd., S. 253 und S. 254. Das Vorgehen ist in mehrere Phasen unterteilt: Ist der Schädiger etwa der Landgraf, so soll durch die vereinigten Stände zuerst um Abstellung der Beschwerung gebeten werden; bei Fortbestehen der Beschwerung soll der Rechtsweg beschritten werden. Sollte der Landgraf diese Klage nicht annehmen, so werden die Einungsgenossen zur Selbsthilfe mit leib, gudt und allem vermogen, hilff, beystand, vertheiding, schutz und schirm (ebd., S. 253) greifen, was die Anwendung von Gewalt beinhaltet. Für Konflikte zwischen Einungsgenossen wird ein Schiedsverfahren etabliert: Der Geschädigte soll seinen Fall einem Kollegium vortragen, das aus einem Prälaten, einem Ritter und einem städtischen Deputierten gebildet wird. Sollte dieses Kollegium den Fall nicht schlichten können, kann es eine Vollversammlung aller vier an der Einung beteiligten Stände am Spieß einberufen. Ebd., S. 255. Zur Interpretation dieser Formel vgl. vorläufig Hollenberg, Die Repräsentation von Land und Leuten in Hessen, S. 31–33. Diese Formel macht deutlich, dass sich die vier Stände in ihrer Vereinigung als Repräsentanten des Gemeinwohls verstanden. Anders aber Glagau, Anna von Hessen, S. 29: „Die Stände stellten als grundsätzliche Forderungen hin, daß in Zukunft ohne ihre Zustimmung kein Krieg und keine Fehde angefangen, keine Münze aufgerichtet und kein Land verpfändet werden sollte.“ Es scheint mir jedoch überzogen zu sein, aus der Rüge, dass diese Rechte verletzt worden seien, auf „grundsätzliche Forderungen“ zu schließen. Vgl. Holenstein, Die Huldigung der Untertanen, S. 21: „Schwur zum Zweck der Bildung aktionsfähiger Verbände.“ Nun meint Hollenberg, Die Repräsentation von Land und Leuten in Hessen, S. 31, dass die Stände die Einung geschlossen hätten „um die beabsichtigte Regentschaft der Landgrafenwitwe zu verhindern und ein Regiment nach ihren

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

der Akt der Einung als solcher, nicht dessen schriftliche Fassung zentral – später behauptete die Partei der Landgräfin sogar, die Einung sei während des Landtags am Spieß nicht einmal verlesen worden. 44 Es ging um die Inszenierung eines ‚Einsetzungsritus‘, um ein Verfassungsfest statt um einen Verfassungstext. 45 Nun mangelt es nicht an Fällen, in denen solche Einungen tatsächlich eine dauernde Verbindung der Landstände zu einem kollektiven Akteur hervorgebracht und damit eine wesentliche Voraussetzung für eine ausgebaute landständische Verfassung geschaffen haben; zu denken ist etwa an die ‚Erblandesvereinigung‘, die 1463 von den kurkölnischen Ständen aufgerichtet wurde. 46 Ob und inwiefern auch der hessischen Einung vom Juli 1509 eine ähnliche Bedeutung zukommt, lässt sich nun daran aufzeigen, wie sich das Verhältnis zwischen der geeinten Ständegesamtheit und dem Regiment entwickelte, das von eben dieser Gesamtheit einige Monate später gewählt und eingesetzt wurde. Da nämlich die Wettiner die Einberufung eines Schiedstages, der den Konflikt zwischen Landgräfin Anna und den Ständen beilegen sollte, verzögerten, schritten die Stände zur Tat und versammelten sich im Oktober wiederum am Spieß – ohne die Landgräfin. Dem herbeigeeilten sächsischen Rat teilte Ludwig von Boyneburg, der Wortführer der Stände, mit, sie seien entschlossen, ein ortenung [!] und regement nach alt hergebrachte [!] ubung und gewonheit des furstetoms zu Hessen aufzurichten und zu beslishen [!]. 47 Daraufhin wurde tatsächlich ein Regiment gewählt, das sich aus Vertretern aller an der Einung beteiligten Stände mit Ausnahme der Grafen zusammensetzte: Ein Prälat, sechs Ritter und zwei Bürgermeister sollten fortan gemeinschaftlich die Regentschaft für Landgraf Philipp ausüben,

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Vorstellungen durchzusetzen“. Selbstverständlich ist das die politische Stoßrichtung, aber die Formulierung scheint mir die eigentliche Funktion der Einung zu verdecken. Vgl. ‚Protokoll des Landtages zu Kassel. Kassel 1514 März 13–24‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 114, S. 242–320, S. 288: Bitt der einunge ingank vorhoer zu geben (ist vorlesen); darauf weiter gesagt, sie gestehen der einunge aufm Spiss nicht, sie ine auch aufm Spiss nie vorlesen. Vgl. Bourdieu, Einsetzungsriten; der Begriff des Verfassungsfests nach StollbergRilinger, Verfassung und Fest. Vgl. Ruppert, Die Landstände des Erzstifts Köln in der frühen Neuzeit, und der Text in Scotti (Hg.), Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in dem vormaligen Churfürstenthum Cöln […] über Gegenstände der Landeshoheit, Verfassung, Verwaltung und Rechtspflege ergangen sind, 1. Abt., Teil 1, S. 1–9. ‚Der sächsische Rat Hermann von Pack an Herzog Georg von Sachsen. Bericht über die Aufrichtung eines Regiments in Hessen [1509 Oktober 9]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 14, S. 42–46, S. 43. Anmerkungen in eckigen Klammern von Glagau. Derselbe Bericht teilt mit, dass ca. 400 Personen am Spieß versammelt gewesen sein sollen. Zur Verzögerung des Schiedstages durch die Wettiner vgl. Glagau, Landtagsakten, S. 35.

3.1 Die Einungen im Kontext der Vormundschaftskämpfe (1509–1514)

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wobei Ludwig von Boyneburg als Landhofmeister diesem Gremium vorstehen sollte. 48 Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass die Stände den Regentschaftsanspruch der Landgräfin vor allem deshalb ablehnten, weil eine weibliche Regentschaft noch nie vorgekommen sei und daher als Neuerung gegen das Herkommen verstoße. Wie aber legitimierten sie ihren eigenen Anspruch auf ein ständisches Regiment? Auch hier findet man zunächst den pauschalen Verweis auf das Herkommen, 49 aber anders als im Falle der weiblichen Regentschaft, die als Neuerung ohnehin nicht legitim sein konnte, war es hinsichtlich des ständischen Anspruchs zusätzlich angezeigt, auch das normative Fundament anzuführen, auf dem das angeführte Herkommen ruhte. Und so verkündeten einige Abgesandte der Stände der Landgräfin, dass die prelaten, ritterschaft und stete als stende des furstetoms zu Hessen inen befolen, ihren f. g. anzuz[e]igen und zu sagen, das sie hetten ein ordenung und regement irem g. jungen hern, auch dem furstetom und allen stenden zu eren, nutz und gedeien aufgerichtet und gemacht, regenten des zu gewalten gesatzt und den darmit und wie zu handeln bevehl gegeben. 50

Die entscheidende Wendung ist in diesem Kontext als stende des furstetoms zu Hessen. Durch diese Formel sollte zum Ausdruck gebracht wer48

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Die gewählten Regenten waren: Prälat: Dietrich von Cleen, Landkomtur des Deutschen Ordens; Ritter: Hermann Schenck zu Schweinsberg, Kaspar von Berlepsch, Ludwig von Boyneburg, Georg von Hatzfeld, Heinrich von Bodenhausen, Jost von Baumbach; Städte: je ein Bürgermeister aus Kassel und Marburg. Nur Ludwig von Boyneburg war im ersten Testament von 1506 ebenfalls als Regent vorgesehen. Ansonsten erinnert die Zusammensetzung des ständischen Regiments personell und strukturell an den ständischen Ausschuss, den Wilhelm II. in seinen Testamenten eingesetzt hatte und vor dem die Regenten jährlich Rechnung ablegen sollten: Jost von Baumbach wurde in beiden Testamenten in den ständischen Ausschuss berufen, Georg von Hatzfeld hingegen nur im zweiten Testament. Der Landkomtur des Deutschordenshauses in Marburg war ebenso für den ständischen Ausschuss vorgesehen wie jeweils ein Bürgermeister von Kassel und Marburg. Allerdings sollte der Ausschuss paritätisch besetzt werden (jeweils vier Prälaten, Ritter und Bürgermeister), während die Ritter im Regiment deutlich dominierten. Zum hessischen Adel vgl. zuletzt allgemein Conze, Jendorff, Wunder (Hg.), Adel in Hessen. Auf dem ersten Schiedstag in Mühlhausen brachten die Stände vor, das es gebrauch und herkomen ist, das man aus inen sall kiesen regirer (‚Protokoll des Schiedstages zu Mühlhausen [Mühlhausen 1509 November 15 – Dezember 1]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 16, S. 49–79, S. 59). Zusätzlich wird auch auf konkrete Ereignisse, etwa die Frage der Vormundschaft für Landgraf Ludwig I. zu Beginn des 15. Jahrhunderts verwiesen (vgl. Rommel II, Anmerkungen, S. 189f., und Puppel, Die Regentin, S. 163). ‚Der sächsische Rat Hermann von Pack an Herzog Georg von Sachsen. Bericht über die Aufrichtung eines Regiments in Hessen [1509 Oktober 9]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 14, S. 42–46, S. 45.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

den, dass es eben nicht einfach drei ständische Gruppen von Untertanen waren, die hier handelten und denen man die Verfolgung ihrer eigenen (und damit partikularen) Interessen hätte unterstellen können, 51 sondern dass hier die politisch Teilhabeberechtigten im Interesse des Fürstentums, als Repräsentanten des Gemeinwohls ein Regiment wählten – eben nicht ut singuli als Prälaten, Ritterschaft und Städte, sondern ut universi als Ständegesamtheit. Und dass die Legitimität ihres Vorgehens auf dem Zusammentreten aller Landstände in Form eines allgemeinen Landtags beruhte, war den Ständen selbst klar: Sie gaben auf einem späteren Schiedstag nämlich unumwunden zu, dass sundere personen der lantschaft keine iurisdiction haben, aber gleichzeitig betonten sie, dass ein gemeine vorsamlung ditz furstentums gerichtszwang und iurisdiction itzund in actu inhaben. 52 Die normative Grundlage des Regiments verweist damit indirekt wieder auf die Einung, deren Zweck gerade darin bestand, der Verbindung der Stände des Landes in Form einer gemeine[n] vorsamlung Ausdruck zu verleihen. 53 Insgesamt schienen also die Voraussetzungen für eine dau-

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Dieser Vorwurf wurde trotzdem später von beiden Seiten erhoben: Anna warf Landhofmeister Boyneburg vor, er habe nicht anders regirt, dan ob er selber ein furst were, und das er in inem grossen gewalt ist und im merglicher nutz zustehet (‚Rede der LandgräfinWitwe Anna auf dem Landtage zu Felsberg [1514 Jan. 9]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 62, S. 174–176, S. 175f.). Und schon früher hatte sich Boyneburg beschwert, das ir g. wegerung und gegenwer auf bosem grund stehe und allain aus widerwertigem gmut auf anreizung etlicher, die in dem mer iren eigennutz dan unsers jungen herrn wolfart suchen, geschee (Glagau, Landtagsakten, S. 140, Anm. 2). Vgl. Puppel, Die Regentin, S. 173, die den Sachverhalt jedoch so darstellt, als hätte Boyneburg den Vorwurf direkt an die Landgräfin gerichtet und nicht – gemäß des Topos vom schlechten Berater – an ihre Räte. ‚Protokoll des Schiedstages zu Mühlhausen [Mühlhausen 1509 November 15 – Dezember 1]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 16, S. 49–79, S. 66. – Ebenso vermochten die Stände auch schon juristische Argumente vorzutragen, die den Anspruch untermauerten, dass die Stände zu eigenen Versammlungen berechtigt seien: Dieweile aber die lantschaft sein licitum collegium und samelunge in rechte zugelassen, so haben sie recht, fug und macht gehabt zu machen, das es ine, ihrer lantschaft zu nutz und recht (ebd., S. 58). Die Landgräfin hingegen bezeichnete die Ständeversammlung als verbotenes conventiculum. Beide Parteien greifen hier auf die Begrifflichkeiten der Korporationstheorie zurück, vgl. dazu Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, III, und Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes, S. 81–91. Das ist der Kontext, in dem auch die oben erwähnte ‚Mandatsformel‘ der Einung zu verstehen ist: auch bevehlch und mandat derselbigen und aller inwoner des fürstenthumbs zue hessen ingeleibter und verwandter gravschafften (‚Einung der hessischen Landstände auf Sonntag nach Jacobi 1509‘, in: Rebelthau, Die zwei ältesten schriftlichen Grundlagen der landständischen Verfassung in dem Fürstenthum Hessen und den anhangenden Grafschaften, S. 255).

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erhafte Institutionalisierung der Verbindung von geeinter Ständegesamtheit und ständischem Regiment gegeben zu sein. Kam es nun zu einer solchen Verfestigung, die es erlauben würde, den Prozess der Bildung einer landständischen Verfassung schon hier beginnen zu sehen? Zunächst ist festzuhalten, dass es den Regenten tatsächlich gelang, die Regierungsgewalt an sich zu bringen. 54 Entscheidend für diesen Erfolg war das Zusammengehen mit den Wettinern: Noch im Oktober, kurz nach der Aufrichtung des Regiments, hatte eine ständische Deputation, die ursprünglich an die Landgräfin abgeschickt worden war, um ihr die Aufrichtung zu eröffnen, gegenüber den ebenfalls in Kassel anwesenden sächsischen Räten erklärt, dass die Stände beabsichtigten, von den sächsischen Herzögen den Schutz ihrer Rechte zu erbitten. 55 Auf dem Schiedstag in Mühlhausen im November 1509 dann wurde ein grundlegendes Arrangement getroffen: Die Wettiner verwarfen mit dem fürstlichen Testament auch den darauf gegründeten Regentschaftsanspruch der Landgräfin und akzeptierten das ständische Regiment, während die Stände im Gegenzug die Wettiner als Vormünder des jungen Landgrafen anerkannten, in deren Auftrag das ständische Regiment von nun an handeln sollte. 56 Landhofmeister Boyneburg erinnerte sich später

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Für die Ereignisse nach der Aufrichtung des ständischen Regiments im Oktober 1509, die im folgenden nur kursorisch erwähnt werden, vgl. Puppel, Die Regentin, S. 162–175; Dies., Der Kampf um die vormundschaftliche Regentschaft zwischen Landgräfinwitwe Anna von Hessen und der hessischen Ritterschaft 1509/14–1518, S. 253–257; Glagau, Anna von Hessen, S. 44–71. Zunächst kam es zu zwei Schiedstagen, die von den Wettinern ausgerichtet wurden: Der erste fand in der Reichsstadt Mühlhausen (13. Nov.–1. Dez. 1509), der zweite in Kassel (6. Jan.–10. Feb. 1510) statt. Nachdem Anna den Kaiser eingeschaltet hatte, führten kaiserliche Kommissare dann noch einen dritten Schiedstag durch, diesmal in Marburg (22. März–29. Aug. 1510). Alle Versammlungen bestätigten im Prinzip die ständische Regentschaft unter der Obervormundschaft der Wettiner. Vgl. ‚Der sächsische Rat Hermann von Pack an Herzog Georg von Sachsen. Bericht über die Aufrichtung eines Regiments in Hessen [1509 Oktober 9]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 14, S. 42–46, S. 45: gemeine lantschaft wolt auch ir regement und ordenung unser gst. und g. hern furderlich zuschicken, ire g. umb hanthabung irer alten hergebrachten ubung und gebrauche in solchem fellen des furstums zu Hessen darbei gnedigliche schutzen und hanthaben zu bitten. Vgl. ‚Protokoll des Schiedstages zu Mühlhausen [Mühlhausen 1509 Nov. 15 – Dez. 1]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 16, S. 49–79, S. 77: Sächsische Herzöge an die Stände: Ir f. g. sehen vor gut an, das man das regiment, wo das ordenlich, formlich, nutzlich und wol bestalt, bleiben lasse und dasselbig, auch die personen darinnen gesatzt, nicht leichtfertig noch anders dan aus grossen, beweglichen, klaren und hellen ursachen vorenderte. Ir f. g. seint auch geneigt, solich regiment als vormunden gnediglich zu schutzen und hanthaben. Die Stände antworten, dass sie sich als gehorsame der fursten von Sachsen erzeigen und halten wolten.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

zu Recht, dass die Stände alle meine gst. und g. herrn von Sachsen zu formunden und curatoren gekorn hätten. 57 Diese Verbindung mit den sächsischen Herzögen brachte den Ständen zwar einerseits den Sieg im Streit um die Regentschaft, andererseits aber begann mit der Anerkennung der wettinischen Obervormundschaft auch ein Prozess der nachhaltigen Entfremdung zwischen den geeinten Ständen und ‚ihrem‘ Regiment. Noch auf dem zweiten Schiedstag, den die Wettiner im Januar 1510 in Kassel hielten, waren die Regenten gegenüber den sächsischen Räten allein als gewählte Vertreter der zumeist ‚gemeine Landschaft‘ genannten Ständegesamtheit aufgetreten. 58 Aber die Anerkennung der sächsischen Obervormundschaft sollte die normativen Grundlagen der Regentschaft massiv verändern, wie etwa der Huldigungseid der Regenten zeigt: Wir gereden und geloben, nachdem wir durch die stende und gemeine lantschaft des furstentums zu Hessen zu regenten sint erwelt und von den … herzogen zu Sachsen … als den vormunden unserer g. hern derer lantgrafen zu Hessen ihren landen und leuten vorzustehen und zu regiren bestetigt sein, […]. 59

Die Legitimität des Gremiums speiste sich ersichtlich aus zwei Quellen: der Wahl durch die Ständegesamtheit und der Bestätigung durch die Wettiner in ihrer Funktion als Obervormünder. Was in der Eidesformel jedoch als eine problemlose Abfolge von Legitimationsakten erscheint, barg erhebliche Sprengkraft, waren die Regenten doch damit zwei sehr unter-

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‚Vortrag Ludwig von Boyneburgs vor den Räten des Kaisers. Augsburg 1515 Mai 14‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 179, S. 457f., S. 457. Vgl. ‚Protokoll des Schiedstages zu Kassel. 1510 Jan. 15–22‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 19, S. 84–92, S. 86: Sie [sc. die Regenten] wolten aber dis fur kein antwurft gegeben haben; dan si hetten etliche aus der lantschaft zu disem tag beschaiden; mit denen wolten si ich unterreden und darnach weiter vornemen lassen. Volgent sein die regenten sambt denen von der lantschaft fur di rete kumen und ungeverlich volgende meinung erzelt. – Für die Begriffsverwendung um 1500 vgl. auch Krey, Herrschaftskrisen und Landeseinheit, S. 234–240. Der Terminus ‚Landschaft‘ lässt sich leicht missverstehen: Hier meint er die Gesamtheit der Stände. In der ausgebildeten landständischen Verfassung in Hessen meint er nur noch die Städtekurie; vgl. oben 2.3; so auch in Hildesheim, vgl. Klingebiel, Einleitung, S. 9; vgl. auch Schubert, Die Landstände des Hochstifts Würzburg, S. 104f., und Schirmer, Die ernestinischen Stände von 1485–1572, S. 33. Ein völlig anderes Phänomen, nämlich Landtage, die nur von Städten und Landkommunen besucht werden, meint der von Peter Blickle definierte Forschungsbegriff; vgl. dazu Blickle, Landschaften im Alten Reich. ‚Huldigungseid der Regenten von Hessen. Kassel 1510 Dezember 7‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 37, S. 130.

3.1 Die Einungen im Kontext der Vormundschaftskämpfe (1509–1514)

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schiedlichen Instanzen verpflichtet, der ‚gemeinen Landschaft‘ einerseits und den Wettinern andererseits. 60 Der Huldigungseid selbst enthielt schon ein Indiz dafür, welche der beiden Legitimationsbindungen letztlich die bedeutsamere war: Die Regenten gelobten nämlich direkt anschließend, das wir wollen denselben fursten von Sachsen von wegen unser regirung getrau und gehorsam sein; 61 die Gesamtheit der Stände wird hier schon nicht mehr genannt. Noch deutlicher wird die Verschiebung der normativen Grundlage des Regiments, wenn man sich einem der wesentlichen symbolischen Ausdrucksmittel vormoderner Herrschaft zuwendet, dem Siegel. 62 Schon im Januar 1510 verständigten sich die Regenten mit Vertretern der Wettiner über die Form des Regentschaftsiegels, nemlich das helmzaichen des furstentums mit der umbschrift: sigillum regiminis Hassie a tutoribus ordinatum. 63 Wurde der Ständegesamtheit im Huldigungseid noch gedacht, so urkundeten die Regenten zum Zeitpunkt der Ablegung dieses Eides im Dezember 1510 schon fast ein Jahr lang mit einem Siegel, das die Regentschaft allein von der Vormundschaft der sächsischen Herzöge herleitete – der legitimierende und gleichzeitig verpflichtende Bezug auf die geeinten Stände trat auf normativer Ebene immer mehr in den Hintergrund. 64 Weiterhin zeigte sich der Prozess zunehmender Entfremdung auch in der politischen Praxis. Obwohl im Regentschaftskollegium die Ritterschaft schon von Beginn an das dominierende Element stellte – standen

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Vgl. auch Glagau, Anna von Hessen, S. 124, wo er „den zwiespältigen Charakter in seiner [Boyneburgs] politischen Rolle“ betont. Ebd. Die Wettiner selbst waren von Beginn an bemüht, das Regiment vollständig zu kontrollieren. So war etwa der Abgesandte Herzog Georgs, der zum zweiten Schiedstag nach Kassel reiste, instruiert worden, das ständische Regiment anzuerkennen, auf das sie das lant regiren sollen in unser aller namen als der vormunden. Hinsichtlich der wichtigen Frage der Ergänzung des Regiments war ihm aufgetragen worden: Wo einer ader mer von denen regeten abgehn wurden, so sollen die andern siben benennen, uns allen vorzeichent zuschicken, aus den sollen wir zu verordnen haben, wer uns geliebt (‚Instruktion Herzog Georgs von Sachsen an seinen Rat Cäsar Pflug [Leipzig 1510 Jan. 6]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 18, S. 82–84, S. 83). Vgl. zuletzt einführend Späth, Die Bildlichkeit korporativer Siegel im Mittelalter, S. 12: Die Forschung spreche dem Siegel eine „herausragenden Rolle als Herrschaftszeichen in der Vormoderne“ zu; vgl. allgemein Signori (Hg.), Das Siegel, und speziell zur Siegelführung von Landständen Schöntag, Die Siegelrechtsverleihung an die württembergischen Landstände im Jahr 1595. ‚Protokoll einer Beratung sächsischer Räte mit den Regenten über hessische Regierungsangelegenheiten [Kassel 1510 Ende Jan.]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 21, S. 92–94, S. 94. Abbildung des Siegels in Schenk zu Schweinsberg, Aus der Jugendzeit Landgraf Philipps des Großmütigen, Siegeltafel, Abb. 4. Vgl. auch Puppel, Die Regentin, S. 169; Glagau, Landtagsakten, S. 167.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

doch dem Landkomtur als Prälaten und den beiden Bürgermeistern doppelt so viele Ritter gegenüber – schieden zusätzlich die Städtevertreter noch im Winter 1509 aus dem Regiment aus und wurden durch einen weiteren Ritter, Eitel von Löwenstein, ersetzt. 65 Später wurde neben anderen auch der Landkomtur Dietrich von Cleen, der aus einem rheinischen Adelsgeschlecht stammte, zwar nicht offiziell, aber wohl faktisch aus dem Regiment gedrängt – aus einem ständischen wurde ein rein ritterschaftliches Regiment. 66 Und selbst dieses kleine und ständisch homogene Gremium der „mächtigsten Adelsgeschlechter“ 67 scheint Landhofmeister Ludwig von Boyneburg immer seltener an der Regierung beteiligt zu haben. Aber nicht nur dem Regiment selbst kam sein ‚landständischer‘ Charakter abhanden; wesentlich schwerer wog, dass das Verhältnis zur Gesamtheit der Stände, die das Regiment immerhin gewählt und eingesetzt hatte, sich zunehmend verschlechterte. Der zentrale Vorwurf lautete, dass die Regenten unter Führung des Landhofmeisters die ‚gemeine Landschaft‘ nicht angemessen in die Regierung des Landes einbezogen hätten. Eine solche Beteiligung hätte die Berufung aller Landstände erfordert; da diese jedoch unterblieb, seien Steuern ausgeschrieben worden ohne zimlichen rat gemeiner lantschaft, und auch die Rechnungslegung der Regenten vor den Ständen sei unterblieben. Prinzipiell aber gelte: Die regenten sollen keine wichtige ader dapfer sachen handeln sonder wissen ader willen gemeiner landschaft. 68 Hier wird deutlich, dass die Landstände in ihrer Gesamtheit das Regiment als eine Art von Ausschuss begriffen, der nur die täglichen Geschäfte führen und keine umfassende Entscheidungskompetenz besitzen sollte, sondern in allen wichtigen Fragen einen allgemeinen Landtag zu berufen hatte, weil die Entscheidung der ‚gemeinen Landschaft‘, also den gesamten Landständen, zustand. Die Tatsache, dass die Regenten sich anders verhielten und keine Landtage einberiefen, wurde von der Ständegesamt-

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Vgl. Puppel, Der Kampf um die vormundschaftliche Regentschaft zwischen Landgräfinwitwe Anna von Hessen und der hessischen Ritterschaft 1509/14–1518, S. 252; Glagau, Landtagsakten, S. 46, Anm. 1. Vgl. ‚Die Regenten Dietrich von Cleen und Eitel von Löwenstein an Kurfürst Friedrich von Sachsen. 1513 Aug. 2‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 61, S. 168f. Puppel, Der Kampf um die vormundschaftliche Regentschaft zwischen Landgräfinwitwe Anna von Hessen und der hessischen Ritterschaft 1509/14–1518, S. 253. Beide Zitate: ‚Beschwerden der hessischen Stände. [Felsberg 1514 Jan. 9]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 67, S. 181. Bei den wichtige ader tapfer sachen handelte es sich um Steuerbewilligungen, Kriegserklärungen, Münzveränderungen und Rechnungslegung.

3.1 Die Einungen im Kontext der Vormundschaftskämpfe (1509–1514)

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heit offensichtlich als Verletzung der von ihnen aufgerichteten Ordnung angesehen, wenn sie schrieben, dass der ordenunge und aberede uf dem Spis nicht gelebt werde, do sie das regement gesatzet haben. 69 Das Regiment bezog seine Legitimität, wie oben ausgeführt wurde, aus zwei Quellen, der Wahl durch die Stände und der Einsetzung durch die Obervormünder – eine Konstruktion, die nun zum Problem wurde. Denn die Stände hielten sich für berechtigt, die Abberufung Boyneburgs und der verbleibenden Regenten zu fordern, weil er das von ihnen erteilte ‚Mandat‘ nicht ordnungsgemäß wahrgenommen habe. Angesichts des Verlusts der ständischen Unterstützung berief sich der Landhofmeister nun im Gegenzug mehr und mehr auf seine Einsetzung durch die sächsischen Herzöge, was die Stände noch mehr erboste. 70 Zuletzt behauptete die Ritterschaft gar, dass der hofmeister sich hat horen laissen, er sei nit von der ritterschaft und lantschaft gekorn 71 – die wechselseitige Entfremdung war auf ihrem Höhepunkt angelangt, das Band zwischen der Ständegesamtheit und dem Regiment zerstört. 72 Neben einem unglücklichen Agieren in Fragen der Tagespolitik 73 führten also vor allem die Unfähigkeit bzw. der nicht vorhandene Wille, die Verbindung von Ständegesamtheit und Regiment zu verstetigen, zu einer rapiden Erosion der Machtgrundlagen des Regiments. Aus einem legitimen ständischen Regiment war eine – zumindest in den Augen der Landstände – selbstherrliche, von einer fremden Dynastie gelenkte Herrschaft geworden, die sich von der ‚gemeinen Landschaft‘ zutiefst entfrem-

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‚Beschwerden der hessischen Stände. [Felsberg 1514 Jan. 9]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 67, S. 181. Vgl. Puppel, Die Regentin, S. 176: „Die Stände behaupteten, Boyneburg trete mehr als Vasall Friedrichs des Weisen auf, als ein von ihnen gewählter Landhofmeister Hessens.“ Vgl. auch die Beschwerde der Ritterschaft über die Verschleppung ihrer Beschwerden: So die ritterschaft und lantschaft etwas fur dem regiment zu tunde hab, wohe es dan den regenten nit gefellig ader annemiglich, weise man sie zu den hern von Sachsen, fure sie also umb die wege (‚Beschwerden der hessischen Ritterschaft. [1514 Anfang Febr.]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 72, S. 187f, S. 187f.). ‚Beschwerden der hessischen Ritterschaft. [1514 Anfang Febr.]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 72, S. 187f., S. 188f. Vgl. auch Puppel, Die Regentin, S. 175f.; Rommel III, S. 219f.; Glagau, Landtagsakten, S. 166: „Hatten doch Boyneburg und seine Genossen die Gunst der hessischen Stände verscherzt.“ Vgl. die langwierigen Auseinandersetzungen mit Anna von Braunschweig, die sich im Namen ihres entmündigten Gemahls, Landgraf Wilhelm des Älteren, gegen die Regenten erhob; vgl. dazu Glagau, Anna von Hessen, S. 72–87, und Armbrust, Anna von Braunschweig, Landgräfin zu Hessen.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

det hatte. Die Einung von 1509 hatte nicht zu einer Institutionalisierung der politischen Partizipation der Landstände geführt. 74

3.1.2 Der Kampf um die ‚gemeine Landschaft‘: Die fürstlich-ständische Einung von 1514 Das beste Indiz für die stattdessen eingetretene Entfremdung ist die Tatsache, dass Landgräfin Anna, die nie von ihren Ansprüchen abgelassen hatte, seit dem Winter 1513/14 zuerst einige Regenten und dann sogar große Teil der Stände auf ihre Seite ziehen konnte, um so schließlich doch noch die Regentschaft für ihren Sohn zu übernehmen. 75 Nachdem es im Winter 1513 zu einer Spaltung des Regiments gekommen war und sich einige Regenten der Partei Annas angeschlossen hatten, schrieb die Landgräfin für den 9. Januar 1514 einen Landtag aus, der an ihrem Witwensitz Felsberg stattfinden sollte. 76 Alle überlieferten Quellen zeigen, dass Anna und ihre Berater sehr genau über die Entfremdung zwischen Regiment und geeinten Ständen informiert waren und sich eben diese Situation zunutze zu machen wussten. 77 So erging das Ladungsschreiben nicht allein im Namen der Landgrafenwitwe, sondern der Landtag wurde von ihr in Gemeinschaft mit gut fünfzig Rittern ausgeschrieben. Und da es sich bei dieser Gruppe um 74

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Ein vergleichbarer Fall hatte sich mehr oder weniger zeitgleich in Württemberg ereignet: Auch hier ging es um ein ständisches Regiment, das aufgerichtet wurde, nachdem die Ständegesamtheit auf dem Stuttgarter Landtag von 1498 Herzog Eberhard II. für abgesetzt erklärt hatte. Der hessischen Einung entsprach hier der Esslinger Vertrag von 1492 als funktionales Äquivalent: In diesem war bestimmt worden, dass die 3 stend von prelaten, ritterschaft und lantschaft (‚Der Esslinger Vertrag. 1492 Sept. 2‘, in: Ohr, Kober (Bearb.), Württembergische Landtagsakten, S. xxxxf., S. xxxx) unter bestimmten Umständen berechtigt sein sollten, ein Regiment einzusetzen. Unter Bezug auf diesen Vertrag konstituierten sich die Stände dann auf dem Landtag 1498 als Ständegesamtheit und sprachen von sich als gemainer Landschaft (‚Prälaten, Landhofmeister, Räte und Landschaft, Verschreibung zum Schutz einer neuen Ordnung. Sogenannte erste Regimentsordnung. Stuttgart 1498 März 30‘, in: ebd., S. 23–35, S. 26; vgl. zuletzt Metz, Der Stuttgarter Landtag von 1498 und die Absetzung Herzog Eberhards II.). Und auch in diesem Fall war die Vergemeinschaftung nicht dauerhaft, vgl. dazu Haug-Moritz, Zur Genese des württembergischen Landtags in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Vgl. zum allgemeinen Kontext auch noch Lorenz, Vom herrschaftlichen Rat zu den Landständen in Württemberg. Für die Ereignisgeschichte seit Winter 1513/14 vgl. Puppel, Die Regentin, S. 175–188; Rommel III, S. 221–241; Glagau, Landtagsakten, Nr. 61–132, S. 167–425. Vgl. ‚Landtagsausschreiben der Landgräfin-Witwe Anna und ihrer Anhänger. Rotenburg 1513 Dez. 22‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 64, S. 172f. Vgl. Glagau, Anna von Hessen, S. 99.

3.1 Die Einungen im Kontext der Vormundschaftskämpfe (1509–1514)

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Teilnehmer der Einung von 1509 handelte, wurde in der Ausschreibung auch an die Einung selbst erinnert, womit der Besuch des Landtags indirekt als Pflicht aller Einungsgenossen hingestellt und auf diese Weise der Verpflichtungscharakter der Einung gegen die Regenten gekehrt werden sollte. 78 Auch die auf dem Landtag von Anna persönlich gehaltene Rede und ein von ihr vorgelegtes Beschwerdeverzeichnis zeigen, dass die Landgräfin konsequent die Strategie verfolgte, Landschaft und Regiment zu trennen und erstere auf ihre Seite zu ziehen: dan was sich vor dem vertrage [zu Marburg] begeben und uns bekegent hait, das ist mit unwarlichem bericht und furbringen mit euch gemacht, und seit durch etliche verfuret, die euch kegen uns bewegt und vil zugesagt haben, der euch darnach nihe keins gehalten; und wir wissen wol, das alles ir vor gut angesehen und gemacht habt, das derselbigen keins durch dieselbigen volnzogen ist. Darumb wullen wir dasselbige kegen euch semptlich und sonderlich nummermehir gedenken und euch allzeit ein g. frau sein, wan wir sein mit euch genzlich und gutlich vertragen. 79

In dieser Darstellung sind die eigentlich wohlmeinenden Stände von den Regenten hintergangen und verführt worden, weshalb die Landgräfin sie von aller Schuld ausnimmt. Die Strategie ging auf, denn am Ende der Versammlung in Felsberg, die wohl nicht sehr gut besucht war, 80 stand der Beschluss, einen weiteren Landtag nach Treysa einzuberufen, um den Regenten Gelegenheit zu geben, Rechenschaft abzulegen. 81 Auf diesem Landtag, der von den Wettinern im Vorfeld verboten und von

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‚Landtagsausschreiben der Landgräfin-Witwe Anna und ihrer Anhänger. Rotenburg 1513 Dez. 22‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 64, S. 172f., S. 173: das wollen wir von der ritterschaft uns in vermog gescheener pflicht uf dem Spies, die wir euch und ir uns getan, der wir euch hiemit ermanen und erfordern, zu euch genzlich verlassen. ‚Beschwerden der Landgräfin-Witwe Anna gegen die Regenten von Hessen. [Felsberg 1514 Jan. 9]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 66, S. 176–180, S. 177. Vgl. auch ‚Rede der Landgräfin-Witwe Anna auf dem Landtage zu Felsberg. [1514 Jan. 9]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 65, S. 174–176. Der Vertrag von Marburg beendete im August 1510 die erste Phase der Vormundschaftskämpfe zugunsten des ständischen Regiments. Gemeint ist also der Zeitraum von Juli 1509 bis August 1510. Vgl. ‚Die hessischen Stände an den Regenten Hermann Schenk zu Schweinsberg. Felsberg 1514 Jan. 11‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 68, S. 181f., wo die Rede ist von einen iden von der lantschaft, der dazumale zu Velsperg nit erschienen sei. Vgl. auch Rommel II, S. 221. Der Landtag sollte am 6. Februar in Treysa eröffnet werden. Ebenso wurde beschlossen, eine Gesandtschaft an die Wettiner abzufertigen, welche die Beschwerden gegen die Regenten vortragen sollte; vgl. Glagau, Landtagsakten, S. 167, und Ders., Anna von Hessen, S. 102.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

den verbliebenen Regenten gemieden wurde, 82 wurde das neue Bündnis zwischen den Ständen und der Landgräfin formalisiert – und zwar wieder in Form einer Einung. 83 Mit der am 10. Februar aufgerichteten Einung wurde aber nicht nur der Form nach an die Einung von 1509 angeschlossen, sondern auch inhaltlich – indem man sie feierlich aufhob: Derhalb hinfurter dieser unser gegenwartigen vorbruderunge, einigunge und declaration genzlich gelebt werden und der vorgerurte, vormeinte, vorsiegelte und aufgerichte einigungsbrief, so zu Cassel ligen, hiemit tot, kraftlos bei und abgehen soll. 84 Das neue Bündnis sollte also keine ‚Gegen-Einung‘ sein, sondern an die Stelle der ursprünglichen Einung von 1509 treten, womit Anna indirekt deren Legitimität als Ausdruck des Willens der Ständegesamtheit akzeptierte. Deutlich wird diese Absicht, die alte Einung ablösen und ersetzen zu wollen, etwa daran, dass ganze Abschnitte des dispositiven Teils von 1509 mehr oder weniger wörtlich der neuen Urkunde inseriert wurden. 85 Zuletzt wird diese Absicht aber auch explizit gemacht, wenn davon gesprochen wird, dass die pflichten und eiden auf den Spys getan, und jetzt alhie zu Dreisa vorneuert würden – die Einung von 1514 erneuerte und präzisierte die Einung von 1509. 86 Zu den ursprünglichen Einungsgenossen (grafen, praelaten, ritterschaft, stete des lobl. furstentumbs zu Hessen und alle eingeleibten und zugewanten grafschaften desselbigen furstentumbs) trat nun also Anna von gotts gnaden geporne herzogin zu Meckelnburg, lantgrafin zu Hes-

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Vgl. Puppel, Die Regentin, S. 179. Vgl. ‚Waß Landtgraff Philips des Eltern Fraw Mutter mit Praelaten, Ritter und Landtschafft zu Treyße Anno 1514. uff S. Apolonien tag sich vergleichen hat‘, in: Rebelthau, Die zwei ältesten schriftlichen Grundlagen der landständischen Verfassung in dem Fürstenthum Hessen und den anhangenden Grafschaften, S. 256–269; gekürzter Druck mit Inhaltsübersicht: ‚Einung der Landgräfin Anna und der hessischen Stände. Treysa 1514 Febr. 10‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 78, S. 192–198. Auch diese Einung wurde schon in der Frühen Neuzeit veröffentlicht: ‚Waß Landtgraff Philips des Eltern Fraw Mutter mit Praelaten, Ritter und Landtschafft zu Treyße Anno 1514. uff S. Apolonien tag sich vergleichen hat‘, in: [Feder], Entdeckter Ungrund derjenigen Einwendungen, welche […] gegen des hohen Teutschen Ritter-Ordens Löbl. Balley Hessen und insbesondere der Land-Commende bey Marburg und Commende Schiffenberg wohlhergebrachten Immedietaet, Exemtion und Gerechtsamen, fürgebracht worden, Beilage Nr. 80 (Dieser Druck ist die Vorlage für Rebelthaus Edition; Glagau bezieht sich auf eine im Staatsarchiv Marburg befindliche Kopie). ‚Einung der Landgräfin Anna und der hessischen Stände. Treysa 1514 Febr. 10‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 78, S. 192–198, S. 196. Vgl. Glagau, Landtagsakten, S. 192, und Glagau, Anna von Hessen, S. 103. ‚Einung der Landgräfin Anna und der hessischen Stände. Treysa 1514 Febr. 10‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 78, S. 192–198, S. 194. Zur Präzisierung vgl. ebd., S. 196.

3.1 Die Einungen im Kontext der Vormundschaftskämpfe (1509–1514)

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sen. Die einleitende narratio ähnelt stark der Version von 1509 mit dem einzigen Unterschied, dass die negative Schilderung der letzten Regierungsjahre Wilhelms II. nicht wiederholt wird. 87 Danach bekennen alle Einungsgenossen gemeinschaftlich, eine gotlich, ehrlich, rechtmessige lobliche voreinigung und freuntschaft vor uns, gnante lantgrefin, unsere rete, diener und untertonen und unsere andere nachkommene, erben und erbnemen gemacht und aufgericht zu haben. 88 Damit erhob auch die neue Einung den Anspruch, Ausdruck des Willens der ‚gemeinen Landschaft‘ zu sein und für das gesamte Fürstentum Hessen zu gelten; die Urkunde wurde von der Landgräfin und jeweils im Namen ihrer Stände von zwei Grafen, zwei Prälaten, neunzehn Rittern und zehn Städten besiegelt. 89 Bis hierher überwiegen die Ähnlichkeiten mit der ursprünglichen Einung; der dispositive Teil allerdings zeigt erhebliche Unterschiede: 1509 wurde ein sehr allgemein gehaltenes Defensivbündnis geschlossen, das auf die Bildung eines gesamtständischen Akteurs und der Legitimationsbasis für die kommende Auseinandersetzung mit der Landgräfin zielte. Im Gegensatz dazu wurden 1514 nun zusätzlich – und möglicherweise in Reaktion auf die als illegitim empfundene Verselbstständigung des Regiments – die politischen Teilhaberechte der Landschaft detailliert aufgeführt und die institutionellen Rahmenbedingungen für ihre Ausübung konkret beschrieben. Ausgangspunkt war auch hier die Vorstellung, dass wichtige Fragen der Landesregierung nicht ohne Beteiligung der Landschaft entschieden werden können, egal wer die Regentschaft stellt. Dieses von den Ständen schon auf dem Landtag zu Felsberg vorgebrachte Grundprinzip wurde nun ausdrücklich in die Einung aufgenommen: Es

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Wiederholt wird nur die allgemeine Einsicht, dass durch einigkeit, friheit und hanthabunge der gerechtigkeit der almechtige got hochlich geehrt, gelobt, auch lant, leute, stete und communen geistlichs und weltlics standes in gemeinem nutz, ufnemen und wolfart erhocht und gebessert und alle erbarkeit hohes und niedrigs stands erhalten werden (ebd., S. 193). Alle Zitate ebd. Vgl. ebd., S. 197. In diesem Kontext wird auch die ‚Mandatsformel‘ (bevelich und mandat derselben und aller einwoner des furstentumb zu Hessen (ebd.)) wiederholt. Vgl. dazu oben 3.1.1. und auch Glagau, Landtagsakten, S. 198, Anm. 1., wo ein vorzeichnus der furstin, grafen, praelaten ritterschaft und stete, so auf gemeinen gehaltenen lanttagen zu Velspergk und Dreisa die einigunge und was daselbst gehandelt worden ist, zu halten zugesagt und zugeschrieben haben abgedruckt ist. Dieses führt neben der Landgräfin immerhin sechs Grafen, sechs Prälaten, über zweihundert Ritter und vierzig Städte auf. Der Landkomtur wird in diesem Verzeichnis allerdings als Ritter, nicht als Prälat geführt. – Der Anspruch auf den legitimierenden Titel der ‚gemeinen Landschaft‘ wurde jedoch von den Regenten bestritten.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

soll auch von denjenigen, so zu zeit unsers sons und andere[r] unser g. hern und unmundigen fursten in regirunge werden, keine wichtige oder grosse sachen on gemeiner lantschaft wissen und willen gehandelt werden. Auf dieser Grundlage wurden dann drei der ‚wichtigen und großen Sachen‘ konkretisiert und klargestellt, dass ohne rate, wissen und vorwilligunge gemeiner lantschaft erstens weder Steuern erhoben, noch zweitens Kriege und Fehden geführt, noch drittens die Münzordnungen verändert werden dürften. 90 In allen drei Fällen stand allein der Landschaft die Entscheidung zu; intendiert war ein votum decisivum, wie die Verwendung des Wortes vorwilligunge signalisiert. 91 Aber die Einung etablierte nicht nur umfassende und für die wichtigsten Kernbereiche auch präzise bestimmte Partizipationsrechte, sondern schrieb auch die notwendigen institutionellen Rahmenbedingungen vor, die eine kontinuierliche Ausübung dieser Rechte sicherstellen sollten. Zunächst wurde verordnet, dass das Regentschaftskollegium jährlich gnugsame und vollenkomne rechnunge in beisein etzlicher von den praelaten, ritterschaft, steten darzue verordenet tuen solle. Wichtiger noch als die jährliche Rechenschaftspflicht der Regenten gegenüber der Landschaft war aber die zweifache Aufwertung der Institution des allgemeinen Landtags. Zum einen erhielten die Landstände faktisch ein bedingtes Selbstversammlungsrecht: Die Einung setzte einen Ausschuss ein, bestehend aus einem Prälaten, drei Rittern und zwei Bürgermeistern, 92 dessen Mitglieder von solchen Einungsgenossen angerufen werden konnten, die sich in ihren Rechten verletzt fühlten. Jedes der Mitglieder hatte das Recht, einen allgemeinen Landtag zu berufen, wenn es die Angelegenheit für wichtig genug erachtete. Und da die Einung ihrem Selbstverständnis nach alle politischen Akteure des Fürstentums Hessen vereinigte, kam diese Befugnis, obwohl sie der Form nach dem Institut des genossenschaftlichen Schiedsgerichts oder Austrags entsprang, einem Selbstversamm-

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Vgl. ‚Einung der Landgräfin Anna und der hessischen Stände. Treysa 1514 Febr. 10‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 78, S. 192–198, S. 194: 1) keine schatzunge, lantsteuer oder beschwerunge; 2) kein kreig, vhede oder aufrur; 3) kein ander munz. Zu beachten ist, dass hier von der älteren Landsteuer die Rede ist, die zwar jetzt von der Ständegesamtheit bewilligt, aber auch weiterhin nur von Städten und Ämtern bezahlt werden sollte. Vgl. Ruppersberg, Die hessische Landsteuer bis zum Jahre 1567, S. 29. Eingesetzt wurden: Landkomtur Dietrich von Cleen (Prälat), Erbmarschall Hermann Riedesel (Ritter), Kraft von Bodenhausen (Ritter), Wilhelm von Dörnberg (Ritter) und die namentlich nicht genannten Bürgermeister von Marburg und Eschwege (vgl. ‚Einung der Landgräfin Anna und der hessischen Stände. Treysa 1514 Febr. 10‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 78, S. 192–198, S. 194).

3.1 Die Einungen im Kontext der Vormundschaftskämpfe (1509–1514)

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lungsrecht der Landstände gleich, denn die Regenten bzw. die Landgräfin konnten ohnehin einen Landtag einberufen. 93 Zum andern wurde die grundsätzliche Periodizität des allgemeinen Landtags vereinbart, denn von nun an sollte jedes Jahr ein gemeiner lantstag stattfinden. Für den Fall, dass ehaftige mirchliche vorhinderunge vorhanden weren, wurde zwar die Möglichkeit vorgesehen, den Landtag in einem bestimmten Jahr nicht einzuberufen, aber nur unter der strengen Maßgabe, dass er dann im nächstfolgenden Jahr zwingend tagen müsse. Um die Periodizität auch wirklich sicherzustellen, wurde gleichfalls bestimmt, dass die Landtage in Zukunft nicht mehr von der Landgräfin, sondern durch die obgemelten sechs oder je einem von irer aller wegen ausgeschrieben werden sollten. Dem Ausschuss und jedem seiner Mitglieder war daher nicht nur die Einberufung von außerordentlichen Landtagen zu jeder Zeit zugestanden, sondern auch die Ausschreibung der ordentlichen Landtage anvertraut worden – die Einung sah eine maximale Autonomie der ständischen Institutionen vor, die der Kontrolle der Regentschaft dienen sollte. 94 Damit beschrieb die Einung auf normativer Ebene ein institutionelles Arrangement, das im Prinzip tauglich war, in der Praxis eine Entwicklung hin zu einer landständischen Verfassung einzuleiten und ihr als Ausgangspunkt und normatives Fundament zu dienen. Zunächst aber standen alle diese Rechte und ihre institutionellen Sicherungen nur auf dem Papier, denn zum Zeitpunkt der Einung waren die Regenten immer noch im Amt und genossen die Unterstützung der vom Kaiser bestätigten wettinischen Obervormünder und eines Teils der Stände. 95 Sollte das beschriebene institutionelle Arrangement also praktisch wirksam werden, mussten die Landgräfin und der mit ihr verbündete Teil der Landstände zunächst die alten Regenten verdrängen und ein eigenes Regiment einsetzen. Die Einung musste sich zuallererst als das einigende Band einer handlungsfähigen politischen Aktionspartei bewähren, bevor überhaupt die Chance bestand, dass sie zu einer ‚Verfassungsalternative‘ (Willoweit) werden konnte. 96 Die erste Bewährungsprobe gingen die neuen Bundesgenossen unverzüglich an. Noch am 11. Februar und damit nur einen Tag nach der 93

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Vgl. ebd., S. 194. Zusätzlich wurde auch explizit festgeschrieben, dass die Ausschussmitglieder von der gemeinen Landschaft zu wählen seien. Vgl. allgemein Meurer, Die Entwicklung der Austrägalgerichtsbarkeit bis zur Reichskammergerichtsordnung von 1495. ‚Einung der Landgräfin Anna und der hessischen Stände. Treysa 1514 Febr. 10‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 78, S. 192–198, S. 195. Vgl. Puppel, Die Regentin, S. 182. Vgl. Glagau, Anna von Hessen, S. 107, der von der Einung treffend als dem „Kitt des Bündnisses zwischen Anna und den Ständen“ spricht.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

Aufrichtung der Einung traten Landkomtur Dietrich von Cleen und Eitel von Löwenstein auch offiziell von ihrem Amt als Regent zurück – ein klares Zeichen an die Wettiner, dass das neue Bündnis die Ablösung des bisherigen Regiments anstrebte. 97 In den folgenden Wochen versuchten beide Parteien zum einen, möglichst viele hessische Ritter, Äbte, Städte und Amtleute auf ihre Seite zu ziehen, wobei der Landhofmeister sein Machtzentrum in Kassel hatte, während die Landgräfin und ein ihr zur Seite gestellter ständischer Interims-Ausschuss vor allem von Marburg aus wirkten. 98 Zum andern wurden auch nicht-hessische Fürsten um Hilfe ersucht: Anna wandte sich an ihre mecklenburgischen Verwandten, während Boyneburg sich weiterhin auf die sächsischen Herzöge stützte. Diese setzen nun für März 1514 einen Landtag in Kassel an, der auch tatsächlich – wenngleich nach einigen Problemen im Vorfeld – von allen Parteien besucht wurde, da die Partei der Landgräfin die Obervormundschaft der Wettiner bisher nicht in Frage gestellt, sondern sich nur gegen das Regiment unter der Führung Boyneburgs gewandt hatte. 99 Der Landtag begann nun mit einem Streit darüber, welche der beiden Parteien legitimerweise als ‚gemeine Landschaft‘ auftreten dürfe; ein Streit, der kaum vermeidbar war, fanden sich doch auf beiden Seiten 97 98

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Vgl. ‚Landkomtur Dietrich von Cleen an die Wettiner. Treysa 1514 Febr. 11‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 80, S. 200f. (Cleen) und S. 201, Anm. 1 (Löwenstein). Vgl. die Dokumente in Glagau, Landtagsakten, Nr. 81–109, S. 201–228, und die Darstellung in Ders., Anna von Hessen, S. 108–331. Laut ‚Der Ausschuss der hessischen Stände an die Grafen von Isenburg. Treysa 1514 Febr. 11‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 81, S. 201, handelt es sich bei dem Ausschuss um Kraft von Bodenhausen, Heinz von Eschwege, Philipp Meisenbug, Wilhelm von Dörnberg, Philipp von Nordeck genannt Brune und Kurt von Dernbach. Laut ‚Der Ausschuss der hessischen Stände an Hans von Berlepsch den Älteren. Felsberg 1514 Febr. 19‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 97, S. 212, gehörten auch die Städte Eschwege und Greifenstein dazu. Ob es sich um einen abschließend eingesetzten oder einen ad hoc zusammengerufenen Ausschuss handelte, konnte nicht festgestellt werden. – Im Bemühen, die Kontrolle über das Land zu erlangen, setzten beide Seiten die verschiedensten Mittel ein und schreckten wohl auch vor Zwang und Gewaltandrohungen nicht zurück. So berichtete beispielsweise der Marburger Rentmeister Ludwig Ort an die Regenten, er sei zur Beschwörung der Einung gezwungen worden (‚Ludwig Ort, Rentmeister zu Marburg, an die Regenten von Hessen. [Marburg] 1514 Febr. 15‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 91, S. 208f.). Da der Schiedstag in Kassel stattfinden sollte, dem Machtzentrum des Landhofmeisters, mussten erst Fragen des Geleits geklärt werden; vgl. ‚Landgräfin Anna und die hessischen Stände an die Wettiner. Felsberg 1514 März 9‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 112, S. 235–237, und ‚Protokoll der Verhandlungen, die zwischen der Landgräfin-Witwe Anna und den Herzögen von Sachsen vor der Eröffnung des Kasseler Landtages über die Geleitfrage gepflogen worden sind. [Kassel 1514 März 9–11]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 113, S. 237–242.

3.1 Die Einungen im Kontext der Vormundschaftskämpfe (1509–1514)

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Teile der Landstände wieder. Nachdem nun zu Beginn der Verhandlungen die Landgräfin und ihr Sachwalter wie selbstverständlich im Namen der Ständegesamtheit gesprochen hatten, thematisierte der Vertreter der Regenten dieses Vorgehen ausdrücklich und verwahrte sich dagegen, dan sei wirn billicher eine gemeine lantschaft, aus deme das alhir 4 grafen, der mehre teil von den prelaten, uber 60 von der ritterschaft, von den steten Cassel als ein heubtstadt des lands mit etlichen andern anhangenden steten vorhanden sein; darumb wurden sei billich eine gemeine lantschaft genannt. Es wire auch ir teil grossers und hochers stands, auch die eldisten und mehrer teil von der lantschaft; so hetten sei die einunge und vorpfleichtunge am Spiess […] bisher als frome grafen, ritter und stende gehalten, darum mochten sei wol erleiden, das sei sich nicht eine gemeine lantschaft nenten, domit nicht geacht ader dofur gehalten, das [sie] inen beistendik ader iren clagen anhengik wern, wollen itzt dovon bezeugt haben, das sei in iren hendeln nicht gehe[l]len und das jener teil nicht die lantschaft sei. 100

Zwei Argumente werden ins Feld geführt, die belegen sollen, dass allein die Regenten und der sie unterstützende Teil der Landstände sich als ‚gemeine Landschaft‘ bezeichnen dürfen. Angesichts der Tatsache, dass die Landstände faktisch gespalten waren, wird von Seiten der Regenten erstens behauptet, auf ihrer Seite stünde der mehre teil, das heißt die Mehrheit der Landschaft sowohl im quantitativen Sinne der maior pars (4 grafen, der mehre teil von den prelaten …) als auch im qualitativen Sinne der sanior pars (grossers und hochers stands, auch die eldisten). 101 Zweitens wird auf 1509 verwiesen und behauptet, dass nur diese erste Einung maßgeblich sei. Beide Argumente greifen dabei ineinander: Ausgangspunkt ist die Einung von 1509, die als unumstrittene Legitimationsgrundlage des Regiments und authentischer Willensausdruck der gemeinen Landschaft hingestellt wird. Diese Grundlage gelte weiterhin unverändert, da zum Zeitpunkt des Landtags die Mehrheit der Landschaft dieser Einung anhänge. Also könne die Partei der Landgräfin keinen Anspruch auf die Bezeichnung ‚gemeine Landschaft‘ machen, denn – so der Schluss – die aktuelle Mehrheit beweise gleichsam rückwirkend die fortdauernde Geltung der Einung von 1509. Die Partei der Landgräfin sah das naturgemäß

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‚Protokoll des Landtages zu Kassel. Kassel 1514 März 13–24‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 114, S. 242–320, S. 251. Zum Mehrheitsprinzip vgl. zuletzt Glomb, Sententia plurimorum; vgl. auch Ganzer, Unanimitas, maioritas, pars sanior; Schlaich, Die Mehrheitsabstimmung im Reichstag zwischen 1495 und 1613; Ders., Maioritas – protestatio – itio in partes – corpus Evangelicorum.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

anders und so entgegnete Balthasar Schrautenbach, der „Hauptratgeber und Sprecher der Landgräfin“, 102 es sei ime durch die lantgrefin und lantschaft zu sagen bepholen wurden, das sei ein gemeine lantschaft sein, versehen sich auch, sei sollen billich dorvor gehalten werden, dan der mehrer teil stehe bei inen, nemlichen 4 grafen, 46 stete und vil von der ritterschaft. Es haben auch der graf von Waldeck der mitler, desgleichen 4 von prelaten der lantgrafin zugesagt; so sein die von der ritterschaft vil elders herkommens, auch grossers stands. […] Es hetten sich auch die von der lantschaft, [die] den tak am Spiss gehalten, zusamengeschlagen; aldo wern sei eine gemeine lantschaft genent wurden; weil dan nun der mehrer teil derselbigen itzt bie inen stunde und doselbst am Spisse durch der curfursten von Sachssen statliche botschaft inen vortrustung beschehen wire, sie bie iren alten herkommen zu hanthaben, vorsehen sei sich nochmals, sei wurden billicher wan jener teil eine gemeine lantschaft genennet und geheissen. 103

Schrautenbach bestreitet die Darstellung der Gegenseite nicht einfach rundweg; er gibt sogar zu, dass die Einungsgenossen von 1509 sich zu Recht als ‚gemeine Landschaft‘ bezeichnet hätten. Allerdings sieht er die quantitative und qualitative Mehrheit auf Seiten der Landgräfin und kann so den Schluss seiner Gegner einfach umdrehen: Gerade weil die Mehrheit der Landschaft zur Landgräfin halte, folge daraus, dass nunmehr die von ihnen neu aufgerichtete Einung von 1514 maßgeblich sei – die erste Einung sei zwar durchaus legitim gewesen, gelte aber nicht mehr, weil sie seitens der Mehrheit der Ständegesamtheit durch eine neue Fassung ersetzt worden sei. Hans Glagau hat diesen Streit als „Vorpostengefecht“ bezeichnet, der sich vor den „eigentlichen Verhandlungen“ 104 zugetragen habe. Entgegen dieser Einschätzung ist gerade hier der Kern der Auseinandersetzung berührt. Es ist mitnichten ein Kampf um ‚leere‘ Worte oder ‚bloße‘ Titel, sondern es handelt sich im Gegenteil um den Kampf darum, wer die Position des legitimen Repräsentanten des Gemeinwesens und des Gemeinwohls einnehmen kann. Dieser Kampf ist im Wortsinne ‚grundlegend‘, denn das ‚eigentliche‘ Problem der Regentschaft kann überhaupt nur behandelt werden, wenn unterschieden werden kann, wer allgemeine und wer partikulare Interessen verfolgt. In den Augen der hessischen politischen Eliten des frühen 16. Jahrhunderts gab es nur zwei Akteure, die diese Position berechtigterweise 102 103 104

Schenk zu Schweinsberg, Aus der Jugendzeit Landgraf Philipps des Großmütigen, S. 87. ‚Protokoll des Landtages zu Kassel. Kassel 1514 März 13–24‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 114, S. 242–320, S. 257. Glagau, Anna von Hessen, S. 121.

3.1 Die Einungen im Kontext der Vormundschaftskämpfe (1509–1514)

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einnehmen konnten: der Landgraf und die gemeine Landschaft – und nicht etwa die Ritterschaft oder die Landgräfin oder die erbverbrüderten Fürsten. Allerdings konnten beide ihre Rolle nicht ausfüllen: Der Landgraf fiel aufgrund seiner Unmündigkeit als handelnder Repräsentant des Gemeinwohls faktisch aus; gleichzeitig war die gemeine Landschaft, die Ständegesamtheit, gespalten, was ihre Handlungsfähigkeit ebenfalls in Zweifel zog. 105 Aus diesem Grund konzentrierte sich der politische Streit auf die Frage, wer im Namen der gemeinen Landschaft sprechen konnte. Man hat es hier mit einer ‚zweistöckigen‘ Repräsentation zu tun: Die gemeine Landschaft galt unstrittig als Repräsentantin des Gemeinwohls; strittig war hingegen, welche der beiden Fraktionen nun wiederum die gemeine Landschaft repräsentierte. Die Frage war also: Welche Fraktion (die Annas oder die Boyneburgs) repräsentiert den Repräsentanten des Gemeinwohls (die gemeine Landschaft)? 106 In diesem Kontext spielen die Einungen eine wesentliche Rolle, denn letztlich sind sie das ausschlaggebende Kriterium, anhand dessen man entscheiden kann, welche Fraktion als gemeine Landschaft anzusehen ist. Die Behauptung nämlich, die Mehrheit der Stände auf seiner Seite zu haben, stärkte zwar ebenfalls die eigene Legitimität, fungierte aber vor allem als Mittel, die fortdauernde Gültigkeit der jeweils favorisierten Einung plausibel zu machen, auf die man sich als Legitimationsgrundlage stützte. Der Streit um die Bezeichnung ‚gemeine Landschaft‘ verweist also in aller Deutlichkeit darauf, dass es allein die Gesamtheit der Landstände war, die 105

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Das gilt nur für die Handlungsebene; in symbolischer Hinsicht, also in Bezug auf die Legitimation, bleibt jede Regentschaft auf den Fürsten als Legitimationsgrundlage angewiesen, da sie ‚für den‘ Regenten handelt. Für einen ganz ähnlich gelagerten Konflikt in Ostfriesland vgl. Tieben, Politik von unten, S. 586–589. Überhaupt belegt dieser Streit überaus anschaulich den fiktiven Charakter politischer Repräsentation: Jedermann kann sehen, dass keine der beiden Parteien ‚wirklich‘ die gemeine Landschaft ‚ist‘, denn in beiden Fraktionen finden sich Landstände. Es geht vielmehr darum, dass beide Parteien beanspruchen, behandelt zu werden, als ob sie die gemeine Landschaft seien – sie beanspruchen einen fiktiven, aber gerade dadurch wirksamen Status. Metaphorisch gesprochen: Beide Parteien fordern von den Anwesenden, vor allem den Wettinern, nicht ihren eigenen Augen zu trauen (mit denen sie sehen, dass keine der Parteien die Landschaft ‚ist‘), sondern den Worˇ zek, ˇ ten der Parteien (die im Gegenteil behaupten, die Landschaft zu sein). Vgl. Zi Die Tücke des Subjekts, S. 450: „ ‚Symbolische Wirksamkeit‘ betrifft somit den Punkt, an dem ich, wenn der Andere der symbolischen Institution mich vor die Wahl stellt: ‚Wem glaubst du? Meinen Worten oder deinen Augen?‘, ohne zu zögern, seine Worte wähle, das faktische Zeugnis meiner Augen außer Acht lasse.“ – Und insofern wurde in diesem Fall die symbolische Wirksamkeit verfehlt, denn die Wettiner glaubten ihren Augen und thematisierten die Nicht-Einigkeit der Landschaft im Abschied des Landtags. Vgl. ‚Protokoll des Landtages zu Kassel. Kassel 1514 März 13–24‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 114, S. 242–320.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

als legitimer Träger politischer Teilhaberechte galt, und in diesem Kontext auch auf die herausragende Funktion der Einungen, mittels derer eben jene gemeine Landschaft überhaupt erst wirksam instituiert wurde. 107 Die Wettiner tendierten nun dahin, sich auf die Seite der Regenten zu schlagen: Schon in seiner Eingangsrede sprach der sächsische Rat Friedrich Thun die Landgräfin und ihre Verbündeten als diejenigen an, die sich gemeine lantschaft nenten; eine Formulierung, die sofort heftigen Protest nach sich zog, was nochmal zeigt, wie wichtig diese Frage war. 108 Aber auch die inhaltlichen Verhandlungen gestalteten sich nicht nach den Vorstellungen Annas und ihrer Verbündeten, denn der Erfüllung ihrer Kernforderungen – ubirantwortung der fursten und entsetzunge der regenten 109 – verweigerten sich die Wettiner konsequent. Als sich abzeichnete, dass keine inhaltliche Einigung über die vorgelegten Beschwerden zu erzielen war, erließen die sächsischen Vormünder einseitig einen Abschied, in dem fast alle inhaltlichen Forderungen der Partei der Landgräfin abgelehnt wurden. Begründet wurde dieses Festhalten am status quo mit dem Verweis auf den Streit um die legitime Repräsentation: Die neue Einung vom Februar 1514 hätten nämlich etliche grafen, prelaten, ritterschaft und von steten nicht […] vorwilligen wollen, und aufgrund dessen sei zwuschen den stenden des furstentumbs Hessen ein zwiespeldikeit erwachsen, also das sie nicht semptlich bei einander als ein gemeine lantschaft stunden. 110 In dieser Situation sei es besser abzuwarten, bis unter den Landständen wieder Einigkeit herrsche. Sollte das der Fall sein, seien die Wettiner bereit, das Regiment neu zu ordnen – bis auf weiteres jedoch solle das alte Regiment unter Boyneburg im Amt bleiben. 111 107

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Mit anderen Worten: Gestritten wurde um die symbolische Macht, den sozialen Raum kategorisieren zu können, ein Konflikt, der dem Konflikt um die instrumentelle Macht, also die Verteilung der Entscheidungskompetenzen, notwendigerweise vorausging. In Frage stand, wer in der Lage war, seine Fraktion durch symbolisch-performatives ‚Benennen‘ in einen Repräsentanten der gemeinen Landschaft zu verwandeln. ‚Protokoll des Landtages zu Kassel. Kassel 1514 März 13–24‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 114, S. 242–320, S. 249; vgl. auch Glagau, Anna von Hessen, S. 121. ‚Protokoll des Landtages zu Kassel. Kassel 1514 März 13–24‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 114, S. 242–320, S. 316. Gemeint waren Landgraf Philipp und Landgraf Wilhelm der Ältere. Ebd., S. 317. Des weiteren wurde geboten, mit der vorbundtnis bis zu ldg. Philipssen mundigen jaren stille zu stehen, domit die lantschaft, wie obgmelt, in eimutigkeit moge gefurt werden. Die Formulierung von Puppel, Die Regentin, S. 181: „Die Treysaer Einung verboten sie kraft ihres kaiserlich bestätigten Amtes als Obervormünder“, scheint mir angesichts des Originaltextes den Verbotscharakter zu sehr zu betonen. Im Detail kündigte der Abschied an, dass im Juni 1514 ein weiterer Landtag in Schmalkalden stattfinden sollte, auf dem ein neues Regiment bestellt und die Rechnung der Regenten abgehört werden sollte.

3.1 Die Einungen im Kontext der Vormundschaftskämpfe (1509–1514)

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Hätten Anna und ihre Parteigänger den Abschied vom 24. März 1514 akzeptiert, wären sie ihrer Legitimationsbasis verloren gegangen. Daher kann es nicht überraschen, dass nun alles sehr schnell ging: Die Landgräfin verweigerte dem Abschied noch am selben Tag im Namen der Landschaft ihre Zustimmung; 112 am folgenden Tag sagten sich dann die Landstände von allen Verpflichtungen gegenüber den Wettinern los; gleichzeitig trat der Landhofmeister mit den verbliebenen Regenten zurück. 113 Am 28. März wurde dann gemeinschaftlich von Anna von gots gnaden geb. herzogin zu Mecklenburg, lantgrefin zu Hessen und den stenden gemeiner lantschaft des furstentumbs zu Hessen eine Proklamation veröffentlicht, in der sie das Regiment Boyneburgs für abgesetzt erklärten und ein ander und besser ordnung versprachen, die sie durch ein gemeine versamelung der lantschaft statlich verordenen wollten. 114 Als Anna dann am 31. März schließlich sogar in Kassel einzog, dem ehemaligen Machtzentrum des inzwischen abgereisten Landhofmeisters, hatte ihre Partei in kaum einer Woche alle sich noch widersetzenden Burgen und Städte erobert und das gesamte Fürstentum unter ihre Kontrolle gebracht. 115 Der in der Proklamation vom 28. März angekündigte Landtag wurde dann einen knappen Monat später eröffnet, am 24. April in Homberg. 116 Zentrales Ergebnis der Beratungen war, wie ebenfalls in der Proklamation angekündigt, die Aufrichtung eines neuen Vormundschaftsregiments: Es wurden fünf verordente rete des furstentums Hessen gewählt, 117 die mit 112

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‚Protokoll des Landtages zu Kassel. Kassel 1514 März 13–24‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 114, S. 242–320, S. 319; vgl. für das folgende auch Puppel, Die Regentin, S. 181. Vgl. ‚Die hessischen Stände an den Kurfürsten Friedrich und die Herzöge Johann und Heinrich von Sachsen. Felsberg 1514 März 25‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 118, S. 324f.; Die Abdankung der Regenten wird erwähnt in ‚Werbung sächischer Räte bei der Landgräfin Anna und den hessischen Ständen. [Kassel 1514 März 27]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 120, S. 325–327, S. 326. ‚Proklamation der Landgräfin Anna und der hessischen Stände an die Einwohnerschaft Hessen. Marburg 1514 März 28‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 121, S. 327f. Zur Übergabe Kassels vgl. ‚Die sächischen Räte Wolf von Weissbach, Christoph von Taubenheim, Günther und Rudolf von Bünau an die Wettiner [1514 Anfang April]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 125, S. 334–337; zur Übernahme der Kontrolle im restlichen Fürstentum vgl. Glagau, Anna von Hessen, S. 132–138, und Puppel, Die Regentin, S. 181. Vgl. ‚Sittich von Berlepsch an Herzog Georg von Sachsen. [Homberg 1514 Ende April]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 131, S. 345–349; vgl. auch Glagau, Anna von Hessen, S. 138–142, und Puppel, Die Regentin, S. 181f. Die Landgräfin selbst wurde, soweit aus dem Bericht Sittichs von Berlepsch hervorgeht, nicht eigens vom Landtag zur Vormundschaft berufen; der Bericht vermittelt vielmehr den Eindruck, als sei die Beteiligung Annas am neuen Regiment selbstverständlich. Aus Sicht der Landgräfin war das allerdings nur folgerichtig, da sie ihren Anspruch immer

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

bisein und wissen meiner g. frauen den fursten mit verwaltunge irer f. g. landen und leuten sollen getreulich vorsein. 118 Des weiteren wurde ein ständischer Ausschuss eingesetzt, der nach ständischen und herrschaftsgeographischen Kriterien besetzt wurde: Von den insgesamt dreizehn Rittern kamen jeweils fünf aus dem Nieder- und Oberfürstentum Hessen, zwei aus der Ober- und einer aus der Niedergrafschaft Katzenelnbogen. Hinzu kamen acht Städtevertreter, von denen jeweils die Hälfte aus ober- bzw. niederhessischen Städten kam. Diesem Ausschuss sollte eine Schlüsselrolle zukommen, denn die Regenten mussten ihm gegenüber nicht nur jährlich Rechenschaft ablegen, sondern überhaupt sollten weder mein g. fraue noch die zugeordenten rete kein wichtige oder gros sachen, die fursten oder das furstentum belangen, one beisein, wissen oder verwilgunge des vorordenten ausschusses nit handeln noch beslissen. 119 Das neue Herrschaftsarrangement wurde vervollständigt durch den Beschluss, dass jährlich ein allgemeiner Landtag gehalten werden sollte. An dieser Stelle wird explizit auf die Einung von 1514 als Vorbild dieser Bestimmung verwiesen: der allgemeine Landtag solle lut der einunge

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auf das Testament von 1508 gestützt hatte. Zwei der fünf Räte waren durch ihren Titel herausgehoben: Konrad von Wallenstein wurde zum Hofmeister, Philipp Meisenbug zum Marschall ernannt; hinzu kamen Dietrich von Cleen, Eitel von Löwenstein und Hermann Riedesel zu Eisenbach (vgl. ‚Sittich von Berlepsch an Herzog Georg von Sachsen. [Homberg 1514 Ende April]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 131, S. 345–349, S. 346f.). – Interessant ist auch der Tagungsmodus: Zunächst wurde von den Rittern und den Städten ein gemeinsamer Ausschuss bestellt (12 niederhessische, 12 oberhessische und 3 katzenelnbogische Ritter sowie 26 Städtevertreter, je 2 aus insgesamt 13 Städten), der die allgemeinen Fragen beriet. Die Einsetzung von über-ständischen Ausschüssen findet sich dann auch im späteren 16. Jahrhundert wieder, vgl. Hollenberg, Einleitung I, S. 37, und LTA 1557, Anm. 9 und 10. Vgl. allgemein Oestreich, Zur parlamentarischen Arbeitsweise der deutschen Reichstage unter Karl V. (1519–1556), und Lange, Zum Problem der Handlungsfähigkeit landständischer Versammlungen. Das mit der Landgräfin also sechsköpfige Gremium sollte in allen schriften, missiven und verschreibungen, wi di ausgehen den folgenden Titel führen: Anna von gots gnaden geb. herzogin von Mecklenburgk, landgrefin zu Hessen, grefin zu Catzenelnbogen, witwe und wi[r] die unden geschriben verordeneten rete des furstentums zu Hessen (‚Sittich von Berlepsch an Herzog Georg von Sachsen. [Homberg 1514 Ende April]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 131, S. 345–349, S. 348). Das Siegel der Regenten ist abgebildet bei Schenk zu Schweinsberg, Aus der Jugendzeit Landgraf Philipps des Großmütigen, Siegeltafel, Nr. 5. Das Siegel zeigt „eine fünfblättrige Blume, umgeben durch von Zweigen miteinander verbundenen Schilden (Waldenstein [d. i. Wallenstein, TN], Löwenstein, Dörnberg, Meisenbug und Riedesel)“ (Puppel, Die Regentin, S. 86). Dörnberg ersetzte wahrscheinlich später den Landkomtur nach dessen Wahl zum Deutschmeister; vgl. Demandt, Der Personenstaat der Landgrafschaft Hessen im Mittelalter, I, S. 156. ‚Sittich von Berlepsch an Herzog Georg von Sachsen. [Homberg 1514 Ende April]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 131, S. 345–349, S. 347.

3.1 Die Einungen im Kontext der Vormundschaftskämpfe (1509–1514)

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jährlich am Spieß gehalten werden. 120 Daneben gibt es noch einen zweiten normativen Referenzpunkt: So enthielt der Eid der Mitglieder des ständischen Ausschusses lut der ordnunge meins g. hern sel. die Verpflichtung, der gemeinen Landschaft alle Vorkommnisse zu melden, die dem Fürstentum nachteilig sein könnten; gemeint war das Testament Wilhelms II. von 1508, auf das Anna immer schon ihren Regentschaftsanspruch gestützt hatte. Der Landtag setzte also die Bestimmungen der Einung und die des Testaments, jeweils mit leichten Änderungen, 121 in eine konkrete Herrschaftsordnung um, die auch gegen den Einspruch der Wettiner bestand haben sollte. 122 Die Landgräfin und die verordneten Räte übten die vormundschaftliche Regierung bis Mai 1518 aus; ihnen folgte Landgraf Philipp, der schon einige Wochen vorher, am 2. März, von Kaiser Maximilian für volljährig erklärt worden war. 123

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Ebd., S. 349. In Bezug auf die Einung hieß das im Detail: Vollständig umgesetzt wurde zum einen die Rechenschaftspflicht der Regenten vor einem ständischen Ausschuss und zum andern die Periodizität des allgemeinen Landtags. Nur teilweise galt das für das umfassende ständische Entscheidungsrecht bei ‚großen und wichtigen Sachen‘: Laut Einung kam dies der gemeinen Landschaft zu, wurde aber vom Homberger Landtag schließlich dem kleineren ständischen Ausschuss übertragen. Nicht mehr eigens thematisiert wurden die drei wesentlichen Materien, deren Behandlung die Einung ausschließlich der Landschaft zugesprochen hatte (Steuer-, Kriegs- und Münzwesen) und die Berechtigung zur Ausschreibung des Landtags; vgl. oben S. 3.1.1. – An das Testament erinnert vor allem das sechsköpfige Regentschaftskollegium mit der Landgräfin an der Spitze, wenngleich 1508 andere Personen berufen wurden. Auch eine Rechenschaftspflicht vor einem ständischen Ausschuss hatte das Testament vorgesehen. Ansonsten verweisen vor allem die Eide der Regenten und der Ausschussmitglieder sowie eine Regelung zum Hofgericht auf den letzten Willen des Landgrafen. Vgl. ‚Testament Landgraf Wilhelm des Mittleren. 1508 Jan. 29‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 1, S. 2–13. Allerdings regierten Anna und die verordneten Räte ohne kaiserliche Bestätigung (vgl. Puppel, Die Regentin, S. 184) und mussten sich weiterhin mit den Ansprüchen der Wettiner auseinandersetzen, die jedoch ihre Stellung nicht mehr ernsthaft gefährden konnten. So befolgten die meisten Landstände das Verbot der Landgräfin, einen 1516 von den Wettinern angesetzten Landtag zu besuchen; vgl. ‚Sächsische Räte an die Ernestiner. Bericht über den Verlauf ihrer Sendung nach Hessen. [1516 Anfang Okt.]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 200, S. 492–494. Nach Puppel, Die Regentin, S. 186, währte die Regentschaft Annas bis zum 7. April 1519. Tatsächlich datiert von diesem Tag das Schreiben, mit dem Philipp ihr die Entlastung für die Regentschaft erteilte (vgl. ‚Landgraf Philipp an seine Mutter Anna geb. Herzogin von Mecklenburg. Grünberg 1519 April 7‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 225, S. 546– 548). In dem Schreiben wird aber klar zum Ausdruck gebracht, dass Anna und die verordneten Räte bis auf den suntag Cantate 1518 [Mai 2] erzogen, versehen, regirt und verwaltet hätten. So auch Rommel III, Anmerkungen, S. 171. Unbestritten ist aber, dass die Landgräfin mindestens bis 1519 an der Landesregierung teil hatte.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

Die Geschichte hatte sich wiederholt: Schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Jahre war aus einer Einung eine Regentschaft hervorgegangen. Und mutmaßlich hatte man sogar aus der Geschichte gelernt, denn die zweite Einung schrieb ganz konkrete institutionelle Sicherungen vor, die einen ähnlichen Entfremdungs- und Oligarchisierungsprozess, wie er nach der Aufrichtung des ersten Regiments eingetreten war, verhindern sollten. Aber trotz allem wiederholte sich die Geschichte auch in diesem Punkt: Seit der Homberger Tagung im April 1514, die das Regiment aufgerichtet und die institutionellen Sicherungen der Einung bestärkt hatte, beriefen Anna und die verordneten Räte bis zum Regierungsantritt Landgraf Philipps nie wieder allgemeine Landtage ein – entgegen der klaren Vorgaben der Treysaer Einung und des Homberger Landtags. 124 Nachdem auf diese Weise die gemeine Landschaft gleich von Beginn an ausgeschaltet war, gestaltete sich der Machtverlust des ständische Ausschusses eher schleichend. Hatte sich das Regiment unter der Führung der Landgräfin in der Anfangszeit noch häufig an den Ausschuss gewandt, 125 wurde er später immer seltener berufen, bis im Jahre 1518 kaiserliche Kommissare, die sich an eben diesen Ausschuss wenden wollten, von den fürstlich-hessischen Räten zu hören bekamen: Si wissen nit viel vom ausschuss. Es mag ein ausschuss geordent sein gewesen, aber etlich derselben sein gestorben. Aufgrund eigener Nachforschungen konnten die Kommissare zwar in Erfahrung bringen, dass keiner vom Ausschuss tot sei; allerdings sei wohl war, das si nit gebraucht werden. 126 Auch die Einung von 1514 hatte – wie schon diejenige von 1509 – nicht zu einer Institutionalisierung der politischen Partizipation der Landstände geführt. Ein Unterschied bestand allerdings doch: Unter der zweiten Regentschaft kam es zu keiner bedeutenden Opposition mehr.

3.1.3 Verschwindende Vermittler: Die Funktion der Einungen Die beiden wichtigsten Beobachtungen dieses Kapitels scheinen einander zu widersprechen: Einerseits war die Aufrichtung von Einungen offenkundig unabdingbar, wenn der Kampf um die Regentschaft Aussicht auf 124 125 126

Vgl. Puppel, Die Regentin, S. 185; vgl. auch Glagau, Anna von Hessen, S. 167f. Vgl. Puppel, Die Regentin, S. 184, und Glagau, Anna von Hessen, S. 167. ‚Georg von Schaumburg und Hans Presinger an Kaiser Maximilian. [1518 Mitte April]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 210, S. 521f., S. 522; vgl. auch Puppel, Die Regentin, S. 184, und Glagau, Anna von Hessen, S. 168f. – Auch die Jahresrechnungen sind später nicht mehr vom Ausschuss geprüft worden; vgl. ebd., S. 170f.

3.1 Die Einungen im Kontext der Vormundschaftskämpfe (1509–1514)

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Erfolg haben sollte; andererseits aber wurden die Inhalte und Vorschriften der Einungen schon bald nach dem eingetretenen Erfolg, also der Errichtung eines eigenen Regiments, nicht mehr befolgt. Wie kann man diese beiden Beobachtungen in einer konsistenten Deutung zusammenbringen? Zunächst könnte man das sogenannte „eherne Gesetz der Oligarchie“ in Anschlag bringen, dessen „kürzeste Formel“ nach Robert Michels folgendermaßen lautet: „[D]ie Organisation ist die Mutter der Herrschaft der Gewählten über die Wähler, der Beauftragten über die Auftraggeber, der Delegierten über die Delegierenden.“ 127 Und da es sich um ein „unabänderliches Sozialgesetz“ handle, scheint es auch hier zu greifen, denn in beiden Fällen folgte der Oligarchisierungsprozess auf die Einrichtung des organisierten Regiments. In dieser Perspektive hätte also eine ohnehin unvermeidbare Entwicklung nur ihren gesetzmäßigen Gang genommen und somit wäre die rasche Oligarchisierung unter den beiden hessischen Regentschaften nichts Ungewöhnliches. Allerdings lässt sich auf diese Weise nicht erklären, warum die Landstände die Oligarchisierung im ersten Fall als manifeste Entfremdung erlebten und gegen das Regiment opponierten, während mehrheitlich dieselben Personen denselben Prozess im zweiten Fall mehr oder weniger hinnahmen. Besser kann man diesen Widerspruch meiner Meinung nach auflösen, wenn man überhaupt von der Vorstellung Abstand nimmt, dass die hessischen Einungen – vielleicht sogar Einungen im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit generell – die landständischen Teilhaberechte in normativer Absicht explizit machen und dauerhaft in der territorialen Herrschaftsordnung verankern sollten. 128 Anders gesagt: Die Einungen der Vormundschaftszeit sollten ursprünglich gar keine ‚Verfassungsalternativen‘ (Willoweit) sein; sie hätten zwar im Laufe der Zeit den Charakter von leges fundamenteles annehmen und damit gar zu „Verfassungsäquivalenten“ werden können, wie das Beispiel anderer Territorien belegt, aber dazu kam es nicht und – weit wichtiger – dazu wurden sie auch nicht aufgerichtet. 129 127

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Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, S. 384; vgl. dazu Hartmann, Elitesoziologie, S. 32–36. Noch grundsätzlicher begreifen Sofsky, Paris, Figurationen sozialer Macht, S. 178–198, den Prozess der Oligarchisierung: Er beginnt nicht erst mit der Organisation, sondern ist schon der Struktur der Repräsentation als solcher eingeschrieben. So aber beispielsweise Franz, Landstände und Landtage in Hessen bis zum Ende des Alten Reiches, S. 20: Die Regentschaft unter der Führung Boynenburgs habe „die gebotene Chance zu dauerhafter Gewaltenteilung verspielt“. Den Terminus „Verfassungsäquivalent“ übernehme ich von Duchhardt, Das politische Testament als ‚Verfassungsäquivalent‘. Duchhardt bezieht ihn zwar nur auf politische

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

Sie dienten, wie oben gezeigt wurde, vielmehr und sogar in erster Linie dazu, aus einem lockeren Bündnis von Personen und Korporationen, die sich als Stände des Fürstentums Hessen betrachteten, auf rituelle Weise einen kollektiven Akteur mit der Fähigkeit gemeinschaftlicher Willensbildung zu formen – die gemeine Landschaft. Gleichzeitig versahen die Einungen das zukünftige Handeln des Bündnisses mit einer besonderen Legitimität, galt doch die gemeine Landschaft, also die Ständegesamtheit im Unterschied zu den einzelnen landständischen Personen und Korporationen, neben dem Fürsten als Vertreter der allgemeinen Interessen des Fürstentums und daher als Träger politischer Teilhaberechte. Wenn die Einungen also nicht als Verfassungsalternativen gedacht waren, wie kann man die soeben geschilderte Funktion begrifflich auf den Punkt bringen? Mir scheint es passend zu sein, die hessischen Einungen des frühen 16. Jahrhunderts als ‚verschwindende Vermittler‘ im Sinne von Frederic Jameson zu begreifen. Ein „vanishing mediator“, so Jameson, „serves as a bearer of change and social transformation, only to be forgotten once that change has ratified the reality of the institutions“. 130 Zwar fand im hessischen Fall keine vollständiges Vergessen statt, aber man erkennt denselben Grundmechanismus: Die Einungen sollten primär den Kampf um und den Übergang in eine neue Ordnung rechtfertigen und politische Leitlinien festlegen; die detaillierte Bestimmung der institutionellen Gestalt der neuen Ordnung war hingegen nachrangig. 131 Da nun die Einungen als „verschwindende Vermittler“ fungierten, setzten sie auch keine Verstetigung der Partizipation in der Praxis in Gang. Trotz dieses Negativergebnisses hinsichtlich der Institutionengenese lassen sich gleichwohl einige allgemeine Ergebnisse formulieren, die für das Gesamtthema relevant sind. Einerseits wurde klar, dass zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Hessen – sowohl auf fürstlicher wie auf ständi-

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Testamente, aber er passt ebenso auf die Einungen, wenn man sich auf die Funktionen eines solchen Verfassungsäquivalents bezieht: „Es soll, wie eine Verfassung, staatliche Kontinuität und konfessionelle Kontinuität garantieren […], es regelt die Modalitäten eines Regierungswechsels, versucht, die Mitwirkung des zweiten Verfassungsorgans, der Stände, an der Regierung zu präzisieren, trifft Vor- und Fürsorge für das Staatsbeamtentum, skizziert die Grundlinien der zukünftigen Verfassungspolitik.“ In diesem Sinne können Einungen als (Teil-)Verfassungsäquivalente aufgefasst werden. – Angemerkt sei, dass auch das Testament Wilhelms II. in diesem Sinne als politisches Testament gescheitert ist. Jameson, The Vanishing Mediator; or, Max Weber as Storyteller, S. 26. Sein Beispiel in der herangezogenen Textstelle ist das Weber’sche Charisma. Dafür spricht auch, dass die Einung von 1509 keine konkreten Institutionen oder Verfahren vorschreibt. Und selbst die Einung von 1514, die das zwar tut, liest sich an vielen Stellen eher wie ein für die Dauer der Vormundschaft befristetes Arrangement als ein Fundamentalgesetz.

3.1 Die Einungen im Kontext der Vormundschaftskämpfe (1509–1514)

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scher Seite – die Vorstellung existierte, dass die Stände in ihrer Gesamtheit, also als ‚gemeine Landschaft‘ ein legitimer politischer Akteur seien, der das Gemeinwohl im Blick habe und der als solcher angemessen an der Regierung von Land und Leuten beteiligt werden müsse – nicht nur der Fürst, sondern auch die gemeine Landschaft repräsentiert dieser Vorstellung zufolge das Gemeinwohl. 132 Andererseits zeigte sich aber, dass dieser Anspruch in der politischen Praxis keine dauerhaft institutionalisierte Entsprechung hatte, da weder die einzelnen Stände noch die Ständegesamtheit als Korporationen anzusehen sind und auch der allgemeine Landtag keine normativ verbindliche Form besaß. Stattdessen musste für den Fall, dass landständische Rechte oder Freiheiten verteidigt oder durchgesetzt werden sollten, immer wieder aufs Neue eine politische Vergemeinschaftung vorgenommen werden, etwa in Form einer Einung – eine landständische Verfassung zeichnete sich nicht ab. 133 Nun werden Kritiker einwenden, dass man den Begriff der (landständischen) Verfassung zu eng fasse, wenn man ihn nicht auf die Situation 132

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Diese Grundidee findet sich gleichermaßen im fürstlichen Testament Wilhelms II., der rein ständischen Einung von 1509 und der fürstlich-ständischen Einung von 1514. Hollenberg, Die Repräsentation von Land und Leuten in Hessen, S. 31, meint, dieser Anspruch hätte sein Fundament darin, dass die Stände ein „Mandat des gesamten Volkes“ fingiert hätten und verweist dazu auf den Text der Einungen. Tatsächlich findet sich in beiden Texten der Passus auch Befehl und Mandat derselbigen und aller Einwohner des Fürstenthums zu Hessen. Allerdings ist diese Stelle alles andere als prominent im Text: Beispielsweise folgt in der ersten Einung, dass sie krafft und bestetigung unser voreltern und zuelasszungh gemeinen rechtens (Rebelthau, Die zwei ältesten schriftlichen Grundlagen der landständischen Verfassung in dem Fürstenthum Hessen und den anhangenden Grafschaften, S. 255) geschlossen sei. In den gesamten Auseinandersetzungen wird nie auf ein Mandat das Volkes verwiesen, von dem die gemeine Landschaft ihre Legitimität beziehe, sondern immer ist es die durch die Einung konstituierte gemeine Landschaft selbst, die das Gemeinwohl repräsentiert. Hollenberg sieht selbst, dass hier Identitätsrepräsentation vorliegt, aber sieht nicht, dass diese nicht einmal ein fiktives Mandat benötigt. So auch Hollenberg, Einleitung I, S. 11: „Die landständische Mitregierung in der Vormundschaftszeit von 1509–1518 blieb eine Episode ohne verfassungsbildende Kraft.“ So auch, wenngleich aufgrund anderer – problematischer – Vorannahmen Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 5f. – Dafür spricht auch folgende Beobachtung: „Im hier dokumentierten Zeitraum [1526–1603] beriefen sich die Landstände nie auf die Einungen von 1509 oder 1514“ (Hollenberg, Einleitung I, S. 11). Im 17. Jahrhundert aber, während der Zeit der Ständekämpfe, begannen die Landstände wieder, mit dieser Vorstellung zu argumentieren – auch unter Verweis auf die Vormundschaftszeit. Vgl. unten 5.3. – Für einen ähnlichen Zeitraum (1519–1534) kommt auch Haug-Moritz, Zur Genese des württembergischen Landtags in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, S. 125f., zu ähnlichen Ergebnissen, wie auch Klingebiel, Einleitung, S. 15, für die Verhältnisse in Hildesheim in den 1490er Jahren.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

in Hessen zu Beginn des 16. Jahrhunderts anwenden wollte. Verweisen könnten solche Kritiker etwa auf eine Bemerkung Hollenbergs, die sich auf eben diese Zeit bezieht: „Mehr oder weniger viele adlige Vasallen, auch Städte, später auch Klostervorsteher wurden ad hoc aus dringenden Ursachen im Rahmen einer noch offenen, wenig institutionalisierten Verfassung versammelt.“ 134 Eine ‚wenig institutionalisierte Verfassung‘ ist aber dasselbe wie eine ‚wenig verfasste Verfassung‘, denn die Eigenschaft, institutionalisiert zu sein, also über eine gewisse Dauerhaftigkeit und Normativität zu verfügen, ist gerade der definierende Kern des Verfassungsbegriffs. 135 Weitet man den Begriff der Verfassung aber soweit aus, dass er auch auf ‚wenig institutionalisierte‘ Herrschaftsformen angewendet werden kann, dann verliert er seine begriffliche Trennschärfe, was dann zur Folge hat, dass es keine Herrschaft gibt, die keine wie auch immer geartete Verfassung hätte. Daher scheint es mir sinnvoller zu sein, den Verfassungsbegriff gerade im Gegenteil für hinreichend institutionalisierte, also auf Dauer gestellte und von den Akteuren als normativ erfahrene Herrschaftsformen zu beschränken. Für ‚wenig institutionalisierte‘ Herrschaftskontexte kann man sich dann der Begriffsverwendung Peter Moraws anschließen: „Das Maß der Mitwirkung der Großen auf den Hoftagen bleibt im Hoch- und häufig auch im Spätmittelalter meist schwer bestimmbar und ist ‚politisch‘, das heißt je nach der konkreten Verteilung der Machtmittel zu beurteilen.“ 136 Die ‚politische Beurteilung‘ Moraws orientiert sich am jeweils aktuellen Zustand des Machtfeldes; eine – mit aller Vorsicht aufgrund des Begriffs – ‚verfassungsorientierte Beurteilung‘ hingegen bezieht sich nicht auf das Machtfeld als Ganzes, sondern nur auf seine institutionalisierten Strukturelemente und lässt die veränderliche Verteilung der Machtmittel gerade außen vor. 137 Aus Moraws Einschätzung, dass im Spätmittelalter – und man wird für Hessen hinzufügen müssen: auch zu Beginn des 16. Jahrhunderts – viele Herrschaftsverhältnisse in erster Linie ‚politisch‘ waren, folgt dann, dass von ihnen nicht auf das Bestehen einer Verfassung geschlossen werden kann. 138 134 135 136 137 138

Hollenberg, Die Repräsentation von Land und Leuten in Hessen, S. 33. Vgl. oben 2.1.3. Moraw, Hoftag und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806, S. 12. Vgl. Teuber, Verfassungsfragmente, S. 35. Im Hinblick auf diesen Sprachgebrauch wird dann auch Moraws eigener Begriff der ‚offenen Verfassung‘ problematisch: Die ‚offene Verfassung‘ sei „charakterisiert durch die Beschränkung des institutionalisierten Moments auf ein Minimum“ (Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung, S. 21). Dann aber ist auch die ‚offene Verfassung‘ eben nur eine ‚minimal verfasste Verfassung‘.

3.2 Ständische Vielfalt: Die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung seit 1527

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3.2 Ständische Vielfalt: Die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung seit 1527 Damit ist man zu Hans Siebeck zurückgelangt und seine Unterscheidung zwischen „politische[n] Akten[n]“ einerseits und „verfassungsmäßig bestehenden Rechtsverhältnisse[n]“ 139 erscheint wieder plausibel – wenngleich aus anderen Gründen als den von ihm angeführten. 140 Denn tatsächlich lässt sich die Zeit der Vormundschaftskämpfe viel besser verstehen, wenn man sie im Moraw’schen Sinne ‚politisch‘ versteht, also bezogen auf die ‚konkrete Verteilung der Machtmittel‘. Und die Einungen waren in der Tat eines der wichtigsten Machtmittel dieser Zeit – aber eben keine Verfassungsäquivalente. Ist Siebeck darin also zumindest teilweise zuzustimmen, dann fragt sich, ob nicht auch seine Behauptung, die landständische Verfassung in Hessen sei 1532 entstanden, zustimmungsfähig sein könnte. Daher ist nun in einem nächsten Schritt die Geschichte der landständischen Herrschaftspartizipation unter Landgraf Philipp und seinen Söhnen in den Blick zu nehmen.

3.2.1 Reformation und Türkenhilfe: Die Wiederaufnahme allgemeiner Landtage durch Philipp den Großmütigen Landgraf Philipps erste Regierungsjahre verliefen, wie schon die Regentschaft seiner Mutter, ohne Landtage. 141 Mehr noch, nur ein halbes Jahr nach seinem offiziellen Regierungsantritt 142 verbot er im Oktober 1518 139 140

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Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 5. Vgl. oben die Einleitung von 3. Implizit gibt sogar Günter Hollenberg ihm Recht, denn auch dieser unterscheidet zwischen der Vormundschaftszeit, die keine „verfassungsbildende Kraft“ (Hollenberg, Einleitung I, S. 11) gehabt habe und der dann folgenden Entwicklung unter Philipp. Eine deutschsprachige Biographie Landgraf Philipps auf dem Stand der aktuellen Forschung fehlt; vgl. dafür Mariotte, Philippe de Hesse, und einführend Wolff, Dynastie und Territorium (bis ca. 1550); Auerbach (Hg.), Reformation und Landesherrschaft; Braasch-Schwersmann, Schneider, Winterhager (Hg.), Landgraf Philipp der Großmütige; Wunder, Vanja, Hinz (Hg.), Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen und seine Residenz Kassel; Stienczka (Hg.) „Mit dem Glauben Staat machen“; aktueller Forschungsbericht: Breul, Gräf, Fürst, Reformation, Land; Bibliographie: Gräf (Hg.), Philipp der Großmütige, Landgraf von Hessen. Vgl. auch Rudersdorf, Hessen. Zu diesem Zeitpunkt übte Landgräfin Anna noch einen wesentlichen Einfluss auf die Regierungsgeschäfte aus. Es wird vermutet, dass die von ihr angeregte vorzeitige Mündigkeitserklärung dazu diente, die ‚verordneten Räte‘ zu entmachten, weil diese nach dem offiziellen Übergang der Regierung auf Landgraf Philipp von weisungsberechtigten

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

sogar ausdrücklich den Besuch eines Landtags, den einige unzufriedene Ritter ausgeschrieben hatten. 143 Und als bei einer kurz darauf stattfindenden Verhandlung mit Teilen der hessischen Ritterschaft sich diese direkt auf die Einung von 1514 beriefen und forderten, dass man die Wettiner oder sie selbst einen Landtag ausschreiben lasse, wie der vertrag, darin unser g. frau von Hessen bewilligt und mit versigelt vermocht, da lehnte Philipp dieses Ansinnen nicht nur ab, sondern ließ die Ritter wissen, dass es gerade die eigenmächtigen Versammlungen der Ritterschaft gewesen seien, die ihm in jungen jaren neukeit und noch tegliche beschwerung ingefurt. 144 Philipp beharrte auf dem Standpunkt, dass er allein befugt sei, Landtage zu berufen, 145 machte aber von diesem Recht in der Folge keinen Gebrauch – auch nicht in Krisensituationen: Sowohl der Krieg gegen Franz von Sickingen (1522/23) als auch der Bauernkrieg (1525) wurden ohne Beteiligung der ‚gemeinen Landschaft‘ geführt. 146 Sogar Steuern schrieb der junge Landgraf in diesen Jahren aus, ohne den allgemeinen Landtag einzuberufen. 147 Erst 1527 und damit etwa dreizehn Jahre nach der letzten Ständeversammlung zu Homberg, die seine Mutter als Regentin anerkannt hatte,

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Vormündern zu einfachen Ratgebern wurden. Vgl. Glagau, Anna von Hessen, S. 171, und Hollenberg, Von Ständeopposition und Bauernkrieg zur gefestigten Landesherrschaft, S. 67. Vgl. ‚Landgraf Philipp an die hessischen Stände. Marburg 1518 Okt. 9‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 212, S. 523f. Dieses Landtagsausschreiben steht im Zusammenhang mit der Fehde Franz von Sickingens gegen Hessen, vgl. dazu Lux, Die Hessische Fehde 1518. ‚Protokoll der Verhandlungen, die zwischen Landgraf Philipp und seiner Mutter einerseits und Mitgliedern der hessischen Ritterschaft anderseits unter Vermittlung sächsischer Räte geführt worden sind. [Spangenberg und Homberg 1518 Okt. 8–20]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 216, S. 527–534, S. 531. Rommel III, S. 247, bezeichnet diese Verhandlungen fälschlicherweise als Landtag. Vgl. ‚Protokoll der Verhandlungen, die zwischen Landgraf Philipp und seiner Mutter einerseits und Mitgliedern der hessischen Ritterschaft anderseits unter Vermittlung sächsischer Räte geführt worden sind. [Spangenberg und Homberg 1518 Okt. 8–20]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 216, S. 527–534., S. 529f.: „Der Landgraf verbietet der Ritterschaft hinder seinen g. als regirenden fursten, nachdem wir von Kai. Mt. … ins regiment gesatzt, landtage oder versamlung zu machen one seiner f.g. verwilligung.“ Vgl. Hollenberg, Einleitung I, S. 10, und vor allem Ders., Landgraf Philipp von Hessen und die hessischen Landstände im Bauernkrieg, wo Hollenberg die in der Literatur gelegentlich vertretene Meinung, auch zur Zeit des Bauernkrieges hätte es Landtage gegeben, widerlegt. Vgl. zuletzt zu den beiden Ereignissen Ders., Landgraf Philipp und der Bauernkrieg. Vgl. Hollenberg, Einleitung I, S. 10, und Ruppersberg, Die hessische Landsteuer bis zum Jahre 1567, S. 5–12.

3.2 Ständische Vielfalt: Die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung seit 1527

137

sollte wieder ein allgemeiner Landtag in Hessen stattfinden. 148 Es war aber nicht nur diese zeitliche Lücke, welche die Landtage der Vormundschaftszeit von denen unter Philipp trennte; auch die Umstände, die zur Einberufung führten, hatten sich nachhaltig verändert: Ging es von 1509 bis 1514 mit der Regentschaft und der ständischen Herrschaftspartizipation im Wesentlichen um rein hessische Fragen, so wiesen die Themen der ersten Landtage unter Philipp in einem viel stärkeren Maße über Hessen hinaus, denn zu verhandeln waren die Komplexe ‚Reformation‘ und ‚Reichssteuern‘. Schon seit 1524 war Landgraf Philipp der reformatorischen Lehre zugetan, aber zu diesem Zeitpunkt schob das Wormser Edikt einer nachhaltigen und aktiven Umsetzung der Reformation in Hessen reichsrechtlich noch einen Riegel vor. 149 Im Speyerer Reichstagsabschied von 1526 allerdings kamen dann die Reichsstände im berühmten § 4 überein, so das Edict, durch Kayserl. Majest. auf dem Reichs-Tag zu Worms gehalten, außgegangen, belangen möchten, für sich also zu leben, zu regieren und zu halten, wie ein jeder solches gegen GOtt, und Kayserl. Majestät hoffet und vertraut zu verantworten. 150 Diesen Passus interpretierten die evangelisch gesinnten Fürsten nicht nur als Suspendierung des Wormser Edikts, sondern viel weitergehend als Rechtsgrundlage zur Einführung der Kirchenreform in ihren Territorien – so auch Landgraf Philipp. Nach der sogenannten ‚Homberger Synode‘, einer „Anhörung oder Disputation in Anwesenheit des Landgrafen, seiner Räte, der Geistlichkeit und der weltlichen Landstände“, 151 die noch im Oktober 1526 stattfand, und weiteren reformatorischen Maßnahmen im Anschluss an diese Versammlung berief Philipp dann ein gutes Jahr später für den 15. Oktober 1527 seinen ersten allgemeinen Landtag ein,

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Vgl. Puppel, Die Regentin, S. 186: „Philipp berief erst acht Jahre nach seiner Regierungsübernahme 1526 einen Landtag ein.“ Vgl. Demandt, Geschichte des Landes Hessen, S. 176. Vgl. zuletzt ausführlich Friedrich, Territorialfürst und Reichsjustiz; aktueller Forschungsbericht: Breul, Gräf, Fürst, Reformation, Land; vgl. allgemein: Heinemeyer, Das Zeitalter der Reformation, und Ders., Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen – politischer Führer der Reformation. ‚Abschied des Reichs-Tags zu Speyer Anno 1526 aufgericht‘, in: Schmauß (Hg.), Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, II, S. 272–280, S. 274. Zum Reichstag von 1526 vgl. Rabe, Deutsche Geschichte 1500–1600, S. 318f., und Blickle, Die Reformation im Reich, S. 191–197. Hollenberg I, S. 64, Anm. 2; vgl. zum Ablauf der Anhörung Schmitt, Die Synode zu Homberg und ihre Vorgeschichte, S. 70–77, und weitere Literaturangaben in: Petzinger (Hg.), Hessen und Thüringen – Von den Anfängen bis zur Reformation, S. 294.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

um mit den Landständen über die Verwendung der aufgelösten hessischen Klöster zu verhandeln. 152 Dass der Landtag in einem ganz neuen, nämlich reichsrechtlichen Kontext stand, wird schon daran deutlich, dass der Landtagsabschied einleitend auf den oben zitierten Passus des Speyerer Reichstagsabschieds hinweist. 153 Auf dieser reichsrechtlichen Grundlage habe der Landgraf die unsern vom Adel und stetten furgefordert und man habe beschlossen, es demnach also mit den clostern und ordenspersonen, das uns und gemeiner lantschafft zu gutem und wolfart reichen soll, zu halten furgenomen wie nachfolgt. 154 Die Erwähnung der gemeinen Landschaft weist eindeutig darauf hin, dass es sich um einen allgemeinen Landtag handeln sollte – auch wenn weder Grafen noch Prälaten die Versammlung besuchten. Die Abwesenheit der Grafen war unproblematisch, weil sie sich auch schon in der Vormundschaftszeit nur an den wichtigsten Akten beteiligt hatten, also etwa den Aufrichtungen der Einungen. Das politische Tagesgeschäft aber überließen sie den anderen drei Ständen, ohne dass eine solche ‚Arbeitsteilung‘ den Status von Prälaten, Rittern und Städten als gemeine Landschaft beeinträchtigt hätte. 155 Und dass keine Prälaten an diesem Landtag teilnahmen, war nur folgerichtig, denn mit der Aufhebung der Klöster, über deren weitere Verwendung der Landtag ja gerade beraten sollte, hatte sich auch die Landstandschaft der Klostervorsteher schon im Vorfeld erledigt. 156

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Vgl. Wolff, Die Säkularisierung und Verwendung der Stifts- und Klostergüter in Hessen-Kassel unter Philipp dem Grossmütigen und Wilhelm IV. LTA 1527, S. 64: Nachdem uf itzt jungstgehalten reichstag zu Speyer in gemeinem reichrait durch statthelter, churfursten, fursten und andere stende des heiligen rhomschen reichs einmutiglich abgeredt unnd beschlossen worden ist, also das es [e]in yeder in seinen landen und gepiten dermassen halten und schaffen solt, wie er solchs gegen Got unnd keyserliche maistat, unserm allergnedigsten herrn, zu verandtworten gedaecht. Ebd., S. 65. Vgl. Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 38; insofern wird man Hollenberg, Einleitung I, S. 16, Recht geben, dass nur Prälaten, Ritter und Städte „[g]enuine hessische Landstände“ gewesen seien. Hinzu kommt, dass sich die lehnsabhängigen Grafen im 16. Jahrhundert des hessischen Einflusses zu entziehen versuchten und die Reichsunmittelbarkeit anstrebten. Allein das Haus des Deutschen Ordens in Marburg konnte sich erfolgreich einer Aufhebung widersetzen, wurde 1545 vollständig restituiert und seit 1547 wieder zum Landtag geladen. Da der Landkomtur allerdings nunmehr die Reichsunmittelbarkeit beanspruchte, verweigerte er den Besuch der Landtage. Erst nach dem Karlstädter Vertrag von 1584 trat er wieder als Prälat auf dem Landtag auf; vgl. Hollenberg, Einleitung I, S. 17, und allgemein Schaal, Das Deutschordenshaus Marburg in der Reformationszeit, sowie zuletzt Dies., Der Deutsche Orden als „Spital“ des hessischen Adels, mit weiterer Literatur.

3.2 Ständische Vielfalt: Die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung seit 1527

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Nunmehr bildeten also Ritterschaft und Städte die gemeine Landschaft und als solche einigte sich die Ständegesamtheit mit dem Landgrafen auf einen Abschied, der unter anderem zwei Klöster an die Ritterschaft gab, die neu gegründete Universität Marburg mit ehemaligen Klostereinkünften ausstattete und einen gesamtständischen Ausschuss vorsah, der die Verwendung des restlichen Klostervermögens überwachen sollte. 157 In der Literatur wird überwiegend die Meinung vertreten, dass Landgraf Philipp in dieser Situation einen allgemeinen Landtag ausschrieb, weil „die Klöster von Adel und Stadtbürgern als Versorgungsund Seelsorgeeinrichtungen dotiert worden waren“ und daher die Aufhebung dieser Anstalten „wesentliche Besitzstandsinteressen dieser Stände“ berührte. 158 Das ist sicherlich der Fall, aber es ist auch zu vermuten, dass die Ausschaltung eines kompletten Landstandes neben eigentumsrechtlichen auch schwerwiegende politische Fragen aufwarf, die es angeraten scheinen ließen, die Aufhebung der Klöster von einem allgemeinen Landtag und damit der gemeinen Landschaft legitimieren zu lassen. 159 Hatte der Landgraf schon 1527 auf den Reichstagsabschied des Vorjahres verwiesen, so sollte sich der reichsrechtliche Bezug beim zweiten allgemeinen Landtag unter Philipp nochmals verstärken, denn nunmehr wurde sogar eine explizite Rechtsgrundlage für die Einberufung eines Landtags angeführt. Anlass war diesmal die Türkenhilfe, die von den Reichstagen in Augsburg 1530 und in Regensburg 1532 bewilligt worden war. Da Philipp jedoch nicht gewillt war, den hessischen Anteil an der Türkenhilfe selbst zu zahlen, berief er Ritterschaft und Städte, sich mit uns umb die turckenhulffe ingemein zu vorgleichen. Und wie schon das Einladungsschreiben, so verwies auch die Proposition in klaren Worten auf die angeblich reichsrechtlich verankerte Beitragspflicht der Untertanen: zudem in des reichs abschiedtt zu Augspurgck nachgelassen und beschlossen ist […], das ein yeder churfurst, furst und stant sein gepu157

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Während die Übertragung von Klostervermögen an die Ritterschaft und die Universität tatsächlich erfolgte, was die Grundlage für die später entstandene ‚neue‘ Prälatenkurie schuf, kam der projektierte Ausschuss nicht zustande. Vgl. LTA 1527 und Hollenberg I, S. 67, Anm. 14. Als Rechtsnachfolger der Prälaten nahm dann seit 1557 zuerst die Universität Marburg an den Beratungen der Ritterschaft teil; 1583 traten die Obervorsteher der adeligen Stifte Kaufungen und Wetter sowie der Obervorsteher der Hohen Hospitalien hinzu. Komplettiert wurden die ‚neuen‘ Prälaten dann durch den Landkomtur, der seit 1586 ebenfalls wieder die Landtage besuchte. Allerdings bildeten die Prälaten keine eigene Kurie, sondern wurden Teil der Ritterschaftskurie; vgl. Hollenberg, Einleitung I, S. 17. Hollenberg I, S. 65, Anm. 5. Da zu diesem Landtag keine Akten überliefert sind (vgl. Hollenberg I, S. 62, Anm. 1), lässt sich diese Frage jedoch nicht weiter verfolgen.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

rent anthaill der hulff uf seine underthanen und lanttschafft schlagen moegen. 160 Die Ritter machten zwar geltend, dass eine Steuerpflicht dem Herkommen zuwider und eine unerhörte Neuerung sei, bewilligten aber letztlich zusammen mit den Städten ein komplexes Vermögenssteuerreglement zur Aufbringung der benötigten Gelder. 161 Die Wiederaufnahme der Praxis, allgemeine Landtage einzuberufen, nach 1527 hängt also ganz wesentlich mit zwei Umständen zusammen: Zum einen standen mit der Aufhebung der Klöster und der Bewilligung von Reichssteuern vermehrt Entscheidungen an, die so massiv in die Besitz- und Vermögensverhältnisse auch der privilegierten Untertanen eingreifen würden, dass die Zustimmung der Landstände faktisch notwendig war. Zum andern wurden gerade mit dem Ausbau des Reichssteuerwesens auch reichsrechtliche Normen etabliert, die einem gleichzeitigen Ausbau der landständischen Institutionen Vorschub leisteten, weil sich die allgemeinen Landtage als Mittel bewährten, die Reichslasten auf die Untertanen umzulegen. 162 Und in der Tat kam es in Hessen zu 160

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Proposition, [Homberg 1532 Juli 13], in: Hollenberg I, Nr. 5, S. 73–76, S. 76 und S. 77. § 118 des Reichsabschieds hatte allerdings einen durchaus von dieser Paraphrase abweichenden Wortlaut: Und dieweil diese eylende Hülff gegen dem Türcken etwas dapffer und groß und ein gemein Christlich gut Werck ist, welches männiglichen zu Schutz und Trost kommt, soll und mag ein jeder Churfürst, Fürst und Stand seine Unterthanen um Hülff und Steuer ersuchen (‚Abschied des Reichs-Tags zu Augspurg Anno 1530 aufgericht‘, in: Schmauß (Hg.), Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, II, S. 307–332, S. 324). Erstens impliziert die Formulierung, die Reichsstände könnten ihre Untertanen um Hilfe ‚ersuchen‘, viel weniger eine Beitragspflicht als die von Philipp gebrauchte Formulierung ‚auf die Untertanen schlagen‘, worauf auch Hollenberg I, S. 75, Anm. 13, hinweist. Zweitens aber wird hier eine wichtige Ergänzung vorgenommen: Der Reichstagsabschied spricht nur von Unterthanen, der LTA hingegen von underthanen und lantschafft. Hier wird klar, dass man ‚die Untertanen‘ in der Praxis nur dadurch ersuchen konnte, indem man die Landstände konsultierte, was die implizite Repräsentationsfunktion der Landstände unterstreicht. Vgl. auch Schulze, Reichstage und Reichssteuern im späten 16. Jahrhundert, S. 50. Vgl. LTA 1532; Hollenberg, Einleitung I, S. 47–54. Allerdings erhielt die Ritterschaft einen fürstlichen Revers, in dem Landgraf Philipp versicherte, dass er und seine Nachfahren nun hinfuhro zue ewigen zeiten die unsern von adel undt ihre undersassen auserhalb diesem fal mit keiner neuerung, schatzung, steur ader anlage beschwehren wollten (‚Revers Landgraf Philipps. Homberg 1532 Juli 15‘, in: Hollenberg I, S. 89f.). Zum Steuerwesen vgl. Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 102–125, für das „Novum“ der Besteuerung des Adels Schirmer, Kursächsische Staatsfinanzen, S. 239, und allgemein Schmid, Der Gemeine Pfennig von 1495, S. 234, für die Vorgeschichte einer Einbeziehung der Landstände. Schulze, Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert, S. 238–269, spricht zwar davon, dass das „Grundprinzip der Umlegung der Steuer mit Erlaubnis des Reiches“ (ebd., S. 247) zu einer Schwächung des ständischen Steuerbewilligungsrechts geführt habe. Ich würde eher davon sprechen wollen, dass gerade die sukzessive Einbeziehung

3.2 Ständische Vielfalt: Die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung seit 1527

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einer nachhaltigen Institutionalisierung: Wie Abbildung 1 zeigt, wurde der allgemeine Landtag – nachdem Philipp fast ein ganzes Jahrzehnt keinen berufen hatte – nach 1527 und bis zum Tode des Landgrafen zu einer wiederholt einberufenen Einrichtung. 163

Abbildung 1: Allgemeine Landtage unter Landgraf Philipp

In der Vormundschaftszeit hatte es den normativen Anspruch gegeben, die Ständegesamtheit sei als ‚gemeine Landschaft‘ Träger politischer Teilhaberechte; gleichwohl kann man für diese Zeit nicht von der Entstehung einer landständischen Verfassung sprechen, weil dieser von den Ständen auch explizit erhobene Anspruch in der Praxis keine dauerhaft institutionalisierte Entsprechung in Form des allgemeinen Landtags gehabt hat. Unter Landgraf Philipp scheint sich die Situation jedoch geändert zu haben: Mit den beiden Initialereignissen ‚Reformation‘ und ‚Türkenhilfe‘ etablierte sich offensichtlich eine gewisse institutionelle Kontinuität des allgemeinen Landtags. Die Vermutung liegt daher nahe, dass die ältere, aber immer noch vorhandene Vorstellung, die Ständegesamtheit sei ein legitimer – weil das

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der ständischen Institutionen in das Gefüge des Reichsrechts zunächst einen nicht zu unterschätzenden Institutionalisierungsschub auslöste und erst später die landständischen Rechte unterhöhlte. So auch Krüger, Finanzstaat Hessen 1500–1567, S. 249, und Quarthal, Landstände und landständisches Steuerwesen in Schwäbisch-Österreich, S. 6. Allgemeine Landtage fanden unter Landgraf Philipp statt: 1527 (Hollenberg I, S. 64, spricht von einem „Ritter- und Städtelandtag“ anstatt von einem ‚allgemeinen Landtag‘. Dass es sich aber auch in seinen Augen um den ersten allgemeinen Landtag handelt, geht daraus hervor, dass er in später erschienenen Arbeiten immer auf 1527 verweist, vgl. etwa Ders., Von Ständeopposition und Bauernkrieg zur gefestigten Landesherrschaft, S. 75), 1532, 1536, 1544, 1547 (Juni), 1547 (Juli) (auch hier spricht Hollenberg I, S. 168, von einem „Ritter- und Städtelandtag“. Da aber die Ständegesamtheit zu diesem Zeitpunkt nur aus Ritter und Städten besteht, ist diese Versammlung ebenfalls als allgemeiner Landtag zu zählen), 1551, 1552 (Hollenberg I, S. 196, spricht in diesem einen Fall nur von „Landtag“. Es handelt sich aber ebenfalls um einen allgemeinen Landtag), 1557, 1560, 1566; eigene Auszählung nach Hollenberg I.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

Gemeinwohl repräsentierender und verfolgender – politischer Akteur, sich Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts mit einem neuartigen Institutionalisierungsprozess verband, der angestoßen wurde von der Verdichtung der Beziehungen zwischen Hessen und dem Reich, insbesondere im Steuerwesen. Wäre das der Fall, so könnte man mit einigem Recht seit der Wiederaufnahme der allgemeinen Landtage unter Philipp in den späten zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts von einer Entwicklung hin zu einer landständischen Verfassung reden. Zunächst scheint dem auch so zu sein: Im oben schon zitierten Landtagsabschied von 1527 ist noch die Rede davon, dass die Regelungen bezüglich des Klostervermögens dem Fürsten und gemeiner lantschafft zu gutem und wolfart reichen sollen; hier wird die Ständegesamtheit im Sinne der Vorstellung der Vormundschaftszeit also noch explizit erwähnt. 164 Die Bedeutung des Begriffs ‚Landschaft‘ verengte sich zwar schon kurz darauf und bezeichnete seit 1532 – unter bezeichnendem Wegfall des Adjektivs ‚gemein‘ – nur noch die Städte im Unterschied zur Ritterschaft, 165 aber die innere Logik der Abschiede aller späteren allgemeinen Landtage lässt erkennen, dass die Landstände faktisch in einer repräsen164

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LTA 1527, S. 65. Hollenberg, Die Repräsentation von Land und Leuten in Hessen, S. 34, meint: „Im amtlichen Sprachgebrauch verwendete man deshalb auch nie den Begriff ‚Landstände‘, sondern nur die kumulativen Bezeichnungen Ritterschaft und Städte oder Ritter- und Landschaft oder Prälaten, Ritter- und Landschaft.“ Daraus folgert er, dass die Stände „keine gemeinsame Körperschaft“ gebildet hätten. Allerdings kann man auf die Ständegesamtheit auch mit anderen Begriffen verweisen und daher widerspricht dieser Behauptung nicht nur die Nennung der gemeinen Landschaft 1527, sondern auch, dass spätestens der Vergleich von 1655 von der gesampten Stände Vernehmung oder Bewilligung (‚Vergleich Landgraf Wilhems VI. mit der Ritterschaft, Kassel 1655 Okt. 2‘, in: Hollenberg III, S. 56–66 (= Vergleich 1655), § 1, S. 58f.) spricht. Beide Begriffe meinen eindeutig einen kollektiven Akteur, der mehr ist als die Summe der Landstände. Hollenberg hat jedoch völlig recht damit, dass die Ständegesamtheit in Hessen – gemessen an den Maßstäben der Korporationstheorie – in der Praxis tatsächlich häufig nicht den Eindruck einer gemeinsamen Körperschaft macht. Entscheidend ist jedoch, ob es die Vorstellung eines kollektiven Akteurs gibt, unabhängig davon, ob dieser auch faktisch handlungsfähig ist. Vgl. etwa LTA 1532, § B 17, S. 88: Die rechnung von gemeiner ritterschafft und landschafft wegen […]; vgl. auch ebd., § B 11, S. 85, und ‚Landgraf Philipp fordert von der Stadt Rotenburg eine Ergänzung ihres Bürgereids durch eine Verpflichtung auf sein Testament. 1536 Nov. 9‘, in: Löwenstein (Bearb.), Rotenburg an der Fulda, Nr. 320, S. 363f., S. 363: mit unser gemeynen ritter- und landschaft. Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 20, meint allerdings, dass der Terminus ‚gemeine Landschaft‘ im engeren Sinne nur die Städte bezeichne. Das ist nicht der Fall, da nach 1532 das Adjektiv ‚gemein‘ wegfällt. Insofern kann man davon ausgehen, das unter ‚gemeiner Landschaft‘ die Ständegesamtheit, unter ‚Landschaft‘ hingegen nur die Städte verstanden werden. Vgl. auch Schubert, Die Landstände des Hochstifts Würzburg, S. 104f. In Bayern wird die Ständegesamtheit auch um 1600 noch ‚Landschaft‘ genannt,

3.2 Ständische Vielfalt: Die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung seit 1527

143

tativen Funktion auftraten. Insbesondere wird das deutlich an den Steuerbewilligungen, die das Hauptgeschäft der allgemeinen Landtage unter Philipp ausmachten. So etwa schon 1532: Laut Reichsabschied von 1530 durften die Reichsstände zur Aufbringung der bewilligten Türkenhilfe alle ihre Unterthanen um Hülff und Steuer ersuchen. 166 Und genau genau dazu kam es in Hessen auch, denn der Landtagsabschied von 1532 sprach ausdrücklich von einer gemeine[n] stewer, zu der laut Proposition allermenicklich und niemants ausgeschaiden nach gelegenhait und yder sein stants und vermoegens steure und sich anschlagen lassen mus. 167 Und der eigentliche Steueranschlag spezifizierte dann in aller Ausführlichkeit für die verschiedensten ständischen Gruppen und Vermögenswerte die jeweils geltenden Steuersätze. 168 Verabschiedet wurde dieses komplexe Regelwerk aber eben nicht von allen Untertanen, sondern von Landgraf Philipp im Verein mit der Ritterschaft und den Städten, also den beiden verbliebenen Landständen. Dieser Zusammenhang wurde später noch deutlicher herausgestellt: 1557 hieß es im Landtagsabschied, dass sich nach der fürstlichen Proposition ritterschafft, prelaten unnd die gesanten von stetten zu gemut gefurt unnd bedacht, das inen in vorberurten christlichen unnd fridlichen guten werken […], anderst nicht gepuren wolle, dan sich hirin mit undertheniger wilfariger gehorsam zu beweysen, weshalb sich sich verainigt, verglichen, bewilligt und verabschidt hätten, dass vorberurte summa angeschlagen, ufgefordert, gegeben, eingenommen unnd geliffert werden sollen wie volgt. 169 Daran schließt sich unmittelbar der folgende Satz an: Erstlich sollen alle haab unnd guter, renthe und zinse, ligendt unnd farende, nichts außgenommen, so in unsers gnedigen f. und hern zu Hessenn landen

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vgl. Dollinger, Studien zur Finanzreform Maximilians I. von Bayern in den Jahren 1598–1618, S. 50–52. ‚Abschied des Reichs-Tags zu Augspurg Anno 1530 aufgericht‘, in: Schmauß (Hg.), Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, II, S. 307–332, S. 324. LTA 1532, S. 76f.; vgl. zur Frage der Vermögensbesteuerung auch Krüger, Finanzstaat Hessen 1500–1567, S. 255–259. Regelungen wurden getroffen für: inländische geistliche und ehemals geistliche Einrichtungen, ausländische geistliche Einrichtungen, Hospitäler, Bezieher von Besoldungen, Adel, Stadtbewohner, bürgerliche Inhaber von Ritterdienstlehen und anderen Lehen, Gewerbetreibende, Amtsdiener, nichtadelige Landbewohner, Dienstboten, Hofgesinde, reisige Knechte, Handwerksgesellen, Tagelöhner, Juden (hier genannt in der Reihenfolge, wie die Gruppen in der Steuerordnung erwähnt wurden). Daneben wurden auch bestimmte Vermögenswerte direkt besteuert, unabhängig vom Stand des Besitzers. Vgl. LTA 1532, Teil A: Steueranschlag, S. 76–82. LTA 1557, S. 223. Unter Prälaten sind zu diesem Zeitpunkt die Vertreter der Universität zu verstehen.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

unnd obrigkeiten gelegen sein, sie stehen zu den geistlichen, denen von der ritterschafft, universiteten, stifften, clostern, reichen hospitalien oder andern, wer sie seien, sie seyen gesessen in- oder ausserhalb lants, in disse steur und anlage getzogen und den verordneten einnemern die steur davon erlegt werden soll. 170

In den beiden angeführten, aber auch den meisten anderen Abschieden zu Reichssteuern ist der Kreis derjenigen, die die Steuer bewilligen, also deutlich kleiner als der Kreis derjenigen, denen die Steuer auferlegt wird; offensichtlich waren, so Hollenberg, „gleichlautende Vereinbarungen mit Städten und Rittern […] für das ganze Land, auch für die Inhaber der geistlichen und ehemals geistlichen Besitzungen, verbindlich“. 171 Und, so ist hinzuzufügen, darüber hinaus galten sie beispielsweise auch für die Juden. Versteht man nun Repräsentation in analytischen Sinne als eine rein formale Zurechnungsregel, so kann man hier zwanglos davon sprechen, dass der allgemeine Landtag unter Landgraf Philipp immer dann (und nur dann!), wenn es um Reichssteuern ging, das Land im Sinne der Gesamtheit aller Untertanen repräsentierte, weil die Bewilligung dieser Steuern durch die zu den allgemeinen Landtagen berufenen Stände, also Ritter und Städte, bzw. seit 1557 Prälaten, Ritter und Städte, alle Untertanen band. 172 Hatte also Hans Siebeck dann nicht recht damit, dass es eine landständische Verfassung im Fürstentum Hessen schon „seit dem vierten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts“ gegeben habe, weil seit der ersten Bewilligung einer 170

171 172

Ebd., S. 224. So oder ähnlich lauten dann auch später die Abschiede; vgl. LTA 1566, § 1, S. 243; LTA 1576, § A 1, S. 314; auf diesen sogenannten ‚Treysaer Anschlag‘ beziehen sich dann die folgenden Bewilligungen ausdrücklich als normatives Fundament: LTA 1583, § 1, S. 330; LTA 1594, § 1, S. 361; LTA 1598, § 1, S. 372f.; LTA 1603, § 1, S. 395. Hollenberg, Einleitung I, S. 11f. Genau diese Folgerung lehnt Hollenberg, Einleitung I, S. 22, explizit ab. Zu dem Satz: „Über die Hälfte von Land und Leuten gehörte also zum Domanium des Landgrafen und nicht zum Einflußbereich der Landstände“, setzt er folgende Anmerkung hinzu: „Die Gleichsetzung des Landtags mit dem Land ist insofern irreführend wie die Gleichsetzung des Reichstags mit dem Reich, weil auch die versammelten Reichsstände nur für den (in diesem Fall überwiegenden) Teil des Reiches standen, der nicht zum Hausgut des Kaisers gehörte“ (Hervorhebung T. N.; ähnlich auch in Hollenberg, Die Repräsentation von Land und Leuten in Hessen, S. 37). Zehn Seiten vorher aber hatte er noch festgehalten, dass „gleichlautende Vereinbarungen mit Städten und Rittern […] für das ganze Land, auch für die Inhaber der geistlichen und ehemals geistlichen Besitzungen, verbindlich“ seien. Eine eindeutigere „Gleichsetzung des Landtags mit dem Land“ ist kaum denkbar und von ihm selbst hier auch zugegeben. Dass Hollenberg diesen Zusammenhang nicht Repräsentation nennen will, liegt daran, dass er Repräsentation im Zusammenhang mit Interessenvertretung sieht. – Vgl. hingegen Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 122–125, wo ebenfalls die Steuerbewilligung als Prüfstein für das Vorliegen politischer Repräsentation namhaft gemacht wird.

3.2 Ständische Vielfalt: Die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung seit 1527

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Reichssteuer 1532 der „Landtag als dauernde Verfassungseinrichtung zur Vertretung des Landes“ anzusehen sei? 173 Diese Folgerung ist allerdings zu weitreichend, weil ihre empirische Grundlage, also die prinzipiell zutreffende Beobachtung, dass die hessischen Landstände unter Philipp auf allgemeinen Landtagen Steuern für das ganze Land bewilligten – und damit das Land faktisch repräsentierten –, zu stark gemacht und überbewertet wird. Daher wird im Folgenden die Bedeutung der allgemeinen Landtage und ihrer Repräsentationsfunktion, wie sie in der Steuerbewilligung zum Ausdruck kommt, relativiert und auf das richtige Maß zurückgeführt; dazu werde ich drei Argumente entwickeln, die es stattdessen nahelegen, den Zeitpunkt, ab dem man von einer Entwicklung hin zur landständischen Verfassung sprechen kann, zeitlich noch weiter nach hinten zu verschieben.

3.2.2 Landesrepräsentation als Spezialfall: Die Bedeutung der Reichssteuern und die Vielfalt der Landtagsformen Erstens ist die für Siebecks Argument zentrale Verbindung von allgemeinen Landtagen und allgemeinverbindlichen Steuerbewilligungen noch einmal genauer in den Blick zu nehmen, denn so eindeutig stellt sich die Repräsentationsfunktion der Ständegesamtheit in den ersten Jahrzehnten nach 1532 nicht dar. Auffällig ist hier zunächst, dass die Landstände in mehreren Fällen kein Problem darin sahen, dass allgemeinverbindliche Reichssteuern zwar erhoben, aber nicht zuvor von einem allgemeinen Landtag im engeren Sinn bewilligt wurden. Als etwa 1542 wieder eine Türkensteuer ausgeschrieben werden sollte, da berief Landgraf Philipp die Städte für den 1. Januar nach Kassel und die Ritter für den 8. Januar zum Spieß, von wo man später nach Melsungen auswich. 174 Sowohl der Städte- wie auch der Ritterlandtag bewilligten daraufhin getrennt voneinander eine Türkensteuer nach dem Anschlag von 1532, also als für das ganze Fürstentum verbindliche Abgabe. 175 Und die Steuerausschreiben 173 174

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Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 1. Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 81, meint, dass diese Trennung nicht beabsichtigt war. Vgl. dagegen mit überzeugenden Argumenten Hollenberg I, S. 121, Anm. 2. Vgl. LTA 1542 Jan. 1, S. 121f: Auff dem lanndtage zu Cassel, prima Januarii anno domini tausent funfhundert virtzig unnd zwey angesatzt, haben die stette des furstennthumbs und der graveschafft nachgemelte bewilligung gethain: Das sie wollenn ein ganntze turckennsteuer, nemblich vom gulden vier phennige, auf Ostern nechstkunfftig erlegenn nach dem alten annschlage unnd denn registern. – LTA 1542 Jan. 10, S. 12: Nachdem Landgraf Philipp seiner furstlichen gnaden landtsassen vom adell und der ritterschaft

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

zeigen deutlich, dass auch in der Praxis nicht nur die Ritter und ihre Hintersassen bzw. die Städte und Ämter die Steuer zahlten, sondern auch die anderen 1532 für steuerpflichtig erklärten Gruppen herangezogen wurden. 176 Als weiteres Beispiel lässt sich der Homberger Landtag des Jahres 1551 anführen: Zwar handelte es sich in diesem Fall wieder um einen allgemeinen Landtag, allerdings konnten sich Ritter und Städte nicht darüber einigen, nach welchem Modus die 20 000 fl. aufgebracht werden sollten, die noch an den Reichsfiskal zu entrichten waren. Daher schlossen Statthalter und Räte – Landgraf Philipp befand sich noch in kaiserlicher Gefangenschaft – mit jedem Landstand einen eigenen Abschied: Zuerst bewilligten die Städte eine allgemeine Vermögenssteuer von 0,33 % zur Aufbringung der gesamten Summe von 20 000 fl.; nach weiteren Verhandlungen fanden sich dann schließlich auch die Ritter bereit, in einem eigenen Abschied bis zu 4 000 fl. nach demselben Erhebungsmodus zuzusagen. 177 Die allgemeine Vermögenssteuer war also weder 1542 noch 1551 durch einen gemeinsamen Abschied der beiden Landstände auf einem allgemeinen Landtag zustande gekommen, sondern durch mehr oder weniger voneinander unabhängige Einzelbewilligungen. Bedenken oder gar Proteste gegen dieses Vorgehen von Seiten der Stände sind nicht überliefert und daher wird man davon ausgehen müssen, dass zunächst auch eine räumlich und zeitlich getrennte Bewilligung durch die beiden Landstände als ausreichend galt, um eine allgemeine Reichssteuer ins Werk zu setzen. 178

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des fursstenthumbs tzu Hessen und der einverleipten graveschafften beschrieben hat, haben diese bewilligt, dass sie, die vom adell, ein gantze turckensteur laudt des furigen anschlags, so auf freitag nach Kiliani anno etc. dreissigtzwai tzu Homburgk gemacht worden ist, […] geben und liffern sollen. Dass es sich tatsächlich um eine allgemeine Steuer handelte, wird daran deutlich, dass auch die lehnsabhängigen Grafen beschrieben wurden und die auswärtigen Besitzer von Gütern; vgl. Hollenberg I, S. 123, Anm. 14 und S. 126, Anm. 7. – Die Ritter setzten allerdings die Befreiung ihres eigenen Ackerbaus von der Steuer durch; der Beginn einer Entwicklung, die später zur sogenannten ‚Tafelgutsfreiheit‘ führen sollte, der umfassenden Steuerbefreiung der selbst genutzten Güter des Adels. Vgl. LTA 1551 März, a.) Abschied mit den Städten, S. 183–189 und b.) Nebenabschied mit der Ritterschaft, S. 190f. In diesem Fall war der ritterschaftliche Nebenabschied Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 123, nicht bekannt, weshalb er zu dem falschen Schluss kommt, die Ritterschaft habe die Steuer verweigert und daher sei es zu keiner allgemeinen Vermögenssteuer gekommen. Vgl. dazu Hollenberg I, S. 189, Anm. 19. Hinzuzufügen ist, dass die Türkensteuer, über die 1542 verhandelt wurde, nicht vom Reichstag in einem Reichsabschied, sondern von einem Fürstentag, der im Oktober 1541 in Naumburg tagte, beschlossen wurde. Die reichsrechtliche Legitimität dieser Steuer ist daher zweifelhaft. Das scheint jedoch in Hessen keine Rolle gespielt zu haben, wie der

3.2 Ständische Vielfalt: Die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung seit 1527

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Weiterhin ist auffällig, dass auch allgemeine Landtage stattfanden, die keine allgemeinverbindlichen Steuern beschlossen, obwohl es um eine möglichst weitreichende Finanzierung bestimmter Vorhaben ging. So trat etwa im Jahr 1536 ein allgemeiner Landtag in Homberg zusammen, der zur Bewilligung von Geldern für einen eventuellen Verteidigungsfall und für den Kriegsschatz des Schmalkaldischen Bundes anberaumt worden war. 179 Und obwohl es sich um einen allgemeinen Landtag handelte, denn der Landgraf hatte unnsere liebe getreuenn von dem adell unnd stettenn des furstenthumbs zu Hessenn und der graveschafft Catzenelenpogenn nach alter gewonheit beschrieben, 180 so kam es in diesem Fall nicht zu einer allgemeinen Steuer. Stattdessen enthielt der Landtagsabschied drei separate Bewilligungen für zwei verschiedene Zwecke: Um für eine eventuelle Verteidigung Hessens gerüstet zu sein, bewilligten zum einen wir vom Adel […], das unsere undersasßenn vonn burgern unnd bawrenn die negeste zwei jar nacheinander ein gantze turckensteure von iren guternn zahlen sollten; 181 zum andern habenn die vonn stettenn von wegenn gemeiner lanttschafft sich undertheniglich bewilligt, das sie sambt unsern gerichtenn unnd baurschafftenn, wie das herkomen ist, uff negstkomende Weihenachtenn ein halbe turckensteur gebenn sollenn und wollenn. 182 Die so erzielten Gelder sollten in Marburg und Kassel deponiert und nur mit Bewilligung der Landstände ausgegeben werden. Für den Kriegsschatz des Schmalkaldischen Bundes bewilligten die Städte zusätzlich eine halbe Landsteuer von 30 000 fl., die allein von Städten und Ämtern zu tragen war. 183 Hier lag keine Landesrepräsentation im Sinne einer Zurechnung für alle Landeseinwohner vor: Die Ritter auf der einen Seite zahlten selbst gar nichts und erlaubten die Belastung ihrer eigenen Hintersassen aufgrund ihrer eigenen Herrschaftsrechte; die Städte andererseits bewilligten sogar zwei unterschiedliche Steuern, die beide nur von ihnen selbst und den in

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explizite Bezug auf die reichsrechtlich einwandfrei begründete Türkensteuerordnung von 1532 zeigt. Vgl. grundsätzlich Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund. LTA 1536, S. 100. LTA 1536, § 5, S. 102. Zusätzlich sollten die den Adeligen unterstehenden Schäfer eine Abgabe zahlen. LTA 1536, § 6, S. 103. Dieser Paragraph sah ebenfalls eine Sonderabgabe für landesherrliche Schäfer vor. LTA 1536, § 8: so haben di gemelte unsere von stettenn unns tzu underthenigem gefallenn vonn irer und gemeiner lanntschafft unnd baurschafft wegen verwilligt, eine halbe lanntsteur […] zu gebenn unnd zu erlegenn. Es handelte sich um eine Matrikularsteuer, die nach festen Quoten auf die Städte und Ämter umgelegt wurde. Wie Städte und Ämter die ihnen zugewiesenen Summen aufbrachten, war ihnen überlassen; vgl. Ruppersberg, Die hessische Landsteuer bis zum Jahre 1567, und Hollenberg, Einleitung I, S. 43–46.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

den landesherrlichen Ämtern lebenden Untertanen aufzubringen waren – von einer Steuerpflicht aller Landesbewohner war hier keine Rede, weder wurden geistliche und ehemals geistliche Institutionen erwähnt, noch Sondergruppen wie Juden oder Besoldungsempfänger. Anders als noch 1532 und dann wieder ab 1557 bewilligte also in diesem Fall nicht die Ständegesamtheit allgemeine Steuern für ganz Hessen, sondern die einzelnen Landstände beschlossen ‚Sondersteuern‘ – die Ritter für ihre eigenen Untertanen und die Städte für sich selbst und die Ämter. 184 Ein wenig überspitzt lässt sich formulieren, dass der Landtagsabschied von 1532 im Hinblick auf die Steuern im Wege der Repräsentation des Landes durch die Landstände, der von 1536 hingegen im Wege der Addition ständischer Sondersteuern zustande kam. Anzunehmen ist, dass der fehlende reichsrechtliche Kontext zu diesem frühen Zeitpunkt eine allgemeinverbindliche Steuer noch ausschloss. Es zeigt sich also, dass die Verbindung von allgemeinem Landtag und allgemeinverbindlicher Steuerbewilligung seit 1532 nicht wechselseitig exklusiv war: Es gab in den ersten Jahrzehnten nach dem Wiederaufleben der Ständeversammlungen in Hessen zum einen allgemeine Landtage ohne allgemeinverbindliche Steuerbewilligungen und zum andern allgemeinverbindliche Steuerbewilligungen ohne allgemeine Landtage. Daraus ist der Schluss zu ziehen, dass die Ständegesamtheit im Fall der Bewilligung von Reichssteuern – und nur in diesem Fall – faktisch als Repräsentantin der Untertanengesamtheit handelte, wie sich ex post feststellen lässt. Aber der allgemeine Landtag war erstens noch nicht die einzig mögliche Form, in der das geschehen konnte, und zweitens – und wichtiger – lag diesem Handeln noch kein expliziter Anspruch der Landstände zu Grunde, der das Recht der allgemeinverbindlichen Steuerbewilligung oder gar allgemeinverbindlicher Beschlüsse generell für die versammelte Ständegesamtheit reklamiert hätte. 185 184

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Vgl. auch Schubert, Die Landstände des Hochstifts Würzburg, S. 100. – Das heißt gleichwohl nicht, dass hier überhaupt keine Repräsentation vorliegt: Die anwesenden Ritter repräsentierten als korporative ‚Ritterschaft‘ die abwesenden Ritter, für die die Beschlüsse ebenfalls galten (Vgl. Hollenberg, Die Repräsentation von Land und Leuten in Hessen, S. 35f.). Ebenso repräsentierten die anwesenden Städte als korporative ‚Landschaft‘ sowohl die abwesenden Städte als auch die ohnehin nicht landtagsberechtigten Ämter (Vgl. Hollenberg, Einleitung I, S. 11f.). Der Unterschied ist nur, dass keine Gesamtrepräsentation für das Fürstentum Hessen vorliegt. Anders gewendet und auf Hollenberg bezogen: Ihm ist zuzustimmen, dass die Stände im 16. Jahrhundert nicht den Anspruch auf die politische Repräsentation des Fürstentums/ der Untertanengesamtheit erhoben (vgl. Hollenberg, Die Repräsentation von Land und Leuten in Hessen, S. 34: „Sehen wir uns die Verlautbarungen der Ritter und Städte an, dann sehen wir, dass sie unter Philipp nie wieder den Anspruch erhoben, alle Einwohner Hessens zu repräsentieren oder ein Mandat von anderen als den Angehörigen

3.2 Ständische Vielfalt: Die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung seit 1527

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Um die Jahrhundertmitte stabilisierte sich die Verbindung allerdings und Reichssteuern wurden seit 1557 nur noch von allgemeinen Landtagen bewilligt. 186 Aber wie die oben angeführten Beispiele zeigen, begriffen die Landstände selbst diesen Zusammenhang zunächst nicht als Norm: Das kollektiv verpflichtende, also repräsentative Handeln des allgemeinen Landtags unter Landgraf Philipp setzte daher nicht den traditionellen Anspruch der Ständegesamtheit auf umfassende politische Beteiligung fort, wie er in der Vormundschaftszeit noch erhoben worden war, sondern erwuchs aus den praktischen Notwendigkeiten, welche die reichsrechtlich erlaubte, später sogar gebotene Umlegung der Reichssteuern auf die Untertanen mit sich brachte – insofern verweist der allgemeine Landtag in dieser Hinsicht gerade nicht auf alte landschaftliche Partizipationstraditionen, sondern auf die neuen Probleme, die sich aus der frühneuzeitlichen Herrschaftsverdichtung ergaben. 187 Kurz: Die von Siebeck angeführte „Vertretung des Landes“ war eine neue Funktion, die sich seit 1532 allmählich mit der Institution des allgemeinen Landtags verband; eine Verbindung, die in den ersten Jahrzehnten weder stabil war noch von den Landständen als Recht reklamiert wurde. Ein zweites Argument zur Relativierung des Stellenwerts des allgemeinen Landtags als „Landesrepräsentation“ lässt sich gewinnen, wenn der Blick ausgeweitet und andere Landtagsformen in die Betrachtung mit einbezogen werden. Nach dem oben Gesagten ist klar, dass schon der allgemeine Landtag selbst nicht auf seine ‚neue‘ Funktion als Bewilligungsgremium für allgemeine Reichssteuern reduziert werden kann. 1536 etwa garantierten die vom adel und steten von wegen gemeiner lantschafft ein Testament Philipps, den evangelischen Konfessionsstand und die Stiftungen, die mit dem ehemaligen Klostervermögen ausgestattet worden waren. 188 Des weiteren schworen Ritter- und Landschaft im

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ihrer eigenen Stände zu haben.“). Gegen Hollenberg wird man aber trotzdem festhalten müssen, dass das Handeln der Ständegesamtheit trotzdem in einem bestimmten Kontext, nämlich bei Reichssteuern, faktisch als ‚repräsentativ‘ einzustufen ist. Vgl. LTA 1557; LTA 1560; LTA 1566; LTA 1576; LTA 1583; LTA 1594; LTA 1589; LTA 1603. Die Ausnahme, die die Regel bestätigt, ist der engere Landtag des Jahres 1572, der ebenfalls eine Reichssteuer beschloss. So auch Schubert, Die Landstände des Hochstifts Würzburg, S. 108, und, für Hildesheim, Klingebiel, Einleitung, S. 42f. Vgl. LTA 1536, § 1, S. 100: Die Landstände sagen zu, dass sie seiner furstlichen gnaden testament stedt, vest und getrewlich haltenn, hannthaben und volnstrecken und darwidder nicht thun wollen in keinen wegk inhalt einer verschreibung solchs weither meldende; in § 2, S. 101, sagen sie zu, dass sie bey dem glauben und ceremonien, so sein furstlich gnade und wir mit derselbigen angenomenn und bekennet habenn, pleibenn, auch di spittal, hohen schule, casten und was sein furstliche gnade gestifftet und ufgerichtet hat, rewlich hannthaben, schuzen und schirmen wollenn. – Vgl. auch die Formulierung mit

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

Rahmen eines allgemeinen Landtags im Jahr 1547, alle Bestimmungen der sogenannten Halleschen Kapitulation zu halten und eventuelle Verstöße des Landgrafen an den Kaiser zu melden. 189 Die Kapitulation beinhaltete die Bedingungen, zu denen der Kaiser die über den Landgrafen verhängte Reichsacht aufheben würde. 190 Und als Philipp schließlich infolge des Passauer Vertrages 1552 wieder aus der kaiserlichen Gefangenschaft entlassen wurde, garantierten die Landstände die inzwischen deutlich modifizierte Kapitulation erneut. 191 Man sollte diese Handlungen, obwohl sie auch auf allgemeinen Landtagen vorgenommen wurden, nicht im Zusammenhang mit der oben geschilderten ‚neuen‘ Repräsentationsfunktion des Landtags bei Reichssteuern sehen. Hier handelte es sich vielmehr darum, ganz allgemein die politische Unterstützung der Landstände und damit der politischen Eliten bei wichtigen Entscheidungen zu sichern; ein Vorgehen, das in Kontinuität zur Vormundschaftszeit und den älteren Traditionen ständischer Herrschaftspartizipation stand, was etwa daran sichtbar wird, dass auch die lehnsabhängigen Grafen und Edelherren die betreffenden Garantieurkunden besiegelten, obwohl sie an den Landtagen selbst schon nicht mehr teilnahmen.

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unser gemeynen ritter- und landschaft (‚Landgraf Philipp fordert von der Stadt Rotenburg eine Ergänzung ihres Bürgereids durch eine Verpflichtung auf sein Testament. 1536 Nov. 9‘, in: Löwenstein (Bearb.), Rotenburg an der Fulda, Nr. 320, S. 363f., S. 363). Vgl. ‚Garantie der Kapitulation. Kassel 1547 Juli 15‘, in: Hollenberg I, S. 168–172. Zum ereignisgeschichtlichen Kontext vgl. Rabe, Deutsche Geschichte 1500–1600, S. 392–403, Heinemeyer, Das Zeitalter der Reformation, S. 249–260, und Sundermann, Land ohne Landgraf, Regierung ohne Regent? – Der Eid wurde nur Ritter- und Landschaft abgenommen, aber die Garantieurkunde wurde auch von drei Grafen und einem Edelherren besiegelt, nämlich Philips der elter, Walrabe und Johann, gevettern unnd gebruder, graven zu Waldecken, unnd Ditherich, edler herr zu Pleß. Vgl. ‚Hallesche Kapitulation. Halle 1547 Juni 19‘, in: Hollenberg I, S. 163–168. Die Kapitulation sah die Garantie durch die hessischen Untertanen sogar selbst vor: Item der adel und alle underthanen seines landes sollen alles obgeschriben zu halten schweren, die dan gedachter landtgraff derhalben aller irer aide und pflicht, damit sy ime verpunden, doch allaine der ursach, das sy ime den sachen, so dem obgeschribnen zuwider, gehorsam zu laisten nicht schuldig, erlassen. Und im falle, da der landtgraf hiezu [wider etw]as handlet, so sollen gedachter adel und underthane schuldig sein, nach seiner person zu greiffen und irer maistat ine zu uberantworten (ebd., S. 167). Dass dann in der Praxis nicht adel und alle underthanen, sondern Adel und Städte schworen, belegt einmal mehr, dass die Städte als Teilrepräsentanten der (nichtadeligen) Untertanen in Städten und Ämtern angesehen wurden. Vgl. ‚Garantie der modifizierten Kapitulation. [Homberg] 1552 Sept. 27‘, in: Hollenberg I, S. 196–200. Auch diesmal nahmen die Grafen und Edelherren nicht am Landtag teil, besiegelten aber die Urkunde; es handelte sich um Wilhelm von Sein, grave zu Witgenstein, Walrab und Philips der elter, graven zu Waldecken, Diederich, edelher zu Pleß (ebd., S. 199).

3.2 Ständische Vielfalt: Die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung seit 1527

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Ist also die ‚neue‘ Art der Reichssteuerbewilligung qua (impliziter) Landesrepräsentation schon nur eine Funktion des allgemeinen Landtags unter anderen, so relativiert sich seine Bedeutung noch mehr, wenn man in Betracht zieht, dass auch der allgemeine Landtag selbst wiederum nur einen Landtagstyp unter anderen darstellt:

Abbildung 2: Allgemeine Landtage, Städte- und Ritterlandtage unter Landgraf Philipp

Wie sich Abbildung 2 entnehmen lässt, war es nämlich auch möglich, die Ritterschaft und die Städte getrennt voneinander zu versammeln, also Ritter- bzw. Städtelandtage abzuhalten, wobei die Städte deutlich häufiger berufen wurden. 192 Nun wurden diese spezielleren Ständeversammlungen nicht nur von den Zeitgenossen ausdrücklich als Landtage bezeichnet, 193 sondern sind auch in analytischer Hinsicht als solche einzustufen, denn Ritterlandtage und Städtelandtage erfüllten unter Landgraf Philipp Funktionen, die denen des allgemeinen Landtags strukturell analog waren – insbesondere bewilligten sie auch Steuern. 194

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Ritterlandtage fanden unter Landgraf Philipp statt: 1542, 1555. Städtelandtage fanden unter Landgraf Philipp statt: 1526, 1531, 1533, 1539, 1542, 1544, 1546 (Juni), 1546 (Dez.), 1548 (Mai), 1548 (Juni), 1551, 1553, 1555, 1556, 1558, 1567; eigene Auszählung nach Hollenberg I. Vgl. LTA 1542 Jan. 1, S. 121: Auff dem lanndtage zu Cassel. Es handelte sich um einen Städtelandtag; vgl. auch Hollenberg, Einleitung I, S. 11; vgl. auch Schaupp, Die Landstände in den zollerischen Fürstentümern Ansbach und Kulmbach im 16. Jahrhundert, S. 92f.: „Mit ‚landtag‘ oder ‚landstag‘ wurden im 16. Jahrhundert landständische Versammlungen generell bezeichnet – in welcher Zusammensetzung auch immer.“ Vgl. auch die Tabellen in ebd., S. 48–58, die für das 16. Jahrhundert zeigen, dass es Prälaten-, Ritter- und Städtelandtage gegeben hat.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

Und dies, bevor sich ab 1532 das Problem der Reichssteuern überhaupt stellte, denn schon 1526 und 1531 hatte Philipp Städtelandtage abgehalten, die Landsteuern im Wert von 60 000 bzw. 20 000 fl. bewilligten. 195 Bei der Landsteuer – laut Kersten Krüger die „unter Philipp dem Großmütigen am häufigsten erhobene Sondersteuer“ 196 – wurde von der Landschaft eine bestimmte Summe bewilligt, die aufgrund einer feststehenden Matrikel auf die einzelnen Städte und Ämter umgelegt oder ‚repartiert‘ wurde; Adel, Geistlichkeit (bzw. nach der Reformation ihre Rechtsnachfolger) hingegen genossen Steuerfreiheit, die sich auch auf ihre jeweiligen Hintersassen erstreckte. 197 Diese landschaftliche Matrikelsteuer besaß nun eine mindestens bis ins 15. Jahrhundert zurückreichende Tradition und ließ sich mit direktem Bezug auf die Belange der Landgrafschaft einfordern und einsetzen – beides galt nicht für die erst im Zuge der Türkenhilfe eingeführten und offiziell an das Reich zu liefernden allgemeinen Vermögenssteuern. 198 Die Landsteuer wurde zu ganz unterschiedlichen Anlässen erhoben: für die Eheabfindungen der landgräflichen Töchter (1526, möglicherweise 1531, 1551), für das Errichten von Festungen (1533, 1539, 1553) wie für ihre spätere Schleifung (1548), für Abfindungszahlungen (1558) und darüber hinaus für die ‚außenpolitischen‘ Verpflichtungen des Landgrafen jenseits der reinen Reichssteuern. 199 195

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Für beide Städtelandtage sind keine schriftlichen Abschiede überliefert; Hollenberg I, Nr. 1, S. 61–63, teilt für 1526 eine Vollmacht der Stadt Hersfeld und eine Steuerquittung für die Stadt Vacha mit; für 1531 eine Supplik der Stadt Vacha. Zur Landsteuer vgl. Ruppersberg, Die hessische Landsteuer bis zum Jahre 1567; Hollenberg, Einleitung I, S. 43–46; Krüger, Finanzstaat Hessen 1500–1567, S. 251–255. Krüger, Finanzstaat Hessen 1500–1567, S. 251. Vgl. Ruppersberg, Die hessische Landsteuer bis zum Jahre 1567, S. 32f., und Hollenberg, Einleitung I, S. 46. Eine ‚Landsteur-Tafel des gantzen Furstentumbs Heßen‘ findet sich in Zimmermann, Der ökonomische Staat Landgraf Wilhelms IV., II, S. 145– 152. Es handelt sich um eine Gegenüberstellung der Quoten der Türkenhilfe von 1566 einerseits und der alten Landsteuerquoten andererseits. Eine Übersicht der Landsteuermatrikeln von 1526–1583/85 findet sich in Hollenberg I, S. 430–436, in die auch die Landsteuertafel aus dem ‚Ökonomischen Staat‘ einbezogen ist. Gleichwohl hat Landgraf Philipp vor dem Schmalkaldischen Krieg die Erträge der Türkensteuern von 1532, 1542 und 1544 nur zum geringeren Teil an das Reich abgeführt und den größeren Teil für „hessische Kriegszüge“ verwendet (Krüger, Finanzstaat Hessen 1500–1567, S. 287). Für Eheabfindungen vgl. Hollenberg I, Nr. 1: Landsteuer 1526, S. 61–63; Nr. 3: Landsteuer 1528, S. 69–71; LTA 1551 Jan.; für den Festungsbau vgl. Hollenberg I, Nr. 6: Festungsbausteuer und Landesordnungen 1533, S. 92–96, Nr. 10: Festungsbausteuer 1539, S. 117f.; LTA 1553; für die Schleifung von Festungen vgl. Hollenberg I, Nr. 26: Beitrag zu den Kosten der Festungsschleifung 1548, S. 179–181; für Abfindungszahlungen an Nassau-Dillenburg für die Grafschaft Katzenelbogen vgl. LTA 1558, S. 232–234;

3.2 Ständische Vielfalt: Die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung seit 1527

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Da jedoch die Finanzierung der aktiven Reichs- und Bündnispolitik und vor allem der damit verbundenen Kriegszüge das Einkommen Philipps immer noch deutlich überforderte, bewilligten die Städte erstmals 1553 für acht Jahre die sogenannte Tranksteuer, eine kontinuierliche Verbrauchssteuer vornehmlich auf Bier und Wein. 200 Und auch die Ritterlandtage konnten Steuern beschließen: Zwei Jahre nach den Städten weitete die Ritterschaft die Tranksteuer auf ihre eigenen Hintersassen aus. 201 Vergleicht man nun die Steuerbewilligungen der verschiedenen Landtagstypen unter Philipp, so zeigt sich, dass die von Ritter- bzw. Städtelandtagen ausgeschriebenen Land- und Tranksteuern nominal eine fast doppelt so hohe Summe einbringen sollten wie die Vermögenssteuern der allgemeinen Landtage, wobei letztere zudem offiziell zu großen Teilen an das Reich abzuführen waren. 202 Sicherlich waren dem allgemeinen Landtag die wichtigsten Landessachen vorbehalten, aber zumindest im Hinblick auf seine Finanzierungsfunktion war er nur ein Landtagstyp unter anderen, vielleicht sogar ein nachrangiger, denn auch über die Berufung einzelner Landstände und die von ihnen bewilligten Sondersteuern ließen sich finanzielle Ressourcen mobilisieren. 203 Das Nebeneinander von allgemeinen, ritterschaftlichen und landschaftlichen Landtagen und die Möglichkeit, mit beiden Ständen einzeln Landtagsabschiede zu schließen, belegt daher, dass, so Hollenberg, „Ritterschaft und Städte […] keine gemeinsame Korporation [bil-

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1544 bewilligte die Landschaft eine Landsteuer als „Defensivhilfe“ gegen Frankreich (vgl. Hollenberg I, Nr. 14: Defensivhilfe gegen Frankreich, S. 127–129), 1546 Gelder für den anstehenden Schmalkaldischen Krieg (LTA 1546 Juni, S. 138f). Vgl. Hollenberg, Einleitung I, S. 54–56, und Krüger, Finanzstaat Hessen 1500–1567, S. 279–284. Vgl. LTA 1555 Okt. Daneben bewilligte dieser Ritterlandtag auch noch eine Vermögenssteuer, die vom Adel und seinen Hintersassen zur Abfindung von Nassau-Dillenburg aufzubringen war. Berechnung nach ‚Steuersummen 1526–1603‘, in: Hollenberg I, S. 444f. Land- und Tranksteuer addierten sich während der Regierungszeit Philipps auf rund 1 100 000 fl., während die Vermögenssteuern nur rund 630 000 fl. einbringen sollten. Die Zuordnung von Land- und Tranksteuer zu den Ritter- bzw. Städtelandtagen einerseits und der Vermögenssteuern zu den allgemeinen Landtagen hat Ausnahmen: So bewilligte auch der Ritterlandtag von 1555 eine Vermögenssteuer für den Adel und seine Hintersassen (vgl. LTA 1555 Okt., S. 215f.), ein Städtelandtag 1546 eine Vermögenssteuer für den Schmalkaldischen Bund (vgl. LTA 1546 Dez., S. 143–146) und ein allgemeiner Landtag von 1536 eine Landsteuer für denselben Zweck (vgl. LTA 1536, S. 104). Dies ändert aber nichts am Gesamtbild. Vgl. auch Quarthal, Landstände und landständisches Steuerwesen in SchwäbischÖsterreich, S. 9, und Haug-Moritz, Zur Genese des württembergischen Landtags in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, S. 126.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

deten]“. 204 Das ist zwar zu ausschließlich formuliert, denn im Hinblick auf die Bewilligung allgemeinverbindlicher (Reichs-)Steuern wurden die beiden Stände zunehmend als einheitliche Korporation angesehen, aber richtig ist, dass sie in allen anderen Fällen unabhängig voneinander agierten. Damit spricht diese Situation der ‚ständischen Vielfalt‘, wie sie in Hessen unter Landgraf Philipp bestand, gegen das Vorliegen einer landständischen Verfassung, denn die korporative Geschlossenheit der Ständegesamtheit gehört zu den wesentlichen Bestandteilen des Strukturtyps. Und es ist selbst fraglich, ob man bei den beiden Landständen in strengen Sinne von Korporationen sprechen kann. Hinweise darauf lassen sich aus einer weiteren Ausweitung des Blicks gewinnen, denn die ständische Vielfalt ist noch größer.

Abbildung 3: Landtagsformen unter Landgraf Philipp im Überblick

Der Landesherr konnte nämlich prinzipiell alle drei bisher behandelten Landtagstypen auch noch in einer ‚engeren‘ Form einberufen; für die allgemeinen und Städtelandtage geht das unmittelbar aus Abbildung 3 hervor, aber unter den Nachfolgern Philipps kam es auch zu engeren Ritterlandtagen. 205 Zu engeren Landtagen wurde vor allem dann gegriffen, wenn der Landgraf schnell politische Unterstützung mobilisieren wollte 204 205

Hollenberg, Einleitung I, S. 11. Engere allgemeine Landtage fanden unter Landgraf Philipp statt: 1534, 1540, 1547 (Mai), 1547 (Okt.), 1547 (Dez.), 1552, 1567; engere Städtelandtage fanden unter Landgraf Philipp statt: 1528, 1537, 1544, 1546, 1551, 1563. Auszählung nach Hollenberg I. Ein engerer Ritterlandtag fand etwa 1583 statt. – Vgl. auch Schaupp, Die Landstände in den zollerischen Fürstentümern Ansbach und Kulmbach im 16. Jahrhundert, S. 60, die ebenfalls ‚engere‘ Landtagsformen („Ausschusstage“) auflistet; Schubert, Die Landstände des Hochstifts Würzburg, S. 110f.; Schirmer, Die ernestinischen Stände von 1485–1572, S. 40.

3.2 Ständische Vielfalt: Die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung seit 1527

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oder konkrete Probleme der Landes- und besonders der Steuerverwaltung erörtert werden mussten – Steuern bewilligten sie meist nicht. 206 Hinter der Bezeichnung ‚engerer‘ Landtag verbirgt sich jedoch kein Ausschusslandtag im herkömmlichen Sinne, denn solche wurden in Hessen erst im 17. Jahrhundert üblich. Derartige Ausschüsse sind in der Regel von der Ständegesamtheit oder den einzelnen Kurien eingesetzt und verhandeln im Namen der Landstände mit dem jeweiligen Landesherrn. 207 Bei den ‚engeren‘ Landtagen des 16. Jahrhunderts allerdings entschied über die Auswahl der zu Berufenden formal allein der Fürst; die Abschiede sprechen in solchen Fällen unspezifisch davon, dass etliche furnembsten von der ritterschaft und stedten 208 geladen wurden. Die Verwendung des Wortes furnembsten signalisiert, dass faktisch auf die Machtverhältnisse unter Rittern und Städten Rücksicht genommen wurde und zu solchen Tagen die Wortführer beider Gruppen erschienen. Zwar besaßen die Beschlüsse der engeren Landtage nicht dieselbe bindende Kraft wie die Abschiede der drei Typen von Volllandtagen, 209 aber allein die Tatsache, dass es letztlich doch der Landgraf war, der über die Zusammensetzung der Versammlung entschied, verweist darauf, dass die korpo-

206

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208 209

Vgl. dazu Hollenberg, Einleitung I, S. 12f.; Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 71–80. Für die politische Unterstützung vgl. die engeren Landtage von 1534 (‚Garantie des Testaments Landgraf Philips‘, in: Hollenberg I, S. 96f.), 1540 (‚Garantie des Salzwerkvertrages‘, in: ebd., S. 119f.), April 1567 (‚Erhöhung des Salzpreises‘, in: ebd., S. 250–256) und Mai 1547 (‚Kriegsberatungen 1547‘, in: ebd., S. 154f.); konkreten Verwaltungsfragen dienten die engeren Landtage von Okt. 1547 (‚Verbesserung der Vermögenssteuereintreibung 1547‘, in: ebd., S. 172– 177) und Dez. 1547 (‚Steuernachschuss 1547‘, in: ebd., S. 177f.). Letzterer Landtag bewilligte auch einen Steuernachschuss und derjenige vom Febr. 1552 eine Landsteuer (LTA 1552 Febr., S. 195). Zu letzterem Landtag und der Frage, ob ein engerer Landtag Steuern ausschreiben könne, vgl. Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 73f. Vgl. allgemein Oestreich, Zur parlamentarischen Arbeitsweise der deutschen Reichstage unter Karl V. (1519–1556); Lange, Zum Problem der Handlungsfähigkeit landständischer Versammlungen; Lange, Landtag und Ausschuss. Für Hessen vgl. Hollenberg, Einleitung III, S. XXIXf. LTA 1547, S. 172–177, S. 173. So auch in Bayern: Krey, Herrschaftskrisen und Landeseinheit, S. 247f. 1552 ließen die Ritter ausdrücklich im Abschied des engeren Landtags vermerken, dass wir von der ritterschaft anderst nicht dan vor unnsere personen, den andern vonn der ritterschafft, so nicht zugegenn gewessen, unvergreiff lichen und unverfenglichen, aber doch der hoffnunge, die andern vom adell werdenn dem auch also nachsetzen (LTA 1552 Febr., S. 194). Eine solche Klausel wäre bei allgemeinen oder Ritterlandtagen undenkbar, denn dadurch wird ja die Repräsentation der einzelnen Ritter durch die korrekt geladene und versammelte Ritterschaft aufgelöst.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

rative Geschlossenheit von Ritterschaft und Landschaft noch nicht weit entwickelt war. Dies gilt im Hinblick auf die Landtage insbesondere für die Ritterschaft, denn man wird mit Günter Hollenberg davon ausgehen müssen, dass „zu Lebzeiten Landgraf Philipps die Kriterien für die Landstandschaft der Ritter nicht präzise definiert waren“. 210 Auch bei der Ladung der gesamten Ritterschaft kam der fürstlichen Seite also immer noch ein erheblicher Ermessensspielraum zu. Allerdings verfügten die Ritter mit den adeligen Stiften Kaufungen und Wetter wenigstens über eine rudimentäre Organisationsform außerhalb der Landtage. Bei den Städten war es umgekehrt: Da die Landstandschaft hier nicht Personen, sondern der Stadt als Korporation zukam, die den stetigen Wechsel der Bürgermeister und Ratsmitglieder überdauerte, war einerseits relativ klar, welche Städte zu laden waren; andererseits verfügten die Städte nicht über außerlandtägliche Organisationsformen. Unter Landgraf Philipp waren weder die Ritterschaft noch die Landschaft im strengen Sinne korporativ verfasst, wenn man die Maßstäbe der Korporationstheorie anlegt. Es handelte sich vielmehr um mehr oder weniger klar abgegrenzte ständische Gruppen, die auf den Landtagen zwar in der Lage waren, als einheitlicher Landstand aufzutreten und einen einheitlichen Willen zu bilden, der auch die Abwesenden band, aber darüber hinaus sie waren nur sehr rudimentär organisiert. 211 Landgraf Philipp konnte auf eine ganze Reihe von ständischen Beteiligungsformen zurückgreifen, die alle ihre eigene Logik und Funktion hatten. Hans Siebeck hat jedoch die Ritter- bzw. Städtelandtage als „Sondertagungen einzelner Kurien“ und die engeren Versammlungsformen als „unvollständige Landtage“ bezeichnet. 212 Beide Klassifizierungen sind 210

211 212

Hollenberg, Einleitung I, S. 18. Hier ist immer die Rede von der Ritterschaft als Landstand. Gleichzeitig entwickelte sich aus dem gemeinsamen Besitz der beiden Stifte Kaufungen und Wetter auch die Ritterschaft als Adelskorporation. Im 17. und 18. Jahrhundert stützte sich die „landtägliche Verfasstheit“ (Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 41) der Ritterschaft schließlich immer mehr auf ihre „stiftische Verfasstheit“ (ebd.), zumindest was die Frage der Mitgliedschaft betraf. Vgl. auch die verschiedenen Verfahren um die Aufnahme in die hessische Ritterschaft, etwa StAM 5, Nr. 18721: Ansuchen um Aufnahme in die hessische Ritterschaft des Hessen-Darmst. Obrist. v. Seebach (1756) und des Kurpfälz. Hauptmanns v. Seebach (1787), sowie deren Genehmigung; vgl. auch Wunder, Neuer Adel und Alter Adel in der Landgrafschaft Hessen-Kassel und im Kanton Rhön-Werra der fränkischen Reichsritterschaft (1650–1750), und Ders., Fürstenmacht und adlige Selbstbehauptung. So auch Haug-Moritz, Zur Genese des württembergischen Landtags in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, S. 125, und Klingebiel, Einleitung, S. 25, für Hildesheim. Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 80 und S. 71.

3.2 Ständische Vielfalt: Die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung seit 1527

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nur zu verstehen, wenn man bedenkt, dass Siebeck das Bestehen einer landständischen Verfassung in Hessen seit 1532 als gegeben annahm. Und unter dieser Voraussetzung erscheinen die genannten Landtagstypen und -formen dann ganz im Sinne der älteren Verfassungsgeschichte als ‚besonders‘ und ‚unvollständig‘ – nämlich im Hinblick auf den allgemeinen Landtag, die „Verfassungseinrichtung zur Vertretung des Landes“. 213 Interessiert man sich jedoch, wie es hier der Fall ist, für die institutionelle Genese dieser Ordnung, so gilt es zu vermeiden, eben diesen Prozess der Genese mit Hilfe von Kategorien zu begreifen, die erst der ausgebildeten landständischen Verfassung eigentümlich sind, denn ansonsten begeht man eine petitio principii. Daher kann die normative Vorrangstellung des allgemeinen Landtags, die zu den wesentlichen Kategorien der ausgebildeten landständischen Verfassung gehört, gerade nicht als Beurteilungsgesichtspunkt dienen, um die geschilderte ständische Vielfalt im Sinne von Norm und Normabweichung zu ordnen, sondern man muss die Situation der ständischen Vielfalt als solche würdigen. Dann aber verkehrt sich der Befunds Siebecks in sein Gegenteil: Der allgemeine Landtag mit Repräsentationsfunktion, analytisch also die Versammlung der Ständegesamtheit, deren Beschlüsse für das Land im Sinne aller Landesbewohner verbindlich sind, ist während der Regierungszeit Landgraf Philipps der eigentliche ‚Spezialfall‘. Erstens stellt der allgemeine Landtag selbst nur eine Form der in Hessen üblichen Ständeversammlungen dar; Ritterlandtage, Städtelandtage, engere allgemeine Landtage, engere Städtelandtage und theoretisch auch engere Ritterlandtage sind ebenso möglich und stehen dem allgemeinen Landtag an Legitimität in Nichts nach, sondern haben nur andere Funktionen. Zweitens kommt auch den allgemeinen Landtagen der Charakter der Landesrepräsentation nicht an sich zu, sondern ist noch eng gebunden an die Situation der Bewilligung von Reichssteuern. Nimmt man noch hinzu, dass auch die auf Ritter- bzw. Städtelandtagen bewilligten Land- und Tranksteuern einen wesentlichen Teil der Steuereinnahmen des Fürstentums ausmachten, so wird man angesichts der ständischen Vielfalt den Stellenwert des allgemeinen Landtags eindeutig relativieren und als Spezialfall bezeichnen müssen; in Anlehnung an Otto Brunner könnte man auch formulieren: Die hessischen Stände unter Philipp ‚sind‘ nicht immer das Land, sondern sie fungieren nur in einer sehr speziellen Situation ‚als Land‘, das heißt als Repräsentanten der Untertanengesamtheit. Und ‚als Land‘ handeln sie gerade dann, wenn reichs- oder bündnisrechtliche Kontexte berührt waren; ging es hingegen um alltägliche innerhessische

213

Ebd., S. 1.

158

3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

Belange, so traten Ritter und Städte vornehmlich als einzelne Stände des Landes und nicht in erster Linie als Ständegesamtheit auf. Daher darf die bei der Bewilligung von Reichssteuern wirksame Landesrepräsentation nicht von dieser Situation und ihren Umständen losgelöst und der Ständegesamtheit als solcher zugeschrieben werden.

3.2.3 „Garanten der Einheit“? Die Landesteilung 1567 und ihre Folgen Die hier entwickelte Deutung steht in einem deutlichen Widerspruch zur gängigen Meinung der hessischen Landesgeschichte; Volker Press etwa formulierte in seinem Beitrag zum Standardwerk Das Werden Hessens: „Die Stände waren Repräsentanten der Untertanen und Verkörperung der Landeseinheit.“ 214 Mit diesem ausdrücklich auf die Landstände des 16. Jahrhunderts bezogenen Satz vollzieht Press genau jene generalisierende Zuschreibung, die aus den oben angeführten Gründen unzulässig ist. Nun basiert die Deutung, die in den beiden bisher vorgetragenen Argumenten entwickelt wurde, auf der Untersuchung der Landtagspraxis; Press und andere hingegen gründen ihre Einschätzungen vor allem auf normative Quellen, die einen Bezug zur Landesteilung nach Philipps Tod haben, also vor allem Philipps Testamente und die Verträge der ihm nachfolgenden vier Landgrafen untereinander. Doch auch diese Quellengruppe deckt eine generalisierende Zuschreibung, wie sie Press vornimmt, nicht, sondern stützt im Gegenteil – in Form eines dritten Arguments – auch aus fürstlicher Perspektive die Deutung, dass die Ständegesamtheit nicht an sich, sondern nur in einem speziellen Fall als Repräsentant des Landes anzusehen ist. Was hat es also mit der Landesteilung auf sich und warum kann man von dieser auf die Stellung der Landstände schließen? Als Landgraf Philipp im Jahr 1567 starb, galt sein letztes Testament vom 6. April 1562, in dem er verordnet hatte, dass unsere vyer sone Wilhelm, Lodewig, Philips und Jorge unserer lande, leute und gutter erben seyn sollen. 215 Und 214 215

Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 270f. ‚Testament Landgraf Philipps. Kassel 1562 April 6‘, in: Hollenberg I, Nr. 42b, S. 260– 278; – Ein weiterer Druck des Testaments in Schmincke (Hg.), Monimenta Hassiaca, Teil 4, S. 577–631. Vgl. zuletzt Römer, Der Landgraf im Spagat?; vgl. auch Demandt, Geschichte des Landes Hessen, S. 236f., Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 267–274, und Demandt, Die hessische Erbfolge in den Testamenten Landgraf Philipps des Großmütigen und der Kampf seiner Nebenfrau um ihr Recht.

3.2 Ständische Vielfalt: Die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung seit 1527

159

obwohl es der Landgraf für das Beste hielt, dass sie beyeinander haushilten, wie die herren von Weimar thun, und das landt nicht theilten, so hatte er in das Testament doch auch sehr genaue Regelungen für eine Erbteilung unter den vier Brüdern aufgenommen. Der erstgeborene Wilhelm (IV.) erhielt mit Niederhessen und Ziegenhain etwa die Hälfte des väterlichen Erbes, Ludwig (IV.) mit Oberhessen etwa ein Viertel, während Philipp (II.) mit der Niedergrafschaft bzw. Georg (I.) mit der Obergrafschaft Katzenelnbogen jeweils ungefähr ein Achtel zugesprochen wurde. 216 Die Teilung sollte jedoch die territoriale und politische Einheit der Landgrafschaft nicht beeinträchtigen, weshalb Philipp „institutionelle Klammern des Ganzen“ vorsah, welche die „zentrifugalen Kräfte“ der Teilung kompensieren sollten. 217 In der Forschung ist diese Landesteilung nicht nur extrem negativ bewertet, sondern auch zumeist mit der ebenso einhellig abgelehnten Doppelehe Philipps in Verbindung gebracht worden: Nach Karl Ernst Demandt habe die von Landgraf Philipp testamentarisch verfügte Landesteilung das „durch seine Doppelehe eingeleitete Werk der Zerstörung fortgeführt und vollendet“. 218 Und tatsächlich wurden die sieben Söhne aus der Nebenehe mit Margarethe von der Saale unter dem Titel geborn us dem haus Hessen, graven zu Dietz und hern zu Lisperg oder Bikkenbach mit den schlos, stedt, flecken und embpter Ulrichstein, Schotten, Stornfels, Homburg v. d. H., Bickenbach, Umstadt und Lißberg sowie einem Anteil an dem Dorf Dehrn ausgestattet; allein letzterer Erbteil stellte den Bezug zur titelgebenden Grafschaft Diez her, denn die restlichen Gebiete lagen in Südhessen und nicht im Lahngebiet. 219 Die Deutung geht also dahin, 216

217 218

219

Vgl. ‚Testament Landgraf Philipps. Kassel 1562 April 6‘, in: Hollenberg I, Nr. 42b, § 7: Landesteilung, S. 263–265; Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 268f., und Römer, Der Landgraf im Spagat?, S. 32f. Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 269. Demandt, Geschichte des Landes Hessen, S. 236; vgl. auch Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 267: „Die hessische Landesgeschichtsschreibung hat bis heute das Verhängnis der Teilungspolitik Philipps des Großmütigen bedauert; in der Tat wurde damit die Einheit des Landes auf Jahrhunderte vertan. […] Es war von Anfang an ein persönliches Problem Philipps, das diese Rolle wieder in Frage stellte. Die Doppelehe mit dem Edelfäulein Margarethe von der Saale hatte schon für Philipps Scheitern gegen Karl V. eine verhängnisvolle Funktion gehabt; nun wurde sie der Hebel für die Teilung Hessens.“ So auch schon Rommel V, S. 1–31. Vgl. ‚Testament Landgraf Philipps. Kassel 1562 April 6‘, in: Hollenberg I, Nr. 42b, § 5: Erbschaft der Söhne, S. 263, und § 25: Erbschaft der Söhne der Nebenfrau, S. 270–272; vgl. auch Römer, Der Landgraf im Spagat?, S. 33. Übergeben wurden nach dem Tode Philipps nur Ulrichstein, Schotten, Lißberg und Bickenbach, weil die anderen Orte noch verpfändet waren (vgl. Hollenberg I, S. 271, Anm. 34, und Krüger, Finanzstaat Hessen 1500–1567, S. 476f.). Den Grafen von Diez war kein günstiges Schicksal beschieden:

160

3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

dass es vor allem das Problem der Abfindung der Söhne aus der Nebenehe gewesen sei, das letztendlich zu dieser Form der Landesteilung geführt habe. Diese Deutung ist jüngst anhand aller überlieferten Testamente Philipps einer Prüfung unterzogen worden mit dem Ergebnis, dass die außergewöhnliche Situation der Doppelehe keinen wesentlichen Einfluss auf das Projekt der Landesteilung hatte; vielmehr spiegeln die Testamente das schon vorher nachweisbare Bemühen Philipps, einen Widerspruch aufzulösen, der im 16. Jahrhundert noch regelmäßig zwischen den individuellen Ansprüchen der legitimen Erben einerseits und dem übergreifenden Ziel, die territoriale Einheit der Landgrafschaft und damit die politische Stellung des Gesamthauses zu wahren, andererseits auftrat. 220 Und in der Abwägung dieser Ziele schien Philipp letzten Endes „die Teilung des gesamten Territoriums in vier existenzfähige Einzelterritorien bei gleichzeitiger Wahrung der politischen, institutionellen, wirtschaftlichen und militärischen Einheit geeigneter […] als die alleinige Herrschaft des ältesten Sohnes bei gleichzeitiger Zerstückelung des Landes durch eine jeweils angemessene Abfindung seiner legitimen Söhne“. 221 Die Landstände und die allgemeinen Landtage gehörten nun im Rahmen dieses komplexen Herrschaftsarrangements nach einhelliger Auffassung der Forschung auf die Seite der „gesamthessischen Einrichtungen“ 222 und daher werden sie in jeder Beschreibung der testamentarisch verfügten Ordnung zu den „gesamthessischen Gegengewichten“ gezählt – Volker Press sprach sogar von ihrer Rolle als „Garanten der Einheit“. 223 Und in diesem Zusammenhang wird dann von Press auch die repräsentative Funktion der Landstände eingeführt:

220

221 222 223

Alle starben unverheiratet und ohne legitime Erben, so dass ihr Erbe wieder an die Landgrafen zurückfiel. Vgl. Römer, Der Landgraf im Spagat?, S. 44–48: In Bezug auf die Doppelehe könne man „keinen direkten Einfluss dieser Problematik auf die Erbfolgeregelung für die legitimen Söhne erkennen“ (S. 44). Vielmehr spiegelten die Testamente das „Ringen um ein geeignetes Handlungsmodell“, das die „Einheit der Landgrafschaft“ und die „Wahrung der dynastischen Ansprüche“ gegeneinander austarieren sollte. Vgl. allgemein Spieß, Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters, und speziell für Hessen Rudersdorf, Ludwig IV. Landgraf von Hessen-Marburg 1537–1604. Römer, Der Landgraf im Spagat?, S. 46. Ebd., S. 33. Zitate: Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 269: „Aber man wird den Versuch Philipps doch ernst nehmen müssen, das Nachgeben auf der familiären Seite mit gesamthessischen Gegengewichten zu kompensieren. Neben den Landständen sollten Vertreter der Beamtenschaft, der Pfarrer und der Landesstädte Garanten der Einheit bilden.“ Vgl. auch Demandt, Geschichte des Landes Hessen, S. 238: „Gemeinschaftlich sollten nämlich bleiben: Titel, Wappen und Hoheitsrechte […]; die Landstände, die

3.2 Ständische Vielfalt: Die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung seit 1527

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Es schien, als könnte der hessische Landtag die ihm zugedachte Rolle eines Garanten der Einheit spielen; hier wirkte das Erbe Philipps, der sich des Landtags bei vielen wichtigen Entscheidungen zur Gewährleistung seiner Herrschaft bedient hatte; in der Krise nach der Gefangennahme Philipps hatte der junge Landgraf Wilhelm gemeinsam mit den Ständen die Handlungsfreiheit Hessens sichergestellt. Die Stände waren Repräsentanten der Untertanen und Verkörperung der Landeseinheit. 224

Weil die Landstände, so das Argument, schon unter Philipp das Land repräsentiert hatten, waren sie gleichsam dazu prädestiniert, die Landeseinheit auch nach der Erbteilung zu bewahren und die gesamthessischen Interessen auf entsprechend gesamthessischen Landtagen gegenüber den nunmehr vier Landgrafen zur Geltung zu bringen. Dieses Argument ist keine genuine Schöpfung von Volker Press, sondern ein allgemeines Interpretament der hessischen Landesgeschichte: Schon 1835 wurde es von Christoph von Rommel vorgebracht, der im Hinblick auf die Landstände die von der Erbteilung nicht berührte „Einheit ihres Körpers“ betonte und in den allgemeinen Landtagen „eine verfassungsmäßige feste Grundlage“ des Gesamtfürstentums erkannte. 225 Und noch in einer der jüngsten Arbeiten zur hessischen Ständegeschichte stellte Armand Maruhn fest, „dass die Landtage nach dem Willen Philipps weiterhin für das gesamte Fürstentum abgehalten werden sollten“. Dort seien die vier Landgrafen dann auf Stände getroffen, „die sich ihrerseits als gesamthessisch verstanden“. 226 Aus der Rolle, die den Landständen im philippinischen Testament zugedacht war, wird also auf ihre Stellung vor der Landesteilung zurück geschlossen, wobei die Überlegung zugrunde liegt, dass Philipp die allgemeinen Landtage deshalb zu einer Samtinstitution erklärte, weil er um die Funktion der Landstände als Repräsentanten des Landes wusste. Allerdings stützen weder das Testament noch die folgenden Verträge zwischen den landgräflichen Brüdern eine solche Deutung, wie eine genaue Analyse des Wortlauts der Dokumente zeigt.

224 225

226

Landtage […] und die Rheinzölle“; so auch Römer, Der Landgraf im Spagat?, S. 33: „Titel, Wappen und Hoheitsrechte sollten gleich und allen legitimen Söhnen gemein sein. Ferner sollten Landtage, Erbämter […] gesamthessische Einrichtungen und Aufgaben sein.“ Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 270f. Rommel V, S. 222f.: „Als nach dem Tode L. Philipps an Statt eines Regenten vier abgetheilte Fürsten in Hessen auftraten, änderte sich zwar die äußere Stellung der Landstände, aber nicht ihre Wirksamkeit, nicht jene Einheit ihres Körpers, besonders der Ritterschaft im Ober- und Nieder-Fürstenthum, welche sie auch bei den früheren Landestheilungen, durch die Pflicht der Neutralität gebunden, verfassungsmäßig behauptet hatten.“ Beide Zitate: Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 101.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

Zunächst zum Testament selbst: Als erstes fällt auf, dass die angebliche Samtinstitution des allgemeinen Landtags mit keinen Wort erwähnt wird; 227 nur der Städtelandtag, dem zwar ein gesamthessischer, aber gerade kein gesamtständischer Charakter zukommt, wird indirekt angesprochen, wenn Philipp seinen Erben aufträgt, sie sollten mit vleis bey der landtschafft handlen, das die tranckstewer nach abbetzalung des von Nassaw noch etliche jare und so lange bewilligt wurde, das sie darmit alle empter und schulden […] ablosen und alle ampter und zehenden frei ohne pension, geldt oder frucht hetten. 228 Kommt also der allgemeine Landtag als Versammlungsform überhaupt nicht im Testament vor – nicht einmal im Kontext der Reichssteuern –, 229 so finden die Landstände an zwei Stellen Erwähnung. Zunächst heißt es: Wir wollen auch der ritterschaft vom adell und landtschafft bei den eiden und pflichten, darmit sie uns verwant sein, eingebunden haben: da ein bruder widder den andern kriegen wolte (als doch nicht sein soll), das sie alsdan keinem bruder widder den andern helffen, sondern stille sitzen sollen und sie bitten und dahin vermugen, das sie widder zu einigkeit gebracht oder sich des ustrags, wie hernach volgt, halten und sie, unsere sohne, zu keiner andern weitterung, noch kriege in keinen wegk khommen lassen. 230

Dieser Paragraph bezieht sich auf eine ausdrücklich als unerwünscht bezeichnete Situation, nämlich kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Söhnen Philipps. In einem solchen Ausnahmefall obliegen den 227

228 229

230

Anders in einem früheren Testament von 1536: Die Landstände sollen im Rahmen eines Landtags auf das ihnen dort eröffnete Testament verpflichtet werden; ob es sich aber um einen allgemeinen Landtag handeln sollte, ist angesichts der Formulierung fraglich: Es sollen auch nach unserm totlichen abegange unsere mitvormonde die vornembsten vom adell und die stedte unsers furstenthumbs unverzuglich zusamenbeschreiben, denen dieße unser Testament, orndnunge und letztenn willen vorlesen und in unserm namen an sie begeren und gesynnen, sich des zu gehalten (‚Testament Landgraf Philipps.o. O. 1536 Febr. 25‘, in: Hollenberg I, Nr. 8c, S. 105–116, S. 116). Insofern gehört aber die Einberufung des Landtags zu den Ausführungsbestimmungen und nicht zum dispositiven Teil des Testaments. Weiterhin ist auffällig, dass die Landstände überhaupt keine Rolle im Rahmen des vorgesehenen Vormundschaftsregiments spielen; vgl. ebd., S. 110–114. ‚Testament Landgraf Philipps. Kassel 1562 April 6‘, in: Hollenberg I, Nr. 42b, § 17: Tranksteuerverwendung, S. 268. Zu den Reichssteuern wird nur erklärt: Da reichsanlagen gemacht werden, auch, da Gott vor seye, das sie kriegen musten oder mit recht angefochten, sollen sie vor einen man stehen, einander treulich helffen, auch in allen anderen sachen einander treulich, redtlich und hilf lich sein. Die hilffen aber sollen gescheen nach vermugen und nach deme, [was] ein ider an landen, leuthen und underthanen hat, auch die undersassen dermassen angelegt werden, darnach die underthanen vom adell und ein ide stadt und gericht reiche sein (ebd., § 21: Reichssteuern und Rechtshändel, S. 269). Philipp konstatiert also nur sehr allgemein, dass die Reichssteuern eine Gemeinschaftsaufgabe darstellen. Ebd., § 9: Geschütz, Bruderkriegsverbot, S. 266.

3.2 Ständische Vielfalt: Die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung seit 1527

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Landständen zwei Pflichten: Erstens sollen sie neutral bleiben und keinen der Landgrafenbrüder aktiv unterstützten; zweitens sollen sie darum bitten, dass der Konflikt durch einen Austrag beigelegt wird. Das Verfahren dieses Schiedsgerichts wird in einem späteren Paragraphen erläutert, in dem auch die Landstände wieder und zum letzten Mal auftauchen: Da Gott vor seie, das sie solten miteinander in unwillen wachssen, so sollen sie sich mitain freundtlichen verglichen. Da aber sie sich mitain nicht freundtlichen verglichen konten, so sollen sie acht vom adel us den rethen und ritterschafft wehlen, nemlich ider vier, acht us den stedten, ieder viere, und zwen vom hoifgericht, so doctores sein, nemlich ieder einen, auch einen juristen us der universitet. Die sollen zwischen inen gutlich handlen und sie verglichen. 231

Die Landstände sollen also nicht nur um die Einberufung des Schiedsgerichts bitten, sondern stellen auch die weit überwiegende Mehrheit der Urteiler. Außer in diesen beiden Paragraphen kommen die Landstände im Testament nicht vor. An der ihnen zugewiesenen Rolle ist nun zum einen bemerkenswert, dass sie nur in einem Ausnahmefall, nämlich bei Konflikten zwischen den Landgrafenbrüdern, überhaupt in Erscheinung treten, wenn man einmal von den Städtelandtagen absieht, die auch weiterhin die Tranksteuer bewilligen sollen. Und zum andern kommt ihnen selbst dann, wenn dieser Ausnahmefall eintritt, keine besonders aktive Rolle zu: Sie sollen neutral bleiben und dürfen zwar um die Einberufung des ständisch dominierten Schiedsgerichts bitten, aber es weder selbst einberufen noch die Urteiler bestimmen – beides bleibt den streitenden Fürsten vorbehalten. Die Landstände sind also selbst in einer solchen Extremsituation nicht autorisiert, die Landeseinheit aktiv gegenüber den streitenden Fürsten zur Geltung zu bringen. Hinzu kommt, dass über die Landstände selbst, ihre Versammlungen, ihre politischen Partizipationsrechte, also über ihre Stellung im unterstellten Normalfall der Eintracht unter den vier Söhnen überhaupt keine Aussagen gemacht werden. Ganz anders sieht das hingegen für die anderen Samtinstitutionen aus, zu denen Landtage und Landstände meistens gezählt werden, denn bezüglich der Marburger Universität, der Landeshospitäler, der adeligen Stifte, des Samthofgerichts, des Samtarchivs und anderer Gemeinschaftsaufgaben enthielt das Testament sehr wohl klare Vorgaben. 232 Kurz: Das Testament erwähnt den allgemei231 232

‚Testament Landgraf Philipps. Kassel 1562 April 6‘, in: Hollenberg I, Nr. 42b, § 22: Schiedsgericht, S. 269. Vgl. ebd., § 4: Universität und Stiftungen, S. 262; § 13: Samthofgericht, S. 267; § 15: Urkunden, S. 267; § 17: Tranksteuerverwendung, S. 268; § 20: Personal des Samthofgerichts, S. 269; § Reichssteuern und Rechtshändel, S. 269.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

nen Landtag mit keinem Wort und die Landstände nur im Kontext eines Ausnahmefalls – hier wird keine tragende gesamthessische Institution geschildert. Das Testament hatte indes nicht alle praktischen Probleme, die sich mit der Umsetzung der Landesteilung stellten, vorhersehen geschweige denn abschließend regeln können, und daher schlossen die vier Landgrafen untereinander eine Reihe von Vergleichen und errichteten darüber hinaus 1568 eine Erbeinigung. 233 Aus diesen Dokumenten lässt sich Näheres darüber entnehmen, wie die vier Landgrafen die spärlichen Vorgaben des Testaments zur Rolle der Landstände in der neu zu errichtenden Herrschaftsordnung interpretierten. 234 Am wichtigsten ist hier die Erbeinigung: 235 Auch hier begegnen die Stände im Kontext der Regelungen zum Schiedsgericht, wobei auffällig ist, dass die einzige testamentarisch verfügte Handlungsmöglichkeit der Stände, nämlich im Falle eines Konflikts zwischen den Teilterritorien neutral zu bleiben und auf die Berufung des Schiedsgerichts zu drängen, zwar nicht ausdrücklich kassiert, aber doch zumindest nicht wiederholt wird, obwohl sich die Erbeinigung ansonsten eng an die Struktur des Testaments anlehnt. Das aus neunzehn Personen bestehende Schiedsge233

234

235

Übersicht über die Vergleiche bei Rommel V, S. 102–105, Anm. 24; zwei wichtige Vergleiche liegen im Druck vor: ‚Brüder-Vergleich der vier Landgrafen vom 29. August 1567‘, in: ebd., S. 112–125, und ‚Nebenvergleich der vier Landgrafen. Ziegenhain 1568 Mai 28‘, in: Hollenberg I, Nr. 42f, S. 295–297. Der maßgebliche Druck der Erbeinigung ist nunmehr: ‚Erbeinigung der vier Landgrafen. Ziegenhain 1568 Mai 28‘, in: ebd., Nr. 42e, S. 282–295. Dort auch eine Zusammenstellung vorheriger Drucke. Auch die schon im Testament erwähnten anderen Samtinstitutionen wurden konkretisiert: So wurden etwa schon 1567 bezüglich der Tranksteuererhebung, des Samthofgerichts und des Samtarchivs genauere Regelungen beschlossen. Ebenso wurde ein neues Oberappelationsgericht eingerichtet, die gemeinsame Führung der Prozesse vor den Reichsgerichten durch einen Samtantwalt und der Empfang der Reichslehen zu gesamter Hand vereinbart (vgl. ‚Brüder-Vergleich der vier Landgrafen vom 29. August 1567‘, in: Rommel V, S. 112–125). Es heißt in der Präambel der Erbeinigung, dass sie mit zeitigem vorgehapten räth unserer artzu erforderten rethe, auch etzlicher von unserer ritter- und landtschafft (‚Erbeinigung der vier Landgrafen. Ziegenhain 1568 Mai 28‘, in: Hollenberg I, Nr. 42e, S. 282–295, S. 283) abgefasst worden sei; da aber Hollenberg keine Indizien für eine „förmliche Hinzuziehung der Landstände“ finden konnte (Hollenberg I, S. 283, Anm. 46), ist die Formulierung so zu verstehen, dass allenfalls einzelne Mitglieder zu den Beratungen gezogen wurden und die Verwendung der Begriffe ritter- und landtschafft nur auf die ständische Herkunft verweist und nicht auf die Korporationen als solche. – Ansonsten enthält die Erbeinigung neben den im Haupttext erläuterten noch Bestimmungen zu den Samtsynoden (Art. 1), der Universität, den Landeshospitälern und den adeligen Stiften (Art. 2), dem Samthof- und dem Samtrevisionsgericht (Art. 3), der Samtbelehnung (Art. 4), und dem gemeinsamen Guldenweinzoll (Art. 7).

3.2 Ständische Vielfalt: Die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung seit 1527

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richt selbst wird bestätigt, aber seine Zusammensetzung wird präziser geregelt: Als nemblich sol der clagende theil vier vom adel aus seinen rethen und ritterschafft, die landtsassen seyen, vier rathspersohnen aus seinen selbst oder andern seiner bruder stetten, wie das einem iden gefellig ist, und einen gelerthen vom hovegericht, desgleichen der beclagte theil ebenmessigerweise viere vom adel aus seinen rethen und ritterschafft, die landtsassen seyen, vier rathspersohnen aus seinen rethen 236, einen gelerten vom hovegericht und daruber beide, clager und beclagter, samptlichen einen juristen aus der universitet zu Marpurgk innerhalb sechs wochen nach beschehenner des clagenden theils ersuchung benennen und erwehlen. 237

Dieses Zitat bringt den eigentlichen Grundgedanken der nach-philippinischen Herrschaftsarchitektur in Bezug auf die Landstände klar auf den Punkt: Die konsistente Benutzung des Possessivpronomens ‚seinen‘ macht deutlich, dass im Vollzug von Philipps Testament nicht nur lande, leute und gutter, sondern auch Ritter und Städte unter den vier Brüdern aufgeteilt werden sollten, womit jedes der vier Teilfürstentümer fortan über eine eigene Ritter- und Landschaft verfügt hätte. An dieser Stelle wird eine gesamthessische Verfasstheit der Landstände sogar explizit negiert. Und nicht nur an dieser Stelle, denn anders als im Testament wird der Ständegesamtheit in der Erbeinigung auch im Kontext der Reichssteuern gedacht, wo sich dasselbe Bild zeigt: Wenn eine Reichssteuer zu erheben sei, dann solle ein jeder Landgraf seinen Anteil bey seiner ritter- und landtschafft zum trewlichsten intzupringen, auch vermege und inhalt gedachter unser nebenvergleichung an geburende orth zu rechter zeit zu liffern und zu erlegen schuldig sein. 238 Nun ist die Aufteilung der Landstände entlang der neuen, intraterritorialen Grenzen nicht gleichbedeutend mit der Abschaffung gesamthessischer Landtage, wie sich ebenfalls aus den Regelungen zur Steuererhebung ergibt. Schon in seinem Testament hatte Philipp ja bestimmt, dass über die Verlängerung der Tranksteuer mit der Landschaft verhandelt werden sollte und auch in der Erbeinigung wird wieder auf den dafür notwendigen Städtelandtag verwiesen, diesmal in Bezug auf die ehesteur, die zur Aussteuerung fürstlicher Töchter nach der Landsteuermatrikel erhoben wurde. 239 Allerdings gleicht die Erbeinigung der Land236 237 238 239

Hollenberg I, S. 293, Anm. rr, ergänzt: „Wohl verschrieben für: stetten.“ ‚Erbeinigung der vier Landgrafen. Ziegenhain 1568 Mai 28‘, in: Hollenberg I, Nr. 42e, S. 282–295, Art. 8, S. 293. Unterstreichung T. N. Ebd., Art. 6, S. 291. Unterstreichung T. N. Ebd., Art. 8, S. 293: so sol alsdan und uff solchen fahl, wo ein frewlein von Hessen zu vergeben, unsere allerseits gantze landtschafft zusammenbeschrieben und mit derselben

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

grafenbrüder dem Testament ihres Vaters auch darin, dass der allgemeine Landtag nicht erwähnt wird; nur in einem Nebenvergleich, der die Erbeinigung ergänzte, findet sich hierzu eine Bestimmung: Was dan zum dritten gemeine reichssteuren und -contributionen anlangt, so von allerseidts ritter- und landtschafft zu erlegen sein wollen, da sollen und wollen wir, unsere manliche leibslehenerben und nachkommen, fursten zu Hessen, allemahl, wie bißhero preuchlich gewessen, unsere allerseidts ritterund landtschafft zusammenbeschreiben, derselben, was der turckensteur oder reichshulffen halber uff einem reichs oder dergleichen gemeinem versamblungstage beschlossen wirt, vorhalten unnd daruff mit ihnen berathschlagen und unß vergleichen, welchergestalt unnd uff was maß ein solche reichssteur jedesmals am allergleichmessigsten zu erheben und eintzupringen sei. 240

Hier ist nun zwar eindeutig vom allgemeinen, also gesamthessischen und gesamtständischen Landtag die Rede, allerdings wieder nur im Kontext der Bewilligung von Reichssteuern. Und in diesem Punkt kommt die normative Ordnung, wie sie in Testament, Erbeinigung und Vergleichen etabliert wird, exakt mit der faktischen Ordnung überein, die oben anhand der Situation der ständischen Vielfalt rekonstruiert wurde. Im Hinblick auf die Rolle der Landstände in der von Philipp umrissenen und später von seinen Söhnen konkretisierten Herrschaftsordnung für die Landgrafschaft Hessen ist also folgendes festzuhalten: Grundsätzlich unterliegen auch Ritter- und Landschaft dem Teilungsgebot, so dass jedem Teilfürstentum im Prinzip auch eigene Teillandstände zugeordnet sind. Eine gesamthessische Verfasstheit der einzelnen Landstände ist dabei nicht eigens vorgesehen, denn in der politischen Praxis, vor allem bei der Erhebung von Steuern, soll jeder der vier Landgrafen immer nur mit seiner ritter- unnd landtschafft 241 zusammenarbeiten. Gleichwohl ist die Trennung nicht vollständig, denn in zwei Fällen vereinigen sich die ansonsten getrennten Teillandstände zu einer gesamthessischen Ständeversammlung: Für die Bewilligung der Fräuleinsteuer soll der Städtelandtag und für die Bewilligung von Reichssteuern soll der allgemeine Landtag zuständig sein. Philipp und seine Söhne unter-

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der ehesteur halben nach gelegenheit der verheuratung und vermögens […] von uns, unsern erben und nachkommen, fursten zu Hessen, trewlich gehandelt werden. Die auch ‚Fräuleinsteuer‘ genannte Abgabe war keine eigene Steuerart, sondern bezeichnet nur den Anlass der Erhebung, eben die Abfindung einer fürstlichen Tochter anlässlich ihrer Verheiratung. Aufgebracht wurde diese Steuer nach der Landsteuermatrikel; vgl. Hollenberg, Einleitung I, S. 44, und Ledderhose, Von der Fräuleinsteuer in Hessen. Sie betrug üblicherweise 20 000 fl. ‚Nebenvergleich der vier Landgrafen. Ziegenhain 1568 Mai 28‘, in: Hollenberg I, S. 295–297, S. 296f. Ebd., S. 297.

3.2 Ständische Vielfalt: Die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung seit 1527

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schieden also zwischen den Landständen einerseits und den Landtagen andererseits – erstere sollten als ständische Gruppen aufgeteilt, letztere jedoch als Verfahrensformen in bestimmten Fällen weiterhin gesamthessisch durchgeführt werden. 242 Insofern trifft es die Situation nicht ganz, wenn etwa Maruhn behauptet, „dass die Landtage nach dem Willen Philipps weiterhin für das gesamte Fürstentum abgehalten werden sollten“, denn ‚die Landtage‘ müsste durch ‚einige Landtage in bestimmten Fällen‘ ersetzt werden. Falsch aber wird es, wenn er darüber hinaus – mit der Forschung – davon ausgeht, dass sich die Landstände „als gesamthessisch verstanden“, denn dann müsste man annehmen, dass die erklärte Absicht Philipps und seiner Söhne, die Landstände aufzuteilen und die gesamthessischen Ständeversammlungen auf zwei Spezialfälle zu beschränken, zu vehementem Widerstand geführt hätte – was jedoch nicht der Fall war. 243 Nur zwei Jahre nach der Landesteilung zog Landgraf Ludwig IV. nämlich die Konsequenz aus der implizit vorgesehen Aufteilung der Landstände und lud die Mitglieder der Landschaft, die zu seinem Teilfürstentum gehörten, zu einem hessen-marburgischen Städtelandtag. Nichts deutet darauf hin, dass die Städte diese Ladung als Verletzung der gesamthessischen Verfasstheit der Landschaft verstanden und so bewilligten sie eine Landsteuer von 12 000 fl. zum Ausbau der Festung Marburg. 244 1573 242

243 244

In Bezug auf die Ritterschaft ist diese Aussage zu modifizieren: Wie schon erwähnt, hatte Landgraf Philipp im Zuge der Aufhebung der geistlichen Institutionen die zwei Klöster Kaufungen und Wetter der hessischen Ritterschaft geschenkt (uns allen von der ritterschaft beiden ober- und niederfürstenthumbs zu Hessen (‚Nebenabschied der Ritterschaft [Homberg 1532 nach Juli 15]‘, in: Hollenberg I, Nr. 5d, S. 90–92, S. 90)). Und diese beiden Stifte gehörten eindeutig zu den gesamthessischen Einrichtungen: Die sechs spitall, als Kaufungen, Wetter, Heina, Merxhaussen, Gruna und Hoifheim, desgleichen die siechenheusser, so wir gereit ufgerichtet haben und noch ufrichten werden, wollen unsere sohne mit vleis ufsehen lassen, das treulich mit umbgangen und daruber keine eigennutzige leuthe verordent, auch alle jare rechnung gehort, wie dan solichs die ordnungen mitpringen (‚Testament Landgraf Philipps. Kassel 1562 April 6‘, in: Hollenberg I, Nr. 42b, § 4: Universität und Stiftungen, S. 262). Dementsprechend einigten sich die Söhne Philipps darauf, ermelte universitet, hohe und niedere spitäll, siechenheuser und casten bey iren durch gedachten unsern hern vatter gotseligen verschriebenen guttern, privilegien, freyheitten, gerechtigkeitten, stipendiaten- und andern ordnungen gnediglich pleiben lassen, darbey furstlich schutzen, schirmen und handthaben wollen (‚Erbeinigung der vier Landgrafen. Ziegenhain 1568 Mai 28‘, in: Hollenberg I, Nr. 42e, S. 282–295, Art. 2, S. 284). Diese Situation unterstreicht noch einmal, dass man zwischen der Ritterschaft als Adelskorporation und als Landstand unterscheiden muss: Als Besitzer der gesamthessischen Stifte war auch die Ritterschaft gesamthessisch, als Landstand hingegen nur anlässlich allgemeiner Landtage. Beide Zitate: Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 101. Vgl. LTA 1569 Jan., S. 298–301.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

folgte dann Wilhelm IV. diesem Beispiel und forderte auf einem Städtelandtag des Teilfürstentums Hessen-Kassel ebenfalls Gelder für den Festungsbau. Und auch in diesem Fall bewilligten die Städte letztlich eine Landsteuer. Allerdings verstanden sie sich dazu erst, nachdem sie vergeblich darum gebeten hatten, die Ritter des Teilfürstentums ebenfalls zu laden und zu einem Beitrag anzuhalten. Dass hingegen nur ein Teil der Landschaft des Fürstentums berufen wurde, war offensichtlich kein Problem. 245 Man könnte einwenden, dass die Landsteuern im Testament und den Brüderverträgen auch nicht geregelt waren, weshalb die Landschaft keine Handhabe hatte, sich gegen Partikularlandtage zu wehren. Noch deutlicher aber wird die Tatsache, dass die gesamthessische Verfasstheit der Landschaft in den ersten Jahrzehnten nach Philipps Tod – und dementsprechend auch vorher – keine Norm war, an einer sehr wohl im Testament geregelten Materie – der Tranksteuer. Philipp hatte bestimmt: Unsere sohne sollen mit vleis bey der landtschafft handlen, das die tranckstewer […] noch etliche jare […] bewilligt wurde. 246 ‚Bey der landtschafft handlen‘ konnte man nur im Rahmen eines gesamthessischen Städtelandtags und in Übereinstimmung mit den testamentarischen Bestimmungen wurde ein solcher auch ausgeschrieben, als 1569 die Tranksteuer zur Verlängerung anstand. Und wie von den vier Landgrafen gewünscht, bewilligte die erbare landtschafft die Erhebung für weitere zwölf Jahre. 247 Dementsprechend musste im Jahr 1581 erneut verhandelt werden. Aber wie schon im Falle der Landsteuern kam es nun auch im Hinblick auf diese Materie zu einer Teilung der Landschaft, denn anstatt einen gesamthessischen Städtelandtag einzuberufen, verhandelten die vier Fürsten direkt mit den Städten ihrer Teilfürstentümer – und zwar teilweise nicht einmal im Rahmen eines Landtags. 248 Auch in diesem Fall kam es zu keinen überlieferten Protesten gegen dieses Vorgehen: Wie selbstverständlich sprechen die Abschiede von ihrer [f.g.] getrewen landschafft bzw. von s.f.g. erbare lanndtschafft 249 und bringen durch die Verwendung der Bezeichnung ‚Landschaft‘ die Legitimität der Teilung zum Ausdruck. 245 246 247 248

249

Vgl. LTA 1573, S. 309–311. ‚Testament Landgraf Philipps. Kassel 1562 April 6‘, in: Hollenberg I, Nr. 42b, § 17: Tranksteuerverwendung, S. 268. Vgl. LTA 1569 April, S. 301–305, S. 303. In Hessen-Kassel und Hessen-Marburg wurden in kurzem zeitlichen Abstand jeweils Städtelandtage abgehalten (Hessen-Kassel: LTA 1581 Febr. 16; Hessen-Marburg: LTA 1581 Febr. 26). In Hessen-Darmstadt hingegen kam es nur zu einer Deputiertenkonferenz; allerdings gehörten auch nur drei Städte zu diesem Teilfürstentum. Für HessenRheinfels sind keine Verhandlungen überliefert; vgl. Hollenberg I, S. 323, Anm. 1. LTA 1581 Febr. 26, S. 325, und LTA 1581 Febr. 16, S. 323.

3.2 Ständische Vielfalt: Die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung seit 1527

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Hätte nun die Landschaft sich tatsächlich als gesamthessisch verstanden und aufgrund dessen einen gesamthessischen Landtag gefordert, so hätte sie sich nicht nur auf die testamentarisch verfügte Norm, sondern auch auf den Landtag von 1569 als Präjudiz berufen können. Dass die Städte aber trotz dieser starken Argumente nicht protestierten, sondern sogar die Tranksteuer um weitere zehn Jahre verlängerten, belegt ex negativo ein weiteres Mal, dass die Vorstellung einer gesamthessischen Verfasstheit nicht normativ aufgeladen war – „Garanten der Einheit“ verhalten sich anders. Zurück also zu denjenigen Forschern, die die Stellung der Landstände im 16. Jahrhundert vor allem im Zusammenhang mit dem Testament Philipps und den Verträgen seiner Söhne diskutieren. Ihr Argument lautete: Aus der Tatsache, dass die Landstände in der nach-philippinischen Herrschaftsordnung als gesamthessische Einrichtung fungieren sollten, kann man ableiten, dass sie schon unter Philipp Repräsentanten des Landes waren, woraus dann weiter folgt, dass eine landständische Verfassung schon zu diesem Zeitpunkt bestanden hat. Wie die Analyse der Dokumente gezeigt hat, ist dieses Argument aber nicht haltbar, denn schon die Ausgangsbedingung ist nicht gegeben, weil eine gesamthessische Verfasstheit der Landstände mit dem allgemeinen Landtag als zentraler Institution von den Fürsten so gar nicht intendiert war. Mehr noch: Die tatsächliche Einberufung von Städtelandtagen in Hessen-Marburg und Hessen-Kassel schon kurz nach der Landesteilung rief keinen ständischen Widerstand auf den Plan, weshalb sogar davon ausgegangen werden muss, dass neben den Fürsten auch die Landschaft der Vorstellung einer gesamthessischständischen Einheit keine normative Relevanz zuwies. Wie steht es nun um den allgemeinen Landtag unter Landgraf Philipp? War er – wie Siebeck annahm – seit 1532 eine „dauernde Verfassungseinrichtung“ mit Repräsentationsfunktion im Sinne einer „generellen Vertretung des Landes durch die Gesamtstände“, 250 oder handelte es sich – wie Hollenberg meint – bei den allgemeinen Landtagen faktisch nur um „Doppellandtage, auf denen die Räte separat mit Rittern und Städten verhandelten“, die jeweils aufgrund ihrer eigenen Herrschaftsrechte auftraten und nicht „den Anspruch erhoben, alle Einwohner Hessens zu repräsentieren“? 251 Die Frage ist zentral, denn wer sie beantwortet, hat sich damit auch auf eine Gesamtinterpretation der fürstlich-ständischen Beziehungen im 16. Jahrhundert festgelegt: Stimmt man Siebeck zu, dann 250 251

Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 1 und S. 181. Hollenberg, Einleitung I, S. 21; Ders., Die Repräsentation von Land und Leuten in Hessen, S. 34.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

stehen die Ständegesamtheit und der allgemeine Landtag mit Repräsentationsfunktion im Zentrum und man wird – nach der Definition des Strukturtypus – vom Bestehen einer landständischen Verfassung sprechen müssen; Städte- bzw. Ritterlandtage und die engeren Landtagsformen erscheinen dann als erklärungsbedürftige, weil von der Norm des allgemeinen Landtags abweichende Phänomene. Entscheidet man sich hingegen für die Lesart Hollenbergs, dann liegt der Akzent auf Ritterschaft und Landschaft als einzelnen Ständen des Landes, die nur für sich selbst sprechen (oder maximal noch ihre eigenen Untertanen vormundschaftlich vertreten); der allgemeine Landtag erscheint als Sonderform, dessen Beschlüsse nicht repräsentativ wirken, sondern eine bloße Addition der ständischen Einzelwillen darstellen, weshalb man konsequenterweise das Bestehen einer landständischen Verfassung verneinen müsste. 252 Fasst man aber die drei Argumente zusammen, die im Laufe dieses Abschnitts anhand des Zusammenhangs von allgemeinem Landtag und Steuerbewilligung, anhand der Situation der ständischen Vielfalt und anhand des philippinischen Testaments entwickelt wurden, so ergibt sich, dass man sich nicht sinnvoll für eine der beiden Optionen entscheiden kann, denn die Frage ist falsch gestellt, weil sie suggeriert, dass der allgemeine Landtag über eine eindeutige und durchgängige Funktion verfügt, die sich im Sinne einer ‚Wesensbestimmung‘ feststellen ließe. Alle drei Argumente haben aber gezeigt, dass sich ein solches ‚Wesen‘ gerade nicht rekonstruieren lässt. Andererseits ist die ständische Praxis zwar vielgestaltig, aber doch nicht einfach regellos oder chaotisch; vielmehr wurde deutlich, dass die ständische Vielfalt erkennbar von der jeweiligen politischen Situation abhing und erst in Verbindung mit dieser lesbar wird – die Funktion eines konkreten Landtag ist daher immer nur situationsspezifisch zu bestimmen. Und daher ist die Frage „Was ist ‚der‘ allgemeine Landtag?“ falsch gestellt und müsste eigentlich lauten: In welchen Situationen kommen welche Landtage mit welchen Funktionen vor? Unter dieser Fragestellung fügen sich nun die Ergebnisse der drei Argumente zu einem konsistenten Bild; es lassen sich drei typische Situationen ausmachen, die sich darin unterscheiden, in welcher Rolle die Landstände vom Landgrafen angesprochen werden. In einer ersten Situa252

Obwohl ich diese beiden Optionen mit den Namen Siebecks und Hollenbergs verbunden habe, handelt es sich um zugespitzte Formulierungen, die so von den beiden Forschern nicht vertreten werden. Siebeck etwa geht zwar davon aus, dass es eine landständische Verfassung gegeben hat, gibt aber zu bedenken, dass diese „im sechzehnten Jahrhundert verhältnismäßig wenig entwickelt“ gewesen sei (Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 178). Hollenberg hingegen zieht aus seinen Überlegungen nirgendwo explizit den nahe liegenden Schluss, dass überhaupt keine landständische Verfassung bestanden habe.

3.2 Ständische Vielfalt: Die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung seit 1527

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tion wendet sich der Fürst nur an einen der beiden Landstände, weil Fragen zu klären sind, die nur die Ritter als Ritterschaft oder die Städte als Landschaft angehen; regelmäßig handelt es sich dabei um die Einforderung von ständischen Sondersteuern (Landsteuer, Tranksteuer). In solchen Fällen werden Ritter- bzw. Städtelandtage, teilweise auch in engerer Form, einberufen, wobei sich Philipp und seine direkten Nachfolger vor allem auf die Landschaft stützen. Eindeutig ist, dass die Beschlüsse von Ritter- bzw. Städtelandtagen keine kollektiv bindende Wirkung für das gesamte Land haben, sondern nur für die Ritterschaft und ihre Hintersassen einerseits bzw. für die Städte und Ämter andererseits gelten – diese Landtage stellen daher keine Form von ‚Landesrepräsentation‘ dar. In einer Situation vom Typ I ist der betreffende Landstand also als ständische Sondergruppe von Interesse. 253 Eine davon abzugrenzende zweite Situation ist dann gegeben, wenn der Landesherr es bei wichtigen politischen Fragen für ratsam hält, die Landstände insgesamt in den Entscheidungsprozess einzubinden oder sich zumindest ihrer Unterstützung zu versichern. Das Mittel der Wahl ist in diesem Fall der allgemeine bzw. der engere Landtag und meistens geht es nicht in erster Linie um Steuern. 254 Entscheidend ist nun, dass auch in dieser Situation – obwohl es sich teilweise um allgemeine Landtage handelt – keine Landesrepräsentation, weder expliziter noch impliziter Natur, vorliegt. Denn die Landstände werden in solchen Fällen berufen, weil sie selbst wichtige politische Akteure sind, deren Loyalität und Zustimmung von Belang ist; die Beschlüsse hingegen durch einen Repräsentationsanspruch den nicht-landständischen Untertanen zuzurechnen widerspräche der Logik der Situation, denn in solchen Fällen geht es um die Ausübung politischer Partizipationsrechte, nicht um die Verteilung von Lasten. Es gibt also überhaupt keinen Grund für repräsentatives Handeln und daher treten die Landstände in Situationen vom Typ II also selbst als Obrigkeiten auf, als politische Eliten. 255 253

254 255

Wie schon erwähnt bedeutet das nicht, dass keine Repräsentationsverhältnisse vorliegen: Ritterlandtage repräsentieren alle (auch die abwesenden) Ritter und deren ohnehin abwesende Hintersassen, Städtelandtage repräsentieren alle (auch die abwesenden) Städte und die ohnehin abwesenden Ämter. Wenn auf Landtagen, die der Situation vom Typ II zuzurechnen sind, Steuern bewilligt werden, dann in Form von ständischen Sondersteuern; vgl. LTA 1536. Vgl. LTA 1527 (Aufhebung der Klöster), LTA 1534 (Garantie des landgräflichen Testaments), LTA 1536 (Garantie des landgräflichen Testaments, ständische Sondersteuern für Schmalkaldischen Bund), LTA 1540 (Garantie eines landgräflichen Vertrages), LTA 1547 Juli (Garantie der landgräflichen Kapitulation), LTA 1552 Febr. (ständische Sondersteuer für Feldzug gegen Kaiser, Loyalitätserklärung), LTA 1552 Sept. (Garantie der modifizierten Kapitulation), LTA 1567 April (Zustimmung zur Salzpreiserhöhung).

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

Anders aber in Situationen vom dritten Typ: Wann immer nämlich Reichssteuern bewilligt und durch allgemeine Vermögensabgaben aufgebracht werden mussten, wurden ebenfalls allgemeine Landtage einberufen. 256 Hier liegt nun in der Tat ein Repräsentationsverhältnis vor, denn die von den beiden Landständen im Konsens – also als Ständegesamtheit – bewilligten Steuern mussten eben nicht nur von den Rittern und ihren Hintersassen, Städten und Ämtern, sondern vom ‚Land‘, also allen Personen und Korporationen, die Vermögen in Hessen besaßen, gezahlt werden. Einschränkend ist allerdings hinzuzufügen, dass dieses Repräsentationsverhältnis zunächst nur faktisch gegeben war und von ständischer Seite kein expliziter Anspruch auf Landesrepräsentation erhoben wurde; gleichwohl fungieren die Landstände in der Situation vom Typ III als Repräsentanten des Landes. 257 Man sieht nun erstens, dass sich der Deutungsansatz Hollenbergs auf die Situationstypen I und II stützt, während die Siebeck’sche Interpretation den Typ III für ausschlaggebend hält; zweitens wird ebenso deutlich, dass beide Autoren versuchen, die ihrem Ansatz widersprechenden Typen zu marginalisieren, um den Landtagen und damit mittelbar auch den Landständen selbst eine eindeutige Identität zuzuschreiben. Tatsächlich aber ist für die fürstlich-ständischen Beziehungen unter Landgraf Philipp gerade diese Vielfalt von Situationen charakteristisch und lässt sich nicht weiter auflösen – die Landstände agieren mal als ständische Sondergruppen, mal als politische Eliten und mal als Repräsentanten des Landes, wobei den drei Rollen jeweils bestimmte Landtagsformen entsprechen. Hat man diese ständische Vielfalt grundsätzlich akzeptiert, so kann man gleichwohl die verschiedenen Situationen ihrer Bedeutung nach gegeneinander abwägen. Bei einer solchen Gesamtbetrachtung nun überwiegen

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Wie oben erläutert, bildete sich dieser Zusammenhang erst allmählich heraus. Zu Beginn kommen Sonderformen vor: 1542 kommt es zu einer kumulativen Bewilligung durch zwei kurz aufeinander folgende Kurienlandtage und 1551 zu zwei getrennten Abschieden während eines allgemeinen Landtags; vgl. oben 3.2.2. Vgl. LTA 1532 (Reichssteuern), LTA 1542 Jan. 1 und LTA 1542 Jan. 10 (Reichssteuern), LTA 1544 Okt. (Reichssteuern), LTA 1547 Juni (kaiserlich verhängtes Strafgeld), LTA 1551 (Reichssteuern), LTA 1557 (Reichssteuern), LTA 1560 (Reichssteuern und Festungsbausteuern), LTA 1566 (Reichssteuern). – Der Landtag von 1560 ist insofern eine Ausnahme, da hier Reichssteuern mit einer rein hessischen Steuer kombiniert wurden. Dagegen protestierten vor allem die Ritter, die sich zwar zur Aufbringung der Reichssteuern, nicht aber zur Zahlung der Festungsbausteuer verpflichtet fühlten. Tatsächlich war letztere bisher allein der Landschaft auferlegt worden. Vgl. Hollenberg I, S. 235, Anm. 7. Aus dieser unüblichen Kombination heraus ist wohl auch zu erklären, dass die Adeligen eine Vermögenssteuer nach dem Anschlag von 1557 zahlten, die Städte aber die eigentlich für ständische Sondersteuern übliche Landsteuerform wählten.

3.2 Ständische Vielfalt: Die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung seit 1527

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die Typen I und II: In diesen Situationen finden sich die meisten Landtagsformen (Ritterlandtage, Städtelandtage, engere und allgemeine Landtage), in deren Rahmen ein breites Themenspektrum behandelt wurde, und denen allen gemeinsam ist, dass keine Repräsentationsbeziehung im Hinblick auf das Land vorliegt. Mit ihrer Multifunktionalität und Formenvielfalt weisen zudem beide Typen viele Gemeinsamkeiten mit dem mittelalterlichen Ständewesen auf. 258 Daher ist, wie schon mehrfach erwähnt, die Situation vom Typ III, die nur die Form des allgemeinen Landtags mit Repräsentationsfunktion umfasst und die nur anlässlich der Bewilligung von Reichssteuern eintritt, als der eigentliche Spezialfall anzusehen. Diese Einschätzung wird noch dadurch verstärkt, dass die Landesrepräsentation durch die Ständegesamtheit sich zunächst nur aus den praktischen Erfordernissen der Reichssteuerbewilligung ergab und von den Ständen nicht als Recht reklamiert, geschweige denn zum Definitionsmerkmal der allgemeinen Landtage erhoben wurde. 259 Und obwohl es schon allgemeine Landtage mit Repräsentationsfunktion gab, die auf die ‚neuzeitliche‘ Form der Ständeverfassung verweisen, so ist für die Landtagspraxis im Ganzen weder eine korporative Geschlossenheit der Landstände, noch eine Zentralstellung des allgemeinen Landtags, noch die politische Repräsentation durch die Ständegesamtheit charakteristisch. Da aber der Strukturtypus der landständischen Verfassung, so wie er in der Ständeforschung einhellig vertreten wird, auf genau diesen Merkmalen aufbaut, muss man den Schluss ziehen, dass unter Landgraf Philipp keine landständische Verfassung im eigentlichen Sinne bestand. Wenn es sich aber nicht um eine landständische Verfassung handelt, worum handelt es sich dann? Anders als im Fall der Vormundschaftskämpfe liegt hier doch eindeutig eine ‚verfasste‘ Herrschaftsordnung vor, denn es finden sich sowohl eine institutionalisierte Landtagspraxis als auch normative Ansprüche; es handelt sich also weniger um eine instabile Übergangsform zwischen der wenig institutionalisierten Herrschaft des Spätmittelalters und der voll ausgebildeten landständischen Verfassung des 17. und 18. Jahrhunderts, als vielmehr um eine verfassungsgeschichtliche Konfiguration mit eigener Logik. Sie begrifflich zu fassen ist schwierig, da in den meisten Formen der ‚ständischen Verfassung‘ die politisch-korporative Einheit der Stände mitgedacht ist – im Mittelpunkt stehen nie die

258 259

Vgl. Mitterauer, Grundlagen politischer Berechtigung im mittelalterlichen Ständewesen, S. 14. Vgl. oben 3.2.2.

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

Stände als solche, sondern die Ständegesamtheiten. 260 Angesichts dieses Sprachgebrauchs sollte man den Gattungsbegriff der ‚ständischen Verfassung‘ und die sich auf ihn beziehenden Artbegriffe (etwa landständische Verfassung und landschaftliche Verfassung) tatsächlich reservieren für Herrschaftsordnungen, in denen der korporativ verfassten Ständegesamtheit eine zentrale Rolle zukommt. Stattdessen schlage ich vor, die engere ständegeschichtliche Perspektive zu verlassen und die erzielten Ergebnisse in einer Formulierung zusammenzufassen, die das Gemeinwesen insgesamt im Blick hat. Aus einem solchen, eher politik- und verfassungsgeschichtlichen Blickwinkel lässt sich die Herrschaftsordnung, wie sie unter Landgraf Philipp bestand, genauer bestimmen als eine Form ständisch supplementierter Fürstenherrschaft, in der die Stände teils als einzelne politische Akteure, teils als repräsentativ handelnde Ständegesamtheit auftraten. ‚Supplementiert‘ soll – ganz im Sinne Derridas – die Ambivalenz bezeichnen, die das Verhältnis von Landgraf und Landständen auszeichnet: Einerseits steht die Fürstenherrschaft für sich und verlangt von den Ständen immer wieder die ‚Zusetzung‘ von Ressourcen; andererseits ist der Fürst auch auf die Landstände angewiesen und durch sie beschränkt, insofern seine Herrschaft faktisch auf eine ständische ‚Ergänzung‘ in Form von Treue und Mitarbeit angewiesen ist. 261 Diese Herrschaftsordnung, die im Hinblick auf die politische Partizipation der Stände mittelalterliche und neuzeitliche Formen und Funk260

261

Vgl. nur Hintze, Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes, S. 229: „Überall können wir das Wesen der ständischen Verfassung darin erblicken, daß in einem politischen Herrschaftsverband […] die ‚meliores et majores terrae‘, d. h. die wirtschaftlich-sozial und politisch leistungsfähigen und bevorzugten Schichten der Bevölkerung, in korporativer Organisation die Gesamtheit […] gegenüber dem Herrscher vertreten“; Mitterauer, Grundlagen politischer Berechtigung im mittelalterlichen Ständewesen, schließt an Hintze an und übernimmt implizit das Interesse an der Ständegesamtheit; Oestreich, Zur Vorgeschichte des Parlamentarismus, S. 77f., verwendet ‚ständische Verfassung‘ als Gattungs- und Artbegriff zugleich, stellt aber ebenfalls auf korporativ verfasste Ständeversammlungen ab; zuletzt hat Krüger, Versuch einer Typologie ständischer Repräsentationen im Reich, eine Typologie vorgelegt, die auf einer immer weiter fortschreitenden Zusammenschluss von Personen und Körperschaften aufbaut, von der ‚kommunalen Verfassung‘ über Zwischenstufen bis hin zur ‚überstaatlichen Konförderation‘. – Alle Typologien legen damit die korporativ verfasste Ständegesamtheit, wie sie auf dem allgemeinen Landtag in Erscheinung tritt, zu Grunde. Der Begriff ‚supplementiert‘ meint also zugleich „Zusetzung“ wie „Ergänzung“: „[…] der Begriff des Supplements […] birgt in sich zwei Bedeutungen […]. Das Supplement fügt sich hinzu, es ist ein Surplus […]. Aber das Supplement […] gesellt sich nur bei, um zu ersetzen. Es kommt hinzu oder setzt sich unmerklich an-(die)-Stelle-von; wenn es auffüllt, dann so, wie wenn man eine Leere füllt.“ (Derrida, Grammatologie, S. 550f.)

3.2 Ständische Vielfalt: Die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung seit 1527

175

tionen zu einem eigenen Verfassungstyp verband, ist bisher weder von der Ständeforschung noch von der hessischen Landesgeschichte bemerkt worden. Dabei war sie relativ langlebig und überstand sogar die Landesteilung von 1567, wie Abbildung 4 zeigt.

Abbildung 4: Gesamthessische Landtagstypen im 16. Jahrhundert

Die Abbildung belegt eine grundsätzliche Kontinuität der gesamthessischen Landtagsformen von der Regierungszeit Philipps bis zum Ende der Generation seiner Söhne, also bis etwa 1600; 262 eine Kontinuität, die ebenfalls für die Verfassungsordnung gilt, die in dieser Vielfalt von Landtagsformen ihren Ausdruck findet. Gleichzeitig ist nicht zu verkennen, dass die Anzahl der gesamthessischen Ständeversammlungen in der Zeit nach 1567 geringer ist als vor der Landesteilung; vor allem die Linie der Städtelandtage ist deutlich ausgedünnt. Ganz allgemein lässt sich diese Entwicklung darauf zurückführen, dass es nunmehr deutlich schwieriger war, einen gesamthessischen Landtag abzuhalten, denn im Vorfeld mussten die politischen Ziele der vier Landgrafen in Übereinstimmung gebracht werden, damit eine einheitliche Proposition aufgesetzt und den Ständen präsentiert werden konnte – vom organisatorischen Aufwand ganz abgesehen. 263 Der besonders deutliche Rückgang bei den Städte262

263

Nach dem etwas früheren Tod Philipps II. von Hessen-Rheinfels 1583 verstarben die restlichen drei Landgrafenbrüder jeweils nur wenige Jahre nacheinander um die Jahrhundertwende: 1592 Wilhelm IV. von Hessen-Kassel, 1596 Georg I. von Hessen-Darmstadt und 1604 Ludwig IV. von Hessen-Marburg. Dessen Tod löste dann den Marburger Erbfolgestreit aus, der eine wichtige Katalysatorfunktion für die weitere ständische Entwicklung hatte. Vgl. unten 4.2.1. Zu Lebzeiten Landgraf Wilhelms IV. übernahm dieser im Hinblick auf die Landtage als „Senior des Hauses“ (Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 274) eine Art Direktorium und die Hauptlast der Organisation; seine Kanzlei konzipierte – nach der Einung der Landgrafen über die prinzipielle politische Zielsetzung – die Proposition und die Ladungsschreiben, die dann zuerst in einem komplizierten Verfahren von

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

landtagen ist insbesondere damit zu erklären, dass die Fürsten – wie erwähnt – schon bald nach der Landesteilung dazu übergingen, für die Bewilligung von Landsteuern und die Verlängerung der Tranksteuer in ihren jeweiligen Teilfürstentümern partikulare Städtelandtage abzuhalten. 264 Diese zweite Entwicklung ist darüber hinaus Teil einer allgemeinen Veränderung, die sich auf die Situationstypen und ihr Verhältnis auswirkt. Zum einen wird die Behandlung von Situationen des ersten Typus, zu denen die Einforderung von landschaftlichen Sondersteuern ja gehört, tendenziell auf der Ebene der Teilfürstentümer verlagert; das beginnt schon sehr früh mit den Städtelandtagen, wird aber im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts erstmals auch für Ritterlandtage praktiziert. 265 Da gleichzeitig Situationstyp II kaum noch vorkommt, 266 verbinden sich die allgemeinen und auch die engeren gesamthessischen Landtage immer mehr mit dem Situationstyp III, der Bewilligung von Reichssteuern. 267 Insgesamt ist also eine gewisse Polarisierung zu verzeichnen, die darauf hinausläuft, dass die Stände als eigene politische Akteure vornehmlich auf der Ebene der Teilfürstentümer auftreten, während in gesamthessischen Kontexten zunehmend nur noch die Ständegesamtheit agiert. Damit sind Pfade vorgezeichnet, die in der weiteren verfassungsgeschichtlichen Entwicklung eine wichtige Rolle spielen werden. Da nämlich der vorher multifunktionale allgemeine Landtag mehr und mehr mit der Vorstellung einer kollektiv verbindlich handelnden Ständegesamtheit verschmolz, verlor diese spezielle Landtagsform ihren Ausnahmecharakter und konnte so zum Ausgangspunkt einer äußerst konfliktreichen Ent-

264

265 266 267

allen Landgrafen gebilligt werden mussten. Danach versandte jeder Fürst die Ladungen im eigenen Namen an die Landstände seines Teilfürstentums, wobei für die unter gemeinsamer Verwaltung stehenden Landstände Spezialregelungen galten; vgl. Hollenberg, Einleitung I, S. 30f. Später kam es zwischen Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt über diesen Vorrang zu Konflikten, vgl. unten 4.2.1. Hessen-marburgische Städtelandtage: 1569, 1581, 1591 (engere Form), 1603 (engere Form); hessen-kasselische Städtelandtage: 1573, 1581, 1591, 1601; hessen-darmstädtische Städtelandtage: 1591, 1603. 1591 wird zum ersten Mal ein hessen-kasselischer Ritterlandtag einberufen; vgl. LTA 1591 März 17. Im 17. Jahrhundert wird das zu einer üblichen Form. Situationstyp II liegt nur noch dem engeren Landtag von 1570 (‚Umgang mit den Grafen von Diez‘) und dem engeren Landtag von 1584 (‚Salzteuerung‘) zugrunde. Diese Entwicklung führt schließlich dazu, dass das Modell der Bewilligung von allgemeinverbindlichen Steuern durch die Ständegesamtheit, das bisher ausschließlich für Reichssteuern Verwendung fand, zum Ende des Jahrhunderts herangezogen wird, um Steuern für rein hessische Zwecke einzufordern. Zum ersten Mal wird eine solche, später ‚Landrettungssteuer‘ genannte Abgabe 1598 von einem engeren Landtag in Melsungen bewilligt; vgl. LTA 1598 Dez.

3.3 Zwischenergebnis

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wicklung werden, an deren Ende eine voll ausgebildete landständische Verfassung stehen sollte – mit der ehemaligen Spezialform des allgemeinen Landtags als neuer Zentralinstitution. Und da die Geschichte der hessischen Stände im 16. Jahrhundert im Verlauf dieser späteren Entwicklung nicht nur einfach in den Hintergrund trat, sondern – wie später zu zeigen sein wird – schon sehr früh vergessen und umgeschrieben wurde, ist es um so nötiger, die ‚philippinische‘ Herrschaftsordnung des 16. Jahrhunderts als eine Verfassungskonfiguration eigenen Typs in die hessische Stände- und Verfassungsgeschichte zu (re-)integrieren.

3.3 Zwischenergebnis Im 16. Jahrhundert hat es in Hessen keine landständische Verfassung gegeben – so das zentrale Ergebnis. In der Vormundschaftszeit (1509–1518) findet man zwar den Anspruch, dass die Ständegesamtheit prinzipiell an der Regierung des Landes zu beteiligen sei; da diesem Anspruch aber keine verstetigte Praxis entsprach, kann man nicht vom Bestehen einer Verfassung sprechen. Nach über einem Jahrzehnt ohne Ständeversammlungen entwickelte sich dann seit 1526 unter Landgraf Philipp zwar eine Verfassungsordnung, aber diese ließ sich nicht als ‚landständisch‘ qualifizieren, weil die strukturtypischen Merkmale dieser besonderen Verfassungsart nicht gegeben waren, insofern der allgemeine Landtag, in dessen Rahmen eine korporativ verfasste Ständegesamtheit dem Landesherrn gegenübertritt und dessen Beschlüsse allen Herrschaftsunterworfenen effektiv zugerechnet werden, keine zentrale und grundlegende Rolle spielte. Stattdessen wurde deutlich, dass seit der Mitte der 1520er Jahre und bis zum Ende des Jahrhunderts eine Verfassungsordnung bestand, die ich – mangels einer besseren Bezeichnung – ‚philippinische‘ Ständeverfassung nenne; diese ließ sich inhaltlich näher bestimmen als eine Form ständisch supplementierter Fürstenherrschaft, in der die Landstände zum einen als selbständige politische Akteure und zum anderen als Teile einer repräsentativ handelnden Ständegesamtheit auftraten – je nach Situation. Und obwohl es sich also nicht um eine voll ausgebildete landständische Verfassung handelte, so wird man doch sagen können, dass die philippinische Ständeverfassung zumindest darin ein genuin ‚landständisches‘ Merkmal besaß, dass sich im Zuge der Intensivierung des Reichssteuerwesens der ‚allgemeine Landtag mit Repräsentationsfunktion‘ herausgebildet hatte. Handelte es sich nun zunächst um einen ausgesprochenen Spezialfall, so setzte nach der Landesteilung 1567 eine Entwicklung ein, in deren Verlauf Situationen, in denen die Einzelstände agierten, zunehmend

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3. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert?

auf der Ebene der Teilfürstentümer verhandelt wurden, was im Gegenzug dazu führte, dass in gesamthessischen Kontexten die Organisationsform des allgemeinen Landtags immer mehr mit der Repräsentationsfunktion der Ständegesamtheit verschmolz. In den Forschungen zur hessischen Ständegeschichte wird jedoch in der Regel davon ausgegangen, dass seit dem Spätmittelalter von einer landständischen Verfassung gesprochen werden könne. Und da diese bis zum Ende des Ancien Régime Bestand hatte, ist damit ein nicht nur zeitlicher, sondern auch epistemischer Rahmen installiert, in dem alle konkreten Ereignisse und Entwicklungen lesbar werden als Teil einer umfassenden ‚Geschichte der landständischen Verfassung in Hessen‘, was bedeutet, dass trotz aller Veränderungen das unterstellte Objekt des historischen Wandels im Kern mit sich selbst identisch bleibt. Und da es sich bei der landständischen Verfassung um ein Objekt handelt, dessen idealtypische Form aus Verhältnissen des 17. und 18. Jahrhunderts gewonnen wurde, folgt daraus, dass sich gleichsam automatisch eine genetische Perspektive einstellt, wenn man in diesem Rahmen nun das 16. Jahrhundert betrachtet. Die Eigenheit der ‚philippinischen‘ Ständeverfassung musste also gegen diese starken, wenngleich oft impliziten Vorannahmen überhaupt erst zur Geltung gebracht werden; die genetische Perspektive musste weitgehend eingeklammert werden, um sehen zu können, dass sich die Verfassungsordnung des 16. Jahrhunderts gerade nicht darin erschöpfte, eine Übergangsphase hin zur landständischen Verfassung des 17. und 18. Jahrhunderts zu sein. Aus diesem Grund argumentierte das vorige Kapitel stark von der Eigenlogik der institutionellen Ordnung her und rückte die – ebenfalls vorhandenen – Entwicklungstendenzen eher in den Hintergrund.

4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht (ca. 1590–1623)

Wer Lust und Zeit hätte, würde auch nicht übel thun, wann er untersuchte: Wie die dermalige Land-Stände jeden Orts in Ein Corpus erwachsen seyen? Johann Jakob Moser 1 Hypocrisy may provide the only chance of achieving some action without the risk of losing general support for the executives or the actors and thus also for the action. Nils Brunsson 2

Im 16. Jahrhundert hat es in Hessen keine landständische Verfassung gegeben – so das zentrale Ergebnis des vorigen Kapitels. Stattdessen bestand seit Mitte der 1520er Jahre und bis zum Ende des Jahrhunderts eine Herrschaftsordnung, die ‚philippinische‘ Ständeverfassung genannt wurde und die sich inhaltlich näher bestimmen ließ als eine Form ständisch supplementierter Fürstenherrschaft, in der die Landstände zum einen als selbständige politische Akteure und zum anderen als Teile einer repräsentativ handelnden Ständegesamtheit auftraten – je nach Situation. Die philippinische Ständeverfassung besaß nun zumindest darin ein genuin ‚landständisches‘ Merkmal, dass sich im Zuge der Intensivierung des Reichssteuerwesens der ‚allgemeine Landtag mit Repräsentationsfunktion‘ herausgebildet hatte. Handelte es sich nun zunächst um einen ausgesprochenen Spezialfall, so setzte nach der Landesteilung 1567 eine Entwicklung ein, in deren Verlauf Situationen, in denen die Einzelstände agierten, zunehmend auf der Ebene der Teilfürstentümer verhandelt wurden, was im Gegenzug dazu führte, dass in gesamthessischen Kontexten die Organisationsform des allgemeinen Landtags immer mehr mit der Repräsentationsfunktion der Ständegesamtheit verschmolz. Gleichwohl argumentierte das vorige Kapitel stark von der Eigenlogik der institutionellen Ordnung her und rückte diese Entwicklungstendenz eher in den Hintergrund. Das soll nun nicht heißen, dass die genetische Perspektive sich damit erledigt hätte: Ganz im Gegenteil wird die Frage, wann und wie die 1 2

Moser, Von der Teutschen Reichs-Stände Landen, S. 358. Brunsson, Ideas and Actions, S. 501.

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

landständische Verfassung entstand, erst jetzt wirklich virulent, weil die bisherige Standardantwort, sie habe sich im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit allmählich entwickelt, offensichtlich nicht mehr trägt, während die Existenz einer solchen Verfassungsordnung seit der Mitte des 17. Jahrhunderts unbestritten ist – allerdings nunmehr auf der Ebene der Teilterritorien: Am 2. Oktober 1655 unterzeichneten Landgraf Wilhelm VI. und vier Vertreter der Ritterschaft in Kassel einen Vergleich, der das Ende eines langjährigen Ständekonflikts in Hessen-Kassel besiegelte. Dieses Ereignis macht 1655 zu einem „Epochenjahr der hessischen Landesgeschichte“: 3 Zum einen erlangte der vorausgegangene Ständekonflikt, der zunächst nur Landgräfin Amalie Elisabeth und die niederhessische Ritterschaft entzweite, schnell gesamthessische Bedeutung; 4 zum anderen galt die hessen-kasselische „Konsensual-Resolution“ 3

4

Maruhn, Duale Staatsbildung contra ständisches Landesbewusstsein, S. 71; vgl. Demandt, Die Hessischen Landstände nach dem 30jährigen Krieg, S. 173, der von einem „Wendepunkt“ spricht; vgl. auch Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), der dieses Datum zu Gliederungszwecken nutzt. Vgl. auch unten 5.3.5. Vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 125, und Ders., Duale Staatsbildung contra ständisches Landesbewusstsein, S. 74. Der Begriff ‚niederhessische Ritterschaft‘ ist an dieser Stelle kurz zu erläutern: Die seit dem 14. Jahrhundert bekannte Untergliederung der Landgrafschaft in ein Oberfürstentum mit dem Zentrum Marburg (Oberhessen) und ein Niederfürstentum mit dem Zentrum Kassel (Niederhessen) reflektiert die Tatsache, dass bis zum Anfall der Grafschaft Ziegenhain-Nidda im Jahre 1450 die beiden Gebiete tatsächlich räumlich getrennt waren (vgl. Hollenberg, Einleitung I, S. 13, und Engelhard, Erdbeschreibung der Hessischen Lande Casselischen Antheiles mit Anmerkungen aus der Geschichte und aus Urkunden erläutert, I, S. 8f.). Lehnsrechtlich ohne Bedeutung, wurde dieses Gliederungsprinzip jedoch wichtig, als Landgraf Philipp es für die Landesteilung heranzog und bestimmte, dass landtgrave Wilhelm soll haben das niddernfurstenthumb Hessen (‚Testament Landgraf Philipps. Kassel 1562 April 6‘, in: Hollenberg I, Nr. 42b, § 7: Landesteilung, S. 263). Nachdem Hessen-Kassel im Hauptaccord von 1627 das nördliche Oberhessen, Schmalkalden und die Niedergrafschaft Katzenelnbogen an Hessen-Darmstadt hatte abtreten müssen, verblieb der Kasseler Linie im wesentlichen nur das alte Niederfürstentum, weshalb der Begriff ‚niederhessisch‘ seit 1627 etwa denselben Umfang hatte wie der moderne Begriff ‚hessen-kasselisch‘. Den Reichskammergerichtsprozess gegen Landgräfin Amalie Elisabeth führten die Ritter daher unter dem Namen samptliche Ritterschafft des Niederfürstenthumbs Hessen (‚Mandatum inhibitorium et cassatorium sine clausula‘, Speyer 1647 Sept. 4/14, in: StAM 304 Nr. 504, unfoliiert, 1 S. (= Mandatum 1647)). Als jedoch nach dem neuen Hauptaccord von 1648 das nördliche Oberhessen, Schmalkalden und die Niedergrafschaft Katzenelnbogen wieder an Hessen-Kassel zurückerstattet worden waren, unterzeichnete den Ständekonflikt betreffende Dokumente auch wieder Sambtliche Ritterschafft des Unter und Oberfürstenthumbs Heßen Cassellischen theilß (‚Gravamina der sämptlichen Ritterschaft des Ober- und Niederfürstenthumbes Heßen Caßelischen Theils‘, Kassel 1650 Sept. 30, StAM 5 Nr. 14808, fol. 52r–62v, fol. 62v (= Gravamina 1650)). Der Akzent liegt also auf der Zugehörigkeit zu Hessen-Kassel, weshalb die Begriffe ‚niederhessisch‘ und ‚hessen-kasselisch‘ im Haupttext synonym benutzt werden.

4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

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von 1655 bald auch im Darmstädter Teilfürstentum. 5 Im Hinblick auf die landständische Verfassung ist vor allem der erste Artikel des Vergleichs von Belang: Und zwar soviel erstlich die allgemeine Landtäge betrifft, verbleibt es bey deme zwischen beeden regierenden Fürsten zu Hessen dißfalß in Anno 1648 getroffenem Vergleich. Die Landcommunicationstäge aber anreichend ist abgeredt, daß, wan Sachen vorfallen, worbey der gesampten Stände Vernehmung oder Bewilligung erfordert wirdt, dem Herkommen nach solche Landcommunicationstäge außgeschriebenn und beobachtet werden sollen, inmaßen dan Ihre F. G. sich nicht zuwieder sein laßen wollen, in Landt und Leut betreffenden Sachen, wan es die Nottdurfft erfordert, mit Ihren Landständen zu communiciren und sie zu Raht zu ziehen. Es behalten sich aber Seine F. G. auch bevor, dafern Sachen vorfallen, die celerem expeditionem erfordern, und wan etwan von Reichßund Craißsteuern zu reden, alßdan die Landtstände dergestalt zu convociren, daß nechst den sämptlichen Praelaten, so absonderlich hierzu zu beschreiben, sie die Stände von Ritter- und Landschafft etliche auß ihrem Mittell, welche sie iedoch iedesmalß selbst zu wehlen und mit Volmacht und Instruction zu versehen, abschicken sollen, mit denen der Sachen Gelegenheit nach habende zu schließen. Die Landt- und Kriegßsteuern aber zu willigen, laßen Ihre F. G. auf der gesampten Stände Beschreibung ankommen, und verbleibet es deßfalß im übrigen bey deme, was in puncto collectarum enthalten und resolviret. 6

In dieser kurzen Passage sind alle wesentlichen Strukturmerkmale genannt. Zunächst gibt es mehrere Landstände, die untereinander sozialständisch heterogen sind, nämlich Praelaten, Ritter- und Landschafft. 5

6

Maruhn, Duale Staatsbildung contra ständisches Landesbewusstsein, S. 73, führt den Begriff der „Konsensual-Resolution“ ein, um die Spannung auszudrücken, die zwischen Form und Inhalt des Textes besteht: „Gattungsspezifisch stellt diese Urkunde eine Rechtsquelle sui generis dar. Der äußeren Form nach handelt es sich um eine fürstliche Resolution auf ständische Gravamina, inhaltlich aber um einen Vergleich, der daher auch von beiden Seiten unterschrieben wurde.“ – Zur Geltung des Vergleichs in Hessen-Darmstadt vgl. ebd., S. 75, wo ausgeführt wird, dass der Vergleich erst gewohnheitsrechtlich galt und diese Geltung dann 1738 sogar – auf Bitten der Stände – schriftlich bestätigt wurde. Vergleich 1655, § 1, S. 58f. Bei dem im ersten Satz erwähnten Vergleich handelt es sich um den „Hauptvergleich zwischen Landgräfin Amalie Elisabeth, Landgraf Hermann, Landgraf Friedrich und Landgraf Ernst einer- und Landgraf Georg andererseits, mitbesiegelt von Herzog Ernst von Sachsen“ (StAM Urk. Verträge mit Hessen-Darmstadt 1648 April 14), der die fortdauernde Existenz der gesamthessischen Landtage bestätigte und regelte, auf welche Weise ein solcher Landtag in Zukunft organisiert werden sollte; vgl. den Abdruck der entsprechenden Passage bei Hollenberg III, S. 58. Allerdings kam es nie wieder zu einem gesamthessischen Landtag und die Landkommunikationstage traten an ihre Stelle, vgl. Hollenberg, Einleitung III, S. XXII.

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Dann wird festgestellt, dass in bestimmten Situationen Sachen vorfallen, worbey der gesampten Stände Vernehmung oder Bewilligung erfordert wirdt, das heißt der Fürst ist in einigen Fällen verpflichtet, sich mit den Landständen vor einer politischen Entscheidung zu beraten, während in anderen Fällen sogar die Entscheidung selbst den Landständen zusteht – sie verfügen über politische Teilhaberechte. 7 Diese Rechte stehen den Landständen jedoch nicht ut singuli, also jedem Landstand einzeln, sondern nur ut universi zu, also nur der korporativ verfassten Gesamtheit der Landstände oder, wie es im Vergleich formuliert ist, den gesampten Stände[n]. Dass die Landstände ‚im Namen des Landes‘ sprachen, also als Repräsentanten im korporationstheoretischen Sinn angesehen wurden, geht daraus hervor, dass es die Landt und Leut betreffenden Sachen waren, zu denen die Landstände hinzugezogen werden mussten. 8 Und die zentrale Institution ist nicht mehr der gesamthessische Landtag, dessen zwar im ersten Satz gedacht wird, der aber nie wieder tagen sollte, sondern der hessen-kasselische Landkommunikationstag. Dieser ist jedoch ebenfalls als allgemeiner Landtag anzusehen, denn auch für den Landkommunikationstag ist der gesampten Stände Beschreibung vorgeschrieben – im Hinblick auf die Rolle der Ständegesamtheit ist der Landkommunikationstag also ein funktionales Äquivalent des (gesamthessischen) Landtags. Folgerichtig sind Ausschusslandtage nur in Ausnahmefällen zulässig, etwa

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Damit ist noch keine Aussage darüber verbunden, wie weit diese Rechte reichten. Demandt, Die Hessischen Landstände nach dem 30jährigen Krieg, S. 174, meint, der Landgraf habe es vermocht, „ein garantiertes Mitwirkungsrecht der Stände an der Politik […] auszuschließen“; Nach Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 323, sei den Ständen aber „Mitsprache in den wichtigsten Landesangelegenheiten“ konzediert worden; ähnlich Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 278. – Die Unterscheidung zwischen ‚Vernehmung‘ und ‚Bewilligung‘, wie es der Vergleich ausdrückt, ist auch in der Reichspublizistik üblich; vgl. etwa Wildvogel, Rudolphi, Dissertatio Juris Publici Specialis De Statibus Provincialibus, S. 29: „habent Status votum vel decisivum, vel consultativum“. Vgl. auch Mohnhaupt, Die Mitwirkung der Landstände an der Gesetzgebung. Hier irrt Maruhn, Duale Staatsbildung contra ständisches Landesbewusstsein, S. 93f., der davon ausgeht, dass der Vergleich von 1655 nur die „Freiheiten einer privilegierten Minderheit“ festgeschrieben habe, die Stände aber das „übergreifende Ziel der Wahrung des Landeswohls […] durch Erhalt der supraterritorialen Ordnung Philipps des Großmütigen“ aufgeben mussten und das „ständische Landesbewusstsein“ somit „in das Privatrecht“ verdrängt worden sei. Maruhn vermischt hier Landesbewusstsein und Landesrepräsentation. Das gesamthessische Landesbewusstsein mochte keine politische Rolle mehr spielen, aber das hatte keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Landesrepräsentation durch die Landstände, die ja gerade dadurch bestätigt wurde, dass der Landtag bei ‚Land und Leute‘ betreffenden Sachen zu befassen sei. Vgl. ausführlicher unten 5.3.5.

4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

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wenn Sachen vorfallen, die celerem expeditionem erfordern. 9 Kurz: Der Vergleich von 1655 beschreibt – in Form von normativen Ansprüchen – eine landständische Verfassung für die Landgrafschaft Hessen-Kassel. Überblickt man nun die gut einhundertfünfzig Jahre von 1655 bis zum Ende des Ancien Régime, so stellt man fest, dass es sich bei der landständischen Verfassung, wie sie im Vergleich formuliert wird, nicht nur um eine normative Ordnung handelte, sondern dass sich auch in der politischen Praxis dieselben Strukturmerkmale auffinden lassen. 10 Und daher wurde der Vergleich nicht ohne Grund noch im 18. Jahrhundert in die offizielle Sammlung fürstlich hessischer Landes-Ordnungen und Ausschreiben 11 aufgenommen und von Conrad Wilhelm Ledderhose in seiner 1787 erschienenen Darstellung der hessischen Ständeverfassung sogar als „Grundgesetz“ 12 bezeichnet. Nun schufen frühneuzeitliche leges fundamenteles – anders als moderne Verfassungen – in der Regel keine gänzlich neuen Verfassungsordnungen ‚aus dem Nichts‘; 13 der Vergleich von 1655 macht hier keine 9

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Auch der Ausschusslandtag, so ist hinzuzufügen, ändert nichts an dem Prinzip, dass die Gesamtheit der Landstände Träger der Partizipationsrechte ist, weil es die Landstände selbst sind, die sich auf Ausschusslandtagen durch Deputierte vertreten lassen. Daher auch die Zusicherung des Vergleichs, dass die Landstände selbst die Deputierten wählen dürfen. Im 16. und frühen 17. Jahrhundert entgegen entschied der Landgraf, wen er zu engeren Landtagen lud; zu Ausschusslandtagen vgl. allgemein Moser, Von der Teutschen Reichs-Stände Landen, S. 1495–1519, und Lange, Zum Problem der Handlungsfähigkeit landständischer Versammlungen. Vgl. etwa Demandt, Die Hessischen Landstände nach dem 30jährigen Krieg, S. 162f., und allgemein Hollenberg, Die hessen-kasselischen Landstände im 18. Jahrhundert; Demandt, Die hessischen Landstände im Zeitalter des Frühabsolutismus; Würgler, Desideria und Landesordnungen; Neu, Sitzen, Sprechen und Votieren; Ders., The Importance of Being Seated; Ders., Rhetoric and Representation; vgl. allgemein Philippi, Die Landgrafschaft Hessen-Kassel 1648–1806; Ingrao, The Hessian Mercenary State; Pedlow, The Survival of the Hessian Nobility. Sammlung fürstlich hessischer Landes-Ordnungen und Ausschreiben, II, S. 240– 245. Ledderhose, Von der landschaftlichen Verfassung der Hessen-Casselischen Lande, S. 51; vgl. auch Hollenberg, Einleitung III, S. XXII. – Vgl. auch Lichtner, Landesherr und Stände in Hessen-Cassel 1797–1821, S. 1–12, der seine Schilderung mit dem Vertrag von 1655 beginnt. Vgl. Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter, S. 99; Mohnhaupt, Von den „leges fundamentales“ zur modernen Verfassung in Europa; Dilcher, Vom ständischen Herrschaftsvertrag zum Verfassungsgesetz, S. 171: „Schriftlich fixierte Verfassungsverbürgungen schwimmen gleich Inseln, zum Teil auch gleich Festlandblöcken im Meer des Herkommens“; vgl. auch Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, S. 132; immer noch wichtig Näf, Herrschaftsverträge und die Lehre vom Herrschaftsvertrag, und Oestreich, Vom Herrschaftsvertrag zur Verfassungsurkunde.

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Ausnahme, denn er dokumentiert keine genuine Neuschöpfung, sondern macht vielmehr in der Praxis schon vorhandene Strukturen zum Zwecke der Neujustierung und Präzisierung explizit. 14 Und da der Text eine voll ausgebildete landständische Verfassung beschreibt, also ein relativ komplexes und voraussetzungsreiches Institutionengefüge, ist davon auszugehen, dass diesem Akt der Verschriftlichung in der Praxis ein längerer Entstehungsprozess vorausgegangen ist. Denn mit Giddens handelt es sich bei dem Vergleich um eine Regelinterpretation, die bezogen ist auf die in den Praktiken zum Ausdruck kommenden impliziten Regelhaftigkeiten. Ab wann, wie und warum sich in der Praxis der fürstlich-ständischen Beziehungen in Hessen-Kassel ein Regelsystem ausbilden konnte, das der Vergleich dann auf den Begriff bringen konnte, ist die Frage dieses Kapitels. Bezieht man nun die Ergebnisse des vorigen Kapitels ein, so erweitert sich die Fragestellung zunächst, denn für die Zeit nach 1567 waren Tendenzen, die auf eine Verstärkung des landständischen Charakters hinausliefen, vor allem für gesamthessische Kontexte festgestellt worden. Da aber Mitte des 17. Jahrhunderts landständische Verfassungen offenbar auf der Ebene der Teilfürstentümer bestanden, muss auch dieser ‚Ebenenwechsel‘ erklärt werden, was die zusätzliche Frage nach sich zieht, ob es überhaupt einen Zusammenhang zwischen den landständischen Tendenzen der ‚philippinischen‘ Ständeverfassung und den Entstehungsprozessen in Hessen-Kassel bzw. Hessen-Darmstadt gegeben hat, und wenn ja, warum die ursprünglich gesamthessischen Entwicklungen letztlich auf der Ebene der Teilterritorien wirksam wurden. Zugleich lassen sich die Ergebnisse für das 16. Jahrhundert aber auch dazu nutzen, die Frage nach der Genese zu präzisieren: Die rekonstruierte ‚philippinische‘ Herrschaftsordnung, die gerade nicht ‚landständisch‘ genannt werden kann, begrenzt erstens den Untersuchungszeitraum im Sinne eines terminus post quem: Da gezeigt wurde, dass diese Form von Ständeverfassung bis zum Ende des 16. Jahrhunderts bestand, müssen sich die wesentlichen Entwicklungen also in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts abgespielt haben, da der Vergleich von 1655 im Bezug auf die Genese der landständischen Verfassung als terminus ad quem anzusehen ist. Zwei-

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Vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 277: „Damit war der Übergang von einer unsicheren Herkommensordnung in eine landesgrundgesetzlich positivierte Verfassungsordnung vollzogen“. Anders aber Demandt, Die Hessischen Landstände nach dem 30jährigen Krieg, S. 163 und 174, für den der Vergleich im Kontext des Ständekonflikts ein „Umbruch [war], der die bisherigen Positionen völlig verschob“; im Bezug auf die „bestehende Praxis der landständischen Tätigkeit“ aber habe der Vergleich zu deren „Sicherung“ beigetragen.

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tens kann die schon beschriebene Tendenz, dass in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf gesamthessischer Ebene die Organisationsform des allgemeinen Landtags zunehmend nur noch der Bewilligung von Reichssteuern diente und sich dadurch immer enger mit dem repräsentativen Handeln der Ständegesamtheit verband, als Ausgangspunkt fungieren, an den die Untersuchung der Genese anknüpfen kann. Insgesamt wird im Folgenden also auf eine explizit genetische Perspektive umgeschaltet, nachdem im vorigen Kapitel die Eigenlogik einer Verfassungsordnung im Mittelpunkt stand. Zugleich wird – aufgrund des kürzeren Untersuchungszeitraums – die bisher vornehmlich strukturgeschichtliche Untersuchung verstärkt konkrete Konflikte, Argumentationsmuster und Verhandlungsformen einbeziehen. Dabei steht HessenKassel im Vordergrund; zwar ist die Genese der landständischen Verfassung nur im gesamthessischen Rahmen zu verstehen, aber nur bei der Konzentration auf eines der beiden nach 1604 noch bestehenden Teilfürstentümer lassen sich die relevanten Prozesse hinreichend genau analysieren. Zudem ist diese Konzentration auch sachlich angemessen, denn es wird sich zeigen, dass die wesentlichen Impulse für den institutionellen Entwicklungsprozess aus Hessen-Kassel unter Landgraf Moritz kamen. An einen wichtigen Punkt ist zuvor noch zu erinnern: Die landständische Verfassung ist eine politische Konfiguration, in der die Landstände und der Landesherr (mitsamt seinem Hof und seiner Bürokratie) zueinander in ein komplexes Verhältnis gesetzt sind und die daher immer schon eine „Brücke zum Hof“ enthält. Daher lässt sich mit Peter Moraw, der diesen Brückenschlag zum Hof für die Erforschung der Genese politischer Stände im Spätmittelalter immer wieder einforderte, annehmen, dass auch die Herausbildung einer landständischen Verfassung – wie von Moraw empfohlen – „am besten mit dem Grundmodell von ‚Herausforderung‘ und ‚Antwort‘ oder ‚Problem‘ und ‚Problemlösung‘ “ 15 bearbeitet werden kann. Und aufgrund der institutionentheoretischen Überlegungen lässt sich darüber hinaus davon ausgehen, dass die beiden Positionen, die das zunächst rein formale Grundmodell ausweist, sehr häufig von Regeln und Regelinterpretationen eingenommen werden, von konkreten Praktiken und normativen Ansprüchen, die sich wechselseitig problematisieren und damit Dynamik erzeugen. 16 Was also sind die spezifischen Heraus15 16

Moraw, Zu Stand und Perspektiven der Ständeforschung im spätmittelalterlichen Reich, S. 10. Wenn im Folgenden eine Konzentration auf die institutionelle Praxis vorgenommen wird, so ist damit keine Vorannahme darüber verbunden, welchen Typen von Praktiken im Prozess der Verfassungsgenese eine zentrale Rolle zukommt. Das gilt insbesondere

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forderungen und Antworten, die zur Entstehung einer landständischen Verfassung in Hessen-Kassel führten?

4.1 Gesamtständisch und gesamthessisch: Normative Zentrierung Nimmt man also eine genetische Perspektive ein, so interessiert an der ‚philippinischen‘ Ständeverfassung, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts darstellt, vor allem eine Entwicklung, die als ‚Polarisierung‘ der ständischen Vielfalt beschreibbar ist: Ritterschaft und Landschaft agierten in einer eigenständigen Rolle zunehmend auf der Ebene der Teilfürstentümer, während in gesamthessischen Kontexten die Ständegesamtheit wichtiger wurde, was dazu führte, dass der multifunktionale allgemeine Landtag mehr und mehr mit der Vorstellung einer kollektiv verbindlich handelnden Ständegesamtheit verschmolz. Diese Entwicklung scheint jedoch nicht intendiert gewesen zu sein, weder von fürstlicher noch von ständischer Seite, sondern sie ergab sich als Nebeneffekt der Landesteilung. Darüber hinaus liegt dieser faktischen Entwicklung auch keine normative Vorstellung von einer gesamthessischen Einheit der Stände zugrunde – weder waren die Stände von Landgraf Philipp in seinem Testament als ‚Garanten der Einheit‘ vorgesehen, noch hatten die Landstände zunächst damit ein Problem, dass auf der Ebene für das Verhältnis von diskursiven und zeremoniellen (Sprach-)Handlungsformen. Hier geht die neuere Ständeforschung inzwischen von einer gewissen Vorrangstellung zeremonieller und ritueller Formen aus: „Sie definieren in elementarer Weise die Situation und stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen überhaupt nur Raum für diskursives, argumentatives Aushandeln bleibt“ (Stollberg-Rilinger, Symbol und Diskurs, S. 102). Diese Position ist nun zuerst in Auseinandersetzung mit dem frühneuzeitlichen Reichstag (Luttenberger, Pracht und Ehre; Stollberg-Rilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren; Dies., Die Symbolik der Reichstage) entwickelt worden. Da der Reichstag aber einen deutlichen Institutionalisierungsvorsprung gegenüber den Landtagen aufwies (vgl. Haug-Moritz, Reichstag, Schmalkaldische Bundestage, Ernestinische Land- und Ausschusstage der 1530er Jahre als ständische Institutionen, S. 59, und unten 5.3.3.) und bisher vor allem die fest institutionalisierten Landtage des späten 17. und 18. Jahrhunderts mit diesem Ansatz untersucht wurden (Stollberg-Rilinger, Herstellung und Darstellung politischer Einheit; Neu, Sikora, Weller (Hg.), Zelebrieren und Verhandeln; Harding, Landtag und Adligkeit), kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass zeremoniellen Formen auch in Prozessen der Institutionengenese eine besondere Wirkmächtigkeit und Bedeutung zukommt. Daher muss hier zunächst offenbleiben, in welchem Verhältnis diskursive und zeremonielle Formen zueinander standen, und es muss sich erst empirisch zeigen, welche Rolle sie jeweils im Prozess der Verfassungsgenese spielten.

4.1 Gesamtständisch und gesamthessisch: Normative Zentrierung

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der Teilfürstentümer Städtelandtage abgehalten wurden. 17 Kurz: Dass der gesamthessische und gesamtständische Landtag (mit repräsentativ handelnder Ständegesamtheit) seit 1567 in den Mittelpunkt rückte, war allem Anschein nach weder intendiert noch normativ erwartet, sondern zunächst eine kontingente Entwicklung. 18 Aber eben nur zunächst, denn mit einiger zeitlicher Verzögerung wurde der in der Praxis verstetigte allgemeine Landtag dann doch zum Gegenstand sich neu bildender Erwartungen. Um diese Entwicklung auf den Punkt zu bringen, habe ich aus der Reformationsforschung den Begriff der ‚normativen Zentrierung‘ entliehen. Berndt Hamm versteht darunter „die Ausrichtung auf eine bestimmende und maßgebende, grundlegend orientierende, regulierende und legitimierende Mitte“. 19 Zu dieser Mitte, so die These, wurde der gesamthessische und gesamtständische Landtag – und zwar für Landgrafen und Stände gleichermaßen. Da es sich bei dieser Zentrierung um einen Prozess handelt, ist es wahrscheinlich, dass sie in ihren frühen Phasen nicht direkt beobachtbar ist, da die von ihr ausgelösten Veränderungen noch unter der Thematisierungsschwelle bleiben: Zu Beginn – so wird man annehmen können – bilden sich bei bestimmten Individuen aus den praktischen Erfahrungen mit dem allgemeinen Landtag in der Vergangenheit Erwartungen für die Zukunft, die sich nach und nach zu normativen Erwartungen verdichten, die in das je individuelle Normensystem integriert werden und zu dessen Umstrukturierung führen; hier wirkt die berühmte „normative Kraft des Faktischen“ bzw., wie die Zeitgenossen gesagt hätten, das Prinzip ex facto oritur jus. 20 Irgendwann beginnen die Akteure dann, 17 18

19 20

Vgl. oben 3.2.3. Vgl. Haug-Moritz, Zur Genese des württembergischen Landtags in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, S. 132f., die zeigt, dass auch in Württemberg der allgemeine Landtag erst um die Mitte des 16. Jahrhundert entstand, dies im Unterschied zum hessischen Fall jedoch auch intendiert war. Auch in Hildesheim erreichte die landständische Verfassung erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine „institutionelle Ausformung“ (Klingebiel, Einleitung, S. 26). Hamm, Reformation als normative Zentrierung von Religion und Gesellschaft, S. 241. Vgl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 338. Jellinek zufolge liegt diese Kraft „in der weiter nicht ableitbaren Eigenschaft unserer Natur, kraft welcher das bereits Geübte physiologisch und psychologisch leichter reproduzierbar ist als das Neue“. Niklas Luhmann bietet ein überzeugenderes Argument: Erwartungen zeigen neutral an, „was eine gegebene Sinnlage in Aussicht stellt“ (Luhmann, Soziale Systeme, S. 139). Da sie sich auf die Zukunft beziehen, kann das Erwartete eintreten oder nicht. Und im Umgang mit dem Enttäuschungsfall unterscheiden sich verschiedene Erwartungstypen. Beim ‚kognitiven Erwarten‘ gilt: „Man ist bereit, sie [die Erwartungen, T. N.] zu ändern, wenn die Realität andere, unerwartete Seiten zeigt“ (ebd., S. 437). Dagegen werden ‚normative Erwartungen‘ „auch im Enttäuschungsfalle kontrafaktisch festgehalten“ (ebd.). Das Fak-

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ihre veränderten Erwartungen zu kommunizieren, was dann in einem gewissen Zeitraum dazu führt, dass ein sozial stabilisierter Anspruch entsteht. Und regelmäßig lässt sich erst dieses Produkt, der fertige normative Anspruch historisch registrieren, denn neue Normen führen in der Regel zu Konflikten, in deren Verlauf der Anspruch dann über die Thematisierungsschwelle gehoben wird. 21 Warum es im hessischen Fall zu einem solchen Prozess kam und auf welche Weise er sich genau vollzog, muss hier nicht untersucht werden, denn für die weitere Untersuchung ist allein interessant, ab wann und in welcher Form neue Ansprüche im Hinblick auf den allgemeinen Landtag tatsächlich erhoben wurden. 22 Dieser Zeitpunkt lässt sich in der Tat relativ präzise angeben: Der allgemeine Landtag als normatives Zentrum, als maßgebliche ‚Mitte‘ der fürstlich-ständischen Beziehungen wurde erstmalig in den 1590er Jahren zu einem konfliktträchtigen Thema. Im Frühjahr 1591 lief die zuletzt auf zehn Jahre bewilligte Tranksteuer aus, weshalb in allen drei hessischen Teilfürstentümern Landtage berufen wurden, die eine erneute Verlängerung beschließen sollten. Den Anfang machte Ludwig IV. von Hessen-Marburg, der allerdings zunächst gar keinen Landtag hatte abhalten wollen, sondern einfach von Vertretern seiner Residenzstadt die Verlängerung einforderte. Die Marburger Deputierten aber sahen sich dazu nicht der Lage und baten den Fürsten, dieser möge die formam antiquam wahren. 23 Daraufhin berief Ludwig die Städte Marburg, Alsfeld, Frankenberg, Gießen und Grünberg für den 1. März zu einem engeren Städtelandtag. 24 Faktisch kehrte er damit in der Tat zu einer ‚alten Form‘ zurück, denn auch die letzte Bewilligung war 1581 von denselben fünf Städten vorgenommen worden. 25 Gleichwohl spricht der Landtagsabschied davon, das die Deputierten zu Beginn aller-

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tische und das Normative Jellineks zeigen also für Luhmann nur zwei verschiedene Modi des Erwartens an, weshalb sich der Übergang von einem Modus zum anderen ohne Rekurs auf die menschliche Natur begründen lässt: „Das typisch Erwartete wird zum Normativen, wenn es durch die mitlaufende Erwartung des Gegenteils so gefährdet wird, daß der Erwartende sich auf ein Durchhalten im Enttäuschungsfalle festlegen muß. Er gewinnt damit jene so gefährliche Absolutheit des Erwartens im Normativen zurück und kann sie so besser mit der Miterwartung des Gegenteils kombinieren“ (Luhmann, Rechtssoziologie, S. 45). Vgl. dazu Luhmann, Konflikt und Recht, S. 92–112. Einen solchen Prozess der Ausbildung von normativen Erwartungen bis zu seinen Anfängen zu verfolgen, so ist hinzuzufügen, wäre nicht nur extrem aufwendig, sondern ist aufgrund der Quellenlage wohl auch nicht zu realisieren. StAM 330 Marburg B Nr. 307 fol. 254, Zitat nach Hollenberg I, S. 351. Vgl. Hollenberg I, S. 350. Vgl. LTA 1581 Febr. 26, S. 327.

4.1 Gesamtständisch und gesamthessisch: Normative Zentrierung

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handt underschiedene beschwerungen hinwiderumb angetzeigtt hätten. 26 Diese Beschwerden sind zwar nicht überliefert, aber Hollenberg vermutet begründet, dass dazu auch „ein Protest gegen die Berufung von nur fünf Städten“ 27 gehört habe – die Städte meinten also mit antiqua forma zumindest nicht die Landtagsform, die bei der letzten Tranksteuerbewilligung tatsächlich zum Einsatz gekommen war. Und wahrscheinlich bezogen sie sich auch nicht auf die vorletzte Verlängerung, die 1569 von einem gesamthessischen Städtelandtag beschlossen worden war. Denn laut Hollenberg hatten sie den Landgrafen darum gebeten, „alle Städte und Landstände“ zu laden. 28 Es wird in diesem Fall zwar nicht vollends deutlich, was für ein Landtag den oberhessischen Städten vorschwebte, aber es ging wohl um mehr als eine Rückkehr zu den Städtelandtagen der philippinischen Verfassungsordnung. Klarer liegt der Fall in Hessen-Kassel. Hier berief Landgraf Wilhelm IV. gleich zwei Landtage: Die gesamte Landschaft war vom 8. bis zum 10. März in Kassel versammelt und anschließend kam am selben Ort vom 15. bis 17. März ein engerer Kreis von Rittern zusammen. 29 Wie schon die oberhessischen, so waren auch die niederhessischen Städte alles andere als zufrieden mit der gewählten Landtagsform und erinnerten den Landgrafen im Abschied nachdrücklich daran, dass künfftig unnd hinfuro ritter- unnd landtschafft zu gemeinenn lanndtagenn zugleich beschriebenn unnd in solchenn unnd dergleichenn gemeinenn sachen mit gemeinem rath unnd schluß gehanndtlet werdenn, unnd ein erbare lanndtschafft deswegenn vonn niemandts einigen verweis haben möge. 30

In dieser kurzen Passage steckt ein ganz klarer und grundsätzlicher Anspruch: In allen politisch relevanten Situationen (‚gemeine Sachen‘) ist mit gemeinem […] schluß zu entscheiden; ein solcher kommt aber nur zustande, wenn er von der Ständegesamtheit (‚Ritter- und Landschaft‘) im Rahmen eines allgemeinen Landtags (‚gemeiner Landtag‘) gefasst wird. Und zu diesen Fällen rechneten die Städte ganz offenbar auch die Bewilligung der Tranksteuer. Nachdem die Landschaft trotz dieser Beschwerde eine Verlängerung beschlossen hatte, brachten die Ritter einige Tage später dasselbe Thema ein weiteres Mal auf und formulierten sogar noch umfassendere Vorstellungen. Im Abschiedsentwurf heißt es: 26 27 28 29 30

LTA 1591 März 2, S. 351. Hollenberg I, S. 351, Anm. 4. Hollenberg I, S. 351, Anm. 2. (Hervorhebung T. N.) Wahrscheinlich wurden nur die Ritter geladen, die über eigene Schankstätten verfügten und die daher von der Tranksteuer betroffen waren; vgl. Hollenberg I, S. 365, Anm. 2. LTA 1591 März 10, S. 353.

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Das aber darbenebenn vonn gemeiner ritterschafft erinnert, das kunftig unnd hinfuro inn solchenn unnd dergleichenn sachenn beider nidernn- unndtt oberfurstenthumbs ritter- unnd landschafft, wie herkommen, zuesammenn erfordert unnd nach ablauf derenn dißmals eingewilligtter zehenn jahrenn die trancksteur fallenn unndt ufhoerenn mochte. 31

Hatte schon die Landschaft darauf bestanden, dass in allen politischen Fragen nicht die einzelnen Landstände anzusprechen seien, sondern die Entscheidungsgewalt allein der Ständegesamtheit zustehe, so gehen die Ritter noch darüber hinaus und fordern nicht nur einen gesamtständischen (ritter- unnd landschafft), sondern im Prinzip auch gesamthessischen (beider nidernn- unndtt oberfurstenthumbs) Landtag. 32 Und sie liefern sogar eine Begründung dieser Forderung, wenn es heißt, die Alleinzuständigkeit des allgemeinen Landtags entspreche dem herkommen. Damit ist die argumentative ‚Allzweckwaffe‘ der Landstände eingeführt, die in den kommenden Jahrzehnten stets die Basis ihrer Forderungen darstellen sollte. Dem Bezug auf das ‚Herkommen‘ liegt dabei die Behauptung zugrunde, bestimmte Freiheiten oder Privilegien hätten durch den „Gebrauch von undenklichen Zeiten“ 33 den Status von schützenswerten Rechtsgütern erhalten. 34 In der Tat war die Rechtskultur der Ritter, wie vor allem Armand Maruhn und Robert von Friedeburg gezeigt haben, ‚erinnernd‘ und basierte auf Gewohnheitsrecht. 35 Zwei Eigenschaften von gewohnheitsrechtlichen Ordnungen sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen: Erstens verändern und verschieben sich diese Ordnungen 31 32

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LTA-Entwurf 1591 März 17, S. 356. ‚Gesamthessisch‘ meint hier, nimmt man die Angaben wörtlich, nur die Kerngebiete der Landgrafschaft, also Ober- und Niederhessen. Dazu ist noch nachzutragen, dass, nachdem die ehemaligen Grafschaften Ziegenhain und Nidda schon im 15. Jahrhundert vollständig dem hessischen Kerngebiet inkorporiert worden waren und fortan keine organisatorische Rolle mehr spielten, im 16. Jahrhundert noch die Herrschaften Plesse (1571) und Schmalkalden (1583) in das Niederfürstentum integriert wurden. Die Nieder- und Obergrafschaft Katzenelnbogen sind hier jedoch eindeutig ausgeschlossen. Allerdings verfügte die Grafschaft auch nicht über eine eigene Ritterschaft; nur einzelne Adelige besuchten gelegentlich die hessischen Landtage (vgl. Hollenberg I, Anhang 1c, S. 418– 424). Darauf ist es möglicherweise zurückzuführen, dass hier von den Rittern nicht alle von den Landgrafen beherrschten Gebiete aufgeführt sind. [Anon.], Observantia, die Observanz, Ehrerbietung. Vgl. Simon, Geltung; Garré, Consuetudo; Perreau-Saussine, Murphy (Hg.), The Nature of Customary Law. Vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 105–111; Friedeburg, Adel und ständische Vertretungen: Repräsentationen des Landes?, S. 182–184. Beide Forscher unterscheiden sich jedoch darin, worauf sie den überragenden Stellenwert des Herkommens zurückführen: auf den adeligen ‚Regionalismus‘ im Falle Maruhns, auf die juristische Wertschätzung der Rechtsgeschichte im Falle Friedeburgs.

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ständig, da vornehmlich die Erinnerung der Zeitgenossen, also das ‚kommunikative Gedächtnis‘ definiert, was als alte Gewohnheit gilt. 36 Kleinschrittige, evolutionäre Veränderungen jedoch entgehen in der Regel dem kommunikativen Gedächtnis und so finden unter der Fiktion des unwandelbaren Herkommens ständig Anpassungsprozesse statt. 37 Das Herkommensargument will also normative Geltung durch Verweis auf faktische Übung erzeugen; da aber das Wissen über die Observanz größtenteils aus dem kommunikativen Gedächtnis geschöpft wird und gerade nicht aus einem möglichst weit zurückreichenden und exakten Erinnerungsraum, sagen Herkommensargumente – entgegen ihrer eigenen Behauptung – tatsächlich mehr über die normativen Überzeugungen der gegenwärtigen Akteure als über die vergangene Praxis. Und daher belegt der Hinweis der Ritterschaft, die Berufung von gesamthessischen allgemeinen Landtagen für alle politisch relevanten Entscheidungen entspreche dem Herkommen, vor allem die Wirksamkeit der normativen Zentrierung, der Orientierung auf den allgemeinen Landtag als maßgebliche Mitte. Nun ging es 1591 konkret um die Tranksteuer, deren Bewilligung nach übereinstimmender Aussage beider Landstände dem Herkommen gemäß zu den Materien gehöre, die der Ständegesamtheit vorzulegen seien. Allerdings sprachen die Umstände der letzten Bewilligungen eindeutig gegen ein solches Herkommen, was die landgräfliche Seite auf beiden Ständeversammlungen auch wiederholt betonte: Man wisse sich keinnes herkommenns sondernn vielmehr des jegennsinns zu erinnern, nämlich dass inn ansetzung unnd prorogirung der trancksteur ritter- unnd landschafft niemals zuesammen gefordert, sondern alletzeit mit einem idernn theill inn sonnderheitt gehandlet wordenn. 38

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Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 50: „Das kommunikative Gedächtnis umfaßt Erinnerungen, die sich auf die rezente Vergangenheit beziehen. Es sind dies Erinnerungen, die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt.“ Eine interessante strukturelle Homologie ist darin zu sehen, dass die von der frühneuzeitlichen Jurisprudenz für die Gültigkeit von Gewohnheiten in der Regel angegebene Zeitspanne von vierzig bis fünfzig Jahren ununterbrochener Übung (vgl. Wehner, Practicarum Juris Observationum Selectarum Liber Singularis, S. 668, und Garrè, Consuetudo, S. 128–134) ziemlich exakt der „kritische[n] Schwelle“ (Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 51) des kommunikativen Gedächtnisses entspricht. LTA-Entwurf 1591 März 17, S. 356f. Für die Landschaft galt: unnd aber sie dargegenn hinwieder nicht alleine des herkommens, sondernn auch darbey ferners erinnert, warumb in diesem fall, da diese steur vom getrenncke nicht uf die person oder gueter, sondernn einzigk unnd allein uffs getrenncke geschlagen unnd darumb unvonnöthenn, das die ritterschafft darzu auch beschriebenn werde, so hat es auch eine gemeine lanndtschafft dabey bewenndenn laßenn (LTA 1591 März 10, S. 354.)

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In diesem Fall war die landgräfliche Ansicht historisch korrekt, denn in der Tat war die Tranksteuer noch nie von der Ständegesamtheit bewilligt worden. 39 Wenn sich die ständischen Ansprüche also gar nicht aus der tatsächlichen historischen Praxis der Tranksteuerbewilligung entwickelt haben können, dann ist offen, warum die Norm des allgemeinen Landtags in diesem Kontext überhaupt auftauchte und sich als so wirkmächtig erwies, dass ihre Enttäuschung nicht nur zu äußerst kritischen Passagen in den Abschieden der drei Städtelandtage führte, 40 sondern im Fall der hessen-kasselischen Ritter sogar einen Abschied gleich ganz verhinderte. 41 Diese Situation lässt sich nun plausibel erklären, wenn man davon ausgeht, dass in diesem Fall gerade keine gewohnheitsrechtliche Verdichtung von faktischen Erfahrungen zu normativen Ansprüchen vorliegt, sondern eine generalisierende Übertragung von Normen aus einer anderen Situation. Und wie schon mehrfach erwähnt, gibt es nur eine Situation, in der allgemeinen Landtagen und der Ständegesamtheit ein so hoher Stellenwert zukommt, nämlich bei der Bewilligung von Reichssteuern. Die Konflikte des Jahres 1591 traten also wahrscheinlich deshalb auf, weil die Stände – ob intendiert oder nicht – einen normativen Anspruch, der sich wohl in Bezug auf die Reichssteuern ausgebildet hatte, nunmehr auf die bisher völlig anders strukturierte Situation der Tranksteuer übertrugen, ihn also generalisierten. Man kann diese Konfliktkonstellation daher als einen weiteren Beleg für die These ansehen, dass es einen Prozess der normativen Zentrierung hin auf den allgemeinen Landtag gegeben hat, dessen Auswirkungen in Form neuer Ansprüche erst am Ende des 16. Jahrhunderts spürbar werden. 42 Trotz aller Proteste setzten sich die drei Söhne Landgraf Philipps 1591 durch – es wurden keine allgemeinen Landtage anberaumt, um die Tranksteuer zu verlängern. Aber nur acht Jahre später, in Kassel regierte inzwi39

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Tranksteuerbewilligungen waren vorher nur von gesamthessischen Städtelandtagen (LTA 1553; LTA. 1555 Aug.; LTA 1569 April), gesamthessischen Ritterlandtagen (LTA 1555 Sept.) und Städtelandtagen in den Teilfürstentümern (LTA 1581 Febr. 16; LTA 1581 Febr. 26) beschlossen worden. Der Städtelandtag in Hessen-Darmstadt wird im Haupttext nicht eigens erwähnt, da der Abschied im wesentlichen den Abschied von Hessen-Marburg übernahm, inklusive der kritischen Passage (Und ob sie wohll allerhandt underschiedene beschwerungen hinwiderumb angetzeigett; vgl. LTA 1591 April und Hollenberg I, S. 359, Anm. 5). Allerdings wurde die Bewilligung trotzdem für gültig angesehen, vgl. Hollenberg I, S. 355; daher irrt Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 118, der meint, es habe keine Bewilligung stattgefunden. Ebenfalls dafür spricht, dass die Ritterschaft schon auf den allgemeinen Landtagen von 1576 und 1583 verschiedene Listen von Gravamina vorlegte, sich darunter aber keine Beschwerden über die Landtagsformen oder die Bewilligungsmodalitäten der Tranksteuer finden; vgl. Hollenberg I, S. 321, Anm. 33 und S. 332, Anm. 18.

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schen Moritz ‚der Gelehrte‘ und in Darmstadt sein Vetter Ludwig V., 43 trafen die beiden jungen Landgrafen zusammen mit ihrem 61-jährigen Onkel Ludwig IV. eine richtungsweisende Entscheidung, die auf eine implizite Anerkennung der Ergebnisse der normativen Zentrierung hinauslief. 1598 luden die drei Fürsten zu einem engeren Landtag nach Melsungen, um mit ihrer f.ggg. getrewer ritter- und landschafft über Maßnahmen zum Schutz der Landgrafschaft zu verhandeln. 44 Der Anlass war zunächst nicht ungewöhnlich: Die Fürsten zeigten sich besorgt über die Präsenz spanischer Truppen am Niederrhein und daher legte die Proposition den versammelten Stände die Frage vor, ob man diese Truppen aktiv vertreiben oder nur Verteidigungsmaßnahmen ergreifen solle. 45 Nachdem die Stände für letzteres plädiert hatten, wurden die Landgrafen konkret: Für geschätzte 400 000 fl. wollte man „4000 Reiter und 12 000 Fußknechte für sechs Monate“ 46 aufbieten; die Landstände sollten davon 300 000 fl. übernehmen. Obwohl in den Ladungen von einer Steuerforderung keine Rede gewesen war, konnten die Stände – zumal bei persönlicher Anwesenheit der drei Fürsten – die Forderung nicht einfach ablehnen. Damit musste erstens über die Höhe des ständischen Beitrags verhandelt werden; zweitens aber stellte sich Frage, in welcher Form die Steuer überhaupt erhoben werden sollte. Auch hier hätte man sich nun auf ein Herkommen berufen können: Während der Regierungszeit Philipps war

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Zu Landgraf Moritz (1572–1632, reg. 1592–1627) vgl. zuletzt umfassend Menk (Hg.), Landgraf Moritz der Gelehrte; Borggrefe, Lüpkes, Ottomeyer (Hg.), Moritz der Gelehrte. Zu Landgraf Ludwig V. (1577–1626, reg. 1596–1626) vgl. zuletzt mit weiterer Literatur Pons, Kaisertreu und lutherisch. LTA 1598 Dez., S. 379; vgl. Hollenberg I, S. 379, Anm. 2: „Lg. Moritz lud aus jedem Geschlecht nur einen Vertreter […]. Lg. Ludwig IV. stellte dagegen die Entsendung von einem oder zwei aus jedem Geschlecht anheim […]. – An Städten lud Lg. Moritz Kassel, Schmalkalden, Eschwege, Rotenburg, Grebenstein, Treysa und Melsungen […]. Die nicht geladenen Städte und Flecken wurden aufgefordert, eine der geladenen Städte zu bevollmächtigen […]“. Insgesamt handelt es sich also um eine Mischform: Im Hinblick auf die Ritterschaft handelt es sich eher um einen Ausschusslandtag, da prinzipiell alle Geschlechter geladen sind, bei den Städten hingegen um die ältere, ‚engere‘ Form, da der Landesherr darüber entscheidet, welche Städte geladen werden. Die Prälaten wurden nicht geladen. Die Präsenz spanischer Truppen stand im Kontext des niederländisch-spanischen Konflikts: Ende 1598 bezog die bisher in Brabant stationierte Armee des spanischen Heerführers Mendoza Winterquartiere am Niederrhein und in Westfalen, um „die für Brabant längst zur Landplage gewordene Soldateska den benachbarten Reichsständen aufzubürden“ (Nicklas, Macht oder Recht, S. 155). Hollenberg I, S. 380, Anm. 6, dort Verweis auf StAM 17 I Nr. 1703 fol. 37–42.

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in solchen Fällen meist eine Landsteuer ausgeschrieben worden. 47 Da aber nach dem Augsburger Religionsfrieden 1555 im Alten Reich – und auch in Hessen – „mit geringfügigen Störungen mehr als zwei Generationen lang Frieden“ 48 herrschte, lag 1598 die letzte Landsteuerbewilligung für die Aufstellung von Truppen schon Jahrzehnte zurück, was vielleicht eine Rolle dafür spielte, dass nicht nur die Landschaft zu einem Städtelandtag berufen wurde. Nun war aber die Ritterschaft ebenfalls geladen worden, die sich sicherlich deshalb „gegen eine Beteiligung an einer Landsteuer sträubte“, 49 weil es sonst zu einem Präjudiz gegen ihre gewohnheitsrechtliche Befreiung von dieser Steuer gekommen wäre. In dieser heiklen Situation – einerseits musste eine gewisse Summe bewilligt werden, andererseits war die dazu übliche Steuerart nicht einsetzbar – kam man zu einer im Wortsinn kreativen Lösung: Man erfand die ‚Landrettungssteuer‘. 50 Die beiden Landstände kamen überein, dass sie kurzfristig von dem hundert [gulden] zwehen schreckenberger oder neun albus in guter ganghafftiger muntz durch ihre, von der ritter- und landschafft hiertzu insonderheit verordnete innehmer […] erheben und einnehmen lassen. 51 Es handelte sich also um eine Vermögenssteuer: ‚Schreckenberger‘ war ursprünglich die Bezeichnung einer Münze im Wert 47

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Landsteuern für Rüstungen wurden möglicherweise 1528 (Städtelandtag; Anlaß: ‚Vermutlich Rüstungen gegen die Bischöfe‘), sicher aber 1536 (allgemeiner Landtag; u. a. 30 000 fl. Landsteuer), 1544 (Städtelandtag; 20 000 fl. Landsteuer), 1546 (Städtelandtag; 80 000 fl. Landsteuer) und 1552 (engerer Landtag; 15 000 fl. Landsteuer) bewilligt. Nimmt man die Landsteuern für den Festungsbau hinzu, so wird die Tendenz noch deutlicher: 1533 (Städtelandtag; 45 000 fl. Landsteuer), 1539 (Städtelandtag; 60 000 fl. Landsteuer). Ausnahmen von dieser Regel waren die Soldatensteuer, die 1546 und 1551 von engeren Städtelandtagen bewilligt wurde, später aber wohl zu einer regelmäßigen Steuer wurde und daher auf Landtagen nicht mehr als Thema vorkam. Hinzu kommt eine Vermögenssteuer für den Schmalkaldischen Bund (1546, Städtelandtag) Burkhardt, Deutsche Geschichte in der frühen Neuzeit, S. 49; vgl. zuletzt Schilling, Smolinsky (Hg.), Der Augsburger Religionsfrieden 1555, und grundlegend Gotthard, Der Augsburger Religionsfrieden. Hollenberg I, S. 380, Anm. 6. Der Terminus kommt im Abschied in dieser Form noch nicht vor, aber schon ein Jahr später ist mit Bezug auf 1598 von einer lanndtrettungssteur die Rede (LTA 1599 Sept. 13, S. 382). Vgl. grundsätzlich Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 109–113; Hollenberg, Einleitung I, S. 47–54; Hollenberg, Einleitung III, S. LII–LV, wo sie allerdings in missverständlicher Weise als ‚Landsteuer‘ bezeichnet wird; Thies, Territorialstaat und Landesverteidigung, S. 226–229; Krüger, Finanzstaat Hessen 1500–1567, S. 255–278. LTA 1598 Dez., S. 380. Zusätzlich wurde für 1600 eine weitere Abgabe von einem Schreckenberger und für 1601 von einem oder zwei Schreckenbergern in Aussicht gestellt, falls die insgesamt bewilligte Summe von 150 000 fl. nicht durch die erste Steuer erreicht werden sollte.

4.1 Gesamtständisch und gesamthessisch: Normative Zentrierung

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von 4,5 Albus, wobei der Steuergulden zu 27 Albus gerechnet wurde. Wenn also von hundert Steuergulden (2 700 Albus) ein Schreckenberger (4,5 Albus) abgeführt werden musste, so entsprach das einer Abgabe von 1/600 oder ca. 0,0017 % des Vermögens. 52 Seit dem allgemeinen Landtag von 1566 war es üblich geworden, den Satz der Vermögenssteuer stets auf diese Weise, also durch ein Vielfaches von Schreckenbergern anzugeben. 53 Allgemeine, das heißt von der Ständegesamtheit bewilligte und für das ganze Fürstentum geltende Vermögensabgaben hatte es aber in der ‚philippinischen‘ Ständeverfassung nur zur Aufbringung von Reichssteuern gegeben. Zwar hatte Landgraf Philipp in zwei Fällen seine finanziellen Verpflichtungen gegenüber dem Schmalkaldischen Bund durch Vermögenssteuern erfüllt, aber da in beiden Fällen die Ständegesamtheit gerade keine Rolle spielte, 54 war vor 1598 tatsächlich noch nie eine allgemeine Vermögensabgabe ausschließlich für hessische Zwecke erhoben worden. 55 Die Landgrafen schufen also im Verein mit den Ständen eine neue Steuer, indem der bisher zur Aufbringung von Reichssteuern reservierte Besteuerungsmodus nun erstmals für rein hessische Belange 52

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Vgl. Hollenberg, Einleitung III, S. LIII, und Krüger, Finanzstaat Hessen 1500–1567, S. 265. Dort auch jeweils weitergehende Informationen. Hollenberg hat Krüger insbesondere in der Frage berichtigt, welche Einkommensteuersätze den in Schreckenbergern ausgedrückten Vermögenssteuersätzen entsprechen. Diese Praxis erhielt sich auch dann noch, als der Schreckenberger schon lange keine gängige Münze in Hessen mehr war. Darüber hinaus „ging die Kenntnis vom Ursprung des Begriffs soweit verloren, daß der ‚Schreckenberger‘ als Synonym für ‚Steuersimplum‘ “ galt (Hollenberg, Einleitung III, S. LIII, Anm. 240.). 1566 war für die beharrliche Türkenhilfe eine Abgabe von 0,5 Gulden pro 100 Gulden Vermögen beschlossen worden, die jedoch nicht sofort, sondern zu gleichen Teilen über drei Jahre zu zahlen war. Da nun 0,5 Gulden 13,5 Albus entsprachen, musste jedes Jahr eine Abgabe von 4,5 Albus geleistet werden – was genau einem Schreckenberger entsprach, weshalb im Abschied formuliert wurde: Die beharliche dreijerige hulff soll uf drei ziel erlegt werden: ein drittentheil, tregt einen schreckenberger vom hundert, […] (LTA 1566, S. 246). Vgl. LTA 1536. Bewilligt wurde für den Schmalkaldischen Bund eine ganze Türkensteuer nach dem komplexen Reglement von 1532 für die Hintersassen des Adels und eine halbe Türkensteuer für die Städte und Ämter. Allerdings spielt die Ständegesamtheit keine entscheidende Rolle, weshalb dieser Landtag als Ausnahme anzusehen ist, vgl. oben 3.2.2.; vgl. weiterhin LTA 1546 Dez. Bewilligt wurde – ebenfalls für den Schmalkaldischen Bund – zwar eine Vermögenssteuer; da es sich aber um einen Städtelandtag handelte, wurde diese nur von Städten und Ämtern gezahlt. Daher handelt es sich auch hier um eine Ausnahme. – Hinzuzufügen ist aber, dass immer wieder die Türkensteuereinnahmen zweckentfremdet wurden; vgl. Krüger, Finanzstaat Hessen 1500–1567, S. 287. Nur 1560 hatte Landgraf Philipp einmal versucht, Reichs- und Landeszwecke zu koppeln, als er forderte, dass die Vermögensabgabe, die zur Aufbringung der vom Reichstag 1559 bewilligten Reichssteuern ausgeschrieben werden sollte, auch zum Wiederaufbau der Festungen Geißen und Rüsselsheim dienen sollte. Dagegen erhob die Ritterschaft jedoch nachhaltig Protest. Vgl. LTA 1560 und Hollenberg I, S. 235, Anm. 7.

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

angewendet wurde: 56 Durch die Steuer nach dem Modell der schreckenberger sollten insgesamt 150 000 fl. zusammenkommen, die zu rettung des landes von ritter- und landschafft bewilliget und daher zweckgebunden waren. 57 Mit der ‚Erfindung‘ der Landrettungssteuer hatte sich die heikle Situation zur allerseitigen Zufriedenheit auflösen lassen: Die Finanzbedürfnisse der Fürsten waren befriedigt und die Ritterschaft hatte sich nicht an einer Landsteuer beteiligen müssen. So unspektakulär diese Neukombination von Vermögenssteuer und Landeswohlfahrt auch zunächst erschien, so folgenreich war sie im Hinblick auf die politische Partizipation der Landstände – wie sich ein Jahr später zeigen sollte. Nach diesem erfolgreichen Landtag schritt Landgraf Moritz zur Tat: Noch im Januar zum Kreisobristen des oberrheinischen Kreises gewählt, warb er im Frühjahr Truppen und führte diese im Juni an den Rhein. 58 Aber schon im September 1599 benötigte Moritz neue Gelder, um die Truppen weiterhin halten zu können. Mit weiteren Steuereinnahmen war gemäß dem Landtagsabschieds allerdings erst im kommenden Jahr zu rechnen. 59 Um dennoch an die dringend benötigten finanziellen Mittel zu kommen, verabredete Moritz mit seinem Onkel Ludwig IV., die Landstände um eine Vorziehung (‚Antizipation‘) der für 1600 und 1601 versprochenen Steuern anzugehen. 60 Um über eine solche Vorziehung zu verhandeln, wurde jedoch nicht – wie noch im Vorjahr – ein gesamthessischer Landtag einberufen; stattdessen luden beide Fürsten die Landstände ihres Teilfürstentums zu einem engeren Landtag nach Kassel bzw. nach Marburg. Das war nun gleich die zweite ‚Erfindung‘ binnen Jahresfrist, denn auf der Ebene der Teilfürstentümer hatte es bisher nur Städte- bzw. Ritterlandtage gegeben, aber keine Versammlungen in Analogie zu den gesamthessischen allgemeinen Landtagen.

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Hollenberg, Einleitung I, S. 49, sieht hier keinen Bruch: Er führt die Vermögenssteuern von 1536 und 1546 als Beleg dafür an, dass Vermögenssteuern „schon bald (1536 und 1547) auch zur Abwehr akuter dem Lande drohender Gefahren erhoben“ wurden. LTA 1598 Dez., S. 380f. Vgl. Rommel VII, S. 225–240. Vgl. LTA 1598 Dez., S. 380f.: Für den Fall, dass die erste Steuer nicht die bewilligten 150 000 fl. erbrachte, versprachen die Stände, dass sie in kunftigem 1600. jare uf Cathedra Petri abermals einen schreckenberger vom hundert und […] alsdan in volgendem 1601. jar noch einen oder zwehen schreckenberger nach gelegenheit des nachstandes erheben und ihre f.ggg. darmit der gantzen vorgestreckten summen wiederumb contentiren und friedigen wollen. Die Korrespondenz findet sich in StAM 17 I Nr. 1703, fol. 49–56.

4.1 Gesamtständisch und gesamthessisch: Normative Zentrierung

197

Anders aber als bei der Landrettungssteuer war die Einführung dieses neuen Landtagstyps umstritten. In offensichtlicher Erwartung ständischen Protestes erklärte die landgräfliche Seite auf dem Kasseler Tag daher vorsorglich, dass dieße absunderlich tractation unndt handtlung gahr nichtt, dem herkommen zuwieder, einige newerung damitt eintzfuhrenn, sonndern zu verhuetung weitenn reißenns und uncostens gemeinett sei. 61 Dieses Argument überzeugte die hessen-kasselischen Stände indes überhaupt nicht und so baten sie zunächst darum, dass es bei dem milßungischen abschiedt der zahllzeittenn halber verpleiben solle, weil ihnenn, was daselbstett vonn gemeinner ritter- unnd landschafft bewilligtt, ohnn der andernn mittvorwißen und bewilligung zu endernn nicht woll gepuren woltte. 62 Die hessen-kasselischen Landstände fühlten sich also nicht legitimiert, einen Beschluss des gesamthessischen Landtags zu ändern – oder zumindest behaupteten sie das. Aber auch in diesem Fall ließ sich eine Lösung finden: Da keine newe steur, sondernn alleinn der al[bereits] bewilligtenn steur anticipation gesucht werde, so das Argument, könne man der Forderung des Fürsten zustimmen. Als Begründung wurde also angeführt, dass es eben nicht darum gehe, einen neuen Beschluss zu fassen, sondern nur darum, die Durchführung des Abschieds von 1599 neu zu regeln. Und weil dadurch der Beschluss der gesamthessischen Ständegesamtheit in Kraft bleibe, könne man der Vorziehung der Steuertermine ausnahmsweise zustimmen. Allerdings galt diese Zustimmung nur unter der Bedingung, dass die andernn gegenn Milßungen zu demselbennn lanndtag beschriebenne ritter- und lanndschafft die gesuchte anticipation auch willigenn wurden. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, erklärten die hessen-kasselischen Landstände ausdrücklich, dass eine gleichlautende Bewilligung im marburgischen Landesteil notwendig sei, weil ritter- unnd lanndschafft beider furstenthumb unnd dartzu gehoriger graffschafftenn bißhero einn corpus geweßenn unnd sie [diese] auch dabei gernne erhaltenn sehenn wolttenn. 63

61 62 63

LTA 1599 Sept. 13, S. 383. Ebd. Ebd. – In Hessen-Marburg kam es ebenfalls zu Widerständen: Und demnach ehrngemelte praelaten, ritter- undt landtschafft die beschehenne lantagsbeschreibung vor etwas beschwerlich angetzogenn, ihnen aber von wegen vorhochermelts unsers gnedigen fursten und herrns, landtgraff Ludtwigs zu Heßen des eltern etc., dieße antzeig und vergewißigung beschehen, daß es jetztmals gewißer motiven und uhrsachen wilenn also vorgangen, gleichwoll aber deme biß daher bey andern landtägen gehaltennem herkommen ohnpraejudicirlich sein sollte, so ist solche antzeige uf ihrer, praelaten, ritter- und landtschafft, beschehenes suchen inserirt worden sondern gevehrde. (LTA 1599 Sept. 14, S. 386f.). Ob

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

Im Hinblick auf die Reichweite und Form der politischen Partizipation der Stände liegt hier derselbe generalisierte Anspruch vor, wie er im ersten Beispiel schon 1591 anlässlich der Verlängerung der Tranksteuer artikuliert wurde: Nach Auffassung der Landstände ist allein der gesamtständische (ritter- und landtschafft …) und gesamthessische (… beider furstenthumb unnd dartzu gehoriger graffschafftenn) Landtag berechtigt, kollektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen. Aber hatte man diesen Anspruch 1591 nur durch den Verweis auf ein (tatsächlich nicht bestehendes) Herkommen gerechtfertigt, so gehen die Landstände 1599 noch weit darüber hinaus und behaupten, andere Organisationsformen als der allgemeine Landtag seien deshalb nicht zulässig, weil der Ständegesamtheit der Status eines corpus zukomme. Damit reklamieren die Landstände für sich, eine gesamthessische Korporation, also eine juristische Person zu sein. 64 Hier ist der Höhepunkt der normativen Zentrierung erreicht: Der allgemeine Landtag ist in den Augen der Landstände so sehr zur maßgeblichen Mitte geworden, dass selbst für die Ständegesamtheit, die bis dahin überhaupt nur im Rahmen des Landtags und damit von Fall zu Fall zustandekam, eine über die Situation des Landtags hinausreichende Existenz behauptet wird. Erst jetzt beginnen sich die hessischen Landstände als „institutionelle Klammern des Ganzen“ (Press) zu begreifen. Eines allerdings unterscheidet die beiden geschilderten Beispiele, in denen die neuen Ansprüche greifbar werden: 1591 wies die fürstliche Seite zu Recht darauf hin, dass die Ansprüche der Stände in keinem Verhältnis zur institutionellen Praxis standen, dass also gerade kein Herkommen vorlag, weil die Tranksteuer noch nie von der Ständegesamtheit bewilligt worden war. Aber 1599 war dieser Ausweg versperrt, denn jetzt wurde deutlich, welche Folgen die Erfindung der Landrettungssteuer nach sich zog: Fürst und Stände hatten 1598 die Landrettungssteuer im gegenseitigen Einvernehmen nach dem Modell der Türkensteuer eingerichtet – als allgemeine Vermögenssteuer. 65

64 65

auch in Hessen-Darmstadt ein Landtag stattfand, ist nicht bekannt, vgl. Hollenberg I, S. 386, Anm. 5. Zur Korporationslehre vgl. oben 2.1.2 und zur Körpermetapher im Kontext der Ständeforschung Strohmeyer, Von Vätern und Köpfen, und Neu, Moralizing Metaphors. Vgl. die Türkensteuerbewilligung: Waß aber daß ander ziehll […] belangtt, sollen unndt wollen praelaten, ritter- unndt landtschafft […] von allen unndt jeden haab unndt gutern […] je einhundertt gulden heupttguts mitt einem schreckenberger […] verhaltten (LTA 1598 Juni, S. 373) mit der Landrettungssteuerbewilligung: Das sie […] zu beschutzung ihrer selbst und deren haab und guter, also und derengestaldt erlegen und richtigmachen wollen, das sie […] von jedem hundert [gulden] zwehen schreckenberger […] erheben und

4.1 Gesamtständisch und gesamthessisch: Normative Zentrierung

199

Die zur Bezahlung der Reichssteuern erhobenen Vermögensabgaben waren aber immer schon von der Ständegesamtheit auf gesamthessischen Landtagen bewilligt worden und daher hatte man mit der expliziten Übernahme des Steuermodus implizit auch die Notwendigkeit der Bewilligung dieser Steuer durch die Ständegesamtheit anerkannt. So sahen es offensichtlich nicht nur die Landstände, wie sich ihrem Protest entnehmen lässt, sondern auch die beschwichtigenden Aussagen der Fürsten sind deutliche Hinweise dafür, dass ihnen diese Norm vor Augen stand, als sie die beiden engeren Partikularlandtage einberiefen. Fasst man die in den Beispielen geäußerten normativen Vorstellungen zusammen, so zeigt sich, dass seit den neunziger Jahren des 16. Jahrhunderts ein ganz neues Bild der ständischen Herrschaftspartizipation gezeichnet wird: Das normative Zentrum der fürstlich-ständischen Beziehungen ist der allgemeine – und das heißt eben: gesamthessische und gesamtständische – Landtag. Auf solchen Landtagen agiert die Ständegesamtheit, die nunmehr als gesamthessische Korporation verstanden wird und die – insbesondere in Steuerfragen – allein befugt ist, kollektiv verbindlich zu entscheiden und daher in einem analytischen Sinne das Land repräsentiert. 66 Da dieses neue Bild alle erforderlichen Strukturmerkmale aufweist, kann man festhalten, dass seit dem letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts in Hessen die landständische Verfassung als Norm etabliert ist – von den Ständen lautstark verfochten, von den Fürsten nicht vehement zurückgewiesen. Wie gezeigt wurde, handelte es sich um eine normative Ordnung neuartigen Zuschnitts, deren Zentralinstitution, der allgemeine Landtag mit repräsentativ handelnder Ständegesamtheit, sich in Form und Funktion wesentlich den Impulsen des Reichssteuerwesens verdankte. Gleichwohl behaupteten die hessischen Stände, diese Form sei dem Herkommen gemäß, also gerade nicht neuartig, sondern Ausdruck ihrer traditionellen Herrschaftspartizipation. Hier hilft die von Clifford Geertz popularisierte Unterscheidung zwischen einem normativen „Modell für etwas“ und einem deskriptiven „Modell von etwas“ weiter. 67 Die erstmals in den neunziger Jahren greifbaren Ansprüche verdichten sich zu einem Modell für die ständischfürstlichen Beziehungen, drücken also ein Sollen aus, dessen Umsetzung

66 67

einnehmen lassen. (LTA 1598 Dez., S. 380). – Ein ähnlich gelagerter Fall bei Quarthal, Landstände und landständisches Steuerwesen in Schwäbisch-Österreich, S. 203–205. Vgl. auch Tieben, Politik von unten, S. 654f., die den ostfriesischen Landtag des frühen 17. Jahrhunderts im Sinne von Laclau/Mouffe als „Knotenpunkt“ bezeichnet. Vgl. Geertz, Religion als kulturelles System, S. 52f.; vgl. Sewell Jr., Geertz, Cultural Systems, and History, S. 46–49.

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

in die Praxis in der Folgezeit von den Ständen immer wieder eingefordert werden musste, denn in der Praxis existierte schon sehr lange und auch zu diesem Zeitpunkt noch die ständische Vielfalt der ‚philippinischen‘ Herrschaftsordnung. 68 Da diese Ansprüche aber im Rahmen einer Rechtskultur artikuliert wurden, die stark auf Observanz und Gewohnheit ausgerichtet war, musste das Modell für die Wirklichkeit als Modell von Wirklichkeit präsentiert werden. Typisch dafür ist der schon erwähnte allgemeine Rekurs auf das Herkommen. Aber die Stände lernten auch schnell, weitreichende Traditionslinien zu konstruieren und die Neuartigkeit ihrer Ansprüche zum Verschwinden zu bringen, indem sie ihre Forderungen auf so unbestrittene Fundamente wie das Testament Philipps und die Erbeinigung der vier Landgrafenbrüder zurückführten. 69 Gegen die häufig bis heute erfolgreiche ‚Geschichtspolitik‘ der Stände wird man aber festhalten müssen, dass das Auftauchen eines neuen, nämlich eindeutig ‚landständischen‘ Ordnungsmodells im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts einen qualitativen Sprung darstellte. Der Anspruch auf eine landständische Verfassung im Sinne des Strukturtypus, entstanden durch die normative Zentrierung auf den Spezialfall des allgemeinen Landtags und dessen anschließende Generalisierung, war nun in der Welt.

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Hatten schon die Landtage von 1591 und 1599 nicht dem Modell entsprochen, so änderte sich an der ständischen Vielfalt zunächst nichts: Als beispielsweise die 1591 bewilligte Tranksteuer 1601 auslief, wurden wieder Städtelandtage einberufen, was erneut die Stände auf den Plan rief. In Hessen-Kassel forderten die Städte: da kunfftig landtäg zu halttenn, alßdann beder furstennthumb unnd dero zuebehöriger graff- unnd herrschafftenn ritter- unndt landtschafft allesampt beschriebenn unndt mit denselbigenn unabsonderlich gehandlett unndt geschloßenn werden möchtte (LTA 1601 Mai, S. 389). Für Hessen-Marburg vgl. LTA 1603 Juni. Ein frühes Beispiel ist ein Dokument, das Rommel V, S. 223, Anm. 31, referiert und das 1599 von Mitgliedern der Landstände verfasst worden sein soll: Es handelt sich um ein „Bedenken, ‚ob es den Fürsten von Hessen Particular-Landtage zu halten nützlich sey‘ “. Dass es nicht nützlich sei, wird unter anderem mit Verweis auf die Erbeinigung und die aus dem Kirchenrecht stammende Maxime quod omnes tangit, ab omnibus debet approbari begründet. Später wurde das Hessen zur Zeit Philipps für die Landstände zum „normativen Referenzpunkt“ (Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 112). Zur Quod omes tangit-Formel vgl. Marongiu, Das Prinzip der Demokratie und der Zustimmung (quod omnes tangit ab omnibus approbari debet) im 14. Jahrhundert, und unten 5.3.3.

4.2 Gesamtständisch, aber ‚kasselisch‘: Faktische Zentrierung

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4.2 Gesamtständisch, aber ‚kasselisch‘: Faktische Zentrierung Das 17. Jahrhundert beginnt im Zeichen der Spannung zwischen dem neuen ‚landständischen‘ Ordnungsmodell und der immer noch ‚philippinisch‘ geprägten institutionellen Praxis: Als 1601 die Tranksteuer in Hessen-Kassel auslief, wurde erneut – wie schon 1591 – ‚nur‘ ein Städtelandtag berufen, um über die Verlängerung dieser wichtigen Verbrauchssteuer zu verhandeln; und ebenfalls wie 1591 wiederholte die Landschaft ihre grundsätzliche Forderung, dass in Zukunft nur noch Landtage stattfinden sollten, zu denen beder furstennthumb unnd dero zuebehöriger graff- unnd herrschafftenn ritter- unndt landtschafft allesampt beschriebenn unndt mit denselbigenn unabsonderlich gehandlett unndt geschloßenn werden möchtte. 70 Zwei Jahre später wiederholte sich derselbe Vorgang in Hessen-Marburg. 71 Allein diese Spannung zwischen den eingespielten Regelmäßigkeiten der Praxis und den neuen Interpretationen und Deutungen hätte in den kommenden Jahrzehnten wohl für eine erhebliche institutionelle Dynamik gesorgt. Aber nur diese – im Hinblick auf die Institution des politischen Ständetums ‚interne‘ – Verschränkung im Folgenden in den Mittelpunkt zu stellen, würde zu kurz greifen, denn gerade in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts sind verstärkt ‚externe‘ Faktoren namhaft zu machen, die zusätzlich auf die fürstlich-ständischen Beziehungen einwirkten. Drei solcher Faktoren lassen sich unterscheiden. Erstens ist der Marburger Erbfolgestreit zu nennen. 72 1604 starb Ludwig IV. von Hessen-Marburg, der seinen Neffen Moritz und seinen zu diesem Zeitpunkt schon verstorbenen Bruder Georg I. zu Erben eingesetzt hatte. Schon kurze Zeit später kam es über die Aufteilung des Erbes zum Streit zwischen den nunmehr zwei verbleibenden Linien HessenKassel und Hessen-Darmstadt; ein Streit, der zudem noch durch eine starke konfessionelle Komponente vertieft wurde, nachdem Landgraf Moritz mit der Einführung der ‚Verbesserungspunkte‘ 1605 in das Lager 70 71

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LTA 1601 Mai, S. 389. Vgl. LTA 1603 Juni. Anders als in Hessen-Kassel war in Hessen-Marburg 1591 die Tranksteuer um zwölf Jahre verlängert worden, weshalb eine Verlängerung erst 1603 nötig wurde. – Dass in der Praxis die ständische Vielfalt weiter bestand, wird auch dadurch belegt, dass 1601 ein gesamthessischer Städtelandtag einberufen wurde, um Ehesteuern für die Schwestern Landgraf Ludwigs V. zu bewilligen; vgl. LTA 1601 Nov. Vgl. einführend und mit neuerer Literatur Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 287–317; vgl. auch Beck, Der hessische Bruderzwist zwischen HessenKassel und Hessen-Darmstadt in den Verhandlungen zum Westfälischen Frieden von 1644 bis 1648, und Ders. Der Bruderzwist im Hause Hessen.

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

der Reformierten gewechselt war, während Ludwig V. weiterhin Lutheraner blieb. 73 Da es in den folgenden Jahren zu einer immer weiter eskalierenden Entfremdung und schließlich sogar zu Feindschaft und Krieg zwischen den beiden Linien kam, musste dieser Konflikt unmittelbar auf die ständische Entwicklung durchschlagen. Denn das Funktionieren der ‚philippinischen‘ Ständeverfassung setzte – bei aller ständischen Vielfalt – zumindest im Hinblick auf die Reichs- und Ehesteuern die Zusammenarbeit der beiden Linien voraus und das neue Ordnungsmodell basierte, wie oben gezeigt, sogar noch viel stärker auf der unterstellten Einheit der Landgrafschaft. Ein mindestens ebenso bedeutender Faktor war zweitens der Dreißigjährige Krieg. 74 Dieser beeinflusste die ständisch-fürstlichen Beziehungen gleich auf mehreren Ebenen. Im Kontext von weit ausgreifenden Plänen zur Einrichtung einer „von den Untertanen gestellte[n] und getragene[n] Miliz (‚Ausschuss‘) zu Fuß und Pferd“ 75 versuchte Landgraf Moritz nicht nur, die Hintersassen der Adeligen in das ‚Defensionswerk‘ genannte Milizsystem einzubeziehen, sondern wollte darüber hinaus das alte Lehnsaufgebot zu einer schlagkräftigen Reitertruppe umformen. Ging es hier vornehmlich um die Ritterschaft und ihr Verhältnis zum Landgrafen, so war die Ständegesamtheit vor allem mit der Einforderung immer neuer Steuern durch Moritz konfrontiert, mit deren Erlösen seine Kriegführung finanziert werden sollte, was um so wichtiger wurde, nachdem das Defensionswerk 1623 definitiv gescheitert war. 76 Handelt es sich nun beim Marburger Erbfolgestreit und dem Dreißigjährigen Krieg um komplexe Gefüge von Situationen, Handlungen und intendierten wie nichtintendierten Handlungsfolgen, so ist diesen strukturellen ‚Faktorenbündeln‘ drittens ein personeller Faktor hinzu73

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75 76

Vgl. dazu einführend Menk, Die „zweite Reformation“ in Hessen-Kassel, S. 171: „Da Konfessionsproblematik und Marburger Erbschaft aber ganz eng ineinander verwoben waren, berührte eine Entscheidung in der einen Sache die andere.“ Vgl. zuletzt Wilson, Europe’s Tragedy, und Arndt, Der Dreißigjährige Krieg 1618–1648; für Hessen vgl. Rommel VII und VIII; Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 300–317; vgl. auch Malettke, Der Dreißigjährige Krieg in Hessen und seine Folgen; Ders. (Hg.), Frankreich und Hessen-Kassel zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges und des Westfälischen Friedens, und insbesondere den Beitrag von Hollenberg, Primat der Innenpolitik? Hollenberg II, S. 95, Anm. 151. Vgl. Thies, Territorialstaat und Landesverteidigung, S. 213–234, der ebenfalls diese drei Punkte betont. Das Kapitel „Die Landstände und das Defensionswesen“ umfasst die folgenden Abschnitte: „1. Die Bemühungen um die Hintersassen des Adels“, „2. Lehnspflicht und Defensionswerk“ und „3. Die Ausübung des Steuerbewilligungsrechts und seine Auswirkungen auf die Maßnahmen zur Landesverteidigung“; vgl. zuletzt Gräf, Landesdefension oder „Fundamentalmilitarisierung“?

4.2 Gesamtständisch, aber ‚kasselisch‘: Faktische Zentrierung

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zufügen: Landgraf Moritz. Auf den ersten Blick erscheint es zwar wenig sinnvoll, den Landgrafen als ‚externen‘ Faktor auszuweisen, da der Landesherr doch immer schon Teil der Ständeverfassung ist. Aber angesichts der Tatsache, dass Moritz ‚dem Gelehrten‘ in den Standardwerken zur hessischen Geschichte „weitgehende Verständnislosigkeit für die politische Wirklichkeit“ 77 (K. E. Demandt) im Verein mit „Selbstherrlichkeit und Herrscherwille[n]“ 78 (V. Press) attestiert werden, müssen die „problematische Persönlichkeit des Landgrafen“ und sein „höchst gering entwickeltes politisches Gespür“ 79 als eigenständige Faktoren angesehen werden, die sich nicht auf die Strukturen der fürstlich-ständischen Beziehungen zurückführen lassen – nicht umsonst ist die Herrschaft Moritz’ als „Störfall der hessen-kasselischen Ständegeschichte“ 80 bezeichnet worden. Es ist also im Folgenden zu fragen, wie sich die Interaktion der neuen normativen Ansprüche, der hergebrachten Praxis und der drei Faktoren gestaltete und warum und wie sich im Verlauf dieses Prozesses eine neue Verfassungsordnung herausbildete.

4.2.1 Der Marburger Erbfolgestreit: Institutionalisierte Heuchelei Als Ludwig IV. von Hessen-Marburg am 9. Oktober 1604 starb, schien für die hessischen Landstände die Gelegenheit gekommen zu sein, ihre neuen Ansprüche in die Tat umzusetzen und sich als gesamthessische und gesamtständische Korporation zu profilieren. Der alte Landgraf hatte in seinem Testament von 1595 seinen Neffen, Moritz von Hessen-Kassel, und seinen Bruder, Georg I. von Hessen-Darmstadt, zu wahren ungezweifelten Universal-Erben Unsrer Landt und Leuth […] zu gleichen Theilen instituirt und eingesetzt; allerdings hatte er – anders als sein Vater Philipp gut vierzig Jahre zuvor – keinen konkreten Teilungsplan ausgearbeitet, sondern nur allgemein verfügt, dass die beiden Fürsten Alles freundtlich und eintrechtig mit einander theilen und sich darein vergleichen, und was einem Jeden in solcher Theilung und Vergleichung zukom77 78

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Demandt, Geschichte des Landes Hessen, S. 251. Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655). Eine Übersicht über die Beurteilungen des Landgrafen in der Geschichtsschreibung findet sich in Menk, Ein Regent zwischen dem Streben nach politischer Größe und wissenschaftlicher Beherrschung des Politischen, S. 26–40. Menk, Die „Zweite Reformation“ in Hessen-Kassel, S. 157. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 24; vgl. zustimmend Hollenberg, Einleitung II, S. 15.

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

men wurdt, vor sich haben und behalten sollen. 81 Daraufhin kam es am 25. Oktober auf dem Marburger Schloss zu einer denkwürdigen Szene: Anwesend waren einerseits Landgraf Moritz mit seinen Räten, andererseits die drei Söhne des inzwischen verstorbenen Georg I. von HessenDarmstadt, die Landgrafen Ludwig V., Philipp und Friedrich, ebenfalls in Begleitung ihrer Räte. 82 Nachdem Moritz die tags zuvor geschehene feierliche Publikation des Testaments festgestellt hatte, forderte er seine Vettern auf, sich zum Testament zu äußern. 83 Nach Rücksprache mit den Räten erklärte der regierende Landgraf Ludwig V. daraufhin für sich und seine Brüder: Sie köndten das Testament weder schelten noch loben, liessen es auff seinem Werth unnd Unwerth ersitzen, unnd weil es den Kayserlichen Rechten nicht gemeß, auch der Erbverbrüderung unnd Erbeinigung mit Sachsen, Brandenburg und Hessen, deßgleichen dem Altvätterlichen Testament, in etzlichen Puncten zu wider, köndten sie darein nicht willigen, sondern bäthen die Sach zum Außtrag kommen zu lassen. 84

Moritz war offenbar zutiefst erbost über diese – wie er sogar in Anwesenheit seiner Vettern meinte – geschraubte Aussage, denn nicht weniger als sechs Mal bedrängte er Ludwig und wollte eine runde Categorische Erklärung auff Ja unnd Neyn haben, ob sie wolten auß dem Vetterlichen Testament Erben seyn oder nicht. Aber Ludwig ließ sich nicht aus der Reserve locken und beharrte darauf, dass er das Testament nur unter der Bedingung annehmen könne, dass und insofern es der Erbverbrüderunge, den Kays. Belehnungen unnd geschwornen Erbvertrag nicht zu wider were; Moritz hingegen hatte schon zu Beginn der Zusammenkunft mit Nachdruck erklärt, dasselb Testament im Namen der H. Dreyfaltigkeit

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‚Testament Ludwig’s des Aelteren, Landgrafen von Hessen-Marburg. 1595. Marburg, am 25. April‘, in: Rommel VI, S. 72–83, S. 75. Vgl. auch Rudersdorf, Ludwig IV. Landgraf von Hessen-Marburg 1537–1604. Es handelt sich um die Gründer zweier Nebenlinien des Hauses Hessen-Darmstadt: Philipp III. von Hessen-Butzbach (1581–1643) und Friedrich I. von Hessen-Homburg (1585–1638). Das folgende nach ‚Copia Protocolli, Wie es Casselischen Theyls den 24. und 25. Octobris, Anno 1604. bey und nach Publicirung Weylandt Herrn Landgraff Ludwigs deß Eltern Testaments gehalten, und hernach den 5. Tag Novembris selbigen Jahrs den Niedergesetzten außträglichen Richtern ubergeben worden ist‘, in: Acta in Sachen die Fürstliche Marpurgische Succession belangendt, Kap. VII, S. 43–49 (jedes Kap. mit eigener Paginierung). Vgl. auch Rommel VI, S. 123–125, der über diese Publikation sagt, sie teile „mit vieler Aufrichtigkeit die wichtigsten Aktenstücke bis 1614“ mit. ‚Copia Protocolli 1604 Okt. 24/25‘, S. 47.

4.2 Gesamtständisch, aber ‚kasselisch‘: Faktische Zentrierung

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annehmen, in keinem Weg darvon abstehen, sondern steiff unnd fest darbey halten zu wollen. 85 Dass die beiden Parteien sich schon zu Beginn so eindeutig auf bestimmte Positionen festlegten, erklärt sich aus den divergierenden Ansichten über die Erbfolge: Moritz betonte das Testament Ludwigs IV., weil es das Erbe gleichmäßig unter den beiden Linien des Hauses aufteilte. Nach diesem Prinzip – zeitgenössisch per stirpes genannt – würde die Hälfte von Hessen-Marburg an Moritz fallen. 86 Ludwig und seine Brüder hingegen beriefen sich auf das Testament Philipps des Großmütigen und die Erbeinigung, weil sie der Meinung waren, dass in diesen Dokumenten ein für sie günstigeres und vorrangiges Prinzip festgeschrieben worden sei, nämlich die Erbfolge per capita, also ‚nach Köpfen‘. Und unter diesen Umständen seien alle vier lebenden Landgrafen erbberechtigt, weshalb Moritz nur Anspruch auf ein Viertel des Erbes habe und die restlichen drei Viertel der Darmstädter Linie zustünden. 87 Schon diese Szene, insbesondere das später sogar veröffentlichte Protokoll, deuten die Härte der sich anschließenden Auseinandersetzung an. Wie aber kommen nun die Landstände ins Spiel? Gleich zu Beginn, in seiner ersten Erklärung, hatte Ludwig V. darum gebeten, die Sach zum Außtrag kommen zu lassen. Damit bezog er sich auf den sogenannten Anstandts Receß, einen schon im Januar 1604 – also noch zu Lebzeiten Ludwigs IV. – in Kassel geschlossenen Vertrag. Um nämlich der „fast kriegerische[n] Stimmung“, 88 die sich in Erwartung des Erbfalls entwickelt hatte, entgegenzuwirken, hatten sich Moritz und Ludwig V. in besag85 86

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Alle Zitate ebd., S. 47–49. Vgl. ‚Testament Ludwig’s des Aelteren, Landgrafen von Hessen-Marburg. 1595. Marburg, am 25. April‘, in: Rommel VI, S. 72–83, S. 75: Als wollen wir Unsere freundtliche liebe Vettern und Bruder Hern Moritzen und Hern Georgen, Landtgrauen zu Heßen Grauen zu Catzenelnpogen sc. zu Unsern wahren ungezweifelten Universal-Erben Unsrer Landt und Leuth […] zu gleichen Theilen instituirt und eingesetzt haben. Vgl. ‚Testament Landgraf Philipps. Kassel 1562 April 6‘, in: Hollenberg I, Nr. 42b, S. 260–278, S. 266: Welcher unter den vier gebrudern, so uns von frawen Cristinen geboren, ohne manliche leibserben mit toidt abegehet, sollen inen die andern drei noch lebende gebruder samptlichen erben und sich, sovil die erbschafft belangt, mitain freundtlichen und bruderlichen vergleichen; ‚Erbeinigung der vier Landgrafen. Ziegenhain 1568 Mai 28‘, in: Hollenberg I, Nr. 42e, S. 282–295, S. 287: Damit aber gleichwol die töchter uff den fahl, da unser, der vier gebruder, einer oder mehr oder derselben sohne und nachkommen ohn eheliche manliche leibslehenserben abgingen – dardurch des- oder derselben abgestorbenen fursten theil landes den andern noch lebenden gebrudern oder iren ehlichen manlichen leibslehenserben angefallen –, geburlicherweise versehen werden […]. – Vgl. auch Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 291f.; Rommel VI, S. 123–126. Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 292.

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

tem Rezess verpflichtet, nach dem Tod ihres Onkels dessen Lande nicht eigenmächtig zu besetzen, sondern erst die Publikation des Testaments abzuwarten. 89 In Kenntnis des letzten Willens Ludwigs des Älteren wollten sie sich dann gütlich untereinander einigen und für den Fall, dass eine solche Einigung nicht zu erzielen sei, hatten sie weiterhin vereinbart, die Erbfrage im Wege rechtlicher Außführung zu entscheiden, die nach Außweisung unsers zusammenhabenden Erbvertrags angestellet und vollführet werden sollte. 90 Auf die letztgenannte Regelung bezog sich nun Ludwig bei der Zusammenkunft im Oktober und da man unter Erbvertrag die Erbeinigung von 1568 verstand, forderte er mit seiner Berufung auf den Außtrag konkret die Einberufung des ständisch dominierten Schiedsgerichts, das von Landgraf Philipp testamentarisch eingesetzt und in der Erbeinigung konkretisiert worden war. 91 Unversehens hatten die Landstände also Gelegenheit erhalten, ihre neuen Ansprüche in die Tat umzusetzen und als „institutionelle Klammern des Ganzen“ (Press) zwischen den Landgrafen zu vermitteln. Kaum eine Woche später, am 2. November 1604, trat das Schiedsgericht zusammen: Wie in der Erbeinigung vorgeschrieben, hatten die beiden Fürsten gemeinsam einen Universitätsjuristen ausgewählt und jeder für sich vier Ritter, vier städtische Magistrate und einen gelehrten Hofrichter bestimmt. 92 Die Niedergesetzten Richter, so der offizielle Titel, 89

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‚Casselischer Anstandts Receß, den 14. Januarii, Anno 1604. zwischen Herrn Moritzen und Herrn Ludwigen dem Jüngern, Gevettern, Landgraffen zu Hessen sc. auffgerichtet.‘, in: Acta in Sachen die Fürstliche Marpurgische Succession belangendt, Kap. IX, S. 5–7. Ebd., S. 5. Vgl. oben 3.2.3. und ‚Testament Landgraf Philipps. Kassel 1562 April 6‘, in: Hollenberg I, Nr. 42b, § 22: Schiedsgericht, S. 269. Landgraf Moritz entsandte die Adeligen Johann Claur zu Wohra (Obervorsteher der adeligen Stifte), Eckbrecht von der Malsburg, Otto Wilhelm von Berlepsch und Asmus von Buttlar, die Bürgmeister Dr. Georg Heß (Kassel), Johann Rübenkönig (Homberg), Joseph Hardelmann (Hofgeismar) und Wolff Badenhausen (Grebenstein), sowie den Hofgerichtsrat Johann Bischoff. – Landgraf Ludwig entsandte die Adeligen Johann Riedesel (Erbmarschall), Johann von Dalwig, Sittich von Berlepsch und Hans Philipp von Buseck, die Städtevertreter Reinhard Hamerus (Marburg), Hermann Geißheim (Darmstadt), Georg Reichhard (Alsfeld) und Christian Lauck (Frankenberg), sowie den Hofgerichtsrat Prof. Dr. Hermann Vultejus. Gemeinsam einige man sich auf Prof. Dr. Johannes Goeddaeus. Vgl. ‚Protocollum, in Sachen der Durchleuchtigen, Hochgebornen Fürsten und Herrn, Herrn Moritzen, so dann Herrn Ludwigen, Herrn Philippsen und Herrn Friederichen, allen Landgraffen zu Hessen, […] Belangendt Weylandt Landgraff Ludwigen zu Hessen deß Eltern hinderlassenes Testament und darin verordnete Theylung. Ergangen vor den vermög Fürstlichen Hessischen Erbvertrags nidergesetzen Richtern. Angefangen den 2. Tag Novembris im Jahr 1604. und gehalten biß auff den 23. Tag Februa-

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begannen daraufhin ihre Tätigkeit, die sich allerdings als äußerst kompliziert erwies, da keine der beiden Parteien zu einem echten Kompromiss bereit schien. 93 Am 14. November dann beschloss das ständische Gericht auf Antrag der Parteien, diese in den Besitz ihres jeweiligen Erbteils einzuweisen. 94 Da das Testament aber die Erbteile gerade nicht konkret bestimmt hatte, drängte Landgraf Moritz nun auf einen Teilungsbeschluss durch die ‚Niedergesetzten‘, wie sie kurz genannt wurden. Als aber das ständische Gericht nur drei Tage später die Durchführung der Erbteilung auf 10. Dezember festsetzte und damit einen Antrag der darmstädtischen Seite, ihr eine Bedenkzeit von zwei Monaten einzuräumen, zurückwies, kam es zum Bruch: 95 Die darmstädtischen Räte protestierten noch am selben Tag rechtsförmlich gegen das Vorgehen und erklärten am 23. November in einer weiteren Protestation, die Herrn Nidergesetzten seien nur zur gütlichen ohnverfenglichen Tractation unnd zu keinem Proceß, Theylung oder Erkündigung Befelcht, unnd nidergesetzt. 96 Einige Tage später vertraten Landgraf Ludwig V. und seine Brüder dann den Standpunkt, dass die Vollmacht des Schiedsgerichts mit der Einweisung in den Besitz erloschen und es daher nicht berechtigt sei, den Streit durch ein Urteil zu entscheiden. 97 Für den Fall, dass die Teilung des Erbes dennoch auf diese Weise vorgenommen werden sollte, kündigten die drei Brüder an, weitere Rechtsmittel einzulegen. Als dann am 20. Januar tatsächlich ein Urteil verkündet und Landgraf Moritz die nördliche Hälfte Oberhessens mitsamt der Stadt Marburg zugesprochen wurde, musste den landständischen Richtern und allen anderen Beteilig-

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rii deß Jahrs 1605.‘, in: Acta in Sachen die Fürstliche Marpurgische Succession belangendt, Kap. IX, S. 13–117, S. 50. Vgl. die verschiedenen Vorschläge der Parteien und der Richter in Rommel VI, S. 128– 132. Vgl. die beiden Bescheide in ‚Protocollum […] Belangendt Weylandt Landgraff Ludwigen zu Hessen deß Eltern hinderlassenes Testament‘, in: Acta in Sachen die Fürstliche Marpurgische Succession belangendt, Kap. IX, S. 62f. Grundlage der Anträge war C.6.33.3; vgl. ‚Summarische Petition und Implorationsschrifft der Herrn Landgraffen Darmbstadtischen Theyls pro immissione in possessionem ex l. fin. C. de edict. div. Hadrian. toll. den 12. Tag Novembr. Anno 1604. ubergeben‘, in: ebd., Kap. IX, S. 117f. – Allerdings hatten die Darmstädter auch diese Einweisung nur bedingt akzeptiert. Vgl. den Bescheid in ‚Protocollum […] Belangendt Weylandt Landgraff Ludwigen zu Hessen deß Eltern hinderlassenes Testament‘, in: Acta in Sachen die Fürstliche Marpurgische Succession belangendt, Kap. IX, S. 71, und ‚Darmstadtischer Schrifftlicher Vortrag den 16. Tag Novembris Anno 1604. eingelegt‘, in: ebd., Kap. IX, S. 118f. ‚Protocollum […] Belangendt Weylandt Landgraff Ludwigen zu Hessen deß Eltern hinderlassenes Testament‘, in: ebd., Kap. IX, S. 76. Vgl. ‚Erinnerung unnd Erklärungs-Schrift der Herrn Landgraffen Darmbstadtischer Linien den 20. Decembr. Anno 1604. einbracht‘, in: ebd., Kap. IX, S. 121–131; vgl. auch Rommel VI, S. 132.

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ten klar sein, dass der Erbfolgestreit damit kein Ende gefunden hatte – Ludwig V. appellierte an den Reichshofrat. 98 Ob das landständisch dominierte Gericht je eine Chance hatte, die beiden Linien zu einem Vergleich zu bewegen, sei dahingestellt. Aber ob mitverschuldet oder nicht, klar ist, dass die neue Lage zu einer Krise führen musste: Wenn nämlich mit der Appellation „der Boden der dynastischen Einheit vollends verlassen“ 99 war, dann musste sich diese Tatsache unmittelbar auf die fürstlich-ständische Verfassungsordnung Hessens auswirken, deren Funktionieren die dynastische Einheit ja geradezu voraussetzte. Und mittelbar würde sich auch die Frage stellen, ob das Ende der ‚dynastischen Einheit‘ auch das Ende der ‚ständischen Einheit‘ nach sich ziehen würde, die – im Sinne einer gesamthessischen und gesamtständischen Verfasstheit – ja ohnehin noch sehr jung und eher eine Idealvorstellung als alltägliche Realität war. Zunächst aber standen beide Landgrafen vor einem massiven Problem: Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit würden beide irgendwann wieder Steuereinnahmen benötigen, sei es für Reichs- oder für Landeszwecke. Die Reichssteuern waren nun seit Alters her von allgemeinen, also gesamthessischen und gesamtständischen Landtagen zu bewilligen; ein Verfahren, das die Landstände seit 1598 auch für die in Analogie zu den Türkensteuern neu eingeführte Landrettungssteuer einforderten. Dieser Weg zu kollektiv verbindlichen Steuerbewilligungen war aber seit 1604 versperrt, denn einen allgemeinen Landtags konnten die beiden verbliebenen Landgrafen nur gemeinsam ausschreiben; das wiederum hätte vorausgesetzt, dass sich Moritz und Ludwig V. über die den Ständen vorzulegenden Punkte und die Organisation des Landtags im Vorfeld hätten einigen müssen, was angesichts des gerade ausgebrochenen Erbfolgestreits kaum wahrscheinlich war. Damit blieben jedem der beiden Landgrafen nur zwei Möglichkeiten, die allerdings beide problematisch waren: Entweder berief jeder nach dem Vorbild von 1599 alle Landstände seines Teilfürstentums zu einem Partikularlandtag, forderte eine Reichs- oder Landrettungssteuer – und verletzte damit den Anspruch auf gesamthessische Verfasstheit; oder er berief nach dem Vorbild des 16. Jahrhunderts nur die Landschaft seines Teilfürstentums zu einen Städtelandtag, forderte eine Landsteuer alten Typus – und verletzte damit den Anspruch auf gesamtständische Verfasstheit. Was immer die Fürsten auch tun sollten, um weitere Steuer98

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Zum weiteren Verlauf vgl. Rommel VI, S. 139–145. Beide Landgrafen nahmen allerdings zunächst einmal die ihnen zugesprochene Landeshälfte in Besitz und holten die Erbhuldigung ein. Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 292.

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einnahmen sicherzustellen, sie würden sich mit verletzten Ansprüchen auseinandersetzen müssen. Das Problem stellte sich in Hessen-Darmstadt sogar noch im selben Jahr: Am 18. September 1605 lud Landgraf Ludwig V. ettliche von dero ritter- undt landtschafft zu sich nach Gießen und berief damit faktisch einen engeren Partikularlandtag. Dieser sollte über die Einrichtung und vor allem die finanzielle Ausstattung eines fürstlich gymnasium oder schuele in Gießen beraten. 100 Mit dem Plan, eine weitere hessische Hochschule neben der schon bestehenden Universität in Marburg einzurichten, reagierte Ludwig V. auf die Konfessionspolitik seines Kasseler Vettern. 101 Obwohl es sich bei der 1527 gegründeten Marburger Universität seit der Landesteilung um eine hessische Samtinstitution handelte, hatte der Kasseler Anstands-Rezess vom Januar 1604 ihre Verwaltung allein Landgraf Moritz vorbehalten, 102 was auch vom ständischen Schiedsgericht bestätigt wurde. 103 Nunmehr unterstand also eine mehrheitlich lutherische Hochschule einem Fürsten, der als Krypto-Calvinist bekannt war. Und da Marburg als Sitz der Universität „die intellektuelle und damit auch die theologische Mitte“ 104 der Landgrafschaft bildete, beschloss Landgraf Moritz, genau an diesem Ort mit der Einführung der reformierten Konfession zu beginnen. Noch bevor er zu diesem Zweck die sogenannten ‚Verbesserungspunkte‘ am 6. August in Marburg publizieren ließ, hatte 100 101 102

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LTA 1605 Sept., S. 21f. Vgl. grundsätzlich Becker, Die Entstehung der Universität Gießen, und Rudersdorf, Der Weg zur Universitätsgründung in Gießen. Vgl. zuletzt Menk, Die Konfessionspolitik des Landgrafen Moritz. ‚Casselischer Anstandts Receß, den 14. Januarii, Anno 1604. zwischen Herrn Moritzen und Herrn Ldwigen dem Jüngern, Gevettern, Landgraffen zu Hessen sc. auffgerichtet.‘, in: Acta in Sachen die Fürstliche Marpurgische Succession belangendt, Kap. IX, S. 5–7, S. 5f.: doch soll […] die Universitet zu Marpurg, so in unsers Vettern Landgraff Ludwigen deß Eltern, unnd unser Landgraff Moritzen sonderbahren Verpflichtung, Hand- und Huldigung stehet, in diesem Stillstand nicht mit begrieffen, sondern hiermit außgesetzt, und uns L. Moritzen vorbehalten sein. – Wie Becker, Die Entstehung der Universität Gießen, S. 14, festgestellt hat, argumentierten die Kasseler Räte in den Verhandlungen, dass es einen Vertrag zwischen Hessen-Marburg und Hessen-Darmstadt vom August 1567 gebe, in dem die Universitätsverwaltung im Falle des Aussterbens der Marburger Linie allein Hessen-Kassel zustehen solle. Allerdings hat „ein solcher Vertrag, der die Universitätsverwaltung oder -hoheit mitbeträfe, tatsächlich nie existiert“ (ebd., S. 14). In den Bescheiden zur Einweisung in den Besitz der Erbteile hatten es die niedergesetzten Richter ausdrücklich der Universitet Marpurg halben bey dem am 14. Tag Januarii Jüngst zu Cassel gemachtem Abschiedt hiermit bewenden lassen (‚Protocollum […] Belangendt Weylandt Landgraff Ludwigen zu Hessen deß Eltern hinderlassenes Testament‘, in: Acta in Sachen die Fürstliche Marpurgische Succession belangendt, Kap. IX, S. 62f.) Menk, Die Konfessionspolitik des Landgrafen Moritz, S. 109.

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Moritz schon im Vorfeld vier hochrangige Theologen – darunter zwei Universitätsprofessoren – entlassen, die nicht von ihrer streng lutherischen Position ablassen und die ‚Verbesserungspunkte‘ annehmen wollten. 105 Die Einleitung der ‚zweiten Reformation‘ führte danach nicht nur zu Tumulten in Marburg und langfristigem Widerstand in weiten Teilen Hessen-Kassels, sondern ab August 1605 auch zum „Exodus aller lutherischen Theologen“, denen Landgraf Ludwig in seinem Teilfürstentum Schutz versprochen hatte. 106 Der dahinter stehende Plan, mit der Aufnahme der Theologen den Grundstein für eine eigene Hochschule zu legen, wurde von den Vertriebenen selber ausdrücklich begrüßt. 107 Da nun der Landgraf die Kosten, die mit der Gründung einer neuen Hochschule verbunden waren, nicht alleine tragen konnte oder wollte, schrieb er einige Wochen später besagte Ständeversammlung aus. Wie schon die Geistlichkeit, so unterstützten auch die hessen-darmstädtischen Landstände die Neugründung ausdrücklich und daher bewilligten erwenthe von der ritter- undt landtschafft vor sich undt in nahmen ihrer samptlichen mittglieder undt zuegehörigen eine Vermögenssteuer im Umfang von vier Schreckenbergern, die von 1606 bis 1609 eingebracht werden sollte. 108 Offenkundig handelte es sich um eine Landtagsform in Analogie zum gesamthessischen allgemeinen Landtag, wie sie 1599 erstmals erprobt worden war: Bewilligungsinstanz ist die (nun: hessen-darmstädtische) Ständegesamtheit, in deren Namen der Ausschuss zu sprechen vorgibt. Diese Ständegesamtheit handelt repräsentativ, da eine allgemeinverbindliche Steuer beschlossen wird, die von allen Gütern und Vermögen zu zahlen ist, die im Teilfürstentum Hessen-Darmstadt liegen. Aber obwohl es sich damit in der Tat um einen Partikularlandtag, also einen ‚allgemeinen Landtag‘ (in engerer Form) handelte, der strukturell gesehen für Hessen-Darmstadt das leisten sollte, was vorher der allge105

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Vgl. Becker, Die Entstehung der Universität Gießen, S. 20f.; Menk, Die „Zweite Reformation“ in Hessen-Kassel, S. 172f. Es handelte sich um die Professoren Johann Winckelmann und Balthasar Mentzer, den Marburger Superintendenten Heinrich Leuchter und den Archidiakon Konrad Dieterich. Menk, Die Konfessionspolitik des Landgrafen Moritz, S. 113. Darüber hinaus schwächte der Übergang zum Calvinismus auch die Position Hessen-Kassels im Erbfolgestreit massiv, denn das Testament Ludwigs hatte den Erben die Bewahrung des lutherischen Konfessionsstandes auferlegt und bei Zuwiderhandlung den Verlust des Erbteils vorgesehen. Vgl. Becker, Die Entstehung der Universität Gießen, S. 25–28. Vgl. LTA 1605 Sept. Weiterhin beschloss der Landtag, die Universitätsstipendien und Einkünfte der Marburger Universität, soweit sie aus hessen-darmstädtischen Gütern bezogen wurden, an die neue Einrichtung zu übertragen.

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meine Landtag für Gesamthessen geleistet hatte, wurde genau diese Tatsache gleichzeitig vehement abgestritten. In der Proposition hieß es, die Versammlung sei nicht in Meinung das ein absonderlicher landtag damit gehalten noch etwas neuwes eingeführt werde, ausgeschrieben worden; noch sollte einige trennung geschehen […], sondern seine fürstl. gnaden sehen auf der zeit gelegenheit, und wie auch vor dißem es etwan in vorfallen particularsachen gehalten. 109 Hier war es der Fürst, der ein Herkommen fingierte, denn es hatte bisher überhaupt nur einen einzigen Landtag dieser Art gegeben und der hatte 1599 gerade keine Steuern bewilligen wollen. Nichtsdestoweniger wurde die Steuer von 1605, ganz wie eine Reichs- oder Landrettungssteuer, von allen Gütern erhoben, auch von solchen auswärtiger Besitzer. 110 Unter diesen war etwa auch Wilhelm von Oeynhausen, der in Marburg, also zu diesem Zeitpunkt außerhalb von Hessen-Darmstadt residierende Landkomtur des Deutschen Ordens, der sich über die Steuerveranlagung beschwerte. 111 Ludwig antwortete ihm, dass kein Land-Tag, sondernn nurent ein Communications-Tag mit dem Ausschuß von Ritterund Landschafft, und nicht der gantzen Ritter- und Landschafft, gehalten worden sei; im Falle eines Landtags wäre sonsten der gemeine Stylus gehalten, und ihr auch darzu beschrieben worden sein. 112 Und daher handele es sich nur um eine freiwillige Steuer. Der Landgraf von Hessen-Darmstadt veranstaltete also faktisch einen Partikularlandtag und behauptete gleichzeitig, es handele sich aber gar nicht um einen Partikularlandtag, um dem Vorwurf zu entgehen, er habe eine ‚Neuerung‘ eingeführt und die normativ aufgeladene gesamthessische Verfasstheit der Landstände verletzt. Drei Jahre später kam auch Landgraf Moritz von Hessen-Kassel in eine ähnliche Situation – und reagierte in vergleichbarer Weise. Mit der Besetzung Donauwörths durch bayerische Truppen, der Sprengung des Reichstags und der Gründung der protestantischen Union war die Kriegsgefahr im Reich 1608 in den Augen Moritz’ so groß geworden, dass er erneut eine Landrettungssteuer für nötig erachtete. Bewilligt werden sollte diese von einer engeren Ständeversammlung, zu der nur Stände aus

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Becker, Die Entstehung der Universität Gießen, S. 33. Vgl. Hollenberg II, S. 22, Anm. 4. Vgl. Landkomtur Wilhelm v. Oeynhausen an Landgraf Ludwig V., 1606 März 17, in: Historisch-Diplomatischer Unterricht, und Gründliche Deduction von des Hohen Teutschen Ritter-Ordens, und insbesondere Der Löblichen Balley Hessen […] Immedietaet, Exemtion und Gerechtsamen, Beilage Nr. 246. Landgraf Ludwig V. an Landkomtur Wilhelm von Oeynhausen, Darmstadt 1606 März 26, in: ebd., Beilage Nr. 247.

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dem kasselischen Landesteil berufen wurden; er tat also genau das, was sein Vetter einige Jahre zuvor auch erfolgreich getan hatte. Aber dieses Mal verweigerten sich die Stände und verwiesen mit Nachdruck auf ihren schon bekannten Anspruch, dass nämlich solche und dergleichen land- und gemeine sachen auch vor einen allgemeinen landtag gehören, inmassen dan solches dem altten herkommen gemäß sei. 113 Statt einer Steuer boten die Landstände an, eine Deputation aus ihrer Mitte nach Darmstadt zu schicken, die Ludwig V. dazu bringen sollte, einem allgemeinen Landtag zuzustimmen, da in den Augen der Stände nur diese Landtagsform dafür Gewähr bot, dass das loblich corpus des furstenthumb Hessens ohnzertrennet beysammenbehaltten werden möchte. 114 Obwohl sie auf dieser Norm beharrten, eröffneten Ritter und Städte ihrem Landesherrn doch auch einen Ausweg: Für den unverhofftten fall nämlich, dass die Zustimmung Ludwigs zu einem allgemeinen Landtag nicht zu erreichen sei, stellte man seiner fürstlichen Gnaden anheim, in ihrem furstenthumb vor sich ihre praelaten, ritter und landtschafft allesampt gnedig erfordern und beschreiben zu lassen. 115 Ein Jahr und viele Verhandlungen zwischen den Höfen in Kassel und Darmstadt später kam Moritz auf diesen Ausweg zurück, denn es zeichnete sich ab, dass es mittelfristig nicht mehr zur Ausschreibung eines allgemeinen Landtags kommen würde, da zusätzlich zu den politischen Differenzen nunmehr auch noch ein Streit über das Landtagsdirektorium ausgebrochen war. 116 Also wurden nun doch ihrer f.g. getrewe praelaten,

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‚Resolution der Landstände. Marburg 1608 Okt. 31‘, in: Hollenberg II, Nr. 3, S. 28–32. Ebd, S. 31. Das war bereits der zweite Versuch in diese Richtung; schon 1605 hatten die hessen-kasselischen Stände im Rahmen eines engeren Landkommunikationstags beschlossen, sich mit eußersten vleis und vermogen dahin zu bemuhen und tzu bearbeitten, wie der entstandene ris consolidirt, die trennung ufgehoben und es allerseits in vorigen stand gerichtett und guttes benehmen und vertrauliche einikeitt sowohl tzu des f[ürstlichen] haus Hessen gedeilichen ufnehmen, als auch ritter- und landschafft zu guttem widerumb angericht und erhalten werden möchte, und zu diesem Zweck eine Deputation an Landgraf Ludwig gesandt (‚Instruktion einer landständischen Deputation an Landgraf Ludwig V. Wolkersdorf 1605 Nov. 21‘, in: Hollenberg II, Nr. 2, S. 25–28, S. 27). Die Deputierten sollten u. a. darauf dringen, dass die absonderliche handlung abgestelt und die gemeine landtagabschiedt in ihrer observantz gehalten, auch sonst beim herkommen gelassen werden, was sich ausdrücklich auf den Landtag von Gießen 1605 bezog. ‚Resolution der Landstände. Marburg 1608 Okt. 31‘, in: Hollenberg II, Nr. 3, S. 28–32, S. 31. Als Senior des Hauses hatte Landgraf Wilhelm IV. stets das Direktorium auf gesamthessischen Landtagen geführt (vgl. Hollenberg, Einleitung I, S. 30). Moritz betrachtete das Landtagsdirektorium dann als Vorrecht der Kasseler Linie und beanspruchte es nach dem Tod seines Vaters auch gegenüber Ludwig IV. Dieser jedoch, deutlich älter als Moritz

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ritter- und landtschafft anhero gen Treißa berufen, doch ein hessen-kasselischer Partikularlandtag eingesetzt. Und jetzt erreichte Moritz sein Ziel, denn die Ständegesamtheit bewilligte eine Landrettungssteuer von 150 000 fl., die durch die Ausschreibung von sieben Schreckenbergern über fünf Jahre aufgebracht werden sollte. 117 Aber auch in diesem Fall wurde behauptet, dass es sich nicht um einen Partikularlandtag gehandelt habe – allerdings wählte Moritz eine andere Strategie als sein Vetter. Ludwig zufolge hatte 1605 nur ein Communications-Tag stattgefunden, also eine Versammlung, die ‚weniger‘ war als ein Partikularlandtag. Die Dokumente, die im Rahmen der Versammlung von 1609 entstanden, versuchen hingegen den Eindruck zu vermitteln, es habe sich um ‚mehr‘, nämlich eigentlich um einen gesamthessischen Landtag gehandelt. Das beginnt schon mit der Proposition: Landgraf Moritz ließ die Ständevertreter nämlich ausdrücklich zu einer Landttagsversamblung 118 begrüßen, wohingegen Ludwig V. es gerade vermieden hatte, von einem Landtag zu sprechen. Diesem ersten Hinweis folgt dann eine ausführliche Darstellung der Versuche, Landgraf Ludwig für einen allgemeinen Landtag zu gewinnen, damit alßo das Corpus der Fürstenthumb und Landten unzertrent beisammen erhalten werden mögen. Dieser habe sich jedoch verweigert und dazu noch einen Streit über das Landtagsdirektorium provoziert. Da es aber nicht nur um Ihrer f.g. hochangelegene, auch dero Landt und Leuth betreffende Sachen, sondern auch das Bonum publicum, und das Gemeine Beste gehe, könne man eine weitere Verzögerung nicht mehr hinnehmen, und so haben demnach Ihre f.g. die uf Darmbstadischen seiten veruhrsachte Separation und Absonderung zu dero Vettern Landtgraff Ludtwigs f.g. selbst genommenen willen außgestellt sein und diesen Landtag, auch des Ausschuß hiebevor zu Marpurg underthenig beschehener Andeutung nach, seinen Fortgang erreichen laßen, des gnedigen versehen, Ihre f.g. getrewe Praelaten, Ritter- undt Landtschafft vernunftig erkennen und sich bescheiden werden, daß an Ihrer

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und zudem sein Onkel, reklamierte das Direktorium bei Landtagen in Oberhessen für sich und konnte sich damit 1596 zumindest teilweise durchsetzen; vgl. Hollenberg I, S. 369, Anm. 10. Im Anschluss daran beanspruchte Ludwig V. das Direktorium bei Landtagen im darmstädtischen Teil Oberhessens als Teil seines Marburger Erbes. LTA 1609 Aug., S. 36–39, das Zitat S. 35. Aber auch diese Bewilligung wurde begleitet von der Versicherung, damit solle keine Trennung eingeführt werden: Und obwol ihnen bedencklich fallen, gestaldt sie dan auch so wenig als ihre f.g. hierdurch einige sonderung oder trennung nicht eingefuhrett, sondern sich noch zur zeit derentwegen bedingtt haben wollen, sich in verpleibung hochermeltes landtgraff Ludtwigs f.g. ritter- und landtschafft der gnedig begehrten contribution halben vernehmen zu laßen (ebd., S. 36). Landtagsproposition, Ziegenhain 1609 Aug. 9, in: StAD F 27 A Nr. 64/9, unfoliiert.

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f.g. wegen Haltung eines gemeinen Landtags der Mangel nicht, sondern an jener Darmbstadischen seiten bestanden sey. 119

Es wird also zwar zugegeben, dass die gerade eröffnete Ständeversammlung nicht ganz der herkömmlichen Form des gesamthessischen allgemeinen Landtags entspricht, aber die Verantwortung für diesen Mangel wird vollständig der Darmstädter Linie zugewiesen. Auf dieser Grundlage kann dann behauptet werden, dass sich Moritz hingegen nur um das Gemeine Beste bzw. das bonum publicum sorge, wobei die Erwähnung dieser beiden legitimationsstiftenden Begriffe schon andeutet, dass der Landtag letztlich als gesamthessisch verstanden werden sollte. 120 Ist die Proposition hier allerdings noch einigermaßen zurückhaltend in der Formulierung, so scheint sich dieser Anspruch im Verlauf des Landtags verstärkt und verfestigt zu haben. In einem Nebenabschied heißt es etwa, dass anwesende praelaten, ritter und landtschafft dieses furstenthumbs zu Hessen under sich einhelliglich gewilliget, einander versprochen und zugesagt hätten, daß sie in ansehung oberwehnter gefahr und zu abwendung derselbigen, auch rettung deß vatterlandes die geforderten Steuern bewilligen wollten. 121 Hier wird eindeutig ein gesamthessischer Anspruch artikuliert, denn die Abwesenheit der darmstädtischen Stände wird mit keinem Wort erwähnt und der Begriff ‚Vaterland‘ bezieht sich zu diesem Zeitpunkt noch immer auf die Landgrafschaft als Ganze. Zudem wurde die Behauptung, es habe sich um einen allgemeinen Landtag gehandelt, auch über den Kreis der in Treysa Anwesenden hinaus kommuniziert. Die Landstände setzten etwa einen Brief an den Magistrat von Darmstadt auf, in dem sie der Stadt – immerhin selber Mitglied der Landschaft – erläuterten, dass Hochgedachter unnser gendiger Fürst unndt Herr Landtgraff Moritz, jedoch, wie wir vernehmen, mit Vorwißen Seiner Landtgraue Ludwigs Fürstlichen Gnaden einen allgemeinen Landtag außgeschrieben unnd unns anhero gnedig erfordert habe. 122 119 120 121 122

Ebd. Der ‚Ausschuss zu Marburg‘ ist der engere Landkommunikationstag von 1608. Ludwig V. hatte – seiner anders gearteten Legitimationsstrategie gemäß – davon gesprochen, dass der Landtag von 1605 nur particularsachen verhandelt habe. ‚Nebenabschied der Landstände. Treysa 1609 Aug. 14‘, in: Hollenberg II, Nr. 4. II., S. 41–44, S. 42. ‚Schreiben der Prälaten, Ritter- und Landschaft des Fürstenthums Hessen (Cassel’schen Theils) an Burgermeister und Rath zu Darmstadt, wegen der fürstlichen Mißhelligkeiten, besonders in der Marburgischen Erbfolge-Sache. Treysa 1609 Aug. 14‘, in: Rommel VI, S. 248–256, S. 250f. Überhaupt ist dieses lange Schreiben eine hervorragende Quelle für das nunmehr entwickelte korporative Selbstverständnis der Landstände. Das Hauptargument an die Adresse des Stadtmagistrats lautete, daß euch als getrewen Hessen und Patrioten nicht weniger gepüren will, euch von unß wedder in dießem noch anderm abzusondern oder absondern zu lassen, sondern uber dem altvetterlichen Testement und

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Des weiteren wurde ein weiteres Mal eine landständische Deputation an den Darmstädter Hof entsandt, in deren Instruktion festgestellt wurde, dass die Landstände eine freiwillige Zulage an Gelt zur Defension deß geliebten Vatterlandts und zur landrettung auf den Nothfall dem gantzen Land und Fürstenthumb zu gutem zusammenzuschießen und in gemeiner Ritter und landschafft Truhen zu verwahren einander eingewilliget hätten. 123 Die Argumentationslinie ist klar: Da das Gemeinwohl auf dem Spiel stand, handelte es sich um einen allgemeinen Landtag und die in diesem Rahmen von der Ständegesamtheit gefällten Entscheidungen banden daher das ganze Land. 124 Aber diese Strategie kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass eben nicht alle Ritter und Städte, die die Landstandschaft innehatten, diesem Landtag beiwohnten und damit faktisch trotz allem der erste hessen-kasselischen Partikularlandtag stattfand, der für sich das Recht der Steuerbewilligung in Anspruch nahm. 125 In der stände- und finanzpolitisch problematischen Situation, wie sie seit dem Ausbruch des Erbfolgestreits bestand, zeigten beide Landgrafen strukturell dasselbe Reaktionsmuster: Zuerst Ludwig V. (1605) und

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dem Erbvertrag, welche nicht weniger dem gantzen Landt, sowohl euch alß uns undt einem jeden Underthanen, wie auch den Fürsten zu Hessen selbsten zu gutem gemacht unndt auffgerichtet, und alßo unser aller mercklich hochangelegenes Interesse hierunder versirt, vesthaltet. ‚Instruction, was bei dem […] Fürsten und Herrn Ludewigen Landtgraffen zu Heßen […] nachbemelte anhero von Praelaten, Ritter- und Landschaft […] und diejenigen, so von Seiner Fürstl. Gnaden Ritter- und Landschafft zu dißer Schickung sich bequemen und gebrauchen lassen werden, underthenig zu werben und zu verrichten haben. Treysa 1609 Aug. 15‘, in: Rommel VI, S. 257–264, S. 260. Zusätzlich wird noch explizit darauf hingewiesen, dass die beiden engeren Ständeversammlungen von 1599 nicht als Beleg dafür herangezogen werden dürften, dass Partikularlandtage zulässig seien: So wißen sie sich auch keiner particular Communicationstage, ob wehren die bey weiland Landgraff Ludwigs des Aeltern hochmilter christseliger Gedechtnus Zeiten gewöhnlich von Sr. Fürstl. Gnaden oder Landgraff Moritz angestellet, zu erinnern, welche von einem Fürsten ohne des andern Wißen, Willen und Beliebung beschrieben und gehalten sein möchten, sondern was deßen geschehen, solches ist wegen einer Anticipation dero zuvor zu Melsungen albereits bewilligter Defensions Hülff vorgegangen, und damit solches nicht in Exemplum gezogen werden, noch Trennung dahero erwachsen möchte, ist in denen sowohl zu Cassel als auch zu Marpurg uffgerichteten Abschieden hierüber nothwendige Reseruation geschehen und denselbigen eingerückt worden (ebd., S. 261f.). Landgraf Ludwig hatte den Besuch des Landtags sogar ausdrücklich verboten; vgl. Hollenberg II, S. 34, Anm. 30. – Laut Rommel VII, S. 23, sprach allerdings „die Erscheinung aller Hessischen Erbbeamten und der vornehmsten Ritter Oberhessens“ für einen gesamthessischen Charakter. – Die Zeitgenossen zählten diesen Landtag in der Folge auch nicht als den ersten Landkommunikationstag, vgl. Hollenberg II, S. 74, Anm. 101.

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dann auch Moritz (1609) beriefen zum Zweck der Steuerbewilligung Partikularlandtage ein. Das heißt sie kopierten die Form des allgemeinen Landtags im Sinne einer landständischen Verfassung, also mit repräsentativ handelnder Ständegesamtheit, von der gesamthessischen Ebene auf die Ebene der Teilfürstentümer – womit sie faktisch beide gegen die Norm der gesamthessischen Verfasstheit der Landstände verstießen. Allerdings fanden beide Landgrafen auch einen jeweils eigenen Weg zu behaupten, dass sie genau das nicht getan hätten: Ludwig sprach von der Gießener Versammlung als einem ‚bloßen‘ Communications-Tag, während Moritz die Marburger Zusammenkunft als ‚echten‘ gemeinen Landtag ausgab. So unterschiedlich die Argumente inhaltlich auch waren, beide zielten übereinstimmend auf den Nachweis, dass es sich jeweils nicht um einen Partikularlandtag gehandelt hatte – und darin waren sich beide Fürsten überdies mit ihren Ständen einig. In beiden hessischen Teilfürstentümern traten also im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts Sprechen und Handeln auseinander: Man tat etwas (Partikularlandtage einführen) und gleichzeitig verleugnete man dieses Tun unter Betonung der entgegenstehenden Norm (gesamthessische Verfasstheit). Wenn man das eine tut und das andere sagt, dann heißt dieses Verhalten – Heuchelei. 126 Mit dieser Begriffswahl ist allerdings noch keineswegs entschieden, wie mit dem so bezeichneten Verhalten umzugehen ist. Man kann es beispielsweise moralisch als Fehlverhalten beschreiben oder in apologetischer Hinsicht versuchen zu zeigen, dass eine Seite im Recht war und daher gar keine Heuchelei vorliege. 127 Interessanter aber ist es, wenn man das Phänomen ernst nimmt und nach der kommunikativen Logik der Heuchelei fragt, denn schließlich wurde nicht nur in beiden Teilfürstentümern geheuchelt, sondern auch noch kollektiv und kontinuierlich – gemeinsam von Fürsten und Ständen über einen längeren Zeitraum hinweg. Heuchelei bzw. Scheinheiligkeit lässt sich sozialtheoretisch verstehen als ein Mechanismus, der es Personen bzw. Institutionen ermöglicht, auch dann handlungsfähig zu bleiben, wenn sie sich zur selben Zeit mit einer Vielzahl normativer und/oder pragmatischer Ansprüche konfron126 127

Vgl. die prägnante Definition von March, Model Bias in Social Action, S. 426: „Hypocrisy is an inconsistency between expressed values and behaviour.“ Letzteres versuchte etwa Rommel VII, S. 22: „Die vorläufige, auf einem vorhergehenden engeren Landtag erörterte Frage, ob L. Moriz im Haus- und Erbstreit mit Hessen-Darmstadt begriffen, zur Berufung des ganzen Körpers der hessischen Landstände ermächtigt sei, ward trotz der Abmahnung L. Ludwigs thatsächlich durch die Erscheinung aller Hessischen Erbbeamten und der vornehmsten Ritter Oberhessens auf dem Landtag zu Treissa beseitigt.“ – Für ihn hatte also Moritz nicht geheuchelt und es war ein ‚echter‘ allgemeiner Landtag.

4.2 Gesamtständisch, aber ‚kasselisch‘: Faktische Zentrierung

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tiert sehen, die sich gegenseitig widersprechen. 128 Der ‚heuchlerische‘ Akt der Entkoppelung von Sprechen und Handeln steigert dann die Handlungsfähigkeit dadurch, dass die Institution ihr Handeln und Sprechen im Hinblick auf jeweils bestimmte Ansprüche ‚spezialisieren‘, mit diesen effektiver umgehen und sie gegebenenfalls erfüllen kann. Allerdings führt diese Entkopplung auch dazu, dass bei einer Betrachtung des Gesamtverhaltens der Institution notwendigerweise Inkonsistenzen auftreten, was zu einem Problem werden kann, wenn diese Inkonsistenzen von anderen Akteuren zum Thema gemacht und moralisch bewertet werden. Genau so eine Situation liegt nun offenbar in den ersten Jahren nach dem Ausbruch des Erbfolgestreits in Hessen vor. Die Fürsten sehen sich in einer ‚double-bind‘-Situation, 129 denn der normative Anspruch auf gesamthessische Landtage und die pragmatische Notwendigkeit einer Besteuerung der Teilfürstentümer widersprechen sich. Um nun in dieser Situation handlungsfähig zu bleiben, kommt es zu der beschriebenen ‚kollektiven Heuchelei‘, die zwar von den Fürsten ausgeht, aber von ihren jeweiligen Ständen bereitwillig unterstützt wird: Man spricht von allgemeinen Landtagen und führt gleichzeitig Partikularlandtage ein. Dass die Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit aber mit der Inkonsistenz des Gesamtverhaltens bezahlt werden muss, wird in dieser Situation ebenso deutlich, denn beide Seiten registrierten genau diese Inkonsistenzen beim Gegner und so warfen sich später beide Fürsten gegenseitig vor, anders gehandelt zu haben als behauptet. 1614 etwa teilte Ludwig V. seinem Vetter im Rahmen einer längeren Korrespondenz den in Anno 1609. von E. L. zu Treysa angestelten landtag betreffend mit, dass jedermenniglichen bewußt [sei], daß E. L. solchen vor ein Landtag außgeschrieben […]. Unsers Theils haben wir zuvor einigen absonderlichen Landtag nie außgeschrieben, sondern dieser E. L. Theils ist der erste gewesen – Moritz behauptete selbstverständlich das Gegenteil. 130 Hier wird mit 128

129 130

Vgl. grundlegend Brunsson, The Organization of Hypocrisy; zur den unterschiedlichen Anforderungen vgl. insbesondere Meyer, Rowan, Institutionalized Organizations. – Eine Anwendung dieser organisationssoziologischen Ansätze in Bezug auf den Reichstag findet sich bei Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider, S. 274–281. Vgl. für eine Definition der „Doppelbindung“ Watzlawick, Beavin, Jackson, Menschliche Kommunikation, S. 196. Landgraf Ludwig V. an Landgraf Moritz, Gießen 1614 Febr. 8, in: Acta in Sachen die Fürstliche Marpurgische Succession belangendt, Kap. XI, S. 57–64. Vgl. überhaupt das ganze Kapitel mit dem bezeichnenden Titel ‚Zweite Classis Missiven und Schreiben begreiffend, welche zwischen mehr hochgedachten Ihren FF.GG. wegen deß zu Giessen in Decembri Anno 1613. Wie in gleichem auch deß jüngst zu Cassel im Januario Anno 1615. gehaltenen Particular Landtags halber, gewechselt worden‘, in: ebd., S. 49–70.

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der Heuchelei des anderen selbst noch einmal heuchlerisch umgegangen, denn man prangert ein Verhalten als Heuchelei an, das man selbst an den Tag legt. 131 Da nun auch diese ‚Heuchelei zweiter Ordnung‘ wechselseitig ist, kann die Situation an Stabilität gewinnen, denn beide Parteien können die Scheinheiligkeit ihres eigenen Verhaltens verschleiern, indem sie auf die Heuchelei der Gegenseite verweisen. Was aber bedeutet die institutionalisierte Heuchelei, die sich nach Ausbruch des Marburger Erbfolgestreits entwickelte, nun für die Frage nach der Genese der landständischen Verfassung? Bedient man sich hier der Unterscheidung von Indikator und Faktor, 132 so zeigt die Tatsache der institutionalisierten Heuchelei zunächst an, dass die landständische Verfassung, wie sie seit den neunziger Jahren des 16. Jahrhunderts von den Ständen propagiert wurde, nunmehr zu einer allseits akzeptierten normativen Ordnung geworden war. Ob die Landgrafen die entsprechenden Normen ‚aufrichtig‘ teilten oder nicht, ist dabei unerheblich, denn allein die Tatsache, dass ‚heuchlerisches‘ Verhalten auftrat, zeigt, dass der gesamtständischen und gesamthessischen Verfasstheit der Landtage inzwischen ein so hoher Stellenwert zukam, dass es nicht angeraten schien, sie öffentlich in Frage zu stellen. Ganz im Gegenteil legten sich beide Fürsten sogar explizit auf dieses Ordnungsmodell fest – und sei es nur aus strategischen Gründen: So wissen auch E. L. was es mit den Landtägen in unserm Fürstlichen Hause vor eine besondere Verfassung und Gelegenheit hat, und noch auff heutigen Tag billich haben soll, Daß nemblichen, wir die Gevettern Fürsten zu Hessen in unsern und unserer Land und Leute Obligen und Nothwendigkeiten keine absonderliche, sondern allgemeine Landtäge, vermög unsers hochthewerlichen Erbvertrags unnd darauf eingeführten kundtlichen Herkommens anzustellen und zu halten schuldig. 133

Aber die institutionalisierte Heuchelei bringt nicht nur Entwicklungen zum Ausdruck, sondern sie wirkte auch selbst als Faktor der Institutionengenese. In Anlehnung an James G. March lassen sich hier zwei Wirkungen unterscheiden. 131 132

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Vgl. Mt. 7,5: „Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruder herauszuziehen.“ Das Begriffspaar stammt bekanntlich von Reinhart Koselleck, der „die soziale und politische Sprache […] zugleich als Faktoren und als Indikatoren geschichtlicher Bewegung“ betrachtete (Koselleck, Einleitung, S. XIV). Zu dieser problematischen Zusammenziehung vgl. Schultz, Begriffsgeschichte und Argumentationsgeschichte, S. 65–67. Vgl. ‚Landgraff Moritzen zu Hessen, sc. Schreiben an Herrn Landgraff Ludwigen zu Hessen, den Gießnischen Particular Landtag betreffend.‘ Kassel 1613 Dez. 7, in: Acta in Sachen die Fürstliche Marpurgische Succession belangendt, Kap. XI, S. 49f.

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Erstens hat heuchlerisches Handeln häufig ‚experimentellen‘ Charakter, denn „[a] bad man with good intentions may be a man experimenting with the possibility of becoming good“. 134 Gemeint ist, dass die Entkoppelung von Sprechen und Tun einen Freiraum schafft, in dem manchmal neue Formen des Handelns ausprobiert werden, weshalb Heuchelei dann auch als „a means for introducing a real transformation“ fungieren kann. 135 Auch im vorliegenden Fall wirkte die Heuchelei auf diese Weise als Mittel des historischen Wandels: Erst das Beharren auf der Norm des gesamthessischen allgemeinen Landtags ‚im Sprechen‘ machte es möglich, ‚im Handeln‘ doch Partikularlandtage einzuführen, die – entgegen der Norm – allgemeinverbindliche Steuern bewilligten und daher erstmals effektiv eine Landesrepräsentation auf der Ebene der Teilfürstentümer installierten. Die Heuchelei war also die Bedingung der Möglichkeit, den Prozess, der bisher zur Etablierung der landständischen Verfassung als normativer Ordnung geführt hatte und sich nunmehr auf die Praxis auszuwirken begann, von der gesamthessischen auf die Ebene der Teilfürstentümer abzulenken. Damit wird auch in der Rückschau deutlich, dass die gesamthessische Einheit der Landstände in der Praxis nie wieder über erste Ansätze hinauskommen würde. Denn genau in dem Moment, in dem die Stände einer Ausdehnung des Steuerbewilligungsrechts auf die Partikularlandtage zustimmten, hatten sie ihr einziges potentielles Druckmittel verloren und die rivalisierenden Landgrafen dementsprechend kein strategisches Interesse mehr an der Durchführung gesamthessischer Landtage – und tatsächlich sollte mit einer Ausnahme, die jedoch besonderen Umständen geschuldet war, nie wieder ein gesamthessischer allgemeiner Landtag stattfinden. 136 Schon im ersten Jahrfünft nach dem Ausbruch des Marburger Erbfolgestreits wurden also die Weichen dafür gestellt, dass sich künftig landständische Verfassungen in den beiden Teilfürstentümern ausbilden würden. Diese Entwicklungen der institutionellen Praxis standen in einem offensichtlichen Widerspruch zu der von allen Parteien wiederholt geäußerten Behauptung, der gesamthessische Landtag sei selbstverständlich die einzig legitime Versammlungsform; die Heuchelei setzte die Norm für bestimmte praktische Kontexte außer Kraft, wodurch historischer Wandel erleichtert wurde. Nimmt man nun zweitens die Wirkungen der 134 135 136

March, Model Bias in Social Action, S. 426. March, Weil, On Leadership, S. 65. Genauer müsste man sagen, dass hier die Rede ist von der Einheit der Ständegesamtheit. Diese wurde nie verwirklicht; die hessische Ritterschaft hingegen konstituierte sich später sehr wohl als gesamthessische Korporation.

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Heuchelei auf die Norm in den Blick, so zeigt sich, dass diese partielle Außer-Kraft-Setzung die Norm nicht notwendigerweise schwächen muss – wie man intuitiv annehmen könnte –, sondern sogar stärken kann. Auch darauf hat James March hingewiesen mit der Bemerkung, Heuchelei sei eben auch ein „long-run investment in morality“, wobei hier die Moral stellvertretend für alle normativen Ordnungen steht. 137 Um eine ‚Investition‘ handelt es sich, weil Heuchelei in der Regel soziale Sanktionen nach sich zieht und die betreffende Institution oder Person daher etwas ‚kostet‘. Allerdings ‚rentiert‘ sich die Entkoppelung von Sprechen und Handeln insofern, als die Norm auch weiterhin als Norm intakt bleibt, weil die normverletzende Praxis vom Heuchler gerade nicht thematisiert wird. 138 Heuchelei ermöglicht es also, die legitimierende Kraft von Normen auch dann zu konservieren, wenn sich die Praxis immer weniger an ihnen orientiert. Auch diese Wirkung zeigt sich im Hessen des frühen 17. Jahrhunderts: Der normative Anspruch auf gesamthessische Landtage wurde zwar festgehalten, aber durch die Abschottung von der Praxis doch auch verwandelt in eine deutlich abstraktere Wertvorstellung von ‚hessischer Einheit‘, die im idealisierten Bild des unter Philipp dem Großmütigen geeinten Hessens fixiert wurde. 139 Damit projizierten in der Folge vor allem die Landstände das in der Praxis nicht mehr durchsetzbare Ideal einer landständischen Verfassung für Gesamthessen auf eine Zeit, in der Hessen zwar geeint, aber gerade nicht landständisch verfasst gewesen war, wie in Kapitel 3 gezeigt wurde. Der Marburger Erbfolgestreit schuf demnach eine Situation, die unter Einsatz institutionalisierter Heuchelei bewältigt wurde: In der Praxis setzte man auf Veränderung und schuf die neue Institution des Partikularlandtags, der in Form und Funktion den gesamthessischen Landtag substituierte; andererseits setze man normativ um so mehr auf Kontinuität und erhob die Einheit der Landstände und die Zeit Philipps des Großmütigen 137

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March, Bounded Rationality, Ambiguity, and the Engineering of Choice, S. 604.; vgl. mit Bezug auf diesen Begriff auch Ortmann, Als Ob, S. 111, und Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider, S. 280. „If we insist that they maintain consistency between ethics and actions, the ethics will often be more likely to change than the actions.“ (March, Bounded Rationality, Ambiguity, and the Engineering of Choice, S. 604). Dem entspricht, dass zur selben Zeit, nämlich mit dem Erscheinen von Dilichs „Hessische Chronica“ im Jahr 1605, auch in der hessischen Historiographie ein längerer Prozess der Zentrierung auf Philipp den Großmütigen zum Abschluss kam. Vgl. dazu Dilich, Hessische Chronica; Fuchs, Landgraf Philipp und die Historie; Menk, Die Chronistik als politisches Kampfinstrument. – Später sollten sich die Landstände, insbesondere die Ritterschaft die Ergebnisse der Historiographie zunutze machen, vgl. unten 5.3.3.

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zum „normativen Referenzpunkt“. 140 Auf diesen sollten die Landstände später – vor allem in der Zeit des Ständekonflikts – wieder zurückkommen; wichtiger war aber zunächst, dass die Einführung der Partikularlandtage die Voraussetzung für die Entwicklung einer landständischen Verfassungsordnung in den beiden Teilfürstentümern geschaffen hatte. Aus diesem Grund fokussiert die Untersuchung im Folgenden auf Hessen-Kassel und bezieht die gesamthessische Ebene und die Entwicklungen im darmstädtischen Nachbarterritorium nur ein, wenn sie auf die Genese in Hessen-Kassel einwirkten.

4.2.2 Verstetigung und Verdichtung: Der Siegeszug der Landkommunikationstage Den beiden Jahrzehnten vor und nach 1600 kommt offensichtlich eine Scharnierfunktion im Rahmen der hessischen Ständegeschichte zu: In den neunziger Jahren des 16. Jahrhunderts entstand die normative Vorstellung einer landständischen Verfassung für Gesamthessen, die auf den allgemeinen Landtag zentriert war. Der Ausbruch des Marburger Erbfolgestreits 1604 und die sich in der Folge immer weiter vertiefende Feindschaft zwischen Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt schufen dann zwar eine problematische Situation, die jedoch bis zum Ende des ersten Jahrzehnts des 17. Jahrhunderts durch eine ‚heuchlerische‘ Entkoppelung von Sprechen und Handeln einigermaßen bewältigt werden konnte: Man hielt normativ an der gesamthessischen Verfasstheit der Landstände fest, durchbrach diesen Anspruch aber in der Praxis erstmals durch die Einberufung von Partikularlandtagen, die 1605 bzw. 1609 kollektiv verbindliche Steuern bewilligten und damit faktisch eine neue Form von Landesrepräsentation auf der Ebene der Teilfürstentümer einführten. Gleichwohl kann man nicht davon sprechen, dass mit den Partikularlandtagen sofort auch eine landständische Verfassung in Hessen-Kassel eingeführt worden wäre, denn eine solche Verfassungsordnung ist im Sinne des Strukturtypus ja nur dann gegeben, wenn für Hessen-Kassel ein Landtag mit repräsentierender Ständegesamtheit als Gegenstand einer verstetigten Praxis und eines normativen Anspruchs nachweisbar ist. Zunächst war aber geradezu das Gegenteil der Fall: Normativ stand immer noch der gesamthessische Landtag im Zentrum und in der Praxis hatte zwar 1609 ein hessen-kasselischer Partikularlandtag stattgefunden, aber dieser war von allen Beteiligten zu einer den besonderen Umständen 140

Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 112.

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geschuldeten ‚Ausnahme‘ erklärt worden, die eine Rückkehr zu allgemeinen Landtagen nicht präjudizieren sollte. Es fragt sich also, wie aus der ursprünglichen ‚Ausnahme‘ eine faktische Regelmäßigkeit und eine normative Regel werden konnte. Hier spielt nun der zweite der eingangs des Kapitels genannten Faktoren eine entscheidende Rolle, der Dreißigjährige Krieg und die allgemein empfundene Bedrohungslage im Vorfeld von 1618. Schon seit 1599, seit der Niederlage der Truppen, die gemeinsam von fünf Reichskreisen an den Rhein entsandt worden waren, um das dort lagernde spanische Heer zu vertreiben, war Moritz davon überzeugt, dass die Kreise die ihnen seit 1555 obliegende militärische Durchsetzung des Landfriedens nicht leisten konnten, und begann daher mit der Planung einer eigenen Landesverteidigung. 141 Zudem belegen die Landtagsdokumente übereinstimmend, dass der Landgraf und seine Berater spätestens seit 1608 davon ausgingen, dass eine größere kriegerische Auseinandersetzung drohe, die auch Hessen-Kassel betreffen würde. Man beobachtete mit Sorge die in den Nidderlanden und benachparten königreichen wie auch nicht weniger im Römischen Reich Teutscher Nation, unserm gelibtten vatterlandt, und aus newlich zerschlagenem reichstag vorstehende besorgliche gefahr. 142 Es ist bezeichnend, dass hier der spanisch-niederländische Konflikt, der schon bei der ‚Erfindung‘ der Landrettungssteuer 1598 eine Rolle gespielt hatte, 143 und die Blockierung der Reichsinstitutionen im Rahmen der konfessionellen Auseinandersetzung in einem Atemzug genannten werden. Denn in der Wahrnehmung der politischen Führungsschicht verbanden sich alle politischen Konflikte der Zeit immer mehr zu einem allgemeinen Bedrohungsszenario. 144 So trat 1609 für die nächsten Jahre an die Stelle des inzwischen vorübergehend ausgesetzten Konflikts zwischen den Niederlanden und der spanischen Krone der Jülich-Klevische Erbfolgestreit, der zum einen die-

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Vgl. kurz Gotthard, Das Alte Reich, S. 25–28 (zur Kreisorganisation) und S. 48f. (zur Reichsexekutionsordung). Vgl. umfassender Dotzauer, Die deutschen Reichskreise (1383–1806). Dort auch eine Edition des ‚Receß des Chur-Rheinischen, Fränckischen, Ober-Rheinischen, Westphälischen und Nider-Sächsischen gemeinschafftlichen CraysKonvents, d.d. 9ten Apr. 1599‘ (ebd., S. 570–578), der der Entsendung der Kreistruppen vorausging. – Dass diese Niederlage für Moritz entscheidend war, betonen Thies, Territorialstaat und Landesverteidigung, S. 18, und Rommel VI, S. 711. ‚Resolution der Landstände. Marburg 1608 Okt. 31‘, in: Hollenberg II, S. 28–32, S. 30. Vgl. oben 4.1. Vgl. auch Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 299.

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selbe geostrategische Region betraf, zum andern aber noch bedrohlicher erschien, da er direkter auf das Reich einwirkte. 145 Gleichzeitig wurde die zwischen des Reichs Chur-Fürsten und Ständten eingerißene Spaltung und Trennung durch den Fall ‚Donauwörth‘ weiter zugespitzt. 146 Schließlich erhielt dieses Bedrohungsszenario eine dezidiert konfessionelle Ausrichtung, denn seit 1615 sprach man von der Kriegsgefahr, die nicht nur dießem alß den gülischenn unndt westphälischenn landen benachpartten fürstenthumbem, sondern überhaupt dem gemeinenn evangelischen wesen drohe. 147 Da sich der Landgraf als wesentliche Stütze der protestantischen Partei empfand, was er nicht zuletzt durch den von Seiten der Stände begrüßten Beitritt zur Union unterstrich, wurden das Gemeinwohl und die konfessionelle Identität immer enger zusammengezogen – Formulierungen wie unser gemein vatterlandt unndt evangelisch wesen wurden zu einem Leitmotiv der Landtagsverhandlungen. 148 Dass eine so schwerwiegende Kriegsgefahr tatsächlich vorlag, 149 scheint zumindest für Moritz außer Frage gestanden zu haben, denn er scheute keine Kosten und Konflikte, um die Maßnahmen durchzusetzen, die seiner Ansicht nach nötig und geeignet waren, um diese Bedro-

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Vgl. auch zur Rolle Landgraf Moritz’ im Erbfolgestreit Anderson, On the Verge of War. Landtagsproposition, Ziegenhain 1609 Aug. 9, in: StAD F 27 A Nr. 64/9, unfoliiert. Der jülisch-klevische Erbfolgestreit wird weiterhin erwähnt: ‚Abschied mit Prälaten und Rittern. Marburg 1610 April 9‘, in: Hollenberg II, S. 58–62, S. 59; vgl. Lanzinner, Donauwörth. LTA 1615 Jan., S. 80; vgl. auch Gräf, Die Mauritianische Außenpolitik 1592–1627, S. 103: „Im Zusammenhang mit dem Jülicher Erbfolgestreit kam es zu einer weiteren konfessionellen Polarisierung der Reichspolitik.“ Vgl. auch grundlegend Ders., Konfession und internationales System. LTA 1619 Juli, S. 114. Vgl. auch LTA 1617 März, S. 94. – Für den Einsatz ‚außenpolitischer‘ Argumente gegenüber den Ständen vgl. auch Dollinger, Studien zur Finanzreform Maximilians I. von Bayern in den Jahren 1598–1618, S. 281. Zu den Auswirkungen dieser ‚Konfessionalisierung‘ vgl. umfassend Gräf, Konfession und internationales System. In Bezug auf die Vorgeschichte des Dreißigjährigen Kriegs wird von der Forschung in jüngerer Zeit betont, dass die politischen Entwicklungen seit der Jahrhundertwende nicht zwangsläufig auf einen Krieg hinsteuerten; vgl. etwa für die im Text genannten Ereignisse Lanzinner, Donauwörth, S. 229f., und Anderson, On the Verge of War, S. 234. So richtig diese Beobachtungen im Detail sind, so wenig berücksichtigen sie, dass zumindest einige Fürsten – darunter Moritz von Hessen-Kassel – trotzdem subjektiv den Eindruck hatten, dass es sich so verhielt. Vgl. auch Schulze (Hg.), Friedliche Intentionen – kriegerische Effekte.

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hung abzuwenden. 150 Und da der Landgraf nicht einfach nur eine politische Auseinandersetzung, sondern einen militärischen Konflikt erwartete, zielte seine Politik – gemäß der Devise ‚Vaterland und evangelisches Wesen‘ – auf die Verbesserung der Landesverteidigung in seinem Territorium und die Erfüllung seiner bündnispolitischen Pflichten gegenüber der Union. Letztere sollte vornehmlich auf herkömmlichen Weg durch die Anwerbung von Soldtruppen geschehen, während zum Schutz des Fürstentums eine „von den Untertanen gestellte und getragene Miliz (‚Ausschuss‘) zu Fuß und Pferd“ 151 aufgebaut werden sollte – das ‚Defensionswerk‘. 152 Da aber der Kapitalaufwand, der mit diesem ambitionierten Vorhaben verbunden war, die ohnehin angespannten Finanzen Moritz’ deutlich überforderte, 153 blieb nur die Möglichkeit, die Militärausgaben über Steuern zu finanzieren. Darüber hinaus musste geklärt werden, ob und wie die Ritter, die sich – als Vasallen des Landgrafen – nur im Falle der Landesnot zur Leistung von Ritterdiensten verpflichtet sahen, in ein Milizsystem integriert werden konnten, das ausdrücklich als permanente Einrichtung geplant war. 154 Nun mussten Landrettungssteuern von der Ständegesamtheit bewilligt werden, wozu ein allgemeiner Landtag unumgänglich war; und auch die Verhandlungen über das Lehnsaufgebot und die Heranziehung der Hintersassen des Adels zur Landesmiliz ließen sich nur mit der Ritterschaft als Korporation führen, die als Landstand ebenfalls nur im Rahmen von Landtagen, seien es allgemeine oder ritterschaftliche, in Erscheinung trat. Wollte Landgraf Moritz also seine militärischen Pläne in die Tat umsetzten und seine Bündnispflichten erfüllen, so führte an der Berufung von Landtagen kein Weg vorbei. Da sich aber die Beziehungen zwi150

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Das soll nicht heißen, dass die Anführung der Kriegsgefahr nicht auch ein rein strategisches Argument sein konnte, das eingesetzt wurde, um die fürstlichen Steuerforderungen durchzusetzen. Hollenberg II, S. 95, Anm. 151. Vgl. zum Milizsystem grundlegend Thies, Territorialstaat und Landesverteidigung. Diesen Plan verfolgte der Landgraf schon vor 1608. Vgl. auch Rommel VI, S. 704–808, hier S. 711. Vgl. Löwenstein, Hofstaat und Landesherrschaft unter Landgraf Moritz von Hessen, S. 36; Rommel VI, S. 683–688, und Demandt, Geschichte des Landes Hessen, S. 253, der von einer „Schuldenlast von einer Millionen Taler“ spricht, die Moritz „schon bis zu Beginn des 30jährigen Krieges seinem Land“ aufgebürdet habe. Moritz hatte hier sehr weitgehende Pläne, denn erstens sollte das alte Lehnsaufgebot in eine organisierte und effektive Kavallerieeinheit umgewandelt werden und zweitens sollten auch die Hintersassen des Adels zur Landesmiliz herangezogen werden; vgl. Thies, Territorialstaat und Landesverteidigung, S. 213–234, und zuletzt Gräf, Landesdefension oder „Fundamentalmilitarisierung“?.

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schen den beiden Linien des hessischen Fürstenhauses inzwischen noch verschlechtert hatten, war eine Rückkehr zu gesamthessischen Landtagen weiterhin ausgeschlossen. 155 Daher musste man auf die Landtagsform zurückgreifen, die man doch ausdrücklich als Ausnahme bezeichnet hatte – den Partikularlandtag. So fanden in den kommenden elf Jahren nicht weniger als sieben hessen-kasselische Partikularlandtage statt, den ersten von 1609 eingerechnet. 156 Zum Vergleich: In den 37 Jahren zwischen der Landesteilung und dem Ausbruch des Marburger Erbfolgestreits waren nur fünf gesamthessische Landtage einberufen worden, 157 während Landgraf Philipp in den 40 Jahren, die zwischen der Einberufung seines ersten allgemeinen Landtags und seinem Tod lagen, immerhin zu elf allgemeinen Landtagen geladen hatte. 158 Schon bei den Durchschnittswerten wird die Diskrepanz mehr als deutlich: Fand unter Philipp im Durchschnitt damit alle 3,5 Jahre ein allgemeiner Landtag statt, so verlängert sich in der Zeit zwischen der Landesteilung und dem Erbfolgestreit dieses Intervall auf etwas mehr als 7 Jahre, um dann – in Hessen-Kassel – von 1609 bis 1620 auf nur noch 1,5 Jahre zu fallen. Nimmt man noch hinzu, dass in diese Zeit auch noch weitere sieben engere Partikularlandtage fallen, also Versammlungen, zu denen vom Fürsten ausgewählte Mitglieder aus allen Ständen geladen wurden, dann reduziert sich das Intervall auf 0,8 Jahre – über einen Zeitraum von elf Jahren, der auf den als ‚Ausnahme‘ etikettierten Partikularlandtag von 1609 folgte, fand also durchschnittlich alle 9 bis 10 Monate eine ähnliche Ständeversammlung statt. 159

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Am 23. Oktober 1613 hatte der Reichshofrat Moritz aufgefordert, auf die 1606 von Landgraf Ludwig V. eingereichte Klage zu antworten; damit war „die Teilung der Marburger Erbschaft zur Neuentscheidung gestellt“ (Hollenberg II, S. 73, Anm. 98); vgl. auch Rommel VI, S. 176f. Das Dekret findet sich in: Gründliche, warhaffte und vollstendige Erzehlung, Beilagen Nr. 10, S. 89. Hessen-kasselische Partikularlandtage fanden statt: Aug. 1609, Febr. 1614, Jan. 1615, März 1617, Juli 1619, Juni 1620, Aug. 1620 (eigene Auszählung nach Hollenberg II). Zwischen 1567 und 1604 fanden gesamthessische Landtage statt: Dez. 1576, März 1583, Okt. 1594, Juni 1598, Aug. 1603 (eigene Auszählung nach Hollenberg I). Da der hessen-kasselische Partikularlandtag dem gesamthessischen Landtag strukturell und funktional analog war, muss der Vergleich auf dieser Ebene vorgenommen werden. Unter Landgraf Philipp fanden gesamthessische Landtage statt: Okt. 1527, Juli 1532, Juli 1536, Okt. 1544, Juni 1547, Juli 1547, März 1551, Sept. 1552, März 1557, Febr. 1560, Mai 1566 (eigene Auszählung nach Hollenberg I). Engere Partikularlandtage fanden statt: Nov./Dez. 1609, Juli 1610, Febr. 1615, Juli 1615, Febr. 1616, Dez. 1616, Dez. 1620 (eigene Auszählung nach Hollenberg II). Hinzu kommen die beiden engeren Landtag vor 1609: Nov. 1605 und Okt./Nov. 1608.

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Gleichzeitig verschob sich das Häufigkeitsverhältnis zwischen den verschiedenen Landtagsformen noch weiter. Den 14 Partikularlandtagen, auf denen die Ständegesamtheit agierte, standen nämlich nur noch 5 Kurienlandtage gegenüber. 160 Philipp der Großmütige hingegen berief – alle engeren Formen eingerechnet – 18 gesamtständische Landtage und ganze 24 Kurienlandtage, darunter allein 22 Städtelandtage unterschiedlichen Formats. 161 Zwischen 1567 und 1604 finden sich dann neben den 10 Berufungen der Ständegesamtheit immerhin noch 6 Kurienlandtage. 162 Der Anteil der gesamtständischen Landtagsformen lag also unter Philipp bei etwa 40 %, um dann in der Zeit zwischen Landesteilung und Erbfolgestreit auf gesamthessischer Ebene zuerst auf ca. 60 % und schließlich von 1609 bis 1620 in Hessen-Kassel sogar auf über 70 % zu steigen. 163 Im Ergebnis führten also die spezifischen Umstände des Jahrzehnts vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges einschließlich der ersten beiden Kriegsjahre dazu, dass sich die ständisch-fürstlichen Beziehungen in Hessen-Kassel in einem bisher unbekannten Maß verdichteten und verstetigten. Und im Verlauf dieses Prozesses wurde der hessen-kasselische Partikularlandtag, also das strukturelle (weil gesamtständische) und funktionale (weil das Gemeinwesen repräsentierende) Äquivalent zum gesamthessischen allgemeinen Landtag, immer mehr zur entscheidenden Institution. Damit folgte der normativen Zentrierung auf den gesamthessischen und gesamtständischen Landtag, wie sie seit den neunziger Jahren des 16. Jahrhunderts greifbar wird, erst während des zweiten Jahrzehnts des 17. Jahrhunderts eine Phase der faktischen Zentrierung

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Die gesamte erste Kurie (Prälaten und Ritterschaft) wurde im April 1610 berufen und nur die Ritterschaft im November 1619 (vgl. Hollenberg II, Nr. 7 und Nr. 24a). Die Städtekurie wurde berufen: Febr. 1611, Jan. 1618, Aug. 1618 (vgl. ebd., Nr. 10, Nr. 20 und Nr. 22). Vgl. die Aufstellungen oben in 3.2. Die 10 allgemeinen Landtage von 1567 bis 1604 setzen sich zusammen aus den 5 gesamthessischen allgemeinen Landtagen und weiteren 5 engeren allgemeinen Landtagen: April 1570, Juni 1572, März 1584, Juni 1586, Dez. 1598 (eigene Auszählung nach Hollenberg II). – Diesen gegenüber stehen 6 gesamthessische Kurienlandtage, darunter 5 gesamthessische Städtelandtage (Aug. 1567, April 1569, Febr. 1589, April 1596, Nov. 1601) und ein gesamthessischer engerer Ritterlandtag (Juli 1583). Für die Zeit zwischen 1567 und 1604 sind die auf der Ebene der Teilfürstentümer durchgeführten Ständeversammlungen hier nicht berücksichtigt. – Für Hessen-Kassel liegt der Anteil gesamtständischer Landtagsformen vor Ausbruch des Erbfolgestreits bei nur ca. 30%: 2 engere Landtage (Sept. 1599, Aug. 1603) gegen 5 Kurienlandtage (hessen-kasselische Städtelandtage März 1573, Febr. 1581, März 1591, Mai 1601 und ein hessen-kasselischer Ritterlandtag im März 1591 (eigene Auszählung nach Hollenberg I, II).

4.2 Gesamtständisch, aber ‚kasselisch‘: Faktische Zentrierung

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auf den zwar gesamtständischen, aber ‚nur‘ hessen-kasselischen Landtag. 164 Diese massive Intensivierung zeigt sich nun nicht nur in der dichten Abfolge von Partikularlandtagen, sondern auch in den Inhalten der Landtagsabschiede. Wie erwähnt, forderte Landgraf Moritz Landrettungssteuern zur Finanzierung der Militärausgaben, darüber hinaus aber auch die organisatorische Integration der Ritter und ihrer Hintersassen in das Milizsystem. Die Politik der Landstände, insbesondere der Ritterschaft, richtete sich nun darauf, einerseits zwar finanzielle Mittel zu bewilligen, sich aber andererseits auf keine ‚strukturbildenden Maßnahmen‘ im Hinblick auf das Defensionswerk einzulassen. 165 Als ein Beispiel für diese ‚Doppelstrategie‘ seien die Landtagsverhandlungen von 1620 erwähnt: In ihrer Antwort auf die fürstliche Proposition boten die Stände unter anderem an, die von der letzten Landrettungssteuer noch ausstehenden 100 000 fl. sofort aufzubringen. Dies hieß der Landgraf zwar gut, verlangte aber im Hinblick auf die Landesverteidigung zum wiederholten Mal den Aufbau „dauerhafte[r] Institutionen“. 166 Das lehnten die Landstände ab, erhöhten aber im Gegenzug ihr Angebot erst auf 150 000 fl. und dann – nach weiteren Verhandlungen – auf 200 000 fl. 167 Da sich der Landgraf „in neuer Geldverlegenheit wegen des hohen Truppensoldes“ befand, musste er das Angebot annehmen und seine Pläne für das Defensionswerk wieder einmal zurückstellen. 168 Dieses Muster – Verweigerung im Hinblick auf das Defensionswerk, gekoppelt mit der 164 165

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Eine ähnliche und zeitlich weitgehend parallele Intensivierung hat Klingebiel, Einleitung, S. 42, im Hochstift Hildesheim für den Zeitraum von 1573 bis 1612 nachgewiesen. Vgl. Thies, Territorialstaat und Landesverteidigung, S. 221: „Auch in den letzten Jahren seiner Regierung ist es dem Landgrafen nicht mehr gelungen, die Hintersassen des Adels in das Defensionswerk einzugliedern“, im Verein mit S. 226: „Obwohl der Landgraf weitere Versuche unternahm, seine Ritterschaft zur Mitarbeit zu bewegen, müssen diese als gescheitert angesehen werden“, gegen S. 233: „Überblickt man die die Tätigkeit der Landtage, wie es hier holzschnittartig geschehen ist, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Stände sich durchaus nicht immer den landgräflichen Finanzforderungen widersetzt haben.“ Hollenberg II, S. 121, Anm. 190. Vgl. ebd. und zum gleichen Vorgang Rommel VII, S. 57: „Nachdem die Ritterschaft ihren alten Vorbehalt des Herkommens wiederholt, die Landschaft unter Darbietung von Pferden, die sie nach dem Ende der Gefahr wieder zurück verlangte, sich jedes ferneren Unterhalts des reisigen Ausschusses geweigert, die Landstände überhaupt dem Landgrafen in allgemeinen Worten die ‚Accordirung‘ des Kriegswesens überlassen hatten, verwilligten sie zwar […] zu dem Rückstand der vorigen Steuer noch hundert tausend Gulden, aber nicht als Deputat oder monatliche Contribution, sondern ein für allemal und mit der trostlosen Erklärung, daß die Gefahr so groß sey, daß man ihr mit innerlicher Macht nicht hinreichend begegnen könne.“ Rommel VII, S. 59.

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

Bewilligung von Landrettungssteuern – findet man seit 1609 immer wieder. 169 Das Verhalten der Landstände wird sehr unterschiedlich bewertet: Für die einen waren „Erfolg versprechende Einrichtungen und Projekte“ am „mangelnden Willen der Stände, insbesondere des Adels“, gescheitert; 170 für die anderen bewiesen die Landstände gerade in dieser Situation „politisches Augenmaß“, weil sie die Defensionspolitik „bremsten“. 171 Über eine Folge dieses Verhaltens besteht jedoch Einigkeit: Es wurden immer mehr und immer höhere Steuern ausgeschrieben. Nachdem schon 1609 die sehr hohe Summe von 150 000 fl. bewilligt worden war, die durch sieben Schreckenberger bis 1614 aufgebracht werden sollte, so folgten in kurzem zeitlichen Abstand immer weitere Steuerbeschlüsse: 1614 wurde erneut die Erhebung von sieben Schreckenbergern bewilligt, ohne jedoch eine Summe zu nennen; schon ein Jahr später aber hob man diesen mehrjährigen Steuerplan wieder auf und beschloss stattdessen, kurzfristig 100 000 fl. zu beschaffen. 1617 verhinderten dann die Differenzen bezüglich des Defensionswerks zwar einen Landtagsabschied, aber nach dem Ausbruch des Krieges in Böhmen bewilligte die Ständegesamtheit im August 1619 die „bisher größte Steuer der hessischen Geschichte“, 172 eine Landrettungssteuer im Umfang von 300 000 fl. mit dem Ziel, dass die bey jegenwerttigem zustandte so hochnotige löbliche union desto beßer contentiren unndt verlegenn, auch, so lang es die notturfft erfordert, continuiren könne. 173 Nur ein Jahr später sagte ein weiterer Partikularlandtag sogar noch einmal 200 000 fl. für die Union zu.

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Vgl. etwa LTA 1609 Aug., S. 38, in Verbindung mit Hollenberg II, S. 38, Anm. 40; LTA 1615 Jan., S. 80–82, in Verbindung mit Hollenberg II, S. 81, Anm. 122; für den Partikularlandtag 1619 vgl. Hollenberg II, S. 114, Anm. 177, und den von 1620 vgl. ebd., S. 121, Anm. 190. Thies, Territorialstaat und Landesverteidigung, S. 234; vgl. auch Rommel VII, S. 17, der die Ritterschaft einer „Hülfsverweigerung“ zieh und ihre Haltung mit „den Forderungen der Zeit und mit der Noth des Vaterlandes“ nicht für vereinbar hielt. Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 300; vgl. auch Demandt, Die hessischen Landstände im Zeitalter des Frühabsolutismus, S. 46, für den die Landstände gegen Landgraf Moritz „die Rechte des Landes in nachdrücklicher Form gewahrt“ haben. Hollenberg, Primat der Innenpolitik?, S. 125. – Vgl. als Parallelfall Quarthal, Landstände und landständisches Steuerwesen in Schwäbisch-Österreich, S. 163: „Mit dem Rezeß vom 17. März 1620 verwilligten die Landstände die höchste Kontribution in ihrer Geschichte.“ LTA 1619 Juli, S. 114.

4.2 Gesamtständisch, aber ‚kasselisch‘: Faktische Zentrierung

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Damit waren innerhalb von nur elf Jahren Steuern mit einem nominellen Wert von einer Dreiviertelmillion Gulden bewilligt worden. 174 Nicht nur wurden also die Landtage häufiger, sondern auch die von ihnen beschlossene Steuerlast wurde massiv gesteigert, was die Intensivierung der fürstlich-ständischen Beziehungen noch einmal unterstreicht. Die Verdichtung der fürstlich-ständischen Beziehungen in HessenKassel von 1609 bis 1620 hatte also dazu geführt, dass der hessen-kasselische Partikularlandtag in der politischen Praxis keine einmalige ‚Ausnahme‘ geblieben, sondern faktisch zur ‚Regel‘ geworden war. Und weil auf diese Weise ständische Handlungsfähigkeit dauerhaft auch auf der Ebene der Teilfürstentümer möglich wurde, stellt sich die Verstetigung der Partikularlandtage als ein erfolgreicher Ausweg aus der Situation des Erbfolgestreits dar, in der gesamthessische Landtage nicht stattfinden konnten. Allerdings galt auch hier: „Jeder Ausweg ist seinerseits problembelastet.“ 175 Das Folgeproblem bestand in diesem Fall darin, dass die Praxis der Einberufung von Partikularlandtagen, je mehr sie sich verstetigte und damit zur ‚Regel‘ wurde, in einen um so größeren Widerspruch zur allseits geteilten ‚Regelinterpretation‘ trat, denn das normative Modell der landständischen Verfassung schrieb ja die Berufung gesamthessischer Landtage vor. Dieser Widerspruch konnte aufgrund des ‚usualen Geltungsdenkens‘, das für die frühneuzeitlichen Rechtskultur insgesamt charakteristisch war, letztlich auch für die normative Ebene nicht ohne Folgen bleiben – trotz der ‚heuchlerischen‘ Entkoppelung von Sprechen und Handeln. 176 Um also die immer tiefere Kluft zwischen Sein und Sollen auch weiterhin überbrücken zu können, wurde zunächst die institutionelle Heuchelei verstärkt. Das begann schon mit der Frage, wie der neue Landtagstyp zu benennen sei. Hatte Moritz 1609 noch – letztlich erfolglos – versucht, die von ihm einberufene Ständeversammlung als gesamthessischen Landtag zu deklarieren, so riet man dem Landgrafen im Vorfeld der Einberufung des zweiten Partikularlandtags, die Ständeversammlung solle ein

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Die Summe relativiert sich allerdings, wenn man bedenkt, dass die Bewilligung von neuen Steuern häufig mit der Streichung der noch ausstehenden Reste der alten Steuern einherging. Vgl. für die intensivierte Ressourcenabschöpfung vor dem Krieg auch Dollinger, Studien zur Finanzreform Maximilians I. von Bayern in den Jahren 1598–1618. Luhmann, Funktion und Kausalität, S. 20. Simon, Geltung, S. 101: „Dieses Rechtsverständnis war auch in der frühen Neuzeit noch in starkem Maße von einer Art ‚usualem Geltungsdenken‘ bestimmt. Damit soll ein Rechtsdenken bezeichnet werden, das dazu neigte, die Verbindlichkeit der Rechtsnormen von deren faktischem Gebrauch, deren ‚Observanz‘, abhängig zu machen.“

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

communication und nicht lanttag genennett werden. 177 Man nahm also die Bezeichnung auf, die Landgraf Ludwig V. 1605 eingeführt hatte, um zu argumentieren, dass es sich bei der Versammlung von Gießen nicht um einen Partikularlandtag gehandelt habe. Als nun auch Moritz 1614 offiziell ‚nur‘ zu einem Communications-Tag 178 lud, war ein von beiden Linien akzeptierter Name für die neue Landtagsform gefunden, der äußerst nützlich war, weil sich mit ihm verschleiern ließ, dass es sich bei den ‚Kommunikationstagen‘ genannten Ständeversammlungen faktisch sehr wohl um Kopien der gesamthessischen Landtage handelte. 179 Die institutionalisierte Heuchelei wurde hier sozusagen auf den Begriff gebracht, weil die Bezeichnung den neuen Landtagstypus auch sprachlich handhab- und verfügbar machte, aber gleichzeitig den normativen Anspruch auf gesamthessische Landtage nicht verletzte – zumindest nominell. Gleichzeitig wurde es üblich, die gesamthessische Verfasstheit der Landstände und Landtage in den Abschieden explizit zu thematisieren und zu versichern, dass diese mit der Durchführung von Kommunikationstagen nicht in Frage gestellt sei; innerhalb ein und desselben Textes kommunizierte man also gleichzeitig die faktischen Ergebnisse der Beratungen und die – jetzt offensichtlich kontrafaktische – Geltung der Norm. Der Abschied des oben schon erwähnten ersten ‚offiziellen‘ Kommunikationstags von 1614 enthält die Bestätigung der normativen Ordnung sogar in der Präambel: Unndt anfenglichen thuen ihr f.g. wie nit weniger deroselben praelaten, ritter- unndt landtschafft sich hirmit bedingen, das sie durch dieße absonderliche communication undt handtlung angezogenem furstlichen hessieschenn erbvertrag unndt herkommen nit praejudiciret noch der ahlgemeinenn landtdägigen zuesammenkunfften und berathschlagung sich begeben, sondern vielmehr dehren reparation undt wiederergentzung sich vorbehalten haben wöllen. 180

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Zitat nach Hollenberg II, S. 74, Anm. 101, der sich bezieht auf StAM 17 I Nr. 1794 fol. 2–9. ‚Landesfürstliches Einberufungs-Schreiben (an Prälaten und Ritterschaft.). [Kassel 1614 Jan. 10]‘, in: Rommel VII, S. 116f., S. 117. Allerdings schloss das nicht aus, dass auch weiterhin mit zweierlei Maß gemessen und den Ständeversammlungen der jeweils anderen Linie jegliche Legitimität abgesprochen wurde: Nur einige Monate, bevor Moritz selbst seinen ersten Kommunikationstag ausschreiben sollte, hatte er Ludwig V. noch vorgeworfen, dieser habe einen abermahlichen Particular und absonderlichen Landtag naher Giessen ausgeschrieben (Landgraf Moritz an Landgraf Ludwig V., Kassel 1613 Dez. 7, in: Acta in Sachen die Fürstliche Marpurgische Succession belangendt, Kap. XI, S. 57–64, S. 49f., S. 49.) LTA 1614 Febr., S. 75.

4.2 Gesamtständisch, aber ‚kasselisch‘: Faktische Zentrierung

231

Bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges wurde dieser Verweis auf die Norm in den Landtagsabschieden mitgeführt, danach aber verliert sich der Bezug auf die gesamthessischen Landtage zunächst. 181 Und auch die seit 1604 immer wieder unternommenen Versuche der Stände, zwischen den Landgrafen zu vermitteln, 182 fanden ein vorläufiges Ende, nachdem im Dezember 1616 eine gesamthessische Zusammenkunft, an der für jedes Territorium acht Ritter und drei Städte teilnahmen, gescheitert war. 183

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Vgl. zum Abschied von 1614 fast wortgleich LTA 1615 Jan., S. 80: Unndt anfenglich bedingen ihre fürst. g. sich weniger nicht alß auch dero praelaten, ritter- unndt landtschafft, das dieße abermahlige absonderliche communicationhandtlung, sintemahl wegenn der zwüschen ihrer undt landtgrave Ludtwigs fürstl. g. noch schwebender leidiger differentzien unndt mißhelligkeiten zue einem ahlgemeinen landtag nicht zue gelangen geweßen, dem furstlichen hesßischen erbvertrag unndt daruf eingeführten löblichen herkommenn nichts derogiren noch benehmen solle. Für den abschiedslosen Kommunikationstag von 1617 vgl. ‚Landgräfliche Proposition. Kassel 1617 März 20‘, in: Hollenberg II, S. 93–99, S. 94 und S. 94, bzw. ‚Landständische Erklärung Treysa 1617 März 27‘, in: ebd., S. 99–103, S. 99f. und S. 102f. – Auch vor 1614 wurde die Norm bei Ständeversammlungen stets thematisiert; vgl. ‚Instruktion einer landständischen Deputation an Landgraf Ludwig V. Wolkersdorf 1605 Nov. 21‘, in: Hollenberg II, Nr. 2, S. 24–28, S. 26; ‚Resolution der Landstände. Marburg 1608 Okt. 31‘, in: ebd., S. 28–32, S. 30f.; LTA 1609, S. 34f.; LTA 1610, S. 60. Drei Mal, 1605, 1608 und 1609 entsandten hessen-kasselische Landtage ständische Deputationen an Landgraf Ludwig V., um im Erbfolgestreit zu vermitteln (vgl. ‚Instruktion einer landständischen Deputation an Landgraf Ludwig V. Wolkersdorf 1605 Nov. 21‘, in: Hollenberg II, S. 28–28, und ‚Resolution der Landstände. Marburg 1608 Okt. 31‘, in: ebd., S. 28–32, S. 30); ‚Instruction, was bei dem […] Fürsten und Herrn Ludewigen Landtgraffen zu Heßen […] nachbemelte anhero von Praelaten, Ritter- und Landschaft […] und diejenigen, so von Seiner Fürstl. Gnaden Ritter- und Landschafft zu dißer Schickung sich bequemen und gebrauchen lassen werden, underthenig zu werben und zu verrichten haben. Treysa 1609 Aug. 15‘, in: Rommel VI, S. 257–264); 1609 wandten sich die Landstände im Rahmen des Landtags zusätzlich mit Schreiben sowohl an Ludwig V. als auch an dessen Stände (vgl. ‚Schreiben der Prälaten, Ritter- und Landschaft des Fürstenthums Hessen (Cassel’schen Theils) an Burgermeister und Rath zu Darmstadt, wegen der fürstlichen Mißhelligkeiten, besonders in der Marburgischen Erbfolge-Sache. Treysa 1609 Aug. 14‘, in: Rommel VI, S. 248–256, und Hollenberg II, S. 39, Anm. 41); eine Antwort der darmstädtischen Stände wurde zwar auf dem Partikularlandtag vom Januar 1610 entworfen, aber letztendlich nicht abgeschickt (vgl. ‚Erklärung der Landstände. Grünberg 1610 Jan. 29‘, in: Hollenberg II, S. 54–58, S. 55 und dazu Anm. 62); im April 1610 schlugen Prälaten und Ritterschaft Moritz eine Konferenz der fürstlichen Räte beider Linien vor (LTA 1610 April, S. 61f.); 1615 baten die kasselischen Landstände die Fürsten darum, einen gütlichen Vergleich zu finden (LTA 1615 Jan., S. 82f.) Diese Zusammenkunft hatte einen längeren Vorlauf: Seit Februar 1615 fanden über gut zwei Jahre mehrere engere Partikularlandtage in beiden Territorien statt, die brieflich

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Um 1627 und im großen Ständekonflikt unter Amalie Elisabeth wurde der Anspruch auf gesamthessische Landtage von den Landständen dann wieder verstärkt erhoben und bis zum Ende des Ancien Régime weder explizit aufgegeben noch von fürstlicher Seite zurückgewiesen. In der Phase der institutionellen Verdichtung jedoch, die von 1609 bis 1620 in Hessen-Kassel zu verzeichnen ist, reichte die kontrafaktische Stabilisierung dieses Anspruchs allein nicht aus. Zwar konnte man auch weiterhin behaupten, dass nicht alles, was ein oder das andermahl geschicht, vor ein nothwendig und beständig Herkommen zu achten sei, weil sich hin und wider eine solche Difformitet befinden, dardurch das gerümbte Herkommen leichtlich zu prosterniren, aber da die Kommunikationstage immer mehr zu einem elementaren Bestandteil der politischen Praxis wurden, konnten sie nicht mehr nur in negativer Bezugnahme auf die Norm als Difformitet verstanden werden; 184 statt dessen lag es nahe, die neue Praxis mit eigener Legitimität auszustatten und zumindest damit zu beginnen, sie in die Idealvorstellung der ständisch-fürstlichen Beziehungen zu integrieren. Der Beginn dieses Prozesses lässt sich am Namen der neuen Landtagsform festmachen, denn schon 1617 – nur drei Jahre nach der erstmaligen Verwendung des Begriffs ‚Kommunikationstag‘ – lud Moritz die Stände auf einmal zu einem landtcommunicationstag. 185 Mit der Hinzufügung der Vorsilbe ‚Land-‘ war schon deshalb eine Aufwertung verbunden, weil der (hessen-kasselische) Kommunikationstag damit begrifflich näher an das normative Zentrum, den (gesamthessischen) Landtag herangerückt wurde. Bedeutender aber war die semantische Verschiebung: Mit der Begriffserweiterung wurde die hessen-kasselische Ständeversammlung von einer Institution, deren in der Praxis offenkundig politischer Charakter verleugnet werden musste, zu einer tendenziell legitimen politischen Institution. Denn der Begriff ‚Land‘ verwies im frühen 17. Jahrhundert

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über die Einberufung einer gesamthessischen Ständekonferenz verhandelten (HessenKassel: Febr. 1615, Juli 1615, Febr. 1616; Hessen-Darmstadt: April 1615, Jan. 1616; vgl. Hollenberg II, Nr. 14a, S. 84 und Nr. 15a, S. 87). Als es dann im Dezember 1616 endlich zu dieser Konferenz kam, konnte man sich nicht auf einen gemeinsamen Abschied einigen; vgl. ebd., Nr. 17: ‚Suche nach einem Ausgleich zwischen den Landgrafen‘, S. 90–92. Landgraf Ludwig V. an Landgraf Moritz, Gießen 1614 Febr. 8, in: Acta in Sachen die Fürstliche Marpurgische Succession belangendt, Kap. XI, S. 57–64, S. 59. ‚Landgräfliche Proposition. Kassel 1617 März 20‘, in: Hollenberg II, Nr. 18 (I.), S. 93–99, S. 93; so auch ‚Ladungsschreiben. Kassel 1621 Juni 4‘, in: StAM 304 Nr. 437: Landcommunicationtag.

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nicht nur ganz allgemein auf die Sphäre von Politik und Herrschaft, 186 sondern insbesondere auf die ‚Land und Leute betreffenden Sachen‘, die zu behandeln der Ständegesamtheit vorbehalten war. 187 Es kann daher nicht verwundern, dass die Bezeichnung ‚Landkommunikationstag‘ bis zum Ende des Ancien Régime der offizielle Name für die allgemeinen Landtage beider hessischer Teilfürstentümer blieb, denn er signalisierte gleichzeitig, dass die gemeinte Ständeversammlung einerseits nicht mit dem gesamthessischen Landtag identisch, ihm aber andererseits – im Hinblick auf den politischen Charakter – doch ähnlich war, weil auch in ihrem Rahmen eine Ständegesamtheit auftrat und repräsentativ, also kollektiv verbindlich handelte. 188 Einer weiteren, gar expliziten normativen Aufwertung waren jedoch zunächst enge Grenzen gesetzt, denn die von Fürsten wie Ständen gleichermaßen geschätzte ‚argumentative Allzweckwaffe‘ – der Rekurs auf das hessische Herkommen – ließ sich hier nicht einsetzen: Das lag weniger daran, dass die Einberufung von Landkommunikationstagen tatsächlich nicht dem Herkommen entsprach, denn irgendwelche Traditionslinien ließen sich bei Bedarf immer ‚finden‘. Vielmehr hätte man sich in Widersprüche verwickelt, denn schon die normative Zentrierung auf den gesamthessischen und gesamtständischen Landtag seit den 1590er Jahren war ja maßgeblich unter Berufung auf das Herkommen vorangetrieben 186

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Vgl. Schubert, Der rätselhafte Begriff ‚Land‘ im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, und zeitgenössisch Knichen, De Sublimi et Regio Territorii Iure Synoptica Tractatio. Vgl. allgemein Schmidt-Wiegand, Land und Leute. Die Belege für die Verwendung der Formel von den ‚Land und Leute betreffenden Sachen‘ in der fürstlich-ständischen Kommunikation sind äußerst zahlreich; vgl. nur Vergleich 1655, S. 59: Landt und Leut betreffenden Sachen; vgl. ‚Landgraff Moritzen zu Hessen, sc. Schreiben an Herrn Landgraff Ludwigen zu Hessen, den Gießnischen Particular Landtag betreffend.‘ Kassel 1613 Dez. 7, in: Acta in Sachen die Fürstliche Marpurgische Succession belangendt, Kap. XI, S. 49f., S. 49: Land und Leute Obligen und Nothwendikeiten; LTA 1608 Okt., S. 30: land- und gemeine sachen. Vgl. die wesentliche lex fundamentalis der landständischen Verfassung in Hessen, den Vergleich 1655; zuerst stillschweigend übernommen, galt der Vergleich seit 1738 auch in Hessen-Darmstadt, vgl. ‚Landtagsabschied. Gießen 1738 Nov. 8‘, in: Murk, Hessendarmstädtische Landtagsabschiede 1648–1806, Nr. 61/2, S. 318–329, S. 321–323. Dass die Landkommunikationstage letztlich nichts anderes als allgemeine Landtage für die beiden Teilfürstentümer waren, geht auch daraus hervor, dass etwa Ledderhose unterschiedslos von Landtagen spricht, sowohl in Bezug auf gesamthessische als auch auf hessen-kasselische Versammlungen (vgl. Ledderhose, Von der landschaftlichen Verfassung der Hessen-Casselischen Lande, S. 65–71); Estor, Fech, De comitiis et ordinibus Hassiae praesertim Cassellanae provincialibus opusculum, S. 91–93, S. 91, hingegen bezeichnen beispielsweise den gesamthessischen Landtag von 1628 als „gemeinen Land-Communications-Tag“.

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

worden. Und je länger diese Entwicklung andauerte, desto mehr wurde das Herkommensargument spezifiziert, indem nach und nach immer mehr konkrete Ereignisse der hessischen Geschichte, vor allem das Testament Philipps von 1562 und der Erbvertrag von 1568, einbezogen und als Belege dafür ausgegeben wurden, dass vor der Landesteilung eine landständische Verfassung in Hessen bestanden habe. 189 Da also schon für die Begründung der gesamthessischen Verfasstheit der Landstände ‚verwertet‘, standen die historischen und rechtlichen Verhältnisse Hessens für ein weiteres Herkommensargument zugunsten der Landkommunikationstage nicht mehr zur Verfügung. Also griff man erstmals auch auf andere, nicht-hessische Legitimationsquellen zurück: Als Landgraf Moritz 1609 seinen ersten Partikularlandtag einberief, ließ er den Landständen in der Proposition ausführlich erläutern, dass es sich bei der Versammlung trotz der Abwesenheit der darmstädtischen Stände um einen gesamthessischen Landtag handele, da alle Mängel alleine dem widrigen Intent Ludwigs V. geschuldet seien. 190 Dieser Versuch, sich auf das rein hessische Gewohnheitsrecht zu beziehen, wurde jedoch flankiert durch den Verweis darauf, dass die aufgrund des Jülich-Klevischen Erbfolgestreits notwendige Steuer sich auch gemein- und reichsrechtlich begründen lasse: Prinzipiell sei es nämlich dem Landesherrn vermög der Rechten und Reichs Constitution […] in solchen und dergleichen Defensif- und Rettungsfellen erlaubt, ihre Landtständ und Underthanen, in Ansehung solche Defension, Schuz und Vertheidigung denselben vornemblichen zu gutem kombtt und den Herrschafften auß ihrem Cammerguth zutragen nicht erschwinglich noch möglich, mit Stewern zubelegen. 191 Schon im dritten Kapitel war darauf hingewiesen worden, dass der enge Bezug auf die Reichsebene, insbesondere die Steuerbeschlüsse des Reichstags, ein wesentliches Kennzeichen der allgemeinen Landtage darstellte, wie sie sich in der Regierungszeit von Philipp herausbildeten. 192 Anfang des 17. Jahrhunderts lag jedoch eine gänzlich neuartige Situation vor: Bisher wurden die Reichstagsabschiede angeführt, um die Umlegung tatsächlich beschlossener Reichssteuern zu rechtfertigen; jetzt aber

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Was, wie Kapitel 3 gezeigt hat, allerdings nicht der Fall war. Moritz ließ mitteilen, er gehe davon aus, dass Praelaten, Ritter- undt Landtschafft vernünftig erkennen und sich bescheiden werden, daß an Ihrer F. G. wegen Haltung eines Gemeinen Landtags der Mangel nicht, sondern an jener darmbstadischen Seiten bestanden sey. (‚Landtagsproposition, Ziegenhain 1609 Aug. 9‘, in: StAD F 27 A Nr. 64/9, unfoliiert). Ebd. Vgl. oben 3.2.

4.2 Gesamtständisch, aber ‚kasselisch‘: Faktische Zentrierung

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wurde relativ vage auf das gemeine Recht bzw. das Reichsrecht verwiesen, um damit die Erhebung von Steuern für rein territoriale Zwecke zu legitimieren. 193 Die spezifisch ‚hessische‘ Form der ständisch-fürstlichen Beziehungen und insbesondere die Ausgestaltung des Steuerbewilligungsrechts, die bisher vor allem unter Rekurs auf das territoriale Herkommen wahrgenommen und weiterentwickelt worden waren, wurden also ansatzweise zu juristischen und politischen Diskursen allgemeinerer Art in Beziehung gesetzt. Diese nach dem Ausbruch des Erbfolgestreits angestoßene Entwicklung sollte in den kommenden Jahrzehnten – übrigens parallel zum allgemeinen Aufschwung der Reichspublizistik 194 – zunächst von den Landgrafen weiter vorangetrieben, später dann auch von den Ständen aufgenommen werden und führte im großen Ständekonflikt seit 1646 letztlich dazu, dass das gesamte fürstlich-ständische Beziehungsgefüge in gemein- und reichsrechtlichen Begriffen neu gefasst wurde. 195 Zunächst aber handelte es sich ‚nur‘ um eine ergänzende Rechtfertigung fürstlicher Steuerforderungen. Zwar ist nicht zu verkennen, dass die normative Aufwertung noch am Anfang stand, aber in den Jahren nach 1609 mehrten sich die Anzeichen dafür, dass auch die Stände den Landkommunikationstag zunehmend als eine legitime Institution begriffen, die nicht nur einer Ausnahmesituation geschuldet war: Als 1611 die Tranksteuerbewilligung endete, berief Landgraf Moritz einen hessen-kasselischen Städtelandtag – wie schon 193

194 195

Allerdings konnte auch der ältere Bezug auf das Reichsrecht genutzt werden, um indirekt die neue Praxis der Landkommunikationstage aufzuwerten: 1613 schrieb Ludwig V. an Moritz, der von ihm im Dezember nach Gießen ausgeschriebene Partikularlandtag sei auch deswegen rechtens, weil durch einen Reichsschluß / jeder Standt die seinigen zu collectiren, Fug und Anlaß bekommen. Die Ständeversammlung bezwecke die Einbringung deren der Röm. Key. May. unserm allergnedigsten Herrn / Krafft auffgerichteter Reichs Verabschiedung / bewilligter eilender Gelthülff ; gegen diese Forderung könne er sich mit unserm Erbvertrag / so auch Altvätterlichen Testament nicht schützen. (Landgraf Ludwig V. an Landgraf Moritz. Gießen 1613 Dez. 19, in: Acta in Sachen die Fürstliche Marpurgische Succession belangendt, Kap. XI, S. 51f., S. 51. Ludwig argumentierte also, dass Reichsrecht Landesrecht breche und er daher verpflichtet sei, den Vollzug des Reichstagsabschieds auch dann durch einen Partikularlandtag sicherzustellen, wenn dieses Vorgehen der Erbeinigung und dem philippinische Testament zuwider sei. Moritz konnte so nicht argumentieren, da er – wie die meisten Fürsten der Union – den Reichstagsabschied nicht anerkannt hatte. Vgl. zu Ludwigs Verhalten auf dem Reichstag von 1613 Rommel VI, S. 172–176, und allgemein Ritter, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges (1555–1648), II, S. 377–387, und Haas, Der Reichstag von 1613. Vgl. immer noch grundlegend Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, I. Vgl. unten 5.3.

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

1591 und 1601. In beiden Fällen hatte die Landschaft in diesem Vorgehen eine gleich zweifache Verletzung ihrer normativen Vorstellungen erblickt und daher, wie schon bei der Untersuchung der normativen Zentrierung erwähnt, 1601 ausdrücklich gefordert, zukünftig sollten zu Landtagen beder furstennthumb unnd dero zuebehöriger graff- unnd herrschafftenn ritter- unndt landtschafft allesampt beschriebenn werden. 196 Und auch 1611 beschwerten sich die Städte wieder; sie reichten sogar schriftliche Gravamina ein, deren erstes lautete: Nachdem die Tranksteuer vonn denn samptlichen Land-stendenn erhaben wirdt, in Erwegung, obgleich dieselbe nicht ebenn vonn Praelaten undt Ritterschaft einbracht, doch nichstoweniger derenn Untersaßen dieselbe geben müßen, so bittet mann, da hinführo die Stedte der Trancksteuer halber ferner beschrieben werdenn sollten, die Praelaten und Ritterschaft auch dartzu zu forderen, damit das Corpus der Landstende in contributionsSachen ungetrennt pleiben möge. 197

Hatten die Städte also 1601 noch einen allgemeinen Landtag im Sinne der landständischen Verfassung für nötig befunden, so wird zehn Jahre später nur noch gerügt, dass nicht die Ständegesamtheit berufen, sondern das Corpus der Landstende getrennt worden sei. Bezeichnenderweise spielt in diesem Zusammenhang das zweite Kennzeichen des idealtypischen allgemeinen Landtags, nämlich sein gesamthessischer Charakter, keine Rolle mehr oder wurde zumindest nicht mehr eigens thematisiert. Mehr noch: Aus Sicht der städtischen Deputierten hätte es offenbar für einen legitimen Zusammentritt der Ständegesamtheit ausgereicht, wenn zusätzlich noch Prälaten und Ritterschaft geladen worden wären. Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass sich die anwesenden Städte im vollen Sinne als Landschaft verstanden und es nicht als Mangel ansahen, dass die hessen-darmstädtischen Städte gar nicht teilnahmen. Nun lässt sich die Tatsache, dass der gesamthessische Anspruch nicht mehr explizit erhoben wurde, keineswegs umstandslos folgern, dass die Städte den hessen-kasselischen Partikularlandtag als legitim empfanden. Aber im Verein mit den geschilderten Versuchen einer expliziten Legitimierung wird man insgesamt doch eine Tendenz erkennen können, den in der Praxis ohnehin vorkommenden Landkommunikationstag immer weniger als Normverletzung zu begreifen. 196 197

LTA 1601 Mai, S. 389. ‚Generalia gravamina der samptlichen vonn denn Stedten beits Under- undt Oberfürstenthums Hessen, bei dem am 25ten Ferbruarii anno 1611. zu Caßell wegen der Tranksteuer gehaltenen Landtage angezogen. (Aus dem alten städtischen Archiv zu Cassell).‘, in: Rommel VII, S. 111f., S. 111; vgl. auch LTA 1611 Febr. in Verbindung Hollenberg II, S. 68, Anm. 86.

4.2 Gesamtständisch, aber ‚kasselisch‘: Faktische Zentrierung

237

Ende 1620, nach der Schlacht am Weißen Berg, erreichten die Auswirkungen des Krieges dann Hessen-Kassel, als nämlich General Spinola für sein spanisch-burgundisches Heer, das schon im August aus Brüssel aufgebrochen war, um die untere Pfalz zu besetzen, freien Durchzug für die rheinischen Besitzungen des Landgrafen begehrte. 198 Daraufhin berief Moritz einen engeren Landkommunikationstag nach Kassel und ließ die versammelten Stände fragen, ob und zu welchen Konditionen er einen Vertrag mit Spinola abschließen sollte. Allem Anschein nach empfanden weder der Landgraf noch die Landstände dieses Vorgehen als problematisch; dabei lag der heftig umstrittene erste Landkommunikationstag zu diesem Zeitpunkt nur ein Jahrzehnt zurück. In den etwas mehr als fünfzehn Jahren zwischen dem Ausbruch des Marburger Erbfolgestreits und den ersten Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges, so lässt sich zusammenfassend festhalten, hatten sich die fürstlich-ständischen Beziehungen in Hessen-Kassel immens verdichtet. Diese Intensivierung führte dazu, dass der ursprünglich nur als ‚Ausnahme‘ gedachte hessen-kasselische Landkommunikationstag – in Form und Funktion dem gesamthessischen Landtag nachgebildet – institutionell verstetigt und damit faktisch zur ‚Regel‘ wurde. Und obwohl dem Anspruch nach weiterhin an der gesamthessischen Verfasstheit der Ständegesamtheit festgehalten wurde, zeigten sich in der Folge auch erste Ansätze einer Legitimierung dieses neuen Landtagstypus. Seit den 1590er Jahren hatten die Stände das Konzept einer landständischen Verfassung für Hessen vertreten und ihre normativen Erwartungen auf den gesamthessischen und gesamtständischen Landtag zentriert, während in der Praxis noch die ‚philippinische‘ Verfassungsordnung mit ihrer ständischen Vielfalt vorherrschte. Mit der ‚Erfindung‘ der Landrettungssteuer in Analogie zu den Reichssteuern und der ‚heuchlerischen‘ Etablierung von Landkommunikationstagen, die solche Landrettungssteuern in Analogie zu den allgemeinen Landtagen bewilligten, wurden dann jedoch die institutionellen Bedingungen geschaffen, unter denen die Herausbildung einer landständischen Verfassung auch auf der Ebene der Teilterritorien möglich wurde. Als dann die von Landgraf und Ständen gleichermaßen wahrgenommene Bedrohungslage im Vorfeld des Krieges eine intensivere Ressourcenabschöpfung erzwang, wurde aus der Möglichkeit schließlich Wirklichkeit, weil immer höhere Landrettungssteuern im Rahmen von immer mehr Landkommunikationstagen durch die Ständegesamtheit bewilligt wurden.

198

Vgl. Hollenberg II, Nr. 27: Hessen-Kassel: Verhandlungen mit Spinola und Konflikt mit Waldeck, S. 126–129.

238

4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

Im Ergebnis hatte sich damit in Hessen-Kassel von 1609 bis 1620 weitgehend eine landständische Verfassung herausgebildet – in der Praxis. Normativ allerdings hielt man weiterhin an der Vorstellung einer landständischen Verfassung für Gesamthessen fest, während aber gleichzeitig auch der Landkommunikationstag, die neue Zentralinstitution auf der Ebene der Teilterritorien, zunehmend als legitime Institution galt. Anders als das starre Modell eines ständisch-fürstlichen Dualismus es nahelegen würde, war der Auf- und Ausbau eines genuin ‚landständischen‘ Institutionengefüges dabei nicht etwa gegen den Willen des Landesherrn erfolgt; ganz im Gegenteil hatte Landgraf Moritz diesen Prozess selber aktiv vorangetrieben, indem er die vielen Landkommunikationstage ausgeschrieben und von den erheblich gesteigerten Steuereinnahmen profitiert hatte. Man könnte darüber hinaus sogar sagen, dass gerade Moritz stets darauf drängte, die ständischen Tätigkeiten noch mehr auf Dauer zu stellen und in noch festere institutionelle Formen zu überführen: Die Ritterschaft sollte, wie schon erwähnt, nicht mehr nur im außerordentlichen Fall der Landesnot militärische Dienste leisten, sondern in leitender Stellung am permanenten Defensionswerk mitarbeiten. 199 Und die Ständegesamtheit sollte nicht nur fallweise Steuern bewilligen, sondern jederzeit als schnell zu konsultierendes Beratungsgremium in hochpolitischen Fragen zur Verfügung stehen: 1615 sollte unter ständischer Beteiligung ein permanenter Kriegsrat eingerichtet werden, 200 und 1619 bot Moritz den Ständen sogar einen eigenen Sitz im Geheimen Rat an. 201 Der 199

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Die Ritter sollten nicht nur Teile der berittenen Einheiten des Defensionswerks stellen (vgl. Thies, Territorialstaat und Landesverteidigung, S. 221–225), sondern auch im neu einzurichtenden Kriegsrat vertreten sein (vgl. ebd., S. 198–202, und ‚Landständische Resolution. Kassel 1620 Dez. 16‘, in: Hollenberg II, S. 126–129, S. 128f., in Verbindung mit Hollenberg II, S. 129, Anm. 203). Vgl. Thies, Territorialstaat und Landesverteidigung, S. 198f., wo er aus einer Nebenproposition zitiert, in der „von mehrern mitteln Zur nottwendigen Landtsrettung als bishero bey gehaltenene Communicationstagen unt sonsten gehandelt worden“ gesprochen wird. Moritz bemängelt, dass die derzeitige Situation zu infinitas et innumeras convocationes führen werde, wenn nicht permanente Institutionen geschaffen würden. Vgl. auch Rommel VII, S. 33–39. Vgl. Hollenberg II, S. 114, Anm. 177; vgl. auch Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 300. Laut Press habe dies Christa Reinhardt entdeckt, in deren von Press genannten Veröffentlichung (Reinhardt, Prälaten im evangelischen Territorium) ich diesen Nachweis jedoch nicht finden kann. – Das Angebot liegt auf der allgemeinen Linie von Moritz’ Politik, die Stände in hochpolitischen Fragen zu konsultieren, vgl. LTA 1610 April, S. 60f. (‚Zustimmung zur evangelischen Union‘); ‚Resolution der Landstände. [Kassel] 1610 Juli 21‘, in: Hollenberg II, S. 63f. (‚Ablehnung des brandenburgischen Beistandsersuchens durch die Ritterschaft‘); ebd., Nr. 16a, S. 90 (‚Errichtung eines Bündnissysteme, u. a. mit Braunschweig-Wolfenbüttel‘); ‚Landgräfliche Proposi-

4.3 Die Verfassung in Zeiten des Krieges

239

Landgraf wollte also den unbestreitbar vorhandenen ständischen Einfluss nicht einfach zurückdrängen, sondern ihn dadurch nutzbar machen, dass die landständischen Strukturen nicht nur intensiviert, sondern langfristig auch in die fürstliche Regierungs- und Verwaltungsorganisation integriert werden sollten. 202 Bis 1620 war aber im Wesentlichen nur ersteres gelungen, die faktische Etablierung einer landständischen Verfassung in Hessen-Kassel. 203 Als nun aber ab 1621 der Krieg die Landgrafschaft erreichte, sah sich Moritz in einem viel stärkeren Maße zu dem Versuch gezwungen, die erstarkten ständischen Institutionen zu effektiven Instrumenten seiner Politik zu machen. Die folgenden Jahre waren daraufhin „erfüllt von bitteren Konflikten“ 204 – die noch junge landständische Verfassung hatte eine erste Bewährungsprobe zu bestehen.

4.3 Die Verfassung in Zeiten des Krieges: Zeitnot, Entscheidungsdruck und die Auseinandersetzungen um das Landtagsverfahren Ausgangspunkt der ‚bitteren Konflikte‘ (Hollenberg), die ab 1621 die fürstlich-ständischen Beziehungen erschütterten und letztlich zu einer irreversiblen Entfremdung zwischen Landgraf Moritz und der Ständegesamtheit führten, 205 war die Unvereinbarkeit der jeweiligen politischen

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204 205

tion. Kassel 1617 März 20‘, in: ebd., S. 93–99 (‚Bündnis mit Braunschweig-Wolfenbüttel‘, ‚Anmaßung der Reichsunmittelbarkeit durch die Grafen von Waldeck‘); ‚Landständische Resolution. Kassel 1620 Dez. 16, in ebd., S. 126–129 (‚Durchzugsbegehren des Generals Spinola‘). So zur gleichen Zeit auch in Bayern, vgl. Dollinger, Studien zur Finanzreform Maximilians I. von Bayern in den Jahren 1598–1618, S. 281. Beispielsweise lehnten die Stände den ihnen angebotenen Sitz im Geheimen Rat mit der Begründung ab, „sie wollten dem Landgrafen nichts vorschreiben“ (Hollenberg II, S. 114, Anm. 177). Hollenberg, Primat der Innenpolitik?, S. 126. Auch für Hollenberg beginnt 1621 eine neue Phase der „Politik der hessen-kasselischen Stände“ (ebd., S. 125). Unumkehrbar wurde die Entfremdung erst ab Mai 1623, als Hessen-Kassel von ligistischen Truppen unter Tilly besetzt wurde und der Landgraf für fast zwei Jahre ins Exil ging. Vgl. Wolff, Moritz der Gelehrte, S. 138: „Als die Stände selbständig mit Tilly in Verhandlungen eintraten, um dem [sic!] Abzug der Ligatruppen oder wenigstens eine Verringerung der Kriegslasten zu erreichen, wurden sie von M[oritz] des Landesverrats beschuldigt. Der damit eingetretene Bruch war endgültig.“ Vgl. auch Gräf, Konfession und internationales System, S. 315. – Insgesamt spricht einiges dafür, dass es vornehmlich politische Gründe waren, die zur Entfremdung führten. Allerdings mei-

240

4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

Reaktionen auf den unverkennbaren Zusammenbruch des protestantischen Lagers, dem sich Moritz wie die Stände zugehörig fühlten. 206 Nach der Schlacht am Weißen Berg im November 1619 und der Verhängung der Reichsacht über Friedrich V. von der Pfalz im Januar des folgenden Jahres schloss eine hessische Gesandtschaft im März 1621 mit Vertretern Spinolas in Bingen einen Vertrag, in dem die Neutralität der Landgrafschaft erklärt wurde. 207 Moritz weigerte sich zwar später, den vor allem von den Ständen gewollten Vertrag zu ratifizieren, entschied sich aber angesichts der politisch-militärischen Lage wenig später auch selbst für „strenge Neutralität“. 208

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nen Wolff, Moritz der Gelehrte, S. 139, und Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 25, dass das Verhältnis zwischen Landesherr und der Ritterschaft als erstem Landstand vor allem durch die Einführung der ‚Verbesserungspunkte‘ belastet gewesen sei. Aus einer ständegeschichtlichen Perspektive lässt sich das meines Erachtens so nicht halten; die Landtagsakten und -abschiede enthalten keine Anhaltspunkte dafür; vgl. auch Hollenberg, Einleitung II, S. 11: „Die Einführung der kalvinistisch geprägten ‚Verbesserungspunkte‘ durch Landgraf Moritz im Jahre 1605 war beim Adel und auch in der oberhessischen Pfarrerschaft und Bevölkerung umstritten. Dennoch verhielten sich die Kasseler Landstände lange Zeit ebenso loyal zu Landgraf Moritz wie die Darmstädter zu Landgraf Ludwig, dessen Universitätsgründung in Gießen sie bereitwillig unterstützten.“ Vgl. Wilson, Europe’s Tragedy, S. 314–361, der seine Schilderung der Jahre 1621–1624 mit der bezeichnenden Überschrift „Ferdinand Triumphant“ versieht. – Die Stände hatten den Beitritt zur Union begrüßt (vgl. LTA 1610 April, S. 60f.) und Truppen, die aus der Landrettungssteuer finanziert wurden, der Union zur Verfügung gestellt (vgl. LTA 1619 Juli, S. 116). Vgl. Abschiedt […] Zwischen dem […] Herrn Ambrosio Spinola / Marggraffen zu Sesto / Generaln uber der Kay: Mayes: Kriegsheer in der Pfaltz / sc. an einem / Undd dann […] Herrn Moritzen / Landgraffen zu Hessen […] am andern Theil. Der Vertrag sah vor, dass Moritz weder Kurfürst Friedrich V. noch die Union oder andere Unterstützer der pfälzischen Sache direkt oder indirekt unterstützen durfte; darüber hinaus sollte Moritz alle von ihm unterhaltenen Unionstruppen abdanken und die Union verlassen. Im Gegenzug sage General Spinola zu, dass Hessen-Kassel mit keinem gewalt / Uberzug / Einlägerung / Brandschatzung / newen Zöllen / Paßzetteln / Auff lagen oder einigen anderen dergleichen Beschwerungen angegriffen oder belestiget werden sollte. Rommel VII, S. 75. Hinzu kommt, dass die Bestimmungen über das Verhältnis zur Union ohnehin durch deren Selbstauflösung im April 1621 hinfällig waren. Schon im Vorfeld war Moritz sehr skeptisch gegenüber den Bingener Verhandlungen: So stehenn sie gleich wohl in großem Zweiffell, ob solche Handtlunge zu dero Landt undt Leute Besten außschlagen oder nicht viell mehr deroselben groß Praeiudiciren unndt bey ihren andern mittunirten Stenden allerhandt Verweiß gebehren möchtt (Landtagsproposition. Kassel 1621 Jan. 13, in: StAM 304 Nr. 437, unfoliiert, S. 5). Die Stände jedoch befürworteten die Verhandlungen (vgl. LTA 1621 Jan., S. 130f., und die Auseinandersetzungen auf den Folgelandtagen: Hollenberg II, Nr. 29, S. 134–138 und Nr. 30, S. 138–142, sowie Rommel VII, S. 67–77) und drängten auf die Verhandlungen; vgl. die ‚Resolutio der Landtstände uff den Ersten Puncten Propositionis‘. Kassel 1621 Jan. 15, in: StAM 304 Nr. 437, unfoliiert, 13 S.

4.3 Die Verfassung in Zeiten des Krieges

241

Aber schon in der Frage, was eigentlich konkret unter einer ‚neutralen‘ Haltung zu verstehen sei, zeigten sich die unüberbrückbaren Differenzen zwischen fürstlichem und ständischem Politikansatz: Moritz zielte auf eine bewaffnete Neutralität und wollte Hessen, folgt man Hollenberg, „zu einem militärischen Bollwerk machen, das selbst ein mächtiger Gegner wegen des zu erwartenden Widerstandes nicht angreifen würde“. 209 Die Stände hingegen, so Hollenberg weiter, „sahen ihr Heil in einem Appeasement der Liga und des Kaisers“. 210 Die Unvereinbarkeit der politischen Zielvorstellungen resultierte also daraus, dass Moritz seine Politik der militärischen Stärke, die er schon seit Jahrzehnten verfolgte, auch und gerade angesichts des Scheiterns der Union unbedingt fortsetzen wollte, während die Stände, die ihren Landesherrn bisher trotz aller Auseinandersetzungen im Einzelnen immerhin finanziell unterstützt hatten, sich nun grundsätzlich von einer aktiven Verteidigungspolitik abwandten. Und da nun tatsächlich im Reich Krieg geführt wurde – wovor Moritz zugegebenermaßen seit Jahren gewarnt hatte –, war es aus seiner Perspektive nur folgerichtig, die Ständegesamtheit zu noch mehr (politischem) Rat und noch mehr (finanzieller) Hilfe heranzuziehen; gleichzeitig aber nahm deren Bereitschaft, solche Leistungen auch zu erbringen, gerade aufgrund der veränderten Lageeinschätzung immer weiter ab. Eine unmittelbare Folge war, dass die Einberufungshäufigkeit noch einmal drastisch anstieg – in den sechs Jahren bis 1627 sollten nicht weniger als 42 Ständeversammlungen anberaumt werden, auf denen es zu immer heftigeren inhaltlichen Konflikten kam. 211 In dieser angespannten Situation konnten die Landstände nun von den Ergebnissen des Institutionalisierungsschubes des vergangenen Jahrzehnts profitieren. Im Rahmen der weitgehenden Etablierung einer landständischen Verfassung war der Landkommunikationstag zur neuen Zentralinstitution aufgestiegen. 212 Und es ist schon erwähnt worden, dass dieser Versammlungstyp zu Beginn des 17. Jahrhunderts ‚erfunden‘ wurde, indem die rivalisierenden Landgrafen in ihren jeweiligen Teilfürstentümern Ständeversammlungen einführten, die dem alten, gesamthessischen Landtag in struktureller und funktionaler Hinsicht nachgebildet, also gesamtständisch verfasst und daher zu kollektiv verbindlicher Beschlussfassung fähig waren. 213

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Hollenberg, Primat der Innenpolitik?, S. 126. Auch Hollenberg geht davon aus, dass hier ein „grundsätzlicher Dissens“ (ebd.) vorliegt. Vgl. ebd. Vgl. oben 4.2.2. Vgl. oben 4.2.1

242

4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

Für den hier interessierenden Zusammenhang ist aber darüber hinaus wichtig, dass sich die Ähnlichkeit auch auf die prozeduralen Aspekte erstreckte, das heißt die Vorbereitung und Durchführung des Landkommunikationstags, sein Ablauf und insbesondere das Beratungsverfahren waren an den entsprechenden gewohnheitsrechtlichen Formen des gesamthessischen Landtags orientiert, wie sie sich seit dem 16. Jahrhundert herausgebildet hatten. Infolgedessen aber war die Durchführung eines Landkommunikationstags – aus fürstlicher Sicht – ein kostenintensives und zeitaufwendiges Unterfangen. Zwar dauerten die Versammlungen selten länger als eine Woche, aber da sie mindestens zu Beginn von rund 100 bis 200 Teilnehmern besucht wurden, war die Ausrichtung dennoch kostspielig, da der Fürst nicht nur für die Verpflegung der Delegierten, sondern auch ihrer Begleiter und Pferde aufkommen musste. 214 Beispielsweise listet ein gedrucktes Verzeichniß: Der bey jüngst gehaltenem Landtage anwesenden Praelaten, Ritter- und Landschafften für den Landtag im Januar 1614, der zehn Tage dauerte, insgesamt 83 Prälaten und Ritter neben 96 Städtevertretern auf, die mit insgesamt 373 Pferden angereist waren. 215 Aus den Zahlen wird zudem klar, dass Landkommunikationstage eine gewisse Vorbereitungszeit in Anspruch nahmen, da zunächst Ladungsschreiben konzipiert, gedruckt und dann durch Boten an alle Landstände verschickt werden mussten, wobei zwischen der Ladung und dem Beginn der Versammlung in der Regel noch einmal drei bis vier Wochen lagen, damit die Landstände genügend Zeit zur Vorbereitung hatten. 216 Schließ214

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Vgl. Hollenberg, Einleitung I, S. 34. Später wurde die Verpflegung durch Diäten abgelöst; zu der späteren Regelung vgl. Ledderhose, Von der landschaftlichen Verfassung der Hessen-Casselischen Lande, S. 102–106. Vgl. ‚Verzeichniß: Der bey jüngst gehaltenem Landtage anwesenden Praelaten, Ritterund Landschafften, zu Cassel diß itztlauffende 1614. Jahr / den 10. Februarij gehalten, Kassel 1614‘ (ein Exemplar auch in StAM 5 Nr. 14788). Einige weitere Beispiele zur Veranschaulichung: Landkommunikationstag Jan. 1615: 11 Tage, 144 Teilnehmer (Hollenberg II, S. 80, Anm. 115); Landkommunikationstag Jan. 1621: 11 Tage, mindestens 90 Teilnehmer (‚Erclerunge der Landtstände uff den Vortrag super collectione Votorum‘, in: StAM 304 Nr. 437, unfoliiert, S. 4–7); Landkommunikationstag April 1623: 8 Tage, 201 Teilnehmer (Hollenberg II, S. 182, Anm. 301). Vgl. allgemein Hollenberg, Einleitung I, S. 31–33, und Hollenberg, Einleitung II, S. 8. Da die prälatische und die städtische Landstandschaft an einem Amt hing (beim Landkomtur und den Obervorstehern) oder korporativen Akteuren (bei der Universität und den Städten) zukam, war deren Ladung unkompliziert, weil einfach die jeweiligen Amtsinhaber oder Korporationen geladen werden konnten. Bei der Ritterschaft gestaltete sich die Ladung schwieriger, da die Landstandschaft vielen verschiedenen Individuen zukam. Die Form der Ladung orientierte sich hier an lehnsrechtlichen Kategorien: Im Falle der Samtbelehnung eines Familienverbandes erging nur eine pauschale Ladung

4.3 Die Verfassung in Zeiten des Krieges

243

lich mussten nicht nur alle Teilnehmer anreisen und Quartier nehmen, sondern die korporativen Landstände (Universität und Städte) überhaupt erst Vertreter bestimmen, instruieren und mit schriftlichen Vollmachten ausstatten. Bis zur feierlichen Eröffnung musste dann die fürstliche Proposition verfasst, vom Fürsten genehmigt und mehrfach abgeschrieben werden. Denn die Verhandlungen zwischen der Ständegesamtheit und der fürstlichen Seite wurden überwiegend in Schriftform geführt, weshalb den Landständen die Proposition nicht nur während der Eröffnung vorgelesen, sondern danach auch in Kopie zugestellt wurde. Nach internen Beratungen legten die Stände dann eine schriftliche Antwort vor, in der sie sich zu den Propositionspunkten verhielten, woraufhin dann wieder die fürstliche Seite mit einem weiteren Schriftstück reagierte. 217 Dieses für Ständeversammlungen im Reich und den Territorien typische ‚Re- und Korrelationsverfahren‘ wurde dann im Prinzip solange fortgeführt, bis sich die Ständegesamtheit und der Landesherr geeinigt hatten – oder der Landtag ohne Abschied abgebrochen wurde. 218 Der Landkommunikationstag war also zwar ein machtvolles Instrument fürstlicher Politik, weil er den Zusammentritt der Ständegesamtheit und damit kollektiv verbindliche Steuerbeschlüsse ermöglichte, aber er war aufgrund des erheblichen organisatorischen Aufwandes, den er mit sich brachte, und des potentiell langwierigen Beratungsverfahrens gleichzeitig auch ein voraussetzungsreiches, wenig flexibles und schwer zu steuerndes Instrument. In der Konfliktsituation nach 1620 kam letztere Eigenschaft nun den Landständen zugute, weil die Forderungen des Landgrafen nach einer flexibleren und kontinuierlichen Einbindung der Stände in seine Defensionspolitik eine Änderung der geschilderten Form des Landkommunikationstags erfordert hätte. Da diese Ablauf- und Ver-

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(‚in plurali‘) an die Familie; individuell Belehnte wurden dementsprechend auch einzeln geladen (‚in singulari‘). Vgl. Hollenberg, Einleitung I, S. 38. Das interne landständische Beratungsverfahren war zweistufig organisiert: Zu Beginn eines allgemeinen Landkommunikationstags wurde ein interkurialer Ausschuss gewählt, der die Proposition beriet, eine allgemeine Position vorbereitete, die dann in getrennten Vollversammlungen der beiden Kurien beraten wurde (vgl. Hollenberg, Einleitung II, S. 10, mit Verweis auf die Landkommunikationstage von 1609 und 1614). Später verliert sich diese Praxis und die Kurien verhandeln direkt miteinander. – So auch in anderen Territorien, vgl. etwa Schaupp, Die Landstände in den zollerischen Fürstentümern Ansbach und Kulmbach im 16. Jahrhundert, S. 105. Vgl. auch allgemein Lange, Landtag und Ausschuß. Vgl. für das Reich allgemein Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit, S. 41f.; vgl. auch Rauch (Hg.), Traktat über den Reichstag im 16. Jahrhundert; Oestreich, Zur parlamentarischen Arbeitsweise der deutschen Reichstage unter Karl V. (1519– 1556); Brüning, Wege landständischer Entscheidungsfindung; Neu, Inszenieren und Beschließen.

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

fahrensformen aber den Status von Gewohnheitsrecht angenommen hatten, konnten die Stände die Politik des Landgrafen allein schon dadurch effektiv konterkarieren, dass sie ‚nur‘ auf die hergebrachte Form der landständischen Verfassung verwiesen und ihre Beibehaltung anmahnten. Bis 1620 hatte sich Moritz damit begnügt, den Ständen im Rahmen der sich entwickelnden landständischen Verfassung immer wieder inhaltliche Argumente für seine Politik vorzutragen. Als aber nun deutlich wurde, dass die Landkommunikationstage und ihre gewohnheitsrechtlich ausgeprägten Verfahrensformen seine Politik behinderten, weil immer wieder infinitae et innumerae convocationes nötig sein würden, 219 nahm er auf einmal für sich in Anspruch, nicht nur die Inhalte, sondern auch die Form der Landtagsverhandlungen bestimmen zu können, denn – so das fürstliche Argument – es stunde alleintzig bei ihrer f.g., den modum anzustellen wie sie wollen. 220 Damit aber stellte er die gerade erst etablierte landständische Verfassung wieder in Frage. Es lassen sich drei Strategien unterscheiden, die alle darauf zielten, das Verfahren der Landkommunikationstage zu ändern, um leichter und schneller an kollektiv verbindliche Beschlüsse der Ständegesamtheit zu gelangen. 221

4.3.1 Alte Verfahren, neue Funktionen: Die Reaktivierung von Ausschuss- und Kurienlandtagen Die erste Strategie bestand darin, den ‚großen‘ Landkommunikationstag dadurch zu umgehen, dass man ‚Ausschusslandtage‘ mit deutlich weniger Teilnehmern berief. 222 Ein solches Vorgehen war zunächst einmal unpro219

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‚Nebenproposition, ‚Darinnen von mehrern mitteln Zur nottwendigen Landtsrettung als bishero bey gehaltenen Communicationstagen unt sonsten gehandelt worden, discourirt und allerhandt vorschläge Zu aufrichtung eines gemeinen Politischen Raths, Schatzkammer, undt Vorrathshauser vornemblich proponirt wirdt‘, in: 4 h 30 Nr. 1‘, zitiert nach Thies, Territorialstaat und Landesverteidigung, S. 199; vgl. auch Rommel VII, S. 33–39. ‚Protokoll, StAM 330 Marburg B Nr. 313‘, zitiert nach Hollenberg II, S. 156, Anm. 257. Es handelte sich um den Landkommunikationstag im März 1622. Da von 1621, als der Krieg in Hessen ankam, bis 1627, als Moritz abdankte, insgesamt 42 Ständeversammlungen stattfanden (vgl. Hollenberg, Primat der Innenpolitik?, S. 126), kann im Folgenden keine chronologische Reihenfolge eingehalten werden, weshalb die drei Strategien im Mittelpunkt stehen. – Vgl. zu den Verfahrenskämpfen allgemein Carsten, Princes and Parliaments in Germany, S. 175–179, der zwar auf die vielen Verfahrensänderungen hinweist, sie aber nicht auswertet. Der Begriff ‚Ausschuss‘ wird hier nur mit einem gewissen Unbehagen benutzt, denn eigentlich möchte ich den Begriff für Gremien reservieren, die von den im Ausschuss

4.3 Die Verfassung in Zeiten des Krieges

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blematisch, denn engere Versammlungsformen, zu denen der Fürst von ihm ausgewählte Mitglieder der Stände lud, gehörten schon zum Standardrepertoire der ‚philippinischen‘ Ständeverfassung, 223 weshalb auch der Einberufung von engeren Landkommunikationstagen prinzipiell nichts im Wege stand. 224 Nun eigneten sich diese Versammlungen zwar für die schnelle Mobilisierung politischer Unterstützung, aber sie hatten einen entscheidenden Nachteil: Sie galten nicht als Zusammentritt der Ständegesamtheit – zeitgenössisch: des landständischen corpus –, weshalb sie in der Regel keine Steuern bewilligten. 225 Und diese Tendenz wurde dadurch verstärkt, dass sich in den Jahren vor 1621 eine landständische Verfassung entwickelt hatte, die noch deutlicher auf die Ständegesamtheit zentriert war. Moritz aber wollte – und zwar gegen die ausdrückliche Meinung seiner Räte – beides gleichzeitig: die höhere Flexibilität der engeren Form und die kollektiv verbindliche Beschlussfähigkeit der Landkommunikationstage, die vor allem für den Komplex ‚Steuern‘ unabdingbar war. 226 Dieses Ziel war nun nicht völlig neu; schon Moritz’ Vater hatte im Verein mit den anderen Söhnen Philipps des Großmütigen 1583 die politisch einflussreiche Ritterschaft dadurch verkleinert, dass „für jedes zur Ritterschaft gehörige Geschlecht nur noch ein bevollmächtigter Vertreter“ berufen wurde, obwohl über eine Reichssteuer zu beraten war. 227 Nachdem die Ritterschaft zwar gegen dieses Vorgehen protestiert, aber die

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vertretenen Akteuren selbst bestimmt sind, und Versammlungen, bei denen der Landesherr die Teilnehmer bestimmt, weiterhin nur ‚engere‘ Landtage nennen. Da aber in der Literatur der Begriff für beide Typen von Gremien und Versammlungen benutzt wird, nehme ich den Begriff auf. Vgl. oben 3.2.2. Tatsächlich war ja die erste hessen-kasselische Ständeversammlung, die über einen reinen Kurienlandtag hinausging, auch eine ‚engere‘ Versammlung gewesen, die 1599 die Antizipation der Steuerziele ermöglichte. Vgl. oben 4.1. Vgl. LTA 1599 Sept., S. 383: und es endtlich dahinn gerathen, das sich ermeltter außschuß schließlich dahinn ercleret, diweill ritter- unnd lanndschafft beider furstenthumb unnd dartzu gehoriger graffschafftenn bißhero ein corpus geweßenn. 1599 gehen die Landstände also noch von einer gesamthessischen Verfasstheit der Ständegesamtheit aus. Vgl. Hollenberg II, S. 143, Anm. 237: Im Sommer 1621 kündigte der Landgraf seinen Räten an, dass er mit den Ständen über den Unterhalt seiner Truppen verhandeln wolle. Daraufhin schlugen die Räte einen Landkommunikationstag vor, da sich eine engere Versammlung „womöglich zu keinem Beschluss ermächtigt fühle“. Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 74, vgl. auch ebd., S. 71–80. Analytisch handelte es sich also um den Versuch, innerhalb der Landstände eine ‚interne‘ Repräsentation einzuführen, so dass die Beschlüsse der ritterschaftlichen Vertreter auch die abwesenden Ritter binden würden.

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

Steuer dennoch bewilligt hatte, 228 ging man 1586 noch einen Schritt weiter und berief nur noch sechs Adelige und einige ausgewählte Städte. Nun aber verweigerten sich die Landstände und beharrten darauf, dass sie in dieser Form zu kollektiv verbindlichen Beschlüssen nicht befugt seien, weshalb auch nur Steuergelder, die zuletzt von der Ständegesamtheit bewilligt worden waren, umgewidmet wurden – und auch das nur vorbehaltlich der Zustimmung eines allgemeinen Landtags. 229 In der Folge ließ man diesen Ansatz fallen und kehrte zu dem Versuch zurück, wenigstens eine Vertretung auf Grundlage der adeligen Geschlechter zu erreichen, 230 was dann 1598, als die Landrettungssteuer ‚erfunden‘ wurde, auch erstmals wieder teilweise gelang. 231 Schon bei dieser Gelegenheit wurde deutlich, dass Moritz, der inzwischen die Nachfolge seines Vaters angetreten hatte, gewillt war, die Verkleinerung noch weiter voranzutreiben, denn er lud aus jedem Geschlecht nur einen Vertreter, den er dazu noch selbst bestimmte, während sein Onkel Ludwig IV. es jedem Geschlecht freistellte, ein oder zwei selbst ausgewählte Deputierte zu entsenden. 232 Allerdings ließ sich dieser Erfolg nicht wiederholen: Nachdem sich ein engerer hessen-kasselischer Partikularlandtag 1608 unter Hinweis auf die Zuständigkeit des allgemeinen, und das hieß in diesem Fall noch: gesamthessischen Landtags einer Steuerforderung verweigert hatte, 233

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Ob woll wir, die von der Ritterschafft in geringer ahnzaahll von deßwegen, daß es mit Ausschreibung dieses Landdages wie von alters nit gehalten worden, sondern aus iedem geschlecht nur eyner zu erscheinen erfordert und ezliche gar nicht beschriben worden, zur stedte sein, und dahero auch, und daß uns den ahnwesenden nicht woll gepurett, den abwesenden vorzugreifen, wie auch solchs also nicht herokommen, nicht geringe bedenken, und beschwerunge gedragen (‚Landtag z. Marburg 1583 März; Resolution der Stände‘, zitiert nach Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 74). Vgl. auch LTA 1583 März in Verbindung mit Hollenberg I, S. 328, Anm. 3. Vgl. Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 75f., und LTA 1586. 1594 wurde es den ‚in plurali‘ geladenen Geschlechtern freigestellt, „ob sie vollzählig erscheinen wollen, oder ob jedes einen bevollmächtigten Vertreter abordnen will“ (Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 76); vgl. auch Hollenberg I, S. 361, Anm. 3. – Die Ladungen für den allgemeinen Landtag im Juni 1598 lauteten ähnlich, vgl. Hollenberg I, S. 372, Anm. 5. Vgl. Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert, S. 76f., und LTA 1589 Dez. Vgl. Hollenberg I, S. 379, Anm. 2. Vgl. oben 4.2.1. – Aus einem späteren Dokument (‚Gründliche Remonstratio in continenti, darinnen aus glaubwürdigen Historicis Chur und Fürsten Erbverbrüderungen,

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setzte sich – wie im letzten Kapitel dargelegt – im ‚Jahrzehnt der institutionellen Verfestigung‘ (1609–1620) der Landkommunikationstag als Bewilligungsgremium für Landsteuern durch. Und für diesen hatte es sich gewohnheitsrechtlich und wohl in Anknüpfung an die gesamthessischen Landtage des späten 16. Jahrhunderts eingebürgert, dass es den Rittern freigestellt war, persönlich zu erscheinen oder einen Angehörigen ihres Geschlechts zu bevollmächtigen. 234 Seitdem hatte Moritz keinen weiteren Versuch unternommen, die Anzahl der Teilnehmer zu verkleinern. Das änderte sich nun schlagartig, nachdem der Krieg Hessen Ende 1621 erreicht hatte. Denn schon im Oktober des folgenden Jahres trat ein engerer Landkommunikationstag auf eine etwas ungewöhnliche Weise

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Erbvertrag fundamental Satzungen, Testamenten undt Reversalen wie auch allgemeinen Landtägen hinc inde verpflogener kundtbahren Actitaten, und Tractaten deß fürstl. Haußes Heßen sattsam behauptet wird, daß die Ritterschafft in Niederheßen zu fürstl. Vormundtschafft undt Landsregierung bey der Fürsten von Heßen Minderjährigkeit, iederzeit nach uhraltem ahndencklichjährigem Herkommen nachberechtiget, auch ohne Ihrer ohnzertheilter Mittglieder Sambtbetagung, ohnverrückter Session, freyer Stim, Berathschlagung undt Schluß auff den Landtagen nichts Verbündliches geschloßen werden könne, mit angehefften Documenten‘ (= Remonstration 1639), in: StAD E2 Nr. 1/11, fol. 1r–11v; auch in: AARK Repositur 6, Gefach 15, unfoliiert, 21 S.) erfährt man noch, dass auch 1603 ein engerer Landtag von den Ständen zurückgewiesen wurde: Gleichmäßig alß Herr Landtgr. Moritz den 26. Augusti 603. etliche von der Ritter undt Landtschafft nacher Rotenburg wegen der Hoyerischen Unruhe undt Erbschutzes vertaget, haben sich die erschienen außdrücklich bedinget, daß sie den abweßenden Ständten nicht praejudiciren noch selbige zu etwas verbinden könnten (ebd., fol. 6v). Ob es aber auch um Steuerleistungen ging, ist nicht erkennbar; auch Hollenberg I, Nr. 70, S. 399, teilt keine weiteren Informationen zu diesem Landtag mit. Im selben Zusammenhang verweist die Remonstration auch auf den gesamthessischen Landtag von 1586 (sich die Ritterschafft wundtteutsch erkläret, wie es mit Ausschreibung deß Landtags, nicht wie vor alters were gehalten, sondern aus einem iedern geschlechte nur einer beschrieben worden (Remonstration 1639, fol. 6v) und den hessen-kasselischen Partikularlandtag von 1608 (hatt derselbe [Ausschuss] sich auf die vorgetragene Propositiones ohne Scheu erkläret, daß die Anweßenden zu einiger Defension Steuer nicht gelangen könten, weilen dergleich. Landt undt gemeine Sachen vor einen allgemeinen Landtag, vermöge altem Herkommens undt hierbevor gehaltenen Landtagsabschieden gehörig weren (ebd.)). Zur Remonstration vgl. unten 5.3.3. Vgl. für den ersten ‚offiziellen‘ Landkommunikationstag: ‚Landesfürstliches Einberufungs-Schreiben (an Prälaten und Ritterschaft.). [Kassel 1614 Jan. 10]‘, in: Rommel VII, S. 116f., S. 117: Erfordern demnach euch hiermit gnedig, daß Ihr semptlich oder aus eurem Geschlecht einer mit genugsamen Gewalt Montags den 7ten zuvor alhier gewiß und unausbleiblichen einkommt; vgl. auch für den zweiten Landkommunikationstag von 1615: Hollenberg II, S. 80, Anm. 115. Mit Ausnahme des soeben erwähnten engeren Landtags von 1598 galt diese Wahlmöglichkeit für alle gesamthessischen Landtage von 1594, Juni 1598 und Aug. 1603 (vgl. für letzteren Hollenberg I, S. 394, Anm. 3).

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

zusammen: Moritz hatte seinen Räten aufgetragen, zur Sicherstellung der Truppenfinanzierung eine engere Ständeversammlung anzusetzen, da aufgrund des Krieges „teure Landtage mit großen Banketten“ nicht stattfinden könnten. 235 Die Räte ahnten schon, dass die Stände in diesem Fall einen kollektiv verbindlichen Steuerbeschluss verweigern würden, aber der Landgraf war nicht umzustimmen. Zufällig befanden sich zu diesem Zeitpunkt einige hochrangige Ritter in Kassel; man nutzte die Situation, berief noch schnell einige Städte hinzu, und so konnte Erbprinz Wilhelm am 27. Oktober die Proposition vortragen. 236 Nach einer ausführlichen Erläuterung der militärischen Situation folgte die zuversichtliche Feststellung, für den Landgrafen stehe außer Zweifel, dass Ihro F. G. getrewe Prelaten, Ritter- und Landtschafft, und zwar nicht allein die itzo alhier Ahnwesende, welche itzo in eill, und bey ablauf deß noch habenden Kriegsvolcks bedingte Monatsfrist alle sambt zu erfordern, die Zeit nicht wohl hat ertragen mögen, solches bey sich selbstet, auch ohne sonderbahre erinnerung vernünfftig erwegen und unschwer finden können, und darauf daß jenige, so zu fernerem Heyl und Wohlfahrt deß geliebten Vatterlantß ersprießlich ist, im Besten erkennen und befördern helffen. 237

Man habe schlicht aus Zeitmangel keinen Landkommunikationstag einberufen können, so lautete der Tenor der Proposition. Allerdings sahen die Stände das nicht als ausreichende Begründung an und zwar weder die Ritter noch die Städtevertreter, wie ein erhaltenes Protokoll der gemeinsamen Beratung der Landstände vom selben Tag zeigt. Hermann von der Malsburg, Obervorsteher der adeligen Stifter, votierte zuerst und stellte lapidar fest: Man solle sich nicht einlaßen, biß das Corpus beschrieben und sey bedencklich das Worth zuführen, weill niemandt von den Erbemptern zur Stel. Sein Kollege, Obervorsteher Carl Claur zu Wohra, argumentierte in dieselbe Richtung und schlug vor, den Landgrafen zu ersuchen, die Stände mit der Frag zu verschonen, biß ein General Land-

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So Hollenberg II, S. 143, Anm. 237, nach StAM 17 I Nr. 1800. Anwesend waren acht Ritter, darunter der Vogt des Deutschen Ordens (Geog Daniel von Habel) und drei Obervorsteher der adeligen Stifter (Hermann von der Malsburg, Carl Claur zu Wohra und Burkhard von Stockhausen), sowie die Abgesandten von Kassel, Marburg, Eschwege, Allendorf, Grebenstein, Treysa, Frankenberg, Wetter, Hersfeld, Rotenburg, Melsungen, Wolfhagen und Gudensberg; vgl. Hollenberg II, S. 143, Anm. 263. – Zu Wilhelm (V.) vgl. Kretzschmar, Wilhelm V., Landgraf von Hessen. ‚Propositio uffm Communications tage zu Cassell, denen Stenden vorgetragen, am 27. t Octobris Ao 1621. continuationem armorum belangend‘, in: StAM 73 Nr. 208, unfoliiert, 6 S., S. 4.

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tagk beschrieben sei; 238 alle anderen Ritter waren mit den Obervorstehern einer Meinung. 239 Hieronymus Jungmann, der sich im Namen Kassels als erster Städtevertreter äußerte, gab daraufhin zu Protokoll, man könne ein p[rae]judicium den Abwesenden nicht willigen, wonach die Marburger Deputierten zusätzlich anmahnten, daß man sich nicht trenne, sondern dem Herkommen gemeß zusammen halte. 240 Und auch diese Meinungen wurden von den anderen Städten geteilt. 241 Die hier zugrunde liegende gesamtständische Rechtsauffassung ist klar und eindeutig: Das landständische corpus, die Ständegesamtheit, tritt auf legitime Weise im Grunde nur im Rahmen des allgemeinen 238

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‚Vota uffm Communicationtage zu Cassell den 27.t Octobris Ao 1621.‘, in: StAM 73 Nr. 208, unfoliiert, 3 S., S. 1. – Das Votum Hermann von der Malsburgs verweist auf die hohe Bedeutung, die den Inhabern der Erbhofämter zu dieser Zeit innerhalb der Ritterschaft zukam (vgl. grundlegend Kuchenbecker, Gegründete Abhandlung von denen Erb-Hof-Aemtern der Landgraffschaft Hessen, und Rommel V, S. 344–356). Die mit den vier Erbhofämtern der Landgrafschaft belehnten Geschlechter (Erbmarschallsamt: seit 1538 Riedesel; Erbschenkenamt: seit 1459 Schenck zu Schweinsberg; Erbkämmereramt: seit 1639 von Berlepsch; Erbküchenmeisteramt: seit 1589 von Wildungen, seit 1610 von Löwenstein, seit 1629 von Hertingshausen, seit 1732 von Dörnberg) galten als herausgehobene Mitglieder der Ritterschaft; im ‚Verzeichniß: Der bey jüngst gehaltenem Landtage anwesenden Praelaten, Ritter- und Landschafften, zu Cassel diß itztlauffende 1614. Jahr / den 10. Februarij gehalten‘, Kassel 1614 (ein Exemplar auch in StAM 5 Nr. 14788) stehen die vier Inhaber der Erbämter direkt nach den Prälaten an der Spitze der Ritterschaft. Auch in der Remonstration 1639, fol. 5v, heißt es noch, die Regierung in Kassel habe den 18. Xbris verwichenen 638. Jahres einen Landtag außgeschrieben in welchem außschreiben nicht das gantze interessirende Corpus der Erbämpter, Obervorsteher, Praelaten, Ritter undt Landtschafften (uhralten Herkommen gemäß) geladen worden sei. Als sich später die Ritterschaft auf den Landtagen nicht mehr hierarchisch, sondern nach den fünf Strombezirken, also geographisch zu organisieren begann, behielt nur der Erbmarschall als Landtagsdirektor eine herausgehobene Rolle; vgl. Hollenberg, Einleitung II, S. 10. Vgl. ‚Vota uffm Communicationtage zu Cassell den 27.t Octobris Ao 1621.‘, in: StAM 73 Nr. 208, unfoliiert, 3 S., S. 1f.: Burkhard von Stockhausen schloss sich dem Votum Malsburgs und Claurs an, Hermann von Wersabe meinte, es können die wenige Anwesende in der wichtige Sache uf sich allein keine erclerung thun, Heinrich von Calenberg stimmte ebenfalls zu, Dietrich Hermann von Buttlar befand diese Versamblung in zu geringer Anzahl, daß man sich nicht können resolviren und Heinrich von Boyneburg genannt von Hohnstein schließlich befand, die Propositio beruffe wichtige Sachen, deßwegen man keine Volmacht von den Mitgliedern habe. Ebd., S. 2. Vgl. ebd., S. 3: Hersfeld meinte, weil die Sach viel betrifft, aber wenig beschrieben, hette man sich zu verschonen zu bitten, und Allendorf stimmte zu, des ersten Posten halben sey die Sach zu einem gemeinen Landtagk zu bringen. Die übrigen Städte schlossen sich ohne weitere Einlassungen den vorigen Voten an. – Im übrigen ging es in den Voten um die Tranksteuer und das Münzwesen.

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

Landkommunikationstags zusammen und zwar im Modus der Identitätsrepräsentation, denn der Landkommunikationstag ist die Ständegesamtheit; eine engere Versammlung wäre allenfalls denkbar, wenn die Teilnehmer von den abwesenden Mitgliedern der einzelnen Stände mit umfassenden Vollmachten ausgestattet wären, wobei es sich dann um Stellvertretungsrepräsentation handeln und der engere Landkommunikationstag die Ständegesamtheit vertreten würde. Da aber beides nicht der Fall sei, sahen sich die anwesenden Ritter und Städtevertreter folgerichtig nicht befugt, ut universi für die Ständegesamtheit zu sprechen, das heißt repräsentative Entscheidungen herbeizuführen, die auch Abwesende banden. Ein solches Vorgehen wäre ihrer Ansicht nach nicht nur ein Bruch des Herkommens, sondern darüber hinaus auch den Rechten der Abwesenden schädlich. 242 Die Norm der gesamthessischen Verfasstheit spielt nun in diesem Zusammenhang überhaupt keine Rolle mehr. Aus dem Kontext geht klar hervor, dass mit dem General Landtagk (Carl Claur zu Wohra) bzw. dem gemeinen Landtagk (Vertreter von Allendorf) eindeutig der hessen-kasselische Landkommunikationstag und keine gesamthessische Versammlung gemeint war, denn die Frage der Truppenfinanzierung, in deren Kontext die Begriffe gebraucht wurden, war seit Jahren völlig unkontrovers auf Landkommunikationstagen behandelt worden. Die seit 1609 institutionalisierte und auf den Landkommunikationstag zentrierte, genuin ‚hessen-kasselische‘ Ständeverfassung war 1621 offenbar längst auch Bestandteil der normativen Erwartungsstrukturen der adeligen und städtischen Standespersonen. 243 Aus dieser subjektiven Rechtsposition heraus verweigerten die Stände die Bewilligung neuer Finanzmittel. Um aber Moritz nicht allzu sehr zu brüskieren, griffen sie zum schon mehrfach bewährten Mittel, die Erhebung eines Teil von schon bewilligten Steuern vorzuziehen. 244 Der Landgraf war zwar erbost und warf den Ständen in einer Aktennotiz vor, sie wollten abermals den kopff aus der schlincken ziehen undt mit 242 243 244

Vgl. auch allgemein [Anon.], Praejudicium, S. 546: „Praejudidium, Schaden, Nachtheil“. Diese Schlussfolgerung wird auch unterstützt durch den Befund, dass seit 1618 die Norm des gesamthessischen Landtags aus den Abschieden verschwindet, vgl. oben 4.2.2. In diesem Fall wurden zwei Schreckenberger als Teil der im März 1621 von einem Landkommunikationstag bewilligten Steuer von 75 000 fl. ausgeschrieben (vgl. ‚Schlusserklärung der Landstände mit Randglossen des Landgrafen. Kassel 1621 Okt. 30‘, in: Hollenberg II, S. 143f., in Verbindung mit LTA 1621 März, S. 136). Im Konfliktfall auf die Modalitäten der Steuererhebung auszuweichen, war spätestens seit 1586 üblich, vgl. LTA 1586, S. 347; vgl. auch LTA 1599 Sept. 13, S. 383, und für den engeren Landkommunikationstag von 1609 die ‚Zweite Erklärung der Landstände. Kassel 1609 Nov. 29‘, in: Hollenberg II, S. 48–51, S. 49.

4.3 Die Verfassung in Zeiten des Krieges

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besatzung oder dergleichen nicht zue thun haben, 245 nahm die ständische Weigerung aber letztlich hin. Allerdings sollte die Verärgerung des Landgrafen noch erheblich zunehmen, denn die Landstände waren auch in Zukunft nicht gewillt, von ihrem Standpunkt abzugehen: Ein gutes Jahr später, im September 1622, versuchte Moritz erneut, eine engere Ständeversammlung zu verbindlichen Finanzzusagen zu drängen. Und als er wieder nur zur Antwort erhielt, dass solche Materien vor das ganntze corpus undt allgemeinen landtag gehörten, 246 da zeigte auch der Landgraf eine ähnliche Reaktion wie im Jahr zuvor: Die gemu[e]tter der Stände, so schrieb er dem Allendorfer Stadtrat, seien verstockt und geblendet; ihre Verweigerungshaltung würde sie alle zusammen in eußerste gefahr, schande und schmache stürzen. 247 Aber alle Entrüstung half nichts, auch ein dritter Versuch Anfang 1623 schlug fehl. Die Stände weigerten sich beharrlich, kollektiv verbindliches Entscheiden im Rahmen von engeren Landkommunikationstagen möglich zu machen, und vereitelten auf diese Weise wohl eine ähnliche Entwicklung wie in den welfischen Territorien, wo schon früher entstandene ständische Ausschüsse intensiv in die fürstliche Regierungstätigkeit einbezogen wurden. 248 245 246

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‚Schlusserklärung der Landstände mit Randglossen des Landgrafen. Kassel 1621 Okt. 30‘, in: Hollenberg II, S. 143f., S. 144. StAM 17 I Nr. 1804, fol. 100f., zitiert nach Hollenberg II, S. 174. Es handelt sich nicht um ein Landtagsprotokoll, sondern den Bericht des Stadtschreibers von Allendorf, wo sich Moritz aufhielt. Ebd. Vgl. dazu Hollenberg II, Nr. 42, S. 179f. – Ulrich Lange (vgl. Ders., Zum Problem der Handlungsfähigkeit; Ders., Landtag und Ausschuß) hat gezeigt, dass in den welfischen Territorien zur selben Zeit, also vom letzten Jahrzehnt des 16. bis in die dreißiger Jahre des 17. Jahrhunderts ständische Ausschüsse in genau die Rolle hineinwuchsen, die Landgraf Moritz auch seinen Ständen zugedacht hatte. Warum dies in Hessen-Kassel nicht gelang, liegt meines Erachtens in der Vorgeschichte der betreffenden Ausschüsse in den welfischen Territorien begründet: In allen Fällen handelte es sich um Gremien, die von den Landtagen seit Mitte, verstärkt seit Ende des 16. Jahrhunderts eingesetzt wurden, um die Steuererhebung zentral durchzuführen und zu beaufsichtigen (ebd., S. 191f.). Auf diese Weise institutionalisierte sich ein Gremium, das für das gesamte Territorium zuständig und mit Steuerfragen befasst war – ebenso wie der Landtag, der den Ausschuss einsetzte. Damit waren die Voraussetzungen gegeben, dass der häufiger tagende und schneller handelnde Ausschuss nach und nach immer mehr Aufgaben des Landtags übernehmen konnte (vgl. ebd., S. 193), um dann während des Dreißigjährigen Krieges in die fürstliche Regierungstätigkeit einbezogen zu werden, insbesondere um Steuern zu bewilligen (vgl. ebd., S. 76–79 und passim). In Hessen aber gab es keinen solchen zentralen Ausschuss, denn die Steuererhebung war nicht beim Landtag zentralisiert: Zunächst gab es zwei Steuerkreise und in jedem dieser Steuerkreise wiederum einen ritterschaftli-

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Moritz hatte also – letztlich ohne Erfolg – versucht, das alte Institut des engeren Landtags, dem im Rahmen der ‚philippinischen‘ Ständeverfassung die Funktion zukam, rasch politische Unterstützung zu mobilisieren, umzuwandeln in einen Ausschuss, der an Stelle und im Namen der Ständegesamtheit das Steuerbewilligungsrecht ausüben sollte. Auch die zweite Strategie nahm ihren Ausgang von einem ähnlichen Rückgriff auf alte Formen, indem Moritz nämlich nach 1621 wieder verstärkt Ritterbzw. Städtelandtage einberief. Verfolgte die erste Strategie das Ziel, die Ständegesamtheit durch einen deutlich kleineren Ausschuss zumindest teilweise zu ersetzen, so lief der Rückgriff auf die Kurienlandtage darauf hinaus, die Ständegesamtheit aufzubrechen und mit Ritterschaft und Landschaft einzeln zu Abschieden oder Übereinkünften zu kommen. Im 16. Jahrhundert gehörten Städtelandtage, wie in Kapitel 3 deutlich geworden ist, zu den wichtigsten Instrumenten der landgräflichen Ständepolitik und die von der Landschaft bewilligten Landsteuern älteren Typs zu den ertragreichsten Einnahmequellen. 249 Hinzu kam die Tranksteuer, die jeweils einzeln von Ritterschaft und Landschaft eingeführt, später aber zumeist nur noch von Städtelandtagen verlängert wurde. Als nun aber die ‚philipinische‘ Ordnung der ständischen Vielfalt seit den 1590er Jahren nach und nach in eine ‚landständische‘ Verfassung transformiert wurde, verloren die Kurienlandtage einen Großteil ihrer früheren Bedeutung: Zum einen waren in der Praxis deutlich weniger Städtelandtage nötig, da nun die Landrettungssteuer zur wichtigsten Abgabe wurde, über die im Unterschied zur alten Landsteuer nicht die Landschaft, sondern die Ständegesamtheit entschied. 250 Zum anderen erfuhren die Kurienlandtage auch eine grundsätzliche Delegitimierung, als sich das ständische (und später auch fürstliche) Idealbild der Verfassungsordnung auf die Ständegesamtheit und den allgemeinen Landtag hin zu zentrieren begann. Diese normative Abwertung kam vor allem in

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chen und einen landschaftlichen Obereinnehmer, wobei letzterer sogar vom Landgrafen eingesetzt wurde; allgemeine Rechnungstage wurden erst nach dem Dreißigjährigen Krieg üblich (für weitere Details vgl. Krüger, Finanzstaat Hessen 1500–1567, S. 248– 251; Hollenberg, Einleitung I, S. 51–54; Hollenberg, Einleitung II, S. 16–18; Hollenberg, Einleitung III, S. LVI–LX; Ledderhose, Von der landschaftlichen Verfassung der Hessen-Casselischen Lande, S. 50–63). Gab es in den welfischen Territorien also eine ‚Passung‘ zwischen der institutionellen Struktur der Ausschüsse und den Erfordernissen während des Krieges, so musste Moritz solche Ausschüsse überhaupt erst schaffen – was ihm, wie gezeigt, nicht gelang. Vgl. oben 3.2. Vgl. oben 4.1. Die Landsteuer wurde nur noch in Form der ‚Fräuleinsteuer‘, also als Ehesteuer zur Ausstattung der fürstlichen Töchter weitergeführt.

4.3 Die Verfassung in Zeiten des Krieges

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der Forderung der Stände zum Ausdruck, auch die Tranksteuer an eine Bewilligung durch die Ständegesamtheit zu knüpfen. Da sich seit dem Ausbruch des Marburger Erbfolgestreits – unter maßgeblicher Beteiligung von Landgraf Moritz – faktisch eine landständische Verfassung institutionell verfestigt hatte, war es nur folgerichtig, dass der Anteil der Kurienlandtage an der Gesamtzahl der Ständeversammlungen seit 1604 deutlich abnahm. 251 Gleichzeitig hielten die Stände an ihren inzwischen ausgebildeten Vorbehalten gegenüber Kurienlandtagen fest und erreichten es in der Regel, dass diese auch in die Abschiede aufgenommen wurden. 252 Ritterlandtage und Städtelandtage waren, so kann man sagen, ‚Auslaufmodelle‘, die nur noch für sehr spezielle Fälle benötigt wurden. Auch das sollte sich nach 1620 massiv ändern. Im Dezember 1621 hatte Graf Johann Jakob von Anholt ein Ligaheer in die Wetterau und damit an die hessische Grenze geführt, um Christian von Braunschweig-Wolfenbüttel zu vertreiben, der schon im Oktober von Norden durch Hessen gezogen war und sich im Buse-

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Vgl. oben 4.2.2. Im ‚Jahrzehnt der institutionellen Verfestigung‘ standen den 14 Landkommunikationstagen nur 5 Kurienlandtage gegenüber. Die gesamte erste Kurie (Prälaten und Ritterschaft) wurde im April 1610 berufen und nur die Ritterschaft im November 1619 (vgl. Hollenberg II, Nr. 7 und Nr. 24a). Die Städtekurie wurde berufen: Febr. 1611, Jan. 1618, Aug. 1618 (vgl. Hollenberg II, Nr. 10, Nr. 20 und Nr. 22). Als Prälaten und Ritterschaft 1610 eine Änderung der Modalitäten der 1609 bewilligten Steuer zusagten, erklärten sie, dass sie durch diß ihr absonderlich bedenckenn undtt guetachtenn dem ublichen hehrkommen wegen gemeiner handlung und bewilligung solcher steuren und deren anticipation nichts derogirt noch jegen ihre mitglieder einige neuerung dißfals eingeführet haben wöllen (LTA 1610 April, S. 60); für den Städtelandtag von 1611 vgl. oben S. 4.2.2; 1618 fanden zwei Städtelandtage statt, auf denen zum ersten Mal seit 1604 Fräuleinsteuern bewilligt werden sollten. Das war einer der wenigen Fälle, für die in der Erbeinigung von 1568 tatsächlich die Beschreibung der gesamthessischen Landschaft vorgeschrieben war (vgl. ‚Erbeinigung der vier Landgrafen. Ziegenhain 1568 Mai 28‘, in: Hollenberg I, S. 282–295, S. 289). Da aber gesamthessische Städtelandtage immer noch nicht möglich waren, wurden auch in diesen Fällen partikulare Städtelandtage einberufen. Der in diesen Fällen erhobene Protest richtete sich also eher gegen die Verletzung des gesamthessischen und nicht so sehr des gesamtständischen Anspruchs (vgl. LTA 1618 Jan. 11., S. 108: Ob sie nuhn woll von hertzen wunschen undt gern sehen möchten, daß dieses beider hochg[edachter] ihrer f.g. landtschafft uf einen gemein landttagk wehre vorgetragen worden; LTA 1618 Aug., S. 111: Die Durchführung eines Partikularstädtelandtags soll dem fürstlichen hesßischen erbvertrag undt darauff eingefuhrten kundtlichem herkommen nichts derogiren noch benehmen). Auf einem Ritterlandtag im November 1619, über den kaum etwas bekannt ist (vgl. Hollenberg II, Nr. 24a, S. 120, und Rommel VII, S. 53f.), wollte Moritz mit den Rittern über das Defensionswerk sprechen, die sich allen Festlegungen allerdings weiterhin mit Verweis auf das Herkommen entzogen.

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cker Tal festgesetzt hatte. 253 In dieser Situation der doppelten Bedrohung berief Landgraf Moritz nicht nur einen Landtag, der eine Steuer von 60 000 fl. bewilligte, um durchzugen, einlagerungen, brandtschatzungen undt andern dergleichen trangsahlen abzuwenden, sondern bestellte zum selben Zweck auch das Lehnsaufgebot nach Treysa. 254 Die Ritter fanden sich allerdings – wenig überraschend angesichts ihrer seit Jahren verfolgten Politik – mehrheitlich nicht ein, weshalb der Erbmarschall am 22. Dezember im Namen des Landgrafen zu einem Ritterlandtag lud, damit die Ritterschaft als Stand bindende Beschlüsse fassen könne. Und auch jetzt verwiesen einige Ritter darauf, „dass dies dem Herkommen zuwider sei, da gemeinsame Beschlussfassungen auf einen Landtag gehörten“. 255 In der Frage der Neuorganisation des Lehnsaufgebots wurde daher – wie üblich – nichts entschieden. Aber trotz der Bedenken von Seiten der Ritterschaft verfolgte Moritz diesen Ansatz weiter und berief allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 1622 nicht weniger als weitere drei Ritterlandtage ein – so viele, wie im gesamten 16. Jahrhundert stattgefunden hatten. Die Ritter verweigerten sich diesen Ladungen zwar nicht, aber die Hoffnung, die mit der Reaktivierung dieses Landtagstyps verbunden war, nämlich durch die direkte Verhandlung mit der Ritterschaft leichter und schneller zu Ergebnissen zu kommen, erfüllte sich nicht. Denn verbindliche Entscheidungen wurden überhaupt keine gefällt – allenfalls zu Erläuterungen ihrer Rechtsauffassung ließ sich die Ritterschaft herbei. 256 Obwohl sich also die Reorganisation des Lehnsaufgebots auf Ritterlandtagen offenkundig nicht besser vorantreiben ließ, setzte Moritz auch

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Vgl. Hofmann, Abhandelung von dem vormaligen und heutigen Krigesstaate den Aufgeboten so wohl der Ritterschaft und Lehnleute als auch der Unterthanen […], S. 174f. Zum Landtag vgl. ‚Entwurf eines Landtagsabschieds. [Kassel 1621 Dez. 12]‘, in: Hollenberg II, S. 145–150; zur Bestellung des Lehnsaufgebots vgl. Hollenberg II, S. 151, Anm. 251, und Rommel VII, S. 75. So Hollenberg II, S. 151, Anm. 251. In immer neuen Wendungen erklärten die Ritter ihre Position: Man könne keine andere nachrichtung (wie zum offtern erwehnet) der ritter- undt lehndienste halber, so von ihren vorfahren den fursten zu Hessen geschehen, auch sonstet ub- undt bruchlichen seint, finden und haben können, als das besagte dienste nicht absonderlichen geschehen, sondern, wan das uffgebot oder uffforderung vorhergegangen, ein jeder uffs sterkeste er vermocht seinem landtsfursten zugezogen undt also unabsonderlichen seine ritterdinste verrichtet (‚Erklärung der Ritterschaft. Hofgeismar 1622 März 27‘, in: Hollenberg II, S. 162–165, S. 163). Vgl. auch ‚Erklärung der Ritter an der Werra. Witzenhausen 1622 Mai 12‘, in: ebd., S. 165–167, S. 166 (Verweis auf die soeben zitierte Erklärung von Hofgeismar), und ‚Erklärung der Ritterschaft. Treis an der Lumda 1622 Juni 8‘, in: ebd., S. 169–171, S. 170.

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gegenüber der zweiten Kurie verstärkt auf den Einsatz von Kurienlandtagen. Hier trieb er die Politik des divide et impera sogar noch weiter: Im Oktober 1622 musste geklärt werden, wie die landgräflichen Truppen auf die Städte aufgeteilt und von diesen während des Winters unterhalten werden könnten. 257 Dazu berief Moritz jedoch keinen Städtelandtag ein, sondern ließ in Allendorf, Hersfeld, Homberg und Marburg regionale Versammlungen durchführen, zu denen jeweils die Städte des Werra-, Fulda-, Schwalm- und Lahnbezirks geladen wurden. 258 Das Ergebnis der Beratungen war vorhersehbar: „Die Städte verwiesen auf einen allgemeinen Landtag.“ 259 Nachdem auch erneute Separatverhandlungen mit Prälaten und Rittern keinen Erfolg gehabt hatten, musste der Landgraf seinen „Plan, die einzelnen ständischen Corporationen […] durch ihre Stimmführer zu seiner und des Landes Rettung zu gewinnen“, auf- und dem „Ruf nach einer entscheidenden allgemeinen Landesversammlung“ nachgeben – im Dezember 1622 fand wieder ein Landkommunikationstag in alter Form statt. 260 Auch die Reaktivierung der Kurienlandtage hatte sich zunächst

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Vgl. Hollenberg II, Nr. 40a, S. 174f. Dass sich die mauritianische Ständepolitik mit dem Grundsatz des divide et impera beschreiben lässt, meint auch Hollenberg, Einleitung II, S. 15. Zu den regionalen Städtezusammenkünften vgl. Ders. II, Nr. 40a, S. 174f. – Die sogenannten ‚Strombezirke‘ waren Verwaltungseinheiten mittlerer Ebene, die rein geographisch angelegt waren, mehrere Ämter umfassten und sich an den Hauptflüssen der Landgrafschaft orientierten. Eingeführt wurde diese Unterteilung in ‚Bezirke‘ oder auch ‚Quartiere‘ von Landgraf Moritz um 1600 im Kontext des Defensionswerks. Laut Thies, Territorialstaat und Landesverteidigung, S. 37, nahm Moritz diese Einteilung in Analogie zu den Reichskreisen vor und war der Überzeugung, damit ein gänzlich neues Gliederungsprinzip einzuführen. Allerdings schloss er, so Thies unter Berufung auf Kurt Dülfer, damit faktisch an die „alten Einrichtungen der Landvögte und Oberamtleute“ (Dülfer, Fürst und Verwaltung, S. 184) an. Wunder, Fürstenmacht und adlige Selbstbehauptung, S. 44, weist mit Rommel VI, S. 5, darauf hin, dass diese Einteilung auch in einem „alten Städte-Buch“ zu finden sei. Wunder meint darüber hinaus, dass die ritterschaftlichen Strombezirke nicht mit den landschaftlichen übereinstimmen, allerdings ohne weitergehende Begründung. – Die Strombezirke standen also zunächst in keiner näheren Beziehung zur landständischen Verfassung. Im Februar 1622 wurde jedoch ein Landkommunikationstag einberufen, zu dem erstmals alle Städte eines Strombezirks gemeinsame Gesandte abfertigen sollten (vgl. Hollenberg II, S. 155, Anm. 256). Dieses Verfahren wurde zwar zunächst auf Landtagen nicht wiederholt, aber die Strombezirke wurden schon kurze Zeit später, nämlich 1623, von der Ritterschaft zur Grundlage ihrer Selbstorganisation gemacht (vgl. unten 5.1.2). So Hollenberg II, S. 174, Anm. 283, nach StAM 304 Nr. 437. Rommel VII, S. 94–96; der Landtag bewilligte erneut 60 000 fl. für den Unterhalt der Söldner, vgl. LTA 1622 Dez., S. 176.

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

nicht als geeignetes Instrument erwiesen, um den Landkommunikationstag und die Ständegesamtheit zu umgehen. 261

4.3.2 Radikale Maßnahmen: Der Angriff auf das landständische Beratungsverfahren Die ersten beiden Vorgehensweisen waren nun zumindest formal weitgehend vom Gewohnheitsrecht gedeckt, weil engere Landtagsformen und reine Kurienlandtage im Prinzip seit langem eingeführte Elemente der fürstlich-ständischen Beziehungen waren, auch wenn Moritz sie einsetzte, um Veränderungen herbeizuführen. Die dritte Strategie hingegen war im Wortsinne ‚radikal‘, insofern sie auf direktem Weg das angriff, was aus der Perspektive des Landgrafen die Wurzel aller Probleme mit der Ständegesamtheit darstellte – das Beratungsverfahren der Landkommunikationstage. Durch den Rückgriff auf Ausschuss- und Kurienlandtage hatte Moritz die langwierigen, schriftlich geführten Verhandlungen mit der Ständegesamtheit noch umgehen wollen; parallel dazu versuchte er aber, auch den Verfahrensgang selbst zu verändern und zu beschleunigen. Dabei griff er zu Maßnahmen, die bei den Ständen immer wieder Entsetzen auslösten. Beispielsweise versuchte der Landgraf in einem Fall, die Kurien sogar im Rahmen eines allgemeinen Landkommunikationstags zu trennen: Herkömmlicherweise begann ein solcher mit einer solennen Eröffnung, bei der vor allem die Proposition verlesen und dann in Schriftform den in corpore versammelten Landständen übergeben wurde, um danach durch einen interkurialen Ausschuss beraten zu werden. 262 Als aber Anfang 1622 wieder einmal ein Landkommunikationstag stattfinden sollte, wurde die Landschaft für den 2. Februar nach Kassel bestellt, um die Proposition anzuhören – die Ritterschaft jedoch erst für den 5. Februar. Dahinter stand die Absicht, wie auch Hollenberg anmerkte, die Landschaft schon vor Eintreffen der Ritter auf konkrete Zusagen zu verpflichten, was aussichtsreich schien, da die Städte der landgräflichen Politik aufgeschlossener gegenüberstanden und sich den Wünschen des Landgrafen aufgrund

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Einschränkend ist hinzuzufügen, dass in den nicht ganz zwei Jahren zwischen der Rückkehr Moritz’ aus dem Exil im Juni 1625 (vgl. Rommel VII, S. 601) und seiner Abdankung im März 1627 (vgl. Eßer, Landgraf Moritz’ Abdankung und sein politisches Vermächtnis, S. 197) Kurienlandtage zu einem effektiven Mittel der landgräflichen Politik wurden; vgl. dazu unten 5.1.3. Vgl. Hollenberg, Einleitung I, S. 36f.

4.3 Die Verfassung in Zeiten des Krieges

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der größeren Standesdifferenz deutlich schlechter entziehen konnten als die Ritterschaft. 263 Als sich die Städte über dieses Vorgehen beschwerten, antwortete die fürstliche Seite, es stunde alleintzig bei ihrer f.g., den modum anzustellen wie sie wollen. 264 Allerdings konnte dieser Anspruch auch in diesem Fall nicht verwirklicht werden, denn die Landschaft zögerte ihr Votum einfach hinaus, was ihr prompt den Vorwurf einbrachte, sie äußere sich nicht, weil sie später mit der Ritterschaft auß einem horn blasen wolle. 265 Hieran zeigt sich die Radikalität der Maßnahme sehr deutlich, denn indem die fürstliche Seite dieses Verhalten rügte, stellte sie im Grunde die Ständegesamtheit – den normativen Kern der landständischen Verfassung – als solche in Frage, denn diese konnte als kollektiver Akteur ja tatsächlich nur dann in Erscheinung treten, wenn die beiden Landstände ‚aus einem Horn bliesen‘. Und selbst wenn der Landgraf den Ständen letztlich doch erlauben musste, ‚aus einem Horn zu blasen‘ oder, was dasselbe ist, ‚als landständische Korporation zu sprechen‘, gab es noch andere Maßnahmen, um wenigstens die Umstände dieser gemeinsamen Willensbildung einzuschränken. Schon ein Jahr früher, Ende Februar 1621, hatte Moritz nämlich einen Landkommunikationstag nicht nach Kassel oder in eine andere Stadt, sondern ins feldt zwischen Gudensbergk und Büdighern beym Maderholtz beschrieben. 266 Begründet wurde dies mit einem angeb-

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Vgl. Hollenberg II, S. 155, Anm. 256, und Ders., Einleitung II, S. 15; vgl. auch Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 12: „Davon, dass das städtische Bürgertum den Landgrafen nach Manier der adeligen Opposition die Stirn bot, kann zu keinem Zeitpunkt die Rede sein.“ Hollenberg II, S. 156, Anm. 257, nach ‚Protokoll, StAM 330 Marburg B Nr. 313‘. Der Landtag endete im Eklat, weil die vierzehn Ritter, die den Ausschuss der Ritterschaft bildeten, den Landtag vorzeitig verließen und damit einen gesamtständischen Abschied verhinderten (vgl. Rommel VII, S. 77–84, und Hollenberg II, S. 157, Anm. 258). Der Abschied wurde dann von Universität und Landschaft besiegelt (vgl. ‚Abschied mit der Universität und den Städten. Kassel 1622 März 5‘, in: ebd., S. 155–161); einen Monat später aber trat die Ritterschaft dem Abschied unter Bedingungen bei (vgl. ‚Erklärung der Ritterschaft. Hofgeismar 1622 März 27‘, in: ebd., S. 162–165, S. 164). Und bei dieser Gelegenheit stellten die Ritter auch noch einmal klar, dass derartige Separatabschiede nicht gültig seien: Es möge beim herkommen hinfuro gelasen, auch solche undt dergleichen absonderliche abschide inskunfftig zu machen, vil weniger zu ratificiren keinem theil verstattet werden (ebd.). Gegen die als refractarii oder auch halsstarrig verbliebenen von der Ritterschaft Bezeichneten wurde später ermittelt und sie wurden bis auf weiteres von den Landtagen ausgeschlossen. Hollenberg II, S. 156, Anm. 257, nach ‚StAM 17 I Nr. 1807 fol. 25‘. LTA 1621 März, S. 134; zum politischen Kontext vgl. Rommel VII, S. 67–73; zum Ort vgl. Brunner, Geschichte der Stadt Gudensberg und des Landgerichtes Maden.

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

lichen alten Gebrauch, wobei allerdings auch diese Behauptung eines Herkommens keine historische Basis hatte, denn Tagungen unter freiem Himmel waren in Hessen schon zur Mitte des 16. Jahrhunderts außer Übung gekommen und diese hatten, wenn überhaupt, am Spieß und nicht am rund 30 km entfernten Mader Holz stattgefunden, wo bisher nur Gericht gehalten worden war. 267 Eine Tagung auf dem Land und unter freiem Himmel brachte nun das Problem mit sich, dass – anders als in einer Stadt – die üblichen, sich über mehrere Tage hinziehenden Verhandlungen eigentlich nicht möglich waren, da die im Hinblick auf Unterbringung und Verpflegung notwendige Infrastruktur nicht vorhanden war. Dass die Wahl des Ortes eigentlich darauf zielte, die Verhandlungen abzukürzen, wurde von fürstlicher Seite auch gar nicht verhehlt; im Abschied heißt es, die Beschreibung sei zu desto schleuniger beförderung und expedition der sachen erfolgt. 268 Um dieses Ziel nun auch wirklich zu erreichen, griff man darüber hinaus noch zu einem weiteren Mittel: Die Proposition wurde von Oberst Asmus von Baumbach nur verlesen, den Ständen aber nicht wie üblich in Schriftform überreicht. 269 Noch bevor die Stände sich zu den Propositionspunkten inhaltlich äußerten, protestierten sie daher gegen die doppelte Veränderung des Landtagsverfahrens: So haben gedachte Landtstände sich hierauff mitteinander underredt undt in anttwortt underthenig vernemen lassen, daß sie dieser Sachen Beschaffen- undt Wichtigkeitt auch dem Herkommen nach hetten wünschen mögen, daß dieser Landt Communication Tagk an einem gelegenere undt geheimere Ortt wehre gehallten, die Proposition auch bemellten Landständen in Schriften zugestellt

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Vgl. Hollenberg, Einleitung I, S. 30f.: Der letzte Landtag am Spieß fand 1547 statt, vgl. LTA 1547 Juli. – Als es ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts im gelehrten Diskurs üblich wurde, die landständische Verfassung bis auf die germanische Frühzeit zurückzuführen, setzte sich auch die Vorstellung durch, Landtage seien bis ins 16. Jahrhundert prinzipiell unter freiem Himmel gehalten worden, weil sich über dieses Merkmal eine Kontinuität zu den Heeres- und Reichsversammlungen des frühen Mittelalters etablieren ließ. Vgl. für Hessen Estor, Fech, De comitiis et ordinibus Hassiae praesertim Cassellanae provincialibus Opusculum, Cap. XIII: De Loco Comitiorum Hassiacorum, S. 134–141, mit Verweis auf Buder, De Comitiis Provincialibus Olim Sub Dio Certoque Loco Habitis. So auch noch bei Rommel VII, S. 69, der meint, es handele sich um den „Sitz der ältesten Hessischen Gerichts- und Landtage, da wo einst die tapferen Chatten den siegreichen Legionen des Germanicus die Hütten und Güter ihres Hauptortes Preis gaben, ohne sich selbst zu unterwerfen“. LTA 1621 März, S. 134. Vgl. Rommel VII, S. 69f.: „Noch einmal verlangte er […] die Mitwirkung der Landstände zu einer stärkeren Besetzung der Landesfestungen.“

4.3 Die Verfassung in Zeiten des Krieges

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und die Sachen von Ihnen füglich- undt reiflicher hetten erwogen werden können undt mögen. 270

Waren alle bisher geschilderten Versuche des Landgrafen, die Verhandlungen abzukürzen, gescheitert, so wurde in diesem Fall zumindest ein Teilerfolg erzielt. Die Tagung wurde zwar verlegt und im nahe gelegenen Weimerhofe under der Carthause 271 weitergeführt, aber zumindest ließen sich die Stände auf eine mündliche Verhandlung ein – nicht allerdings, ohne sich ihr Recht auf ein schriftliches Verfahren zu reservieren. 272 Allerdings blieb auch das ein einmaliger Erfolg, denn schon im Dezember desselben Jahres verweigerten sich die Stände wieder erfolgreich einem rein mündlichen Verfahren, weil allein die Schriftform breuchlich sei. 273 Und auch ein weiterer Landtag auf offenem Feld im Sommer 1623 wurde in Kassel fortgesetzt, als sich die „erhoffe Abkürzung der Beratungen“ nicht einstellen wollte. 274 270

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‚Prothocoll gepflogener Handelunge des Lanttages, welcher den 28 Febuarii undt 1 Martii Anno 1621 uffem Drieste vorm Maderholze nich weitt von Gudenspergk sub dio gehalten worden‘, in: StAM 304 Nr. 437, unfoliiert, 7 S., S. 1f. Nach Hollenberg II, S. 135, Anm. 220, wurden die Verhandlungen in der Karthause, einem ehemaligen Kloster bei Felsberg weitergeführt, das zitierte Protokoll nennt aber den Weimerhof . Vgl. dazu Engelhard, Erdbeschreibung der Hessischen Lande Casselischen Antheiles, I, S. 416: „Der Mittelhof, ein herrschaftliches Vorwerk, welches unter der eben angeführten Karthause lieget, 1 Viertelstunde von der Eder, eine gute halbe Stunde von Felsberg. Winkelmann erwähnet, daß unter der Karthause einige dazu gehörige Höfe lägen, und nennet besonderst den Hof Weymenhausen, auch welchem ein Amtshaus oder Wohnhaus seye. Dieser Hof Wimmenhausen, wie er auch genannt wird, ist aber nicht bebauet, sondern zu dem Mittelhof gezogen.“ Der Landtag wurde also wohl in den Gebäuden des Mittelhofes fortgesetzt und nicht in der Karthause selbst. Diweil es aber doch vor dißmahl nicht anders sein können undt sie darneben der Hofnung geleben, es dießfalls umbsovielweniger zu einiger Consequentz gezogen werden könne, daß baide IFG. undt dem gantzen Landte hieran undt daß bei so gestallten Sachen wollbedachtsamb undt reiflich verfahren werde, zum Höchsten gelegen, zumaaßen sie sich dann deßwegen hiermitt underthenig bedingt haben. (‚Prothocoll gepflogener Handelunge des Lanttages, welcher den 28 Febuarii undt 1 Martii Anno 1621 uffem Drieste vorm Maderholze nich weitt von Gudenspergk sub dio gehalten worden‘, in: StAM 304 Nr. 437, unfoliiert, 7 S., S. 2. StAM 17 I Nr. 1800, fol. 54, zitiert nach Hollenberg II, S. 146, Anm. 245; vgl. auch die daraufhin schriftlich abgefasste Resolution der Anwesenden von Prälaten, Ritter- und Landschaft. Kassel 1621 Dez. 1, in: StAM 304 Nr. 436, unfoliiert, 4 S. Hollenberg, Einleitung II, S. 8. Nach der Abdankung Moritz’ wurden noch zwei Mal Landtage unter freiem Himmel abgehalten. Im Juni 1631 lud Wilhelm V. erneut zum Mader Holz (vgl. Ders. II, Nr. 74a, S. 307f.), worin ihm Wilhelm VI. im Dezember 1654 folgte (vgl. Ders. III, Nr. 9, S. 41–45, S. 41). In beiden Fällen wurden die Beratungen in Kassel fortgeführt. 1654 hieß es in der Ladung ausdrücklich, dies geschehe wie etwa in Vorjahren bey der gleichen Begebenheiten mehr geschehen (Kuchenbecker, Gegründete Abhandlung von denen Erb-Hof-Aemtern, S. 147).

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

Die bisher beschriebenen Maßnahmen nehmen sich jedoch vergleichsweise ‚harmlos‘ aus gegen ein Mittel, dessen Einsatz den Zeitraum der Verfahrenskämpfe gleichsam mit einem Paukenschlag einleitete: Als die Stände am 13. Januar 1621 in Kassel versammelt waren, eröffnete ihnen Oberst Asmus von Baumbach, der wieder als Vertreter des Landgrafen fungierte, daß Ihre F. G. nach beschehener Proposition der Anwesenden von I. F. G. Praelaten, Ritter- undt Landtschafft eines jeden Votum undt Meinung selbst anhören undt vernehmen wölle. Angesichts der Kriegssituation und der Wichtigkeit der Verhandlungsgegenstände sei ein solches Verfahren notwendig, denn nur so könne sich der Landgraf versichern, daß es ein einhelliger Schluß seie, auch sich niemandt enttschuldigen möchtte, alß seie enttweder solches seine Meinung nichtt gewesen oder daß er eß dahin nichtt verstanden habe. 275 Moritz wollte – in Gegenwart des Erbprinzen Wilhelm und aller anwesenden fürstlichen Räte – der Reihe nach jeden einzelnen Teilnehmer des Landtags individuell befragen; eine vollkommen neuartige Vorgehensweise, die den Verpflichtungscharakter des Landtagsabschiedes erhöhen sollte. 276 Die Stände nahmen diese Forderung zur Kenntnis, erklärten dann aber in einer Vorandtwortt, daß sie auß I. F. G. ausschreiben underth. verstanden, daß diße Zusamenkunfft ein Landtcommunicationtagk undt sey denselben biß dahero Hehrkommen sei, daß die Landtstände sich zusamen gesetzt, die Sach uberlegt, undt endtlich ein ieder sein Votum frei und willigk nach seinem besten Verstandt undt Vermögen außgesagt. 277

Die Stände griffen also erneut zu ihrer argumentativen ‚Allzweckwaffe‘ und wiesen die Forderung ab mit der Begründung, das Herkommen gebiete eine gesamtständische und keine individuelle Willensbildung. Baumbach erstattete dem Landgrafen über diese Verweigerung Bericht; dieser wollte jedoch nicht von seinem Vorhaben abstehen und trug daher dem Oberst auf, die Abstimmung in Gegenwart des Fürsten ein zweitens Mal einzufordern und darauf hinzuweisen, dass von Ihrer f.g. hierin anderst nichtts, alß deß gemeinen Vatterlandts auch des Evangelischen

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‚Vorandtwortt uff die proposition‘, in: StAD F 27 A Nr. 64/9, unfoliiert, 2 S., S. 1. Das geht hervor aus ‚Vortrag Aßmusen vonn Baumbach undt Burckhardt vonn Stockhaußen, wegen des, daß IFG selbst die Vota zu collegiren gemeinett, Am 13t. Januarii Ao 1621‘, in: StAM 304 Nr. 437, unfoliiert, 4 S., S. 2: in Gegenwarth Ihrer f.g. undt dero gelibten Herrn Sohnen, so dan dero darzu verordnetten Räthen, vom höchstenn bis zum niedrigsten. ‚Vorandtwortt uff die proposition‘, in: StAD F 27 A Nr. 64/9, unfoliiert, 2 S., S. 1.

4.3 Die Verfassung in Zeiten des Krieges

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Weßen Bestes undt im geringsten keine Schmelerunge oder Praejudiz einiges Herkommens hierin gesuchtt oder vermeinet worden. 278 Für den Fall aber, dass sich die Landstände weiterhin nicht dazu verstehen sollten, verlangte Moritz eine schriftliche, von jedem Teilnehmer namentlich unterschriebene Erklärung, in der die Weigerung dokumentiert werden sollte. Diese Forderung kam nun einer kaum verhüllten Drohung gleich, denn der Landgraf kündigte an, er wolle dieses Schriftstück seiner Posteritet hinterlassen, damit er sich desto beßer zuverwahren und zuerweißen hette, wie trewlich Ihr fg. es bey dießen gefehrlichen Zeitten mit dem allgemeinen Evangelischen Weßens undt dem gelibten Vatterlandt gemeinet. 279 Damit hatte er – indirekt, aber mehr als offensichtlich – schon im Voraus alle Landtagsteilnehmer, die auch weiterhin nicht in Anwesenheit des Landgrafen votieren wollten und daher die schriftliche Erklärung unterzeichnen mussten, unter den Verdacht der Untreue gestellt. Aber die Drohung verfehlte ihre Wirkung, denn die Landstände blieben bei ihrer Rechtsauffassung und legten noch am selben Tag die geforderte Erklärung vor – unterschrieben von allen prälatischen Landständen, 34 Rittern und 49 städtischen Standespersonen, die insgesamt 44 Städte vertraten. 280 Schon die Form dieser Erklärung macht deutlich, dass die Stände erkannt hatten, dass ihre Einheit auf dem Spiel stand: Moritz hatte gefordert, daß ein jeder insonderheitt dieße, seine gegebene Reso-

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‚Vortrag Aßmusen vonn Baumbach undt Burckhardt vonn Stockhaußen, wegen des, daß IFG selbst die Vota zu collegiren gemeinett, Am 13t. Januarii Ao 1621‘, in: StAM 304 Nr. 437, unfoliiert, 4 S., S. 2. Ebd., S. 2f. Vgl. ‚Erclerunge der Landtstände uff den Vortrag super Collectione Votorum‘, in: StAM 304 Nr. 437, unfoliiert, 7 S., und Hollenberg II, S. 130, Anm. 209. Von den Prälaten unterschrieben der Deutschordensvogt Georg Daniel von Habel, zwei Obervorsteher der adeligen Stifter (Hermann von der Malsburg, Carl Claur zu Wohra), zwei Deputierte der Universität (Christoph Deichmann, Johannes Goeddaeus) und der Obervorsteher der Hospitäler Heinrich Ludwig Scheffer. Von den 34 Rittern nehmen der Erbschenk, Hans Georg Schenk zu Schweinsberg, und der Erbküchenmeister, Hartmann von Löwenstein, eine Sonderstellung ein, da sie direkt nach dem Deutschordensvogt und vor den anderen Prälaten stehen. Es fehlt eigentlich nur der Erbmarschall Volprecht IV. Riedesel, der allerdings in landgräflichen Diensten stand und sich wohl deshalb nicht beteiligte. Diese Doppelfunktion als fürstlicher Geheimer Rat und ständischer Landtagsdirektor qua Erbmarschallsamt führte immer wieder zu Problemen; vgl. etwa Hollenberg II, S. 157, Anm. 258, zum Landtag vom März 1622: „Am 17. Febr. kam es zu einem Eklat. Ludwig v. Dörnberg beschwerte sich vor den Ständen und Räten, dass der Erbmarschall als Geheimer Rat beim Landgrafen und nicht bei den Rittern sei; sie hätten keinen Direktor und bräuchten einen anderen Erbmarschall.“

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

lution mit seinem bloßen Nahmen underschreibe; 281 wären die Stände dem nachgekommen, so hätte Moritz zwar auf die Abstimmung in seiner Anwesenheit verzichten müssen, hätte aber das damit letztlich verfolgte Ziel, nämlich: die Ständegesamtheit als starken kollektiven Akteur aufzuheben und auf die viel schwächeren individuellen Akteure zugreifen zu können, zumindest teilweise erreicht, weil die Weigerung dann einzelnen Personen hätte zugerechnet werden können. Die schließlich übergebene Resolution war aber trotz allem unterzeichnet von Ihrer fg. underthenige und getrewe Prälaten, Ritter- undt Landtschafft – erst danach folgte die Liste der Unterschriften. 282 Damit hatte man der fürstlichen Forderung nach Einzelunterschriften Genüge getan und ihr doch gleichzeitig die Spitze abgebrochen, denn die Beschwerde war nun korporationstheoretisch von der Ständegesamtheit eingelegt worden und die Anwesenden unterzeichneten also, allerdings ohne dass das thematisiert worden wäre, eher als Vertreter der Ständegesamtheit als für sich selbst, wie es in der Logik der landgräflichen Forderung gelegen hatte. Und wie in den meisten anderen Fällen zuvor kamen die Landstände mit ihrer Weigerung durch – sie mussten ihr Votum nicht in Anwesenheit des Landgrafen abgeben. Dennoch unternahm der Landgraf im März 1622 einen weiteren Versuch. Es handelte sich um den schon erwähnten Landkommunikationstag, zu dem man die Städte früher als Prälaten und Ritter geladen hatte. Nachdem diese Trennung der Kurien durch die Verzögerungstaktik der Städte gescheitert war, verlangte Moritz erneut, die Proposition in seiner Gegenwart zu beraten. 283 Und erwartungsgemäß baten die Landstände wieder darum, sie mit der begehrten uff Landtagen ungewönlicher Eröffnung eines jeden Voti in praesentia des Landtsfürsten und Rhäten, gnedig zuverschonen. Begründet wurde diese Bitte mit den bekannten Argumenten: Das Beratungsverfahren könne nicht den fürstlichen Wünschen gemäß eingerichtet werden, da einer solchen Änderung nicht nur ganz allgemein das Herkommen, sondern auch der konkrete Präzedenzfall des Vorjahres entgegenstehe; zudem seien die Anwesenden überhaupt nicht ausreichend 281

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‚Vortrag Aßmusen vonn Baumbach undt Burckhardt vonn Stockhaußen, wegen des, daß IFG selbst die Vota zu collegiren gemeinett, Am 13t. Januarii Ao 1621‘, in: StAM 304 Nr. 437, unfoliiert, 4 S., S. 2. ‚Erclerunge der Landtstände uff den Vortrag super Collectione Votorum‘, in: StAM 304 Nr. 437, unfoliiert, 7 S., S. 3. – Zur politischen Funktion von Unterschriften vgl. auch Luebke, Signatues and Political Culture in Eighteenth-Century Germany. Vgl. Rommel VII, S. 82f.; Hollenberg II, S. 156, Anm. 257, und Remonstration 1639, fol. 7r: den 18. Febr. den 24. Martii 622 da man auch in Gegenwarth Landgr Moritzen hochsel. fürstl. Gnd. oder dero geheimbten Räthen votiren undt die Proposition berathschlagen solten.

4.3 Die Verfassung in Zeiten des Krieges

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bevollmächtigt, sich auf ein solche, bey denen Landtagen ungewönliche forman votandi einzulassen. 284 Darüber hinaus sei die Präsenz des Fürsten, so wurde ‚sozialpsychologisch‘ argumentiert, dem Beratungsprozess im Grunde abträglich, da manniger, durch das Ansehen so hoher Personen leichtlich confudirt und erschrocken, seines Gemüts Meinung nicht, wie er gern wolte und solte, zu Tage thun kan. 285 Letzteres konnte aber nur für den Fürsten selbst geltend gemacht werden, weshalb man sich auf den Kompromiss einigte, wenigstens die fürstlichen Räte zu den Beratungen der Ständegesamtheit hinzuzuziehen – allerdings letztlich ohne Erfolg, denn der Landtag wurde durch den Auszug der ritterschaftlichen Mitglieder des interkurialen Ausschusses gesprengt. 286 Auch die dritte Strategie, die darin bestand, durch einseitig oktroyierte Veränderungen des Landtagsverfahrens die Entscheidungsfindung zu beschleunigen, war vollständig gescheitert: Die zeitlich getrennte Berufung der beiden Kurien und das Tagen unter freiem Himmel wurden zwar ausprobiert, hatten aber nicht den gewünschten Effekt; rein mündliche Verhandlungen und Beratungen in Anwesenheit des Fürsten ließen sich – außer in Ansätzen – gar nicht erst durchsetzen. Unter Verweis auf das Herkommen wurden alle diese Ansätze von den Ständen als Neuerungen diskreditiert und jeder Veränderung des gewohnheitsrechtlich fixierten Willensbildungsprozesses der Ständegesamtheit ein Riegel vorgeschoben.

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Vgl. ‚Resolutio der Landtstende uff den mündtl. undt schrifftlichen Vortrag. 12. t Februarii Ao 1622‘, in: StAM 73 Nr. 208, unfoliiert, 3 S., S. 2f.: sondern auch, daß sich Ihre Landtsfürsten und Herrn, sampt dero Landt jederzeit bey der gebreuchlichen Form und Maß, darin sie die Landtstende sich bißdahero gebraucht, wohl befinden; Inmaßen auch Ihr F. G. sie die Landtstende vorm Jahr, als sie in größerer Anzahl beysammen gewesen, darbey gnedig verbleiben laßen und Ihnen den iezo Anwesenden bey den Absentents unverantwortlich fallen würde, wan sie in diese Ihnen angemutete bißhero bey denen Landtagen ungewönliche formam votandi sich einlaßen würden. Ebd. Die Resolution wird auch – ohne Quellenangabe – zitiert bei Rommel VII, S. 78. Rommel VII, S. 78 meint: „Dennoch traten sie [die ständischen Deputierten, TN], nicht ohne Widerspruch der ritterschaftlichen Mitglieder, mit den fürstlichen Räthen in eine nähere Berahtschlagung, deren Inhalt man aus folgender Erwiderung des Landgrafen erkennt.“ Zusätzlich heißt es in einer ‚Fernere[n] Erklärung der Landstände vom 18. Febr. 1622‘, in: StAM 73 Nr. 208, unfoliiert, 3 S., S. 2, dass sich die Landstände nicht darauf einlassen könnten, die von hochgedachter IFG. angezogene Hilff oder andere in das Haubtwerck lauffende und dieses Landtages subjectum concernirende Puncten alß ein corpus von Praelaten, Ritter- und Landtschafft in consessu IFG Räthe denuo [zu] berathschlagen, darüber einen das ganze Corpus dieses Fürstenthumbs bindeten Schluß [zu] machen, [und] selbigen dem Abschiedt einverleiben [zu] lassen. Offensichtlich hatten sie also vorher mit den Räten zusammen beraten.

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4.3.3 Integration versus Autonomie: Die Verfahrenskämpfe im Kontext der Verfassungsgenese Die Ständegesamtheit hatte sich, so kann man festhalten, seit Januar 1621 allen drei fürstlichen Strategien, die darauf zielten, sie effektiver in die fürstliche Kriegspolitik zu integrieren, erfolgreich widersetzt: Die zeitund kostenintensiven Landkommunikationstage konnten weder durch engere Ausschusslandtage ersetzt, noch durch Kurienlandtage umgangen, noch durch Veränderung der Beratungsformen leichter handhabbar gemacht werden. Vollends offenbar wurde das Scheitern dieser Ständepolitik im Sommer 1623, als Moritz einen Landtagsabschied nicht einmal mehr dadurch erzwingen konnte, dass er den anwesenden Rittern ‚Mahl und Futter‘ entzog, sie in Kassel festsetzte und zudem noch Arrest und Schadensersatzforderungen androhte. 287 In dieser Situation, in der selbst massive Nötigung offenbar nichts bewirkte, machte der Landgraf eine Ankündigung wahr, die seit dem Beginn der Verfahrenskämpfe im Raum stand: Schon 1621 hatte Moritz den Ständen unmissverständlich erklärt, er werde, gleichsam als von ihnen desertirt, ein spontaneum exilium in die handt nehmen, wenn sie sich an seiner Politik der militärischen Stärkte nicht beteiligen würden. 288 Keine drei Jahre später war es dann soweit – am 9. Oktober 1623 verließ Moritz der Gelehrte für fast zwei Jahre das Land. 289

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Vgl. Hollenberg II, S. 188, Anm. 315, und Rommel VII, S. 555–557. Schon Anfang Mai war Tilly mit einer Armee in Hessen einmarschiert und hatte in Hersfeld sein Hauptquartier aufgeschlagen (vgl. Rommel S. 540f.). Im Juni verlegte er es nach Eschwege (ebd., S. 546). Schon zum Zeitpunkt des Einmarsches befand sich Moritz außer Landes: „Die Abwesenheit L. Moriz späterhin wohl absichtlich fortgesetzt, dauerte von Ende Aprils [sic!] bis in die Mitte Juni.“ (ebd., S. 541). Dass die Stände und die Räte sich diesem Einmarsch nicht widersetzt hatten, verschlechterte das fürstlich-ständische Verhältnis noch einmal dramatisch, vgl. ‚Copia Schreybens des durchleuchtigen undt hochgebornen Fürsten, Herrn Morizen von Gottes Gnaden, Landtgraffen zue Heßen, […] an deroselben zu Caßel hinterlaßene Obriste undt Räthe, darab der Zustandt des Landes zu Hessen, undt wannenhero sich derselbe entsponnen, undt veruhrsacht, genugsamb zu vernehmen, auch den gemeinen Evangelischen Sachen wohlgewogenen allerhandt nachdenkenß geben wardt, getruckt uf Ihrer F. G. selbst instendiges Begehren, im Jahr 1623‘, Abschrift in: StAM 73 Nr. 32, 7 S. StAM 17 I Nr. 1802, fol. 2, zitiert nach Hollenberg II, S. 135, Anm. 218. Vgl. Hollenberg II, S. 192, Anm. 312, und Rommel VII, S. 569f. Zuvor hatte er noch einen Regentschaftsrat ernannt, dem sein Sohn und späterer Nachfolger, Erbprinz Wilhelm, vorstand. Moritz reiste „zuerst zu den Fürsten von Anhalt, nach Dessau (dem Wohnort seiner Tochter Agnes) und Köthen, und nach Magdeburg zu dem nachher geächteten Administrator Christian Wilhelm von Brandenburg“ (ebd., S. 570) und kehrte im Juni 1625, also nach fast zwei Jahren, nach Hessen-Kassel zurück, vgl. ebd., S. 601.

4.3 Die Verfassung in Zeiten des Krieges

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Im selben Jahr ließ der Landgraf einen Brief an seine geheimen Räte im Druck erscheinen, aus dem der Zustandt des Landes zu Hessen, undt wannenhero sich derselbe entsponnen undt veruhrsacht, genugsamb zu vernehmen sei. Die Räte, so schrieb Moritz, hätten es versäumt, dem großen Unheil – gemeint ist der Einmarsch Tillys – nach bestem Vermägen wie Männer, und nicht wie Weyber entgegenzutreten. Und auch die Landstände seien keine Hilfe gewesen, in dem sie alle Mittel abgeschnitten und verweigert, sich auch mit Uns gehorsamblich und gebürlich nicht jungiren, noch vor einen Mann stehen wollen. 290 Sowohl der Gang ins Exil als auch die Veröffentlichung einer solchen Schmähschrift waren schon für sich genommen äußerst spektakuläre Verhaltensweisen und darüber hinaus auch deutliche Zeichen dafür, wie sehr das Vertrauensverhältnis zwischen dem Landgrafen und den politischen Eliten des Landes zerrüttet war. Diese beiden ungewöhnlichen und aus dem Rahmen fallenden Ereignisse lassen sich nun sicherlich größtenteils auf die vor allem von „Selbstherrlichkeit“ (V. Press) gekennzeichnete „problematische Persönlichkeit des Landgrafen“ 291 zurückführen. Aber lassen sich auf diese Weise auch die in diesem Kapitel geschilderten, gut zweijährigen Verfahrenskämpfe selbst begreifen, die ja überhaupt erst zu Exil und öffentlicher Schelte führten? Sind die mannigfaltigen Verstöße gegen das hergebrachte Landtagsverfahren also nur ein besonders markanter Ausdruck der „Unsicherheit, Gereiztheit und Schroffheit des Landgrafen“, die sich angesichts von Erbfolgestreit in Hessen und Krisenstimmung im Reich verstärkten? 292 Ohne den Einfluss persönlicher Faktoren leugnen zu wollen, scheint mir eine solche Deutung zu kurz zu greifen, denn sie schließt von vornherein die Frage aus, ob die vielen Vorstöße des Landgrafen von 1621 bis 1623

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Damit stellte sich das Problem des Zugangs zum Fürsten in radikaler Weise, vgl. dazu instruktiv Kaiser, Nähe und Distanz. ‚Copia Schreybens des durchleuchtigen undt hochgebornen Fürsten, Herrn Morizen von Gottes Gnaden, Landtgraffen zue Heßen, […] an deroselben zu Caßel hinterlaßene Obriste undt Räthe, darab der Zustandt des Landes zu Hessen, undt wannenhero sich derselbe entsponnen, undt veruhrsacht, genugsamb zu vernehmen, auch den gemeinen Evangelischen Sachen wohlgewogenen allerhandt nachdenkenß geben wardt, getruckt uf Ihrer F. G. selbst instendiges Begehren, im Jahr 1623‘, Abschrift in: StAM 73 Nr. 32, 7 S., S. 2 und S. 4. Menk, Die „Zweite Reformation“ in Hessen-Kassel, S. 157. Wolff, Moritz der Gelehrte, S. 138. – So sieht es letztlich Hollenberg, Einleitung II, S. 8f. und S. 14f., der die Verfahrenskämpfe vor allem mit der „ungezügelte[n] Einmischungslust“ und der Verfolgung „hochfliegende[r] politische[r] Ziele ohne politische Klugheit“ verbindet; Demandt, Die hessischen Landstände im Zeitalter des Frühabsolutismus, S. 46, führt den Konflikt zwischen Landgraf und Ständen ebenfalls darauf zurück, dass Moritz ein „eigenwilliger Fürst“ gewesen sei.

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

nicht doch mehr verbindet als die schlichte Tatsache, dass sie von einem „eigenwilligen Fürsten“ (K. E. Demandt) unternommen wurden. Löst man sich also davon, die Maßnahmen nur auf ihren Urheber zu beziehen, und vergleicht sie einmal im Hinblick auf ihr Ziel, dann zeigt sich eine weitere Gemeinsamkeit, die schon Francis Ludwig Carsten bemerkte: Alle Veränderungen, die Moritz vorschlug bzw. einforderte, liefen darauf hinaus „to avoid the rather cumbersome machinery of the diet“. 293 Wenn aber, wie auch schon eingangs erwähnt, die fürstliche Ständepolitik in diesen beiden Jahren stets darauf abzielte, den Landkommunikationstag zu vermeiden, dann ist zunächst nur eine negative Bestimmung gefunden, und es ist weiter zu fragen, ob die mit diesem Ziel verbundenen Maßnahmen darüber hinaus auch noch eine gemeinsame, positiv zu bestimmende Wirkung entfalteten. Carsten ging davon aus, dass der Landgraf und seine Berater in diesem Zeitraum einen „plan to create a permanent committee with powers to act on the Estate’s behalf“ 294 verfolgten. Diese Deutung erklärt zwar nun mehr als der einfache Rekurs auf die Persönlichkeit des Landgrafen, ist aber analytisch in zweifacher Hinsicht zu eng gefasst: Zum einen kann mit dem angegebenen Ziel („to create a permanent committee“) nur die erste Strategie erklärt werden, da die Einberufung von Kurienlandtagen und die Maßnahmen zur Veränderung des Beratungsverfahrens eindeutig nicht darauf zielten, einen Ausschusslandtag einzurichten. Und zum andern legt sich Carsten mit der Rede von einem „plan“ darauf fest, dass das gesamte Vorgehen von der fürstlichen Seite bewusst intendiert gewesen sei, und schließt damit von vornherein aus, dass ein allen Maßnahmen gemeinsamer Effekt sich auch auf habituell-vorbewusste Dispositionen zurückführen lassen oder sich sogar als ein gänzlich nicht-intendierter Folgeeffekt herausstellen könnte. 295

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Carsten, Princes and Parliaments in Germany, S. 174. Ebd. Dass Carsten zu der Überzeugung kam, dass Moritz’ Ständepolitik vornehmlich darauf zielte, einen Ausschusslandtag einzurichten, hängt vermutlich damit zusammen, dass er dem konstitutionellen Zweig der Ständeforschung zuzurechnen ist, genauer der Richtung, die das vormoderne Ständewesen als Frühparlamentarismus begreift. In diesem Kontext wurden Ausschüsse immer schon als tendenziell ‚moderne‘ Phänomene angesehen, weil sie auch einen elementaren Bestandteil moderner Parlamente darstellen. Vgl. dazu oben 2.1.1. Zur Abgrenzung von Intention und Disposition über den Habitusbegriff vgl. Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 92: „Der Habitus setzt sich aus Dispositionen zusammen“, und S. 91: „Bourdieu zufolge beruhen die meisten Handlungen nicht auf einer (bewussten) Intention, sondern auf einer (unbewussten) Disposition.“ Zu nichtintendierten Folgeffekten vgl. immer noch Merton, The Unanticipated Consequences of Purposive Social Action.

4.3 Die Verfassung in Zeiten des Krieges

267

Man muss also diese Engführungen einerseits vermeiden, andererseits aber an Carstens durchaus richtiger Einsicht festhalten, dass alle Maßnahmen der fürstlichen Seite auf die „rather cumbersome machinery of the diet“ bezogen waren. Verschiebt man nun die Perspektive ein wenig, so lässt sich ein Ausgangspunkt für eine umfassendere Deutung gewinnen: Als ‚schwerfällig‘ erscheint das Beratungs- und Entscheidungsverfahren des Landkommunikationstags ja vor allem deswegen, weil es seinen eigenen Regeln folgt; Regeln, die einem Zugriff von außerhalb der Institution, beispielsweise seitens des Fürsten, weitgehend entzogen sind und daher nicht ohne weiteres der jeweils aktuellen Situation angepasst werden können – und daher einen ‚unhandlichen Mechanismus‘ darstellen. Was Carsten also damit meint, ist nichts anderes als die Eigengesetzlichkeit, oder anders: die Autonomie des Landtagsverfahrens. Im Anschluss daran kann man nun – so die These – die Auseinandersetzungen der Jahre 1621 bis 1623 insgesamt analysieren als Konflikte um die Verfahrensautonomie des Landkommunikationstags. Und weil der Landkommunikationstag die landständische Zentralinstitution darstellt, geht es damit letztlich auch um die institutionelle Autonomie der landständischen Verfassung insgesamt. Nach Niklas Luhmann ist Verfahrensautonomie gegeben, „wenn und insoweit im Verfahren selbst die Gesichtspunkte erarbeitet werden, die das weitere Verhalten im Verfahren und vor allem das Ergebnis bestimmen“. 296 Diese Formulierung definiert Autonomie zunächst einmal sehr abstrakt als eine Art von Selbststeuerung: Verfahren können dann autonom genannt werden, wenn sie mindestens ihren Verlauf selbst strukturieren und regulieren. Ein solches Verfahren lässt sich also vielleicht ‚von außen‘ in Gang setzen, spätestens dann aber läuft es gemäß seinem eigenen Regelsystem ab und weist mithin eine konstitutive „Indifferenz gegenüber seiner Umwelt“ 297 auf. Das Zitat macht darüber hinaus deutlich, dass Verfahrensautonomie als graduelle Eigenschaft zu verstehen ist, die gesteigert oder auch vermindert werden kann. 298 Es lassen sich nun drei Dimensionen unterscheiden, in denen sich Autonomie typischerweise ausprägt und anhand derer man Institutionen im Hinblick auf ihren Grad an Verfahrensautonomie untersuchen kann. Konstitutiv für jede Dimension ist eine binäre Unterscheidung, wobei 296

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Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 69. Vgl. Sikora, Der Sinn des Verfahrens; Neu, Zeremonielle Verfahren; Stollberg-Rilinger, Einleitung, und zuletzt Stollberg-Rilinger, Krischer (Hg.), Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Luhmann, Soziale Systeme, S. 205. Vgl. Stollberg-Rilinger, Einleitung, S. 15–19; Sikora, Der Sinn des Verfahrens, S. 34; Neu, Zeremonielle Verfahren, S. 27.

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

ein Verfahren um so autonomer ist, je ausschließlicher die Handhabung der Unterscheidung innerhalb des Verfahrens selbst geschieht. 299 In der Sachdimension (Unterscheidung: dies/anderes) geht es – in grober Vereinfachung – um die Bestimmung von zu behandelnden Themen, in der Sozialdimension (Unterscheidung: ego/alter) um die Bestimmung der einzubeziehenden Teilnehmer und schließlich in der Zeitdimension (Unterscheidung: vorher/nacher) um die Bestimmung der benötigten Dauer. 300 Ein autonomes Verfahren erarbeitet also die für es entscheidende „Weltsicht“, 301 indem es nach seinen eigenen Regeln unter anderem festlegt, welche Themen von welchen Teilnehmern wie lange traktiert werden müssen, bis es zu einer Entscheidung kommen kann. 302 Es ist allerdings wichtig zu betonen, dass es kein notwendiger Bestandteil von Autonomie ist, dass die Regeln des Verfahrens im Verfahren selbst verfügbar sind; zumeist ist sogar das genaue Gegenteil der Fall, dass nämlich die Regel299

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Das Folgende in drastischer Vereinfachung nach Luhmann, Soziale Systeme, S. 111–122, Ders., Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 59–73, und Ders., Legitimation durch Verfahren, S. 70–72. Vgl. Stollberg-Rilinger, Einleitung, S. 15–17, die vier Kriterien für Verfahrensautonomie aufstellt: „Erstens: Das Verfahren muß als solches zunächst einmal aus der Umwelt in Raum und Zeit herausgehoben sein, um überhaupt als solches gelten und wahrgenommen werden zu können.“ (ebd., S. 15); „Zweitens: Verfahrensautonomie setzt eine klare Definition des Teilnehmerkreises voraus, d. h. die genaue Formulierung der Kriterien für das Recht bzw. die Pflicht zur Teilnahme.“ (ebd., S. 16); „Drittens: Verfahrensautonomie setzt die Existenz spezifischer Verfahrensrollen voraus.“ (ebd.); „Viertens: Verfahrensautonomie setzt vor allem voraus, daß gesetzte oder vereinbarte Regeln der Entscheidungsbildung innerhalb des Verfahrens Vorrang haben vor Einflüssen von außen und daß das Verfahren selbst steuern kann, was es thematisiert und was nicht“ (ebd.). Die Sachdimension ist im vierten Punkt enthalten, wird aber mit einer Definition der Autonomie vermengt; die Zeitdimension ist im ersten Punkt angesprochen und die Sozialdimension in den Punkten zwei und drei. Die Bestimmung der Teilnehmer wird hier in zwei Teilschritte auseinandergezogen: Zunächst wird (in Punkt 2) die Gruppe der Teilnehmer bestimmt und dann wird jedem einzelnen eine Verfahrensrolle (Punkt 3) zugewiesen. Diese (wichtige) Binnenunterscheidung wird im Haupttext nicht übernommen, um die Bedeutung der drei Dimensionen herauszustellen, die sich ebenfalls weiter untergliedern ließen. – Die mit der Zuweisung von Verfahrensrollen verbundene „Rollentrennung zwischen dem Verfahren und seiner Umwelt, das heißt eine Ausdifferenzierung des Verfahrens aus der Gesellschaft auf der Ebene der Rollen“ (Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 48), also das Problem, dass sich Verfahrensrolle und politisch-soziale Rangposition einzelner Personen unterscheiden können, muss hier zunächst zurückgestellt werden. Dieses Problem zeigte sich etwa im März 1622, weil – so die Beschwerde der Stände – „der Erbmarschall als Geheimer Rat beim Landgrafen und nicht [als Erbmarschall, TN] bei den Rittern sei“ (Hollenberg II, S. 157, Anm. 258); vgl. zum Problem der Rollentrennung Neu, Zeremonielle Verfahren, S. 27f. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 41. Vgl. ebd., S. 70: „Jede Selektion ist Ausübung von Autonomie.“

4.3 Die Verfassung in Zeiten des Krieges

269

struktur „in den Prozessen, die sie strukturiert, nicht in Frage gestellt oder gar geändert werden kann“. 303 Wendet man sich nun mit diesen Kategorien zurück auf den Landkommunikationstag, wie er sich bis etwa 1620 entwickelte, so zeigt sich, dass die institutionelle Verfahrensautonomie in den einzelnen Dimensionen sehr unterschiedlich ausgeprägt war. In der Sachdimension etwa kann von Autonomie kaum gesprochen werden, denn über die zu behandelnden Themen wurde fast vollständig vor Beginn des Landtagsverfahrens abschließend entschieden – und zwar vom Fürsten und seinen Beratern. 304 Mit der Verlesung der fürstlichen Proposition, deren Formulierung neben der Berufung des Landtags zu den landesherrlichen Vorrechten gehörte, wurde das Landtagsverfahren autoritativ auf die Behandlung dieser – und im Prinzip: nur dieser – Themen festgelegt. 305 Allenfalls über die Einbringung von Gravamina konnte von ständischer Seite in sachlicher Hinsicht Einfluss ausgeübt werden, wobei die ständischen Beschwerden jedoch immer nachrangig behandelt wurden und es den Ständen darüber hinaus nie gelang, die Behandlung der Propositionspunkte von der Abstellung der Gravamina abhängig zu machen. 306 In den anderen beiden Dimensionen lässt sich hingegen ein deutlich höherer Grad an Autonomie feststellen. Für die Sozialdimension, also im

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Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 146. Institutionen, die dazu in der Lage sind, ihre eigene Regelstruktur vollumfänglich zu verändern, verfügen über ‚Kompetenz-Kompetenz‘. Diese wird in der Moderne vom souveränen Staat für sich reklamiert, vgl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 483: „Souveräne Gewalt ist demnach nicht staatliche Allmacht. Sie ist rechtliche Macht und daher durch das Recht gebunden. Sie duldet allerdings keine absoluten rechtlichen Schranken. Der Staat kann sich jeder selbstgesetzten Schranke entledigen, aber nur in den Formen des Rechts und neue Schranken schaffend.“ Der Landesherr ist dann auch Teilnehmer des Landtags, aber die Entscheidung über die behandelnden Themen wird vor Beginn des eigentlichen Landtagsverfahrens getroffen. Vgl. etwa den engeren Landkommunikationstag von 1621: Moritz hatte seinen Räten ausdrücklich geboten, die Frage der Tranksteuerbewilligung nicht in die Proposition aufzunehmen, sondern nur informell anzusprechen. In der Schlusserklärung aber bezogen die Landstände auch zu dieser Frage Stellung, was Moritz mit der folgenden Randglosse kommentierte: Dieser punct hatt in unser proposition nicht gestanden, begehren ihn derowegen nicht zue beantworten, sondern wollen daran gedencken, was unß vor ein schimpff deswegen begegentt (‚Schlusserklärung der Landstände mit Randglossen des Landgrafen. Kassel 1621 Okt. 30‘, in: Hollenberg II, S. 143f., S. 144). Vgl. Carsten, Princes and Parliaments in Germany, S. 172, der dies aus einer auf die Genese des modernen Parlamentarismus ausgerichteten Perspektive ausdrücklich beklagt: „The Hessian Estates never learnt to wield the weapon of grievances before supply.“ Gleichwohl stehen die fürstlichen Forderungen und die ständischen Beschwerden in einem engen Zusammenhang.

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

Hinblick auf den Teilnehmerkreis, hing die gesteigerte Autonomie mit der Bedeutung der Ständegesamtheit zusammen. Als repräsentativ bzw. als kollektiv verbindlich galten die Abschiede der Landkommunikationstage ja nur, weil und insofern sie von der Ständegesamtheit, dem corpus der Landstände verabschiedet wurden. Um die Ständegesamtheit aber als kollektiven Akteur zu konstituieren, mussten nach zeitgenössischem Verständnis im Prinzip alle prälatischen, ritterschaftlichen und städtischen Landstände geladen werden, musste die Ständegesamtheit also in corpore zusammentreten, da es keine andere Institution gab, die in ihrem Namen handeln konnte, etwa einen Ausschuss oder dergleichen. Aber nicht nur über den Teilnehmerkreis, sondern auch über die Dauer des Landtagsverfahrens wurde vornehmlich nach verfahrensinternen Regeln entschieden. Das schriftliche Re- und Korrelationsverfahren ermöglichte es nämlich, „Input und Output zeitlich [zu] trennen“ 307, was die Autonomie des Landkommunikationstags im Hinblick die Zeitdimension beträchtlich erhöhte. Dazu führte erstens schon allein die Schriftform, denn der Text der ständischen Erklärungen wie auch der fürstlichen Resolutionen musste zunächst entworfen, dann beraten, gegebenenfalls geändert und schließlich kopiert werden, bevor er der jeweils anderen Seite zugestellt werden konnte. Und zweitens besaß diese Verhandlungsform keine inhärente zeitliche Begrenzung, denn im Prinzip war es zu jedem Zeitpunkt möglich, durch die Abgabe einer neuen Erklärung eine weitere Verhandlungsrunde einzuleiten – für 1621 etwa findet sich sogar eine Octuplica der Landtstände. 308 Das Verfahren des Landkommunikationstags war also hinsichtlich der Themen vom Fürsten vorstrukturiert, verfügte aber um 1620 in sozialer und zeitlicher Hinsicht dennoch über eine nicht unbeträchtliche Autonomie. 309 Bezieht man nun auch die Ereignisse der Jahre 1621 bis 1623 in die verfahrenstheoretische Betrachtung mit ein, so erkennt man, dass letztlich alle von Landgraf Moritz in diesem Zeitraum angewendeten Maßnahmen – trotz ihrer Unterschiedlichkeit – darauf hinausliefen, die Autonomie des Landtagsverfahrens zu senken oder sogar vollständig aufzuheben.

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Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 70. StAD F 27 A Nr. 64/9, unfoliiert, 2 S. Es handelt sich zwar sowohl in der Sozial- als auch in der Sachdimension um Autonomie, aber ist sie doch in beiden Fällen sehr unterschiedlich geartet: Die in sozialer Hinsicht notwendige Berufung der Ständegesamtheit ist ein ‚starrer‘, das Re- und Korrelationsverfahren hingegen ein ‚flexibler‘ Mechanismus. Ersterer stellt einen bestimmten Teilnehmerkreis auf Dauer und entzieht ihn sowohl Eingriffen von außen als auch von innen, während letzterer auch tatsächlich Handlungsoptionen bereitstellt, mit denen das Verfahren aktiv gestaltet werden kann.

4.3 Die Verfassung in Zeiten des Krieges

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Die ersten beiden Strategien richteten sich dabei insbesondere gegen die Autonomie in der Sozialdimension: Das Experimentieren mit engeren Landtagsformen und die damit einhergehenden Versuche, die Ständegesamtheit durch einen Ausschuss zu ersetzen, hätten – so sie erfolgreich gewesen wären – dazu geführt, dass die Bestimmung des Teilnehmerkreises weitgehend aus dem (fürstlich-ständischen) Landtagsverfahren hinaus in die alleinige Zuständigkeit des Landgrafen verlagert worden wäre. Aus einem ‚starren‘, vom Verfahren vorgegebenen Einladungsreglement im Hinblick auf den Zusammentritt der Ständegesamtheit wäre eine flexible, vom Landesherrn je nach Situation gehandhabte Einladungspraxis geworden. Es sei dahingestellt, ob sich mit einer solchen Veränderung die politisch-militärischen Probleme, mit denen das Gemeinwesen unbestreitbar konfrontiert war, leichter hätten lösen lassen – zu einer Minderung der Autonomie des Landtagsverfahrens wäre es aber in jedem Fall gekommen. 310 Der Rückgriff auf die Form der Kurienlandtage, die zweite Strategie, hätte im Erfolgsfall eine ähnliche Wirkung gehabt. Die Genese der landständischen Verfassung seit dem Ende des 16. Jahrhunderts beinhaltete, wie gezeigt, eine normative wie faktische Zentrierung auf die korporativ verfasste Ständegesamtheit, weshalb sich ein gewohnheitsrechtlich bestimmter Teilnehmerkreis vor allem für diejenigen Landtagsverfahren verfestigte, in deren Rahmen diese Ständegesamtheit agierte. Für Städteund Ritterlandtage hingegen, die parallel zum Aufstieg der allgemeinen Land- und Landkommunikationstage ohnehin schon eine Delegitimierung erfahren hatten, waren auch die Regeln bezüglich der Frage, wer zu diesen Ständeversammlungen eigentlich zu laden sei, wesentlich weniger klar bestimmt und daher die von ihnen abhängige Verfahrensautonomie in der Sozialdimension deutlich geringer. Anders als bei der ersten Strategie lief die Reaktivierung der Kurienlandtage also nicht darauf hinaus, die Verfahrensautonomie des Landkommunikationstags direkt zu senken, sondern darauf, sie durch den Rückgriff auf weniger autonome Verfahrensformen zu umgehen. Allerdings war die Minderung der Autonomie in der Sozialdimension kein Selbstzweck, denn Ersetzung und Umgehung der Ständegesamt-

310

Anders wäre es nur gewesen, wenn das Ziel gewesen wäre, ‚echte‘ Ausschusslandtage einzuführen, also Versammlungen von Deputierten, die von den Ständen selbst nach feststehenden Verfahren bestimmt werden. Die Einrichtung solcher Verfahren hätte die Autonomie des Landtagsverfahrens sogar steigern können, wie sich nach 1655 zeigte, als auf eine solche Lösung zurückgegriffen wurde; vgl. Neu, Sitzen, Sprechen und Votieren. Moritz aber strebte allem Anschein nach an, in jedem Fall selbst entscheiden zu können, wer zu laden sei.

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

heit sollten vor allem die kollektiv verbindliche Entscheidungsfindung im Interesse des Landgrafen beschleunigen – und zielten damit letztendlich auf die Zeitdimension. Hierin besteht die grundlegende Gemeinsamkeit aller drei Strategien, allerdings mit dem wichtigen Unterschied, dass die ersten beiden Strategien die Zeitordnung des Verfahrens nur indirekt über den Umweg der Sozialdimension beeinflussen sollten, während die Maßnahmen der dritten Strategie die mittels der spezifischen Verhandlungsform erzeugte „Eigenzeit“ des Landkommunikationstags direkt angriffen. 311 Das geschah auf zwei verschiedene Weisen. Zum einen wurde versucht, das Re- und Korrelationsverfahren, dem im Prinzip keine zeitliche Begrenzung eingeschrieben war, dadurch unter Zeitdruck zu setzen, dass die notwendigen Umweltbedingungen, von denen diese Beratungsform abhängig war, zu ihren Ungunsten verändert wurden. 312 Zu diesen Bedingungen gehörte beispielsweise das Vorhandensein infrastruktureller Verhältnisse, die eine ausreichende Unterbringung und Verpflegung der Teilnehmer für die Zeit der Beratungen sicherstellen konnten; eine Bedingung, die durch das Tagen unter freiem Himmel massiv eingeschränkt wurde. Weiterhin setzte ein über mehrere Tage laufendes Reund Korrelationsverfahren voraus, die im Laufe der Beratungen aufgebaute inhaltliche Komplexität auch effektiv handhaben zu können, was im Regelfall durch den Einsatz von Schriftlichkeit gewährleistet und von Moritz durch die Einforderung mündlicher Verhandlungsformen gerade verhindert werden sollte. Der Wegfall der entsprechenden Voraussetzungen, so die objektive Handlungslogik, hätte die Dauer der Beratungen präjudiziert und damit die Verfahrensautonomie erheblich gesenkt. Eine zweite, radikalere Gruppe von Maßnahmen setzte zum anderen unmittelbar am Re- und Korrelationsverfahren an, dem Träger der zeitbezogenen Autonomie. Der Versuch etwa, die Beratungen schon vor dem Eintreffen der Ritter allein mit der Landschaft zu beginnen, hätte den Verhandlungsspielraum der Ständegesamtheit beschnitten, weil es zu Vorfestlegungen auf Seiten der Städte hätte kommen können. Die Abstimmung in Gegenwart des Fürsten schließlich, die wohl radikalste Forderung des Landgrafen, hätte das übliche Re- und Korrelationsver311 312

Rehberg, Die stabilisierende ‚Fiktionalität‘ von Präsenz und Dauer, S. 400f., und als Fallstudie Ullmann, Geschichte auf der langen Bank, S. 223–261. Man machte sich, mit Luhmann gesprochen, zunutze, dass auch – und gerade – autonome soziale Systeme, wie Verfahren, nicht autark sind: „Der Begriff der Autonomie bezieht sich dagegen auf die Steuerung dieser Austauschprozesse durch systemeigene Strukturen und Prozesse, setzt also gerade voraus, daß das System nicht autark ist. Auch starke Abhängigkeit eines Systems von Leistungen seiner Umwelt schließt Autonomie nicht aus“ (Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 69).

4.3 Die Verfassung in Zeiten des Krieges

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fahren gleich vollständig überflüssig gemacht, weil die Ständegesamtheit auf diese Weise faktisch aufgelöst und damit als Verfasser von Erklärungen und Empfänger der fürstlichen Resolutionen ausgefallen wäre. An die Stelle des gesamtständischen und weitgehend nach außen abgeschirmten Willensbildungsprozesses, der zur Konstituierung eines solchen kollektiven Akteurs notwendig war, wäre eine Art ‚Verhör‘ der einzelnen Landtagsteilnehmer getreten, das dem Fürsten zwar Meinungen und Informationen offenbart, aber zur Bildung eines Gesamtwillens vollkommen ungeeignet gewesen wäre. Und da das schriftliche Re- und Korrelationsverfahren den entscheidenden institutionellen Mechanismus darstellte, der die Dauer und damit die ‚Eigenzeit‘ eines jeden Landkommunikationstags regulierte, hätte seine Störung oder gar Abschaffung unmittelbar die institutionelle Autonomie gesenkt oder eben aufgehoben. 313 Im Hinblick auf die ‚bitteren Konflikte‘ (Hollenberg) in den Jahren von 1621 bis 1623, vom ersten Auftauchen potentiell feindlicher Heere an den Grenzen der Landgrafschaft bis zum Beginn des Exils, lässt sich also Folgendes festhalten: Ausgelöst wurden die Konflikte zwar durch die einander diametral entgegenstehenden politischen Ziele von Landgraf einerseits und Ständen andererseits; ihre strukturelle Ursache aber und der Grund für die besondere Heftigkeit ist in einem ebenso fundamentalen Dissens über den Grad an notwendiger und rechtmäßiger Autonomie des Landkommunikationstags und damit der noch jungen landständischen Verfassung als ganzer zu suchen. Und die vielfältigen Maßnahmen zur Veränderung der Verhandlungsformen gewannen zwar durch die persönliche Schroffheit und Ungeduld des Landgrafen an Schärfe, müssen jedoch, und zwar weil sie alle einen potentiell autonomiesenkenden Effekt hatten oder gehabt hätten, insgesamt als Elemente einer kontinuierlichen Auseinandersetzung um die Verfahrensautonomie des Landkommunikationstags verstanden werden.

313

Um nicht missverstanden zu werden: Verfahrensautonomie sollte weder als Selbstzweck noch als eine immer schon ‚fortschrittliche‘ Eigenschaft von institutionellen Ordnungen begriffen werden. In einer konstitutionell-parlamentarischen Perspektive etwa weist die Autonomie des Landtagsverfahrens voraus auf die Gewaltenteilung. In einer etatistischen Perspektive hingegen könnte man dasselbe Phänomen auch als ‚Dienst nach Vorschrift‘, als rückwärtsgewandte Verweigerung politisch notwendiger Anpassungsleistungen wahrnehmen; vgl. etwa Ortmann, Organisation und Welterschließung, S. 140: „Die situationsgerechte (Um-)Interpretation von Regeln erst stiftet die Möglichkeit zur erforderlichen Flexibilität. Auch diese Einsicht ist der Organisationsforschung seit langem geläufig. Dass Dienst nach Vorschrift eine Streikform ist, wurde unzählige Male zitiert.“ – Für die vorliegende Arbeit ist Autonomie hingegen als Beschreibungskategorie interessant, die es erlaubt, die Geschehnisse der Jahre 1621 bis 1623 auf einen analytischen Nenner zu bringen.

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

Durch die Heranziehung einer verfahrenstheoretischen Beschreibungskategorie werden die auf den ersten Blick unübersichtlichen Geschehnisse der Jahre 1621 bis 1623 also lesbar als ein strukturell bedingter Konflikt um die Autonomie des Landtagsverfahrens. Dieses Ergebnis hilft zunächst einmal, die hessische Geschichte im untersuchten Zeitraum besser zu verstehen. Darüber hinaus lassen sich aus der verfahrenstheoretischen Analyse aber auch Erkenntnisse für die übergreifende Frage nach der Genese der landständischen Verfassung gewinnen. Möglich wird das, weil ‚Verfahrensautonomie‘ nicht nur eine heuristisch fruchtbare Kategorie zur Aufbereitung von Empirie darstellt, sondern auch als Indikator genutzt werden kann, wie Barbara StollbergRilinger herausgestellt hat: „Verfahrensautonomie kann […] als Gradmesser für die kollektive Handlungsfähigkeit und Integration eines ‚politischen Körpers‘ […] aufgefaßt werden.“ 314 Zieht man nun in Betracht, dass Landgraf Moritz mit fast allen seinen Maßnahmen zur Senkung der Verfahrensautonomie des Landkommunikationstags am Widerstand der Stände gescheitert ist und dass es sich beim Landkommunikationstag um die Zentralinstitution der landständischen Verfassung handelt, dann lassen sich folgende Ergebnisse formulieren. Im Hinblick auf den Entstehungsprozess in der politischen Praxis bestätigen die Verfahrenskämpfe das bisher erarbeitete Ergebnis, also die Entstehung einer landständischen Verfassungsordnung im ‚Jahrzehnt der institutionellen Verfestigung‘. Dass sich Landgraf Moritz überhaupt genötigt sah, eine grundlegende Veränderung des bisher unstrittigen Landtagsverfahrens in Angriff zu nehmen, muss verstanden werden als implizite Anerkennung der Tatsache, dass die Landstände inzwischen – als Folge der fortschreitenden Institutionalisierung einer landständischen Verfassung – über ein Maß an kollektiver Handlungsfähigkeit verfügten, das eine weitergehende Integration in den fürstlichen Regierungsapparat verhinderte. Noch aussagekräftiger aber ist, dass der Landgraf mit seinen Forderungen fast vollständig scheiterte. An diesem Ausgang der Verfahrenskämpfe zeigt sich, dass die landständische Verfassungsordnung, die seit dem Ausbruch des Marburger Erbfolgestreits von Landesherr und Ständen im gegenseitigen Konsens – und gedeckt von institutionalisierter Heuchelei auf normativer Ebene – eingerichtet und ausgebaut worden war, offenbar einen Grad von objektiver Gegenständlichkeit erreicht hatte, der nicht nur verhinderte, dass sie im Konfliktfall sofort zerbrach, 314

Stollberg-Rilinger, Einleitung, S. 19. Ausgelassen wurde hier eine zweite Indikatorfunktion: Verfahrensautonomie könne auch „als Indiz für die Ausdifferenzierung des politischen Systems innerhalb einer Gesellschaft aufgefaßt werden“ (ebd.).

4.3 Die Verfassung in Zeiten des Krieges

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sondern wohl auch entscheidend für den Erfolg des ständischen Widerstandes war. 315 Hätten die fürstlich-ständischen Beziehungen nur, um noch einmal die Unterscheidung von Peter Moraw aufzugreifen, ‚politischen‘ Charakter gehabt, wären also nur an den gegebenen Machtverhältnissen orientiert gewesen, so hätten sich in den Verfahrenskämpfen einfach Landesherr und die einzelnen Stände des Landes gegenübergestanden. Da diese Beziehungen aber inzwischen zu großen Teilen ‚verfasst‘, das heißt objektiviert und verselbständigt waren, musste Moritz sich gegen den ganzen personell-institutionellen Komplex von Landständen und Verfassungsordnung durchsetzen, gegen die inzwischen existierende korporativ verfasste Ständegesamtheit. Des weiteren zeigen die Verfahrenskämpfe die bisher erreichte institutionelle Verselbständigung nicht nur an, sondern verstärkten sie noch: Konflikte führen nämlich fast zwangsläufig zu einer „scharfen[n] strukturelle[n] Reduktion auf eine Zweiergemeinschaft“; diese Gegnerschaft wiederum hat regelmäßig „Solidarisierungen innerhalb der streitenden Parteien“ zur Folge. 316 Tatsächlich zeigte sich, dass die Landstände allen Vorstößen des Landgrafen gemeinsam widerstanden und sich nicht gegeneinander ausspielen ließen, sondern immer wieder auf einen gesamtständischen Landkommunikationstag verwiesen. Und ein solcher Solidaritätseffekt stärkte die Ständegesamtheit weiter, da deren Handlungsfähigkeit als kollektiver Akteur unmittelbar von der Solidarität der einzelnen Landstände abhing. 317 Die bisherigen Ergebnisse betrafen die faktischen Regelmäßigkeiten der politischen Praxis; aber auch für die normative Ebene sind die Verfahrenskämpfe von Belang, denn die Stände verweigerten sich den fürstlichen Ansinnen nicht wortlos, sondern sie argumentierten und führten Gründe für ihre Haltung an. Institutionentheoretisch formuliert, lehn315

316 317

Zum Prozess der Objektivation oder Vergegenständlichung als Kern von Institutionalisierung vgl. Berger, Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 64–66, insbesondere S. 64: „Die institutionale Welt ist vergegenständlichte menschliche Tätigkeit, und jede einzelne Institution ist dies ebenso.“ Gehlen, Urmensch und Spätkultur, S. 18, spricht im selben Zusammenhang von „Verselbständigung“: „Alle Institutionen […] haben heute so wie stets einen direkten Erfüllungswert für menschliche Primärbedürfnisse, aber sie verselbständigen sich gegenüber dem Menschen und man handelt von ihnen her, im Sinne ihrer Erhaltung, ihrer Eigenforderungen, ihrer Gesetze.“ Luhmann, Soziale Systeme, S. 534 und S. 533; vgl. auch Luhmann, Konflikt und Recht. An diesem Konflikt lässt sich auch zeigen, wie eines der Kernprobleme der Ständeforschung, der fürstlich-ständische Dualismus, methodisch handhabbar zu machen ist; vgl. 6.2.1

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4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

ten sie eine Änderung der faktischen Verfahrensregeln ab, indem sie die Regeln explizierten und normativ interpretierten: Jedes Mal, wenn Moritz eine Veränderung forderte, wie etwa das Votieren in seiner Gegenwart, wurde die bisher geübte Praxis, in diesem Fall der geheime landständische Willensbildungsprozess, verschriftlicht, als normativ verbindliches Herkommen dargestellt und der fürstlichen Forderung entgegengehalten. Dass aber die Stände in den geschilderten Auseinandersetzungen fast schon ‚reflexartig‘ zu diesem Mittel griffen, erscheint angesichts der Vorgeschichte der Landkommunikationstage zunächst alles andere als selbstverständlich. Zur Zeit der Verfahrenskämpfe lag ja die ‚Erfindung‘ dieser Landtagsform nicht einmal eine Generation zurück – teilweise wurden die Ständeversammlungen sogar noch von denselben Personen besucht. 318 Und es ist daran zu erinnern, dass der Landkommunikationstag zunächst als illegitim galt, nur unter dem Deckmantel des ‚heuchlerischen‘ Festhaltens an der hergebrachten gesamthessischen Verfasstheit des Landtags verstetigt werden konnte und erst allmählich, aber gerade nicht mit gewohnheitsrechtlichen Argumenten, normativ aufgewertet wurde. 319 Keine zwanzig Jahre später aber wurden seit 1621 ganz im Gegenteil alle möglichen Verfahrensaspekte des Landkommunikationstags von den Ständen erfolgreich als verbindliches ‚Herkommen‘ geltend gemacht, woraus zu schließen ist, dass die landständische Verfassung jetzt auch im normativen Register weitgehend verwirklicht war – nachdem sie in der Praxis schon länger Bestand gehabt hatte. 320 Ebenso wie die Verfahrenskämpfe in der Praxis die Handlungsfähigkeit der Ständegesamtheit stärkten, so sind sie auch in normativer Hinsicht nicht nur ein Gradmesser, sondern wirkten auch als ein Faktor, der die Verankerung der landständischen Verfassung in den Erwartungsstrukturen vertiefte: Wie schon mehrfach erwähnt, lässt sich der Rückgriff auf das Herkommensargument in vielen Fällen eher auf eine (vom kommunika318

319 320

Einige Beispiele sollen genügen: Den faktisch ersten Landkommunikationstag von 1609 besuchte etwa der Obervorsteher Hermann von der Malsburg, der auch im Januar 1621 anwesend war, als Moritz das Votieren in seiner Gegenwart forderte. Gleiches gilt für die Universitätsdeputierten Dr. Johannes Goeddaeus und Dr. Christoph Deichmann (vgl. LTA 1609 Aug., S. 41, und LTA 1621 Jan., S. 133). Vgl. oben 4.2.2. Hier liegt also die Konstellation vor, dass die Norm weitgehend aus der Praxis erwächst. Beim ersten massiven Einsatz des Herkommensarguments, während der normativen Zentrierung seit den 1590 Jahren, war es hingegen genau umgekehrt: Die Stände behaupteten, die Berufung der gesamthessischen und gesamtständischen Landtage sei in allen wichtigen Landesangelegenheiten dem Herkommen gemäß. Tatsächlich aber entsprach diesem Anspruch keine institutionelle Praxis; erst später, bei der ‚Erfindung‘ der Landrettungssteuer in Analogie zu den Reichssteuern, fand der Anspruch eine praktische Umsetzung. Vgl. zu dem hier vorliegenden Fall daher oben 4.1.

4.3 Die Verfassung in Zeiten des Krieges

277

tiven Gedächtnis gestützte) normative Überzeugung zurückführen, dass ein Anspruch zu Recht bestehe, als auf (im kulturellen Gedächtnis gespeichertes) sicheres Wissen um die tatsächliche Observanz. 321 Daher kann es nicht verwundern, dass das Vorliegen eines Herkommens oftmals nur pauschal behauptet und nicht auch bewiesen werden musste – was aber zumindest bis zur Zeit der Verfahrenskämpfe offenbar kein gravierendes Problem darstellte. 322 In diesem Kontext aber befestigten die vielen gescheiterten Vorstöße des Landgrafen den normativen Status der landständischen Verfassung zumindest potentiell, denn jede gescheiterte Verfahrensänderung ging als Präzedenzfall für die Geltung des bisherigen Landtagsverfahrens in das kommunikative Gedächtnis ein. Und dadurch wurde es möglich, den pauschalen Verweis auf das Herkommen durch die Anführung konkreter Präzedenzfälle zu ergänzen und dem eigenen Argument noch mehr Nachdruck zu verleihen. 323 Dass es einen Zusammenhang zwischen dem Ausgang der Verfahrenskämpfe und dem Exil des Landgrafen gab, hat dieser selbst so gesehen und den Ständen sein exilium angedroht, falls er sich von ihnen desertirt sehen würde. 324 Was Moritz dann in der Tat als Desertion empfand, nämlich das Verhalten der Stände in der Zeit der Verfahrenskämpfe, erscheint aus ständehistorischer Perspektive allerdings als Beleg dafür, dass die Genese der landständischen Verfassung in Hessen-Kassel einen ersten Abschluss gefunden hatte: Faktisch hatten die Regeln des Landkommunikationstags, der landständischen Zentralinstitution, dem Druck des Landgrafen standgehalten und in normativer Hinsicht wurden eben diese Regeln nunmehr als legitimes Gewohnheitsrecht interpretiert. 325 Aber Moritz war

321 322

323

324 325

Vgl. oben 4.1. Dort wird dieser Sachverhalt ausführlicher begründet. Anders Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 242: „Wer überzeugend aus dem Herkommen argumentieren wollte, bedurfte eines Bestandes an historisches Dokumenten, vorzugsweise eines funktionstüchtigen Archivs.“ Das mag zwar für die von Maruhn behandelte Zeit (1646–1655) zutreffen, lässt sich aber nicht verallgemeinern, denn die bisherige Untersuchung hat an mehreren Stellen gezeigt, dass Herkommen auch erfolgreich behauptet werden konnte, ohne dass überhaupt eine tatsächliche Übung vorlag (normative Zentrierung nach 1590) oder zumindest ohne expliziten Verweis auf tatsächlich vorliegende Präzedenzfälle (Verfahrenskämpfe). Genau dazu kam es in der Remonstration von 1639, in der über einen ganzen Abschnitt Präzedenzfälle aus den Jahren der Verfahrenskämpfe angeführt werden (vgl. Remonstration 1639, fol. 7r/v.) StAM 17 I Nr. 1802, fol. 2, zitiert nach Hollenberg II, S. 135, Anm. 218. Es handelte sich aber auf der normativen Ebene auch jetzt nur um eine bedingte Legitimität, die eine Rückkehr zu gesamthessischen Landtagen nicht präjudizieren sollte. In den 1650 auf dem Landtag eingebrachten Gravamina der Ritterschaft wurde

278

4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

nicht nur wegen des Verhaltens seiner Stände ins Exil gegangen, sondern auch wegen der Besetzung großer Teile Hessens durch kaiserlich-ligistische Truppen unter Tilly – und damit hatte die Zeit der beiden hessischen Ständekonflikte begonnen. 326

4.4 Zwischenergebnis 1592, als Landgraf Moritz seinem Vater in der Regierung nachfolgte, gab es im Teilfürstentum der Kasseler Linie keine landständische Verfassung im Sinne des Strukturtypus. Nur auf gesamthessischer Ebene hatte sich eine Landtagsform entwickelt, in deren Rahmen eine korporativ verfasste Ständegesamtheit im Namen von Land und Leuten handelte – aber auch hier nahm diese Form keine Zentralstellung ein. 1623 hingegen existierte eine landständische Verfassung in Hessen-Kassel nicht nur, sondern sie stellte sogar einen wesentlichen politischen Faktor dar: Derselbe Fürst – Moritz der Gelehrte – ging nämlich in diesem Jahr nicht zuletzt deshalb ins Exil, weil er daran gescheitert war, diese Verfassungsordnung nach seinen Wünschen umzugestalten. Innerhalb von nur einer Generation, einem Zeitraum von kaum mehr als dreißig Jahren, hatte sich die institutionelle Verfasstheit der fürstlich-ständischen Beziehungen in Hessen grundlegend verändert.

326

nämlich gefordert, dass die Particular Landtage und dardurch nicht wenig verursachte hochschädtliche Tren- undt Zergliederung eingestellet, das Corpus wider ergäntzet, durch diß Mittel zu gutem Vertrauen und Einigkeit ein gut Fundament gelegt werden solle (Gravamina 1650, fol. 53r; vgl. auch Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 118f.). Vgl. dazu unten 5.3.5. Das kaiserlich-ligistische Heer war Anfang Mai an verschiedenen Stellen auf hessisches Gebiet vorgedrungen: Tilly selbst zog nach Hersfeld (die gefürstete Reichsabtei Hersfeld stand seit 1606 unter hessischer Administration: 1604 war Erbprinz Otto zum Koadjutor bestimmt worden und folgte dem letzten Abt 1606 als Administrator nach; 1617 folgte ihm sein jüngerer Bruder als Administrator nach; während des Dreißigjährigen Krieges mehrfach von anderen Mächten besetzt, wurde die Abtei im Westfälischen Frieden endgültig an Hessen-Kassel gegeben, vgl. IPO XV, 2. 1651 wurde Hessen-Kassel dann mit dem nunmehr weltlichen Fürstentum Hersfeld belehnt; vgl. Demandt, Geschichte des Landes Hessen, S. 359). Zwei andere Obristen führten Abteilungen zum einem in die Nähe von Marburg und Kirchhain und zum andern in die Nähe des Amtes Neukirchen; vgl. Rommel VII, S. 540. Später verlegte Tilly sein Hauptquartier nach Eschwege, ließ auch die übrigen Städte an der Werra einnehmen (vgl. ebd., S. 546), zog dann aber bald nach Norden ab, um Christan von Braunschweig-Wolfenbüttel zu verfolgen. Im Oktober 1623 kehrte Tilly über Paderborn und Warburg nach Hessen zurück und besetzte nunmehr fast das ganze Land; vgl. ebd., S. 566f.

4.4 Zwischenergebnis

279

Seit dem zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts hatte sich die sogenannte ‚philippinische‘ Ständeverfassung entwickelt und etabliert. Es handelte sich um eine Ordnung eigenen Typs, die verschiedenste Formen von Landtagen umfasste, und für die es charakteristisch war, dass die einzelnen Stände des Landes je nach Situation mal als selbständige politische Akteure und mal als Ständegesamtheit auftreten konnten. Im Zuge der Landesteilung 1567 nicht wesentlich modifiziert, bestand diese ‚Verfassung ständischer Vielfalt‘ in der Praxis noch bis zu Beginn des 17. Jahrhunderts fort. 327 In normativer Hinsicht jedoch setze seit den 1590er Jahren eine wesentliche Veränderung ein: In einem Prozess, der sich als ‚normative Zentrierung‘ bezeichnen lässt, wurde der allgemeine – gesamthessische und gesamtständische – Landtag von einem ausgesprochenen Spezialfall zur allein maßgeblichen Landtagsform aufgewertet; damit verbunden war der generalisierte Anspruch, dass allein die Ständegesamtheit, nunmehr verstanden als gesamthessische Korporation, befugt sei, kollektiv verbindlich zu entscheiden und daher in einem analytischen Sinne das Land zu repräsentieren. Von Seiten der Stände wurde damit im kollektiven Normensystem die Vorstellung einer neuen, spezifisch landständischen Verfassung verankert, wobei die Tatsache, dass es sich um eine Veränderung handelte, gleichzeitig durch den Einsatz von Herkommensargumenten kaschiert wurde. Und obwohl die Landgrafen in der Praxis zunächst an der ständischen Vielfalt der ‚philippinischen‘ Ordnung festhielten, so akzeptierten sie doch einige Zeit später das Ergebnis der normativen Zentrierung, wenngleich nur teilweise und nur implizit: Als nämlich 1598 die gesamthessische Landrettungssteuer ‚erfunden‘ wurde, da wurde sie gerade nicht nach dem Vorbild der älteren ständischen Sondersteuern, sondern in Analogie zu den allgemeinverbindlichen Reichssteuern ausgestaltet. Und damit hatte man die Zuständigkeit der Ständegesamtheit, die bisher auf die Reichssteuern begrenzt gewesen war, faktisch auf die nunmehr wichtigste Landessteuer ausgeweitet. 328 Bevor sich die Angleichung der institutionellen Praxis an die neuen normativen Ansprüche jedoch fortsetzten konnte, schuf der Ausbruch des Marburger Erbfolgestreits (1604) eine höchst problematische Situation für die beiden verbliebenen fürstlichen Linien in Darmstadt und Kassel: Einerseits würden Ludwig V. und Moritz auch in Zukunft auf Steuermittel angewiesen sein; andererseits blockierte das Zerbrechen der dynastischen Einheit als Konsequenz des Erbfolgestreits eben jene Institution, der soeben, im Zuge der normativen (und ansatzweise auch schon: 327 328

Vgl. oben 3.3. Vgl. oben 4.1.

280

4. Kreativität und Heuchelei – Eine Verfassung entsteht

faktischen) Zentrierung, die Alleinzuständigkeit für Steuerbewilligungen zugewiesen worden war – den gesamthessischen und gesamtständischen Landtag. Um in dieser Situation den eigenen politischen Bewegungsspielraum zu sichern, traten in beiden Teilterritorien Handeln und Sprechen auseinander: Beide Landgrafen beriefen schon kurze Zeit später – und zwar jeweils unterstützt von ihren Ständen – zum Zweck der Steuerbewilligung Partikularlandtage ein, das heißt, sie kopierten die maßgebliche Form des allgemeinen Landtags mit repräsentativ handelnder Ständegesamtheit von der gesamthessischen Ebene auf die Ebene der Teilfürstentümer. Nicht nur leugneten alle Beteiligten die Tatsache, dass ihr Handeln eine Verletzung der gesamthessischen Verfassungsordnung darstelle, sondern sie betonten und bekräftigten in ihrem Sprechen die faktisch missachtete Norm sogar noch zusätzlich. Diese ‚institutionalisierte Heuchelei‘ brachte zwar bestimmte Folgeprobleme mit sich, aber machte es doch möglich, nicht nur an der Norm einer landständischen Verfassung für Gesamthessen festzuhalten, sondern gleichzeitig die wichtigste Funktion dieser Verfassungsordnung, nämlich die gesamtständische Steuerbewilligung, durch die Etablierung von Partikularlandtagen faktisch auch auf der Ebene der Teilterritorien verfügbar zu machen. 329 Zunächst sollte der Rückgriff auf die bald so genannten Landkommunikationstage eine ‚Ausnahme‘ bleiben – ganz im Einklang mit den normativen Ansprüchen. Allerdings sah sich Landgraf Moritz in den Jahren nach dem Ausbruch des Erbfolgestreits immer wieder gezwungen, Ständeversammlungen auszuschreiben und von seinen Ständen finanzielle Hilfe sowie politischen Rat einzufordern. Diese massive Intensivierung der fürstlich-ständischen Beziehungen führte dazu, dass der ursprünglich nur als ‚Ausnahme‘ gedachte hessen-kasselische Landkommunikationstag – in Form und Funktion dem gesamthessischen Landtag nachgebildet – institutionell verstetigt und damit faktisch zur ‚Regel‘ wurde. Im Ergebnis hatte sich damit von 1609 (erster allgemeiner Landkommunikationstag) bis 1620 (letztes Jahr ohne direkte Kriegseinwirkungen), dem ‚Jahrzehnt der institutionellen Verfestigung‘, in Hessen-Kassel weitgehend eine landständische Verfassung herausgebildet – in der Praxis. Normativ allerdings hielt man weiterhin an der Vorstellung einer landständischen Verfassung für Gesamthessen fest, während aber gleichzeitig auch der Landkommunikationstag zunehmend als legitime Institution galt. 330 Dieser Auf- und Ausbau eines ‚landständischen‘ Institutionengefüges war vor allem auf Initiative des Landgrafen erfolgt und fand zunächst auch die ausdrückliche Unterstützung der Ständegesamtheit. Trotz aller 329 330

Vgl. oben 4.2.1. Vgl. oben 4.2.2.

4.4 Zwischenergebnis

281

Differenzen im Detail teilten die Landstände nämlich weitgehend die Ansicht des Landgrafen, dass ‚Vaterland und evangelisches Wesen‘ zunehmend bedroht seien – und bewilligten dementsprechend immer neue und höhere Steuern zur Abwendung dieser Bedrohung. Als der Krieg jedoch Hessen tatsächlich erreichte, also ab Ende 1620, ging dieses grundsätzliche Einvernehmen im Streit über das weitere Vorgehen verloren, denn die Landstände wandten sich nun gegen die bisher verfolgte Politik der militärischen Stärke, die Moritz im Gegensatz dazu sogar noch forcieren wollte. In diesem Kontext versuchte der Landgraf, von der bisher kooperativ erfolgten Intensivierung der landständischen Strukturen zu einer viel weitergehenden – und einseitig oktroyierten – Integration derselben in seinen Herrschaftsapparat überzugehen, um die Landtage zu einem effektiven Instrument seiner Politik zu machen. Dazu ergriff er von 1621 bis 1623 eine Reihe von Maßnahmen zur Veränderung des Landtagsverfahrens, die letztlich alle darauf zielten, die Autonomie und damit die kollektive Handlungsfähigkeit der Ständegesamtheit zu senken oder gar aufzuheben. Die Landstände allerdings verweigerten sich erfolgreich diesem Versuch, vor allem unter Berufung darauf, dass die verlangten Änderungen dem Herkommen widersprächen. Diese ‚Verfahrenskämpfe‘ zeigten zum einen, dass Landtag und Ständegesamtheit inzwischen ein relativ hohes Maß an objektiver Gegenständlichkeit erreicht hatten und man daher in der Tat davon sprechen kann, dass eine landständische Verfassung im Sinne einer politischen Institution zu diesem Zeitpunkt existierte. Zum anderen verstärkten die Auseinandersetzungen die Verfassungsordnung noch zusätzlich, weil auf diese Weise eine Reihe von Verfahrensformen zum ersten Mal expliziert, verschriftlicht und zum Gegenstand von Präzedenzfällen gemacht wurden, die dann im Rahmen von gewohnheitsrechtlichen Argumenten immer wieder aufgegriffen werden konnten. 331

331

Vgl. oben 4.3.

5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

…, daß der Streit oder Krieg einer Gruppe […] den Verhältnissen innerhalb ihrer oft eine sonst nicht erreichte Klarheit und Entschiedenheit einträgt. Georg Simmel 1 Land-Ständte […] sind pure Unterthanen des Fürsten. Ist aber das nicht absurd und wieder die gesunde Vernunft / ein Unterthaner sein […], und doch mit von der Majestät participiren wollen. Discurs von Land-Ständten (1709) 2 Andern theils aber 2do sind einige Befugnisse der LandStände / wodurch sie an denen Regalien der Landes Fürsten Theil nehmen. Begründete Deduction von Land-Ständen (1718) 3

1592, als Landgraf Moritz seinem Vater in der Regierung nachfolgte, gab es im Teilfürstentum der Kasseler Linie keine landständische Verfassung im Sinne des Strukturtypus. Nur auf gesamthessischer Ebene hatte sich eine Landtagsform entwickelt, in deren Rahmen eine korporativ verfasste Ständegesamtheit im Namen von Land und Leuten handelte – aber auch hier nahm diese Form keine Zentralstellung ein. 1623 hingegen existierte eine landständische Verfassung in Hessen-Kassel nicht nur, sondern sie stellte sogar einen wesentlichen politischen Faktor dar: Derselbe Fürst – Moritz der Gelehrte – ging nämlich in diesem Jahr nicht zuletzt deshalb ins Exil, weil er daran gescheitert war, diese Verfassungsordnung nach seinen Wünschen umzugestalten. Innerhalb von nur einer Generation, einem Zeitraum von kaum mehr als dreißig Jahren, hatte sich die institutionelle Verfasstheit der fürstlich-ständischen Beziehungen in Hessen grundlegend verändert.

1 2 3

Simmel, Der Streit, S. 535f. Discurs von Land-Ständten. [Caroc], Begründete Deduction von Land-Ständen, derselben Befugnisse, Pflichten & Nutzen absonderlich in denen Landen des Reichs Teutscher Nation […], Art. 3, § 1, S. 22.

284

5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Wenn aber die ‚Verfahrenskämpfe‘, deren Ausgang nicht unwesentlich dazu beitrug, dass Landgraf Moritz ins Exil ging, das Bestehen einer landständischen Verfassung in Hessen-Kassel recht eindeutig belegen, dann fragt sich, warum im Folgenden auch noch einzelne Ständekonflikte zu untersuchen sind. Das Ziel dieser Untersuchung ist es ja, die Genese der landständischen Verfassung verstehend zu erklären, und es scheint doch so, als könne man nun den terminus ad quem von 1655 (Unterzeichnung der Konsensual-Resolution) auf 1623 (Exil des Landgrafen) vorziehen und die Untersuchung schließen. 4 Das könnte man nun tatsächlich, wenn es bei Ständekonflikten nur um Auseinandersetzungen um politische Sachfragen ginge, die im Rahmen einer bestehenden landständischen Verfassung ausgetragen wurden. In der jüngeren Ständeforschung wird der Begriff ‚Ständekonflikt‘ allerdings deutlich enger gefasst: Nach einem Vorschlag von Gabriele Haug-Moritz fallen darunter nicht einfach alle Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen zwischen Fürst und Ständen, sondern ein ‚Ständekonflikt‘ im engeren Sinne liegt nur dann vor, „wenn zwischen den einzelnen an der Herrschaft beteiligten Gruppen keine Einigung mehr über Art und Weise der Beilegung stets vorhandener Interessengegensätze erzielt werden kann“. 5 Wenn also zwischen Fürst und Ständen Dissens in der Sache besteht, so handelt es sich zunächst nur um einen Interessengegensatz, der erst dann zu einem Ständekonflikt wird, wenn es zusätzlich zu einem Dissens ‚zweiter Ordnung‘ kommt, also einem Dissens über die Form, den Dissens in der Sache beizulegen. 6 Den eigentlichen Konfliktgegenstand bilden also nicht die materialen Interessengegensätze, sondern die formale ‚Art und Weise der Beilegung‘ dieser Gegensätze. Und da es nun zu den zentralen Funktionen einer Verfassungsordnung gehört, dass sie „die Verfahren politischer

4 5

6

Zur Bestimmung des Jahres 1655 als terminus ad quem für das Bestehen einer landständischen Verfassung vgl. oben 4. Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus, S. 13; vgl. auch Maruhn, Necessitäres Regiment, der sich an mehreren Stellen explizit auf HaugMoritz bezieht. Vorstellbar ist es allerdings auch, dass ein Dissens über bestimmte Verfahrensformen aufbricht, ohne dass ein materialer Interessengegensatz vorliegt. Man könnte dann von einem originären Ständekonflikt sprechen, im Gegensatz zu einem konsekutiven Ständekonflikt, der aus dem Versuch der Beilegung eines Interessengegensatzes entsteht. Letztere Form dürfte allerdings die häufigere sein, da der Übergang von der Sach- auf die Beziehungsebene ein typisches Konfliktmuster darstellt; vgl. dazu Watzlawick, Beavin, Jackson, Menschliche Kommunikation, S. 79–91. Hinzu kommt, dass aufgrund der nur gering ausgeprägten Autonomie vormoderner Verfahren die Thematisierung der formalen Verfahrensregeln deutlich häufiger notwendig war.

5.1 Der Strukturkonflikt, oder: Wer ist die niederhessische Ritterschaft?

285

Willens- und Entscheidungsbildung festlegt“ 7, mittels derer etwa auch Interessengegensätze beigelegt werden, folgt: Ständekonflikte im Sinne von Haug-Moritz sind genuine Verfassungskonflikte. Die hessischen Konflikte, um die es im Folgenden geht, sind Ständekonflikte in genau diesem Sinne: Konflikte, in denen die landständische Verfassung von einem akzeptierten Rahmen, innerhalb dessen Konflikte ausgetragen werden konnten, selbst zu einem umstrittenen Gegenstand wurde. Und da Ständekonflikte also Verfassungskonflikte sind und eine Krise anzeigen, die immer auch eine Veränderung der Verfassungsordnung nach sich zieht, müssen sie in die Analyse der Verfassungsgenese eingeschlossen werden. 8

5.1 Der Strukturkonflikt, oder: Wer ist die niederhessische Ritterschaft? (1623–26) Im Herbst 1623 befand sich die Landgrafschaft Hessen-Kassel unbestreitbar in einer Krise: Schon im April hatte der Reichshofrat sein Endurteil im Marburger Erbfolgestreit verkündet und Landgraf Moritz seines Erbteils verlustig erklärt; 9 seitdem wartete Landgraf Ludwig V. in Darmstadt auf eine günstige Gelegenheit, auch das nördliche Oberhessen unter seine Kontrolle zu bringen. Eine solche ergab sich, als der siegreiche Tilly mit seiner Armee, die schon im Frühsommer in Hessen gelagert hatte, nach der Schlacht bei Stadtlohn im Herbst zurückkehrte und nunmehr den kasselischen Teil der Landgrafschaft weiträumig besetzte. 10 Zugespitzt wurde die „verzweifelte Lage“ 11 durch die Abwesenheit des Landgrafen, der am 9. Oktober Erbprinz Wilhelm zum Statthalter ernannt, ihm einen 7 8

9 10

11

Vorländer, Die Verfassung, S. 17. Aus dem soeben Gesagten folgt im Übrigen auch, dass die in 4.3. geschilderten ‚Verfahrenskämpfe‘ keine Ständekonflikte im engeren Sinne darstellen: Zwar versuchte der Landgraf, das Landtagsverfahren (und damit die Verfassungsordnung) zu verändern, aber die Tatsache, dass er letztlich immer die ständischen Herkommensargumente akzeptierte, zeigt, dass man im Gewohnheitsrecht immer noch eine gemeinsame ‚Art und Weise der Beilegung‘, also ein geteiltes ‚Verfassungsprinzip‘ finden konnte. Das Urteil findet sich in: Gründliche, warhaffte und vollstendige Erzehlung, Beilagen Nr. 24, S. 108. Im November wurde Marburg von Tillys Truppen besetzt und ganz Oberhessen dann im Frühjahr 1624 an Landgraf Ludwig V. übergeben (vgl. Rommel VII, S. 568, und Hollenberg, Einleitung II, S. 5). – In der Schlacht bei Stadtlohn hatte Tilly Christian von Braunschweig-Wolfenbüttel „vernichtend geschlagen“ (Schormann, Der Dreißigjährige Krieg, S. 34), womit der böhmisch-pfälzische Teilkrieg zu Ende gegangen war. Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 302.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Regentschaftsrat beigeordnet und dann das Land in Richtung Norden verlassen hatte. 12 Diese Flucht war nicht zuletzt dem fürstlichen Scheitern in den Verfahrenskämpfen geschuldet: Nach dem Erscheinen der ersten kaiserlichen Truppen Ende 1620 hatte Landgraf Moritz das Vorhaben, die Ständegesamtheit noch enger in seine Politik einzubinden, forciert und dabei zu teilweise drastischen Mitteln gegriffen. Wie die Untersuchung dieser Verfahrenskämpfe im letzten Abschnitt gezeigt hat, liefen alle landgräflichen Vorstöße darauf hinaus, die Verfahrensautonomie des Landkommunikationstags zu senken oder vollständig aufzuheben, womit nichts weniger als die kollektive Handlungsfähigkeit der Landstände als Ständegesamtheit in Frage gestellt war. Nun bewilligte die Ständegesamtheit zwar weiterhin Finanzhilfen, aber sie verweigerte sich gleichzeitig jedweder Veränderung des Landtagsverfahrens, das erfolgreich als Gewohnheitsrecht dargestellt wurde. Die hessen-kasselischen Landstände blieben daher, was sie im Zuge des Aufbaus einer landständischen Verfassung seit 1609 geworden waren – eine gesamtständische Korporation, ein corpus.

5.1.1 Un-/gehorsam und handlungsfähig: Die ‚Quasi-Landtage‘ der Besatzungszeit Da die Landstände aber auch, wie Asmus von Baumbach im Sommer 1623 nicht zu Unrecht anmerkte, ein immobile corpus 13 waren, konnten sie sich der ‚verzweifelten Lage‘ (V. Press) nicht einfach entziehen – anders als ihr Fürst mussten sie sich damit arrangieren, dass das Land von einer fremden Armee besetzt war. Das drängendste Problem in dieser Situation war die ‚Einlagerung‘ der Truppen, für deren Unterbringung und Verpflegung gesorgt und gezahlt werden musste. 14 Noch im Oktober 1623 beschloss der von Landgraf Moritz vor seiner Abreise eröffnete Landtag in dieser Sache, eine Deputation an General 12

13 14

Vgl. Rommel VII, S. 569. Der Regentschaftsrat bestand aus den Geheimen Räten Johann Bischoff und Nikolaus Sixtinus sowie dem Obrist von Kassel, Curt Heinrich von Uffeln und dem Generalkriegskommissar Friedrich von Weiters. – Zu Chancen und Risiken von Statthalterschaften vgl. Kaiser, „pro principe“ auf dem Landtag. ‚Asmuß von Baumbach Bedencken‘ [o. O. 1623 Juli 6], in: StAM 73 Nr. 32, unfoliiert, 4 S., S. 2. Vgl. das Kapitel ‚War Finance‘ in Wilson, Europe’s Tragedy, S. 399–407, sowie die Sammelbände Rauscher (Hg.), Kriegführung und Staatsfinanzen, und Meumann, Rogge (Hg.), Die besetzte ‚res publica‘; lokale Beispiele in Theibault, German villages in crisis, Kleinehagenbrock, Einquartierung als Last für Einheimische und Fremde, und Rathjen, Soldaten im Dorf.

5.1 Der Strukturkonflikt, oder: Wer ist die niederhessische Ritterschaft?

287

Tilly abzusenden, die, soviel muglich, solche einquartierung verhuten und abwenden sollte. Da sich aber zu diesem Zeitpunkt schon abzeichnete, dass sich eine Einquartierung wahrscheinlich nicht würde vermeiden lassen, bestimmte man zusätzlich einige Ritter, die bey solcher eigenthätlichen einlagerung gleichwol ihr bestes vermögen zu abwendung des besorgten grossen Unheils, so aus der confusion undt unordnung unverpleiblich entstehen wurde, ahntzuwenden hetten. 15 Die Landstände bemühten sich also schon sehr früh um Kontakt zur Generalität mit dem Ziel, zu einer möglichst schonenden und reibungslosen Durchführung der Einquartierung beizutragen; dieses Vorgehen gehörte zu den weithin üblichen „Verfahrensformen, die das Miteinander auf eine grundsätzlich gewaltfreie Weise zu regeln versuchten“. 16 Zu dieser Zusammenarbeit gehörte ferner, dass mit Burkhard Schetzel zu Merzhausen und Asmus von Baumbach auch zwei landgräfliche Kommissare an Tillys Hauptquartier abgeordnet wurden. 17 Da die Einquartierung aber vor allem die lokale Ebene betraf und dort organisiert werden musste, wurden bald auch „Kriegs-Commissarien aus dem Ritterstand für jedes Amt und für jede Stadt ernannt“ 18 – die Ständegesamtheit hingegen wurde offenbar nicht benötigt, denn in einem Zeitraum von über einem Jahr wurden nur zwei engere Landkommunikationstage einberufen, die auch noch ohne Abschiede endeten. 19 Im letzten halben

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LTA 1623 Okt., S. 192. Vgl. Rommel VII, S. 571. Kaiser, Die Söldner und die Bevölkerung, S. 81. – Es muss hier nicht entschieden werden, ob die Landstände dabei intendierten, für sich selbst eine Besserstellung zu erwirken oder im Interesse aller Landesbewohner zu handeln. Dass es in der Folge faktisch immer wieder zu einer Privilegierung der landständischen Interessen kam, liegt hingegen klar am Tage. Vgl. Hollenberg II, S. 194, Anm. 329. Laut Kulenkamp, Geschichte der Stadt Treyßa in der Graffschaft Ziegenhayn, S. 30, setzte Landgraf Wilhelm eine „EinquartierungsCommission“ in Hersfeld ein, der neben den beiden genannten noch Philipp Ludwig von Wallenstein angehörte. Dort auch eine Schilderung der Einquartierungen in Treysa. Rommel VII, S. 571. Wer diese Kommissare ernannte, ob der Landesherr oder die Ritterschaft selbst, wird bei Rommel nicht ganz klar. Ritter, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges (1555–1648), III, S. 260, meint, sie seien von der Ritterschaft ernannt worden. Ebd. auch eine Schilderung der Einquartierung. Vgl. Hollenberg II, Nr. 48a, S. 196f. Außerdem fand im Januar 1624 noch eine Ständeversammlung in Kassel statt, die der Erbmarschall einberufen hatte. Allerdings hatte der Erbmarschall irrtümlich angenommen, der Regent habe ihm aufgetragen, einen Landtag auszuschreiben, weshalb dan die anwesende von der ritterschafft undt stätten darab soviel vermercket, daß diese Zusammenkunft zue keinem landtagk angesehen und also uf ihre costen auslauffen werde (‚Protokoll. Kassel 1624 Jan. 27‘, in: Hollenberg II, S. 195f, S. 195).

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Jahr vor der Flucht des Landgrafen hatten noch insgesamt fünf Landtage stattgefunden. 20 Das Sinken der Tagungsfrequenz liegt wohl darin begründet, dass es keinen Anlass für kollektiv verbindliche Beschlüsse der Ständegesamtheit gab, weil die Einquartierung als fait accompli ohnehin schon alle Landeseinwohner zwangsverpflichtete. Als sich jedoch Ende 1624 abzeichnete, dass Tilly seine Truppen mittelfristig aus Hessen abziehen würde, um in Norddeutschland gegen die niedersächsischen Kreisstände und Christian IV. von Dänemark zu ziehen, gewannen die Landstände wieder an Aufmerksamkeit, wie sich aus einem Schreiben ergibt, dass Kaiser Ferdinand II. im Dezember 1624 an den Kurfürsten von Sachsen, Johann Georg I., richtete: In Massen Wir dan unvorgreifflichen dafur halten wollen, das dieses ein Mittel sein möchte, da DLd. durch die Landttschafftt oder mehrgedachtt Landttgraff Moritzen ältesten Sohn Landttgraff Wilhelm die Sachen dahin gebracht hetten, das erstgedachten Landtstenden der Landtgraff Wilhelm […] gemelte Vestunge auff eine Zeit lang, bis man sich der oberzehlten Gefahr nicht weiter zu besorgen, in Unserm Nahmen eingeantwortet, oder zum wenigsten die Eroffnung Unserm gevolmechtigten […] General Graven von Tilly vorbehalten würden, wie Wir dan so viel Nachrichtung, das er gedachter Graff von Tilly dieser tractation albereits vor sich selbsten ein Anfang gemachtt haben möchte, zu welchem Ende Wir ihm Unsern Kays. Consens so weit ertheilett, dass die obausgeführte Notturfftt also erfordere, Er es auch bey mehrgedachten Stenden undtt zuvorderst Landtgraff Wilhelm zu gutter Versicherung gereicht haben würde, das Wir Uns solches nicht zuwider sein lassen. 21

Um also auszuschließen, dass sich Hessen-Kassel beim Abzug der Ligatruppen gegen den Kaiser wenden würde, sollten die beiden bisher nicht eingenommenen Landesfestungen Kassel und Ziegenhain neutralisiert werden. Um diesen Plan umzusetzen, so wird berichtet, habe Tilly bereits Verhandlungen aufgenommen – und zwar mit dem Regenten und den Landständen. 20

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Engere Landkommunikationstage fanden statt im Februar/März und im September 1623 (vgl. Hollenberg II, Nr. 42, S. 179f. und Nr. 45a, S. 189f.). Allgemeine Landkommunikationstage fanden statt im April, im Juni/Juli und im Oktober (vgl. ebd., Nr. 44, S. 181–186, Nr. 45, S. 186–189 und Nr. 47, S. 191–193). ‚Extract. Kays. Maytt Schreibens ahn Churf. zu Sachsen‘ [Wien 1624 Dez. 12/22], in: StAM 73 Nr. 34, unfoliiert, 3 S., S. 2f.; vgl. auch Rommel VII, S. 590. Das Schreiben findet sich übrigens in den ständischen Akten, weil es ihnen während der gleich zu besprechenden Tagung in Hersfeld zugespielt wurde. Die Stände übersandten es dann der landgräflichen Regierung in Kassel; vgl. ‚Responsion Schrifft ahn Fl. Regierung naher Cassell omnium acti actorum Hersfeldt: sub dato des 6t Februarii Anno 1625‘, in: StAM 73 Nr. 34, unfoliiert, 4 S., S. 3; vgl. auch Rommel VII, S. 590.

5.1 Der Strukturkonflikt, oder: Wer ist die niederhessische Ritterschaft?

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Am Kaiserhof galt die hessische Ständegesamtheit also offenbar nicht nur als relevanter politischer Akteur, sondern auch als vertrauenswürdiger als die Landgrafen; ansonsten hätte man es wohl kaum als eine Möglichkeit erwogen, die Kontrolle der Festungen vom Statthalter auf die Landstände zu übertragen. Auch die Art und Weise, wie die im kaiserlichen Schreiben erwähnte tractation konkret durchgeführt wurde, spricht für diese Einschätzung, denn Tilly berief im Februar 1625 sowohl die fürstliche Regierung als auch die Landstände in sein Hauptquartier nach Hersfeld. 22 Die Regierung protestierte umgehend und warf dem General vor, durch ein solches Vorgehen in die Landts fürstlichen Hoheitt undt Superioritet ein zu greiffen; wenn er allerdings beauftragt sei, im namen allerhöchst g. Kayß. May. […] den Ständen dieses Fürstenthumbs etwas an zu bringen undt vor zutragen, dann solle er solches bey Abwesenheit ihre F. G. an Unß gelangen lassen. 23 Einige Landstände hatten da weniger Bedenken und so fanden sich letztlich acht Ritter und drei Städtevertreter in Hersfeld ein. 24 In der Proposition, die nach dem Vorbild des Landtagsverfahrens laut verlesen und schriftlich vorgelegt wurde, wurden die Anwesenden dann als Ausschuß dero Ritter- undtt Landtschafft des Niederfurstenthumbs Hessen angesprochen. 25 Die Ritter und Städte sollten also nicht jeweils für sich, sondern gemeinsam im Namen der Landstände verhandeln, was die Zusammenkunft in der Tat zu einem engeren ‚Quasi-Landtag‘ machte, wenn man bedenkt, dass die Ständegesamtheit bisher nur auf Landtagen in Erscheinung getreten war. Nun bezeichneten sich die Teilnehmer in der Folge zwar nicht selbst als Ausschuss, wiesen diese Zuschreibung aber auch nicht explizit zurück und verhielten sich faktisch so, als handele es sich um einen engeren Landtag. Das hieß vor allem, dass die Anwesenden zwar dazu bereit waren, die

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Vgl. Hollenberg II, Nr. 48a, S. 196–197, S. 197; ‚H. Generalen Graff Tilly Citation ahn die Stadt Eschwege, auff den 4/14 Febr. 1625 zu Herschfeldt zu erscheinen [Hersfeld 1625 Jan. 30/Febr. 9]‘, in: StAM 73 Nr. 34, unfoliiert, 1 S., und ‚Copia Protestationis Fl. Regirung zu Cassel ahn Generall Tylli wegen beschriebener Ständte naher Hirsfelts‘ [Kassel 1625 Febr. 2], in: StAM 340v. Dörnberg Nr. 10, unfoliiert, 3 S., aus der hervorgeht, dass auch die Regierung selbst geladen wurde. Ebd., S. 1 und S. 2. Laut Rommel VII, S. 591, handelte es sich um Asmus von Baumbach den Älteren, Asmus von Baumbach den Jüngeren, Hermann von der Malsburg, Otto von der Malsburg, Hermann von Wersabe, Burkhard von Stockhausen, Ludwig von Dörnberg und Heinrich von Boyneburg genannt von Hohnstein, sowie Abgesandte der Städte Eschwege, Homberg und Rotenburg. ‚Propositio sub dato des 5t Februarii, Hersfeltiae oblata‘, in: StAM 73 Nr. 34, unfoliiert, 6 S., S. 3.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Forderungen des Generals im Namen der Ständegesamtheit entgegenzunehmen, nicht aber dazu, in dieser Funktion auch eine kollektiv verbindliche Erklärung abzugeben – wie schon so oft ihren eigenen Landesherrn, so verwiesen die Anwesenden nun auch Tilly auf einen allgemeinen Landkommunikationstag. 26 Und auch gegenüber der Regierung vertraten die Beschriebene[n] von der Ritterschafftt undtt Stetten diese Meinung, als sie nach Kassel berichteten: Da es auch Sach wehre, das hochgedachte Ihre FG Unser gnediger Landtsfürst undtt Herr, oder in Ihrer FG Nahmen oder Befehl deroselben mitt Unser eins Theils aus den Landtsstenden hierauß geredtt ode berathschlaget werden solte, gleiches dan das gantze Landtt concerniret. Als bitten wir, das als dan (doch ohne Maßgebung) das gantze Corpus undtt desen glieder darzu dem Herkommen gemeß beschrieben undtt erfordert werden möchten. 27

Daraufhin blieb dem Statthalter nichts anderes übrig, als tatsächlich kurzfristig einen Landkommunikationstag einzuberufen, womit er im Nachhinein faktisch billigte, dass die in Hersfeld Anwesenden im Namen der Ständegesamtheit gesprochen und damit der Ladung Tillys Folge geleistet hatten. 28 Wie schon zu Beginn des Marburger Erbfolgestreits, so agierten die Landstände auch jetzt wieder als Vermittler; diesmal jedoch nicht zwi-

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Vgl. ‚Resolutio Ahnwesender von der Ritterschafft undt Lantschafft naher Hersfeldt Beschriebener [Hersfeld 1625 Febr. 5]‘, in: StAM 73 Nr. 34, unfoliiert, 2 S., S. 1: Weil dieselbige [Proposition] von hoher Importantz undtt grosser Gefehrligkeitt ist, das zuvorderst dem durchleuchtigen undt hochgebornen Fürsten undtt H. fideliter unterthänig darvon referiret, auch mitt samptlicher ihrer dero anhero Beschriebenen abwesenden Mittgliedern communicirt undtt die Nothurfftt darjegen verfugtt werden muß. Im Kern ist das der Verweis auf einen ordentlichen Landkommunikationstag. ‚Responsion Schrifft ahn fl. Regierung naher Cassell omnium acti actorum Hersfeldt: sub dato des 6t Februarii Anno 1625‘, in: StAM 73 Nr. 34, unfoliiert, 4 S., S. 2. Für den Fall, dass es nicht unmittelbar zu einem Landtag kommen würde, informierten die Beschriebenen auch die Landstände in den Strombezirken; vgl. ‚Copia Schreibens der vom General Tilli nach Hersfeldt beschriebenen Ritterschafft und Stetten ahn die samptliche Ritterschafft undt Stette des Werrastrohms. 7 Febr. 1625‘, in: StAM 73 Nr. 34, unfoliiert, 2 S. Vgl. zu diesem Landtag Hollenberg II, Nr. 48a, S. 196–197, S. 197, Rommel VII, S. 591– 596, ‚Proposition so IFG Landgraff Wilhelm Praelaten Ritter undt Landtschafft gethan am 10t Marti ao 1625 [Kassel]‘, in: StAM 304 Nr. 443, unfoliiert, 10 S., und ‚Resolutio Ahnwesender von Praelaten, Ritter undt Landtschafft auff gethane erste proposition Cassell den 11t Marti: ao 1625‘, in: ebd., unfoliiert, 4 S. Die Landstände machten in ihrer Resolution noch einmal deutlich, dass sie die Ladung Tillys und den Kontakt zu ihm als legitim ansahen: Sie sprachen von der Proposition, die von Hern Generall Graven von Tylli etzlichen naher Hirschfeldt in nahmen undt von wegen der Römische Kayss: Maytt: Unsers allergnädigsten Hern, erforderten von den Landständen vorgetragen worden sei.

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schen den beiden fürstlichen Linien, sondern zwischen dem Statthalter in Kassel und dem General in Hersfeld. Am Ende erklärten zuerst Wilhelm und dann auch die Landstände schriftlich, so Hollenberg, dass „sie – jedoch vorbehaltlich ihrer dem Landgrafen geschuldeten Eidespflichten – dem Kaiser den reichsverfassungsmäßig schuldigen Gehorsam leisten und seine Mandate befolgen würden“. 29 Als dann im Mai 1625 der Abzug tatsächlich begann, griff Tilly erneut zu diesem Mittel, berief die Stände zu sich nach Hersfeld und erlangte dieses Mal sogar noch vor Ort eine Assekuration der sämptlichen Ritter undt Landschafften des Niederfürstenthumbs Heßen ietzo zu Hersfeldt versamlet. 30 Die Ständegesamtheit erklärte erneut ganz allgemein ihre Treue gegenüber dem Kaiser und im Besonderen, dass sie kaiserliche Truppen nicht am Durchzug hindern, sondern sie sogar mit Proviant und anderen notwendigen Dingen versehen würde; feindliche Heere hingegen würden sie nicht aufnehmen. 31 Gegen eine kaiserliche Schutzzusage versicherten die Landstände dies alles nicht nur explizit ohne die Erlaubnis ihres Landesherrn, sondern auch für den Fall, dass Moritz etwas Gegenteiliges befehlen würde – sollte es dazu kommen, würde der Kaiser den Landständen sogar die Aydt undt Pflichten (die seiner Herrn Landtgraff Moritzen F. G. Wir geleistet) […]

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Hollenberg II, S. 197. ‚Assecuratio Ritter: undt Landtschafft des Niederfürstenthumbs Heßen, Herren General Graffen von Tilly uff dero zu Herschfeld Zusammenbeschreibung, vergeben am 1./10. Junii ao. 1625.‘, in: StAM 340v. Dörnberg Nr. 12, unfoliiert, 4 S., S. 1. Am Rande sei bemerkt, dass in einem von Tilly vorgelegten Entwurf die Selbstbezeichnung noch die sambtliche Praelaten, Ritter- undt Landtschafften gelautet hatte (‚Concept einer Versicherung oder Assecuration von Herrn General Graffen von Tilly, Ritter: undt Landschafft des Niederfürstenthumbs Heßen vorgeschrieben, welche hier aber aus hochbedencklichen Ursachen in etwas endern müßen, actum Hersfeldt. am 10. Junii/31. Mai Ao 1625‘, in: StAM 340v. Dörnberg Nr. 12, unfoliiert, 3 S.). Dagegen wandten die Anwesenden ein, die Prälaten wären hauptsächlich im Oberfürstentum gesessen und auch nicht beschrieben worden, weshalb sie in der Assekuration nicht genannt werden sollten; vgl. ‚Memoriall warumb Ihr Exc. verschicktes Concept Assecurationis ahn verschiedenen Ortten geendert worden actum Herschfeldt. 1. Junii Ao 1625‘, in: StAM 340v. Dörnberg Nr. 12, unfoliiert, 2. S. Vgl. ‚Assecuratio Ritter: undt Landtschafft des Niederfürstenthumbs Heßen, Herren General Graffen von Tilly uff dero zu Herschfeld Zusammenbeschreibung, vergeben am 1./10. Junii ao. 1625.‘, in: StAM 340v. Dörnberg Nr. 12, unfoliiert, 4 S., S. 2: Allgemeine Treueerklärung: daß Wir in Ihrer Kays: Mayt: unverrückter Trew undt Devotion standhafftig biß in Unsere Gruben verharren; Durchzug und Proviantierung: durch Stätte, Flecken, Dorffschafften, Päß undt Pletzen der Landtgraffschafft Hesßen den Durchzug Paß undt Repass weder für uns verhindern oder zu deren Nachtheil verwehren und sperren helffen wöllen, so wohl auch zu proviantir undt anderer nothwendigen Versehung.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Unß allergenedigst relaxiret undt erlaßen haben. 32 Als die Assekuration am 1. Juni unterzeichnet wurde, war der Abzug der Ligatruppen fast beendet und nur einige Tage später, am 6. Juni, kehrte dann auch Landgraf Moritz nach Kassel zurück. 33 Die allgemeine Krise, die mit der Flucht des Landgrafen und der Besetzung Hessen-Kassels durch das Ligaheer begonnen hatte, hatte offenbar nicht zu einer Krise der Ständeverfassung geführt: Die Landstände hatten effektiv zwischen Statthalter und General vermittelt und im eigenen Namen Erklärungen abgegeben; beides bezeugt ihre kollektive Handlungsfähigkeit. Gleichzeitig hatten sie Tilly während der ersten Zusammenkunft in Hersfeld erfolgreich auf einen Landkommunikationstag verwiesen, was ihre Verfahrensautonomie unterstreicht. Und dass sie dann bei der zweiten Tagung sogar gänzlich ohne fürstliche Beteiligung verhandelten und die geforderte Assekuration im eigenen Namen unterzeichneten, lässt sich sogar als Indiz für eine weitere Stärkung der landständischen Verfassung ansehen. Gleichzeitig aber machte diese erneute Demonstration ständisch-kollektiver Handlungsfähigkeit, mit der die politische Krise der Besatzung erfolgreich abgewendet werden konnte, den Ausbruch eines Ständekonflikts und damit einer Verfassungskrise wahrscheinlicher. Denn die Landstände hatten sich schon durch den bloßen Kontakt mit Tilly – angefangen von der Bereitschaft, seiner Ladung nachzukommen, bis hin zu den eigenmächtigen Verhandlungen und Zusagen – in eine potentiell gefährliche Lage gebracht. Der außergewöhnliche Erfolg der Stände in den gerade erst beendeten Verfahrenskämpfen verdankte sich ja nicht zuletzt der Taktik, die mit den Erfordernissen der politisch-militärischen Situation begründeten Forderungen Moritz’ aus der sicheren Position des (Gewohnheits-)Rechts auszuhebeln. Nunmehr aber hatten sich die Vorzeichen umgekehrt, denn ohne landesfürstliche Beteiligung als Ständegesamtheit aufzutreten war nicht nur in politischer, sondern auch und gerade in rechtlicher Hinsicht heikel, konstituierte sich die Ständegesamtheit doch in der Regel nur auf Landtagen, deren Ausschreibung zu den hergebrachten Rechten der Landesherren gehörte. Und da die Fürsten dies als exklusives Recht ansahen, folgerten sie erstens, dass niemand außer ihnen Landtage ausschreiben 32

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Ebd., S. 4, dort auch die kaiserliche Schutzzusage. Auf S. 1 wird die nicht vorhandene Erlaubnis des Landgrafen mit seiner Abwesenheit und dem Zeitdruck entschuldigt. Unterzeichnet wurde die Assekuration von acht Rittern und drei Städten, vgl. Hollenberg II, Nr. 50a, S. 206f., Anm. 362. – Auch über diese Versicherung berichteten die Stände der Regierung, vgl. ebd., S. 207, Anm. 363. Vgl. Rommel VII, S. 601.

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bzw. allgemeiner: die Ständegesamtheit berufen dürfe, und zweitens, dass es den Landständen dementsprechend verboten sei, solchen Ladungen Folge zu leisten. Schon 1516 beschwerte sich der soeben zur Regierung gekommene Landgraf Philipp, dass die Ausschreibung eines hessischen Landtags durch die sächsischen Wettiner vormals nie mer erhort oder gesehen ist und uns, so das furgenig, an unser furstlichen oberkeit und gerechtigkeit hochlich abbruchlich sein würde, und verbot seinen Ständen den Besuch des Landtags aufgrund der eid und pflicht, damit ir uns als eurm rechten erbhern und landsfursten verwant seiet. 34 Allerdings scheint diese Interpretation noch im frühen 16. Jahrhundert nicht unumstritten gewesen zu sein. Denn als sich einige Zeit später einige Ritter für berechtigt hielten, einen Landtag auszuschreiben, versuchte Philipp, beim Kaiser ein mandat an unser undertan, praelaten, graven, ritterschaft und stet zu erlangen, in dem geboten werden sollte, ane unsern wissen und willen keine versamelung oder landtege zu machen. 35 Mit anderen Worten: Der Kaiser sollte bestätigen, dass die Landtagsausschreibung tatsächlich zu den landesherrlichen Rechten Philipps gehöre – was im Umkehrschluss die Vermutung nahe legt, dass diese Rechtsauffassung gerade nicht selbstverständlich war. Ein Jahrhundert später bedurfte es einer solchen ausdrücklichen Feststellung nicht mehr; nunmehr genügte es, dass die landgräfliche Regierung Tilly vorwarf, in die Landts fürstlichen Hoheitt undt Superioritet ein zu greiffen. 36 Die Regierungsräte stellten hier ihre juristische Schulung unter Beweis, denn bei der Superioritet handelte es sich um einen Fachbegriff der Reichspublizistik, die um 1600 entstanden war und das ‚öffentliche

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Beide Zitate: ‚Landgraf Philipp an die hessischen Stände. Marburg 1516 Aug. 23‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 197, S. 489f., S. 489. Vgl. auch oben 3.1. ‚Landgraf Philipp an Kaiser Maximilian. Instruktion für Valentin Ratzenberg. [1518 Mitte Okt.]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 214, S. 525f., S. 526; vgl. auch ‚Landgraf Philipp an die hessischen Stände. Marburg 1518 Okt. 9‘, in: ebd., Nr. 212, S. 523f., wo der Besuch des von den Rittern ausgeschriebenen Landtags verboten wird. – Dass die Ritter sich zu dieser Einberufung berechtigt sahen, wird indirekt belegt durch den Rechtsstandpunkt, den sie einige Jahre früher während der Vormundschaftskämpfe vertreten hatten: Damals führten sie aus, dass ein alt herkommen si, der ursache, das mehr lanttege durch die ritterschaft etwan ausgeschreiben, meher dan durch die fursten (‚Protokoll des Landtages zu Kassel. Kassel 1514 März 13–24‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 114, S. 242–320, S. 287). ‚Copia Protestationis Fl. Regirung zu Cassel ahn Generall Tylli wegen beschriebener Ständte naher Hirsfelts‘ [Kassel 1625 Febr. 2], in: StAM 340v. Dörnberg Nr. 10, unfoliiert, 3 S., S. 1 und S. 2.

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Recht‘ des Heiligen Römischen Reiches behandelte. 37 Schon die frühen Vertreter dieser Disziplin hatten unter dem Begriff der superioritas territorialis (Landesobrigkeit, später auch Landeshoheit) die heterogenen, über Jahrhunderte angehäuften Herrschaftsrechte der Reichsstände zu einer abstrakten und einheitlichen Herrschaftsgewalt synthetisiert, aus der sich wiederum die „prinzipiell unbegrenzten Herrschaftsrechte des Fürsten“ 38 ableiten ließen. Und zu diesen gehörte nach übereinstimmender Auffassung auch das Jus Comitiorum, 39 wobei dem landesherrlichen Recht zur Ausschreibung von Landtagen die Pflicht seiner Untertanen gegenüberstand, die ausgeschriebenen Landtage auch zu besuchen. 40 1619 etwa erklärte Dietrich Reinkingk, mit Andreas Knichen einer der Pioniere des allgemeinen Territorialstaatsrechts, dass es zur Rechtspflege (iustitiae administratio) als Teil der Landesobrigkeit an erster Stelle gehöre, „ut subditi vocati compareant ad conventus provinciales auff Landtage / quos Domini territoriales vigore territorialis juris cogere possunt“. 41 Gemäß dieser Auffassung hätten sich also sowohl General Tilly 37 38

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Zur Entstehung des öffentlichen Rechts vgl. immer noch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, I, und Wyduckel, Ius publicum. Vgl. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, S. 169f., S. 170. Vorbild für diesen Prozess war die von Jean Bodin vorgenommene Vereinheitlichung der majestas. Vgl. Besold, Politicorum libri duo, Buch 1, Kap. 4, Nr. 30: „Jus quoque Comitiorum, ad Principem spectat.“ Vgl. auch Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, IV, S. 223– 233; Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, S. 121–172; Sellin, Regierung, Regime, Obrigkeit; Riedenauer (Hg.), Landeshoheit. Vgl. auch eine ähnliche Auseinandersetzung im benachbarten Fulda: „Die Macht aber, derartige Versammlungen einberufen zu können, kennzeichnet die superioritas territorialis; ihr entspricht die subiectio der Versammlungsteilnehmer.“ (Jäger, Das geistliche Fürstentum Fulda in der frühen Neuzeit, S. 133). Reinkingk, Tractatus de regimine seculari et ecclesiastico, Buch 1, Klasse 5, Kap. 4, S. 588; vgl. auch Knichen, De Sublimi et Regio Territorii Iure Synoptica Tractatio, Kap. 3, Nr. 181, S. 99: „Iuramento subiectionis consectarium dicitur paritio in Comitiis provincialibus. Namque si quis saepius ad Comitia provincialia vocatus comparuerit, eaque praestiterit, quae reliqui subditi in album subditorum & provincialium dicitur relatus“; Wehner, Practicarum Juris Observationum, s.v. ‚Landsässerey und Landsassen‘, S. 466–468, S. 468: „Hinc eiusmodi homines Landtsassen a Principe ad comitia vocati, müssen auff Landtägen erscheinen.“ Alle drei Autoren verweisen auf Gail, Tractatus de Manuum Iniectionibus, Impedimentis, sive Arrestis Imperii, Kap. 7, Nr. 14: „Tertio probat subiectionis qualitas & quasi possessio ex continuatis, & saepius quiete repetitis actibus Iurisdictionalibus & subiectionis. Veluti si quis ad indicta Comitia Provincialia saepius conceptis verbis vocatus, […] breviter in numerum Subditorum, & cathalogum Provincialium relatus.“ Bei Gail ging es zunächst nur darum, dass der kontinuierliche Besuch von Landtagen herangezogen werden kann, um das Vorliegen von Untertänigkeit zu beweisen. Nachdem aber die vielfältigen und akkumulierten landesherrlichen Rechte im Begriff der superioritas territorialis zu einem allgemeinen und abstrakten Herrschafts-

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als auch die Landstände einer Verletzung der landgräflichen superioritas schuldig gemacht; erster durch die Berufung, letztere dadurch, dass sie der Berufung Folge leisteten. Allerdings war die Situation so eindeutig nun auch wieder nicht, denn die fürstliche Landesobrigkeit war nicht als unumschränkte summa potestas, sondern als eine Herrschaftsgewalt konzipiert, die ihre Grenze an der kaiserlichen majestas fand. 42 Deswegen war es durchaus fraglich, ob Tilly nicht vielleicht doch zur Berufung der Stände berechtigt war – handelte er doch im Auftrag des Kaisers. Der Kontakt zwischen Tilly und der Ständegesamtheit war also rechtlich heikel, entbehrte aber nicht völlig einer Legitimationsgrundlage. Anders war das, zumindest aus Sicht des Landgrafen und seiner Berater, bei dem Verhalten, das die Ritterschaft während des Exils des Landgrafen an den Tag legte – und das zum Auslöser des Ständekonflikts werden sollte.

5.1.2 Ein neuer politischer Akteur: Die ‚Erfindung‘ der niederhessischen Ritterschaft Bisher war es für die Ritterschaft kennzeichnend gewesen, dass sie mehrheitlich im Rahmen von Ständeversammlungen zusammengetreten war, bei denen sie sich (unter Einschluss der Prälaten) zwar als eigenen Kurie konstituierte, aber doch vor allem einen Teil der Ständegesamtheit bildete, die unter dem Namen „Prälaten, Ritter- und Landschaft“ als übergeordneter kollektiver Akteur auftrat. Und das galt auch dann, wenn

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recht synthetisiert worden waren, konnten Reinkingk und Knichen das bei Gail vorliegende Verhältnis umkehren und aus der Landesobrigkeit die Pflicht zum Landtagsbesuch folgern. Ein weiterer locus classicus in diesem Zusammenhang ist das Urteil des Reichskammergerichts von 1576 in Betreff der Reichsstandschaft der Grafschaft Ortenburg, mitgeteilt in Meichsner (Hg.), Decisionum Diversarum Causarum in Camera Imperiali Iudicaturum Adjunctis Votis & Relationibus, III, Decisio VI. Auch hier wird (in Nr. 47 und 52) das Vorliegen einer Untertänigkeit unter anderem durch den Besuch von Landtagen nachgewiesen. – Abgesehen werden kann hier von dem Umstand, dass das jus comitiorum nicht direkt aus der Landesobrigkeit gefolgert wird, sondern über Zwischenschritte, entweder die Rechtspflege (Reinkingk) oder den Huldigungseid (Wehner, Knichen). Vgl. Knichen, De Sublimi et Regio Territorii Iure Synoptica Tractatio, Buch 1, Klasse 5, Kap. 3, Nr. 3: „Mihi superioritas & jurisdictio territorialis die Landes Fürstliche oder Landes Hohe Obrigkeit nihil aliud est, quam jus & exercitium summi, post principem seu Imperatorem, imperii“; vgl. auch Binn, Hugo, De Statu Regionum Germaniae, Et Regimine Principum Summae Imperii Reip. Aemulo, Kap. 2, Nr. 9, und Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, S. 169.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

die jeweilige Versammlung nicht vom Fürsten einberufen worden war, also beispielsweise bei allgemeinen Landtagen während der Vormundschaftszeit oder den ständischen Zusammenkünften zur Schlichtung des Erbfolgestreits. 43 Eine Ausnahme bildeten nur die Ritterlandtage: Hier agierte die Ritterschaft zwar im eigenen Namen, aber im Verhältnis zu den anderen Landtagsformen fanden Ritterlandtage nur sehr selten statt und außerdem wurden diese immer vom Fürsten ausgeschrieben. Die Ritterschaft hatte sich mithin noch nie ‚für sich‘, außerhalb des fürstlich-ständischen Institutionengeflechts als ständisch-kollektiver Akteur konstituiert, weder im Rahmen der ‚philippinischen‘ noch der landständischen Verfassungsordnung. 44 Dazu kam es erst, als der im Laufe der Verfahrenskämpfe und der Besetzung Hessens endgültig gewordene Bruch zwischen dem Landgrafen und seinen Ständen zum Exil des ersteren geführt hatte. In dieser Situation war es der Kaiser, der den Rittern eine erste Möglichkeit eröffnete, aus dem institutionellen Rahmen der landständischen Verfassung auszuscheren: Im Juli 1623, also noch vor dem Beginn des Exils, war in Wien ein Schreiben an die hessische Ritterschaft aufgesetzt worden, in dem die Ritter ermahnt wurden, „sich in dem Gehorsam und der Devotion gegen ihn, den Kaiser, nicht abwendig machen zu lassen, unabbrüchlich ihrer sonstigen Verbindlichkeiten (gegen den Landesfürsten), falls man anders […] selbigen Ortes in gleichförmigen Gehorsam und Devotion zu verharren gedenke“. 45 Damit war nun explizit die Ritterschaft – und nicht die Ständegesamtheit – angesprochen, was unmittelbar ein Organisationsproblem nach sich zog, da die Ritter, wie gesagt, nicht über eingeführte Formen kollektiver Willensbildung außerhalb der Landtage verfügten. 46 Um diesem Umstand 43

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Das galt auch dann, wenn die Ritterschaft selbst Landtage einberief, was während der Vormundschaftszeit durchaus noch vorkam. Vgl. ‚Der sächsische Rat Hermann von Pack an Herzog Georg von Sachsen. Bericht über die Aufrichtung eines Regiments in Hessen [1509 Okt. 9]‘, in: Glagau, Landtagsakten, Nr. 14, S. 42–46, wo von einem Landtag berichtet wird, den die Landstände ohne fürstliche Beteiligung abhielten. Wie mehrfach erwähnt, geht es hier um die Ritterschaft als Stand des Landes, nicht um die Ritterschaft als Adelskorporation, die mit den Obervorstehern der adeligen Stifte und den Stiftstagen schon seit längerem über kollektive Handlungsfähigkeit verfügte, die nicht in den Rahmen der landständischen Verfassung eingebunden war. Vgl. allgemein Conze, Jendorff, Wunder (Hg.), Adel in Hessen, und Ledderhose, Von den adelichen Stiften, Kaufungen und Wetter in Hessen. Rommel VII, S. 557; vgl. auch Hollenberg II, S. 194, Anm. 330. Das Schreiben ist datiert Wien 1623 Juli 18./28. und findet sich in Abschrift in StAM 340v. Dörnberg, Nr. 28. Selbstverständlich standen die Ritter auch außerhalb der Landtage untereinander in engem Kontakt und tauschten sich schriftlich wie mündlich über die politische Lage

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abzuhelfen und die kaiserlichen Briefe beantworten zu können, luden Hermann von Wersabe und andere gegen Ende des Jahres zu einer ritterschaftlichen Ausschussversammlung, an der Vertreter aus jedem der fünf Strombezirke teilnehmen sollten. 47 Dieses Vorgehen fand die Zustimmung der restlichen Ritter, weshalb sich am 19. November 1623 zum ersten Mal die Ritterschaft des hessen-kasselischen Teilfürstentums außerhalb des landständischen Institutionengefüges konstituierte und ihre kollektive Handlungsfähigkeit dadurch unter Beweis stellte, dass sie ein Antwortschreiben an den Kaiser richtete. 48 Zunächst scheint die Inanspruchnahme eines Selbstversammlungsrechts durch die Ritterschaft nicht so sehr als Problem wahrgenommen worden zu sein, sondern eher als Erweiterung der ständischen Verfassungsordnung: Die fürstliche Seite war offenbar über das Vorgehen in Kenntnis gesetzt worden und hatte nicht protestiert; eine vom Erbmarschall im Januar einberufene Versammlung von Ritter- und Landschaft bezog sich zudem wie selbstverständlich auf die Ergebnisse der ritterschaftlichen Zusammenkunft. 49 Zuvor hatte sogar schon eine zweite ritterschaftliche Zusammenkunft in Hersfeld stattgefunden, auf der die Anwesende[n] von der Rittterschafft in Hessen Tilly schriftlich ersuchten, die Einquartierung zu mildern. 50

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aus. Das ist aber nicht hinreichend für die Bildung eines Kollektivwillens. Zur kollektiven Willensbildung landsässiger Ritterschaften im Rahmen von Landtagen vgl. Harding, Landtag und Adligkeit, S. 68–92. Vgl. Hollenberg II, S. 194, Anm. 329: Zunächst sollte die Tagung am 28. Oktober in Breitenbach stattfinden, wurde dann aber wegen der Einberufung eines engeren Landkommunikationstags abgesagt. Nachdem dieser ohne Abschied geschlossen worden war, lud Hermann von Wersabe erneut ein, diesmal auf den 19. November. Zunächst sollte auch diese Versammlung in Breitenbach stattfinden, wurde dann jedoch nach Hersfeld verlegt. Vgl. StAM 340v. Dörnberg, Nr. 28, und Hollenberg II, S. 194, Anm. 330: „Die Ritterschaft bekundete mit Schreiben vom 21. Nov./1. Dez. ihre Kaisertreue, die sie bei der Einquartierung der kaiserlichen Truppen jetzt und im vergangenen Juni und Juli bewiesen habe, und hoffte ihren Gehorsam ohne Abbruch ihrer Treue zu ihrem Landesfürsten erfüllen zu können.“ Laut Hollenberg II, S. 194, Anm. 331, wurden auf der Versammlung auch Schreiben an den Landgrafen und Sachsen konzipiert, aber „nach Bedenken Lg. Wilhelms und der Räte vorerst nicht abgeschickt“. Man wird daraus schließen dürfen, dass sie hinsichtlich der Versammlung als solcher keine Bedenken hatten. Besagte Schreiben wurden dann im Januar von der im Haupttext erwähnten Zusammenkunft von Ritter- und Landschaft endgültig abgeschickt. Im Versammlungsprotokoll wird sich auf die ritterschaftliche Zusammenkunft einfach mit der Formulierung hiebevor zue Herschfeldt bezogen (‚Protokoll. Kassel 1624 Jan. 27‘, in: ebd., S. 195f., S. 195). ‚Copia. Schreibens ahn ihre Excellentz den Herrn General Graffen von Tilly vonn der Ritterschafft in Heßen wegen Abnehmung oder Erleichterung des hochbeschwerlichen

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Die Situation änderte sich jedoch grundlegend im Sommer 1624: Bei einem Treffen in der Festung Ziegenhain hatte Generalaudienzierer Dr. Wolfgang Günther, der seit 1623 zum engsten Vertrauten des Landgrafen und damit „zum mächtigsten Mann in Hessen“ 51 aufgestiegen war, angeblich ungescheuet herausgestoßen, die Ritterschaft sei gleichsamb die Brücke, darüber der General Tilly in dies EFG Fürstenthumb und Landen gezogen. 52 Über diese Äußerung und einige andere Punkte beschwerte sich die Ritterschaft daraufhin am 1. Juli in einem langen Schreiben bei ihrem Landesherrn, verlangte, Günther solle nicht nur verhaftet, sondern auch gerichtlich belangt werden, und bat Moritz schließlich noch einmal inständig, sich mit dem Kaiser zu versöhnen. Der Landgraf aber teilte seinen Räten nur kurz angebunden mit, der Generalaudienzierer sei entschuldigt, weil er weiter nichts, als was er wohl von uns selbst gehöret undt verstanden, undt also ex mente, animo & ore nostro nachgeredt haben magk. 53 Damit hatte sich Moritz im Konflikt zwischen Günther und der Ritterschaft, die sich seit dem Ziegenhainer

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Winter Lagers. dati Hersfeldt 26./16. Januarii Anno 1624‘, (2 Abschriften) in: StAM 340v. Dörnberg Nr. 9, unfoliiert, 2 und 4 S., S. 2 und S. 4; vgl. auch Hollenberg II, Nr. 47a, S. 193f., S. 194. – Rommel VII, S. 576f., scheint die beiden Versammlungen in Hersfeld nicht zu unterscheiden, erwähnt aber, dass Landgraf Wilhelm die Stände „von einer ferneren Ueberschreitung ihrer Befugnisse abmahnte“ (ebd., S. 577). Gräf, „Vndt also ex mente, animo & ore nostro nachgeredt haben magk …“, S. 68. Zur Person des Generalaudienzieres vgl. Franz, Günther, Wolfgang; vgl. auch Grotefend, Der Prozeß des landgräflichen Raths Dr. Wolfgang Günther (1627–1628); darüber hinausgehend mit Korrekturen Keim, Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel vom Regierungsantritt 1627 bis zum Abschluß des Bündnisses mit Gustav Adolf 1631 (1962/ 63); in vergleichender Hinsicht und mit Verweisen auf den hessischen Fall immer noch anregend ist Oestreich, Das persönliche Regiment der deutschen Fürsten am Beginn der Neuzeit. ‚Ritterschaft an Landgraf Moritz. o. O. 1624 Juli 1‘, in: StAM 73 Nr. 32, 12 S., S. 2; Druck in Rommel VII, S. 682–690. Günther hatte untersucht, wie es im Frühjahr 1623 zu einer so schnellen Besetzung des Landes durch Tilly hatte kommen können (vgl. Gräf, „Vndt also ex mente, animo & ore nostro nachgeredt haben magk …“, S. 73). ‚Principis Resolutio. Wolfenbüttel 1624 Aug. 2‘, in: StAM 73 Nr. 32, 3 S., S. 2; Druck in Rommel VII, S. 692f. Hier auch eine tendenziöse, aber inhaltlich treffende Zusammenfassung des Schreibens der Ritterschaft: Soviel nun das Schreiben an sich selbst anlangt, seindt darin 3 Haupt Puncte, 1) die Beschuldigung unserer fürstlichen Person, als hetten wir unverhoffte und unbefindliche Dinge von ihnen geredet, zum 2) und weil dergleichen Reden von unserm General-Audienzirer zu Ziegenhain ergangen sein sollen, wird von ihnen ungewöhnlich und ungebührlich begehrt, denselben ihnen zu Gefallen auf eine peinliche Verfolgung hinzusetzen, vor’s 3) eine ganze unzimliche unbegründete Zunötigung, daß wir Uns noch ferner und mehr als bereits geschehn gegen Ihre Kais. Maj. und sonst agnosciren, überwinden, accomodiren, und ferner Unser und der Unsrigen Schaden und Ungemach nicht muthwillig verursachen sollen.

5.1 Der Strukturkonflikt, oder: Wer ist die niederhessische Ritterschaft?

299

Vorfall „als Todfeinde“ 54 gegenüberstanden, nicht nur hinter die Person des Generalaudienzierers gestellt, sondern sich auch den in seiner Äußerung liegenden Vorwurf des Landesverrats zu eigen gemacht. 55 Weil damit auch der letzte Rest an Vertrauen, der nach den Auseinandersetzungen um die Ritterdienste und den Verfahrenskämpfen zwischen Landgraf und Ritterschaft noch vorhanden gewesen sein mochte, nun endgültig zerstört war, 56 forcierten die Ritter in der Folge ihren schon bestehenden Kontakt zum Kaiser: Am 16. November 1624 erbat die im Niedern Fürstenthumb Hessen gesessene Ritterschafft undt Adell den Schutz des Kaisers – gegen ihren Landesherrn: So gelangt dem allem nach an E. Kay: May: alß solches Haupt undt Schutzherren aller Betrangten, unser allerunderthenigste Pitt, Sie wollen allergnedigst geruhen, uns dem Adell undt Ritterschafft deß Niederfürstenthums Hessen so weit undt wie vorstehet, in dero aller genedigsten Schutz und Schirm auf undt anzunehmen, und Sicherung zu ertheilen, damit hochgedachte Ihre FG oder alle dero hohe und niedere Krigß undt andere Officirer Räthe undt Beampten, undt sonsten von Ihrer FG wegen, wir in keinerley Weis undt Wege, wie das nahmen haben mögte, uber undt wieder daß ubliche undt beweisliche Herkommen, bevorab auch in Gewiessenßs Sachen, beschwerdt belegt und betrückt, sondern sampt und ein ieder insonderheit bey Recht undt Gerechtigkeit gehandthabt, […] werde. 57

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Keim, Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel vom Regierungsantritt 1627 bis zum Abschluß des Bündnisses mit Gustav Adolf 1631 (1962), S. 166. Von Landesverrat sprechen auch Demandt, Geschichte des Landes Hessen, S. 252 (allerdings mit Bezug auf das später erfolgte Mandatum de non offendo); Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 303. – Nach der Abdankung Moritz’ 1627 wurde Günther – nach einem mehr als anfechtbaren Prozess – schließlich hingerichtet. Vgl. Wolff, Moritz der Gelehrte, S. 138, und Gräf, Konfession und internationales System, S. 315. ‚Copia Schreibens deß Adels und Ritterschafft im Niederfürstenthumbs Hessen, an Kayserl. May., pro Mandato de non offendo sub dato den 16.t. Novemb. ao 1624‘, in: StAM 340v. Dörnberg Nr. 9, unfoliiert, 9 S., S. 6. Das Schreiben erwähnt nicht nur explizit das Schreiben vom 1. Juli, sondern argumentiert auch ähnlich: Auch hier wird Moritz vorgeworfen, er habe den Rittern die Schuld an der Besetzung Hessens zugeschrieben; die Episode mit Wolfgang Günther wird zwar ausgelassen, aber dann ebenfalls erwähnt, dass die Ritter als fuer Meutemacher, Rebellen undt Landsverräther außgegeben würden. Diese Ähnlichkeiten unterstreichen noch einmal die Bedeutung des Vorwurfs des Landesverrats für die Handlungsweise der Ritterschaft. – Zuvor war noch ein Versuch gescheitert, eine Verständigung im Rahmen der Ständegesamtheit zu initiieren, vgl. ‚Landstände an Landgraf Moritz. Kassel 1624 Aug. 31‘; ‚Vizekanzler und Räte im Auftrag Landgraf Moritz‘ an Landstände. Kassel 1624 Sept. 24‘ und ‚Landstände an Vizekanzler und Räte. Kassel 1624 Sept. 25‘, alle in: StAM 73 Nr. 32. Vgl. auch Hollenberg II, Nr. 48a, S. 196f.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Ist schon der Inhalt des Schreibens von großer Tragweite, so darf darüber nicht vergessen werden, dass hier zum ersten Mal der neue kollektive Akteur explizit benannt wurde – die ‚niederhessische Ritterschaft‘. Zur ersten ritterschaftlichen Zusammenkunft Ende 1623 sollten aus allen Strombezirken Deputierte entsandt werden, die zu Hessen-Kassel gehörten, also aus den vier niederhessischen Quartieren (Diemel, Fulda, Werra, Schwalm) und aus dem oberhessischen Lahnbezirk. Das von der zweiten Versammlung im Januar 1624 an Tilly gerichtete Schreiben war jedoch ganz allgemein von den Anwesende[n] von der Ritterschafft in Hessen unterzeichnet worden, ohne darauf hinzuweisen, dass es sich bei den Anwesenden eben nur um solche Mitglieder der Ritterschaft handelte, die in Hessen-Kassel ansässig waren. 58 Diese Praxis war seit dem Erbfolgestreit üblich: Obwohl sich faktisch landständische Verfassungen seit 1604 auf der Ebene der beiden verbliebenen Teilterritorien entwickelt hatten, war normativ nicht nur an der gesamthessischen Verfasstheit der Ständegesamtheit, sondern auch der Ritterschaft festgehalten worden. Es war daher bei Ständeversammlungen immer nur von den ‚Anwesenden von der Ritterschaft‘ die Rede, wobei unklar blieb, ob damit im Einzelfall nun die normativ ausgezeichnete gesamthessische oder die zumindest in der politischen Praxis längst existierende hessen-kasselische Ritterschaft gemeint war. 59 Diese Praxis wurde nun aufgegeben, denn der kaiserliche Schutz wurde explizit nicht ut singuli für einige niederhessische Ritter und Adelige, sondern ut universi für die niederhessische Ritterschaft beantragt. Da Landgraf Moritz

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‚Copia. Schreibens ahn ihre Excellentz den Herrn General Graffen von Tilly vonn der Ritterschafft in Heßen wegen Abnehmung oder Erleichterung des hochbeschwerlichen Winter Lagers. dati Hersfeldt 26./16. Januarii Anno 1624‘, (2 Abschriften), in: StAM 340v. Dörnberg Nr. 9, unfoliiert, 2 und 4 S., S. 2 und S. 4; vgl. auch Hollenberg II, Nr. 47a, S. 193f., S. 194. Man vergleiche, neben der soeben zitierten Selbstbezeichnung auf der ritterschaftlichen Versammlung, die Selbstbezeichnungen auf den Ritterlandtagen unter Moritz: I. F. G. unterthenige treue gehorsame und schuldpfllichtige anweßende von der ritterschafft (‚Erklärung der Ritterschaft. Treis an der Lumda 1622 Juni 8‘, in: Hollenberg II, S. 169– 171, S. 171); E.f.g. unterthänige pflichtschuldige sämptliche anwesende von der ritterschafft (‚Resolution der Ritterschaft. Kassel 1622 Mai 28‘, in: ebd., S. 167–169, S. 169); denen alhier versamleten von der ritterschafft (‚Erklärung der Ritterschaft. Hofgeismar 1622 März 27‘, in: ebd., S. 162–165, S. 162); ihrer f.g. hiertzu anhero beschriebenen praelaten und von der ritterschafft (LTA 1610 April, S. 58). – Das man durchaus differenzieren konnte, zeigt der Kommunikationstag mit der Ritterschaft an der Werra im Mai 1622, wo von den ahnwesenden vonn der ritterschafft an der Werra die Rede ist (‚Erklärung der Ritter an der Werra. Witzenhausen 1622 Mai 12‘, in: Hollenberg II, S. 165–167, S. 166).

5.1 Der Strukturkonflikt, oder: Wer ist die niederhessische Ritterschaft?

301

zu diesem Zeitpunkt seinen Teil des Oberfürstentums sowohl rechtlich wie faktisch verloren hatte, tritt hier unter der Benennung ‚niederhessisch‘ zum ersten Mal eine genuin hessen-kasselische Ritterschaft explizit als kollektiver Akteur auf, der nicht identisch ist mit der gesamthessischen Ritterschaft. 60 Oben war ausgeführt worden, dass im Frühjahr 1625 die kasselische Ständegesamtheit in den Fokus der kaiserlichen Politik geriet, als es darum ging, die Neutralität Hessen-Kassels im Falle eines Abzuges der Ligatruppen zu sichern. Das ist aber nur ein Teil des Bildes, denn parallel dazu wandte sich Ferdinand II. – auf Vermittlung Tillys – auch der niederhessischen Ritterschaft zu und erteilte ihr am 2./12. März einen kaiserlichen Schutzbrief, was dem Landgrafen in Form eines Mandatum de non offendo mitgeteilt wurde. 61 Moritz war es fortan reichsrechtlich verboten, die Ritterschaft als ganze sowie ihre einzelnen Mitglieder wieder und uber das ubliche und beweißliche Herkommen zu beschweren, und er war dagegen gehalten, sie sicher und unbetrübet [zu] laßen. 62 Damit aber war eine paradoxe Situation eingetreten, denn mit der niederhessischen Ritterschaft hatte der Kaiser eine Institution in seinen Schutz aufgenommen, die es in der Praxis so bisher gar nicht gegeben hatte, wie sich schon Ende 1623 gezeigt hatte, als das kaiserliche Schreiben beantwortet werden musste. 63 In die-

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Der hessen-kasselische Teil des Oberfürstentums war vom Reichshofrat im April 1623 Hessen-Darmstadt zugesprochen und dann im Frühjahr 1624 auch tatsächlich eingenommen worden (vgl. Hollenberg, Einleitung II, S. 5). Die Adeligen der Niedergrafschaft Katzenelnbogen besuchten die hessischen Landtage seit dem späten 16. Jahrhundert nicht mehr. – Dass der kaiserliche Schutz nicht im Namen der gesamthessischen Ritterschaft erbeten wurde, liegt wohl mittelbar darin begründet, dass die Ritter des Oberfürstentums die Klage gegen Wolfgang Günther nicht mittragen wollten (vgl. Rommel VII, S. 580–582). Vgl. ‚Copia Kayserliche Salva Guardien der Ritterschafft des Niederfürstenthumbs Heßen [Wien 1625 März 2./12. Abschrift]‘, in: StAM 340v. Dörnberg Nr. 10, unfoliiert, 5 S., und eine notariell beglaubigte Abschrift des ‚Mandatum de non offendo [Wien 1625 März 2/12]‘, in: StAM 304 Nr. 443, unfoliiert, 15 S. Ebd., S. 10 und S. 14. Vgl. auch Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 295, der ebenfalls auf die paradoxe Situation hinweist: „Zunehmend zeichneten die Ritter in solchen Beschwerden im Sommer 1624 auch als ‚samptlichen ritterschaft des fürstentums Hessen‘ und wuchsen so schrittweise in die Rolle einer Korporation hinein, die sie tatsächlich nicht waren.“ Allerdings ist die Angabe ungenau, da es sich auch zu diesem Zeitpunkt schon um die hessen-kasselische Ritterschaft handelte, die dissimulierende Selbstbezeichnungspraxis aber noch nicht aufgegeben wurde. Es entwickelte sich ja eine hessen-kasselische, keine gesamthessische Korporation, worüber auch die Beteiligung der Obervorsteher der adeligen Stifte nicht hinwegtäuschen kann.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

ser Situation initiierten die Ritter einen Prozess, den Günter Hollenberg zu Recht als „[r]itterschaftliche Selbstorganisation“ 64 charakterisiert hat. Genauer könnte man sagen, dass es sich um eine ‚nachholende Selbstorganisation‘ handelte, denn als die Ritter zwischen den beiden durch Tilly einberufenen ‚Quasi-Landtagen‘ erneut ein Selbstversammlungsrecht in Anspruch nahmen und am 22. April in Altmorschen eine Zusammenkunft hielten, sollte der im kaiserlichen Schutzbrief genannten Institution im Nachhinein ein organisatorisches Gerüst gegeben werden. 65 Dazu kamen aus allen vier creißen des niederfurstenthumbs Heßen etzliche von der ritterschafft 66 zusammen und richteten einen Abschied folgenden Inhalts auf: In jedem der vier Strombezirke sollten zwei directores 67 ernannt werden; diese acht Ritter würden dann gemeinsam ein umfassend bevollmächtigtes Kollegium bilden und die Führung und Vertretung der Ritterschaft übernehmen. 68 Die Arbeit des Kollegiums sollte durch eine Umlage finanziert werden, zu der jeder Ritter nach seiner Leistungsfähigkeit beitragen sollte. 64 65

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Hollenberg II, Nr. 49, S. 198–202. Zum Unterschied zwischen Institution und Organisation vgl. Rehberg, Die stabilisierende ‚Fiktionalität‘ von Präsenz und Dauer, S. 390f., der Organisationen als „formale Zusammenschlüsse von Mitgliedschaftsgruppen im Kontext zweckorientierter Aufgabenerfüllung (mit Mitgliedschaftsregeln, Organen und Instanzen, Normierungs-, Führungs-, und Verwaltungskompetenzen etc.)“ versteht. ‚Abschied der Rittter an Fulda und Lahn. Ulfen 1625 April 30‘, in: Hollenberg II, S. 198–202, S. 198. Vgl. auch ‚Recess zue Alten Morschen am 22. t. Apri. Ao 1625 aufgericht undt hernach zu Ulfen geschlossen. [Ulfen 1625 April 30]‘, in: StAM 304 Nr. 443, unfoliiert, 5 S. Der Titel dieses Aktenstücks ist deutlicher als der von Hollenberg in seiner Edition gewählte: Der Abschied wurde schon am 22. April in Altmorschen von den Vertretern aller vier Strombezirke formuliert; das ist die eigentlich repräsentative und daher kollektiv verbindliche Tagung, wobei allerdings kein schriftlicher Abschied ermittelt werden konnte (vgl. auch Hollenberg II, S. 198, Anm. 347). Die zusätzliche Versammlung in Ulfen am 30. April wurde wahrscheinlich deshalb notwendig, weil in Altmorschen die Beiträge der Ritter des Fulda- und Werrastroms zur gemeinschaftlichen Umlage noch nicht festgelegt worden waren, anders als diejenigen von Diemel- und Schwalmstrom (vgl. ‚Protokoll der ritterschaftlichen Zusammenkunft. Altmorschen 1625 April 22‘, in: StAM 304 Nr. 443, unfoliiert, 4 S., S. 2–4). Ebd., S. 1. Vgl. ‚Abschied der Rittter an Fulda und Lahn. Ulfen 1625 April 30‘, in: Hollenberg II, S. 198–202, S. 200: Undt sollen diese acht personen […] mit genungsamen mandatis von allen ihren mitgliedern in einem jedweden krayß legitimiret undt versehen, auch ihnen die mittell zu nottwenttigen verlag geschafft werdenn. Am 28. Mai wurde den Direktoren dann eine umfassende Vollmacht ausgestellt; eine von vierzehn Rittern unterschriebene und besiegelte Fassung findet sich in StAM 304 Nr. 443 (unfoliiert, 8 S.), eine spätere mit acht Siegeln und Unterschriften in StAM 340v. Dörnberg Nr. 11 (unfoliiert, 8 Seiten), vgl. auch Hollenberg II, S. 200, Anm. 351, wo er zeigt, warum die erste die ältere Fassung ist.

5.1 Der Strukturkonflikt, oder: Wer ist die niederhessische Ritterschaft?

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Auf diese Weise mit symbolischen und materiellen Ressourcen ausgestattet, wurde den ‚Direktoren‘ eine Reihe konkreter Aufgaben zugewiesen: Sie sollten die korrekte Insinuation des mandatum de non offendo und einer ritterschaftlichen Resolution in der causa Wolfgang Günther übernehmen; einen Advokaten als Rechtsbeistand anstellen; Beschwerde führen über einen Strafprozess gegen den Ritter Kaspar Hund, der ohne die Beziehung adeliger Richter verurteilt worden war, und Gesandtschaften an Tilly sowie – möglichst gemeinsam mit den Städten – an Kursachsen und Landgraf Ludwig abfertigen. 69 Da die meisten dieser Aufgaben keine Verzögerung duldeten, wurden die neu geschaffenen Ämter in den nächsten Wochen zügig besetzt und der Prozess der Selbstorganisation erfuhr einen ersten Abschluss, als auf einer weiteren ritterschaftlichen Versammlung am 28. Mai eine schriftliche Vollmacht für die acht „Stromvorsteher“ 70 ausgestellt und besiegelt wurde: 69

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Vgl. ‚Abschied der Rittter an Fulda und Lahn. Ulfen 1625 April 30‘, in: Hollenberg II, S. 198–202; aus ‚Protokoll der ritterschaftlichen Zusammenkunft. Altmorschen 1625 April 22‘, in: StAM 304 Nr. 443, unfoliiert, 4 S., S. 1, lässt sich zusätzlich entnehmen, dass bei der ersten Zusammenkunft darüber gesprochen wurde, ein Schreiben an Landgräfin Juliane, die Gemahlin Landgraf Moritz’, abzusenden und eine Rechtfertigungsschrift im Druck erscheinen zu lassen, in der erklärt werden sollte, warum die Ritterschaft die kaiserlichen Mandate erwirken musste. Hollenberg II, S. 200, Anm. 351. Die Bezeichnung ist allerdings problematisch, weil man die 1625 eingesetzten ‚Stromvorsteher‘ dann leicht mit den ‚Stromdeputierten‘ des späten 17. und 18. Jahrhunderts verwechseln kann. Bei letzteren handelte es sich zwar ebenfalls um Amtsträger der Strombezirke, welche „die landschaftlichen und insbesondere die ritterschaftlichen Angelegenheiten derselben“ (Ledderhose, Von der landschaftlichen Verfassung der Hessen-Casselischen Lande, S. 38) besorgten, aber es scheint jedoch keine direkte Kontinuität zu den ‚Stromvorstehern‘ zu geben. Neben dem Indiz, dass es zwei Stromvorsteher, aber nur einen Stromdeputierten gab, spricht dafür, dass ähnliche Ämter immer wieder eingerichtet wurden; vgl. etwa ‚Protocol so zu Kaufungen bey der Zusamenkunfft den 5 Xber 646. gehalten worden ob man einen Advocaten bestellen undt eine Ahnlage mahen solte [Kaufungen 1646 Dez. 5]‘, in: StAM 304 Nr. 501, unfoliiert, 6 S., S. 6: Die Deputirte betreffend hielte er [Hans Diede zum Fürstenstein] dafohr daß auß iedem Bezirck 2 dazu verordnet undt gevolmechtigett werden solten. Die übrigen seint mitt diesem voto einig. Diede bezieht sich in seinem Votum zwar explizit auf die Geschehnisse von 1625, aber aus dem zitierten Satz geht eindeutig hervor, dass es 1646 keine Stromvorsteher mehr gab. Vgl. auch ‚Ritterschaftliches Protokoll. Hersfeld 1686 Aug. 25‘, in: Hollenberg III, S. 150–153, S. 152: Weiln auch in Vortrag kommen, daß umb beßere Ordtnung an jedem Strohm zwey von der Ritterschafft möchten deputiert werden, an welche die Ausschreiben abzuschicken und mit denenselben in vorfallenden unverzüglichen Fällen zu deliberiren sey, so ist von ahnwesender Ritterschafft benahmbt: [Es folgen die Namen]. Hier ist zwar von zwei Deputierten die Rede, aber es scheint sich für die Zeitgenossen um eine Neuschöpfung zu handeln. Wann genau sich dann die Praxis durchsetzte, einen Stromdeputierten zu wählen, muss derzeit offenbleiben.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Geben Ihnen demnach hirmit zu obig berührtem allem unsere volekommene Macht und Gewalt […] und verpflichten uns in gesambt und ein jeder insonderheit für uns und unsere Nachkommen […] alles und jedes, was von Ihnen, nemlich diesen achten unsern Freunden oder denen, welche Ihnen gebührlich substituiret oder nachfolgen werden, in gesambt so wohl in unsers Vatterlands Angelegenheiten als in unseren gemeiner Ritterschafft sonderbahren Sachen, tractiret, gehandelt und geschloßen wirdt, anders nit, als wehre es von uns allen gegenwertig beschehen, für genehm […] zu halten und zu vertretten. 71

Diese Vollmacht ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Erstens handelt es sich um eine zeitlich unbefristete Vollmacht, da sowohl die Rechtsnachfolger der Aussteller (und unsere Nachkommen) wie auch der Bevollmächtigten (denen, welche Ihnen gebührlich substituiret oder nachfolgen werden) einbezogen werden. Es wurden also nicht nur einige Mitglieder der Ritterschaft als Gruppe autorisiert, die einen Monat zuvor zusammengetragenen Aufgaben zu erledigen, sondern es sollte offenbar ein neues und auch dauerhaftes Leitungsgremium eingerichtet werden. Zweitens handelt es sich auch inhaltlich um eine Generalvollmacht, die sich nicht nur auf korporationsspezifische (in unseren gemeiner Ritterschafft sonderbahren Sachen), sondern auch auf die übergreifenden politischen Handlungskontexte (in unsers Vatterlands Angelegenheiten) bezog; die acht ‚Direktoren‘ sollten also die Ritterschaft in ihren beiden Rollen vertreten, als Adelskorporation wie auch als Landstand. Überblickt man die Ereignisse der Besatzungszeit, angefangen vom ersten kaiserlichen Schreiben (Juli 1623) bis hin zur Ausstellung der Vollmacht an die acht Stromvorsteher (Mai 1625), so zeigt sich, dass die hessen-kasselischen Ritter einen umfassenden Institutionalisierungsprozess eingeleitet hatten: Einige ritterschaftliche Geschlechter, die kaum mehr gemein hatten, als dass sie im Niederfürstentum Hessen, dem Kerngebiet der Kasseler Linie, ansässig waren, sollten zu einer legitimen und organisierten Institution namens ‚niederhessische Ritterschaft‘ vergemeinschaftet werden, die in der Lage sein würde, dauerhaft als kollektiver Akteur aufzutreten und auch außerhalb von Landtagen handlungsfähig zu sein. Schaut man genauer hin, so zeigt sich, dass im Wechselverhältnis von normativen Ansprüchen und verstetigten Praktiken, das auch für die Genese von institutionellen Ordnungen konstitutiv ist, die strukturie-

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‚Vollmacht. Altmorschen 1625 Mai 28‘, in: StAM 340v. Dörnberg Nr. 11, unfoliiert, 8 S. Bevollmächtigt wurden: Fulda: Hermann von Wersabe und Philipp von Scholley; Werra: Dietrich Hermann von Buttlar und Heinrich von Boyneburg genannt von Hohnstein; Diemel: Hermann von der Malsburg und Burkhard von Stockhausen (beide Obervorsteher der adeligen Stifter); Schwalm: Asmus von Baumbach und Burkhard Schetzel zu Merzhausen; vgl. auch Hollenberg II, S. 200, Anm. 351.

5.1 Der Strukturkonflikt, oder: Wer ist die niederhessische Ritterschaft?

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renden Wirkungen in diesem Fall vor allem von der normativen Seite ausgingen: Die kaiserlichen Schreiben, Schutzbriefe und Mandate verpflichteten die Ritterschaft und alle anderen Akteure, die mit ihr zu tun hatten, vor allem Landgraf Moritz und die kaiserlichen Heerführer, explizit auf die Einhaltung bestimmter Verhaltensnormen. Damit aber war implizit vorausgesetzt, dass es sich bei der niederhessischen Ritterschaft tatsächlich um einen kollektiven Akteur handle, denn nur als institutionelle persona ficta konnte sie überhaupt Adressat und Gegenstand solcher Normen sein. Offiziell stellte der Kaiser die niederhessische Ritterschaft also ‚nur‘ unter seinen Schutz, faktisch aber legitimierte er damit überhaupt erst ihre Institutionalisierung. Er spannte einen normativen Rahmen auf, innerhalb dessen institutionelle, also hier genuin ‚ritterschaftliche‘ Praxisformen ausgebildet und auf Dauer gestellt werden konnten, wie es dann mit der Inanspruchnahme des Selbstversammlungsrechts, dem in Altmorschen aufgerichteten Abschied vom April und der ebenda ausgestellten Vollmacht vom Mai 1625 auch tatsächlich versucht wurde. 72 Der jahrzehntelange Entstehungsprozess der landständischen Verfassung in Hessen-Kassel hatte einen kollektiven Akteur ins Zentrum gestellt und privilegiert – die Ständegesamtheit. Und weil die ständischen Interessen daher zunehmend nur noch auf Land(kommunikations)tagen artikuliert und verhandelt wurden, entwickelten sich Ritter- und Städtelandtage zu ‚Auslaufmodellen‘. Nunmehr aber hatte sich innerhalb eines Jahres der einflussreichere Teil dieser Ständegesamtheit plötzlich als ein kollektiver Akteur eigenen Rechts instituiert, der die ritterschaftlichen Interessen besser zur Geltung bringen sollte; die hessen-kasselische Ritterschaft war auf dem Wege, eine Korporation zu werden. 73 Mit dieser korporativen Selbstkonstitution der Ritterschaft entstand allerdings ein strukturelles Problem von großer Tragweite: Die Vollmacht von Altmorschen stellte ausdrücklich fest, dass die Stromvorsteher auch in unsers Vatterlands Angelegenheiten als Vertreter der Ritterschaft auf72

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Es ist schon hier darauf hinzuweisen, dass die Institutionalisierung in der Praxis nicht über erste Ansätze hinauskam, was mit dem Ausgang der Krise zu tun hat, die durch den Institutionalisierungsschub ausgelöst wurde. Und das ist vermutlich auch der Grund, warum die Konstituierung der Ritterschaft fast ohne symbolisch-expressive Elemente von statten ging: Es gab einfach kaum instrumentelle ‚Formen‘, die mit zusätzlicher Bedeutung hätten aufgeladen werden können. Derartige Entwicklungen setzten flächendeckend offenbar erst dann ein, als die landständische Verfassung sich endgültig durchgesetzt hatte, also ab der Mitte des 17. Jahrhunderts; vgl. Harding, Landtag und Adligkeit, S. 28f.; Neu, The Importance of Being Seated, S. 133f. Damit lässt sich eine funktionale Ähnlichkeit zwischen den Einungen des frühen 16. und der Vollmacht des frühen 17. Jahrhunderts feststellen; vgl. oben 3.1.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

treten und handeln sollten, also auch dann, wenn es um politische Fragen ging. Da aber die Ausübung der ständischen Herrschaftspartizipation in den vorangegangenen Jahrzehnten immer enger mit der Ständegesamtheit verbunden worden war, stellte sich nun die Frage des Verhältnisses von gesamtständischer und ritterschaftlicher Korporation. Zwei Modelle waren denkbar: Man konnte die Formulierung in der Vollmacht dahingehend interpretieren, dass der ritterschaftliche Ausschuss befugt sein sollte, die Ritterschaft im Rahmen der landständischen Willensbildung zu vertreten, bei der es insofern um die ‚Angelegenheiten des Vaterlands‘ ging, als dass vornehmlich die Ständegesamtheit berechtigt war, politische, also kollektiv verbindliche Entscheidungen zu fällen. Oder aber man verstand die Formulierung so, dass die Ritterschaft für sich das Recht reklamierte, eigenständig als politischer Akteur aufzutreten, das heißt auch außerhalb des landständischen corpus nicht nur die eigenen, ritterschaftlichen Interessen, sondern vor allem das Gemeinwohl zu vertreten und zu verfolgen. Man sieht sofort, dass das weitergehende zweite Modell die Rolle der Ständegesamtheit als Hauptträger der politischen Partizipationsrechte relativierte und damit einem Grundprinzip der inzwischen etablierten landständischen Verfassungsordnung widersprach. Über kurz oder lang würde also geklärt werden müssen, ob die Ritterschaft innerhalb des hessen-kasselischen Gemeinwesens als legitimer politischer Akteur neben der Ständegesamtheit auftreten dürfe oder nicht – das war die entscheidende herrschaftsstrukturelle Konfliktlage, die sich mit dem ritterschaftlichen Institutionalisierungsschub seit 1623 ergeben hatte. 74 Die Ritter selbst allerdings sahen offenbar keinen potentiellen Konflikt; eher empfanden sie ihre neuen Handlungsoptionen als subsidiäre Ergänzung der landständischen Ordnung, wie sich etwa darin zeigt, dass die erste Tagung in Altmorschen eine Abschickung an Cuhrsachsen von sämptlicher Ritter undt Landtschafft item an L. Ludwigen von der Ritterschafft, weilen die Stätte darin bedenkens, beschloss – gesamtständische Gesandtschaften wurden also vorgezogen, aber bei Bedarf durch

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Gelöst wurde dieses Problem erst mit der Konsensualresolution von 1655; vgl. unten 5.4. – Einige Autoren meinen, die Ritter hätten 1625 „am Horizont das Ende ihrer Landsässigkeit und den Status einer Reichsritterschaft“ (Hollenberg, Primat der Innenpolitik?, S. 127; so auch Demandt, Die Hessischen Landstände nach dem 30jährigen Krieg, S. 165) gesehen. Ein solcher Schritt stand jedoch nie zur Debatte, vgl. auch Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 29, der diese Behauptung ebenfalls für „quellenmäßig nicht belegt“ hält.

5.1 Der Strukturkonflikt, oder: Wer ist die niederhessische Ritterschaft?

307

rein ritterschaftliche ergänzt. 75 Und im Grunde hatte die Ritterschaft mit diesem Institutionalisierungsschub genau die Strukturen geschaffen, die Moritz bis 1620 immer gewünscht und in den Verfahrenskämpfen zu erzwingen versucht hatte. Allerdings war die Stoßrichtung nunmehr eine ganz andere, denn der umfassend bevollmächtigte, also die Ritterschaft repräsentierende Ausschuss der acht ‚Direktoren‘ diente nicht der intensiveren Zusammenarbeit mit dem Landgrafen und seinem Regierungsapparat, sondern sollte deren Zugriff ja gerade verhindern, indem er den kaiserlichen Schutz zur Geltung brachte. 76 In der Praxis hieß dass vor allem, die neu gewonnene institutionelle Handlungsfähigkeit zu nutzen, um die Lasten der Besatzung für die einzelnen Ritter, ihre Güter und Hintersassen zu mildern. 77

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‚Protokoll der ritterschaftlichen Zusammenkunft. Altmorschen 1625 April 22‘, in: StAM 304 Nr. 443, unfoliiert, 4 S., S. 1; vgl. auch ‚Abschied der Ritter an Fulda und Lahn. Ulfen 1625 April 30‘, in: Hollenberg II, S. 198–202, S. 201. – Zudem wurde die Ritterschaft direkt von ihrer zweiten Tagung in Altmorschen nach Hersfeld zu Tillys zweitem ‚QuasiLandtag‘ bestellt; vgl. ‚Concept eines Schreibens ahn Fl. Vice Cantzler undt Räht zu Caßell, darinnen Ihnen die zu Herschfeld von ahnwesenden Ritter: Und Landschaft letzt vergebene Assecuration zu wißen gemacht und verschickt Herschfeld am 1. t. Junii ao. 1625‘, in: StAM 340v. Dörnberg Nr. 12, unfoliiert, 1 S.: ist bewußt, wie der Herr Generall Graff von Tilly uns von den Stätten auff 29. t. May anhero erfordert, undt findet sich bey liegendt, welcher gestalt auch wir von der Ritterschafft zur Alten Morschen, den 28. t. May daselbst aus berichteter maßen versamblete den Stätten gleichsamb anhero beschieden worden. An dieser Episode zeigt sich im Übrigen auch, dass allein das Vorhandensein bestimmter institutioneller Strukturen noch keinen Schluss auf ihre Funktion zulässt. Erst die Einbeziehung der institutionellen Praxis und die Einbettung der Gesamtinstitution in das sie umgebende Machtfeld ermöglicht Aussagen darüber, welchen Akteuren diese Strukturen nutzen. So ist es eben situationsabhängig, ob es im Interesse der Stände liegt, ihren Institutionalisierungsgrad zu erhöhen, Leitungsgremien einzurichten und diesen kollektiv verbindliches Entscheiden zuzubilligen, oder ob es aussichtsreicher ist, diesen Weg nicht einzuschlagen und Entscheidungen immer nur bei Gesamtversammlungen zu treffen. Anders aber, aus etatistischer Perspektive, exemplarisch Lange, Landtag und Ausschuß, S. 196. Vgl. Hollenberg II, S. 214, Anm. 374: „Tilly hatte am 28. Aug. [1625] seine Offiziere angewiesen, die niederhessische Ritterschaft zu schonen (Abschrift in StAM 340v. Dörnberg Nr. 3).“ Es gibt allerdings keine gesicherten Daten darüber, ob sich die Ritter den Lasten der Einquartierung tatsächlich weitgehend entziehen konnten. Unverkennbar ist aber, dass sich in der Bevölkerung die Ansicht durchsetzte, dass dies der Fall sei; vgl. Rommel VII, S. 599f.: „Die durch Tilly’sche Schirmbriefe eximirten Hessischen Edelleute an der Werrra wurden von ihren eigenen Unterthanen heimgesucht.“; ebd., S. 608; Maruhn, Nesessitäres Regiment, S. 28. In der Praxis wurde der allgemeine kaiserliche Schutz in Form von Salvaguardien konkretisiert, die einzelne Ritter von Tilly – und später dann Wallenstein – erhielten, vgl. etwa Hollenberg II, S. 199, Anm. 349.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

5.1.3 Konflikt, Entfremdung, Experiment: Die Folgen der ‚Erfindung‘ und die Unausgetragenheit der Verfassung Genau diese auf den ersten Blick so erfolgreiche Politik der Ritterschaft brachte jedoch zwei Folgewirkungen mit sich, die in ihrer Kombination erst zu einer manifesten Krise der landständischen Verfassung und dann zum Ausbruch eines Ständekonflikts führten. Erstens verschlechterte sich das Verhältnis zur landesfürstlichen Seite, also zu Landgraf, Statthalter und Regierung, noch weiter – was eigentlich kaum noch noch möglich schien. Nachdem Landgraf Moritz im Juni 1625 wieder nach Hessen zurückgekehrt war, ließ er für November einen ersten Landkommunikationstag ausschreiben. 78 Es handelte sich jedoch in mehrfacher Hinsicht um eine ungewöhnliche Ständeversammlung: Zum einen waren die vierzehn Ritter, die – in ihrer Funktion als ritterschaftlicher Ausschuss – im März 1622 die Annahme eines Abschieds verweigert und damit den Landtag gesprengt hatten, ausdrücklich nicht geladen; 79 zum andern wurden bei der Eröffnung zwei Propositionen verlesen, deren zweite sich ausdrücklich an die Ritterschaft richtete. 80 Und obwohl mit ihr die Versöhnung zwischen Fürst und Adel eingeleitet werden sollte, brachte die Proposition mehr als deutlich zum Ausdruck, dass die landesherrliche Sicht das Verhalten der Ritterschaft vollkommen anders bewertete als diese selbst. Das begann schon ganz grundsätzlich damit, dass die fürstliche Seite den Geschehnissen der Besatzungszeit jegliche korporative Qualität absprach: Es sei eben nur der mehrertheil von Unßer Ritterschafft, aber nicht die Ritterschaft selbst gewesen, die beispielsweise das mandatum de non offendo erwirkt hätte. 81 Ebenso grundsätzlich wurde das gesamte 78

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Zuvor war schon im Juli ein Städtelandtag durchgeführt worden, der allein deshalb von zentraler Bedeutung ist, weil auf ihm die Kontribution als eine ständige monatliche Steuer zur Unterhaltung der Truppen eingeführt wurde (vgl. ‚Abschied mit den Städten. Kassel 1625 Juli 15‘, in: Hollenberg II, S. 207–210, S. 209). Dieser Landtag ist jedoch schon ein Krisensymptom, weshalb im Haupttext vorgegriffen werden muss. Vgl. Hollenberg II, S. 211. Vgl. ‚Abermahlige Propositio, Ihro f.g. Landtgraff Moritzen, zue Heßen. etzlichere von der Ritterschafft undt den Stetten, zue Milsungen gethan, belangendt vornemblich Erkendnis, Abbitt, undt Außsöhnung dero Ritterschafft mit Ihro f.g. dati 19t. 9bris. ao. 1625‘, in: StAM 340v. Dörnberg Nr. 13, unfoliiert, 3 S. – Auszugsweiser Druck in Hollenberg II, S. 213, Anm. 374. ‚Abermahlige Propositio, Ihro f.g. Landtgraff Moritzen, zue Heßen. etzlichere von der Ritterschafft undt den Stetten, zue Milsungen gethan, belangendt vornemblich Erkendnis, Abbitt, undt Außsöhnung dero Ritterschafft mit Ihro f.g. dati 19t. 9bris. ao. 1625‘, in: StAM 340v. Dörnberg Nr. 13, unfoliiert, 3 S., S. 1. In der ‚Copia Protestation undt Contradiction Schrifft Unsers g.F. undt Herrn L. Moritzen zue Heßen wieder das bey Ihrer

5.1 Der Strukturkonflikt, oder: Wer ist die niederhessische Ritterschaft?

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Verhalten nicht nur kritisiert, sondern zugleich auch kriminalisiert, denn die Ritter hätten sich die zu der Landsfürstl. Hoheitt gehörige jura selbst anzuheischen und Uns zu entziehen nicht entblöedet. Konkret wurde ihnen Folgendes zur Last gelegt: So viel aber die Jura Superioritatis belangt, daß sie sich ohne alle Unßer Ersuchund Bewilligung beschrieben, ihre absonderliche Conventum gehalten, gewiße Häupter under sich ufgeworffen, Legationes decretirt, Schatzung und collecten under sich angelegt, gewiße foedera und bundnuße aufgerichtet, den Verderbern des Lands anheischig gemacht, denselben wider Uns und Unßere Underthanen allen Vorschub gethan und in summa nichts als was zu der Extremiteth gehörig underlaßen. 82

Conventus, legatio, collecta, foederum – in allen vier Fällen handelt es sich um normativ aufgeladene Begriffe des entstehenden Ius Publicum Imperii Romano-Germanici, des Reichsstaatsrechts. Und daher werden mit ihnen nicht einfach bestimmte soziale Praktiken beschrieben, sondern Herrschaftsrechte aufgerufen, die ausschließlich dem Inhaber einer summa potestas, auf der Ebene der Territorien also allein den Landesher-

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Kays. Mayst: von der Ritterschafft des Niederfürstenthumbs Heßen erlangten Mandatum de non offendo. Dato Cassell den 23. Junii. ao. 1625‘, in: StAM 340v. Dörnberg Nr. 12, unfoliiert, 1 S., war das noch anders, hier wurde davon gesprochen, dass das Mandat von sämbtlicher Ritterschafft Unsers Niederfürstenthumbs Heßen erwirkt worden sei. Allerdings stellte man auch im Juni schon die Ergebnisse des Institutionalisierungsschubs in Frage, denn die Protestation sollte nicht etwa den acht Stromvorstehern zugestellt werden, sondern jedem Rittern einzeln. Und jeder sollte dabei zwei Fragen beantworten: Ob der von N sich zue dem Kaysl. mandato de non offendo undt deren befindtlichen narratis bekennete; Ob dieß Mandat mit seinem von N vorbewußten Willen undt Zuethuen aus gewürckt sey? Einige Ritter reagierten darauf wie Asmus von Baumbach, der den Beamten, die ihm die Protestation insinuieren und die beiden Fragen stellen sollten, mitteilte, er leugne zwar nicht, dass er Briefe der Ritterschaft mitunterschrieben und -gesiegelt habe, aber es erscheine ihm der actus etwas ungewöhnlich sich allein zu resolviren oder zu ercleren, da es doch eine gemeine Sache undt das gantze Corpus der Ritterschafft concerniret (‚Copia antwordtlicher Erclerung Asmus von Baumbach des Obristen uff die in Nahmen I. F. G. L. Moritz durch die Beambten zue Bergkem (?) ihme insinuirte Protestation Schrifft betreffent das Kays. Mandatum de non offendo. dati. 5. t. Julii Ao. 1625‘, in: StAM 340v. Dörnberg Nr. 12, unfoliiert, 1 S.). Ebenso auf die Zuständigkeit der ritterschaftlichen Korporation verwiesen Hermann von der Malsburg und Hermann von Wersabe, vgl. ihre Erklärungen ebenfalls in StAM 340v. Dörnberg Nr. 12. ‚Abermahlige Propositio, Ihro f.g. Landtgraff Moritzen, zue Heßen. etzlichere von der Ritterschafft undt den Stetten, zue Milsungen gethan, belangendt vornemblich Erkendnis, Abbitt, undt Außsöhnung dero Ritterschafft mit Ihro f.g. dati 19t. 9bris. ao. 1625‘, in: StAM 340v. Dörnberg Nr. 13, unfoliiert, 3 S., S. 2. Vgl. auch ‚Vizekanzler und Räte zu Kassel an Bürgermeister und Rat zu Eschwege. Kassel 1625 Mai 9‘, in: StAM 304 Nr. 443, unfoliiert, 1 S.: dieweil dan dergleichen Conventicula anzustellen undt Legationes an andere Potentaten undt Fürsten zu senden euch nicht gepührett.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

ren (aufgrund ihrer der majestas weitgehend analogen superioritas territorialis bzw. Landesobrigkeit) zustehen. 83 Aus der öffentlich-rechtlich fundierten Position der landgräflichen Seite hatten sich also die Ritter landesfürstliche Rechte angemaßt und sich damit letztlich eines Majestätsverbrechens (crimen majestatis) schuldig gemacht – auch wenn dieser Schluss in der Proposition nicht explizit gezogen wurde. 84 Die Ritter aber wiesen nicht nur den Vorwurf als solchen zurück, sondern lehnten noch viel grundsätzlicher die verwendete öffentlich-rechtliche Beschreibungssprache ab und sahen ihre Handlun-

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Vgl. nur Reinkingk, Tractatus de regimine seculari et ecclesiastico, der schon 1619 alle vier Befugnisse in Beziehung zur Landesobrigkeit setzt. 1.) Landtage: „Ad justitiae autem administrationem pertinet 1. Subditorum comparitio ad conventus provinciales“ (ebd., Buch 1, Klasse 5, Kap. 4, Nr. 98); 2.) Gesandtschaften: „Infertur 18. Quod Principes & status Imperii habeant jus mittendorum Legatorum seu Ambassiatorum, qui etiam in Comitiis dicuntur der Stände Gesandten und Bottschafften.“ (ebd., Buch 1, Klasse 5, Kap. 6, Nr. 50); 3.) Steuern: „Hodierna consuetudine collectae onera mixta ordinaria censentur. Imponuntur non nisi subditis, & incolis. Vera sunt Symbola ac nota superioritatis, probantque quasi possessionem iurisdictionis superioris.“ (ebd., Buch 1, Klasse 5, Kap. 4, Nr. 167f.); 4.) Bündnisse: „Inferiores autem non nisi auctoritate superioris foedera percutiunt, & inde in quovis superiorem recognoscente in dubio foedera & Ligae praesumuntur illicitae.“ (ebd., Buch 2, Klasse 3, Kap. 3, Nr. 26). – Reinkingks Tractatus ist auch deshalb hier herangezogen worden, weil er ein „Fundamentalwerk protestantischer, kaisertreuer Reichsstaatsrechtslehre“ (Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, I, S. 218) darstellt und nicht im Verdacht steht, die Herrschaftsrechte der Territorialherren übermäßig zu betonen. Dass dieser Vorwurf nicht offen ausgesprochen wurde, hängt sicherlich damit zusammen, dass sich Moritz zu diesem Zeitpunkt mit der Ritterschaft versöhnen wollte. Dessen bedurfte es aber wohl auch nicht, da sich der Schluss auf das crimen laesae majestatis jedem juristisch Gebildeten schon aufgrund der gegebenen Tatbestandsbeschreibung aufdrängte. Dafür spricht auch, dass die landesherrliche Seite diese Schlussfolgerung einige Jahre später selber zog. In den 1651 beim Reichskammergericht eingereichten ‚Exceptiones sub- et obreptionis‘, in StAM 255 H Nr. 139, unfoliiert, 28 S., Quadrangel 5, hieß es unter Nr. 49: Dan wahr und ungezweiffelten Rechtens ist, quod de rebus rempublicam concernentibus deliberare ad iura Principum et ius publicum pertineat, et qui se in eiusmodi regalia immiscent, rei fiant L. Juliae Mai[esta]tis et qui absque Magistratus authoritate, eiusmodi coetus, conventusque ut fiant, efficit L. Juliae Majestatis teneatur, et eadem poena quam, qui loca publica et templa armatis hominibus occupare conantus, puniendi sint. Bei der lex Iulia maiestatis handelt es sich um ein von Augustus erlassenes Gesetz, in dem die Majestätsverbrechen bestimmt und unter Strafe gestellt wurden; vgl. Dig. 48,4,1: Maiestatis autem crimen illud est, quod adversus populum Romanum vel adversus securitatem eius commititur. quo tenetur is, cuius opera dolo malo consilium initum erit, quo obsides iniussu principis interciderent; quo armati homines cum telis lapidibusve in urbe sint conveniantve adversus rem publicam, locave occupentur vel templa, quove coetus conventusve fiat hominesve ad seditionem convocentur (Krüger, Mommsen (Hg.), Corpus Iuris Civilis, I, Digesten, S. 793).

5.1 Der Strukturkonflikt, oder: Wer ist die niederhessische Ritterschaft?

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gen stattdessen durch die gemeinrechtliche Korporationslehre gedeckt; 85 nicht einmal drei Jahre zuvor allerdings hatte die Ritterschaft dem Landgrafen noch angeboten, eine geplante ritterschaftliche Versammlung von einem fürstlichen Rat beaufsichtigen zu lassen – damitt i.f.g. solche unsere zusahmenkunfft vor kein conspiration achte[n] möchte. 86 Von diesem Einvernehmen war jetzt nichts mehr zu spüren: Es stand nicht nur der krasse Vorwurf im Raum, die Ritter seien Majestätsverbrecher und Landesverräter, sondern die beteiligten Parteien konnten sich nicht einmal auf eine gemeinsame politische Sprache einigen, mittels derer 85

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Vgl. ‚Niederhessische Ritterschaft an Vizekanzler und Räte zu Kassel. o. O. 1625 Okt. 20‘, in: StAM 304 Nr. 445, unfoliiert, 22 S; die umfangreiche Verteidigungsschrift reagierte auf eine offene Schrift vom 7. September 1625, die angeblich von der fürstlichen Kanzlei ausgegangen sein soll. Im Hinblick auf den Eingriff in die landesfürstlichen Herrschaftsrechte wurden den Rittern hier genau die Punkte vorgeworfen, die später auch Gegenstand der Proposition waren: Nichts wenigers ist eß ein offenbahre Calumnia das wier uns nicht endtblöden solten in IFG Superioritet und landtsfürstl. hohe Obrigkeit zu greiffen (S. 13f.) Nacheinander werden dann alle inkriminierten Akte untersucht (Conventus: S. 13; Collecten: S. 14; Legationes: S. 14; foedera: S. 16) und in jedem Fall wird festgestellt, dass die jeweilige Handlung uns nicht weniger als einem jeden anderen auch weitt geringeren Corpori oder Commun zu gönnen und in Recht zugelaßen ist (S. 13). Die Ritterschaft, so das Argument, habe nur die Rechte ausgeübt, die ihr als Korporation ohnehin zustünden und zu deren Ausübung kein landesherrlicher Konsens nötig sei, wie das einer jeden Commun Corpori oder Collegio in ihren Rechtssachen oder andern Nöthen, ohne der hohen Obrigkeitt vorbewußt oder nachtheil zu thun, unbenommen, sondern ohnzweifelich erlaubt ist (S. 16). – Die korporationsrechtliche Argumentation der Ritterschaft stand jedoch auf schwachen Füßen, wie insbesondere am Beispiel der eigenmächtigen Versammlungen deutlich wird: Man habe keine verbottenene Conventus wieder IFG oder derselben Land und Leutt oder auch Ihr Bestes gehalten, sondern seindt zu des gemeinen Vatterlandts Besten […] und dan unseren selbst eigenen rechtlichen Notturfft und Ursachen halben zusammen kommen (S. 13). Die Ritterschaft nahm also zweierlei für sich in Anspruch, nämlich nicht nur im eigenen Interesse, sondern auch im Interesse des Landes beraten und handeln zu dürfen, wie sich ja auch schon in der Formulierung der Vollmacht gezeigt hatte. Mit dem korporationsrechtlichen Argument in der hier vorgelegten Form ließ sich aber streng genommen nur das Handeln im Namen der Ritterschaft begründen, nicht aber das Handeln im Namen des Landes. Hierzu hätte man nämlich ein Repräsentationsargument einführen müssen: Ein Recht der Ritterschaft, über ihre eigenen Interessen hinaus auch die Interessen des Landes zu behandeln, lässt sich korporationstheoretisch nur dadurch begründen, dass die Ritterschaft das ebenfalls als Korporation verstandene ‚Land‘ repräsentiert. Wie sich später zeigen sollte, ließ sich das aber kaum behaupten, weil die Landesrepräsentation in der Reichs- und Territorialpublizistik der Ständegesamtheit zugesprochen wurde. Und da sich dieses Problem auch in den anderen zur Verfügung stehenden politischer Sprachen (etwa der aristotelischen Politik) zeigte, konnte sich die Ritterschaft argumentativ nie von der Ständegesamtheit emanzipieren. Vgl. dazu ausführlich 5.3. ‚Schlusserklärung der Ritterschaft. Kirchhain 1622 Jan. 7‘, in: Hollenberg II, S. 151f., S. 151.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

eine Verständigung über den Vorwurf möglich gewesen wäre. 87 Nunmehr waren sich die Beteiligten nicht nur uneins im Hinblick auf die ‚verfassungsrechtliche‘ Sachfrage, ob denn die Ritterschaft als eigenständiger Akteur auftreten dürfe oder nicht, sondern strittig war zusätzlich, in welcher politischen Sprache man die Sachfrage überhaupt formulieren sollte. Anders als noch in den Verfahrenskämpfen erwiesen sich Herkommen und Gewohnheitsrecht nach dem Exil des Landgrafen also nicht mehr als eine allseits akzeptierte ‚Art und Weise der Beilegung‘ (Haug-Moritz) – womit ein Ständekonflikt ausgebrochen war. Eine zweite Folgewirkung der ritterschaftlichen Politik vertiefte den Ständekonflikt dann weiter, denn während der Besatzungszeit kam es erstmals zu einer innerständischen Entfremdung zwischen Ritterschaft und Landschaft. Sah die fürstliche Seite schon in den bloßen Akten der ritterschaftlichen Selbstorganisation eine Anmaßung landesfürstlicher Herrschaftsrechte, so müssen die Städte vor allem daran Anstoß genommen haben, dass die Ritter ihre neugewonnene kollektive Handlungsfähigkeit nutzten, um für sich und ihre Hintersassen die Lasten der Einquartierung abzumildern, was dazu führte, dass auf die Städte und Ämter um größere Kosten zukamen. 88 Über diese „fortgesetzte Befreiung fast eines vierten Theils aller Hessischen Unterthanen“ 89 muss dann die gesamtständische Solidarität zer87

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‚Politische Sprache‘ hier ganz pragmatisch verstanden im Sinne von Pocock, The Concept of a Language and the Métier d’Historien, S. 96: „When we speak of ‚languages‘, therefore, we mean for the most part sub-languages: idioms, rhetorics, ways of talking about politics, distinguishable language games of which each may have its own vocabulary, rules, preconditions and implications, tone and style.“ Vgl. auch Bödeker (Hg.), Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, und Mulsow, Mahler (Hg.), Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte. Schon Tilly hatte die Ritter weitgehend geschont. Aber kurz nach dem Abzug der Armee Tillys nach Norden (Mai/Juni) kündigte sich an, dass im Spätsommer Truppen Wallensteins von Süden nachrücken würden. Und die Ritter gaben in ihrer Verteidigungsschrift vom Oktober selber zu, dass Wallenstein sie schon im Vorfeld von dieser Besatzung befreit hatte: Sintemahl solche mißdeutung vors andere auch daher genommen und besterckt werden will, daß wier uns und die Unserigen von dem nehesten Durchzug und Einquartierung deß Kayß: Kriegsvolcks mitt solchem Kay: Schutzbrieff freygemacht haben sollen, daran redet oder schreibet unserer Wiedersacher nuhrendt seinen Willen, dan uns daßelbe nie in Sinnen kommen, sondern wieder hiebey mitt des Hertzogen zu Friedlandt Kay: Generaln an uns gethanen Schreiben und offenen Patent nu: i belegtt, und zuerkennen gegeben, das IFG der Hertzog uns solche Befreyung vor sich selbst und ohn all unser Vermuthen oder Ansuchen […] zugeschrieben. (‚Niederhessische Ritterschaft an Vizekanzler und Räte zu Kassel. o. O. 1625 Okt. 20‘, in: StAM 304 Nr. 445, unfoliiert, 22 S., S. 7f. Rommel VII, S. 608, Anm. 560, hat jedoch gezeigt, dass die Ritter sich an Tilly gewendet hatten, der wiederum Wallenstein die Ritterschaft empfahl. Rommel VII, S. 608f.

5.1 Der Strukturkonflikt, oder: Wer ist die niederhessische Ritterschaft?

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brochen sein, was sich indirekt daraus erschließen lässt, dass es dem Landgrafen auf einmal möglich wurde, sich mit der Landschaft zu verständigen und sie auf seine Seite zu ziehen – auch und gerade in finanziellen Belangen. Während der vergangenen Jahrzehnte hatte insbesondere die Landschaft immer wieder darauf gepocht, dass Steuern allein von der Ständegesamtheit auf allgemeinen Landkommunikationstagen bewilligt werden dürften. 90 Und mit dem seit etwa 1600 erfolgenden Aufstieg der Landrettungssteuer zur wichtigsten Einkommensquelle war diese Forderung auch weitgehend erfüllt. Denn im Gegensatz zu den älteren Steuern auf Territorialebene wurde die in Analogie zu den Reichssteuern konzipierte Landrettungssteuer in der Tat von der Ständegesamtheit bewilligt. 91 Nun aber rückte die Landschaft von dieser Position ab und versprach auf einem Städtelandtag im Juli 1625, zur conservation der vestung Caßel unnd Ziegenhain insgesamt vier Kompanien zu je 250 Soldaten monatlich mit gehörigem gewöhnlichem soldt zue underhaltenn unnd derowegen eine ahnlage zu contriburiren – und zwar solang die unruhe dieser örtter wehret. 92 Die damit eingeführte ‚Kontribution‘ unterschied sich deutlich von den bisherigen Steuerarten, denn sie wurde monatlich fällig und ihr Erhebungszeitraum war nicht präzise bestimmt. 93

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Vgl. oben 4.1. und 4.2.1. Vgl. oben 4.2.1. Zudem forderte die Landschaft, dass auch die Tranksteuer auf allgemeinen Landtagen verlängert werden sollte und berief sich dafür auf das Herkommen, obwohl die Tranksteuer im 16. Jahrhundert tatsächlich nie von der Ständegesamtheit behandelt worden war. ‚Abschied mit den Städten. Kassel 1625 Juli 15‘, in: Hollenberg II, S. 207–210, S. 209. Vgl. zu diesem Landtag auch Rommel VII, S. 601–603. In einer ‚Designatio was uff ein Compag. von 250. Man zu Fuß mit den Officiren und ihren Tractamentis monatlich ahngehen wirdt‘, in: StAM 304 Nr. 443, unfoliiert, 1 S., wird der monatliche Unterhalt einer Kompanie von 250 Soldaten von fürstlicher Seite mit 1 299 Rt. angegeben. Damit betrug die monatliche Kontribution bei ihrer Einführung rechnerisch 5 196 Rt. Genau diese Eigenschaften, Kontinuierlichkeit und zeitliche Unbestimmtheit, waren maßgeblich dafür, dass die Kontribution später zu einer permanenten Steuer werden konnte. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts immer wieder erhöht, wurde sie darüber hinaus zur „ertragreichsten bzw. – aus der Sicht der Untertanen – beschwerlichsten Steuer überhaupt“ (Hollenberg, Einleitung III, S. LXI; so auch Demandt, Die hessischen Landstände im Zeitalter des Frühabsolutismus, S. 65: „gravierendste Steuer“). Zur Kontribution allgemein vgl. Hollenberg, Einleitung III, S. LX–LXIII, und Demandt, Die hessischen Landstände im Zeitalter des Frühabsolutismus, S. 65–69. – Der Städtelandtag vom Juli hatte beschlossen, die Kosten der Besatzung nach den alten Steuerregistern zu repartieren (vgl. ‚Abschied mit den Städten. Kassel 1625 Juli 15‘, in: Hollenberg II, S. 207–210, S. 208). Nach Rommel VII, S. 602, beliefen sich die Kosten auf rund 3,3 Millionen Rt.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Mit diesem Schritt, der von der Landschaft ohne die sonst üblichen Proteste vollzogen wurde, war die Zentralstellung der Ständegesamtheit und damit der Grundpfeiler der landständischen Verfassung erschüttert. 94 Gleichwohl war Landgraf Moritz auch nach diesem Städtelandtag daran gelegen, sich mit der Ritterschaft auszusöhnen und sie beim Wiederaufbau der Landesverteidigung, die mit der Einführung der Kontribution begonnen hatte, einzubeziehen. 95 Als aber eine Versöhnung nicht zustande kam und sich die Ritterschaft vom herannahenden Wallenstein schon im Vorfeld von den zu erwartenden Einquartierungen befreien ließ, scheint in der engsten Umgebung des Landgrafen der Plan entstanden zu sein, aus der Not eine Tugend zu machen, die fürstlich-ständischen Beziehungen neu auszurichten und nicht mehr auf die Ständegesamtheit, sondern nur noch auf die Landschaft zu gründen. Insbesondere der ‚Todfeind‘ der Ritterschaft, Generalaudienzierer Wolfgang Günther, habe „eine innige Verbindung mit den Städten, welche schon mehrmals in ältern Zeiten ihre Landesfürsten gerettet hätten“, empfohlen und konkret angeregt, dass dazu „ein permanenter hinreichend bevollmächtigter landständischer Ausschuß“ eingerichtet werden müsse. 96 Und tatsächlich erreichte Moritz auf zwei weiteren Städtelandtagen im April bzw. Mai 1626 nicht nur die Einrichtung eines solchen landschaftlichen Ausschusses, der – analog zu seinem ritterschaftlichen Pendant – zwei Deputierte pro Strombezirk umfasste, sondern auch die Bewilligung von Finanzmitteln für umfangreiche „Kriegsrüstungen“. 97 94

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Die Ritter ließen sich vorsorglich von einem Rechtsgelehrten bestätigen, dass die Beschlüsse des Städtelandtags sie nicht banden; vgl. ‚Eins Rechtsgelehrten Bedencken ob die Ritterschafft in Nider Heßen daßjenige einzugehen undt zu praestiren schuldig sey waß die Stätte einseitig undt allein geschloßen undt auf einem vermeinten Landtag dazu sie allein beschrieben worden, fohrgeschlagen, respondet quod non‘ [o. O., o. D., aber nach 1625 Juli 14], in: StAM 304 Nr. 443, unfoliiert, 10 S. Zu diesem Zweck wurde noch im Juli ein Kommunikationstag mit den Rittern gehalten, bei dem „wohl eine Beteiligung der Ritterschaft an den Kriegslasten“ zur Debatte stand (vgl. Hollenberg II, Nr. 51a, S. 210f.). Nach dem schon erwähnten Landtag von Melsungen, auf dem weitere Defensionsmaßnahmen abgelehnt wurden, handelte Moritz wieder nach dem Prinzip divide et impera und setze Ende des Jahres in jedem der vier Strombezirke Kommunikationstage mit den ansässigen Rittern an, auf denen „den widerspenstigen Rittern angeboten wurde, sich mit Lg. Moritz durch Beteiligung am Kriegslastenausgleich zu versöhnen“ (Hollenberg II, Nr. 52a, S. 215). Rommel VII, S. 618. Rommel verweist allerdings an dieser Stelle nicht auf eine konkrete Quelle, insofern muss es offen bleiben, ob dieser Plan tatsächlich direkt Günther zugerechnet werden kann. Hollenberg II, S. 216. Insbesondere wurde die „Wiederbelebung des Landesdefensionswerkes“ (ebd.) mit 5.300 Mann und die Anwerbung von 400 Soldreitern beschlossen, wobei erstere direkt von den Strombezirken und letztere über die Kontribution bezahlt werden sollten. Vgl. auch Rommel VII, S. 618–621. – Die Ausschussmitglieder kamen

5.1 Der Strukturkonflikt, oder: Wer ist die niederhessische Ritterschaft?

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Laut Christoph von Rommel empfand Landgraf Moritz das Zusammengehen mit den Städten und ihre Fügsamkeit gegenüber seinen Forderungen als „Morgenröthe eines neues Lebens“. 98 Über das subjektive Empfinden des Landgrafen soll hier nicht spekuliert werden, aber es fragt sich doch, ob mit den drei Städtelandtagen der Jahre 1625/26, der Einführung der Kontribution und der Einrichtung eines Ausschusses, der die Landschaft repräsentierte und daher zu kollektiv verbindlichen Entscheidungen befugt war, sich im Hinblick auf die fürstlich-ständischen Beziehungen nicht doch etwas ‚Neues‘ abzeichnete. Zielte die landgräfliche Politik, so wie es Rommel nahelegte, tatsächlich darauf ab, dauerhaft nur noch mit der Landschaft zu verhandeln, wenn es um Steuerbewilligungen und politische Fragen ging? Bestand eine reelle Chance, die noch junge landständische Verfassung in eine ‚landschaftliche Verfassung‘ zu transformieren? 99 Derartige Einschnitte waren nicht völlig undenkbar, denn im Allgemeinen waren die ständischen Verfassungsordnungen, die sich in vielen Reichsterritorien entwickelt hatten, in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch keineswegs so gefestigt, dass ihre Eigengesetzlichkeit gravierende Veränderungen in der institutionellen Struktur weitgehend verhindert hätte. Um nur zwei Beispiele aus der unmittelbaren Nachbarschaft Hessen-Kassels zu nennen: 1616 versuchten die verschiedenen Linien des Solmser Grafenhauses, eine Landschaft für die Gesamtgrafschaft neu einzurichten, 100 und noch 1656 erlangten die Buchischen Ritter die Reichsunmittelbarkeit und schieden damit aus der landständischen Verfassungsordnung des Reichsstifts Fulda aus. 101

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aus den Städten Kassel, Eschwege, Schmalkalden, Homberg, Treysa, Grebenstein, Spangenberg und Sontra. Rommel VII, S. 619. Zum Begriff ‚landschaftliche Verfassung‘ vgl. Oestreich, Zur Vorgeschichte des Parlamentarismus; Krüger, Versuch einer Typologie ständischer Repräsentationen im Reich; Blickle, Landschaften im Alten Reich. An dieser Stelle sei das mit der Erforschung der Landschaften verbundene Problem des Kommunalismus einmal ausgeklammert; zur Kritik vgl. nur Press, Herrschaft, Landschaft und ‚Gemeiner Mann‘ in Oberdeutschland vom 15. bis zum frühen 19. Jahrhundert. Mit diesem lassen sich Landschaften rein deskriptiv verstehen als Formen „ständischer Gebilde, die von Städten und Gerichten, Bürgern und Bauern also, oder von Bauern allein getragen wurden, anders als die Landstände, in denen auch die höheren Stände von Prälaten und Adel eine Rolle spielten“ (ebd., S. 169). Vgl. Press, Die Landschaft aller Grafen von Solms. Vgl. Jäger, Das geistliche Fürstentum Fulda in der frühen Neuzeit, S. 102–114. Mit diesen beiden Beispielen sind auch die beiden von Press, Herrschaft, Landschaft und ‚Gemeiner Mann‘ in Oberdeutschland vom 15. bis zum frühen 19. Jahrhundert, S. 182f., genannten typischen Fälle, in denen es zur Bildung von Landschaften kommen konnte,

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Gleichwohl muss man annehmen, dass in diesem speziellen Fall die Wahrscheinlichkeit einer dauerhaften Neuausrichtung der Verfassungsordnung sehr gering war, denn es gibt keinen einzigen Vergleichsfall eines Reichsterritoriums, in dem ein Landesherr seine Ritterschaft systematisch von den Landtagen ausgeschlossen hätte. Man wird im Gegenteil davon ausgehen können, dass es sich nur um eine ‚politische‘, also den aktuellen Machtverhältnissen geschuldete Maßnahme gehandelt haben kann, da der Ausschluss vom Landtag langfristig, trotz der durchaus gegenteiligen Intention des Landgrafen, Zweifel an der Landstandschaft und damit mittelbar auch an der Landsässigkeit der Ritterschaft hätte wecken können, weil der Landtagsbesuch als eines der wichtigsten Symbole der Landsässigkeit galt – was der fürstlichen Seite durchaus bewusst war. 102 Ob der Ausschluss der Ritterschaft aber geplant war oder sich einfach aus der Situation ergab, ob er nur ein kurzfristiges Mittel bis zur Beilegung der Konflikte sein oder eine dauerhafte Veränderung der fürstlich-ständischen Beziehungen einleiten sollte, ließe sich nur durch eine intensive Auswertung der landesfürstlichen Überlieferung klären, die hier nicht vorgenommen werden kann. Allerdings muss diese Frage auch nicht beantwortet werden, denn für die hier verfolgte Frage nach der Genese und Durchsetzung der landständischen Verfassung ist allein entscheidend, dass eine derartig einschneidende Veränderung in der Praxis unmöglich durchzuhalten war: Erstens sah nämlich die Landschaft den Ausschluss der Ritterschaft – was immer Moritz’ Pläne gewesen sein mochten – als Provisorium an und war dementsprechend nicht bereit, die normative Zentralstellung der Stände-

102

abgedeckt: Zum einen Territorien, „bei denen der Adel aus dem Territorium ausbrach“ (wie in Fulda, wo allerdings neben den Städten noch das Stiftskapitel die Landstandschaft innehatte) und zum andern „Territorien, die von Anfang an keinen landsässigen Adel kannten“ (wie in Solms). Das wird deutlich an den zeitgleichen Auseinandersetzungen mit den Grafen von Waldeck, deren Landsässigkeit die Landgrafen behaupteten; vgl. etwa Gräffliche Waldeckische Ehrenrettung, S. 93f.: „Fürstliche Landsassen und Landstände müssen Landtäge besuchen. Nun aber hat nie und nimmer kein Graff von Waldeck einigen Fürstlichen Hessischen Landtage besuchet / unnd gedenckens noch weniger zu thun. Ergo.“ Zwei Jahre zuvor hatte die landgräfliche Seite die Landsässigkeit unter anderem damit zu begründen versucht, „dass in vor Jahren die Graffen zu Waldeck / die Hessische Landtäge zubesuchen sich schuldig eracht“ (Kurtze / doch wohlgegründte Außführung / und information, Daß die Graven zu Waldeck nicht ohnmittelbahre Graven des Reichs / Sondern dero Hochlöblichen Fürsten zu Hessen unzweiffeliche Landsassen und Unterthanen seyn, S. 48); vgl. allgemein Menk, Die Beziehungen zwischen Hessen und Waldeck von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Westfälischen Frieden.

5.1 Der Strukturkonflikt, oder: Wer ist die niederhessische Ritterschaft?

317

gesamtheit aufzugeben; schon auf dem zweiten Städtelandtag forderte sie die Hinzuziehung der Ritter. 103 Wichtiger war aber wohl zweitens, dass die kaiserlich-katholische Seite ein starkes Interesse daran hatte, dass die Ritterschaft auch weiterhin als politisches Gegengewicht zu Landgraf Moritz wirkte. Und weil die Ritter diese Rolle nur spielen konnten, wenn sie als Landstand Teil der ständischen Verfassungsordnung blieben, erzwang Tilly nur einige Wochen nach dem letzten Städtelandtag abrupt den Abbruch des ‚ständischen Experiments‘. 104 Am 11./21. Juni 1626 berief der Ligageneral zum dritten Mal als Beauftragter des Kaisers die Ständegesamtheit zu einem ‚Quasi-Landtag‘. 105 Da nun viele Ritter und Städte der Ladung Folge leisteten, hatte Tilly schon allein dadurch, dass er auf die Ständegesamtheit als Verhandlungspartner setzte, die Bedeutung der landständischen Verfassungsordnung gegenüber dem ‚ständischen Experiment‘ des Landgrafen wieder gestärkt. In dieser Situation erkannte auch der Landgraf, dass „eine um jeden Preiß zu erringende Aussöhnung mit den Ständen und Rittern seines Landes“ das einzige Mittel sein konnte, um sich wenigstens teilweise gegenüber den kaiserlichen Forderungen behaupten zu können. 106 Damit waren die Landstände in einer komfortablen Lage, sahen sie sich doch auf einmal von beiden Seiten umworben, was die soeben noch entzweiten Ritter und Städte wieder zusammenführte. 107 Und offensicht103

104 105

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Vgl. ‚Abschied mit den Städten. Kassel 1626 April 4‘, in: Hollenberg II, S. 216–222, S. 220: alß ist von ihnen, den deputirten [der Landschaft], doch auf i.f.g. g[nädige] ratification, dahin geschlossen, wan die itzo vorhabende verfaßung zu werck gerichtett, daß alsdan die von der ritterschafft zu beschreiben, unnd ob sie ihrer schuldigkeit nach sich wieder umkehren, bei i.f.g. und ihrer mitgliedern stehen und bestendig halttenn, vorige unnd itzige onera nach billichmeßiger parification mitttragen, wollten, zu erinnern unnd zu befragen. Hollenberg merkt an, dass der Landgraf dieser Aufforderung, auch die Ritter zu laden, nicht nachkam (Hollenberg II, S. 220, Anm. 389). Hier geht es zwar zunächst um die Beteiligung an den Kriegslasten, aber dass die Städte sich in Bezug auf die Ritterschaft als ‚Mitglieder‘ bezeichneten, belegt doch nachdrücklich, dass hier die normative Vorstellung eines landständischen corpus, also der Ständegesamtheit im Hintergrund stand. Der Begriff nach Press, Die Landschaft aller Grafen von Solms. Vgl. Hollenberg II, Nr. 54a, S. 224–226, S. 224f., und Rommel VII, S. 633–649. – Zuvor waren Verhandlungen mit landgräflichen Gesandten gescheitert, vgl. ebd., S. 630–632. – Die Bezeichnung ‚Quasi-Landtag‘ ist hier um so berechtigter, da es faktisch ein Landtag war, aber Tilly den landgräflichen Kommissaren zugestand, „daß diese ‚zum Besten des Landgrafen und des Landes nicht zu Verletzung landesfürstlicher Obrigkeit angestellte Zusammenkunft‘ kein Landtag seyn solle“ (ebd., S. 635). Ebd., S. 634. Moritz schrieb beispielsweise am 5. Juli an die Stadt Kassel mit Bezug auf die Gudensberger Verhandlungen, „die Tractation laufe zu Ende, wobei er Gewalt für Recht müsse ergehen lassen, da die Rittterschaft, welche, mit der angebotenen Amnestie noch nicht

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

lich erkannten die führenden Standespersonen die Gunst der Lage, denn während der Verhandlungen vermied es die Ständegesamtheit, sich eindeutig auf eine Seite zu schlagen und konnte sich auf diese Weise wieder als eigenständiger Akteur etablieren, was unter anderem darin zum Ausdruck kam, dass am 9. Juli 1626 schließlich zwei Assekurationen ausgestellt wurden – eine fürstliche und eine landständische. 108 Zusätzlich hatte Tilly folgenden Passus in der von Moritz zu unterzeichnenden Versicherung durchgesetzt: Versprechen und verpflichten uns auch / daß wir uns sollen und wollen mit unserer Ritter- und Landschafft ehist würcklich und dergestalt vergleichen / reconciliiren / und vermög der Kayserlichen Mandaten / Commissionen / und Schutz-Brieff halten und tractiren / daß sie fürderlichen aller Gefahr und Ungelegenheiten entübrigt seyn und bleiben mögen / daran H. General ein Satisfaction und völlig Benügen tragen könne. 109

Zur dieser Versöhnung sollte es jedoch nicht mehr kommen: Nach einem immerhin noch halbwegs erfolgreichen Städtelandtag im August und einem äußerst schwach besuchten Landkommunikationstag, der dann im November auch noch ohne Abschied zu Ende ging, dankte Landgraf Moritz am 17. März 1627 zugunsten seines Sohnes Wilhelm ab. 110 Es ist deutlich geworden, dass sich die Situation in Hessen-Kassel nach der Flucht des Landgrafen schließlich zu einer bedrohlichen Krise

108

109

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begnügt, immer noch den Abfall drohe, die Landschaft an sich gehängt habe.“ (Rommel VII, S. 647, Anm. 610). Vgl. Hollenberg II, Nr. 54a, S. 224–226, S. 225. Druck der fürstlichen Assekuration in Lünig, Das teutsche Reichs-Archiv, Pars Specialis, Continuation 2, Teil 2, S. 821f., und Zusammenfassung in Rommel VII, S. 643–646; Abschrift der ständischen Assekuration in StAM 17 I Nr. 1793, fol. 49–52. – Dass die Landstände sich nicht eindeutig auf Tillys Seite schlugen, geht hervor aus Keim, Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel vom Regierungsantritt 1627 bis zum Abschluß des Bündnisses mit Gustav Adolf 1631 (1961), S. 9f. Für die schwierige Annäherung zwischen Ständegesamtheit und Moritz vgl. Rommel VII, S. 646f. ‚Verpflichtung Landgraff Moritzs zu Hessen Cassel gegen Kayser Ferdinandum II. wegen seiner Vestungen / und was deme mehr anhängig / de Anno 1626. Kassel 1626 Juli 9‘, in: Lünig, Das teutsche Reichs-Archiv, Pars Specialis, Continuation 2, Teil 2, S. 821f.; zutreffende Paraphrase in Abelin, Merian, Theatrum Europaeum, I, S. 1032. Zu den beiden letzten Landtagen unter Moritz vgl. Hollenberg II, Nr. 55, S. 226–229 und Nr. 55a, S. 229f.; zur Abdankung des Landgrafen vgl. Eßer, Landgraf Moritz’ Abdankung und sein politisches Vermächtnis; Rommel VII, S. 664–681; Keim, Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel vom Regierungsantritt 1627 bis zum Abschluß des Bündnisses mit Gustav Adolf 1631 (1961), S. 23–31; vgl. auch allgemein Richter, Dirbach (Hg.), Thronverzicht. – Die Abdankung war von Tilly schon während der Verhandlungen in Gudensberg gefordert worden. Als jedoch das dänisch-niedersächische Heer unter König Christian IV. von Dänemark sich näherte, verzichtete er auf diese Forderung; vgl. Rommel VII, S. 646.

5.1 Der Strukturkonflikt, oder: Wer ist die niederhessische Ritterschaft?

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der landständischen Verfassung auswuchs und für kurze Zeit sogar in einen offenen Ständekonflikt umschlug. Wo lagen nun die Ursachen dieser Entwicklung und welche Folgen hatten die Krise bzw. ihre Beilegung für den Entstehungsprozess der landständischen Verfassung insgesamt? Zunächst ist festzuhalten, dass zwei in diesem Zusammenhang oft genannte Faktoren nicht als entscheidende Ursache in Frage kommen: die Politik des Landgrafen und die Umstände der Besatzungszeit. Es ist zwar offenkundig, dass sich das Verhältnis zwischen Moritz und den Landständen nach 1620 zunehmend verschlechterte, aber wie die Untersuchung der Verfahrenskämpfe im vorigen Abschnitt gezeigt hat, führten diese Auseinandersetzungen eher zu einer Stärkung der Ständegesamtheit und zu einer Verfestigung der gewohnheitsrechtlichen Struktur der landständischen Verfassungsordnung. Nach der Flucht war die landgräfliche Ständepolitik dann nur noch reaktiver Natur: Das Zusammengehen mit den Städten erfolgte erst nach der Erosion der innerständischen Solidarität und die Einsicht in die Notwendigkeit einer Versöhnung mit der Ritterschaft erst nach der erneuten Einberufung der Ständegesamtheit durch Tilly. Aber auch die Umstände der Besatzungszeit, die sich mit dem Namen des Ligagenerals verbinden, können nicht als ursächlich für die Krise der landständischen Verfassung angesehen werden. Auch hier ist unstrittig, dass die Landstände „zwischen zwei Fronten“ standen. 111 Allerdings hat sich gezeigt, dass die Ständegesamtheit zunächst durchaus in der Lage war, mit dieser Situation umzugehen, indem sie nämlich als eigenständiger politischer Akteur auftrat und nicht nur zwischen Statthalter und General vermittelte, sondern auch selbst verbindliche Erklärungen abgab. Wie schon die Auseinandersetzung um das Landtagsverfahren, so führte auch die Situation der Besatzung eher zu einer Stärkung der landständischen Zentralinstitution, nämlich des gesamtständischen corpus. Die landständische Verfassungsordnung, so wird man festhalten müssen, hatte einen Grad an institutioneller Autonomie gewonnen, der es den Landständen bis etwa 1623 erlaubte, als überzogen empfundene Forderungen des Landgrafen zurückzuweisen und mit der Besatzungssituation eigenständig umzugehen. 112

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Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 27. Vgl. aber ebd., S. 24–32, wo Maruhn eine Mischung dieser beiden Faktoren für ausschlaggebend hält; Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 303, und Demandt, Die hessischen Landstände im Zeitalter des Frühabsolutismus, S. 42, halten die Politik des Landgrafen für die Ursache des Konflikts mit den Ständen, ebenso wie Hollenberg, Einleitung II, S. 14f.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Die eigentliche Ursache der Verfassungskrise ist woanders zu suchen, nämlich im Verhalten der niederhessischen Ritter. Mit dem Erhalt des kaiserlichen Schutzbriefes im Jahr 1625 und der daran anschließenden Selbstorganisation wurde in normativer wie faktischer Hinsicht unter dem Namen ‚niederhessische Ritterschaft‘ nicht nur eine neue Korporation, sondern vor allem ein neuer politischer Akteur eigenen Rechts instituiert. Vor 1625 hingegen hatte eine ganz andere Situation bestanden: Zum einen gab es nach dem Verständnis der Zeitgenossen in normativer Hinsicht nur eine gesamthessische Ritterschaft und zum anderen begann sich zwar auf den hessen-kasselischen Landtagen eine dementsprechend hessen-kasselische Ritterschaft zu formen, die sich aber bisher nie als solche bezeichnet, geschweige denn als politischer Akteur sui generis gehandelt hatte. Und es war eben dieser auf das Jahr 1625 zu datierende qualitative Umschlag von einer nur lose zusammenhängen Gruppe von Rittern hin zu einer kollektiv handlungsfähigen Institution, der die landständische Verfassungsordnung in Hessen-Kassel gründlich destabilisierte und letztendlich in einem offenen Ständekonflikt mündete. Die korporative Selbstkonstitution der Ritterschaft verursachte die entscheidende herrschaftsstrukturelle Konfliktlage: Nunmehr nahmen tendenziell sowohl die hessen-kasselische Ständegesamtheit als auch die niederhessische Ritterschaft für sich das Recht in Anspruch, eigenständig als politischer Akteur aufzutreten, das heißt die ständischen Interessen und vor allem das Gemeinwohl zu vertreten und zu verfolgen. Und eine Destabilisierung war die notwendige Folge, weil dadurch die Rolle der Ständegesamtheit als Hauptträger der politischen Partizipationsrechte relativiert und ein Grundprinzip der inzwischen etablierten landständischen Verfassungsordnung in Frage gestellt worden war. 113 Auch in den neuesten Arbeiten zur hessischen Ständegeschichte werden die Bedeutsamkeit der Selbstinstituierung der niederhessischen Ritterschaft und die destabilisierenden Folgen des Auftretens eines neuen politischen Kollektivakteurs für die fürstlich-ständischen Beziehungen zumeist nicht erkannt. Ein wesentlicher Grund scheint mir darin zu liegen, dass zu leichtfertig mit Kollektivbegriffen wie ‚Ritterschaft‘ umgegangen wird. In der Regel wird nämlich sowohl für die gesamte Regie-

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Selbstverständlich lässt sich das Verhalten der niederhessischen Ritter selbst wieder auf andere Ursachen zurückführen: Maßgeblich war hier zum einen, dass der Kaiser explizit ein Schreiben an die Ritterschaft gerichtet hatte, und zum anderen, dass Wolfgang Günther ebenso explizit die Ritter und nicht die Landstände insgesamt des Landesverrats verdächtigt hatte. Gleichwohl scheint es nicht unmöglich, dass die Ritter weiterhin im Rahmen der landständischen Verfassung gehandelt und den kaiserlichen Schutz nicht für sich, sondern die Ständegesamtheit erbeten hätten.

5.1 Der Strukturkonflikt, oder: Wer ist die niederhessische Ritterschaft?

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rungszeit Moritz’ einfach von ‚der niederhessischen Ritterschaft‘ gesprochen, ungeachtet der Tatsache, dass der Begriff für die Zeit vor 1625 nur als analytischer Sammelbegriff für die niederhessischen Ritter verwendet werden kann, während es nach der Selbstinstituierung zudem einen kollektiven Akteur gab, der diesen Namen auch tatsächlich führte. 114 Weil aber jeder, der „von […] einer Gruppe spricht, hinterrücks deren Existenz postuliert“, 115 lässt der undifferenzierte Gebrauch der Begriffe ‚Ritterschaft‘ und ‚die‘ Ritter für die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts die Frage, ob im konkreten Fall überhaupt ein Kollektivakteur existierte, gar nicht erst aufkommen. Damit aber kann man die Krise nur noch auf die Politik der als existent unterstellten Akteure oder die situativen Umstände zurückführen und verstellt sich systematisch den Blick auf die Dynamik, die von der Instituierung neuer kollektiver Akteure ausgehen kann. Ist also die Krise der landständischen Verfassung genauer zu beschreiben als eine Destabilisierung durch das Auftreten eines neuen politischen Akteurs (Ritterschaft), dessen Verhältnis zum bisherigen Träger der ständischen Herrschaftspartizipation (Ständegesamtheit) unklar war, dann stellt sich weiter die Frage, welche Folgen diese Krise und vor allem die Art und Weise ihrer Überwindung für die weitere Entwicklung der landständischen Verfassung hatte. Zu einem offenen Ständekonflikt führte die krisenhafte Situation, als sich herausstellte, dass Landgraf und Ritterschaft nicht einmal mehr über eine gemeinsame Sprache verfügten, in der ihr Dissens formuliert und verhandelt hätte werden können; vertieft wurde der Konflikt dann zusätzlich dadurch, dass das ritterschaftliche Handeln die innerständische Solidarität aufhob und die Städte an die Seite des Landgrafen trieb. Und dieser Zustand wurde erst überwunden, als Tilly nach seiner Rückkehr wieder einen ‚Quasi-Landtag‘ einberief, was faktisch einer Forderung nach Rückkehr zu den Formen und Verfahren der landständischen Verfassung 114

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Vgl. nur zwei der neuesten Arbeiten: Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 27, stellt fest, dass die Ausschreibung von Partikularlandtagen nach 1604 zur „Entfremdung zwischen Moritz und der Ritterschaft“ beigetragen habe; ebd., S. 28, heißt es dann mit Bezug auf die Ereignisse von 1625, dass sich „die Ritterschaft eindeutig auf die Seite der Besatzungsmacht und gegen ihre gottgegebene Obrigkeit gestellt zu haben“ schien. Hier wird eindeutig von einer Kontinuität ausgegangen. – Friedeburg, Adel und ständische Vertretungen: Repräsentationen des Landes?, S. 177, erwähnt zwar „die neue Forderung der Ritter, Gehör in Sachen zu finden, die eigentlich genuin und ausschließlich Sache des Fürsten waren“, aber es wird mit keinem Wort erwähnt, dass „im Konflikt um die Außenpolitik des Landgrafen“, der „zwischen 1615 und 1652“ ausgetragen wurde, die Ritterschaft als kollektiver Akteur überhaupt erst entstand; es ist immer unterschiedslos von ‚den Rittern‘ die Rede. Anders aber Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 295. Bourdieu, Sozialer Raum und „Klassen“, S. 40.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

gleichkam, da auf diese Weise die Ständegesamtheit wieder in den Mittelpunkt rückte. Erst unter diesem politischen Druck, der von ‚außerhalb‘ auf die fürstlich-ständischen Beziehungen wirkte, beendete Moritz sein ständisches Experiment und ließen die Ritter von ihrem selbständigen Handeln ab, um mit der Landschaft wieder eine gesamtständische Politik zu verfolgen. 116 Die ‚erzwungene‘ Konfliktbewältigung blieb nicht folgenlos: Die Ursache des Verfassungskonflikts war nicht beseitigt worden; immer noch war unklar, wie das Verhältnis von Ständegesamtheit und Ritterschaft in Zukunft gestaltet sein sollte. Einerseits ordneten sich die Ritter 1626 wieder in die landständischen Strukturen ein, arbeiteten mit den Städten zusammen und restituierten auf diese Weise die kollektive Handlungsfähigkeit des landständischen corpus; andererseits aber hatten sie den Anspruch, sich bei Bedarf auch als Ritterschaft versammeln, die Angelegenheiten des Gemeinwesens beraten und als Sachwalter der Landeswohlfahrt handeln zu dürfen, nicht explizit aufgegeben. Dieser bisher manifeste Konflikt um die Frage, ob die Ritterschaft auch außerhalb der landständischen Ordnung als politischer Akteur auftreten dürfe, 117 wurde nicht im eigentlichen Sinne gelöst, sondern durch den äußeren Druck nur suspendiert und bestand daher latent weiter – im 1646 ausbrechenden zweiten Ständekonflikt spielte er dann auch tatsächlich wieder eine zentrale Rolle. 118 Somit wurde, um einen Begriff aus der 116

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Schon Francis Carsten hat für Hessen-Kassel auf die Bedeutung politischer Einflussnahme von ‚außen‘ aufmerksam gemacht; vgl. Carsten, Princes and Parliaments in Germany, S. 189: „The Estates of Hesse only wielded political power at two points of their history, during the minority of Landgrave Philip in the early sixteenth century and during the Thirty Years War. In both instances this was due to very exceptional conditions and support from abroad, in the first case from the dukes of Saxony, in the second from the Emperor Ferdinand and the Catholic forces.“ Allerdings kann man nicht pauschal sagen, dass die Einflussnahme der kaiserlich-katholischen Seite den Landständen zu mehr Macht verholfen hat: Einerseits war der Kontakt zwischen Tilly und der Ständegesamtheit juristisch heikel und zum andern galt der besondere Schutz des Kaisers nur der Ritterschaft, was die Landstände gerade nicht stärkte, sondern destabilisierte. – Nichtsdestoweniger ist der Hinweis richtig, dass Einflussnahme von ‚außen‘ ein wesentlicher Faktor der Ständegeschichte sein kann, vgl. Koenigsberger, Dominium regale or dominium politicum et regale?, S. 67; Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus, S. 41; Metz, Der Stände oberster Herr, S. 10. Da der Landesherr ein Teil der landständischen Ordnung war, bedeutet ‚außerhalb der landständischen Ordnung‘ eben auch ‚außerhalb jeder fürstlichen Kontrolle‘. Vgl. auch Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 31, der allerdings eher additiv eine Reihe von Konfliktgegenständen nennt: „Keiner der streitigen Punkte, nämlich die Weigerung der Ritter zur finanziellen Beteiligung an den Kriegsanstrengungen, die außenpolitische Ausrichtung der Landgrafschaft, die Durchsetzung des reformierten Bekenntnisses, die Demontage der Landeseinheit durch die beiden verfeindeten Linien, der Vorwurf des

5.1 Der Strukturkonflikt, oder: Wer ist die niederhessische Ritterschaft?

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Erforschung der Reichsverfassung aufzunehmen, die landständische Verfassung in einen Zustand gesteigerter „Unausgetragenheit“ 119 versetzt; gesteigert im Vergleich zu dem Grad an Autonomie und Eindeutigkeit, den die Verfassungsordnung nach dem ‚Jahrzehnt der institutionellen Verfestigung‘ (1609–1620) erreicht hatte. 120 Obwohl also die krisenhafte Situation latent fortbestand, so war doch zumindest der aktuelle Konflikt bewältigt worden, denn es war eben die Ständegesamtheit, also die Zentralinstitution der landständischen Verfassung, die 1626 zunächst zwischen Moritz und Tilly vermittelte und dann dem letzteren eine Assekuration ausstellte. Damit war man schon in der Praxis zu dem Verfahren zurückgekehrt, das auch bei der ersten Besatzung 1623 – also vor der Selbstkonstituierung der Ritterschaft – Anwendung gefunden hatte und das an der landständischen Ordnung orientiert war. Und auch in normativer Hinsicht ging das corpus der Landstände gestärkt aus der Krise hervor, denn die von Moritz unterzeichnete Assekuration erlegte ihm ausdrücklich die Verpflichtung auf, sich mit Ritter- und Landschafft zu versöhnen und die Landstände in der Zukunft so zu behandeln, dass sie aller Gefahr und Ungelegenheiten entübrigt seyn und bleiben mögen. 121 Damit war nicht nur die Ständegesamtheit wieder als legitimer politischer Akteur und Hauptträger der ständischen Herrschaftspartizipation rehabilitiert, sondern die gesamte landständische Verfassungsordnung unter Bestandsschutz gestellt worden.

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Verrats und die umstrittene Rechtmäßigkeit der eigenmächtigen Versammlungen der Ritter, wurde einer Lösung zugeführt. Es waren vielmehr zu einem großen Teil die gleichen, zwischenzeitlich überdeckten Probleme, die den Konflikt bestimmten, den die nächste Generation der ritterschaftlichen Anführer mit Landgräfin Amalie Elisabeth und ihrem Sohn zwanzig Jahre später führte.“ – Letztlich lassen sich aber alle die Punkte auf den Grundkonflikt um den Status der Ritterschaft zurückführen. Neuhaus, Reichsständische Repräsentationsformen im 16. Jahrhundert, S. 35. Daran zeigt sich auch, dass die Geschichte der landständischen Verfassung nicht als teleologische Geschichte erzählt werden kann oder sollte. Vgl. für strukturell ähnliche Vorgänge in Polen-Litauen Lichy, Wider die Sejm-Komödie. ‚Verpflichtung Landgraff Moritzs zu Hessen Cassel gegen Kayser Ferdinandum II. wegen seiner Vestungen / und was deme mehr anhängig / de Anno 1626. Kassel 1626 Juli 9‘, in: Lünig, Das teutsche Reichs-Archiv, Pars Specialis, Continuation 2, Teil 2, S. 821f., S. 822.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

5.2 Die Zwischenkonfliktzeit: Normative Anerkennung und faktische Durchsetzung Hatte sich Hessen-Kassel schon im Sommer 1623, nach der Flucht des Landgrafen, in einer „verzweifelten Lage“ 122 befunden, so wird man Volker Press, von dem diese treffende Einschätzung stammt, auch darin zustimmen können, dass sich die Situation bis zum Frühjahr 1627 noch verschlimmert und schließlich „katastrophal zugespitzt“ 123 hatte. Und das galt für Fürst wie Fürstentum gleichermaßen: Hatte Moritz schon als Person nicht nur jeden außenpolitischen Kredit, sondern auch das Vertrauen der politischen Führungsschichten in der Landgrafschaft verloren, so war zudem der Herrschaftsbereich der Kasseler Linie massiv zusammengeschmolzen, denn neben dem gesamten Marburger Erbe waren inzwischen auch die Niedergrafschaft Katzenelnbogen, die Herrschaft Schmalkalden und die südlichen und östlichen Ämter Niederhessens von Darmstadt besetzt – während in den Moritz verbliebenen Gebieten weiterhin Ligatruppen standen. 124 Allerdings, so wird man nach der Untersuchung des ersten Ständekonflikts hinzufügen müssen, hatten die kasselischen Ritter ganz wesentlich zu dieser Katastrophe beigetragen. Indem sie sich nämlich unter dem Namen ‚niederhessische Ritterschaft‘ als Kollektivakteur vergemeinschafteten und in eben diesem Namen auch politisch handelten, hatten sie die landständische Verfassung in einen Zustand gesteigerter ‚Unausgetragenheit‘ versetzt und damit eine Situation herbeigeführt, in der ein schwerer Ständekonflikt sehr wahrscheinlich wurde. 125 Aber trotz dieser Präzisierung liegt doch auf der Hand, dass die katastrophale Situation vor allem mit der Person Moritz’ assoziiert wurde,

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Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 302. Ebd., S. 303. Vgl. Hollenberg, Einleitung II, S. 5f. Schon 1623 hatte der Reichshofrat das Marburger Erbe allein Hessen-Darmstadt zugesprochen, worauf sich die Besetzung Oberhessens im Jahr 1624 stützte (vgl. das Urteil in: Gründliche, warhaffte und vollstendige Erzehlung, Beilagen Nr. 24, S. 108). Allerdings hatte das Urteil Moritz auch prinzipiell dazu verpflichtet, der Darmstädter Linie alle Erträge des Marburger Erbes zu erstatten, ohne jedoch eine Summe festzusetzen. Am 11./21. April 1626 dann erging auch in dieser Sache ein Urteil (vgl. ‚Keyserl. Urtheil in puncto liquidationis mobilium, & perceptorum fructuum‘, in: ebd., Beilagen Nr. 102.2, S. 294–296), aufgrund dessen Hessen-Darmstadt die Niedergrafschaft Katzenelnbogen, die Herrschaft Schmalkalden und einige niederhessische Ämter pfandweise besetzte. Laut Demandt, Geschichte des Landes Hessen, S. 252, waren Hessen-Darmstadt anstatt der geforderten 16 Millionen nur 1,5 Millionen Gulden zugesprochen worden. Vgl. auch Rommel VII, S. 651–660. Vgl. oben 5.1.

5.2 Die Zwischenkonfliktzeit: Normative Anerkennung

325

weshalb seine Abdankung am 17. März 1627 die Katastrophe einerseits perfekt machte – und andererseits seinem Sohn und Nachfolger Wilhelm V. einen politischen Neuanfang ermöglichte. 126 Der 25-jährige Landgraf, der schon von seinem Vater regelmäßig mit politischen Aufgaben, nicht zuletzt der Statthalterschaft während des Exils betraut worden war, nutzte die offene Situation des Herrschaftsübergangs, um möglichst viele der Konfliktherde, die Moritz ihm hinterlassen hatte, einzuhegen. Und das war auch dringend nötig, denn neben den zerrütteten Außenbeziehungen zum Kaiserhaus und der Darmstädter Linie sah sich der junge Landgraf auch innerdynastischer Opposition ausgesetzt, vom angespannten Verhältnis zu den Landständen gar nicht zu reden. 127 In dieser verfahrenen Situation konnte ‚Einhegung‘ in den meisten Fällen für Wilhelm V. zunächst nur heißen, unhaltbare Positionen zu räumen und Zugeständnisse zu machen, die Moritz niemals auch nur in Erwägung gezogen hätte. 128 Um also überhaupt politischen Bewegungsspielraum zu erlangen, „begradigte er die Fronten, wo er nur konnte“. 129 Zwei dieser Konfliktherde berührten unmittelbar die landständische Verfassung und sind daher im Folgenden von Interesse: zum einen das weiterhin problematische Verhältnis zur niederhessischen Ritterschaft und zum andern die dynastische Auseinandersetzung mit der Darmstädter Linie. 130 Die beiden Fälle wurden allerdings völlig unterschiedlich gehandhabt. 126

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Zu Wilhelm V. vgl. einführend Kretzschmar, Wilhelm V., Landgraf von Hessen. Umfangreichere Forschungen zur Regierungszeit dieses Landgrafen fehlen, wahrscheinlich weil sein Vater Moritz und seine Frau Amalie Elisabeth, die ihm als Regentin nachfolgte, mehr Interesse auf sich gezogen haben; vgl. aber Petri, Das Militärwesen von Hessen-Kassel in der Zeit Landgraf Wilhelms V. und der Landgräfin Amalie Elisabeth 1627–1649. Aus der älteren Literatur vgl. neben Rommel VIII, S. 1–482, auch Keim, Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel vom Regierungsantritt 1627 bis zum Abschluß des Bündnisses mit Gustav Adolf 1631 (1962/63), und Altmann, Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel im Kampf gegen Kaiser und Katholizismus 1633–1637. Die Probleme innerhalb der Kasseler Linie entzündeten sich an der Ausstattung von Landgräfin Juliane, Moritz’ zweiter Frau, und ihrer Kinder. Noch vor seiner Abdankung hatte der alte Landgraf seiner Frau und deren Kindern ein Viertel der Landgrafschaft übertragen, die sogenannte ‚Rotenburger Quart‘. Daher musste das Verhältnis der neuen Nebenlinie Hessen-Rotenburg zu fürstlichen Hauptlinie in Gestalt von Landgraf Wilhelm austariert werden. Vgl. Lemberg, Juliane Landgräfin zu Hessen (1587–1643), Krüger-Löwenstein, Die Rotenburger Quart, und Rommel VII, S. 704–747. Wozu sich der alte Landgraf auch nach seiner Abdankung nicht verstehen wollte. So protestierte er förmlich gegen den kurze Zeit später getroffenen Hauptvergleich mit der Darmstädter Linie (vgl. Rommel VIII, S. 41–44) und verklagte später seinen Sohn sogar beim Kaiser auf Zahlung seines Unterhalts (vgl. Demandt, Geschichte des Landes Hessen, S. 253). Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 304. Für die anderen Konfliktherde vgl. ebd., S. 304f., und Rommel VIII, S. 20–49.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

5.2.1 Eine zweistufige Verfassungsordnung: Der Hauptaccord von 1627 Der offene Ständekonflikt von 1625/26 war beendet worden, weil General Tilly eine Rückkehr zu den Formen und Verfahren der landständischen Verfassung erzwungen hatte – die eigentliche Konfliktursache aber, der Dissens über den Status der niederhessischen Ritterschaft, war damit nicht beseitigt, sondern nur in den Hintergrund gedrängt worden. Im Anschluss daran zogen es sowohl Wilhelm V. als auch die Ritterschaft vor, dieses ungelöste Verfassungsproblem nicht erneut über die Thematisierungsschwelle zu heben: Die Ritterschaft verzichtete in den gut zehn Jahren der Regierung Wilhelms weitgehend darauf, eigenständig und in Konkurrenz zur Ständegesamtheit zu handeln, und auch der Landgraf machte die offene Frage nicht mehr zum Gegenstand von Landtagsverhandlungen. 131 Im Gegenteil versuchte Wilhelm V. aktiv, die Ritterschaft für sich einzunehmen, was zunehmend auch gelang und Armand Maruhn dazu veranlasst hat, die Jahre 1627 bis 1637 im Hinblick auf die fürstlich-ständischen Beziehungen mit dem Ausdruck „Vertrauensbildung und Kooperation“ 132 zu charakterisieren. 131

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Während der Regierungszeit Wilhelms, also von 1627 bis 1637, wurde nur einmal eine Versammlung der kasselischen Ritterschaft ausgeschrieben und zwar für den 26. April 1630. Ob die Versammlung allerdings stattgefunden hat, ist unklar (vgl. Hollenberg II, Nr. 73a, S. 300). Und selbst, wenn dies der Fall gewesen sein sollte, kam ihr keine große Bedeutung zu, vergleicht man das mit den Angaben zu den sonstigen nicht-fürstlichen Versammlungen: Im selben Zeitraum fand ein gesamthessischer engerer Rittertag statt (9. Juli 1633, vgl. ebd., S. 323) und wurden zwei Versammlungen der gesamthessischen Landstände vom Erbmarschall anberaumt, von denen eine engere allerdings wieder abgesagt wurde (4. Juli 1636, vgl. ebd., Nr. 82a, S. 339), während die zweite mit Zustimmung der Landgrafen durchgeführt werden konnte (8.–14. Febr. 1637, vgl. ebd., Nr. 83, S. 340–344). – Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 34, spricht von vier Zusammenkünften und zwar unter Bezug auf die ‚Specificatio Actuum‘, eine 1647 im Kontext des zweiten Ständekonflikts von der Ritterschaft zusammengestellte Liste von Ständeversammlungen. Allerdings wird nur für eine dieser Versammlungen explizit ein Bezug zur niederhessischen Ritterschaft hergestellt und diese Versammlung ist wohl im Kontext des oben genannten gesamthessischen Rittertags zu sehen; vgl. ‚Beylage N. 1. In Sachen Samptlicher Ritterschafft des Niederfürstenthumbs Heßen ca. Heßen Caßel Mdti inhibit. et cassat. s. cla. – Specificatio Actuum undt andere Extract auß des LandttagsHandlung dadurch neben desjenigen, so in Replicis albereits angeführet daß an Seithen der Ritterschafft allegirte uhralte Herkommen undt Gerechsamb dargethan wirdt [Präsentationsvermerk: Speyer 1652 März 20/30]‘, in: StAM 255 H Nr. 139, unfoliiert, 8 S., Quadrangel 10, S. 7 (= Specificatio). Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 32. Dort auch S. 32–37 eine Zusammenfassung der fürstlichen Bemühungen um die Ritterschaft. Unter anderem wurde dem ‚Todfeind‘ der Ritter, dem ehemaligen Generalaudienzierer Dr. Wolfgang Günther, der Prozess

5.2 Die Zwischenkonfliktzeit: Normative Anerkennung

327

Diese Entspannungspolitik war jedoch nur unter der (unausgesprochenen) Voraussetzung möglich, dass die entscheidende Frage nach dem korporativen und politischen Status der Ritterschaft nicht erneut gestellt wurde – die landständische Verfassung verblieb also weiterhin in einem Zustand der Unausgetragenheit, der enorme Sprengkraft barg. 133 Ganz anders hingegen gingen die Vettern Wilhelm V. und Georg II. von Hessen-Darmstadt den schon seit 1604 währenden dynastischen Dauerkonflikt zwischen ihren Linien an: Den etwa gleichaltrigen Landgrafen, die zudem beide erst seit kurzem regierten, 134 war daran gelegen, möglichst alle Konfliktursachen zu thematisieren und durch einen umfassenden Vergleich zu beseitigen – wenngleich aus unterschiedlichen Motiven. Während Wilhelm unter allen Umständen einen Ausgleich suchen musste, um überhaupt politisch handlungsfähig zu werden, war Georg vor allem daran interessiert, seine momentane politischmilitärische Überlegenheit auch rechtlich zu sichern. 135 So begannen schon im Mai 1627, nur zwei Monate nach der Regierungsübernahme Wilhelms, die Verhandlungen zwischen den Linien. 136 Und nachdem der Erbfolgestreit nun schon seit über zwanzig Jahren von beiden Seiten verbissen geführt wurde, war es keineswegs selbstverständlich, dass nach nur einem halben Jahr ein umfangreiches Vertragswerk in Kraft gesetzt werden konnte, das neben dem sogenannten

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gemacht, an dessen Ende seine Hinrichtung stand. Vgl. auch Keim, Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel vom Regierungsantritt 1627 bis zum Abschluß des Bündnisses mit Gustav Adolf 1631 (1963), S. 194. Gleichwohl war das nicht die einzige Voraussetzung. Dazu gehörte auch, dass Wilhelm und nach ihm Amalie Elisabeth seit 1631 aufgrund von Subsidien und Kontributionen in den besetzten Gebieten weitgehend von ständischen Steuerbewilligungen unabhängig waren; vgl. dazu unten 5.2.2. So auch Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 37, und Bettenhäuser, Die Landgrafschaft Hessen-Kassel auf dem Westfälischen Friedenskongress 1644–1648, S. 17. Wilhelm V. von Hessen-Kassel wurde am 14. Februar 1602 geboren und trat 1627 nach der Abdankung seines Vater die Regierung im Alter von 25 Jahren an (vgl. Kretzschmar, Wilhelm V., S. 39). Georg II. von Hessen-Darmstadt wurde am 17. März 1605 geboren und trat 1626 die Regierung nach dem Tod seines Vaters im Alter von 21 Jahren an (vgl. Becker, Georg II.). Vgl. Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 305f. Zu Georg vgl. auch Beck, Die Neutralitätspolitik Landgraf Georgs II. von Hessen-Darmstadt. Wilhelm hatte sogar schon vor seiner Regierungsübernahme Kontakt nach Darmstadt aufgenommen. Die 1624 geführten Verhandlungen waren aber nicht weiterführend, da Wilhelm keine Handlungsvollmacht besaß.; vgl. Rommel VII, S. 669–671, und Keim, Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel vom Regierungsantritt 1627 bis zum Abschluß des Bündnisses mit Gustav Adolf 1631 (1961), S. 19–23.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

‚Hauptaccord‘ vom 24. September 1627 noch zahlreiche Nebenverträge umfasste. 137 Zwei Ergebnisse waren wesentlich: Erstens wurden die territorialen Grenzen neu gezogen. Wilhelm trat nicht nur das gesamte Marburger Erbe, also das Fürstentum Oberhessen, vollständig an Georg ab, sondern auch die Niedergrafschaft Katzenelnbogen und die (nunmehr: ehemalige) Samtuniversität Marburg; zusätzlich wurde Darmstadt noch die Herrschaft Schmalkalden bis zur Bezahlung von 100 000 fl. als Pfand übergeben. Im Gegenzug verzichtete Landgraf Georg auf die ihm zustehenden Entschädigungsgelder und versprach die Räumung der 25 pfandweise besetzten niederhessischen Ämter. 138 Zweitens trat an die Stelle der bisherigen Kasseler Präzedenz die vollständige Gleichrangigkeit beider Linien, sowohl im Hinblick auf Dritte, vor allem das Reich, als auch untereinander. Da aber in der politischen Praxis auf Rangfolgen nicht verzichtet werden konnte, verabredete man, dass prinzipiell der jeweils an Jahren (nicht: Regierungsjahren) ältere Landgraf den Vorrang haben sollte, wobei für einige gesamthessische Anlässe ersatzweise die Alternation der Präzedenz vorgesehen wurde. 139 Mit der Neuregelung der Rangfragen wurde nun zwangsläufig auch die landständische Verfassung Gegenstand der Vertragsverhandlungen, denn es war nicht zuletzt ein Präzedenzstreit, nämlich der 1608/09 ausgebrochene und bisher nicht beigelegte Konflikt um das Landtagsdirektorium, der seit über zwanzig Jahren die Durchführung gesamthessischer Landtage verhinderte. 140 Aber nicht nur das strategische Interesse an einem umfassenden und tragfähigen Vergleich legte es nahe, sich auch mit der ständischen Institutionenordnung zu befassen, sondern in diesem Punkt spielten wohl auch normative Zwänge eine Rolle. 137

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Vgl. zu den Verhandlungen ebd., S. 39–58, und zum Ergebnis: ‚Hauptsachlicher Abscheid zwischen Herrn Landgraff Wilhelms / und Herren Landgraff Georgens zu Hessen F. F. G.Gn. zu Darmbstadt auffgerichtet / sub dato den 24. Septembr. 4. Octobr. Anno 1627‘, in: Gründliche, warhaffte und vollstendige Erzehlung, Beilagen Nr. 197, S. 483–493. Es folgen die Nebenverträge. Vgl. ebd., §§ 1–10 (Zusagen Georgs) und §§ 11–27 (Zusagen Wilhelms). Vgl. ebd., §§ 28–33, und Keim, Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel vom Regierungsantritt 1627 bis zum Abschluß des Bündnisses mit Gustav Adolf 1631 (1961), S. 53. Ausführliche Zusammenfassung der Bestimmungen in Rommel VIII, S. 32–41. Dass Rangfragen für die vormoderne Gesellschaft konstitutiv waren, ist inzwischen nicht mehr umstritten; vgl. nur für verschiedene politisch-soziale Kontexte StollbergRilinger, Des Kaisers alte Kleider; Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis; Weller, Theatrum Praecedentiae; Krischer, Reichsstädte in der Fürstengesellschaft. Vgl. Hollenberg II, S. 31, Anm. 29. Moritz beanspruchte das ungeteilte Direktorium als Erbe der Kasseler Linie. Landgraf Ludwig V. hingegen forderte, dass bei Landtagen im darmstädtischen Teil Oberhessens er das Direktorium führen dürfe. Vgl. oben 4.2.1.

5.2 Die Zwischenkonfliktzeit: Normative Anerkennung

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Denn es waren die Landgrafen selbst, die immer wieder behauptet und bekräftigt hatten, dass die Landstände selbstverständlich gesamthessisch verfasst seien – und dass allein die gegnerische Linie gegen diese Norm verstoße. 141 Und zusätzlich zu diesen Selbstfestlegungen der Landgrafen drangen auch die Landstände beider Landesteile seit einiger Zeit wieder auf die Wiedereinführung gesamthessischer Landtage und reaktivierten damit eine alte ständische Forderung, die allerdings schon seit Ausbruch des Krieges nicht mehr erhoben worden war. 142 Das unterstreicht noch einmal nachdrücklich, dass der allgemeine – gesamtständische und eben gesamthessische – Landtag zumindest in normativer Hinsicht noch immer das Zentrum der landständischen Verfassung bildete, und zwar trotz der Tatsache, dass seit fast einem Vierteljahrhundert kein solcher Landtag mehr stattgefunden hatte, und auch ungeachtet des zwischenzeitlich erfolgten Auf- und Ausbaus von landständischen Ordnungen in den beiden Teilterritorien. 143 141 142

143

Vgl. oben 4.2.1. Vor 1618 hatte es mannigfache Versuche der Stände gegeben, eine Versöhnung der Landgrafen zu erreichen. Wiederaufgenommen wurde die Forderung zuerst auf einem hessendarmstädtischen Landtag im Mai 1625. Die Ständegesamteit erklärte: Ob nuhnn zwahr die von praelaten, ritter- und landtschafft gerne sehen und wündschen mögen, das zue dieser communication altem üblichen herkhommen nach die samptliche landstende des furstenthumbs Hessen wehren erfordert wordenn (‚Erklärung der Landstände. Marburg 1625 Mai 26‘, in: Hollenberg II, Nr. 50 (II.), S. 204–206, S. 204). Allerdings ist nicht völlig klar, ob wirklich die gesamte Landgrafschaft gemeint ist; da es sich nämlich um einen engeren Landtag handelte, könnte sich die Klage auch dagegen gerichtet haben und mit furstenthumb Hessen eigentlich Oberhessen gemeint gewesen sein. Eindeutiger ist die Lage in Hessen Kassel: Gleich auf dem ersten Landtag, den Wilhelm V. noch im Juli 1627 – und damit während der Verhandlungen um den Hauptaccord – in Kassel hielt, verankerte die Ständegesamtheit diese neue/alte Forderung an prominenter Stelle im Landtagsabschied: die anwesende von praelaten, ritter- und landschafft aber sich erinnert, wasgestaldt in dem furstenthumb Heßen und denen dartzuegehörigen graff- unndt herschafften herkommen, daß die sembtliche landtstende, als welche in sachen, daß gemeine vatterlandt undt gantze furstenthumb betreffendt, unter einem corpore begrieffen, als auch insgesambt undt miteinander untzertrennet zue dergleichen versamblungen erfordert werden, ein solches aber eine zeitweile verplieben undt einer und der ander landesfürst die ihme an- und zugehorende stende, inmaßenn dann vor dißmahls auch beschehen ist, absonderlichen zuesammenerfordert undt die anwesende, das es vorgedachter zuesammenerforderung halber in alten vorigen standt wiederumb gerichtet werden möge, underthenig erinnerung gethan (LTA 1627 Juli, S. 237f.). Aus der normativen Zentralstellung des allgemeinen Landtags kann allerdings nicht geschlossen werden, dass das Beharren auf der Landeseinheit und der Versöhnung der beiden Linien, so wie es Armand Maruhn kürzlich behauptet hat, in den Jahrzehnten nach dem Ausbruch des Erbfolgestreits „die vielleicht wichtigste Grundkonstante“ (Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 103) der ständischen Politik war. Dagegen spricht die auch von den Ständen geteilte institutionalisierte Heuchelei, der von ihnen mitge-

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Zur Lösung des Rangstreits um das Landtagsdirektorium wurde nun im Hauptaccord folgendes vereinbart: Ausgangspunkt war die allgemeine Regel, dass bei Zusammenkünften in einem der beiden Territorien nicht das Alter der Fürsten, sondern der Veranstaltungsort das entscheidende Kriterium zur Bestimmung des Vorrangs sein solle, denn auff solchen fall soll derjenig Fürst die praecedentz und direction haben, in dessen Land dergleichen vorgehet. 144 Und da die Landtage nunmehr einmahl in Casselischem, des andern mahls in Darmbstadischen territorio 145 stattfinden sollten, war in Verbindung mit dem übergeordneten Lokalitätsprinzip eindeutig festgelegt, dass sowohl Veranstaltungsort als auch Direktorium der Landtage in Zukunft alternieren würden. Damit hatte man eine tragfähige Konstruktion gefunden 146 – aber man tat noch viel mehr, wie ein Blick auf den Wortlaut des gesamten Paragraphen zur landständischen Verfassung zeigt: Die allgemeine Landtäge unserer Fürstenthumb sollen mit der beeden Regenten gemeinem schluß unnd Rath, einmahl in Casselischem, des andern mahls in Darmbstadischen territorio, und also fortan wechselsweise, ohnerachtet sich enderung mit den personen der regierenden Fürsten zutrüge, gehalten wertzen: Doch sol hierdurch keinem Fürsten benommen seyn, in seinem Fürstenthumb unnd Landen, je nach gelegenheit und befindung seiner und desselben Landes sonderbahrer obliegen, particular communicationstäge mit seinen Landständen vorzunehmen. 147

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tragene Aufbau landständischer Verfassungsstrukturen in den Teilterritorien und nicht zuletzt die Tatsache, dass die Landeseinheit von ca. 1618 bis 1627 kein politisches Thema mehr war. Die Landeseinheit und die gesamthessische Verfasstheit der Landtage waren wirkungsvolle, weil normativ aufgeladene Argumente, die bei Bedarf eingesetzt werden konnten, aber keine unhintergehbaren Werte. ‚Hauptsachlicher Abscheid zwischen Herrn Landgraff Wilhelms / und Herren Landgraff Georgens zu Hessen F. F. G.Gn. zu Darmbstadt auffgerichtet / sub dato den 24. Septembr. 4. Octobr. Anno 1627‘, in: Gründliche, warhaffte und vollstendige Erzehlung, Beilagen Nr. 197, S. 483–493, S. 491, § 30. Ebd., S. 492, § 33. Nachzutragen ist noch, dass die Alternation des Direktoriums schon 1608 von darmstädtischer Seite beansprucht worden war. Moritz hingegen hatte nur ein eingeschränktes Direktorium für jeden dritten Landtag angeboten, was mit der Teilung Oberhessens in Verbindung stand: Nach den Vorstellungen der kasselischen Seite sollten Landtage immer nacheinander im Niederfürstentum, im kasselischen Teil des Oberfürstentums und im darmstädtischen Teil des Oberfürstentums stattfinden und Ludwig V. nur bei letzteren berücksichtigt werden; vgl. Hollenberg II, S. 29, Anm. 20 und S. 34, Anm. 30. ‚Hauptsachlicher Abscheid zwischen Herrn Landgraff Wilhelms und Herren Landgraff Georgens zu Hessen F. F. G.Gn. zu Darmbstadt auffgerichtet, sub dato den 24. Septembr. 4. Octobr. Anno 1627‘, in: Gründliche, warhaffte und vollstendige Erzehlung, Beilagen Nr. 197, S. 483–493, S. 492.

5.2 Die Zwischenkonfliktzeit: Normative Anerkennung

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In einem Zug mit den allgemeinen Landtagen wurden nämlich auch die Landkommunikationstage genannt und in das Vertragswerk eingeschlossen. Und obwohl der zweite Satz des Paragraphen den Anschein erweckt, nur ein bestehendes Recht anzuführen, handelt es sich um nichts weniger als die erste explizite Erwähnung der Landkommunikationstage in einem normativ verbindlichen Text. Das aber veränderte den Status des Landkommunikationstags grundlegend, denn obwohl er als strukturelles (weil gesamtständisches) und funktionales (weil kollektiv verbindliche Entscheidungen treffendes) Äquivalent des allgemeinen Landtags auf der Ebene der Teilterritorien seit 1604 faktisch zur Regel geworden war, hatte diese Landtagsform doch in normativer Hinsicht immer nur als Ausnahme bzw. Notmaßnahme bis zur Wiederherstellung der allgemeinen Landtage gegolten. Mit diesem Paragraphen und weiteren Textstellen in den Nebenverträgen aber wurde der Landkommunikationstag erstmals als legitime politische Institution anerkannt und als solche neben den allgemeinen Landtagen in das kollektive Normensystem integriert. 148 Auf diese Weise wurde das System der normativen Regeln an die Regelmäßigkeiten der institutionellen Praxis angepasst, wodurch die Kluft geschlossen wurde, die 1605 mit der Einberufung des ersten Partikularlandtags durch Ludwig V. zwischen beiden aufgebrochen war. Und damit wurde auch die ‚institutionalisierte Heuchelei‘ obsolet, denn die Durchführung von Landkommunikationstagen war nun nicht mehr normwidrig und musste dementsprechend auch nicht mehr durch ‚heuchlerische‘ Bestätigung der Norm im Sprechen kompensiert werden. Mehr noch: Durch die Formulierung, Doch sol hierdurch keinem Fürsten benommen seyn […] particular communicationstäge mit seinen Landständen vorzunehmen, wurden Sprechen und Handeln sogar ‚rückwirkend‘ wieder in Übereinstimmung gebracht, weil man den Satz auch so verstehen konnte, als ob die Fürsten immer schon berechtigt gewesen seien, Partikularlandtage einzuberufen – und einige Historiker haben den Satz auch genau in diesem Sinne interpretiert. 149 148

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In einem der Nebenverträge, dem ‚Abschied wegen der Hessischen Lantagen, de dato Marburg den 14.24. Decembris Anno 1627‘ (in: ebd., Beilagen Nr. 265, S. 581f.) heißt es entsprechend: Endlich soll durch gegenwertigen abschied keinem Fürsten benommen seyn in seinem Fürstenthumb und Landen, je nach gelegenheit und befindung seiner und deßselben Landes sonderbarer obliegen, particular Communicationstage mit seinen Landstenden vorzunehmen. Vgl. beispielsweise Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 103: „Jeder Fürst konnte auch weiterhin nach seinem Belieben Partikularlandtage ausschreiben.“ Es macht aber einen Unterschied, wenn eine vorher im Grunde illegitime Institution nunmehr auch im normativen Register anerkannt ist. Ähnlich wie Maruhn auch Rommel VIII, S. 37; zutreffend aber Weber, Der Hessenkrieg, S. 22: „Vor allem war aber jetzt jedem Fürsten

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Der Hauptaccord und die Nebenverträge werden im Hinblick auf die landständische Verfassung vor allem mit der „Wiederherstellung gesamthessischer Landtage“ 150 in Verbindung gebracht. Und in der Tat sollten durch die Neuregelung des Landtagsdirektoriums auf normativer Ebene Bedingungen geschaffen werden, unter denen gesamthessische Landtage auch in der Praxis wieder möglich wurden. Aber diese strukturierende Wirkung des Vertragswerks ist nur die eine Seite der Medaille, denn gleichzeitig wurde es auch durch die institutionelle Praxis der vorangegangenen Jahrzehnte strukturiert, weil und insofern im Hauptaccord die faktisch ohnehin vorhandenen Landkommunikationstage nun auch anerkannt und im Normensystem verankert wurden. Erst in der Zusammenschau dieser zwei sehr unterschiedlich gelagerten Wirkungszusammenhänge lässt sich die Bedeutung des Hauptaccords für die Genese der landständischen Verfassung im Ganzen erkennen: In Kombination von Wiederherstellung der seit Jahren nur noch virtuellen gesamthessischen Landtage und gleichzeitiger Anerkennung der bisher letztlich normwidrigen Landkommunikationstage war der Hauptaccord insgesamt darauf angelegt, eine umfassende und dabei zweistufige Verfassungsordnung zu ermöglichen, in der sowohl auf gesamthessischer wie auch auf territorialer Ebene Landtagsformen faktisch vorhanden und normativ vorgesehen waren. Und außerdem handelte es sich nunmehr um eine genuin ‚landständische‘, also auf eine repräsentativ handelnde Ständegesamtheit zentrierte Verfassungsordnung, denn in einem eigens vereinbarten Abschied wegen der Hessischen Lantagen wurde festgehalten: Drittens soll es mit Außschreibung solcher Landtagen also gehalten werden, daß ein jeder Fürst seine Prälaten, Ritter- und Landschafft beschreibe, doch derjenige, in dessen Fürstenthumb der Landtag seyn soll, das außschreiben in Seiner Cantzley concipiren und auffsetzen lasse, dem andern Fürsten zur Nachrichtung copiam des gestellten concepts […] zuschickt, und sollen die Vorsteher der Adelichen Stifter unnd hohen Hospitalien erfordert werden durch ein Samptschreiben, welches derjenige Fürst, in deßen Land der Landtag gehalten wird, zuverfertigen und dem andern Fürsten mit zuvollziehen zuzuschicken hat. 151

Die Genauigkeit, mit der hier geregelt wurde, wie die hessischen Landstände zukünftig zu laden seien, macht deutlich, dass inzwischen vollkommen selbstverständlich war, dass die Versammlung der Ständege-

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gestattet, ‚je nach Gelegenheit und Befindung seiner und desselben Landes sonderbarer Obligen, Particular-Communications-Täge, mit seinen Landständen, vorzunehmen‘.“ Hollenberg, Primat der Innenpolitik?, S. 128. ‚Abschied wegen der Hessischen Lantagen / de dato Marburg den 14.24. Decembris Anno 1627‘, in: Gründliche, warhaffte und vollstendige Erzehlung, Beilagen Nr. 265, S. 581f., S. 582.

5.2 Die Zwischenkonfliktzeit: Normative Anerkennung

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samtheit in corpore für einen vollwertigen Landtag unabdingbar war. 152 Und obwohl diese Regelung nur für die allgemeinen Landtage galt, wurde sie – zumindest von den Ständen – bald auch auf die Landkommunikationstage bezogen. 153 Damit war im Prinzip den engeren Landtagsformen die Grundlage entzogen und anders als zur Zeit der Landesteilung 1576 war auch von Kurienlandtagen keine Rede mehr. 154 Mit dem Hauptaccord hatte also auch der Prozess der normativen Zentrierung, der in den 1590er Jahren eingesetzt hatte, einen ersten Abschluss erfahren. 155 152

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Allerdings bestanden auch weiterhin Unterschiede zwischen dem corpus der gesamthessischen Landstände und den beiden territorialen Ständegesamtheiten. So wird im ‚Abschied von den Raten und Quoten in allerhand gemeinen Außlagen, de dato Marpurg den 14.24. Decembr. Anno 1627‘, in: ebd., Beilagen Nr. 263, S. 579f., festgelegt, dass Reichssteuern allein von gesamthessischen Landtagen bewilligt werden können (ebd., § 5). Landsteuern (gemeint sind nicht die Landsteuern älteren Typs, sondern die Landrettungssteuern) hingegen können sowohl auf Land- wie auch auf Landkommunikationstagen beschlossen werden (ebd., § 3). Damit zeichnete sich neben der herrschaftsgeographischen auch eine funktionale Differenzierung der beiden Landtagstypen ab. Vgl. Remonstration 1639, fol. 8r: So haben auch die hochpreißlichen Fürsten deß Hauses Heßen, in der Zeit ihre hochwichtige, geheimbte, nachdenckliche Sachen mit der Ritterschafft berathschlaget, wie solches mit dem ohnverwelcklichen Exempell H. Landgr. Philipßen deß Eltern handgreiff lich zu belegen, zu dem weilandt unßer gnädiger Fürst undt Herr, H. Landgraff Wilhelm zu Heßen sel. christmilter Gedächtnus undt Herr Landgraff Georg in dem sub dato den 14. Xbris 627. außgefertigten Landtags Abscheidt klärlich caviret, daß zu vorstehenden Landtagen ‚Ritter undt Landtschafft beschrieben, auch die Ober-Vorsteher der adlichen Stiffter undt hohen Hospitalien durch die Sampt-Schreiben gefordert werden sollen‘. Die von den Rittern allegierte Regel bezog sich im ursprünglichen Abschied nur auf die gesamthessischen Landtage, wird aber hier angeführt, um sich gegen die Ladungsmodalitäten eines hessen-kasselischen Landkommunikationstags zu wenden, der im Dezember 1638 einberufen wurde; zu diesem Landtag vgl. Hollenberg II, Nr. 85a, S. 355. Hollenberg allerdings spricht von einem ‚Landkommunikationstag‘, was nahe legt, dass ihm die Auseinandersetzungen nicht bekannt waren, denn ansonsten hätte man die Versammlung als ‚engeren Landkommunikationstag‘ klassifizieren müssen. Aufschlussreich ist hier ein Vergleich der Erbeinigung von 1567 (vgl. oben 3.2.3.) mit ihrer Neufassung von 1628 (‚Neu verfaster Erbvertrag im Fürstl. Hauß Hessen, datirt den 24. Martii 4. Aprilis Anno 1628‘, in: Gründliche, warhaffte und vollstendige Erzehlung, Beilagen Nr. 268, S. 589–597): Während 1567 der Städtelandtag im Kontext der Fräuleinsteuer ausdrücklich erwähnt wird, findet sich 1628 nur noch ein indirekter Hinweis. Vgl. oben 4.1. – Abschließend sei noch hinzugefügt, dass Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 103, meint, der Hauptaccord stelle hinsichtlich der landständischen Verfassung einen Kompromiss dar. Wilhelm habe auf Drängen seiner Landstände die Wiederherstellung der gesamthessischen Landtage verfolgt, während die Anerkennung der Landkommunikationstage auf Georg zurückzuführen sei. Während die Aussage über Wilhelm plausibel ist, da er tatsächlich seinen Ständen zugesagt hatte, sich entsprechend zu verhalten (vgl. LTA 1627 Juli, S. 237f.), führt der Beleg, den Maruhn für die Intentionen

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

5.2.2 Landtag Ä Geldtag: Die Entkoppelung von Ständeund Finanzpolitik nach dem Bündnis von Werben (1632) Diese ‚Neujustierung‘ der Normen in Bezug auf die Verfasstheit der fürstlich-ständischen Beziehungen, die der Hauptaccord von 1627 ins Werk setzte, ist das erste wichtige Ergebnis, dass sich aus der Untersuchung der Zwischenkonfliktzeit gewinnen lässt. Mindestens ebenso wichtig ist aber ein zweites: Die normativ vorgesehene zweistufige Ständeverfassung mit wiederhergestellten Land- und beibehaltenen Landkommunikationstagen wurde in der politischen Praxis nicht realisiert. Zwar fand 1628 ein gesamthessischer Landtag statt – aber es sollte der letzte überhaupt sein. 156 Während also für Gesamthessen zwar nicht die Wiederherstellung, aber doch die Verstetigung der allgemeinen Landtage misslang (und engere Versammlungsformen bzw. Kurienlandtage gar nicht erst hatten restituiert werden sollen), zeigte sich auf der Ebene der Teilterritorien eine ganz andere Tendenz, wie Abbildung 5 für HessenKassel eindrucksvoll zeigt (S. 335). Landkommunikationstage wurden auch weiterhin einberufen, so wie es seit 1609 der Fall gewesen war. Gleichzeitig aber gab man die älteren Formen auf: Die letzten Kurienlandtage fanden 1634 statt, der letzte engere Landtage 1638. 157 Und damit wurde der Landkommunikationstag, die territoriale Kopie des allgemeinen Landtags, innerhalb eines guten

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Georgs gibt, ins Leere, denn bei Weber, Der Hessenkrieg, S. 21, findet sich keine solche Angabe. Daher muss hier zunächst offenbleiben, wie die Regelungen ausgehandelt wurden. Die Ständeversammlung tagte in Kassel am 27. und 28. März 1628, vgl. Hollenberg II, Nr. 63, S. 258–261. Zunächst beschworen die beiden Fürsten das Vertragswerk, dann die Landstände (vgl. ‚Protokoll. Kassel 1628 März 27‘, in: Hollenberg II, S. 258–260). Des weiteren wurde von den Landständen, die früher Landgraf Moritz unterstanden hatten, eine Steuer bewilligt (vgl. LTA 1628 Aug.). – Im März 1627 hielten die beiden Landgrafen zwar noch ein weiteres Mal gemeinsam eine Ständeversammlung ab (vgl. Hollenberg II, Nr. 66a, S. 278), die jedoch nicht gesamthessisch war, weswegen sie hier nicht gezählt werden kann. Anders aber Hollenberg, Primat der Innenpolitik?, S. 128. Dass es 1634 überhaupt noch einmal zu Kurienlandtagen kam, war von fürstlicher Seite offenbar nicht geplant. Zu Beginn des wahrscheinlich in engerer Form berufenen Landtags separierten sich die Ritter, worauf mit den Städten verhandelt und gleichzeitig die gesamte Ritterschaft nachträglich geladen wurde, vgl. Hollenberg II, Nr. 82, S. 334– 338, und Rommel VIII, S. 292. Nach Hollenberg fand der letzte engere Landtag im April 1638 statt, vgl. Hollenberg II, Nr. 84a, S. 348. Allerdings geht, wie schon erwähnt, aus Remonstration 1639, fol. 5v, hervor, dass auch der Landtag im Dezember 1638 in engerer Form stattfinden sollte, was bei Hollenberg nicht erwähnt wird.

5.2 Die Zwischenkonfliktzeit: Normative Anerkennung

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Jahrzehnts zur einzigen Landtagsform in Hessen-Kassel – und sollte es bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts bleiben. 158 Diese Entwicklung belegt, dass die ‚philippinische‘ Verfassung der ständischen Vielfalt spätestens Ende der 1630er Jahre aufhört hatte zu existieren und sich die landständische Verfassung im Sinne des Strukturtypus endgültig als allein maßgebliche institutionelle Form der fürstlich-ständischen Beziehungen etabliert hatte – faktisch wie normativ. Auf diese Weise setzte sich offensichtlich jener Prozess, der mit der Einberufung des ersten allgemeinen Landkommunikationstags 1609 begonnen und im darauf folgenden ‚Jahrzehnt der institutionellen Verfestigung‘ (1609–1620) unter dem Deckmantel kollektiver Heuchelei zur Entstehung landständischer Strukturen geführt hatte, nach 1627 unvermindert fort – trotz der zwischenzeitlichen Erschütterungen durch die Verfahrenskämpfe und den ersten Ständekonflikt.

Abbildung 5: Landtagsformen in Hessen und Hessen-Kassel nach 1567

Damit soll nicht gesagt sein, dass dieser Prozess in Gänze von den Akteuren gewollt, geplant oder auf irgendeine andere Art intendiert gewesen sei. ‚Die Genese der landständischen Verfassung‘ ist vielmehr ein Geschehen, 158

Hier ist nur die Rede von Landtagsformen, die vom Fürsten ausgeschrieben wurden. Außerdem ist hinzuzufügen, dass der Landkommunikationstag seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts interne Vertretungsmechanismen ausbildete und dadurch personell verkleinert wurde. Allerdings stehen diese Formen, der ‚enge‘ und der ‚ganz enge‘ Landkommunikationstag, in keiner Beziehung zu den ‚engeren‘ Landtagsformen, die bis 1639 vorkamen. Der zentrale Unterschied besteht darin, dass die Auswahl der Landstände bei den ‚engeren‘ Formen dem Fürsten zustand, während bei den verkleinerten Landtagen des späten 17. und 18. Jahrhunderts die Stände selbst Deputierte wählten.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

das sich aus der Interferenz sehr vieler, auf ganz andere Zwecke gerichteter Handlungen ergab und daher als Gesamtprozess nicht intendiert war, weshalb seine Einheit auch nur durch analytische ex-post-Betrachtung (re-)konstruiert werden kann. 159 Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die institutionelle Genese in beiden Phasen von ganz unterschiedlichen Bedingungskonstellationen abhängig war: 160 In der ersten Phase (1609–1620) wurde der Aufund Ausbau eines landständischen Institutionengefüges eingeleitet, weil Landgraf Moritz auf den politischen Rat der Landstände nicht verzichten wollte und auf ihre finanzielle Hilfe angewiesen war, um der von allen Beteiligten empfundenen Bedrohung von ‚Vaterland und evangelischem Wesen‘ militärisch entgegentreten zu können. 161 In der zweiten Phase jedoch, die nach der Unterbrechung durch die Verfahrenskämpfe und den Strukturkonflikt 1627 mit der Thronbesteigung Wilhelms V. und dem Hauptaccord begann, lag eine ganz andere Bedingungskonstellation vor. Zum einen war es nunmehr zusätzlich wichtig, dass sowohl der Fürst als auch die Ritterschaft (und genau genommen: auch die Landschaft) weiterhin kein Interesse daran hatten, die Frage nach dem Status der Ritterschaft erneut aufzuwerfen und damit die Unausgetragenheit der Verfassung wieder sichtbar werden zu lassen. Das Andauern dieser kooperativen Grundhaltung ist nun aber angesichts des schwierigen Zustands der fürstlich-ständischen Beziehungen nach Verfahrenskämpfen und Ständekonflikt (1621–1627) selbst erklärungsbedürftig. Hätte Wilhelm V. nämlich die Landstände ähnlich intensiv in die Pflicht genommen, wie sein Vater es getan hatte, so wäre es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wieder zu Auseinandersetzungen gekommen, in deren Verlauf die Ritterschaft ebenso sicher wieder eigenständig zu agieren begonnen hätte. Ein solches Verhalten hätte dann einen weiteren Ständekonflikt heraufbeschworen und die endgültige Durchsetzung der landständischen Verfassungsform zumindest nachhaltig gehemmt. Daher war es entscheidend, dass Wilhelm seit Anfang der 1630er Jahre aus den Bahnen der herkömmlichen Ständepolitik ausbrechen und eine solche Situation ver159

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Damit ist allerdings nicht festgelegt, wie groß der zeitliche Abstand zwischen Geschehen und Analyse sein muss, weshalb es auch denkbar ist, dass schon die Zeitgenossen diesen Prozess reflexiv erfassen konnten. In Anlehnung an Reinhard, Das Wachstum der Staatsgewalt, S. 63, könnte man auch davon sprechen, dass die Genese der landständischen Verfassung als in seiner Gänze nicht-intendierter Prozess auf der „Meso-Ebene des politischen Systems“ angesiedelt ist, jedoch immer bedingt ist durch die Strukturen und Handlungen der „Mikro-Ebene der Individuen und ihrer sozialen Gruppen“. Vgl. oben 4.2.2.

5.2 Die Zwischenkonfliktzeit: Normative Anerkennung

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meiden konnte – als er nämlich von ständischen Steuerbewilligungen unabhängig wurde. 162 Nachdem König Gustav II. Adolf im Juli 1630 in Pommern gelandet war und sich damit als zweite militärische Macht neben der katholischen Partei im Reich etabliert hatte, war auf dem Leipziger Konvent (Frühjahr 1631) die „Errichtung einer reichsständisch-protestantischen Mittelpartei“ 163 verabredet worden, die über Truppen von 40 000 Mann verfügen sollte. Auf die Beschlüsse des Konvents berief sich nun Landgraf Wilhelm, als er am 15. April den ligistischen Befehlshabern in Hessen und einen Tag später auch General Tilly selbst Quartiere und Kontribution aufkündigte. 164 Gleichzeitig begann Wilhelm, der zu diesem Zeitpunkt auch schon mit Gustav Adolf über ein Militärbündnis verhandelte, mit der Werbung eigener Truppen. 165 Gute drei Monate später verfügte der Landgraf dann wohl über drei Regimenter Infanterie und ein Regiment Kavallerie, was wahrscheinlich einer „Truppenstärke von viertausend Mann zu Fuß und eintausend zu Pferde“ entsprach, und vertrieb die Ligatruppen. 166 162

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Zu Beginn seiner Herrschaft lässt sich zunächst noch ein Umgang mit der Ständegesamtheit ausmachen, der an die Politik seines Vaters erinnert: Nach der Thronbesteigung wurden bis 1629 drei allgemeine und zwei engere Landkommunikationstage einberufen; auf allen Versammlungen forderte der Landgraf Steuern und alle gingen mit einem Abschied zu Ende (Landkommunikationstage fanden statt: Juli 1627, Okt. 1627, Juni 1629; vgl. Hollenberg II, Nr. 58, S. 236–241, Nr. 59, S. 241–244 und Nr. 67, S. 278– 283; engere Landkommunikationstage fanden statt: Dez. 1628/Jan.1629, Okt. 1629, vgl. ebd., Nr. 65, S. 264–274 und Nr. 70, S. 289–291. Allerdings war dieser Politik kaum Erfolg beschieden, vgl. Rommel VIII, S. 60f.: „Minder ergiebig waren die Hessen-Casselschen Landtage.“ Schon 1629 dachte Wilhelm daher ebenfalls an Rücktritt; vgl. ebd., S. 74, wo Rommel einen Brief paraphrasiert, in dem der Landgraf seinen Räten schrieb, dass „die Landstände nicht allein von der verwilligten Summe [für eine Reise zum Kaiserhof, TN] wenig oder nichts geleistet, sondern ihn auch nachher, unter dem Vorwand eigener noch nicht bezahlter Schulden und neuer Kriegsdrangsale, welche doch Jedermann voraussehen konnte, im Stich gelassen“ hätten. Kampmann, Europa und das Reich im Dreißigjährigen Krieg, S. 77; vgl. immer noch umfassend Ritter, Deutsche Geschichte, III, S. 480ff. Vgl. Keim, Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel vom Regierungsantritt 1627 bis zum Abschluß des Bündnisses mit Gustav Adolf 1631 (1961), S. 112, und Rommel VIII, S. 111. Vgl. die ‚Schwedisch-hessische Eventualkonföderation. 1630 11. (21.) November Stralsund‘, in: Struck, Das Bündniß Wilhelms von Weimar mit Gustav Adolf, Anhang, S. X–XXI. Zur Truppenwerbung vgl. Keim, Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel vom Regierungsantritt 1627 bis zum Abschluß des Bündnisses mit Gustav Adolf 1631 (1961), S. 118–121, der auf archivalischer Grundlage einige falsche Urteile (u. a. von Droysen und Ritter) widerlegt. Ebd., S. 120. Vgl. dazu Ritter, Deutsche Geschichte, III, S. 492, nach dem Wilhelm zu diesem Zeitpunkt „nur über ein Regiment Infanterie und ein paar Hundert Reiter“

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Einerseits war nun zwar die langjährige Besetzung Niederhessens beendet; 167 andererseits aber stellte sich das Problem, wie die neu geworbenen Truppen des Landgrafen bezahlt werden sollten. Und als der Landgraf in dieser Situation auch noch befahl, die Unterhaltskosten ab Mai durch „im eigenen Land erhobene Kontributionen“ 168 zu bestreiten, hatte er zwar das Finanzierungsproblem vorerst gelöst, musste aber gleichzeitig damit rechnen, dass sein Vorgehen das Verhältnis zur Ritterschaft erneut belasten würde, denn diese lehnte eine gegen Tilly gerichtete Politik der militärischen Stärke und vor allem die damit verbundenen finanziellen Belastungen nach wie vor vehement ab. Als dann im Juni 1631 auch noch ein im Vorfeld von Tilly mehrfach angedrohter Angriff unmittelbar bevorstand, ähnelte die Lage fatal derjenigen des Jahres 1623, als es über die Frage, ob dem auch damals drohenden Einmarsch der Ligatruppen militärisch zu begegnen sei, zum endgültigen Bruch zwischen Moritz und der Ritterschaft gekommen war. 169 Und auch jetzt zeichneten sich – unterstützt von Tilly – erste Absetzbewegungen innerhalb der Ritterschaft ab: Schon auf einem Landtag Anfang Juni stellte die Ständegesamtheit sich nicht hinter Wilhelms Politik, sondern riet unter maßgeblichem Einfluss der Ritter zu Verhandlungen mit Tilly. Als dessen Truppen dann am 19. des Monats tatsächlich die hessischen Grenzen überschritten, versammelte sich die Ritterschaft erneut eigenmächtig in Rotenburg und bat den Landgrafen darum, von Tilly Schutzbriefe annehmen zu dürfen. 170

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verfügt habe. Droysen, Bernhard von Weimar, I, hingegen greift zu hoch und geht davon aus, dass Sachen-Weimar und Hessen-Kassel schon mehr als 7 000 Mann unter Waffen gehabt hätten. Rommel VIII, S. 111, spricht von „einer achtjährigen Knechtschaft“, die von Wilhelm 1631 beendet worden sei. Als Beginn der Besetzung Hessens gilt ihm also der erste Einmarsch Tillys in der ersten Jahreshälfte 1623. Keim, Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel vom Regierungsantritt 1627 bis zum Abschluß des Bündnisses mit Gustav Adolf 1631 (1961), S. 120. Demandt, Geschichte des Landes Hessen, S. 254, und Weiand, Hessen-Kassel und die Reichsverfassung, S. 45, fügen hinzu, dass Wilhelm auch Anleihen aufnahm, um die Aufstellung der Truppen zu finanzieren. Anfang Juni schrieb Landgraf Wilhelm an Wilhelm von Sachsen-Weimar, daß fast alle wetter itzt zusammenschlagen wollen, indeme besagter general an unß den anfang zue machen und unß bevor andern auf die spitze zu führen gedenket (‚Handschreiben Wilhelms an Herzog Wilhelm (wahrscheinlich Ausfertigung), Kassel 1631 Juni 6/16 (StA. Marburg, PA., 4h 358 Nr. 1)‘, zitiert nach Keim, Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel vom Regierungsantritt 1627 bis zum Abschluß des Bündnisses mit Gustav Adolf 1631 (1961), S. 125). Zur Situation 1623 vgl. oben 4.2. Tilly hatte seit Ende April nicht nur an Landgraf Wilhelm geschrieben, sondern auch wiederholt die hessischen Landstände schriftlich auf seine Seite zu ziehen versucht; vgl. ebd., S. 125f. Zum genannten Landtag vgl. Hollenberg II, Nr. 74a, S. 307–309,

5.2 Die Zwischenkonfliktzeit: Normative Anerkennung

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Ob sich diese Tendenzen verstetigt hätten, ob die Ritterschaft also auch dieses Mal eigenständig mit Tilly verhandelt und dabei den Ausbruch eines neuen Ständekonflikts in Kauf genommen hätte, muss indes offenbleiben, denn die Situation von 1623 wiederholte sich doch nicht ganz: Als nämlich Gustav Adolfs Armee Anfang Juli 1632 die Elbe überschritt, gab Tilly den Plan einer Besetzung des Niederfürstentums auf und zog in Richtung Magdeburg ab. Diese Entwicklung entlastete die fürstlich-ständischen Beziehungen kurzfristig zwar erheblich, da es nun für die Ritterschaft keinen unmittelbaren Anlass mehr für eigenmächtiges Handeln gab, 171 aber gleichwohl blieb noch das ungelöste Problem der Truppenfinanzierung. Zunächst aber begab sich Wilhelm, nach der schnellen Wiedereroberung aller niederhessischen Gebiete, zu Gustav Adolf nach Werben, schloss mit diesem als erster Fürst des Reiches am 12. August ein Militärbündnis und trat damit auf der Seite Schwedens aktiv in den Dreißigjährigen Krieg ein. Wilhelm verpflichtete sich im Bündnis von Werben unter anderem zur Aufstellung eines Heeres von 10 000 Mann unter schwedischem Oberkommando, aber auf eigene Kosten. 172

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und Rommel VIII, S. 119f. – Die eigenmächtige Versammlung in Rotenburg wird in Hollenberg II nicht erwähnt, von Keim, Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel vom Regierungsantritt 1627 bis zum Abschluß des Bündnisses mit Gustav Adolf 1631 (1961), S. 131, aber archivalisch belegt. Das heißt im Umkehrschluss auch, dass die fürstlich-ständischen Beziehungen sofort wieder unter Druck geraten mussten, wenn sich ein solcher Anlass bot, wie sich im August 1631 noch einmal deutlich zeigte: Auf Tillys Befehl war Graf Fugger mit seinen Truppen aus Franken nach Hessen gezogen und hatte sich in Vacha an der Werra festgesetzt. Als er am 30. August „von den Landständen eine hohe Kornablieferung verlangte“ (Hollenberg II, S. 308, Anm. 530), schlugen einige Ritter dem Erbmarschall vor, er solle eine Versammlung der gesamten niederhessischen Ritterschaft nach Alsfeld auschreiben, das in darmstädtischem Gebiet lag. Der Erbmarschall lehnte dieses Ansinnen jedoch ab und verwies darauf, dass das Schreiben des Grafen nicht blos für die Ritterschaft, sondern für alle Stände des Landes gehöre. Außerdem könne er es nicht verantworten, Stände dieses Landes in einem andern, als L. Wilhelm’s Gebiete zu versammeln (beide Zitate nach Rommel VIII, S. 137f.). Der Erbmarschall sprach sich also in diesem Fall dafür aus, die Formen und Verfahren der landständischen Verfassung zu wahren und nicht als Ritterschaft eigenmächtig aktiv zu werden. Stattdessen wurde im Namen der Ständegesamtheit ein ausweichendes Antwortschreiben verfasst, per Umlauf von Ritter und Städten unterzeichnet und an den Grafen Fugger übersandt; vgl. ebd., S. 136–139, und Hollenberg II, S. 308, Anm. 530. Vgl. Rommel VIII, S. 124–131; Demandt, Geschichte des Landes Hessen, S. 254f.; Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 307; Keim, Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel vom Regierungsantritt 1627 bis zum Abschluß des Bündnisses mit Gustav Adolf 1631 (1961), S. 137–139. Das Bündnis ist abgedruckt in Lundorp (Hg.), Acta publica: das ist der Römischen Keyserlichen Majestät Matthiae […] und der

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Unter den Bedingungen der traditionellen Herrschaftsfinanzierung hätte eine solche Zusage Wilhelm vor schier unlösbare Finanzierungsprobleme gestellt und ihn direkt in die nächste Auseinandersetzung mit den Landständen getrieben. Im hier interessierenden Zusammenhang war daher die am 17. August erfolgende Ernennung Wilhelms zum schwedischen General noch wichtiger, denn gleichzeitig mit der Ernennung wies Gustav Adolf seinem neuen Verbündeten Truppenquartiere außerhalb Hessens zu: War zunächst nur unbestimmt vom Raum zwischen Rhein und Weser die Rede, so präzisierte der König nach seinem Sieg bei Breitenfeld diese Angabe im Oktober dahingehend, dass zukünftig die umb und an Ihrer Liebden Gräntzen liegende und benachbarte Lande, vor allem aber die geistlichen Herrschaftsgebiete im westfälischen Raum (die Stifter Münster, Osnabrück und Paderborn sowie die gefürstete Reichsabtei Corvey) für den Unterhalt der auf 150 000 Mann aufgestockten Truppen aufkommen sollten. 173 Und als Wilhelm in der Folgezeit tatsächlich weite Teile Westfalens eroberte, wurde es zum ersten Mal seit Beginn des Krieges möglich, „hessische Truppen durch Kontributionen aus fremden, außerhessischen Gebieten [zu] unterhalten“. 174 Das war im Hinblick auf die landständi-

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jetzo Regierender Keys. Majestät Ferdinandi Secundi, auch dess H. Römischen Reichs Geistlicher und Weltlicher Chur- und Fürsten und anderer Reichs Ständten Reichshandlung von Ursachen des Teutschen Kriegs, IV, S. 216ff. Vgl. Rommel VIII, S. 157, der den Wortlaut der Zuweisung mitteilt: also assigniren wir Ihro, über ihre eigene Lande, die umb und an Ihrer Liebden Gräntzen liegende und benachbarte Lande, und in specie zwischen der Weser und dem Rhein das Stift Paderborn, Corvey, die Graffschaft Arnsberg, das Stift Münster und Osnabrück, soweit sie sich nur in gemein in Westphalen extendiren können, item Landgrafen Georgs Lande, die Graffschaft Waldeck, die Stifter Hirschfeldt und Fulda, die Wetterauischen Grafen, die Westphälische evangelische Grafen, und was Maintzisch oder Anderer zwischen und an Ihrer Liebden Landen ist. Keim, Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel vom Regierungsantritt 1627 bis zum Abschluß des Bündnisses mit Gustav Adolf 1631 (1961), S. 139. Keim weist zu Recht auch darauf hin, dass sich Landgraf Wilhelm V. mit der Einziehung von Kontributionen in fremden Gebieten einer Praxis zuwandte, die er vorher aufs schärfte kritisiert hatte. – Zu den Eroberungen vgl. Tacke, Das Eindringen Hessen-Kassels in die Westfälischen Stifter. – Diese Form der landgräflichen Kriegsfinanzierung ist oftmals herausgestellt worden, vgl. nur Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 307: „In seinem westfälisch-nordwestdeutschen Operationsgebiet konnte der Landgraf die Wurzeln zu einer Entwicklung legen, die die hessen-kasselische Armee schließlich zu einer der wichtigsten im Reich machen sollte. Er benützte seine Kriegsquartiere, um ohne besondere Belastungen der Stammlande den ständigen Ausbau seines Heeres zu forcieren.“ Vgl. auch Petri, Das Militärwesen von Hessen-Kassel in der Zeit Landgraf Wilhelms V. und der Landgräfin Amalie Elisabeth 1627–1649, S. 65–77; Hollenberg, Primat der Innenpolitik?, S. 129.

5.2 Die Zwischenkonfliktzeit: Normative Anerkennung

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sche Verfassung eine entscheidende Wendung, weil die außerhessischen Quartiere den Landgrafen in militärischen Fragen nunmehr „unabhängig von seinen Landständen machten“. 175 Erstmals konnten Kriegsfinanzierung und Ständepolitik weitgehend entkoppelt werden, was sich auch unmittelbar in der institutionellen Praxis niederschlug: Noch im Oktober 1629 war durch einen ordentlichen Landtagsabschied zur Unterhaltung der Festungsbesatzungen in Kassel und Ziegenhain die Summe von 50 000 Rt. bewilligt worden. 176 In den nächsten zehn Jahren aber, also nach der Inbesitznahme der außerhessischen Quartiere, gingen alle der immerhin zwölf Landkommunikationstage ohne Abschied und dementsprechend auch ohne Steuerbewilligung auseinander. 177 Nur die letzten Kurienlandtage gingen mit Abschieden zu Ende, die jedoch keine entscheidenden Beschlüsse dokumentierten. 178 Da der Landgraf also seit 1631 in den besetzten Gebieten Kontributionen einfach anordnen (und bei Bedarf auch erzwingen) konnte und ab 1634 zusätzlich über französische Subsidien verfügte, 179 bestand keine Notwendigkeit mehr, daneben auch noch mit der hessen-kasselischen Ständegesamtheit über Landrettungssteuern zu verhandeln oder gar in Streit zu geraten. Es war also vor allem die Entkoppelung von Kriegsfinanzierung und Ständepolitik, die eine Situation schuf, in der die kooperative Grundhaltung aller Beteiligten anhalten und weder Fürst noch Rit-

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Kretzschmar, Wilhelm V., S. 45; so auch Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 307, und Hollenberg, Primat der Innenpolitik?, S. 129: Wilhelm V. „bedurfte daher der hessischen Landstände nicht mehr“. Vgl. LTA 1629 Okt. Übrigens protestierten die Stände auch in diesem Fall gegen die bei Steuerzusagen ihrer Auffassung nach nicht zulässige engere Form, vgl. ebd., S. 290. Nach dem Landtag vom Oktober 1629 fanden Landkommunikationstage statt: Juni 1631, Aug. 1631, Sept. 1635, Sept. 1636, Aug. 1637, Nov./Dez. 1637, Dez. 1637/ Jan. 1638, Febr. 1638, April 1638, Juni 1638, Aug. 1638, Dez. 1638. Alle endeten ohne Abschied, vgl. Hollenberg II, Nr. 74a, S. 307–309, Nr. 82a, S. 338–340, Nr. 84a, S. 346– 348 und Nr. 85a, S. 355. Der nächste Landtag mit Abschied und Steuerbewilligung war dann im April/Mai 1640, vgl. LTA 1640 Mai. Im November 1631 bewilligte die Ritterschaft 6 000 Rt. als Ersatz für die geforderten Ritterdienste, vgl. ‚Abschied mit der Ritterschaft. Kassel 1631 Nov. 21‘, in: Hollenberg II, S. 312–314; im Juli 1634 bewilligten erst ein Städte- und dann ein Rittertag den vom Heilbronner Bund bewilligten Fruchtzehnten, vgl. ‚Abschied mit den Städten. Kassel 1634 Juli 8‘, in: ebd., S. 334–336, und ‚Abschied mit den Rittern‘, in: ebd., S. 336–338. Zu den französischen Subsidien vgl. Ulbert, Französische Subsidienzahlungen an Hessen-Kassel während des Dreißigjährigen Krieges, und die Korrektur durch Weiand, Hessen-Kassel und die Reichsverfassung, S. 65, mit dem Verweis auf Altmann, Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel im Kampf gegen Kaiser und Katholizismus 1633–1637, S. 26–37.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

terschaft die Frage nach dem Status der Ritterschaft aufzuwerfen brauchten. 180 Und erst diese Bedingungskonstellation machte es möglich, dass von 1627 bis zum Ende der 1630er Jahre die landständische Verfassung auch in der Praxis vorherrschend werden konnte. 181 Während also in der ersten Phase von 1609 bis 1620 gerade die Tatsache, dass Moritz auf ständische Steuerbewilligungen angewiesen war, die Genese einer landständischen Ordnung nach sich zog, so war es in der zweiten Phase seit 1627 gerade die Entkopplung von Kriegsfinanzierung und Ständepolitik, die eine allmähliche Verfestigung und Durchsetzung der zwischenzeitlich so umstrittenen Formen und Verfahren zuließ. Dass ein und derselbe Prozess – immer verstanden als kontingentes Ergebnis der Interferenz kollektiven wie individuellen Handelns – in seinem Verlauf von so unterschiedlichen, sogar gegensätzlichen Bedingungskonstellationen abhängig war, unterstreicht noch einmal deutlich, dass die Genese von Verfassungsordnungen in der Vormoderne zu wesentlichen Teilen ein nicht-intendiertes Geschehen war. 182 Mit dem Hauptaccord von 1627, so lässt sich festhalten, wurde die seit dem Ausbruch des Erbfolgestreits bestehende Kluft zwischen Verfassungsnorm und Verfassungspraxis in zwei Schritten wieder geschlossen: Zum einen wurde der Streit um das Landtagsdirektorium beigelegt und damit die Möglichkeit eröffnet, dass der normativ ohnehin maßgeb-

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Vgl. aber Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 32–37, der das weitgehend konfliktfreie Verhältnis vor allem auf die Zugeständnisse Wilhelms zu Beginn seiner Regierung und dem Ausgreifen in den westfälischen Raum statt nach Darmstadt zurückführt. Die Unabhängigkeit von ständischen Steuerbewilligungen wird hingegen nur am Rande erwähnt und nur auf die Subsidienzahlungen, nicht aber die außerhessischen Quartiere bezogen. Hinzuzufügen ist, dass die Entkopplung von Kriegsfinanzierung und Ständepolitik in der Forschung anders interpretiert wird, etwa in der bis heute maßgeblichen Arbeit von Press: „Zugleich festigte sich Wilhelms Stellung im Landesinneren. Von 1631 bis 1634 berief der Landgraf keinen Landtag mehr ein.“ (Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 307, und im Anschluss daran auch Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 34: „Wie konsolidiert Wilhelms Regierung nun war, zeigt die Tatsache, dass er zwischen 1631 und 1634 keinen Landtag mehr einberufen musste.“) Ich kann diese Interpretation nicht nachvollziehen, da dann auch im Umkehrschluss gelten müsste, dass das Berufen von Landtagen immer schon eine Herrschaftskrise indiziert. Tatsächlich lassen sich aber solche Zusammenhänge nicht verallgemeinern, da ein verstärkter Zugriff auf landständische Strukturen nicht nur zur Abwendung von Herrschaftskrisen, sondern auch zur Machtsteigerung einer etablierten Herrschaft vorkommen kann. Im Jahrzehnt der institutionellen Verfestigung (1609–1620) etwa lag keine Herrschaftskrise vor, obwohl die landständischen Aktivitäten erheblich zunahmen. So auch, mit Bezug auf ‚den Staat‘, Landwehr, Die Erschaffung Venedigs, S. 492.

5.2 Die Zwischenkonfliktzeit: Normative Anerkennung

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liche allgemeine Landtag auch faktisch wieder eine Zentralstellung würde einnehmen können. Zum andern wurden die Landkommunikationstage der beiden Teilfürstentümer als legitime Versammlungsform anerkannt, womit die wohl wichtigste Institution der politischen Praxis nachträglich in das kollektive Normsystem integriert wurde. Diese ‚Neujustierung‘ der Regelinterpretationen im Lichte der veränderten Regelmäßigkeiten der institutionellen Praxis konkretisierte sich in dem neuen Konzept einer zweistufigen wie landständischen Verfassungsordnung, in der sowohl auf gesamthessischer wie auch auf territorialer Ebene Landtagsformen faktisch vorhanden und normativ vorgesehen waren. Allerdings ließen sich die gesamthessischen Landtage in der Praxis nicht wieder verstetigen, so dass der Hauptaccord vor allem im Hinblick auf die in ihm ausgesprochene Anerkennung der Landkommunikationstage wichtig wurde, denn damit entfiel die Notwendigkeit, das Bestehen landständischer Verfassungsstrukturen in den Teilfürstentümern durch ‚institutionalisierte Heuchelei‘ zu kaschieren. Und als der Landgraf dann nach 1631 auf ständische Steuern weitgehend verzichten konnte, indem er die eroberten Gebiete außerhalb Hessens zu Kontributionen heranzog, war eine Bedingungskonstellation zustande gekommen, die es möglich machte, dass sich die landständische Verfassung, die in den 1610er Jahren unter ganz anderen Voraussetzungen entstanden war, weiter verfestigen und vorherrschend werden konnte. 183 Und nach dieser zweiten Phase, also seit dem Ende der 1630er Jahre, hatte sich die landständische Verfassung in Hessen-Kassel dann auch in der Praxis endgültig als allein maßgebliche institutionelle Form der fürstlich-ständischen Beziehungen durchgesetzt. Diese Entwicklung änderte jedoch nichts daran, dass sich die Verfassungsordnung als Ganze immer noch in einem Zustand der latenten ‚Unausgetragenheit‘ befand, denn es war immer noch nicht abschließend geklärt, ob die Ritterschaft in korporativen oder sogar politischen, ‚Land und Leute‘ betreffenden Angelegenheiten als eigenständiger Akteur auftreten dürfe oder nicht. Zwar konnte die weitgehende Verschonung der Landstände mit Steuerforderungen diese Frage in den 1630er Jahren unter der Thematisierungsschwelle halten, aber im Umkehrschluss war es daher wahrscheinlich, dass mit jedem Versuch, die Landstände wieder enger in die Kriegsanstrengungen des Fürstenhauses einzubinden, auch dieses herrschaftsstrukturelle Problem erneut akut werden und einen Stände183

Der Begriff ‚Bedingungskonstellation‘ soll ausdrücken, dass zu der Entkopplung von Kriegsfinanzierung und Ständepolitik noch andere Bedingungen hinzutraten. Allerdings scheint mir die Entkopplung die Hauptbedingung zu sein. Vgl. zu anderen Bedingungen zuletzt auch Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 32–37.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

konflikt nach sich ziehen würde – und 1646 trat dann auch genau dieser Fall ein. 184

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655) Am 27. April 1646 richtete Landgräfin Amalie Elisabeth, die Witwe Wilhelms V. und seit dessen Tod im Jahre 1637 Regentin für den minderjährigen Thronfolger Wilhelm (VI.), ein Schreiben an die niederhessische Ritterschaft: Aufgrund des Durchzugs der schwedischen Armee, so teilte sie mit, seien die Getreidemagazine in den Landesfestungen Kassel und Ziegenhain fast erschöpft. Da aber angesichts des immer noch währenden Krieges die hohe Notturfft erfordere, die Festungen ausreichend mit Proviant zu versehen, verlangte die Landgräfin, die Ritter sollten ihr mit vier taußendt Viertel Frucht ahn Korn undt Gersten zu solchem Behueff beyspringen. Dieses Anliegen sei gerechtfertigt, da eß zu deß Vatterlandtß undt also Euer selbst eygener undt eines ieden Wohlfahrth und Besten beitrage; außerdem seien die Ritter mit dergleichen Ahnlagen nuhn eine geraume Zeit […] verschonet plieben. 185 Das Getreide sollte innerhalb von drei Wochen abgeliefert werden. Als die Ritter aber nach einem halben Jahr der Aufforderung immer noch nicht Folge geleistet hatten, ergriff Amalie Elisabeth schließlich selbst die Initiative und wies ihre Beamten Ende Oktober an, die Ein184

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Bisher ist die Entwicklung der landständischen Verfassung seit den 1590er Jahren im wesentlichen kontinuierlich und in enger Verbindung mit der politischen Geschichte der Landgrafschaft dargestellt und analysiert worden. Da jedoch im nächsten Unterkapitel direkt die Untersuchung des 1647 ausgebrochenen zweiten Ständekonflikts folgt, wird damit erstmals ein zeitlicher Sprung vorgenommen, insofern die Ereignisgeschichte des Jahrzehnts von 1635 bis 1645 keine eigene Darstellung erfährt. Dies ist gerechtfertigt, da die Durchsetzung der landständischen Verfassung im wesentlichen abgeschlossen war und die ständische Aktivität in den ersten Jahren der Regentschaft Amalies stark zurückging. Letzteres gilt jedoch nicht für die Zeit unmittelbar nach dem Tod Wilhelms V., auf die daher im Rahmen der Untersuchung einzugehen ist, vgl. unten 5.3.3. ‚Copia Schreiben von IFG ahn die niderheßische Ritterschafft 4 000 Xtell harter Frucht betreffent die aufgegangene Proviande damitt zuersetzen de dato Cassell den 27. April [1]646‘, in: StAM 304 Nr. 501, unfoliiert, 2 S. – Zum Verlauf des Ständekonflikts vgl. allgemein und umfassend Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 40–90. Bei einem ‚Viertel‘ handelt es sich um ein altes Fruchtmaß, das etwa 160 Liter fasste (vgl. ‚Glossar der Kanzlei-, Verwaltungs- Datums-, Währungs- und Maßbegriffe‘, in: Hollenberg III, S. 685–691, S. 691). Bei einem durchschnittlichen Hektolitergewicht von 60kg für eine Mischung aus Roggen und Hafer forderte die Landgräfin also ungefähr 380t Getreide; zur Regentschaft Amalies vgl. Puppel, Die Regentin, S. 190–234, und allgemein Buckreus, Die Körper einer Regentin.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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nahmen aller Güter, die bisher von den Kriegssteuern befreit waren, vor Ort in den Ämtern festzustellen, in ein Register zu bringen und auf dieser Grundlage von den Besitzern der Güter – in der Hauptsache Angehörige der Ritterschaft – eine Kornabgabe von 12,5 % einzufordern. 186 Sowohl die Getreideforderung vom April als auch die Anweisungen hinsichtlich der Erhebung vom Oktober kündigten einschneidende Veränderungen an: Schon im 16. Jahrhundert hatten die Adeligen eine umfassende Steuerbefreiung für die von ihnen selbst genutzten Güter durchgesetzt, die ihrer Meinung nach auch für die seit Mitte der 1620er Jahre erhobene monatliche Kontribution galt. Und in den Fällen, in denen doch einmal Beiträge zugesagt wurden, führte die Ritterschaft zumindest die Erhebung selbst durch, ohne Beteiligung landesherrlicher Beamter. 187 Da nun die Steuerprivilegien zu den wichtigsten kollektiven Gerechtsamen des hessischen Adels zählten, lag es nahe, das landgräfliche Vorgehen ebenfalls kollektiv als niederhessische Ritterschaft zu erörtern. Die Bildung eines solchen Gesamtwillens konnte aber im Prinzip nur im Rahmen einer Vollversammlung aller niederhessischen Ritter oder einer Konferenz bevollmächtigter Delegierter vor sich gehen. 188 186

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Vgl. die ‚Instruction, was Unser zu Einforderung dero nöthig habender Magatzin Früchte naher dem Dijmelstromb Abgeordnete undt Deputirte in den Städten so wohl alß auf dem Lande bey denen von Adell undt anderen zu verrichten haben [Kassel. 1646 Okt. 30, Kopie]‘ in: StAM 304 Nr. 199, unfoliiert, 5 S. Zur Steuerbefreiung vgl. Hollenberg, Einleitung I, S. 50, und Ders., Einleitung III, S. LXII. Hier ist nicht die Rede von den sogenannten ‚ritterschaftlichen Steuern‘, denn bei diesen handelte es sich um die Reichs- und Landsteuern, „welche von Hintersaßen der Adelichen und der unadelichen Besitzer adelicher Güther, die in hiesigen Landen Neben-Contribuenten heissen, erhoben werden“ (Ledderhose, Von der landschaftlichen Verfassung der Hessen-Casselischen Lande, S. 54). Gemeint sind hier zusätzliche Beiträge der Ritterschaft von ihren eigenen, eigentlich befreiten Gütern. Ein Beispiel für den Unterschied gibt der letzte Rittertag von 1634: Die Ritterschaft bewilligte erstens, dass ihre Hintersassen eine Geldabgabe im Wert des zehnten Teils ihrer Ernte leisten sollten, und zweitens wollten die Ritter auß freiwilligkeit vor dießmahl von solchen ihren adelichen freyen haußgütern von allen früchten, so sie ahn korn, haffern, weitzen, gersten oder andacht dieß jahr einsamblen würden, zue dem vorhandenen magazin die siebenzehende metze geben (‚Abschied mit den Rittern. Kassel 1634 Juli 19‘, in: Hollenberg II, S. 336–338, S. 337). Für beide Formen ritterschaftlicher Abgaben galt jedoch, dass jeder Ritter sein Steuerkapital im Prinzip selbst schätze (‚Deklarationsprinzip‘) und zudem der gesamte Erhebungsvorgang von ‚Obereinnehmern‘ aus den Reihen der Ritterschaft durchgeführt wurde; vgl. Hollenberg, Einleitung III, S. LXIII–LXIX. Andere Repräsentationsmechanismen existierten nicht (mehr). Eine andere Situation hätte nur bestanden, wenn das 1625 eingerichtete repräsentative Kollegium der acht Stromvorsteher noch existiert hätte. Diese waren im Zuge der ‚nachholenden Selbstorganisation‘ der Ritterschaft während des Exils Landgraf Moritz’ umfassend bevollmächtigt worden und konnten daher im Namen der Ritterschaft sprechen und handeln, vgl. oben 5.1.2. 1647 jedoch bestand dieses Gremium nicht mehr, was daraus hervorgeht, dass

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Nun fügte es sich für die Ritter, dass eine solche Zusammenkunft unmittelbar bevorstand, denn im Oktober hatte die Landgräfin nicht nur ihre Beamten angewiesen, die 4 000 Viertel einzubringen, sondern auch dem Erbmarschall die Erlaubnis erteilt, die gesamthessische Ritterschaft einzuberufen, um Lösungsvorschläge für den 1644 zwischen den beiden Linien ausgebrochenen ‚Hessenkrieg‘ zu erarbeiten. 189 Allerdings erschienen in Kaufungen, wohin der Erbmarschall geladen hatte, keine Delegierten aus dem darmstädtischen Oberfürstentum, weshalb es sich bei dem Konvent, der vom 5. bis 10. Dezember tagte, faktisch ‚nur‘ um eine Zusammenkunft der kasselischen Ritterschaft handelte. Die anwesenden Delegierten nutzen nun diese Gelegenheit, erweiterten die Tagesordnung und berieten nicht nicht nur darüber, wie der gefährliche Rieß […] und der verderbliche neuerliche Krieg in Unserm lieben Vatterland wieder consolidiret werden könne, sondern auch [w]ie und waß Ir. Fürstl. Gnd. der Frau Regentin uff Ir. Fürstl. G. Schreiben wegen der abgeforderten 4000. Vrt. Korn zu antworten, ob derselben etwas zugeben und zuwilfahren, wie viel und wie die Außteihlung zu machen sey. 190

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Obervorsteher Hans Diede zum Fürstenstein während der Tagung in Kaufungen Die Deputierte betreffent am 5. Dezember vorschlug, daß auß jedem Bezirck 2 dazu verordnet undt gevolmechtigett werden solten (‚Protocol so zu Kaufungen bey der Zusammenkunfft den 5 Xber [1]646. gehalten worden ob man einen Advocaten bestellen undt eine Ahnlage machen solte‘, in: StAM 304 Nr. 501, unfoliiert). Das entspricht inhaltlich der 1625 getroffenen Regelung und da sich der Obervorsteher in anderen Voten explizit auf die Geschehnisse vom 1625 bezog, ist klar, dass sein Vorschlag auf die Erneuerung des Gremiums von 1625 zielte, was nur Sinn macht, wenn das ursprüngliche Gremium nicht mehr existierte. – Auch die Obervorsteher konnten nicht ohne weiteres im Namen der Ritterschaft sprechen, auch wenn ihnen inzwischen ein größeres Gewicht innerhalb der Ritterschaft zukam, was daraus hervorgeht, dass die beiden niederhessischen Obervorsteher Hans Diede zum Fürstentein und Otto von der Malsburg am 21. April 1647 eigens bevollmächtigt wurden, in Namen der Ritterschaft zu handeln, vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 46. 1644 hatte Amalie Elisabeth den Hauptaccord von 1627 aufgekündigt und war in Oberhessen eingefallen; vgl. Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 315, und Weber, Der Hessenkrieg, S. 32–44. Zum ‚Kaufunger Konvent‘ vgl. Hollenberg II, Nr. 97, S. 418–424, und Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 44; Puppel, ‚Heroina Hassiaca‘ oder ‚Schwester der Gorgo‘?, S. 113, meint, die Ritter hätten sich im Dezember in Allendorf versammelt. ‚Copia waß durch Herren Erbmahrschalcks de dato Obeerkaufungen den 5 Xber [1]646 etlichen Gevolmechtigten Deputirten von der Niderheßischen Ritterschafft proponiret hatt‘, in: StAM 304 Nr. 501, unfoliiert, 3 S. Hinzu kamen noch zwei weitere Punkte: Es musste beraten werden, wie mit einem Schreiben umgegangen werden sollte, dass der Erbmarschall von Landgraf Georg II. erhalten hatte und das an die kasselische Ständegesamtheit gerichtet war. Zudem schlug der Erbmarschall vor, darüber zu sprechen, ob die Landstände bei der Abfassung und Publikation landesherrlichen Ordnungen übergangen worden seien; vgl. ebd.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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Die Ergebnisse des ‚Kaufunger Konvents‘ sind bemerkenswert: Man entschied, die Ergebnisse der kollektiven Willensbildung schriftlich festzuhalten, was ansonsten bei ritterschaftlichen Versammlungen nicht gerade üblich war, und richtete einen umfangreichen Abschied auf. 191 Im Hinblick auf den Konflikt zwischen den Landgrafen nahm man einen sehr allgemeinen Appell zur Versöhnung in den Abschied auf, vor allem aber entschieden sich die Deputierten, ein Schreiben von Landgraf Georg im Namen der Ritterschaft zu beantworten – und zwar obwohl das Schreiben eigentlich an die kasselische Ständegesamtheit adressiert war. 192 Und in einem weiteren Schreiben boten die Deputierten – wieder im Namen der niederhessischen Ritterschaft – Amalie Elisabeth an, ihr mit eintausent Viertell Frucht partim eintzig undt allein zur Proviantirung der Vestung Caßell undt Ziegenhain unterthänig an Handt [zu] gehen; allerdings nur unter der Bedingung, dass die Landgräfin im Gegenzug schriftlich versichere, dass die Steuer auß keiner Schuldigkeitt, sondern freywillig ohne Schmalerung unser [sc. der Ritterschaft] hergebrachten Freyheit beschehen sei. 193 Man betrachtete also die Kornforderung der Regentin nicht als strikten Befehl, sondern eher als eine Art ‚erstes Angebot‘ und die Grundlage für weitere Verhandlungen, in denen die Ritter auch ihre prinzipielle Befreiung von jeglichen Steuerleistungen, die von der Regentin in Frage gestellt worden war, erneut zur Geltung bringen wollten. Diese Entscheidungen machten es nun in der Summe notwendig, die kollektive Handlungsfähigkeit der Ritterschaft auch nach dem Konvent 191

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Vgl. ‚Abschied der Ritterschaft. Oberkaufungen 1646 Dez. 10‘, in: Hollenberg II, S. 418–424. Der Abschied umfasst insgesamt 13 einzelne Punkte, womit er zu den umfangreichsten ritterschaftlichen Abschieden gehört. Vgl. ‚Copia Schreibens ahn Ihr FG Herren Landtgraff Georgen zue Heßen‘, in: StAM 304 Nr. 501, unfoliiert, 4 S. Die Ritter entschuldigten sich zwar, dass sie anstelle der Landstände antworteten, aber während der Beratungen gab Obervorsteher Diede zu bedenken, ob man nicht zu Erhaltung der Ritterschafft praecedens undt praeeminens fohr der andern Stende halber daß Schreiben eroffnen undt hehrnacher der Universitet undt den Statten zuschicken solte (‚Protocol so zu Kaufungen bey der Zusammenkunfft den 5 Xber [1]646. gehalten worden, ob man einen Advocaten bestellen undt eine ahnlage machen solte‘, in: StAM 304 Nr. 501, unfoliiert, 6 S.). Die Ritter hielten sich also durchaus für berechtigt, anstelle der Ständegesamtheit zu schreiben. Immerhin aber richteten sie auch an die Universität Marburg und die Stadt Kassel ein Schreiben, in dem sie betonten, dass eigentlich die Ständegesamtheit zusammentreten müsse, um das Schreiben zu beantworten; vgl. ‚Copia deß Erbmarschalcks Schreiben ahn die Universitet undt Statt Caßell de dato Kauffungen den 17 Xber [1]646‘, in: StAM 304 Nr. 501, unfoliiert, 2 S. ‚Copia Schreibens ahn die Frau Regentin deß Niderfürstenthumbs Heßen F. G. von der Niderheßischen Ritterschafft die Proviandirung der Magazinen betreffent de dato Kauffungen den 9 Xber [1]646‘, in: StAM 304 Nr. 501, unfoliiert, 4 S.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

und bis auf weiteres aufrechtzuerhalten, musste man doch die anderen beiden Landstände in Bezug auf den Hessenkrieg konsultieren und sich für weitere Verhandlungen mit der Regentin bereit halten. Dabei war den Deputierten völlig klar, dass zu diesem Zweck weitere Maßnahmen nötig sein würden – und sie wussten auch, nach welchem Vorbild sie sich richten konnten. Es war Hans Diede zum Fürstenstein, einer der beiden niederhessischen Obervorsteher der adeligen Stifte Kaufungen und Wetter, 194 der es für richtig hielt, daß ein Verlag müße zusammen gebracht werden. Wie aber hielte er dafohr, daß man von der Ahnlage so a[nn]o [1]625 den 2 April zu Neuen Morßen gemacht worden nach den Geschlechtern der dritte Teihll erhoben würde, welches auf 526 Tahler sich belaufen würde. Den Advocaten zubestellen müste mans mitt Johan Diderichen [unleserlich] versuchen solte. Die Deputierte betreffent hielte er dafohr, daß auß jedem Bezirck 2 dazu verordnet undt gevolmechtigett werden solten. 195

Bei der Ahnlage, so a[nno]o [1]625 den 2 April zu Neuen Morßen gemacht worden, handelt es sich nun um eben die Umlage, mit der die Ritterschaft während des Exils Landgraf Moritz’ ihre nachholende Selbstorganisation hatte finanzieren wollen. 196 Auch die Anstellung eines Advokaten und die Wahl von zwei Bevollmächtigten pro Strombezirk waren damals 194

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Diede bekleidete das Amt des Obervorstehers seit 1637 und hatte wohl auch schon zur Zeit Landgraf Moritz’ zur ritterschaftlichen Opposition gehört. Ansonsten ist über seine Person wenig bekannt, was im übrigen auch für den zweiten Führer der ritterschaftlichen Opposition, Otto von der Malsburg, gilt; vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 38. ‚Protocol so zu Kaufungen bey der Zusammenkunfft den 5 Xber [1]646. gehalten worden, ob man einen Advocaten bestellen undt eine ahnlage machen solte‘, in: StAM 304 Nr. 501, unfoliiert, 6 S. Der Erbmarschall hatte unter dem Titel Stifftssachen die Deputierten gefragt, ob nicht ein Advocat so in Stiffts undt Landssachen der Ritterschafft bedient wehre zubestellen, undt auß waß Mittelen solcher zubesolden seye. Zudem hielt er für notwendig, dass ein Verlag zu der Ritterschafft gemeine Sachen, wen man etwa sie ahn ihrer wolhehrgebrachten Freyheit Recht und Gerechtigkeit wider daß Hehrkommen beschweren wollte, nohtwendig in paratu undt im Kasten sein muß, und fragte dementsprechend, wie stark derselbe außzuschlagen, wie da zu zugelangen undt wie die austeihlung untter der Ritterschafft selbsten zu machen sey (‚Concept der Proposition so der Herr Erbmahrschalck zu Kauffungen den 5 xber [1]646 den Obervorstehern und Deputirten von der Niderheßischen Ritterschafft gethan hatt‘, in: StAM 304 Nr. 501, unfoliiert, 5 S.). Auch wenn sich der Obervorsteher mit den genauen Angaben ein wenig irrte, denn die Umlage war nicht am 2. April 1625 in Neumorschen, sondern erst am 22. April in Altmorschen verabschiedet worden, vgl. oben 5.1.2. Hans Diede hatte diese Versammlung zwar nicht besucht, war zur Zeit des ersten Ständekonflikts aber schon politisch aktiv, wie daraus hervorgeht, dass er am 9. Juli 1626 in Gudensberg die landständische Assekuration für General Tilly mitunterzeichnete, vgl. Hollenberg II, S. 225, Anm. 403. Zum ‚Quasi-Landtag‘ von Gudensberg vgl. oben 5.1.3.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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schon verabredet worden, um die Handlungsfähigkeit des ritterschaftlichen corpus sicherzustellen. Im Protokoll von 1646 heißt es dann ohne weitere Aussprache: Die übrigen seint mitt diesem Voto einig. 197 Die Deputierten waren sich darin einig, dass es nunmehr zum ersten Mal nötig war, an das Vorgehen von 1625 anzuknüpfen, also erneut eigenständig in politischen Fragen als niederhessische Ritterschaft – und damit tendenziell außerhalb der landständischen Strukturen – zu agieren und zu diesem Zweck organisatorische Vorkehrungen zu treffen. Und die Ritter schienen sich auch darüber einig zu sein, dass ihr Verhalten legitim sei, denn weder findet man im internen Verhandlungsprotokoll Hinweise auf Zweifel am eingeschlagenen Kurs, noch scheuten sich die Deputierten, wie schon erwähnt, Schreiben im Namen der Ritterschaft an Georg II. und Amalie Elisabeth auszufertigen. Aber auch wenn die Deputierten subjektiv davon überzeugt sein mochten, dass sie nichts weiter taten, als auf Rechte zurückzukommen, die sie schon 1625 ausgeübt und seitdem nie explizit aufgegeben hatten, so war die Situation doch komplizierter, denn tatsächlich war die Frage, ob die Ritterschaft eigenständig handeln dürfe, damals gerade nicht einvernehmlich gelöst, sondern durch den Abbruch des Ständekonflikts nur in den Hintergrund gedrängt worden. Und obwohl sie in diesem Fall auf eine offensichtliche Bedrohung ihrer Steuerprivilegien reagierten, hatten die Ritter mit dem Rückgriff auf 1625 vor allem eines getan, nämlich die Unausgetragenheit der landständischen Verfassung wieder zum Thema gemacht. 198 Ob aus der Erneuerung des Anspruchs auf eigenständiges Handeln seitens der Ritterschaft auch in diesem Fall wieder ein Ständekonflikt entstehen würde, hing nun von der Reaktion der Landgräfin ab. Deren Haltung zeigte sich zuerst, als die Ritter – ebenfalls in Fortsetzung der Politik der 1620er Jahre – das Recht auf Selbstversammlung beanspruchten: Während der Kaufunger Konvent immerhin noch von Regentin genehmigt worden war, wenngleich nicht zur Beratung der Getreideforderung, so wollte sich die Ritterschaft des Werrastroms am 9. Januar 1647 in Allendorf versammeln, ohne die Regentin darüber informiert oder ihre Erlaubnis erbeten zu haben.

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‚Protocol so zu Kaufungen bey der Zusammenkunfft den 5 Xber [1]646. gehalten worden, ob man einen Advocaten bestellen undt eine ahnlage machen solte‘, in: StAM 304 Nr. 501, unfoliiert, 6 S. 1625 hingegen war die Initiative von den Rittern ausgegangen, die im Anschluss an den Erhalt des kaiserlichen Schutzbriefes sich zum ersten mal als Korporation konstituiert hatten.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Daraufhin erging einen Tag vorher aus Kassel ein Schreiben an Sämptliche ahn itzo zu Allendorff befindente Ritterschafft des Wehrrastrombs, in dem Amalie nicht nur befahl, die beim Eintreffen des Schreibens sicherlich schon eröffnete Versammlung sofort aufzulösen, sondern auch für die Zukunft dergleichen neuerlichen Conventiculen undt verdächtigen Zusammenkunfft strikt verbot, da dergleichen Beschreib undt Zusahmmenkunfft der Ritterschafft unter sich wieder daß küntliche Herrkommen undt ohn der hohen landesfürstl. Obrigkeit vorbewust undt Permission keines weges mit einigem Bestandt geschehen können noch sollen. Außerdem enthielt das als inhibition bezeichnete Schreiben eine kaum verhüllte Verdächtigung: Die Regentin wolle nicht hoffen, dass die Beratung Uns oder Unserm geliebten Sohne oder dem Vatterlandt zum Nachtheill gereichet. 199 Amalie Elisabeth, so viel war nun klar, bestritt unter Verweis auf das Herkommen nicht nur prinzipiell die Existenz eines unbedingten ritterschaftlichen Selbstversammlungsrechts, sondern würde auch weitere Zusammenkünfte als Verbrechen ansehen und dementsprechend sanktionieren, wie neben der Verdächtigung die Verwendung des kriminalisierenden Begriffs Conventiculen deutlich macht. Zusätzlich bezeichnete sie das Angebot der Ritterschaft hinsichtlich der Getreideforderung als liederlich und empfand es offenbar schon als Anmaßung, dass die Ritterschaft auch nur in Betracht gezogen hatte, die 4 000 Viertel seien verhandelbar. 200 199

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‚Amalie Elisabeth an die Ritterschaft des Werrastroms. Kassel 1647 Jan. 8, Abschrift‘, in: StAM 304 Nr. 199, unfoliiert, 2 S. Es wäre denkbar, dass auf dieser Tagung die beiden Bevollmächtigten hätten gewählt werden sollen, von denen im Kaufunger Abschied die Rede war. Diese Versammlung hat in der Literatur zu einiger Verwirrung geführt. Aus dem Schreiben geht klar hervor, dass zum Zeitpunkt der Abfassung, also am 8. Januar, die Versammlung in Allendorf entweder unmittelbar bevorstand oder schon begonnen hatte, denn es wurde den Rittern befohlen, das ihr nicht allein also balt undt nach einlifferung dieser Unser Inhibition ohne einige fernere Handlung diese neue Zusammenkunfft dissolviert undt euch nacher Hauß begebet (ebd.). Hollenberg II, S. 425, Anm. 732, meint jedoch, mit dem Schreiben sei „eine für den 22. März 1647 geplante Ritterversammlung in Allendorf verboten“ worden. Im März jedoch tagte man wieder in Kaufungen, vgl. ‚Protocollum bey Versamlung der Ritterschafft des Niederfürstenthumbs Hessen den 24t Mart. Ao 1647 [Kaufungen]‘, in: StAM 304 Nr. 199, unfoliiert, 7 S. – Puppel, ‚Heroina Hassiaca‘ oder ‚Schwester der Gorgo‘?, S. 113f., erweckt den Eindruck, als sei die Ritterschaft von Dezember bis Januar durchgehend in Allendorf versammelt gewesen und die Landgräfin hätte diese Versammlung dann mit besagtem Schreiben aufgelöst. Zudem zitiert sie in diesem Zusammenhang ein Schreiben, das jedoch nicht von der kasselischen, sondern der darmstädtischen Ritterschaft stammt, die vom 9. bis 14. Januar von Georg II. in Gießen versammelt wurde, vgl. Hollenberg II, Nr. 97a, S. 424f. Zitat nach Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 44 (Amalie Elisabeth an die Ritterschaft am 26. Januar 1647, StAM 304 I Alte Akten, 199).

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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Nimmt man beide Reaktionen zusammen, so zeigt sich deutlich, dass die Regentin – wie schon ihr Schwiegervater Moritz vor ihr – keineswegs bereit war, die Ritterschaft als eigenständigen politischen Akteur anzuerkennen. Da aber ritterschaftliche Zusammenkünfte weiterhin möglich sein sollten, wenngleich nur nach vorheriger Genehmigung seitens der Regentin, sprach sie der Ritterschaft den Akteurstatus nicht völlig ab, sondern beharrte – abstrakter formuliert – darauf, dass die Ritterschaft auch weiterhin nur im Rahmen der landständischen Verfassungsordnung aktiv werden dürfe, in deren Rahmen die Ausschreibung von Versammlungen tatsächlich weitgehend dem Landesherrn zustand. Dass die Unausgetragenheit der fürstlich-ständischen Beziehungen seit 1627 nicht mehr thematisiert worden war, gehörte zu den wesentlichen Voraussetzungen für das weitgehend konfliktfreie Verhältnis von Fürst und Ständen in den 1630er Jahren und die endgültige Durchsetzung der landständischen Verfassungsordnung. 201 Nunmehr aber zeigten sich die problematischen Langzeitwirkungen dieser Verdrängung: Da weder Fürst noch Ritter nach dem ersten Ständekonflikt jemals ihre Ansprüche hinsichtlich des Status der Ritterschaft explizit aufgegeben hatten, nahmen die jeweils eigenen Ansprüche in den folgenden zwanzig Jahren für jede Seite den Charakter von Gewohnheitsrecht an, so dass 1647 beide Parteien ihre Standpunkte und die daraus resultierenden Handlungen durch das Herkommen gedeckt sahen – was einen Konflikt nur noch wahrscheinlicher machte. 202 Dementsprechend ließ sich die Ritterschaft von ihrem eingeschlagenen Kurs nicht abbringen und versammelte sich am 24. März erneut ohne landesherrliche Genehmigung in Kaufungen, um das weitere Vorgehen bezüglich der Getreideforderung zu besprechen. 203 Daraufhin bestellte die Landgräfin Hans Diede zum Fürstenstein und Otto von der Malsburg, die vom Erbmarschall als Initiatoren der Zusammenkunft benannt worden waren, nach Kassel; und da sich die beiden Obervorsteher der adeligen Stifte in der Folge eine ganze Woche in Kassel zur Verfügung der

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Vgl. oben 5.2.2. Obervorsteher Diede zum Fürstenstein hatte während des Kaufunger Konvents geäußert, man solle die Landgräfin bitten, dass alles beym Herkommen gelaßen werden möchte (‚Protokoll der ritterschaftlichen Zusammenkunft. Kaufungen 1646 Dez. 6‘, in: StAM 304 Nr. 501, unfoliiert, 7 S.). Und die Landgräfin hatte die ritterschaftlichen Konvente ebenfalls untersagt, weil sie wieder daß küntliche Herrkommen liefen (‚Amalie Elisabeth an die Ritterschaft des Werrastroms. Kassel 1647 Jan. 8, Abschrift‘, in: StAM 304 Nr. 199, unfoliiert, 2 S.). Vgl. ‚Protocollum bey Versamlung der Ritterschafft des Niederfürstenthumbs Hessen den 24t Mart. Ao 1647 [Kaufungen]‘, in: StAM 304 Nr. 199, unfoliiert, 7 S.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

fürstlichen Räte halten mussten, wurde durch diese ohnehin ungewöhnliche Maßnahme die Versammlung in Kaufungen auch faktisch aufgelöst. 204 Nach ihrem Eintreffen in der Residenzstadt mussten die beiden Obervorsteher dann am 26. März in der Regierungskanzlei vor einem hochrangigen Gremium landesherrlicher Beamter erscheinen, wo sie zu drei Punkten vernommen werden sollten: der Getreideforderung, der Beantwortung des Briefes von Landgraf Georg und den ritterschaftlichen Konventen. 205 Diede und Malsburg verweigerten sich jedoch einer mündlichen Verhandlung und reichten stattdessen am nächsten Tag eine schriftliche Stellungnahme ein. In dieser erklärten sie zunächst, dass sie nicht befugt seien, im Namen der Ritterschaft zu sprechen, und daher auf die drei Punkte nur für sich selbst antworten könnten. Gleichwohl enthielt die Stellungnahme dann im Hinblick auf die Getreideforderung und die Konvente eine Wiederholung der bisherigen ritterschaftlichen Position: Erstens könne man nicht mehr Getreide anbieten, weil schlicht keines vorhanden sei, und zweitens bestehe man auf dem gewohnheitsrechtlich verbürgten Selbstversammlungsrecht. 206 Eine Antwort erhielten die beiden Adeligen jedoch erst eine knappe Woche später, als sie am 2. April wieder vor den fürstlichen Räten erscheinen mussten. Bei dieser Gelegenheit legte Vizekanzler Dr. Justus Jungmann noch einmal mündlich die fürstliche Position in aller Deutlichkeit dar: Im Hinblick auf die Getreideforderung wüsste die Regentin von den 4 000 Vl Frucht nicht abzustehen, sondern müste dieselben ietzo haben, 204

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Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 45, teilt mit, dass die beiden Obervorsteher in Kassel unter Arrest gestellt worden seien. Zumindest aus dem ‚Protocoll und Relation, waß zwischen den Herrn geheimbden und Regierungs Räthen, undt den beiden Obervorstehern, Diden und Malsburgk vor gelauffen, angefangen den 26. t Martii Anno 1647 [Kassel. 1647 April 9]‘, in: StAM 304 Nr. 199, unfoliiert, 5 S., geht das so deutlich nicht hervor. Vgl. ebd. Anwesend waren: Hofmarschall Johann Heinrich von Günderode, der marburgische Vizekanzler Dr. Schurff, der kasselische Vizekanzler Dr. Justus Jungmann, die geheimen Räte Gottfried von Wallenstein und Nikolaus Sixtinus, sowie die Regierungsräte David Ludwig Scheffer, Johannes Goeddaeus und Dr. Tauber. Vgl. ‚Der beyden Oberforsteher Antwort auf der Herren Rathe den 26 Martij getahne mündtliche Proposition, de dato Caßell den 27 Martii [1]647‘, in: StAM 304 Nr. 199, unfoliiert, 8 S. – Allerdings wurde schon hier deutlich, dass die Ritterschaft neben dem Herkommen noch über andere Argumentationsmuster verfügte. Erstens könne der Ritterschaft nicht verboten werden, was auch dem geringsten Dorfe im Lande, Gilden undt Zünfften, Bürgern und Bauern, nemblich daß sie ohne Vorwißen und Erlaubnuß vielweniger mit Anzeigung wovon sie reden wollen, ihre Klocke leuten, und zusammen kommen – ein korporationstheoretisches Argument. Zweitens gebühre der Ritterschafft alß primario membro et status dißer Provintz de honore et conservatione principis et patriae besorget zu seyn – ein ‚politiktheoretisches‘ Argument. Beide Argumentationsstränge sollten später wieder aufgenommen und vertieft werden. Vgl. unten 5.3.3.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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und were es bey jetzigen Zeiten, da die Reichs Constitution und alleß über einem Hauffen lege, sich auff kein Privilegium zubeziehen, noch uff einiges Herkommen, bis zum friedlichen Stande. Und darüber hinaus werde sie keine Convent, so lange der Krieg währete, darauffen Staatssachen tractiret würden, gar nicht, die andern aber nicht eher, es würden dan Ihr Fürstl. Gnd. solche vorher, und was darauff verhandelt werden solte, angezeiget, verstatten. 207 Inhaltlich kam die Fürstin den Rittern also keinen Schritt entgegen, sondern beharrte auf der vollständigen Erfüllung ihrer Forderungen und verweigerte sich damit konsequent dem „herkömmlichen Prinzip der Rechtsreformation durch formellen und informellen Konsens von Fürst und Ständen“. 208 Wichtiger aber war noch, dass nunmehr eine neue Begründung für die fürstliche Haltung in den Vordergrund trat: Waren bisher vor allem die herkömmlichen Gerechtigkeits- und Herkommensargumente aufgeboten worden, um die Getreideforderung und das Verbot ungenehmigter Konvente zu begründen, 209 so berief sich die fürstliche Seite nun in beiden Fällen darauf, dass der Krieg das Gemeinwesen in einen Notstand versetzt habe und dieser Sachverhalt die Forderungen rechtfertige, weil im ‚Ausnahmezustand‘ andere Regeln für das Verhältnis von Obrigkeit und Untertanen greifen würden. 210 207

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‚Protocoll und Relation, waß zwischen den Herrn geheimbden und Regierungs Räthen, undt den beiden Obervorstehern, Diden und Malsburgk vor gelauffen, angefangen den 26. t Martii Anno 1647 [Kassel. 1647 April 9]‘, in: StAM 304 Nr. 199. Auch der dritte Punkt (Beantwortung des Schreibens Landgraf Georgs durch die Landstände) wurde erneut angesprochen, wurde aber im Haupttext nicht erwähnt, weil er nicht direkt in den Kontext des Ständekonflikts gehört: Hier beklagte Dr. Jungmann vor allem, dass die Ritterschaft die Injurien, so Landgraff George in dem Schreiben, so er an die Ritterschafft gethan, über IFG die Frau Regentin ausgegoßen, nicht refutiret habe. Quaritsch, Souveränität, S. 48. Quaritsch bespricht zwar an dieser Stelle die Theorieentwicklung bei Bodin, aber die Wendung beschreibt treffend das bisherige ‚Verhandlungsmodell‘, das den fürstlich-ständischen Beziehungen zu Grunde lag. – Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 285, zitiert diese Wendung ebenfalls, schreibt sie aber de Wall, Die Staatslehre Johann Friedrich Horns (ca. 1629–1665), zu. Die Getreideforderung wurde im ersten Schreiben der Landgräfin damit begründet, dass die Ritterschaft mit dergleichen Ahnlagen nuhn eine geraume Zeit […] verschonet geblieben sei (‚Copia Schreiben von IFG ahn die niderheßische Ritterschafft 4 000 Xtell harter Frucht betreffent die aufgegangene Proviande damitt zuersetzen de dato Cassell den 27. April [1]646‘, in: StAM 304 Nr. 501). Und die Konvente ohne landesherrliche Genehmigung seien wieder daß küntliche Herrkommen (‚Amalie Elisabeth an die Ritterschaft des Werrastroms. Kassel 1647 Jan. 8‘, Abschrift in: StAM 304 Nr. 199). Der Begriff ‚Ausnahmezustand‘ ist erst im 19. Jahrhundert gebildet worden; vgl. grundlegend Boldt, Ausnahmezustand, necessitas publica, Belagerungszustand, Kriegszustand, Staatsnotstand, Staatsnotrecht, und Fürbringer, Necessitas und Libertas; Maruhn, Necessitäres Regiment; Seresse, Politische Normen in Kleve-Mark während

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Im Hinblick auf die Untertanen sei die Geltung aller Freiheiten und Gerechtsame zumindest potentiell suspendiert, hier bezogen auf die Steuerprivilegien – silent leges inter arma. Der Fürst hingegen sei in solchen Zeiten komplementär dazu ermächtigt, sich in Verfolgung des Gemeinwohls über eben jene Freiheiten und Gerechtsame aktiv hinwegzusetzen, hier also ritterschaftliche Zusammenkünfte zu verbieten – necessitas non habet legem. 211 Konsequent zu Ende gedacht, lief diese Argumentation auf eine „Notstandsdiktatur“ hinaus, die nicht nur für die umstrittenen Ansprüche der Ritterschaft, sondern im Prinzip auch für die inzwischen unumstrittenen landständischen Partizipationsrechte gefährlich werden konnte. 212 Aber obwohl Geheimrat Nikolaus Sixtinus zum Ende der Vernehmung sogar noch zusätzlich Öl ins Feuer goss und bemerkte, die Ritter müssten nicht nur hiernegst nach Proportion ihrer Güeter die Krieges Last mit tragen, sondern seien eigentlich sogar verpflichtet, von 14 Jahren die rückstendige Contribution zu bezahlen, 213 ließen sich die führenden Köpfe der Ritterschaft davon keineswegs einschüchtern: Nur einen Tag nach ihrer Entlassung verfasste einer der beiden Obervorsteher, Otto von der Malsburg, ein schriftliches Bedencken, in dem er die Ereignisse in Kassel zusammenfasste und darauf aufbauend strategische Überlegungen anstellte, die später tatsächlich zur Grundlage des weiteren Vorgehens der Ritterschaft wurden. Die „zweispurige Strategie“, 214 die Malsburg vorschlug, setzte in erster Linie auf den Weg des Bitten undt Flehens oder gütlicher Handelung, also auf weitere Verhandlungen. Hinsichtlich der Getreideforderung

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des 17. Jahrhunderts; Ders., Zur Bedeutung der ‚Necessitas‘ für den Wandel politischer Normen im 17. Jahrhundert; Pichler, Necessitas; Behnen, Der gerechte und der notwendige Krieg. Für beide Rechtssprichwörter vgl. Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, zum einen S. 141: „Necessitas non habet legem. Not kennt kein Gebot. In Notfällen haben Gesetze keine Kraft. Glosse Expedire zu Dig. 1, 10, 1 § 1“, und zum andern S. 220: „Silent leges inter arma. Wenn die Waffen sprechen, schweigen die Gesetze. Im Krieg ist das Recht kraftlos. Cicero, Rede für Milo § 11 a. A.“ Wolgast, Absolutismus in England, S. 1. Explizit zu diesem Zitat vgl. auch Dreitzel, Absolutismus und ständische Verfassung in Deutschland, S. 58; Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 6, und Freist, Absolutismus, S. 12. Auch schon Rommel IX, S. 171, sprach für die Regierungszeit Moritz’ von einer die „Stände bedrohenden militairischen Dictatur“. Die Bemerkungen Sixtinus’ in ‚Protocoll und Relation, waß zwischen den Herrn geheimbden und Regierungs Räthen, undt den beiden Obervorstehern, Diden und Malsburgk vor gelauffen, angefangen den 26. t Martii Anno 1647 [Kassel. 1647 April 9]‘, in: StAM 304 Nr. 199. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 47f.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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sollte das Angebot auf 2 000 Viertel verdoppelt, gleichzeitig aber an der Bestätigung der Freiwilligkeit durch die Regentin festgehalten werden. Und auch in der Frage der Konvente schlug Malsburg vor, noch einmal unter Anführung des Herkommens um die Aufhebung des Verbotes nachzusuchen. Parallel dazu sollte aber auch der Weg Rechtens beschritten werden, das heißt die Zeit der Verhandlungen sollte genutzt werden, um juristischen Rat einzuholen und gegebenenfalls Rechtsschutz vor den Reichsgerichten zu erlangen. 215 Das Bedencken macht deutlich, dass Malsburg und mit ihm wohl die Mehrzahl der Ritter entweder nicht in der Lage waren oder sich einfach weigerten, die Tatsache in ihre Überlegungen mit einzubeziehen, dass die fürstliche Seite ihre Position nunmehr mit dem Vorliegen einer kriegsbedingten Sondersituation rechtfertigte – das Notstandsargument und seine Folgen, vor allem die Entwertung von Privilegien und Herkommen, wurden vom Obervorsteher weder diskutiert noch überhaupt angesprochen. Malsburg erkannte zwar, dass sich die Auseinandersetzung mit der Regentin zunehmend intensivierte, und schlug daher auch vor, sich für alle Fälle an die Reichsgerichte zu wenden, aber letztlich ging er weiterhin davon aus, dass eine Einigung mit Amalie Elisabeth in der traditionellen Form einer ausgehandelten gegenseitigen Verpflichtung (mutua obligatio) erreichbar sei, also durch die Verbindung von ritterschaftlichen Zugeständnissen in der Praxis bei gleichzeitiger Bestätigung der Privilegien und der Herkommensordnung von fürstlicher Seite. 216 Dafür spricht auch, dass Malsburg das Verhalten der Regentin in direkter Kontinuität zu demjenigen ihres Schwiegervaters sah, weill solches nichts Neues sei, sondern schon L. Moritz FG hochselig. Ahndenkens auf den Lanttagen durch Remonstriren, Repliciren, Dräuen undt anderem eines mehrers, alß die Stenden hehrzugeben ahnfenglich geschloßen hatten, erzwungen habe. 217 215

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Vgl. ‚Deß Oberfohrstehers Mahlsburgs Bedencken waß auf die 3 Puncten zu antworten sey. den 3 April [1]647 [Kassel]‘, in: StAM 304 Nr. 199, unfoliiert, 5 S., und Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 47f. Einen dritten Weg, den Weg der Gewalt undt Defension, mitt den Wapffen erwähnte der Obervorsteher zwar, verwarf ihn aber gleich wieder als nicht gangbar. Der Begriff mutua obligatio wird vor allem zur Bezeichnung von Herrschaftsverträgen und Fundamentalgesetzen verwendet. Da die fürstlich-ständischen Beziehungen aber durchgehend kontraktuell strukturiert sind, kann man auch für die vielen ‚kleinen‘ Verträge von einer mutua obligatio sprechen. Vgl. Holenstein, Die Huldigung der Untertanen, S. 321–384; Mohnhaupt, Von den „leges fundamentales“ zur modernen Verfassung in Europa, S. 51–54; Höpfl, Thompson, The History of Contract as a Motif in Political Thought. Im Grunde handelt es sich hier ebenfalls um ein ‚heuchlerisches‘ Arrangement, vgl. oben 4.2.1. ‚Deß Oberfohrstehers Mahlsburgs Bedencken waß auf die 3 Puncten zu antworten sey. den 3 April [1]647 [Kassel]‘, in: StAM 304 Nr. 199, unfoliiert, 5 S., S. 1f.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Der Obervorsteher hielt das Notstandsargument vor allem für ein Druckmittel im Rahmen der üblichen Aushandlung einer gegenseitigen Verpflichtung, während es der Regentin doch gerade dazu dienen sollte, gleichsam ‚von außen‘ das alte, wenn man so will: kontraktualistische Modell auszuhebeln und durch eine auf fürstlichen Befehl und ritterschaftlichen Gehorsam gegründete Beziehung zu ersetzen – zumindest für die restliche Dauer des Krieges. Hier lag nun kein einfacher Interessengegensatz mehr vor: Ausgehend von der erneuten Thematisierung der Unausgetragenheit der landständischen Verfassungsordnung waren nicht mehr nur die materialen ritterschaftlichen Rechte (Selbstversammlung) und Pflichten (Übernahme von Kriegslasten) strittig, sondern darüber hinaus bestand auch noch Dissens darüber, ob die aktuelle Situation als Not- oder Normalzustand zu definieren sei und welche Argumente man daher legitimerweise vorbringen könne – necessitas oder Herkommen. Da sich aber ohne eine gemeinsame Situationsdefinition – wie schon 1625 – „keine Einigung mehr über Art und Weise der Beilegung“ 218 des Interessengegensatzes hinsichtlich des Akteurstatus der Ritterschaft erzielen ließ, befanden sich Ritterschaft und Regentin 1647 mitten in einem zweiten großen Ständekonflikt. Und dieses Mal wurde er auch ausgetragen – Arreste, Geldstrafen und Gerichtsverfahren waren die Folge, 219 bis mit dem Vergleich von 1655 eine tragfähige Lösung gefunden wurde.

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Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus, S. 13. Schon 1647 waren der Erbmarschall und möglicherweise die beiden Obervorsteher unter Arrest gestellt worden (vgl. Maruhn, Necesitäres Regiment, S. 141); 1650 wurde dann Otto von der Malsburg erneut arrestiert, diesmal sogar in verschärfter Form (vgl. ebd., S. 59, und ‚Kurtzer Bericht, waß mit dem Obervorsteher Otto von der Malsburg im Januario undt Februario Anno 1650 vorgegangen‘, in: StAD F 27 A Nr. 64/9, unfoliiert, 12 S.). Ebenfalls 1650 wurden der Erbmarschall und Otto von der Malsburg mit Geldstrafen von 200 bzw. 400 fl. belegt (vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 57). Zu den Gerichtsverfahren vgl. unten 5.3.4. – Eine weitere Folge war, dass die Ritterschaft die beiden Obervorsteher Malsburg und Diede umfassend bevollmächtigte, um handlungsfähig zu bleiben. In Form und Inhalt ähnelt die Vollmacht stark derjenigen von 1625, vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 46, und ‚Vollmachtsurkunde für Malsburg und Diede vom 21. April 1647‘, in: StAM 304 Nr. 199, im Vergleich mit ‚Vollmacht. Altmorschen 1625 Mai 28‘, in: StAM 340v. Dörnberg Nr. 11, unfoliiert, 8 Seiten.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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5.3.1 Necessitas und Patrioten: Der Konflikt in der Forschungsdiskussion Anders als die bisherigen Stationen der Genese der landständischen Verfassungsordnung ist der zweite Ständekonflikt der Jahre 1646 bis 1655, unter Vernachlässigung des Konflikts unter Moritz auch ‚der‘ hessische Ständekonflikt genannt, in jüngster Zeit intensiv erforscht worden, weshalb es angezeigt ist, hier kurz den Forschungsstand zu rekapitulieren. 220 Einig ist sich die Forschung darin, dass es sich bei diesem Konflikt – wie auch bei vielen vergleichbaren Ständekonflikten um die Mitte des 17. Jahrhunderts – in der Sache um den Versuch der Fürsten handelte, ihre im Verlauf des Krieges faktisch massiv gesteigerte, aber normativ weitgehend prekäre Machtposition nunmehr durch eine Neujustierung der landständischen Verfassung auf Dauer zu stellen, was in der Praxis darauf hinauslief, die politischen Partizipationsrechte der Stände möglichst weitgehend zu beschneiden. 221 Ebenso herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Ständekonflikte vor allem in Form einer argumentativen Auseinandersetzung über das Wesen und den Charakter der landständischen Partizipationsrechte geführt wurden; eine Auseinandersetzung, die wie220

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Es sind vor allem drei Forscher/innen, die sich intensiver mit dem zweiten hessischen Ständekonflikt beschäftigt haben: Raingard Eßer, Armand Maruhn und Robert von Friedeburg; vgl. Eßer, Landstände und Landesherrschaft; Dies., ‚Weil ein jeder nach seinem habenden Verstand … seine Meinung nach aller Völker Rechten ungehindert außzusprechen hat‘; Maruhn, Necessitäres Regiment; Ders., Duale Staatsbildung contra ständisches Landesbewusstsein; Friedeburg, In Defense of Patria; Ders., Widerstandsrecht und Landespatriotismus; Ders., Geschichtschreibung und Geschichtspolitik in der frühen Neuzeit; Ders., The Making of Patriots; Ders., Why Did Seventeenth Century Estates Address the Jurisdictions of Their Princes as Fatherlands?; Ders., Adel und ständische Vertretungen: Repräsentationen des Landes? Friedeburg hat noch deutlich mehr Publikationen zum Thema ‚Vaterland und Patria‘ vorgelegt, in denen der hessische Ständekonflikt oft als Beispiel angeführt wird. – Auch Pauline Puppel hat sich im Rahmen ihrer Untersuchungen zur Regentschaft von Frauen in Hessen mit dem Ständekonflikt beschäftigt, stellt ihn aber nicht ins Zentrum, vgl. Puppel, Die Regentin, S. 190–234; Dies., ‚Heroina Hassiaca‘ oder ‚Schwester der Gorgo‘? Vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 21f.; Puppel, ‚Heroina Hassiaca‘ oder ‚Schwester der Gorgo‘?, S. 124; Eßer, Landstände und Landesherrschaft, S. 181; Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 286; Ansätze zu einer vergleichenden Erforschung von Ständekonflikten bei Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 216–234, und Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus, S. 15–42. Ähnlich gelagerte Ständekonflikte finden sich um die Mitte des 17. Jahrhunderts in Kleve-Mark (vgl. Seresse, Politische Normen in Kleve-Mark während des 17. Jahrhunderts), der Kurmark (vgl. Fürbringer, Necessitas und Libertas), dem Herzogtum Preußen (vgl. Eßer, Landstände und Landesherrschaft) und den welfischen Herzogtümern (vgl. Stieglitz, Landesherr und Stände zwischen Konfrontation und Kooperation).

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

derum nur vor dem Hintergrund einer fundamentalen Veränderung des Rechtsdenkens möglich wurde – der Trennung von öffentlichem und privatem Rechtsbereich. 222 Zwar war die Unterscheidung von ius publicum und ius privatum schon seit der Antike bekannt und somit auch Bestandteil des frühneuzeitlichen gemeinen Rechts, spielte aber keine entscheidende Rolle, weil zunächst die „Vorstellung einer umfassenden Einheit des Rechts“ vorherrschend war. 223 Und es gehörte zu den Eigenschaften dieser einheitlichen und vormodernen Rechtsordnung, dass gleichzeitig mehrere und untereinander heterogene Subjekte Träger genuin politischer, also auf das Gemeinwesen als Ganzes bezogener Rechte sein konnten, wobei sich diese Herrschaftsrechte nicht wesensmäßig voneinander unterschieden, sondern nur dem Grade nach abgestuft waren. 224 Als jedoch die Bodin’sche Theorie eines nicht graduellen, sondern prinzipiellen Unterschieds zwischen dem (individuellen oder kollektiven) Inhaber der „summa in cives ac subditos legibusque soluta potestas“ einerseits und den Untertanen (eben den „cives ac subditos“) andererseits seit dem späten 16. Jahrhundert immer breiter rezipiert wurde, 225 stellte sich hinsichtlich der empirisch vorhandenen Gemeinwesen die Frage nach dem jeweiligen Träger der souveraineté/majestas. Im Kontext des Alten Reiches mit seiner komplizierten, mehrstöckigen Herrschaftsarchitektur wurde diese Frage nun zum „zum Katalysator für die Herausbildung einer

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Vgl. Stolleis, Öffentliches Recht und Privatrecht im Prozess der Entstehung des modernen Staates; Grimm, Zur politischen Funktion der Trennung von öffentlichem Recht und privatem Recht in Deutschland; Ders., Die Trennung von öffentlichem Recht und privatem Recht. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, I, S. 153. Vgl. Dig. 1,1,2: publicum ius est quod ad statum rei Romanae spectat, privatum quod ad singulorum utilitatem (Krüger, Mommsen (Hg.), Corpus Iuris Civilis, I, Digesten, S. 2). Das folgt unmittelbar aus der Tatsache, dass in der Vormoderne Gemeinwesen prinzipiell als Gefüge hierarchisch geordneter Herrschaftsrechte konzipiert wurden, was zum einen mit dem vorherrschenden Aristotelismus und zum andern mit der faktisch vorhandenen Vielfalt von Herrschaftsträgern zu tun hat; vgl. etwa Stollberg-Rilinger, Herstellung und Darstellung politischer Einheit, S. 88: „Kennzeichen der vormodernen societas civils war ja, dass auf allen Ebenen Herrschaftsrechte beansprucht und ausgeübt wurden – nicht nur auf der Ebene der zentralen Staatlichkeit.“ Goertz, Deutschland 1500–1648, S. 51: „So erklärt sich die abgestufte Art von Hoheitsrechten und Herrschaftsbeziehungen, ihr Oben und Unten, ihr Kreuz-und-Quer und die oft fehlende Koordination.“ Bodin, De republica libri sex, Buch I, Kap. 8, S. 123. Zu Bodin vgl. zuletzt OpitzBelakhal, Das Universum des Jean Bodin, und Mayer-Tasch, Jean Bodin; im speziellen zur Bodin-Rezeption im Reich vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, I, S. 174–185.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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eigenen juristischen Disziplin, die sich ‚Öffentliches Recht des Römischdeutschen Reiches‘, Ius publicum Imperii Romano Germanici, nannte“. 226 Im römischen Recht war die utilitas publica der entscheidende Maßstab für die Bestimmung des ius publicum gewesen und weil daher alle Rechtssätze, die eine „dem Gemeinwohl dienende Zweckbestimmung“ aufwiesen, zum ius publicum gehörten, umfasste es nicht nur das römische ‚Staatsrecht‘, sondern letztlich die gesamte „als verbindlich anerkannte Rechtsordnung“, 227 von der durch private Übereinkunft nicht gewichen werden konnte. Die Verbindung mit dem überrechtlichen Wert des Gemeinwohls wurde zwar im ‚neuen‘ ius publicum nicht aufgegeben, aber da nun im Prinzip ein konkretes Rechtsinstitut, nämlich die majestas im Mittelpunkt stand, verengte sich das ‚öffentliche Recht‘ und entwickelte sich zu einem Teilgebiet der Rechtsordnung, nämlich zum Recht der Herrschaftsbeziehungen, insofern nun alle ‚politischen‘, auf das jeweilige Gemeinwesen als Ganzes bezogenen Herrschaftsrechte auf die einzigartige und im Prinzip unteilbare summa potestas zurückgeführt oder zumindest mit ihr in Verbindung gesetzt werden mussten. Und entsprechend der Dichotomie, die der Bodin’schen Konzeption innewohnte, wurde nun das Privatrecht tendenziell zum Rechtsgebiet der herrschaftsunterworfenen Untertanen, deren Rechte nach und nach des Bezugs zum Gemeinwohl entkleidet wurden. Es ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass die binäre Unterscheidung Souverän/Untertanen sich nur mit Gewalt auf die historisch gewachsenen Herrschaftsverhältnisse, insbesondere die des Alten Reiches, anwenden ließ und in der Entwicklung der Reichspublizistik auch

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Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, S. 88; vgl. auch Freist, Absolutismus, S. 14, die sich zustimmend auf das Zitat bezieht; vgl. auch Asbach, Die Zähmung der Leviathane, S. 247. Wie die Metapher des Katalysators deutlich macht, brachte nicht allein die Souveränitätsproblematik das neue ius publicum hervor, sondern es bedurfte der Kombination verschiedener ‚Ausgangsstoffe‘, auf welche der Bodin’sche Impuls katalytisch wirken konnten. Nach Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, I, S. 126f. waren dies: Konfessionsstreit, Staatsbildung und Verrechtlichung. Kaser, ‚Ius publicum‘ und ‚ius privatum‘; so auch Mohnhaupt, Römisch-rechtliche Einflüsse im ‚ius publicum‘/‚öffentlichen Recht‘ des 18. und 19. Jahrhunderts in Deutschland, S. 125; vgl. zu diesem älteren Verständnis auch treffend Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, I, S. 22f.: „Dennoch bleibt zwischen beiden Gebieten ein fest bestimmter Gegensatz darin, daß in dem öffentlichen Recht das Ganze als Zweck, der Einzelne als untergeordnet erscheint, anstatt daß in dem Privatrecht der einzelne Mensch für sich Zweck ist, und jedes Rechtsverhältniß sich nur als Mittel auf sein Daseyn oder seine besonderen Zustände bezieht.“

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

vielfach modifiziert und abgeschwächt wurde. 228 Gleichwohl wurde sie immer wieder herangezogen und so stellte sich im Hinblick auf die landständische Verfassung bald die Frage, in welches der sich neu ausrichtenden Rechtsgebiete eigentlich die politischen Partizipationsrechte gehörten, deren Träger landständische Kollektivakteure waren, denn auch hier ‚passte‘ die Unterscheidung nicht. Als Einzelpersonen bzw. -korporationen waren die Mitglieder der ständischen corpora einerseits Untertanen der jeweiligen Landesfürsten. 229 Ut universi aber, als Ständegesamtheit, übten sie seit langem Rechte aus, die im neuen Schema eigentlich als ‚öffentlichrechtlich‘ zu klassifizieren waren. Und vor diesem Hintergrund wird nun deutlich, warum die Ständekonflikte des 17. Jahrhunderts ganz wesentlich Deutungskonflikte waren: Gelang es nämlich den Fürsten und ihren juristisch geschulten Beratern, „bei der fortschreitenden Separirung des öffentlichen und privaten Rechts die Beides zusammenwerfenden älteren Akte zwischen Fürst und Ständen ausschließlich dem Privatrecht zuzuweisen“ und „die Stände als einfach Private und nur die Landesherren als personae publicae“ 230 zu definieren, konnten Eingriffe in die ständischen Gerechtsame wesentlich leichter gerechtfertigt werden, weil diese dann nur noch als „Privilegien“ und nicht mehr als „Landschaftliche Rechte“ erschienen. 231 228

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Vgl. nur Dreitzel, Absolutismus und ständische Verfassung in Deutschland, S. 33–57, und die zahlreichen der dort zusammengefassten Weiterentwicklungen wie etwa die Unterscheidung von majestas realis und majestas personalis. Auf Reichsebene war der Fall anders gelagert, weil die Mitglieder des Reichstags nicht nur ut universi, sondern – über das der majestas weitgehend analoge Institut der superioritas territorialis – auch als Einzelne Träger öffentlichrechtlicher Herrschaftsrechte waren. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, I, S. 803. Zustimmend auch Krüger, Die landständische Verfassung, S. 41. Vgl. auch Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes, S. 46–76, und Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 323, der von einer „Entwicklung der Entpolitisierung ständischer Rechte durch Abdrängung ins Privatrecht und durch Leugnung derjenigen Bestandteile, die ex post als öffentlichrechtlich hätten gedeutet werden können“, spricht. So die Unterscheidung in Häberlin, Handbuch des Teutschen Staatsrechts, II, S. 30. Die Reichspublizistik wandte sich im 18. Jahrhundert gegen die Deutung als Privilegien, wie aus dem vollständigen Zitat hervorgeht: „Schmeichler der Fürsten haben sich daher bemüht, den Ursprung der Landstände erst in neuere Zeiten zu setzen. Sie haben es gewagt, zu behaupten, daß Landstände ihre Entstehung der Gnade der Fürsten zu verdanken hätten, daß daher im Zweifel die Vermuthung für den Fürsten wäre, und daß Landschaftliche Rechte als Privilegien behandelt werden könnten.“ – Wurden sie jedoch als Privilegien behandelt, so waren selbst vertraglich geregelte Rechte nicht vollständig sicher, „da über das ‚jus eminens‘ ein Eingriffsrecht in den Privilegienbestand ermöglicht wurde, wofür das ‚bonum commune‘, das ‚gemeine Beste‘ oder die ‚salus publica‘ eine ‚iusta causa‘ bildeten“ (Mohnhaupt, Erteilung und Widerruf von Privilegien nach der

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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Diese Diagnose gilt auch für den hessischen Ständekonflikt der Jahre 1646 bis 1655, worauf Robert von Friedeburg völlig zu Recht hingewiesen hat: „Die alten stattgehabten [sc. ständischen] Zusammenkünfte und Aktivitäten galt es in eine neue Welt zu überführen, in der sie zunehmend als entweder privat oder öffentlich taxiert wurden.“ 232 Dieses argumentative Ringen um Definitionsmacht ist nun in jüngster Zeit intensiv erforscht worden: Ausgangspunkt war die bisher in Stände- und Reichsforschung weitgehend geteilte Position, die in Fragen des Rechts- und Herrschaftsverständnisses grob gesprochen ‚traditionalistische‘ Stände gegen ‚moderne‘ Fürsten stellte. 233 Während die Fürsten in den Ständekonflikten mit dem neuen Konzept der superioritas territorialis argumentiert hätten, das im entstehenden ‚öffentlichen Recht‘ weitgehend als eine Art summa potestas im Sinne Bodins verstanden wurde, 234 seien die Stände auf konventionelle, gewohnheitsrechtliche Argumente beschränkt geblieben, weil sie das neue ius publicum nicht rezipiert hatten. Ein Beispiel für diese Position bietet Günter Hollenberg, der 1989 der Meinung war, dass „den Landständen ein staatstheoretisches Fundament, das mehr war als die Berufung auf ihre historischen Privilegien, weitgehend fehlte“, und eine „Verwendung der wohlbegründeten Theorien der Staatsraison und des Gemeinwohls“ allein für die fürstliche Seite feststellbar sei. 235 Hier setzte Raingard Eßer 2001 an und zeigte in einem ersten Schritt, dass diese Gegenüberstellung nicht zu halten ist, wenn man – entsprechend der Forderung der Cambridge School of Intellectual History –

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gemeinrechtlichen Lehre vom 16. bis 19. Jahrhundert, S. 120). Hinzuzufügen ist noch, dass es im 18. Jahrhundert sogar im Interesse der Stände selbst sein konnte, ihre Rechte als privatrechtliche jura quaesita zu definieren, um der Rolle als mandatierte Interessenvertreter der Bevölkerung zu entgehen, die das moderne Naturrecht konturiert hatte, vgl. oben 2.1.2. Friedeburg, Adel und ständische Vertretungen: Repräsentationen des Landes?, S. 183. Während „das politische Ständetum eine traditionalistische Rechtsauffassung“ (Stieglitz, Landesherr und Stände zwischen Konfrontation und Kooperation, S. 3) vertrat, hätten „die Fürsten gegen die korporativen Gewalten […] größere Modernität gezeigt“ (Press, Kriege und Krisen, S. 83); vgl. auch Demel, Reich, Reformen und sozialer Wandel, S. 197. Vgl. die schon 1619 in Gießen verteidigte Dissertation von Minge, De superioritate territoriali, S. 617: „Superioritas territorialis est jus & potestas summi, post Imperatorem, Imperii & dominatus, sublimi regiaque jurisdictionis lege, sub nomine & qualitate, der Landes-hohen Obrigkeit, concessa & legitime quaesita, regulariter in omnes territorio inclusos ordinario & proprio marte competens.“ Vgl. Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, S. 146. Später versteht die Reichspublizistik die Landesobrigkeit/ Landeshoheit stets in Analoge zur majestas, vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, I, S. 185. Hollenberg, Einleitung III, S. XXXVII.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

„Texte einer so genannten mittleren Textebene, die unmittelbar aus der politischen Praxis entstanden“, 236 in die Analyse einbezieht. Dazu untersuchte sie vor allem die Schriftsätze, die im Umfeld des Prozesses entstanden, den die niederhessische Ritterschaft seit 1647 vor dem Reichskammergericht in Speyer gegen die Regentin führte – entsprechend der ‚zweispurigen Strategie‘ (Maruhn), die Obervorsteher Malsburg im April des Jahres konzipiert hatte. 237 Eßer konnte zeigen, dass die Ritter keineswegs einer überholten Rechtsauffassung anhingen, sondern – in Zusammenarbeit mit juristischen Beratern – „durchaus in der Lage [waren], staatstheoretische Argumente zu formulieren und zu ihren Gunsten in die Diskussion zu bringen“. 238 Fürsten wie Stände bezogen sich also gleichermaßen auf das neue ius publicum, um den juristischen Begriff der landesfürstlichen Obrigkeit gemäß ihren eigenen Vorstellungen zu füllen. Bestand also in dieser Hinsicht kein Unterschied zwischen den Kontrahenten, so konnte Eßer des weiteren aber auch Unterschiede in den Argumentationsstrategien ausmachen: Die Ritterschaft setzte zusätzlich auf „Traditionsargumente des ‚alten Rechts und Herkommens‘ “ und die Überzeugungskraft von „korporationsrechtlichen Vorstellungen“, während sich die fürstliche Seite neben einer extensiven Auslegung der superioritas territorialis vor allem auf die „ ‚Argumentationshilfe‘ des Kriegsund damit des Ausnahmezustands“ verließ, um die ständischen Partizipationsrechte zurückzudrängen. 239 Insgesamt, so Eßer, könne man den vielfach konstatierten Bedeutungsverlust der Landstände nach dem Dreißigjährigen Krieg daher nicht mehr mit einem angeblichen „Festhalten an staatstheoretisch nicht begründeten Besitzständen“ 240 seitens der Landstände erklären.

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Eßer, Landstände und Landesherrschaft, S. 179. Zum Prozess vor dem Reichskammergericht vgl. noch ausführlich unten 5.3.4. Eßer, Landstände und Landesherrschaft, S. 183. Die Verwendung der Begriffe ‚Staatstheorie‘ und ‚staatstheoretisch‘ ist problematisch: Im 18. Jahrhundert wurde ius publicum zwar mit ‚Staatsrecht‘ übersetzt (vgl. nur Zschackwitz, Einleitung Zu dem Teutschen Jure Publico oder Staats-Rechte), aber gemeint ist noch nicht der Staat im modernen Sinne, sondern die immer noch sehr vielfältige Gesamtheit der ‚öffentlichrechtlichen‘ Herrschaftsbeziehungen. Daher wird im folgenden stets von ‚öffentlichem Recht‘ gesprochen, wenn das ius publicum gemeint ist. Auch in anderen Kontexten wird der Begriff vermieden, so spreche ich nicht von ‚staatstheoretischen‘, sondern von ‚politiktheoretischen‘ Argumenten, wenn es um Anleihen aus dem Spätaristotelismus, dem Tacitsmus oder anderen politischen Theorien geht. Zitate Eßer, Landstände und Landesherrschaft, S. 193, S. 186, S. 193. Ebd., S. 193. Anstatt „begründet“ stünde hier wohl besser „begründbar“, denn es kann dem Verfassungshistoriker nicht darum gehen zu entscheiden, ob die verfassungsrecht-

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Eßers Beitrag war vor allem in kritischer Hinsicht von Bedeutung, da sie mit der alten Vorstellung einer ungleichen Auseinandersetzung zwischen ‚traditionalistischen‘ Ständen und ‚modernen‘ Fürsten aufgeräumt hatte. Dadurch wurde nun der Blick darauf frei, dass im Rahmen des hessischen Ständekonflikts eine argumentative Auseinandersetzung über das Wesen der fürstlich-ständischen Beziehungen geführt wurde, die keineswegs schon zu Beginn zuungunsten der Stände entschieden war, sondern von beiden Seiten engagiert und teilweise auf hohen Niveau geführt wurde. Wenn aber der Ausgang des Deutungskampfes und damit mittelbar auch der des Prozesses vor dem Reichskammergericht offen waren und wenn die beteiligten Parteien Argumente aus unterschiedlichen Rechtsgebieten anführten, dann lag es nahe, die spezifische Situationslogik des Rechtsstreits genauer zu rekonstruieren, um feststellen zu können, welche Argumente denn nun tatsächlich effektiv waren. 241 In seiner 2004 erschienenen Monographie zum hessischen Ständekonflikt hat sich Armand Maruhn unter anderem auch dieser Aufgabe angenommen. 242 Unter der Kapitelüberschrift „Herkommen, Landesho-

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lichen Ansprüche historischer Akteure ‚wirklich‘ begründet waren, sondern nur um die Prüfung, ob sie mittels verfassungsrechtlicher Argumente begründbar waren – es geht um Kohärenz und Stimmigkeit, nicht um Richtigkeit. Eßer, Landstände und Landesherrschaft, S. 194, geht einen anderen Weg, wie der letzte Satz ihres Aufsatzes anzeigt: „Dass die Landesherren letzten Endes die schlagkräftigeren Argumente zur Verfügung hatten, lässt sich aus dem Zusammenspiel aktueller politischer Entwicklungen, ganz manifester Drohgebärden und Gewaltanwendungen mit althergebrachtem Staatsdenken in einer neuen Interpretation des Herrschers begründen.“ Behauptet wird also, dass die Landesherren den Deutungskampf ‚gewannen‘, weil sie in den nicht-argumentativen Dimensionen des Ständekonflikts eine dominante Machtstellung einnahmen. Nun ist nicht zu leugnen, dass das Droh- und Gewaltpotential der Landesherren so erheblich war, dass Obervorsteher Malsburg von Anfang an den Weg der Gewalt undt Defension, mitt den Wapffen verwarf (‚Deß Oberfohrstehers Mahlsburgs Bedencken waß auf die 3 Puncten zu antworten sey. den 3 April [1]647 [Kassel]‘, in: StAM 304 Nr. 199, unfoliiert). Eßer unterschätzt hier aber meines Erachtens die Wichtigkeit der Rechtfertigung des eigenen Handelns und die daraus erwachsene Bedeutsamkeit des Deutungskonflikts. Wäre dem Droh- und Gewaltpotential des Landesherren eine so überragende Bedeutung zugekommen, warum hätten die Ritter überhaupt einen Prozess anstrengen sollen? Zudem musste ihnen bewusst sein, dass ein im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes erteiltes Mandat bis zur Verkündung eines Urteils nicht vollstreckbar sein würde (vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 198; vgl. allgemein Hinz, Mandatsprozeß, und Uhlhorn, Der Mandatsprozess sine clausula des Reichshofrats). Das Buch von Maruhn (Maruhn, Necessitäres Regiment) ist außerordentlich vielseitig und thematisiert die unterschiedlichsten Aspekte, von denen hier allerdings nur seine Beschäftigung mit dem Deutungsaspekt des Konflikt ausführlicher referiert werden kann. Maruhn hat darüber hinaus, aufbauend auf intensiver Auswertung der archivalischen Überlieferung, die Ereignisgeschichte des Ständekonflikts umfassend dargestellt (ebd., S. 24–96), den „supraterritorialen Regionalismus“ des hessischen Adels unter-

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heit und Necessität“ 243 behandelte er die seiner Ansicht nach wesentlichen Argumente der Konfliktparteien. Zunächst versuchte Maruhn zu begründen, warum das Herkommensargument für die Ritter so wichtig war und blieb, obwohl es sich im Verlauf der juristischen Auseinandersetzung als wenig effektiv erwies und von der Gegenseite immer weiter entwertet wurde: Der „Rekurs auf das Herkommen“ sei „als Ausdruck einer erinnernden Rechtskultur des Adels“ 244 zu verstehen, wodurch sich die Bevorzugung gewohnheitsrechtlicher Argumente auf lebensweltliche Zusammenhänge außerhalb der juristisch-argumentativen Sphäre zurückführen ließe. Im Hinblick auf die fürstliche Strategie kehrte er dann das Verhältnis von Landeshoheit und Necessität um: Notstand sei nicht nur eine ‚Argumentationshilfe‘ (Eßer) zur extensiven Auslegung der Landeshoheit, denn so „entschieden die divergierenden Auffassungen zu Reichweite und Grenzen der landesherrlichen Superioritas territorialis auch vorgetragen wurden, im Zentrum der juristischen Auseinandersetzung standen nicht sie, sondern die für den Bestand landständischer Rechtspositionen weitaus gefährlicheren Notstandsbefugnisse“. 245 Diese Zentralstellung ergebe sich, weil es den Ständen in Bezug auf die Landeshoheit argumentativ möglich war, die „Grenzen und Bindungen dieser Gewalt sehr genau zu umreißen und herauszuarbeiten“, 246 während ihnen das für die rechtlich kaum zu greifende Necessität deutlich schwerer fiel, was die Effektivität des Notstandsarguments erhöhte. Daraufhin, so Maruhn weiter, hätten die Stände ihre Strategie geändert und versucht, möglichst große Teile ihrer gewohnheitsrechtlichen Ansprüche in eine „fundamentalgesetzliche Fixierung der gegenseitigen Rechtsbeziehungen“ 247 einzubringen und auf diese Weise dem notrechtlich begründeten Zugriff des Landgrafen zu entziehen, was ihnen mit dem Vergleich von 1655 weitgehend gelungen sei. So überzeugend das Gesamtbild auch ist, das Maruhn zeichnet, so bleibt doch ein wichtiger Zwischenbereich unausgeführt, denn es ist nicht ohne weiteres einsichtig, warum der Fürst überhaupt mit den Landständen oder der Ritterschaft fundamentalgesetzliche Verträge schließen

243 244 245 246 247

sucht (ebd., S. 97–126), die „Auseinandersetzungen um die Justizbeschwerden der Ritterschaft“ hervorgehoben (ebd., S. 127–175), die Bedeutung der Reichsebene für den Verlauf des Ständekonflikts aufgezeigt (ebd., S. 176–215) und den hessischen Fall mit Ständekonflikten in anderen Territorien verglichen (ebd., S. 216–234). Ebd., S. 235. Ebd., S. 242. Ebd., S. 262. Ebd., S. 259. Ebd., S. 266.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

365

sollte: Da nämlich nicht nur der vom ius publicum geregelte ‚Normalstand‘ der Herrschaftsbeziehungen, sondern auch der Notstand auf den überrechtlichen Wert der utilitas publica, das Gemeinwohl bezogen war, es sich also nicht einfach um einen Fall von necessitas, sondern von necessitas publica handelte, erschienen auch die daraus resultierenden Notstandsbefugnisse des Fürsten als ‚öffentliche‘ Rechte. 248 Und wenn diese Befugnisse es erlaubten, wie die fürstliche Seite behauptete, die politischen Partizipationsrechte der Stände zu suspendieren, dann war damit gleichzeitig impliziert, dass es sich bei diesen Rechten ‚nur‘ um Privilegien Einzelner handelte, die dem Bereich des Privatrechts zuzurechnen waren. Da das nach Maruhn so effektive Notstandsargument die ständischen Gerechtsame also tendenziell auf der ‚privatrechtlichen‘ Seite der neuen Unterscheidung platzierte, ist nicht ohne weiteres einzusehen, warum der Landesherr Teile dieser Gerechtsame im Wege einer „fundamentalgesetzlichen Fixierung“ (Maruhn) als zum öffentlichrechtlichen Bereich gehörig anerkennen sollte. Da es im Vergleich von 1655 aber genau dazu kam, müssen die Stände der durch den Einsatz des Notstandsarguments drohenden Abdrängung ins Privatrecht wirksam entgegengetreten zu sein – wie sie das vermochten, wird bei Maruhn jedoch nicht deutlich. Hier schließen nun unmittelbar die Arbeiten Robert von Friedeburgs an. Auch er sieht den Ständekonflikt vor allem als „Rechtsstreit um

248

Vgl. nur zwei beliebige Zitate aus den fürstlichen Schriftsätzen: ‚Exceptiones sub- et obreptionis articulatae Anwaldts der durchleuchtigen Fürstin und Frawen, Frawen Amelien Elisabethen Landgravin zue Heßen, geborene Grävin zu Hanaw, Müntzenberg, Wittiben, Vormünderin und Regentin, so dan IFG. ViceCantzlers, geheimbter Kriegs und Regirungs Räthen zu Caßel, contra die sambtliche Ritterschafft des Niederfürstenthumbs Hessen in causa Madati inhibitorii et cassatorii sine clausula [Präsentationsvermerk: Speyer 1651 Jan. 7/17]‘, in: StAM 255 H Nr. 139, [= Exceptiones 1651] Art. 16: So ist doch mehr und denenselben eben nicht benommen oder verwehret, ob publicam utilitatem vel belli etiamque extremam necessitatem et summum in mora periculum, ohne solche Beschreibung ihren Unterthanen und Landsaßen notwendige Contributiones und Anlagen zu indiciren und von ihnen zu exigiren; ‚Duplicae mit darin angedungenen Beylagen sub. lit. A. usque ad. FF. in Sachen Anwald des durchleuchtigen und hochgeborenen Fürsten und Herrn, Herrn Wilhelms, Landtgraffens zu Heßen, Fürstens zu Hersfeld, Grafens zu Catzenelnbogen, Dietz, Ziegenhain, Nidda und Schaumburgk und Consorten billich btf. contra hirhin (?) der Heßischen Ritterschafft unbefugte Cläger, Primi Mandati Inhibitorii et cassatorii S. C. [Präsentationsvermerk: Speyer 1653 April 12/22, in: StAM 255 H Nr. 139, [= Duplik 1653]‘, fol. 16: Also haben Sie die adelichen Underthanen auch zu denen nothwendigen Landtsdefensionen undt Rettung gleichfals ob necessitatem et salutem patriae ebensowohl alß andere unadeliche Underthanen undt Hintersaßen von sich selbsten […] die zu Zeiten begehrte Landtsteuer, bevorab weil Ihrerseiths kein beständig Privilegium oder Herkommen, in specie darwieder hat behauptet werden können, mit tragen helffen müßen.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

die Handhabung des Not- und Ausnahmezustandes“. 249 Im Unterschied jedoch zu Maruhn, der das Necessitas-Argument alleine auf der fürstlichen Seite verortet, geht Friedeburg davon aus, dass auch die Stände ihre Rechte als ‚notstandsfest‘ deuteten, wenn nicht sogar mit dem Fürsten „um die Befehlshoheit im Notstand konkurrierten“. 250 Da nun aber jede denkbare Notstandsbefugnis, und sei es nur die Berechtigung, alle sonstigen eigenen Gerechtsame auch im Notstand ausüben zu dürfen, aufgrund des sie legitimierenden Bezuges zum Gemeinwohl eindeutig öffentlichrechtlichen Charakter hatte, konnten die Stände solche Befugnisse in Konkurrenz zum Fürsten nur dann nachvollziehbar beanspruchen, wenn sie in der Lage waren, „vom fürstlichen Gegner zunehmend als ‚privatrechtlich‘ qualifizierte korporative Besitzstände […] stattdessen in die Sphäre öffentlich-rechtlicher Machtansprüche zu überführen“. 251 Möglich wurde diese konkurrierende Definitionsleistung nun vor allem, so Friedeburg, durch den „Rückgriff auf den Begriff des Vaterlandes“. 252 Der deutsche Begriff und seine lateinische Entsprechung patria eigneten sich deshalb hervorragend für die Zwecke der Ritterschaft, weil sie eine unbestritten ‚öffentliche Sache‘ bezeichneten, die aber gleichwohl unabhängig von der Person des Fürsten war. Und daher konnten die Ritter das Wohl des Vaterlandes als eine konkrete Erscheinungsform der salus publica präsentieren, auf die man sich auch dann noch in rechtfertigender Absicht beziehen konnte, wenn man in Opposition zum Fürsten stand. 253 ‚Vaterland‘ und ‚patria‘ waren also im strengen Sinne keine Argumente, sondern eher politische Wertbegriffe, die das Gemeinwohl evozierten. Nach Friedeburg wirkte der Bezug auf das Vaterland daher auch im Sinne eines „Leitfadens“, 254 mittels dessen die ständischen Argumente, welche 249 250 251 252 253 254

Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 286. Ebd., S. 287. Ebd., S. 323; vgl. auch Ders., Adel und ständische Vertretungen: Repräsentationen des Landes?, S. 183. Vgl. Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 287. Vgl. ebd., S. 268. Ebd., S. 287. Die hier vorgetragene Interpretation, dass nämlich Friedeburg den Bezug auf das Vaterland sozusagen als ‚regulative Idee‘ der ständischen Argumentationsstrategie ansieht, macht sein Argument am stärksten, weil dann in den Blick kommt, dass neben dem Bezug auf das Vaterland auch noch Argumente vorgebracht sein müssen, die eine Verbindung der Ritter mit dem Vaterland überhaupt erst herstellen. Allerdings ist hinzuzufügen, dass sich Friedeburg an vielen Stellen so ausdrückt, als wäre der Bezug auf das Vaterland – vor allem in Form der Selbstbezeichnung als ‚Patrioten‘ – schon selbst ein Argument und nicht nur der Bezugspunkt der Argumente; vgl. etwa Friedeburg, Making of Patriots, S. 883: „Moreover, the knights described themselves with the neologism Patrioten. By doing so, they claimed the right to counsel the landgrave and to protect and defend the welfare of the fatherland. As Patrioten, they carved out a role

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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ganz unterschiedlicher Provenienz waren, auf ein einheitliches Ziel ausgerichtet wurden, nämlich auf den Nachweis, dass die Ritterschaft sowohl berechtigt wie verpflichtet sei, über das Wohl des Vaterlandes, also das Gemeinwohl, zu wachen und es gegebenenfalls selbstständig zu schützen. Und indem auf diese Weise das „Wohl des Vaterlandes und die Pflichten und Taten der Ritter für das Vaterland“ 255 miteinander gekoppelt wurden, gelang es, „einen öffentlichen und politischen Sachbereich genuiner Herrschaftsausübung zu markieren, in dem die Stände nachweislich selbständig agiert hatten“. 256 Die Beobachtung, dass die ständische Argumentationsstrategie insgesamt auf den Begriff des ‚Vaterlandes‘ ausgerichtet war, um die ständischen Herrschaftsrechte mittelbar mit der salus publica zu verknüpfen und so dem Zugriff des Landgrafen, der seine Notstandsbefugnisse ebenfalls mit dem Gemeinwohl rechtfertigte, zu entziehen, kann wohl als das wichtigste Ergebnis der Forschungen Friedeburgs in Bezug auf den Deutungsaspekt des Ständekonflikts gelten. Darüber hinaus hat er mehrfach wichtige Einzelargumente des hessischen Falls in einen größeren geistesgeschichtlichen Rahmen gestellt und ihre ‚vertikale‘ Verbindung zu den relevanten Spezialdiskursen der gelehrten Öffentlichkeit auf europäischer Ebene diskutiert, was die Vergleichsperspektive von Maruhn, der eher die ‚horizontalen‘ Verbindungen zu anderen Ständekonflikten thematisierte, sinnvoll ergänzte: So wurde etwa deutlich, dass die Verwendung des patria-Begriffs in direktem Zusammenhang mit den Diskussionen um das ständische Widerstandsrecht

255 256

for themselves in the new political entity of the territorial monarchical state.“ Ähnlich auch in Ders., Why Did Seventeenth-century Estates Adress the Jurisdictions of their Princes as Fatherlands?, S. 180. Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus., S. 310. Ebd., S. 323f. Problematisch sind Friedeburgs Ausführungen zuweilen an den Stellen, wo er den Kontext des unmittelbaren Deutungskonflikts verlässt und mitunter sehr weitreichende Aussagen zu den historischen Verfassungsverhältnissen macht, die im Kontext des Ständekonflikts zum Thema wurden: Dass es etwa zur Zeit des Ständekonflikts „kein verfassungsrechtliches Modell“ gegeben habe, „vor dessen Hintergrund die Ritter Mitentscheidung in Landesangelegenheiten hätten einklagen können“ (Ders., Adel und ständische Vertretungen: Repräsentationen des Landes?, S. 173), ist zumindest eine Überzeichnung, da es der ‚Unausgetragenheit‘ der landständischen Verfassung nicht Rechnung trägt. Friedeburg geht aber noch weiter und spricht nicht nur der Ritterschaft, sondern auch der Ständegesamtheit für die Zeit vor 1646 im Prinzip alle politischen Partizipationsrechte ab, weist den Landgrafen dagegen eine „ ‚exklusive Repräsentation‘ für die Gesamtheit von Land und Leuten“ zu (ebd., S. 174) und meint, die „politischen Beziehungen zu Kaiser und Reich“ seien niemals vorher „Gegenstand ständischer Gerechtsame gewesen“ (ebd., S. 182). Diese Einschätzung ist angesichts der in den bisherigen Kapiteln untersuchten Genese der landständischen Verfassung nicht zu halten.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

stand. 257 Und in Bezug auf das Argumentieren mit dem Herkommen, das Maruhn sehr stark aus der Lebenswelt der Ritter hergeleitet hatte, betonte Friedeburg zusätzlich, um die Mitte des 17. Jahrhunderts habe „jeder Jurist im Reich [gewusst], dass Rechtstatbestände mit Hinblick auf das konkrete Herkommen einer gegebenen politischen Einheit […] zu klären“ seien. 258 Die Verbindung zur ritterlichen Lebenswelt wird dadurch nicht unplausibel, aber es ist in Rechnung zu stellen, dass mit dem beginnenden usus modernus pandectarum auch ein spezifisch juristischer Faktor Herkommensargumente erforderlich machte. 259 257

258 259

Vgl. Friedeburg, Making of Patriots, S. 885; Ders., Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 271–288; Ders., In Defense of Patria, S. 360–369. Vgl. zuletzt Duke, In Defence of the Common Fatherland; Friedeburg, ‚Lands‘ and ‚Fatherlands‘; Schmidt, Irenic Patriotism in Sixteenth- and Seventeenth-century German Political Discourse; vgl. umfassender Ders., Vaterlandsliebe und Religionskonflikt; Friedeburg (Hg.), „Patria“ und „Patrioten“ vor dem Patriotismus; Strohmeyer, Konfessionskonflikt und Herrschaftsordnung, und Friedeburg, Widerstandsrecht und Konfessionskonflikt. – Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang jedoch Friedeburgs Einschätzung, dass „in den ersten beiden Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts […] die Rede vom Vaterland den Landgrafen vorbehalten“ (Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 290) geblieben sei. Schon in einem späteren Aufsatz musste er sich dahingehend korrigieren, dass die Stände auch schon 1615 mit dem Vaterland argumentierten (Ders., Why Did Seventeenth-century Estates Address the Jurisdictions of their Princes as Fatherlands?, S. 180). Tatsächlich reicht die Verwendung noch weiter zurück: Die meines Wissens erste Verwendung stammt aus dem Jahr 1547: Alls itztvergangener tage unnsere liebe getrewen, die stende von der ritterschafft und lanndtschafft hie zu Casßell beieinander gewesen, haben wir [dieses wir bezieht sich auf die Stände, TN] uns zu abwendnung disßer schweren sorglichen leufft, so gemeinem vatterland itzo bevorstehen […] (LTA 1542 Juni, S. 157). Häufiger wird die Verwendung dann ab den 1590er Jahren, parallel zum Beginn der normativen Zentrierung: Als […] unsere gnedige fursten und hern […] einen ausschuß von ihrer f.ggg. getrewer gehorsamer ritter- und landschafft anhero jegen Milsungen in gnaden beschrieben und erfordert, dieselbe auch darauf gehorsamlich erschienen und nach ihnen beschehener proposition und deren reiflicher erwegung […] aus trewer affection und underthenigem gehorsam sich nach vielfaltiger handelung zu rettung des lieben vatterlands wie auch ihrer und ihrer eigenen weib, kinder und angehoriger und abwendung besorgender […] gefar sich endlich und schließlich einmutig vor sich und ihre mitverwante von prelaten, ritter- und landschaft dahin vereiniget und verglichen (LTA 1598 Dez., S. 379). Damit scheint mir Friedeburgs These, die „Rede vom Vaterland [sei] den Ständen von den Landgrafen im Verlauf dieser Auseinandersetzungen anerzogen“ (Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 290) worden, insgesamt unplausibel. Eher ist davon auszugehen, dass sich Stände wie Fürst gleichermaßen seit dem Ende der 1590er Jahre verstärkt dieses Begriffs bedienten. Friedeburg, Adel und ständische Vertretungen: Repräsentationen des Landes?, S. 176f. Vgl. allgemein die Beiträge in Haferkamp, Repgen (Hg.), Usus modernus pandectarum, und Willoweit, Der Usus modernus oder die geschichtliche Begründung des Rechts. – Allerdings ist auch in diesem Punkt auf ein Problem aufmerksam zu machen: Friedeburg argumentiert in seiner intensivsten Untersuchung der juristischen Schriftsätze,

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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5.3.2 Deutungskonflikte deuten: Das Konzept der Rechtfertigungsordnung Insgesamt, so dürfte deutlich geworden sein, gehört der hessische Ständekonflikt von 1646 bis 1655 zu den am intensivsten erforschten Auseinandersetzungen dieser Art. Aber so erhellend die Arbeiten auch sind, so bekommen sie doch den Ständekonflikt in seiner Ganzheit, seine Dynamik und Verlaufslogik noch nicht zu fassen, was sich vor allem daran zeigt, dass die Beilegung des Konflikts ohne Urteil des Reichskammergerichts und die beiden wichtigsten Teilergebnisse des Vergleichs von 1655 bisher nicht konkludent aus dem Verlauf des Deutungskampfes heraus erklärt werden konnten – obwohl der Deutungsaspekt gleichzeitig von der Forschung für zentral gehalten wird. 260 Wenn doch erstens das von Maruhn untersuchte Notstandsargument so effektiv war und nicht nur die ritterschaftliche Steuerimmunität, sondern sogar den Kern der ständischen Herrschaftspartizipation, das ständische Steuerbewilligungsrecht, umfassend zur Disposition stellte, warum wurden dann 1655 beide Rechte fundamentalgesetzlich festschrieben und die Notstandsbefugnisse abschließend geregelt (und damit faktisch weit-

260

dass sich nach der Remonstration von 1647, der ersten schriftlichen Rechtfertigung des ritterschaftlichen Selbstversammlungsrechts, die kurz nach der Vernehmung der Obervorsteher in Kassel entstand, die Argumentationsstrategie der Ritter geändert habe: „Die unmittelbare Heranziehung von Klassikern wie Aristoteles und Cicero und der hessischen Rechtsgeschichte tritt ganz gegenüber dem aktuellen Bezug auf das positive Territorialrecht zurück“ (Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 307). Friedeburg kommt zu diesem Schluss, indem er eine Abschrift der Remonstration (in: StAM 73 Nr. 1816, unfoliiert, 12 S.) mit einem anonymen Gutachten (in: StAM 73 Nr. 1816, unfoliiert, 24 S. (= Gutachten 1651)) vergleicht, das nach der Remonstration entstanden ist: „Bereits für das folgende Jahr, 1648, liegt ein Manuskript der Ritter vor, das auf 14 Seiten und unter Nennung von 69 Belegstellen gegenüber der Remonstration aus dem Jahr zuvor (12 Seiten, aber nur acht Hinweise auf Belege) diese Argumentationslinie […] beibehielt, aber gleichwohl eine weitaus differenzierte rechtliche Diskussionsgrundlage bot.“ (Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 304f.). Abgesehen von dem Flüchtigkeitsfehler, dass das Gutachten nicht 14, sondern 24 Seiten umfasst, täuscht sich Friedeburg über das Ausmaß der Verschiebung der Diskussionsgrundlage, denn tatsächlich verwendete er eine „um fast alle Zitate aus der juristischen Literatur gekürzte Abschrift der Remonstration“ (Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 50). In der ungekürzten Fassung (etwa in: StAM 5 Nr. 19147, fol. 2r–9r, oder StAM 304 Nr. 199, unfoliiert, 15 S.) findet man hingegen eine Fülle von juristischen Belegstellen, die vielmehr die These nahelegen, dass die Ritterschaft schon bei Ausbruch des Ständekonflikts über ein differenziertes Argumentationsarsenal verfügte und nicht erst im Lauf der Auseinandersetzung neue Argumente aufnehmen musste; vgl. dazu unten 5.3.4. Zum Vergleich von 1655 vgl. oben 4.

370

5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

gehend eingeschränkt)? 261 Und wenn doch zweitens die Rede vom Vaterland es den Rittern ermöglichte, sich ebenso effektiv als ‚Patrioten‘ zu definieren und aus der damit verbundenen Verpflichtung auf das Landeswohl das Recht zu folgern, sich zur Beratung ‚öffentlicher‘ Angelegenheiten selbständig als Ritterschaft zu versammeln, warum wurde gerade dieses unbedingte Selbstversammlungsrecht im Vergleich von 1655 ausdrücklich ausgeschlossen, jede Form ritterschaftlicher Versammlung unter landesherrlichen Erlaubnisvorbehalt gestellt und die Beratung von Land und Leut betreffenden Sachen im Regelfall der vom Landesherrn einberufenen Ständegesamtheit vorbehalten? 262 261

262

Vgl. Vergleich 1655, § 5: Den punctum collectarum fünftens anreichend seind Ihre F. G. deßen mit der Ritterschafft einig, daß es der Reichß- und Craißsteuren halben nach wie vor dabey verbleibe, wan solche, uf Reichß- oder Craystagen verwilliget, so eilig zu colligiren und zu erheben nötig fiele, daß es auch biß uff einen offenen Landtag nicht anstehen könnte, daß alßdan solcher Reichß- oder Craißschluß den Reichßkonstitutionen und dem Herkommen gemees den Ständen eröfnet, auch soweit möglich mit deren Zuziehung die Repartition nach Anleitung des Treisischen Anschlagß gemacht werden. Land- und Landrettungssteuern aber werden ohne Verwilligung der Stände nicht indiciret noch exigiret, wie dann auch ebenerweiße mit den monatlichen und dergleichen Art Kriegßcontributionen zu verfahren, es were dan, do Gott vor sey, casus inevitabilis necessitatis moramque non ferentis dergestalt vorhanden, daß, solcher höchstbenötigter Kriegßcontributionen und Steuren halber die Stände zu beschreiben und hierüber deren Verwilligung zu requiriren, Noth und Eilfertigkeit wegen unmöglich fiele; uff welchen Fall zwar ad interim und biß die Stände (welches möglichen Dingen nach zu beschleunigen) beschrieben solcherley unumbgängliche Kriegsanlagen auszuschreiben und nach Gelegenheit zu exigiren unbenommen, iedoch also, daß bey solchem letztern Fall der Kriegsanlagen und Contributionen die Ritterschafft aller ihrer eigenen adelichen Güeter halben (darunter aber ihre Hintersaßen und deren Güeter nicht begriffen noch gemeinet) in possessione der Freiheit solang bleiben soll, biß ein anders durch ordentliche Wege rechtens gegen sie außgefüret worden. Vgl. Vergleich 1655, § 8: Schließlich die Zusammenkunfft und Beschreibung der Ritterschafft unter sich selbst anlangendt: Gleichwie es bey Ihrer F. G. die Meinung niemaln gehabt, auch noch nicht hatt, einen oder andern auß der Ritrterschafft Mittel, wegen ohnedas erlaubter Privathandelungen, Contracten, Transactionen und dergleichen sich zusammenzuthun, zu untersagen, also wollen Ihre F. G. zwar überdieses auch geschehen laßen, daß in gesampter der Ritterschafft Privatsachen sie, die Ritterschafft, ihrer Gelegenheit nach an einem gewißen Ort zusammenkomme, jedoch dergestalt, daß alßdan Ihrer F. G. zu unterthanigem Respect zuforderst solche Zusammenkunfft wie auch der hierzu determinirte Ort und Zeit notificiret und keine Geferde hierunter gebracht werde, welches sich ohnedas Ihre F. G. der Dero getrewen Ritterschafft nicht versehen. Sollten aber Sachen vorfallen, so Ihrer F. G. Estat und Regierung, auch Dero Land und Leute mit betreffe, und dieselben uff offenem Landtag nicht vorkommen oder von den Ständen darüber nichts erinnert, gleichwohl zu Ihrer F. G. und des Landes Bestem gehorsamblich vorzutragen nötig befunden würden, so können zwar Ihre F. G. darinnen Ihres hohen landsfürstlichen Ambts und Authoritet wegen solche Zusammenkünfften ohne Dero Specialpermission nicht nachgeben noch verstatten, doch wird der Ritterschafft

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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Friedeburg äußert sich meines Wissens an keiner Stelle zur Genese des Vergleichs von 1655 und der Frage, welche Rolle der Deutungskonflikt in diesem Prozess spielte. 263 Maruhn hingegen befasste sich zwar mit den Vergleichsverhandlungen, hat aber in diesem Kontext vor allem externe Ereignisse, wie den Jüngsten Reichsabschied von 1654, die von den Parteien antizipierte Möglichkeit eines Endurteils im Reichskammergerichtsprozess und die finanziellen und organisatorischen Probleme der Ritterschaft herausgestellt, welche die Beteiligten unter Druck gesetzt und so eine Einigung ermöglicht hätten – der Vergleich erscheint hier als rein pragmatischer Kompromiss, bei dessen Aushandlung die vorher so intensiv geführte Auseinandersetzung um das Wesen der ständischen Herrschaftsrechte allenfalls eine mittelbare Rolle gespielt haben kann. 264 Wenn es sich aber um einen pragmatischen Kompromiss gehandelt hat, der vor allem mit der politischen „Großwetterlage“ 265 – also durch eine Menge kontingenter Faktoren – erklärt werden muss, dann handelt man

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264

265

hierdurch nicht benommen, falß in dergleichen Sachen eine Zusammenkunfft anzustellen nötig befunden würde, Ihre F. G. ümb Außschreibung eines Landtags unterthanig zu ersuchen oder nechst specialer Benennung solcher Sachen umb einer Zusammenkunffts Gestattung gehörig anzulangen; undt wollen Ihre F. G. hierauf zu solchem Behueff, auch wan und wie es die Notturfft alßdan erfordern möchte, entweder selbsten einen Landtag außzuschreiben oder die gesuchte Zusammenkunfft zu verstatten sich nicht zuwieder sein laßen, in Verbindung mit ebd., § 1. Man wird allerdings hinzufügen müssen, dass sich diese Frage Friedeburg auch nicht unbedingt stellt, da er nicht so sehr am Konflikt als Fall, sondern eher als Exempel für umfassendere geistes- und diskursgeschichtliche Zusammenhänge interessiert ist; der Konflikt wird etwa als Beispiel für Geschichtspolitik (Friedeburg, Geschichtsschreibung und Geschichtspolitik), für politische Semantik (Ders., Why Did Seventeenthcentury Estates Address the Jurisdictions of their Princes as Fatherlands?, S. 172: „by a single example“) und die Entwicklung des Widerstandsrechts (vgl. Ders., In Defense of Patria) fruchtbar gemacht. Vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 81 (jüngster Reichsabschied), S. 88f. (Antizipation eines für die eigene Position ungünstigen Urteils), S. 79f. (finanzielle Probleme der Ritterschaft und Rückzug der beiden Obervorsteher). Überhaupt finden sich in der Rekonstruktion der Vergleichsverhandlungen bei Maruhn so gut wie keine Hinweise mehr auf die Argumentationsstrategien (vgl. ebd., S. 81–90). Ihre Rolle beschränkt sich also, so muss man annehmen, darauf, einen Faktor, nämlich die Unsicherheit über den Ausgang des Reichskammergerichtsprozesses, aufrechterhalten zu haben. Demandt, Die hessischen Landstände im Zeitalter des Frühabsolutismus, S. 50–57, hält hingegen den Vergleich nicht für einen „echten Kompromiss“ (ebd., S. 57), sondern für eine ‚Kapitulation‘ der Ritterschaft, die durch § 180 des Jüngsten Reichabschieds von 1654 „reichsrechtlich mattgesetzt“ (ebd., S. 52) worden sei (dagegen überzeugend Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 81f.). Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567– 1655), S. 323, erkennt dagegen, in Absetzung von der älteren Forschung, ebenfalls einen „bemerkenswerte[n] politische[n] Ausgleich“. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 80.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

sich gleich zwei problematische Folgerungen ein: Erstens wird die allenthalben postulierte Bedeutsamkeit des Deutungsaspekts fraglich, weil sich das Ringen um die Deutung der ständischen Partizipationsrechte dann kaum in der letztendlich gefundenen Konfliktlösung niederschlägt; zweitens lässt sich nicht erklären, warum der Konflikt gerade durch die fundamentalgesetzliche Festschreibung einer landständischen Verfassungsordnung im Sinne des Strukturtypus endete. 266 Beide Folgerungen sind aber nicht plausibel, denn die Bedeutsamkeit des Deutungskampfes ist ansonsten gut belegt und die Festlegung auf eine genuin landständische Verfassung zu deutlich, als dass sie sich mehr oder weniger zufällig im Rahmen der Verhandlungen ergeben haben könnte. 267 Diese erheblichen Erklärungslücken weisen darauf hin, dass die Gesamtdynamik und die übergreifende Verlaufslogik des zweiten Ständekonflikts noch nicht hinreichend analysiert worden sind. Um eine Metapher zu gebrauchen: Betrachtet man den Ständekonflikt für einen Moment als Spiel, so sind von der Forschung bisher vor allem einzelne ‚Spielzüge‘ (‚Herkommen‘, ‚Notstand‘, ‚Taten für das Vaterland‘) untersucht worden, mittels derer das Ziel erreicht werden sollte, den öffentlichrechtlichen Charakter von Herrschaftsrechten zu belegen bzw. zu bestreiten. Allerdings ist derzeit weder klar, welche ‚Spieler‘ überhaupt beteiligt sind, noch welche ‚Spielregeln‘ überhaupt das Spiel konstituieren. 268 Erstens ist festzuhalten, dass die Unausgetragenheit der fürstlichständischen Beziehungen, wie sie seit den 1620er Jahren bestand, bisher nicht ausreichend berücksichtigt wurde. Wie eingangs gezeigt, schlug die Auseinandersetzung um die Getreideforderung der Regentin in dem Moment in einen Ständekonflikt um, als die Ritterschaft erneut das umstrittene Recht in Anspruch nahm, eigenständig und damit tendenziell außerhalb der auf die Ständegesamtheit zentrierten Verfassungsordnung zu agieren und damit die Unausgetragenheit wieder aktualisiert hatte. 269 266 267

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Vgl. oben 4. Vgl. auch Forst, Günther, Die Herausbildung normativer Ordnungen, S. 4, die davon sprechen, dass die Dynamik von Normkonflikten „unterschätzt [wird], wenn man sie primär aus Faktoren wie der Ökonomie, dem Grad der gesellschaftlichen Systemdifferenzierung oder den herrschenden Machtkonstellationen erklärt und nicht auch und in einem besonderen Sinne als Streit um Rechtfertigungen sowie um die Medien und Prozeduren der Rechtfertigung versteht.“ Das entspricht grob der spieltheoretischen Trias von rules, player und moves; vgl. das Gründungsdokument der Spieltheorie Neumann, Morgenstern, Theory of Games and Economic Behavior, S. 48f.; vgl. einführend Berninghaus, Ehrhart, Güth, Strategische Spiele. Vgl. oben 5.3.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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Daher muss man systematischer als bisher unterscheiden zwischen den beiden potentiellen ‚Spielern‘ auf der ständischen Seite, nämlich der Ritterschaft einerseits und der Ständegesamtheit andererseits. 270 Das verkompliziert den Konflikt nun erheblich, denn es war nicht nur strittig, ob die Herrschaftsrechte der Ritterschaft vor dem Hintergrund der neuen Unterscheidung als privat- oder öffentlichrechtlich (und damit ‚notstandsfester‘) zu klassifizieren seien, sondern noch grundlegender war unklar, ob die Ritterschaft überhaupt als ein legitimer ‚Spieler‘ – zeitgenössisch: als persona publica 271 – anzuerkennen sei, dessen Rechte Gegenstand von ‚Spielzügen‘ sein konnten. Zweitens ist noch einmal daran zu erinnern, dass die Ritterschaft – wie von Obervorsteher Malsburg vorgeschlagen – den Konflikt sowohl auf dem Weg Rechtens als auch auf dem Weg des Bitten undt Flehens austrug. 272 Bisher ist aber vor allem der erste dieser Wege, nämlich der Reichskammergerichtsprozess, untersucht worden – obwohl kein Urteil erging und der Vergleich von 1655 letztlich auf dem zweiten Wege zustande 270

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Diese Unterscheidung wird in der Forschung nicht konsistent vorgenommen, weshalb es wiederholt zur Verwechslung der beiden Kollektivakteure kommt; vgl. etwa Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 305. Er bespricht das Gutachten 1651, in dem drei Fragen von einem Rechtsgelehrten im Auftrag der Ritter behandelt werden. Im Haupttext heißt es: „Diese Fragen waren […] und ob drittens die Stände ihr Recht und Herkommen bewiesen hätten, sich selbständig zu versammeln.“ In einer Anmerkung auf derselben Seite, die aus dem Gutachten zitiert, heißt es hingegen: „Ob nicht der Ritterschaft durch die Specification der actuum daß sie sich zusammen beschrieben haben […]“. Ebenfalls kommt es vor, dass im Verlauf eines Abschnitts der Bezugsakteur wechselt, ohne dass das thematisiert wird; vgl. hier als Beispiel etwa Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 274: „Ihr Ziel, politische Mitsprache im Territorium zu erlangen, habe die Ritterschaft verfehlt. Auch die Bedeutung des Steuerbewilligungsrechts, das den Landständen 1655 bestätigt wurde, wird als gering eingeschätzt, da es unter dem Ausnahmevorbehalt der Necessität stand.“ – Allerdings lassen sich auch viele Stellen anführen, an denen die Ambivalenz, die sich aus dem unklaren Verhältnis von Ständegesamtheit und Ritterschaft ergab, artikuliert wird; vgl. etwa Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 325f., und Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 76, wo ein Brief des Obervorstehers Malsburg referiert wird, in dem dieser darauf hinweist, dass „man die Rechte eines Corpus geltend machte, ein Status, der für die Ritterschaft alleine ohne die Städte zweifelhaft war.“ Allerdings geht Maruhn dann in der Folge auf das vom Obervorsteher korrekt beschriebene Problem nicht weiter ein. Vgl. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, I, S. 803, wo er die Formulierung gebraucht, viele Juristen hätten „die Stände als einfache Private und nur die Landesherren als personae publicae“ angesehen, was das Problem der ‚Spieler‘ auf den Punkt bringt. Wenn nämlich die Ritterschaft keine persona publica ist, dann stellt sich die Frage nach dem Charakter ihrer Herrschaftsrechte erst gar nicht. Vgl. ‚Deß Oberfohrstehers Mahlsburgs Bedencken waß auf die 3 Puncten zu antworten sey. den 3 April [1]647 [Kassel]‘, in: StAM 304 Nr. 199, unfoliiert, 5 S., und Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 47f.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

kam. Und daher liegt mit den fürstlich-ritterschaftlichen Verhandlungen ein wesentlicher Teilbereich des Gesamtspiels noch weitgehend im Dunkeln, was es noch schwieriger macht, die Spielregeln zu rekonstruieren. 273 Wenn aber neben den schon bekannten Spielzügen auch noch die Spieler und die Spielregeln genauer identifiziert werden könnten, dann sollte es möglich sein, ein Gesamtbild des Deutungskonflikts zu zeichnen und seine Auswirkungen auf die letzte Phase der Verfassungsgenese aufzeigen zu können. Bezieht man nun neben den Argumenten auch noch die Subjekte, auf deren Rechte die Argumente zielen, und die Regeln, nach denen über die Zulassung von Subjekten und die Triftigkeit der Argumente entschieden wird, in die Betrachtung ein, so erhöht sich die Komplexität der Untersuchung zugegebenermaßen drastisch. Um diese gesteigerte Komplexität wieder handhab- und den Ständekonflikt beschreibbar zu machen, werde ich mich im folgenden auf das Konzept der ‚Rechtfertigungsordnung‘ beziehen, wie es von Luc Boltanski und Laurent Thévenot entwickelt wurde. 274 Die These lautet, dass der Ständekonflikt der Jahre 1646 bis 1655 hinsichtlich seines Deutungsaspekts verstanden und analysiert werden kann als ‚Prüfung im Rahmen einer Rechtfertigungsordnung‘. Was aber soll das heißen? Zunächst muss der Begriff der Rechtfertigungsordnung erläutert werden: Es handelt sich offensichtlich um einen bestimmten Typ von Ordnung. Ordnung meint hier im engeren Sinne eine Rangordnung, in der alle (individuellen oder kollektiven) Subjekte, die an der Ordnung teilhaben, eine bestimmte Rangstufe einnehmen und die Rangstufen im Ganzen eine hierarchisierte Stufenfolge bilden, wobei höhere Stufen mit größeren Rechten und Vorteilen verknüpft sind. 275 Während derartige Hierar-

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Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 70–86, rekonstruiert zwar die Ereignisgeschichte der Verhandlungen, untersucht aber nicht die Argumentationsstrategien. Vgl. Boltanski, Thévenot, Über die Rechtfertigung. Die Metapher des Spiels, die ich kurz zuvor verwendet habe, wird von den beiden Autoren ebenfalls verwendet, um ihr Modell zu veranschaulichen, vgl. ebd., S. 194. – Das Konzept ist im übrigen kompatibel mit dem institutionentheoretischen Fundament dieser Arbeit, vgl. dazu Dequech, Logics of Justification and Logics of Action, und Diaz-Bone, Konvention, Organisation und Institution. – Außerdem ergeben sich auf diese Weise Querverbindungen zu den Forschungsinteressen des Frankfurter Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“; vgl. etwa den Grundlagentext Forst, Günther, Die Herausbildung normativer Ordnungen, S. 12, wo auf Boltanski und Thévenot verwiesen wird. Vgl. Boltanski, Thévenot, Über die Rechtfertigung, S. 108–116, wo das „Modell der Rechtfertigungsordnung“ definiert wird. Die im Haupttext vorgenommene Adaption des Modells verwendet sehr häufig andere Begriffe, so spreche ich nicht von „Merkmalszuständen“, sondern von „Stufen“. – Es ist allerdings zu bemerken, dass das Modell eine

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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chien faktisch in jeder menschlichen Vergemeinschaftungsform bestehen, können sie jedoch auf sehr unterschiedliche Weisen normativ organisiert und stabilisiert werden, etwa mit dem Verweis auf die Tradition oder ‚natürliche‘ Unterschiede zwischen den Subjekten. 276 Im Hinblick auf diese normative Dimension weist jede Rangordnung (von denen in einem Gemeinwesen mehrere nebeneinander existieren können) nach Boltanski und Thévenot nun ein sogenanntes „übergeordnetes gemeinsames Prinzip“ 277 auf, das als Maßstab fungiert, im Hinblick auf den die Subjekte bewertet, miteinander verglichen und auf dieser Grundlage der ihnen entsprechenden Rangstufe zugewiesen werden können. Um den Typus der Rechtfertigungsordnung handelt es sich jedoch nur, wenn das übergeordnete gemeinsame Prinzip eine Form von „Gemeinwohl“ darstellt. Und weil das Gemeinwohl eben ganz wörtlich das Wohl der Allgemeinheit ist, wird auch eine unter Maßgabe des Gemeinwohls organisierte Hierarchie dadurch zu einer „Rangordnung von Allgemeinheit“, in der offiziell gelten muss, dass die Vorteile einer Rangstufe, „die umso größer sind, je weiter man auf der Stufenleiter emporsteigt, der Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit zugute kommen, was das Gemeinwohl befördert“. 278 In einer Rechtfertigungsordnung besteht also idealiter ein reziprokes Verhältnis zwischen den Positionsvorteilen der einzelnen Sub-

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starke normative Komponente hat, die hier nicht rezipiert wird. So definieren Boltanski und Thévenot beispielsweise eine Rechtfertigungsordnung als Ordnung, an der alle Menschen qua Mensch-Sein teilnehmen. Dieses Axiom wird hier nicht übernommen, ist aber auch entbehrlich. – Vgl. auch Forst, Günther, Die Herausbildung normativer Ordnungen, S. 7. Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 19, der die „Geltung von Ordnungen kraft Heilighaltung der Tradition“ für die „universellste und ursprünglichste“ Form hält. Politische-soziale Hierarchien mit den ‚natürlichen‘ Unterschieden zwischen den Subjekten zu legitimieren, war im Anschluss an Aristoteles auch in der politischen Theorie der frühen Neuzeit üblich, vgl. Aristoteles, Politik, Buch 1, Kap. 5. Nach Boltanski, Thévenot, Über die Rechtfertigung, S. 116–119, können Ordnungen wie die beiden skizzierten keine Rechtfertigungsordnungen sein, weil sie Subjekten ihre Stufen dauerhaft zuweisen. Betrachtet man jedoch, wie es hier geschieht, das Konzept der Rechtsfertigungsordnung vor allem als sozialwissenschaftliches Analysekonzept, so kann man auf dieses Axiom verzichten, da auch in Ordnungen mit dauerhaften Zuordnungen Rechtfertigungskonflikte entstehen können. Boltanski, Thévenot, Über die Rechtfertigung, S. 197: „Dieses für die Rechtfertigungsordnung charakteristische Koordinationsprinzip ist eine Konvention, die die Äquivalenzverhältnisse zwischen den Wesen festlegt. Die Konvention stabilisiert und generalisiert eine Form der Zuordnung. Sie sorgt dafür, dass die Wesen bewertet werden, was die Voraussetzung dafür ist, die Objekte wie auch die Subjekte auszumessen sowie die Art und Weise zu bestimmen, in der sie objektiv von Belang sind und jenseits irgendwelcher Kontingenzen Geltung beanspruchen.“ Ebd., S. 111.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

jekte und dem Wohl der Gesamtheit: Je ‚höher‘ die Rangstufe, desto ‚allgemeiner‘ muss der Nutzen der mit ihr verbundenen Rechte und Vorteile sein. Und eben dieses Verhältnis, die Verknüpfung von subjektivem und allgemeinem Nutzen, ‚rechtfertigt‘ sowohl die hierarchische Struktur im Ganzen als auch die Subjekte auf den höheren Stufen und ermöglicht es, dass letztere sogar „mit dem Gemeinwesen identifiziert werden“. 279 Schon nach diesem kurzen Abriss liegen die Parallelen zum Deutungskonflikt auf der Hand: Die Ordnung, um die es geht, ist die Ordnung der Herrschaftsrechte. Das übergeordnete gemeinsame Prinzip ist das Wohl des Vaterlandes, das eine konkrete Erscheinungsform von Gemeinwohl darstellt. Und vor dem Hintergrund der neuen Konzeption von Herrschaft als summa potestas umfasst die Ordnung im Prinzip nur noch zwei Rangstufen, nämlich die Stufe der öffentlichen und die Stufe der privaten Rechte. 280 Die öffentlichrechtliche Stufe ist nun insoweit die ‚höhere‘ der beiden, weil im Rahmen der Gesamtordnung genuine Herrschaftsrechte nur noch Subjekten auf dieser Stufe zustehen. Dass auch hier die ‚rechtfertigende‘ Verknüpfung von subjektivem und allgemeinem Nutzen vorliegt, zeigt sich schon daran, dass der Bezug zum Gemeinwohl (salus publica) schon begrifflich konstitutiv für das öffentliche Recht (ius publicum) ist. Und während es nicht in Frage steht, dass der Landgraf sich als persona publica auf der höheren Stufe befindet, so ist die Zuordnung der Ritterschaft und – infolge der Ausdehnung des Notstandsarguments – auch der Status der Ständegesamtheit strittig. Wie aber kommt man im Rahmen einer Rechtfertigungsordnung zu einer Einigung, wenn es zu einer derartigen „Streitigkeit“ 281 kommt?

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Ebd., S. 112; vgl. auch ebd., S. 197: „Aufgrund des Charakters der zwischen den Größenzuständen ermittelten Ordnung und ihrer Verknüpfung mit einer Form des Gemeinwohls entspricht jede auf der Größe beruhende Rangordnung zugleich auch einer Stufenleiter vom Allgemeinen zum Besonderen (und nicht nur vom Höheren zum Niedrigeren wie bei einer physikalischen Skala).“ – Boltanski und Thévenot beziehen sich hier auf ein Konzept, das Louis Dumont unter dem Begriff englobement du contraire entwickelt hat; vgl. Dumont, Homo hierarchicus. Sehr herzlich danke ich Sarah Wessel, die mich auf das Werk von Dumont aufmerksam gemacht hat. Das Modell ist drastisch vereinfacht, denn zur Zeit des Ständekonflikts hatte sich die Dichotomie Souverän/Untertanen keineswegs vollständig durchgesetzt – und in der politischen Praxis sollte es dazu ohnehin bis zum Ende des Ancien Régime nicht kommen. Gleichwohl ist die zweistufige Ordnung der Rahmen, innerhalb dessen die Auseinandersetzung um die Herrschaftsrechte der Ritterschaft und der Ständegesamtheit geführt wird, weshalb die Vereinfachung gerechtfertigt ist. Boltanski, Thévenot, Über die Rechtfertigung, S. 187, nennen „Streitigkeit“ eine „Uneinigkeit bezüglich der wahren Größe von Personen und damit bezüglich der Frage, ob die Größe in einer bestimmten Situation mehr oder minder gerecht verteilt ist“.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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Durch eine „Prüfung“ – so Boltanski und Thévenot. 282 Wie aber kann geprüft werden, welcher Rangstufe ein (individuelles oder kollektives) Subjekt zugeordnet werden muss? Dazu muss das übergeordnete gemeinsame Prinzip als Maßstab herangezogen werden, um das Subjekt unter Maßgabe der betreffenden Form des Gemeinwohls bewerten zu können. Hier reicht aber die in der Regel abstrakte Definition des Gemeinwohls nicht aus, sondern man braucht konkrete Kriterien, anhand derer man eine solche Bewertung vornehmen kann. 283 Daher muss sich eine Prüfung immer „auf Objekte stützen, die außerhalb [des Subjekts] liegen und die dann gewissermaßen als Instrumente oder Werkzeuge zur Beurteilung der Größe dienen“. 284 ‚Objekt‘ meint hier keineswegs nur materielle Dinge, sondern Objekte im Sinne der modernen Sprachphilosophie, also prinzipiell alles, worüber sprachliche Aussagen möglich sind. 285 Dementsprechend sind ‚das Herkommen‘, ‚der Notstand‘ und ‚die Taten für das Vaterland‘ Objekte bzw. Objektmengen. Im Rahmen einer Prüfung werden also von den Parteien konkurrierende Situationen herbeigeführt, in denen die zu bewertenden Subjekte mit Objekten verknüpft sind, die unter Maßgabe des Gemeinwohls als „Beweisstücke“ fungieren sollen. Wird eine solche Situation sprachlich formuliert, kann man von einer rechtfertigenden Argumentation sprechen. 286 Auch hier fällt eine Anwendung dieser Beschreibungskategorien 282

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Vgl. ebd., S. 179–221, insbesondere S. 187–193. Vgl. auch ebd., S. 28: „Der Gedanke der Prüfung ist zentral für dieses Buch. In einem breiten Begriffsverständnis bezeichnet er Prozeduren, durch die es möglich wird, die Ungewissheit einer Situation durch ein Einvernehmen bezüglich der in der Situation relevanten Wesen zu verringern. In diesem Sinne umfasst eine Prüfung sowohl eine Bewertung unter Bezugnahme auf einen moralischen Standard als auch eine Beurteilung bezüglich des Standards der Wahrheit.“ Daher unterscheiden Boltanksi und Thévenot auch in der Ausarbeitung des Konzepts zwischen dem ‚übergeordneten gemeinsamen Prinzip‘ und „der Charakterisierung dessen, was groß ist“, womit die Kriterien gemeint sind, an denen sich die Übereinstimmung mit dem Prinzip ablesen lässt (vgl. ebd., S. 197). Ebd., S. 183. Im Originaltext steht „der Person“ anstelle des von mir eingefügten „des Subjekts“. Ich habe diese Ersetzung nur vorgenommen, weil ich auch bisher immer von Subjekt gesprochen habe. Boltanski und Thévenot verwenden die beiden Begriffe synonym, weshalb die Ersetzung statthaft ist. – „Wesen“ ist der Überbegriff für Subjekte und Objekte. Vgl. Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie, S. 28–34, S. 29, der in aller Kürze definiert, ein Gegenstand bzw. Objekt sei „also alles das, worüber wir gerade sprechen.“ Vgl. Boltanski, Thévenot, Über die Rechtfertigung, S. 195: „Das gerichtliche Urteil zeigt also die zwei Seiten der Objekte und Tatsachen, die zusammen genommen als Beweis fungieren: Sie sind objektiv und zugleich lässt sich über sie im Rahmen einer Argumentation berichten.“ – Auf dieser Seite findet sich auch die Metapher des „Beweisstücks“. – Vgl. auch die auf der ersten Seite der Untersuchung gegebene Definition der „Situation“ als „Verhältnis zwischen diesen ‚Personenzuständen‘ und ‚Ding-

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

auf den Deutungskonflikt nicht schwer: Behauptet die Ritterschaft, dass sie von Steuerleistungen befreit sei, weil sie Ritterdienste zur Verteidigung des Vaterlandes leisten müsse, so kombinieren die Ritter oder ihre Berater hier ein Subjekt (Ritterschaft) mit zwei Objekten (Steuerimmunität, Ritterdienste) im Hinblick auf das Gemeinwohl (Verteidigung des Vaterlandes) zu einer rechtfertigenden Argumentation. Wie aber kommen die Parteien im Rahmen einer solchen Prüfung zu einer Einigung, wenn sie doch konkurrierende Situationen herbeigeführt oder in argumentierender Form vorgebracht haben? 287 Hier bedienen sich Boltanski und Thévenot eines Wortspiels, indem sie justice mit justesse koppeln: Die Beteiligten werden eine Bewertung und Zuordnung eines Subjekts zu einer Rangstufe als ‚gerecht‘ akzeptieren, wenn sie mit einer allseits als ‚stimmig‘ (oder auch ‚richtig‘ oder ‚angemessen‘) erachteten Argumentation gerechtfertigt wird: „Wie bei der Beweisführung im Justizverfahren kommt es auf die Kohärenz eines Arrangements von Wesen an, die einander stützen, auf seine ‚Stimmigkeit‘.“ 288 Es geht also nicht um die Anhäufung von Beweisen und Indizien für die eigene Position, sondern um die Komposition eines in sich stimmigen Gesamtbildes. 289 Dementsprechend ist beispielsweise der Notstand nicht schon an

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zuständen‘ “ (ebd., S. 11). – Zur terminiologischen Klarstellung: ‚Argument‘ meint im Folgenden, in Anlehnung an den Sprachgebrauch in der Forschung zum Ständekonflikt immer ein Einzelargument, also das, was ich mit Boltanski und Thévenot ein Objekt oder einen Beweis nenne. Der Begriff ‚Argumentation‘ hingegen bezeichnet die Gesamtheit, in der viele Einzelargumente miteinander verknüpft sind, um ein Subjekt in Bezug zum Gemeinwohl zu setzen. Vgl. ähnlich: Bayer, Argument und Argumentation, S. 18: „Argumentationen sind […] sprachliche Handlungen, bei deren Vollzug wir ein Argument oder auch mehrere miteinander verknüpfte Argumente äußern.“ Die Ähnlichkeiten zwischen Situation und Argument gehen übrigens weit darüber hinaus, dass eine Situation auch in sprachlicher Form als Argument (oder ‚Bericht‘) formulierbar ist. Für Boltanski und Thévenot ist nämlich auch die Situation selbst durch eine „Grammatik“ strukturiert; vgl. ebd., S. 196: „Aus den vorangegangenen Bemerkungen zum Bericht folgt, dass eine stimmige Anordnung der Wesen, die einer Prüfung standzuhalten vermag, bestimmten, einer Grammatik vergleichbaren Anforderungen unterliegt. Insoweit sie in Berichten festgehalten ist, lässt sich die natürliche Ordnung mit Hilfe von Kategorien beschreiben, welche die Subjekte (die Liste der Subjekte), die Objekte (die Liste der Objekte und Arrangements), die Attribute (Rang) und die durch Verben bezeichneten Beziehungen (die natürlichen Beziehungen zwischen den Wesen) definieren.“ Boltanski, Thévenot, Über die Rechtfertigung, S. 183. Mit Forst, Günther, Die Herausbildung normativer Ordnungen, S. 10, könnte man auch davon sprechen, dass die Akteure „Rechtfertigungsnarrative“ entwickeln müssen, verstanden als „Formen einer verkörperten Rationalität, einer embedded rationality“, in denen „sich Bilder, Partikularerzählungen, Rituale, Fakten sowie Mythen zu wirkmächtigen Gesamterzählungen [verdichten], die als Ressource der Ordnungssinngebung fungieren.“ Vgl. dazu demnächst auch Fahrmeir (Hg.), Rechtfertigungsnarra-

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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sich schlagkräftiges Beweisobjekt, sondern nur dann, wenn es mit einem passenden Subjekt in einer stimmigen Beweisführung verbunden ist. Will man also den zweiten hessischen Ständekonflikt als ‚Prüfung im Rahmen einer Rechtsfertigungsordnung‘ analysieren, dann muss er primär als Streitigkeit darüber verstanden werden, ob die Ritterschaft und/oder die Ständegesamtheit als personae publicae, also Subjekte der ‚höheren‘, öffentlichrechtlichen Stufe anzusehen sind oder nicht – und erst in zweiter Linie als Auseinandersetzung über die Rechte dieser beiden Kollektivakteure. Eine solche Streitigkeit, so die Annahme, gibt Anlass zu einer ‚Prüfung‘, in deren Verlauf konkurrierende Argumentationen vorgebracht werden, in denen die Subjekte mit geeigneten Objekten (Argumenten) auf eine Weise verknüpft werden, die den Bezug der Subjekte zum übergeordneten gemeinsamen Prinzip, dem Wohl des Vaterlandes, bestimmen und so die Zuordnung zu einer der beiden Stufen rechtfertigen soll. Die methodische Anweisung lautet also, das Arsenal dieser Argumente zu rekonstruieren. 290 Ob sich mit dieser Interpretation die Verlaufslogik des Ständekonflikts tatsächlich erfassen lässt, wird sich am Ende daran entscheiden, ob plausibel gemacht werden kann, dass die Beilegung des Konflikts tatsächlich mit der überlegenen ‚Stimmigkeit‘ der Situation zu erklären ist, auf die man sich im Vergleich von 1655 einigte, nämlich eine landständische Verfassung im Sinne des Strukturtypus. 291

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tive. Der Begriff wird explizit für die Frühe Neuzeit gebraucht von Schorn-Schütte, Konfessionskriege und europäische Expansion, S. 28; vgl. demnächst auch Schwager (Hg.), Herrschaftsordnung und Religion. Was, wie schon gesagt, nicht dasselbe ist wie die Rekonstruktion der bisher von der Forschung vor allem vorgenommenen Untersuchung der einzelnen Objekte (‚Herkommen‘, ‚Notstand‘, etc.). Der Bezug auf das Konzept von Boltanski und Thévenot ist sehr selektiv, da ich im Wesentlichen nur das formale Analysekonzept und auch das nur in Teilen übernommen habe. Gänzlich außen vor bleiben die Instrumente zur Analyse der Interaktion von Rechtfertigungsordnungen, die im vierten („Die Kritik) und fünften Teil („Die Beschwichtigung der Kritik“) der Untersuchung Boltanskis und Thévenots im Mittelpunkt stehen. Außerdem sind weder die materialen Ergebnisse der beiden in Bezug auf die in der Moderne bestehenden Rechtfertigungsordnungen, noch die normative Grundierung rezipiert worden. Ob es sich dann noch um eine legitime, wenngleich eklektische Aneignung handelt, oder schon um ein (hoffentlich: produktives) Missverständnis, muss der geneigte Leser entscheiden. Zur Verteidigung des Eklektizismus vgl. Rorty, The Philosopher as Expert, S. 409: „Within this dialogue, there are those who are deliberately eclectic. Neither bold speculators nor devoted disciples, they are trying so see their way through a welter of overstated dogmas to a coherent, if limited, set of conclusions about a particular issue.“

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

5.3.3 Das ständische Argumentationsarsenal bei Ausbruch des Ständekonflikts Nachdem nun die Forschungslage zum zweiten Ständekonflikt geklärt ist und das Analysekonzept der ‚Prüfung im Rahmen einer Rechtfertigungsordnung‘ entwickelt wurde, kann die Untersuchung wieder an die Situation im Frühjahr 1647 anknüpfen. Um kurz zu rekapitulieren: 292 Nachdem die Regentin im April 1646 von den Rittern 4 000 Viertel Getreide gefordert hatte, nutzte die kasselische Ritterschaft im Dezember den ‚Kaufunger Konvent‘, eine ursprünglich als Zusammenkunft der gesamthessischen Ritterschaft geplante und zur Ausarbeitung von Vorschlägen zur Beendigung des Hessenkriegs genehmigte Versammlung, um auch über die Getreideforderung zu beraten. Die Ritter unterbreiteten der Regentin den Vorschlag, 1 000 Viertel Getreide beizusteuern, wenn im Gegenzug ihre Steuerimmunität bestätigt würde – gleichzeitig beschlossen sie Maßnahmen, mit denen ihre kollektive Handlungsfähigkeit auch nach der Versammlung aufrechterhalten werden sollte. Diese mit explizitem Bezug auf die Ereignisse des ersten Ständekonflikts ergriffenen Maßnahmen gipfelten dann darin, dass es in der ersten Jahreshälfte wohl mehrfach zu Zusammenkünften ohne landesherrliche Genehmigung kam – womit die Ritterschaft in Reaktion auf die landesherrliche Forderung die Unausgetragenheit der landständischen Verfassung erneut thematisiert hatte. Die Inanspruchnahme eines ritterschaftlichen Selbstversammlungsrechts, dessen Bestehen die fürstliche Seite schon 1625 bestritten hatte, blieb diesmal nicht ohne Folgen: Nachdem schon eine für den Januar 1647 geplante Versammlung der Ritter am Werrastrom von der Regentin verboten worden war, erzwang Amalie Elisabeth auch den Abbruch einer weiteren Zusammenkunft der gesamten niederhessischen Ritterschaft im März, indem sie die beiden Obervorsteher Diede und Malsburg nach Kassel zitierte. In mehreren Vernehmungen machten die fürstlichen Räte deutlich, dass die Regentin ihre Forderungen durch das Vorliegen eines kriegsbedingten Ausnahmezustands gedeckt sah, während die Obervorsteher darauf bestanden, die Regeln der gewohnheitsrechtlich etablierten Herrschaftsordnung seien auch weiterhin maßgeblich. Diese Ereignisse im April 1647 machten deutlich, dass die Auseinandersetzung um die Getreideforderung und das Selbstversammlungsrecht längst in einen Ständekonflikt umgeschlagen war, weil sich nun „keine

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Vgl. oben den Beginn von 4.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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Einigung mehr über Art und Weise der Beilegung“ 293 dieser Auseinandersetzung erzielen ließ, insofern schon grundsätzlich strittig war, ob die aktuelle Situation als Not- oder Normalzustand zu definieren sei. In der Folge wurde der Ständekonflikt, so wie es Obervorsteher Malsburg in seinem Bedencken von Anfang April vorgeschlagen hatte, sowohl auf dem Weg Rechtens als auch auf dem Weg des Bitten undt Flehens ausgetragen. 294 Und zunächst schien es so, als ob auf beiden Wegen schnelle Erfolge zu erzielen seien: Schon am 4./14. September erließ das Reichskammergericht ein Mandatum sine clausula zugunsten der Ritterschaft, das die Regentin verpflichtete, die Ritterschaft ohne dero vorgehende Einwilligung mit keinen Steuren, Schatzungen oder Ufflagen nicht [zu] beschwehren, auch die zue Ihrer Berathschlagung undt deß Landts Nottdurfft undt Wohlfahrtt, dem Herkommen nach angestelte Zusammenkünfften deß Corporis der Ritterschafft nicht [zu] behindern. 295 Die Ritter konfrontierten die Regentin jedoch zunächst nicht mit dem Mandat, weil sie auch auf dem von ihnen eigentlich bevorzugten Verhandlungsweg Fortschritte zu erkennen meinten: Die fürstliche Seite hatte nämlich auf eine am 12. August übergebene Remonstratio, das die löbl. Ritterschafft des Niederfürstenthumbs Hessen befugt sey, ohne Specialerlaubnuß der landtsfürstlichen Obrigkeit Zusammenkünfften ihres Corporis undt deßen Mittglieder anzustellen undt bey solcher Gerechtsambkeit billig zu manutenir- undt zu schützen sey, 296 nicht reagiert, woraus die Ritter auf ein „stillschweigendes Entgegenkommen“ der Regentin in der Frage des ritterschaftlichen Selbstversammlungsrechts schlossen. 297 Und 293 294

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Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus, S. 13. Vgl. ‚Deß Oberfohrstehers Mahlsburgs Bedencken waß auf die 3 Puncten zu antworten sey. den 3 April [1]647 [Kassel]‘, in: StAM 304 Nr. 199, unfoliiert, 5 S., und Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 47f. Mandatum 1647. Da die Ritterschaft das Mandat der Regentin in der Folge nicht insinuierte, wurde es allerdings nicht rechtskräftig. Vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 51, und allgemein Hinz, Mandatsprozeß, und Uhlhorn, Der Mandatsprozess sine clausula. – Zum Rechtsweg vgl. ausführlich unten 5.3.4. So der Titel der Abschriften in StAM 73 Nr. 1816 (unfoliiert, 12 S.) und – mit leichten sprachlichen Abwandlungen – StAM 304 Nr. 199 (unfoliiert, 15 S.). Zum Verhandlungsweg vgl. ausführlich unten 5.3.5. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 51. Maruhn weist an dieser Stelle nach, dass die Ritter das fürstliche Schweigen fehlinterpretierten, denn tatsächlich wurde eine „äußerst scharfe Ablehnung der ritterschaftlichen Remonstration“ (ebd., S. 51f.) konzipiert, in der zum Ausdruck kommt, dass die fürstlichen Räte schon die Bezeichnung ‚Remonstration‘ empörte, weil, so Maruhns Paraphrase, auf diese Weise nur „Aufrührer und Aufständische mit ihrer Obrigkeit“ (ebd., S. 49, Anm. 162) sprächen. Die Ablehnung findet sich in StAM 5 Nr. 19158. Warum es die Regentin vorzog, die Remonstration nicht zu beantworten, muss hier offenbleiben; Maruhn (ebd., S. 52) vermutet, dass die Regentin es angesichts des Hessenkriegs für unklug hielt, „gleichzeitig den Konflikt

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

tatsächlich verliefen die nächsten Jahre relativ ruhig – erst nach Ende des Dreißigjährigen Krieges sollte der Konflikt erneut aufflammen. 298 Die bisherigen Untersuchungen zum Deutungsaspekt des Ständekonflikts setzen in aller Regel hier ein und beginnen mit einer Analyse der Remonstration von 1647. Und in diesem Kontext wird die Bedeutung des Herkommens zumeist stark herausgestrichen, wenngleich diese Bedeutung jeweils sehr unterschiedlich erklärt wird: Maruhn hält das Herkommensargument für die tief in der adeligen Lebenswelt verwurzelte „natürlichste aller Strategien“, während es für Friedeburg „im Strom der juristischen Argumentation der Zeit“ lag und die Ritter daher folgten, „wo Conring und andere den Weg gewiesen hatten“. 299 Gemeinsam ist jedoch beiden Deutungen die Vorstellung, die Ritterschaft wäre zunächst nur mit gewohnheitsrechtlichen Argumenten in den Deutungskonflikt eingetreten und hätte erst später, als sich die „Fragilität des Herkommensargu-

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mit den eigenen Ständen auf die Spitze zu treiben.“ Hier liegt übrigens wieder eine Verwechslung der Kollektivakteure vor, denn die Regentin stand im Konflikt mit der Ritterschaft, nicht den Ständen im Sinne der Ständegesamtheit. – Beide Schriftsätze, die Eingabe an das Reichskammergericht wie auch die Remonstration, waren vom Göttinger Advokaten Heinrich Diederich verfasst worden, vgl. ebd., S. 49. – Vorausgegangen war der Remonstration ein Schreiben vom 10. Mai, in dem die Ritterschaft erneut eine Bitte zur „Gewährung ihrer Zusammenkünfte und zur Entlastung von den Kontributionen“ vortrug, die von der Regentin mit Schreiben vom 29. Juni zurückgewiesen wurde (vgl. ebd., S. 50, Anm. 163). Allerdings lese ich in den Abschriften den 9., nicht den 29. Juni. Unklar ist, warum Hollenberg II, Nr. 97a, S. 424f., für den Oktober 1647 eine ritterschaftliche Zusammenkunft in Kirchhain anführt, die von der Regentin verboten worden sei, und sich dazu auf die Abschrift der Remonstration in StAM 5 Nr. 19147 beruft. Wahrscheinlich ist, dass ein solcher Konvent weder geplant noch verboten wurde, denn zum einen stellten die Ritter später selber fest, die Landgräfin habe sich nach Übergabe der Remonstration eine geraume Zeit acquiescirt (‚Supplicatio pro mandato ulteriori vom 26. Juni 1655‘, in: StAD E 2 Nr. 20/2, zitiert nach Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 52). Und in den ‚Ingredientia in daß kaißerliche Schreiben. o. O., o. D.‘, in: StAM 304 Nr. 199, unfoliiert, 5 S., ein Konzept, das nach 1650 entstand, führen die Ritter ebenfalls aus, sie seien der Meinung gewesen, die Regentin habe die stende bey ihrem uhralten Hehrkommen gelaßen wollen, als IFG die Remonstrationschrifft neben ihrer Beylage nicht beantwortet. Und nach diesem Satz schließt sich direkt die Erwähnung des Kirchhainer Konvents von 1649 an. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 242, und Friedeburg, Adel und ständische Vertretungen: Repräsentationen des Landes?, S. 182; vgl. auch ähnlich Ders., Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 321f. – Conring, De origine iuris germanici commentarius historicus, hatte die Vorstellung, das römische Recht sei durch Kaiser Lothar III. (regierte 1125–1137) förmlich als Reichsrecht rezipiert worden, als Legende entlarvt und damit den partikularen Rechten und einer historisierenden Rechtsanschauung einen deutlich höheren Stellenwert gegeben; vgl. grundlegend Stolleis (Hg.), Hermann Conring (1606–1681), und im Überblick zuletzt Fasolt, Hermann Conring and the European History of Law.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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ments“ 300 zeigte, auch andere Beweise herangezogen – eine Ausweitung des ritterschaftlichen Argumentationsarsenals, die von den spezifischen Bedingungen des Reichskammergerichtsprozesses und dem Druck der fürstlichen Argumente ausgelöst wurde. 301 Allerdings ergibt sich dieser Eindruck einer sukzessiven Ausweitung nur dann, wenn man davon ausgeht, dass das in der Remonstration an die Regentin und die Eingabe an das Reichskammergericht tatsächlich prominente Herkommen gleichzeitig auch das einzige Argument war, das der Ritterschaft bei Beginn des Ständekonflikts überhaupt zu Gebote stand. Diese Annahme erweist sich jedoch als nicht haltbar, denn tatsächlich verfügte die Ritterschaft über ein ganzes Arsenal potentieller Argumente. Dieses Arsenal wird jedoch nur sichtbar, wenn man den Ständekonflikt in den Gesamtprozess der Genese der landständischen Verfassung einbettet und so aus der ‚Vorgeschichte‘ des Ständekonflikts rekonstruiert, welche Argumente die Ritterschaft oder die Ständegesamtheit bis 1647 schon entwickelt hatten. Und erst dann lässt sich fragen, warum die Ritterschaft zu Beginn der Auseinandersetzungen vor allem auf das Herkommen setzte. Es sind im Verlauf dieser Untersuchung schon mehrfach Situationen zur Sprache gekommen, in denen die Ritterschaft oder die Ständegesamtheit mehr oder weniger ausführlich zu ihren Gerechtsamen in rechtfertigender Absicht Stellung nehmen musste oder wollte. Diese Fälle gilt es hier nun zusammenzuführen, um das Arsenal potentieller Argumente zu rekonstruieren, das beim Ausbruch des Ständekonflikts zur Verfügung stand. Nun ist es zwar zutreffend, dass das Herkommen als Objekt in ständischen und ritterschaftlichen Stellungnahmen eine zentrale Rolle spielte und es immer schon als ‚argumentative Allzweckwaffe‘ diente. Allerdings ist hier zu differenzieren, denn die Rahmenbedingungen für gewohnheitsrechtliche Argumentationen waren 1647 ganz andere als noch einige Jahrzehnte zuvor: Richtig ist, dass sowohl während der Vormundschafts-

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Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 244. Vgl. Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 320: „Die Argumente der Ritter mit ihrer Ehre (1624) und ihrem Handeln im 15. Jahrhundert (1647) wurden daher vom Gang der Argumentation sukzessive überholt und durch eine immer juridisch-professionellere Beweisführung zu ihren Gerechtsamen ersetzt.“ Vgl. auch Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 247f.: „Insgesamt steht die gewohnheitsrechtliche Argumentation in den Akten des Reichskammergerichtsprozesses nicht mehr so sehr im Mittelpunkt, wie es 1647 in den ersten juristischen Stellungnahmen der Ritterschaft der Fall gewesen war. Das lag daran, dass nunmehr ein Großteil des Darlegungsaufwandes auf die Auseinandersetzung mit eben jenen Argumenten ganz anderer Natur verwandt werden musste, auf welche sich der Landgraf zu seiner Verteidigung berufen hatte.“

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

kämpfe (1509–1514) als auch der Phase der normativen Zentrierung seit den 1590er Jahren als auch der Verfahrenskämpfe (1621–1623) die Ständegesamtheit das Herkommen ins Feld führte, um ihre subjektiven Rechtsansprüche durchzusetzen oder zu verteidigen. Anders aber als bei der Abfassung der Remonstration reichte es in diesen Fällen immer aus, das Vorliegen eines rechtfertigenden Herkommens nachdrücklich zu behaupten – in keinem Fall wurde eine explizite ‚Beweisführung‘ vorgelegt oder, so weit ich sehen kann, auch nur verlangt. 302 Dieser nur ‚behauptende‘ Gebrauch ist auch noch zur Zeit des ersten Ständekonflikts vorherrschend: In der Rechtfertigungsschrift der Ritterschaft von 1625 wird neben dem Herkommen zwar zum ersten Mal auch explizit die gemeinrechtliche Korporationslehre zur Fundierung der eigenen Position herangezogen, aber auch hier erschöpft sich der Bezug darin, dass mehrmals und ohne weitere Belege oder Beweise behauptet wird, das eigenständige Handeln sei der Ritterschaft nicht weniger als einem jeden anderen auch weitt geringeren Corpori oder Commun zu gönnen und in Recht zugelaßen. 303 Damit handelt es sich hier im engeren Sinne noch gar nicht um Argumentationen im Rahmen einer Rechtfertigungsordnung, denn die Einzelargumente, das Herkommen und die Korporationslehre, werden weder in eine ‚Beweisführung‘ eingebunden noch explizit mit einem übergeordneten Gemeinwohl in Verbindung gesetzt. Herkommen und Korporationslehre wurden hier eher als für sich stehende Topoi mit eigener normativer Kraft denn als Teile einer Argumentation verwendet – was aber offenbar ihre Wirkung nicht beeinträchtigte. Gleichwohl fand der Übergang von der behauptenden Präsentation von Topoi zur beweisenden und belegenden Argumentation und dem damit einhergehenden Aufbau eines Arsenals von Argumenten nicht erst mit dem Ausbruch des Ständekonflikts statt, sondern schon einige Jahre früher.

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Für die Vormundschaftszeit vgl. oben 3.1.; für die Zeit der normativen Zentrierung vgl. oben 4.1; für die Verfahrenskämpfe vgl. oben 4.3. Ohne die Ergebnisse hier wiederholen zu wollen, muss doch noch einmal die Logik dieses ‚behauptenden‘ Gebrauchs des Herkommens festgehalten werden: Normative Geltung soll durch Verweis auf faktische Übung erzeugt werden; da aber das Wissen über die Observanz größtenteils aus dem kommunikativen Gedächtnis geschöpft wird und gerade nicht aus einem möglichst weit zurückreichenden und exakten Erinnerungsraum, sagen Herkommensargumente – entgegen ihrer eigenen Behauptung – tatsächlich mehr über die normativen Überzeugungen der gegenwärtigen Akteure als über die vergangene Praxis. – In der Remonstration hingegen wurde ein solcher Erinnerungsraum erzeugt, vgl. unten 5.3.5. Vgl. ‚Niederhessische Ritterschaft an Vizekanzler und Räte zu Kassel. o. O. 1625 Okt. 20‘, in: StAM 304 Nr. 445, unfoliiert, 22., S. 13.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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1637 starb Landgraf Wilhelm V. – vom Kaiser geächtet und aus der Landgrafschaft vertrieben. 304 Da der Erbprinz noch minderjährig war, hatte Wilhelm testamentarisch seine Frau Amalie Elisabeth zur Regentin und Vormünderin eingesetzt und ihr zwei Beratungsgremien an die Seite gestellt, einen fünfköpfigen Regentschafts- und einen sechzehnköpfigen Landrat. 305 In beiden Räten sollten die Adligen laut Testament in der Minderheit sein – aus Sicht der Ritterschaft ein klarer Bruch des Herkommens. 306 Allerdings reichte in diesem Fall die einfache Behauptung eines Herkommens nicht aus, denn in der nahen Vergangenheit gab es keinen vergleichbaren Fall einer Vormundschaftsregierung durch die Landgrafenwitwe, weshalb sich auch aus dem kommunikativen Gedächtnis der Ritterschaft keine sichere normative Überzeugung schöpfen ließ. Zuletzt war so eine Situation nämlich vor mehr als hundert Jahren eingetreten, als nach dem Tod Landgraf Wilhelms II. 1509 seine Frau Anna die Regentschaft für sich beansprucht hatte. 307 Die Ritter waren mit diesen Ereignissen zwar im Prinzip vertraut, aber ihre Kenntnisse hatten sie nur aus Chroniken, also aus zweiter Hand. Und dabei blieb es auch, denn Nachforschungen in den adeligen Archiven, die im Vorfeld eines 1638 angesetzten Landtags durchgeführt wurden, blieben ohne Ergebnis. 308 Wollte die Ritterschaft in dieser Situation also das Herkommen anführen, musste sie zuvor eine Brücke schlagen von der Regentschaftsfrage des Jahres 1637 zu der des Jahres 1509 – mit anderen Worten: Sie musste einen strukturierten Erinnerungsraum aufbauen, eine Vergangenheit konstruieren, die sehr viel konkreter war als das bisher angeführte Herkommen. In dieser Situation entstand 1639 die Gründliche Remonstratio in continenti darinnen aus glaubwürdigen Historicis Chur- und Fürsten Erbverbrüderungen, Erbvertrag, Fundamental-Satzungen, Testamenten undt Reversalen wie auch allgemeinen Landtägen hinc inde verpflogener kündtbahren Actitaten und Tractaten deß fürstl. Haußes Hessen sattsam behauptet wirdt, daß die Ritterschaft in Niederheßen zu fürstl. Vor304 305 306

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Zur Regentschaft Amalies vgl. umfassend Puppel, Die Regentin, S. 190–235; Dies., ‚Heroina Hassiaca‘ oder ‚Schwester der Gorgo‘?, und Rommel VIII, S. 485–805. Vgl. Puppel, Die Regentin, S. 197f. Vgl. Puppel, Die Regentin, S. 202f. Wilhelm V. hatte in seinem Testament zwei adelige (Hermann von der Malsburg und Johann Bernhard von Dalwig) und drei gelehrte Regentschaftsräte eingesetzt (Dr. Heinrich Lersner, Dr. Helfrich Deinhard und Nikolaus Sixtinus). Dem Landrat sollten sechs von der Ritterschafft, sechs von der Landschafft undt vier gelehrte, entweder aus unsern räthen, beamthen oder anderen Unterthanen (‚Testament Wilhelms V. von Hessen-Kassel. Kassel 1633 März 31‘, in: StAM 4a Nr. 46,11, zitiert nach Puppel, Die Regentin, S. 198) angehören, die von der Regentin und dem Regentschaftsrat benannt werden sollten. Vgl. oben 3.1. Vgl. Rommel VIII, S. 523.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

mundtschafft undt Landesregierung by der fürsten von Heßen Minderjährigkeit, iederzeit nach uhraltem ahndenklich jährigen Herkommen nachberechtigt, auch ohne ihrer ohnzertheilter Mittglieder Sambtbetagung, ohnverrückter Session, freyer Stim, Berathschlagung undt Schluß auff den Landtagen nichts verbündtliches geschloßen werden könne mit angehefften Documenten. 309

Schon der Titel zeigt an, dass hier eine neue Qualität der Rechtfertigung erreicht ist, denn nun werden zur Behauptung eines bestimmten Rechts alle möglichen Quellen zusammengesucht, die das Recht historisch situieren sollen. Eine Remonstration ist wörtlich eine ‚Gegenvorstellung‘ und muss eine Beweisführung enthalten, die in diesem Fall durch den Aufbau eines Erinnerungsraumes geleistet wird. Dabei ist die Auseinandersetzung um die Regentschaft aber nur als Anlass zu werten, während die mittelbare Ursache für den Übergang zur einer Argumentation wohl eher in der zunehmenden Verrechtlichung politischer Konflikte zu suchen sein wird, denn in juristischen Zusammenhängen mussten gewohnheitsrechtliche Ansprüche wie das Herkommen sehr wohl bewiesen werden. 310 Die genauen Entstehungsumstände können aber hier ausgeklammert bleiben, da die im Rahmen dieser ‚Gegenvorstellung‘ erstmals explizierten Argumentationen für sich stehen und ihren Entstehungskontext überdauerten, was die neue Qualität ständischer Selbstrechtfertigung betrifft. 311 309

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Remonstration 1639. Der Entstehungszeitraum der Remonstration lässt sich einigermaßen eingrenzen: Das späteste Datum, das im Text selbst erwähnt wird und daher als terminus post quem angemommen werden kann, ist der 18. Xbris verwichenen [1]638. Jahres (ebd., fol. 5v). Der terminus ante quem wird durch ein Schreiben vom 6. August 1639 festgelegt, in dem die remonstrationschrifft erwähnt wird; vgl. ‚Otto von der Malsburg an Hans Diede zum Fürstenstein. Helmarshausen. 1637 Aug. 6‘, in: StAD F 27 A Nr. 64/16. Die Schrift muss also zwischen dem 1. Januar um dem 6. August 1639 entstanden sein. – Weder Maruhn noch Friedeburg erwähnen diese Schrift, obwohl vom Titel und Inhalt weitreichende Übereinstimmungen mit der Remonstration von 1647 bestehen. Erwähnt wird die Remonstration explizit von Puppel, Die Regentin, S. 202, Anm. 65, und – wenngleich nicht unter dem Begriff ‚Remonstration‘ – bei Rommel VIII, S. 522–524, in Verbindung mit Anm. 24. – Vgl. auch allgemein Strohmeyer, Die Konstruktion der Herrschaftsordnung in monarchisch-ständischen Kommunikationsräumen durch Erinnern und Vergessen. Vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 244: „Die beiden Elemente, die das Herkommen ausmachten und demzufolge bewiesen werden mussten, waren erstens der stetige Gebrauch über einen langen Zeitraum (usus) und zweitens die Übereinstimmung der Beteiligten, dass dieser Gebrauch rechtens sein sollte (opinio iuris).“ Vgl. weiterführend Simon, Geltung; Garré, Consuetudo; Perreau-Saussine, Murphy (Hg.), The Nature of Customary Law. Die Einleitung der Remonstration teilt jedoch etwas über den Entstehungskontext mit: Demnach hätte die Ritterschaft den fürstlichen Räten – die Fürstin war noch nicht aus ihrem ostfriesischen Exil zurückgekehrt – wegen Bestellung des Regiments in Niederheßen vorgetragen. Allerdings sei dieser, in uhralten undt undäncklichjährigen, auch von

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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Wie ebenfalls dem Titel zu entnehmen ist, wird die Existenz von zwei Rechten behauptet: Zum einen das Recht der Ritterschaft, während der Minderjährigkeit des Thronfolgers die Regentschaft zu führen, und zum andern – zunächst ein wenig überraschend – das Recht auf allgemeine Landtage und ein unverändertes Landtagsverfahren. Diese Rechte werden jedoch mit zwei sehr unterschiedlichen Argumenten gerechtfertigt. Zunächst zum angeblichen Recht auf Führung der Regentschaft. Die Ritterschaft wollte keineswegs die Regentschaft auch wirklich selbst übernehmen, sondern ihren prinzipiellen Rechtsanspruch in dieser Sache als Druckmittel einsetzen, um konkrete Änderungen im Regentschaftsregiment zu erreichen: Entweder sollten beide Räte mindestens zur Hälfte mit Adeligen besetzt oder die Kompetenz des Landrats zumindest auf Cantzley undt Cammersachen beschränkt werden. Im ersten Fall wäre den Rittern damit ein umfassendes Vetorecht zugestanden worden, während im zweiten Fall die gelehrt-bürgerliche Mehrheit in den Räten zwar bestehen geblieben, aber in ritterschaftlichen Angelegenheiten prinzipiell nicht zuständig gewesen wäre. 312 Darüber hinaus forderten die Ritter, dass in dem neubestellten Landrath keinerley Sache, welche vor Prälaten, Ritter- undt Landschafft gehöret, vorgenohmen, tractiret undt geschloßen werden solle; nicht nur die Rechte der Ritterschaft, sondern auch die der Ständegesamtheit sollten geschützt werden. 313 Um diesen Forderungen nun den nötigen Nachdruck zu verleihen, entwickelten die Ritter zum ersten Mal eine Argumentation im Sinne des Konzepts von Boltanski und Thévenot. Als Subjekt dieser Argumentation, also als Träger des Rechts zur Führung der Regentschaft, fungiert – wenig überraschend – des hochlöblichen Fürstenthums Heßen uhralte Ritterschafft. Da es sich bei der Regentschaft nun um ein genuin politisches, also auf das Gemeinwesen als Ganzes bezogenes Herrschaftsrecht handelt, ist die hier maßgebliche Form des Gemeinwohls, wie auch später im Ständekonflikt stets, des Vatterlandts Wohlfahrt. Um nun das ritterschaftliche Subjekt und seinen Rechtsanspruch mit dem Gemein-

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Ihren geehrten adlichen Stambßmajorn auff sie posterirtem Herkommen gegründete Vortrag von den Räten vor ohngründig, ohnzeitig undt ohnbefugt ausgedeutet worden. Und daher habe die Ritterschaft sich entschlossen, Ihre brieffliche Uhrkundten […] aufzuschlagen undt Ihre sonnenreine ohnverbrüchliche Befugnuß mit gründlicher möglicher Kürtze zu remonstriren (alle Zitate Remonstration 1639, fol. 2r). Damit ist es wahrscheinlich, dass die aus der juristischen Sphäre stammenden Begründungserfordernisse konkret über die juristisch ausgebildeten Räte in die fürstlich-ständischen Beziehungen eingebracht wurden. Vgl. ebd., fol. 5r/v. Ebd., fol. 5v.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

wohl zu verknüpfen und dadurch zu rechtfertigen, bringen die Ritter ‚Beweisstücke‘ aus zwei Bereichen für eine solche Verbindung vor. 314 Die erste Gruppe von Beweisstücken stammt aus dem Bereich des Herkommens, das hier zum ersten Mal nicht nur behauptet, sondern auch umfassend belegt wird. Da aber die ritterschaftlichen Archive für die Zeit bis einschließlich der Vormundschaftskämpfe nichts hergaben, behalf man sich für diesen Zeitraum mit Extrakten aus der hessischen Chronistik. 315 Ausgangspunkt ist das Jahr 1247: Es sei niemand anderes als die hessische Ritterschaft gewesen, die in den Auseinandersetzungen nach dem Tod des kinderlosen Heinrich Raspe das Erbrecht Heinrich des Kindes, von dem die ietzo regierende fürstlich-heßische Linie posteriret, anerkannt und diesen zu Ihrem Landtfürsten beruffen habe. Danach habe die Ritterschaft nicht nur zweimal die Regentschaft für minderjährige Landgrafen geführt, nämlich 1413 für Ludwig I. und 1509 für Philipp, sondern auch 1466 den Streit zwischen den beiden damaligen fürstlichen Linien entschieden. 316 314

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Zitate: ebd., fol. 2v und fol. 9r. Weitere Synonyme für das Gemeinwohl sind ‚wirkliche Wohlfahrt‘ (ebd., fol. 3r), ‚Noturft, Heil und Wohlfahrt dieses Fürstentums‘ (ebd., fol. 9r) oder auch ‚Trost, Nutz und Schutz des Vaterlands‘ (ebd., fol. 10r). Der Begriff ‚Vaterland‘ wird drei Mal verwendet, der Begriff ‚Patrioten‘ einmal. Im Einzelnen exzerpierte man vor allem Wilhelm Dilligius (ebd., fol. 11r, das ist Dilich, Hessische Chronica) und Chronika undt altes Herkom: der Landtgraff zu Düringen undt Heßen (Remonstration 1639, fol. 11r, das ist [Nuhn], Chronik und altes Herkommen); vgl. zur Chronistik umfassend Fuchs, Traditionsstiftung und Erinnerungspolitik. – Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Ritterschaft nun die Chronistik zur Verteidigung ihrer Rechte aufrief, denn es waren bisher die Landgrafen gewesen, die die Chronistik gefördert und als „politisches Kampfinstrument“ (Menk, Die Chronistik als politisches Kampfinstrument) bzw. als „Instrument fürstlicher Territorialpolitik“ (Laß, Schütte, Länder- und Städtebeschreibungen, S. 100) genutzt hatten. Die politische Nutzbarkeit für die Landgrafen beruhte darauf, dass, insbesondere in der 1604 erschienenen Chronik Wilhelm Dilichs, die Herrschaftsordnung des frühen 17. Jahrhunderts, also das Territorialfürstentum mit zentraler Landeshoheit, in die Geschichte zurückprojeziert wurde. Ein wohl nicht intendierter Nebeneffekt war, dass als Teil dieser umfassenden Rückprojektion gleichzeitig auch die institutionellen Strukturen der sich ausbildenden landständischen Verfassung in die Vergangenheit versetzt wurden. Und daran konnten die Stände dann seit 1639 anknüpfen (vgl. auch Friedeburg, Geschichtsschreibung und Geschichtspolitik, S. 45f.). Vgl. Remonstration 1639, fol. 2v–3r. Die Ritter gingen zum Teil sehr frei mit den Angaben der Chronistik um, wie am Beispiel der Vormundschaft für Landgraf Philipp deutlich wird: Die Ritter beziehen sich auf die Darstellung in Dilich, Hessische Chronika, Teil 2, S. 271f. Unterschlagen wird zunächst, dass Dilich diese Regentschaft ausdrücklich negativ bewertet (ebd., S. 271: „Zwar haben in solcher seiner [sc. Philipps, TN] jugent etlich deß Adels beneben denen Räthen sich des regiment unterfangen / aber doch dem lande und jungen herren nicht zum besten vorgestanden / sintemal sie untereinander uneinig worden / krieg und lermen angefangen / und damit dem lande

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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Wird ein Argument jedoch im Rahmen einer Rechtfertigungsordnung vorgebracht, so genügt der bloße Aufweis eines Herkommens nicht, sondern entscheidend ist der Nachweis, dass die Ausübung dieses Rechts dem Gemeinwohl zu gute kommt. Und so stellen die Ritter nach der Aufzählung der Präzedenzfälle fest: Wie nun sothane der Ritterschafft aufrichtige redliche treu-tapffere ritterliche Dienste undt eyffrige Vertrettung zu wircklicher Wohlfahrt gedeyet, alß haben dero löbliche regirende Successores der Ritterschafft aufrichtigen Raths undt Beystandts sich in hochwichtigen deß gantzen Landeß Heyl betreffenden Sachen iederzeit gebrauchet. 317 Die Ritterschaft habe also in Ausübung ihrer besonderen Rechte das allgemeine Wohl gefördert, was zusätzlich dadurch untermauert wird, dass im Anschluss auf die Testamente Wilhelms IV. und Moritz’ verwiesen wird, in denen ebenfalls Adelige zu fürstlichen Räten bestellt wurden. 318 Hier sieht man sehr genau, wie die Objekte als Verbindungsglieder zwischen dem einzelnen Subjekt und dem Gemeinwohl dienen: Es sind zunächst die das Herkommen konstituierenden treu-tapffere[n] ritterliche[n] Dienste, die zu wircklicher Wohlfahrt führen. Dieser Gemeinwohlbezug überträgt sich dann von den Objekten des Herkommens auf das mit ihnen verbundene Subjekt, wenn mit diesen Diensten – eingeleitet durch alß – begründet wird, dass die Ritterschaft in gemeinwohlrelevanten, also ‚politischen‘ Angelegenheiten in der Folge stets konsultiert worden sei. Zuletzt kommt es dann sogar zu einer Teilidentifikation mit

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grosse unruhe und schaden veruhrsachet.“). Dann wird aus „etliche[n] der Ritterschafft und vornemsten praelaten“ (ebd., S. 272), die das Testament angefochten hätten, in der Darstellung der Remonstration allein die ‚hessische Ritterschaft‘. Außerdem hat sich oben (3.1) gezeigt, dass die entscheidende Rolle der Ständegesamtheit zukam, nicht der Ritterschaft – was allerdings 1639 zugegebenermaßen nicht bekannt war. Remonstration 1639, fol. 3r. Hierbei handelt es sich allerdings um schwache Beweise: Im Testament Wilhelms IV. wurden die betreffenden Adeligen nicht zu Regenten, sondern nur zu Räten bestellt; außerdem spielte die Ritterschaft als Kollektivakteur in dieser Hinsicht keine Rolle, hatte also keinen Einfluss auf die Auswahl der Ritter; vgl. ‚Testament Wilhelm des IV oder Weisen Landgrafen zu Hessen 1586‘, in: Kopp (Hg.), Bruchstücke zur Erläuterung der Teutschen Geschichte und Rechte, II, S. 114–146. Das Testament Moritz’ anzuführen war ein noch schwächeres Beweisstück, denn durch seinen Rücktritt konnte das Testament keinen Einfluss mehr auf die Regierungsgeschäfte haben, die zu diesem Zeitpunkt längst in der Hand seinen Sohnes waren. – Zusätzlich wird ein ‚Codicill‘ erwähnt, eine Art Ausführungsbestimmung zum Testament Wilhelms IV. (vgl. dazu Rommel V, S. 832–837, insbesondere Anm. 333). Dieser wird auch in der Remonstration von 1647 erwähnt, von Friedeburg aber nicht als codicillo, sondern als „concillio“ (Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 302) gelesen.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

dem Gemeinwohl, wenn nämlich die Ritterschaft sich selbst als starcke, unbewegliche Seul deß Landes bezeichnet. 319 In einem zweiten Schritt wird nun eine neue Gruppe von Beweisstücken eingeführt, die allesamt zu einem Objektbereich gehören, den ich abstrakt ‚Vertragsbande‘ nennen möchte. Während das Herkommen die tatsächlichen Ausübungsakte eines Rechts umfasst, so gehören zum Bereich der ‚Vertragsbande‘ alle Akte, in denen vertragliche oder quasivertragliche Verpflichtungen im Hinblick auf die Ausübung von Rechten geschaffen, geändert oder beendet werden. In der überwiegenden Anzahl der Fälle handelt es sich bei solchen Argumenten um Herrschaftsverträge oder lehnsrechtliche ‚Kontrakte‘ wie etwa die Huldigung. 320 In der Remonstration ist diese zweite Beweisführung zunächst einmal darauf gerichtet, das zuvor faktisch belegte Herkommen normativ zu verstärken und also zu begründen, warum bei diesem alten Herkommen die heßische Ritterschaft desto fester handzuhaben sei. 321 Dazu werden Stellen aus fürstlichen Reversen, Testamenten und zuletzt dem Text des Huldigungseides angeführt, die alle die Pflicht des Fürsten belegen sollen, die Gerechtsame der Ritterschaft nicht zu beschneiden. 322 319

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Remonstration 1639, fol. 2v. Da es sich hier um die erste Anwendung des Konzepts eines Arguments im Rahmen einer Rechtfertigungsordnung handelt, wird das Zusammenspiel von Objekten, Subjekten und Gemeinwohl etwas ausführlicher behandelt. Im Folgenden wird die Analyse jedoch kürzer gehalten. – Ob hier die Bezeichnung ‚Säulen des Reiches‘, die seit der goldenen Bulle für die Kurfürsten Verwendung fand, als Vorbild diente, lässt sich leider nicht entscheiden, vgl. umfassend Gotthard, Säulen des Reiches. Wie sich hier zum ersten Mal zeigt, sind die von mir in den Mittelpunkt gerückten ‚Objektbereiche‘ nicht identisch mit bestimmten Rechtsgebieten. So können zum Bereich der Vertragsbande sowohl naturrechtliche wie lehnsrechtliche wie theologische Beweise gehören, solange sie vertragliche Pflichten zu belegen suchen. Die Bildung der Objektbereiche nach inhaltlichen Kriterien passt meines Erachtens besser für eine Epoche der Rechtsvielfalt, in der man sich ohnehin aus den unterschiedlichsten Rechtsbereichen bedienen konnte – je nach argumentativem Ziel. Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht, S. 670, ist einen ähnlichen Weg gegangen: „Es war daher notwendig, sich dem frühneuzeitlichen Rechtsanwendungsproblem anders zu nähern als mit den doktrinalen Kategorien. Am erfolgversprechendsten erschien es, die bisherige Frage nach der richterlichen Rechtsanwendung in vier Teilaspekte aufzuspalten, die den Prozeßablauf selbst nachvollziehen.“ Während nun Oestmann eine Neugliederung nach prozessualen Gesichtspunkten vornimmt, wird in der vorliegenden Arbeit nach materialen Gesichtspunkten gruppiert. Remonstration 1639, fol. 4r. Es werden angeführt: Ein Revers Philipps von 1532 (vgl. ‚Revers Landgraf Philipps. Homberg 1532 Juli 15‘, in: Hollenberg I, Nr. 5c, S. 89f.), das Testament Philipps, die Erbeinigung von 1568, die erneuerte Erbverbrüderung von 1587, das Testament Wilhelms IV. (vgl. für alle oben 3.1.) und der Text der Landeshuldigung. Nur letzterer sei hier angeführt: Der Fürst verspreche bei der Huldigung, dass er die Ritterschaft bey

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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Die zweite Beweisführung erschöpft sich allerdings nicht darin, nur die Unantastbarkeit des Herkommens zu demonstrieren. Zwar sind die Vertragsbande über diese Funktion schon mittelbar mit dem Gemeinwohl verbunden, aber auch für den zweiten Objektbereich wird ein unmittelbarer Gemeinwohlbezug hergestellt – wenngleich nicht so deutlich wie beim Herkommen. Als nämlich die Ritter noch eine feierliche Protestation gegen die Verletzung ihrer Rechte in den Text einfügten und sich weitere Rechtsmittel vorbehielten, da taten sie das in dem Bewusstsein, es seien diese fortgesetzten Verstöße, die verhinderten, dass die zwischen Oberherrn undt Unterthanen zu Erhaltung der Fürstenthümber von der allerhöchsten göttlichen Mayt: eingeimpfte Liebe undt beständiges Vertrauen fortgepflanzet werde. 323 Das Gemeinwohl steht also nach dieser Beschreibung in einem reziproken Verhältnis zur Qualität der gegenseitigen Beziehung von Herrschenden und Herrschaftsunterworfenen. Der daraus folgende Schluss wird zwar nicht explizit gemacht, liegt aber auf der Hand: Wenn die fürstliche Seite die Rechte der Ritterschaft kontinuierlich verletzt, dann verlieren die gegenseitigen Beziehungen ihren ‚liebe- und vertrauensvollen‘ Charakter, und das wiederum gefährdet in letzter Konsequenz das Gemeinwohl. Wird das Herkommen also eingesetzt, um die positiven Folgen darzustellen, die aus der Ausübung des zu prüfenden Rechts für das Gemeinwohl resultierten, so wird mit den Beweisstücken aus dem Bereich der Vertragsbande komplementär dazu gezeigt, dass die Verletzung dieses Rechts negative Folgen für das Gemeinwohl heraufbeschwört. Damit ist die erste Argumentation vollständig: Der Anspruch der Ritterschaft auf das Recht zur Führung der Regentschaft ist gleich in doppelter Hinsicht gerechtfertigt, weil zum einen ein entsprechendes und zudem gemeinwohlförderliches Herkommen tatsächlich besteht und weil zum anderen die Beschneidung dieses Rechts den vertraglichen Pflichten der fürstlichen Seite zuwiderläuft und dadurch potentiell die Wohlfahrt des Vaterlandes gefährdet. Allerdings endet die Remonstration nicht an dieser Stelle, denn es wird noch ein weiteres Recht, oder besser: Bündel von Rechten, behauptet und durch eine weitere Argumentation gerechtfertigt. Man sollte nun erwarten, dass wieder die Ritterschaft das Subjekt stellt, heißt es doch im

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ihren adelichen Freyheiten, Gericht-, Gerecht- undt Herrligkeiten, Herkommen undt Gewohnheiten schützen, schirmen undt handthaben, dargegen auch nichts nachtheiligeß vornehmen noch andern zu thun gestatten, sondern vielmehr dieselben verbeßern (zitiert nach: Remonstration 1639, fol. 4v). Ebd., fol. 9v. Zum Instrument der Protestation vgl. Neu, Protest, 1. Protestatio.

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Titel des Schriftsatzes, daß die Ritterschaft in Niederheßen zu fürstl. Vormundtschafft […] nachberechtigt, auch ohne ihrer ohnzertheilter Mittglieder Sambtbetagung, ohnverrückter Session, freyer Stim, Berathschlagung undt Schluß auff den Landtagen nichts verbündtliches geschloßen werden könne. 324 Hier ist der Titel jedoch irreführend, denn nun fungiert nicht mehr die Ritterschaft, sondern stattdessen die Ständegesamtheit als Subjekt. An den entscheidenden Stellen werden genannt: das gantze interessirende Corpus der Erbämpter, Obervorsteher, Praelaten, Ritter- undt Landtschafften – die heßische Ritter- undt Landtschafft – das Corpus des Fürstenthumbs Heßen – die gemeine Ständte von Ritter- undt Landschafft. 325 Schon durch diesen Wechsel des Subjekts ist klar, dass sich die beiden Argumentationen innerhalb der Remonstration fundamental voneinander unterscheiden. Wie ist nun das Bündel von Rechten zusammengesetzt, das der Ständegesamtheit zustehen und mit dieser neuen Argumentation gerechtfertigt werden soll? Es umfasst im wesentlichen drei Ansprüche: Erstens müsse die Ständegesamtheit immer dann von den Landgrafen einbezogen werden, wenn politische, das ganze ‚Land‘ betreffende Angelegenheiten von Bedeutung zu regeln sind. 326 Zweitens könnten diese politischen Partizipationsrechte nur auf einem allgemeinen Landtag ausgeübt werden, was die Beschreibung aller Prälaten, Ritter und Städte voraussetze, weil nur so die Ständegesamtheit konstituiert werden und die Versammlung einen

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Remonstration 1639, fol. 1r. Der Anlass für dieses zweite Argument wird eingangs geschildert: Nach demnach die Regirung zu Caßell den 18. Xbris verwichenen [1]638. Jahres einen Landtag außgeschrieben, in welchem Außschreiben nicht das gantze interessirende Corpus der Erbämpter, Obervorsteher, Praelaten, Ritter- und Landtschafften (uhraltem Herkommen gemäß) […] beschrieben. (ebd., fol. 6r/v). – Diese Auseinandersetzungen schlagen sich in der Edition der Landtagsabschiede nicht nieder: Hollenberg II, Nr. 85a, S. 355, kategorisiert die entsprechende Versammlung ohne weitere Angaben als ‚Landkommunikationstag‘; vgl. auch Puppel, Die Regentin, S. 203, die in Kenntnis der Remonstration zutreffender von einem „Partikularlandtag“ spricht. Da mit ‚Partikularlandtag‘ aber auch Landkommunikationstage gemeint sein können, müsste man noch genauer von einem ‚engeren Landkommunikationstag‘ sprechen. Remonstration 1639, fol. 5v, 6v, 7r und 7v. Vgl. ebd., fol. 7v: Wie dann solch ius liberrimum suffragiorum et comitiorum sollennium hassiacorum mit den denckwürdigen, unzahlbahren Exemplis […] zu beharten, gestalt in hochwichtigen Landt undt Leuth betreffenden Handelungen die gemeine Ständte von Ritter- und Landtschafft beschrieben worden; ebd., fol. 8v: darbey zweiffelsfrey hochverständig betrachtende, daß sothane ein gantz Fürstenthumb anlangend Handlung allzeit mit ihrem [der vorher erwähnten Ritter- undt Landtschafft, TN] Vorbewußt verhandelt werden müßen. – Der Umfang dieser ‚Einbeziehung‘ wird – wohl absichtlich – nicht näher bestimmt, weshalb nicht entschieden werden kann, ob hier ein votum deliberativum oder ein votum decisivum gemeint ist.

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‚allgemeinen‘ Charakter annehmen könne. 327 Drittens müsse gewährleistet sein, dass der kollektive Willensbildungsprozess der Ständegesamtheit nicht von fürstlicher Seite gelenkt oder gestört werden, sondern sich autonom vollziehen könne. 328 Bündelt man diese Forderungen nun wieder, so wird deutlich, dass hier nichts weniger als die Aufrechterhaltung einer landständischen Verfassungsordnung im Sinne des Strukturtypus eingefordert wird – was nicht weiter verwundert, da eine solche in Hessen-Kassel seit der Zwischenkonfliktzeit ja auch tatsächlich normativ und faktisch bestand. 329 Gleichwohl stellt sich auch hier die Frage, welche ‚Beweisstücke‘ für dieses Bündel politischer Partizipationsrechte angeführt werden können, um eine Verknüpfung mit dem Gemeinwohl herzustellen. Und noch deutlicher als im ersten Argument nehmen hier Herkommensargumente eine zentrale Stellung ein: Auf nur sieben Textseiten werden über zwanzig konkrete Daten genannt und fünf Mal zitieren die Ritter sogar wörtlich aus heßische[n] Landtagsacten. 330 Die Beweisstücke dienen hier jedoch nicht dazu, das Bestehen eines Herkommens zu belegen, sondern dokumentieren stattdessen Situationen, in denen die Ständegesamtheit – und in einigen Fällen auch die Ritterschaft alleine – sich gegen die Einschränkung ihrer Rechte verteidigt hat. Und die Auswertung der angeführten Fälle belegt noch einmal ex negativo die zuvor schon untersuchte Katalysatorfunktion der unter Moritz ausgebrochenen Verfahrenskämpfe für die institutionelle Verfestigung der landständischen Verfassung, denn gut die 327

328

329 330

Das Zitat ebd., fol. 7r; vgl. ebd., fol. 6r/v: Sintemahl hochbenahmte Potentaten [zu denen der Landgraf gehört, wie vorher festgestellt wurde, TN] in ihren […] Kayserthumb, Königreichen, Churfürstenthumben oder Territoriis (barbarischer heidnischer Volcker zu geschweigen) keinen Reichs-, Crays- oder Landtag ohne Zuziehung des gantzen Leibes […] iemahls verschrieben, besondern iederzeit in Landt undt Leuth betreffenden Sachen mit völligem Corpori berathfragen, schließen undt alle Conclusa verrecessiren. – Hinzuzufügen ist, dass ‚allgemein‘ hier nur noch ‚gesamtständisch‘, nicht mehr auch ‚gesamthessisch‘ meint, denn in der Zusammenfassung ihrer Bitten sprechen die Ritter ausdrücklich von außgeschriebenem offenem Landt- und Communicationstag (ebd., fol. 9r/v). Es werden also sowohl gesamthessische Landtage und hessen-kasselische Landkommunikationstage für legitim gehalten. Vgl. ebd., fol. 9r: Die Regentin solle Landtage halten mit ohnverneuerter absonderlicher Session, ungehindertem Votiren undt Berathschlagung ohne Beyseyn fürstl. Räthe oder beaidigter Diener. An anderer Stelle werden diese Forderungen als die uralte libertas suffragiorum spontanea (ebd., fol. 6r) oder jus liberrimum suffragiorum (ebd., fol. 7v) bezeichnet. – Dass sich diese Forderungen analytisch als Verlangen nach Autonomie des Landtagsverfahren interpretieren lassen, wurde oben 4.3.3 gezeigt. Vgl. oben 5.2 Ebd., fol. 10v. Ein weiteres wörtliches Zitat stammt aus dem ‚Abschied wegen der Hessischen Lantagen / de dato Marburg den 14.24. Decembris Anno 1627‘, in: Gründliche, warhaffte und vollstendige Erzehlung, Beilagen Nr. 265, S. 581f.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Hälfte der Verweise betrifft die Jahre 1621–1623, wobei insgesamt Ereignisse zwischen 1583 und 1635 referiert werden. 331 Allerdings zeigt eine solche Aufzählung zunächst nur, dass die Landgrafen offenbar in einigen Fällen die Rechtsansprüche der Stände negierten; sie beweist aber nicht, dass diese Ansprüche auch tatsächlich gewohnheits- oder positivrechtlich fundiert waren. Und offenbar hatten die Verfasser der Remonstration Schwierigkeiten, einen solchen Beweis auf Grundlage hessischer Quellen zu führen, denn an den einzigen Stellen, wo nicht die – gut dokumentierte – Verletzung, sondern das Bestehen der ständischen Rechtsansprüche behauptet wird, wird ein ‚generalisiertes Herkommen‘ herangezogen: So wird etwa darauf hingewiesen, dass die Nichtbeachtung des Gebots zur Beschreibung der Ständegesamtheit Röm. Kayß. Maytt., Könige, Churfürsten undt Ständten üblicher reichskundiger Observanz schnurstracks wiederstrebet. Und in Bezug auf die Einbeziehung der Ständegesamtheit bei politisch wichtigen Angelegenheiten wird festgehalten, dass solche allgemeine nützliche deliberationes bey allen Kayßerthumben, Königreichen, Chur- undt Fürstenthumben, Graff-, Herrschafften undt Communen reichs- undt weltkündig sein. 332 Mit dem letzten Zitat ist auch schon der im Rahmen einer Rechtfertigung notwendige Bezug zum Gemeinwohl hergestellt, denn es wird ja nicht nur behauptet, dass Ständeversammlungen in allen Gemeinwesen vorkommen, sondern auch, dass sie ‚allgemein nützlich‘ sind. 333 Allerdings wird diese Verbindung nur an einer Stelle und nur sehr beiläufig gezogen, so dass zunächst noch offen bleibt, warum genau denn Ständeversammlungen gemeinwohlförderlich sind. In diesem Punkt wird es nun unübersichtlich, denn einerseits ist der Text erkennbar in dem Bewusstsein verfasst, dass ein solcher Gemeinwohlbezug vorliegt, andererseits aber wird er nicht ausführlich begründet, ja nicht einmal explizit behaup331

332

333

Es werden Situationen aus folgenden Jahren angeführt (in Klammern die Häufigkeit bei mehr als einer Nennung): 1583, 1603, 1608, 1613 (2), 1614, 1619, 1620, 1621 (3), 1622 (5), 1623 (2), 1627, 1634, 1635 (eigene Auszählung nach Remonstration 1639). Zitate: ebd., fol. 6r und 8v. Es sei hinzugefügt, dass zwei vereinzelte Beweise aus dem Bereich der Vertragsbande vorgebracht werden: Die Beschreibung aller Mitglieder der ersten Kurie wird mit einem wörtlichen Zitat aus dem ‚Abschied wegen der Hessischen Lantagen / de dato Marburg den 14.24. Decembris Anno 1627‘, in: Gründliche, warhaffte und vollstendige Erzehlung, Beilagen Nr. 265, S. 581f., gefordert und die Einbeziehung bei politischen Fragen mit einem unspezifischen Verweis auf die Testamente Philipps und Wilhelms IV. untermauert. Man könnte zwar auch annehmen, dass hier ‚allgemeine und nützliche‘ und nicht ‚allgemein nützliche‘ gemeint ist, aber aus dem Kontext wird klar, dass hier der Nutzen für die Allgemeinheit gemeint ist: Schon im nächsten Satz wird nämlich die einzelne deliberatio genauer bestimmt als eine ein gantz Fürstenthumb anlagende Handlung (Remonstration 1639, fol. 8v).

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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tet – und muss daher über Indizien erschlossen werden. Ein erstes solches Indiz lässt sich der folgenden Stelle entnehmen: Die Umgehung der Ständegesamtheit durch die Berufung von engeren Landtagen widerspreche nicht nur dem hessischen Herkommen, sondern auch den allgemeinen beschriebenen Rechten, des H. Röm. Reichs heylsamen, hochverpeinten National-Constitutionen undt also pragmaticae Imperiy legi, qua cavet, ut ab omnibus id approbetur, quod omnes tangit. 334 Allerdings darf man sich von der Allegation der gemeinrechtlichen, später zum „Prinzip der Demokratie und der Zustimmung“ 335 überhöhten quod-omnes-tangit-Formel nicht blenden lassen, denn an dieser Stelle ist sie zunächst einmal in ihrem ursprünglichen, ‚privatrechtlichen‘ Sinn gemeint: Omnes sind an dieser Stelle nämlich nur die Mitglieder der Ständegesamtheit und die Ritter wollen mit der Formel nur ihren Anspruch untermauern, dass bei Ständeversammlungen auch stets alle diese Mitglieder, also alle Prälaten, Ritter und Städte zu beschreiben sind – und daher endet der Satz, in dem die Formel angeführt wurde, auch mit der Feststellung, kein Herrscher würde Reichs-, Crayß- oder Landtag ohne Zuziehung des gantzen Leibes halten. 336 Mit der quod-omnes-tangit-Formel in ihrem ursprünglichen Sinn ließ sich zwar nun das Recht der Ständegesamtheit auf allgemeine Landtage begründen, aber ein unmittelbarer Bezug zum ‚allgemeinen‘ Wohl des Landes konnte auf diese Weise nicht hergestellt werden. Allerdings geht das Bedeutungsspektrum, das mit der Erwähnung der Formel aufgerufen wird, deutlich über diesen engeren Sinn hinaus: Seit der Wiederentdeckung des römischen Rechts waren nämlich die römisch-rechtlichen Prinzipien quod omnes tangit, plena potestas und maior pars von den Kanonisten und Legisten miteinander verschmolzen und die daraus entstandene Korporationstheorie zu einem umfassenden Konzept politischer Repräsentation ausgebaut worden, mit dem die vielfältigen politischen Partizipationstraditionen der feudalen Gemeinwesen Europas auf eine neue Weise begriffen und beschrieben werden konnten. 337 Und die334 335 336

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Ebd., fol. 6r. So Marongiu, Das Prinzip der Demokratie und der Zustimmung (quod omnes tangit ab omnibus approbari debet) im 14. Jahrhundert. Vgl. Yves M.-J. Congar, Quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet, S. 117: „Von der Zeit Innozenz’ III. ab kann unsere Maxime anscheinend auf zwei verschiedenen Gebieten angewandt werden. Sie kann eine Verfahrensregel sein, die dem Privatrecht zugehört; sie kann ein allgemeines Prinzip der Beratung und Übereinkunft der Beteiligten ausdrücken und rückt somit in die Nähe dessen, was für uns öffentliches Recht ist.“ Auf den kleinsten Nenner gebracht, greifen die drei Prinzipien wie folgt ineinander: Weil politische Entscheidungen von Bedeutung ‚alle‘ betreffen, müssen sie von ‚allen‘

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

ses ganz allgemeine Konzept, mit dem die politischen Stände(-gesamtheiten) als Repräsentanten ihrer jeweiligen Gemeinwesens begriffen werden konnten, steht fast immer im Hintergrund, wenn die quod-omnes-tangitFormel aufgerufen wird. 338 Auch im Fall der Remonstration von 1639 kann man davon ausgehen, dass in der zweiten Argumentation eine entsprechende Repräsentationsbeziehung zwischen dem ‚Land‘ und den Landständen immer schon vorausgesetzt wird, aus der dann der Gemeinwohlbezug aller landständischen Rechte quasi-automatisch folgt und daher nicht weiter thematisiert werden muss. Nur eine solche Annahme kann nämlich erklären, warum die Ritter im Rahmen des Arguments umstandslos behaupten konnten, in Hessen würden in hochwichtigen Landt undt Leuth betreffenden Handelungen die gemeine Ständte von Ritter- undt Landschafft beschrieben. 339 Eine solche Verknüpfung ist nur dann folgerichtig, wenn die Ständegesamtheit (als Teil), die zu den jeweiligen Verhandlungen geladen wird, das Land (als Ganzes), das von den Verhandlungen betroffen ist, auf irgendeine Weise repräsentiert, also der Teil entweder das Ganze ‚ist‘ oder es zumindest ‚vertritt‘. 340 Mit jeder solchen Aneinanderrückung

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340

gebilligt werden (quod omnes tangit). Diese Zustimmung (die von sehr unterschiedlichem Umfang sein kann) lässt sich aber nicht nur im Wege der einmütigen Entscheidung aller Mitglieder der Gesamtheit, sondern auch durch Repräsentationsformen herbeiführen, so dass die Zustimmung der Gesamtheit nach außen auch durch umfassend bevollmächtigte Vertreter (plena potestas) und nach innen auch durch den ‚bedeutenderen Teil‘ der Gesamtheit (maior et sanior pars) erfolgen kann. Vgl. zum Zusammenhang von quod omnes tangit und maior et sanior pars: Post, A Romano-Canonical Maxim, Quod Omnes Tangit, in Bracton and in Early Parliaments, S. 175f.; zum Zusammenhang von quod omnes tangit und plena potestas vgl. Vieira, Runciman, Representation, S. 15; Post, Plena Potestas and Consent in Medieval Assemblies; zum Einfluss der Wiederentdeckung der aristotelischen Politik vgl. am Beispiel Marsilius von Padua Lee, Political Representation in the Later Middle Ages; zur Weiterentwicklung der römisch-rechtlichen, rein numerischen maior pars zur kanonistischen maior et sanior pars vgl. Glomb, Sententia plurimorum. Vgl. auch allgemein noch Monahan, Consent, Coercion, and Limit, und Quillet, Community, Counsel, and Representation. Repräsentation wird hier immer nur im Sinne einer ‚Identitätsfiktion‘ verstanden, die eine formale Zurechnungsregel ermöglicht. Remonstration 1639, fol. 7v; ähnlich auch ebd., fol. 6r/v, allerdings hier mit Bezug auf alle ‚zivilisierten‘ Gemeinwesen, in denen die sich Herrscher iederzeit in Landt und Leuth betreffenden Sachen mit völligem Corpori, also der Ständegesamtheit beraten würden. Im ersten Fall handelt es sich dann um Identitäts-, im zweiten um Stellvertretungsrepräsentation, vgl. dazu Hofmann, Der spätmittelalterliche Rechtsbegriff der Repräsentation in Reich und Kirche. – Wie oben 2.1.2. schon aufgezeigt, bezog sich Brunners berühmtes Diktum – „die Stände ‚vertreten‘ nicht das Land, sondern sie ‚sind‘ es“ (Brunner, Land und Herrschaft, S. 423) – gerade nicht auf die Identitätsrepräsentation, weshalb sich das im Haupttext gebrauchte ‚ist‘ vom Brunner’schen ‚ist‘ deutlich

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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von Ständegesamtheit und ‚Land und Leute betreffenden Sachen‘ wird eine Repräsentationsbeziehung implizit hergestellt, ohne aber gleichzeitig vom Text selbst explizit dargestellt zu werden. Damit ist auch die zweite Argumentation vollständig: Der Anspruch der Ständegesamtheit auf politische Partizipation im Rahmen allgemeiner Landtage mit ungestörter kollektiver Willensbildung ist gerechtfertigt, weil ein entsprechendes Herkommen sowohl in Hessen als auch in allen anderen relevanten Gemeinwesen nicht nur besteht, sondern auch gemeinwohlförderlich ist, weil die Ständegesamtheit in Ausübung dieser hergebrachten Rechte ‚Land und Leute‘ repräsentiert und daher qua ‚Identitätsfiktion‘ (Gierke) immer schon im allgemeinen Interesse handelt. Allerdings wird der durch die Repräsentation begründete Gemeinwohlbezug dabei nicht explizit behauptet oder begründet, sondern von den Verfassern als offenbar selbstverständlicher Bedeutungshorizont vorausgesetzt. Damit ist das Argumentationspotential der Remonstration von 1639 vollständig ausgemessen und kann in die allgemeine Entwicklung eingeordnet werden: Seit Ende der 1630er Jahre, also im unmittelbaren Anschluss an die endgültige Durchsetzung der landständischen Verfassung im normativen wie faktischen Register, 341 setzt ein Prozess ein, in dem die ständischen und ritterschaftlichen Vorrechte nun zusätzlich expliziert und argumentativ an das Gemeinwohl angeschlossen werden (sollten), was vor dem Hintergrund der geschilderten Veränderungen des

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unterscheidet. – An einer Stelle argumentieren die Ritter zudem, dass Verhandlungen zur Beendigung des Dreißigjährigen Krieges, die eine ein gantz Fürstenthumb anlangende Handlung darstellen, allzeit mit Ihrem [der Ständegesamtheit, TN] Vorbewußt verhandelt werden müßen, damit ihnen nichts zum unwiederbringlichen Nachtheil geschloßen, besondern dieselbe, welche ihre Nahrung, Leibs undt Lebens, Gut undt Bluth zu diesßem verheerenden, verzehrenden Kriege gestrecket (Remonstration 1639, fol. 8v). Man kann hierin ein Argument dafür sehen, dass es sich bei den Landständen um die pars valentior des Fürstentums handelt: Marsilius von Padua, Defensor Pacis, I, 13, 2, S. 70, bestimmt die valentior pars mit Verweis auf Aristoteles als denjenigen „Teil der Bürgerschaft, der die Erhaltung der Verfassung will“ (Aristoteles, Politik, Buch IV, Kap. 12, 1296b 15–16). Da also die valentior pars stets – und für Marsilius sogar notwendigerweise – das Wohl der Gesamtheit will, ist eine Repräsentationsbeziehung möglich: „Hoc autem est civium universitas aut eius pars valencior, que totam universitatem representat“ (Marsilius, Defensor Pacis, I, 12, 5, S. 65). Und da die Landstände, so die Verfasser der Remonstration, am meisten für das Gemeinwesen geopfert haben, haben sie ein Mitspracherecht bei den Verhandlungen, insofern sie – so könnte man argumentieren – durch diese Opfer ein Interesse am Gemeinwohl haben, was sie zur pars valentior und gleichsam ‚natürlichen‘ Repräsentanten macht. Vgl. oben 5.2.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

juristischen Diskurses einer Überführung dieser Gerechtsame in das entstehende ‚öffentliche Recht‘ gleichkommt. In diesem Prozess spiegelt sich nun auch die seit den 1620er Jahren bestehende Unausgetragenheit der landständischen Verfassung wider, denn die Ritterschaft legt im ersten greifbaren Dokument, der Remonstration von 1639, zwei Argumentationen vor, die nicht auf das gleiche Subjekt gerichtet waren: Während im ersten Teil der Remonstration das Recht auf Führung der Regentschaft der Ritterschaft beigelegt wird, wird danach das Subjekt ausgetauscht und im zweiten Teil die Ständegesamtheit als Träger des Rechts auf politische Partizipation bezeichnet. Es sollen also, mit anderen Worten, beide Kollektivakteure als personae publicae definiert und damit als Träger von auf das Gemeinwesen als Ganzes bezogenen Herrschaftsrechten gerechtfertigt werden. Um diese Teilidentifikation mit dem Gemeinwohl zu bewerkstelligen, werden für beide Subjekte Beweisstücke beigebracht, und im Vergleich zeigt sich zunächst, dass Herkommensbeweise in der Tat in beiden Argumentationen gleichermaßen eine zentrale Rolle spielen. Darüber hinaus aber stützt sich die Ritterargumentation 342 eher auf Objekte aus dem Bereich der ‚Vertragsbande‘, während im Rahmen der Ständeargumentation eine implizit bleibende Repräsentationsvorstellung die Beweislast trägt. Es ist also festzuhalten, dass die Ritterschaft (gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit juristisch geschulten Beratern) schon in ihrer ersten argumentativen Stellungnahme zum Umfang ständischer und ritterschaftlicher Rechte über ein differenziertes und über die Aneinanderreihung von Herkommensbeweisen deutlich hinausgehendes Argumentationsarsenal verfügte – und zwar Jahre vor Ausbruch des Deutungskonflikts. 343 Allerdings, so ist einschränkend hinzuzufügen, werden die Vertrags- und Repräsentationsbeweise noch nicht intensiv mit Belegen aus dem juristischen Diskurs verstärkt: Die Vertragsbeweise beschränken sich auf die Anführung der hessischen Normtexte (Testamente, Huldigungseid) und das Repräsentationskonzept bleibt vollends implizit; die zu Beginn und am Schluss des Textes angeführten Zitate aus juristischen Werken dienen eher der Rahmung denn der Argumentation. 344 342

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‚Ritterargumentation‘ meint hier abkürzend ‚Argumentation mit dem Subjekt Ritterschaft‘. Desgleichen wird von ‚Ständeargumentation‘ gesprochen, wenn eine ‚Argumentation mit dem Subjekt Ständegesamtheit‘ gemeint ist. Anders aber Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 320, und Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 247f. Zu Beginn wird Ciceros Pro Milone nach Hippolytus Riminaldus (Ippolito Riminaldi) zitiert. Am Schluss werden dann noch weitere Zitate von berühmten italienischen und französischen Juristen des 16. Jahrhunderts gebracht, nämlich aus den Werken von Jacob Menochius (Giacomo Menochio), Petrus Gregorius Tholosanus (Pierre Grégoire), Hie-

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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Die Spezifik des ritterschaftlichen Argumentationsarsenals, so ist darüber hinaus festzuhalten, verdankt sich weniger den angeführten Einzelargumenten, sondern der Tatsache, dass diese auf zwei verschiedene Subjekte ausgerichtet waren – die Ritterschaft und die Ständegesamtheit. Damit stellt sich aber die weitergehende Frage, was dieser Sachverhalt für die Kohärenz und den Aufbau der ritterschaftlichen Position im Ganzen bedeutet. Zunächst deutet einiges darauf hin, dass beide Subjekte Teil einer homogenen Gesamtargumentation waren: So leistet etwa der Aufbau eines durch Quellen gedeckten Erinnerungsraumes, zu dem es im Übergang vom ‚behaupteten‘ zum ‚belegten‘ Herkommen kam, für beide Subjekte gleichermaßen eine Retroprojektion ihrer korporativen Qualität: Im Prinzip waren sowohl die Ständegesamtheit als auch die Ritterschaft in ihrer 1639 gemeinten Form, also als auf Dauer gestellte politische Kollektivakteure, erst wenige Jahrzehnte alt. 345 In der Remonstration von 1639 aber ist von der uhralte[n] Ritterschaft und dem undäncklich jährige[n] hergebrachte[n] Modell der Fürstl. Heß. Landtagen, auf denen immer schon die Ständegesamtheit agiert habe, die Rede. 346 Und auch für die Verfasser der Remonstration scheint diese Konstellation unproblematisch gewesen zu sein, denn der Wechsel des Subjekts im Übergang vom ersten zum zweiten Teil der Remonstration wird nicht thematisiert. Dass hier aber gleichwohl eine systematische ‚Sollbruchstelle‘ vorliegt und es daher richtig war, zu betonen, dass sich die ritterschaftliche Position aus zwei eigenständigen Argumentationen zusammensetzte, die nur

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ronimus Gigas (Girolamo Giganti), Cardinalis Mandica (Franciscus Mantica) und Joan Cepaohus (Giovanni Cefali). In Bezug auf die Argumente sind sie jedoch wenig ergiebig, da nur Gemeinplätze über die Harmonie zwischen den Ständen, die Verteidigungsaufgaben des Adels und Löblichkeit der Verteidigung der eigenen Rechte zitiert werden, die in keinem inneren Zusammenhang mit den Argumenten stehen. Die Ständegesamtheit bildete sich in ihrer ‚landständischen‘ Form, also als verstetigter und normativ gegenüber den Einzelständen herausgehobener Kollektivakteur erst seit den 1590er Jahren, während die Ritterschaft als Kollektivakteur, der bei Bedarf auch außerhalb der landständischen Strukturen agiert, überhaupt erst seit den 1620er Jahren auftrat; vgl. für die Ständegesamtheit oben 4.1 und für die Ritterschaft 5.1.2. Remonstration 1639, fol. 2r und 6r; vgl. auch Neu, Von ständischer Vielfalt zu verfasster Einheit. – Diese Retroprojektion war extrem erfolgreich: Die hessischen Territorialstaatsrechtler des späten 17. und 18. Jahrhunderts konnten diese ständischen Selbstbeschreibungen um so leichter übernehmen, weil das hohe Alter der landständischen Verfassung auch im gelehrten Diskurs behauptet wurde. Und da sich die im frühen 19. Jahrhundert entstehende Ständeforschung bis heute sowohl konzeptionell als auch inhaltlich auf die Arbeiten des 18. Jahrhunderts stützt, was sich schon daran ablesen lässt, dass der im 18. Jahrhundert geprägte Terminus ‚landständische Verfassung‘ immer noch die orientierende Mitte der Ständeforschung bildet, konnte sich die Vorstellung eines sehr hohen Alters der landständischen Verfassung bis in die Gegenwart halten. Vgl. für die frühe Ständeforschung oben 2.1.3.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

sehr äußerlich zu einer heterogenen Gesamtposition zusammengefügt wurden, zeigt der Vergleich mit der Position der Städte. Den Anlass für die Formulierung einer landschaftlichen Argumentation bot der Streit um die Frage, ob die Ritterschaft zur Zahlung der Kontribution verpflichtet sei oder nicht. 347 Die monatlich zu zahlende und zur Finanzierung des Militärs dienende Kontribution war 1625 im Kontext des ersten Ständekonflikts nicht von der Ständegesamtheit, sondern einseitig von der Landschaft auf einem Städtelandtag bewilligt worden – weshalb sich die Ritter in der Folge nicht verpflichtet sahen, zu dieser neuen Steuer beizutragen. 348 Die Städte hingegen vertraten eine gegenteilige Auffassung und wandten sich während des Landtag von 1640, also nur kurz nach der Abfassung der Remonstration, mit einem Gravamen an die Regentin und baten, dass zukünftig auch die geist- undt adeliche Güther undt Capitalien, wie ohne das rechtens undt in andern benachbarten Chur- undt Fürstentümern üblich, zur Contribution gezogen werden sollten. 349 Amalie Elisabeth jedoch teilte den Städten mit, sie werde von der ersten Kurie zunächst eine schriftliche Erklärung zu dieser Frage einfordern, um dann gegebenenfalls weitere Maßnahmen ergreifen. 350 Einige Monate später, im Dezember 1640, übersandte dann die Ritterschaft den angeforderten Bericht und vertrat erwartungsgemäß die Position, dass wir vor unser Persohnen, sowohl alß unßer adeliche Güter undt Stiffter, von allen gemeinen bürgerlichen undt bauerlichen Beschwerlichkeiten eximiret sind. 351 Die 347

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Zur Kontribution vgl. Demandt, Die hessischen Stände im Zeitalter des Frühabsolutismus, S. 65–69; Hollenberg, Einleitung III, S. LX–LXIII; Ders., Landstände und Militär in Hessen-Kassel, S. 102–104. Zum Entstehungskontext vgl. oben 5.1.3. Die Ritter hatten zugestanden, dass die Kontribution von ihren Hintersassen erhoben wurde, sahen das aber als freiwilliges Zugeständnis an. Vgl. die Auseinandersetzung mit der Position in ‚Sämtliche Städte des Niederfürstentums Hessen an Regentin Amalie Elisabeth [o. O. 1642]‘, in: StAM 17 I Nr. 1764, unfoliiert, 22 S., S. 9f. ‚Absonderliche Gravamina der Städte [Präsentationsvermerk vom 30. April 1640]‘, in: StAM 5 Nr. 19151, fol. 7r–8v, fol. 7r. Zum Landtag von 1640, dem ersten nach der Rückkehr der Regentin nach Hessen, vgl. allgemein Hollenberg II, Nr. 88, S. 365–373; Rommel VIII, S. 563–572. Vgl. ‚Resolutio uf der Stätte absonderlich übergebene Gravamina. Kassel 1640 Juni 14‘, in: StAM 5 Nr. 19151, fol. 13r–15r, und ‚Regentin Amalie Elisabeth an Prälaten und Ritterschaft des Niederfürstentums Hessen. Kassel 1640 Juli 7. Konzept‘, in: ebd., fol. 17r. ‚Exception-Schreiben an IFG sambt Beilagen der Niederheßisch. Ritterschafft ca. die Stette in pto contributionis. o. O. 1640 Dez. 19‘, Abschrift, in: StAM 73 Nr. 164, S. 1–9, S. 2. Die Ritter übersandten vier Dokumente, mit denen sie beweisen wollten, dass sie in possessione liberatis seien (ebd.). Es wird also im wesentlichen mit dem Herkommen argumentiert. Da dieser Gegen-Bericht (ebd., S. 1) keine neuen Einblicke in das Argumentationsarsenal bietet, wird er hier nicht eigens analysiert.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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Landschaft erhielt eine Kopie dieses Berichts und reagierte darauf mit einem eigenen, 1642 der Fürstin übersandten Schriftsatz, in dem die städtische Rechtsposition zum ersten Mal ausführlich und mit vielen Belegen aus der juristischen Literatur dargelegt wurde. 352 Und dieses Dokument thematisiert ausdrücklich nicht nur das Verhältnis von Ritterschaft und Ständegesamtheit, sondern ermöglicht darüber hinaus noch einen tieferen Einblick in das ständische Argumentationspotential vor Ausbruch des zweiten Ständekonflikts. Die Ritter hatten in ihrem Bericht an die Regentin unter anderem argumentiert, sie könnten deshalb nicht zur Kontribution herangezogen werden, weil sie von ihren adelichen Güthern undt Stifftern die Lehndienste verrichten müßen undt also neben denem zugleich mitt den Contributionen atque adeo duplici onere nicht zu graviren wehren. 353 Und im Rahmen der Zurückweisung dieses Arguments äußern sich die Städte auch zum Status der Ritterschaft: Zunächst wird klargestellt, dass seit der Zeit Wilhelms V. faktisch weder Ritterdienste geleistet, noch die 1631 an Stelle dieser Dienste versprochenen 6 000 Rt. gezahlt worden seien. Die Städte fahren fort: 354 Gesetzt aber, daß die von der Ritterschaft undt andere Lehnleuthe zuweilen einen Ritter- oder Lehndienst verrichten müssen, so enthebt sie doch daselb in diesen das Vatterlandtt hohen Nöthen undt Kriegsanfechtung von der Contribut: gantz undt gahr nicht, sintemahl die servitia feudalia ex seculiari contractu et ratione feudalis obligationis, die Collectae aber ratione subjectionis personae vel quia bona in territorio principis collectantis sitae sunt, in diesen Fällen gefordert werden. 355

Die beiden Lasten könnten also deshalb nicht gegeneinander aufgerechnet werden, weil sie aus ganz unterschiedlichen Rechtsverhältnissen folgen, die Ritterdienste aus den besonderen Lehnsverträgen der Ritter, die Kontribution hingegen aus der allgemeinen Herrschaftsunterworfenheit aller Personen und Güter. Und weil diese Rechtsverhältnisse nebeneinander bestehen, können die Städte formulieren: Die gemeine Landtschafft ist auch nur unico vinculo, nemblich subjectionis, die Ritterschafft aber

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Vgl. ‚Sämtliche Städte des Niederfürstentums Hessen an Regentin Amalie Elisabeth [o. O. 1642]‘, in: StAM 17 I Nr. 1764, unfoliiert, 22 S. Ebd., S. 5. Im November 1631 bewilligte die Ritterschaft 6 000 Rt. als Ersatz für die geforderten Ritterdienste, vgl. ‚Abschied mit der Ritterschaft. Kassel 1631 Nov. 21‘, in: Hollenberg II, S. 312–314. ‚Sämtliche Städte des Niederfürstentums Hessen an Regentin Amalie Elisabeth [o. O. 1642]‘, in: StAM 17 I Nr. 1764, S. 6.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

duplice vinculo, subjectionis scilicet et simul feudi sive fidelitatis dem Fürstenthum afficiret. 356 Die Ritterschaft bildet also aus Sicht der Städte – in lehnsrechtlicher Hinsicht – eine eigenständige Korporation der adeligen Vasallen, ist aber gleichzeitig – in öffentlichrechtlicher Hinsicht – auch ein Landstand und als solcher nicht nur ein Teil der Ständegesamtheit, sondern der allgemeinen Untertanenschaft. 357 Der Schluss von der Landstandschaft einer Person oder Korporation auf deren Untertänigkeit gehörte schon im 16. Jahrhundert zum juristischen Standardrepertoire und sollte in der Literatur zur Landesobrigkeit sogar noch ausgebaut werden. 358 Diese von der Landschaft vertretene Auffassung einer, zugespitzt gesprochen, ‚doppelten Rechtspersönlichkeit‘ der Ritterschaft stützt nun die Erkenntnisse aus der Analyse der Remonstration von 1639, denn in dieser wurden die Rechte der Ritterschaft ja tatsächlich vor allem mit lehnsrechtlichen Beweisstücken und die Rechte der Ständegesamtheit mit der zwar implizit bleibenden, aber klar dem Bereich des ius publicum zugehörigen Repräsentationsbeziehung gerechtfertigt. Die beiden streitenden Landstände waren sich also zumindest darin einig, dass die Ritterschaft als eigenständiger Akteur tendenziell eher dem Bereich des Lehnsrechts zuzuordnen sei, als Teil der Ständegesamt-

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Ebd., S. 7. – Es ist bemerkenswert, dass hier nicht der Fürst, sondern das Fürstentum sozusagen als ‚Lehnsherr‘ angesprochen wird, dem die Treue des Lehnsmannes zu gelten hat. Diese Denkfigur ermöglichte es den Rittern später, nämlich in der zweiten Remonstration von 1647, eine unmittelbare Verknüpfung der Ritterschaft mit dem Gemeinwohl über Beweisstücke aus dem Bereich der Vertragsbande zu etablieren. Vgl. unten 5.3.4. Es handelt sich um eine öffentlichrechtliche Perspektive, weil die allgemeine subjectio die Entsprechung zur superioritas territorialis des Landesherrn darstellt; vgl. Besold, Synopsis Politicae Doctrinae, S. 34: „Constituitur Civitas, ac Politicum illud corpus, ex partibus principalioribus duabus: Imperantibus scilicet, qui capitis (ubi praecipua, & gubernans animae vis, sedem fixisse reputatur) ac Subjectis; qui reliquorum membrorum obtinent rationem“ (Hervorhebung im Original, TN). Die Ritter könnten nicht leugnen, daß sie Mit-Landt-Stände und also zugleich Consubditi dieses Fürstenthumbs oder Landtsaßen undt mitt den Stätten ein Corpus der Sämbtlichen Landständte sindt. (‚Sämtliche Städte des Niederfürstentums Hessen an Regentin Amalie Elisabeth [o. O. 1642]‘, in: StAM 17 I Nr. 1764, S. 3). Vgl. die in diesem Kontext stets angeführten Belegstellen: Gail, Tractatus de Manuum Iniectionibus, Impedimentis, sive Arrestis Imperii, Kap. 7, Nr. 14: „Veluti si quis ad indicta Comitia Provincialia saepius conceptis verbis vocatus, […] breviter in numerum Subditorum, & cathalogum Provincialium relatus“; Meichsner (Hg.), Decisionum Diversarum Causarum in Camera Imperiali Iudicaturum Adjunctis Votis & Relationibus, III, Decisio VI. – Dieser Schluss zeigt im Übrigen erneut, dass die Landstandschaft ein zweischneidiges Schwert war, weil mit ihr sowohl Rechte begründet als auch Pflichten behauptet werden konnten.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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heit aber eher dem neu entstehenden öffentlichen Recht, also dem Recht der Herrschaftsbeziehungen qua superioritas territorialis. 359 Strittig war hingegen, wie dieses ‚doppelte Band‘ der Ritterschaft sich in der Praxis auswirkte: Die Ritter sahen, wie die Remonstration von 1639 gezeigt hat, kein Problem darin, ihre politischen Partizipationsansprüche je nach Gelegenheit mal als Ritterschaft und mal als führender Teil der Ständegesamtheit einzufordern und diese beiden Status eng miteinander zu verbinden. Die Städte hingegen wollten erreichen, dass die Ritterschaft im Hinblick auf das Steuerwesen (und damit letztlich auch im Hinblick auf die landständische Verfassung) ausschließlich als Teil der Ständegesamtheit in Betracht komme. Auch der Streit um die Kontribution spiegelt also die fundamentale Unausgetragenheit der Verfassungsordnung wider. Zur Untermauerung der Position, dass im Hinblick auf die Kontribution nicht der privilegierte Vasallen-, sondern der allgemeine Untertanenstatus der Ritter ausschlaggebend sei, bedienen sich die Städte 1642 nun nicht nur des Herkommens und weisen die lehnsrechtlichen Beweise zurück, 360 sondern führen auch noch zwei neue ‚Beweistücke‘ in ihre Argumentation ein; Beweise, die schon im Forschungsüberblick erwähnt wurden, von den meisten Forschern aber ausdrücklich als ‚fürstlich‘ bewertet werden – necessitas und superioritas territorialis. Und erstere nimmt sogar eine herausgehobene Stellung ein, denn gleich der erste Satz des städtischen Arguments lautet: Alß können wier anfangs pro fundamento nostrae intentionis nochmahls nicht unangefügt laßen, daß in dießen undt dergleichen casibus extraordinariae et

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In der 1647 bei der Regentin eingereichten Erwiderung der Ritter auf die Eingabe der Städte von 1642 bringen die Ritter das auch ganz deutlich zum Ausdruck: Eß ist aber eben dieses in quaestione, ob die Jura territorii in dem Fürstenthumb Heßen sich so weit erstrecken, daß die adeliche Lehen- undt Gütter derentwegen die Ritterschafft zu den servitiis militaribus oder Ritterdiensten verpflichtet, uber daß noch mit Geldt-Steuren undt alßo duplici onere ohne vorgehende freye Bewilligung belegt werden mögen (‚Sämtliche Ritterschaft des Niederfürstentums Hessen an Regentin Amalie Elisabeth. o. O. 1647 Aug. 18. Abschrift‘, in: StAM 73 Nr. 164, S. 77–139, S. 124f.) – Die Unterscheidung ist allerdings nicht so klar zu ziehen, denn das Lehnsrecht wird durchaus auch im Rahmen des ius publicum behandelt. Aber es gehörte doch trotzdem nur zur den „Nebenquellen“ und sei nur „in Ermangelung eigentlicherer Hülfsmittel“ (Moser, Kürzere Einleitung in das teutsche Staatsrecht zum Gebrauch der Anfänger in dieser Wissenschaft, S. 12 und S. 13) heranzuziehen. Daher lässt sich die im Haupttext getroffene Unterscheidung rechtfertigen. Die Herkommensbeweise werden angeführt in ‚Sämtliche Städte des Niederfürstentums Hessen an Regentin Amalie Elisabeth [o. O. 1642]‘, in: StAM 17 I Nr. 1764, S. 11–20, und machen damit die rund die Hälfte des Textes aus. Die lehnsrechtlichen Beweise der Ritterschaft werden zurückgewiesen ebd., S. 5–11.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

extremae necessitatis publicae urgentisque belli […] niemandt von der Zusteuer eximirt, auch kein guht befreyet wirdt. 361

Diese Ausgangsposition wird dann im Folgenden mit zahlreichen Belegen aus der juristischen Literatur bestärkt, wobei insbesondere auf das seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts rasant anwachsende Schrifttum zum Steuerrecht zurückgegriffen wird: Zu nennen ist hier vor allem Caspar Klock, der „wichtigste Autor des 17. Jahrhunderts in Steuerfragen“, 362 auf dessen 1634 erschienenen Tractatus de contributionibus die Städte allein sechs mal verweisen. Aber nicht nur die steuerrechtlichen Spezialschriften werden ausgewertet, wie man der Allegation von Peter Heigius, Heinrich Bocer und Johann Wilhelm Rövenstrunck entnehmen kann, 363 sondern mit Joachim Mynsinger von Frundeck, Conrad von Einsiedel und Christoph Besold werden auch wichtige Autoren aus dem Kernbereich des ius publicum für den Zusammenhang von Steuern und Notstand herangezogen. 364 Auch die Handhabung des zweiten neuen Beweisstücks belegt die fundierte Kenntnis der einschlägigen Literatur auf städtischer Seite, denn die superioritas territorialis wird unter anderem mit Verweis auf Dietrich Reinkingk eingebracht, dessen Tractatus de regimine seculari et ecclesiastico von 1619 in der allgemeinen Reichspublizistik des 17. Jahrhunderts eine ebenso herausragende Stellung einnahm wie Klocks Werk im Steuerrecht. 365 Konkret wird die Landeshoheit etwa nutzbar gemacht, um eine ‚öffentlichrechtliche‘ Stellung der Ritter grundsätzlich zu bestreiten: Da nämlich nobilibus nulla collata est superioritas sive sublime jus territorij oder Landtshochheit, so seien die Edelleut selbst respectu principis so wohl

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Ebd., S. 1. Es handelt sich um den ersten Satz nach der Einleitung, in der die bisherigen Etappen des Streits rekapituliert werden. Schwennicke, „Ohne Steuer kein Staat“, S. 115. Vgl. Klock, Tractatus nomico-politicus de contributionibus in Romano-Germanicoimperio et aliis regnis ut plurimum usitatis; Heigius [Heige], Quaestiones Iuris Tam Civilis Quam Saxonici; Bocer, Tractatus de Iure collectarum; Rövenstrunck, Rechtliches Bedencken von Anlage, Contributionen, Kriegs Stewren und Schaden. Vgl. Mynsinger von Frundeck, Singularium observationum Iudicii Imperialis Camerae Centuriae quatuor; Einsiedel, Tractatus de Juribus ad Imperatoris Romano-Teutonici Majestatem pertinentibus, sive Regalibus; Besold, Consilia Iuridica. Vgl. Reinkingk, Tractatus de regimine seculari et ecclesiastico, die „erste große ‚Summe‘ des Reichs- und Territorialverfassungsrechts“ (Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, I, S. 218). Zusätzlich werden beispielsweise noch Gail, Tractatus de Manuum Iniectionibus, Impedimentis, sive Arrestis Imperii, und Rulant, De Commissariis Et Commissionibus Camerae Imperialis, genannt.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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undt nicht weniger Unterthanen undt Landsaßen, alß Ihre beywohnende Hindersaßen oder andere Unterthanen. 366 Hier wird nun die in Überblicksdarstellungen zum 17. Jahrhundert gelegentlich noch wiederholte Unterscheidung von ‚traditionalistischen‘ Ständen und ‚modernen‘ Fürsten vollends unhaltbar, denn die fürstlichen Räte haben das Argument der Landschaft für so schlagkräftig gehalten, dass sie Jahre später im Streit mit der Ritterschaft aus der städtischen Eingabe mehr oder weniger wörtlich abschrieben: Landschaftliche Eingabe 1642 (StAM 17 I Nr. 1764, S. 1 f.)

Fürstliche Duplik 1653 (StAM 255 H Nr. 139, fol. 11 v)

…, daß in dießen undt dergleichen casibus extraordinariae et extremae necessitatis publicae urgentisque belli […] niemandt von der Zusteuer eximirt, auch kein guht befreyet wirdt, […] undt gebühret sich nicht einen Stand vor dem anderen zu beschweren, sondern in allen Stendten Gleichheit zu halten, Mynsing: cent: 4. obs: 70 per tot: ubi communi totius Germaniae consuetudine, et in Camerali judicio ita receptum esse testatur Cristoph Besold: Consil. 79. num 54. 55. et seqq.

Dan in casibus extraordinariae et extremae necessitatis publicae urgentis belli […] niemandt von den Collecten undt Contributionibus eximiret, auch kein Guet befreyet wirdt, […] gebühret sich auch nicht einen vor den andern zubeschwehren, sondern Gleichheit zuhalten, docentibus id Mynsing: cent. 4. obs. 70. per tot. ubi communi totius Germaniae consuetudine et in Camerali judicio ita receptum esse, testatur Besold: cons. 79. n. 54. 55. et seqq.

Schon dieses Beispiel macht deutlich, dass der Ständekonflikt als Deutungskonflikt hinsichtlich seiner Verlaufslogik neu bewertet werden muss: Im Licht der in diesem Abschnitt vorgenommenen Rekonstruktion des ständischen Argumentationsarsenals wird deutlich, dass die argumentative Auseinandersetzung seit 1647 keineswegs dem Modell einer schrittweisen Ausdehnung durch die Einführung immer neuer Argumente folgte, dass also nicht zuerst die Ritter das Herkommen vorbrachten, die Regentin mit Notstand und Landeshoheit konterte und die Ritter als Untertanen klassifizierte, woraufhin die Ritter sich als Patrioten beschrieben, bevor es am Ende zu einer Lösung in Form einer fundamentalgesetzlichen Festlegung der ständischen Rechte und Integration des Notstands kam. Vielmehr lagen alle diese Elemente schon vor Ausbruch des Konflikts bereit: Der Bezug auf das Wohl des Vaterlandes war schon seit der ersten fassbaren argumentativen Rechtfertigung ritterschaftlicher Rechte 366

‚Sämtliche Städte des Niederfürstentums Hessen an Regentin Amalie Elisabeth [o. O. 1642]‘, in: StAM 17 I Nr. 1764, S. 10.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

1639 unhintergehbar; der unklare Subjektstatus der Ritterschaft kam ebenfalls schon in der ersten Remonstration zum Ausdruck und wurde von den Städten im Streit um die Kontribution explizit zum Thema gemacht; zuletzt waren mit Ausnahme der Politiktheorie 367 alle wesentlichen Objektbereiche, aus denen auch später die Beweisstücke stammten, – Herkommen, Vertragsbande, Korporationslehre, necessitas und superioritas – spätestens 1642 erkannt und genutzt worden. 368 Wenn ein Modell zur Beschreibung der Gesamtdynamik des Konflikts also nicht auf die Effektivität einzelner Elemente gestützt werden kann, liegt es nahe, stattdessen die vollständigen Argumentationen und ihre je spezifische Gestalt in den Mittelpunkt zu rücken, so wie es das Konzept der ‚Rechtfertigungsordnung‘ vorsieht. Es wird also zu fragen sein, ob sich der Konfliktverlauf als ‚Prüfung‘ deuten lässt, in deren Verlauf aus den soeben beschriebenen Elementen neue Argumente geformt wurden und an deren Ende sich Fürst und Ritterschaft auf eine Lösung verständigten, die der ‚stimmigsten‘ Argumentation entsprach. Der Aufbau eines innerständischen Argumentationsarsenals ist hier aber nicht nur nachvollzogen worden, weil er für die Deutung des sich zeitlich anschließenden Ständekonflikts als Hilfsmittel dienen kann. Vielmehr stellt dieser seit 1639 fassbare Prozess schon an sich eine wichtige Etappe im Entstehungsprozess der landständischen Verfassung dar, weil

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Unter ‚Politiktheorie‘ verstehe ich im Folgenden zusammenfassend alle gelehrten Spezialdiskurse, in denen politische Fragen in allgemeiner Hinsicht und daher in Absehung von der Praxis – also in Absehung von Herkommen, Vertragsbanden und positivem Recht – behandelt werden, also das, was oft auch ‚Staatsphilosophie‘, ‚politische Philosophie‘ oder ‚politische Sprachen‘ genannt wird. Zu den wesentlichen Schulen gehören in der Frühen Neuzeit der politische Aristotelismus, der Republikanismus, das ältere und jüngere Naturrecht, die Politica Christiana und der Tacitismus. Vgl. im Überblick Seresse, Politische Normen in Kleve-Mark während des 17. Jahrhunderts, S. 260–273, und allgemein Dreitzel, Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft, sowie insbesondere zum Problem der Klassifizierung dieser Schulen ebd., S. 167; vgl. auch Weber, Prudentia gubernatoria; Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts, I. Selbst mit den ‚fürstlichen‘ Beweisstücken des Notstandes und der Landeshoheit hatten sich die Ritter schon 1647 in ihrer Erwiderung auf die städtische Eingabe von 1642 auseinandergesetzt. Sie stellten in Frage, ob das ius territorii gegenüber dem Lehnsrecht vorrangig sei und beriefen sich darauf, dass ihre Steuerimmunität ‚notstandsfest‘ sei, weil sie durch (Lehns-)Vertrag zustande gekommen sei (per contractum et transactionem), quod regula nob: opposita immunitatem sc: non esse extendendam ad onera bellica et necessitatis casum etc: non procedat, si competat immunitas per viam contractus (‚Sämtliche Ritterschaft des Niederfürstentums Hessen an Regentin Amalie Elisabeth. o. O. 1647 Aug. 18. Abschrift‘, in: StAM 73 Nr. 164, S. 77–139, S. 114f.). Vgl. zu diesem Argument auch Mohnhaupt, Erteilung und Widerruf von Privilegien nach der gemeinrechtlichen Lehre vom 16. bis 19. Jahrhundert, S. 120.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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in seinem Verlauf das Verhältnis von faktischen Regeln und normativen Regelinterpretationen eine neue Qualität annahm. Die Regelinterpretationen, also die reflexiv auf das institutionelle Gefüge bezogenen diskursiven Praktiken mit normativem Anspruch, wiesen bisher insgesamt einen vornehmlich ‚behauptenden‘ Charakter auf: Unabhängig davon, ob es sich um Ansprüche handelte, die im Rahmen der institutionellen Praxis selbst erhoben wurden, wie etwa im Fall der normativen Zentrierung oder der Verfahrenskämpfe, oder um solche, die von ‚außerhalb‘ kamen, wie etwa im Fall des Testaments Philipps oder des Hauptaccords von 1627, stets wurde die Geltung dieser Ansprüche nicht weiter begründet, sondern mit Verweis auf hessisches Recht – geschrieben oder ungeschrieben – als weitgehend unproblematisch vorausgesetzt. 369 In den 1640er Jahren aber wurden die Regelinterpretationen nicht nur enorm vermehrt, sondern nahmen einen ‚argumentativen‘ Charakter an, wodurch eine Schnittstelle zwischen den bisher institutionsspezifischen Reflexions- und Interpretationspraktiken einerseits und theoretischen Spezialdiskursen andererseits etabliert wurde. Über diese Schnittstelle wurden nun abstrakte Deutungs- und Beschreibungsmuster zugänglich, die zunächst rein instrumentell dazu genutzt wurden, um ständische und ritterschaftliche Ansprüche zu rechtfertigen, die gerade nicht abstrakt, sondern das Produkt der ‚hessischen‘ Verfassungsgenese waren. Als sich diese Nutzung abstrakter Deutungsmuster allerdings immer weiter intensivierte, konnte es nicht ausbleiben, dass die Theoretisierung der Argumente (für die Ordnung) in eine Theoretisierung der Ordnung selbst umschlug. 370 Auf diesem Wege wurde eine ‚besondere‘, weil für Hessen

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Vgl. oben 5.3.3., wo die Belegstellen der bisherigen Untersuchung zum ‚behauptenden‘ Gebrauch des Herkommens zusammengestellt sind. Hier wird auch noch einmal deutlich, dass es keine einseitige Determination im Verhältnis von Norm und Sein gibt: Während der normativen Zentrierung gingen die strukturierenden Wirkungen von den Regelinterpretationen aus, während in den Verfahrenskämpfen die Regelmäßigkeiten der Praxis verändert werden sollten. Vgl. auch oben 3.2.3. für das Testament Philipps (und die Verträge, welche die im Testament verfügte Landesteilung abschlossen) und oben 5.2.1. für den Hauptaccord von 1627. Unter ‚Theoretisierung‘ verstehe ich jede Anwendung eines expliziten und generalisierten Beschreibungssystems. Eine solche liegt auch schon dann vor, wenn unter Verweis auf ein ‚generalisiertes Herkommen‘ behauptet wird, dass solche allgemeine nützliche deliberationes bey allen Kayßerthumben, Königreichen, Chur- undt Fürstenthumben, Graff-, Herrschafften undt Communen reichs- undt weltkündig sein (Remonstration 1639, fol. 8v). – Man könnte diesen Prozess auch unter dem Begriff der ‚Aneignung‘ diskursiven Wissens diskutieren, vgl. dazu konzeptionell Füssel, Neu, Doing Discourse.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

spezifische landständische Verfassungsordnung erstmals umfassend auf ‚allgemeine‘ Begriffe gebracht. 371 Das Auftreten eines solchen Theoretisierungsprozesses wird nun sicherlich durch Faktoren wie den Aufschwung von Reichspublizistik und politischer Philosophie, die Entwicklung des usus modernus und die allgemeine Verrechtlichung begünstigt, kann aber nicht allein auf äußere Umstände zurückgeführt werden, denn dann wäre nicht ersichtlich, warum etwa der Reichstag schon gut fünfzig Jahre früher theoretisiert wurde. 372 Vielmehr ist auch hier die institutionelle Eigendynamik entscheidend und das zentrale Stichwort lautet ‚Nachträglichkeit‘. Peter Moraw hat es auf den Punkt gebracht: „Erst als der Reichstag ausgeformt war, hat man die Theoretiker anzuhören begonnen.“373 Moraw bringt 371

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373

Es handelt sich um einen Fall von institutionellem Isomorphismus, vgl. DiMaggio, Powell, The Iron Cage Revisited. Bei DiMaggio und Powell geht es allerdings um einen ‚horizontalen‘ Isomorphismus, also zwischen Institutionen gleicher Art, während im Fall der landständischen Verfassung ein ‚vertikaler‘ Isomorphismus vorliegt, weil die hessische Verfassungsordnung zunehmend begrifflich als generalisierte landständische Verfassung im Sinne der Reichspublizistik gefasst wird. DiMaggio und Powell nennen drei „mechanisms of institutional isomorphic change“: „1) coercive isomorphism that stems from political influence and the problem of legitimacy; 2) mimetic isomorphism resulting from standard responses to uncertainty; and 3) normative isomorphism, associated with professionalization.“ (ebd., S. 150). Alle drei Formen lassen sich sich im hessischen Fall feststellen: Erstens zwingt die zunehmende Verrechtlichung dazu, die landständische Verfassung in juristisch-abstrakter Weise zu beschreiben; zweitens lässt sich durch den Anschluss an einen theoretischen Diskurs die Unsicherheit über die eigenen Ansprüche verringern; drittens führt die Inanspruchnahme professioneller Juristen und die teils vorhandene akademische Bildung von adeligen und städtischen Standespersonen zu einer Übernahme der professionellen, also generalisierten Wahrnehmungs- und Beschreibungskategorien. Die reichspublizistische Beschäftigung mit den Reichstagen beginnt mit den Werken von Paurmeister, De Iurisdictione Imperii Romani, Libri II (1608); Fomann, Bertram, De Comitiis Imperii Romano-Germanici (1615); Cranius, Griessheim, De comitiis Imperii Romano-Germanici (1619) (vgl. Härter, Ius publicum und Reichsrecht in den juristischen Dissertationen mitteleuropäischer Universitäten der Frühen Neuzeit, und, immer noch grundlegend, Schubert, Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der frühen Neuzeit). Die ersten Spezialtraktate zur landständischen Verfassung hingegen setzten erst nach der Jahrhundertmitte ein: Binn, Hugo, De Statu Regionum Germaniae, Et Regimine Principum Summae Imperii Reip. Aemulo (1661); Fritsch, Tractatio De Conventibus Provincialibus (1670); Hertius, Ehrhart, Dissertatio De Consultationibus, Legibus Et Iudiciis, In Specialibus Germaniae Rebuspublicis (1686) (vgl. Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes, S. 28–43). Moraw, Hoftag und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806, S. 9: „Die Entstehungsgeschichte bringt jedoch an den Tag, daß der Reichstag praktisch-pragmatisch herangewachsen ist und nicht theoretisch-‚politologisch‘ konstruiert wurde. So kann man jenen Gedankengängen höchstens flankierenden Charakter zusprechen. Erst als der Reichstag ausgeformt war, hat man die Theoretiker anzuhören begonnen.“

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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hier den gut belegten Sachverhalt zum Ausdruck, dass kollektive Sinnstiftung fast immer im Modus der Nachträglichkeit stattfindet, auf die fertige Form, nicht auf den Prozess der Formierung gerichtet ist. 374 Von daher ist es leicht erklärbar, dass die retrospektive Theoretisierung der landständischen Verfassung in Hessen in den frühen 1640er Jahren begann, denn erst kurz zuvor, Ende der 1630er Jahre, hatte sich die landständische Verfassung in Hessen-Kassel endgültig als allein maßgebliche institutionelle Form der fürstlich-ständischen Beziehungen durchgesetzt. 375 Das Auftreten eines Prozesses nachträglicher Sinnstiftung lag also in der Logik der Verfassungsgenese; die Auseinandersetzungen um die Beteiligung von Landständen und Ritterschaft an der Regentschaft Amalie Elisabeths boten den Anlass und die Veränderungen des Rechtsdenkens bedingten, dass die Sinnstiftung die Form einer juristischen Theoretisierung annahm. Folgerichtig wurden nun alle Strukturmerkmale der hessisch-landständischen Verfassungsordnung – die Zentralstellung und Verfahrensautonomie des allgemeinem Landtags, die Rechte der Ständegesamtheit und nicht zuletzt der ritterschaftliche Anspruch auf eigenständiges Handeln – sukzessive einer nachträglichen Neubeschreibung unterzogen und mit Denkfiguren und Deutungen verknüpft, erklärt und gerechtfertigt, die in der Entstehung dieser Merkmale keine relevante Rolle gespielt hatten. Eine derartige Theoretisierung ist zweischneidig: Einerseits wirkt sie ‚ermächtigend‘, weil die institutionellen Praktiken (bzw. die Ansprüche auf die Weiterführung dieser Praktiken) nunmehr mit Diskursen, Denkfiguren und Deutungen allgemeinerer Art verbunden und durch diese Verbindung auf eine Weise beschrieben werden können, die sie in eine Beziehung zum Gemeinwohl setzt und dadurch rechtfertigt. Gleichzeitig aber wirkt sie auch ‚beschränkend‘, weil diese Bezugnahme auf das Gemeinwohl eben nach der Logik der theoretischen Diskurse erfolgen muss. Und damit werden die normativen Regelinterpretationen von ihrem ursprünglich sehr engen Bezug zu den Regeln selbst abgelöst und stärker auf die theoretischen Diskurse hin orientiert, was sie nun in ein Spannungsfeld bringt, denn sie interpretieren die konkrete institutionelle

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Vgl. Weick, Sensemaking in Organizations, S. 24–30 und S. 15: „To talk about sensemaking is to talk about reality as an ongoing accomplishment that takes form when people make retrospective sense of the situations in which they find themselves and their creations“; vgl. Ortmann, Als Ob, S. 40–43. Vgl. oben 5.2.2. Die massiven Unterschiede hinsichtlich des Institutionalisierungsgrades zeigt auch Haug-Moritz, Reichstag, Schmalkaldische Bundestage, Ernestinische Landund Ausschusstage der 1530er Jahre als ständische Institutionen.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Praxis, tun das aber immer mehr nach den Maßstäben der theoretischen Spezialdiskurse. 376 Aber der aufgezeigte Sinnstiftungsprozess veränderte nicht nur die Gestalt der landständischen Verfassungsordnung, sondern hat auch Folgen für die jetzt anstehende Analyse des eigentlichen Ständekonflikts: Es konnte schon gezeigt werden, dass seit 1639 von den Ständen tatsächlich Rechtfertigungen entwickelt wurden; offen war aber bisher noch, ob sich auch der Ständekonflikt, in dem diese Argumente eingesetzt wurden, tatsächlich als ‚Prüfung im Rahmen einer Rechtfertigungsordnung‘ würde analysieren lassen. Dass sich aber der Aufbau des Argumentationsarsenals offenbar in Form einer nachträglichen Sinnstiftung vollzog, kann man als ein erstes Indiz dafür werten, dass der Ständekonflikt tatsächlich nach diesem Konzept verstanden werden kann, denn bei kollektiver Sinnstiftung geht es, so Karl E. Weick, um „plausibility, coherence, and reasonableness“ 377 – was der ‚Stimmigkeit‘ entspricht, die laut der Theorie der Rechtfertigungsordnung entscheidend für eine Einigung in einem Konflikt ist. Der 1647 ausgebrochen Ständekonflikt wurde bis 1655, wie schon mehrfach erwähnt, auf zwei Wegen ausgetragen: Zum einen im Wege eines Reichskammergerichtsprozesses, an dessen Beginn das mandatum sine clausula vom September 1647 stand und in dessen Verlauf mehrere und immer umfangreichere Schriftsätze entstanden; zum anderen im Wege direkter Verhandlungen im Rahmen von Landtagen oder eigens anberaumten Konferenzen, deren Protokolle ebenfalls mehrere hundert Seiten füllen. Weder der Gerichtsprozess noch die Verhandlungen können daher in ihrer Gänze dargestellt, geschweige denn in ihrer jeweiligen rechts- bzw. ständegeschichtlichen Relevanz umfassend gewürdigt werden – gefragt wird allein nach der Gesamtdynamik des Ständekonflikts.

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Aber auch in der umgekehrten Richtung gibt es Auswirkungen, denn die gelehrten Spezialdiskurse müssen sich durch diese Verknüpfung nun verstärkt mit einer institutionellen Praxis auseinandersetzen, die gerade nicht (oder noch nicht) nach ihren abstrakten Prinzipien arbeitet. Es kann daher nicht verwundern, dass Werke, die sich ausschließlich mit Fragen der landständischen Verfassung beschäftigen, erst nach der Mitte des 17. Jahrhunderts entstehen. Weick, Sensemaking in Organizations, S. 61: „The point we want to make here is that sensemaking is about plausibility, coherence, and reasonableness. Sensemaking is about accounts that are socially acceptable and credible.“

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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5.3.4 Der „Weg Rechtens“: Das Reichskammergericht und die Rechtfertigung in Reinform Wenn der Ständekonflikt adäquat als ‚Prüfung im Rahmen einer Rechtfertigungsordnung‘ beschreibbar ist, dann lautet die These hinsichtlich der Verlaufslogik des Konflikts – auch für seinen gerichtlichen Teil 378 –, dass die Parteien versuchen werden, die Stimmigkeit und Kohärenz ihrer Argumentationen zu maximieren. Weil nun die ‚stimmigste‘ Argumentation nicht mit einer der von den Prozessparteien tatsächlich vorgebrachten Argumentationen identisch sein kann – wäre das der Fall, hätte man die Streitigkeit unmittelbar beilegen können –, muss sie aus dem Vergleich der Parteiargumentationen erst erschlossen werden. 379 Ein solcher Vergleich darf nun nicht einfach die explizit angeführten Einzelargumente einander gegenüberstellen, weil man auf diese Weise nur die Gegensätzlichkeit der Parteiargumentationen sichtbar macht. Vielmehr müssen die Argumentationen hinsichtlich ihrer ‚Gestalt‘, also ihrer „inneren Strukturgesetze“ 380 miteinander verglichen werden, weshalb man nicht nur danach fragen muss, was gesagt wird, sondern auch danach, was nicht gesagt, aber vorausgesetzt wird; wo geschwiegen wird; welche Argumente nicht explizit zurückgewiesen, sondern ignoriert werden. Und dann wird sich zeigen, ob es eine potentielle Argumentation gibt, die mit beiden Parteiargumentationen verträglich ist und daher eine größere Stimmigkeit aufweist. Da also eine für beide Seiten im Prinzip zustimmungsfähige Argumentation synthetisiert werden soll, bietet es sich an, diesen ‚synthetischen Vergleich‘ anhand der typischen Elemente einer Rechtfertigung zu

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Vgl. für einen jüngeren Forschungsbericht Liebmann, Reichs- und Territorialgerichtsbarkeit im Spiegel der Forschung; vgl. auch die seither erschienenen Sammelbände Battenberg, Schildt (Hg.), Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten; Oestmann (Hg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit, und allgemein einführend Diestelkamp, Von der Arbeit des Reichskammergerichts. Für den hessischen Fall vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 191–211. Es sei an dieser Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es im Folgenden nicht darum geht, die genuin juristischen Argumentationsweisen im Kontext des zeitgenössischen Gerichtsverfahrens zu untersuchen (vgl. hierzu etwa Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht, und Cordes (Hg.), Juristische Argumentation – Argumente der Juristen), sondern darum, anhand der juristischen Schriftsätze die rechtfertigenden Argumentationen im Kontext des übergeordneten Deutungskonflikts zu rekonstruieren; es geht eben um Verfassungs-, nicht um Rechtsgeschichte. Vgl. Wertheimer, Über Gestalttheorie, S. 43, der ‚Gestalt‘ definiert als Zusammenhang, bei dem „sich das, was an einem Teil dieses Ganzen geschieht, bestimmt von inneren Strukturgesetzen dieses seines Ganzen“.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

organisieren. 381 Diese sind: das übergeordnete gemeinsame Prinzip, die Subjekte und die Objekte. 382 Der Prüfung unterzogen wurden dabei vor allem zwei Rechte, denn das im September 1647 erwirkte Mandatum inhibitorium et cassatorium hatte die Regentin verpflichtet, die Ritterschaft ohne dero vorgehende Einwilligung mit keinen Steuren, Schatzungen oder Ufflagen nicht [zu] beschwehren, auch die zue Ihrer Berathschlagung undt deß Landts Nottdurfft undt Wohlfahrtt, dem Herkommen nach angestelte Zusammenkünfften deß Corporis der Ritterschafft nicht [zu] behindern. 383 Die Parteiargumentationen, die im folgenden unter diesen vier Kategorien (Prinzip, Subjekte, Steuerrechte, Versammlungsrecht) miteinander verglichen werden, wurden dabei aus den wesentlichen Prozessschriften zusammengestellt (Tabelle S. 413). Als ‚übergeordnetes gemeinsames Prinzip‘, das als Maßstab für die Prüfung der Subjekte und ihrer Rechte herangezogen wird, dient immer eine Form des Gemeinwohls. Im Ständekonflikt stellte nun, darauf hat Robert von Friedeburg zu Recht mehrfach hingewiesen, 384 die Landeswohlfahrt die konkrete Form des Gemeinwohls dar: Alle Argumente gehen von der grundlegenden Annahme aus, dass zur Beurteilung von Ansprüchen jeglicher Art stets, in den Worten der fürstlichen Seite, des gantzen Vatterlandts Fried, Ruhe, Wohlfart und Bestes oder, wie die Ritter formulierten, des Vatterlandts Conservation und Wohlfahrt maßgeblich sein müssen. 385 Die grundlegende Bezugnahme auf das Landeswohl als übergeordnetes gemeinsames Prinzip strukturierte nun die zweite Kategorie, die Kategorie der Subjekte: Da nämlich der Gemeinwohlbezug im Zuge der fortschreitenden Dichotomisierung von öffentlichem und privatem Recht immer mehr auf den öffentlichrechtlichen Bereich konzentriert wurde, gab es damit im Prinzip nur noch zwei Klassen von Subjekten: Zum einen personae publicae, die zur Wahrung und Mehrung des Landeswohls berechtigt und verpflichtet waren und daher über politische Herrschaftsrechte verfügten, und zum andern personae privatae, für welche dies alles – ganz im ursprünglichen Wortsinne von privare – nicht zutraf. 381 382 383 384

385

Vgl. zum ‚synthetischen Vergleich‘ grundsätzlich Schieder, Möglichkeiten und Grenzen vergleichender Methoden. Vgl. grundsätzlich Boltanski, Thévenot, Über die Rechtfertigung, S. 196–201. Mandatum 1647. Vgl. Friedeburg, In Defense of Patria; Ders., Widerstandsrecht und Landespatriotismus; Ders., The Making of Patriots; Ders., Why Did Seventeenth Century Estates Address the Jurisdictions of Their Princes as Fatherlands?; Ders., Adel und ständische Vertretungen: Repräsentationen des Landes? Zitate: Duplik 1653, S. 121f., und Remonstration 1647, fol. 3r. Die beiden Wendungen sind aus zentralen Stellen der Schriftsätze entnommen, die Belege sind aber Legion.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655) Ritterschaftliche Schriftsätze 1647

Remonstration 1647 386

1647

Mandatum inhibitorium et cassatorium sine clausula 387

1651

Gutachten 388 Replik 390 Duplik 391

1653 1655 (1655)

Fürstliche Schriftsätze

Exceptiones sub- et obreptionis 389

1651 1652

413

Triplik 392 Entwurf Quadruplik 393

Tabelle 1: Schriftsätze im Kontext des Reichskammergerichtsprozesses 1647–1655 (kursiv gesetzte Schriftsätze wurden nicht beim RKG eingereicht) 386

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Abschriften in: StAM 5 Nr. 19147, fol. 2r–9r (= Remonstration 1647), StAM 73 Nr. 1816, unfoliiert, 12 S. (gekürzt), StAM 304 Nr. 199, unfoliiert, 15 S. Die Remonstration gehört, weil sie direkt an die Regentin gerichtet war, formal zu den direkten Verhandlungen. Sachlich aber gehört sie in den Kontext des gerichtlichen Verfahrens, weil sie den ersten Versuch darstellt, mit der fürstlichen Seite in einer juristischen Sprache zu kommunizieren. Mandatum 1647 (Speyer 1647 Sept. 4/14, in: StAM 304 Nr. 504; erneuert: Speyer 1649/50 Dez./Jan. 26/5, in: StAM 255 H Nr. 139, unfoliiert, 2 S., Abschrift in: StAM 73 Nr. 1816, unfoliiert, 7 S.). Es handelt sich im engeren Sinne nicht um einen ritterschaftlichen Schriftsatz, aber da das Mandat der Ritterschaft vorläufigen Rechtsschutz gewährt, wird es unter die ritterschaftlichen Schriftsätze gezählt. Gutachten 1651 ist undatiert. Mit Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 206, Anm. 182, ist davon auszugehen, dass Dr. David Berger es im Frühjahr 1651 erstellt hat. Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 304–307, datiert es hingegen auf 1648. Exceptiones 1651 (Präsentiert Speyer 1651 Jan. 7/17, in: StAM 255 H Nr. 139, unfoliiert, 28 S., Abschrift in AARK Repositur 6, Gefach 15, unfoliiert, 20 S.); vgl. dazu auch ein internes Gutachten der Ritter, wo jeder einzelne Artikel der Exceptiones kommentiert ist, in: StAM 73 Nr. 1816, unfoliiert, 4 S., und ‚Ohngefehrliche Nota uber die Articul welche in der am 17. Jan. 1651. zue Speyr ubergebenen Fürstl. Heßischen Exceptionsschrift sich befinden‘, in: AARK Repositur 6, Gefach 15, unfoliiert, 7 S. ‚Replicae in Sachen samptlicher Ritterschaftt des Nider-Fürstenthumbs Hessen, contra Hessen Cassel et cons.‘, präsentiert Speyer 1652 März 20/30, in: StAM 255 H Nr. 139, unfoliiert, 96 S. (= Replik 1652). Abschrift auch in AARK Repositur 6, Gefach 15, unfoliiert, 104 S. Präsentiert Speyer 1653 April 12/22, in: StAM 255 H Nr. 139, unfoliiert, 176 S. (Duplik 1653). Abschrift auch in AARK Repositur 6, Gefach 15, unfoliiert, 120 S. Dort auch ein ‚Überschicktes Bedencken einer Persohn von Speyer‘ (ebd., unfoliiert, 41 S.), das die Duplikschrift kommentiert. ‚Triplicae submissivae, in Sachen Niederhessische Ritterschaft contra Hessen Cassel‘, präsentiert Speyer 1655 Juni 16/26, in: StAM 255 H Nr. 140, unfoliiert, 76 S. (= Triplik 1655). Abschrift auch in AARK Repositur 6, Gefach 15, unfoliiert, 46 S.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Nun bestand kein Zweifel daran, dass der Landgraf zu den ‚öffentlichen Personen‘ gehörte, wohingegen der Status der beiden Kollektivakteure (Ritterschaft und Ständegesamtheit) umstritten war. Für die Ritter allerdings stand zu Beginn des Ständekonflikts eines außer Frage: Daß nun die Ritterschafft des Niederfürstenthumbß Heßen ein Standt deß Landes und ein licitum et approbatum Corpus et Collegium seye, welchem vermöge altem Herkommenß, auch algemeinem Gebrauch im gantzen Römischen Reich, auch vermöge ihrer abgestatteten Huldigung- und Lehenspflichten oblige, auff des Vatterlandts Conservation und Wohlfahrt ein wachendes Auge zu haben. 394

Dass die Ritter zuallererst darauf hinweisen, ein Standt deß Landes zu sein, entspricht der überragenden Bedeutung, die mit diesem Begriff verbunden war: So wie die Landesobrigkeit (superioritas territorialis) den Fürsten dazu diente, die heterogene Menge ihrer über Jahrhunderte akkumulierten Herrschaftsrechte in einem Begriff zu bündeln und handhabbar zu machen, so wurden analog dazu auch die Partizipationsrechte der politischen Führungsschichten der Territorien im Begriff der ‚Landstände‘ (status provinciales) zusammengezogen und verdichtet, so dass die Landstandschaft zum Inbegriff des Anspruchs auf politische Teilhabe und eine öffentlichrechtliche Stellung wurde: Es würden auch über daß die Stendte eines Fürstenthumbß, und sonderlich die Ritterschafft, wen sie nicht bemechtiget weren, Ihres genedigen Landtsfürsten und des Vatterlandts Schaden zu warnen und Bestes zu prüffen, nur den bloßen Nahmen der Landständte oder Statuum provincialium haben und ein umbra absque corpore sein. 395

Das ebenfalls aus der Remonstration von 1647 stammende Zitat macht aber nicht nur die Zentralität dieses Begriffs deutlich, sondern bringt auch erneut die Unausgetragenheit der Verfassungsordnung zum Ausdruck, denn es wird sowohl der Ständegesamtheit (die Stendte eines Fürstenthumbß) als auch der Ritterschaft eine öffentlichrechtliche Stellung zugesprochen – und zwar in beiden Fällen aufgrund ihres ‚landständischen‘ Charakters. 396 Die Ritter setzen also ihre schon seit der Remonstration 393

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‚Entwurff loco Quadruplicarum. [o. O., o. D.]‘, in: StAD E 2 Nr. 20/2, unfoliiert, 18 S. (= Entwurf Quadruplik 1655). Terminus post quem ist die im Text erwähnte Einreichung der Triplik vom Juni 1655. Terminus ante quem ist der Abschluss des Vergleichs im Oktober 1655, da die Ritter zusagten, den Prozess ruhen zu lassen (vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 89). Remonstration 1647, fol. 3r/v. Ebd., fol. 3v. Dass die Ständegesamtheit als Kollektivakteur gemeint ist und nicht nur die bloße Menge aller einzelnen Landstände, wird aus dem Kontext deutlich: Kurz vorher werden in der

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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von 1639 verfolgte Strategie fort, nicht zwischen den beiden Subjekten zu trennen und ihre Rechte je nach Gelegenheit entweder als einzelner Landstand oder als Teil der Ständegesamtheit zu beanspruchen. 397 Und daher gab es aus Sicht der Ritter in der Landgrafschaft drei personae publicae, eine individuelle und zwei kollektive: den Landgrafen, die Ständegesamtheit und die Ritterschaft. 398 Die Reaktion der fürstlichen Seite war radikal: Die Ritterschaft könne schon deshalb keine mit besonderen Rechten und Pflichten ausgestattete ‚öffentliche Person‘ sein, weil ihr nicht einmal der Status einer (juristischen) Person zukomme – und sie daher auch kein Träger von Rechten sein könne. Man behauptete also, dass die Ritterschaft gar keine Korporation sei und die Adeligen auch nicht beweisen könnten, daß sie die Jura alicujus universitatis oder Collegii vielweniger sigillum commune, und was dergleichen requisita mehr seind, iemalß authoritate et concessione principis oder sonsten gehabt oder noch haben. 399 Und weil die Ritter auch nicht alß ein corpus, sondern alß singuli, und zwar ein jeglicher absonder-

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Remonstration mehrere Beispiele angeführt, in denen es stets um Versammlungen der Ständegesamtheit geht. So wird etwa frei aus Neumayr von Ramsla, Von Schatzungen und Steuren sonderbahrer Tractat, S. 569, zitiert: Wie dan auch allen Communen undt Zünfften solches eben sowenig verwehret wirdt, ja es ist den Viertheylen in großen Städten, auch den Gemeinen uf den Dörffern, in Fällen, da die Obrigkeit etwas bey Ihnen suchet, die Zusamenkunfft vergönnet und nachgelaßen. Warumb solten es dan nicht die Ständte oder Außschues in einem Fürstenthumb thun, ohne daß sie zuvor dem Fürsten deßwegen ersuchen und ahnlangen müßen (Remonstration 1647, fol. 3r). Vgl. oben 5.3.3. Der Status der Prälaten und der Landschaft wird von den Rittern nicht explizit thematisiert. Die beiden anderen Landstände haben sich aber auch nie als eigenständige Korporation mit politischem Anspruch neben der Ständegesamtheit verstanden, worauf die fürstliche Seite auch hinwies, vgl. Entwurf Quadruplik, S. 3. – In heutiger juristischer Terminologie ist der Landgraf eine natürliche Person des öffentlichen Rechts, Ritterschaft und Ständegesamtheit juristische Personen des öffentlichen Rechts. Duplik 1653, S. 114. In den Exceptiones war die Existenz der Ritterschaft noch nicht grundlegend in Frage gestellt, sondern nur bezweifelt worden, dass der Prozess auch tatsächlich im Namen der Ritterschaft angestrengt worden sei; vgl. Exceptiones 1651, Einleitung: Alß unter dem Nahmen der sambtlichen Ritterschaft des Niederfürstenthumbs Heßen etzliche Unterthanen und Landsaßen […]; dieses Vorgehen lag gegenüber Kollektivakteuren immer nahe und wurde auch schon während der Vormundschaftskämpfe und im ersten Ständekonflikt 1625 angewandt. Im Entwurf der Quadruplik heißt es dann, nachdem der Ritterschaft erneut alle Korporationsrechte abgesprochen wurden: Sonstet mag wohl sein, daß die Ritterschafft certo aliquo respectu ein Corpus oder Standt ad differentiam des Praelaten und Landstandes titul, und eodem sensu, wie man den Adel, Bürger- und Baurenstandt, oder den geistlichen, weldtlichen und Haußstandt zu unterscheiden pflegt, genennet worden sein mag. (Entwurf Quadruplik 1655, S. 5). – Nach Harding, Landtag und Adligkeit, S. 211, führten landsässige Ritterschaften vor 1650 in der Regel keine korporativen Siegel.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

lich, zu den Landtägen und anderen ufwartungen beschrieben würden, 400 sei auch die ritterschaftliche Landstandschaft keine korporative, sondern eine individuelle Qualität. Für die Ritter als Individuen aber gelte, so die fürstliche Seite weiter, daß sie also der Fürsten zu Heßen unzweiffelich mit Ayd und Pflichten zugethane absolute Unterthanen und Landsaßen seyen. 401 Die Ritter unterschieden sich also in nichts von den anderen Untertanen und der folglich homogenen Untertanenschaft stehe allein der Landgraf gegenüber, den der Kaiser mit der Landeshoheit belehnt habe. 402 Und da diese als jus et exercitum summi post Imperatorem Imperii 403 zu verstehen sei, also als im Hinblick auf die Untertanen weitestgehend unbeschränkte Herrschaftsgewalt, könne schon der bloße Anspruch auf politische Teilhabe als Majestätsverbrechen gelten. 404 In Hessen, so musste man die fürstliche Sicht verstehen, gebe es nur eine einzige echte persona publica – den Landgrafen. 405 Hier tat sich nun ein grundsätzliches Problem auf: Die Ritter wollten und konnten nicht leugnen, dass sie ut singuli Untertanen der Landgrafen waren. 406 Gaben sie das aber zu, hatten sie damit gleichzeitig auch die superioritas territorialis als Beschreibungskategorie für die landgräfliche Herrschaft akzeptiert, weil die subjectio der Untertanen aus dieser abgelei-

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Duplik 1653, S. 114. Exceptiones 1651, Art. 5. Später ist vorsichtiger davon die Rede, die Ritter seien unmittelbahre Underthanen (Duplik 1653, S. 2). Vgl. Exceptiones 1651, Art. 1: Es sei wahr und bekannt, daß die Herren Landgraffen zu Heßen mit demselben Fürstenthumb und zugehörigen Graf- und Herrschafften zusambt der Landesfürstlichen Obirgkeit, Hoheit, regalibus iurae territorialis und allen andern Herrlich- undt Gerechtigkeiten […] belehnet sein. Vgl. auch Duplik 1653, S. 2. Ebd., S. 3, mit Verweis auf Reinkingk, Tractatus de regimine seculari et ecclesiastico, Buch 1, Klasse 5, Kap. 3. Vgl. so schon in aller Deutlichkeit Exceptiones 1651, Art. 49: Dan wahr und ungezweiffelten Rechtens ist, quod de rebus rempublicam concernentibus deliberare ad iura Principum et ius publicum pertineat, et qui se in eiusmodi regalia immiscent rei fiant L. Juliae Mai[esta]tis. Bei der lex Iulia maiestatis handelt es sich um ein von Augustus erlassenes Gesetz, in dem die Majestätsverbrechen bestimmt und unter Strafe gestellt wurden; vgl. Dig. 48,4,1 (Krüger, Mommsen (Hg.), Corpus Iuris Civilis, I, Digesten, S. 793). Wenn also schon das bloße Beraten von öffentlichen Angelegenheiten ein crimen laesae majestatis darstellt, dann ist damit gleichzeitig jeder politische Anspruch anderer Akteure abgewiesen. Vgl. auch Duplik 1653, S. 109: In Imperio Romano German: omnibus illis qui non sunt immeditati Imperii status quoniuam loco privatorum censentur. Vgl. etwa Replik 1652, S. 10: Diesem nechst ist nun hierin kein Streit […]. Eben so wenig auch 2) darin das die Rittterschafft, Anw[alts] Pr[inzip]alin, IFG Unterthanen und Landtsasen, auch dero Landtsfürstl. Hoheit und Obrigkeit unterworffen sey.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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tet wurde. 407 Daraus folgte nun der argumentative Zwang, auch die politischen Partizipationsansprüche der Ritterschaft mit Bezug auf die superioritas zu begründen, was allerdings nur möglich war, wenn es gelang, die strikte Obrigkeit/Untertanen-Dichotomie aufzusprengen. 408 Als es die Ritter aber dann tatsächlich unternahmen, ihren politischen Anspruch in einem ‚öffentlichrechtlichen‘ Kategoriensystem zu reformulieren, kam es zu einer entscheidenden Verschiebung innerhalb ihrer Argumentation, welche die Frage der personae publica vorentschied. Zu Beginn des Konflikts, in der Remonstration von 1647, hatten sich die Ritter vornehmlich auf die gemeinrechtliche Korporationslehre berufen, um ihren Status als universitas zu begründen, und darauf aufbauend Beweise aus den Bereichen des Herkommens und der Vertragsbande präsentiert, mit denen belegt werden sollte, dass die Ritterschaft auch ohne landesherrliche Genehmigung berechtigt sei, das Vaterland betreffende Angelegenheiten zu beratschlagen. 409 Als nun aufgrund der Akzeptanz der superioritas als Grundkategorie eine öffentlichrechtliche Neuformulierung nötig wurde, veränderten sie die Beweisführung und erweiterten den korporationsrechtlichen zu einem politiktheoretischen Hauptbeweis: Die neue Beschreibungskategorie aufnehmend wird zunächst behauptet, dass auch die Landtsfürstl. Obrigkeit ihre certos limites justitiae et aequitatis habe, also keineswegs so unbeschränkt sei, wie die fürstliche Seite vorgebe. Und zu diesen Beschränkungen gehöre vor allem, dass die Landeshoheit den Fürsten nur einen Principatus in specie gewähre, in quo graviora quaeque Senatui communicantur […] et omnino communicanda sunt. 410 Dies entspreche auch dem Normalfall, denn in allen Gemeinwesen Europas gäbe es einen 407

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Und daher heißt es in der Replik 1652, S. 9: Diesem nechst ist nun hierin kein Streit, das der Hr. Landgraffen zu Heßen F. F. G. G. von der Röm. Kay. Maytt. mit dero Fürstenthumben und Herrschafften, zusamet der Landesfürstl. Obrigkeit, Hoheit, Regalibus, jure territoriali investiret. So brachten die Ritter später vor, sie seien zwar Untertanen, aber ihre Untertänigkeit sei ‚modifiziert‘: Alßo Sr. Fr. Gn. hochfl. Herren Vorfahren subjectionis qualitatem at modificationem […] bey itzo klagenden Rittersmännern gar wohl erkandt habe (Triplik 1655, S. 13). Vgl. Remonstration 1647, fol. 2r–3r (korporationstheoretische Grundlegung), fol. 4r– 5r (Herkommensbeweise für die Berechtigung zum politischen Handeln), fol. 6r–7v (Beweise aus dem Bereich der Vertragsbande zur Bestärkung des politischen Anspruchs). Es ist hinzuzufügen, dass auch in der Remonstration an einigen Stellen schon politiktheoretische Versatzstücke auftauchen. Allerdings tragen diese noch nicht die Argumentation. Es wird etwa aus Althusius, Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata, zitiert, aber nur, um ganz allgemein darauf hinzuweisen, dass die optimates et officiales dem Gemeinwohl verpflichtet seien; vgl. Remonstration 1647, fol. 3v. Replik 1652, S. 11.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

solchen ‚Senat‘, der sich zwar aus Untertanen zusammensetze, aber als Korporation gleichwohl über politische Partizipationsrechte verfüge. 411 In den Reichsterritorien, so wird das Argument unter Bezugnahme auf Matthias Coler weitergeführt, stünden nun der Titel und die politischen Rechte eines Senats allein den Landständen zu. 412 Und abgeschlossen wird diese neue Beweisführung nun mit einer Begründung, die von Christoph Besold übernommen wird: Der Senat (lies: die Ständegesamtheit) müsse in allen des Landes Wohlfahrt und desen Ständen Gut und Blut betreffenden Angelegenheiten deshalb konsultiert und einbezogen werden, weil es vorteilhaft und angemessen sei, in eben diesen Fällen den consensum subditorum einzuholen. 413 Den Schlussstein des ritterschaftlichen Hauptarguments bildet also ein Konzept politischer Repräsentation, ein ‚Beweisstück‘ aus dem Bereich einer korporationstheoretisch fundierten Politiktheorie: Der Konsens der Landstände wird als Konsens der gesamten Untertanenschaft angesehen, die Handlungen eines Teils also der Gesamtheit zugerechnet. Und daher wird dann später in den ritterschaftlichen Prozessschriften auch explizit 411

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Vgl. Replik 1652, S. 12: Welcher Senatus bestehet in Collegio Civium vel subditorum, cui de Republica summamque eii concernentibus consulendi vel seorsim vel una cum Principe jure suo authoritas est. Verweis auf Goslicius [Go´slicki], De Optimo Senatore Libri Duo. Dieser hatte definiert: „Senatum autem appello, summum in Repub. magistratum ad consilia danda, et Rempub. gubernandam institutum: ex quo etiam et Senator dicendus est civis legitime constitutus in eo ordine, qui est ad gubernandam Remp. consiliaque danda destinatus.“ (ebd., S. 16). Bei Go´slicki wird die Stellung des Senats im Rahmen der Mischverfassungstheorie beschrieben. Der Senat steht zwischen König und Volk und fungiert im wesentlichen als eine Art Vermittler zwischen diesen. Allerdings sind die Rechte des Senats autochton und nicht von der Volksgesamtheit abgeleitet; in der Duplik hingegen wird zusätzlich ein Repräsentationsargument eingeführt, das so bei Go´slicki nicht auftaucht. Vgl. Coler, Tractatus De Processibus Executivis, In Causis Civilibus Et Pecuniariis, Teil 1, Kap. 3, Nr. 6, S. 100. Coler geht es an dieser Stelle darum, dass neue Gesetze auf Landesebene von den Fürsten nur „cum consensu tamen primariorum ordinum & statuum“ erlassen werden können (vgl. Replik 1652, S. 13). Coler selbst verweist dafür auf Bartolus, Comm. ad Dig. 1,1,9, wo dieser für die Beteiligung von „sapientes“, also ‚Wissenden‘, an der Gesetzgebung C. 1,14,8 anführt: Humanum esse probamus, si quid de cetero in publica vel in privata causa emerserit necessarium, […] id ab omnibus antea tam proceribus nostri palatii […] tractari et, si universis tam iudicibus quam vobis placuerit, tunc allegata dictari et sic ea denuo collectis omnibus recenseri et, cum omnes consenserint, tunc demum in sacro nostri numinis consistorio recitari, ut universorum consensus nostrae serenitatis auctoritate firmetur (Krüger (Hg.), Corpus Iuris Civilis, II, S. 68); vgl. zum Bezug auf diese Stelle eingehend Mohnhaupt, Die Mitwirkung der Landstände an der Gesetzgebung, S. 213–215. Bartolus selbst hatte diese Beteiligung nicht für zwingend gehalten. Replik 1652, S. 13, mit Verweis auf Besold, Collegii Politici Classis Posterior. De Republica In Omnibus partibus gubernanda, IX. Disputationibus, tractans.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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vom subditorum, vel eorum, qui subditos repraesentant der Landstände, consensu gesprochen. 414 Herkommen und Vertragsbande werden zwar weiterhin unterstützend angeführt, aber im Hinblick auf die Frage, wer als persona publica in Frage kommt, wurde für die Argumentation der Ritter der Bezug auf die politische Repräsentation zentral. 415 Diese Verschiebung innerhalb der ritterschaftlichen Argumentation ist ein gutes Beispiel für den oben erwähnten Sachverhalt, dass Theoretisierungsprozesse immer Ermächtigung und Beschränkung zugleich bedeuten. Ermächtigend wirkte der Anschluss an den Diskurs über politische Repräsentation, weil es den Rittern und ihren Beratern erst dadurch möglich wurde, ständische Gerechtsame auch im Rahmen des nunmehr akzeptierten Beschreibungssystems des öffentlichen Rechts zu rechtfertigen: Selbst dann nämlich, wenn die hergebrachten Herrschaftsrechte von Personen und Korporationen, die Untertanen waren, zunehmend mit der Begründung zurückgewiesen wurden, ihre Träger seien nur ‚Teile‘ des Territoriums, während allein der Fürst ein „Recht am ganzen Territorium“ 416 habe und daher persona publica sei, blieb immer noch ein weiterer potentieller Träger politischer Partizipationsrechte übrig – das Territorium selbst. 417 414

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Replik 1652, S. 33; vgl. auch ebd., S. 76: Und was universitas larga genennet würdt, kan von dem Fürstenthumb Heßen alß welches viele verschiedene districtus und Aempter in sich begreiffet, gar wohl verstanden werden. […] Deren alle darin gehörige Communes ac singulos etiam cives & subditos, qui collective sumpti vere proprie & realiter ipsa universitas sunt […] die Landstände representiren. Das heißt nicht, dass der Repräsentationsbeweis auch vom Umfang her die ritterschaftlichen Prozessschriften dominieren würde. Vielmehr nimmt die Präsentation der einfachen Korporationslehre (also ohne das Element der Repräsentation), des Herkommens und der Vertragsbande deutlich mehr Raum ein. Allerdings ist die Zentralität deutlich erkennbar: Sie zeigt sich erstens daran, dass sie nicht nur für den generellen politischen Anspruch der Ständegesamtheit (vgl. ebd., S. 9–15), sondern auch für die Beweisführung hinsichtlich der speziellen Steuer- (vgl. ebd., S. 33) und Selbstversammlungsrechte (vgl. ebd., S. 76) in Anspruch genommen wird. Zweitens eröffnet es die Replik von 1652, den ersten ausführlichen Schriftsatz der Ritter. Und drittens wird in dem undatierten Gutachten, das der Replik vorausging, die Frage der ständischen Herrschaftsbeteiligung sogar ausschließlich durch Führung eines Repräsentationsbeweises abgehandelt; vgl. Gutachten 1651, S. 1–9. Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, S. 124. In diesem Kontext werden die Begriffe ‚Land‘ und ‚Territorium‘ übrigens nicht scharf voneinander geschieden, vgl. schon Moser, Von der Teutschen Reichs-Stände Landen, S. 2: „Die Namen: Land, Territorium, Gebiet, Bezirck, District usw. haben keine ausgemachte und gewisse Bestimmung; dahero Land der eine so, der andere anderst gebrauchet.“ Vgl. auch Schubert, Der rätselhafte Begriff ‚Land‘ im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, und Bünz, Das Land als Bezugsrahmen von Herrschaft, Rechtsordnung und Identitätsbildung.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Dieses wurde nämlich von Rechtsgelehrten und Politiktheoretikern gleichermaßen, auch von den schärfsten Verfechtern der Landeshoheit, als universitas konzipiert, also als Korporation mit eigener Rechtspersönlichkeit. 418 Und auf diese Weise konnte man nicht nur „den Herrscher und die Gesamtheit […] zueinander in ein Verhältnis gegenseitiger Rechte und Pflichten setzen“, 419 sondern auch die ständischen Herrschaftsrechte rechtfertigen: Wenn nämlich die Ständegesamtheit in bestimmten Fällen das korporativ verfasste Land repräsentierte und dann im Namen aller Untertanen handelte, dann war klar, dass ihr in dieser Funktion notwendigerweise der Status einer persona publica zukam, weil eben die ‚Land und Leute‘ betreffenden Angelegenheiten den Gegenstand der territorialen salus publica bildeten. 420 Gleichzeitig wirkte die argumentative Neuausrichtung aber auch beschränkend, denn der Repräsentationsbeweis ließ sich nur für eines der 418

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Vgl. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, III, S. 693: „Auch für die Territorien daher blieb zwar die Korporationstheorie von großer praktischer Erheblichkeit. Wenn es sich von selbst versteht, daß reichsunmittelbare Stifter und Städte als Korporationen behandelt und als solche in gleicher Weise, wie ihre landsässigen Genossinnen, den Regeln der Doktrin unterstellt wurden: so wandte man fort und fort auch auf die landesherrlichen Staaten Begriff und Recht der universitas an.“ Vgl. schon Dig. 50,16,239,8: territorium est universitas agrorum intra fines cuiusque civitatis, quod ab eo dictum quidam aiunt, quod magistratus eius loci intra eos fines terrendi, id est summovendi ius habet (Krüger, Mommsen (Hg.), Corpus Iuris Civilis, I, Digesten, S. 867), und zeitgenössisch Reinkingk, Tractatus de regimine seculari et ecclesiastico, Buch 1, Klasse 5, Kap. 1, Nr. 5: „Et ita territorium quibusdam dicitur universitas ditionis, quae specialem habet titulum, & ad unius justam administrationem respicit“; Minge, De Superioritate Territoriali, Kap. 1, Nr. 18, S. 631: „quae diffunditur per universum territorium, quod alicui competit, tanquam Corpus omnia ejus membra, quae intra fines istius universitatis continentur.“ Vgl. auch Sellin, Regierung, Regime, Obrigkeit, S. 394; Walz, Stände und frühmoderner Staat; Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, IV, S. 244. Es ist kein Zufall, dass sich die Ritter so häufig auf Besold beziehen, denn seinem Werk konnte man die soeben rekonstruierte Beweisführung ohne große Umstände entnehmen: 1. Das Territorium ist korporativ verfasst: „Proinde territorium est Universitas, hoc est, collectio quaedam Juris intellectu; non tam unitio corporum, seu agrorum.“ (Besold, Dissertatio de Jure Territorium, S. 266); 2. Die Korporation kann Rechte besitzen: „Parum autem est, Universitates, seu communitates habere bona, res, Privilegia, & alia Jura; nisi sint Officiales, qui ipsas regant & administrent.“ (Ders., Dissertatio de Jure Universitatum, S. 241); 3: Die Korporation kann repräsentiert werden: „Consilium hocce Civitatis, vel cujuslibet alterius Universitas, totum populum repraesentat.“ (ebd., 242); vgl. auch allgemein Ders., Thesaurus Practicus, s.v. ‚Landschaft/Landständ‘, S. 520f.: „In mehrer theils Fürstenthumen ist ein sonderbare Landschafft: constans fere ex Praelatis seu Ecclesiasticis, Nobilibus & oppidorum Deputatis, qui vocantur LandStänd / & et eorum Conventus Landtäg […]. Nam Ordines habent multa Privilegia, possunt intercedere, in gravioribusque causis consuluntur.“

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beiden in Frage stehenden Subjekte führen – die Ständegesamtheit. Nur hinsichtlich dieses Kollektivakteurs lag nämlich eine hinreichende ‚Passung‘ zwischen institutioneller Praxis und theoretischen Diskursen vor. Spätestens seit der Mitte des 16. Jahrhunderts, also noch vor der Entstehung der landständischen Verfassung im engeren Sinne, kam allein der Ständegesamtheit in bestimmten Fällen eine Repräsentationsfunktion zu, auch wenn diese nicht theoretisch expliziert wurde: Während Ritter- und Städtelandtage nur ständische Sondersteuern bewilligten, war es allein der Ständegesamtheit vorbehalten, ‚Land und Leute‘ zu Steuerleistungen zu verpflichten. 421 Als dann im Umbruch zum 17. Jahrhundert die ebenfalls allgemeinverbindliche Landrettungssteuer ‚erfunden‘ wurde, rückte die repräsentativ handelnde Ständegesamtheit endgültig in das Zentrum der im Entstehen begriffenen landständischen Verfassungsordnung. 422 Und es war diese faktische Repräsentationsbeziehung zwischen Ständegesamtheit und Land, die noch in der ersten Remonstration (1639) zugunsten der Rechte der Ständegesamtheit implizit vorausgesetzt worden war. Gleichzeitig war auch in der juristischen und politiktheoretischen Literatur stets von ‚den Landständen‘ die Rede, wenn es um die Repräsentation der Untertanen ging, womit die Ständegesamtheit und nicht einfach nur die bloße Menge der Einzelstände gemeint war. 423 Damit konnte das bisher implizite Repräsentationsverhältnis zwischen Ständegesamtheit und Land theoretisiert, nachträglich im Sinne der korporationstheoretisch fundierten Repräsentationslehre expliziert und für die Rechtfertigung der politischen Teilhaberechte der Ständegesamtheit nutzbar gemacht werden. Die Beschränkung des Repräsentationsbeweises auf die Ständegesamtheit war nun außerordentlich misslich für die Ritter, da diese in erster Linie daran interessiert waren, ‚die Ritterschaft‘ als eine persona publica eigenen Rechts auszuweisen, während sie auf die Ständegesamtheit und deren Rechte immer nur hilfsweise zurückgriffen. Nichtsdestoweniger müssen 421 422 423

Vgl. oben 3.2. Vgl. oben 4.1. und 4.2. Hier ist vor allem die steuerrechtliche Literatur einschlägig, weil der Repräsentantenstatus der Landstände zunächst in diesem Kontext entwickelt wurde; vgl. Schwennicke, „Ohne Steuer kein Staat“, S. 64–66 und S. 142–147. Vgl. zeitgenössisch etwa den ‚locus classicus‘ bei Bocer, Tractatus de Iure Collectarum, Kap. 4, Nr. 8, S. 33: „Hae autem Collectae Provinciales imponuntur adhibitio Subditorum consensu, vel eorum, qui subditos repraesentant, ut sunt: die Land-Stände.“ Für den hessischen Fall ist hier das Gutachten einschlägig, das die Ritterschaft wahrscheinlich Anfang 1651 in Auftrag gab. Der betreffende Jurist argumentierte nämlich fast ausschließlich mit der Ständegesamtheit und bezeichnenderweise ist der Teil, wo es explizit um ein ritterschaftliches Recht geht, der kürzeste. Vgl. Gutachten 1651.

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die entscheidenden Personen der Meinung gewesen sein, dass auf das Repräsentationsargument nicht verzichtet werden könne, was man auch daran erkennt, dass eine begriffliche Verschiebung in den ritterschaftlichen Schriftsätzen erkennbar ist, in deren Verlauf immer häufiger von den Landständen die Rede ist, weil die Rechte der Ritterschaft zunehmend durch Analogieschlüsse aus den Rechten der Ständegesamtheit gefolgert werden. 424 Und tatsächlich hatten die Ritter und ihre Rechtsbeistände mit der politischen Repräsentation einen überaus ‚stimmigen‘ Beweis geführt, wie die Reaktion der fürstlichen Seite zeigte. Diese reagierte nämlich – überhaupt nicht. Während die Bestreitung des Korporationsstatus der Ritterschaft und die Betonung der Untertänigkeit der einzelnen Ritter breiten Raum einnehmen, wird das Thema der politischen Repräsentation an keiner Stelle der fürstlichen Schriftsätze auch nur ansatzweise aufgegriffen; weder die Beschreibung des ‚Vaterlandes‘ als universitas, noch die repräsentative Stellung der Ständegesamtheit werden explizit bestritten. 425 Ganz im Gegenteil wird sich bei der Behandlung der Steuerfragen zeigen, dass die fürstliche Seite sogar den korporativen Charakter der Ständegesamtheit herausstrich, um daraus ein Argument gegen die Ritterschaft zu gewinnen. Das fürstliche Schweigen in diesem Punkt belegt eindeutig, dass sich ein Bezug auf das Gemeinwohl und damit der Anspruch auf politische Teilhabe auch im neuen, öffentlichrechtlichen Beschreibungssystem nicht nur mit der summa potestas, sondern auch mit einem Repräsentationsbeweis kohärent und stimmig rechtfertigen ließ. Damit lässt sich auch für die Kategorie der Subjekte der Bereich des Stimmigen abstecken: Im Rahmen der Logik des sich ausbildenden ‚öffentlichen Rechts‘ konnte auf territorialer Ebene neben dem Landesherrn im Prinzip nur den Landständen der Status einer persona publica zugesprochen werden. Der Fürst war Herrschaftsträger kraft seiner Landeshoheit, die Ständegesamtheit kraft ihrer Landesrepräsentation. Und hier, in der Frage nach der theoretischen Begründbarkeit von Herrschaftsrechten, ist die Bezeichnung ‚Dualismus‘ und die Verwendung der Terminologie Gierkes weiterhin angemessen, denn in der Tat sind in diesem Rahmen nur zwei politische Positionen denkbar, einerseits die „herrschaftliche Herrschaft“ über das Land und andererseits die „genossenschaftliche Herrschaft“ im Namen des Landes. 426 424 425 426

Vgl. Replik 1652, passim, und Triplik 1655, passim. Vgl. Duplik 1653 und Entwurf Quadruplik 1655. Die Begriffe nach Brunner, Bemerkungen zu den Begriffen ‚Herrschaft‘ und ‚Legitimität‘, S. 70. Vgl. auch Isenmann, Die städtische Gemeinde im oberdeutsch-schweizerischen Raum (1300–1800), der diese Begriffe ebenfalls aufnimmt. Wenn ich mich hier

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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Damit zeichnete sich ab, dass der Anspruch der Ritterschaft auf eigenständiges politisches Handeln argumentativ nicht zu halten sein würde. Und angesichts des Auseinandertretens der beiden Rechtsbereiche musste das zur Folge haben, dass die Ritterschaft nur noch als persona privata ohne konstitutiven Gemeinwohlbezug auftreten und ihre Herrschaftsrechte – nunmehr bloße Privilegien – wesentlich schlechter vor einer Zurückdrängung durch den Landesherrn schützen konnte. Die im Verlauf des Reichskammergerichtsprozesses forcierte Theoretisierung der Verfassungsordnung stärkte zwar die Ständegesamtheit, untergrub aber letztlich den Anspruch der Ritterschaft auf eigenständiges politisches Handeln – eben jener Ritterschaft, die den Prozess überhaupt erst angestrengt hatte. Die argumentative Verschiebung hin zu einer repräsentationstheoretischen Fundierung der rechtfertigenden Argumentation hatte nun entscheidende Auswirkungen auf die Diskussion der beiden konkreten Rechtsmaterien. Jetzt nämlich präjudizierte der Umstand, welcher Kollektivakteur jeweils als Rechtsträger fungierte, die Beweisführung: Aufgrund des prekären Subjektstatus würden sich ritterschaftliche Rechte deutlich schwieriger begründen lassen, während Rechte der Ständegesamtheit von deren verstärktem Gemeinwohlbezug profitieren konnten. Und da die Diskussion der beiden konkreten Rechtsmaterien in der Forschung bisher im Zentrum stand, kann die Analyse hier kürzer gehalten werden als im Fall der Bestimmung der Subjekte, weil nun nur noch zu prüfen ist, ob und gegebenenfalls wie sich die oben geschilderte Tendenz auch hier zeigt. Damit geht es nun drittens, nach der Feststellung des übergeordneten Prinzips und der Bestimmung der Subjekte, um die Fragen des Steuerrechts. Wie die Ritter in ihrer Triplik von 1655 selbst feststellten, wurden in diesem Kontext eigentlich zwei unterschiedliche Fragen verhandelt: 1. Ob nicht so wohl die Reichs- und Craiß-, als auch die Landes-Steuren vermöge der Rechte und constitutionen den Reichs- und Landt-Ständen, specifice aber auch wegen Herbringens im Fürstenthumb Heßen der Ritterschafft aldar, durch die gnädige Landes-Obrigkeit oder dero hiertzu Deputirte proponiret, darüber deliberiret und von den Ständen modi distributionum wie auch das quantum resolviret und debadiret werden müße? […] 2. Ob in specia die Ritterschafft des Fürstenthumbs Heßen Caßel wegen Ihrer eigenen adeliche Gueter mit einigerley Collectationen zu belegen und consequenter die controvertirte viertaußendt Malter Frucht mit Rechte von Ihr, auf diese Begriffe beziehe, dann ohne die zusätzliche normative Verbindung, die Gierke zwischen Herrschaft und Einheit einerseits und Genossenschaft und Freiheit andererseits hergestellt hat; vgl. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, I, S. 1. – A. A.a.a. Blickle, Kommunalismus, der in einer Art ‚Neo-Gierkeanismus‘ das freiheitliche und egalitäre Potential genossenschaftlicher Vergemeinschaftungsformen betont.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

der Niederheßischen Ritterschafft zuefordern oder gar zue exigiren geweßen sein? 427

Auch in diesem Punkt sind wieder beide Kollektivakteure involviert: Das Recht der Steuerbewilligung stehe der Ständegesamtheit zu, während die Ritter darüber hinaus noch eine umfassende Steuerimmunität für die von ihnen selbst genutzten Güter genössen. 428 Zunächst spielt die Tatsache der unterschiedlichen Subjekte jedoch keine Rolle, denn gegen beide Rechte brachte nun die fürstliche Seite gleichermaßen die necessitas in Stellung: Man müsse grundsätzlich zweyerley Zeiten, nemblich des Friedens undt brennenden Kriegs, ubi necessita non habet legem & in mora summum periculum ist, consideriren. 429 Nun seien aber, so die fürstliche Seite weiter, weder das Steuerbewilligungsrecht noch die Steuerimmunität ‚notstandsfest‘. Und daher sei es bei Vorliegen einer necessitären Situation nicht nur möglich, Steuern und Kontributionen auch ohne Bewilligung durch einen vorhergehenden Landtag auszuschreiben und einzutreiben, sondern auch geboten, die Güter der Ritter ebenfalls der Leistungspflicht zu unterwerfen. 430 In den Abschnitten der fürstlichen Prozessschriften, die sich mit dem Steuerrecht befassen, werden tatsächlich in exzessiver Weise Notstandsbeweise herangezogen – auf fast jeder Seite werden in immer neuen Wendungen die unmittelbare Gefährdung des Gemeinwohls und der daraus resultierende Ausnahmezustand beschworen. 431 Nun hat die jüngere 427 428

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Triplik 1655, S. 26f. Die Steuerbefreiung galt nur für die von den Rittern selbst genutzten Güter, die später so genannten ‚Tafelgüter‘. Für vermietete oder verpachtete Güter mussten hingegen Steuern bezahlt werden, also im wesentlichen von den Hintersassen, die von den Rittern selbst eingezogen und an den ritterschaftlichen Steuerobereinnehmer abgeführt wurden; vgl. Hollenberg, Einleitung III, S. LXIII. Wie erwähnt, ließen die Ritter ihre Hintersassen auch zur Kontribution heranziehen, sahen das aber als eine freiwillige Leistung an. Entwurf Quadruplik, S. 8; vgl. auch Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 262–269; Seresse, Politische Normen in Kleve-Mark während des 17. Jahrhunderts, S. 242–259. Maruhn sieht allerdings den Verweis auf die „necessitäre Prärogative des Landesherrn im Mittelpunkt der juristischen Ausführungen der fürstlichen Seite“. Tatsächlich aber ist sie nur für die steuerrechtlichen Fragen von zentraler Bedeutung. Vgl. Exceptiones 1651, Art. 16: So ist doch wahr und denenselben eben nicht benommen […], ob publicam utilitatem, vel belli etiamque extremam necessitatem et summum in mora periculum ohne solche Beschreibung [sc. eines Landtag, TN] ihren Unterthanen und Landsaßen notwendige Contributiones und Anlagen zu indiciren und von ihnen zu exigiren; und ebd., Art. 28: Dan wahr bekandten und unstreitigen Rechtens, quod tempore necessitatis et belli quaecumque privilegia cessent et necessitate impendente nemo excusatur omniumque cesset immunitas. Ähnlich in Duplik 1653, S. 20 und S. 39. Ein Beispiel: Die Behandlung der Steuerfragen beginnt in Duplik 1653 auf S. 9. Auf den folgenden Seiten tauchen unter anderem auf: belli tempore; urgentibus reipubli-

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Forschung zu Recht herausgestellt, dass die necessitas gegen Mitte des 17. Jahrhunderts in vielen Reichsterritorien zum „fürstlichen Kampfbegriff gegen die Stände“ wurde. 432 Und auch die hessischen Ritter und ihre Berater waren kaum in der Lage, Beweise dafür beizubringen, dass zumindest Steuerbewilligung und -immunuität notstandsfest seien. Weil also die Befugnisse des Fürsten im Ausnahmezustand offenbar nicht genauer eingegrenzt werden konnten, bemühten sich die Ritter stattdessen um den Nachweis, dass ein solcher Zustand nie eingetreten sei. Schon in normativer Hinsicht müsse nämlich der Notstand von Fürst und Ständegesamtheit gemeinsam auf einem Landtag festgestellt werden – was nicht geschehen sei. 433 Aber auch faktisch habe zum Zeitpunkt der Getreideforderung 1647 kein Notstand vorgelegen, weil das benötigte Getreide auch auf anderem Wege zu beschaffen gewesen wäre. Außerdem versuchte man die fürstlichen Argumente dadurch zu desavouieren, dass man unterstellte, die Necessität würde nur zum Schein und Praetext dabey vorgenommen, in Wirklichkeit ginge es darum, dass die Landstände entmachtet und in eine umbra sine ullo effectu verwandelt, die Ritter ihrer Gerechtigkeiten privirt und letztendlich ein absolutus dominatus introducirt werden sollte. 434 Letztlich aber, darauf wies auch schon Maruhn hin, hatten die Ritter dem Verweis auf die Notstandsbefugnisse wenig entgegenzusetzen, 435 so dass geschlossen werden kann, dass in diesem

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cae necessitatibus (S. 9), casu necessariae patriae defensionis (S. 10), causa utilitatis et necessitatis publicae, ut pacis defensionis (S. 18), in casibus extraordinariae et extremae necessitatis (S. 20), territorii necessitate urgente (S. 21), imminentem necessitatem (S. 22), ratione necessariae defensionis patriae (S. 28) necessitatem et salutem patria (S. 29). Die Aufzählung ließe sich leicht weiter fortführen. Seresse, Politische Normen in Kleve-Mark während des 17. Jahrhunderts, S. 247. Auch Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 267, spricht von einem „Kampfbegriff“. Vgl. in diesem Zusammenhang auch früh schon Fürbringer, Necessitas und Libertas. Vgl. etwa Replik 1652, S. 41: droben ist ex Cominaeo, Buxtorf. et aliis schon angeführet, non solum necesse esse publica necessitas ut adsit, sed et eam publice ordinibus approbandam eorumque consensum omnino impetrandum. Zitate: Replik 1652, S. 40; vgl. hierzu eingehend Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 264–266 und S. 272: „In ihren späteren Prozessschriften zielte die Ritterschaft darauf, einerseits das Vorliegen einer Notstandslage zu leugnen und andererseits den unverhältnismäßigen, rechtsfeindlichen Charakter der necessitären Prärogative bloßzustellen: Sie führe geradewegs zur faktischen Abschaffung der Landstände und zur Errichtung eines ‚dominatus absolutus‘.“ Dass die Ritter auch forderten, dass der Notstand von einem Landtag festgestellt werden müsse, wird von Maruhn nicht erwähnt. Die drei von den Rittern genannten Gründe, warum kein Notstand eingetreten sei, wurden umfassend zurückgewiesen: Erstens könne die necessitäre Prärogative nicht von der Beschlussfassung des Landtags abhängen, da der Notstand, in diesem Fall die Besetzung des Landes durch fremde Heere, die Einberufung eines Landtags ja gerade verhindere (vgl. Duplik 1653, S. 63); zweitens könne man für 1647 angesichts des

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Punkt die fürstliche Beweisführung ‚stimmig‘ war und der Notstand in einer allseits akzeptierten Einigung berücksichtigt werden müsste. Allerdings ist trotz aller Versuche der Fürsten, ihre „necessitäre Prärogative“ auch nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges aufrechtzuerhalten, nicht zu verkennen, dass der Hinweis auf den Notstand immer auch „die Erwartung einer Rückkehr in die Bahnen des Herkommens für die Zeit nach der Überwindung der Notstandslage“ nährte. 436 Und dieser Erwartung wurde auch entsprochen, denn die fürstliche Seite machte in ihren Schriftsätzen mehrfach deutlich, dass mit dem Westfälischen Frieden und dem neuen Hauptaccord zwischen den beiden landgräflichen Linien wieder der Friedens- und Normalzustand eingekehrt sei. 437 Diese Betonung war zwar strategisch motiviert, 438 warf aber trotzdem die Frage auf, wie es denn im Friedenszustand um das ständische Steuerbewilligungsrecht und die ritterschaftliche Steuerimmunität bestellt sei. An

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immer noch währenden Dreißigjährigen Krieges und des erst kürzlich ausgebrochenen Hessenkrieges nicht ernsthaft behaupten, dass kein Kriegszustand geherrscht habe (vgl. ebd., S. 63f.); drittens seien die Vorwürfe der Ritterschaft per malam consequentiam bey den Haaren herbey gezogen (ebd., S. 47) und man wird zugeben müssen, dass es sich in juristischer Hinsicht tatsächlich um Mutmaßungen und nicht um Fakten handelte – allerdings um berechtigte Vermutungen, wenn man es politisch betrachtet. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 272; vgl. auch Seresse, Politische Normen in KleveMark während des 17. Jahrhunderts, S. 259, der zu Recht darauf hinweist, dass gleichwohl „keine Rückkehr zum herkömmlichen Normengefüge mehr möglich“ war, weil der exzessive Einsatz von Notstandsbefugnissen die Verfassungsordnung schon verändert habe. Aber immerhin, so wird man hinzufügen müssen, war eine Rückkehr zu einem, wenngleich veränderten, Normalzustand möglich. Vgl. die Friedensverträge in: Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, in Verbindung mit der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e. V. (Hg.), Acta pacis Westphalicae, Ser. 3, Abt. B, Bd. 1, Teil 1, und zuletzt Kampmann u. a. (Hg.), L’art de la paix; zur Rolle Hessen-Kassels vgl. Weiand, Hessen-Kassel und die Reichsverfassung; Malettke (Hg.), Frankreich und Hessen-Kassel zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges und des Westfälischen Friedens; Ders., Scheffers Gesandtschaft in Osnabrück: ‚Stände seyn nicht nur Räthe, die man hören, sondern deren Räthen man auch folgen müsse‘. – Die innerdynastischen Auseinandersetzungen wurden beigelegt durch den ‚Friedens- und Einigkeits-Recess, so zwischen beeden Fürstl. Heßischen Häusern / Caßel und Darmstadt / durch Interposition Herzogs Ernesti zu Sachsen-Gotha Anno 1648. auffgerichtet worden. [Kassel 1648 April 14]‘, in: Lünig, Das teutsche Reichs-Archiv, Pars Specialis, Continuation 2, Teil 2, S. 899–905 (= Hauptaccord 1648). Die fürstliche Seite versuchte dadurch, sich die Amnestieklausel des Westfälischen Friedens zunutze zu machen (vgl. Art. II IPO und Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 252): Exceptiones 1651, Art. 82, wird dem Münsterischen und Oßnabrüggischen algemeinen Friedensschluß gedacht und später heißt es: Hat es nun die Beschaffenheit, daß IFG wan sie auch schon die geforderte 4000. Virtel Frucht per paratam executionem dazumahl erlangt gehabt, dißert wegen post pacem constitutam nicht actionirt werden können. (Entwurf Quadruplik, S. 12f.)

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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dieser Stelle lässt sich wieder das Auseinanderdriften der beiden Rechtssubjekte feststellen: Zwar hatte die fürstliche Seite zu Beginn des Konflikts verlauten lassen, auch in Friedenszeiten sei eine Steuerbewilligung durch die Ständegesamtheit nicht zwingend erforderlich, 439 aber dieser Anspruch wurde später deutlich zurückgenommen: IFG seindt auch in keinen Abreden, daß die Fürsten zu Heßen, wann sie tempore pacato zu des Landes oder Ihrem privat-Nutzen einer Beyhülff oder Steur von den Underthanen benötiget gewesen, Ihre Praelaten, Ritter- undt Landtschafft uf einen Landtagk beschrieben undt Ihnen die Sache proponiret, wie sie dann auch vor Ihre Persohn bey dergleichen Zeitten undt der Sachen Bewandtnus hinkünfftig darvon nicht absetzen werden. 440

Das Steuerbewilligungsrecht wird also – in Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung unter den Steuerrechtlern – im Kern anerkannt, wobei aber noch offen bleibt, inwieweit dieses Recht auch ‚notstandsfest‘ ist. 441 Diese Anerkennung findet jedoch eher am Rande statt, was insofern folgerichtig ist, weil in einer Auseinandersetzung mit diesem Recht zwangsläufig die Repräsentationsfunktion der Ständegesamtheit zur Sprache gekommen wäre und die fürstliche Seite eben dies schon in der Frage der Subjekte strikt vermieden hatte. Das Vorgehen im Fall der Steuerimmunität steht jedoch unter entgegengesetzten Vorzeichen: Dieses Recht wird den Rittern auch in Friedenszeiten nicht zugestanden und zudem umfassend diskutiert. 442

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Vgl. Exceptiones 1651, Art. 15: Ob dan wohl war, daß die Fürsten zu Heßen, wan sie ihren Unterthanen zu ihrem Privat-Obligen Steuer und Schatzungen uff legen wollen, bißweilen der Sachen Gelegenheit nach auß freyem Willen und Belieben Ihre Unterthanen ahn gewiße Ortt und uf bestimbte Zeitt beschrieben, ihnen auch die Ursach solcher vorhabenden Collectation proponiren und eröfnen auch darauf wegen des modi collectandi mit ihnen communiciren laßen. Duplik 1653, S. 48f. Vgl. Schwennicke, „Ohne Steuer kein Staat“, S. 64–66 und S. 142–147; Klock, Tractatus de contributionibus, Kap. 4, S. 162: „Imperatorem & caeteros Principes, quinimo & Universitates, non aliter, quam cum consensu Subditorum ac Civium hodierno more ac jure collectas indicere“, sowie Reinkingk, Tractatus de regimine seculari et ecclesiastico, Buch 1, Klasse 5, Kap. 4, Nr. 209: „Neminem esse omnium Principum qui jus habeat, vel teruncium unum exigendi a suis praeter constitutum anuum censum, nisi populus assentiatur.“ Vgl. Duplik 1653, S. 63: Ey warumb solten dan in solchen eußersten Nothfallen die Ritterschafft wan sie ir, posito non tamen concesso, extra illos casus frey wehren, obschon zuvor kein Landtag gehalten und mit ihnen darumb nicht tractiret oder von ihr darin consentiret worden, nicht gleich den Clericis pro modo facultatum suarum in der allgemeinen Noth und ihnen selbst zum Besten, auch das ihrige beyzutragen schuldig sein. Vgl. auch ebd., S. 69.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Deutlicher noch wird die unterschiedliche Bewertung der Kollektivakteure, wenn man sieht, dass die fürstliche Seite die Ständegesamtheit sogar gegen die Ritterschaft ausspielte: 1631, nach dem Leipziger Konvent, habe der Fürst am Spieß im Niederfürstenthumb Heßen einen offentlichen Landtage gehalten. Damals sei die vorgewesene Kriegsverfaßung mit sämtlichen Praelaten, Ritter- und Landtschafft collegialiter peragirt, pro et contra reiflich uberlegt, erwogen, approbiret und nötig befunden worden. 443 Und weil jeder, der einen bestimmten Zweck wolle, auch die Mittel wollen müsse, habe die Ständegesamtheit mit dieser Entscheidung den Landgrafen auch für die Zukunft ermächtigt, alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um den Zweck, die Landesverteidigung, sicherzustellen. An diesen Beschluss der Ständegesamtheit sei die Ritterschaft als Teil der Ständegesamtheit gebunden und hätte daher die 4 000 Viertel Getreide liefern müssen. 444 Außerdem betreffe die Kontribution das Land als universitas, als deren major pars die Bürger und Bauren anzusehen seien. Und daher sei die Tatsache, dass die Kontribution von der major pars stets gezahlt worden sei, als stillschweigende Bewilligung durch die Ständegesamtheit zu werten, welche die Ritterschaft ebenfalls binde. 445 Um einen Beweis gegen die Steuerimmunität der Ritter zu gewinnen, nahm es die fürstliche Seite sogar in Kauf, den Korporationsstatus und das Steuerbewilligungsrecht der Ständegesamtheit zu betonen. Dabei waren Steuerbewilligungsrecht und -immunität von den Rittern zunächst als ein einheitliches Rechtsbündel angesehen worden. 446

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Zitate: Duplik 1653, S. 86f.: Nach dem Leipziger Konvent begann Landgraf Wilhelm V. mit der Aufstellung eines eigenen Heeres und vertrieb die ligistischen Truppen. Der Landtag fand allerdings nicht am Spieß, sondern am rund 30km entfernten Mader Holz statt (vgl. dazu Hollenberg II, Nr. 74a, S. 307–309, S, 307f.). Das Argument war allerdings nicht sehr stichhaltig, da dieser Landtag ohne förmlichen Abschied auseinandergegangen war und sich die Ritter schon während der Beratungen gegen die fürstliche Politik der militärischen Stärke ausgesprochen hatten. Vgl. Duplik 1653, S. 87, wo der Grundsatz, dass die Mittel billigen müsse, wer den Zweck wolle, folgendermaßen ausgedrückt wird: quod is qui vult consequens, etiam antecedens, sine quo illud expediri non potest, velle dicatur. Vgl. ebd., S. 86f. Auch dieses Argument ist allerdings kaum tragfähig, da die Mitglieder der Ständegesamtheit nicht die Landeseinwohner waren, sondern die drei Stände bzw. die zwei Kurien. Und daher war die Landschaft in keinem Fall major pars, denn entweder stellte sie nur einen von drei Ständen oder eine von zwei Kurien. Gegenargumente der Ritterschaft in Replik 1652, S. 55–57. Vgl. Replik 1652, S. 20f.: Es sei unbestreitbar, das die Ritterschafft in Heßen und Impetranten vor andern dieses Fürstenthumbs Unterthanen auch unter andern Privilegien, adelichen immunitäten und Gerechtigkeiten, auch die Freyheit erlangt und hergebracht,

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Aber wie schon bei der Bestimmung der personae publicae die ‚öffentlichrechtliche‘ Ständegesamtheit zunehmend von der ‚privaten‘ Ritterschaft unterschieden worden war, so wurde ganz parallel nun auch das landständische Steuerbewilligungsrecht zunehmend der ritterschaftlichen Steuerimmunität gegenüber- oder sogar entgegengesetzt. Und so führt die repräsentationstheoretische Neuausrichtung der Argumentation mittelbar auch dazu, dass die (von der fürstlichen Seite ohnehin bezweifelte) Steuerimmunität der Ritterschaft zunehmend als ‚privatrechtliches‘ Privileg erschien. Allerdings musste das kurz- und mittelfristig nicht unbedingt ein Nachteil sein, weil die Steuerimmunität dadurch keine ‚Bedrohung‘ mehr für die Landeshoheit darstellte: Noch 1647 hatten die Ritter bezweifelt, ob die Jura territorii in dem Fürstenthumb Heßen sich so weit erstrecken, daß die adeliche Lehen- undt Gütter […] mit Geldt-Steuren […] ohne vorgehende freye Bewilligung belegt werden mögen, 447 und darauf hingewiesen, dass die adeligen Vasallen für die dignitas des Fürstentums bestimmend seien. 448 Eine solche Immunität, die als äußere Beschränkung der superioritas territorialis konzipiert war, war für die fürstliche Seite, die gerade im Gegenteil von der Unbeschränktheit der landesfürstlichen summa potestas ausging, inakzeptabel. Wenn jedoch die Steuerimmunität stattdessen als Privileg innerhalb der landeshoheitlichen Herrschaftsordnung galt, dann bestand keine prinzipielle Notwendigkeit mehr, den Rittern dieses Recht streitig zu machen. Gleichzeitig waren die Ritter dann der Notwendigkeit enthoben, den für ein ‚politisches‘ Recht notwendigen Gemeinwohlbezug zu konstruieren, und konnten sich darauf konzentrieren, ihre possessio zu belegen, was als Rechtfertigung für ein ‚einfaches‘ Privileg völlig ausreichend und in

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diesem auch vor 20.30.40.50.100. und mehr Jahren, als sich Menschen Gedencken erstrecken in possessione vel quasi, das sie und ihre Unterthanen und deren Güter von dem Landtsfürsten mitt keiner Schatzung belegt werden können, es wehre dann die Ursach und zu was Behueff dieselbe erfordert würde, auff einen offenen Landtag den gesampten Landständen proponirt, von denselben nothdürfftiglich berathschlaget, libere darüber votiret, und endlichen durch einen enhelligen Schlus von Ihnen mittbewilliget worden. Man sieht deutlich, dass beide Rechte hier einen einheitlichen Komplex bilden: Grundlage ist eine prinzipielle Immunität, die nur durch Landtagsbeschlüsse modifiziert werden kann. ‚Sämtliche Ritterschaft des Niederfürstentums Hessen an Regentin Amalie Elisabeth. o. O. 1647 Aug. 18‘, Abschrift, in: StAM 73 Nr. 164, S. 77–139, S. 124f. Vgl. ebd., S. 107: Ferners […] wirdt von allen vernünfftigen Juris-Consultis und Politicis einmüthig dafür gehalten, quod Principis ac Reipub. intersit ut Status Nobilium integer conservetur et nummerus Vasallorum augeatur potius quam diminuatur, cum in iis dignitas Ducatus seu Principatus ac Regiminis constat.

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diesem Fall auch deshalb erfolgversprechend war, weil das Herkommen klar für eine weitgehende Immunität sprach. 449 Damit zeichnet sich insgesamt auch hinsichtlich der steuerrechtlichen Streitfragen ein ‚stimmiger‘ Bereich potentieller Einigungen ab: Für den Friedenszustand würde höchstwahrscheinlich das Steuerbewilligungsrecht der Ständegesamtheit akzeptiert werden, das sich aus der Repräsentationsfunktion der Landstände ergab und daher von öffentlichrechtlicher Qualität war. Auch die Steuerimmunität der Ritter würde sich unter Verweis auf Herkommen und Vertragsbande rechtfertigen lassen, allerdings wohl nur noch als privatrechtliches Privileg – analog zum prekären politischen Status der Ritterschaft. Des weiteren würde im Rahmen einer solchen Einigung auch der Notstand eine Rolle spielen müssen, wobei allerdings aufgrund der „Inhaltsleere“ der necessitas weitgehend offen war, in welcher Form dies geschehen könnte. 450 Obwohl also die Ritterschaft im Zuge der repräsentationstheoretischen Neuausrichtung der Argumentation tendenziell ihren Status als eigenständiger politischer Akteur einbüßte und an der Steuerbewilligung nicht mehr aus eigenem Recht, sondern nur noch als Teil der Ständegesamtheit partizipierte, musste der Anspruch auf Steuerbefreiung dadurch nicht aufgegeben werden, weil sich die Immunität auch stimmig als privatrechtliches Privileg konstruieren ließ. Damit bleibt zuletzt nur noch zu prüfen, welche Lösung sich hinsichtlich des zweiten Streitgegenstandes, des Selbstversammlungsrechts, im Vergleich der Parteiargumente abzeichnete. Nun handelte es sich um ein besonderes, nämlich ‚politisches‘ Selbstversammlungsrecht, denn die Ritter beanspruchten, wie schon im ersten Ständekonflikt der 1620er Jahre, auch ohne fürstliche Erlaubnis Zusammenkünfte abhalten zu dürfen, auf denen sie nicht nur korporationsinterne Angelegenheiten berieten, sondern sich auch Landt undt Leuthe Wolfart betreffender Sachen annahmen. 451

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In der Tat wird in der letzten ritterschaftlichen Prozessschrift, der Triplik von 1655, die Steuerimmunität nur noch ausschließlich mit Herkommensargumenten gerechtfertigt und kein Versuch unternommen, ihr einen ‚politischen‘ oder ‚öffentlichrechtlichen‘ Charakter beizulegen; vgl. Triplik 1655, S. 36–42. Es werden insgesamt sieben Punkte angeführt, die im wesentlichen Beweise aus den Bereichen Herkommen (Revers Landgraf Philipps von 1532, Landtagsabschiede des 16. Jahrhunderts) und Vertragsbande (Landeshuldigungen) enthalten. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 266. Remonstration 1647, fol. 4r. Vgl. zu diesem Anspruch den Wortlaut der ritterschaftlichen Vollmacht von 1625: Geben Ihnen demnach hirmit zu obig berührtem allem unsere volekommene Macht und Gewalt […] alles und jedes, was von Ihnen, nemlich diesen

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Begründet wurde dieses Recht in der Remonstration von 1647, also noch vor Beginn des Reichskammergerichtsprozesses, mit einer Argumentation, in der eine Vielzahl politiktheoretischer, gewohnheits- und lehnsrechtlicher Beweise miteinander verwoben wurden: Zunächst wurde unter Bezug auf das gemeine Recht begründet, dass Korporationen – und eine solche sei die Ritterschaft – über ein Selbstversammlungsrecht verfügen. 452 Damit aber ließ sich nur ein Recht auf die eigenständige Behandlung von korporationsinternen Fragen fordern, so dass für die behauptete Zuständigkeit für politische Angelegenheiten noch weitere Beweise vorgebracht werden mussten. Neben einigen allgemeinen Hinweisen auf die politischen Pflichten der optimates et officiales (Althusius) bzw. Eltesten und Fürnembsten (Neumayr von Ramsla) 453 werden dazu aber vor allem Lehnsrecht und Herkommen angeführt: Schon aus den

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achten unsern Freunden […], in gesambt so wohl in unsers Vatterlands Angelegenheiten als in unseren gemeiner Ritterschafft sonderbahren Sachen, tractiret, gehandelt und geschloßen wirdt, […] für genehm […] zu halten und zu vertretten (‚Vollmacht. Altmorschen 1625 Mai 28‘, in: StAM 340v. Dörnberg Nr. 11, unfoliiert, 8 Seiten; vgl. auch Hollenberg II, S. 200, Anm. 351). Vgl. Remonstration 1647, fol. 2r/v. Vgl. zur Remonstration auch Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 299–304, der jedoch die Gliederung des Textes meines Erachtens mit der folgenden Bemerkung nicht korrekt wiedergibt: „Die sechs Folio-Seiten teilen sich in eine Einleitung (1. Seite), drei Seiten Argumente aus der hessischen Rechtsgeschichte und schließen mit einem Hinweis auf die Pflichten des Landesherren und auf das Schicksal von Tyrannen, soweit in Ciceros Pro Milone geschildert“ (ebd., S. 299; zu beachten ist, dass im Folgenden eine nicht gekürzte Abschrift zitiert wird, die daher auch mehr als sechs Folioseiten umfasst). Tatsächlich gliedert sich der Text in zwei eigenständige Teile: Als das erste membrum obigen Thematis (Remonstration 1647, fol. 2r) wird zunächst in vier Abschnitten erläutert, dass und warum sich die Ritterschaft im Besitz des Selbstversammlungsrechts befindet. Ab fol. 6r wird dann ad secundum membrum propositi Thematis übergegangen und erläutert, warum der Ritterschaft dieses Recht nicht entzogen werden kann. Aufschlussreich sind hier die ‚Ingredientia in das Schreiben damit IFG Schreiben zu beantwortten wehren‘ [o. O. o. D.], in: StAM 304 Nr. 199, unfoliiert, eine Art „Brainstorming“ (Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 165), das schon die zweigliedrige Struktur der Remonstration erkennen lässt. Diese ‚Ingredientia‘ machen auch deutlich, dass das Herkommen keineswegs das einzige Argument der Ritter war, denn das Selbstversammlungsrecht sollte nicht nur ab ante actis (alle folgenden Zitate ebd., ab ante actis entspricht Remonstration 1647, Teil 1, Punkt 2, fol. 4r/v), sondern beispielsweise auch a juro et officio statum (entspricht Remonstation 1647, fol. 3v) oder ab absurdo (entspricht ebd.) bewiesen werden. Vgl. Remonstration 1647, fol. 3v. Die Belege lauten im Original: Alth. in polit. l. 38. n. 4. et. 9 (das ist: Althusius, Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata), sowie Neumeyer tr. vom Aufstandt der Unteren l. 4. p. 223 (das ist: Neumayr von Ramsla, Von Auffstand der Untern wider ihre Regenten und Obern sonderbarer Tractat).

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Huldigung- und Lehenspflichten folge, dass die Ritter auff des Vatterlandts Conservation und Wohlfahrt ein wachendes Auge haben müssten, und weil sie dieser Pflicht auch stets nachgekommen seien, sei Behandlung politischer Themen auch von undencklichen Jahren hero ein Gebrauch undt Herkommen. 454 Die Haltung der fürstlichen Seite war noch eindeutiger und radikaler als im Falle der Subjekte oder der Steuerfragen: Die Beratung politischer Angelegenheiten sei das alleinige Vorrecht des Landesfürsten und Gegenstand des öffentlichen Rechts; 455 nur ihm stehe es zu, Landtage einzuberufen; 456 eigenmächtige Versammlungen der Ritterschaft jeglicher Art stellten dagegen einen schweren Eingriff in die landesfürstlichen Rechte dar und müssten als Majestätsverbrechen verfolgt werden. 457 Zudem sei die Ritterschaft nicht einmal eine Korporation. Und auch angesichts dieser kompromisslosen Stellungnahme zeigten die Ritter ihr übliches Reaktionsmuster – sie integrierten einen Repräsentationsbeweis in ihre Argumentation. Zwar wurde der Text der Remonstration von 1647 in dem Abschnitt der Replik von 1652, der sich mit dem Selbstversammlungsrecht befasst, zu weiten Teilen übernommen, erfuhr aber eine wesentliche Modifikation: Begann nämlich die Remonstration mit einer korporationsrechtlichen Fundierung der Ritterschaft, so wird nunmehr die Herleitung der Landesrepräsentation vorgeschaltet. 458 454

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Vgl. Remonstration 1647, fol. 3r und 4r. An einer anderen Stelle der Remonstration sprachen die Ritter zudem von ihren Pflichten und Eydten, womit sie Ihrem gnedigen Landtesfürsten und dem Vatterlandt verwandt seien (ebd., fol. 5r). Das heißt, die Ritter unterschieden deutlich zwischen dem Inhaber der Landeshoheit einerseits und dem Land selbst andererseits und sahen sich aufgrund ihrer Eide beiden verpflichtet (vgl. für das 18. Jahrhundert zu dieser Trennung Neu, Sitzen, Sprechen und Votieren). Dazu passt auch, dass einer der von den Rittern später am häufigsten zitierten Autoren, Christoph Besold, in einem vielbenutzten Nachschlagewerk die Meinung referiert hatte, man erwürbe das Vaterland durch den Lehnseid (vgl. Besold, Thesaurus Practicus, s.v. ‚Vatterland‘, S. 948: „Patria est, ubi bene est, ea etiam per homagium acquiriri dicitur.“). Um das Herkommen noch weiter zu stärken, war der Remonstration eine Liste aller ritterschaftlichen Zusammenkünfte beigegeben, die später auch beim Reichskammergericht eingereicht wurde; vgl. Specificatio 1652. Vgl. Exceptiones 1651, Art. 49: Dan wahr und ungezweiffelten Rechtens ist, quod de rebus rempublicam concernentibus deliberare ad iura Principum et ius publicum pertineat. Vgl. ebd., Art. 51: Hingegen aber wahr, daß die convocatio der Unterthanen und Außschreibung der Landtagen einig und allein dem Landsfürsten zustehe. Vgl. ebd., Art. 46, wo ausgeführt wird, dass sich die Ritter mit der eigenmächtigen Beschreibung Ihren geleisteten subjections Pflichten zuwieder in die landesfürstliche iura einzugreiffen sich unterstehen. Die zu vergleichenden Textabschnitte sind Remonstration 1647 und Replik 1652, S. 72–93. Der Abschnitt beginnt mit den Worten: Belangendt das andere, nemblich die

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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Aber auch hier ließ sich das grundsätzliche Problem des Repräsentationsbeweises nicht umgehen – er konnte nur für die Ständegesamtheit geführt werden. 459 Und in der Tat ließ sich behaupten, dass der Ständegesamtheit ein politisches Selbstversammlungsrecht zukomme: Konzipierte man das Land als universitas, so stand ihm korporationsrechtlich im Prinzip ein Selbstversammlungsrecht zu. Zugleich war diese universitas schon als persona publica ausgewiesen worden. Da nun die Ständegesamtheit das Land repräsentiere, könne sie auch dessen notwendig ‚politisches‘ Selbstversammlungsrecht ausüben. Allerdings bringt die repräsentationstheoretische Wende in diesem Fall den argumentativen Zwang mit sich, auf der Subjektebene eine Verschiebung vorzunehmen, wie ein Vergleich zentraler Textstellen eindeutig belegt: Remonstration 1647:

Replik 1652:

Daß nun die Ritterschafft des Niederfürstenthumbß Heßen ein Standt deß Landes und ein licitum et approbatum Corpus et Collegium seye (fol. 3 r)

Und weillen also die Landstände des Fürstenthumbs Heßen einmahl vermöge obanzogener Rechten ein licitum collegium undwidersprechlich sein und pleiben (S. 81)

Undt könten derogleichen Exempell vielmehr, so sich in folgendten Jahren begeben, angeführet werden, wie dan in specie, das die Ritterschafft in diesem Fürstentumb so offt es die Notturfft erfordert hatt, auch ohne special Vorwißen undt Bewilligung Ihrer gne-

Daß auch dießes in specie in dem Fürstenthumb Heßen alß von undenklichen und weit über Menschen Gedancken sich erstreckende Jahre beständig hergebracht, das die Landstände und absonderlich die Ritterschafft, so offt es die Nothurfft erfordert hat, auch

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Zusammenkunfft der Landstände und in specie der Ritterschafft (ebd., S. 72). Dann wird zunächst noch einmal der Vorwurf wiederholt, der Landgraf wolle einen absolutus dominatus einführen (ebd., S. 72–74; Zitat: ebd., S. 73). Darauf folgt die Herleitung der Landesrepräsentation (ebd., S. 75f.), die dann korporationsrechtlich weitergeführt wird, wobei der Text der Remonstration aufgenommen wird, vgl. ebd., S. 78: Es seind auch solche conventus so gar nicht improbirt, das auch Aristoteles lib. 5. politic. cap. 11. inter sophismata Tyrannica numerat. Mit exakt diesem Beleg beginnt die Remonstration, die ab hier in der Replik verarbeitet wird – nach der Einführung der Landesrepräsentation, die in der Remonstration noch keine Rolle gespielt hatte. Zunächst wird gezeigt, dass es sich beim Fürstentum Hessen um eine universitas handelt: Und was universitas larga genennet würdt, kan von dem Fürstenthumb Heßen alß welches viele verschiedene districtus und Aempter in sich begreiffet, gar wohl verstanden werden (Replik 1652, S. 76). Dann wird die Repräsentation durch die Ständegesamtheit eingeführt: Dorein alle darin gehörige Communes ac singulos etiam cives & subditos, qui collective sumpti vere proprie & realiter universitas sunt […], die Landstände representiren (ebd.).

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

digen Herschaft zusammen kommen möge und solches ab immemoriali tempore also beständig hergebracht (fol. 5 r)

ohne Special Vorwißen und Bewilligung Ihres genedigen Landesfürsten sich zusammen beschriben, sie darauff zusammen kommen, beydes von des Landes und ihrer eigenen Nothurrft consultiret, Ihre desideria und Gemüths Meinung dem Landtsfürsten libere mit gehörigem Respect angebracht (S. 83 f.)

Selbst in den ritterschaftlichen Prozessschriften wird also an prominenter Stelle implizit vorausgesetzt, dass sich ein politisches Selbstversammlungsrecht (und im Prinzip sogar der auch Status einer Korporation) allenfalls für die Ständegesamtheit plausibel machen lässt. 460 In der Folge wurde dann zwar mit allen Mitteln, vor allem Analogieschlüssen, versucht, dieses Recht auch auf die Ritterschaft als Teil der Ständegesamtheit zu übertragen, 461 aber letztlich liefen alle Belege doch nur darauf hinaus, 460

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Das sah auch Obervorsteher Otto von der Malsburg so: „Malsburg beschwerte sich überdies gegenüber Diede über die mangelnde finanzielle Aufwandserstattung durch seine Standesgenossen und mahnte insbesondere eine Versöhnung mit den Städten an, da man alleine gegenüber dem Landgrafen keine Chance habe. Dies gelte insbesondere für den Prozess in Speyer, wo man die Rechte eines Corpus geltend machte, ein Status, der für die Ritterschaft alleine ohne die Städte zweifelhaft war“ (Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 76). – Und in der Tat hatten die Ritter sich 1649 nicht nur selbst versammelt, sondern auch die Städte hinzugeladen. Allerdings waren nur wenige Städte vertreten, die sich zudem nicht auf einen Abschied einließen; vgl. Hollenberg III, Nr. 2, S. 3–5. Dieses Vorgehen fachte den seit 1647 ruhenden Ständekonflikt erneut an, vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 55–63. Vgl. dazu unten 5.3.5. Ein Beispiel: Nachdem das Selbstversammlungsrecht der Ständegesamtheit korporations- und repräsentationstheoretisch hergeleitet wurde, wird durch Analogieschluss gefolgert: So würdt statui […] superiori alß der Rittterschafft, viel weniger den Landtständen, alß dem gantzen corpori, in Fällen, so des gantzen Vatterlandes Friedt […] betreffen, auch ohne zuvor darüber eingeholten consens des superioris conventus anzustellen in Recht vergönnet sein, totum n. quoad totum habet idem juris, quod pars quoad partem. (Replik 1652, S. 77). Wie die lateinische Maxime am Schluss des Satzes deutlich macht, handelt es um einen besonderen Analogieschluss, der sich des locus a proportione bedient; vgl. Otte, Dialektik und Jurisprudenz, S. 202. In der Remonstration von 1647 finden sich solche Analogieschlüsse hingegen noch nicht, das Selbstversammlungsrecht wird allein aus dem Herkommen und dem korporativen Status der Ritterschaft begründet, vgl. Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 304. Das Argument ist allerdings, zumindest logisch, nicht gültig. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass die Rechte, die der Gesamtheit im Hinblick auf sich selbst zustehen, auch dem Teil im Hinblick auf sich selbst zustehen. Und dann wird aus der (ebenfalls umstrittenen) Prämisse, dass die Ständegesamtheit ein Selbstversammlungsrecht in politischen Angelegenheiten hat, gefolgert, dass auch die Ritterschaft ein solches Recht besitzt. Das würde jedoch nur gelten, wenn auch die Ritterschaft in einer repräsentativen Bezie-

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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dass eine convocation ohne Erlaubnis des Fürsten nur für nötige Zusammenkünffte der Stendte erlaubt sein müsse. 462 Aber selbst wenn die Analogieschlüsse getragen hätten, so wären sie letztlich nutzlos gewesen, denn ein politisches Selbstversammlungsrecht ließ sich auch unter Einsatz des Repräsentationsbeweises nicht einmal für die Ständegesamtheit stimmig rechtfertigen, denn es ist in dieser Frage keinerlei Passung auszumachen, weder zwischen der ritterschaftlichen Argumentation und dem gelehrten Diskurs, noch zwischen den beiden Parteiargumentationen: Während die Ritter beispielsweise hinsichtlich der korporativen Verfasstheit des Landes und der Repräsentationsfunktion der Ständegesamtheit sogar diejenigen Juristen und Politiktheoretiker auf ihrer Seite hatten, auf die sich die fürstliche Seite ansonsten stets berief, konnten sie für ein politisches Versammlungsrecht überhaupt keine neuere Literatur ins Feld führen. 463 Und anders als im Fall des Steuerbewilligungsrechts machte die fürstliche Seite auch keine impliziten Zugeständnisse, 464 sondern verschärfte ihre Haltung noch, indem sie

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hung zum Territorium stehen würde, was jedoch nicht der Fall ist. Man kann allenfalls schließen, dass der Ritterschaft ein Selbstversammlungsrecht in genuin ritterschaftlichen Angelegenheiten hat. Replik 1652, S. 91. Zusätzlich wurde versucht, die Praxis in anderen Reichsterritorien als Beleg anzuführen (vgl. Remonstration 1647, fol. 3r, mit Verweis auf Neumayr von Ramsla, Von Schatzungen und Steuren sonderbahrer Tractat; Replik 1652, S. 80f.), was von der fürstlichen Seite jedoch als nicht statthaft zurückgewiesen wurde (vgl. Duplik 1653, S. 131–134, und Entwurf Quadruplik 1655, S. 14). Auch das hessische Herkommen wurde weiterhin bemüht, spielte aber keine tragende Rolle im Rahmen der Argumentation mehr, zumal sich für eigenständige und vom Fürsten gebilligte Versammlungen der Ständegesamtheit kaum Beispiele finden ließen. Eine wichtige Rolle spielte das ‚Ausschreiben Unser Georgen / Von Gottes Gnaden / Landgrafen zu Hessen / sc. An alle und jede Deß Nider-Fürstenthums Hessen / und darzu gehöriger Graf- und Herrschafften Lande und Gebihte / getrew gehorsame Landstände / sambt und sonders. Anno 1637‘, [Druck], in: StAM 255 H Nr. 139, unfoliiert, 21 S., von dem die Ritter behaupteten, es enthielte eine Anerkennung des Selbstversammlungsrechts von fürstlicher Seite. Ausgiebige Zitate etwa in Replik 1652, S. 86–89. Vgl. Replik 1652, S. 72–86; angeführt werden: Lossaeus, Tractatus De Iure Universitatum; Corpus Juris; Aristoteles, Politik; Matthaeus de Afflictis (15./16. Jh.), Bartolus de Sassoferrato (14. Jh.), Mariano Socini (15./16. Jh.), Baldus de Ubaldis (14. Jh.), Petrus Philippus Corneus (14./15. Jh.), Rolandus a Valle (16. Jh.). Damit erscheint hier kein Autor des ius publicum. Zwar wurde das Thema der politischen Repräsentation wieder umgangen, aber diesmal nicht mit einem inhaltlichen Zugeständnis verbunden. Stattdessen wiederholte man nur den Standpunkt, dass das Recht, politische Versammlungen einzuberufen, allein dem Landesherrn zustehe; vgl. etwa gleich zu Beginn des Abschnitts zu den Zusammenkünften in Duplik 1653, S. 103: So ist hierbey erstlich zu wißen, wasmaßen allen Rechten gemees und reichskündig, daß die Unterthanen, sie seyen was standts sie wollen, Adel oder Unadel, ohne Erlaubnuß und Bewilligung dero hohen Landtsfürstlichen

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

gleich alle größeren Versammlungen der Ritterschaft unter Erlaubnisvorbehalt stellte – und nicht nur die ‚politischen‘ Zusammenkünfte. 465 Für ein unbedingtes Selbstversammlungsrecht zur Beratung politischer Angelegenheiten, so lässt sich festhalten, konnte offenbar überhaupt keine stimmige Rechtfertigung gefunden werden, nicht für die Ständegesamtheit und damit auch nicht für die Ritterschaft, weshalb alles darauf hindeutete, dass ein solches Recht wahrscheinlich kein Bestandteil einer allseits akzeptierten Einigung sein würde. Das ius comitiorum war dem Landesherrn kaum streitig zu machen. Was sind nun die Ergebnisse, die aus der Untersuchung des Reichskammergerichtsprozesses gewonnen werden konnten? Durch den Vergleich der argumentativen Struktur konnte gezeigt werden, dass die beiden Parteiargumentationen teilweise miteinander kompatibel waren, insofern die ‚herrschaftliche‘ Beweisführung auf Grundlage der Landeshoheit und die ‚genossenschaftliche‘ Beweisführung auf Grundlage der Landesrepräsentation miteinander verbunden werden konnten. 466 Dieser potentiellen Argumentation kam ein höheres Maß an Kohärenz und Gemeinwohlbezug zu, weil keine der beiden Beweisführungen die jeweils andere aushebeln konnte: Weder schloss die souveränitätsähnliche Herrschaft über das Land eine Herrschaftspartizipation im Namen des korporativ verfassten Landes aus, noch war das umgekehrt der Fall. 467

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Obrigkeit keine conventus halten, vielweniger darbey von hoch- und wichtigen, in die fürstl. Hoheit und Regierung lauffenden Sachen, zu tractiren Macht haben, und passim; vgl. auch Entwurf Quadruplik 1655, S. 14. Vgl. Duplik 1653, S. 121: Wann auch etzliche wenige heßische vom Adell in ihren privatis zusammen kommen wollen, solches wird ihnen eben wenig verwehrt, wann sie aber entweder insgesambt, oder in mercklicher Anzahl zusammen kommen wollen, darzu wird IFG consens wie oben angeführet, nothwendig erfordert. Damit ist noch keine Aussage darüber getroffen, warum einzelne Akteure sich dieser Verlaufslogik unterwerfen und die Einigung akzeptieren: Es ist zwar möglich, dass sich die Parteien die Einigung aus rationaler Einsicht in deren größere Stimmigkeit zu eigen machen. Allerdings dürfte das die Ausnahme sein und es ist wahrscheinlicher, dass die Begründungspflichten der einmal gewählten Argumente, die Wichtigkeit, gegenüber anderen Akteuren eine konsistente Begründung zu liefern, Grenzen des Sag- und Denkbaren und andere ‚Zwänge‘ auf das Handeln der Akteure einwirken. Diese Frage muss hier aber auch nicht entschieden werden, denn die Verlaufslogik des Ständekonflikts kann hinreichend aus der Dynamik der Rechtfertigungsprozesse erklärt werden. Es sei noch einmal nachdrücklich darauf hingewiesen, dass auch die Landeshoheit eine Repräsentationskomponente enthält, denn gegenüber anderen Gemeinwesen wurde das Land zweifellos vom Landesherrn repräsentiert, und zwar im Modus der caputRepräsentation. Im Haupttext sind aber immer die Verhältnisse innerhalb des Gemeinwesens angesprochen und hier gilt eben, dass die Ständegesamtheit im Wege der corpusRepräsentation das korporativ verfasste Land gegenüber dem Landesherrn zu vertreten beansprucht; vgl. Hofmann, Dreier, Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minder-

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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Mehr noch: Im Kontext der juristischen und politiktheoretischen Debatten um die Mitte des 17. Jahrhunderts waren Landeshoheit und Landesrepräsentation tatsächlich die einzigen beiden Möglichkeiten, einen Status als persona publica zu beanspruchen und damit als Träger von genuin ‚politischen‘, auf das Gemeinwesen als Ganzes bezogenen Rechten in Frage zu kommen. Diese höhere Stimmigkeit wird eindeutig dadurch belegt, dass beide Parteiargumentationen von Positionen, die sie mit der potentiellen Argumentation teilten, nicht abrückten und die Ähnlichkeit mit dem potentiellen Argument nur vergrößert, aber nie verkleinert wurde. Die fürstliche Seite war insofern im Vorteil, als der Status des Landgrafen als Inhaber der Landeshoheit und damit als persona publica unbestritten war, weshalb die superioritas territorialis von Beginn an die organisierende Mitte des landgräflichen Argumentierens bildete. Und auch die immer umfangreicheren Notstandsbefugnisse gründeten letztlich in der ‚höchsten Gewalt‘ des Landesherrn, die sich auch und gerade in Fällen höchster Not bewähren musste. Gleichzeitig ist aber nicht zu übersehen, dass die fürstliche Seite einer Thematisierung der Landesrepräsentation konsequent aus dem Weg ging, sie daher niemals explizit bestritt und sogar Ansprüche anerkannte, die von der Gegenseite ausdrücklich repräsentationstheoretisch begründet werden, wie etwa das ständische Steuerbewilligungsrecht. Im Ergebnis war das fürstliche Argument, trotz aller ostentativ zur Schau gestellten Betonung der unbeschränkten Landeshoheit, strukturell verträglich mit der Landesrepräsentation. Während aber das fürstliche Argument seine Gestalt im Laufe des Deutungskonflikts kaum verändert, ließ sich auf Seiten der Ritterschaft ein massiver Wandel der Beweisführung beobachten, der sich als ‚repräsentationstheoretische Wende‘ beschreiben lässt. Angetreten waren die Ritter mit dem Anspruch, als eigenständiger politischer Akteur, als dritte persona publica neben Landgraf und Ständegesamtheit, anerkannt heitenschutz, S. 166: „Die dabei maßgebliche Vorstellung von Repräsentation folgt der Metapher von Haupt und Gliedern und formt demgemäß einen Dualismus von Corpus- und Caput-Repräsentation aus. Während der (wie immer titulierte) Vorsteher (das „Haupt“) die Person der Körperschaft gegenüber anderen Personen repräsentiert, dominiert in der Innenansicht die kollegiale Verkörperung der Verbandsvielheit durch eine Versammlung, eine Teilkörperschaft, welchen den Verband der Glieder konkret bildet, das heißt rechtlich aktuell herstellt, und die Gesamtheit der Mitglieder zudem gleichnishaft abbildet.“ Die beiden Repräsentationsverhältnisse schließen sich also gerade nicht aus, was jedoch Hollenberg, Die Repräsentation von Land und Leuten in Hessen, S. 34, und mit Bezug darauf Friedeburg, Adel und ständische Vertretungen: Repräsentationen des Landes?, S. 174, nicht zur Kenntnis nehmen und daher die corpus-Repräsentation der Ständegesamtheit zugunsten der caput-Repräsentation des Landesherrn negieren – zu Unrecht, wie die Analyse der Verfassungsgenese ergeben hat.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

zu werden. Und diesen Anspruch rechtfertigten sie zunächst vor allem mit Beweisen aus den Bereichen des Herkommens („Taten der Ritter für das Vaterland“) 468 und der Vertragsbande (Huldigung- und Lehenspflichten). 469 Die Herleitung politischer Rechte aus einem Repräsentationsverhältnis war den Rittern als Argumentationsfigur zwar bekannt, bildete aber eher eine implizite Vorannahme als ein explizites Argument und wurde nur zur Stützung der Rechte der Ständegesamtheit genutzt – die Ritterschaft begriff politische Teilhabe als ihr ureigenstes Recht und nicht als abgeleitet aus einem Repräsentationsverhältnis. Als aber die Regentin 1651 ihre Einredeschrift gegen das 1649 erneuerte mandatum sine clausula beim Reichskammergericht einreichte und die Ritter ihre Ansprüche nun auch vor Gericht umfassend rechtfertigen mussten, rückte die Landesrepräsentation sofort in den Mittelpunkt der ritterschaftlichen Argumentation – und zwar in allen Bereichen: In der Frage der politischen Subjekte wurde erklärt, in allen europäischen Gemeinwesen existiere neben dem Fürsten mindestens noch eine weitere persona publica, nämlich ein Senat, der immer dann einbezogen werden müsse, wenn der consensus subditorum nötig sei, und der daher die gesamte Untertanenschaft repräsentiere. Im Hinblick auf die beiden konkret zu prüfenden Rechte wurde diese sehr allgemeine Repräsentationsbeziehung dann noch korporationstheoretisch untermauert: Weil das Land korporativ verfasst sei, stelle es eine (juristische) Person des öffentlichen Rechts dar und könne daher selbst Träger von originären Herrschaftsrechten sein. Zu diesen gehörten etwa Steuerbewilligungs- und Selbstversammlungsrechte, die im Wege der Repräsentation von einem privilegierten Teil des Landes für das Land als Ganzes wahrgenommen würden. Auf die Anführung von Herkommen und Lehnsrecht wurde zwar nicht verzichtet, aber gleichwohl bildete nunmehr die Landesrepräsentation die organisierende Mitte der ritterschaftlichen Argumentation. Diese Verschiebung wirkte ermächtigend, weil damit alle beanspruchten Rechte als genuin „Landschaftliche Rechte“ 470 beschrieben werden und auf diese Weise auf die kaum zu erschütternde Stellung des Landes als Träger von Herrschaftsrechten gegründet werden konnten. Allerdings brachte die ‚repräsentationstheoretische Wende‘ auch ganz massive Einschränkungen mit sich, denn als Subjekt der Landesrepräsentation kam nur die Ständegesamtheit in Frage. Nur für die Landstände als Korporation lag nämlich eine hinreichende Passung zwischen der institutionellen Praxis und den gelehrten Spezialdiskursen vor: Zum einen han468 469 470

Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus., S. 310. Remonstration 1647, fol. 3r/v. Häberlin, Handbuch des Teutschen Staatsrechts, S. 30.

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delte spätestens seit der Entstehung der landständischen Verfassung die auf allgemeinen Landtagen versammelte Landständegesamtheit faktisch repräsentativ; zum andern wurden von den Juristen und Politiktheoretikern stets ‚die Landstände‘ als Subjekt der Landesrepräsentation bezeichnet. Die repräsentationstheoretische Neuausrichtung der ritterschaftlichen Argumentation führte daher zu einem Auseinanderdriften der beiden Kollektivakteure: Die Ständegesamtheit wurde gestärkt, als öffentlichrechtlicher Akteur bestätigt und ihr Steuerbewilligungsrecht anerkannt. Die Ritterschaft hingegen wurde tendenziell und trotz aller Versuche, die Stärkung der Ständegesamtheit auch auf die Ritterschaft umzuleiten, abgewertet und in den Bereich des Privatrechts abgedrängt. Und während diese Entwicklung für die Behauptung der Steuerimmunität nicht grundsätzlich schädlich sein musste, weil diese immer noch als Privileg innerhalb der landeshoheitlichen Rechtsordnung behauptet und mit dem Herkommen belegt werden konnte, erwies sich der Anspruch auf ein politisches Selbstversammlungsrecht der Ritterschaft unter diesen Umständen tendenziell als nicht haltbar. 471 Damit ist die grundlegende Dynamik des gerichtlichen Teils des Deutungskonflikts beschrieben und kann nun in zwei Hinsichten für weitere Erklärungen nutzbar gemacht werden, was auch notwendig ist, da der Konflikt gar nicht in diesem Rahmen, also durch ein Urteil des Reichskammergerichts, entschieden wurde. Erstens ist es nun möglich, die in der Forschung bisher untersuchten Einzelargumente in den Gesamtzusammenhang des Prozesses einordnen, was einige Klarstellungen erlaubt. Zunächst zum Herkommen: Schon im letzten Abschnitt war die Vorstellung widerlegt worden, die Ritterschaft habe zur Beginn des Ständekonflikts ‚nur‘ über das Herkommensargument verfügt; vielmehr hatten die Stände schon seit dem Ende der 1630er Jahre ein ausdifferenziertes Argumentationspotential aufgebaut. 472 Jetzt kann aber auch noch dargelegt werden, warum das Herkommen zu Beginn des Prozesses gleichwohl eine bedeutende Rolle spielte: Um vorläufigen Rechtsschutz in Form eines Mandats zu erhalten, musste der Antragsteller nämlich vor allem, wie es später im 18. Jahrhundert hieß, „den vorherigen ruhig gehabten besitz beibringen“, also glaubhaft machen, dass er tatsächlich im Besitz der zu schützenden Gerechtsame sei. 473 Und daher heißt es im Mandat von 1647 auch ausdrücklich, die 471 472 473

Selbst für die Ständegesamtheit konnte ein solcher Anspruch nicht plausibel gemacht werden, trotz der Heranziehung der Landesrepräsentation. Vgl. oben 5.3.3. Vgl. Hofmann, Teutsche Reichspraxis, worin der Kais. und Reichs-Kammergerichtsauch Kaiserliche- und Reichs-Hofraths-proceß nach seinen mannichfaltigen gattungen

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Ritterschaft sei in possessione vel quasi gewesen weren, daß sie undt ihre Gütter […]. 474 Man muss also weder die ritterschaftliche Lebenswelt (Maruhn) noch gleich den usus modernus heranziehen, um die starke Betonung des Herkommens zu Beginn des Prozesses zu erklären – es handelte sich schlicht um eine Verfahrensnotwendigkeit. 475 Auch die necessitas erscheint nun in einem anderen Licht: Armand Maruhn hat die Bedeutung der Landeshoheit sehr niedrig veranschlagt und davon gesprochen, „im Mittelpunkt der juristischen Argumentation der fürstliche Seite“ habe „die necessitäre Prärogative des Landesherrn“ gestanden. 476 Dazu ist festzuhalten, dass die necessitas tatsächlich nur in der Steuerfrage wirklich zentral war, während sie in der Auseinandersetzung über die Ansprüche auf eigenständiges politisches Agieren und Selbstversammlung keine entscheidende Rolle spielte. Und ebenso wie in diesen beiden Fragen die superioritas territorialis die organisierende Mitte der Argumentation bildete, so wurden auch die Notstandsbefugnisse aus der Herrschaftsgewalt hergeleitet. Die necessitas gewährte dem Fürsten zwar weitgehende Befugnisse, warf aber gleichzeitig immer auch die Frage nach dem Normalzustand auf, die wiederum nur unter Bezug auf die Landeshoheit beantwortet werden konnte. 477 Insofern ist die Bedeutung der Landeshoheit für die Struktur der Argumentation deutlich höher einzuschätzen als die der necessitas.

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abgehandelt wird, III, S. 360f.: „Wer solchem nach ein dergleichen mandat ohne clausel ausbringen will, muß, nächst anderen stücken […]: I) die geschichts-erzählung seiner bittschrift, und daß vom gegentheile eine auf keine weise zu rechtfertigende handelung wider ihn unternommen worden sey, etlicher maßen bescheinigen; darnebst z. e. bei beschehener beeinträchtigung vom beklagten, nicht allein dise, sondern auch, nächst der gewalt, den vorherigen ruhig gehabten besitz beibringen.“ Mandatum 1647, es folgt die Beschreibung der Steuer- und Selbstversammlungsrechte. – Iuris quasi possessio meint dabei den Besitz von Rechten. Da man im römischen Recht ursprünglich Besitz (possessio) nur an körperlichen Sachen haben konnte, war der Besitz von (unkörperlichen) Rechten dem eigentlichen Besitz eben nur ‚ähnlich‘ und daher eine quasi possessio; vgl. Wesener, Zur Verflechtung von Usus modernus pandectarum und Naturrechtslehre, S. 478f. In der Untersuchung der Parteiargumente konnte nicht genauer auf den Stellenwert des Herkommens im weiteren Prozessgeschehen eingegangen werden. Nach Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 244–246 kam es zu einem „Bedeutungsverlust“ des Herkommens. Dem kann ich mich nicht anschließen: Zwar rückte die Landesrepräsentation in den Mittelpunkt, aber in allen Prozessschriften nehmen Herkommensbeweise eine wichtige Stellung ein. Richtig ist zwar, dass eine nur auf Herkommen und Vertragsbande gestützte Gesamtargumentation an Bedeutung verlor, aber daraus scheint mir nicht zu folgen, dass dies auch für das Herkommen als Einzelargument gilt. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 272. Vgl. ebd., wo Maruhn auf diesen Sachverhalt selbst, aber eben erst am Ende, hinweist.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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Schließlich muss auch der Stellenwert der Begriffe ‚Vaterland‘ und ‚Patria‘ neu überdacht werden. Einerseits hat Robert von Friedeburg völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass im Rahmen des Deutungskonflikts für alle Parteien entscheidend war, vom Vaterland zu sprechen. Diese Notwendigkeit konnte im Rahmen der hier vorgenommenen Analyse voll bestätigt werden, denn das Landeswohl stellte den wichtigsten Bezugspunkt dar, auf den jede Argumentation hinführen musste. Aber an vielen Stellen geht Friedeburg darüber hinaus und hält die Patria-Rhetorik nicht nur für einen notwendigen Bezugspunkt, sondern auch für ein schon hinreichendes Argument: Die „Beschreibung der Ritter nicht nur als Lehensleute und Vasallen, sondern auch als ‚Patrioten‘ “ und die mit dem Herkommen belegte Behauptung, „für das Vaterland und als Patriot tätig gewesen zu sein“, sei ein effektives Instrument für den „Nachweis öffentlich rechtlicher Befugnisse“ im Besitz der Ritterschaft gewesen. 478 Hier ist entschieden zu widersprechen, denn die Analyse des Reichskammergerichtsprozesses hat klar gezeigt, dass der Status einer persona publica (die Voraussetzung für den Besitz ebensolcher Befugnisse) auf Seiten der Stände stimmig nur durch den Repräsentationsbeweis und nur für die Ständegesamtheit beansprucht werden konnte. Entscheidend war nicht, dass man sich auf das Vaterland bezog, denn das mussten ohnehin alle Akteure, die einen öffentlich-rechtlichen Status beanspruchten. Entscheidend war, mit welchen Argumenten man das tatsächliche Bestehen eines solchen Bezuges jenseits einer bloßen Behauptung plausibel machen konnte. Und hier reichte der „Nachweis der Opfer und Taten für das Vaterland“ gerade nicht aus: Die Ritter mochten Patrioten und die Ritterschaft eine patriotische Korporation sein, aber ihre Abdrängung ins Privatrecht konnten sie damit nicht verhindern – weil sie keine Repräsentanten des Landes waren. 479 478

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Friedeburg, Adel und ständische Vertretungen: Repräsentationen des Landes?, S. 183; vgl. den wichtigsten Nebenbeleg Ders., Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 324: „Weil aber die Argumentation mit ständischen Gerechtsamen in den Sog ihrer privatrechtlichen Deutung geriet, sahen sich die Ritter darüber hinaus genötigt, über den Hinweis auf ihre ständischen Ansprüche als – vermeintliche – Korporation auf die besonderen Leistungen für das Vaterland zu verweisen, die diejenigen in der Vergangenheit und Gegenwart erbracht hätten, die nun ein Recht forderten, am Regiment durch Beratung und Widerspruch teilzuhaben.“ Vgl. aber Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 286f.: „Die Auseinandersetzung zwischen Fürsten und Ständen – nicht nur im Reich – kann im Verlauf des 17. Jahrhunderts daher nicht zuletzt […] auch als Rechtsstreit um die Handhabung des Not- und Ausnahmezustandes verstanden werden. Dabei konnten beide Seiten auf ihre je unterschiedliche Deutung des Herkommens und auf das Instrumentarium des Römischen Rechts zur Deutung des Herkommens zurückgreifen, die Fürsten mit dem Hinweis auf imperium und maiestas, die Stände mit dem Hinweis auf ihre repraesentatio

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Zweitens helfen die Erkenntnisse, die anhand des Reichskammergerichtsprozesses gewonnen werden konnten, die noch ausstehende Untersuchung der Verhandlungen, die letztlich zum Vergleich von 1655 führten, zu strukturieren: Im Verlauf des Gerichtsprozesses zeichnete sich ab, dass sich die Parteien auf eine Verfassungsordnung würden einigen können, in der fürstliche Herrschaft und ständische Herrschaftspartizipation miteinander verbunden wären – auf welche Weise auch immer. Eben eine solche Herrschaftsordnung wurde nun 1655 tatsächlich als Ergebnis der fürstlich-ständischen Verhandlungen fundamentalgesetzlich festschrieben. Im gerichtlichen Deutungskampf konnte der Anspruch der Ständegesamtheit auf Herrschaftspartizipation nur gerechtfertigt werden, indem die ritterschaftliche Argumentation auf eine repräsentationstheoretische Grundlage gestellt wurde. Da nun der Rechtfertigungsimperativ nicht nur vor Gericht, sondern im Prinzip auch in Verhandlungen gilt, 480 steht zu vermuten, dass sich auch in den fürstlich-ritterschaftlichen Verhandlungen eine ähnliche Wende hin zur Landesrepräsentation und eine Fokussierung auf die Ständegesamtheit zeigt. Diese Vermutung wird noch dadurch gestützt, dass die Ritter sowohl vor Gericht als auch in den Verhandlungen auf dasselbe Argumentationsarsenal zurückgreifen konnten, das schon vor dem Ausbruch des Ständekonflikts aufgebaut worden war, und daher vergleichbaren argumentativen Beschränkungen unterlagen. 481 Allerdings ist es ebenfalls wahrscheinlich, dass in den Verhandlungen die Logik der argumentativen Rechtfertigung nicht wie vor Gericht ‚in Reinform‘ zum Ausdruck kommt, weil hier noch andere Kalküle eine

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der universitas. Und hier zeigen gerade die hessischen Quellen, dass die Stände dem Landgrafen die Handhabung besonderer Notlagen nicht passiv als Untertanen überließen, sondern mit ihm unter Rückgriff auf eine ganze Reihe von Argumenten, besonders aber mit Rückgriff auf den Begriff des Vaterlandes, um die Befehlshoheit im Notstand konkurrierten.“ Der zweite Satz entspricht der hier vorgelegten Deutung des Deutungskonflikts, aber Friedeburg geht an keiner Stelle mehr auf die Repräsentation ein, sondern widmet sich stattdessen der Patria-Rhetorik. Dass der Rechtfertigungsimperativ vor Gericht gilt, bedarf keiner weiteren Erläuterung, ist das Gerichtsverfahren doch sogar eine zentrale Metapher in diesem Kontext (vgl. Boltanski, Thévenot, Über die Rechtfertigung, S. 195 und passim). Er galt aber auch für Verhandlungen. So wurde kürzlich hinsichtlich frühneuzeitlicher Kongressverhandlungen mit guten Gründen die These vertreten, dass alle beteiligten diplomatischen Akteure „die Notwendigkeit der Rechtfertigung ihres Verhaltens“ unterstellten. (Köhler, Strategie und Symbolik, S. 356). Diese Aussage lässt sich sicherlich verallgemeinern; vgl. etwa Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, S. 51–55. Damit ist auch klar, dass hier in keiner Weise behauptet werden soll, dass der juristischtheoretischen Auseinandersetzung in welcher Hinsicht auch immer ein Primat zukäme, sie also die Verhandlungspraxis kausal beeinflusst und – im Wortsinne – präjudiziert hätte, was schon deshalb wenig wahrscheinlich ist, weil beide Wege gleichzeitig bestritten wurden.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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Rolle spielten. So musste etwa auf den Verhandlungspartner Rücksicht genommen werden und zwar sowohl auf seinen Rang als auch auf seine Forderungen, wenn man nicht den Abbruch der Gespräche riskieren wollte. 482 Daher steht die Rechtfertigung als solche hier nicht im Vordergrund, sondern ist in eine übergeordnete Verhandlungsstrategie eingebunden, was häufig bedeutet, dass die rechtfertigenden Argumente nur teilweise präsentiert, oftmals nur angedeutet oder sogar gerade nicht angeführt werden. Wenn aber gezeigt werden könnte, dass die Hinwendung zu Landesrepräsentation und die damit verbundene Aufwertung der Ständegesamtheit gegenüber der Ritterschaft nicht nur im Reichskammergerichtsprozess, sondern auch in den Verhandlungen eine wichtige Rolle gespielt hat, dann wäre die übergreifende Verlaufslogik des Ständekonflikts identifiziert und beschrieben. Dann wäre zum einen belegt, dass die ‚repräsentationstheoretische Wende‘ nicht etwa nur dem Einfluss der juristischen Berater der Ritterschaft geschuldet, sondern dass das Konzept der politischen Repräsentation tatsächlich zur wesentlichen Selbstwahrnehmungsund Deutungskategorie der Ritter geworden war. Und auf dieser Grundlage ließe sich dann auch die letzte Erklärungslücke schließen und ein Zusammenhang herstellen zwischen dem Ständekonflikt selbst, der in seiner zentralen Eigenschaft als Deutungskonflikt eine Landeshoheit und Landesrepräsentation kombinierende Verfassungsordnung normativ aufwertete, und seiner Bewältigung in Form der faktischen Festschreibung einer landständischen Verfassungsordnung im Vergleich von 1655. 483 482

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Mehr noch: Es war sogar nötig, die direkten Verhandlungen zusätzlich gegenüber dem Gerichtsprozess abzuschotten. So waren die Ritter etwa in den Exceptiones indirekt der Rebellion und des crimen laesae majestatis bezichtigt worden (vgl. Exceptiones 1651, Art. 7 und Art. 49). Daraufhin beschwerten sich die Ritter beim Landgrafen (vgl. ‚Copia Schreibens an IFG Herrn Landtgraff Wilhelmen zu Heßen von sämptlicher Ritterschafft des Nieder- undt Oberfürstenthumbs Heßen Caßelleschen Theil [o. O. 1651 März 6]‘, in: StAM 5 Nr. 14660, fol. 25r–27v), dessen Räte erwiderten, so Maruhn, „es habe sich lediglich um ‚nötige defensiones‘ gegen das Vorbringen der Kläger gehandelt. Man beschuldige sie nicht der Rebellion.“ (Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 49). Eine weitere Strategie, nun von Seiten der Ritter, bestand darin, in den direkten Verhandlungen nie den Fürsten, sondern immer nur vage seine Räte zu beschuldigen, während sich die Klage am Reichskammergericht explizit gegen den Fürsten richtete (vgl. ebd.). Neben der hier vermuteten gemeinsamen argumentativen Dynamik gab es auch noch andere Verbindungen zwischen den beiden Wegen, schließlich waren es dieselben Personen, die das Vorgehen auf dem Rechts- und Verhandlungsweg leiteten. Da solche Verbindungen die beiden Wege noch enger aneinander rücken würden, können sie hier außen vor bleiben, da die weitergehende These vertreten wird, dass Prozess und Verhandlungen auch dann eine gemeinsame argumentative Dynamik aufgewiesen hätten, wenn überhaupt keine weiteren Beziehungen bestanden hätten. – Wollte man die Verbindungen zwischen den beiden Wegen systematisch analysieren, könnte man von den

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

5.3.5 Der „Weg des Bitten undt Flehens“: Rechtfertigen, Verhandeln und der Vergleich von 1655 Auf die fürstlich-ritterschaftlichen Verhandlungen, so ist vorauszuschicken, wird noch selektiver zugegriffen als auf den Reichskammergerichtsprozess: Da der zweite Ständekonflikt, der neben dem Gerichtsauch einen Verhandlungsprozess umfasst, als Deutungskonflikt analysiert wird, kommt in dieser Perspektive auch die Eigenlogik des Reichskammergerichtsprozesses in den Blick, da das Gerichtsverfahren im Kern ebenfalls eine Prüfung von rechtfertigenden Argumentationen darstellt. Im Hinblick auf die Verhandlungen ist das jedoch nicht der Fall: Verhandlungen bilden ein Sozialsystem eigener Art, in dem Argumentationen zwar eine Rolle spielen, aber keineswegs vorherrschend sind. 484 Es geht daher im Folgenden nicht darum, die Verlaufslogik der Verhandlungen zu untersuchen und umfassend nachzuvollziehen, warum sich Fürst und Ritterschaft auf den Vergleich von 1655 einigten. Eine solche Analyse ist aber auch nicht notwendig, denn innerhalb der Menge der Verhandlungsgegenstände machen diejenigen, die für die landständische Verfassung relevant sind, nur einen kleinen Teil aus. 485 Vielmehr muss gefragt werden, ob die Veränderung der ritterschaftlichen Rechtfertigung, die für den Weg Rechtens festgestellt wurde, auch im Rahmen der Verhandlungen eine Rolle spielt, ob also die ‚repräsentationstheoretische Wende‘ und die damit verbundene Aufwertung der Ständegesamtheit zuungunsten der Ritterschaft auch dann noch einen wirksamen Faktor darstellt, wenn die Rechtfertigungslogik nicht vorherrschend ist. Dann nämlich hätte man gezeigt, dass der Deutungskonflikt hinsichtlich seiner Verlaufslogik tatsächlich als ‚Prüfung im Rahmen einer Rechtfertigungsordnung‘ analysiert werden kann und in seiner Dynamik

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Verhandlungen ausgehen, diese als „Prozess des Signalisierens“ (Köhler, Strategie und Symbolik, S. 302) modellieren und das parallel laufende Gerichtsverfahren als Serie „ ‚teurer‘ Signale“ (ebd.) verstehen, die im Verhandlungsprozess als Informationen über die Motive der Beteiligten verarbeitet werden können. Vgl. dazu umfassend ebd., S. 298– 306. Vgl. zur Logik von Verhandlungen umfassend und mit weiterführender Literatur Köhler, Strategie und Symbolik. – ‚Bitten und Flehen‘ meint in diesem Zusammenhang Verhandlungen unter Ungleichen, geht also über ein bloßes Supplizieren hinaus; vgl. zum letzteren Würgler, Nubola, Politische Kommunikation und die Kultur des Bittens. Neben den hier behandelten Gravamina, die für die Verfasstheit der fürstlich-ständischen Beziehungen einschlägig sind, handelt es sich vor allem um Justizgravamina; vgl. dazu Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 127–175, der die Auseinandersetzung um das Justizwesen eingehend beschreibt.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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zu einer Aufwertung der Landesrepräsentation und ihrer Verbindung mit der Landeshoheit führte. Der Frage nach dem Stellenwert der ‚repräsentationstheoretischen Wende‘ wird im Folgenden für zwei Teilbereiche der Verhandlungen nachgegangen: Erstens wird die Art und Weise in den Blick genommen, wie die Ritterschaft ihre Forderungen insgesamt rahmte, präsentierte und in die Verhandlungen einführte; zweitens werden dann die einzelnen Forderungen mit Relevanz für die landständische Verfassung daraufhin verglichen, wie sie konkret ‚verhandelt‘ wurden, ob sie also akzeptiert oder zurückgewiesen, aufrechterhalten oder fallengelassen wurden. Aber um es noch einmal klarzustellen: Diese Untersuchungen sollen nur herausfinden, ob die Verschiebung innerhalb der ritterschaftlichen Argumentation ein wirksamer Faktor innerhalb der Verhandlungen war; sie sollen (und können) hingegen nicht zeigen, welchen Stellenwert dem Faktor ‚Argumentation‘ im Rahmen der Logik der Verhandlungen insgesamt zukommt. 486 In der ersten Phase des Ständekonflikts, die mit der Getreideforderung vom April 1646 begann und im Spätsommer des Folgejahres endete, als die Regentin auf die Remonstration von 1647 nicht reagierte, war die Strategie der Adeligen eindeutig darauf abgestellt, die politische Eigenständigkeit der Ritterschaft möglichst stark herauszustreichen: Der Kaufunger Konvent im Dezember 1646 war nicht nur eine rein ritterschaftliche Versammlung, sondern beschloss zudem eine Verstetigung der kollektiven Handlungsfähigkeit der Ritterschaft nach dem Vorbild von 1625. Bei der zweiten Kaufunger Zusammenkunft im März 1647 war es allein die Ritterschaft, die für sich ein unbedingtes Selbstversammlungsrecht in Anspruch nahm. 487 Die nach mehrmaligen Verboten im August der Regentin übersandte Remonstration verteidigte dann nicht nur das Selbstversammlungsrecht der Ritterschaft, sondern stellte sie zudem als korporativ verfassten Akteur mit eigenen, nicht abgeleiteten politischen Teilhaberechten dar. 488 Und der schließlich im September vom Reichskammergericht erteilte Rechtsschutz galt ebenfalls – der Ritterschaft. 489 Danach ruhte der Konflikt zunächst für zwei Jahre, weil die Ritter das Schweigen der Regentin als stillschweigende Zustimmung in Bezug 486

487 488 489

Zwar ist es frappierend, wie sehr die Regelungen des Vergleichs von 1655 im Hinblick auf die fürstlich-ständischen Beziehungen dem ‚Argument der größten Stimmigkeit‘ entsprechen, aber da die Verhandlungen selbst hier nicht untersucht werden können, kann auch nicht behauptet werden, dass sich die Parteien deshalb auf eine Einigung verständigten, weil sie (durch Argumentation) am besten gerechtfertigt gewesen sei. Vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 44. Vgl. Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus, S. 299–304. Vgl. Mandatum 1647.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

auf die Remonstration interpretierten und sich die Aufmerksamkeit der Regentin auf die Auseinandersetzungen mit der Darmstädter Linie und die Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück richtete. 490 Nachdem aber mit dem neuen Hauptaccord vom April 1648 und dem Westfälischen Frieden vom Oktober desselben Jahres wieder ein umfassender Friedenszustand hergestellt war, intensivierte sich die ritterschaftliche Opposition erneut. Schon Anfang 1649 waren sich die beiden Führer der niederhessischen Ritterschaft, die Obervorsteher Hans Diede zum Fürstenstein und Otto von der Malsburg, darin einig, dass es nun an der Zeit sei, alles in seinen vorigen Stand zu bringen. 491 Damit war ein sehr weitreichender Anspruch verbunden, denn es sollten nicht nur alle Neuerungen, die der Dreißigjährige Krieg gebracht hatte, etwa die Kontribution, rückgängig gemacht werden, sondern auch alle Veränderungen, zu denen es in Folge des Erbfolgestreits gekommen war, wozu vor allem die Blockierung gesamthessischer Institutionen wie des allgemeinen Landtags und des Samthofgerichts zählte. Als die Ritter jedoch daran gingen, diese Ansprüche durchzusetzen, schlugen sie einen ganz anderen Weg ein als noch zwei Jahre zuvor. 492 Nach weiteren Vorbereitungen lud der Erbmarschall schließlich für den 24. Oktober zu einer Zusammenkunft nach Kirchhain. Dort sollte aber keineswegs die niederhessische Ritterschaft zusammentreten, die seit zwei Jahren davon ausging, dass Amalie Elisabeth ihr Selbstversammlungsrecht anerkannt hatte, sondern – die hessische Ständegesamtheit. Die letzte Versammlung dieser Art lag zu diesem Zeitpunkt schon mehr 490 491 492

Vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 51f. Vgl. auch Wolff, Hessen-Kassel auf dem Westfälischen Friedenskongreß 1648. ‚Obervorsteher Hans Diede zum Fürstenstein an Obervorsteher Otto von der Malsburg. 1649 Jan. 29‘, in: StAM 304 Nr. 33, zitiert nach Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 53. Es kann hier offenbleiben, warum genau die Ritter zu den Verfassungsverhältnissen vor 1604 zurückkehren wollten, weil es zunächst nur darum geht, auf welche Weise sie die Forderungen durchzusetzen trachteten. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 96– 126, hat argumentiert, „weit wichtiger“ als konkrete politische Interessen sei „das tief verwurzelte Bewusstsein einer selbstverständlichen gesamthessischen adeligen Identität“ gewesen (ebd., S. 124), aus dem heraus die Ritter gehandelt hätten. Wenn aber das „Landesbewusstsein“ (ebd.) so stark war, dann müssten die Ritter stets die Landeseinheit verfolgt haben. Im Laufe der vorliegenden Untersuchung konnte jedoch gezeigt werden, dass weder die ständische noch die ritterschaftliche Politik durchgehend von einem gesamthessischen Standpunkt aus betrieben wurden, sondern ein solcher Standpunkt immer nur zeitweise eingenommen wurde: Nach dem Ausbruch des Erbfolgestreits verliert sich der Anspruch ab etwa 1616 und wird dann ab 1625 und ab Ende der 1630er Jahre jeweils kurzfristig reaktiviert. Landesbewusstsein mag eine Rolle gespielt haben, aber es ist nicht zu verkennen, dass starke gesamthessische Institutionen vor allem die Position der Landstände gegenüber den Fürsten stärken konnten.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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als zwölf Jahre zurück und war zudem von beiden Landgrafen genehmigt worden. 493 Jetzt aber wurden auf Betreiben Malsburgs und Diedes alle Ritter und Städte des Fürstentums geladen, ohne dass die beiden fürstlichen Linien auch nur informiert worden wären. Damit wurde zunächst einmal faktisch ein bisher unbekanntes Selbstversammlungsrecht für die Ständegesamtheit in Anspruch genommen; 494 wichtiger aber war, dass beginnend mit dem Kirchhainer Konvent die ritterschaftliche Politik in einem wesentlichen Punkt neu ausgerichtet wurde: Während in der ersten Phase des Ständekonflikts die Adeligen der Regentin in Gestalt des Kollektivakteurs ‚Ritterschaft‘ gegenübergetreten waren, so sollten 1649 die neuen Forderungen von der Ständegesamtheit durchgesetzt werden. Otto von der Malsburg schrieb in diesem Sinne an den Bürgermeister von Kassel, es sei an der Zeit, daß die sämbtliche Stände wieder aus einem Horn blasen undt vor einen Man stehen. 495 493

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Vgl. ‚Präliminarabschied. Treysa 1637 Febr. 14‘, in: Hollenberg II, Nr. 83, S. 340–344. Der vorletzte Zusammentritt der Landstände des gesamten Fürstentums liegt noch einmal zehn Jahre zurück; es handelt sich um den letzten gesamthessischen Landtag von 1628 (vgl. LTA 1628 März). – Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 56, meint, es habe sich um einen „fürstenlosen Landtag“ gehandelt. Diese Bezeichnung scheint mir jedoch zu drastisch zu sein, denn das Beispiel von 1637 zeigt, dass sich die Ständegesamtheit durchaus auch ohne den Fürsten versammeln konnte. Es handelte sich also, wie schon 1637, um eine „gesamthessische landständische Zusammenkunft“ (so die Bezeichnung bei Hollenberg II, S. 340, für die Versammlung von 1637), die allerdings nicht genehmigt worden war. Vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 56, der von der „Brisanz des geplanten Konvents“ spricht. Da den Rittern diese Brisanz bewusst war, versuchten sie die Berufung unter anderem damit zu rechtfertigen, dass die Landstände sich über die „erforderlichen Beiträge zum Hochzeitsgeschenk für Lg. Wilhelm und zu verschiedenen Patengeldern“ beraten müssten (Hollenberg III, S. 3). Wie aber aus dem Protokoll der Versammlung klar hervorgeht, war dieser Grund vorgeschoben (vgl. ‚Ritterschaftliches Protokoll. Kirchhain 1649 Okt. 24‘, in: Hollenberg III, Nr. 2, S. 3–5). ‚Exceptiones sub et obreptionis Anwaldts Ihr. durchleuchtigen Fürstin undt Frauen, Frauen Amelien Elisabethen Landtgrävin zue Hessen p. undt Ihr. Gn. geheimbte undt Regirungs Räthe contra die samptliche Riierschafft deß Niderfürstenthumbs Hessen p. Ulteriori mandati poenalis since cla[usul]a de Relaxando & Restit[udend]o sine cla[usula] den Erbmarschallen Curt Riedteseln undt Otto von der Malßburg betrf. Präsentationsvermerk Speyer 1652 Feb. 10/20, in: StAM 255 H Nr. 140, unfoliiert, 32 S. (= Exceptiones 1652), Art. 33. Das Mandat, gegen das sich diese Einredeschrift wendet, war von der Ritterschaft beantragt worden, nachdem der Erbmarschall und Otto von der Malsburg wegen des Kirchhainer Konvents von der Regentin mit Arrest und Geldstrafen belegt worden waren. Das Mandat erging am 23. September 1651 und findet sich in StAM 255 H Nr. 140. – Wie sich aus Exceptiones 1652, Art. 30–33 ergibt, war der Bürgermeister von der Regentin vorgeladen worden und musste seine Korrespondenz mit Malsburg ausliefern. Daher konnte in der fürstlichen Einredeschrift aus dem Brief Malsburgs zitiert werden.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Diese Neuausrichtung zeigt sich am deutlichsten am Zweck, den die Ritter mit der Annäherung an die Landschaft und dem Kirchhainer Konvent verfolgten: Die Ständegesamtheit sollte sich nämlich eine Liste von insgesamt 29 Gravamen zu eigen machen, den beiden fürstlichen Linien vorlegen und Abhilfe verlangen. Im Entwurf dieser Liste heißt es daher zum Schluss auch unmissverständlich: So geleben Ritter- und Landtschafft der unterthenigen gewißen Zuversicht, die Fürsten würden die Gravamina gnädig aufnehmen und abstellen. 496 Allerdings handelt es sich bei den Gravamina, die zu den „Schlüsseldokumenten“ 497 des Ständekonflikts gehören, im wesentlichen um ritterschaftliche Anliegen, von denen einige schon auf dem Landtag von 1640 von der Ritterschaft vorgebracht, die meisten aber formuliert wurden, nachdem 1646 auf dem ersten Kaufunger Konvent beschlossen worden war, dass ein iedes geschlecht förderlichst seine gravamina schrifftlich dem erbmarschalck einschicken solle. Nun war aber ebenfalls beschlossen worden, dass sich dieser Gravamina in der Folge das gantze corpus von der ritterschafft anzunehmen gedenke, was ja dem Politikansatz der ersten Phase durchaus entsprach. 498 Warum aber machten sich die Ritter zwei Jahre später die Mühe, die Landschaft, mit der sie seit 1640 wegen der Kontribution zerstritten waren, auf ihre Seite zu ziehen und gingen dafür mit der eigenmächtigen Beschreibung der Ständegesamtheit auch noch ein hohes Risiko ein? Da die Gravamina auch Forderungen enthielten, die sich inhaltlich auf die landständische Verfassung bezogen, liegt die Vermutung nahe, die Ritter seien der Überzeugung gewesen, dass solche Forderungen auch nur von der Ständegesamtheit erhoben werden könnten. Das ist jedoch unwahrscheinlich, denn in der jüngeren Vergangenheit waren auch und gerade gesamtständische Rechte immer wieder allein von der Ritterschaft eingefordert worden, wie sich etwa an der Remonstration von 1639 gezeigt hatte.

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‚Copia Gravaminum so da haben sollen übergeben werden. Anno 1649‘, in: StAM 304 Nr. 508, unfoliiert, 18 S. (= Entwurf Gravamina 1649), S. 17. Inhaltsangabe bei Rommel IX, S. 177–184; vgl. auch Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 53–55, der allerdings nicht darauf hinweist, dass es sich bei dem von ihm (und auch hier) zitierten Dokument um einen Entwurf handelt, der später noch deutlich abgeändert wurde, bevor die Gravamina dann im Rahmen des Landtags 1650 übergeben wurden; eindeutiger bei Hollenberg III, S. 11, Anm. 16. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 53. ‚Abschied der Ritterschaft. Oberkaufungen 1646 Dez. 10‘, in: Hollenberg II, Nr. 97, S. 419–424, S. 421. Dass es sich im Kern um ritterschaftliche Gravamina handelte, wird deutlich aus Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 53f., in Verbindung mit Hollenberg III, S. 11, Anm. 16. Zu den Gravamina von 1640 vgl. Hollenberg II, S. 371, Anm. 658.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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Armand Maruhn hat vor allem auf die von den Rittern „erhoffte finanzielle Unterstützung“ als Motiv hingewiesen, sich mit den Städten zu versöhnen. 499 Die Aussicht auf zusätzliche Geldmittel wird sicherlich eine Rolle gespielt haben, aber ein anderer Punkt ist noch wichtiger: Direkt das erste Gravamen betraf die Wiederherstellung der allgemeinen, also gesamthessischen und gesamtständischen Landtage bei gleichzeitiger Abschaffung der Landkommunikationstage in den beiden Teilfürstentümern. 500 Es handelte sich offenbar um das Hauptanliegen der Ritterschaft, denn es führte nicht nur die Liste an, sondern wurde auch als einziges mit einer ausführlicheren Argumentation gerechtfertigt. 501 Es würde von den politicis für unstrittig gehalten, daß alle Verfaßungen der alten Konigreiche und Fürstenthumer auff eine Landtschafft gestellet. Wann immer nämlich Entscheidungen de rebus arduis ad regni vel principatus commodum spectantibus zu fällen seien, so wird unter Bezug auf Philippe de Commynes und Christoph Besold ausgeführt, müssten die Fürsten den senatum einbeziehen, weil es nämlich rechtens und angemessen sei, in solchen Fällen den subditorum consensu[s] einzuholen. 502 Die Ritter begründeten also den Anspruch auf gesamthessische Landtage ausdrücklich mit einem Repräsentationsargument. Damit kam es auch in der politischen Praxis, ebenso wie im Gerichtsprozess, in genau dem Moment zu einer Aufwertung der Ständegesamtheit, als zum ersten Mal das Konzept der politischen Repräsentation explizit zu Rechtfertigungszwecken herangezogen wurde. 503 499 500

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Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 56. Vgl. Entwurf Gravamina 1649, S. 1, Gravamen Nr. 1: Und zwar erstlich wirdt gebethen, daß die algemeinen Landtage […], alß durch welche in und alle Wege der regirende Landtßfürsten undt deß Vatterlandtßs Wohlfahrt erhalten […], wiederumb forderlichst ahngestellet, die particular Landtäge und dadurch nicht wenig veruhrsachter hochschädlicher Tren- und Zergliederunge, eingestellet, daß Corpus wieder ergäntzet, durch diß Mittell zue guetem Vertrauen und Einigkeit ein gantz fundament gelegt, […] vor allen Dingen wen Sachen vorfallen, darunter Landt und Leuthe interessiret, mit den Landtständen alß eingebohrenen patriotes und nicht nuhr mit etlichen wenigen Ministris dieselben consultirt, geschloßen undt effectuirt. Nur an einer anderen Stelle des Entwurfs werden weitere juristische Argumente eingeführt: In Entwurf Gravamina 1649, S. 13f., Gravamen Nr. 20, geht es um die Verletzung ritterschaftlicher Freiheiten im Hinblick auf die Tranksteuer. Entwurf Gravamina 1649, S. 2. Obwohl der Beweis mit fast denselben Worten eingeführt wird wie in den Schriftsätzen des Reichskammergerichts, scheint es keine gemeinsame Vorlage gegeben zu haben. In Entwurf Gravamina 1649, S. 2, wird beispielsweise auf Besold. in axiomat. de Consilio politic. verwiesen, in Gutachten 1651, S. 4, hingegen auf Christoph. Besold. colleg. polit. (so in Übernahme auch in Duplik 1653, S. 12). ‚Landschaft‘ meint hier ‚gemeine Landschaft‘ im Sinne der Ständegesamtheit, vgl. oben 3.1. Es wäre noch genauer zu untersuchen, ob Malsburg, der die Gravamina bearbeitete (vgl. Exceptiones 1652, Art. 33), das Repräsentationsargument selbst einführte oder

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Der Plan der Ritter scheiterte jedoch vollständig und fachte den Ständekonflikt sogar erneut an: Die Städte verweigerten sich einem gemeinsamen Abschied nämlich nicht nur, sondern informierten beide fürstlichen Linien ausführlich über die Beratungen. 504 Die Ritter ließen sich jedoch davon nicht abschrecken und baten Amalie Elisabeth noch Anfang November, also nur einige Tage nach dem gescheiterten Konvent, um die Ausschreibung eines allgemeinen Landtags. Als der Regentin dann im Dezember auch noch eine Abschrift der Gravamina in die Hände fiel, die Otto von der Malsburg an den Kasseler Bürgermeister Ernst geschickt hatte, erfolgte eine harsche Reaktion: Der Obervorsteher wurde Anfang 1650 in Kassel drei Wochen lang unter teilweise sogar verschärften Arrest gestellt, ausführlich verhört und schließlich, wie auch der Erbmarschall, mit einer empfindlichen Geldstrafe belegt. 505 Diese Reaktion führte auf Seiten der Ritterschaft dazu, dass der Reichskammergerichtsprozess mit der Erneuerung des Mandats von 1647 wieder aufgenommen wurde, während an Verhandlungen über die Gravamina zunächst nicht zu denken war. 506 Die Situation änderte sich erst, als Wilhelm VI. im Herbst 1650 die Regierung von seiner Mutter übernahm und zu diesem Anlass einen allgemeinen Landkommunikationstag ausschrieb. 507 Und obwohl der Versuch, die Ständegesamtheit einzuschalten und zum Träger der Gravamina

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ob er dazu von einem seiner vielen juristisch gebildeten Kontakte angeregt wurde. In Frage käme etwa der waldeckische Rat Dr. Speiermann, mit dem Malsburg wegen des Kirchhainer Konvents korrespondiert hatte; vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 56. Vgl. Murk, Hessen-darmstädtische Landtagsabschiede 1648–1806, S. 15ff., und Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 57. Vgl. ebd., S. 57–61, und ‚Kurtzer Bericht waß mit dem Obervorsteher Otto von der Malsburg im Januario undt Februario Anno 1650 vorgegangen [o. O. o. D.]‘, in: StAD F 27 A Nr. 64/9, unfoliiert, 12 S. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 62, hat anhand der Rechnungen der Obervorsteher zeigen können, dass sich an das Vorgehen der Landgräfin „das Jahr der stärksten politischen Aktivität der adeligen Opposition“ anschloss und 1650 daher als „Höhepunkt des hessischen Ständekonflikts“ betrachtet werden kann: „Die bei den Akten des Kaufunger Stiftes befindliche Rechnung Malsburgs offenbart, dass der Obervorsteher von 1639 bis 1649 pro Jahr im Schnitt 21,8 Taler in Ritterschaftsangelegenheiten ausgab. Allein 1650 waren es dagegen ganze 716 Taler.“ Vgl. allgemein Rommel VIII, S. 781–787; Press, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), S. 319; zum Landtag vgl. Hollenberg III, Nr. 3, S. 5–16. – Das Verhältnis zwischen fürstlicher und ritterschaftlicher Seite war nicht so zerrüttet, dass man auf die Teilnahme der Ritterschaft oder einzelner Ritter an diesem wichtigen Übergangsritual verzichtet hätte: Bei dem solennen Akt der Regierungsübergabe erstattete der einige Monate zuvor noch bestrafte Erbmarschall im Namen der Stände eine Danksagung an die Regentin und auch Otto von der Malsburg war vor Ort (vgl. Rommel VIII, S. 784). Der Ständekonflikt spiegelte sich also nicht in diesem wichtigen zeremoniellen Akt.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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zu machen, im Vorjahr eklatant gescheitert war, kehrten die Ritter nicht zu dem rein ritterschaftlichen Politikansatz der ersten Konfliktphase zurück. Für den Reichskammergerichtsprozess, der erst jetzt von beiden Seiten mit Nachdruck verfolgt wurde, ist das schon im vorigen Abschnitt gezeigt worden; es galt aber auch für die fürstlich-ritterschaftlichen Verhandlungen, die mit dem Landtag von 1650 einsetzten. Der Landtag wurde am 26. September in Gegenwart des neuen Landgrafen, auf den die Ritter große Hoffnungen setzten, im Kasseler Residenzschloss eröffnet. 508 Noch am selben Tag übergaben drei ritterschaftliche Deputierte eine Supplikation und erklärten, wan IFG sich zuforderst hirin gnedig erzeigt hetten, das alßdan die Ritterschafft sich uf ihre propsition ercleren würde. 509 Schon die Art und Weise der Einbringung der Supplikation unterstreicht ihre Wichtigkeit für die Ritter, denn bisher waren ständische Anliegen immer erst nach den fürstlichen Propositionspunkten verhandelt worden. 510 In der Supplikation forderte die Ritterschaft nunmehr die endgültige und explizite Anerkennung ihres Selbstversammlungsrechts, da die Bestrafung von Erbmarschall und Obervorsteher gezeigt hatte, dass mit der Nichtbeantwortung der Remonstration von 1647 gerade keine stillschweigende Anerkennung dieses Rechtes hatte signalisiert werden sollen. Auch hier zeigt sich nun wieder die charakteristische Verschiebung: Zu Beginn der Supplik hieß es, dass wegen der in diesem Fürstenthumb hiebevorn unstreitig hergebrachten […] Zusammenkünffte der Landstände vorneulicher inhibitiones geschehen seien. 511 Trotz dieser Bezeichnung waren aber gar nicht gesamtständische, sondern ritterschaftliche Zusammenkünfte gemeint, denn am Schluss war es die sämptliche Ritterschafft, die den Landgrafen bat, sie bey dieser wohlerlangten und hergebrachten Gerechtigkeitt der Zusammenkünfften und sonsten anderer Freyheitten gnädig zulaßen und Fürstl. handzuhaben. 512 War 1647 das Selbstver508

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Vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 71. Zum Landtag vgl. das ausführliche ‚Landtagsprotokoll. Kassel 1650 Sept. 26 – Okt. 18‘ (= LTP 1650), in: StAM 5 Nr. 14808, fol. 1r–26v. LTP 1650 Sept. 26, fol. 2r. Die fürstliche Seite reagierte entsprechend: Der Landgraf zeigte sich befremdet ob dieser Haltung und wies die Ritterschaft an, sich zunächst mit den Propositionspunkten zu befassen; vgl. ‚Fürstl. Resolutio auf das Neben-Memorial. Kassel 1650 Sept. 27‘, in: StAM 73 Nr. 52, unfoliiert, 1 S. Die Ritter lenkten daraufhin ein und übergaben am 30. September ihre Erklärung auf die Proposition, verbanden das aber mit der Einreichung der modifizierten Gravamina; vgl. LTP 1650 Sept. 30, fol. 3v. ‚Unterthäniges Neben-Memorial der sämtplichen Ritterschafft des Nieder- wie auch Ober-Fürstenthumbs Heßen Caßellischen Theils, in p[unct]o der Zusammenkunft der Landstände. Kassel 1650 Sept. 26‘, in: StAM 73 Nr. 52, unfoliiert, 2 S., S. 1. Ebd., S. 2.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

sammlungsrecht noch damit begründet worden, dass die Ritterschaft für sich selbst ein Standt deß Landes und ein licitum et approbatum Corpus et Collegium seye, 513 so wird 1650 auch in diesem Punkt die Ständegesamtheit in den Vordergrund gerückt, insofern jetzt eben nicht mehr von einem ‚Stand des Landes‘, sondern kollektiv von ‚den Landständen‘ die Rede war. 514 Was den Rittern mit dem Konvent von Kirchhain in der Praxis nicht gelungen war, nämlich ihre Forderungen zu Forderungen der Ständegesamtheit zu erheben, wurde in den Verhandlungen dadurch auszugleichen versucht, dass man die ritterschaftlichen Rechtsansprüche in einen engen argumentativen Bezug zur Ständegesamtheit brachte. Hier besteht zwar kein unmittelbarer Zusammenhang mit dem Repräsentationsargument, aber gleichwohl entspricht die Entwicklung hinsichtlich des ritterschaftlichen Selbstversammlungsrecht der bisher aufgezeigten Gesamtdynamik. Aber auch das Repräsentationsargument selbst spielte in den Verhandlungen noch eine Rolle, auch wenn es zunächst nicht danach aussah, denn in den am 30. September übergebenen und nunmehr rein ritterschaftlichen Gravamina war die repräsentationstheoretische Argumentation für die allgemeinen Landtage gestrichen worden. 515 Während aber dieser Punkt durch den Verweis auf den neuen Hauptaccord schnell erledigt werden 513 514

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Remonstration 1647, fol. 3r/v. Man könnte das Neben-Memorial auch so interpretieren, dass die Ritter tatsächlich das Recht auf Beschreibung der Ständegesamtheit gefordert hätten. Aus den Verhandlungsakten (vgl. etwa das Protokoll einer mündlichen Konferenz in: LTP 1650 Sept. 9, fol. 11v–12v) und den ritterschaftlichen Stellungnahmen (vgl. etwa ‚Antwort der Ritterschafft auf IFG zue Cassel Resolution wegen der Ritterschafft Gravamina, welche nicht alle und jede membra zugleich undt durchgehend concerniren, damit selbige durch unparteyische Commissarien mit Zuziehung etlicher auß der Ritterschafft erlediget werden. Item die Communication auf den Bestand der jehnigen Sache, so des Fürstenthumbß undt ihre eigene Wohlfahrt concerniren. So dan der Ritterschafft Conventii betr.. Kassel 1650 Okt. 10‘, in: StAM 73 Nr. 52, unfoliiert, 3 S. (= Antwort der Ritterschaft 1650)), wird aber deutlich, dass es von Beginn an nur um ritterschaftliche Versammlungen ging. Vgl. Gravamina 1650, und LTP 1650 Sept. 30, fol. 3v. – Die Unterschiede zwischen Entwurf Gravamina 1649 und den tatsächlich übergebenen Gravamina 1650 gehen darüber noch hinaus: Einige Gravamen wurden gestrichen, wodurch sich auch die Nummerierung veränderte, und sprachlich wurde der Text entschärft. Hieß es etwa 1649 noch, dass mit den Landtständen als eingebornen patrioten und nicht nuhr mit etlichen wenigen Ministris (Entwurf Gravamina 1649, S. 1) in politischen Fragen geredet werden müsse, so taucht die kritische Wendung und nicht nuhr mit etlichen wenigen Ministris in den übergebenen Gravamina nicht mehr auf (vgl. Gravamina 1650, fol. 53r). Ansonsten waren vor allem Gravamina gestrichen worden, die städtische Interessen berührten und nun, da es sich nur noch um ritterschaftliche Gravamina handelte, nicht mehr gebraucht wurden; vgl. dazu näher Hollenberg III, S. 11, Anm. 16.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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konnte, 516 entwickelte sich Debatte um die Abschaffung der Partikularlandtage bald zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung über die Reichweite der politischen Teilhabe der hessen-kasselischen Ständegesamtheit. 517 Als die fürstliche Seite in dieser Frage dann den Vorwurf erhob, daß die von der Ritterschafft IFG in der Landeßfürstl. Regirung allzunahe treten und von derselbigen gleichsam mit participiren, auch IFG dero gestald, daß sie ohne Ihr Zuthun und Zuziehen in Regierungssachen nichts 516

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Vgl. Hauptaccord 1648, § 7, S. 902: „Was aber im Fürstenthumb Heßen vor Tagefahrten auff gemeinen Land-Tägen angestellet werden / da ist abgeredet / weil die gemeine Land-Täge / welche in krafft dieses Vergleichs wiederum in Gang gebracht / auch deßwegen iedesmahl […]“ Auf den Hauptaccord wird verwiesen in ‚Herrn Landgraven Wilhelms FG Resolution uff der Ritterschafft Gravamina. Kassel 1650 Okt. 1‘, in: StAM 5 Nr. 14808, fol. 70r–74v, fol. 70r. – Nachdem die Ritterschaft dann auf einer Tagung in Fritzlar davon absah, weiter die Einberufung eines gesamthessischen Landtag zu fordern, blieb es bei der Absichtserklärung des Hauptvergleichs und ein gesamthessischer Landtag fand bis zum Ende der landständischen Verfassung nicht mehr statt; vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 74. Eine generelle Abschaffung der Landkommunikationstage war schnell vom Tisch: In der ersten fürstlichen Resolution auf die Gravamina hieß es unmissverständlich, dass der Landgraf nicht akzeptiere, daß man den regirenden Landtsfürsten […] in ihrem Fürstenthumb und Landen in nach Gelegenheit und Befindung Ihrer und deßselbigen Landes vorstellenden sonderbahren Sachen und Obliegen, particularcommunicationstage mit ihren Landtständen absonderlich vorzunehmen, abschneiden oder disputiren wollen (‚Herrn Landgraven Wilhelms FG Resolution uff der Ritterschafft Gravamina. Kassel 1650 Okt. 1‘, in: StAM 5 Nr. 14808, fol. 70r–74v, fol. 70r). Und obwohl in einer ersten mündlichen Verhandlung zwischen den fürstlichen Räten und den Rittern weiterhin die Abschaffung gefordert wurde (vgl. LTP 1650 Okt. 8, fol. 9v–11v), verstanden sich die Ritter in ihrer Replik auf die Resolution schon zu folgender Formulierung: Iedoch wirdt IFG die Ritterschafft uff begebenden Nothfall particular communications Tage außzuschreiben undt zuhalten nicht zu wieder sein, daferne solches derselben zu keinen praejuditz Neuerung oder nachtheiligen consequentzen geriechet, oder nur allein auff Geldt zugeben gemeinet (‚Abgemüßigte Erinnerung auff IFG der Ritterschafft auff Ihre underth. überreichte gravamina gestriges Tags ertheilten Resolution mit nachmahliger unterth: Bitt, recht undt pillichmeßiges Suchen. Kassel 1650 Okt. 8‘, in: StAM 5 Nr. 14808, fol. 110r–128v (= Erinnerung 1650), fol. 113r). Damit war die Frage aufgeworfen, wie weit sich die politische Partizipation der hessen-kasselischen Ständegesamtheit erstrecken solle. – Im übrigen waren die Landkommunikationstage schon 1627 normativ anerkannt worden (vgl. ‚Hauptsachlicher Abscheid zwischen Herrn Landgraff Wilhelms und Herren Landgraff Georgens zu Hessen F. F. G.Gn. zu Darmbstadt auffgerichtet, sub dato den 24. Septembr. 4. Octobr. Anno 1627‘, in: Gründliche, warhaffte und vollstendige Erzehlung, Beilagen Nr. 197, S. 483–493). Diese Anerkennung war zudem schon vor dem Landtag, nämlich im Februar 1650, von den beiden fürstlichen Häusern in einem Vertrag über Reichs-, Lehens-, Landtags- und Zollsachen und gemeine Auslagen erneuert worden; vgl. den Abdruck des entsprechenden Passus bei Hollenberg III, S. 58, Anm. 5. 1639 hatten die Ritter die Regelung von 1627 noch zitiert (vgl. Remonstration 1639).

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

vorzunehmen bemechtiget sein sollen, einschrencken wollen, 518 griffen die Ritter erneut zum Repräsentationsargument: Die Ritterschaft müsse (als Teil der Ständegesamtheit) immer dann einbezogen werden, wann Sachen vorfielen, so dieses Fürstenthumbs und Ihre eigene zeitliche und Ewige Wohlfart Guth undt Blutt concernirte[n], weil für alle redtlichen politicis feststehe, daß in der gantzen Christenheit keine Heerschaft zuerfinden, welche nicht mit Ihren Landtständten und ordinibus re rebus arduis ad Regim., Ducatus vel principatus commodum spectantibus deliberiren, und mit deren Vorwißen und Rath handtlen, Aequum enim esse, ut subditorum consensu recipiantur quod sine illorum corporali ministerio et subsidio perfici non possunt unde etiam summum in hoc senatu provinciali consilium esse tradit. Besold d. consil. polit. c. alb. n. 4. 519

Die Ritter gingen offenbar davon aus, dass sie der Anführung der Landeshoheit des Landesherrn am besten begegnen konnten, wenn sie im Gegenzug auf die Landesrepräsentation der Ständegesamtheit verwiesen – und nicht etwa, wie noch 1647, auf die genuin ritterschaftlichen Huldigung- und Lehenspflichten. 520 Damit lässt sich für das Vorfeld und den Beginn der Verhandlungen eine klare Tendenz erkennen: Während die Ritter es noch 1646/47 vorzogen, die korporativ verfasste Ritterschaft als Rechtsträger und Verhandlungspartner agieren zu lassen, war ihnen seit 1649 daran gelegen, diese Funktionen auf die Ständegesamtheit zu übertragen. Und obwohl die Indienstnahme der Ständegesamtheit in der Praxis scheiterte, 521 setzten 518

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‚Fürstl. Resolution in p[unct]o derjehnige Gravaminum, welche nicht alle undt jede membra zugleich, sondern nur ettliche absonderlich concerniren. Item in p[unct]o der Riterschafft absonderlicher Zusammenkunfft. Kassel 1650 Okt. 9‘, in: StAM 73 Nr. 52, unfoliiert, 3 S., S. 2. Zuvor hatte noch eine zweite mündliche Verhandlung zwischen Räten und Rittern stattgefunden (vgl. LTP 1650 Okt. 9, fol. 11v–12v). Antwort der Ritterschaft 1650, S. 2. Die Ritterschaft bezieht sich zudem wieder auf das ‚Ausschreiben Unser Georgen / Von Gottes Gnaden / Landgrafen zu Hessen / sc. An alle und jede Deß Nider-Fürstenthums Hessen / und darzu gehöriger Graf- und Herrschafften Lande und Gebihte / getrew gehorsame Landstände / sambt und sonders. Anno 1637‘, [Druck], in: StAM 255 H Nr. 139, unfoliiert, 21 S. Remonstration 1647, fol. 3r/v. Um kurz vorzugreifen: Die Trennung von Ritterschaft und Landschaft wurde auch während des Landtag von 1650 nicht überwunden, was die Teilnehmer eines weiteren ritterschaftlichen Konvents, der vom 7. bis zum 9. November 1650 in Fritzlar tagte, heftig bedauerten. Otto Mordian von der Malsburg stellte fest: 2.) Eß lieffe ja dem Herkommen und Landtgraff Philipß Testament, wie solches die Fürstin zue Heßen selber gestehen müßen, zuwieder; bethen umb einen allgemeinen Landtag. 3.) Zue welchen Landtagen auch die Städt gehörten würden dan die samptliche Mitglieder beschrieben, könnte ein jeder in Persohn sein votum eroffnen, und die Städte wieder herbey

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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die Ritter diesen Kurs auf argumentativer Ebene fort, indem sie ihre eigenen Forderungen in einer explizit als ‚landständisch‘ markierten Form in die Verhandlungen einbrachten. Die ritterschaftlichen Ansprüche wurden mindestens in einen engen Bezug zur Ständegesamtheit gerückt (Selbstversammlungsrecht), wenn nicht sogar direkt aus den landständischen Rechten abgeleitet (politische Teilhabe), wobei für die Ständegesamtheit selbst wiederum das Repräsentationsargument in Stellung gebracht wurde. Diese Tendenz zeigt sich zweitens im weiteren Verlauf der Verhandlungen, allerdings nur indirekt, so dass sie nur durch einen Vergleich erschlossen werden kann. Betrachtet man zunächst die ritterschaftlichen Forderungen, die für die Neujustierung der fürstlich-ständischen Beziehungen relevant sind, so fällt auf, dass die fürstliche Seite sehr unterschiedlich auf sie reagierte, wobei sich grob drei Kategorien unterscheiden lassen: Einige Forderungen waren im Prinzip von vornherein akzeptabel, einige zumindest verhandelbar und einige inakzeptabel. Da neben den schriftlichen Stellungsnahmen der Parteien das Landtagsprotokoll von 1650 auch den internen Willensbildungsprozess der fürstlichen Räte dokumentiert, ist es möglich, die Zuordnung der jeweiligen Forderungen zu den Kategorien auch jenseits verhandlungsstrategischer Überzeichnungen hinreichend genau einzuschätzen. Grundsätzlich akzeptabel war für die fürstliche Seite, dass die Ständegesamtheit über politische Teilhaberechte verfügte. Für die gesamthessischen Landtage war das schon in der ersten fürstliche Resolution bestätigt worden mit Verweis auf den neuen Hauptaccord. 522 Und auch hin-

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gebracht werden. 4.) Ist Herkommen in richtigen Sachen die Stände darzu zuziehen, deselben, auch Herkommens, einer ohne den andern nichts verwilligen können, müßen also die Städte darbey nicht excludiret werden. (‚Protokoll des gesamthessischen ritterschaftlichen Deputationstags. Fritzlar 1650 Nov. 7‘, in: StAM 73 Nr. 52, unfoliiert, 4 S., S. 1f.; vgl. auch ‚Ritterschaftlicher Abschied. Fritzlar 1650 Nov. 9‘, in: Hollenberg III, Nr. 4, S. 16–20). Auch Johann Riedesel, Moritz von Bodenhausen und Christoph Sittich von der Malsburg waren der Meinung, dass die Städte an den Verhandlungen über die Gravamina beteiligt werden müssten. Dazu sollte es jedoch nicht kommen, da die Meinungsverschiedenheiten zwischen Rittern und Städten nicht beigelegt werden konnten. Stattdessen einigte sich der Landgraf mit den Städten 1653 einseitig auf einen Landtagsabschied ohne die Ritterschaft; vgl. Hollenberg III, Nr. 7, S. 31–37. Vgl. ‚Herrn Landgraven Wilhelms FG Resolution uff der Ritterschafft Gravamina. Kassel 1650 Okt. 1‘, in: StAM 5 Nr. 14808, fol. 70r–74v, fol. 70r: So viel die Anstellung der gemeinen Landtagen im Fürstenthumb Hessen wie auch die angezogene Ergentzung der sämbtlichen Praelaten, Ritter- und Landtschafft und daß mit denselben von allen Dingen darunter Landt und Leuthe interessiret, consultiret, geschloßen und effectuiret werde, betrifft. Gleich wie mit Herrn Landtgrave Georgens zu Heßen fg., daß die allgemeine Landttäge im gantzen Fürstenthumb Heßen wiederumb in gehörigen Standt

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

sichtlich der Landkommunikationstage stellte die fürstliche Seite noch während des Landtags von 1650 klar: Eß sind Ihre FG niemals gemeint gewesen, dero getreue Praelaten, Ritter- und Landschafft von wichtigen Landt und Leuthe betreffenden Sachen allerdings auszuschließen. 523 Dass der Ständegesamtheit auch das Recht der Steuerbewilligung zustehe, war ebenfalls nicht strittig. Als am 11. Oktober die Spitzen des Kasseler Regierungsapparats die ritterschaftlichen Forderungen intern diskutierten, gab Hofmeister Gottfried von Wallenstein zu Protokoll: Wan ein Fürst eine Sum Geldes haben oder Krieg anfangen wolle, müße mit den Landständen communicirt werden. Im Protokoll folgt der lapidare Eintrag: Reliqui consentiunt. 524 Größere Diskrepanzen bestanden hinsichtlich der Frage, in welcher institutionellen Form die anerkannten Partizipationsrechte ausgeübt werden sollten und wie viel Einfluss der Landgraf hier haben sollte, womit auch die Frage des Notstands aufgeworfen war. Die Ritter hatten sich mit der Behauptung, die Landkommunikationstage entsprächen weder dem Herkommen noch dem positiven hessischen Recht und seien daher abzuschaffen, keinen Gefallen getan, denn damit hatten sie die sowohl faktisch wie normativ längst anerkannte Form des allgemeinen Landkommunikationstags, zu dem alle Stände beschrieben werden mussten, unnötigerweise zur Disposition gestellt. 525 Dadurch wurde es für den Landgraf möglich, für sich selbst die Befugnis zu reklamieren, über die Form solcher Zusammenkünfte weitgehend frei verfügen zu können, was eine Renaissance der ‚ständischen Vielfalt‘ des 16. Jahrhunderts bedeutet

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gepracht werden sollen, schon verglichen und beiderseits beliebet, dadurch dan dies gravamen gefallen ist, […]. Den Rittern war der Hauptvergleich offenbar zum Zeitpunkt des Landtags nicht bekannt, vgl. Erinnerung 1650, fol. 111r. ‚Fernere fürstl. Erclahrung in p[unct]is der Communication mit dern Landtstanden der absonderlichen gravaminum, dero Landtständte Zusamenkunfft oder Conventuum. Kassel 1650 Okt. 11‘, in: StAM 73 Nr. 52, unfoliiert, 3 S., S. 1. LTP 1650 Okt. 11, fol. 19r. So deutlich wurde diese Haltung in den eigentlichen Verhandlungen aus strategischen Gründen nicht geäußert, aber die Ritter verstanden es bei einer Konferenz im Juli 1653 dann auch in dieser Richtung und fassten den Punkt treffend mit den Worten zusammen: IFG wolte ohne Ihrer Stände Bewilligung keine Steuren anlegen, außerhalb die Reichß und Kreyß Steuren welche schon von Römisch. Reich bewilliget wehren (‚Zusammenfassung in Resolutionsform. [o. O. nach 1653 Juli und vor Aug. 25]‘, in: StAM 73 Nr. 1817, fol. 1r–2v, fol. 2v). Die fürstliche Seite wies diesen Entwurf zwar zurück, aber inhaltlich traf diese Zusammenfassung die Haltung der fürstlichen Seite genau; vgl. auch das Protokoll der Konferenz zwischen Räten und Ritterschaft vom 25. bis 30 August 1653, in: StAM 73 Nr. 1817, fol. 3r–7v. – Neben dem Hofmeister waren unter anderem anwesend: Hofmarschall von Hoff, Vizekanzler Dr. Jungmann und Generalkriegskommissar Reinhard Scheffer. Vgl. Gravamina 1650, Gravamen Nr. 1, fol. 53r.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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hätte. 526 Da aber die Ritter die Landkommunikationstage noch 1650 im Prinzip akzeptierten, bestand in dieser Frage genügend Verhandlungsspielraum für einen echten Kompromiss, da die institutionelle Form des Landkommunikationstags in vielerlei Hinsicht ausgestaltet werden konnte und daher in der Tat verhandelbar war. 527 Ganz anders lagen die Dinge hingegen im Fall des ritterschaftlichen Selbstversammlungsrechts, denn dieses war aus fürstlicher Sicht in jedem Fall inakzeptabel, weshalb sich die Parteien in dieser Frage auch unversöhnlich gegenüberstanden. Schon die erste mündliche Konferenz mit den Räten am 8. Oktober 1650 musste abgebrochen werden, da die Ritterschafft darauf bestunde, daß ehe und bevor der punctus conventuum und abgenommener Straff richtig, sie sich weiter zu nichts verstehen wolten. 528 526

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Vgl. ‚Fernere fürstl. Erclahrung in p[unct]is der Communication mit dern Landtstanden der absonderlichen gravaminum, dero Landtständte Zusamenkunfft oder Conventuum. Kassel 1650 Okt. 11‘, in: StAM 73 Nr. 52, unfoliiert, 3 S., S. 1f.: inmaßen dan Ihre FG einen und den andern Ihres Mittelß nach dem exempell Ihrer hochlöbl. Vorfahren, wan es die Notthurfft erfordert, und es Ihre FG nöthig oder gut befinden, mit darzuziehen, oder auch deren Bedencken absonderlich oder ins gesambt nach Beschaffenheit der Sachen zuerfordern, nach wie vorhin entschloßen. Eß können aber IFG was disfals in ihrem arbitrio und libera voluntate bestehet, Ihr von der Ritterschafft alß eine Nothwenidgkeit nicht uffbürden laßen. Vgl. etwa die zweite, leicht modifizierte fürstliche Resolution auf die Gravamina, Kassel 1652 Juni 12, in: StAM 73 Nr. 52, unfoliiert, 14 S., S. 2.: Hierdurch aber kann undt muß deroselben nicht benommen seyn, wann Sachen, so nicht das gantze, sondern Ihrer fürstl. Gn. Landt absonderlich betreffen, vorfallen, alle oder etliche dero Landtstände zu beschreiben: […] Sintemahlen Ihrer fürstl. Gn. krafft Landsfürstlich. Stands weniger nicht frey- undt bevorstehet, alß sie sonst nicht ohngeneigt seyen, diser undt dergleichen Sachen halber Ihrem Belieben auch vorfallender Gelegenheit undt Umbständen nach entweder alle oder etliche undt zwar wenige oder mehrer auß der Landstände Mittell zu Rath zu ziehen. Die fürstliche Position lief also darauf hinaus, neben allgemeinen Landkommunikationstagen auch wieder Kurienlandtage (alle oder etliche dero Landstände) und engere Landtagsformen (wenige oder mehrer auß der Landstände Mittell) ausschreiben zu können; die Ritterschaft hingegen bat darum, IFG wollen eß hierinnen bey dem Herkommen und allgemeiner Beschreibung der landtstände Ihres Fürstenthumbs, wobey sich Herr und Knecht nun lange Zeit hero wohl befunden, gn. bewenden und verbleiben lassen (‚Copia der Ritterschaft unterthenig überreichten Memorialis. o. O. 1653 Aug. 6‘, in: StAD E 2 Nr. 20/2, unfoliiert, 16 S., S. 2f.), womit sie an den allgemeinen Landkommunikationstagen festhalten wollte. Bei der Konferenz im August 1653 zeichnete sich ab, dass man sich auf eine Kombination von engeren und allgemeinen Landkommunikationstagen würde einigen können, wobei aber die Landstände die Deputierten selbst bestimmten, womit es sich dann um ‚echte‘ Ausschusslandtage handeln würde; vgl. ‚Protokoll der Konferenz zwischen Räten und Ritterschaft vom 25. bis 30 August 1653‘, in: StAM 73 Nr. 1817, fol. 3r–7v. LTP 1650 Okt. 8, fol. 11r. Nachdem sich die Ritter beim Landgrafen entschuldigt hatten, wurde die Konferenz am nächsten Tag fortgesetzt, wobei es jetzt an den Räten war, die

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

In der schon erwähnten internen Konferenz waren sich die fürstlichen Spitzenbeamten daher auch völlig einig in Bezug auf die Einschätzung der Situation. Für Hofmeister von Wallenstein war klar: Die Hauptsache stünde uf den conventen, und in eben in dieser Hauptsache, so fügte Geheimrat Johannes Vultejus hinzu, stände man in terminis contradictoriis. 529 Also teilte man der Ritterschaft mit, dass die Zusammenkünfte nicht erlaubt werden könnten, weil solcher punct mit in die Landesfürstl. Hoheit unstreitig lauffe, 530 die Remonstration von 1647 unerheblich sei, man aber weitere Nachweise der Ritter entgegennehmen und prüfen wolle. Die Ritter beharrten darauf, ihr Herkommen schon in der Remonstration bewiesen zu haben, weshalb sie auch ferner Anführung vor unnöthig hielten. 531 Die Frage des Selbstversammlungsrechts war nicht nur äußerst umstritten, sondern auch maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Verhandlungen immer wieder stockten. 532 Für die fürstliche Partei waren also politische Teilhaberechte der Ständegesamtheit inklusive des Steuerbewilligungsrechts akzeptabel, die konkrete Form der Herrschaftspartizipation verhandelbar und die ritterschaftlichen Konvente nicht hinnehmbar. Im Hinblick auf diese Kategorisierung lassen sich nun die Verhandlungen mit dem Reichskammergerichtsprozess vergleichen, denn auch vor Gericht nahm die fürstliche Seite zu den einzelnen Rechtsansprüchen der Ritterschaft unterschiedliche Haltungen ein. Ein solcher Vergleich zeigt nun, dass die Kate-

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ablehnende Haltung des Landgrafen ebenso deutlich zu machen: Der Landgraf habe es schwerlich empfunden, das man ihro in Regierungßsachen zu nahe tretten wolte, deßen sie nicht gestendig, undt weil sie die Ritterschafft sich uff privilegia und daß Herkommen steurete, so wolten Ihre FG solcher Documenten, und womit sie sonsten ihre intention zu behaupten vermeinten, erwarten (LTP 1650 Okt. 9, fol. 11v–12r). Vgl. Hispanus [Johannes XXI.], Summulae logicales cum Versorii Parisiensis [Johannes Versor] clarissima expositione, S. 167: „Et sunt termini contradictorii, quorum unus dicit simplicem negationem alterius, ut homo, & non homo.“ ‚Fürstl. Resolution in p[unct]o derjehnige Gravaminum, welche nicht alle undt jede membra zugleich, sondern nur ettliche absonderlich concerniren. Item in p[unct]o der Riterschafft absonderlicher Zusammenkunfft. Kassel 1650 Okt. 9‘, in: StAM 73 Nr. 52, unfoliiert, 3 S., S. 2. Antwort der Ritterschaft 1650, S. 3. Eine ‚Zone der Übereinkunft‘ gab es allerdings auch in dieser Frage. Während einer weiteren Konferenz der Räte meinte der adelige Rat von Scholley schon 1650 vorausschauend: Wen IFG nachgeben, daß die Ritterschafft in ihren Sachen zusammen kommen möchten, hielte er davor, es könnte alles in einen Abscheidt gebracht werden. (LTP 1650 Okt. 14, fol. 20r). Und 1653 hatten sich die Positionen so weit angenähert, dass die Ritter protokollieren konnten: IFG wolte die conventus gestatten, doch aber solte die Ritterschafft eß allemahl notificiren die materiam tractandi anzeigen und nach Endigung deß conventus den Schluß IFG eröffnen. (‚Zusammenfassung in Resolutionsform. [o. O. 1653 nach Juli und vor Aug. 25]‘, in: StAM 73 Nr. 1817, fol. 1r–2v, fol. 2r.).

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gorisierungen weitgehend übereinstimmen, denn auch im gerichtlichen Deutungskonflikt wurden der politische Anspruch und das Steuerbewilligungsrecht der Ständegesamtheit (teilweise stillschweigend) akzeptiert, während ein ritterschaftliches Selbstversammlungsrecht strikt zurückgewiesen und die institutionelle Ausgestaltung der Herrschaftspartizipation für Normal- und Ausnahmezustände nicht im Einzelnen bestimmt wurde. 533 Es besteht also eine Korrelation im Hinblick auf die Akzeptanzbereitschaft der fürstlichen Partei: Eine vor Gericht akzeptierte Forderung stieß auch in den Verhandlungen auf wenig Widerstand. Für den Reichskammergerichtsprozess konnte aber darüber hinaus gezeigt werden, dass die fürstliche Seite eine von den Rittern vorgebrachte Rechtsposition desto eher hinzunehmen gewillt war, je stimmiger diese mit einem Repräsentationsargument gerechtfertigt wurde. Und da es sich schließlich auf beiden ‚Wegen‘ um dieselben Personen handelte, da die fürstlichen Räte auch die Schriftsätze für das Gerichtsverfahren konzipierten, kann aufgrund der jetzt sichtbaren Korrelation begründet vermutet werden, dass die Bereitschaft der fürstlichen Seite, bestimmte Forderungen zu akzeptieren, auch in den Verhandlungen davon abhing, ob und wie stimmig die betreffende Forderung mit der Landesrepräsentation der Ständegesamtheit hätte gerechtfertigt werden können – unabhängig davon, ob diese Argumente tatsächlich auch explizit eingebracht wurden. Es lässt sich also festhalten, dass die grundlegende Dynamik, die den Reichskammergerichtsprozess bestimmte, tatsächlich auch in den Verhandlungen wirksam war. Die Ritter vollzogen auch hier eine ‚Wende‘, indem sie versuchten, die Ständegesamtheit in ihrem Interesse handeln zu lassen, ihren eigenen Forderungen einen ‚landständischen‘ Anstrich gaben und an entscheidenden Stellen sogar explizit das Repräsentationsargument vorbrachten. Und wie schon vor Gericht betonte die fürstliche Seite zwar die Landeshoheit, war aber gleichwohl disponiert oder sogar gewillt, Forderungen zu akzeptieren, wenn sie sich auf die Landstände(-gesamtheit) bezogen und mit ihrer Repräsentationsfunktion begründet wurden (oder werden konnten). 534 Nimmt man diese Beobachtungen zusammen, so zeigt sich zunächst einmal ganz allgemein, dass die Landesrepräsentation nicht nur in gelehrten und juristischen Kontexten, sondern auch in der politischen Praxis als herrschaftsbegründendes Prinzip relevant war und von fürstlicher wie ständischer Seite akzeptiert wurde. Damit rückt sie neben die Landes533 534

Vgl. oben 5.3.4. Die Formulierung ‚disponiert oder sogar gewillt‘ soll ausdrücken, dass den Räten die Korrelation zwischen der repräsentationstheoretischen Begründbarkeit und ihrer eigenen Akzeptanzbereitschaft nicht bewusst sein musste.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

hoheit, für die klarerweise dasselbe gilt. Dieser Sachverhalt beeinflusste nun indirekt auch den konkreten Verhandlungsprozess, weil er die Erwartungsstrukturen der beteiligten Parteien vorstrukturierte: Beiden Parteien stützten ihre Forderungen auf unterschiedliche Herrschaftsprinzipien; die fürstliche Seite bezog sich auf die Landeshoheit und die Ritter bezogen sich auf die Landesrepräsentation. Jeder Partei war aber aus der Praxis bekannt, dass trotz dieser jeweils exklusiven Bezugnahme beide Parteien auch das jeweils andere Herrschaftsprinzip (explizit oder implizit) anerkannten. 535 Werden in einer solchen Situation nun Erwartungen im Hinblick auf anstehende Verhandlungen gebildet, so ist eine Lösung, die an beiden Herrschaftsprinzipien orientiert ist, für alle Parteien die subjektiv wahrscheinlichste Lösung. Wie schon im Gerichtsverfahren liegt also auch in den Verhandlungen eine Lösung nahe, in der fürstliche Herrschaft mit ständischer Herrschaftspartizipation verbunden ist. Hinzu kommt erstens, dass beide Parteien von Beginn an ein starkes Interesse an einer Einigung haben mussten, da sie in der politischen Praxis aufeinander angewiesen waren: Die Ritter mussten sich mit der Herrschaft des Landgrafen arrangieren, weil die Alternative, ein reichsunmittelbarer Status, weder realisierbar noch überhaupt gewünscht war; 536 der fürstlichen Seite musste an einer Einigung gelegen sein, weil sonst die Ständegesamtheit auf Dauer blockiert wäre, die jedoch auch von den Fürsten als Träger des Steuerbewilligungsrechts angesehen wurde. 537 Zweitens musste sich dieses Interesse im Laufe der Zeit noch verstärken, denn aufgrund jeweils sehr verschiedener Faktoren erschien die Fortsetzung des Konflikts immer mehr als die kostspieligere und riskantere Option. 538 535

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Die Wendung ‚explizit oder implizit‘ soll anzeigen, dass die Situation deutlich asymmetrischer strukturiert ist, als sie sich im Haupttext darstellt: So erkannte die Ritterschaft explizit die Landeshoheit an, während die fürstliche Seite die Landesrepräsentation immer nur stillschweigend akzeptierte. Vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 29. Die landgräfliche Seite konnte sich zwar damit behelfen, wie 1653 nur mit den Städten eine Landtagsabschied zu schließen (vgl LTA 1653, S. 31–37), aber das konnte nur eine Übergangslösung sein, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass die Ritterschaft auch während des Konflikts stets zu den Landtagen geladen wurde, anders als im ersten Ständekonflikt unter Moritz; vgl. dazu oben 5.1.3. Hier kommen die von Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 94, genannten kontingenten Faktoren zum tragen: Die Ritterschaft fürchtete, dass eine Weiterführung des Prozesses vor dem Reichskammergericht ihre finanziellen Mittel übersteigen könnte; nach 1652 übernahmen Ritter die Führung, die während des ersten Ständekonflikts und der Auseinandersetzungen mit Moritz noch nicht aktiv gewesen waren und daher einen weniger konfrontativen Kurs einschlugen (Adam Georg von Baumbach (geb. 1602), Jost Trott zu Solz (geb. 1594) und Georg Schwertzel zu Willingshausen (geb. 1617) (Geburtsjahre nach Buttlar-Elberberg (Hg.), Stammbuch der Althessischen Ritterschaft)); 1653

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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Bedenkt man nun noch den Stellenwert des Gewohnheitsrechts in Verbindung mit der Tatsache, dass mit der landständischen Verfassung ein Ordnungsmodell zur Verfügung stand, in dem fürstliche Herrschaft und ständische Herrschaftspartizipation in ganz konkreten institutionellen Formen miteinander verbunden waren, so kann es insgesamt nicht erstaunen, dass Landgraf und Ritterschaft in ihren Verhandlungen letztlich zu diesem Modell zurückkehrten und es mit Modifikationen 1655 fundamentalgesetzlich festschrieben. Der Vergleich von 1655, der sich offiziell als die endgültige fürstliche Resolution auf die ritterschaftlichen Gravamina von 1650 gibt, aber mit Armand Maruhn als „Konsensual-Resolution“ 539 bezeichnet werden sollte, um den Vergleichscharakter deutlicher herauszustellen, bekräftigte in einem ersten Punkt das schon 1627 etablierte Konzept einer zweistufigen wie landständischen Verfassungsordnung, in der sowohl auf gesamthessischer wie auch auf territorialer Ebene Landtagsformen faktisch vorhanden und normativ vorgesehen waren. 540 Bestätigt wurde weiterhin die zentrale Rolle der Ständegesamtheit, was darin zu Ausdruck

539 540

verpflichtete der Jüngste Reichsabschied die Untertanen zur Unterhaltung notwendiger Festungs- und Garnisonskosten (vgl. Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes, S. 23, Press, Vom ‚Ständestaat‘ zum Absolutismus, S. 324, und Aretin, Das Alte Reich, I, S. 181f.). – Die fürstliche Seite fürchtete vor allem ein für sie ungünstiges Urteil aus Speyer, was Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 208, eindeutig belegt hat. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 86. Vergleich 1655, § 1: Und zwar soviel erstlich die allgemeine Landtäge betrifft, verbleibt es bey deme zwischen beeden regierenden Fürsten zu Hessen dißfalß in Anno 1648 getroffenem Vergleich. Die Landcommunicationstäge aber anreichend ist abgeredt, daß, wan Sachen vorfallen, worbey der gesampten Stände Vernehmung oder Bewilligung erfordert wirdt, dem Herkommen nach solche Landcommunicationstäge außgeschriebenn und beobachtet werden sollen, inmaßen dan Ihre F. G. sich nicht zuwieder sein laßen wollen, in Landt und Leut betreffenden Sachen, wan es die Nottdurfft erfordert, mit Ihren Landständen zucommuniciren und sie zu Raht zu ziehen. Es behalten sich aber Seine F. G. auch bevor, dafern Sachen vorfallen, die celerem expeditionem erfordern, und wan etwan von Reichß- und Craißsteuern zu reden, alßdan die Landtstände dergestalt zu convociren, daß nechst den sämptlichen Praelaten, so absonderlich hierzu zubeschreiben, sie die Stände von Ritter- und Landschafft etliche auß ihrem Mittell, welche sie iedoch iedesmalß selbst zu wehlen und mit Volmacht und Instruction zu versehen, abschicken sollen, mit denen der Sachen Gelegenheit nach habende zu schließen. Die Landt- und Kriegßsteuern aber zu willigen, laßen Ihre F. G. auf der gesampten Stände Beschreibung ankommen, und verbleibet es deßfalß im übrigen bey deme, was in puncto collectarum enthalten und resolviret. – Bei dem im ersten Satz erwähnten Vergleich handelt es sich um den „Hauptvergleich zwischen Landgräfin Amalie Elisabeth, Landgraf Hermann, Landgraf Friedrich und Landgraf Ernst einer- und Landgraf Georg andererseits, mitbesiegelt von Herzog Ernst von Sachsen“ (StAM Urk. Verträge mit Hessen-Darmstadt 1648 April 14), der die fortdauernde Existenz der gesamthessischen Landtage bestätigte; vgl. den Abdruck der entsprechenden Passage bei Hollenberg III, S. 58.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

kommt, dass Ausschusslandtage nur in abschließend bestimmen Ausnahmefällen möglich sein sollten und für die Bewilligung territorialer Steuern die Beschreibung der Ständegesamtheit zwingend vorgeschrieben war. Wurde mit dieser Regelung die bisherige institutionelle Praxis nur klarer gefasst, so stellt die Einführung von Ausschusslandtagen, deren Teilnehmer von den Ständen selbst gewählt und deputiert wurden, eine echte Modifikation dar, denn in der Vergangenheit hatte der Landgraf zumeist selbst entschieden, wer zu engeren Landtagen zu laden sei. 541 Auch im Hinblick auf das Steuerbewilligungsrecht wurde zunächst einmal die bisherige Verfassungsordnung festgeschrieben, insofern die Bewilligung territorialer Steuern allein der Ständegesamtheit zustehen und die Umlage von Reichs- und Kreissteuern nach der Maßgabe des Treysaer Anschlags und möglichst unter Einbeziehung der Landstände vorgenommen werden sollte. 542 Allerdings wurden gerade in diesem 541

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Allerdings war diese Modifikation schon in der Praxis erprobt worden: 1651 hatte der Landgraf einen ersten Ausschusslandtag einberufen, zu dem die Landstände auf Grundlage der Strombezirke selbst Deputierte abschicken sollten. Der Landtag endete jedoch ohne Abschied, da sich die Landstände auf ihre hergebrachte Position zurückzogen, dass in diesem Fall die Ständegesamtheit zuständig sei; vgl. etwa das Landtagsprotokoll vom 3. Juli 1651, in: StAD F 27 A Nr. 64/9, unfoliiert, 14 S., S. 3: Schluß ist dießer, daß zu bitten, das vermöge des Ausschreibenß inßkünfftig kein Außschuß zum Landtag verschrieben wern möge. Es handelte sich also um einen Kompromiss: Die Ritterschaft akzeptierte die Ausschusslandtage und der Landgraf gestand im Gegenzug zu, dass die Stände ihre Deputierten selber wählen durften. In der Praxis wurden die Strombezirke zu Wahlbezirken. Vergleich 1655, § 5: Den punctum collectarum fünftens anreichend seind Ihre F. G. deßen mit der Ritterschafft einig, daß es der Reichß- und Craißsteuren halben nach wie vor dabey verbleibe, wan solche, uf Reichß- oder Craystagen verwilliget, so eilig zu colligiren und zu erheben nötig fiele, daß es auch biß uff einen offenen Landtag nicht anstehen könnte, daß alßdan solcher Reichß- oder Craißschluß den Reichßkonstitutionen und dem Herkommen gemees den Ständen eröfnet, auch soweit möglich mit deren Zuziehung die Repartition nach Anleitung des Treisischen Anschlagß gemacht werden. Land- und Landrettungssteuern aber werden ohne Verwilligung der Stände nicht indiciret noch exigiret, wie dann auch ebenerweiße mit den monatlichen und dergleichen Art Kriegßcontributionen zu verfahren, es were dan, do Gott vor sey, casus inevitabilis necessitatis moramque non ferentis dergestalt vorhanden, daß, solcher höchstbenötigter Kriegßcontributionen und Steuren halber die Stände zu beschreiben und hierüber deren Verwilligung zu requiriren, Noth und Eilfertigkeit wegen unmöglich fiele; uff welchen Fall zwar ad interim und biß die Stände (welches möglichen Dingen nach zu beschleunigen) beschrieben solcherley unumbgängliche Kriegsanlagen auszuschreiben und nach Gelegenheit zu exigiren unbenommen, iedoch also, daß bey solchem letztern Fall der Kriegsanlagen und Contributionen die Ritterschafft aller ihrer eigenen adelichen Güeter halben (darunter aber ihre Hintersaßen und deren Güeter nicht begriffen noch gemeinet) in possessione der Freiheit solang bleiben soll, biß ein anders durch ordentliche Wege rechtens gegen sie außgefüret worden.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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Punkt auch größere Modifikationen vorgenommen, um die vom Fürsten beanspruchten Notstandsrechte in die Verfassungsordnung zu integrieren: Zukünftig konnte der Landgraf in casus inevitabilis necessitatis Kontributionen auch ohne vorhergehende Befassung der Landstände ausschreiben und einziehen. Ausgenommen davon waren allerdings die Ritter, deren Steuerimmunität explizit bestätigt wurde. 543 Im Gegensatz zu den Steuerprivilegien konnte aber ein unbedingtes politisches Selbstversammlungsrecht der Ritterschaft nicht durchgesetzt werden. 544 Selbst rein korporative Versammlungen mussten den Landgrafen angezeigt werden und in politischen Fragen galt ein strikter fürstlicher Erlaubnisvorbehalt. Zudem wurde deutlich gemacht, dass der Landtag (und damit die Ständegesamtheit) die bei politischen Fragen zuständige Institution sei. Auch wenn es nicht klar ausgesprochen wurde, war mit diesen Regelungen der Anspruch der Ritterschaft, neben dem Landgrafen und der Ständegesamtheit als eigenständiger politischer Akteur auftreten zu können, letztlich zurückgewiesen worden. 545 Die seit 1625 bestehende 543

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Auch hier ist der Kompromisscharakter eindeutig erkennbar: Die Ritter gestanden ein beschränktes Notstandsrecht zu und erhielten dafür die Bestätigung ihrer Steuerimmunität. Vgl. Vergleich 1655, § 8: Schließlich die Zusammenkunfft und Beschreibung der Ritterschafft unter sich selbst anlangendt: Gleichwie es bey Ihrer F. G. die Meinung niemaln gehabt, auch noch nicht hatt, einen oder andern auß der Ritterschafft Mittel, wegen ohnedas erlaubter Privathandelungen, Contracten, Transactionen und dergleichen sich zusammenzuthun, zu untersagen, also wollen Ihre F. G. zwar überdieses auch geschehen laßen, daß in gesampter der Ritterschafft Privatsachen sie, die Ritterschafft, ihrer Gelegenheit nach an einem gewißen Ort zusammenkomme, jedoch dergestalt, daß alßdan Ihrer F. G. zu unterthanigem Respect zuforderst solche Zusammenkunfft wie auch der hierzu determinirte Ort und Zeit notificiret und keine Geferde hierunter gebracht werde, welches sich ohnedas Ihre F. G. der Dero getrewen Ritterschafft nicht versehen. Sollten aber Sachen vorfallen, so Ihrer F. G. Estat und Regierung, auch Dero Land und Leute mit betreffe, und dieselben uff offenem Landtag nicht vorkommen oder von den Ständen darüber nichts erinnert, gleichwohl zu Ihrer F. G. und des Landes Bestem gehorsamblich vorzutragen nötig befunden würden, so können zwar Ihre F. G. darinnen Ihres hohen landsfürstlichen Ambts und Authoritet wegen solche Zusammenkünfften ohne Dero Specialpermission nicht nachgeben noch verstatten, doch wird der Ritterschafft hierdurch nicht benommen, falß in dergleichen Sachen eine Zusammenkunfft anzustellen nötig befunden würde, Ihre F. G. ümb Außschreibung eines Landtags unterthanig zu ersuchen oder nechst specialer Benennung solcher Sachen umb einer Zusammenkunffts Gestattung gehörig anzulangen; undt wollen Ihre F. G. hierauf zu solchem Behueff, auch wan und wie es die Notturfft alßdan erfordern möchte, entweder selbsten einen Landtag außzuschreiben oder die gesuchte Zusammenkunfft zu verstatten sich nicht zuwieder sein laßen, in Verbindung mit ebd., § 1. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 89, hat hinsichtlich der nicht genehmigungspflichtigen ritterschaftlichen Zusammenkünfte in korporativen Angelegenheiten argumentiert, dass die Beschränkung auf ‚Privatsachen‘ der Ritterschaft nur „auf dem Papier stand“

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Unausgetragenheit der landständischen Verfassung wurde zu Lasten der Ritterschaft aufgehoben. Bei der Beurteilung des Vergleichs im Ganzen muss, wie Armand Maruhn zu Recht herausgestellt hat, gegenüber der älteren Forschung der Kompromisscharakter deutlicher als bisher betont werden, 546 denn die Konsensual-Resolution kodifizierte in der Tat eine Verfassungsordnung, in der fürstliche Herrschaft und ständische Herrschaftspartizipation aufeinander bezogen waren. Allerdings muss hier noch einmal nach den beiden Kollektivakteuren differenziert werden, denn während die Rechte der Ständegesamtheit weitgehend bestätigt wurden, wenngleich in modifizierter Form, so hatte die Ritterschaft ihr wichtigstes Ziel verfehlt, denn sie konnte sich gerade nicht als persona publica etablieren. In ‚Land und Leute betreffenden‘, also politischen Sachen war vorrangig die Ständegesamtheit der Ansprechpartner des Landgrafen – in der nunmehr fundamentalgesetzlich festgeschriebenen ‚landständischen Verfassung‘ war kein Platz mehr für die Ritterschaft als eigenständigen Akteur. 547 Nachdem nun beide ‚Wege‘, der Gerichtsprozesses und die Verhandlungen, eingehend untersucht worden sind, lassen sich die erzielten Ergebnisse nun in einer Gesamteinschätzung des zweiten Ständekonflikts zusammenführen. Schon bisher ging man davon aus, dass es sich im Kern um einen Deutungskonflikt handelte, eine Auseinandersetzung um den Status der ständischen Herrschaftspartizipation. Da sich die Forschung bisher jedoch darauf darauf konzentriert hat, einzelne Argumente, die im Rahmen des Kampfes um die Deutungshoheit eine prominente Rolle spielten, zu untersuchen, kamen Gesamtdynamik und Verlaufslogik des Deutungskonflikts noch nicht ausreichend in den Blick. Um die besondere ‚Gestalt‘ des Konflikts beschreiben zu können, so zeigte

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und davon auszugehen sei, „dass die Ritter auch in Zukunft etwa ihre Versammlungen zu Kaufungen in Stiftsangelegenheiten nutzten, um ihr gemeinsames politisches Vorgehen abzusprechen.“ Das soll auch gar nicht bestritten werden, aber das berührt nicht die Tatsache, dass die Ritter in Zukunft nicht mehr die Möglichkeit hatten, solche Absprachen auch als legitime politische Willensäußerung der Ritterschaft als ganzer darzustellen. Die Ritter mochten sich auch weiterhin ut singuli absprechen, aber einer Äußerung ut universi zu politischen Fragen war ein Riegel vorgeschoben. Vgl. Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 95f. Vor allem gegenüber Demandt, Die Hessischen Landstände nach dem 30jährigen Krieg, der den Vergleich als Niederlage der Stände wertet. Im Prinzip bestand zwar die Möglichkeit, dass die Ritterschaft beim Landgrafen eine ritterschaftliche Versammlung zur Diskussion politischer Fragen beantragte, aber der Wortlaut des Vergleichs weist deutlich darauf hin, dass hier an sehr spezielle Ausnahmefälle gedacht ist.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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sich, mussten nicht nur die seit 1625 bestehende Unausgetragenheit der landständischen Verfassung, sondern auch der fürstlich-ritterschaftliche Verhandlungsprozess in die Analyse mit einbezogen werden. Um die dadurch gesteigerte Komplexität methodisch beherrschbar zu machen, wurde unter Bezug auf den Ansatz von Boltanski und Thévenot vorgeschlagen, den Ständekonflikt in seinem Deutungsaspekt als ‚Prüfung im Rahmen einer Rechtfertigungsordnung‘ zu untersuchen. Hierzu kann nun erstens festgestellt werden, dass sich gezeigt hat, dass sich die Verlaufslogik und Eigengesetzlichkeit des Ständekonflikts tatsächlich auf diese Weise erschließen lassen, denn die beiden mit dem Ansatz verbundenen Thesen konnten belegt werden: Zum einen rechtfertigten die Parteien im Verlauf des Konflikts (‚der Prüfung‘) ihre Ansprüche mit Argumentationen, in denen ihr eigener Status als Rechtsträger und die betreffenden Rechte selbst durch die Anführung von ‚Beweisstücken‘ (Einzelargumenten) auf das Landeswohl bezogen wurden; zum andern tendierten sowohl der Gerichts- wie der Verhandlungsprozess zu einer Lösung, die inhaltlich der stimmigsten Argumentation entsprach. Zweitens konnten unter Anwendung dieser Kategorien folgende inhaltliche Ergebnisse erzielt werden: Im Kontext der juristischen und politiktheoretischen Debatten um die Mitte des 17. Jahrhunderts waren zunehmend nur noch zwei politische Begründungen für Herrschaftsrechte in Bezug auf ein Territorium verfügbar, eine ‚herrschaftliche‘ Beweisführung auf Grundlage der Landeshoheit und eine ‚genossenschaftliche‘ Beweisführung auf Grundlage der Landesrepräsentation. Nur unter Bezug auf eines dieser beiden Herrschaftsprinzipien konnten Personen oder Korporationen noch stimmig einen Status als persona publica beanspruchen und damit als Träger von genuin ‚politischen‘, auf das Gemeinwesen als Ganzes bezogenen Rechten in Frage kommen. Argumentativ konnte keine der beiden Beweisführungen die jeweils andere aushebeln: Weder schloss die souveränitätsähnliche Herrschaft über das Land eine Herrschaftspartizipation im Namen des korporativ verfassten Landes aus, noch war das umgekehrt der Fall. Die fürstliche Seite war insofern im Vorteil, als der Status des Landgrafen als Inhaber der Landeshoheit und damit als persona publica unbestritten war, weshalb die superioritas territorialis von Beginn an die organisierende Mitte des landgräflichen Argumentierens vor Gericht bildete. Gleichzeitig ist aber nicht zu übersehen, dass die fürstliche Seite einer Thematisierung der Landesrepräsentation konsequent aus dem Weg ging, sie daher niemals explizit bestritt und sogar Ansprüche anerkannte, die von der Gegenseite ausdrücklich repräsentationstheoretisch begründet werden. Im Ergebnis war das fürstliche Argument, trotz aller ostentativ zur Schau gestellten Betonung der unbeschränkten Landeshoheit, strukturell

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

verträglich mit der Landesrepräsentation. Gleiches gilt für die Verhandlungen: Auch in der direkten Konfrontation mit den Rittern betonte die fürstliche Seite zwar die Landeshoheit, war aber gleichwohl gewillt, Forderungen zu akzeptieren, wenn sie sich auf die Landstände(-gesamtheit) bezogen und mit ihrer Repräsentationsfunktion begründet wurden (oder werden konnten). Während sich also die fürstliche Argumentation im Laufe des Deutungskonflikts kaum veränderte, kommt die besondere Dynamik des Deutungskonflikts darin zum Ausdruck, dass die Ritter auf allen Ebenen, so wohl vor Gericht als auch in den Verhandlungen, eine ‚argumentative Wende‘ vollziehen mussten, um sich auf die Landesrepräsentation als das einzige für sie erreichbare Herrschaftsprinzip beziehen zu können. Angetreten waren die Ritter mit dem Anspruch, als eigenständiger politischer Akteur, als dritte persona publica neben Landgraf und Ständegesamtheit anerkannt zu werden. Und diesen Anspruch rechtfertigten sie zunächst vor allem mit Beweisen aus den Bereichen des Herkommens und der Vertragsbande. Die Herleitung politischer Rechte aus einem Repräsentationsverhältnis war den Rittern als Argumentationsfigur zwar bekannt, bildete aber eher eine implizite Vorannahme als ein explizites Argument und wurde zum andern nur zur Stützung der Rechte der Ständegesamtheit genutzt – die Ritterschaft begriff hingegen politische Teilhabe als ihr ureigenstes Recht. Als die Ritter ihre Ansprüche jedoch vor Gericht rechtfertigen mussten, rückte die Landesrepräsentation sofort in den Mittelpunkt der ritterschaftlichen Argumentation: In der Frage der politischen Subjekte wurde erklärt, in allen europäischen Gemeinwesen existiere neben dem Fürsten mindestens noch eine weitere persona publica, nämlich ein Senat, der die gesamte Untertanenschaft repräsentiere. Im Hinblick auf die beiden konkret zu prüfenden Rechte wurde diese sehr allgemeine Repräsentationsbeziehung dann noch korporationstheoretisch untermauert: Weil das Land korporativ verfasst sei, könne es Träger von originären Herrschaftsrechten sein. Zu diesen gehörten etwa Steuerbewilligungs- und Selbstversammlungsrechte, die im Wege der Repräsentation von einem privilegierten Teil des Landes für das Land als Ganzes wahrgenommen würden. Auf die Anführung von Herkommen und Lehnsrecht wurde zwar nicht verzichtet, aber gleichwohl bildete nunmehr die Landesrepräsentation die organisierende Mitte der ritterschaftlichen Argumentation. Diese Dynamik ließ sich ebenso für die Verhandlungen nachvollziehen: Die Ritter vollzogen auch hier eine ‚Wende‘, indem sie versuchten, die Ständegesamtheit in ihrem Interesse handeln zu lassen, ihren eigenen Forderungen einen ‚landständischen‘ Anstrich gaben und an entscheidenden Stellen sogar explizit das Repräsentationsargument vorbrachten.

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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Die ‚repräsentationstheoretische Wende‘ wirke dabei ermächtigend, weil alle beanspruchten Rechte auf diese Weise auf die kaum zu erschütternde Stellung des Landes als Träger von Herrschaftsrechten gegründet werden konnten. Allerdings hatte diese argumentative Verschiebung auch ganz massive Einschränkungen zur Folge, denn als Subjekt der Landesrepräsentation kam nur die Ständegesamtheit in Frage. Nur für die Landstände als Korporation lag nämlich eine hinreichende Passung zwischen der institutionellen Praxis und den gelehrten Spezialdiskursen vor. Die repräsentationstheoretische Neuausrichtung der ritterschaftlichen Argumentation führte daher zu einem Auseinanderdriften der beiden Kollektivakteure: Die Ständegesamtheit wurde gestärkt, als öffentlichrechtlicher Akteur bestätigt und ihr Steuerbewilligungsrecht anerkannt. Die Ritterschaft hingegen wurde tendenziell und trotz aller Versuche, die Stärkung der Ständegesamtheit auch auf die Ritterschaft umzuleiten, abgewertet und tendenziell in den Bereich des Privatrechts abgedrängt. Der Anspruch auf eigenständiges politisches Handeln ließ sich weder vor Gericht begründen noch in den Verhandlungen durchsetzen. Folgerichtig wurde mit dem Vergleich von 1655 die seit 1625 bestehende Unausgetragenheit der landständischen Verfassung zu Lasten der Ritterschaft aufgehoben. Während die Rechte der Ständegesamtheit weitgehend bestätigt wurden, wenngleich in modifizierter Form, so hatte die Ritterschaft ihr wichtigstes Ziel verfehlt, denn sie konnte sich gerade nicht als eigenständige persona publica etablieren. In ‚Land und Leute betreffenden Sachen‘ war die Ständegesamtheit der Ansprechpartner des Landgrafen – in der nunmehr fundamentalgesetzlich festgeschriebenen ‚landständischen Verfassung‘ war kein Platz mehr für die Ritterschaft als eigenständigen Akteur. 548 548

Wie sehr die Ritter die neuen Verhältnisse internalisierten, zeigt eine Begebenheit aus dem späten 18. Jahrhundert: Im Jahr 1785 berief Landgraf Friedrich II. einen Landtag nach Kassel ein (vgl. Hollenberg III, Nr. 67, S. 532–553). Als der Landgraf kurz nach der Eröffnung starb, kam die Frage auf, in welcher Form die versammelten Landstände an der obligatorischen Trauerprozession teilnehmen sollten. Dazu wurde der Erbmarschall an den Hof geschickt, um Erkundigungen einzuziehen. Nach dessen Rückkehr notierte der ritterschaftliche Deputierte Georg Ernst von und zu Gilsa in sein Tagebuch: Herr Erbmarschall liesen hierauf den Herrn Bürgemeister von Cassell kommen und eröfeneter ihm, daß von Anfang nur Praelaten und Ritter mit zur Leiche hätten gehen sollen. Auf de(s) Erbmarchals Demonstration aber, daß wir ein Corpus ausmachten, wäre es der Landschaft auch zugestanden worden (Gräf, Haunert, Kampmann (Hg.), Adliges Leben am Ausgang des Ancien Régime, S. 344). Tatsächlich waren bei früheren Prozessionen zumeist nur Prälaten und Ritter, nicht aber die Landschaft geladen worden (vgl. etwa StAM 7 a 1 Fach 211 Nr. 1 (Trauerprozession für Landgräfin Maria Amalia 1711) und Nr. 2 (Prozession anlässlich der Heirat des Erbprinzen Friedrich 1740)). Der adelige Erbmarschall drängte also aus eigener Initiative darauf, dass es die Ständege-

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Drittens ist der Deutungskonflikt damit auch relevant für die Genese der landständischen Verfassung im Ganzen, denn er nahm den schon beschriebenen innerständischen Theoretisierungsprozess auf, gab ihm eine neue Richtung und brachte ihn in zu einem Abschluss. Schon seit dem Ende der 1630er Jahre war anlässlich kleinerer Konflikte von den einzelnen Ständen ein Argumentationsarsenal zur Rechtfertigung ihrer jeweiligen Ansprüche aufgebaut worden, wodurch ein Theoretisierungsprozess in Gang gekommen war, in dessen Verlauf die Strukturmerkmale der spezifisch ‚hessischen‘ landständischen Verfassungsordnung sukzessive einer nachträglichen Neubeschreibung unterzogen und mit allgemeinen Denkfiguren und Deutungen verknüpft, erklärt und gerechtfertigt wurden. Hier konnten die Ritter und ihre juristischen Berater ansetzen. 549 In diesem Kontext war auch schon das in der institutionellen Praxis fest verankerte Repräsentationsverhältnis zwischen Ständegesamtheit und Land zu einem Argument ausgebaut worden. Allerdings war dieses Verhältnis noch nicht unter dem Begriff der Repräsentation expliziert worden und spielte im Argumentationsarsenal nur eine untergeordnete Rolle. Überhaupt stand zu diesem Zeitpunkt kein Einzelargument im Zentrum des Theoretisierungsprozesses: Je nach Gelegenheit wurden Beweise aus den unterschiedlichsten Bereichen – Herkommen, Vertragsbande, Korporationslehre, necessitas und superioritas – miteinander kombiniert. Hier kam es mit der Weiterführung des Theoretisierungsprozesses im Rahmen des Deutungskonflikts zu einer einschneidenden Richtungsänderung, denn nunmehr avancierte das Konzept der politischen Repräsentation zum Fundament der ritterschaftlichen Argumentation. Mit der ‚repräsentationstheoretischen Wende‘ und der Anerkennung der Landeshoheit wurde aber nicht nur der ritterschaftlichen Argumentation Stim-

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samtheit sein sollte, die in der Prozession mitläuft und nicht nur die Ritterschaft. Und auch der ebenfalls adelige Tagebuchschreiber hielt dieses Verhalten offenbar für völlig angemessen. Hier dokumentiert sich also eine inzwischen gleichsam selbstverständliche Bevorzugung der landständischen vor der ritterschaftlichen Korporation. Auch die fürstliche Seite bediente sich des innerständischen Argumentationspotentials, was daran deutlich wurde, dass in der fürstlichen Duplik von 1653 wörtlich aus einer landschaftlichen Eingabe von 1642 zitiert wurde; vgl. oben 5.3.3. – Die Möglichkeit der Anknüpfung bestand selbstverständlich auch noch auf anderen Ebenen, insbesondere der organisatorischen: Man konnte sich also beispielsweise der Akten und Schriftstücke bedienen, die seit 1639 zusammengestellt worden waren, vgl. zu solchen organisatorischen Maßnahmen Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 242: „Die Ritter zeigten sich sich im Verlauf des Ständekonflikts äußerst gut informiert, wenn es um Fragen des Herkommens ging. Dazu trug zudem der Bestand von 33 Aktenstücken bei, die Otto von der Malsburg 1641 von Georg Riedesel zu Eisenbach, dem Vorgänger Curt Riedesels als Erbmarschall, übergeben bekommen hatte.“

5.3 Der Deutungskonflikt: Landstände oder Untertanen? (1646–1655)

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migkeit verliehen, sondern in Verbindung mit der impliziten Anerkennung der Landesrepräsentation durch die fürstliche Seite letztlich auch der nachträgliche Theoretisierungsprozess in doppeltem Sinne abgeschlossen: Zum einen war die retrospektive Neubeschreibung nun ‚vollständig‘, weil die landständische Verfassung jetzt in Gänze begriffen werden konnte als Gestalt, deren ‚inneres Strukturgesetz‘ in der Verbindung von landeshoheitlicher Herrschaft und landesrepräsentativer Herrschaftspartizipation lag und aus dem heraus alle einzelnen Strukturmerkmale verstanden werden konnten. Und zum anderen war die Theoretisierung damit auch ‚beendet‘, denn im Verlauf des Deutungskonflikts hatten sich beide Seiten im Prinzip auf diese spezifische Deutung der landständischen Verfassung festgelegt, die auch nach 1655 und bis zum Ende des Ancien Régime nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt wurde, weder von den Ständen noch von den Landgrafen. 550 Die Theoretisierung hatte also einerseits dazu geführt, dass Fürst und Ritterschaft wieder zu einem gemeinsamen Beschreibungssystem fanden und den Verfassungskonflikt beilegen konnten. Andererseits war auf diese Weise auch neues Konfliktpotential geschaffen worden, denn mit der Landesrepräsentation stand nun ein explizit theoretisches Konzept im Zentrum der institutionellen Selbstdeutung; ein Konzept, das Gegenstand von übergreifenden Debatten war und daher nicht von der Institution selbst definiert werden konnte. Damit aber würde jede zukünftige Veränderung des Konzepts der politischen Repräsentation zumindest mittelbar auf die landständische Verfassung selbst durchschlagen. Der Theoretisierungsprozess und insbesondere seine repräsentationstheoretische Zuspitzung hatten also die hessische Verfassungsordnung teilweise von den theoretischen Debatten über politische Repräsentation abhängig gemacht. 551

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Vgl. oben 4. – Der gesamte Ständekonflikt zeigt übrigens auch, dass Theoretisierung keineswegs immer nur ein top-down-Prozess ist, also immer von den globalen Diskursen ausgeht und dann auf die lokalen Praktiken übergreift. Vielmehr hat sich gezeigt, dass auch hier ein Wechselverhältnis besteht und dass Theoretisierung auch ‚von unten‘ vorangetrieben werden kann, indem in lokalen Kontexten auf Elemente aus über-lokalen Diskursen zurückgegriffen wird. Wie Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes, gezeigt hat, entstand aus dieser Verbindung spätestens dann ein neuer Konflikt, als Repräsentation mit dem Siegeszug des Naturrechts zunehmend als ‚mandatierte Interessenvertretung‘ verstanden wurde.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

5.4 Zwischenergebnis Ständekonflikte. Ständekonflikte brechen aus, „wenn zwischen den einzelnen an der Herrschaft beteiligten Gruppen keine Einigung mehr über Art und Weise der Beilegung stets vorhandener Interessengegensätze erzielt werden kann“. 552 Da es zu den zentralen Funktionen einer Verfassungsordnung gehört, dass sie „die Verfahren politischer Willens- und Entscheidungsbildung festlegt“, 553 betreffen und verändern Ständekonflikte also die Verfassungsordnung selbst und müssen daher im Rahmen der Verfassungsgenese untersucht werden. Der Strukturkonflikt (1623–1626). Als Landgraf Moritz im Herbst 1623 vorläufig ins Exil ging und Ligatruppen weite Teile Niederhessens besetzten, befand sich das Teilfürstentum der Kasseler Linie in einer kritischen Situation. Allerdings zeigte sich, dass die Ständegesamtheit zunächst durchaus in der Lage war, mit dieser Situation umzugehen, indem sie nämlich als eigenständiger politischer Akteur auftrat und nicht nur zwischen Wilhelm (V.), dem von Moritz eingesetzten Statthalter, und General Tilly vermittelte, sondern auch selbst verbindliche Erklärungen abgab. Die landständische Verfassungsordnung hatte einen Grad an institutioneller Autonomie gewonnen, der es den Landständen bis etwa 1623 erlaubte, als überzogen empfundene Forderungen des Landgrafen zurückzuweisen und mit der Besatzungssituation eigenständig umzugehen. Die allgemeine politische Krise wurde jedoch erst durch das Verhalten der niederhessischen Adeligen zu einer Verfassungskrise. Mit dem Erhalt eines kaiserlichen Schutzbriefes und einer daran anschließenden Selbstorganisation wurde im Jahr 1625 unter dem Namen ‚niederhessische Ritterschaft‘ ein neuer politischer Akteur konstituiert. Dieser qualitative Umschlag von einer nur lose zusammenhängen Gruppe von Rittern hin zu einer kollektiv handlungsfähigen Institution verursachte eine herrschaftsstrukturelle Konfliktlage: Nunmehr nahmen in Hessen-Kassel tendenziell sowohl die Ständegesamtheit als auch die Ritterschaft für sich das Recht in Anspruch, eigenständig als politischer Akteur aufzutreten. Eine Destabilisierung der landständischen Verfassung war die Folge, weil auf diese Weise die Zentralstellung der Ständegesamtheit relativiert und ein Grundprinzip der inzwischen etablierten Verfassungsordnung in Frage gestellt war. Zu einem offenen Ständekonflikt führte die destabilisierte Situation, als sich herausstellte, dass Landgraf und Ritterschaft nicht einmal mehr 552 553

Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus, S. 13. Vorländer, Die Verfassung, S. 17.

5.4 Zwischenergebnis

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über eine gemeinsame Sprache verfügten, in der ihr Dissens über den Status der Ritterschaft formuliert und verhandelt werden konnte; vertieft wurde der Konflikt dann zusätzlich dadurch, dass das ritterschaftliche Handeln die innerständische Solidarität aufhob und die Städte an die Seite des Landgrafen trieb. Und dieser Zustand wurde erst überwunden, als Tilly 1626 einen ‚Quasi-Landtag‘ einberief. Erst unter diesem politischen Druck ließen die Ritter von ihrem selbständigen Handeln ab, um mit der Landschaft wieder eine gesamtständische Politik zu verfolgen. Die ‚erzwungene‘ Konfliktbewältigung blieb nicht ohne Folgen: Die Konfliktursache war nicht beseitigt worden; immer noch war unklar, wie das Verhältnis von Ständegesamtheit und Ritterschaft in Zukunft gestaltet sein sollte. Einerseits ordneten sich die Ritter 1626 wieder in die landständischen Strukturen ein und restituierten auf diese Weise die kollektive Handlungsfähigkeit des landständischen corpus; andererseits aber hatten sie den Anspruch, sich bei Bedarf auch als Ritterschaft versammeln, die Angelegenheiten des Gemeinwesens beraten und als Sachwalter der Landeswohlfahrt handeln zu dürfen, nicht explizit aufgegeben. Dadurch wurde die landständische Verfassung in einen Zustand gesteigerter ‚Unausgetragenheit‘ versetzt; gesteigert im Vergleich zu dem Grad an Autonomie und Eindeutigkeit, den die Verfassungsordnung nach dem ‚Jahrzehnt der institutionellen Verfestigung‘ (1609–1620) erreicht hatte. Obwohl die krisenhafte Situation also latent fortbestand, so war doch zumindest der aktuelle Konflikt bewältigt worden, denn es war eben die Ständegesamtheit, die 1626 zunächst zwischen Moritz und Tilly vermittelte und dann dem letzteren eine Assekuration ausstellte. Damit war man schon in der Praxis zu dem Verfahren zurückgekehrt, das auch bei der ersten Besatzung 1623 – also vor der Selbstkonstituierung der Ritterschaft – Anwendung gefunden hatte und das an der landständischen Ordnung orientiert war. Auch in normativer Hinsicht ging das corpus der Landstände gestärkt aus der Krise hervor, denn die von Moritz unterzeichnete Assekuration erlegte ihm ausdrücklich die Verpflichtung auf, sich mit der Ständegesamtheit zu versöhnen. Zwischenkonfliktzeit. Die nächste Phase der Verfassungsgenese begann 1627 mit Rücktritt Moritz’. Um überhaupt politischen Handlungsspielraum zu erlangen, versuchte der neue Landgraf, Wilhelm V., möglichst viele Konflikte einzuhegen. Dazu gehörte auch die innerdynastische Auseinandersetzung mit der Darmstädter Linie, die im Hauptaccord von 1627 beigelegt wurde. Im Hinblick auf die landständische Verfassung schloss dieses Vertragswerk in zwei Schritten die seit dem Ausbruch des Erbfolgestreits bestehende Kluft zwischen Verfassungsnorm und Verfassungspraxis: Zum einen wurde der seit 1604 schwelende Streit um das Land-

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

tagsdirektorium beigelegt und damit die Möglichkeit eröffnet, dass der normativ ohnehin maßgebliche allgemeine Landtag auch faktisch wieder eine Zentralstellung würde einnehmen können. Zum andern wurden die Landkommunikationstage der beiden Teilfürstentümer als legitime Versammlungsform anerkannt, womit die wohl wichtigste Institution der politischen Praxis nachträglich in das kollektive Normsystem integriert wurde. Diese ‚Neujustierung‘ konkretisierte sich in dem neuen Konzept einer zweistufigen wie landständischen Verfassungsordnung, in der sowohl auf gesamthessischer wie auch auf territorialer Ebene Landtagsformen faktisch vorhanden und normativ vorgesehen waren. Zwar ließen sich die gesamthessischen Landtage in der Praxis nicht wieder verstetigen, aber immerhin entfiel nun die Notwendigkeit, das Bestehen landständischer Verfassungsstrukturen in den Teilfürstentümern durch ‚institutionalisierte Heuchelei‘ zu kaschieren. Als der Landgraf dann nach 1631 auf ständische Steuern weitgehend verzichten konnte, weil er die eroberten Gebiete außerhalb Hessens zu Kontributionen heranziehen konnte, war eine Bedingungskonstellation zustande gekommen, die es möglich machte, dass sich die landständische Verfassung, die in den 1610er Jahren unter ganz anderen Voraussetzungen entstanden war, weiter verfestigen und sich bis zum Ende der 1630er Jahre auch in der Praxis endgültig als allein maßgebliche institutionelle Form der fürstlich-ständischen Beziehungen durchsetzen konnte. Diese Entwicklung änderte jedoch nichts daran, dass sich die Verfassungsordnung als Ganze immer noch in einem Zustand der latenten ‚Unausgetragenheit‘ befand. Zwar konnte die weitgehende Verschonung der Landstände mit Steuerforderungen diese Frage in den 1630er Jahren unter der Thematisierungsschwelle halten, aber jeder neue Versuch, die Landstände wieder enger in die Kriegsanstrengungen des Fürstenhauses einzubinden, würde auch dieses herrschaftsstrukturelle Problem wieder zum Vorschein bringen. Der Aufbau eines Argumentationsarsenals. Seit Ende der 1630er Jahre setzte anlässlich kleiner Auseinandersetzungen ein Prozess ein, in dem die ständischen und ritterschaftlichen Vorrechte begrifflich expliziert und argumentativ gerechtfertigt wurden. In diesem Prozess spiegelte sich auch die Unausgetragenheit der landständischen Verfassung wieder, denn die Ritterschaft legte im ersten greifbaren Dokument, der Remonstration von 1639, im Grunde zwei Argumentationen vor: Während im ersten Teil das Recht auf Führung der Regentschaft der Ritterschaft beigelegt wurde, wurde danach das Subjekt ausgetauscht und im zweiten Teil die Ständegesamtheit als Träger des Rechts auf politische Partizipation bezeichnet. Es sollten also beide Kollektivakteure als personae publicae definiert und

5.4 Zwischenergebnis

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damit als Träger von auf das Gemeinwesen als Ganzes bezogenen Herrschaftsrechten gerechtfertigt werden. Insgesamt verfügten die einzelnen Stände (gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit juristisch geschulten Beratern) damit seit Anfang der 1640er Jahre über ein differenziertes und über die Aneinanderreihung von Herkommensbeweisen deutlich hinausgehendes Argumentationsarsenal. Spätestens 1642 waren mit Ausnahme der Politiktheorie alle Einzelargumente, die später im zweiten Ständekonflikt Verwendung finden sollten, bekannt – Herkommen, Vertragsbande, Korporationslehre, necessitas und superioritas territorialis. Im Verlauf dieses Prozesses nahm das Verhältnis von faktischen Regeln und normativen Regelinterpretationen eine neue Qualität an. Die Regelinterpretationen, also die reflexiv auf das institutionelle Gefüge bezogenen diskursiven Praktiken mit normativem Anspruch, wiesen bisher insgesamt einen vornehmlich ‚behauptenden‘ Charakter auf: Ansprüche wurden nicht weiter begründet, sondern mit Verweis auf hessisches Recht – geschrieben oder ungeschrieben – konstatiert. In den 1640er Jahren aber wurden die Regelinterpretationen nicht nur enorm vermehrt, sondern nahmen einen ‚argumentativen‘ Charakter an, wodurch eine Schnittstelle zwischen den bisher institutionsspezifischen Reflexions- und Interpretationspraktiken einerseits und theoretischen Spezialdiskursen andererseits etabliert wurde. Über diese Schnittstelle wurden nun abstrakte Deutungs- und Beschreibungsmuster zugänglich, die dazu genutzt wurden, um Ansprüche zu rechtfertigen, die gerade nicht abstrakt, sondern das Produkt der ‚hessischen‘ Verfassungsgenese waren. Auf diesem Wege wurde eine ‚besondere‘, weil für Hessen spezifische landständische Verfassungsordnung erstmals umfassend auf ‚allgemeine‘ Begriffe gebracht. Da kollektive Sinnstiftung immer im Modus der Nachträglichkeit stattfindet, ist es leicht erklärbar, dass die retrospektive Theoretisierung der landständischen Verfassung in Hessen in den frühen 1640er Jahren begann, denn erst kurz zuvor, Ende der 1630er Jahre, hatte sich die landständische Verfassung in Hessen-Kassel endgültig als allein maßgebliche institutionelle Form der fürstlich-ständischen Beziehungen durchgesetzt. Folgerichtig wurden nun alle Strukturmerkmale der hessisch-landständischen Verfassungsordnung sukzessive einer nachträglichen Neubeschreibung unterzogen und mit Denkfiguren und Deutungen verknüpft, erklärt und gerechtfertigt, die in der Entstehung dieser Merkmale keine relevante Rolle gespielt hatten. Der Deutungskonflikt (1646–1655). Der zweite Ständekonflikt, oft auch ‚der‘ hessische Ständekonflikt genannt, begann 1646 mit einer Getreideforderung der Regentin Amalie Elisabeth an die niederhessischen Ritter.

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

Diese sahen ihre Steuerimmunität gefährdet und nahmen im Rahmen einer Steigerung ihrer kollektiven Handlungsfähigkeit zum ersten Mal seit den 1620er Jahren wieder offensiv das von ihnen beanspruchte Selbstversammlungsrecht in Anspruch. Als die Regentin daraufhin die Zusammenkünfte verbot und die Getreideforderung wiederholte, die Ritter aber auf Steuerimmunität und Selbstversammlungsrecht bestanden, war die Unausgetragenheit der Verfassungsordnung wieder aktualisiert. Zudem handelte es sich um einen Ständekonflikt, weil keine Einigung darüber zu erzielen war, auf welche Weise man den materiellen Interessengegensatz beilegen könne: Die Regentin beanspruchte ‚übergesetzliche‘ Notstandsbefugnisse, während die Ritter auf der Geltung der ‚gesetzlichen‘ Herkommensordnung bestanden. Aus dieser speziellen Situation heraus nahm der Ständekonflikt sehr schnell den Charakter eines Deutungskonflikts an. Angesichts der beginnenden Trennung von ‚öffentlichem‘ und ‚privatem‘ Recht war insbeosondere umstritten, ob die ständischen Partizipationsrechte als ‚öffentliche‘ Herrschaftsrechte oder als ‚private‘ Privilegien gedeutet werden sollten. Dieser Konflikt wurde dann vor dem Reichskammergericht und in direkten fürstlich-ritterschaftlichen Verhandlungen ausgetragen. Es zeigte sich, dass im Kontext der politiktheoretischen und juristischen Debatten um die Mitte des 17. Jahrhunderts zunehmend nur noch zwei Begründungen für territoriale Herrschaftsrechte zur Verfügung standen, eine ‚herrschaftliche‘ Beweisführung auf Grundlage der Landeshoheit und eine ‚genossenschaftliche‘ Beweisführung auf Grundlage der Landesrepräsentation. 554 Nur unter Bezug auf eines dieser beiden Herrschaftsprinzipien konnten Personen oder Korporationen noch stimmig einen Status als persona publica beanspruchen und damit als Träger von genuin politischen Rechten in Frage kommen. Weder schloss die souveränitätsähnliche Herrschaft über das Land eine Herrschaftspartizipation im Namen des korporativ verfassten Landes aus, noch war das umgekehrt der Fall. Die fürstliche Seite war insofern im Vorteil, weil die superioritas territorialis von Beginn an die organisierende Mitte des landgräflichen Argumentierens vor Gericht bildete. Gleichzeitig ist aber nicht zu übersehen, dass die fürstliche Seite Ansprüche anerkannte, die von der Gegenseite ausdrücklich repräsentationstheoretisch begründet wurden, weshalb das fürstliche Argument, trotz aller ostentativen Betonung der unbeschränkten Landeshoheit, strukturell verträglich war mit der Landesrepräsentation. Auch in den Verhandlungen betonte die fürstliche Seite zwar die 554

So auch Haug-Moritz, Zur Genese des württembergischen Landtags in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, S. 123.

5.4 Zwischenergebnis

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Landeshoheit, war aber gleichwohl gewillt, Forderungen zu akzeptieren, die mit einen Repräsentationsargument begründet wurden oder werden konnten. Die Ritterschaft jedoch musste auf allen Ebenen, so wohl vor Gericht als auch in den Verhandlungen, eine ‚argumentative Wende‘ vollziehen. Angetreten waren sie mit dem Anspruch, als dritte persona publica neben Landgraf und Ständegesamtheit anerkannt zu werden, und rechtfertigten diesen vor allem mit Beweisen aus den Bereichen des Herkommens und der Vertragsbande – die Ritterschaft begriff politische Teilhabe als ihr ureigenstes Recht. Vor Gericht und in den Verhandlungen rückte jedoch schnell die Landesrepräsentation in den Mittelpunkt der ritterschaftlichen Argumentation: In allen europäischen Gemeinwesen, so die Ritter jetzt, existiere neben dem Fürsten mindestens noch eine weitere persona publica, nämlich ein Senat, der die gesamte Untertanenschaft repräsentiere. Dieses sehr allgemeine Argument wurde zusätzlich korporationstheoretisch untermauert: Weil das Land korporativ verfasst sei, stelle es eine (juristische) Person des öffentlichen Rechts dar und könne daher selbst Träger von originären Herrschaftsrechten sein, die im Wege der Repräsentation von einer Korporation wahrgenommen werden könnten. Damit bildete nunmehr die Landesrepräsentation die organisierende Mitte der ritterschaftlichen Argumentation. Die ‚repräsentationstheoretische Wende‘ wirke dabei ermächtigend, weil alle beanspruchten Rechte auf diese Weise auf die kaum zu erschütternde Stellung des Landes als Träger von Herrschaftsrechten gegründet werden konnten. Allerdings hatte diese argumentative Verschiebung auch ganz massive Einschränkungen zur Folge, denn als Subjekt der Landesrepräsentation kam nur die Ständegesamtheit in Frage, was zu einem Auseinanderdriften der beiden Kollektivakteure führte: Die Ständegesamtheit wurde in ihrem Status als öffentlichrechtlicher Akteur und als Träger des Steuerbewilligungsrechts bestärkt. Die Ritterschaft hingegen wurde tendenziell und trotz aller Versuche, an der Stärkung der Ständegesamtheit teilzuhaben, abgewertet. Der Anspruch auf eigenständiges politisches Handeln ließ sich letztlich weder vor Gericht begründen noch in den Verhandlungen durchsetzen. Folgerichtig wurde mit dem Vergleich von 1655 die seit 1625 bestehende Unausgetragenheit der landständischen Verfassung zu Lasten der Ritterschaft beseitigt. Während die Rechte der Ständegesamtheit weitgehend bestätigt wurden, wenngleich in modifizierter Form, so hatte die Ritterschaft ihr wichtigstes Ziel verfehlt, denn sie konnte sich gerade nicht als persona publica etablieren. In ‚Land und Leute betreffenden‘, also politischen Sachen war die Ständegesamtheit der Ansprechpartner des Landgrafen – in der nunmehr fundamentalgesetzlich festgeschriebe-

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5. Ständekonflikte – Die Verfassung in der Krise (1623–1655)

nen ‚landständischen Verfassung‘ war kein Platz mehr für die Ritterschaft als eigenständigen Akteur. Des weiteren nahm der Deutungskonflikt den schon beschriebenen innerständischen Theoretisierungsprozess auf, gab ihm eine neue Richtung und brachte ihn zu einem Abschluss. Im ständischen Argumentationsarsenal, das seit Beginn der 1640er Jahre aufgebaut wurde, stand kein Einzelargument im Zentrum: Je nach Gelegenheit wurden Beweise aus den unterschiedlichsten Bereichen – Herkommen, Vertragsbande, Korporationslehre, necessitas und superioritas – miteinander kombiniert. Hier kam es im Verlauf des Deutungskonflikts zu einer einschneidenden Richtungsänderung, denn nunmehr avancierte das Konzept der politischen Repräsentation zum Fundament des ritterschaftlichen Argumentationsarsenals. Mit der ‚repräsentationstheoretischen Wende‘ wurde aber nicht nur der ritterschaftlichen Argumentation Stimmigkeit verliehen, sondern in Verbindung mit der impliziten Anerkennung der Landesrepräsentation durch die fürstliche Seite letztlich auch der nachträgliche Theoretisierungsprozess in doppeltem Sinne abgeschlossen: Zum einen war die retrospektive Neubeschreibung nun ‚vollständig‘, weil die landständische Verfassung jetzt in Gänze begriffen werden konnte als Verbindung von landeshoheitlicher Herrschaft und landesrepräsentativer Herrschaftspartizipation. Und zum anderen war die Theoretisierung damit auch ‚beendet‘, denn im Verlauf des Deutungskonflikts hatten sich beide Seiten im Prinzip auf eine solche Deutung der landständischen Verfassung festgelegt, die auch bis zum Ende des Ancien Régime nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt wurde, weder von den Ständen noch von den Landgrafen. Die Theoretisierung hatte also einerseits dazu geführt, dass Fürst und Ritterschaft wieder zu einem gemeinsamen Beschreibungssystem fanden und den Verfassungskonflikt beilegen konnten. Andererseits war auf diese Weise auch neues Konfliktpotential geschaffen worden, denn mit der Landesrepräsentation stand nun ein explizit theoretisches Konzept im Zentrum der institutionellen Selbstdeutung. Damit aber würde jede zukünftige Veränderung des Konzepts der politischen Repräsentation zumindest mittelbar auf die landständische Verfassung selbst durchschlagen. Der Theoretisierungsprozess und insbesondere seine repräsentationstheoretische Zuspitzung hatten also die hessische Verfassungsordnung teilweise von den theoretischen Debatten über politische Repräsentation abhängig gemacht.

6. Eine Verfassung „in fieri“ – Zusammenfassung und Synthese

Doch ist die Verfassung zu wichtig, um sie allein Verfassungsrechtlern und politischen Philosophen zu überlassen. Gunther Teubner 1

Die Geschichte der landständischen Verfassung in Hessen(-Kassel) ist bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts die Geschichte einer Verfassung in fieri, die Geschichte einer politischen Institution, deren Entstehung unter den Bedingungen der frühneuzeitlichen politischen Kultur die ‚Form der Veränderung‘ (Hegel) genommen werden musste – Diskontinuität in der Kontinuität. Die mit diesem einen Satz verknüpfen Ergebnisse werden nun abschließend im Hinblick auf die drei Forschungsfelder zusammengefasst und aufbereitet, zu denen die vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten will. Die Genese der landständischen Verfassung wurde für ein bestimmtes Territorium untersucht, so dass die Ergebnisse erstens im Überblick als materialer Beitrag zur hessischen Landesgeschichte präsentiert werden. Zweitens können aus den Ergebnissen Fragen und Hypothesen inhaltlicher wie methodischer Art für die Historische Ständeforschung gewonnen werden, da ein verallgemeinerter Begriff der landständischen Verfassung zugrunde gelegt wurde. In einem dritten Schritt wird dann herausgestellt, dass sich die Erschaffung der landständischen Verfassung noch allgemeiner als Fall einer ‚Verfassungsgenese in der Vormoderne‘ verstehen lässt. Da es sich nämlich in der Tat um eine Verfassungsgenese handelte, also um eine eindeutige Diskontinuität, insofern eine im emphatischen Sinn ‚neue‘ Verfassungsordnung entstand, die sich in der Vormoderne ereignete, also unter Bedingungen, die von einer Verfassungskultur vorgegeben wurden, die ganz im Zeichen der Kontinuität stand, lassen sich die Ergebnisse der Untersuchung plausibel generalisieren und als Impulse für die allgemeine Verfassungsgeschichte nutzen.

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Teuber, Verfassungsfragmente, S. 13.

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6. Eine Verfassung „in fieri“

6.1 Die Erschaffung der landständischen Verfassung in Hessen – Zusammenfassung Die landständische Verfassung als politischer Strukturtypus. Eine landständische Verfassung ist dann gegeben, wenn der allgemeine Landtag als die institutionelle Form, in der die Gesamtheit der (sozialständisch heterogenen) Landstände als korporativer Träger politischer Teilhaberechte und Repräsentant des Gemeinwesen auf- und dem Landesherrn gegenübertritt, gleichermaßen in der politischen Praxis effektiv verankert und normativ anerkannt ist. Konzeptionell kann die landständische Verfassung als politische Institution verstanden werden. Als ‚Institution‘ ist sie gekennzeichnet durch ein Wechselverhältnis zwischen den faktischen Regelmäßigkeiten der Praxis im Ganzen und den Reflexionspraktiken, die normative Regelinterpretationen formulieren, aufgrund dessen die Verfassungsordnung eine eigene Dynamik entfaltet. Als ‚politische‘ Institution ist sie dadurch gekennzeichnet, dass die Ständegesamtheit – entweder faktisch oder dem Anspruch nach – an der instrumentellen Leitung und der symbolischen Stiftung des Gemeinwesens beteiligt ist. Landständische Verfassung im 16. Jahrhundert? In den Forschungen zur hessischen Ständegeschichte wird in der Regel davon ausgegangen, dass sich die Genese der landständischen Verfassung im Spätmittelalter vollzog. Das ist jedoch nicht der Fall, denn noch im 16. Jahrhundert hat es in Hessen keine solche Verfassungsordnung im Sinne des Strukturtypus gegeben. In der Vormundschaftszeit (1509–1518) findet man zwar den Anspruch, dass die Ständegesamtheit prinzipiell an der Regierung des Landes zu beteiligen sei; diesem Anspruch entsprach aber keine verstetigte Praxis. Seit 1526 entwickelte sich zwar eine Verfassungsordnung, aber diese ließ sich nicht als ‚landständisch‘ qualifizieren, weil der allgemeine Landtag mit Repräsentationsfunktion keine zentrale Rolle spielte. Stattdessen bestand seit der Mitte der 1520er Jahre und bis zum Ende des Jahrhunderts eine spezifisch ‚philippinische‘ Verfassungsordnung; diese ließ sich inhaltlich näher bestimmen als eine Form ständisch supplementierter Fürstenherrschaft, in der die Landstände zum einen als selbständige politische Akteure und zum anderen als Teile einer repräsentativ handelnden Ständegesamtheit auftraten – je nach Situation. Allerdings besaß die ‚philippinische‘ Ständeverfassung darin ein genuin ‚landständisches‘ Merkmal, dass sich im Zuge der Intensivierung des Reichssteuerwesens der allgemeine Landtag mit Repräsentationsfunktion herausgebildet hatte. Handelte es sich nun zunächst um einen ausgesprochenen Spezialfall, so setzte nach der Landesteilung 1567 eine Entwicklung ein, in deren Verlauf Situationen, in denen die Einzelstände agierten, zunehmend auf die Ebene der

6.1 Die Erschaffung der landständischen Verfassung in Hessen

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Teilfürstentümer verlagert wurden, was im Gegenzug dazu führte, dass in gesamthessischen Kontexten die Organisationsform des allgemeinen Landtags immer mehr mit der Repräsentationsfunktion der Ständegesamtheit verschmolz. Die normative Zentrierung. Die ‚philippinische‘ Ständeverfassung wurde auch nach der Landesteilung beibehalten und bestand als eine ‚Verfassung ständischer Vielfalt‘ in der Praxis noch bis zu Beginn des 17. Jahrhunderts fort. In normativer Hinsicht jedoch setzte seit den 1590er Jahren eine wesentliche Veränderung ein: In einem Prozess, der sich als ‚normative Zentrierung‘ bezeichnen lässt, wurde der allgemeine – gesamthessische und gesamtständische – Landtag zur allein maßgeblichen Landtagsform aufgewertet; damit verbunden war der generalisierte Anspruch, dass allein die Ständegesamtheit, nunmehr verstanden als gesamthessische Korporation, befugt sei, kollektiv verbindlich zu entscheiden und daher in einem analytischen Sinne das Land zu repräsentieren. Von Seiten der Stände wurde damit im kollektiven Normensystem die Vorstellung einer neuen, spezifisch landständischen Verfassung verankert, wobei die Tatsache, dass es sich um eine Veränderung handelte, gleichzeitig durch den Einsatz von Herkommensargumenten kaschiert wurde. Die Erfindung der Landrettungssteuer. Obwohl die Landgrafen in der Praxis zunächst an der ständischen Vielfalt der ‚philippinischen‘ Ordnung festhielten, so akzeptierten sie doch einige Zeit später das Ergebnis der normativen Zentrierung, wenngleich nur teilweise und nur implizit: Als nämlich 1598 die gesamthessische Landrettungssteuer ‚erfunden‘ wurde, da wurde sie gerade nicht nach dem Vorbild der älteren ständischen Sondersteuern, sondern in Analogie zu den allgemeinverbindlichen Reichssteuern ausgestaltet. Und damit hatte man die Zuständigkeit der Ständegesamtheit, die bisher auf die Reichssteuern begrenzt gewesen war, faktisch auf die nunmehr wichtigste Landessteuer ausgeweitet. Die Erfindung der Landkommunikationstage und die institutionelle Heuchelei. Bevor sich die Angleichung der institutionellen Praxis an die neuen normativen Ansprüche jedoch fortsetzten konnte, schuf der Ausbruch des Marburger Erbfolgestreits 1604 eine höchst problematische Situation: Einerseits würden Ludwig V. von Hessen-Darmstadt und Moritz von Hessen-Kassel auch in Zukunft auf Steuermittel angewiesen sein; andererseits blockierte das Zerbrechen der dynastischen Einheit eben jene Institution, der soeben, im Zuge der normativen (und ansatzweise auch schon: faktischen) Zentrierung, die Alleinzuständigkeit für Steuerbewilligungen zugewiesen worden war – den gesamthessischen und

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6. Eine Verfassung „in fieri“

gesamtständischen Landtag. Um in dieser Situation den eigenen politischen Bewegungsspielraum zu sichern, traten in beiden Teilterritorien Handeln und Sprechen auseinander: Beide Landgrafen beriefen schon kurze Zeit später – und zwar jeweils unterstützt von ihren Ständen – zum Zweck der Steuerbewilligung Partikularlandtage ein, das heißt, sie kopierten die maßgebliche Form des allgemeinen Landtags mit repräsentativ handelnder Ständegesamtheit von der gesamthessischen Ebene in die Ebene der Teilfürstentümer. Dabei leugneten allerdings alle Beteiligten nicht nur die Tatsache, dass ihr Handeln eine Verletzung der gesamthessischen Verfassungsordnung darstellte, sondern betonten und bekräftigten in ihrem Sprechen die faktisch missachtete Norm sogar noch zusätzlich. Diese ‚institutionalisierte Heuchelei‘ brachte zwar bestimmte Folgeprobleme mit sich, aber machte es doch möglich, nicht nur an der Norm einer landständischen Verfassung für Gesamthessen festzuhalten, sondern gleichzeitig die wichtigste Funktion dieser Verfassungsordnung, nämlich die gesamtständische Steuerbewilligung, durch die Etablierung von Partikularlandtagen faktisch auch auf der Ebene der Teilterritorien verfügbar zu machen. Das Jahrzehnt der institutionellen Verfestigung. Zunächst sollte der Rückgriff auf die bald so genannten Landkommunikationstage eine ‚Ausnahme‘ bleiben – ganz im Einklang den normativen Ansprüchen. Allerdings sah sich Landgraf Moritz in den Jahren nach dem Ausbruch des Erbfolgestreits immer wieder gezwungen, Ständeversammlungen auszuschreiben und von seinen Ständen finanzielle Hilfe sowie politischen Rat einzufordern. Diese massive Intensivierung der fürstlich-ständischen Beziehungen führte dazu, dass der ursprünglich nur als ‚Ausnahme‘ gedachte hessen-kasselische Landkommunikationstag – in Form und Funktion dem gesamthessischen Landtag nachgebildet – institutionell verstetigt und damit faktisch zur ‚Regel‘ wurde. Im Ergebnis hatte sich damit von 1609 (erster allgemeiner Landkommunikationstag) bis 1620 (dem letzten Jahr ohne direkte Kriegseinwirkungen), dem ‚Jahrzehnt der institutionellen Verfestigung‘, in Hessen-Kassel weitgehend eine landständische Verfassung herausgebildet – in der Praxis. Normativ allerdings hielt man weiterhin an der Vorstellung einer landständischen Verfassung für Gesamthessen fest, während aber gleichzeitig auch der Landkommunikationstag zunehmend als legitime Institution galt. Dieser Auf- und Ausbau eines ‚landständischen‘ Institutionengefüges war vor allem auf Initiative des Landgrafen erfolgt und fand zunächst auch die ausdrückliche Unterstützung der Landstände. Trotz aller Differenzen im Detail teilten die politischen Eliten weitgehend die Ansicht des Landgrafen, dass ‚Vaterland und evangelisches Wesen‘ zunehmend bedroht seien –

6.1 Die Erschaffung der landständischen Verfassung in Hessen

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und bewilligten dementsprechend immer neue und höhere Steuern zur Abwendung dieser Bedrohung. Die Verfahrenskämpfe und die institutionelle Autonomie. Als der Krieg ab Ende 1620 Hessen tatsächlich erreichte, ging das grundsätzliche Einvernehmen zwischen Fürst und Ständen im Streit über das weitere Vorgehen verloren. Denn die Landstände wandten sich nun gegen die bisher verfolgte Politik der militärischen Stärke, die Moritz im Gegensatz dazu sogar noch forcieren wollte. In diesem Kontext versuchte der Landgraf, von der bisher kooperativ erfolgten Intensivierung der landständischen Strukturen zu einer viel weitergehenden – und einseitig oktroyierten – Integration derselben in seinen Herrschaftsapparat überzugehen, um die Landtage zu einem effektiven Instrument seiner Politik zu machen. Dazu ergriff er von 1621 bis 1623 eine Reihe von Maßnahmen zur Veränderung des Landtagsverfahrens, die letztlich alle darauf zielten, die Autonomie und damit die kollektive Handlungsfähigkeit der Ständegesamtheit zu senken oder gar aufzuheben. Die Landstände allerdings verweigerten sich erfolgreich diesem Versuch, vor allem unter Berufung darauf, dass die verlangten Änderungen dem Herkommen widersprächen. Diese ‚Verfahrenskämpfe‘ zeigten zum einen, dass Landtag und Ständegesamtheit inzwischen ein relativ hohes Maß an objektiver Gegenständlichkeit erreicht hatten. Zum anderen verstärkten die Auseinandersetzungen die Verfassungsordnung noch zusätzlich, weil auf diese Weise eine Reihe von Verfahrensformen zum ersten Mal expliziert, verschriftlicht und zu Präzedenzfällen aufgewertet wurden. Der Strukturkonflikt (1623–1626) und die Erfindung der niederhessischen Ritterschaft. Als Landgraf Moritz im Herbst 1623 vorläufig ins Exil ging und Ligatruppen weite Teile Niederhessens besetzten, befand sich das Teilfürstentum der Kasseler Linie in einer kritischen Situation. Die allgemeine politische Krise wurde jedoch erst dadurch zu einer Verfassungskrise, dass die niederhessische Adeligen 1625 unter dem Namen ‚niederhessische Ritterschaft‘ einen neuen politischen Akteur konstituierten. Dieser qualitative Umschlag von einer nur lose zusammenhängen Gruppe hin zu einer kollektiv handlungsfähigen Institution verursachte eine herrschaftsstrukturelle Konfliktlage: Nunmehr nahmen in HessenKassel tendenziell sowohl die Ständegesamtheit als auch die Ritterschaft für sich das Recht in Anspruch, eigenständig als politischer Akteur aufzutreten, was eine Destabilisierung der landständischen Verfassung zur Folge hatte. Zu einem offenen Ständekonflikt kam es, weil Landgraf und Ritterschaft nicht einmal mehr über eine gemeinsame Sprache verfügten, in der ihr Dissens über den Status der Ritterschaft formuliert und verhandelt werden konnte. Dieser Zustand wurde erst überwunden, als General

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Tilly eine Rückkehr zu den Formen und Verfahren der auf die Ständegesamtheit zentrierten landständischen Verfassung erzwang. Damit war die Konfliktursache jedoch nicht beseitigt worden und das Verhältnis von Ständegesamtheit und Ritterschaft blieb ungeklärt. Die landständische Verfassung wurde in einen Zustand gesteigerter ‚Unausgetragenheit‘ versetzt; gesteigert im Vergleich zu dem Grad an Autonomie und Eindeutigkeit, der nach dem ‚Jahrzehnt der institutionellen Verfestigung‘ (1609–1620) erreicht worden war. Der Hauptaccord von 1627 und das Ende der Heuchelei. Die nächste Phase der Verfassungsgenese begann 1627 mit Rücktritt Moritz‘. Um überhaupt politischen Handlungsspielraum zu erlangen, versuchte der neue Landgraf, Wilhelm V., möglichst viele Konflikte einzuhegen. Dazu gehörte auch die innerdynastische Auseinandersetzung mit der Darmstädter Linie, die im Hauptaccord von 1627 beigelegt wurde. Im Hinblick auf die landständische Verfassung schloss dieses Vertragswerk in zwei Schritten die seit dem Ausbruch des Erbfolgestreits bestehende Kluft zwischen Verfassungsnorm und Verfassungspraxis: Zum einen wurde der seit 1604 schwelende Streit um das Landtagsdirektorium beigelegt und damit die Möglichkeit eröffnet, dass der normativ ohnehin maßgebliche allgemeine Landtag auch faktisch wieder eine Zentralstellung würde einnehmen können. Zum andern wurden die Landkommunikationstage der beiden Teilfürstentümer als legitime Versammlungsform anerkannt, womit die wohl wichtigste Institution der politischen Praxis nachträglich in das kollektive Normsystem integriert wurde. Diese ‚Neujustierung‘ konkretisierte sich in dem neuen Konzept einer zweistufigen wie landständischen Verfassungsordnung, in der sowohl auf gesamthessischer wie auch auf territorialer Ebene Landtagsformen faktisch vorhanden und normativ vorgesehen waren. Zwar ließen sich die gesamthessischen Landtage in der Praxis nicht wieder verstetigen, aber immerhin entfiel nun die Notwendigkeit, das Bestehen landständischer Verfassungsstrukturen in den Teilfürstentümern durch ‚institutionalisierte Heuchelei‘ zu kaschieren. Die Entkopplung von Stände- und Steuerpolitik und die faktische Durchsetzung der Verfassung. Als der Landgraf dann nach 1631 auf ständische Steuern weitgehend verzichten konnte, weil er die eroberten Gebiete außerhalb Hessen zu Kontributionen heranzog, war eine Bedingungskonstellation zustande gekommen, die es möglich machte, dass sich die landständische Verfassung, die in den 1610er Jahren unter ganz anderen Voraussetzungen entstanden war, weiter verfestigen und sich bis zum Ende der 1630er Jahre auch in der Praxis endgültig als allein maßgebliche institutionelle Form der fürstlich-ständischen Beziehungen durchsetzen konnte. Diese Entwicklung änderte jedoch nichts daran, dass sich die

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Verfassungsordnung als Ganze immer noch in einem Zustand der latenter ‚Unausgetragenheit‘ befand. Zwar konnte die weitgehende Verschonung der Landstände mit Steuerforderungen diese Frage in den 1630er Jahren unter der Thematisierungsschwelle halten, aber jeder neue Versuch, die Landstände wieder enger in die Kriegsanstrengungen des Fürstenhauses einzubinden, musste auch dieses herrschaftsstrukturelle Problem wieder zum Vorschein bringen. Der Theoretisierungsprozess. Seit Ende der 1630er Jahre setzte ein Prozess ein, in dem die ständischen und ritterschaftlichen Vorrechte begrifflich expliziert und argumentativ gerechtfertigt wurden. Insgesamt bauten die einzelnen Stände (gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit juristisch geschulten Beratern) ein differenziertes und über die Aneinanderreihung von Herkommensbeweisen deutlich hinausgehendes Argumentationsarsenal auf. Im Verlauf dieses Prozesses nahm das Verhältnis von faktischen Regeln und normativen Regelinterpretationen und damit die Verfassung insgesamt eine neue Qualität an. Die Regelinterpretationen wiesen bisher insgesamt einen vornehmlich ‚behauptenden‘ Charakter auf: Ansprüche wurden nicht weiter begründet, sondern mit Verweis auf hessisches Recht und Herkommen konstatiert. In den 1640er Jahren aber wurden die Regelinterpretationen nicht nur enorm vermehrt, sondern nahmen einen ‚argumentativen‘ Charakter an, wodurch eine Schnittstelle zwischen den bisher institutionsspezifischen Reflexions- und Interpretationspraktiken einerseits und theoretischen Spezialdiskursen andererseits etabliert wurde. Über diese Schnittstelle wurden nun abstrakte Deutungs- und Beschreibungsmuster zugänglich, die dazu genutzt wurden, um Ansprüche zu rechtfertigen, die gerade nicht abstrakt, sondern das Produkt der ‚hessischen‘ Verfassungsgenese waren. Auf diesem Wege wurde eine ‚besondere‘, weil für Hessen spezifische landständische Verfassungsordnung erstmals umfassend auf ‚allgemeine‘ Begriffe gebracht. Da kollektive Sinnstiftung immer im Modus der Nachträglichkeit stattfindet, ist es leicht erklärbar, dass die retrospektive Theoretisierung der landständischen Verfassung in Hessen in den frühen 1640er Jahren begann, denn erst kurz zuvor hatte sich diese institutionelle Form endgültig durchgesetzt. Folgerichtig wurden nun alle Strukturmerkmale der hessisch-landständischen Verfassungsordnung sukzessive einer nachträglichen Neubeschreibung unterzogen und mit Denkfiguren und Deutungen verknüpft, erklärt und gerechtfertigt, die in der Entstehung dieser Merkmale keine relevante Rolle gespielt hatten. Der Deutungskonflikt (1646–1655). Der zweite Ständekonflikt, oft auch ‚der‘ hessische Ständekonflikt genannt, begann 1646 mit einer Getreideforderung der Regentin Amalie Elisabeth an die niederhessischen Rit-

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ter. Diese sahen ihre Steuerimmunität gefährdet und nahmen zum ersten Mal seit den 1620er Jahren wieder offensiv das von ihnen beanspruchte Selbstversammlungsrecht in Anspruch. Als die Regentin daraufhin die Zusammenkünfte verbot, war die Unausgetragenheit der Verfassungsordnung wieder aktualisiert. Zudem handelte es sich um einen Ständekonflikt, weil keine Einigung darüber zu erzielen war, auf welche Weise man den materiellen Interessengegensatz beilegen könne: Die Regentin beanspruchte ‚übergesetzliche‘ Notstandsbefugnisse, während die Ritter auf der Geltung der ‚gesetzlichen‘ Herkommensordnung bestanden. Der Ständekonflikt nahm sehr schnell den Charakter eines Deutungskonflikts an, bei dem es darum ging, ob die ständischen Partizipationsrechte als ‚öffentliche‘ Herrschaftsrechte oder als ‚private‘ Privilegien interpretiert werden sollten. Dieser Konflikt wurde auf zwei Wegen ausgetragen, vor dem Reichskammergericht und in direkten fürstlich-ritterschaftlichen Verhandlungen. Es zeigte sich, dass um die Mitte des 17. Jahrhunderts zunehmend nur noch zwei überzeugende Begründungen für territoriale Herrschaftsrechte zur Verfügung standen, eine ‚herrschaftliche‘ Beweisführung auf Grundlage der Landeshoheit und eine ‚genossenschaftliche‘ Beweisführung auf Grundlage der Landesrepräsentation. Die fürstliche Seite war hier insofern im Vorteil, weil die superioritas territorialis von Beginn an die organisierende Mitte des landgräflichen Argumentierens vor Gericht bildete. Gleichzeitig ist aber nicht zu übersehen, dass die fürstliche Seite Ansprüche anerkannte, die von der Gegenseite ausdrücklich repräsentationstheoretisch begründet wurden, weshalb das fürstliche Argument, trotz aller ostentativen Betonung der unbeschränkten Landeshoheit, strukturell verträglich war mit der Landesrepräsentation. Auch in den Verhandlungen betonte die fürstliche Seite zwar die Landeshoheit, war aber gleichwohl gewillt, Forderungen zu akzeptieren, die mit einem Repräsentationsargument begründet wurden oder werden konnten. Die repräsentationstheoretische Wende. Die Ritterschaft jedoch musste auf allen Ebenen, so wohl vor Gericht als auch in den Verhandlungen, eine ‚argumentative Wende‘ vollziehen. Angetreten waren sie mit dem Anspruch, als dritte persona publica neben Landgraf und Ständegesamtheit anerkannt zu werden – die Ritterschaft begriff politische Teilhabe als ihr ureigenstes Recht. Vor Gericht und in den Verhandlungen rückte jedoch schnell die Landesrepräsentation in den Mittelpunkt der ritterschaftlichen Argumentation: In allen europäischen Gemeinwesen, so die Ritter jetzt, existiere neben dem Fürsten mindestens noch eine weitere persona publica, nämlich ein Senat, der die gesamte Untertanenschaft repräsentiere. Dieses sehr allgemeine Argument wurde zusätzlich

6.1 Die Erschaffung der landständischen Verfassung in Hessen

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korporationstheoretisch untermauert: Weil das Land korporativ verfasst sei, stelle es eine (juristische) Person des öffentlichen Rechts dar und könne daher selbst Träger von originären Herrschaftsrechten sein, die im Wege der Repräsentation von einer Korporation wahrgenommen werden könnten. Damit bildete nunmehr die Landesrepräsentation die organisierende Mitte der ritterschaftlichen Argumentation. Die ‚repräsentationstheoretische Wende‘ wirkte einerseits ermächtigend, weil alle beanspruchten Rechte auf diese Weise auf die kaum zu erschütternde Stellung des Landes als Träger von Herrschaftsrechten gegründet werden konnten. Andererseits hatte diese argumentative Verschiebung auch ganz massive Einschränkungen zur Folge, denn als Subjekt der Landesrepräsentation kam nur die Ständegesamtheit in Frage, was zu einem Auseinanderdriften der beiden Kollektivakteure führte: Die Ständegesamtheit wurde in ihrem Status als öffentlichrechtlicher Akteur und als Träger des Steuerbewilligungsrechts bestärkt. Die Ritterschaft hingegen wurde tendenziell und trotz aller Versuche, an der Stärkung der Ständegesamtheit teilzuhaben, abgewertet. Der Anspruch auf eigenständiges politisches Handeln ließ sich letztlich weder vor Gericht begründen noch in den Verhandlungen durchsetzen. Der Vergleich von 1655. Folgerichtig wurde mit dem Vergleich von 1655 die seit 1625 bestehende Unausgetragenheit der landständischen Verfassung zu Lasten der Ritterschaft beseitigt. Während die Rechte der Ständegesamtheit weitgehend bestätigt wurden, wenngleich in modifizierter Form, so hatte die Ritterschaft ihr wichtigstes Ziel verfehlt, denn sie konnte sich gerade nicht als persona publica etablieren. In ‚Land und Leute betreffenden‘, also politischen Sachen war die Ständegesamtheit der Ansprechpartner des Landgrafen – in der nunmehr fundamentalgesetzlich festgeschriebenen ‚landständischen Verfassung‘ war kein Platz mehr für die Ritterschaft als eigenständigen Akteur. Der Abschluss der Theoretisierung. Mit der ‚repräsentationstheoretischen Wende‘ wurde nicht nur der ritterschaftlichen Argumentation Stimmigkeit verliehen, sondern in Verbindung mit der impliziten Anerkennung der Landesrepräsentation durch die fürstliche Seite letztlich auch der nachträgliche Theoretisierungsprozess im doppelten Sinne abgeschlossen: Zum einen war die retrospektive Neubeschreibung nun ‚vollständig‘, weil die landständische Verfassung jetzt in Gänze begriffen werden konnte als Verbindung von landeshoheitlicher Herrschaft und landesrepräsentativer Herrschaftspartizipation. Und zum anderen war die Theoretisierung damit auch ‚beendet‘, denn im Verlauf des Deutungskonflikts hatten sich beide Seiten im Prinzip auf eine solche Deutung der landständischen Verfassung festgelegt. Diese wurde bis zum Ende des Ancien Régime

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6. Eine Verfassung „in fieri“

nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt wurde, weder von den Ständen noch von den Landgrafen. Die Theoretisierung hatte also einerseits dazu geführt, dass Fürst und Ritterschaft wieder zu einem gemeinsamen Beschreibungssystem fanden und den Verfassungskonflikt beilegen konnten. Andererseits war auf diese Weise auch neues Konfliktpotential geschaffen worden, denn mit der Landesrepräsentation stand nun ein explizit theoretisches Konzept im Zentrum der institutionellen Selbstdeutung. Damit aber würde jede zukünftige Veränderung des Konzepts der politischen Repräsentation zumindest mittelbar auf die landständische Verfassung selbst durchschlagen. Mit dem Vergleich von 1655 war die Verfassungsgenese abgeschlossen: Für die nächsten gut einhundertfünfzig Jahre wirkte der Vergleich in normativer Hinsicht als lex fundamentalis und in der Praxis war die Ständegesamtheit als Träger politischer Partizipationsrechte unumstritten. Durch die weitgehende Übereinstimmung von verstetigter Praxis und normativem Anspruch nahm die von der Verfassungsordnung selbst erzeugte Dynamik ab und es kam bis zum Ende des Ancien Régime zu keinen weiteren ‚institutionellen Erfindungen‘ oder Deutungskonflikten – die landständische Verfassungsordnung war von einer Verfassung in fieri zu einer Verfassung in facto geworden. 2

6.2 Verfassungsgenese in der Vormoderne – Synthese Nachdem die Ergebnisse im vorigen Abschnitt im chronologischer Reihenfolge zusammengefasst wurden, um die Individualität des Entstehungsprozesses der landständischen Verfassung in Hessen(-Kassel) deutlich zu machen, werden in einem systematisch orientierten Zugriff nun Fragen und Hypothesen allgemeinerer Art für die Historische Ständeforschung und die allgemeine Verfassungsgeschichte aufgezeigt. Zwar erscheint der hessische Fall in verschiedenen Hinsichten als ‚Ausnahmefall‘: Das gilt beispielsweise für den Erbfolgestreit, der auf ganz ungewöhnliche Weise die gesamthessischen Landtage blockierte, und für den Politikstil Landgraf Moritz’, dessen Regierungszeit sogar schon als

2

Noch einmal: Damit ist nicht gesagt, dass sich die Verfassung in der Zeit nach 1655 nicht mehr verändert oder dass es keine Konflikte mehr gegeben hätte. Der qualitative Unterschied besteht jedoch darin, dass sich alle weiteren Veränderungen und Konflikte im Rahmen der 1655 fixierten Verfassungsordnung abspielten, die selbst nicht in Frage gestellt wurde. Außerdem war die landständische Verfassung auch als Verfassung in facto eine Verfassung in actu, musste also ständig im praktischen Vollzug reaktualisiert werden.

6.2 Verfassungsgenese in der Vormoderne – Synthese

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„Störfall“ bezeichnet wurde. 3 Allerdings handelt es sich bei näherer Betrachtung doch eher um einen Fall des „außergewöhnlich Normalen“, 4 insofern beide Sachverhalte zwar an sich außergewöhnlich waren, aber die ‚normalen‘ Mechanismen der Verfassungsgenese nur um so deutlicher hervortreten lassen: War etwa schon die Übertragung der Repräsentationsfunktion der Ständegesamtheit von den Reichs- auf die Landessteuern ein so problematischer – und nicht für Hessen spezifischer – Vorgang, dass er durch ‚institutionalisierte Heuchelei‘ kaschiert werden musste, so erzwang die in Hessen zur Sicherstellung der Steuerbewilligung zusätzlich notwendige Erfindung der Landkommunikationstage nur eine Intensivierung dieses ‚normalen‘ Mechanismus, was seine Untersuchung sogar erleichtert. Dasselbe gilt für den Regierungsstil Landgraf Moritz nach 1620: Erst seine ‚ungewöhnlichen‘ Versuche, die Autonomie des Landtagsverfahren zu reduzieren, lassen deutlicher erkennen, dass Herkommensbehauptungen ein alltägliches Mittel zur Absicherung von Institutionalisierungsprozessen waren. Insofern gilt auch für den hessischen Fall die Einsicht in den „Wert von Ausnahmesituationen, Krisen und Katastrophen für das Erkennen gerade der regulären, normalen Systemzusammenhänge“. 5 Welche Folgerungen ergeben sich also für die Historische Ständeforschung und die allgemeine Verfassungsgeschichte?

6.2.1 Die landständische Verfassung „in fieri“ – Folgerungen für die Historische Ständeforschung Die drei Erkenntnisinteressen. Die reflexive Aufarbeitung der Geschichte der Ständeforschung zeigte, dass die Ständegeschichte keineswegs ein homogenes Forschungsfeld darstellt, sondern drei Forschungsstränge umfasst, die je ein spezifisches Erkenntnisinteresse verfolgen und deren Einfluss auf die Einschätzung der landständischen Verfassung innerhalb der Geschichtswissenschaft unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Die beiden in diesem Sinne einflussreichsten Deutungsmuster – Parlamentarisierung und Staatsbildung – sind an epochenübergreifenden Entwicklungen interessiert und beobachten das Ständewesen somit im Hinblick auf 3

4 5

Maruhn, Necessitäres Regiment, S. 24. Hier ist anzumerken, dass die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung klar zeigen, dass – wenn überhaupt – von einem ‚Störfall‘ erst nach 1620 gesprochen werden kann. Zu diesem Zeitpunkt regierte Moritz aber schon fast zwanzig Jahre und hatte in Zusammenarbeit mit den Ständen die Grundlage für eine landständische Verfassung gelegt. Medick, Mikro-Historie, S. 46f. Der Begriff nach Grendi, Microanalisi e storia sociale. Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 40.

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6. Eine Verfassung „in fieri“

Kontinuität. Der jüngste, ‚institutionelle‘ Forschungsstrang stellt hingegen die explizit als ‚vormodern‘ markierte ‚Eigengesetzlichkeit‘ der ständischen Institutionen in den Mittelpunkt. Somit bestehen gute Voraussetzungen, einen Zugriff, der das Differenzierungsvermögen der Verfassungsgeschichte in Bezug auf Diskontinuität und Kontinuität steigern soll, aus der Ständeforschung heraus zu entwickeln. Der Begriff der landständischen Verfassung. Die Heterogenität des Forschungsfeldes ermöglicht es, die drei Forschungsstränge so gegeneinander in Stellung zu bringen, dass sich abseits der ‚großen‘, auf Kontinuität bedachten Deutungsmuster ein gemeinsamer Strukturtypus abzeichnet, der zur Präzisierung des Begriffs der landständischen Verfassung herangezogen werden kann: Eine landständische Verfassung ist dann gegeben, wenn der allgemeine Landtag als die institutionelle Form, in der die Gesamtheit der (sozialständisch heterogenen) Landstände als korporativer Träger politischer Teilhaberechte und Repräsentant des Gemeinwesen auf- und dem Landesherrn gegenübertritt, gleichermaßen in der politischen Praxis effektiv verankert und normativ anerkannt ist. Von einer landständischen Verfassung sollte also nur dann gesprochen werden, wenn alle in der Definition genannten Kriterien erfüllt sind, also der Strukturtypus tatsächlich vorliegt. Ist dies nicht der Fall, sollten Ständehistoriker entweder allgemeinere Begriffe verwenden oder versuchen, die Spezifizität von institutionalisierten fürstlich-ständischen Beziehungen, die nicht dem Strukturtyp der landständischen Verfassung entsprechen, mit eigenen Begriffen zu bezeichnen. ‚Landständische Verfassung‘ sollte als Begriff für eine institutionell Ordnung mit präzise bestimmten Strukturmerkmalen verwendet werden, nicht als Oberbegriff für ständische Partizipation in Reichsterritorien während der Frühen Neuzeit. Beginn der Verfassungsgenese. Wird landständische Verfassung in diesem Sinne verstanden, dann muss die Frage der Genese dieser Verfassungsordnung neu aufgerollt werden. In der Ständeforschung dominiert bisher die Vorstellung einer ‚evolutionären‘ Verfassungsentwicklung, die sich vor allem auf der Ebene des jeweiligen Territoriums abspielt. In dieser Vorstellung hat die landständische Verfassung ihre „Wurzeln“ 6 in den Landesgemeinden (Brunner), den herrschaftlichen Hoftagen (Moraw) und genossenschaftlichen Einungen (Gierke, Blickle) der hoch- und spätmittelalterlichen Territorien und entwickelt sich im Kontext der fürstlichen Herrschaftsverdichtung und ihrer Folgeprobleme zu einer institutionellen Ordnung, in der sich schließlich Fürst und Stände auf Landtagen

6

Krüger, Die landständische Verfassung, S. 7.

6.2 Verfassungsgenese in der Vormoderne – Synthese

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begegneten. Das Vorkommen von Landtagen ist aber keine hinreichende Voraussetzung für das Bestehen einer landständischen Verfassung, denn es muss sich um Landtage handeln, auf denen eine ‚Ständegesamtheit mit Repräsentationsfunktion‘ agiert. Nimmt man dieses Kriterium ernst, so verliert die dominierende Vorstellung an Glaubwürdigkeit. Das gilt erstens für ihren ‚evolutionären‘ Charakter: Auf den ersten Landtagen kamen Personen, Korporationen und Gruppen zusammen, die aus den verschiedensten Gründen für sich selbst politische Mitsprache geltend machen konnten. Da im Zentrum der landständischen Verfassung aber die korporativ verfasste Ständegesamtheit steht, muss es irgendwann zu einem qualitativen Sprung gekommen sein, der darin bestand, dass im Rahmen des Landtags ein neuer Kollektivakteur auftrat, der die einzelnen ‚Stände des Landes‘ inkorporierte und als Vertreter des Gemeinwohls galt. Für Hessen zeigt sich etwa, dass es noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts keineswegs selbstverständlich war, dass die Landstände ein corpus bildeten, da Grafen, Prälaten, Ritter und Städte sich von Fall zu Fall durch Einungen überhaupt erst zu einem handlungsfähigen Kollektivakteur vergemeinschafteten. Allerdings ist auch das Bestehen einer landständischen Korporation noch kein hinreichendes Kriterium, denn in einer landständischen Verfassung kommt der Ständegesamtheit darüber hinaus eine Repräsentationsfunktion zu, das heißt ihre Beschlüsse gelten nicht nur für die Einzelstände, sondern für das ganze Land. Hier erwachsen nun zweitens Zweifel an der territorialgeschichtlichen Fokussierung, denn die Ergebnisse dieser Arbeit belegen, dass die Entwicklung der Repräsentationsfunktion maßgeblich vom Ausbau des Reichssteuerwesens abhing. Die in weiten Teilen der Ständeforschung verkannte „verfassungsbildende Kraft der Reichssteuern“ 7 liegt nämlich eben darin begründet, dass die reichsrechtlich ermöglichte Heranziehung aller Untertanen eines Fürsten zu den Reichssteuern in den Territorien von den Landständen bewilligt wurde. Damit wurde faktisch ein Repräsentationsverhältnis zwischen der Ständegesamtheit und dem ‚Land‘ etabliert, weil in diesem Fall die Beschlüsse der Ständegesamtheit dem Land zugerechnet wurden – selbst wenn nicht von Repräsentation gesprochen wurde. Auch dabei handelte es sich um einen qualitativen Sprung, denn zuvor waren Steuern nicht dem ganzen Land, sondern immer nur einzelnen Ständen und ständischen Gruppen auferlegt worden. Die Genese einer landständischen Verfassung setzt also erst ein, wenn bestimmte Entscheidungen einer korporativ verfassten Ständegesamt-

7

Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter, S. 44.

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heit einen repräsentativen Charakter annehmen, also effektiv ‚Land und Leuten‘ zugerechnet werden. Eine solche Repräsentationsfunktion entwickelte der allgemeine Landtag in Hessen aber erst im Kontext der Reichssteuern, womit sich zunächst die alte Forderung bestätigt, dass Ständegeschichte nur in Kombination von Reichs- und Territorialgeschichte betrieben werden kann. Und während Teile der Forschung die Meinung vertreten, die Intensivierung des Reichssteuerwesens habe eine erste Schwächung des ständischen Steuerbewilligungsrechts bedeutet, erscheint es wahrscheinlicher, dass gerade dieser Vorgang es überhaupt erst möglich machte, der Ständegesamtheit ein umfassendes Recht zur Bewilligung allgemeinverbindlicher Steuern zuzusprechen. Darüber hinaus führt die Einsicht in die ‚verfassungsbildende Kraft der Reichssteuern‘ (Schubert) zu der These, dass die Entstehung der landständischen Verfassung im Regelfall die Intensivierung des Reichssteuerwesens voraussetzte und daher kaum vor Mitte des 16. Jahrhunderts begonnen haben kann. 8 Zentrierung auf den allgemeinen Landtag mit Repräsentationsfunktion. Die Repräsentationsfunktion war zunächst situationsabhängig, sie kam der Ständegesamtheit dann (und nur dann) zu, wenn es um die Bewilligung von Reichssteuern ging. In anderen Kontexten sprach die Ständegesamtheit nur für die ihr inkorporierten Stände und in Hessen konnten zudem auch die einzelnen Stände selbst noch zu Kurienlandtagen berufen werden – der ‚allgemeine Landtag mit Repräsentationsfunktion‘ war ein Spezialfall. In der ausgebildeten landständischen Verfassungsordnung war diese Landtagsform aber die Regel, so dass die Verfassungsgenese konkret als allmähliche – normative wie faktische – Zentrierung auf die im Rahmen von allgemeinen Landtagen repräsentativ handelnde Ständegesamtheit verstanden werden muss. Auch dieser Prozess erforderte in der Regel qualitative Sprünge, etwa wenn die Zuständigkeit der Ständegesamtheit von Reichs- auf Landessteuern ausgeweitet werden sollte, wozu in Hessen 1598 die Landrettungssteuer ‚erfunden‘ wurde. Neben der inhaltlichen These, dass sich die Genese landständischer Verfassungsord8

Vor allem im Anschluss an Blockmans, A Typology of Representative Institutions in Late Medieval Europe, hat jüngst David Stasavage in breit rezipierten Studien (Stasavage, When Distance Mattered, und Ders., States of Credit) betont, dass die Entstehung ständischer Institutionen in ganz entscheidender Weise durch die Faktoren „geographic scale and the presence of a political elite holding liquid wealth“ (ebd., S. 72) bestimmt gewesen sei. Letztlich bleibt jedoch auch dieser interessante Neuansatz der evolutionär-territorialen Deutung verpflichtet, insofern das von Stasavage verwendete spieltheoretische Modell weder die Formierung der Ständegesamtheit noch den Einfluss des Reichssteuerwesens überhaupt nur beobachtbar macht. Gleichwohl wäre eine Debatte darüber wichtig, ob und wenn ja wie statistische-vergleichende Ansätze in die Ständegeschichte integriert werden können.

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nungen als Zentrierungsprozess beschreiben lässt, kann also ebenfalls davon ausgegangen werden, dass sich dieser Prozess grob zwischen der Mitte des 16. und der Mitte des 17. Jahrhundert abgespielt hat. Dieser Zeitraum beginnt mit den ersten Impulsen des Reichssteuerwesen und endet mit dem Entstehen eines gelehrten Spezialdiskurses zur landständischen Verfassung, in dem sich die abgeschlossene Zentrierung widerspiegelt. Ressourcenextraktion und Verfassungsausbau. Nach dem Initialimpuls, der vom Ausbau des Reichssteuerwesens ausging, wurde die weitere Genese, die sich inhaltlich als Zentrierung zeigte, dann vom stetig steigenden Finanzbedarf der Landesherren vorangetrieben. Damit kommt innerhalb der Zeitspanne von 1550 bis 1650 den Jahrzehnten um 1600 eine besondere Bedeutung zu, weil zu den ohnehin schon erheblichen Kosten der fürstlichen Herrschaftsintensivierung nun angesichts der zunehmenden Kriegsgefahr auch noch massiv gesteigerte Rüstungsausgaben hinzukamen. Die massive Steigerung der Ressourcenextraktion vom Ende des 16. Jahrhunderts bis zum Übergriff des Krieges ins Reich und der gleichzeitige Auf- und Ausbau landständischer Verfassungsstrukturen stehen daher in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis. Die Rolle des Dreißigjährigen Krieges ist also eine doppelte: Der potentielle Krieg, die von Fürst und Ständen gleichermaßen empfundene Kriegsgefahr trieb den Aufbau der landständischen Verfassung voran, während der tatsächliche Krieg dann in vielen Fällen zu einer Durchbrechung eben dieser Verfassungsordnung führte. Wird vielfach die These vertreten, die landständische Verfassung habe sich im 16. Jahrhundert auf dem Höhepunkt befunden und sei dann seit dem Übergang zum 17. Jahrhundert zurückgedrängt worden, so ist dagegen zu betonen, dass gerade in den Jahrzehnten um 1600 ein Institutionalisierungsschub zu erkennen ist. Institutionelle Verdichtung – eine Einbahnstraße? In diesem Kontext ist auch über den Wert von Institutionalisierungsleistungen nachzudenken. Oftmals wird die Entwicklung von Institutionen als gerichteter Prozess begriffen, der stets auf Steigerung des Institutionalisierungsgrades abziele, wobei diese Steigerung die institutionelle Macht vermehre. Dann aber wäre nicht erklärbar, warum beispielsweise die Einrichtung umfassend bevollmächtigter Ausschüsse, die zweifellos den Institutionalisierungsgrad steigert, mit guten Gründen als Machtverlust beschrieben wurde. Wie der hessische Fall zeigt, sollte man eher davon ausgehen, dass der Wert von Institutionalisierungsleistungen situationsabhängig ist, dass es also im Einzelfall für die Landstände vorteilhafter sein kann, ihren Institutionalisierungsgrad nicht zu erhöhen oder sogar zu senken. So richtete die niederhessische Ritterschaft in ihrem eigenen Interesse 1625 genau die internen Führungsstrukturen ein, deren Einführung man noch drei

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Jahre zuvor verweigert hatte, weil sie zu diesem Zeitpunkt die Position des Landgrafen gestärkt hätten. Die Ständeforschung sollte sich also von einem teleologischen Verständnis von institutioneller Entwicklung verabschieden. Herrschaftskrisen und landständische Verfassung. Eine weiteres Erklärungsmuster, das überdacht werden sollte, ist die Vorstellung, dass die landständische Verfassung vor allem durch finanzielle Krisen der Landesherren gestärkt wird. Es sind jedoch auch andere Bedingungskonstellationen denkbar, wie der hessische Fall zeigt: Die landständische Verfassung setzte sich in den 1630er Jahren in der Praxis gerade deswegen endgültig durch, weil es dem Landgrafen möglich wurde, Stände- und Steuerpolitik zu entkoppeln und auf ständische Steuerbewilligungen zu verzichten. Der Zusammenhang zwischen fürstlichem Finanzbedarf und ständischer Partizipation sollte also nicht überbewertet werden. Theoretisierungsprozesse. Die seit etwa 1600 entstehende Reichs- und Territorialpublizistik thematisierte schon sehr früh auch die ständische Herrschaftspartizipation, insbesondere das Steuerbewilligungsrecht. Gleiches galt auch für das gemeine Recht und, wenngleich in unterschiedlicher Intensität, für die verschiedenen Varianten der politischen Theorie. Damit stellten die gelehrten Spezialdiskurse abstrakte Beschreibungssysteme und Deutungsmuster zur Verfügung, die von Fürsten wie Ständen gleichermaßen verwendet werden konnten, um die einmal etablierten, ‚besonderen‘ Verfassungsstrukturen eines Territoriums nachträglich zu ‚theoretisieren‘, das heißt auf ‚allgemeine‘ Begriffe zu bringen. Insbesondere das Auseinandertreten von öffentlichem und privatem Recht, ebenfalls eine Entwicklung des 17. Jahrhunderts, nötigte Fürsten und Stände dazu, eigene Deutungen der landständischen Verfassung zu entwickeln und unter Bezug auf die Spezialdiskurse zu rechtfertigen. Um diese Deutungskonflikte besser verstehen zu können, sollte die Ständeforschung verstärkt begriffs- und argumentationsgeschichtliche Ansätze integrieren. Repräsentation. In der Ständeforschung gilt Repräsentation als ‚überwundene‘ Kategorie. Die bisherigen Folgerungen haben jedoch gezeigt, dass die Ständeforschung auf den Begriff nicht verzichten kann – wenn er denn richtig definiert wird. Bei ‚Repräsentation‘ muss unterschieden werden zwischen der ständegeschichtlichen Analysekategorie und dem zeitgenössischen Konzept als Untersuchungsgegenstand. In analytischer Hinsicht meint ‚Repräsentation‘ zunächst nur, dass Handlungen bestimmter Akteure effektiv anderen Akteuren zugerechnet werden – unabhängig davon, ob diese Beziehung explizit gemacht oder

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wie sie begründet wird. Ohne diese Kategorie ist die Eigengesetzlichkeit der landständischen Verfassung gar nicht zu beschreiben. Zudem ist ‚Repräsentation‘ auch ein Konzept der gemeinrechtlichen Korporationslehre, das über die formale Zurechnungsregel hinausgeht, insofern die Beziehung zwischen Repräsentant und Repräsentiertem als Beziehung zwischen Teil und Ganzem konkretisiert wird. Da dieses Konzept im Verlauf des 17. Jahrhunderts zur nachträglichen Theoretisierung der landständischen Verfassungsordnungen genutzt wurde, muss es als relevantes Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von der Ständeforschung berücksichtigt werden. Das in der Gegenwart vorherrschende Begriffsverständnis hingegen, das Repräsentation als mandatierte Interessenvertretung konzipiert, kommt nicht als Analyseinstrument in Frage, da es sich um eine normative Fassung des Repräsentationsbegriffs handelt. Diese Variante kommt allenfalls als Untersuchungsgegenstand in Betracht, da sie vom modernen Naturrecht schon während der frühen Neuzeit entwickelt und im 18. Jahrhundert in kritischer Absicht auf die landständische Verfassung angewandt wurde. Dualismus. Für ‚Dualismus‘ gilt dasselbe wie für ‚Repräsentation‘: Es handelt sich um eine offiziell ‚überwundene‘ Kategorie, die gleichwohl weiterhin für die Ständeforschung als Analysekategorie unverzichtbar ist. Zwar kann man nicht hinter die Einsicht Volker Press’ zurück, dass sich das „herkömmliche Dualismusmodell“ vielfach aufhebt „in den Personen, die gleichzeitig Angehörige der Stände, der Bürokratie und des Hofes sind“. 9 Rückt man die einzelnen Personen, die innerhalb der ständischen und fürstlichen Institutionen agieren, in den Mittelpunkt, wie es die Ständeforschung seit der sozialhistorischen Wende vielfach getan hat, so lässt sich tatsächlich kein Dualismus erkennen. Daher muss auch dieser Begriff präzisiert werden: Wenn hier vorgeschlagen wird, auch weiterhin davon zu reden, dass die ausgebildete landständische Verfassung ‚dualistisch‘ strukturiert ist, so soll damit nur der Sachverhalt bezeichnet sein, dass es im Rahmen dieser Verfassung eben nur zwei Akteure gibt, die als Vertreter des Gemeinwohls und legitime politische Akteure gelten – der Fürst und die Ständegesamtheit. Press’ Diktum gilt nur dann, wenn man nicht die Ständegesamtheit, sondern die einzelnen Stände im Blick hat. In der ausgebildeten landständischen Verfassung sind aber nicht die einzelnen Ritter und Städtevertreter politische Akteure im engeren Sinne, sondern nur die Ständegesamtheit – neben dem Fürsten. Daher ist es auch weiterhin sinnvoll, vom ‚Dualismus‘ der landständischen Verfassung zu sprechen. 9

Press, Vom ‚Ständestaat‘ zum Absolutismus, S. 320.

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Zeremonielle und diskursive Kommunikationsformen. Für den frühneuzeitlichen Reichstag und die ausgebildeten landständischen Verfassungen des späten 17. und 18. Jahrhunderts hat die jüngere Ständeforschung die Bedeutsamkeit zeremonieller und ritueller Formen deutlich herausgestellt: „Sie definieren in elementarer Weise die Situation und stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen überhaupt nur Raum für diskursives, argumentatives Aushandeln bleibt“. 10 Für die Erschaffung der landständischen Verfassung stellt sich die Lage jedoch anders dar: Dieser Prozess war vor allem von diskursiven Akten geprägt (etwa Abschied und Vollmacht von 1625), die gleichzeitig symbolisch und instrumentell bedeutsam waren (Konstituierung der Ritterschaft und Instruierung der Stromvorsteher), während zeremonielle oder rituelle Formen allenfalls eine Nebenrolle spielten. 11 Dieser Befund ist weder damit zu erklären, dass zeremonielle Akte eine geringere Überlieferungschance gehabt hätten, noch mit einem ‚blinden Fleck‘ des gewählten Ansatzes, denn aus der Erfahrung mit der Funktionsweise ausgebildeter Landtage wurde ganz im Gegenteil sogar aktiv nach solchen Formen gesucht. Zu vermuten ist hier vielmehr ein systematischer Zusammenhang zwischen Institutionalisierung und Zeremonialisierung: Die Aufladung von äußeren Formen (Körperhaltung, Körperarrangements im Raum, Sprechreihenfolgen, Kleidung etc.) mit symbolischer Bedeutung scheint vorauszusetzen, dass die Institution, in welche diese Formen eingebettet sind, eine bestimmte Gestalt und eine gewisse Dauerhaftigkeit erreicht hat. 12 Praxeologie. Die Genese der landständischen Verfassung, so wie sie hier verstanden wird, lässt sich nur analysieren, wenn von der politischen Praxis ausgegangen wird. Da es sich um einen vielfach gebrochenen, von keiner Partei in seiner Gänze intendierten und dabei hochgradig diskontinuierlichen Prozess handelte, hatten die Akteure unter den Bedingungen der frühneuzeitlichen politischen Kultur erstens ein strategisches Interesse daran, in ihrem Sprechen ihr Tun nicht adäquat zum Ausdruck zu bringen. Und selbst wenn sie es gewollt hätten, wären sie zweitens in vielen Fällen dazu nicht in der Lage gewesen, weil Geschwindigkeit und Ausmaß der Veränderungen noch keine Reflexion und begriffliche Fas10 11 12

Stollberg-Rilinger, Symbol und Diskurs, S. 102. Vgl. oben 5.1.2. Mit Arnold Gehlen könnte man dann argumentieren, dass die „Habitualisierung eigenstabilen Verhaltens“ die Voraussetzung dafür ist, dass „ ‚Bräuche […] zur Höhe von Zeremonien und Ritualien erhoben werden‘ “ (Gehlen, Urmensch und Spätkultur, S. 33, im zweiten Zitat zitiert Gehlen Becker, Werte als Werkzeuge soziologischer Analyse). Ein erster Versuch in diese Richtung wird unternommen in Neu, The Importance of Being Seated.

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sung des Prozesses zuließen. Damit ist die allgemeinere Frage aufgeworfen, mit welchen Analyseinstrumenten politische Praxis überhaupt im Hinblick auf Verfassungsgenese untersucht werden kann. Hier wendet sich die Ständegeschichte an die allgemeine Verfassungsgeschichte.

6.2.2 Diskontinuität in der Kontinuität – Folgerungen für die Verfassungsgeschichte Diskontinuität und Kontinuität. Die Verfassungsgeschichte begreift die ‚vormoderne Verfassung‘ inzwischen als eine Herrschaftsordnung, die vor allem durch periodisch angepasste und wiederholte, performativ wirkende Verfassungsakte ritueller und zeremonieller Art auf Dauer gestellt wurde. Dieses neue Verständnis wurde erst möglich durch die Betonung der Mittelalter und Frühe Neuzeit zusammenschließenden longue durée der verfassungsrelevanten Formensprache. Die vormodernen Herrschaftsordnungen werden also vor allem im Hinblick auf Kontinuität beobachtet. Diese Beobachtungsperspektive ist jedoch tendenziell problematisch, da sie den vormodernen Zeitgenossen entgegenkommt, die aufgrund des vorherrschenden Gewohnheitsrechts ein strategisches Interesse daran hatten, Kontinuitäten zu erfinden und Diskontinuitäten zu verschleiern. Damit stellt sich die Aufgabe, einen verfassungsgeschichtlichen Ansatz zu entwickeln, der es ermöglicht, die vormodernen Verfassungsordnungen zum einen weiterhin global als einen Bereich der Kontinuität markiert zu halten und zum andern innerhalb dieses Bereichs lokal noch einmal nach Kontinuität und Diskontinuität unterscheiden zu können. Erst diese Erhöhung des Differenzierungsvermögens erlaubt es, die Kontinuitätsbehauptungen der Zeitgenossen zu hinterfragen und zu analysieren, wie Diskontinuitäten im Rahmen einer übergeordneten, tatsächlich auf Kontinuität gegründeten ‚Verfassungskultur‘ auftreten und sich entwickeln. Eine solche Diskontinuität ist etwa die Entstehung einer im emphatischen Sinne ‚neuen‘ Verfassungsordnung. Ein verfassungsgeschichtlicher Ansatz, mit dem auf diese Weise Diskontinuität in der Kontinuität beobachtet werden soll, kann weder von Normtexten ausgehen, wie es die ‚Verfassungs-Rechtsgeschichte‘ (Boldt) tat, noch von den großen solennen Akten, die im Zentrum der neuen ‚Verfassungsgeschichte der Vormoderne‘ stehen. Zum einen ist das Raster, das etwa durch Herrschaftsverträge oder Huldigungen aufgespannt wird, zu grob, als dass damit Diskontinuitäten effektiv beobachtet werden könnten; zum anderen wird gerade in solchen Texten und Akten die

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Kontinuität überbetont. Ein solcher Ansatz muss daher die politische Praxis ins Zentrum der Untersuchung rücken. Verfassung und politische Praxis. Verfassungsgeschichte versteht sich zu Recht als „politische Strukturgeschichte“. 13 Wie kann aber ein verfassungsgeschichtlicher Ansatz von der politischen Praxis ausgehen, wo doch Handlung und Struktur zumeist als Gegensatzpaar begriffen werden? Tatsächlich stehen Handlung und Struktur in einem nicht auflösbaren Wechselverhältnis, denn es lässt sich zeigen, dass die Objektivität und Dauerhaftigkeit der Strukturen nur zustande kommt, indem sie ständig durch Praktiken reproduziert und dabei transformiert werden. Verfassungsordnungen sind also zwar unbestreitbar Strukturen, aber gerade als Strukturen sind sie – aufgrund des Wechselverhältnisses – gleichzeitig auch Serien wiederholter Handlungen. Vor allem auf dieser Ebene werden Diskontinuitäten und institutionelle Dynamik sichtbar: Was auf den ersten Blick eine statische Struktur zu sein scheint, entpuppt sich als ein Zusammenhang, der stets aufs Neue durch eine historisch situierte Verkettung von konkreten Praktiken hergestellt und aufrechterhalten bzw. angefochten und verändert oder sogar aufgehoben wird – jede soziale Struktur und damit auch jede Verfassungsordnung ist konstituiert als ein Gefüge von Praktiken. Regeln und Regelinterpretationen. Der Vorschlag, Verfassungen als Gefüge von Praktiken zu beschreiben, kann indes nur überzeugen, wenn auch die normative Qualität der Verfassung, ihr Ordnungsaspekt in diese Beschreibung integriert werden kann. Hier ist es sinnvoll, Verfassungen als Institutionen zu begreifen, denn die moderne Institutionentheorie versteht Institutionen ebenfalls als Gefüge von Praktiken. Mit Anthony Giddens kann man dann unterscheiden zwischen Regeln, die implizit im faktischen, eben ‚regelmäßigen‘ Handeln enthalten sind, und den expliziten und normativen Interpretationen dieser impliziten Regeln. Mit dieser Unterscheidung gelingt die Integration der normativen Aspekts von Institutionen in eine praxeologische Perspektive, denn Regelinterpretationen lassen sich als eine besondere Form von diskursiver Praxis verstehen: Innerhalb des verstetigten Gefüges von Praktiken, das eine Institution bildet, lässt sich eine besondere Klasse von diskursiven Praktiken ausmachen, die sich reflexiv auf das Gesamtgefüge beziehen und normative Erwartungen zum Ausdruck bringen. Politischer Status als Geltungsbehauptung. Verfassungen sind aber nicht nur normative, sondern auch ‚politische‘ Herrschaftsgefüge. Daher muss 13

Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, I, S. 13.

6.2 Verfassungsgenese in der Vormoderne – Synthese

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neben dem Ordnungsaspekt auch der politische Anspruch in die praexeologische Perspektive integriert werden. ‚Politisch‘ sind Institutionen dann, wenn sie effektiv in der Lage sind, „im Namen des Ganzen zu sprechen“, 14 wenn also das, was sie in instrumenteller Hinsicht entscheiden und in symbolischer Hinsicht an Sinn stiften, dem Gemeinwesen zugerechnet wird. Damit aber liegt dem politischen Status eine wirksame Fiktion zugrunde, es handelt sich um ein „Verhältnis des Als-ob“. 15 Die Zurechnungsverhältnisse müssen daher immer wieder behauptet und bestärkt werden, weshalb der politische Charakter von Institutionen auf Praktiken der Geltungsbehauptung und Geltungszuschreibung beruht. Verfassung als politische Institution. Damit ist eine praxeologische Beschreibung verfügbar, auf der ein verfassungsgeschichtlicher Ansatz zur Beobachtung von Diskontinuität in der Kontinuität aufgebaut werden kann: Verfassungen lassen sich als politische Institutionen verstehen. Als ‚Institutionen‘ sind sie gekennzeichnet durch ein Wechselverhältnis zwischen den faktischen Regelmäßigkeiten der Praxis im Ganzen und den Reflexionspraktiken, die normative Regelinterpretationen formulieren. Als ‚politische‘ Institutionen sind sie dadurch gekennzeichnet, dass die in sie eingebundenen Akteure effektiv beanspruchen, an der instrumentellen Leitung und der symbolischen Stiftung des Gemeinwesens beteiligt zu sein. Untersucht man mit diesem Ansatz, wie es in dieser Arbeit getan wurde, die Entstehung einer konkreten Verfassungsordnung, so lassen sich vier verallgemeinerbare Mechanismen festhalten, die den Begriff der ‚Erschaffung der landständischen Verfassung‘ mit Inhalt füllen. Diskontinuität I: Institutionelle Dynamik. Es zeigte sich, dass die Verfassung in fieri von einer hohen internen Spannung zwischen Regeln und Regelinterpretationen gekennzeichnet war. Diese Spannung führte zu einer massiven Eigendynamik, die internen Widersprüche der Verfassungsordnung fungierten als Motor des institutionellen Wandels. Das steht im Widerspruch zur Auffassung, dass die vormoderne Verfassung im wesentlichen nur den politischen Gesamtzustand des Gemeinwesens abbilde. Dabei gingen die Impulse sowohl von der normativen wie von der faktischen Ebene aus, was sich für den hessischen Fall etwa so darstellt: Als in den 1590er Jahren die Verfassungsgenese mit der normativen Zentrierung auf die gesamthessische Ständegesamtheit einsetzte, ging der Wandel von veränderten Regelinterpretationen aus. Zwar kam es zu ersten Anpassungen in der Praxis, aber durch den Ausbruch des Marburger Erbfolgestreits wurde die Spannung verstetigt, weil sich faktisch landständi14 15

Dyrberg, Diskursanalyse als postmoderne politische Theorie, S. 24. Sofsky, Paris, Figurationen sozialer Macht, S. 161.

498

6. Eine Verfassung „in fieri“

sche Strukturen in den Teilterritorien entwickelten, während in normativer Hinsicht an der gesamthessischen Verfasstheit festgehalten wurde. Erst 1627 nahm diese Spannung ab, als durch den Hauptaccord Regeln und Regelinterpretationen wieder in Übereinstimmung gebracht werden konnten. Eingelagert in diese Gesamtentwicklung sind zwei Ständekonflikte, die ihre Initialimpulse aus unterschiedlichen Bereichen erhielten: Der erste Ständekonflikt begann mit einer normativen Veränderung, insofern ein kaiserlicher Schutzbrief für einen Akteur ausgestellt wurde, den es in der Praxis noch nicht gab. Der zweite Ständekonflikt hingegen brach aus, als die Ritterschaft faktisch ein unbedingtes Selbstversammlungsrecht in politischen Fragen in Anspruch nahm und damit auf der normativen Ebene einen Deutungskonflikt auslöste. Die Verfassungsgenese als Diskontinuität ist erstens gekennzeichnet von einer Eigendynamik der entstehenden Ordnung, die aus dem Wechselverhältnis von Regeln und Regelintepretationen entsteht. Diskontinuität II: Institutionelle Erfindungen. Die im Rahmen der Verfassung in fieri erzeugte Spannung entlud sich nicht nur in Konflikten, sondern wurde zum Teil auch produktiv umgesetzt und aufgefangen durch ‚institutionelle Erfindungen‘. Dabei handelt es sich um qualitative Sprünge, bei denen neue institutionelle Formen, gelegentlich sogar Akteure etabliert wurden, die den normativen und faktischen Erfordernissen besser entsprachen. Auch die Genese der landständischen Verfassung in Hessen lässt sich verstehen als eine Abfolge solcher Diskontinuitäten: In Zuge der normativen Zentrierung wurde die Allzuständigkeit des gesamthessischen und gesamtständischen Landtags in politischen Fragen ‚erfunden‘; 1598 wurde die Landrettungssteuer als hessisches Pendant zu den Reichssteuern ‚erfunden‘ und die Zuständigkeit der Ständegesamtheit ausgedehnt; nach 1604 wurden die Landkommunikationstage als funktionales Äquivalent des gesamthessischen Landtags ‚erfunden‘ und Steuerbewilligung auch auf Ebene der Teilterritorien möglich gemacht; 1625 wurde mit der ‚niederhessischen Ritterschaft‘ ein neuer Kollektivakteur ‚erfunden‘ und die politische Handlungsfähigkeit der Adeligen sichergestellt; 1627 wurde eine zweistufige Verfassungsordnung ‚erfunden‘, in der sowohl auf gesamthessischer wie teilterritorialer Ebene Landtagsformen vorgesehen waren, und die Kluft zwischen Regeln und Regelinterpretationen geschlossen. Im Hinblick auf die Diskontinuität ist die Verfassungsgenese also zweitens durch den Mechanismus der institutionellen Erfindungen gekennzeichnet. Nun passen diese Akte ‚institutioneller Kreativität‘, von denen jeder für sich einen qualitativen Sprung darstellt, nicht in das gängige Bild einer ‚evolutionären‘ Entwicklung der vormodernen Verfassung, vor allem dann nicht, wenn es sich um die

6.2 Verfassungsgenese in der Vormoderne – Synthese

499

Konstituierung neuer Akteure handelte. Wie konnte es aber sein, dass die institutionellen Erfindungen und die Eigendynamik der Verfassung in fieri in der Regel unbemerkt bleiben? Es konnte sein, weil es sich um eine Verfassungsgenese unter den Bedingungen der politischen Kultur der Vormoderne handelte, die auf Kontinuität gründete und es erzwang, dass die Verfassung in fieri als eine Verfassung in facto dargestellt wurde. Und auch dafür gab es Mechanismen. Kontinuität I: Institutionalisierte Heuchelei. Gewahrt wurde die Kontinuität erstens durch ‚institutionalisierte Heuchelei‘. Es handelt sich um einen Mechanismus, der es ermöglicht, auch dann handlungsfähig zu bleiben, wenn man sich zur selben Zeit mit einer Vielzahl von Ansprüchen konfrontiert sieht, die sich gegenseitig widersprechen. ‚Heuchelei‘ heißt dann, dass man sein Handeln und Sprechen im Hinblick auf jeweils bestimmte Ansprüche ‚spezialisiert‘ und diesen besser entsprechen kann. Allerdings führt diese Entkopplung auch dazu, dass bei einer Betrachtung des Gesamtverhaltens notwendigerweise Inkonsistenzen auftreten, was zu einem Problem werden kann, wenn diese Inkonsistenzen von anderen Akteuren zum Thema gemacht werden. Ein ‚heuchlerisches‘ Auseinandertreten von Sprechen und Handeln ließ sich nun für die hessische Verfassungsgenese seit dem Ausbruch des Erbfolgestreits 1604 und der damit verbundenen Blockierung der gesamthessischen Landtage beobachten: Man tat etwas (Partikularlandtage einführen) und gleichzeitig verleugnete man dieses Tun unter Betonung der entgegenstehenden Norm (gesamthessische Verfasstheit). Damit erweist sich ‚institutionalisierte Heuchelei‘ als effektiver Mechanismus im Kontext von Diskontinuität und Kontinuität: Die Entkoppelung von Sprechen und Tun schafft auf der Seite des Tuns einen Freiraum, in dem neue Formen des Handelns ausprobiert werden können. Auf der Seite des Sprechens wird aber gleichzeitig die Norm bestärkt und kann auch weiterhin als Norm intakt bleiben, weil die normverletzende Praxis vom Heuchler gerade nicht thematisiert werden kann, um die Norm in Frage zu stellen. Die ‚institutionalisierte Heuchelei‘ ermöglichte also, mit anderen Worten, eine Diskontinuität, die faktische ‚Erfindung‘ der Landkommunikationstage, zuzulassen, ohne die Kontinuität in Form der normativ maßgeblichen gesamthessischen Verfasstheit der Landstände aufgeben zu müssen. Kontinuität II: Traditionsstiftung. Wenn eine bestehende Kontinuität in der institutionellen Praxis abbrach, diente ‚Heuchelei‘ dazu, diese Kontinuität wenigstens im Bereich des Sprechens fortzusetzen. Was aber geschah, wenn von vornherein keine Kontinuität vorlag? Dann, so zeigt es das hessische Beispiel, wurden retrospektiv eigens Traditionen und Kontinuitätslinien ‚gestiftet‘. In den 1590er Jahren etwa war die landständische

500

6. Eine Verfassung „in fieri“

Verfassung eine ‚neue‘ normative Ordnung, ihre Zentralinstitution, der allgemeine Landtag mit repräsentativ handelnder Ständegesamtheit, erst wenige Jahrzehnte alt und zudem ein ausgesprochener Spezialfall. Gleichwohl behaupteten die hessischen Stände nachdrücklich, allein diese Form sei dem Herkommen gemäß, also gerade nicht neuartig, sondern Ausdruck ihrer traditionellen Herrschaftspartizipation. In diesem Fall war die Kontinuitätsstiftung noch rein ‚behauptend‘, denn es wurden keine Beweise angeführt. Das änderte sich zur Mitte des 17. Jahrhunderts: So leistet etwa der 1639 unternommene Aufbau eines durch Quellen gedeckten Erinnerungsraumes eine Retroprojektion der korporativen Qualität der niederhessischen Ritterschaft, die als eigenständiger politischer Kollektivakteur zu diesem Zeitpunkt ebenfalls erst wenige Jahrzehnte alt war. Gleichwohl war 1639 unter Bezug auf chronikalische Quellen von der ‚uralten Ritterschaft‘ die Rede, die angeblich schon 1247 das Erbrecht Heinrich des Kindes, des Stammvaters der hessischen Landgrafen, anerkannt habe. Dieser Mechanismus machte also faktische Diskontinuitäten unsichtbar, indem er die ‚neuen‘ Strukturen und Verhältnisse in die Vergangenheit projzierte und damit Kontinuität stiftete. Ein verfassungsgeschichtlicher Zugriff . Versteht man die Verfassungsordnung als eine politische Institution, als ein verstetigtes Gefüge von Praktiken, das gekennzeichnet ist durch ein Wechselverhältnis von faktischen Regelmäßigkeiten und normativen Regelinterpretationen sowie den Anspruch, an der instrumentellen Leitung und der symbolischen Stiftung des Gemeinwesens beteiligt zu sein, dann ist eine Perspektive etabliert, in der Verfassungsgenese als politische Praxis untersucht werden kann: Während die hohe Spannung zwischen den faktischen und den normativen Strukturelementen die Verfassungsgenese vorantrieb und sich in institutionellen Erfindungen niederschlug, wirkten das heuchlerische Auseinandertreten von Tun und Sprechen und die Stiftung von Traditionen darauf hin, dieser Aneinanderreihung von qualitativen Veränderungen die ‚Form der Veränderung‘ (Hegel) zu nehmen. Im Verbund dieser Mechanismen wurde es also möglich, die Verfassung in fieri zuzulassen und die gleichzeitig als Verfassung in facto darzustellen. Damit sind wesentliche Mechanismen identifiziert, die historisch ermöglichten, was hier geschichtswissenschaftlich beobachtet werden sollte – Diskontinuität in der Kontinuität.

Abbildungs-, Siglen- und Abkürzungsverzeichnis

1. Abbildungen Abb. 1: Allgemeine Landtage unter Landgraf Philipp Abb. 2: Allgemeine Landtage, Städte- und Ritterlandtage unter Landgraf Philipp Abb. 3: Landtagsformen unter Landgraf Philipp im Überblick Abb. 4: Gesamthessische Landtagstypen im 16. Jahrhundert Abb. 5: Landtagsformen in Hessen und Hessen-Kassel nach 1567

141 151 154 175 335

Alle Abbildungen basieren auf Daten aus Hollenberg I–III.

2. Siglen AARK

Archiv der Althessischen Ritterschaft Kaufungen

Antwort der Ritter- ‚Antwort der Ritterschafft auf IFG zue Cassel Resoluschaft 1650 tion wegen der Ritterschafft Gravamina, welche nicht alle und jede membra zugleich undt durchgehend concerniren, damit selbige durch unparteyische Commissarien mit Zuziehung etlicher auß der Ritterschafft erlediget werden. Item die Communication auf den Bestand der jehnigen Sache, so des Fürstenthumbß undt ihre eigene Wohlfahrt concerniren. So dan der Ritterschafft Conventii betr.‘, Kassel 1650 Okt. 10, in: StAM 73 Nr. 52, unfoliiert, 3 S. C.

Codex Iustinianus, in: Krüger (Hg.), Corpus Iuris Civilis, II

Duplik 1653

‚Duplicae mit darin angedungenen Beylagen sub. lit. A. usque ad. FF. in Sachen Anwald des durchleuchtigen und hochgeborenen Fürsten und Herrn, Herrn Wilhelms, Landtgraffens zu Heßen, Fürstens zu Hersfeld, Grafens zu Catzenelnbogen, Dietz, Ziegenhain, Nidda und Schaumburgk und Consorten billich btf. contra hirhin (?) der Heßischen Ritterschafft unbefugte Cläger, Primi Mandati Inhibitorii et cassatorii S.C.‘, Präsentationsvermerk: Speyer 1653 April 12/22, in: StAM 255 H Nr. 139, unfoliiert, 176 S.

502

Abbildungs-, Siglen- und Abkürzungsverzeichnis

Dig.

Digesten, in: Krüger, Mommsen (Hg.), Corpus Iuris Civilis, I

Entwurf Gravamina 1649

‚Copia Gravaminum so da haben sollen übergeben werden. Anno 1649‘, in: StAM 304 Nr. 508, unfoliiert, 18 S.

Entwurf Quadruplik ‚Entwurff loco Quadruplicarum. [o. O., o. D.]‘, in: 1655 StAD E 2 Nr. 20/2, unfoliiert, 18 S. Erinnerung 1650

‚Abgemüßigte Erinnerung auff IFG der Ritterschafft auff Ihre underth. überreichte gravamina gestriges Tags ertheilten Resolution mit nachmahliger unterth: Bitt, recht undt pillichmeßiges Suchen‘, Kassel 1650 Okt. 8, in: StAM 5 Nr. 14808, fol. 110 r–128 v

Exceptiones 1651

‚Exceptiones sub- et obreptionis articulatae Anwaldts der durchleuchtigen Fürstin und Frawen, Frawen Amelien Elisabethen Landgravin zue Heßen, geborene Grävin zu Hanaw, Müntzenberg, Wittiben, Vormünderin und Regentin, so dan IFG. ViceCantzlers, geheimbter Kriegs und Regirungs Räthen zu Caßel, contra die sambtliche Ritterschafft des Niederfürstenthumbs Hessen in causa Madati inhibitorii et cassatorii sine clausula‘, Präsentationsvermerk: Speyer 1651 Jan. 7/17, in: StAM 255 H Nr. 139, 28 S.

Exceptiones 1652

‚Exceptiones sub et obreptionis Anwaldts Ihr. durchleuchtigen Fürstin undt Frauen, Frauen Amelien Elisabethen Landtgrävin zue Hessen p. undt Ihr. Gn. geheimbte undt Regirungs Räthe contra die samptliche Riierschafft deß Niderfürstenthumbs Hessen p. Ulteriori mandati poenalis sine cla[usul]a de Relaxando & Restit[udend]o sine cla[usula] den Erbmarschallen Curt Riedteseln undt Otto von der Malßburg betrf.‘, Präsentationsvermerk: Speyer 1652 Feb. 10/20, in: StAM 255 H Nr. 140, unfoliiert, 32 S.

Glagau, Landtagsakten Glagau (Hg.), Hessische Landtagsakten, I Gravamina 1650

‚Gravamina der sämptlichen Ritterschafft des Oberundt Niederfürstenthumbes Heßen Caßelischen Theils‘, Kassel 1650 Sept. 30, in: StAM 5 Nr. 14808, fol. 52 r–62 v

Gutachten 1651

Gutachten, in: StAM 73 Nr. 1816, unfoliiert, 24 S.

Hauptaccord 1648

‚Friedens- und Einigkeits-Recess, so zwischen beeden Fürstl. Heßischen Häusern / Caßel und Darmstadt / durch Interposition Herzogs Ernesti zu Sachsen-Gotha Anno 1648. auffgerichtet worden [Kassel 1648 April 14]‘, in: Lünig, Das teutsche Reichs-Archiv, Pars Specialis, Continuation 2, Teil 2, S. 899–905

503

2. Siglen

Hollenberg I

Hollenberg (Hg.), Hessische Landtagsabschiede 1526–1603

Hollenberg II

Hollenberg (Hg.), Hessische Landtagsabschiede 1605–1647

Hollenberg III

Hollenberg (Hg.), Hessen-Kasselische Landtagsabschiede 1649–1798

IPO, IPM

Instrumentum Pacis Osnabrugensis, Instrumentum Pacis Monasteriensis, in: Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, in Verbindung mit der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V. (Hg.), Acta pacis Westphalicae, Ser. 3, Abt. B, Bd. 1, Teil 1

LTA (Datum)

Landtagsabschied, ediert in Hollenberg I–III

LTP 1650

‚Landtagsprotokoll. Kassel 1650 Sept. 26 – Okt. 18‘, in: StAM 5 Nr. 14808, fol. 1 r–26 v

Mandatum 1647

‚Mandatum inhibitorium et cassatorium sine clausula‘, Speyer 1647 Sept. 4/14, in: StAM 304 Nr. 504, unfoliiert, 1 S.

Remonstration 1639

‚Gründliche Remonstratio in continenti, darinnen aus glaubwürdigen Historicis Chur und Fürsten Erbverbrüderungen, Erbvertrag fundamental Satzungen, Testamenten undt Reversalen wie auch allgemeinen Landtägen hinc inde verpflogener kundtbahren Actitaten, und Tractaten deß fürstl. Haußes Heßen sattsam behauptet wird, daß die Ritterschafft in Niederheßen zu fürstl. Vormundtschafft undt Landsregierung bey der Fürsten von Heßen Minderjährigkeit, iederzeit nach uhraltem ahndencklichjährigem Herkommen nachberechtiget, auch ohne Ihrer ohnzertheilter Mittglieder Sambtbetagung, ohnverrückter Session, freyer Stim, Berathschlagung undt Schluß auff den Landtagen nichts Verbündliches geschloßen werden könne, mit angehefften Documenten‘ [o. O. o. D.], in: StAD E2 Nr. 1/11, fol. 1 r–11 v

Remonstration 1647

Remonstration der niederhessischen Ritterschaft [o. O. o. D.], in: StAM 5 Nr. 19147, fol. 2 r–9 r

Replik 1652

‚Replicae in Sachen samptlicher Ritterschafft des NiderFürstenthumbs Hessen, contra Hessen Cassel et cons.‘, Präsentationsvermerk: Speyer 1652 März 20/30, in: StAM 255 H Nr. 139, unfoliiert, 96 S.

Rommel I–X

Rommel, Geschichte von Hessen, I–X

Specificatio

‚Beylage N. 1. In Sachen Samptlicher Ritterschafft des Niederfürstenthumbs Heßen ca. Heßen Caßel Mdti

504

Abbildungs-, Siglen- und Abkürzungsverzeichnis

inhibit. et cassat. s. cla. – Specificatio Actuum undt andere Extract auß des LandttagsHandlung dadurch neben desjenigen, so in Replicis albereits angeführet daß an Seithen der Ritterschafft allegirte uhralte Herkommen undt Gerechsamb dargethan wirdt‘, Präsentationsvermerk: Speyer 1652 März 20/30, in: StAM 255 H Nr. 139, unfoliiert, 8 S., Quadrangel 10 StAM

Hessisches Staatsarchiv Marburg

StAD

Hessisches Staatsarchiv Darmstadt

Triplik 1655

‚Triplicae submissivae, in Sachen Niederhessische Ritterschafft contra Hessen Cassel‘, Präsentationsvermerk: Speyer 1655 Juni 16/26, in: StAM 255 H Nr. 140, unfoliiert, 76 S.

Vergleich 1655

‚Vergleich Landgraf Wilhelms VI. mit der Ritterschaft, Kassel 1655 Okt. 2‘, in: Hollenberg III, S. 56–66

3. Abkürzungen Anm. Art. Aufl. Bd., Bde. bearb. bzw. ca. d. Ä., d. M., d. J. ders. d. i. dies. Diss. Dr. ebd. e.f.g. etc. f., ff. f. g. ff. gg., f. ggg. fl. fol. fürst., fürstl., fr. Gn. Hg., hg.

Anmerkung Artikel Auflage Band, Bände bearbeitet beziehungsweise circa der Ältere, der Mittlere, der Jüngere derselbe das ist dieselbe Dissertation Doktor ebenda eure fürstliche gnaden et cetera folgende Seite, folgende Seiten fürstliche Gnaden (Singular) fürstliche Gnaden (bei zwei und drei Fürsten) Gulden (florenus) Blatt (folium) fürstlich Gnaden Herausgeber, herausgegeben

505

3. Abkürzungen

i.f.g. Jg. kay., kays., kayß. Lg. May., Mayst., Mayt. N.F. Nr. o. D. o. O. röm. Rt. S. s.f.g. sr. u. a. vgl. z.B.

ihre fürstliche Gnaden Jahrgang kaiserlich Landgraf, Landgräfin Majestät Neue Folge Nummer ohne Datum ohne Erscheinungsort römisch Reichstaler Seite seine fürstliche Gnaden seiner und andere, unter anderem vergleiche zum Beispiel

Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Anmerkungen zur Textgestaltung 1. Literaturzitate stehen in doppelten Anführungsstrichen. 2. Quellenzitate sind kursiv gesetzt und stehen ohne Anführungsstriche. Da sich die Arbeit immer wieder auf die Edition der hessischen Landtagsabschiede bezieht, werden die dort angewandten Grundsätze zur Textwiedergabe hier übernommen. Prinzipiell orientiert sich die Edition an den bekannten „Empfehlungen zur Edition frühneuzeitlicher Texte“ (Arbeitskreis „Editionsprobleme der Frühen Neuzeit“: Empfehlungen zur Edition frühneuzeitlicher Texte, in: http://www.ahf-muenchen.de/ Arbeitskreise/empfehlungen.shtml). Abweichend von den Empfehlungen gelten folgende Grundsätze: Es wird nur behutsam in den Buchstabenbestand eingegriffen. Normalisiert werden u/v und i/j gemäß vokalischem und konsonantischem Lautwert, Großund Kleinbuchstaben und die Zeichensetzung. Unterschiede der Schrift (z. B. Fraktur- und Antiqua, langes und rundes s) werden nicht wiedergegeben. Ansonsten wird der Buchstabenbestand, insbesondere die oft regellose Orthographie der Originale beibehalten, so wie es in den ‚Empfehlungen‘ für die Wiedergabe frühneuzeitlicher Texte gefordert wird. 16

Alle Daten des Untersuchungszeitraums folgen dem julianischen Kalender. Ist die Angabe von Zeitangaben des gregorianischen Kalenders nötig, so erfolgt die Angabe in der Form ‚alter Stil/neuer Stil‘; vgl. dazu Hamel, Die Kalenderreform des Jahres 1700 und ihre Durchsetzung in Hessen.

2. Ungedruckte Quellen 2.1 Hessisches Staatsarchiv Darmstadt (StAD) StAD Best. E 2 (Landstände) Nr. 1/11

16

Deduktionen und Ausarbeitungen über landständische Rechte (1643– (um 1749))

Hollenberg, Einleitung I, S. 18.

2. Ungedruckte Quellen

Nr. 18/6

Nr. 20/2

507

Prozeß der Niederhessischen Ritterschaft gegen die Landgrafschaft Hessen-Kassel vor dem Reichshofrat wegen des Rechts zur Versammlung ohne landgräfliche Erlaubnis (1650) Schriftwechsel mit Hessen-Kassel über die Landtage zu Darmstadt und Kassel 1655 (1653–1659)

StAD Best. F 27 A (Herrschaft Riedesel zu Eisenbach – Samtarchiv) Nr. 64/9 Nr. 64/16

Niederhessische Landtage (1609–1651) Angelegenheiten der Niederhessischen Ritterschaft (1623–1742)

2.2 Hessisches Staatsarchiv Marburg (StAM) StAM Best. 5 (Geheimer Rat) Nr. 14651 Landtag zu Kassel (mit Beilage: Vertrag zwischen Hessen und v. Gilsa zu Ropperhausen 1591, weitere Gravamina 1655/56) (1655) Nr. 14660 Landtagsakten (Steuern, Polizei- und Taxordnung, Universität, Auseinandersetzung mit der Ritterschaft) (1651) Nr. 14661 Landtagsakten (Steuern, Landesverteidigung, Steuerstock, Polizeiordnung, Schuldensachen, Erstattung der Legationskosten, Universität Marburg, Auseinandersetzung mit der Ritterschaft, Gravamina – darunter Judensachen – der Städte, insgesamt und einzeln) (1653) Nr. 14662 Landtag vorm Mader Holz (Rüstungen, Steuern) (1654) Nr. 14808 Landtagsakten (1650) Nr. 15833 Ritterschaftliche Sachen (auch Landtag) (1618–1664) Nr. 18721 Ansuchen um Aufnahme in die hessische Ritterschaft: des HessenDarmst. Obrist. v. Seebach (1756) und des Kurpfälz. Hauptmanns v. Seebach (1787) sowie deren Genehmigung Nr. 19147 Abschrift einer Eingabe der Ritterschaft wegen der landständischen Rechte (1647) Nr. 19151 Streitigkeiten zwischen Ritterschaft und Städten wegen der Kontribution (1640–1655)

StAM Best. 7 a (Oberhofmarschallamt) 1 Fach 211 Nr. 1 Nr. 2

Acta über die Leich-Prozession der weiland durchlauchtigsten Frau Landgräfin Maria Amalia (1711) Acta über das Ceremoniel bei der Vermählung Ihrer königlichen Hoheit der Prinzessin Maria von Großbrittanien und ID Prinz Friedrich von Hessen (1740)

508

Quellen- und Literaturverzeichnis

StAM Best. 17 I. (Landgräflich Hessische Regierung Kassel: Alte Kasseler Räte) Nr. 1762 Nr. 1763 Nr. 1764

Landtagsakten (Protokoll mit Beilagen) (1643) Verhandlungen auf dem Landtag (Protokoll mit Beilagen) (1640) Streit zwischen Städten und Ritterschaft wegen der Kontribution (1642)

StAM Best. 73 (Hessische Landstände) Nr. 32

Nr. 33 Nr. 34

Nr. 52

Nr. 53 Nr. 54

Nr. 164 Nr. 208

Nr. 1813 Nr. 1816

Nr. 1817

Zerwürfnis zwischen der Ritterschaft und Landgraf Moritz; Verhandlungen des Landtags zu Kassel September 1624 (ohne Abschied); Beschwerde über den Generalaudienzierer Dr. Wolfgang Günther (1623–1625) Kritik des Landgrafen Moritz an seinen adligen und gelehrten Raten (1623) Einquartierung Tillys in Hessen und seine Verhandlungen mit den Ständen; landständische und ritterschaftliche Zusammenkünfte; Aufbringung einer freiwilligen Steuer durch die Ritterschaft; Übergriffe des Pöbels (1624–1626) Landtag zu Kassel 1650; ritterschaftliche Zusammenkunft in Fritzlar 1650; Verhandlungen der Ritterschaft mit Landgraf Wilhelm VI. (1650–1652) Ritterschaftliche Zusammenkunft zu Hersfeld und Landtag zu Kassel 1653 (1653) Landtag auf der Höhe vor dem Mader Holz 1654; Rechtsstreit des ritterschaftlichen Syndikus Dr. Paul Gambs gegen Landgraf Wilhelm VI. (1598–1655) Klage sämtlicher Städte des Niederfürstentums Hessen gegen die Ritterschaft wegen der Kontribution und Kriegszulage (1647) Landtage zu Kassel Januar 1621 (Proposition und ständische Resolutionen), Oktober 1621 (Proposition und Voten) und Februar 1622 (ständische und fürstliche Erklärungen) und zu Treysa Dezember 1622 (ständische Resolution) (1621–1622) Entwurf einer Erbvereinigung der Landstände beider Fürstentümer Hessen (um 1650) Remonstration und Reichskammergerichtsklage der niederhess. Ritterschaft gegen Landgräfin Amalie Elisabeth wegen des Versammlungs- und des Steuerbewilligungsrechtes (Abschrift) (1647–1651) Fürstliche Resolution auf ritterschaftliche Gravamina und Verhandlung zwischen den fürstlichen Räten und Deputierten der hess.-kass. Ritterschaft (1653)

2. Ungedruckte Quellen

509

StAM Best. 255 H (Reichskammergericht) Nr. 139

Klage der niederhessischen Ritterschaft gegen Amalie Elisabeth (bzw. Wilhelm VI.) wegen Auflage einer Abgabe ohne landständische Bewilligung und Verbot einer Zusammenkunft (1650–1653) Nr. 139 1/2 Klage der oberhessischen Ritterschaft, darmstädt. Teils, gegen Landgraf Georg von Hessen-Darmstadt wegen Besteuerung und Renovatur des Steuerstocks durch landgräfliche Kommissare und Verbot einer ritterschaftlichen Zusammenkunft Nr. 140 Klage der niederhess. Ritterschaft gegen Wilhelm VI. wegen Verbot einer Zusammenkunft Bestrafung einiger Ratgeber der Ritterschaft (1652–1655)

StAM Best. 304 (Stift Kaufungen (Dep.)) Nr. 199 Nr. 436 Nr. 437 Nr. 443

Nr. 445

Nr. 501 Nr. 504

Nr. 505 Nr. 508

Acta Publica Hassiaca in specie die der Ritterschaft inhibirte conventus ohne fürstl. Erlaubnis Resolution der Stände auf den ihnen zugesandten Befehl des Landgrafen d. d. Ziegenhain 1. Dez. 1621 ((Cassel 1. Dez.), 1621) Akten betr. die Landtage d. J. 1621/23 (1621–1623) Akten, betr. die politische Lage in Hessen und im Reich, das Verhältnis der Landstände zum Landgrafen Moritz, Beziehungen zum Kaiser und General Tilly, die Landtage (1624/25) betr. die Verhandlungen der Ritter- und Landschaft mit Tilly in Hersfeld, Beziehungen der Ritterschaft zu den Landgrafen Moritz und Wilhelm und der Landesregierung (…) (1625/26) betr. die durch die Landgräfin Amalie Elisabeth geforderte Lieferung von 4000 Malter Korn für die Fruchtmagazine (…) (1646) Mandat des Reichkammergerichts zu Speier gegen die Landgräfin Amalie Elisabeth und ihre Regierung infolge einer Klage der Ritterschaft der Niedergrafschaft (1647) betr. eine von den Hessischen Landständen projektierte Union s. a. (ca. 1648) Gravamina der Landstände, die der Landgräfin im Jahre 1649 übergeben werden sollten, nebst darauf bezüglichen Schreiben der Landstände an die Landgräfin (1649)

StAM Best. 340 v. Dörnberg (Familien- und Herrschaftsarchiv v. Dörnberg) Nr. 6 Nr. 9 Nr. 10

Landständische Angelegenheiten, (Landtagshandlungen) (nummerierte Serie) (1622, Jan.–Febr.) Landständische Angelegenheiten, (Landtagshandlungen) (nummerierte Serie) ((1623) 1624, Jan.–Dez.) Landständische Angelegenheiten, (Landtagshandlungen) (nummerierte Serie) (1625, Jan.–März)

510 Nr. 11 Nr. 12 Nr. 13 Nr. R 129

Quellen- und Literaturverzeichnis

Landständische Angelegenheiten (Landtagshandlungen) (nummerierte Serie) (1625, April–Mai) Landständische Angelegenheiten, (Landtagshandlungen) (nummerierte Serie) (1625, Juni–Sept.) Landständische Angelegenheiten, (Landtagshandlungen) (nummerierte Serie) (1625, Okt.–Dez.) Verschiedene Bücherverzeichnisse (17. u. 18. Jh.)

2.3 Archiv der Althessischen Ritterschaft Kaufungen (AARK) AARK Repositur 6 Gefach 15

Akten von 1651 in Betreff: der Niederhessischen Ritterschaft wider den Landesherrn, wegen verschiedener gravamina in specie wegen der erste Instanz und Haltung der Landtage

3. Edierte Quellen Abschiedt […] Zwischen dem […] Herrn Ambrosio Spinola / Marggraffen zu Sesto / Generaln uber der Kay: Mayes: Kriegsheer in der Pfaltz / sc. an einem / Undd dann […] Herrn Moritzen / Landgraffen zu Hessen […] am andern Theil, Augsburg 1621. Acta in Sachen die Fürstliche Marpurgische Succession belangendt Zwischen […] Herrn Ludwigen Landgraffen zu Hessen […] Klägern an einem, So dann […] Moritzen Landgraffen zu Hessen […] Beklagten am andern Theyl ergangen, 2. Aufl., Gießen 1615. Below, Georg von (Hg.), Landtagsakten von Jülich-Berg 1400–1610, Bd. 1: 1400–1562 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 11,1), Düsseldorf 1895. Diemar, Hermann (Bearb.), Die Chroniken des Wigand Gerstenberg von Frankenberg (Chroniken von Hessen und Waldeck 1; Veröffentlichungen der Historischen Kommission von Hessen und Waldeck [7,1]), 2., unveränd. Aufl., Marburg 1989. Dilich, Wilhelm, Hessische Chronica, Zusamen getragen u. verfertiget durch Wilhelm Scheffern genandt Dilich, Originalgetreuer Faksimiledr. d. Ausg. Cassel: Wessel 1605, hg. von Wilhelm Niemeyer, Kassel 1961. Glagau, Hans (Hg.), Hessische Landtagsakten, Bd. 1: 1508–1521 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck 2,1), Marburg 1901. Gräf, Holger Th./Haunert, Lena/Kampmann, Christoph (Hg.), Adliges Leben am Ausgang des Ancien Régime. Die Tagebuchaufzeichnungen (1754– 1798) des Georg Ernst von und zu Gilsa (Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte 26), Marburg 2010.

3. Edierte Quellen

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Gründliche, warhaffte und vollstendige Erzehlung, wie es umb den langwierigen Marpurgischen Successionstreit und Process, so uber weiland des […] Fürsten […] Ludwigs des Eltern, Landgraffens zu Hessen […] Testament zwischen den beyden Fürstlichen Linien, Hessen-Cassel unnd Darmbstadt sich entsponnen und geführet worden, o.O. 1643. Hollenberg, Günter (Hg.), Hessen-Kasselische Landtagsabschiede 1649–1798 (Vorgeschichte und Geschichte des Parlamentarismus in Hessen 5; Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 8,3), Marburg 1989. Ders. (Hg.), Hessische Landtagsabschiede 1526–1603 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 48,5; Vorgeschichte und Geschichte des Parlamentarismus in Hessen 9), Marburg 1994. Ders. (Hg.), Hessische Landtagsabschiede 1605–1647 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 48,10; Politische und parlamentarische Geschichte des Landes Hessen 33), Marburg 2007. Kopp, Ulrich Friedrich (Hg.), Bruchstücke zur Erläuterung der Teutschen Geschichte und Rechte, Bd. 2, Kassel 1801. Krüger, Paul (Hg.), Corpus Iuris Civilis, Bd. 2: Codex Iustinianus, Berlin 1892. Krüger, Paul/Mommsen, Theodor (Hg.), Corpus Iuris Civilis, Bd. 1: Institutiones, Digesta, Berlin 1889. Küch, Friedrich (Bearb.), Quellen zur Rechtsgeschichte der Stadt Marburg, 2 Bde., (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck 13), 2., unveränd. Aufl., Marburg 1991. Lünig, Johann Christian (Hg.), Das teutsche Reichs-Archiv, Pars Specialis, Continuation 2, Teil 2, Leipzig 1712. Ders. (Hg.), Collectio Nova. Worinn der mittelbahren, oder landsäßigen Ritterschaft in Teutschland, welche unter d. Kayser, auch Chur-Fürsten u. Herren angesessen […] Praerogativen u. Gerechtsamen, auch Privilegia u. Freyheiten, enthalten sind, Bd. 2, Frankfurt/Leipzig 1730. Lundorp, Michael Caspar (Hg.), Acta publica: das ist der Römischen Keyserlichen Majestät Matthiae […] und der jetzo Regierender Keys. Majestät Ferdinandi Secundi, auch dess H. Römischen Reichs Geistlicher und Weltlicher Chur- und Fürsten und anderer Reichs Ständten Reichshandlung von Ursachen des Teutschen Kriegs, Bd. 4: Das ist Kriegs- und Friedenshandlung weyland Gustavi Adolphi, Königs in Schweden u. wie auch Ludovici XIII. Konigs in Franckfeich u. wider […] Kays. Majest. Ferdinandum II. & III. […] biß auff das 1641. Jahr continuirt, Frankfurt 1641. Meichsner, Johann (Hg.), Decisionum Diversarum Causarum in Camera Imperiali Iudicaturum Adjunctis Votis & Relationibus, Bd. 3, Mainz 1663 (zuerst Frankfurt a. M. 1603). Moser, Friedrich Carl von, Sammlung der neuesten und wichtigsten Deductionen in Teutschen Staats- und Rechts-Sachen, Bd. 1, Frankfurt/Leipzig 1752. Murk, Karl (Hg.), Hessen-darmstädtische Landtagsabschiede 1648–1806 (Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission, N. F. 22; Vorgeschichte und Geschichte des Parlamentarismus in Hessen 28), Darmstadt 2002.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

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4. Literatur bis 1806

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4. Literatur bis 1806

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Quellen- und Literaturverzeichnis

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5. Literatur ab 1806

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5. Literatur ab 1806 [Anon.], Versuch einer kurzen Geschichte der Landstände des Königreichs Hannover und des Herzogthums Braunschweig bis zum Jahre 1803, Hannover 1832. Acham, Karl, Struktur, Funktion und Genese von Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht, in: Gert Melville (Hg.), Institutionen und Geschichte. Theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde (Norm und Struktur 1), Köln/Weimar/Wien 1992, S. 25–71. Ders., Geschichte und Sozialtheorie. Zur Komplementarität kulturwissenschaftlicher Erkenntnisorientierungen, Freiburg u. a. 1995. Althoff, Gerd, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003. Altmann, Ruth, Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel im Kampf gegen Kaiser und Katholizismus 1633–1637. Ein Beitrag zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Marburg 1938. Ammerer, Gerhard u. a. (Hg.), Bündnispartner und Konkurrenten der Landesfürsten? Die Stände in der Habsburgermonarchie (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 49), Wien/München 2007. Anderson, Alison D., On the Verge of War. International Relations and the Jülich-Kleve Succession Crises (1609–1614) (Studies in Central European Histories), Boston 1999. Arendt, Hannah, Macht und Gewalt, 14. Aufl., München/Zürich 2000. Aretin, Karl Otmar Freiherr von, Moser, Johann Jakob, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 18, Berlin 1997, S. 175–178. Ders., Das Alte Reich. 1648–1806, Bd. 1: Föderalistische oder hierarchische Ordnung (1648–1684), 2., durchges. Aufl., Stuttgart 1997.

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5. Literatur ab 1806

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Baumgart, Peter (Hg.), Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen. Ergebnisse einer internationalen Fachtagung (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 55; Studies presented to the International Commission for the History of Representative and Parliamentary Institutions 66), Berlin/New York 1983. Ders., Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen. Zur Einführung und Problemstellung, in: ebd., S. 3–15. Bayer, Klaus, Argument und Argumentation. Logische Grundlagen der Argumentationsanalyse (Studienbücher zur Linguistik 1), 2., überarb. Aufl., Göttingen 2007. Beck, Kurt, Die Neutralitätspolitik Landgraf Georgs II. von Hessen-Darmstadt. Versuche und Möglichkeiten einer Politik aus christlichen Grundsätzen (nachgewiesen an einem Gutachten Marburger Theologen vom 5. Juni 1632), in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 22, 1972, S. 162–228. Ders., Der hessische Bruderzwist zwischen Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt in den Verhandlungen zum Westfälischen Frieden von 1644 bis 1648, Frankfurt a. M. 1978. Ders., Der Bruderzwist im Hause Hessen, in: Uwe Schultz (Hg.), Die Geschichte Hessens, Stuttgart 1983, S. 95–105. Becker, Frank/Reinhardt-Becker, Elke, Systemtheorie. Eine Einführung für die Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M./New York 2001. Becker, Wilhelm Martin, Die Entstehung der Universität Gießen, in: Universität Gießen (Hg.), Die Universität Gießen von 1607 bis 1907. Beiträge zur ihrer Geschichte. Festschrift zur dritten Jahrhundertfeier, Bd. 1, Gießen 1907, S. 9–75. Ders., Georg II., Landgraf von Hessen-Darmstadt, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 6, Berlin 1964, S. 217. Behnen, Michael, Der gerechte und der notwendige Krieg. „Necessitas“ und „Utilitas rei publicae“ in der Kriegstheorie des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Johannes Kunisch (Hg.), Staatsverfassung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der frühen Neuzeit (Historische Forschungen 28), Berlin 1986, S. 43–106. Bei der Wieden, Brage (Hg.), Handbuch der niedersächsischen Landtags- und Ständegeschichte, Bd. 1: 1500–1806 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 216), Hannover 2004. Below, Georg von, Die landständische Verfassung in Jülich und Berg bis zum Jahre 1511, Kap. I und II, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 21, 1885, S. 173–256. Ders., Die landständische Verfassung in Jülich und Berg bis zum Jahre 1511 (Kap. III: Die Zeit des Bergischen Rechtsbuchs nebst Excurs), in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 22, 1885, S. 1–79. Ders., Die landständische Verfassung in Jülich und Berg bis 1511. Eine verfassungsgeschichtliche Studie, 3 Bde., Düsseldorf 1885–1891.

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Register

1. Ortsregister Das Ortsregister umfasst alle im Text genannten Orte und Räume außer ‚Hessen (Landgrafschaft)‘ und ‚Hessen-Kassel (Landgrafschaft)‘. Zur leichteren Identifizierbarkeit sind einigen Einträgen in Klammern konkretisierende Hinweise beigegeben. Kursiv gesetzte Seitenangaben beziehen sich auf Erwähnungen in den Anmerkungen. Alteuropa 2 f., 27f., 29f., 51 Allendorf (Stadt) 248 f., 250f., 255, 346, 349, 350 Alsfeld (Stadt) 188, 206, 339 Altmorschen 302–307, 348, 356, 431 Ansbach (Fürstentum) 33, 52, 54, 151, 154, 243 Arnsberg (Grafschaft) 340 Augsburg (Reichsstadt) 112, 139 Bayern (Herzogtum) 17–19, 31–34, 36, 49, 52 f., 54, 58–60, 83, 85, 87, 142, 155, 211, 223, 229, 239 Bickenbach 159 Bingen (Stadt) 240 Blankenburg (Fürstentum) 19 Böddiger 257 Böhmen (Königreich) 1, 53, 83, 228 Brabant (Herzogtum) 97, 193 Brandenburg (Markgrafschaft) 21, 104, 204, 238 Brandenburg-Preußen 31, 34 Braunschweig (Herzogtum) 19 Braunschweig-Wolfenbüttel (Herzogtum) 238 f. Breitenbach/Fulda 297 Breitenfeld 340 Brüssel (Stadt) 237 Busecker Tal 253 Butzbach (Stadt) 102 Corvey (Fürstabtei) 340 Darmstadt (Stadt) 193, 206, 212, 214, 279, 285, 342

Dehrn 159 Deutschland (Bundesrepublik) 16, 32 Dessau 264 Diemel (Strombezirk) 300, 302, 304 Diez (Grafschaft) 105, 159, 176 Donauwörth ((Reichs-)Stadt) 211, 223 Eder (Fluss) 259 Elbe (Fluss) 88, 339 England (Königreich) 24 Eschwege (Stadt) 120, 122, 193, 248, 264, 278, 289, 315 Esslingen (Stadt) 116 Europa 8, 28, 29, 31, 32, 35, 54, 58, 183, 337, 395, 417, 438, 466, 475, 484 Felsberg (Stadt) 110, 114f., 116f., 119, 122, 127, 259 Franken 339 Frankreich (Königreich) 153 Frankenberg (Stadt) 188, 206, 248 Fritzlar (Stadt) 453–455 Fulda (Fürstabtei) 36, 294, 315f., 340 Fulda (Strombezirk) 255, 300, 302 f., 304, 307 Gießen (Festung) 195 Gießen (Stadt) 188, 209, 210–212, 216, 230, 235, 240, 350, 361 Grebenstein (Stadt) 193, 206, 248, 315 Greifenstein (Stadt) 122 Gronau (Hospital) 167 Großbritannien 26 Grünberg (Stadt) 129, 188, 231 Gudensberg (Stadt) 248, 257, 259, 317f., 348

1. Ortsregister Haina (Hospital) 167 Halle/Saale (Stadt) 150 Hannover (Königreich) 19 Helmarshausen (Stadt) 386 Hersfeld (Fürstabtei) 278, 340 Hersfeld (Fürstentum) 278 Hersfeld (Stadt) 152, 248 f., 255, 264, 278, 287, 288, 289–292, 297, 298, 300, 303, 307 Hessen (Kurfürstentum) 19 Hessen-Butzbach (Landgrafschaft) 204 Hessen-Darmstadt (Landgrafschaft) 156, 168, 175f., 180f., 184, 192, 198, 201, 203f., 209–211, 216, 221, 232 f., 236, 301, 324, 327, 461, 479 Hessengau 103 Hessen-Homburg (Landgrafschaft) 204 Hessen-Marburg (Landgrafschaft) 160, 167, 168f., 175f., 188, 192, 197, 200, 201, 203–205, 209 Hessen-Rheinfels (Landgrafschaft) 168, 175 Hessen-Rotenburg (Landgrafschaft) 325 Hildesheim (Fürstbistum) 30, 36, 85, 112, 133, 149, 156, 187, 227 Hofgeismar (Stadt) 206, 254, 257, 300 Hofheim (Hospital) 167 Homberg/Efze (Stadt) 103, 127, 129, 130, 136f., 146f., 255, 289, 315 Homburg v. d. Höhe (Stadt) 146, 159 Jülich-Berg (Herzogtum) 20, 21, 30, 47, 223 Jülich-Kleve (Herzogtum) 222, 223, 234 Kärnten (Herzogtum) 83 Kassel (Festung) 288, 313, 341, 344, 347 Kassel (Hof) 102, 212 Kassel (Schloss) 451 Kassel (Stadt) 109, 111f., 113, 118, 122, 127, 145, 147, 151, 180, 189, 192, 196f., 205, 209, 215, 237, 248f., 256f., 259f., 264, 286f., 290f., 292, 329, 334, 349, 351, 354, 369, 380, 392, 447, 450, 467 Katzenelnbogen (Grafschaft) 105, 147, 152 Katzenelnbogen (Niedergrafschaft) 128, 159, 180, 190, 301, 324, 328 Katzenelnbogen (Obergrafschaft) 128, 159, 190 Kaufungen (Stift) 89, 91, 139, 156, 167, 296, 303, 346–349, 350, 351, 380, 445, 448, 450, 464

573 Kirchhain (Stadt) 278, 311, 382, 446–448, 450, 452 Kleve-Mark (Herzogtum) 38, 353, 357, 406, 424–426 Köthen 264 Köln (Kurfürstentum) 36, 108 Kulmbach (Fürstentum) 33, 52, 54, 151, 154, 243 Laerbrock (Landtagsplatz im Fürstbistum Münster) 103 Lahn (Fluss) 102, 159 Lahn (Strombezirk) 255, 300, 302 f., 307 Lahngau 103 Leipzig (Stadt) 113, 337, 428 Lißberg 159 Lüneburg (Fürstentum) 34, 49, 54 Lüttich (Fürstbistum) 18 Mader Holz, 257–259, 428 Magdeburg 264, 339 Mähren (Markgrafschaft) 83 Marburg (Festung) 167 Marburg (Schloss) 204 Marburg (Stadt) 89, 99, 103, 109, 111, 117, 120, 122, 138, 147, 180, 196, 207, 209–211, 213, 214f., 216, 255, 278, 285, 352 Marburg (Universität) 139, 143, 163, 164, 165, 167f ., 209, 243, 261, 328 Mecklenburg (Herzogtum) 19, 33, 122 Melsungen (Stadt) 145, 176, 193, 197, 215, 248, 308, 309, 314, 368 Merxhausen (Hospital) 167 Mitteldeutschland 30 Mühlhausen (Reichsstadt) 104, 109, 111 Münster (Fürstbistum) 87, 103, 340 Münster (Stadt) 446 Nassau-Dillenburg (Grafschaft) 152 f. Naumburg/Saale (Stadt) 146 Neukirchen (Amt) 278 Nidda (Grafschaft) 105, 180, 190 Niederfürstentum s. Niederhessen Niederhessen 103, 105, 159, 167, 180, 190, 289, 291, 299, 302, 304, 309, 324, 330, 338f., 381, 414, 415, 428, 433, 470, 481 Niederlande 32, 193, 222 Niederlausitz (Markgrafschaft) 18 Niederrhein 193 Niedersachsen 36, 100

574 Niedersachsen (Reichskreis) 288, 318 Norddeutschland 288 Oberdeutschland 36, 41, 51 f., 315, 422 Oberfürstentum s. Oberhessen Oberhessen 103, 105, 128, 159, 161, 167, 180, 190, 207, 213, 215f., 236, 285, 291, 300, 301, 324, 328, 329f., 346 Oberrhein (Reichskreis) 196 Oberschwaben 32 Österreich (Erzherzogtum) 34, 53, 83 Ortenburg (Grafschaft) 295 Osnabrück (Fürstbistum) 30, 36, 49, 63, 340 Osnabrück (Stadt) 426, 446 Ostfriesland (Grafschaft) 125, 199, 387 Paderborn (Fürstbistum) 278, 340 Passau (Stadt) 150 Pfalz (Kurfürstentum) 156, 237 Plesse (Herrschaft) 105, 190 Pommern 337 Preußen (Herzogtum) 33, 80, 357 Regensburg (Reichsstadt) 139 Reich, Deutsches (Kaiserreich) 16, 21, 23 Reich, Deutsches (Weimarer Republik) 23, 79 Reich, Heiliges Römisches Deutscher Nation 1–4, 40, 51, 62, 140, 142, 144, 152 f., 194, 211, 222f., 241, 243, 265, 328, 337, 340, 359, 368, 414, 441, 456, 491 Rhein (Fluss) 196, 222, 340 Rhön-Werra (Kanton der fränkischen Reichsritterschaft) 156 Rittberg (Grafschaft) 105 Rotenburg/Fulda (Stadt) 116f., 142, 150, 193, 247, 248, 289, 325, 338, 339 Rotenburger Quart 325 Rüsselsheim (Festung) 195 Sachsen (Kurfürstentum) 26, 34, 54, 303, 306 Sachsen (wettinische Herzogtümer) 104, 111, 112f., 115, 122, 204, 297 Sachsen-Lauenburg (Herzogtum) 36, 51 Sachsen-Weimar (Herzogtum) 159, 338 Schlesien (Herzogtum) 21 Schleswig-Holstein (Herzogtum) 33

Register Schmalkalden (Herrschaft) 180, 190, 324, 328 Schmalkalden (Stadt) 126, 193, 315 Schotten 159 Schwäbisch-Österreich 30, 34f., 49, 141, 153, 199, 228 Schwalm (Strombezirk) 255, 300, 302, 304 Schweden 339 Solms (Grafschaften) 315–317 Sontra (Stadt) 315 Spangenberg (Stadt) 136, 315 Speyer (Reichsstadt) 137f., 180, 326, 362, 365, 413, 434, 447, 461 Spieß (Hochfläche zwischen Ziegenhain und Homberg) 103f., 105, 107, 108, 123, 129, 145, 258, 428 Stadtlohn (Stadt) 285 Steiermark (Herzogtum) 83 Stornfels 159 Stuttgart (Stadt) 116 Süddeutschland 32, 53 Thüringen 33, 38, 137 Treis a. d. Lumda 254, 300 Treysa (Stadt) 117, 118, 120–122, 126, 130, 144, 193, 214, 215, 217, 231, 248, 254, 287, 315, 447, 462 Ulfen 302 f., 307 Ulrichstein 159 Umstadt 159 Vach (Amt) 102 Vacha (Stadt) 152, 339 Vorderösterreich 36, 52 Waldeck (Grafschaft) 105, 124, 150, 237, 239, 316, 340 Warburg 278 Weißer Berg/Prag 237, 240 Werben/Elbe 334, 339 Werra (Fluss) 278, 339 Werra (Strombezirk) 254, 255, 290, 300, 302, 304, 349, 350f., 353, 380 Weser (Fluss) 340 Westfalen 8, 38, 193, 223, 340, 342 Wetter (Stadt) 248 Wetter (Stift) 89, 91, 139, 156, 167, 296, 348 Wetterau 253, 340 Wien (Stadt) 288, 296, 301

1. Ortsregister Wittgenstein (Grafschaft) 105 Witzenhausen (Stadt) 254, 300 Wolfhagen (Stadt) 248 Worms (Reichsstadt) 137 Württemberg (Grafschaft/Herzogtum) 33, 52 f., 85, 94, 113, 116, 133, 153, 156, 187, 322, 357, 474 Würzburg (Fürstbistum) 30, 35, 112, 142, 148 f., 154 Ziegenhain (Festung) 288, 298, 313, 341, 344, 347 Ziegenhain (Grafschaft) 105, 159, 180, 190 Ziegenhain (Stadt) 103

575

2. Personenregister Das Personenregister umfasst alle im Text (mit Ausnahme der Literaturangaben) genannten Personen. Bei den historischen Akteuren werden zur leichteren Orientierung in Klammern zusätzlich Stand und/oder Tätigkeit angegeben. Kursiv gesetzte Seitenangaben beziehen sich auf Erwähnungen in den Anmerkungen. Acham, Karl 66 Afflictis, Matthaeus de (Jurist) 435 Althusius, Johannes (Politiktheoretiker) 431 Anholt, Johann Jakob von (Graf, Heerführer) 253 Arendt, Hannah 78 Aristoteles (Philosoph) 369, 375, 397, 433 Augustus (Gaius Octavius, Kaiser) 310, 416 Badenhausen, Wolff (Bürgermeister Grebenstein) 206 Baldus de Ubaldis (Jurist) 435 Bartolus de Sassoferrato (Jurist) 418, 435 Baumbach, Adam Georg von (Ritter) 460 Baumbach, Asmus von (d.Ä.) (Oberst) 258, 260, 261 f., 286f., 289, 304, 309 Baumbach, Asmus von (d.J.) (Ritter) 289 Baumbach, Jost von (Regentschaftsrat) 109 Below, Georg von 20–22, 24, 44, 46f. Berger, David (Dr., Jurist) 413 Berlepsch, Hans von (Ritter) 122 Berlepsch, Kaspar von (Regentschaftsrat) 109 Berlepsch, Otto Wilhelm von (Ritter) 206 Berlepsch, Sittich von (Ritter) 127f., 206 Bischoff, Johann (Hofgerichtsrat, Geheimer Rat) 206, 286 Besold, Christoph (Jurist) 404f., 418, 420, 432, 449, 454 Blickle, Peter 32, 36, 112, 488 Blockmans, Wim 32 Bocer, Heinrich (Jurist) 404f. Bodenhausen, Heinrich von (Regentschaftsrat) 109 Bodenhausen, Kraft von (Regentschaftsrat) 120, 122 Bodenhausen, Moritz von (Ritter) 455, Bodin, Jean (Politiktheoretiker) 294, 353, 358f., 361 Böhme, Klaus 98

Boldt, Hans 3, 70, 93, 495 Boltanski, Luc 374–379, 387, 465 Bourdieu, Pierre 14, 65, 75, 266 Boyneburg, Ludwig von (Landhofmeister) 102, 108–115, 122, 125–127, 131 Boyneburg genannt von Hohnstein, Heinrich von (Ritter) 249, 289, 304 Brabant, Sophie von (Herzogin, geb. Landgräfin von Thüringen) 97f. Brandenburg, Christian Wilhelm von (Markgraf) 264 Braunschweig-Wolfenbüttel, Christian von (Herzog, Heerführer) 253, 278, 285 Brunner, Otto 2f., 27–30, 47–50, 52, 68, 157, 396, 422, 488 Brunsson, Nils 179 Buseck, Hans Philipp von (Ritter) 206 Burke, Peter 69 Buttlar, Asmus von (Ritter) 206 Buttlar, Dietrich Hermann von (Ritter) 304 Calenberg, Heinrich von (Ritter) 249 Cam, Helen M. 17, 19, 31 Carsten, Francis Ludwig 16, 25–27, 30, 33, 266f., 322 Cefali, Giovanni (Jurist) 399 Cicero, Marcus Tullius (Redner, Politiker und Schriftsteller) 354, 369, 398, 431, Claur zu Wohra, Carl (Obervorsteher Kaufungen/Wetter) 248–250, 261 Claur zu Wohra, Johann (Obervorsteher Kaufungen/Wetter) 206 Cleen, Dietrich von (Landkomtur) 109, 114, 120, 121, 122, 128 Coler, Matthias (Jurist) 418 Commynes, Philippe de (Geschichtsschreiber) 449 Corneus, Petrus Philippus (Jurist) 435 Conring, Hermann (Polyhistor) 382 Conze, Werner 50

2. Personenregister Dänemark, Christian IV. von (König) 288, 318 Dalwig, Johann von (Ritter) 206 Dalwig, Johann Bernhard von (Ritter) 385 Deichmann, Christoph (Prof. Dr., Universität Marburg) 261, 276 Deinhard, Helfrich (Dr., Regentschaftsrat) 385 Demandt, Karl Ernst 159, 203, 266 Derrida, Jacques 174 Diede zum Fürstenstein, Hans (Obervorsteher Kaufungen/Wetter) 303, 346, 347, 348, 351, 352–354, 356, 380, 386, 434, 446 Diederich, Heinrich (Jurist) 382 Dieterich, Konrad (Archidiakon) 210 Dilich, Wilhelm Scheffer gen. (Chronist) 220, 388 DiMaggio, Paul J. 408 Dobbeler, A. de 18 Dörnberg, Ludwig von (Ritter) 261, 289 Dörnberg, Wilhelm von (Regentschaftsrat) 120, 122, 128 Duchhardt, Heinz 131 Dülfer, Kurt 255 Dumont, Louis 376 Eichhorn, Karl Friedrich 19 Einsiedel, Conrad von (Jurist) 404 Eschwege, Heinz von (Ritter) 122 Eßer, Raingard 357, 361–364 Estor, Johann Georg (Jurist) 97 Ferdinand II. (Kaiser) 241, 288, 291, 296f., 299, 301, 305, 318, 320, 322 f., 340 Franz, Eckhart G. 98 Freyberg, Max Freyherr von 18 Friedeburg, Robert von 190, 357, 361, 365–371, 382, 386, 389, 421, 432, 441, 442 Frings, Andreas 66 Gail, Andreas (von) (Jurist) 294f. Geertz, Clifford 68, 199 Gehlen, Arnold 72, 494 Geißheim, Hermann (Bürgermeister Darmstadt) 206 Gentz, Friedrich 44 Gerhard, Dietrich 27–31, 39, 52, 56 Giddens, Anthony 64, 66, 73, 76, 94, 184, 496

577 Gierke, Otto (von) 17, 20, 22, 32, 44, 45f., 52f., 397, 422, 423, 488 Giganti, Girolamo (Jurist) 399 Gilsa, Georg Ernst von und zu (Ritter) 467 Glagau, Hans 86, 90, 91, 108, 118, 124 Goeddaeus, Johannes (Prof. Dr., Universität Marburg) 206, 261, 276 Goeddaeus, Johannes (Dr., Regierungsrat) 352 Göhler, Gerhard 37 Go´slicki, Wawrzyniec Grzymała (Politiktheoretiker) 418 Grégoire, Pierre (Jurist) 398 Grothe, Ewald 68 Grube, Walter 30, 31 Günderode, Johann Heinrich von (Hofmarschall) 352 Günther, Wolfgang (Dr., Generalaudiezierer) 298, 299, 301, 303, 314, 320, 326 Habel, Georg Daniel von (Landkomturvertreter) 248, 261 Hamerus, Reinhard (Bürgermeister Marburg) 206 Hamm, Berndt 187 Hardelmann, Joseph (Bürgermeister Hofgeismar) 206 Hartung, Fritz 3, 21–23 Hatzfeld, Georg von (Regentschaftsrat) 109 Haug-Moritz, Gabriele 53, 284f., 312 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1, 10, 57, 477, 500 Heidenreich, Bernd 98 Heigius, Peter (Jurist) 404 Heinrich Raspe (Gegenkönig, Landgraf von Thüringen) 388 Helbig, Herbert 30, 31 Heller, Hermann 62 Hengerer, Mark 35 Herde, Peter 25–27, 30 Heß, Georg (Dr., Bürgermeister Kassel) 206 Hessen, Anna von (Landgräfin, geb. Herzogin von Mecklenburg) 101–103, 107f., 110f., 116–130, 135, 385 Hessen, Anna von (Landgräfin, geb. Herzogin von Braunschweig) 115 Hessen, Heinrich I. von (Landgraf) 97, 388, 500

578 Hessen, Heinrich III. von (Landgraf) 98 Hessen, Ludwig I. von (Landgraf) 109, 388 Hessen, Ludwig II. von (Landgraf) 98 Hessen, Philipp I. von (Landgraf) 89, 91, 101f., 108, 126, 129f., 135–177, 180, 182, 186, 192f., 195, 200, 203, 205f., 220, 225f., 234, 245, 293, 322, 333, 388, 390, 394, 407, 430, 454 Hessen, Wilhelm I. von (Landgraf) 115, 126 Hessen, Wilhelm II. von (Landgraf) 89, 101f., 104, 106, 109, 119, 129, 132 f ., 385 Hessen-Butzbach, Philipp III. von (Landgraf) 204 Hessen-Darmstadt, Georg I. von (Landgraf) 159, 175, 201, 203f., 205 Hessen-Darmstadt, Georg II. von (Landgraf) 181, 327f., 330, 333f., 340, 346, 347, 349, 350, 352, 353, 435, 453–455, 461 Hessen-Darmstadt, Ludwig V. von (Landgraf) 193, 201, 202, 204–218, 225, 230, 231–233, 234, 235, 240, 279, 285, 303, 306, 328, 330, 331, 479 Hessen-Eschwege, Friedrich von (Landgraf) 181, 461 Hessen-Homburg, Friedrich I. von (Landgraf) 204 Hessen-Kassel, Agnes von (Landgräfin) 264 Hessen-Kassel, Amalie Elisabeth von (Landgräfin, geb. Gräfin von Hanau) 92, 180, 181, 232, 323, 325, 327, 344–355, 380, 385, 400–409, 429, 446, 450, 461, 473, 483 Hessen-Kassel, Friedrich II. von (Landgraf) 467 Hessen-Kassel, Juliane von (Landgräfin, geb. Gräfin von Nassau-Dillenburg) 303, 325 Hessen-Kassel, Otto von (Landgraf) 278 Hessen-Kassel, Moritz von (Landgraf) 185, 193, 196, 201–328, 330, 334, 336, 338, 342, 345, 348, 350, 354, 355, 357, 389, 393, 460, 470f., 479–482, 486f. Hessen-Kassel, Wilhelm IV. von (Landgraf) 105, 138, 158f., 161, 168, 175, 180, 189, 212, 389, 390, 394 Hessen-Kassel, Wilhelm V. von (Landgraf) 248, 259, 260, 264, 285, 287, 288, 290f., 297f ., 318, 325–330, 333, 336–344, 385, 401, 428, 453, 470, 471, 482

Register Hessen-Kassel, Wilhelm VI. von (Landgraf) 180, 259, 344, 365, 443, 447, 450, 453, 455 Hessen-Marburg, Ludwig IV. von (Landgraf) 159, 160, 167, 175, 188, 193, 196, 201, 203, 204, 205f., 207, 209f., 212, 215, 246 Hessen-Rheinfels, Philipp II. von (Landgraf) 158f., 175 Hessen-Rheinfels, Ernst von (Landgraf) 181, 461 Hessen-Rotenburg, Hermann von (Landgraf) 181, 461 Higashide, Isao 17 Hintze, Otto 3, 22–24, 26, 31, 51, 58, 174 Hobbes, Thomas (Philosoph) 42 Hochedlinger, Michael 35 Hofmann, Hasso 49, 62 Holenstein, André 1, 7 Hollenberg, Günter 87, 89, 90, 98f., 133, 134, 135f., 142, 144, 148 f., 153, 156, 164, 169f., 172, 189, 195, 239, 241, 256, 273, 291, 302, 317, 333f., 361 Hund, Caspar (Ritter) 303 Innozenz III. (Papst) 395 Jameson, Frederic 132 Jellinek, Georg 187f . Jungmann, Hieronymus (Bürgermeister Kassel) 249 Jungmann, Justus (Dr., Vizekanzler Kassel) 352f., 456 Kant, Immanuel (Philosoph) 66 Karl V. (Kaiser) 150, 159 Keim, Walther 340 Klock, Caspar (Kameralist) 404 Knichen, Andreas (von) (Jurist) 294, 295, 361, Kocka, Jürgen 50, 64f. Köln, Hermann IV. von (Erzbischof/ Kurfürst) 102 Koenigsberger, Helmut G. 27, 30 Kroeschell, Karl 48 Krüger, Kersten 32, 35, 54, 152, 195 Laclau, Ernesto 199 Landwehr, Achim 7 Lange, Ulrich 53, 251

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2. Personenregister Lauck, Christian (Bürgermeister Frankenberg) 206 Ledderhose, Conrad Wilhelm (Jurist) 97, 183, 233 Lersner, Heinrich (Dr., Regentschaftsrat) 385 Leuchter, Heinrich (Superintendent Marburg) 210 Löwenstein, Eitel von (Regentschaftsrat) 114, 121, 122, 128 Löwenstein, Hartmann von (Erbküchenmeister) 261 Lothar III. (Kaiser) 382 Lousse, Émile 24, 25 Lübbe, Hermann 65 Luhmann, Niklas 6, 37, 187f., 267, 272 Malsburg, Christoph Sittich von der (Ritter) 455 Malsburg, Eckbrecht von der (Ritter) 206 Malsburg, Hermann von der (Obervorsteher Kaufungen/Wetter) 248f., 261, 276, 289, 304, 309 Malsburg, Otto von der (Obervorsteher Kaufungen/Wetter) 289, 346, 348, 351– 355, 356, 362, 363, 373, 380f., 385f., 434, 446f., 449, 450, 468 Malsburg, Otto Mordian von der (Ritter) 454 Mansbach, Konrad von (Regentschaftsrat) 102 Mantica, Franciscus (Jurist) 399 March, James G. 218, 220 Marongiu, Antonio 35 Marsilius von Padua (Politiktheoretiker) 396f. Maruhn, Armand 161, 167, 182, 190, 277, 319, 326, 329, 331, 333, 357, 362–373, 381, 382, 386, 424, 425, 432, 440, 443, 449, 461, 464 Mat’a, Petr 35 Maurer, K. 19 Maximilian I. (Kaiser) 111 f., 121, 129, 130, 293 Meinecke, Friedrich 28, 30 Meisenbug, Philipp (Ritter) 122, 128 Mendoza, Francisco de (Heerführer) 193 Menochio, Giacomo (Jurist) 398 Mentzer, Balthasar (Prof. Dr., Universität Marburg) 210

Michels, Robert 131 Mitterauer, Michael 32 Moraw, Peter 13, 51, 61, 134f., 185, 275, 408, 488 Moser, Johann Jakob (Jurist) 56f., 58, 60, 85, 179 Mouffe, Chantal 199 Mynsinger von Frundeck, Joachim (Jurist) 404f. Näf, Werner 22f. Neumayr von Ramsla, Johann Wilhelm (Literat) 431 Nietzsche, Friedrich (Philosoph) 97 Oestmann, Peter 390 Oestreich, Gerhard 26f., 30, 34f., 49 Olivier-Martin, François 24 Oeynhausen, Wilhelm von (Landkomtur) 211 Pfalz, Friedrich V. von der (Kurfürst) 240, Pfeiffer, Burkhard W. 19 Plesse, Dietrich von (Edelherr) 150 Powell, Walter W. 408 Press, Volker 36, 51f., 158, 160f., 198, 203, 206, 238, 265, 286, 324, 342, 493 Puppel, Pauline 357 Quaritsch, Helmut 353 Rachfahl, Felix 21, 99 Raumer, Kurt von 27, 52 Reckwitz, Andreas 75 Rehberg, Karl-Siegbert 37, 76 Reichhard, Georg (Bürgermeister Alsfeld) 206 Reinkingk, Dietrich (von) (Jurist) 294, 295, 310, 404 Renger, Reinhard 31 Riedesel zu Eisenbach, Curt VI. (Erbmarschall) 468 Riedesel zu Eisenbach, Georg VIII. (Erbmarschall) 468 Riedesel zu Eisenbach, Hermann IV. (Erbmarschall) 102, 120, 128 Riedesel zu Eisenbach, Johann (Erbmarschall) 206 Riedesel zu Eisenbach, Johann (Ritter) 455

580 Riedesel zu Eisenbach, Volprecht IV. (Erbmarschall) 261 Riminaldi, Ippolito (Jurist) 398 Rövenstrunck, Johann Wilhelm (Jurist) 404 Rolandus a Valle (Jurist) 435 Rommel, Christoph von 161, 287, 314, 315, 337 Rotteck, Karl von 44 Rübenkönig, Johann (Bürgermeister Homberg/Efze) 206 Ruland, Heinrich (Dr., Regentschaftsrat) 102 Saale, Margarethe von der 159 Sachsen, Friedrich I. von (Kurfürst) 114, 127 Sachsen, Georg von (Herzog) 104, 108 f., 111, 113, 127f., 296 Sachsen, Heinrich von (Herzog) 127 Sachsen, Johann von (Herzog) 127 Sachsen, Johann Georg I. von (Kurfürst) 288 Sachsen-Gotha-Altenburg, Ernst I. von (Herzog) 181, 426, 461 Sachsen-Weimar, Wilhelm IV. von (Herzog) 338 Sapper, Nico 31 Sayn-Wittgenstein, Wilhelm von (Graf) 150 Scheffer, David Ludwig (Regierungsrat) 352 Scheffer, Heinrich Ludwig (Geheimer Rat, Obervorsteher Hospitäler) 261 Scheffer, Reinhard (Generalkriegskommissar) 456 Schenck zu Schweinsberg, Hans Georg (Erbschenk) 261 Schenck zu Schweinsberg, Hermann (Regentschaftsrat) 109, 117 Schetzel zu Merzhausen, Burkhard (Ritter) 287, 304 Schieder, Theodor 50f. Scholley, Philipp von (Ritter) 304 Schubert, Ernst 49, 100, 490 Schweden, Gustav II. Adolf von (König) 337, 339f., Schwertzel zu Willingshausen, Georg (Ritter) 460 Sickingen, Franz von (Ritter) 136

Register Siebeck, Hans 99f., 135, 144, 149, 156f., 169f., Simmel, Georg 283 Sixtinus, Nikolaus (Geheimer Rat) 286, 352, 354, 385 Socini, Mariano (Jurist) 435 Spangenberg, Hans 21 Spinola, Ambrosio (Heerführer) 237, 239, 240 Stasavage, David 490 Stockhausen, Burkhard von (Obervorsteher Kaufungen/Wetter) 248 f., 260– 262, 289, 304 Stollberg-Rilinger, Barbara 49, 274 Strube, David Georg (Jurist) 85, 97 Teubner, Gunther 477 Tezner, Friedrich 47 Thévenot, Laurent 374–379, 387, 465 Thies, Gunter 255 Thomas von Aquin (Theologe) 8 Tilly, Johann Tserclaes von (Graf, Heerführer) 239, 264, 265, 278, 285, 287–303, 307, 312, 317–323, 326, 337–339, 348, 470f., 482 Treisbach, Peter von (Dr., Regentschaftsrat) 102 Trott zu Solz, Friedrich (Regentschaftsrat) 102 Trott zu Solz, Jost (Ritter) 460 Uffeln, Curt Heinrich von (Obrist von Kassel) 286 Unger, Friedrich Wilhelm 18 Vierhaus, Rudolf 36, 52 Vultejus, Hermann (Prof. Dr., Universität Marburg, Hofgerichtsrat) 206 Vultejus, Johannes (Geheimer Rat) 458 Wacquant, Loïc 14 Waiblingen, Rudolf von (Regentschaftsrat) 102 Waldeck, Johann I. von (Graf) 150 Waldeck, Philipp IV. von (Graf) 150 Waldeck, Walrab von (Graf) 150 Wallenstein, Albrecht von (Heerführer) 307, 312, 314 Wallenstein, Gottfried von (Hofmeister) 352, 456, 458

2. Personenregister Wallenstein, Konrad von (Hofmeister) 102, 128 Wallenstein, Philipp Ludwig von (Ritter) 287 Walz, Rainer 53 Weber, Max 13, 41, 53, 77, 80, 132 Wehler, Hans-Ulrich 50, 75, 76 Wehner, Paul Matthias (Jurist) 295 Weick, Karl E. 410 Weiters, Friedrich von (Generalkriegskommissar) 286 Wersabe, Hermann von (Ritter) 249, 289, 297, 304, 309 Willoweit, Dietmar 121, 131 Winckelmann, Johannes (Prof. Dr., Universität Marburg) 210 Winkelbauer, Thomas 35 Wohlwill, Adolf 18 Württemberg, Eberhard II. Herzog von 116 Wunder, Dieter 255 Zasius, Ulrich (Jurist) 42 Zimmermann, Ludwig 97

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SymboliSche KommuniK ation in der Vormoderne studien zur geschichte, literatur und Kunst herausgegeben von gerd althoff, barbara stollberg-rilinger und horst Wenzel

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