Die Entstehung des Bewußtseins 3593325225

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Die Entstehung des Bewußtseins
 3593325225

Table of contents :
Einleitung. . . . 7
^Naturwissenschaftliche Methoden zur Untersuchung des
Bewußtseins 16
1.1. Der psycho-physische Ansatz . . . 20
1.2. Der phylogenetische Ansatz 26
2. Die Stellung des Menschen im natürlichen System der Organismen . . . . . . . . . . 39
2.1. Die zoologische Klassifikation der Primaten. . 39
2.2. Biologische Beweise der stammeseeschichtlichen Verwandtschaft von tierischen Primaten una dem M e n s c h e n . . . . . . 50
2.3. Verhaltensähnlichkeiten bei Menschenaffen und dem Menschen 55
2.3.1. »Historische Reste< in den motorischen Reaktionsmustern des Menschen . . . 59
2.3.2. Angeborene Ausdrucksbewegungen 62
3. Die kausale Struktur des Tier-Mensch-Obergangsfeldes im
psycho-physischen Bereich 69
3.1. Biologische Untersuchungsebenen der phylogenetischen Entstehung des Bewußtseins 74
3.2. Anthropologische Problemebenen und Hypothesen der Hominisation 83
4. Das System der organismischen und ökologischen Faktoren
der Bewußtseinsbildung 95
4.1. Änderungen des Lebensraumes und des Nahrungserwerbs
während der Hominisation 96
4.2. Die Lokomotionstypen der Primaten und ihre Bedeutung für
die Phylogenese des Bewußtseins 104
5. Veränderungen des psycho-physischen Status während der
Menschwerdung im sensorischen Bereich . 115
5.1. Die Evolution der verschiedenen Sinnesbereiche bei Primaten 115
5.1.1. Die Tendenz zur mikrosmatischen Geruchsorientierung in der Primatenevolution .118
5.1.2. Die Evolution der visuellen Leistungsfähigkeit bei
Halbaffen, Affen und dem Menschen 129
6. Die Gehirnentwicklung während der Primatenevolution . . 135
6.1. Morphologische Trends der Kopf-und Schädelbildung. . . . 139
6.2. Der Kopf als Signalträger im Kommunikationsprozeß . . . . 144
6.3. Die Neencephausation als morphologische Grundlage der Bewußtseinsbildung . . 148
7. Zur Naturgeschichte der menschlichen Gesellschaft . . . . 164
7.1. Von der tierischen Sozietät zur menschlichen Sozialität. . . . 166
57.1.1. Die Funktion der Sexualität und Mutter-Kind-Beziehung als biologische Grundlage von Sozialisierungsprozessen 169
7.1.2. Ethologische Mechanismen des Sozialkontaktes und
der Gruppenbildung bei Tieraffen 174
7.2. Von der Ökologie zur Ökonomie . . 183
7.2.1. Typen des Sozialverhaltens und ihre Abhängigkeit
vom Biotop bei verschiedenen Affenarten . . 1 8 5
7.2.2. Die Sozialstrukturen terrestrischer Primaten und der
Menschenaffen als Modelle der phylogenetischen Entstehung der menschlichen Gesellschaft 193
7.3. Die Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung aus
tierischen Vorformen 204
8. Die Sprache als psychisches Merkmai des Humanen 215
8.1. Allgemeine Gesetzmäßigkeiten der akustischen Signalübertragung 215
8.2. Morphologische und gehirnphysiologische Voraussetzungen
des Sprachgebrauchs . 224
8.3. Unterscheidungsmerkmale zwischen der tierischen Kommunikation und der menschlichen Sprache 231
8.4. Die Verständigung zwischen Menschenaffen und Menschen
über gemeinsame Zeichen- und Sprachsysteme 243
9. Der Arbeitsprozeß als materielle Grundlage der Bewußtseinsbildung 254
9.1. Beobachtungen und Experimente zur Manipulationsfähigkeit
von Menschenaffen 255
9.2. Morphologische und biophysikalische Voraussetzungen des
Handgebrauchs beim Menschen 264
9.3. Die biologische Spezialisierung zwischen Hand und Kopf. . 273
9.4. Werkzeugherstellung und Bewußtseinsgenese bei Frühmenschen . 284
9.4.1. Die Schlüsselstellung der Australopithecinen 284
9.4.2. Werkzeugtypen als »gesellschaftliche Relikte< der fossilen Hominiaen des Unter- und Mittel-Pleistocäns. . . 291
10. Der Übergang vom Psychischen zum Bewußtsein im TierMensch-Übergangsfeld 299
10.1. Höhere psychische Leistungen der nichtmenschlichen Primaten im Grenzbereich zur Bewußtseinsbildung. . . . . . . 305
10.2. Unterscheidungskriterien von psychischen und bewußten
Prozessen 311
10.2.1. Die Vergegenständlichung ideeller Strukturen. . . . 311
10.2.2. Die Subjekt-Objekt-Trennung 324
Morphologische Fachausdrücke 331
Literaturverzeichnis 333

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Texte zur Kritischen Psychologie, Band 5 Psychologisches Institut der FU Berlin

Die Enstehung des Bewußtseins Im Anschluß an die in der gleichen Reihe erschienene „Naturgeschichte des Psychischen" wird in diesem Band die allgemeine historische Ableitung des Bewußtseins als höchste Entwicklungsstufe des Psychischen herausgearbeitet. Dabei wird gezeigt, daß die erste Entstehung des Bewußtseins im Tier-Mensch-Übergangsfeld von den frühen Stadien des Werkzeuggebrauchs und der Sozialbeziehungen bis zur kooperativen Arbeit und Sprachentwicklung den phylogenetischen Gesetzen der Primatenevolution folgt. Gleichzeitig jedoch ist die besondere Qualität des menschlichen Bewußtseins (z.B. die Fähigkeit der Subjekt-Objekt-Trennung) nur als eine Folge des Übergangs von der Ökologie zur Ökonomie verständlich, in der der Mensch durch die Bearbeitung der Natur sein Leben in gesellschaftlichen Formen reproduziert.

A

Volker Schurig Die Entstehung des Bewußtseins

Studium Kritische Sozialwissenschaft Psychologie

Volker Schurig studierte 1960-1966 Zoologie in Jena. 1969 Promotion am »Institut für philosophische Probleme der modernen Naturwissenschaften« der Humboldt-Universität Berlin über Probleme der Biokybernetik. Bis 1971 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Institutes für Hochseefischerei Rostock-Warnemünde. Seit 1971 Assistenzprofessor am Psychologischen Institut der FU-Berlin. Veröffentlichungen: Zusammen mit K. Holzkamp Herausgeber von Leontjew: Probleme der Entwicklung des Psychischen (1973); Naturgeschichte des Psychischen, 2 Bände (1975).

aufgeweichte< Anerkennung des »methodologischen« Behaviorismus charakterisiert ist, geht man zwar einerseits offiziell meist von dem Dogma der intersubjektiven Unzulänglichkeit und deshalb Ununtersuchbarkeit des Bewußtseins aus, hat aber andererseits eine Reihe von Behelfsbegriffen eingeführt, die es dennoch erlauben, bewußte Gegebenheiten faktisch in die Forschung einzubeziehen, z. B. das Konzept der »intervenierenden Variablen«, demgemäß es erlaubt ist, in einer »Als-Ob«-Manier von bewußten Gegebenheiten als >hinzugedachten< Tatbeständen zu sprechen, das gebräuchliche Begriffspaar »overt-covert«, wobei »covert« praktisch ein verschleiernder Deckbegriff für »bewußt« ist oder die Bezeichnung »awareness«, die eine >nichtmentalistische< Fassung von Bewußtseinstatbeständen vortäuschen soll. Durch die offizielle Leugnung und das lediglich offiziöse Einschmuggeln der Bewußtseinsproblematikist eine wissenschaftliche Diskussion des Bewußtseinsproblems nach der Durchsetzung behavioristischer Methodenprinzipien praktisch unterblieben. Wie bereits im Hinblick auf den allgemeineren Begriff des »Psychischen« (vgl. Bd. 3/1 und 3/2 der »Texte zur Kritischen Psychologie«), so soll nun auch im Hinblick auf den Begriff des Bewußtseins als spezifisch menschlicher Ausprägungsform des Psychischen nachgewiesen werden, daß die 7

scheinbare Ununtersuchbarkeit des »Bewußtseins« kein allgemeiner Tatbestand ist, sondern aus den methodischen Grenzen einer bestimmten Psychologiekonzeption herrührt, die, weil sie mit ihren Mitteln das Bewußtsein nicht untersuchen kann, die ganze Fragestellung als illegitim eliminieren mußte. Auch hier soll deutlich werden, daß der Schein der Unfaßbarkeit des Bewußtseins nur dann entsteht, wenn sich die wissenschaftliche Forschung unhistorisch lediglich auf das Endresultat einschränkt, daß aber, sofern man die wesentlichen Züge des Bewußtseins aus den materiellen Notwendigkeiten seiner historischen Entstehung am konkreten Material aufweisen will, sich die wissenschaftliche Objektivierbarkeit und Kontrollierbarkeit der Erforschung des Bewußtseins wie von selbst ergibt. Auch an dieser Stelle soll also ein Problem der klassischen Psychologie, das von positivistischen Psychologiekonzeptionen her als wissenschaftliches Scheinproblem mißdeutet wurde, mit den Verfahrensweisen der materialistischen Dialektik aufgegriffen und einer wissenschaftlichen Klärung nähergebracht werden. Der Stellenwert dieses Unternehmens innerhalb der »Texte zur Kritischen Psychologie« ist ausführlich bereits früher (Schurig 1975 a, 9ff.) dargelegt worden, was hier nicht wiederholt zu werden braucht. Im Besonderen ist dieses Buch die Fortschreibung eines theoretischen Ansatzes, der als »Naturgeschichte des Psychischen« in seiner allgemeinen phylogenetischen Dimension an der Evolution tierischen Verhaltens entwickelt wurde und nun an den Bedingungen der Entstehung des Bewußtseins weitergeführt und konkretisiert werden soll. Die Evolution psychischer Leistungen im tierischen Verhalten führt in der Primatenevolution zu einem Entwicklungsstand, der hier in Anlehnung an Heberer (1956,1974) als >Tier-Mensch-Übergangsfeld< (TMU) bezeichnet wird und - neben verschiedenen anthropologischen Kriterien - durch eine Intensivierung der psychischen Informationsverarbeitung als >Bewußtsein< gekennzeichnet ist. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist die phylogenetisch erworbene Komplexität tierischer Lern- und Abstraktionsleistungen der nichthumanen Primaten, die ihrerseits auf der Evolution anderer Tierstämme beruht. Das Tier-Mensch-Übergangsfeld ist damit jener Wirklichkeitsbereich, aus dem nicht nur die Kriterien für die Merkmalkonfigurationen >pongid< und >hominid< entwickelt werden, sondern aus dem sich generell die Klassifikation der Organismen in >Tiere< und >Menschern entscheidet, je nachdem, ob sie die Fähigkeit besitzen, ihre Umgebung nur psychisch oder auf Bewußtseinsniveau widerzuspiegeln. Die Tier-Mensch-Beziehung erweist sich umgekehrt bei einer präzisen Fassung letztlich als nichts anderes als eine biologisierende Formulierung des Verhältnisses von Psychischem und Bewußtsein in organismischen Kategorien. Innerhalb des Tier-Mensch-Übergangsfeldes ergibt sich die besondere 8

Bewußtseinsproblematik aus der Divergenz der Beantwortung von zwei Fragen: 1.) Warum und durch welche Speziationen entstanden aus >subhumanen< Hominiden Menschen mit einem >humanen< psycho-physischen Status und 2.) Warum haben andere taxonomische Gruppen der Hominoidea wie die Menschenaffen diesen Übergang vom Psychischen zum Bewußtsein nicht vollzogen und sind auf einem >tierischen< psycho-physischen Status stehen geblieben. Die klassische darwinistische Streitfrage, in welchem Maße Menschenaffen und Menschen phylogenetisch miteinander verwandt sind, ist umgeschlagen in die differenziertere Problematik, inwieweit unter Voraussetzung einer gemeinsamen stammesgeschichtlichen Herkunft die Pongidenlinie eine Negation der menschlichen Entwicklung ist und das direkte tierische Gegenstück der Hominisation. In der folgenden Darstellung wird die naturgeschichtliche Dimension auf die Evolution der verschiedenen Primatengruppen als dem unmittelbaren phylogenetischen Vorfeld der Bewußtseinsentstehung beschränkt. Spitzhörnchen, Halbaffen, Neuweltaffen und Altweltaffen mit den Hominoidea bilden psycho-physische Entwicklungsstufen der Primatenordnung, die in der Ausbildung der Extremitäten, der Sinnesorgane, des Gehirns, der Fortpflanzungsbiologie und Sozialisation sowie den Kommunikationsmechanismen bereits zahlreiche Praedispositionen der spezifisch menschlichen Entwicklung enthalten. Es gibt, das ist die Maxime der folgenden Überlegungen, keine andere wissenschaftliche Möglichkeit, als die phylogenetisch erstmalige Entstehung des Bewußtseins eben aus diesem System körperlicher und psychischer Spezialisierungen äffischer Primaten im Zusammentreffen mit besonderen ökologischen Entwicklungsbedingungen abzuleiten. Insofern ist die Entstehung des Bewußtseins im Tier-Mensch-Ubergangsfeld gleichermaßen Höhepunkt wie Abschluß der Naturgeschichte des Psychischen. Ebenso kann es aber auch als Spezialfall des Psychischen verstanden werden, aus dessen phylogenetischer Entwicklung es sich ergibt. Da die Bewußtseinsentwicklung nach ihrer phylogenetischen Entstehung ein Prozeß ist, der sich nur allmählich und in den einzelnen Merkmalen nicht synchron durchsetzt, wurden auch die ersten Etappen der »immanentem Bewußtseinsbildung bei Frühmenschen in die Darstellung mit aufgenommen. Den Bezugsrahmen bildet hier die Evolution der fossilen Hominiden vom Australopithecus, der Homo erectus-Gruppe bis zum Homo sapiens der Alt-Steinzeit. Die archaischen Bewußtseinsformen entsprechen hier der Primitivität der Produktionsformen als Jäger und Sammler, aus denen sich andererseits bestimmte generelle Unterscheidungskriterien des Bewußtseins gegenüber tierischen Vorformen ableiten lassen. Insgesamt erfaßt die hier beschriebene Entwicklung des Bewußtseins gegenüber der Psychophylogenese einen relativ begrenzten Zeitraum, der von der Abspaltung der Hominiden vor ca. 20 Millionen Jahren über das wahr9

scheinlich im Pliocän vor ca. 10-5 Millionen Jahren liegende TierMensch-Ubergangsfeld bis zum Beginn des Mesolithicums vor ca. 10000 Jahren reicht. Im Vergleich zu den 100 Jahren, seit denen psychologische Experimente durchgeführt werden, ist diese Periode damit allerdings doch nahezu eine empirische Leerstelle, deren wesentliche Entwicklungsstadien stark hypothetischer Natur sind. Die Übertragung der Abstammungsverhältnisse von körperlichen Merkmalen hat sich für die Homologisierung von tierischem Verhalten durchgesetzt (Wickler 1967, Mayr 1973) und ist aus zoologischer Sicht auch als Forderung für die Evolution psychischer Prozesse formuliert worden (Rensch 1972, Hofer & Altner 1972). Die empirische Präzisierung wichtiger Problemstellungen der Hominisation hat einerseits das Interesse auf die schwieriger faßbaren psycho-physischen Beziehungen, insbesondere die Bewußtseinsproblematik, gelenkt, andererseits bleiben die naturwissenschaftlichen Daten in jedem Fall die Induktionsbasis einer phylogenetischen Rekonstruktion der Bewußtseinsentwicklung der ersteh humanen Hominiden. Aus dieser Entwicklung heraus haben sich so einmal aus der Primatologie (z. B. seit dem 1. Kongreß der Internationalen Primatengesellschaft in Frankfurt/M 1966, aber auch in zahlreichen Publikationen), aus der Anthropologie (z. B. Kurth 1968, Camphell 1972, Heberer 1974) sowie aus zentral auf die Hominisationsproblematik konzentrierten Sammelbänden (z. B. Washburn & Dolhinow 1972, Kurth & Eibl-Eibesfeldt 1975) zahlreiche empirisch gesicherte Tatbestände ergeben, die eine Konzeption der Bewußtseinsentstehung im Tier-Mensch-Ubergangsfeld und der Bewußtseinsentwicklung bei frühen Hominiden in jedem Fall tragen. Die vorliegende Darstellung versucht, über die primatologische, anthropologische und ethologische Faktizität hinaus, Problemebenen, Problemstellungen sowie kategoriale Bezüge zu systematisieren, und sie zu der psychologischen Bewußtseinsproblematik in Beziehung zu setzen. Langfristig ist die Objektivierung der psycho-physischen Entwicklungsebene in der Hominisation und dem Tier-Mensch-Ubergangsfeld sowohl von Standpunkt der naturwissenschaftlichen Anthropologie als vor allem auch von dem psychologischen Bewußtseinsproblem selbst her unumgänglich, da sie die verschiedenen privaten Bewußtseinsvorstellungen über diese Periode durch eine wissenschaftliche Theorie ersetzen kann und psychologisch zur empirischen Konkretisierung des Bewußtseinsbegriffes beiträgt. In den »Texten zur Kritischen Psychologie« ist auf die Problematik des Tier-Mensch-Übergangsfeldes bereits mehrfach Bezug genommen worden (vgl. Holzkamp 1973, 107-128). Einige wesentliche theoretische und methodologische Aspekte der Bewußtseinsgenese in ihrer psychologischen Spezifik können deshalb vorausgesetzt werden. Dies trifft vor allem auf die Herausbildung einer spezifisch menschlichen Wahrnehmungsleistung, die 10

hier deshalb nur in ihren sinnesphysiologischen Grundlagen als Veränderung der funktionellen Rangordnung zwischen den einzelnen Receptorbereichen in der Primatenevolution betrachtet wird, und auf die Entstehung einer sprachlich-symbolischen Repräsentation der Außenwelt über verschiedene Gegenstandbedeutungen zu (Holzkamp 1973, 128-147), die durch die Einbeziehung der Evolution akustischer Lautgebung bei äffischen Primaten weitergeführt und präzisiert werden soll (vgl. 8.). Die Phylogenese tierischer Sozialstrukturen ist in den »Grundlagen der psychologischen Motivationsforschung I« (Holzkamp-Osterkamp 1975, 186-217) bereits dargestellt worden und wird für die Bedingungen der Primatenevolution spezifiziert. Hier (Holzkamp-Osterkamp 1975, 261 ff.) findet sich auch eine weiterführende Analyse früher Bewußtseinsformen, insbesondere die Auswirkungen der neolithischen Revolution und der entstehenden Warenproduktion auf die Bewußtseinsentwicklung, so daß der Abschnitt über Denkformen und der Bezug auf ethnologische Sachverhalte kurz gehalten werden konnte. Die häufige und systematisch betriebene Reflektion über die psychophysischen Entwicklungsbedingungen des Tier-Mensch-Übergangsfeldes sind keineswegs nur Ausdruck eines besonderen subjektiven Interesses, sondern resultieren aus der empirischen Spezifik dieses Entwicklungsabschnittes sowie methodologisch aus einem sich verändernden Verständnis des Verhältnisses von Psychologie und Naturwissenschaft. Jeder Aspekt der menschlichen Bewußtseinsbildung verfügt außer über seine gesellschaftliche Spezifik auch noch über eine besondere phylogenetische Herkunft von tierischen Vorformen. In dem Moment, wo die Bedeutung der Naturgeschichte des Psychischen für eine kausale Begründung gesellschaftlicher Bewußtseinsentwicklung erkannt wird, ergibt sich zwangsläufig, gleichgültig, ob es sich um lerntheoretische, wahrnehmungsoder motivationspsychologische Fragestellungen handelt, die Notwendigkeit einer Präzisierung des Uberganges von der tierischen,menschlichen j bzw. von der phylogenetischen zur gesellschaftlich-historischen Entwick- f 1ung*und damit die zentrale Stellung des Tier-MenscE-Ubergangsfeldes. Das Besondere der nachfolgenden Darstellung besteht dariny daß hier die Relevanz des Tier-Mensch-Übergangsfeldes für die psychologische Theorienbildung nicht aus einer speziellen psychologischen Problematik abgeleitet wird, sondern die Anatomie eines äußerst wichtigen psycho-physischen Entwicklungssprunges in seiner empirischen Selbständigkeit im einzelnen dargelegt und seine allgemeine theoretische Bedeutung für die Gegenstandsbestimmung der Psychologie nachgewiesen werden soll. Hier liegen allerdings notwendigerweise auch die Grenzen der folgenden Darstellung, da die Konzentration auf die Erfassung naturwissenschaftlicher Sachverhalte notwendigerweise zu einer Zurückstellung einer explizi11

ten Auseinandersetzung mit erkenntnistheoretischen und philosophischen Problemstellungen einer >Bewußtseinspsychologie< führt. Dieses Vorgehen entspricht der Einsicht, daß es wissenschaftlich adäquater ist, sich auf einem so spekulativen Gebiet wie der Rekonstruktion früher Bewußtseinsformen fossiler Hominiden der in vielen Punkten zweifellos noch dünnen Decke empirisch-induktiver Verallgemeinerungen naturwissenschaftlicher Hypothesen über die Bedingungen der Primatenevolution anzuvertrauen und sich mit ihnen zu irren, als den Weg einer theoretisch-spekulativen Konstruktion einzuschlagen. Die Gefahr liegt hier weniger darin, daß sich die mit scheinbarer Präzision vorgebrachten und aus nicht überprüften Prämissen abgeleiteten Bedingungen einer Bewußtseinsentwicklung nur als anthropomorphe Extrapolationen eigener Subjektivität erweisen könnten, sondern daß eine derartige Selbsterfahrung nicht phylogentisch weit genug zurückreicht und das Verständnis der Andersartigkeit von Bewußtseinsformen früher Hominiden gerade ausschließt (vgl. 10.2.2.). Bereits die gegenwärtig ethnologisch noch erfaßbaren Denkstrukturen von Naturvölkern, deren Entwicklungsstand annäherungsweise Rückschlüsse etwa auf die Bewußtseinsformen von Hominiden in der Alt-Steinzeit gestatten, zeigen Unterschiede, die das moderne Denken nur unter großen Anstrengungen noch >verstehen< kann. Eine Schwierigkeit besteht auch darin, daß es verschiedene Erscheinungsformen »magischen Denkens< in den rationalen Strukturen der gegenwärtigen Sprache fixieren muß, die sich aber gerade gegenüber diesen Tatbeständen als sehr schwerfällig erweist. Es ist deshalb nicht auszuschließen, daß frühe Bewußtseinsformen ebensowenig zu versteh en< sind wie tierisches Verhalten und subjektives Einfühlen kein Maßstab einer objektiven Entwicklungstheorie des Bewußtseins ist. Nicht näher eingegangen werden kann z. B. auch auf die sich aus dem Tier-Mensch-Ubergangsfeld ergebenden theoretischen Konsequenzen für eine empirische Gegenstandsbestimmung der Psychologie und ihre erkenntnistheoretische Reflektion etwa in dem Verhältnis von Tierpsychologie und Humanpsychologie. In gewisser Weise bleibt die Bedeutung des Tier-Mensch-Ubergangsfeldes invariant sowohl gegenüber einer >weiteren< Lösung, bei der jede Art der psychischen Entwicklung auch psychologische Aussagen notwendig macht und damit bereits Probleme der Informationsverarbeitung bei Tieren mit in den empirischen Gegenstand der Psychologie einschließt, als auch gegenüber einer >engeren< Lösung, die nur auf Bewußtseinsfunktionen des Menschen beschränkt wird. Im ersten Fall wird das Tier-Mensch-Ubergangsfeld zu der Verallgemeinerung des wichtigsten Entwicklungssprunges, dem Übergang vom Psychischen zum Bewußtsein, bei der zweiten Lösung dagegen identisch mit der historischen Entstehung des Gegenstandes der Psychologie selbst. In jedem Fall ist das Tier-Mensch-Ubergangsfeld jener Wirklichkeitsbereich, über den aus sei12

ner empirischen Spezifik heraus die Lösung dieses psychologischen Grundproblems vorangetrieben werden kann und der keinesfalls nur einen beliebig handhabbaren naturwissenschaftlichen Bezugsrahmen abgibt. Eine weitere Vernachlässigung betrifft die Auseinandersetzungen mit den Theorien der klassischen Bewußtseinspsychologie. Bereits seit der Verselbständigung der Psychologie als Einzelwissenschaft im 19. Jahrhundert bestand auch in Fragen der Bewußtseinsforschung ein intensiver Austausch mit Problemen der naturwissenschaftlichen Theorienbildung, der sich jedoch auf eine analogisierende Übernahme von Modellvorstellungen beschränkte. Z. B. beruht die Annahme der klassischen Bewußtseinstheorie, daß sich eine atomare Struktur des Psychischen von elementaren Einheiten (Empfindungen) über die komplexere Wahrnehmung als Summe der Empfindungen bis zum Bewußtsein nachweisen lasse, letztlich auf der Übernahme empirischen Erfahrung aus der Physik und der Biologie, wo sich durch die Atomtheorie und die Zellentheorie eine derartige >körnige< Struktur der Realität experimentell hat nachweisen lassen. Entgegen dieser strukturalistischen Auffassung liegt die eigentliche Problemspezifik der psychologischen Organisation des Bewußtseins wahrscheinlich aber in dem zeitlichen (historischen) Ablauf seiner verschiedenen Erscheinungsformen in Abhängigkeit von der Änderung der biologischen und gesellschaftlichen Umwelt. Da die Bewußtseinsauffassung der marxistischen Psychologie im wesentlichen die theoretische Realisation einer derartigen >dynamischen< Bewußtseinskonzeption ist (obwohl sie gerade in ihrer typischen Ausbildung z. B. bei Rubinstein [1972] noch stark strukturalistisch orientiert bleibt), bietet sie eine günstigere Plattform für eine Auseinandersetzung. Allerdings kann auch hier durch die Komplexität der Diskussion nicht auf die innere Widersprüchlichkeit z. B. zwischen der Rubinsteinschen Bewußtseinsauffassung als Verhältnis von >Sein und Bewußtsein< einerseits und der Ableitung einer historischen Gegenstandsentwicklung aus der »Entwicklung des Psychischen< (Leontjew 1973) oder der Entstehung eines besonderen bürgerlichen Bewußtseins aus den kapitalistischen Produktionsbedingungen (Holzkamp 1973) andererseits eingegangen werden, sondern es sind nur einige kritische Anmerkungen möglich, die der empirischen Spezifik entsprechend sich vor allem auf das allgemeine Verhältnis der gesellschaftlich-historischen Bewußtseinsentwicklung und ihrer verschiedenen phylogenetischen Vorformen beziehen. So enthält z. B. die Marx'sche Aussage »Das Bewußtsein ist . . . von vornherein ein gesellschaftliches Produkt und bleibt es, solange überhaupt Menschen existieren« (MEW 3,30) die gegenüber der klassischen Bewußtseinspsychologie völlig neuartige Einsicht der kausalen Zusammenhänge zwischen Produktionsverhältnissen und Bewußtseinsbildung, die in der modernen Psychologie 13

mit all ihren empirischen und methodologischen Konsequenzen bisher keineswegs vollständig in die einzelwissenschaftliche Spezifik umgesetzt worden ist. Andererseits erweist sich die apriorische Setzung eines >vornherein< der Bewußtseinsbildung für einen bestimmten Entwicklungsstand der psychologischen Theorienbildung aber auch als methodologisches Hindernis, wenn der universelle, die Einheit von naturhistorischen und gesellschaftlich-ökonomischen Faktoren charakterisierende Aspekt der Bewußtseinsentwicklung zur Diskussion steht. Sämtliche folgenden Überlegungen lassen sich deshalb auch als Umkehrung dieses Satzes formulieren: Die Bewußtseinsentstehung im Tier-Mensch-Übergangsfeld ist von »vornherein nur als phylogenetisches Produkt der biologischen Evolution zu verstehen. Wie ersichtlich, handelt es sich nicht um alternative Aussagen, sondern um eine Erweiterung und Vertiefung der Erfassung des Entwicklungscharakters des Bewußtseins. Da die Marx'sche Aussage nur das Verhältnis von Bewußtseins- und Gesellschaftsform in besonders prononcierter Artikulation enthält, kann hier unter Voraussetzung der Gültigkeit dieser Beziehung ebenso die besondere Bedeutung naturgeschichtlicher Vorformen des Bewußtseins ihr gegenüber in einer kritischen Interpretation verdeutlicht werden. Problematischer ist dagegen das Verhältnis zu selbständigen metapsychologischen Konzeptionen der marxistischen Psychologie wie z. B. die Abbild- und Widerspiegelungstheorie. Obwohl hier diese Begriffe gelegentlich herangezogen und ihnen auch eine spezifische inhaltliche Bedeutung zugeordnet wird, bleibt doch zu fragen, welche psychologische und erkenntnistheoretische Relevanz ihnen zukommt. In letzter Konsequenz kann eine an den phylogenetischen und gesellschaftlich-historischen Entwicklungsbedingungen orientierte psychologische Bewußtseinstheorie auf eine zusätzliche Abbildtheorie verzichten, da eben diese sich ändernden physiologischen, ethologischen und ökonomischen Prozesse mit den Widerspiegelungsmechanismen identisch sind. Möglicherweise wird sich deshalb wissenschaftshistorisch eine selbständige Widerspiegelungstheorie, die in der gegenwärtigen marxistischen Psychologie noch eine zentrale Rolle spielt, nur als eine besondere Begleiterscheinung strukturalistischer Bewußtseinsauffassungen erweisen, die in dem Maße überflüssig wird, wie sich eine vollständige Historisierung des Gegenstandes der Psychologie durchsetzt. Die Konstruktion besonderer Widerspiegelungsmechanismen wäre dann lediglich eine Ersatztheorie für den tatsächlichen Prozeß der Bewußtseinsbildung, den sie auf einer abstrakten Ebene vorwegnimmt, mit dessen empirischer Konkretisierung sie letztlich aber auch überflüssig wird. Derartigen Problemebenen der Bewußtseinspsychologie gegenüber bleiben theoretische Reflektionen hier auf eine empirische Präzisierung des Verhältnisses von Psychologie und Naturwissenschaft beschränkt, indem 14

verschiedene allgemeine Aussagen der »Naturgeschichte des Psychischen< am Beispiel der Bewußtseinsentstehung konkretisiert werden. Die dabei angestrebte >Umstülpung< des psycho-physischen in einen phylogenetischen Ansatz läßt sich zugleich als der Ubergang von einer theoretischen zu einer empirischen Begründung des Verhältnisses von Biologie und Psychologie verstehen. Die klassische Plattform für die Beziehungen beider Wissenschaften bildete die Physiologie, da sie während der Verselbständigung der Psychologie die methodisch präziseste biologische Spezialdisziplin war, die aber auch gegenwärtig empirisch in enger Beziehung zu der psycho-physischen Problematik steht. Wissenschaftshistorisch wichtigstes Produkt dieser Verbindung war die physiologische Psychologie. Die Weiterentwicklung der Biologie führte in der Folge aber zu einem ganzen System zoologischer Spezialdisziplinen, für die sich nicht mehr ohne Zwang entscheiden läßt, welcher eine Priorität in dem Verhältnis zur Psychologie zukommt. Neben einer genetischen Untersuchungsebene mit der Analyse des Einflusses von Erbfaktoren auf die psychische Entwicklung ist die physiologische Betrachtungsweise außerdem durch die empirischen Fortschritte der Verhaltensforschung relativiert worden. Da die Ethologie biologisch gesehen die komplexesten Funktionseinheiten des Organismus, das tierische Verhalten, untersucht, ergibt sich aus ihrer methodischen Stellung innerhalb der Biologie, daß sie von ihrem Gegenstand her die engste Beziehung zu psychologischen Fragestellungen besitzt. Der erwähnte Übergang von einer theoretischen (bzw. wissenschaftshistorischen) zu einer empirischen Begründung des Verhältnisses Biologie-Psychologie ist deshalb keineswegs so zu verstehen, daß die bisherige Rolle der Physiologie durch die Ethologie ersetzt wird, sondern intendiert vielmehr allgemeiner, daß die Beziehung Biologie-Psychologie nicht mehr von dem historischen Entwicklungsstand einzelner biologischer Spezialdisziplinen wie der Physiologie oder Ethologie theoretisch abhängig ist, sondern die innere methodische und erkenntnistheoretische Differenzierung der Biologie eine Ableitung der psychischen Spezifik aus der tatsächlichen, phylogenetischen Entwicklung der Organismen ermöglicht, die dann genetisch, physiologisch, ethologisch usw. präzisiert werden kann. Eine evolutionstheoretische Ableitung der Bewußtseinsentstehung aus tierischen (Verhaltens-)Vorformen als der umfassendere Ansatz schließt also das spezielle physiologisch-psychische Verhältnis mit ein. Zur Verdeutlichung der methodischen Unterschiedenheit verschiedener Ansätze innerhalb des allgemeineren Rahmens einer naturwissenschaftlichen Begründung des Bewußtseins sollen zunächst einige Untersuchungsprinzipien gegenübergestellt werden.

15

1. Naturwissenschaftliche Methoden zur Untersuchung des Bewußtseins

Das Verhältnis von Biologie und Psychologie ist eine spezifische wissenschaftstheoretische Formulierung einer inhaltlichen Problemstellung: des psycho-physischen Problems, das seinerseits den theoretischen Rahmen für die Entstehung des Bewußtseins bildet. Es sollen deshalb, bevor auf die erkenntnistheoretischen und methodischen Beziehungen beider Wissenschaften genauer eingegangen wird, einige Besonderheiten und die systematische Stellung des psycho-physischen Problems innerhalb vergleichbarer wissenschaftlicher Grundlagenprobleme hervorgehoben werden, da sie auch die Entstehung des Bewußtseins in seiner Einzigartigkeit verständlich werden lassen. Da lebende Systeme einmal über ihre entwickeltsten Strukturen, die verschiedenen Nervensysteme, eine besonders intensive Informationsverarbeitung hervorbringen, die hier als Psychisches bzw. als Bewußtsein bezeichnet wird, andererseits sich Organismen phylogenetisch aus anorganischen Stoffen entwickelt haben, ist es naheliegend, das psychophysische Problem, das den Gegenstand der Biologie gegenüber der Psychologie »nach oben< abgrenzt, mit der Entstehung des Lebens, der definitorischen Abgrenzung lebender Strukturen >nach unten< gegenüber der Physik, zu vergleichen. Der kausale Entwicklungszusammenhang zwischen physikalischen und biologischen Systemzuständen ist sowohl in der Kette der globalen Ubergangsformen (z. B. Koazervate, Protobionten, Eobionten usw.) als auch in den einzelnen biochemischen Entwicklungsstufen (z. B. der Entstehung von Aminosäuren aus elementareren Bausteinen) erschlossen und in einigen Phasen auch experimentell unter Laborbedingungen reproduzierbar. Obwohl zunächst vor allem durch statistische Berechnungen auf die extreme Unwahrscheinlichkeit der Entstehung des Lebens hingewiesen wurde, ist der Übergang hochdifferenzierter physikalischer Systeme zu qualitativ neuen - biologischen - Systemeigenschaften (z. B. Stoffwechsel, genetische Reproduktion), naturwissenschaftlich gegenwärtig unbestritten. Unabhängig von bestimmten erkenntnispsychologischen Gemeinsamkeiten zwischen der Entstehung des Lebens und dem psycho-physischen Problem - beide reproduzieren z. B. gedanklich extrem lange Entwicklungszeiträume, so daß jede sinnlich-konkrete Vorstellung über den kausa16

len Zusammenhang zwischen Ausgangs- und Endformen verlorengeht unterscheiden sich beide Probleme in entscheidenden Punkten inhaltlich: a.) Die psycho-physische Beziehung ist insofern komplizierter, da sie entwicklungsgeschichtlich bereits die Entstehung des Lebens voraussetzt. Erst wenn die Organisationsstruktur biologischer Systeme einen bestimmten Komplexitätsgrad erreicht hat (z. B. die Existenz mehrzelliger Organismen mit Receptoren und Nervensystemen sowie genetische Informationsweitergabe über Mitose und Meiose) wird die Ebene des psychischen Informationsaustausches erreicht. Psychische Prozesse sind der funktionell am höchsten entwickelte Informationswechsel der Organismen, die phylogenetisch deshalb auch am spätesten entstehen und materiell immer an die besonderen Bedingungen lebender Strukturen (DNA, Eiweiße usw.) gebunden sind. Die Psychogenese ist deshalb nur ein spezifisches Entwicklungsprodukt der Evolution der Organismen, aber nicht identisch mit der Biogenese selbst. b.) Obwohl es sich bei der Entstehung des Lebens und dem psycho-physischen Problem um die theoretische Reflektion zweier besonders genereller Entwicklungssprünge in der objektiven Realität handelt, sind beide Ubergänge naturphilosophisch klar unterschieden. Die Entstehung des Lebens ist die Verallgemeinerung des Kausalzusammenhanges unterschiedlich hochorganisierter Bewegungsformen der Materie, des Anorganischen und des Organischen. Das psycho-physische Problem untersucht dagegen die Abhängigkeit ideeller Prozesse von den spezifischen materiellen Voraussetzungen. Die Charakterisierung der ideellen Natur des Psychischen etwa gegenüber materiell-substantiellen Prozessen ist dann auch eine zentrale Schwierigkeit des psycho-physischen Problems, da sich ideelle Prozesse jeder gegenständlichen Interpretation durch bestimmte räumliche Ausdehnungen, substantielle Eigenschaften usw. entziehen. Solange auf der naturphilosophischen Denkebene das Verhältnis von Materiellem und Ideellem nicht geklärt ist, bleibtauch das psycho-physische Problem als eine spezifisch einzelwissenschaftliche Formulierung dieses Verhältnisses notwendigerweise unbestimmt. Der gegenwärtige Entwicklungsstand ist dabei zweifellos so, daß dem Begriff des Psychischen teilweise noch jener mystische Charakter eigen ist, den auch der Begriff des Lebens vor der Darwinschen Evolutionstheorie Mitte des 19. Jahrhunderts besaß, obwohl sich, besonders durch die Informationstheorie, bereits mehrere Möglichkeiten einer quantitativen Präzisierung ergeben. Der zweite Punkt zeigt, daß das psycho-physische Problem - und damit auch die Entstehung des Bewußtseins - im Gegensatz zur Entstehung des Lebens kein naturwissenschaftliches Problem ist, sondern nur eine naturwissenschaftliche Seite besitzt, die über die Naturgeschichte des Physischen erfaßbar wird. Da die naturwissenschaftliche Methodologie immer nur die 17

Reflektion der besonderen materiellen Eigenschaften ihrer Untersuchungsgegenstände ist, muß eine schematische Übertragung dieses methodischen Vorgehens auf ideelle Prozesse - etwa durch das gelegentlich vertretene Programm der >Verwissenschaftlichung< der Psychologie in ihrer Konzipierung als Naturwissenschaft - letztlich gerade an der Spezifik des Ideellen scheitern. Das psycho-physische Problem ist damit zugleich die Formulierung einer objektiven Grenze der Anwendbarkeit naturwissenschaftlicher Methodik, was aber keinesfalls bedeutet, daß psycho-physische Beziehungen nur partiell wissenschaftlich rationalisierbar wären. Die Grenzen der Naturwissenschaft sind nicht die Grenzen des wissenschaftlichen Vorgehens überhaupt, sondern hier beginnt die Eigenständigkeit der psychologischen Methodik eben als Reflektion der besonderen Eigenschaften ideeller Prozesse. Eine erste Möglichkeit, das psycho-physische Problem unterhalb der erkenntnistheoretischen Gegenüberstellung von Biologie-Psychologie präziser zu fassen, besteht in der wissenschaftstheoretischen Zuordnung verschiedener Spezialdisziplinen z. B. als Verhältnis von Neurophysiologie/ Neuropsychologie usw. Die Nachteile eines derartigen Vorgehens sind: a.) Gegenwärtig existiert ein kompliziertes Netz von biologischen, medizinischen und psychologischen Spezialdisziplinen, durch die jeweils verschiedene Aspekte des psycho-physischen Problems genauer erfaßt werden. Neben >passenden< Spezialisierungen, wenn z. B. die gleiche Fragestellung jeweils unter biologischen und psychologischen Gesichtspunkten methodisch unterschiedlich angegangen wird - existieren aber auch >einarmige< biologische oder psychologische Spezialisierungen ohne Pendant oder statt einer doppelten biologisch-psychologischen Fassung nur >einfach< festgelegte Wissenschaftsgebiete (z. B. Psychosomatik). Das Verhältnis der biologischen und psychologischen Spezialdisziplinen ist deshalb nicht als ein Schlüssel-Schloß-Prinzip zu verstehen, sondern zeigt zahlreiche empirisch und methodisch bedingte > Verwerfungen. b.) Das Netz der psycho-physischen Spezialdisziplinen ist keine Konstante, sondern einem permanenten historischen Änderungsprozeß unterworfen. Während z. B. die Psychophysik, die während der Verselbständigung der Einzelwissenschaft Psychologie noch eine wesentliche Plattform für den Austausch biologischer und psychologischer Fakten und Hypothesen war, heute meist in kybernetischer Form auftritt (vgl. Klix 1973), hat die aus der gleichen Epoche stammende physiologische Psychologie ihre theoretische Bedeutung zumindest im Ausbildungsbereich behalten (vgl. Birbaumer 1975), während Probleme der psycho-physischen experimentellen Grundlagenforschung gegenwärtig überwiegend unter dem Begriff >Neuropsychologie< verallgemeinert werden. Zu dem historischen Veränderungsprozeß gehört auch, daß sich über das Verhältnis von Biolo18

gie-Psychologie hinaus z. B. mit der medizinischen Psychologie völlig neue Ubersetzungsplattformen in anderen Wissenschaftsbereichen herausgebildet haben. Während so einerseits durch den experimentellen Fortschritt neue Spezialwissenschaften wie etwa die Psychopharmakologie, Gehirnchirurgie usw. entstehen, so werden am anderen Ende dieser Entwicklung ständig die leeren Hüllen absterbender Einzelwissenschaften abgestoßen, so daß eine wissenschaftstheoretische Fixierung lediglich kategoriale Momentaufnahmen dieses Prozesses abbilden kann. c.) Eine weitere Schwierigkeit der wissenschaftstheoretischen Präzisierung des psycho-physischen Problems ist schließlich auch das Fehlen einer verbindlichen internen Wissenschaftsklassifikation der Biologie und Psychologie selbst, die gegenüber den verschiedenen psycho-physischen Einzelwissenschaften als Bezugssystem dienen könnte. Während in der Biologie die Existenz der verschiedenen hierarchischen Organisationsebenen des Organismus als empirischer Maßstab für die Wissenschaftsspezialisierung herangezogen werden kann (Meyer-Abich 1963, Rochhausen 1966), überträgt sich die Verschiedenartigkeit der psychologischen Gegenstandsbestimmung dann auch in eine Unbestimmtheit des theoretischen Zusammenhanges zwischen den psychologischen Spezialdisziplinen. Unter diesen Bedingungen, deren Liste sich noch verlängern ließe, reduziert sich die spezifisch wissenschaftstheoretische Erfassung des psychophysischen Problems der von ihm verursachten Wissenschaftsspezialisierung lediglich auf bestimmte Ordnungsfunktionen, indem etwa die Mehrgleisigkeit methodischer und theoretischer Entwicklungen, wie sie sich in der partiellen Überlappung von physiologischer Psychologie, Neuropsychologie und medizinischer Psychologie bereits ankündigt, rechtzeitig erkannt und vermieden wird, oder eine Standortbestimmung der verschiedenen Austauschbewegungen zwischen Biologie und Psychologie vor dem Hintergrund dieses theoretischen Bezugssystems vorgenommen werden kann. Eine zweite Möglichkeit, die Erkenntnisbewegungen zwischen Biologie und Psychologie metatheoretisch zu systematisieren, ist die Gegenüberstellung verschiedener methodischer Vorgehensweisen in ihrem inneren Zusammenhang. Obwohl sich mehrere Alternativen formulieren lassen, soll hier jedoch nur das Verhältnis von analytischer und synthetischer Betrachtung des psycho-physischen Problems und ihre wechselseitige Abhängigkeit genauer dargestellt werden.

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1.1. Der psycho-physische Ansatz Allgemein wird durch analytisch-experimentelle Methoden eine Zerlegung globaler psychischer Phänomene wie Gedächtnis, Wahrnehmung usw. in spezifischere Kausalbeziehungen angestrebt. Dabei lassen sich die einzelnen experimentellen Methoden (z. B. Mikroelektrodenableitung, EEG) zu einer komplexeren Methodik (Elektrophysiologie) zusammensetzen, die ihrerseits in der Logik der Aufeinanderfolge mit anderen experimentellen Verfahren die Methodologie des analytischen Vorgehens bildet. Einige biologische Analyseebenen des psycho-physischen Problems und ihre spezifischen Untersuchungsmethoden sollen nun kurz angeführt werden. Einen der historisch ältesten Konkretisierungsversuche des psycho-physischen Zusammenhanges, der sowohl faktisch wie logisch die Voraussetzungfür alle weiteren Analyseschritte bildet, ist die Frage nach der Lokalisation psychischer Prozesse im Organismus, deren funktionelle Bindung an das ZNS zunächst keineswegs selbstverständlich war. Von den physiologischen und morphologischen Methoden, die einer möglichst genauen Lokalisation möglichst spezifischer psychischer Leistungen in den verschiedenen Hirngebieten nachgehen, können hier nur drei erwähnt werden: a.) Nachdem Gall vor ca. 200 Jahren in der Phrenologie bereits den Versuch unternommen hatte, verschiedene Charaktereigenschaften besonderen Schädelpärtien zuzuordnen, konnte später auf einer wesentlich präziseren Ebene durch cytoarchitektonische Untersuchungstechniken wahrscheinlich gemacht werden, daß der zelluäre Aufbau der Hirnrinde sowohl was die Zellform als auch die Zellmenge betrifft, in verschiedenen Rindenbezirken variiert. Neben diesem cytoarchitektonischen Aufbau der Hirnrinde wird auch ein besonderes Faserbild (Myeloarchitektur) angetroffen. Obwohl sich die von Brodmann eingeführte Gliederung der Hirnrinde in verschiedene funktionelle Felder auf der Basis histologischer Unterschiede nicht als durchgängiges Organisationsprinzip erwiesen hat - andererseits bestehen z. B. zwischen dem Gyrus praecentralis mit besonders großen Pyramidenzellen und etwa dem Occipitallappen sowohl histologisch wie funktionell klar definierte Unterschiede ist die Zuordnung psycho-physischer Leistungen zu spezifisch lokalisierten funktionellen Feldern, die durchnummeriert werden, beibehalten worden. Neben der allgemeinen Lokalisation der Sensorik im Gyrus postcentralis und der Motorik im Gyrus praecentralis können dann wieder verschiedene akustische, somato-sensible usw. Projektionsfelder unterschieden werden (z. B. die Area 17 im Occipitallappen als primäres Zentrum optischen Sehens und Area 18 und 19, den optischen Assoziationszentren usw.) b.) Durch Reizung mit Tiefenelektroden und stereotaktische Eingriffe sind im Gehirn auch subcortikal besondere funktionelle Zentren lokalisierbar. Dies gilt für zahlreiche unspezifische vegetative Reaktionen wie Schweißabsonderung, Blasenentleerung, aber auch komplexere Funktionsabläufe wie Nahrungsaufnahme, Aggressionsverhalten und Schlafen. Verallgemeinernd konnte z. B. für den Hypothalamus durch Reizversuche nachgewiesen werden, daß in seinem caudalen

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Abschnitt sympathische, aktivitätserhöhende Funktionszentren lokalisiert sind, im rostralen Abschnitt dagegen durch elektrische Reizung parasympathische Leistungen aktiviert werden. In zahlreichen Fällen, vor allem bei komplexen motorischen Reaktionen, im sexuellen Verhaltensbereich und bei Aggressionsverhalten, hat sich aber die Annahme streng lokalisierter Zentren als zu einfach erwiesen. Z. B. besteht bei extrapyramidalen motorischen Funktionen eine enge Wechselwirkung zwischen Nucleus ruber und dem Striatum ebenso wie beim Aggressionsverhalten mehrere Hirn- und Kerngebiete mit unterschiedlich fördernden und hemmenden Einflüssen wirksam sind. Auch für allgemeine nervöse Funktionen wie die Gedächtnisbildung lassen sich zwar lokale Zentren finden, deren Spezialisierungsgrad und Funktionszusammenhang aber noch weitgehend unbekannt ist. So führt der beidseitige Funktionsverlust des Hippocampus z. B. als Folge des Alkoholismus auch zu einem Ausfall neuer Gedächtnisleistungen, während vor dem Ausfall gespeicherte Informationen weiter abrufbar sind (Korsakow-Syndrom). Andererseits sind Gedächtnisleistungen wahrscheinlich nicht nur im Hippocampus lokalisiert, sondern auch im frontalen Cortex und dem Septum. c.) Von großer medizinisch-praktischer Bedeutung ist die Lokalisation psychologischer Leistungen oder psychopathologischer Störungen als Folge von Hirnverletzungen, Tumoren oder chirurgischen Eingriffen. Z. B. kommt es bei der Lobektomie (Entfernung des Stirnhirns) und der Leukotomie (Durchtrennung der Faserverbindung zwischen Thalamus und Stirnhirn) zu starken Persönlichkeitsveränderungen, was nahelegt, wesentliche Komponenten der Persönlichkeit und des sozialen Bewußtseins gehirnanatomisch in das Stirnhirn zu lokalisieren (vgl. 6.3). Auch psychopathologisch zeigt sich die Lokalisation psychischer Leistungen häufig in charakteristischen Ausfallerscheinungen. So führt etwa die einseitige Zerstörung der Parietalrinde zum Ausfall der sensorischen Leistungen auf der Körpergegenseite, Störungen der Assoziationszentren zur Agnosie, d. h. zur Unfähigkeit zu erkennen, obwohl die entsprechenden Sinnesbahnen noch intakt sind, oder die Verletzung des sensorischen oder motorischen Sprachzentrums zu entsprechenden Ausfallerscheinungen im Sprachvorgang.

Allgemein sind die Lokalisationsvorstellungen über den Zusammenhang spezieller psychischer Leistungen mit entsprechenden Hirnstrukturen des ZNS durch zwei Entwicklungen immer komplizierter geworden. Einmal mußte die Vorstellung punktueller räumlicher Funktionszentren durch Modellvorstellungen über die Verschaltung nicht nur hierarchisch organisierter Informationsebenen, sondern auch hemmender und erregender Zentren in verschiedenen Hirngebieten ersetzt werden, zum anderen führte die psychologische Differenzierung verschiedener Aspekte des Bewußtseins auch zu genaueren Lokalisationsforderungen, indem nun z. B. spezifisch etwa nach visuellen oder akustischen Gedächtnisleistungen gefragt wird. Aber auch wenn man die innere Entwicklung der Lokalisationsvorstellungen in der Hirnforschung berücksichtigt, bleibt die räumliche Zuordnung nervaler Leistungen zu definierten Hirnstrukturen zunächst noch eine nur phänomenale Beschreibung der psycho-physischen Kausali21

tat, an die sich in logischer Konsequenz eine physiologische Analyse der Mechanismen dieser verschiedenen ZNS-Funktionen anschließt. Die materiellen Träger der zentralnervösen Informationsverarbeitung sind ausschließlich elektrische Potentiale, von denen verschiedene Erscheinungsformen unterschieden werden, die vor allem Gegenstand der Elektrophysiologie sind. Auch auf dieser Analyseebene lassen sich wieder mehrere spezifische Untersuchungsmethoden unterscheiden: a.) Eine der klinisch und physiologisch wichtigsten Untersuchungsmethoden ist die Elektroencephalographie (EEG), die auch zu Lokalisation krankhafter Prozesse benutzt werden kann, die sich durch Desynchronisation des Wellenbildes und verringerte Spannung anzeigen. Während Aktionspotentiale an einzelnen Nervenzellen abgeleitet werden, ist das EEG eine spontane Aktivität des Gesamtgehirns und entsteht wahrscheinlich aus der Addition postsynaptischer Potentiale an corticalen Neuronen mit einer Dauer von 80-200 ms. Innerhalb des EEG's werden verschiedene Frequenzbänder unterschieden, die sich in Abhängigkeit von dem Wachheitsgrad des Gehirns und dem Reizeinstrom ändern. Z. B. geht der im Ruhezustand vorherrschende Rhythmus von 8-12 Hz bei geistiger Konzentration und Formensehen in den höherfrequenten Rhythmus über. Da allgemein mit nachlassender Hirnaktivität auch die Frequenz des EEG zurückgeht und die Amplitude zunimmt, können mit dieser Methode nicht nur qualitative Aussagen über einige Bewußtseinsformen und eine Klassifikation von Schlafstadien elektrophysiologisch begründet werden, sondern das Nullinien-EEG dient z. B. auch als ein klinisches Kriterium des Hirntodes. Außerdem ist das EEG eine wichtige Methode zur Untersuchung psychopathologischer Erscheinungen wie der Epilepsie, die zu einer charakteristischen Veränderung der Potentialform führt. b.) Aktionspotentiale sind dagegen die elektrophysiologische Transportform, in der die Reizinformationen zwischen verschiedenen Nervenzellen und Hirnzentren übertragen werden. Unabhängig davon, ob es sich um erregende oder hemmende Potentiale handelt, beträgt ihre Zeitdauer ca. iöoöS, der Spannungszustand des Ruhepotentials - 50 — 100 Millivolt. Die Registrierung derart geringer elektrischer Potentiale war erst nach der Entwicklung einer besonderen Ableitetechnik durch Mikroelektroden möglich, während die Ableitung des EEG mit Hilfe großer Elektroden von der Schädeldecke erfolgt und deshalb auch früher entdeckt wurde. Die durch Erregungsprozesse an der Nervenzellmembran übertragene Information ist aber nicht in den Aktionspotentialen selbst enthalten, sondern in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge als Impulsfrequenz. Die Aktionspotentiale sind praktisch die Buchstaben des neuronalen Codes, dessen physiologische Gesetzmäßigkeiten z. B. durch das Alles-oder-Nichts-Gesetz beschrieben werden. Der neuronale Code gilt universell für die Funktion aller Nervenzellen, gleichgültig, ob es sich um einfache psychische Vorgänge oder Bewußtseinsprozesse handelt. c.) Makroskopisch nicht mehr sichtbare elektrophysiologische Erscheinungen der Nerven- bzw. Hirnfunktion, die erst über den Einsatz komplizierter technischer Apparaturen sichtbar gemacht werden können, sind die evozierten Potentiale. Ihre Amplitude, die allerdings von dem Aktivitätsgrad des ZNS abhängig ist, beträgt ca.

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10 ja V gegenüber einer durchschnittlichen Amplitudenhöhe von 20-50 y V beim EEG. Bei den evozierten Potentialen handelt es sich um mehrphasige elektrophysiologische Erscheinungen, die über eine statistische Auswertung des EEG gewonnen werden, indem die durch Spontanaktivität ausgelösten Potentiale von den reizabhängigen elektrophysiologischen Reaktionen getrennt werden, die wiederum bei den einzelnen Reizarten verschieden sind. Z. B. besitzen evozierte Potentiale optischer Reize zwischen 7 und 8 Gipfel, akustische Reize verursachen dagegen dreigipflige evozierte Potentiale mit zwei negativen und einem positiven Gipfel.

Obwohl die elektrophysiologische Untersuchungsebene des Bewußtseins bereits eine wesentliche Konkretisierung psycho-physischer Zusammenhänge darstellt, kann auch die Entstehung der Biopotentiale selbst wieder in ihren verschiedenen biochemischen Voraussetzungen untersucht werden. Damit ist die letzte, bereits molekulare Analysemöglichkeit psychischer Prozesse erreicht, indem nun die substantiell-stoffliche Bedingtheit der Informationsverarbeitung des ZNS Gegenstand des Forschungsinteresses wird. Obwohl die elektrischen Potentiale der Nervenzellmembran die direkten Informationsträger der nervalen Erregungsprozesse sind, können, da sie aus bestimmten Ionen aufgebaut werden, psychische Prozesse indirekt durch Stoffwechselvorgänge auf mehreren Reaktionsebenen pathophysiologisch oder durch pharmakologische Stimulantien beeinflußt werden. Nur einige derartige Eingriffsmöglichkeiten können aufgezählt werden: a.) Der unspezifische Einfluß allgemeiner Stoffwechselprozesse auf die Gehirnfunktion läßt sich bereits bei der Ableitung des EEG nachweisen und wird hier auch klinisch ausgenützt. So führen Sauerstoffmangel und Kohlensäuremangel, der künstlich durch Hyperventilation erzeugt werden kann, zu einer Verminderung der Wellenzahl bei gleichzeitiger Vergrößerung der Amplituden, während bei einer Temperaturerhöhung, die biochemisch zu einer Beschleunigung der Stoffwechselprozesse führt, eine Verschiebung zu höheren Frequenzen eintritt. Allgemein kann die Störung einer kontinuierlichen und ausreichenden Sauerstoffversorgung des Gehirns zur Bewußtlosigkeit und schließlich zu irreversiblen Schädigungen des Nervensystems führen, ebenso wie eine schnelle und ständige Versorgung des ZNS mit energiereichen Kohlehydraten für die Aufrechterhaltung der Erregungsfortleitungsfunktion unentbehrlich ist. b.) Spezifischer wirkt bereits der Mangel der für den Aufbau des Aktionspotentials und die Erregungsfortleitung wichtigen Ionenarten wie Natrium-, Kalium- und Calciumionen, da ihr Fehlen zur Unerregbarkeit bzw. Übererregbarkeit der Nervenzellmembran führt. Eine unproportionale Verteilung außerhalb und innerhalb der Zellmembran oder die Veränderung der Diffusionsgeschwindigkeit beeinflussen den Aufbau eines Ruhepotentials und damit die Erregungsfähigkeit der Nerven. Die Veränderung der Ionenkonzentrationen durch substantielle Änderungen betrifft vor allem die Fortleitung der Information auf der Nervenfaser. c.) Da die an der Synapse zwischen zwei Neuronen einlaufenden elektrischen

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Bild 1 Paradigmatische Darstellung methodischer Untersuchungsebenen des psycho-phyischen Problems. Die Relation a-b generalisiert die traditionelle Fassung, in der die psychische Ebene der Gesamtheit naturwissenschaftlicher Erklärungsmöglichkeiten als >physisch< gegenübergestellt wird. In den in einem engeren Sinn physiologischen Untersuchungsstrategien lassen sich z. B. als >makrophysiologisch mikrophysiologisch< (I—II) ebenfalls wieder Stufungen als innere Differenzierung der physiologischen Organisation finden, die zu einer immer feineren Spezialisierung der Methodik führen (siehe Text). Die Einteilung in eine Verhaltensebene, eine physiologische Problemebene und die genetischen Grundlagen des Verhaltens (1-3) kennzeichnet zwar den allgemeinen Diskussionsstand, abstrahiert aber von der inneren Problematik der angeführten Ebenen.

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Impulse bei höheren Tieren in der Regel chemisch gekoppelt werden, besteht hier eine weitere Möglichkeit, den Obertragungsprozeß nervaler Information durch stofflich-substantielle Einflüsse zu modifizieren oder zu blockieren. So können z. B. die verschiedenen synaptischen Transmitter wie Acetylcholin oder Adrenalin nicht aus den praesynaptischen Vesikeln ausgestoßen, auf ihrem Weg zum synaptischen Spalt gebunden, durch andere biochemische Substanzen neutralisiert werden oder das Enzym, das den Transmitter nach der Obertragerfunktion zersetzt, wird selbst gebunden, so daß unphysiologisch hohe Stoffkonzentrationen entstehen, die zu Ubererregbarkeit und Krämpfen führen. Schließlich können auch die postsynaptischen Erregungsschwellen verändert werden oder die Transmitter werden an ihren Receptoren durch wirksamere Substanzen verdrängt. Die Psychopharmakologie untersucht derartige biochemische Beeinflussungen spezifischer Bewußtseinsphänomene durch besondere Stoffgruppen, die überwiegend an den Codierungs-/Decodierungsmechanismen der Synapse ansetzen.

Die Aufeinanderfolge der einzelnen morphologischen, physiologischen und biochemischen Analyseschritte, die hier nur exemplarisch nachvollzogen werden konnte, erfolgt zwar im einzelnen unabhängig durch verschiedene Experimentatoren, realisiert aber insgesamt ein durchaus planvolles Zerlegen der verschiedenen gehirnanatomischen, funktionellen und biochemischen Voraussetzungen psychischer Prozesse. Dieser Systematik kann dann sowohl theoretisch in der Geschichte der Physiologie als auch methodenkritisch bei einer Untersuchung etwa des Zusammenhanges zwischen der Entwicklung des Kathodenstrahloszillographen oder der Mikroelektrode und bestimmten neurophysiologischen Entdeckungen genauer nachgegangen werden. Der Abstieg auf immer elementarere biologische Organisationsebenen, der praktisch erst durch die Bereitstellung neuer Experimentiertechniken möglich wird, bedingt aber auch zahlreiche theoretische Eigentümlichkeiten der analytisch-beschreibenden Betrachtung des psycho-physischen Problems wie z. B. ihre Ahistorizität. Bereits auf der elektrophysiologischen Untersuchungsebene zeigt sich so eine Universalität der Wirkungsmechanismen, da etwa der neuronale Code, d. h. die Informationsübertragung an Nervenzellen durch die Impulsfrequenz der Aktionspotentiale, sowohl für die Nervensysteme niederer und höherer Tiere als auch des Menschen Geltung besitzt. Zahlreiche physiologische Theorien über die Funktion der Nervenzellen und des Gehirns beim Menschen sind deshalb auch experimentell durch neurophysiologische Untersuchungen an Wirbellosen begründet worden, da hier vielfach weniger komplexe Verschaltungen vorliegen. Ähnlich wie der genetische Code, der in der Evolution einmal entdeckt und dann beibehalten wurde, hat sich auch die Struktur des neuronalen Codes in der Phylogenese nicht mehr geändert, sondern nur noch die Informationsqualität, die durch ihn übertragen wird. Noch genereller sind dann die Gesetzmäßigkeiten des biochemischen Potentialaufbaues, der Ionendiffusion usw., so daß sich die 25

allgemeine Regel des analytischen Vorgehens formulieren läßt, nach der die gefundenen Gesetzmäßigkeiten eine um so allgemeinere Geltung besitzen, je elementarer die Untersuchungsebene ist, da die in der Phylogenese am frühesten entstandenen physiologischen Mechanismen auch für die meisten Organismen gelten. Obwohl analytisch die verschiedenen biologischen Organisationsebenen psychischer Funktionen sehr exakt im Detail beschrieben werden können, ist klar, daß durch ein derartiges Vorgehen die eigentliche qualitative Spezifik des psycho-physischen Problems gerade ausgeklammert wird und zumindest historisch im Physiologismus die Hoffnung geäußert wurde, die Struktur psychischer Prozesse in eine physiologische Kausalität aufzulösen. Die Grenzen eines derartigen analytisch-experimentellen Vorgehens lassen sich an einem Vergleich aufzeigen: Ähnlich wie die Kenntnis der Codierungsregeln des Alphabetes noch keine Aussagen über den Inhalt der damit geschriebenen Bücher erlaubt, ist die Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten des neuronalen Codes noch nicht identisch mit der über ihn vermittelten Information, deren Inhalt sich zwischen den einzelnen Tierarten im Laufe der Evolution ständig ändert (vgl. 6).

1.2. Der phylogenetische Ansatz Die synthetische Betrachtungsweise des psycho-physischen Problems orientiert sich vor allem an den erwähnten Schwächen einer analytischen Zergliederung des Systemganzen und baut deren Uberwindung zu einem besonderen methodischen Vorgehen aus. Andererseits können generalisierende Verallgemeinerungen, wenn sie Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben, ihren Ausgang nur von analytisch gewonnenen Fakten nehmen. Insofern ist das synthetische Vorgehen nicht nur Folge und logische Konsequenz der Mängel, sondern auch der Erfolge der Analyse. Wenn bei der Untersuchung psycho-physischer Beziehungen diese umfassende analytisch-synthetische Einheit verlorengeht, kommt es zu theoretischen Vereinseitigungen, sei es, daß die besondere Spezifik des Psychischen negiert wird, wie dies vor allem im Physiologismus und Behaviorismus methodologisch praktiziert wurde, oder die Synthese ohne empirische Bindung verliert sich in der Spekulation und Mystifikation, wie sich das für einige Teilgebiete der Tierpsychologie nachweisen läßt. Die Erkenntnisbeziehungen zwischen Biologie und Psychologie sind deshalb immer doppelter (induktiv-deduktiver) Natur: Neben einer planmäßigen Zerlegung psychischer Prozesse auf immer elementarere biologische Sy26

stemebenen existiert gleichzeitig eine Generalisation biologischer Fakten unter dem Gesichtspunkt der Spezifik der besonderen psychischen Leistungen des Nervensystems (vgl. Bild 1). Die synthetische Betrachtungsweise ist in ihrer ersten theoretischen Gestalt häufig nur eine Beschreibung und Klassifikation der Mannigfaltigkeit tierischer Verhaltenstypen, bevor generellere empirische Sätze aufgestellt werden können. Der Grad der Verallgemeinerungsfähigkeit bleibt dabei direkt von der analytisch gewonnenen Faktenbasis abhängig. Dies schließt bestimmte empirische und experimentelle Schwerpunktverschiebungen zwischen dem analytischen und dem synthetischen Ansatz nicht aus. Wenn man etwa die Ebene der Gehirnforschung als neutralen Bezugspunkt nimmt, erfolgt einmal analytisch über die physiologische Theorienbildung ein Abstieg bis zur biochemischen Kausalebene, synthetisch dagegen eine Orientierung an höher organisierten Funktionsebenen wie dem Verhalten zur Umwelt, so daß auch andere biologische Spezialdisziplinen wie die Verhaltensforschung, Ökologie, Tiersoziologie, Anthropologie usw. die empirische Grundlage liefern. Hier liegt dann auch eine sowohl wissenschaftstheoretisch wie methodisch unbestimmte Ubergangszone zwischen psychologischen Disziplinen (z. B. Lernpsychologie, klassische Tierpsychologie) und zoologischen Einzelwissenschaften (z. B. Verhaltensforschung), die empirisch häufig das gleiche Objekt untersuchen. Die empirischen Besonderheiten der Verhaltensebene bestimmen auch weitgehend die theoretische Spezifik des synthetischen Ansatzes. Im Gegensatz zu der Uniformität physiologischer Strukturen ist das psychophysische Verhältnis bei den verschiedenen Tierarten in einer je einmaligen Weise gelöst, so daß Tiere, die sich im Aufbau ihres Nervensystems nicht unterscheiden, trotzdem ein ganz verschiedenes Verhalten zeigen können. Die Zusammenfassung der empirischen Verhältnisse von ca. 1,5 Millionen verschiedenen Tierarten in ihrer Verhaltensmannigfaltigkeit und psychischen Individualität zwingt auch zu einer stärkeren theoretischen Ausrichtung der synthetischen Denkweise, da integrierende Verhaltenskategorien wie >LernenTraditionsbildung< usw. eingeführt und überprüft werden müssen. Das allgemeine Bezugssystem bildet dabei die Evolutionstheorie, innerhalb der die Psychophylogenese im Gegensatz zu der Veränderung morphologischer Strukturen den Anpassungswert der verschiedenen Verhaltensleistungen sowie der Signalbildung, der Evolution von Kommunikationssystemen usw. untersucht. Die Naturgeschichte des Psychischen als Psychophylogenese zerfällt dabei wieder in verschiedene Teiltheorien auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen, wie die Klassifikation des angeborenen Verhaltens, die Klassifikation des tierischen Lernens usw., deren Menge und kausaler Zusammenhang untereinander noch stark hypothetisch und empirisch unabgeschlossen ist (vgl. Bild 2). Ein zentrales, unter 27

sehr verschiedenen Gesichtspunkten diskutiertes Problem der Psychophylogenese stellt dabei die Ordnung der Höherentwicklung der Informationsverarbeitung mit bestimmten allgemeinen Kategorienpaaren wie angeboren-erworben, Psychisches-Bewußtsein usw. dar, aus der sich unter anderem die besondere Bedeutung der Theorie der Bewußtseinsentstehung im Tier-Mensch-Ubergangsfeld ergibt. In ihr müssen die biologischen Gesetzmäßigkeiten der Primatenentwicklung mit dem qualitativen Umschlag psychischer Vorgänge bei Pongiden in menschliches Bewußtsein bei den humanen Hominiden in Zusammenhang gebracht und die Bewußtseinsentwicklung letztlich aus verschiedenen Änderungen des Körperbaues, des Verhaltens und des Lebensraumes erklärt werden. Der Übergang von psychischen Prozessen, verstanden als die spezifisch tierische Fähigkeit zur Abbildung der Außenwelt über das ZNS, zum Bewußtsein als der typisch menschlichen Widerspiegelungsform beruht, ebenso wie alle anderen Höherentwicklungen und Differenzierungen des Psychischen in der Phylogenese, auf zufälligen, durch biophysikalische und ökologische Faktoren ausgelösten Mutationen im Erbmaterial, die durch die Umwelt dann in ihrem Anpassungswert ausgelesen werden. Ungeklärt sind dabei noch die phylogenetischen Zeiträume, die für grundsätzliche psycho-physische Änderungen etwa wie die Entstehung des Bewußtseins benötigt werden und das Ausmaß dieser sprunghaften Änderungen des Erbmaterials als mikro- oder makroevolutive Prozesse. Innerhalb der generellen methodischen Problematik des synthetischen Denkansatzes sollen nun am Beispiel der empirischen Uberprüfung einer theoretischen Aussage über den Mechanismus der Entstehung des Bewußtseins einige allgemeine Kriterien einer Theorie der Bewußtseinsentstehung im Tier-Mensch-Ubergangsfeld formuliert und gleichzeitig die Funktion kritischen Denkens in diesem Prozeß exemplarisch aufgezeigt werden. Die Engelssche Aussage, daß die Arbeit »die erste Grundbedingung alles menschlichen Lebens ist und zwar in einem solchen Grade, daß wir in einem gewissen Sinn sagen müssen: Sie hat den Menschen selbst geschaffen« (MEW 20, 444) hat sich sowohl in der naturwissenschaftlichen Anthropologie als auch in der Psychologie - unabhängig davon, ob ein expliciter Bezug auf den Marxschen Ansatz hergestellt wird oder nicht - als gesicherte Erkenntnis durchgesetzt. In der Diskussion um den Hominidenstatus der Australopithecinen, fossiler Hominiden des Tier-MenschUbergangsfeldes, die in der Ausbildung des Schädels und anderer Skelettmerkmale zwischen äffischen Primaten und dem recenten Menschen stehen, hat letztlich der Nachweis der Herstellung von Werkzeugen z. B. als >Knochen-Zahn-Horn-Kultur< oder von >pebble tools< zu der Anerkennung als erster Mensch geführt. Ebenso hat in der psychologischen Theorienbildung die Vorstellung, daß die Entwicklung des Arbeitsverhaltens die 28

Ideell

naturphilosophische Sprach- und Abstraktionsebene psychologische Sprach- und Abstraktionsebene

naturwissenschaftliche Sprach- und Abstraktionsebene

Psychisches

Bewußtsein

Angeborenes Verhalten

Erlerntes Verhalten

Traditionsbildung

z. B. Reflexe

z. B. Prägung

z. B. innerartliche Tradition

z. B. Schluckreflexe

z. B. olfaktorische Prägung

z. B. Tradition bei Primaten

Bild 2 Exemplarische Sprach- und Abstraktionsebenen des psycho-physischen Problems. Die innere Mehrschichtigkeit dieser Ebenen ist nur für die naturwissenschaftliche Theorienbildung genauer dargestellt. Termini wie >angeborenes Verhalten und >Lernen< haben in der empirischen Forschung durch die Beschreibung immer neuer Lernformen, von denen hier stellvertretend nur eine angeführt ist, zur Modifizierung des Lernbegriffs geführt. Auch diese spezifischen Lernformen haben sich nur als Generalisierung eines ganzen Systems z. B. von speziellen Prägungsprozessen erwiesen. Historisch sind die Entdeckungn derartiger Verhaltensmechanismen methodologisch häufig verabsolutiert worden (z. B. als >Reflexologieschwache< empirische Relevanz, ist aber als metatheoretischer Terminus z. B. in der Verhaltensklassifikation unentbehrlich und läßt zusammen mit anderen Begriffen die psycho-physische Entwicklungsstufe deutlich hervortreten. Den umfassendsten Reduktionsversuch stellt der Behaviorismus mit der Auflösung der spezifisch psychologischen Terminologie in den naturwissenschaftlichen Verhaltensbegriff dar. Die naturphilosophische Denkebene ist einerseits am allgemeinsten, da sie eine Extrapolation der empirischen Erfahrung darstellt, andererseits spricht sie die eigentliche Besonderheit z. B. des Psychischen als einen ideellen Prozeß am schärfsten aus. Die Veranschaulichung der besonderen Qualität des Ideellen gehört zu den schwierigsten Problemen der Naturphilosophie. Der dialektische ist der einzige Materialismus, der die Spezifik des Ideellen nicht auf materielle Eigenschaft von Körpern zurückführt, sondern vielmehr in seiner Eigenart begründet.

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praktische Grundlage von Bewußtseinsveränderungen ist, eine Konkretisierung z. B. in dem Aneignungs- und Tätigkeitskonzept gefunden (Leontjew 1973). Unter Voraussetzung dieser gewissermaßen absoluten Seite der erwähnten Aussage soll aber hier die in der Formulierung selbst bereits angedeutete Relativierung eines >Grundmechanismus< der Menschwerdung, damit aber auch der Bewußtseinsbildung, und seine Zerlegung in ein Netz von Einzelbestimmungen genauer untersucht werden. Die ältesten Nachweise für Werkzeugherstellung, dem wichtigsten Kriterium für Arbeitsverhalten, finden sich im Unter-Pleistocän (Villa franchium) vor ca. 2,6 Millionen Jahren. Diesen einfach behauenen Geröllgeräten folgen die Haumesser (>chopping toolsTelencephalisationMoralisierungMolariserung< durchsetzt, die als Anpassung an pflanzliche Nahrung verstanden werden kann, deren Zerkleinerung durch besondere Malmuster erleichtert wird. Der Druck des Kauvorganges wird über die Kiefergelenke auf die Schädelkapsel übertragen und findet hier sein mechanisches Widerlager. Zu einschneidenden Änderungen im Gebiß kommt es nur durch die Reduktion der Eckzähne bei den Hominiden, die sich tentendiell den der Form den anderen Zähnen des Gebisses angleichen und sowohl spatelartige wie auch zugespitzte Gestalt besitzen können. Ihre ursprüngliche Funktion, das Ergreifen und Festhalten von Nahrung während des Zuschnappens der Kiefer, hat bei den pflanzenfressenden Primaten an Bedeutung verloren. Eckzähne sind z. B. bei dem Gorilla oder Pavianen Waffen und unterliegen einem Sexualdimorphismus (vgl. Bild 17). Außer als Verteidigungswaffen gegenüber Raubkatzen, die auch bei anderen pflazenfressenden Säugern (z. B. primitiven Hirschen, Schweinen) beobachtet werden kann, dienen die Eckzähne auch der innerartlichen Auseinandersetzung und erhalten Bedeutung als soziale Statussymbole, die durch Ausdrucksbewegung zur Schau gestellt und bei Rangkämpfen auch eingesetzt werden. Die Ausbildung des Visceralcraniums mit mächtigen Kiefern, dominierenden Eckzähnen und dadurch bedingter Schnauzenbildung bleibt bei vielen auch hochentwickelten Affenarten das wichtigste Instrument der Selbsterhaltung und wird in dieser Funktion erst innerhalb der Hominidenlinie allmählich durch die Ausbildung des Gehirnschädels ersetzt, da nun bestimmte manuelle einsetzbare Waffen gebaut werden können.

6.2. Der Kopf als Signalträger im Kommunikationsprozeß Bei Landtieren hängt die äußere Gestalt des Kopfes von mehreren Faktoren ab: der Konstruktion des Kauapparates, der Bedeutung der verschiedenen Sinnesorgane und dem Umfang der Gehirnbildung. Die Ausbildung des Kauapparates beeinflußt vor allem die Struktur der Nase und des Rachenraumes sowie die morphologische Gestalt des knöchernen Schädels. Bei 144

zahlreichen Tieren übernimmt die äußere Kopfgestalt durch den engen Zusammenhang zwischen der Konzentration lebenswichtiger Sinnesorgane und der Gehirnbildung aber noch eine zusätzliche Funktion als Signalund Informationsträger besonders im visuellen Bereich. Die Signalfunktion des oralen Körperpols ist einmal durch die auffällige räumliche Lage frontal am Organismus determiniert (dementsprechend findet sich auch eine Häufung von Signalmustern im analen und genito-analen Bereich), zum anderen ist der äußere Kopf als Sendestruktur besonders günstig, da eine sensorische Kontrolle durch verschiedene Sendekanäle direkt möglich ist. Bei äffischen Primaten und dem Menschen ist es deshalb nicht nur zu einer bedeutsamen Vergrößerung der Hirnkapazität gekommen, sondern auch die äußere Kopfform ist zu einem Signalmuster geworden, über das differenzierte soziale und sexuelle Beziehungen reguliert werden. Drei Arten der visuellen Musterbildung sind dabei besonders hervorzuheben: a.) Epigamische Haartrachten. Viele Affenarten besitzen im Kopfbereich auffällig gestaltete Haartrachten, die sich in der Pubertät bilden und in der Regel für männliche Primaten charakteristisch sind. Es ist deshalb naheliegend, in den Haarbildungen ein Sexualmerkmal zu sehen, daß durch die innerartliche Konkurrenz zwischen den verschiedenen Männchen positiv ausgelesen wird wie die bei Menschenaffen verbreitete Piloerektion zeigt. Sie führt während des Imponierverhaltens zu einer Aufrichtung der Körperbehaarung, so daß die Stellung in der sexuellen Dominanzhierarchie nur teilweise durch Vitalität und physische Kraft entschieden wird. Ein weiterer wesentlicher Faktor der Selektionswirkung ist das äußere Aussehen, durch das die Evolution besonders prägnanter Haartrachten begünstigt wird. b.) Schwarz-weiße oder farbige Gesichtsmasken. Bei einigen Altweltaffen (z. B. Pavianen) sind die nackten Schnauzenpartien auffällig bunt gefärbt. An der Schnauzenseite befinden sich längsverlaufende Knochenleisten. Bei den Pavianen wird der Eindruck der Gesichtsmasken durch die betonte Schnauzenbildung, die zu der Bezeichnung >Hundskopfaffen< geführt hat und die stark ausgebildeten Eckzähne noch zusätzlich hervorgehoben. Auch die Gesichtsmasken stehen wahrscheinlich im engen Zusammenhang mit der Sexualauslese, da sie z. B. bei den Männchen des Mandrills (Papio sphinx) und des Drills (Papio leucophaeus) stark ausgebildet sind, den Weibchen aber fehlen. Gesichtsmasken sind starre Musterbildungen, die nur im geringen Grad verändert werden können. Ihr Signalwert liegt dementsprechend in dem Anbieten eines prägnanten Musters ohne verschiedene Zwischenwerte, damit entfällt aber auch die Information über differenzierte psycho-physische Zustände des Senders. c. Mimische Ausdrucksbewegungen (vgl. Bild. 8 u. 9.). Während bei den Gesichtsmasken die knöchernen Schädelmerkmale für die Musterbildung 145

wichtig waren, bauen die Ausdrucksbewegungen auf der Veränderung der Weichteile des Kopfes und den Möglichkeiten ihrer neuro-muskulären Beeinflussung auf. Eine weitere wichtige biologische Voraussetzung des Ausdrucksverhaltens ist die Haarfreiheit des Gesichtes. Die dynamische Veränderung der Gesichtsstruktur wird im unterschiedlichen Ausmaß bei allen sozial lebenden Primaten angetroffen und kann komplexe Informationen über die psycho-physische Befindlichkeit vermitteln, die beim Menschen am differenziertesten ausgebildet ist. Epigamische Haartrachten werden sowohl bei Neuwelt- wie Altweltaffen angetroffen. Die primitiven Krallenäffchen (Callitricidae), die in den Urwald und Savannengebieten des zentralen Südamerika vorkommen, besitzen an den Ohren pinselartige, große Haarbüschel, deren optische Wirkung durch das nahezu unbehaarte Gesicht noch verstärkt wird. Bei der Gattung Chiropotes (Satansaffe), wird das nackte Gesicht dagegen durch einen dichten Vollbart und eine bürstenschnittartige Kopffrisur kontrastiert. Auch die männlichen Brüllaffen (Aloutta) besitzen an der Kehle einen verdichteten Haarwuchs als Bart, der in verschiedenen Abwandlungen auch bei zahlreichen anderen Primatenarten vorkommt. Bei den Husarenaffen (Erythrocebus patas) besitzen beide Geschlechter einen prächtigen weißen Schnurrbart, der mit dem vorwiegend roten, an Kopf und Gliedern aber auch weiße Färbung zu dem deutschen Namen >Husarenaffe< geführt hat. Besonders auffallend ist die Reichhaltigkeit von Haar- und Farbmustern bei Meerkatzen und Makaken. Die Weißnasen-Meerkatzen (Cercopithecus nicticans) besitzen auf der Nase einen herzförmigen leuchtend weißen Fleck, während die teilweise mit ihnen vergesellschaftet vorkommenden Schnurrbartmeerkatzen (Cercopithecus erythrotis) an den Ohrbüscheln und auf der Nase rotbraun gefärbt sind. Die Weißkehlmeerkatzen haben ein weißgefärbtes Kinn, daß sich bei der auffällig gekennzeichneten Vollbart-Meerkatze bis zur Kehle und Körperunterseite erstreckt. Mona-Meerkatzen haben dagegen blauschwarz gefärbte Gesichter mit einer nackten rosa gefärbten Nase und gelben Haarbüscheln über den Ohren. Uber die kommunikative Funktion der Haar- und Farbmuster besteht noch keine Einigkeit. Da mehrere dieser Meerkatzenarten in den gleichen Biotop vorkommen, können sie einmal der zwischenartlichen Unterscheidung dienen, andererseits sind sie zweifellos wichtige Merkmale beim Finden des Artgenossen und für das Sozialleben von Bedeutung. Die epigamischen Haartrachten bilden sich bevorzugt an bestimmten Kopfbereichen aus und werden hier bei mehreren Primatenarten angetroffen, die phylogenetisch nur sehr weitläufig miteinander verwandt sind. Neben den bereits erwähnten Backen-, Kehl- und Schnauzbärten gehört auch die Kopfbedeckung dazu. Der gehauptete Kapuzineraffe (Cebus apella) ist bereits dicht über den Augen behaart, so daß optisch ein steilstir146

niger Eindruck entsteht. Die im Kongogebiet lebende Schopfmangabe (Cercocebus aterimus) besitzt nicht nur einen braunen Backenbart, sondern auf dem Kopf einen oben spitz zusammenstrebenden Haarschopf, der auch bei der in Mittelafrika vorkommenden Haubenmangabe (Cercocepus galeritus) angetroffen wird. Auch der südostasiatische Schopfmakak (Cynopithecus niger) hat seinen Namen nach der charakteristischen, nach hinten gerichteten Haartracht erhalten. Der in Indien lebende Hutaffe (Macaca radiata) besitzt eine baskenmützenähnliche Haartracht. Bei einigen Altweltaffen wird schließlich auch der gesamte Kopfbereich durch spezielle Haartrachten optisch hervorgehoben. Der im vorderindischen Raum vorkommende Wandern oder Bartaffe (Silenus silenus) besitzt ein Gesicht, das von imponierender Halsmähne umgeben ist. Noch eindrucksvoller ist die aus silbergrauen Kopfhaaren bestehende Halsmähne des Mantelpavians (Papio hamadryas), die bei Männchen ausgebildet ist und während des Imponierverhaltens aufgerichtet werden kann. Bei Mantelpavianen besteht eine konkurrierende innerartliche Sexualauslese zwischen rivalisierenden Männchen um den Besitz von Weibchen. Daß die verschiedenen Haartrachten des Menschen ebenfalls noch Signalfunktionen im Sexual- und Sozialverhalten besitzen, ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Dafür spricht nicht nur das Auftreten des Bartwuchses bei Männern, sondern auch die verbreitete Kennzeichnung verschiedener Verteidigungs- und Sexualfunktionen durch unterschiedliche Haartrachten in bestimmten Abschnitten der menschlichen Geschichte. Allerdings ist die ursprüngliche Wirkung innerhalb der Sexualauslese durch kulturelle Ritualisation nahezu vollständig überlagert und zumindest in den modernen Gesellschaftsformen auf ein bloßes Schmuckmerkmal reduziert. Auch Gesichtsmasken, die für das menschliche Ausdrucksverhalten keine Bedeutung besitzen, kommen bei den unterschiedlichsten Primatenarten vor. Neben den grell-bunten Masken der Kurzschwanzpaviane, die durch die Färbung nackter Hautflächen entstehen, können prägnante Gesichtsmuster auch durch unterschiedlich gefärbte Haarpartien im Gesichtsbereich entstehen. Die Totenkopfaffen (Saimiri sciureus) besitzen ein weiß gefärbtes Gesicht, in dem die schwarzen Augen und die schwarz gefärbte Mundpartie den Eindruck einer totenkopfähnlichen Maske entstehen lassen. Der zu den Schlankaffen gehörende Guerza (Colobus abyssinicus) besitzt umgekehrt ein schwarzes Gesicht, das durch weiße Haare umrahmt ist. Bei dem in Vietnam vorkommenden Kleideraffen (Pygathrix nemaeus) gibt es Unterarten mit gelblichem und schwarzen Gesicht, das außerdem durch die weitauseinander stehenden Augen und ihre schräg gestellte Form auffällt und in seiner Musterwirkung durch einen Backenbart unterstützt wird. Ebenso wird bei den heiligen Affen Indien, den Hulmans 147

(Semnopithecus entellus) das rußschwarze Gesicht mit schwarzen Ohren und Augen von einem dichten weißgrauen Fell eingerahmt. Mitunter wird die Starrheit der Musterbildung durch Einschaltung beweglicher Gesichtsteile flexibler und verschiedenen Verhaltensmöglichkeiten angepaßt. Ein verbreitetes Mittel sind weiß oder zumindest hell gefärbte Augendeckel, die bei Augenbewegungen sichtbar werden. Kontrastfarbige Augenlider - gelegentlich finden sie sich auch als künstliche Sexualmerkmale beim Menschen - kommen unter anderem bei Meerkatzen und Mangaben vor. Für letztere ist außerdem ein schnelles Vor- und Zurückschnellen der roten Zungenspitze typisch. Auffallend bleibt die weite Verbreitung von Gesichtsmasken bei urwaldbewohnenden Primatenarten wie z. B. bei Hamlyns-Meerkatze (Cercopithecus hamlyns), deren Gesicht durch einen senkrechten auffallenden weißen Strich betont wird, oder den waldbewohnenden westafrikanischen Pavianarten. Möglicherweise dienen etwa die Bewegungen der hellen Augendeckel als Signalinstrumente und innerartliches Verständigungsmittel in dem dämmrigen Urwaldinneren. 6.3. Die Neencephalisation als morphologische Grundlage der Bewußtseinsbildung Das biologische Organ der Bewußtseinsentwicklung ist das Gehirn. Während sich die bisherigen Überlegungen (vgl. 4.) auf wichtige ökologische Trends und morphologische Bauplanänderungen der Primatenevolution bezogen, zu denen die Gehirnbildung in einem Folgeverhältnis steht, sollen nun einige immanente Gesetzmäßigkeiten der Evolution des Nervensystems selbst diskutiert werden, die die Eigentümlichkeit des menschlichen Gehirns verständlich werden lassen. Phylogenetisch ist die Gehirnbildung Endpunkt einer Entwicklung, die mit der Verlagerung des epithelialen Nervenplexus in das Körperinnere beginnt, der dann hier verschiedenen Zentralisationsprozessen unterliegt. Die zwei wichtigsten sind einmal die Kopfbildung (Cephalisation) am rostralen Körperpol, die stammesgeschichtlich bereits sehr früh einsetzt und zu den verschiedenen Arten der Gehirnbildung innerhalb des Zentralnervensystems führt, und zum anderen die für die psycho-physische Entwicklung der Säugetiere wesentliche Ausbildung des Neopalliums (Neencephalisation) als Organ der höheren psychischen Leistungen, das über die cognitive Abstraktionsfähigkeit entscheidet.

Wenn die psychische Leistungsfähigkeit des Nervensystems die wesentlichen Unterschiede zwischen Tier und Mensch bestimmen, kann angenommen werden, daß sich zumindest ein Teil dieser psychischen Unterschiedenheit auch in den materiellen Struktureigentümlichkeiten des menschlichen Gehirns niederschlägt. Dies gilt zumindest für einige grobe 148

Entwicklungsstufen der psycho-physischen Evolution der Primaten, die sich auch in Zahlenwerten quantitativ erfassen lassen (Blinkov & Glezer 1968). Die Entstehung für den Menschen typischer Bewußtseinsleistungen wie verbalisierte Begriffsbildung, Selbstbewußtsein, Prozesse der Persönlichkeitsbildungen oder die Entstehung werkzeugherstellender oder ästhetisch-kultureller Traditionen läßt sich durch die breite Unbestimmtheit der psycho-physischen Kausalrelation jedoch nicht rekonstruieren bzw. nur innerhalb einiger globaler morphologischer Rahmenbedingungen. Die arterhaltenden Leistungen der psychischen Reaktionsfähigkeit haben innerhalb der verschiedenen Wirbeltiergruppen zu einer ständigen Vergrößerung des Gehirns geführt. Die Hirnbildungen der Reptilien, Fische, Vögel und Säuger sind dabei aber das Ergebnis völlig unterschiedlicher Spezialisationen und können nicht ohne weiteres verglichen werden. So besitzen zwar z. B. auch die Vögel übergeordnete Integrationsgebiete, deren Herkunft aber nicht mit dem Säugerendhirn homologisiert werden kann. Das Telencephalon ist hier nicht wie bei Säugern durch eine Differenzierung des Gehirnmantels (Pallium) bestimmt, sondern durch eine Vergrößerung und Funktionserweiterung der Basalganglien. Ebenso ist im Unterschied zu den ancestralen Säugern, die sensorisch Makrosmaten waren, der Geruchssinn weitgehend zurückgebildet und durch hochentwickelte Gehirnpartien für eine visuelle Reizaufnahme ersetzt. Als ein basales Modell, das die Evolutionsfortschritte des Säugerhirns veranschaulicht, kann die phylogenetische Entwicklungsebene betrachtet werden, auf der die späteren Stammhirnfunktionen mit den eigentlichen Gehirnfunktionen noch weitgehend identisch sind. Das Gebiet der Formatio reticularis sorgt vor allem für die Aufrechterhaltung wichtiger stoffwechselphysiologischer Leistungen wie dem Kreislauf und der Atmung, aber auch allgemein der Intensivierung des Stoffwechsels. Über ein derartiges Stammhirn werden aber auch bereits komplexe Umweltbeziehungen wie die Sicherung der Homeostase und der Wärmeaustausch mitreguliert. Eine funktionelle Differenzierung des Endhirns, das dann bei den Säugern komplexe Integrationsfunktionen übernimmt, tritt bereits in der Evolution der Reptilien ein, wo sich einmal basale Gebiete des Vorderhirns auf übergeordnete psychische Steuerfunktionen spezialisieren und hier auch erste morphologische Unterscheidungen zwischen lateralen palaeopallialen, medianen archipallialen und neopallialen Partien am Endhirn nachweisen lassen. Das Gehirn primitiver Säugetiere wie der Insektenfresser und Beuteltiere liegt im Evolutionsniveau deutlich über dem Entwicklungsstand des Reptiliengehirns, da hier das Neopallium bereits ausgebildet ist, obwohl sich noch keine spezialisierten Assoziationsfelder abgrenzen lassen. Am Endhirn sind die Riechlappen (Bulbi olfactorii) stark entwickelt und deuten gehirnanatomisch auf die makrosmatische Lebensweise hin. Sowohl Palaeopallium als auch Archipallium und Septum bilden als Integrationszentren der Riechfunktionen voluminöse Gehirnpartien, deren funktioneller Zusammenhang als »limbisches System< auch für das menschliche Verhalten besonders im emotionalen Bereich wichtig bleibt. Die Steuerfunktion des limbischen Systems auf diesem primitiven psycho-physischen Evolutionsniveau ergibt

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sich einmal aus der Dominanz des Geruchssinnes im sensorischen Bereich bei primitiven Säugern, die wiederum mit dem Erwerb besonderer Duftdrüsen im Zusammenhang steht, zum anderen aus dem funktionellen Stellenwert von Duftsignalen bei Aggressionen, im Sexual- sowie dem Sozialverhalten. Beim Menschen spielt der limbische Cortex bzw. das >viscerale Gehirn< durch seine Verschalung mit anderen Hirnteilen eine wichtige Rolle für die affektive Gesamtlage. Über die Verbindungen besonders des Hippocampus kommt es zu einer ^ffektbetonung von Wahrnehmungen durch Flucht- oder Angsttendenzen. Die Zerstörung von Gebieten der Area piriformis führt zum Wegfall nervaler Hemmungen und damit zur Hyperaktivität. Durch die Verbindungen zur Formatio reticularis nimmt der limbische Cortex auch Einfluß auf den Wachheitsgrad und Aufmerksamkeit. Uber die Verschaltungen zum Hypothalamus steuert das limbische System schließlich die Affektbetonung motorischer, mit vegetativen Leistungen im Zusammenhang stehender Reaktionen wie Defäkation, Lecken, Schlucken usw. Die Integrationsleistungen des limbischen Systems gehen beim Menschen damit weit über die ursprünglichen Funktionen des Riechhirns hinaus und schließen affektive Bewertungen, komplizierte Motivationen und den Wechsel bestimmter >Stimmungszustände< mit ein.

Ein nicht nur für die Primaten, sondern auch für zahlreiche andere Säugetierarten typisches Stadium der Gehirnbildung ist dann erreicht, wenn durch das Wachstum des Neopallium die beiden benachbarten pallialen Anteile (Palaeopallium und Archipallium) zurückgedrängt werden und dem limbischen System übergeordnete Funktionseinheiten entstehen. Bei den Spitzhörnchen bedeckt das Großhirn bereits das Tectum opticum und nimmt durch die Ausbildung der Neocortex auch an Masse zu, während bei primitiven Säugern noch Anteile des Palaeopalliums überwiegen. Morphologisch kommt es mit der Evolution des Großhirns zu einer typischen Lappenbildung und durch die Flächenausdehnung zu einer Verlagerung der Berührungszone mit dem Archipallium (Hippocampus) in das Gehirninnere. Der zunächst uniforme Neocortex entwickelt allmählich regionale cytoarchtektonische Unterschiede der Neuronenbildung, Faserdichte usw., so daß schließlich Rindenfelder als Funktionseinheiten entstehen, in denen die sensorischen Projektionsbahnen enden. Endglieder dieser Entwicklung der Gehirnbildung sind vor allem Wale, Elefanten und höhere Primaten. Im Prozeß der Neencephalisation kommt es dann besonders zu einer progressiven Enthaltung des Groß- und des Kleinhirns. Entwicklungsgeschichtlich besteht das Kleinhirn (Cerebellum) ähnlich wie das Großhirn aus einem Palae-, Archi- und Neocerebellum, zwischen denen eine begrenzte Funktionsteilung besteht. Beim Menschen ist das Neocerebellum am stärksten entwickelt. Funktionell dient das Kleinhirn der Koordination der Motorik, insbesondere der zeitlichen Koordination der einzelnen Bewegungsabläufe, der Erhaltung des Gleichgewichtes und 150

der Tonuseinstellung der Muskulatur entsprechend der Bewegung. Die ökologische Grundlage der Kleinhirnentwicklung der Primaten war ursprünglich ihre kletternde Fortbewegung, später in der Hominidenentwicklung kam mit der Aufrichtung des Körpers die Funktion eines Stabilisators durch die Gleichgewichtsregulation und die Koordination der Feinmotorik der Hände hinzu. Bei äffischen Primaten und dem Menschen führt der Kleinhirnausfall durch den fehlenden Einfluß des Neocerebellums auf den Motorcortex der Großhirnrinde zu einer Hypotonie der Muskeln. Obwohl über das Kleinhirn auch beim Menschen keine Willkürbewegungen ausgelöst werden, wirkt es doch modifizierend auf zahlreiche Reflexabläufe. Störungen führen zu falschen Bewegungsmaßen und einer Verschiebung der zeitlichen Rhythmik einer Bewegung. Bereits die arboricole Lebenswese der simischen Primaten erfordert eine hochentwickelte räumliche und zeitlich gut koordinierte Feinmotorik. Die Bewegungen tendieren hier zu einer ständigen Modifizierung und enthalten nur wenige stereotype Muster wie bei quadrupeden terrestrischen Säugern. Zu dem ständigen Wechsel von Klettern und Springen kommt die Notwendigkeit des genauen Ergreifens der Bewegungsunterlage. Funktionell führt dies dazu, daß auch das Kleinhirn wie die Großhirnrinde eine somatotopische Gliederung in verschiedene^eider besitzt, morphologisch zu einer Faltung der Oberfläche des Neocerebellums. Andererseits ist eine Entfernung des Kleinhirns oder das angeborene Fehlen nicht beim Menschen lebensbedrohlich, da die Koordination der Motorik auch von anderen Hirngebieten mit übernommen werden kann. Die Massenzunahme des Großhirns während der Primatenevolution und Hominisation beruht vor allem auf einer Verschiebung des Verhältnisses von Palaeo- und Neopallium durch die wachsende funktionelle Bedeutung der sensorischen Projektionsfelder, die nicht an die Geruchsfunktion gebunden sind. Der Sulcus rhinalis, der das Neopallium gegenüber phylogenetisch älteren Anteilen des Vorderhirns abtrennt, verschiebt sich durch dieses Größenwachstum des menschlichen Hirns nach unten, so daß er selbst sowie die älteren Hirngebiete beim Menschen in der Gesamtansichtdes Gehirns nicht mehr zu sehen sind. Das primäre Projektionsfeld der optischen Erregung findet sich in den Occipitallappen beider Großhirnhemispären, ein weiteres Zentrum, das wahrscheinlich für die Speicherung optischer Eindrücke wichtig ist, im Temporallappen. Der vollständige Ausfall beider primärer optischer Projektionsfelder hat den Verlust des Sehvermögens von beiden Augen zur Folge (Rindenblindheit). Da die Stelle des schärfsten Sehens auf der Retina (Fovea centralis) im Occipitallappen ein im Verhältnis zur Netzhautperipherie großes Projektionsgebiet besitzt, kommt es bei einer Verletzung der Hirnrinde in diesem Gebiet nicht zu einem totalen Ausfall, sondern nur zu 151

einer Reduktion der Sehschärfe. Bei den äffischen Primaten wird der Occipitallappen gegenüber dem Parietallappen durch den sogenannten Affenspalt (Sulcus lunatus) abgegrenzt. Obwohl die Fissura calcerina bzw. Area striata des Occipitallappens zu den progressiv sich entwickelnden Hirnteilen zählen, ist der Affenspalt beim Menschen im Gegensatz zu den Menschenaffen nahezu geschlossen und die Sehrinde ist durch ihre basale Lage von oben nur schwer zu sehen. Die Ursache ist die verhältnismäßig starke Vergrößerung des Parietallappens durch zahlreiche Assoziationszentren. Ebenfalls vergrößert hat sich der Temporallappen (Schläfenlappen), der neben dem bereits erwähnten visuellen Gedächtnis auch das primäre Hörzentrum besitzt, dessen bilaterale Zerstörung beim Menschen zur Rindentaubheit führen. Die primäre Hörrinde der Felder 24 und 42 der obersten Temporalwindung an der Sylviuschen Furche (Sulcus lateralis), die den Schläfenlappen von dem Stirnlappen trennt, erhalten mit dem Erwerb des Sprechvermögens eine zunehmende funktionelle Bedeutung (vgl. 8.2.) Die aufsteigende Hörbahn verläuft dabei ebenso wie die Sehbahn teilweise gekreuzt und ungekreuzt. In den medialen Kniehöcker (Corpus geniculatum mediale) beginnt das letzte Neuron, daß die von dem Cortischen Organ über die obere Olive und die Kerne der lateralen Schleife einlaufenden Erregungsimpulse der Hörbahn zu den Heschlschen Windung, der primären Hörrinde, weiterleitet. Beim Menschen beträgt die Zahl der Fasern im Nervus acusticus 25 000, die Zellenzahl im Corpus mediale 570000 und die Zellenzahl in der Hörrinde 100 Millionen. (Blinkov & Glezer 1968). Obwohl sich im Aufbau der Hörbahn im Laufe der Primatenevolution nur wenig änderte und insgesamt ein Verlust der Hörschärfe gegenüber anderen Säugern eintrat, hat sich doch die Unterscheidungsfähigkeit von Klangfrequenzen gebessert (Vgl. 8.1.). Neuroanatomisch lassen sich dafür zwei Ursachen anführen. Einmal wird durch zahlreiche efferente Kontrollen der in der Hörbahn aufsteigenden Erregungsimpulse die Trennschärfe des Gehörs erhöht. Außerdem läßt sich in der primären Hörrinde eine Gliederung nach Tonfrequenzen entsprechend der Schnecke nachweisen. Durch den teils gekreuzten, teils ungekreuzten Verlauf der Hörbahn führt die einseitige Ausschaltung des primären Projektionsgebietes nicht zu einem kompletten Hörverlust, sondern zu einer doppelseitigen Erhöhung der Reizschwelle.

Die weitaus größte Mengenzunahme des Großhirns weisen jedoch der Stirnlappen und der Scheitellappen auf, die beide durch die Zentralfurche getrennt sind und sich während der Hominisation zu den zentralnervösen Zentren der intellektuellen menschlichen Fähigkeiten entwickeln (vgl. Bild 20). Von einigen Neuroanatomen wird die Auffassung vertreten, daß gerade die Vergrößerung des Stirnlappens ein für die menschliche Gehirnbildung entscheidendes Merkmal sei. Durch seine Zunahme kommt es räumlich zu einer Uberlagerung der Augenhöhlen durch das Neurocra152

nium und zu einer für das menschliche Gesicht typischen Stirnbildung führt (vgl. Bild 19). Seine allgemeine psychisch-physische Bedeutung ergibt sich aus verschiedenen funktionellen Tatbeständen. So haben operative Durchtrennungen der Verbindungen des Stirnhirns mit dem Thalamus einerseits zur Beseitigung neurotischer Störung des Verhaltens, andererseits aber auch zu einer Verringerung des inneren Antriebes und der Willensbildung geführt. Bei Stirnhirnverletzungen kommt es neben Persönlichkeitsveränderungen auch zu einem Verlust der komplizierten sozialen Hemmungs- und Köntrollsysteme, die über die Kenntnis spezifischer Wertvorstellungen vermittelt werden. Derartige neurochirurgische Befunde, die neben Beobachtungen über Verhaltensänderungen beim Menschen auch auf der Uberprüfung cognitiver Fähigkeiten bei Menschenaffen nach operativen Eingriffen in das Frontalhirn beruhen, zeigen, daß die Ausbildung des Stirnhirns die morphologische Basis für drei die psychische Menschwerdung zentral betreffende Funktionen bildet: 1.) der Genese psychischer Eigenschaften, die im engen Zusammenhang mit der Ausbildung einer spezifischen Persönlichkeit und der psychischen Individualität stehen, 2.) der Entstehung eines für das menschliche Verhalten typischen inneren Antriebes als Willensbildung und 3.) die Beeinflussung der Konzentration und Aufmerksamkeit. Die einzelnen empirischen Befunde bleiben aber auch in ihrer medizinischen Relevanz umstritten. Der Verarmung geistiger und motorischer Antriebe bei Stirnhirnverletzungen stehen Befunde nahezu symptomloser Erkrankungen gegenüber. Verkümmerungen des Stirnhirns seit der Geburt führen zur Idiotie, ebenso wie die mit Verblödungserscheinungen verbundene progressive Paralyse morphologisch von einer Atrophie des Stirnhirns begleitet ist. Die besondere psychische Entwicklung des Menschen läßt sich aber nicht allein auf die Stirnhirnevolution reduzieren, da auch andere Gebiete der Großhirnrinde die morphologische Grundlage für höhere psychische Leistungen sind. An erster Stelle wäre hier der Parietallappen zu erwähnen, in dem sich neben den Assoziationszentren für akustische, somato-sensible und visuelle Empfindungen auch die für komplexe cognitive Leistungen des Menschen wichtigen sekundären Assoziationsfelder als >Assoziationsrinde der Assoziationsrinde< befindet. Es handelt sich bei diesen Sekundärgebieten um Integrationsgebiete mit einem geringen funktionellen Spezialisierungsgrad, einer starken Plastizität der Verarbeitung der verschiedenen intercorticalen Einflüsse und komplexen Verschaltungen, die nicht mehr direkt einer receptorischen oder effektorischen Funktion zugeordnet werden können. Sowohl die Beobachtungen klinischer Ausfallerscheinungen als auch neurophysiologische Untersuchungen zeigen, daß die sekundären Assoziationsfelder, die im hinteren unteren Gebiet des Parietallappens, 153

aber auch im Temporallappen liegen, die neuroanatomische Grundlage für zahlreiche cognitive Prozesse wie die Ausbildung komplexer bedingter Reaktionen, Gedächtnisleistungen und von Abstraktionsprozessen sind. Ihre Lage im zentralen Hirnbereich und die außerordentliche Mengenzunahme führt zu differenzierten Wachstumsvorgängen und einer charakteristischen Stauchung des Gehirns als Hirnknickung (vgl. Bild 19c). Eine Parallelität in der Volumenzunahme des Parietallappens und der Evolution der intellektuellen Fähigkeiten der Hominiden ist unverkennbar, auch wenn sich ebenso wie bei der Evolution des Stirnhirns die komplexen Bewußtseinsleistungen des Menschen nur schwer auf ein bestimmtes Hirngebiet zurückführen lassen zumal diese Gebiete auch untereinander wieder eng verschaltet sind. Die enge funktionelle Verschränkung zwischen Frontal- und Parietalhirn zeigt sich in der psycho-physischen Organisation der Zentralfurche. Der praecentrale Teil bildet die motorischen Projektionsfelder als Ursprungsgebiete der Willkürhandlungen, die aber auch auf den postcentrale Teile und damit dem Parietallappen übergreifen, während die frontalen Teile des Stirnhirns >stumm< sind und bei elektrischer Reizung keine motorischen Reaktionen zeigen (vgl. Bild 20). Umgekehrt greifen die sensorischen Projektionsfelder des postzentralen Gyrus, wo vor allem die somatosensiblen Projektionsfelder (z. B. Tastsinn und Schmerz) liegen, auch auf die praezentralen motorischen Projektionsfelder über, was auf einen engen funktionellen Zusammenhang zwischen Motorik und Sensorik hinweist. Phylogenetisch führt die räumliche Ausdehnung der sekundären Assoziationsfelder und damit des Scheitellappens zu einem deutlichen Sprung zwischen höheren tierischen Primaten und dem Menschen. Physiologisch äußert sich der Erwerb der sekundären Assoziationsfelder darin, daß die Marktreifung dieser Gebiete in der ontogenetischen Entwicklung zuletzt eintritt.

Obwohl einzelne Gehirngebiete wie der Frontallappen oder der Parietallappen in der Evolution der Hominiden gegenüber dem Pongidengehirn besonders zunehmen, ist die Bewußtseinsentstehung nicht an die Ausbildung spezieller Funktionszentren gebunden, sondern ergibt sich aus der integrativen Gesamtleistung des Gehirns. Entscheidend für die höheren psychischen Funktionen ist die progressive Entfaltung der neocorticalen Sekundärgebiete der Hirnrinde, die keine direkten Beziehungen zu den Receptoren und effektorischen Muskelsystemen mehr besitzen, so daß die Bewußtseinsleistungen weniger auf einen verbesserten Empfang von Außenweltinformationen, sondern eher auf einer intensivierten internen Informationsverarbeitung beruhen. Die in der Primatenevolution auftretenden Änderungen der Gehirnbildung sind Erweiterungen bestehender Strukturen, Funktionsverlagerungen in andere Hirngebiete und komplexe relationale Verschiebungen zwischen einzelnen Hirnpartien, die deshalb mit anderen Tiergruppen 154

schwierig zu vergleichen sind, da sie teilweise Spezialisierungen an völlig unterschiedliche Umwelt darstellen. Durchgehend ist die Massenzunahme des Neocortex als wichtigstem Prozeß der Neencephalisation, der durch die Berechnung eines Progressionsindex auch quantitativ beschrieben werden kann. Am Beginn der Primatenphylogenese stehen hier kleine Formen mit einem geringen Neencephalisationsgrad. Bei den Tupaiidae ist der Neocortex ca 8mal so groß wie bei basalen Insektenfressern. Entsprechende Werte betragen für die Koboldmakis 21,5, was etwa dem niedrigsten bei simischen Affen gefundenen Wert (südamerikanische Brüllaffen der Gattung Aloutta) vergleichbar ist, während die Werte für die ebenfalls zu den Plattnasenaffen (Platyrrhina) gehörenden Krallenäffchen (Callithrix) und die Nachtaffen (Aotus) 26,3-29,3 und 34 betragen. Bei den altweltlichen Schmalnasenaffen bestehen Differenzen zwischen bestehenden Differenzen zwischen den Schlankaffen (Colobidae) und Meerkatzen (Cercopithecus) mit 40 und 55 einerseits und dem Schimpansen mit 84 andererseits, dessen Wert beinahe von den südamerikanischen Klammeraffen erreicht wird (79) (Starck 1975).

In den absoluten Werten haben sich alle Rindengebiete des Menschen gegenüber dem Schimpansen vergrößert, was aber nicht bedeutet, daß die einzelnen funktionellen Zentren auch in ihrer Abhängigkeit untereinander gleich geblieben sind. So hat z. B. die unverhältnismäßige Vergrößerung des Vorderhirns seinerseits wieder zu einer funktionellen Aufwertung des vordere Zentralwindung (motorische Zentren) Nv

Zentralfurche

Bild 20 Die wichtigsten Funktionszentren der menschlichen Großhirnrinde. Nach Fischel (1960)

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Thalamus als übergeordneter Schaltstation zwischen Cortex und anderen Hirnabschnitten geführt. Auch wenn die Großhirnrinde selbst als Bezugssystem benutzt wird, haben sich hier einige Rindenabschnitte stärker entwickelt als andere. Besondere Zunahme verzeichnen dabei die Rindenareale des Frontalhirns und der Temporal- sowie Parietallappen, für die Denkprozesse vermutet werden, sowie die Auswertungszentren für sensorische und motorische Informationen aus dem Kopfbereich und der Hand. Die Neencephalisation führt dabei zunächst zu einer stärkeren Entfaltung der Primärgebiete (z. B. die verschiedenen sensorischen Projektionsfelder), denen dann der Ausbau der sekundären Assoziationszentren vom Parietallappen aus folgt. (Vgl. Tab 6a) Neben progressiven Vergrößerungen, die besonders für den Unterschied zwischen Schimpansenhirn und menschlichem Gehirn wichtig sind, gibt es neben motorischen Arealen, die proportional mit der Vergrößerung der Rindenoberfläche wachsen, aber auch Funktionszentren, deren Wert prozentual abnimmt. So führt die Regression des Geruchssinns und der Bedeutungsverlust des limbischen Systems als zentralnervösen Integrationszentrums auch zu einer Verringerung des limbischen Cortex am prozentualen Anteil der Gesamtrindenfläche von 3,1 % (Affe) auf 2,1 % (Mensch). Ebenso führt die steigende Bedeutung des Gesichtssinnes zwar einerseits zum Ausbau optischer Integrationszentren im Zwischenhirn (Corpus geniculatum laterale) und einer absoluten Vergrößerung der sensorischen Projektionsfelder im Occipitallappen, andererseits sinkt der Anteil des Occipitalhirns an der Oberfläche der Hirnrinde von 21,5% (Affe) auf 12% (Mensch). Außerdem wird die Neencephalisation von mehreren zellulären Veränderungsprozessen begleitet: a.) Eine Vergrößerung der Neurone, so daß sich auch die Zahl der synaptischen Kontakte vergrößert, andererseits die Zellenzahl pro Raumeinheit sinkt. Dem ca 3 fach vergrößerten Rindenvolumen steht deshalb nur eine Verdoppelung der Zellenzahl im Vergleich zum Schimpansen gegenüber (Blinkow & Glezer 1968). b.) Die Zahl der Ganglienzellen pro Nervenfaser nimmt in der Primatenevolution zu. Während z. B. in der Sehbahn des Rhesusaffen das Verhältnis noch 1 : 150 beträgt, steigt diese Zahl in der menschlichen Sehbahn auf 1 : 500 (Blinkow & Glezer 1968). c.) Bereits eine geringe Vergrößerung der Zellenzahl bedeutet eine Vervielfachung der Schaltmöglichkeiten, die ihrerseits zu einer besseren zentralnervösen Informationsverarbeitung führt. Wesentliche Veränderungen der Gehirnevolution liegen damit auch unterhalb der mikroskopisch sichtbaren Veränderungen. Der Grau-Zellkoeffizient, der Hinweise auf die Zahl der Neuronenverbindungen ermöglicht, ist z. B. beim Menschen um 50% höher als beim Schimpansen. Besonders die Vergrößerung des Hirnvolu156

mens stellt die biologisch-morphologische Organisation des menschlichen Organismus vor eine Reihe spezifischer Formbildungsprobleme, die teilweise eine günstige biologische Lösung gefunden haben, während andere zur objektiven Grenze für eine weitere Vergrößerung des menschlichen Gehirns geworden sind. Zu den ersteren gehört z. B. das Auftreten von Furchen und Windungen bei der Hirngestaltung, die zu einer Entfaltung der Oberfläche beider Hirnhälften führen. Noch das Gehirn primitiver Säugetiere ist ungefurcht (lissencephal),aber bereits bei fossilen und recenten Halbaffen treten Furchungsstrukturen auf, die sich mit der weiteren Vergrößerung des Gehirns in der Primatenevolution verstärken. Durch diesen Faltungsprozeß, der nicht nur Ausdruck der zunehmenden Zahl von Rindenneuronen ist, sondern auch bei einer durch veränderte Körpergröße verursachten Steigerung des Gehirnvolumens auftritt, nimmt die Oberfläche des Neurocraniums stärker zu als die Innenseite. Eine andere Möglichkeit wäre eine Verdickung der Hirnrinde gewesen, die bei allen Säugetieren jedoch nur wenige Millimeter stark ist (Homo: 2, 9, Ratte 1, 26), wodurch sie aber ihren Rindencharakter verloren hätte und auch die Zahl der ableitenden Neurone mit zunehmender Dicke an eine nicht überwindbare Grenze gestoßen wäre. Die Vorteile einer Faltung sind daraus zu ersehen, daß das menschliche Gehirnvolumen gegenüber dem des Gorillas um das 2,5 fache zunahm, die Oberfläche des menschlichen Hirns jedoch 4mal so groß ist (Camphell 1972). Eine biologische Grenze für eine ständige Vergrößerung der absoluten Hirngröße stellt dagegen das Verhältnis von knöchernen Geburtskanal und Kopfgröße des Fetus dar. Entscheidend ist hier vor allem die Weite zwischen Promotorium und Symphyse, die bereits geringer ist als die Größe des fetalen Kopfes, was eine Drehung des Kopfes während der Beckenpassage notwendig macht. Die Struktur des knöchernen Beckenkanals, der durch die Verbindung des Beckens mit dem Kreuzbein beeinflußt ist, setzt auch dem fetalen Wachstum des Gehirns eine Grenze, das während der Schwangerschaft unverhältnismäßig stark zunimmt. Beim Menschenaffen sind die Verhältnisse von Geburtskanal und Kopfgröße wesentlich günstiger, was einen erleichterten Geburtsvorgang bedingt. Es liegt nahe anzunehmen, daß die Veränderung der Fortbewegung während der Hominisation zwar einerseits selbst eine entscheidende Ursache für die Entstehung des Bewußtseins ist, gleichzeitig aber durch die Änderung des Skelettes durch den Aufrichtungsprozeß im Beckenbereich der Hirnvergrößerung bestimmte Grenzen gesetzt sind. Dagegen spricht aber ein ähnlich ungünstiges Verhältnis von Geburtskanal und Kopfgroße bei Nichtpongiden unter den simischen Primaten. Allgemein ist der Neencephalisationsprozeß - zugleich das wichtigste 157

biologische Merkmal der humanen Phase der Hominisation, demgegenüber alle weiteren Körperbauveränderungen in ihrer funktionellen Bedeutung zurücktreten - durch zwei Faktoren gekennzeichnet: a.) Die außergewöhnliche Mengenzunahme der Gehirnschädelkapazität. Diese Steigerung ist nicht allein auf eine Vergrößerung des Körpers in 500

1000

I

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1060

1 Pithecanthropus

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Austropithecines

Orang-utan

Chimpanzee

Bild 21 Zunahme der Hirnschädelkapazität in der Hominoidenevolution. Nach Olivier (1973)

158

der Primatenevolution zurückzuführen, sondern resultiert aus einem spezifischen Neencephalisationsprozeß, der zu einer über KörpergewichtHirnkapazität hinausgehenden Volumenzunahme der Gehirnkapazität führt. Das Verhältnis von Gehirn - Körpergewicht beträgt beim männlichen Schimpansen 0,86, beim erwachsenen Menschen dagegen bereits 2,07. Das absolute, über mehrere Individuen gemittelte Hirngewicht beträgt beim Orang-Utan ca 350-400 g, beim Schimpansen (Pan troglodytes) 400 g, beim Gorilla 500 g und beim recenten Menschen ca 1400 g. (Starck 1975). Tobias (1963) gibt für die Australopithecinen als primitivsten Hominiden Hirnschädelkapazitäten von 450-550 ccm bei einem Durchschnittswert von 508 ccm an, die Kapazitätswerte des Homo habilis liegen vorläufg zwischen 667-680 ccm, können sich aber durch die geringe Anzahl der Fossilfunde noch verändern. Die Gehirnschädelkapazitäten der Hominiden der Homo erectus-Gruppe sind je nach Entwicklungsniveau innerhalb dieser Spezialisation unterschiedlich. Die niedrigsten Werte des H. e. erectus (Pithecanthropus II) aus Sangiran/Java beträgt 750 ccm, der höchste auf ein männliches Individuum des Pekingmenschen (Sinanthropus) 1225 ccm. Dieser Mengenzuwachs - beim Menschen entspricht allein die Rindenzunahme etwa der Gesamtkapazität des Schimpansengehirns - wird vor allem von den neocorticalen Sekundärgebieten der Hirnrinde getragen. b.) Diese Mengenzunahme vollzieht sich außerdem in einer phylogenetisch gesehen sehr kurzen Zeit. Bereits in dem Entwicklungsabschnitt von den Australopithecinen bis zu der Homo erectus-Gruppe hat sich die Hirnkapazität der Hominiden verdoppelt, in der Relation von den Australopithecinen bis zum gegenwärtigen Menschen nahezu verdreifacht. Zeitlich umfaßt dieser Zeitraum vom Mittel - Pleistocän, dem Zeitpunkt der meisten bisherigen Australopithecinenfunde, bis zur Gegenwart ca 3 Millionenjahre. Die Gehirnbildung der Hominiden muß deshalb auf in hohem Maße praeadaptierte morphologischen Strukturen beruhen, die sich während der Primatenevolution herausgebildet haben, was dazu führt, daß Schimpansen ein zwar qualitativ ähnlich gestaltetes Gehirn besitzen, in der quantitativen Ausbildung dann aber ein eindrucksvoller Sprung zwischen äffischen Primaten und dem Menschen besteht. So ist z. B. die Großhirnoberfläche des Menschen durch den Windungsreichtum mit 840 cm2 deutlich größer als die des Schimpansen mit 280 cm2 (Blinkov & Glezer 1968). Sehr deutlich zeigt sich dieser Entwicklungssprung auch in den Werten des neocorticalen Progressionsindex, wo der Unterschied zwischen Schimpansen (84) und Mensch (214) größer ist als zwischen den primitivsten Primaten und dem Schimpansen. (Starck 1975). Die Massenzunahme der menschlichen Hirnschädelkapazität ist - unter der Beachtung der verschiedenen methodischen Grenzen derartiger Vergleiche - eine eindrucksvolle Dokumentation der mit der Bewußtseinsentwicklung verbundenen hiolo159

gischen Spezifik derHominisation. Sie zeigt aber andererseits auch, daß die Möglichkeit über eine Rekonstruktion morphologischer Strukturen in der Primatenreihe zu Aussagen über die psychische Spezifik zu kommen, begrenzt ist. Dies gilt bereits für einen größeren Feinheitsgrad der morphologischen Analyse, die z. B. die Veränderung der Neuronen, ihrer veränderCranial Capacity

SAPIENS 1495 H. NEANDERTALENSIS 1415

PITHECANTHROPUS/

AUSTRALOPITHECINES

CHIMPANZEE

-i—i— -0.7

Bild 22

160

Zeitliche Dimension der Hirnevolution. Nach Olivier (1973)

ten Dichte oder die Verknüpfung mit zu berücksichtigen sucht, in einem noch größeren Grade dann für Aussagen über den kausalen Zusammenhang zwischen Gehirnstruktur und physiologischer Leistung. Besonders der Punkt b.) weist verschärft darauf hin, daß die Unterscheidung zwischen Tier und Mensch primär aus dem psychischen Bereich abgeleitet ist, sie sich morphologisch und physiologisch aber nur unter Schwierigkeiten und innerhalb eines bestimmten Schematismus nachvollziehen läßt. Auch das wichtigste biologische Ergebnis der Hominisation, das Gehirn, läßt sich nur dann dem tierischen Gehirn als Alternative gegenüberstellen, wenn die Maße des Endgliedes dieser Evolutionsreihe zum Vergleich herangezogen werden. Vollkommen anders sind die Bedingungen jedoch am Beginn der Hominidenevolution, da sich hier eine Trennung von Tier und Mensch allein als Folge der Gehirnausbildung nicht treffen läßt. Selbst wenn man berücksichtigt, daß die Australopithecinen möglicherweise ein geringeres Körpergewicht als die Pongiden besaßen, ist der Unterschied in der Hirnschädelkapazität äußerst gering und auf jeden Fall wesentlich kleiner als zwischen den verschiedenen Evolutionsniveaus der Hominiden. Die überraschend geringe Hirnschädelkapazität der Australopithecinen, für die andererseits durch Werkzeugherstellung elementare Bewußtseinsformen angenommen werden müssen, hat zu zwei Problemen geführt: einmal der Revidierung theoretischer Vorstellungen über den humanen Status des Gehirnumfanges, zum anderen der Aufgabe der Vorstellung, daß anhand der Evolution der Gehirnkapazitäten ein Unterschied zwischen Tier und Mensch definiert werden kann. Die ursprünglich für den humanen Status des Gehirns, d. h. die Möglichkeit der psychischen Funktion als Bewußtsein, angenommene Grenze von 750 cm3 liegt wesentlich niedriger und praktisch bereits im Bereich der Zahlenwerte für die Gehirnkapazitäten der Menschenaffen, denen andererseits Bewußtseinsfunktionen nur in einem äußerst eingeschränkten Maße zugesprochen werden können. Gerade die für den Tier-Mensch-Ubergang wichtige Grenze zwischen Psychischen und Bewußtsein läßt sich gehirnanatomisch deshalb nur als theoretische Größe formulieren. Wenn jedoch der zeitliche Ablauf der Gehirnentwicklung zusammen mit anderen morphologischen Merkmalsänderungen in die Überlegungen mit eingeschlossen wird, zeigt sich die Entstehung des Bewußtseins zusammen mit der Geschwindigkeit der Gehirnvergrößerung von einem bestimmten Zeitpunkt an, - der dann als Tier-Mensch-Übergangsfeld definiert werden kann - als notwendiges Ereignis. Mit zunehmender Dauer dieses Evolutionstrends läßt sich auch der Unterschied zwischen Tier und Mensch immer genauer definieren, während möglicherweise bei einer Kapazität von ca 500 cm3 allein die spezifischen Umwelt- und Sozialbedingungen den Ausschlag für oder gegen eine Evolution zu psychischen Bewußtseinsstrukturen bestimmen. 161

Ein weiteres Problem der Kausalität zwischen Hirnschädelkapazität und Bewußtseinsentstehung im TMÜ zeigt die Existenz einiger Menschenaffen mit für die entsprechende Art extrem hohen Kapazitätswerten. So ist für einen männlichen Gorilla z. B. eine Schädelkapazität von 752 ccm bei artspezifischen Durchschnittswerten von 500 ccm bekannt (vgl. Bild 21), die damit bereits deutlich im humanen Bereich liegt und die untere Kapazitätsgrenze der unbestrittenen humanen Homo erectus-Gruppe erreicht wird. Die erstmalige Entstehung des Bewußtseins im TMÜ ist deshalb wahrscheinlich weniger von der individuellen Hirnschädelkapazitäty sondern von den Durchschnittswerten der entsprechenden Populationen bestimmt. Obwohl es gehirnphysiologisch durchaus denkbar ist, daß einzelne Primaten mit maximalen Schädelkapazitäten innerhalb der Normalverteilungskurve einer Population von der Organspezialisierung her potentiell zur Bewußtseinsbildung fähig sind, dürfte in letzter Konsequenz aber Faktoren wie die Struktur der innerartlichen Kommunikation, der soziale Systemzusammenhang der Gruppe, die ihrerseits wieder von der durchschnittlichen Hirnkapazität der Population abhängig sind, entscheidend sein. Innerhalb des Normalverteilungsgefälles werden dabei zweifellos die Individuen mit der größten Hirnkapazität durch ihre größeren Überlebenschancen bevorzugt, so daß sich im Selektionsprozeß eine allmähliche Erhöhung der durchschnittlichen Hirnkapazität als tatsächlicher Voraussetzung der Bewußtseinsentstehung durchsetzt (vgl. Bild 21). Die Individuen mit maximalen Kapazitäten innerhalb der Normalverteilungskurve sind einerseits evolutionäre Schrittmacher, andererseits werden sie durch die Wirkung des Populationsdurchschnitts in ihrer psychischen Entfaltung beschränkt. Sowohl für die Menschenaffenschädel als auch die Gehirne der frühen Hominiden existieren weite Variationsbreiten, die zeigen, daß der Erwerb des Bewußtsein im TMÜ ein artspezifisches Problem ist, bei dem die positive Auslese zwar einzelne Tiere mit Maximalkapazitäten bevorzugt, letztlich aber doch die Dynamik der Gesamtpopulation für das Erreichen eines bestimmten psycho-physischen Entwicklungsniveaus entscheidend ist. Obwohl die Maximierung der Hirnkapazität ein morphologisches Kriterium der gesamten Hominidenlinie ist, bleibt die Hirnevolution andererseits wie das Aussterben des Neanderthalers vor ca. 50000 Jahren zeigt, immer innerhalb der biologischen Selektionswirkung. Ob es sich bei dem Neanderthaler (H. s. neanderthalensis) um eine besondere eiszeitliche Spezialisierung handelt, die ebenso wie zahlreiche andere Tierarten der Eiszeit durch tiefgreifende Klima- und Umweltveränderungen ausstarb oder die Ursachen bereits gesellschaftlicher Natur waren, ist umstritten. Da der Neanderthaler und der Cromagnon-Mensch sympatrisch vorkamen, ist es denkbar, daß neben biologischen Spezialisationserscheinungn auch bereits gesellschaftliche Faktoren (z. B. kulturelle und ökonomische Isolierung, 162

Kriege) zur Artvernichtung beigetragen haben. Die Werte der Gehirnkapazitäten für die Fossilien von La Chapelle aux Saint liegen bei 1620 ccm, die Schädelkapazitäten anderer Neanderthal-Funde zeigen ähnlich hohe Werte (vgl. Bild 21). Das Aussterben dieser Hominidengruppe, deren Schädelkapazität bereits im Variationsbereich des recenten Menschen liegt, zeigt, daß 1.) der phylogentische Erwerb großer Gehirnkapazitäten und der Bewußtseinsfunktion biologisch nicht automatisch das Überleben der eigenen Art gewährleistet und 2.), daß es auch unter bereits gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen der frühen Hominiden die Absolutheit der biologischen Selektionswirkung gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungsfaktoren anhält und zum Aussterben führen kann. Von den zahlreichen Hominidenpopulationen, die sich seit dem Durchlaufen des TMÜ herausgebildet haben, sind alle bis auf den Homo sapiens wieder ausgestorben, obwohl sie wesentlich größere Hirnkapazitäten als etwa die drei Menschenaffenarten besaßen.

163

7. Zur Naturgeschichte der menschlichen Gesellschaft

Die phylogenetische Entstehung des Bewußtseins resultiert nicht nur aus morphologischen Bauplanänderungen und einer progressiven Entwicklung sinnes- und neurophysiologischer Leistungen, sondern diese Komponenten führen ihrerseits zu umfassenden Verhaltensänderungen im Fortpflanzungsbereich, der artspezifischen Kommunikation, der innerartlichen sozialen Organisation und der cognitiven Leistungsfähigkeit. Die in den folgenden Abschnitten zusammengefaßten Problemaspekte der Bewußtseinsentwicklung stützen sich zwar ebenfalls auf naturwissenschaftliche Tatsachen, die jedoch bereits wesentlich komplexer sind und sich durch mehrere erkenntnistheoretische Besonderheiten auszeichnen. a.) Bisher handelte sich um Fakten der naturwissenschaftlichen Anthropologie, Anatomie sowie Sinnes- und Neurophysiologie, die in ihrem Zusammenhang teilweise theoretisch zwar unterschiedlich interpretiert werden, in ihrer Faktizität aber unverändert bleiben. Charakteristisch ist deshalb z. B. das Aufstellen von Alternativhypothesen, deren Wahrscheinlichkeit dann empirisch überprüft wird (etwa als Diskussion um die Hypothesenwah'rscheinlichkeit der Brachiatoren- und Präbrachiotorenhypothese). Die Rekonstruktion psychischer Entwicklungsprozesse besitzt in diesem Bereich der Körperbaumerkmale noch eine sinnlich-konkrete Anschauungsunterlage, die lediglich der kausalen Unbestimmtheit jedes psycho-physischen Zusammenhanges unterliegt. Ebenso wie die anthropologischen und anatomischen Daten von der theoretischen Interpretation unabhängig eine objektive Informationsquelle bleiben, bedeutet jeder Fossilfund einen weiteren Erkenntnis- und Informationsgewinn, der durch Messungen auch quantitativ ausgewertet werden kann. b.) Bei den Empiriebereichen der Evolution (vor allem der Kommunikation oder der sozialen Organisation) im Zeitraum vom Oberen Pliocän vor 15 Millionen Jahren bis vor ca. 10000 am Ende des Palaeolithicums handelt es sich um eine »objektive Lücketierischer< Status vor, da eine harte innerartliche Konkurrenz besteht und die kräftigsten Tiere auch die günstigsten Überlebenschancen besitzen, während in der Hominisation zwar ebenfalls keine Gleichverteilung der Nahrungsressourcen erreicht wird, diese aber zumindest als ethische Verhaltensmaxime existiert, indem die Belange des Gattungswesen Mensch höher bewertet werden als die eigenen individuellen Bedürfnisse. Die Humanisierung der Natur, die zu einer Einschränkung der innerartlichen biologischen Selektionsbedingungen durch gesellschaftlich sanktionierte Normen als Sozialisierung führt, ist bisher keineswegs ein einseitiger >positiver< Prozeß, selbst wenn man von dem Fehlen einer tatsächlichen Gleichversorgung mit Nahrungsmitteln auf gesellschaftlicher Basis absieht, sondern enthält auch ganze spezifische neue - ebenfalls gesellschaftliche Mechanismen - der Selbst- und Artvernichtung. So bleiben innerartliche Aggressionen in äffischen Sozietäten auf individuelle soziale Beziehungen beschränkt, aber bereits Populationen einer Art sowie Arten, die sympatrisch ähnliche Biotope bewohnen, generalisieren soziale Konflikte nicht auf das Gruppenniveau, sondern weichen sich in der Mehrzahl bei bisher im Freiland beobachteten Konflikten aus. Insofern sind Kriege eine spezifisch menschliche Sozialisationserscheinung, in denen sekundär zweifellos auch verschiedene genetische Praedispositionen von Aggressionsmechanismen mit als Verhaltensmuster ausgenützt werden. Der Evolutionsunterschied zwischen tierischen Sozietäten und der menschlichen Gesellschaft ist deshalb immer doppelter Natur. Einmal existiert ein System >positiver< und >negativer< Weiterentwicklungen gegenüber der tierischen Sozietät, 168

wobei die Gefahr besteht, die eine oder andere Variante je nach der Sicht des Beobachters zu idealisieren, die aber beide zu einem wesentlichen Teil auf bereits naturhistorisch bestehenden sozialen Mechanismen beruhen. Zum anderen existiert ein System völlig neuer (ökonomisch bedingter) Sozialbeziehungen, die die menschliche Gesellschaft in ihrer historischen Einmaligkeit charakterisiert, biologisch aber ebenfalls nicht nur der besseren Selbst- und Arterhaltung dienen, so daß sich der qualitative Ubergang von der tierischen Sozietät zur menschlichen Sozialität durchaus auch negativ z. B. als Geschichte ökonomisch bedingter sozialer Selbstvernichtungsformen beschreiben läßt. 7.1.1. Die Funktion der Sexualität und Mutter-Kindbeziehung als biologische Grundlage von Sozialisierungsprozessen Unter den höheren Primaten, darin läßt sich eine Übereinstimmung zwischen den verschiedenen sexualbiologischen Untersuchungen feststellen, sind die Fortpflanzungsbeziehungen nicht mehr die Hauptdeterminanten beim Aufbau komplexer Sozialsysteme. Als sexuelle Partnerbeziehung oder Mutter-Kindbeziehung sind sie vielmehr nur eine mögliche Keimform sozialer Gruppenbildungen, wobei für die Mehrzahl der Primaten die Frage aber völlig offen ist, ob sich soziale Systeme als Generalisierung sexueller Verhaltensweisen entwickeln oder ob nicht umgekehrt vielmehr bestehende Sozialbeziehungen den Fortpflanzungsbeziehungen auch einen bestimmten Gruppen- und Sozialstatus aufprägen. Unbestritten ist, daß die Selektion bestimmter sexueller Merkmale, die über das Paarungs- und Kopulationsverhalten ebenso wie bei anderen Tieren auch bei Primaten wirksam wird, ein wesentlicher Mechanismus der Artbildung bleibt. Das Darwinsche Konzept der Sexualauslese geht davon aus, daß bestimmte für das andere Geschlecht typische Merkmale, die in engem Zusammenhang mit der Fortpflanzung stehen, positiv ausgelesen und damit mit größerer Wahrscheinlichkeit an die Nachkommen weitergegeben werden. Merkmale, die die Chancen während der Partnerwahl erhöhen, erhöhen auch die Wahrscheinlichkeit, den eigenen Gensatz bevorzugt in den Prozeß der Artbildung einzubringen. Der Sexualdimorphismus, der sich unter anderem auf die Körpergröße, Brustbildung, Fettverteilung, Beckenform, Körperbehaarung sowie Verhaltenseigenarten bezieht, spielt deshalb bei den äffischen Primaten und auch dem Menschen eine wichtige Rolle als biologischer Mechanismus der Artreproduktion. Dementsprechend kann für soziale Eigenschaften, die durch Sexualauslese positiv ausgelesen werden, eine überdurchschnittliche Reproduktionsrate angenommen werden, wenn sie ihrerseits für das Fortpflanzungsverhalten keine direkte Barriere darstellen, sondern sexuellen Kontakt begünstigen.

169

Sowohl bei den tierischen Primaten wie dem Menschen gibt es mehrere Wirkungsebenen der Sexualauslese. Einmal entscheidet z. B. die Rivalität der männlichen Individuen untereinander über die Fähigkeit zur genetischen Reproduktion, was in den verschiedenen Primatengruppen zu recht unterschiedlichen Lösungen geführt hat, über deren phylogenetische Beziehungen und Leistungsfähigkeit noch keine Einigkeit besteht. So hat sich z. B. die Unterscheidung zwischen >unimale groups< und >multimale groups< bei Primaten nicht als sinnvoll erwiesen (Vogel 1975). Zweifellos beeinflußt die männliche Konkurrenz auch die Ausbildung sozialer Dominanzhierarchien in der Primatengruppe, die jedoch nicht in jedem Fall identisch mit der sexuellen Hierarchie sein muß. Es gibt z. B. Beobachtungen die zeigen, daß dominante Tiere nicht automatisch auch innerhalb des Fortpflanzungsgeschehen dominieren und dominante Männchen z. B. bei Pavianen und Schimpansen auch rangtieferen Männchen Kopulationen in einem bestimmten Umfang ermöglichen. Eine andere Lösung ist in den Ein-Mann-Gruppen der Husarenaffen verwirklicht, die unter besonders schwierigen ökologischen Bedingungen leben. Die Mehrzahl der Männchen wird von der Fortpflanzung ausgeschlossen, da für die Reproduktion des Artbestandes ein Männchen genügt, das durch Konkurrenz ausgelesen wird. Bei diesen Arten entstehen mehr oder weniger große Männergruppen, was unter anderem den Vorteil hat, daß für die Weibchen und Jungtiere ein übermäßiger innerartlicher Nahrungswettbewerb verhindert wird. Die Sexualauswahl der Männchen wird in dem Fall der Ein-Mann-Gruppe extrem verschärft und führt zu sozialen Gruppen mit einem unausgeglichenen Geschlechterverhältnis. Das besonders vorteilhaft ausgestattete Männchen unterscheidet dann seinerseits wieder die verschiedenen weiblichen Partner anhand variabler Sexualmerkmale.

Innerhalb der Primatenordnung kommt es von den Halbaffen bis zu den Neuwelt- und Altweltaffen und dem Menschen zu einer mannigfachen Abänderung, beim Menschen auch zu einer direkten Abschwächung der Sexualauslese, andererseits aber auch zur Entstehung neuer sexualbiologischer Faktoren, die für die soziale Organisation zumindest von allgemeiner Bedeutung sind. Ebenso wie die anderen Säugetiere besitzen äffische Primaten eine artspezifische Brunstzeit, die zu einer bestimmten Geburtensaison in der Nachkommenschaft führt. Eine streng geregelte jahreszeitliche Periodik ist unter den Halbaffen für die Lemuren und Loris, von den Altweltaffen für Makaken, Languren, Meerkatzen und mehrere Pavianarten nachgewiesen, während bei Schimpansen eine Zufallsverteilung der Geburten, d. h. eine Streuung über das gesamte Jahre existiert (Jolly 1975), die auch für den Menschen charakteristisch ist. Ein wichtiger Hinweis auf die Labilität und Beeinflußbarkeit ist die Veränderung der Fortpflanzungsbereitschaft und Nachkommenverteilung bei 170

gefangenen und freilebenden Primatenarten. Rhesusaffen zeigen in der Natur eine regelmäßige Fortpflanzungsperiodik, die aber unter Laborbedingungen verlorengeht und hier ganzjährig Jungtiere geboren werden. Die sexuelle Periodik ist bei Primaten in starkem Maße von Umweltbedingungen (z. B. Tageslänge, bioklimatische Faktoren) abhängig, was dazu führt, daß in verschiedenen geografischen Gebieten vorkommende Arten teilweise auch unterschiedliche Fortpflanzungsverhältnisse besitzen. Auch beim Menschen existiert keine ideale Zufallsverteilung, sondern es bestehen für die europäische Bevölkerung leichte Geburtengipfel im Frühsommer, für die Nachkommen der südlichen Hemisphäre dagegen im Oktober/ November. Auch andere sexualbiologische Erscheinungen der Brunst sind beim Menschen homogenisiert oder abgeschwächt wie die besonderen physiologischen Erscheinungen des Östrus, dem beim Menschen der Menstrualzyklus entspricht (Camphell 1972). Da die Ovulation in der östrusphase die günstigsten Befruchtungsmöglichkeiten bietet, regen weibliche Primaten die Männchen in dieser Periode aktiv zur Kopulation an. Selbst bei den Weibchen des Gorilla und Schimpansen wird die Ovulation ebenso wie bei mehreren anderen Altweltaffen durch starke Schwellungen der Sexualhaut angezeigt. Bei anderen Primatenweibchen führt die Sexualperiodik außerdem zur Färbung der primären Genitalien. Der menschliche Menstrualzyklus ist von dem Ovulationsprozeß bei Primaten insofern unterschieden, da es einmal zu einem starken Blutausfluß aus dem Uterus kommt, der zwar auch bei Altweltaffen auftritt, hier aber deutlich geringer ist, während der Blutfluß bei Neuweltaffen nur noch mikroskopisch nachweisbar ist, zum anderen fehlt der weiblichen Sexualität eine dem Östrus vergleichbare Phase gesteigerter Fortpflanzungsbereitschaft. Obwohl die PrimatenWeibchen in der Regel einen Brunstzyklus mit einem Zwischenraum von ca. 30 Tagen besitzen, kommen auch kompliziertere Möglichkeiten vor, indem mehrere Zyklen ablaufen, dann daß jedoch die Ovulation eingestellt wird und sich damit ein jahreszeitlicher PolyÖstrus herausbildet. Ein anderer sexualbiologischer Faktor, der für die Sozialisationsmöglichkeiten eine wichtige Grundlage bildet, ist die Reduktion der Nachkommenzahl während der Primatenevolution, begleitet von einer Reduktion der funktionsfähigen Brustdrüsen. Während das Spitzhörnchen (Tupaia glis) noch 1-3 und der Halbaffe Lemur catta 1-2 Jungtiere pro Geburt wirft, sind bei den echten Affen ein Jungtier pro Geburt die Regel. Eine Ausnahme bilden hier einige primitive Neuweltaffen, deren Nachkommen überwiegend als Zwillinge geboren werden. Durch die Länge der Fruchtbarkeitsperiode und die Tragzeit läßt sich für die einzelnen Arten dabei das mögliche Fortpflanzungspotential theoretisch errechnen. Beim Menschen liegt das Maximum je nach den Ausgangswerten zwischen 50 und 171

100 Nachkommen, beim Schimpansen über 400, während primitivere Primatenarten noch theoretische Werte von über 1 Million Nachkommen je Weibchen erreichen. Tendentiell führt der genetische Reproduktionsprozeß in der Primatenevolution zu einer Verringerung der Nachkommenzahl, was jedoch nur unter der Bedingung sinnvoll ist, wenn die wenigen Nachkommen maximale Überlebenschancen besitzen. Die Arterhaltung wird hier nicht über eine Massenproduktion von Nachkommen gelöst, die sich gegenüber den Selektionsbedingungen der Umwelt durchsetzen müssen, sondern durch eine intensive nachgeburtliche Fürsorge, die zu einer ersten allgemein-biologischen Grundlage der Sozialisierung wird. Auch die Mehrzahl der höheren Primaten schöpft das theoretische Fortpflanzungspotential keineswegs aus, sondern gebären nur alle zwei oder drei Jahre, wenn das neugeborene Tier überlebt. Die geringe Geburtenrate führt automatisch zu einer intensiveren Brutpflege und damit zu einer größeren Uberlebenschance. Die Sozialisierung der Nachkommen erhält damit durch eine individualisierte Mutter-Kind-Beziehung eine Möglichkeit, über die Hilflosigkeit des Neugeborenen eine schützende soziale Umwelt zu legen und die anonyme innerartliche Konkurrenz zwischen den Jungtieren, die sich bei einer hohen Geburtenrate ergibt, zu reduzieren. Tieraffe

Abhängigkeit des Kindes Zeugungsfähig mit Voll ausgewachsen mit

1 2-4 7

Menschenäffe

2 8 12

Mensch

6-8 14 20

Tab. 8 Vergleich biologischer Entwicklungsdaten bei nichthumanen Primaten und dem Menschen in Jahren

Gleichzeitig kommt es in der Primatenentwicklung auch zu einer Verlängerung der Trächtigkeitsdauer (Schwangerschaft), die für den Foetus eine verlängerte physiologische Reifeperiode bedeulten, für das Muttertier andererseits sozialen Schutz innerhalb des Gruppenverbandes notwendig macht. Bei dem Spitzhörnchen beträgt die Tragzeit ca. 45 Tage, bei dem Catta ca. 146 Tage, bei den neuweltlichen Kapuzineraffen ca. 180 Tage und bei Rhesusaffen ca. 163 Tage. Bei den Menschenaffen schwankt die Trächtigkeitsdauer je nach Art von 231 Tagen bei den Schimpansen (Pan troglodytes), 233 Tagen bei Orang-Utan und 251-289 Tagen beim Gorilla (Gorilla g. gorilla). Insgesamt ist das Verhältnis von Sexualität und Sozialität sehr vielschichtig und wird durch mehrere biologische Faktoren mit beeinflußt. Sexuelle Mechanismen sind einmal konstituierend für einfache soziale Beziehungen, andererseits wirken sie innerhalb der hochentwickelten Primatemozietäten 172

auch desintegrierend. Elementare gesellschaftliche Entwicklungen bei Frühmenschen müssen sich deshalb teilweise gegen die sexualbiologischen Grundlagen einer sozialen Organisation durchgesetzt haben. Für Primatengesellschaften läßt sich z. B. errechnen, daß bei einer durchschnittlichen Lebensdauer von 20 Jahren die Weibchen ca. nur 20 Wochen in der Phase erhöhter Fortpflanzungsbereitschaft sind, was darauf hinweist, daß bereits hier die Bildung von Sozietäten weit über eine Koordination sexueller Verhaltensweisen hinausgeht und zusätzliche überdauernde Sozialbindungen bestehen müssen, wenn es zu einer dauerhaften Gruppenbildung kommen soll. Aber sowohl bei den äffischen Primaten wie dem Menschen bleibt das sexuelle Verhalten ein bevorzugtes Selektionskriterium, an dem besonders auch die innerartliche Konkurrenz ansetzt, die insofern die Bedingungen des zwischenartlichen Wettbewerbs verschärft, da hier für mehrere Individuen die gleiche Menge an Raum und Nahrung beansprucht wird. Intraspezifische Wettbewerbssituationen finden sich deshalb einmal als Sexualauslese zwischen verschiedenen Männchen und der Auswahl der Weibchen durch die Männchen einerseits, aber andererseits auch zwischen den verschiedenen Jungtieren, wenn diese in großer Zahl annähernd gleichzeitig geboren werden. Die Reduktion der Nachkommen bei Primaten ist deshalb zugleich ein Beispiel dafür, wie der innerartliche Konkurrenzkampf abgebaut und durch eine soziale Erweiterung der Brutpflege stark eingeschränkt werden kann. Die Auswirkungen der einzelnen angeführten Veränderungen wie Relativierung der Brunstzeit, Verlängerung der Schwangerschaft usw. auf den Selektionsvorgang sind mitunter sehr direkt und reichen bis auf die biochemische und physiologische Kausalebene. Ein Beispiel dafür ist der Erwerb der haemochorialen Placenta und die Verlängerung der Schwangerschaft in ihrer Wirkung auf die Ausbildung verschiedener Eiweiße während der prae- und der postnatalen Entwicklung der Primaten. Einmal ist klar, daß mit dem Ansteigen der Trächtigkeitsdauer die Bedeutung der Placenta als Austauschorgan zwischen Muttertier und Embryo zunimmt und - da der Stoffwechselaustausch bei den verschiedenen (epitheliochoralen, endotheliochoralen, haemochoralen) Placentatypen unterschiedlich ist - insgesamt der Typus ausgelesen wird, der eine maximale Versorgung des Foetus gewährleistet. Von Goodmann und anderen Immunologen wird außerdem die nicht unbestrittete Hypothese vertreten, daß durch den engen Kontakt von foetalem und mütterlichem Blut während der Schwangerschaft eine Immunisierung des Säuglings gegenüber Umwelteinflüssen erreicht wird. Als Argument für diese Überlegungen wird angeführt, daß foetale Proteine wie das Albumin durch diese Immunisierungswirkung des mütterlichen Blutes in ihrer Entwicklung stabiler sind wie die Proteine (z. B. Gammaglobuline), die erst postnatal in der ontogenetischen Entwicklung auftreten und nicht mehr mit dem mütterlichen Blut reagieren. Dementsprechend fällt die Antigen-Reaktion bei den Gammaglobulinen der Alt- und Neuweltaffen stärker aus als die der Albumine. Der stärkere Umwelteinfluß hat bei den Gammaglobulinen der Primaten zu einer

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höheren Evolutionsgeschwindigkeit und damit biochemischen Verschiedenheit geführt, da eine Genmutation durch die komplexe Struktur der Polypeptidketten auch zu einer Änderung der Primärstruktur der Eiweiße führt.

7.1.2. Ethologische Mechanismen des Sozialkontaktes und der Gruppenbildung bei Tieraffen Die gegenseitige Fellpflege (>GroomingToilettenkralle< an der 2. Zehe des Fußes ständige Körperpflege. Im Übergang von den Halbaffen zu den Simiae, die in einem noch stärkeren Maße Kontakttiere (Hediger) sind, erhält das Fellpflegen eine immer stärkere soziale Komponente, wobei es keinem Zweifel unterliegt, daß die Fellreinigung ursprünglich auch in der Beschränkung auf eine Selbstreinigung des eigenen Körpers eine wichtige biologische Funktion erfüllt. Sozial wird das Komfortverhalten dann, wenn die Tiere dazu übergehen, sich wechselseitig von Schmutzpartikeln und Parasiten zu säubern. Bei den Schimpansen aber auch bei zahlreichen anderen Affenarten spielt die gegenseitige Körperpflege dann eine wichtige soziale und im weiteren Sinne kommunikative Rolle zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern, die echte soziale Hilfeleistungen einschließt wie z. B. das bei gefangenen Schimpansen beobachtete Entfernen von Fremdobjekten aus dem Auge. Biologische Spezialisierungen wie Zahnkämme und Toilettenkrallen, wie sie den verschiedenen Halbaffengruppen noch verbreitet sind, werden bei den simischen Primaten zunehmend durch eine differenzierte Feinmotorik der Vorderextremitäten abgelöst. Die körperpflegenden Partner teilen dabei das Fell und lesen mit gezielten Greifoperationen oder durch den Mund Fremdpartikel aus. Die Häufigkeit des Sozialkontaktes als Grooming ist bei den einzelnen Arten verschieden. Bei einigen Arten wie den Brüllaffen oder Totenkopfaffen ist es in der Häufigkeit vergleichsweise zurückgegangen, bei Nachtaffen steht es in einem engen Zusammenhang mit dem Paarungsverhalten, das ja zu einem besonders aktiven sozialen Kontakt führt. Die Sozialisierung des Körperpflegeverhaltens wird vor allem dadurch gefördert, wenn Gruppen mit besonders engem wechselseitigen Körperkontakt gebildet werden wie die Schlafgruppen der Galagos oder die Sozietäten der indischen Hutaffen.

Allgemein steht die wechselseitige Körperpflege bei Primaten mindestens mit vier sozialen Gruppenfunktionen in einem engen funktionellen Zusammenhang: a.) Der Kennzeichnung individueller sozialer Beziehungen, aber auch innerhalb der Gruppe besonders hervorgehobener Zweierbeziehungen 174

(z. B. Mutter-Kind-VerbältniSy Paarbildung). Die soziale Fellpflege kann dabei sowohl Abstammungsverhältnisse, Freundschaften als auch den sozialen Status widerspiegeln. Die Häufigkeit der wechselseitigen Zuwendungen ist von den täglichen Ereignissen in der Primatengruppe abhängig und kann sich durch Zerwürfnisse, neue Freundschaften oder Wechsel der sexuellen Partner ständig ändern. Beobachtungen bei Pavianen zeigten, daß eine manipulative Säuberung unmittelbar nach der Entwicklung des Festhaltens und des Greifens in das Fell des Muttertieres erfolgt. Gelegentlich wird deshalb die Hypothese vertreten, daß sich die soziale Fellpflege direkt aus dem Mutter-Kind-Verhalten entwickelt hat. Eine Generalisierung ursprünglicher Brutpflegehandlungen zu sozialen Kontaktmechanismen finden sich bei zahlreichen Begrüßungsprozessen auch beim Menschen (z. B. Umarmen, Küssen als ursprüngliche Mund-zu-Mund-Fütterung usw.). b.) Der Charakterisierung von Geschlechtsbeziehungen innerhalb der Gruppe, besonders des Verhältnisses von männlichen und weiblichen Tieren. Bei Nachtaffen, aber auch anderen Arten, ist häufig das Männchen der aktive Partner bei der sozialen Fellpflege. Andererseits fordern männliche Rhesusaffen und Paviane Weibchen demonstrativ zu Fellpflege auf, die zwar erwidert wird, aber doch in einer wesentlich kürzeren Zeit. Im Östrus werden Weibchen aufmerksamer gepflegt. c.) Fellpflege kann auch zum Anzeigen des sexuellen Statuts und der Kopulationsbereitschaft dienen. Moynihan (1967) vertritt die Hypothese, daß die soziale Fellpflege ursprünglich eine Verhaltensweise war, die auf die Kontaktaufnahme unmittelbar vor der Kopulation begrenzt ist und erst später durch Ritualisation zu einem sozialen Signal wurde. Bei mehreren Neuweltaffen (z. B. Aotus, Brüllaffen) betreiben die sozialen Gruppen und auch die einzelnen Paare nur wenig Fellpflege, die aber regelmäßig vor der Kopulation als Vorspiel auftritt. d.) Die soziale Fellpflege dient schließlich vor allem bei Lemuren und Altweltaffen als Kennzeichen und Demonstration des sozialen Status. Die Häufigkeit der Fellpflege entspricht deshalb Rangunterschieden bzw. sie dient dazu, soziale Kontakte über diese Schranken hinweg aufzunehmen. Sowohl Weibchen als auch Gruppenfremde werden deshalb häufig von dem dominanten Männchen zur Fellpflege aufgefordert. Der emotionale Unterton der Fellpflege, der sowohl Vertrauen wie soziale Abhängigkeit enthält, wird zu einem regulativen Faktor, der individuelle und gruppenspezifische Aggressionen dämpfen und beseitigen kann, wobei die Aktivität auf Seiten des Subdominanten Tieres liegt. Ursprünglich war die Körperpflege insofern asozial, da sie der Reinigung nur des eigenen Körpers dient, die durch den dichten Haarwuchs notwendig wird. Dabei kann es zu einer positiven Rückkopplung z. B. durch den salzigen Geschmack der Hautpartikel gekommen sein. Der entscheidende Sprung ist dann die Ubertra175

gung auf den sozialen Partner und damit ein alruistisches Verhalten, das auf einer Rückübertragung beruht. In dem Stadium der sozialen Kommunikation ist die Fellpflege zwar immer noch ein biologisch sinnvolles Verhalten, der eigentliche Informationswert liegt aber in dem Abbau sozialer Spannungen in der Gruppe und der Demonstration von Rangverhältnissen. Durch Ritualisation ist ein submissives Signal entstanden.

Bild 23 (a) Soziale Fellpflege zweier Rhesusaffen, (b) Präsentieren zum Auf reiten. Nach Altmann (1962)

Neben den allgemeinen Gesichtspunkten der Beziehung von Sexualität und Gesellschaftlichkeit existiert bei den einzelnen tierischen Primatenarten eine spezielle Kommunikationsebene über artspezifische Sexualmerkmale. Eine wichtige Rolle spielen dabei besondere visuelle Muster, die durch Geruchs- und Berührungsmerkmale ergänzt werden. Bei Halbaffen kann das Setzen von Geruchsmarkierungen vor der Kopulation die sexuelle Aktivität erheblich steigern. Auch Schimpansen begrüßen sich noch unter Einbeziehung einer genitalen Geruchskontrolle. Wahrscheinlich werden (vgl. Bild 7a) die noch am Ende des Sexualzyklus bestehenden optischen 176

Sexualmuster durch Geruchsmerkmale abgeschwächt und lösen nur noch eine geringe Aufmerksamkeit aus. Ein wichtiges optisches Sexualmerkmal besonders der Altweltaffen ist die Gestaltung der äußeren Genitalien. Aber auch bei Halbaffen können Klitoris und Schamlippe außerordentlich groß werden, so daß z.B. bei einigen südamerikanischen Arten beide Geschlechter äußerlich nur schwer zu unterscheiden sind. Bei mehreren Halbaffenarten schwellen die vaginalen Lippen währnd des Östrus an, nehmen eine leuchtend rote Farbe an und treten im Fell deutlich hervor, während die anogenitale Region zwischen der Brunst unscheinbar bleibt. Das gleiche Phänomen findet sich bei den Menschenaffen. Bei zahlreichen Altweltaffen wie Pavianen, Zwergmeerkatzen und Mangaben ändert sich aber nicht nur das äußere weibliche Genital, sondern während des Östrus auch eine besondere Sexualhaut, die beim Menschen fehlt, beim Schimpansen aber noch vorhanden ist. Die Sexualhaut unterliegt einer zyklischen Änderung der Form und Farbe während des Sexualzyklus, indem es während der Kopulationsbereitschaft zu einem Anschwellen und zu einer intensiveren Färbung unter dem Einfluß der Veränderung des Östrogenspiegels kommt. Die Auffälligkeit der Sexualhaut ist zweifellos für das Männchen ein Signal, das die Kopulationsbereitschaft fördert. Bei anderen Arten wie den Rhesusaffen treten derartige Schwellungen und Färbungen zwar weniger hervor, dafür kommt es jedoch zu zahlreichen generellen Verhaltensänderungen wie der Aggressionsbereitschaft unter den Weibchen oder der sozialen Fellpflege. Bei den männlichen Primaten ist besonders das Scrotum und der Penis vieler Cercopithecidae (z. B. Cercopithecus, Papio) durch eine starke Färbung auffällig gestaltet. Bei dem Mandrill (P. sphinx) und dem Drill (P. leucophaeus) ist die Circumanalregion prächtig gefärbt, während die Sexualschwellungen der Weibchen unscheinbar bleiben. Die Genitalregion zahlreicher männlicher Meerkatzen ist von einem intensiven Blau. Bei der Grünen Meerkatze ist das Perineum bläulich getönt, das Scrotum leuchtend blau, von dem sich der intensiv rot gefärbte Penis absetzt. Möglicherweise handelt es sich hier, im Gegensatz etwa zu dem Mandrill, zusammen mit dem Rot der Analregion um eine Imitation des Sexualmerkmals des Weibchens, die auch bei Mantelpavianen auftritt. Derartige >soziogenitalen Sigiiale< (Ploog 1973) spielen dann eine wichtige Rolle als soziale Kommunikationsmöglichkeit. Die Imitation auf Seiten des Sexualpartners bedeutet die Aufhebung der nur sexuellen Bedeutung und die Einordnung in einen besonderen semantischen Kontext. Gleichzeitig löst sich die Beschränkung von einer besonderen Partnerbeziehung und die soziogenitalen Signale werden zusammen mit ritualisierten Verhaltensweisen artspezifische Merkmaley über die sich die gesamte Gruppe verständigen kann. Der Übergang von dem direkten Sexualreiz zu einem sozialgenitalen Signal führt damit 177

auch zu einer Überwindung der isolierenden Tendenzy die sexuellen Verhalten oberhalb der Paarbeziehung eigen ist. Nur einige der wichtigsten soziogenitalen Signale können hier angeführt werden. Die meisten sind eindrucksvolle Form- und Farbmuster, es gibt jedoch auch Ritualisierungen, die den gesamten Verhaltensablauf betreffen. a.) Zu ihnen gehört z. B. das Dominanzaufreiten, durch das Rangunterschiede demonstriert werden. Das Kopulationsverhalten hat hier eine Ritualisierung erfahren und besitzt über die ursprüngliche biologische Bedeutung hinaus einen besonderen sozialen Aspekt. Bei Rhesusaffen wurde z. B. beobachtet, daß bei der Begegnung verschiedener Gruppen die Männchen aufeinander aufreiten. Im Normalfall beweist von zwei Tieren gleichen Geschlechtes das ranghöhere seine dominante Stellung, indem es auf das unterlegene aufreitet. Der enge Zusammenhang mit dem Kopulationsverhalten zeigt sich in manchmal noch auftretenden Stoßbewegungen, die durch die Auseinandersetzung mit gleichgeschlechtigen Partnern funktionslos sind. Bei einigen Affen (z. B. Macaca rediata) reiten auch erregte Weibchen auf. Seit den Untersuchungen Zuckermanns (1932) über die Rangdemonstration bei Pavianen durch das Aufreiten gleichgeschlechtlicher Tiere sind zahlreiche differenzierte Bedeutungen nachgewiesen worden, die sich aus dem Kontext des Verhaltensablaufs ergeben. So kann das Aufreiten eine Strafe sein, mit der das ranghöhere Tier das Subdominante reglementiert, es kann eine Erlaubnis beinhalten, wenn nach dem Aufreiten das unterlegene Tier danach ein erstrebtes Futter aufnimmt oder es handelt sich um >WutkopulationenNacktbrustpavian< führte. Beim Männchen findet sich nur ein roter Hautfleck ohne zusätzliche Hautgebilde. Das farbige Brustmuster ist möglicherweise eine Imitation der weiblichen Anogenitalgegend, dessen Funktion im einzelnen noch nicht geklärt ist. Zweifellos besitzen derartig auffällige Körpergestaltungen aber eine spezifische soziale Signalfunktion, die im Zusammenhang mit dem bei Dscheladas beobachteten Brustdarbieten steht. c.) Bei den Totenkopfäffen (Saimiri sciureus) sind Elemente der Kopula178

tionsstellung zu einer Imponierbewegung abgewandelt, die Ploog und Mit. (1963) ausführlich beschrieben und klassifiziert hat. Dabei werden die Beine angewinkelt und abgespreizt, die Hände aufgestützt, während gleichzeitig eine maximale Erektion des Penis einsetzt. Beim Gegenimponieren kommt es gelegentlich zu einem engen körperlichen Kontakt der beiden Rivalen. Während des Imponierverhaltens wird der Körper zu einem Buckel gekrümmt und der Gegner, wenn der Abstand nicht zu eng ist, angeblickt. Der Signalwert des Imponieren bei den Totenkopfäffchen ist entscheidend von dem Bewegungsablauf abhängig, der mitunter nur einige Sekunden beträgt. Die Imponierstellung kann jedoch auch mehrere Minuten lang >einfrierenPräsentierenwatchdogWerkzeugsekundäre< Bereiche der gesellschaftlichen Organisation abgedrängt wird. Alle bisherigen Produktionsformen sind bisher derartige »biologische Mangelgesellschaften< geblieben, in denen die Formen des Nahrungserwerbs bzw. des expansiven Naturaneignung als Wachstumsform höher bewertet werden als die biologische Reproduktion der Gesellschaft selbst und Probleme der Intensivierung der inneren gesellschaftlichen Beziehungen. Ein weiteres Moment, an dem sich die Vergesellschaftung tierischer Sozialstrukturen durch eine instrumentelle soziale Erfahrung veranschaulichen läßt, ist die Ausdehnung der Planifikation. Schimpansen brauchen die soziale Kooperation nur bis zum Erlegen des Beutetieres auszudehnen, während sie die restliche Zeit wieder auf das tierische Organisationsniveau zurücksinken. Die soziale Kooperation der Frühmenschen ist gegenüber den nichthumanen Primaten insofern intensiver vergesellschaftet, als nicht nur der Jagdablauf selbst in seinen Varianten durchdacht werden muß, sondern auch der Zeitpunkt der Aktion, seine Abstimmung mit anderen 212

Lebensaktivitäten usw. Der Übergang von der ökologischen Naturabhängigkeit zur gesellschaftlichen Naturverwertung ist unter anderem dadurch definiert, daß der gesamte Lebensrhytmus und nicht nur die einzelne Handlung verplant wird. Eine ökonomisierung des Jagdverhaltens schließt also auch den Bezug der Zeiträume zwischen der Jagd auf dieses Ereignis selbst mit ein, wobei zweifellos die soziale Kooperation des Jäger-Treiber-Verhältnisses die Keimzelle für eine gesamtgesellschaftliche Generalisierung ist (Leontjew 1973). Die Evolution der Jagdbiologie der Hominiden sicherte dabei nicht nur eine maximale Befriedigung der Gruppenbedürfnisse, sondern führte auch zu einem Selektionsvorteil gegenüber den wichtigsten ökologischen Konkurrenten, den fleischfressenden Raubtieren. Diese sind zwar durchweg aufgrund verschiedener Spezialisierung im Körperbau und dem Verhalten besser biologisch an den Beuteerwerb angepaßt, jedoch sind die Frühmenschen durch eine ökonomische Organisation im weitesten Sinne überlegen, zu der nicht nur die Ausnutzung der innerartlichen sozialen Differenzierung für ein gemeinsames Endziel, sondern auch die Systematisierung der Jagdaktivitäten und schließlich der Einsatz zusätzlicher Instrumente als körperliche Hilfsmittel gehören. Obwohl bei der kooperativen Jagd nichthumaner Primaten und der Proto-Hominiden zunächst lediglich eine instrumentelle Ausnutzung der physischen Körperkräfte und einer günstigeren räumlichen Position des Artgenossen durch psychische und soziale Beeinflussung stattfindet, ist der Vorgang selbst doch mit einer Reihe bemerkenswerter psycho-physischer Prozesse verbunden, die als typisch für den Ubergang von Tier und Mensch angesehen werden können: a.) Trennung der Motivationen vom Verhaltensablauf und Verselbständigung zum Motiv als zentralen (biologischen) Element komplexer gesellschaftlicher Bedürfnisse. Der Treiber muß z. B. das Beutetier von sich wegjagen, so daß keine aktionsspezifische Endhandlung mehr auftritt, die den motivationalen Status löscht. Dies setzt wiederum eine Verallgemeinerung bzw. Sozialisierung der Motivation auf das gesamte Gruppenniveau voraus. b.) Es werden Verhaltensziele aufgestellt, die eine Planung zukünftiger Ereignisse ermöglichen und außerdem das Denken in Alternativen erzwingt. Die soziale Kooperation erfordert deshalb nicht nur einen räumlichen Uberblick der verschiedenen Hilfsaktivitäten der Gruppengenossen, sondern auch eine zeitliche Vorstellung des Handlungsablaufes. Besonders die zeitliche Erfahrung eines >post und >prae< dürfte wesentlich für den Beginn der Strukturierung des Psychischen als >Bewußtsein< gewesen sein. Die Existenz abstrakter Zielvorstellungen ermöglicht dann rückwirkend auch wieder völlig neue (gesellschaftliche) soziale Kooperationsformen wie z. B. die wechselnde Aktivität der Gruppenmitglieder im Treiber-JägerVerhältnis, das bereits nicht mehr als biologische Spezialiserung, sondern 213

nur noch als elementarer Form gesellschaftlicher Arbeitsteilung zu verstehen ist. c.) Es entsteht schließlich ein verallgemeinertes Bewußtsein der Zweckmäßigkeit der Unterordnung bei gruppenspezifischen Aktivitäten, die durch das Ergebnis belohnt wird. Dabei spielen zunächst zweifellos die verschiedenen Rangordnungen eine wichtige Funktion, die aber auch bereits biologisch durch modifizierendes Rollenverhalten aufgeweicht werden. Die Zweckmäßigkeit der Uberordnung allgemeiner (gruppenspezifischer) Zielvorstellungen gegenüber individuellen und ihre Abstimmung aufeinander ist das Amalgam, aus dem sich die Anfänge des gesellschaftlichen (Selbst-) Bewußtseins entwickeln.

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8. Die Sprache als psychisches Merkmal des Humanen 8.1. Allgemeine Gesetzmäßigkeiten der akustischen Signalübertragung Primaten gehören zu den Tiergruppen, die dem unvoreingenommenen Beobachter vor allem durch ihren außerordentlichen Lautreichtum auffallen. Für diese Eigenart lassen sich zwei allgemeine Ursachen anführen: einmal ihre hohe soziale Organisation mit komplexen, wechselnden Gruppenstrukturen, was einen ständigen kommunikativen Austausch von Informationen erfordert, und zum anderen begünstigt die arboricole Lebensweise die Evolution des akustischen Kanals gegenüber anderen Sinnessystemen. Das vollständige Kommunikationsspektrum beschränkt sich bei Primaten nicht nur auf die Lautbildung, sondern schließt auch taktile, chemische und visuelle Signalübertragung mit ein, die bei den einzelnen Arten in unterschiedlicher Proportionalität vorkommen. Z. B. spielt die Berührungskommunikation vor allem in der Jugendentwicklung bei Primaten eine dominierende Rolle etwa als Anklammern und Greifen im Fell oder als Saugen, bei älteren Tieren dann als soziale Fellpflege, wobei häufig ein spezifischer emotionaler Unterton beobachtet werden kann. Kommunikation über den Geruchssinn ist vor allem bei Halbaffen verbreitet, die Geruchsmarken zur Orientierung und Markierung des Territoriums bzw. zur Parfümierung des eigenen Körpers benutzen, (vgl. 5.1.1.). Auch auf die zahlreichen visuellen Kommunikationsmöglichkeiten wurde bereits (2.3.2.) hingewiesen. Dadurch können komplexe räumliche Muster entstehen, da nicht nur der Gesichtsausdruck, sondern auch die allgemeine Körperhaltung, Veränderung der Stellung von Körperteilen wie Ohren oder Schwanz und die Aufrichtung von Haartrachten in die visuelle Kommunikation mit eingeschlossen werden. Besonders sympatrische urwaldbewohnende Primatenarten bilden häufig grell-bunte Farbmuster oder bizarre Haartrachten aus, die zur zwischenartlichen Unterscheidung dienen (vgl. 6.2.).

Unter diesen Bedingungen einer entwickelten Kommunikationsvielfalt, die z. B. dazu geführt hat, daß die Primaten im taktilen Sinnesbereich als >Kontakttiere< definiert wurden ebenso wie durch ihre optische Leistungsfähigkeit als >AugentiereHaßrufe< verängstigter Tiere, das >Wutkekkern< bei innerartlichen Futter- und Rangstreitigkeiten oder die verschiedenen Warnlaute gegen Luft- und Bodenfeinde der Energiedämpfung angepaßt und dementsprechend kurz und hochfrequent. Die Übertragungs216

genauigkeit wird durch Redundanz ausgeglichen. So kann bei Pavianen das einmalige »schrille Bellen< von dem >zwei-Phasen-Bellenhundeähnliche Bellen< als Folge von 2 bis 4 Rufen wiederholt wird (Hamilton & Marler 1972). c.) Eine weitere wesentliche Ausbreitungseigenschaft von Schallwellen ist ihre Reflexion von mechanischen Hindernisseny zu der eine breite Diffusionsfähigkeit kommt, wenn die Gegenstände einen bestimmten Durchmesser nicht überschreiten. Außerdem kann der Schall über die Entfernung der Schallquelle und die Richtungsausbreitung informieren. Da sich die Schallwellen von ihrer Quelle aus radial verbreiten, sind dazu allerdings bestimmte Verrechnungen notwendig. Biologisch wird eine Verbesserung des Richtungshörens bereits durch eine Beweglichkeit des äußeren Ohres erreicht, das durch das Sammeln des Schalls außerdem eine Erhöhung des Schalldruckes und der Lautheit des akustischen Signals ermöglicht. d.) Gegenüber dem optischen System besonders günstig ist die Modulationsfähigkeit. Da bei der akustischen Informationsübertragung Sender und Empfänger identisch sind, kann die Lautproduktion auf die physikalischen Eigenschaften des Lebensraumes (z. B. Schalleitung, Schallreflexion) sowie die von anderen Sendern verursachte Geräuschkulisse eingestellt werden. Der Schall wird aber nicht nur in unterschiedlicher Stärke gesendet, sondern die Schallreceptoren verfügen auch über eine gute Adaptionsfähigkeit und können sich auf ändernde Lautstärken schnell einstellen. Bei der visuellen Kommunikation besteht ein derartiges Regulierungssystem nicht (eine Ausnahme bilden Arten, die selbst Licht produzieren), sondern die Beleuchtungsstärke stellt hier eine absolute Größe dar, die nur z. B. durch Kontrastierung oder andere optische Effekte maximal ausgenutzt werden kann. Die Adaptionsfähigkeit akustischer Receptoren ist auch deshalb wichtig, da die Änderung der Frequenz und der Lautstärke mit zu den häufigsten Codierungsstrategien innerhalb der akustischen Kommunikationssysteme gehören. Natürlicherweise liegt, bis auf wenige Ausnahmen, der Empfangsbereich des Receptors innerhalb des gleichen Frequenzbereichs wie der des Sendebereiches der Schallwellen. Während optische Signale zweifellos in zahlreichen physikalischen Kennwerten wie Ausbreitungsgeschwindigkeit, Energieverbrauch des Signalüberträgers, Adaptionsgeschwindigkeit des Receptors usw. überlegen sind, scheint der entscheidende Selektionsvorteil des akustischen Kanals gegenüber dem optischen System in einer zusätzlichen >inneren< Rückkoppelungsschleife des Sender-Empfänger-Systems zu liegen, durch das auch feine Änderungen der inneren Motivation oder der Umweltbedingungen sofort und unmittelbar kontrollierbar mitteilbar werden, da der Sender die eigene Lautbildung mithört. Die funktionelle Bedeutung der Rückwirkung zeigt sich in zahl217

reichen Ausfallerscheinungen, sie kann aber auch experimentell als LeeEffekt durch eine Erschwerung der auditiven Sprachkontrolle imitiert werden. Sowohl die experimentelle wie auch die krankhafte Einschränkung der Gehörkontrolle führt zunächst zu Erschwerungen und Deformation des Sprechvorganges, bei krankhaften Läsionen des auditiven Assoziationsfeldes auch zur Sprechunfähigkeit. Einfacherem Störungen führen zunächst nur zu Schwierigkeiten bei der Aussprache komplizierter Laute (z. B. Roder S-Laute) oder zu Koordinationsneurosen (Stottern). Auch das Ausbleiben der Sprache bei angeborener Taubheit beruht nicht auf Schädigungen des Sprachapparates oder mangelnder Abstraktionsfähigkeit, sondern dem Mangel auditiver Wahrnehmungen. Auch bei Ertaubung im späteren Alter kann es zu Klangveränderungen der ursprünglichen Sprache kommen, da das Abhören der eigenen Sprache, über das die Sprachmelodie und die motorischen Akte der Artikulation überprüft werden, entfällt. Als ein wichtiges methodisches Verfahren bei der Präzisierung der biologischen Wurzeln des menschlichen Sprachverhaltens hat sich die Tonspektrographie erwiesen. Die akustischen Signale werden dabei über einen Tonträger aufgenommen und in ein räumlisches Abbild umgesetzt. Durch die klaren Trennmöglichkeiten der Frequenzverschiebungen, die auch die Übergänge zwischen den einzelnen Lautelementen sichtbar werden läßt, ist aber nicht nur eine spektrographische Beschreibung der artspezifischen Lautgebung verschiedener Primaten möglich geworden, sondern es entstanden gleichzeitig zahlreiche Klassifikationsversuche mehrerer Autoren an unterschiedlichen Arten. Auf die Untersuchungen von Hinde & Rowell (1962) folgten weitere lautspektrographische und verhaltensbiologische Analysen sowohl niederer als auch höherer Primaten von Andrew (1962,1963), Itani (1963), Moynihan (1964, 1966), Altmann (1967), Ploog (1967), Struhsaker (1967), Marler (1965, 1972) u. a. Außer den Menschenaffen und den südamerikanischen Breitnasenaffen wie z. B. Krallenaffen (Callitrhix jacchus) oder Totenkopfäffchen (Saimiri sciureus) sind vor allem Meerkatzen (z. B. Cercopithecus aethiops) und verschiedene Makakenarten (z. B. M. mulatta, M. irus, M. fuscata) in ihrer Lautproduktion analysiert worden. Die Zahl der Laute beträgt bei Brüllaffen 20 (Carpenter), Languren 9 (Jay), Pavianen 10 (De Vore), Schimpansen 33 bzw. 13 (Learned & Yerkes, Reynolds) und Gorilla 11 (Schaller). Die Mannigfaltigkeit der entstandenen Klassifikationssysteme resultiert dabei nicht nur aus der unterschiedlichen Lautgebung, sondern auch aus den verschiedenen Klassifikationsprinzipien, unter denen sich noch keine Prioritäten finden. Die akustischen Signale können z. B. nach dem Alter und Geschlecht des Senders, nach der Reaktion des Empfängers, nach dem Inhalt der Nachricht, nach der Reizsituation und schließlich auch nach der physikalischen Struktur der Laute selbst klassifiziert werden. Die meisten Lauttypen sind bereits vor einer genauen tonspektrographischen Analyse vor allem nach den Motivationsstatus des Senders z. B. als Warnlaute, Alarmlaute, Notrufe usw. bezeichnet worden, die durch die Feststellung ihrer Frequenzen und anderer physikalischer Kennwerte nun genauer gekennzeichnet werden können. Außerdem entstehen zunehmend allgemeinere Klassifikationssysteme, die alternativ z. B. nach dem Kommunikationstyp »Einer zu

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EinemEiner zu Vielem< usw. oder nach dem Motivationsstatus z. B. »schwache Erregungs »starke Erregung< vorgehen. Tembrock (1971) schlägt eine Dreiteilung von akustischer Signalübertragung im Nahfeld (z. B. Kontaktlaute, Spiellaute, Domiiianzlaute), im Ubergangsfeld (Territoriallaute) und im Distanzfeld (Ruflaute, Alarmlaute) vor.

Die verwirrende Vielfalt bestehender und noch möglicher Klassifikationen der akustischen Signale, die von biologischen oder kommunikationstheoretischen Überlegungen ausgehen, läßt sich reduzieren, wenn die Obertragungsfunktion durch die physikalischen Charakteristika der entsprechenden Schallwellen definiert werden. Eine erste derartige Größe ist die Amplitude der durch die Schallschwingung gegenüber der Umgebung entstehenden Luftdruckschwankungy die für die Schallintensität bzw. Schallstärke verantwortlich ist. Der Schalldruck entspricht dabei der auf einer definierten Flächeneinheit hindurchtretenden Energiemenge pro Zeiteinheit, die als erg s~ ^ m " 2 gemessen und auf der Skala der Schallintensitäten als Dezibel (dB) verglichen wird. Die Stärke der Druckänderung, die als Lautstärke vom Empfänger wahrgenommen wird, kann einmal auf der gezielten Variation des Senders beruhen, der über eine Intensitätsänderung des Schalldruckes Informationen übertragen will. Die Änderung der Lautstärke bzw. der Amplitude ist deshalb ein wichtiges Codierungsprinzip der akustischen Signalübertragung, das auch in der sprachlichen Kommunikation des Menschen verbreitet ist. Ein Intensitätswechsel der Amplitudengröße kann sowohl bei Kurz- wie bei Langlauten eintreten. So ist das >Brüllen< des Rhesusaffen, mit dem ein sich sicher fühlendes Tier ein rangniederes androht, nicht nur ein langes,sondern auch lautintensives Geräusch. Die südamerikanischen Brüllaffen haben die Lautstärke der Signalübertragung geradezu als Kommunikationsnische innerhalb des akustischen Kanals entdeckt. Bei den meisten Primaten ist die Lautheit des Signals aber kein absoluter Wert, sondern wie z. B. bei den Languren von dem sozialen Status abhängig (Jay 1965). Allgemein sind für die Lautstärke drei Faktoren wesentlich: gleichbleibende Amplitudenhöhe, wechselnde Amplitude und die Anstiegszeit bis zur vollen Schallintensität. Bei >Explosivlauten< wird zum Beispiel die hohe Lautintensität über eine extrem verkürzte Anstiegszeit erreicht. Bei den Defensivlauten des Rhesusaffen wiederum ist die physikalische Struktur durch ein breites Frequenzspekturm und eine hohe Amplitude charakterisiert (z. B. das »ängstliche Schreien< als artspezifischer Alarmruf oder das >Kreischenkeckernde Kreischen< bei Bedrohung durch ein anderes Tier, das »Kreischen als Unterwerfungslaut bei sozialen Kämpfen und das >Quietschen< als kurzer, sehr hoher Laut am Ende eines Kampfes bei einem völlig erschöpften Tier (vgl. Bild 26). Derartige Quieklaute mit einem schmalen Frequenzband und steilem Abfall sind auch von der Grünen Meerkatze bekannt (Struhshaker 1967), während Stoßlaute wie das >Keckern< eine kurze Anstiegszeit mit einem breiten Frequenzspektrum besitzen. Lautsignale mit tiefen Frequenzen überwiegen dagegen bei sozial hochstehenden Tieren etwa als Kennzeichnung der Dominanz oder als Warnlaut bei dem Unterschreiten der Individualdistanz durch einen Artgenossen. So sehr sich die akustischen Signale der Primaten von anderen Tiergruppen wie den Vögeln unterscheiden, so sind sie andererseits außerordentlich variabel und enthalten sowohl Entfernungslaute als reine Töne mit großer Amplitude wie das Schreien der Gibbons oder das »Heulen< und »jammernde Schreien< der Schimpansen als auch besonders im Nahbereich Laute mit einem breiten Frequenzspekturm mit einer rauhen Struktur als Grunzlaute, die weniger Klang- als Geräuschcharakter besitzen. Ebenso wie der Aufbau einiger Lautmuster in seiner Komplexität mit Vogellauten vergleichbar ist, gibt es andererseits niedrigfrequente Signalmuster, deren Änderung der Tonhöhe kaum von anderen »unharmonischen Nebenge220

rauschen getrennt werden kann. Da die menschliche Sprache eine mittlere Frequenz besitzt, liegt ihr phylogenetischer Ursprung wahrscheinlich im Nahfeld der akustischen Signalübertragung, wobei dann aber mehrere Funktionsmöglichkeiten denkbar sind. Neben den Stimmfühlungslauten bei der Fortpflanzung und Jungenaufzucht spielen hier Störungslaute (z. B. Warn- und Alarmrufe) sowie akustische Signale des Sozialverhaltens (Defensivlaute, Notrufe, Spiellaute, Dominanzlaute) eine wichtige Rolle, ohne daß die Herausbildung der menschlichen Kommunikation auf einen dieser biologischen Funktionsbereiche zentral zurückgeführt werden könnte. Andererseits ist es aber auch denkbar, daß eine wichtige Wurzel der menschlichen Sprachbildung in der Änderung der sozialen und ökologischen Bedingungen mit der Einnischung in das Savannen- und Steppengebiet liegt, weil hier Distanzlaute z. B. einen Zusammenhalt der zerstreuten Gruppenmitglieder ermöglichen. Allgemein zeigen aber gerade die extrem terrestrischen Primaten ein reduziertes Lautvokabular, das besonders der Warnung der Artgenossen vor Freßfeinden dient. Bei den die Ubergangszone zwischen Wald und Savanne bewohnenden Rhesusaffen haben Hinde & Rowell (1962) neun Laute katalogisiert (>BrüllenSpötter< Selektionsvorteile, da sie sich in artfremde Kommunikationssysteme einschalten und sie zu ihren Zwecken ausnützen. Bei nichthumanen Primaten ist eine derartige Imitationsfähigkeit nur eingeschränkt vorhanden, so daß alle Versuche, höheren Primaten die menschliche Sprache in ihren lautlichen Grundlagen in einem solchen Umfang beizubringen, daß eine Verständigung möglich wird, bisher gescheitert sind. Trotz des Lautreichtums einiger Primatenarten (z. B. 21 Laute bei der Grünen Meerkatze) bleiben derartige Kommunikationssysteme insofern »geschlossene als die innere Komplexität zwar gesteigert werden kann, die genetische Fixierung aber weiter bestehen bleibt. Die wenigen von Schimpansen gesprochenen Worte wurden meist während des Ausatmens geflüstert und erreichten die typische Tonstabilität nur unter heftigen Anstrengungen. Eine wesentliche biologische Schranke zwischen der tierischen und der menschlichen Sprache, die z. B. die Verständigung zwischen Menschenaffen und Menschen auf den gleichen Informationskanal verhindert, der phylogenetisch die Grundlage der menschlichen Sprachbildung war, scheint nach dem gegenwärtigen Wissen die artspezifische genetische Fixierung der Lautmuster zu sein. Andererseits führt Chomsky (1972) mehrere Argumente an, die zeigen, daß auch die vokalen und grammatischen Möglichkeiten der menschlichen Sprache keineswegs unbegrenzt sind. Eine zweite biolinguistische Besonderheit, die die menschliche Sprache bereits biologisch von den Lautsystemen nichthumaner Primaten unterscheidet, ist die Modulationsfähigkeit (z. B. als >Vokalisation, >Schreien< usw. herauszufiltern. Bei Rhesusaffen geht z. B. das »ängstliche Schreiens das akustisch einen allgemeinen Erregungsstand kennzeichnet, über das »keckernde Kreischen< und das bei Kämpfen ausgestoßene >Kreischen< und das >Quietsehen< eines im Kampf unterlegenen Affen über. Allgemein ist für die Vokalisation innerhalb des »Prinzips der gleitenden Übergänge< ein relativ breites Frequenzspektrum mit überwiegend niedrigen Frequenzen typisch, deren Tonhöhe sich nur langsam ändert. Ploog (1972) sieht diese Art der Lautproduktion als eine wesentliche phylogenetische Voraussetzung für die menschliche Artikulationsfähigkeit an, aus der heraus sie sich möglicherweise entwickelt hat. Die morphologischen Voraussetzungen der speziell menschlichen Lautbildung sind außerdem in einem starken Maße an die anatomischen Besonderheiten der Atemwege gebunden, zu der eine enge physiologische Koordination des Sprechvorganges mit dem Ein- und Ausatmen kommt. Bei allen Primaten erfolgt die Modulation der Lautsignale in zumindest ähnlich gestalteten Funktionszusammenhängen, für die besonders die Abstimmung des Sprechens mit der Atmung entscheidend ist, so daß die morphologischen Strukturen funktionell doppelt besetzt sind. Fließendes Sprechen erfolgt beim Ausatmen in einem Grundrhythmus von ca. 6 Einheiten/s, ohne daß damit die Atemfunktion selbst wesentlich beeinträchtigt wird, während sonst das Sprechen zwar auch möglich, aber erschwert ist (Lenneberg 1972). Hyper- oder Hypoventilationen werden im normalen Redegang deshalb auch vermieden. Allerdings ist eine Lautproduktion beim Menschen auch auf der Grundlage inspiratorischer Vorgänge möglich (z. B. als >Schluchzensplit-brainSprache< erst ein relativ spätes, auf den Menschen beschränktes gesellschaftliches Entwicklungsprodukt tierischer Kommunikation ist. Gelegentlich (z. B. Freemann 1975) wird die Sprachentstehung auch selbst als wesentliches Selektionskriterium der frühen 231

Hominidenentwicklung interpretiert, die eine wesentliche Rolle beim Aussterben der einzelnen fossilen Hominidengruppen spielt. Derartige Uberlegungen beruhen auf einer Relativierung der Bedeutung der Werkzeugherstellung bei Frühmenschen (vgl. 9.4.), da sich gezeigt hat, daß zwischen ausgestorbenen und sich weiter entwickelnden Zweigen der Hominidenlinie bisher kein entscheidender Unterschied in der Werkzeugherstellung festgestellt werden konnte. Es besteht deshalb zumindest die (allerdings schwer zu überprüfende) Möglichkeit, daß die Ursache der Isolierung und des Aussterbens einzelner Hominidengruppen auch eine Folge mangelnder Artikulationsfähigkeit des Gedachten ist. Das wesentliche Ergebnis der frühen Hominidenevolution im psychischen Bereich wäre nach dieser Hypothese die Sprachentstehung selbst gewesen, die erst durch die intersubjektive Übermittlung von Denkinhalten zu der eigentlichen Vergesellschaftung des Menschen und einer Beschleunigung der sozialen Entwicklung führt. Derartige sprachhistorische Vorstellungen haben gegenüber Hypothesen, die die Menschwerdung auf die Werkzeugherstellung begrenzen, den Vorteil, daß sie die besondere Gesellschaftlichkeit des Menschen zwanglos aus dem Verlauf des Sprechaktes selbst erklären können. Sprachliche Mitteilungen sind ihrer Natur nach immer bereits soziale Ereignisse, deren Ziel das andere Gruppenmitglied ist. Der Werkzeuggebrauch ist dagegen zunächst eine individualisierte Aktion gegenüber toten Objekten, die später zwar generalisierte Zweckfunktionen auch auf der Ebene des Gruppenniveaus übernimmt, aber z. B. als zufällige Entdeckung eines Tieres nicht notwendigerweise von Beginn an eine gesellschaftliche Operation sein muß. Der Versuch, über die menschliche Sprache einen absoluten Unterschied zwischen Tier und Mensch im psychischen Bereich zu postulieren, dürfte langfristig ebenso fehlschlagen, wie für die anderen »absoluten Wesensmerkmale< des Menschen und sich letzdich auf eine wissenschaftshistorische Bestimmung reduzieren. Die methodischen Ursachen liegen teilweise darin, daß die Mehrzahl der bisherigen Untersuchungen linguistische Kriterien der menschlichen Sprache, damit aber eben Strukturmerkmale eines besonderen Kommunikationssystems, zugrundelegten. Bereits in den akustischen Kategorien wie Tonhöhenunterschiede, Artikulationsfähigkeit oder der Kategorienbildung über Laut-, Wort- und Satzsysteme bestehen beträchtliche Entwicklungsunterschiede, die sich im semantischen Bereich und Problemen der logischen Grundstruktur sprachlicher Operationen vervielfachen. Es kann deshalb kein Zweifel darüber bestehen, daß zwischen der tierischen Verständigung als Kommunikation und der-menschlichen Sprache Unterschiede existieren, die auch in ihre begriffliche Gegenüberstellung mit eingehen. Der Terminus >Tiersprache< ist insofern problematisch, da er einer Periode extrapolativer Anthropomorphisierung tierischen Verhaltens entstammt und hier häufig spezifisch menschliche Sprachkriterien als Merkmale tierischer Signal- und Informationsübertragung überhaupt ausgegeben werden. Es ist aber richtiger und entspricht der wirklichen Entwicklungsbeziehung.,

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die Gesetzmäßigkeiten der tierischen Kommunikation als die allgemeineren Rahmenbedingungen zu interpretieren, innerhalb derer die menschliche Sprache einen Sonderfall darstellt, der aus der Phylogenese der Hominiden und der ihnen eigenen Sozialorganisation als Gesellschaft heraus erklärt werden muß. Die hochentwickelten linguistischen und sprachpsychologischen Kriterien lieferten vor allem deshalb ein einseitiges Bild des Verhältnisses von >Tiersprache< und menschlicher Sprache, weil spezielle verhaltensbiologische und tonspektrographische Untersuchungen der Kommunikation einzelner Tiergruppen erst seit ca. 15 Jahren in größerem Umfang vorliegen. Die auf dieser empirischen Grundlage einsetzenden Systematisierungsversuche von Entwicklungsunterschieden (z. B. Morris 1955, Hockett 1960, 1967, Marler 1965, 1969, Hockett & Altmann 1968) betonen zwar ebenfalls die Strukturunterschiede, interpretieren sie jedoch gleichzeitig als evolutionstheoretische überführbare Differenzen, die zugleich eindrucksvolle experimentelle Belege für die Abstraktheit der Gegenüberstellungen von >Tiersprache< und menschlicher Sprache beinhalten (Gardner & Gardner 1969). Trotz vereinzelter Kritiken kontinuitätstheoretischer Hypothesen des phylogentischen Ubergangs tierischer Kommunikationsformen in die menschliche Sprache auch aus biologischer Sicht (Lenneberg 1972, Goerttler 1972), hat sich über die bioakustischen und ethologischen Fakten doch allmählich nicht nur eine Korrektur einseitig linguistischer Bewertungskriterien, sondern auch ein evolutionstheoretisches Verständnis der Sprachentwicklung durchgesetzt. Zwischen der tierischen Kommunikation bei nichthumanen Primaten und der menschlichen Sprache besteht kein absoluter Unterschied, sondern ein kontinuierlicher phylogenetischer Übergang, der psychologisch vor allem deshalb z. B. im Gegensatz zu dem Werkzeuggebrauch als besonders fundamental erscheint, da hier der Unterschied auch zwischen primitiven menschlichen Sprachen und der höchstentwickelten äffischen Kommunikation ohne empirische Zwischenglieder durch Modelle überbrückt werden muß. Die Aussage z. B., daß phylogenetisch die Sprachentstehung mit dem Werkzeuggebrauch der Australopithecinen zusammenfällt, bleibt deshalb genauso spekulativ wie die Annahme, daß z. B. die Existenz von Totenkultes beim Neandertaler geistige Potenzen voraussetze, die Sprachgebrauch ermöglichen. Davon unabhängig muß aber zwischen den einzelnen Unterscheidungskriterien von Psychischem und Bewußtsein keine Gleichwertigkeit bestehen, sondern hier kann die Entwicklungsdifferenz zwischen den tierischen und menschlichen Kommunikationsmechanismen gegenüber den Abstraktionsfähigkeiten oder der instrumenteilen Traditionsbildung besonders groß sein.

Eine Reihe biologischer Vorbedingungen des menschlichen Sprechens sind nicht nur das Ergebnis der Evolution innerhalb der Primatenordnung, sondern auch Folgen einer phylogenetisch langfristigen Selektion, die bereits bei der unterschiedlichen Wirksamkeit der einzelnen Sinneskanäle ansetzen. Zu diesen Kriterien gehören z. B. das absolute Gehör, die Trennschärfe von Lautsignalen, das Richtungshören mit beiden Ohren, so daß die Schallquelle lokalisiert werden kann usw. Innerhalb der Säugetiere gibt es eine breite Streuung der oberen Hörgrenze, die z. B. bei der Hausratte bei 19 kHz, bei der Wanderratte bei 70 kHz, bei der Fledermaus (Myotis) 233

Allen Wirbeltieren gemeinsame Merkmale der Kommunikation

Sprache Mensdilidu Kommunikatioi

Andere Spezialisationen der Kommunikation Bild 28 Stellung der menschlichen Sprache innerhalb der tierischen Kommunikation. Nach Lenneberg (1972)

bei 100 kHz und beim Delphin (Tursiops) bei 150 kHz liegt. Differenzen können hier für die Arterhaltung entscheidend sein, wenn z. B. die obere Hörgrenze der Katze bis ca. 60 kHz reicht, die des Beutetieres (z. B. Hausmaus) aber bis 90 kHz, andererseits die Hörschwellenkurve der Katze etwa 20 bis 30 dB niedriger liegt als die des Menschen. Derartige sinnesphysiologische Leistungen liefern aber noch keine kausale Erklärung, warum die Entstehung der Sprache als höchstentwickeltes Kommunikationsinstrument nur auf den Stimme-Hör-Kanal beschränkt ist. Ein Grund dafür dürfte z. B. die Informationsmöglichkeit »Vieler durch Einen< sein, während bei der visuellen Kommunikation eine individualisierte Informationsübertragung mit direkten Sichtkontakt vorherrscht. Außerdem kommt es zu einer immer weitergehenden Spezialisierung der Signalfunktion, die sich auch in der menschlichen Kommunikation z. B. mit einer Dämpfung expressiver Sprachfunktionen, der Abnahme bzw. deutlichen Trennung der akustischen Informationsübertragung von der mimischen Verdeutlichung und der Ausbildung immer abstrakterer Sprachebenen nachweisen läßt. Der wesentlichste Punkt ist aber die akustische Identität von Sender und Empfänger über nervale Rückkoppelungsmechanismen zwischen zentralnervösen Zentren und dem Kehlkopf, die zusätzlich zu der interindividuellen Sender-Empfängerbeziehung eine innerorganismische Kontrolle ermöglicht. Ausfallerscheinungen haben gezeigt, daß für ein störungsfreies Sprechen die akustische Rückkoppelung des Wortes zu dem Sprecher als 234

Kontrollmechanismus notwendig ist, da es z. B. bei künstlichen Verzögerungen zu Stottereffekten kommt. Die phylogenetische Entwicklung der menschlichen Sprache aus tierischen Vorformen läßt es als wenig sinnvoll erscheinen, ein System absolut geltender Unterscheidungskriterien zu formulieren. Die folgenden alternativen Bestimmungen sind zwar Charakteristika der tierischen Kommunikation einerseits und der menschlichen Sprache andererseits, zwischen denen aber ein kontinuierlicher Ubergang als phylogenetische Entwicklungstendenz besteht. Die Kommunikationsfähigkeiten der Proto-Hominiden liegen innerhalb dieses Spektrums, ohne daß sich eine genaue funktionelle oder zeitliche Lokalisierung angeben ließe. >Geschlossenheit< gegen >Offenheit< der Signalsysteme. Die Rufsysteme der nichthumanen Primaten haben in doppelter Hinsicht ein endliches Lautsystem, da neben einer beschränkten Zahl von akustischen Signalen auch nur eine begrenzte Zahl von Kombinationen zwischen den einzelnen Elementen möglich ist. Ploog (1966) klassifiziert das vokale Repertoire des Totenkopfaffen (Saimiri sciureus) in 25 Lautformen, die sich dann funktionell als Kontaktlaute, Distanzlaute, Laute für allgemeine oder gerichtete Aggression usw. charakterisieren lassen. Die »Geschlossenheit^ die auf eine genetische Repräsentanz der Lautmuster schließen läßt, kann auch durch physiologische Reizung bestimmter Hirnzentren reproduziert werden. Der vonHayes (1951) aufgezogene Schimpanse konnte selbst nach intensivem Training nur die Worte >PapaMama< und >Cup< schwierig aussprechen, so daß neuere Versuche der Sprachverständigung mit Primaten die artspezifische Gebundenheit des Rufsystems umgehen. Die von Gardner & Gardner (1969) in der Amerikanischen Zeichensprache für Taubstumme (ASL) unterrichtete Schimpanse Washoe bietet in zweifacher Hinsicht ein gutes Modell für die Uberwindung des geschlossenen Kommunikationsstatus. Einmal handelt es sich um ein visuelles Zeichensystem, das noch zahlreiche anschauliche Momente enthält, in dem aber insgesamt bereits ein praktisch unbegrenztes Zeichenvokabular existiert, da die Zeichen auch untereinander kombinierbar sind. So beherrschte Washoe nach intensiver Unterrichtung nicht nur 294 Zwei-Wort-Kombinationen, sondern kombinierte das Zeichen für >komm< mit 43 anderen Wörtern, >du< mit dreißig verschiedenen Wörtern usw. Wenn man von der Existenz der menschlichen Sprache einmal absieht, so erscheint hier die akustische Lautgebung eher als biologische Grenze denn als besonders günstige Grundlage der Sprachbildung, da der Wechsel auf die visuelle Kommunikationsebene zu einer erheblichen Öffnung der Kommunikation zwischen Schimpanse und Mensch führt. Phylogenetisch könnte deshalb vermutet werden, daß die Schwierigkeit der Evolution menschlicher Sprachfähigkeit weniger die Lern- und Abstraktionsfähigkeit betrifft, sondern die Abstimmung der Vokalisation 235

mit dem Denkvorgang. Charakteristischerweise beruht jede intensivere Verständigung zwischen Schimpansen und Menschen bisher nicht auf einer akustischen, sondern der visuellen Kommunikation. Wenn dieser Wechsel gelingt, äußert sich der hohe psycho-physische Entwicklungsstand auch in einer zunehmenden >Offenheit< des Kommunikationssystems selbst. Physiologisch ist die Fähigkeit zur Vokalisation entscheidend von dem akustischen feedback zentralnervöser Mechanismen abhängig, da z. B. eine Verzögerung der Rückmeldung auch zu einer zeitlichen Verlängerung des aktuellen Sprechvorganges führt (Lee-Effekt). Inwieweit die Unfähigkeit von Schimpansen, Laute nachzuahmen, auch für die menschliche Vokalisationsfähigkeit zutrifft, ist nicht entscheidend, weil auch die menschliche Phonem- und Morphemebene als geschlossen angesehen werden kann, hier aber eine endliche Zahl neutralisierter Lautmuster zu völlig neuen Wörtern zusammengestellt wird, die dann semantisch sehr verschieden belegbar sind. Die >Offenheit< ergibt sich damit aus einer zusätzlichen symbolischen Ebene der Sprachorganisation, die das feste Repertoire in unbegrenzter Weise mischt und damit die akustische Vielfalt der menschlichen Sprache ermöglicht, obwohl sie in ihrer syntaktischen Struktur wesentlich einförmiger ist. Zu ihrer >Offenheit< gehört die Produktion neuer Klanggebilde ebenso wie die kreative Kombination dieser Wörter zu erstmaligen Aussagen. Linguistische Sprachkriterien sind häufig einseitig auf diesen schöpferischen Aspekt ausgerichtet, ohne zu beachten, daß auch die menschliche Lautbildung auf einem »geschlossenem biologischen Fundament steht (Lenneberg 1972). Für den phylogenetischen Übergang zwischen geschlossenen Ruf- und offenen Sprachsystemen sind mehrere Mechanismen denkbar. 1.) Eine Möglichkeit ist die Dehnung einzelner Lautelemente innerhalb eines Spektrums fließender Ubergänge, wie es bisher von Rhesusaffen und Schimpansen beschrieben wurde. Die Sprachentstehung würde sich dann in ihrer vokalen Grundlage über ein System von Zwischentönen und Nuancierungen durchsetzen, die verschiedene Bedeutungen erhalten. Dabei können einzelne Arten wie z. B. die Languren mit einer »GrunzBell-Serie« und einer »Kreisch-Schrei-Serie« auch bereits vieldimensionale Lautsysteme besitzen (Jay 1965). Marler (1969) nimmt an, daß die Grunzlaute der Schimpansen als ein mögliches Rohmaterial der späteren Vokalisation des Menschen angesehen werden können, da sie in der Regel in einem entspannten sozialen Feld in zahlreichen Funktionszusammenhängen geäußert werden und häufig bei für den Artgenossen positiven Kommunikationszusammenhängen auftreten. 2.) Im Gegensatz zu einer stufenweisen Lautakzentuierung mit fließenden Ubergängen kann eine Öffnung des Rufsystems auch durch die Uberlagerung von zwei oder mehreren Motivationen für ein Lautsignal erreicht 236

werden. Derartige Mischlaute sind ebenfalls bei zahlreichen Primatenarten nachgewiesen. Hockett (1960) sieht in motivationalen Variationen und semantischen Mehrdeutigkeiten ein mögliches akustisches Vorfeld der menschlichen Sprachentstehung. Auch hier entsteht aus einem Repertoire eindeutiger Rufe ein System von Zwischenlauten, die zu einer Bereicherung des Signalvorrates führen. 3.) Eine weitere Möglichkeit ist die Zusammensetzung der akustischen Lautelemente zu immer komplexeren Lautgebilden (z. B. Vogelgesang). Ähnlich komplexe Lautmuster kommen auch bei Colobusarten und Meerkatzen vor. Im Vogelgesang und entsprechenden Lautgebilden nichthumaner Primaten werden einzelne Silben zu Versen zusammengesetzt, diese zu Strophen, deren Kombination schließlich den typischen Gesang bzw. die langen und hellen Lautstrukturen der Primaten ergibt. Die Kombination beruht hier allerdings weniger auf logischen als auf physikalischen Modulations- und Kombinationsmöglichkeiten, so daß diese Variante für die Phylogenese der menschlichen Sprache unwahrscheinlich ist. Abbau der Ausdrucksfunktion und Steigerung des Symbolgehaltes. Die Mehrzahl der akustischen Signale von Tieren wie z. B. gutturale Explosivlaute entstehen im unmittelbaren Zusammenhang eines besonderen motivationalen Status wie zum Beispiel Aggressivität, >FurchtHunger< usw. Yerkes & Learned haben z. B. die spontanen Lautäußerungen zweier Schimpansen in 33 >Wörter< klassifiziert und sie dann verschiedenen Bedeutungen wie Begrüßung, Reaktion auf Futter, Aufgeregtheit usw. zugeordnet. Wenn man unter >Sprache< im allgemeinsten Sinn die Fähigkeit versteht, nicht nur zu verstehen, was gesendet wird, sondern auch selbst Signale mit einer spezifischen semantischen Bedeutimg zu erzeugen, bleibt doch die Frage, ob die Mehrzahl der tierischen Lautäußerungen bereits echte kommunikative Funktionen erfüllen. Bei zahlreichen tierischen Lautbildungen handelt es sich vielmehr um zunächst zufällige Begleiterscheinungen eines Funktionswechsels ohne Bezugnahme auf einen Partner. Unter diesem Gesichtspunkt ist es zweifellos richtiger, einen wesentlichen Teil der Lautäußerungen unter der Kategorie des Ausdrucks zu behandeln. Informationstheoretisch gesehen handelt es sich um monologische Sendeverhältnissey die dem dialogischen Informationsaustausch als Kommunikation gegenübergestellt werden können. Lorenz weist z. B. daraufhin, daß es sich bei dem Palaver in einer Dohlenschar vor dem Abflug nicht um eine dialogische Wechselrede im Sinne des menschlichen Sprachverhältnisses handelt, sondern lediglich um eine Stimmungskoordination. Der Fluglockruf gibt keine Informationen als Kommando, er trifft keine Entscheidungen über den Flugweg, sondern er dient lediglich der sozialen Integration. Auch bei Primaten existiert ein komplexes System akustischer Lautbildungen, die 237

motivationale Zustände als Notrufe oder Spiellaute charakterisieren, ohne daß diese wesentlich über die Ausdrucksfunktion des eigenen Verhaltens hinausgehen. Die Mehrzahl der akustischen Signale wird auch nach der entsprechenden Motivationsgrundlage benannt. Die Ausdrucksformen können dabei wie z. B. bei den Duetten der Gibbons eine sehr komplexe Struktur annehmen, die sowohl der Kennzeichnung gegenüber anderen Gruppen als auch der Stabilisierung der eigenen Gruppenstruktur dient. Durch ihre primäre Ausdrucksfunktion sind Gibbongesänge auch nur wenig variabel. Die verschiedenen Ausdrucksfunktionen, die dazu führen, daß ein Tier immer nur einen Laut gibt, der dann für genau diese Situation typisch wird, bilden das Rohmaterial für die Verfeinerung zu echten Kommunikationsbeziehungen. Die Rufmuster werden differenzierter und erste globale Signale z. B. für >BodenfeindLuftfeind< usw. entstehen. Bei Schimpansen lassen sich bereits verschiedene Lautgruppen unterscheiden, angefangen von den gutturalen Lauten (z. B. k,g) bis zu nasalen und labialen Lautbildungen oder Vokalen. Die enge Bindung von Motivationslage und akustischer Signalbildung zeigt sich bei nichthumanen Primaten darin, daß die Lautbildung auch noch anhält, wenn die Ursache der Auslösung (z. B. ein Raubtier) bereits wieder verschwunden ist. Die Verzeitung des Informationsgehaltes erfolgt hier aber noch nicht auf einer symbolischen Ebene, sondern bleibt ein Ausdrucksverhalten. Die Differenzierung des Lautmusters ermöglicht in der weiteren Evolution eine immer weitergehende semantische Spezialisierung, so daß z. B. die Grüne Meerkatze akustisch bereits zwischen verschiedenen Raubfeinden wie z. B. Adler oder Schlange unterscheidet. Allerdings werden selbst bei Schimpansen den Pseudo-Wörtern keine Tonschablonen zugeordnet, was die Symbolisierung erheblich erschwert. Auch in der menschlichen Sprache ist die Ausdrucksfunktion keineswegs vollständig verloren gegangen, sondern zeigt sich experimentell z. B. in den physiologischen Begleiterscheinungen beim Aussprechen emotional getönter Wörter. Sie wird in der Graphologie auch psychologisch ausgewertet. Phylogenetisch bedeutet jedoch die Vermenschlichung der äffischen Kommunikationsgrundlagen eine immer weitergehende Semantisierung und Symbolisierung der Lautbildung mit gleichzeitigem Abbau der expressiven Sprachfunktion. Eine wesentliche Grenze gegenüber den nichthumanen höheren Primaten bildet hier wahrscheinlich die spezifisch menschliche Fähigkeit, die Elemente der Phonemund Morphembildung wieder zu umfassenderen, in ihrer semantischen Bedeutung bereits beliebig belegbaren Systemen, den Wörtern, zusammenzusetzen. Die Kausalität zwischen Reiz-Motivation-Ausdruck ist in der menschlichen Sprache zu einem willkürlich austauschbaren Verhältnis von Symbol und realer Situation geworden, das durch Hinweis- und Zeigeoperationen ständig erweitert werden kann. 238

Die Symbolisierung der Lautzeichen ermöglicht nicht nur eine raumzeitliche Unabhängigkeit der Kommunikation, indem zu beliebigen Zeiten und Orten über nicht anwesende Sachverhalte gesprochen werden kann, weil eine Benennung möglich ist, sondern auch die Konstruktion beliebig vieler Lautsprachen entsprechend den kulturellen Besonderheiten. Trotz ihrer unterschiedlichen akustischen Erscheinungsform läßt sich in ihnen das gleiche Ereignis beschreiben. Die Symbolisierung,der Lautzeichen, die eine besondere Art der Traditionsbildung des Menschen darstellt, geht mit einer immer weitergehenden Reduktion der Ausdrucksfunktion als der ursprünglichen phylogenetischen Grundlage der Sprachentwicklung einher, indem nun z. B. das Wort >Zaun< kein Territoriallaut mehr ist oder das Wort >laut< auch leise ausgesprochen werden kann. Die Unabhängigkeit der Symbole, die identisch ist mit Ablösung bestehender Kausalbeziehungen zwischen dem akustischen Zeichen und den allgemeinphysiologischen, motivationalen und lautlichen Bedingungen seines organismischen Ursprungs, macht das Sprachsystem erlernbar und unterwirft es der individuellen und gesellschaftlichen Kontrolle. Mit der Ausbildung symbolisierter Zeichensysteme ist ein Informationssystem entstanden, das unabhängig von der genetischen Codierung zusätzlich eine schnelle und sichere Speicherung gesellschaftlicher Erfahrung ermöglicht, die über das Erlernen der Sprache weitergegeben wird. Die Symbolsprache ist diejenige Konvention, die am umfassendsten und am genauesten die spezifisch menschliche Situation fixiert, indem ein Satz bedeutungsloser Signalelemente durch ein weiteres Regelsystem seinen spezifischen Bedeutungsgehalt erfährt. Die energetischen und biologischen Bedingungen der Signalbildung treten nun gegenüber der Tendenz ihrer Symbolisierung zurück. Die Evolution der menschlichen Sprache führt deshalb immer mehr zu einer Spezialisierung als >reines< Zeichensystem, dessen physikalische oder biologische Ähnlichkeit mit dem Bezeichneten immer mehr durch eine willkürliche Beziehung - im typischen Fall einer gezielten Definition - ersetzt wird. Die Semantisierung der einzelnen Lautbildungen reduziert im gleichen Maße, wie sich der Symbolgehalt als die entscheidende Größe in der Informationsübertragung erweist, die verschiedenen Ausdrucksfunktionen der akustischen Signale. Der anfänglich größere Energieaufwand z. B. durch die Lautheit des Signals, macht einer ökonomisierung der Mitteilung Platz. Dazu zählt auch, daß die nur mit groben Merkmalen behafteten Lautgruppen durch eine Nuancierung feinerer Merkmale ersetzt werden. Primitive menschliche Sprachen besitzen z. B. noch besondere Schnalzblöcke, die erst allmählich aufgelöst werden. Ferner geht die globale Symbolisierung, die Vieldeutigkeit des Symbols sowie die Ergänzung z. B. durch mimische Elemente zurück. Durch diese und andere ökonomisierungstendenzen des Sprachverhaltens, das einer Spezialisierung der Laut239

bildung auf immer spezifischere Informationsübertragungsleistungen entspricht, bleibt die emotionale Expressivität des menschlichen Sprechenverhaltens zunehmend eine Eigenart der Anfänge des ontogenetisch-individuellen Spracherwerbs, geht aber grundsätzlich nicht verloren. Bei Schimpansen und anderen Primaten dominiert funktionell der expressive Charakter der Sprachmittel noch deutlich (z. B. werden die verschiedenen Grunzlaute auch noch von verschiedenen Gesichtsausdrücken begleitet), während impressive und kommunikative Elemente gelegentlich vorkommen, symbolische Funktionen, die eine Darstellungsfunktion gegenüber den Kommunikationspartner besitzen, aber praktisch fehlen. Die Fähigkeit, Teile der Umwelt zu benennen, was wiederum eine geistige Trennung der einzelnen Objekte voraussetzt, bleibt auf die menschliche Sprache beschränkt. Während so die menschliche Sprache sich durch ihren hohen Symbolisierungsgrad auszeichnet, bleibt die Ausdrucksfunktion ein Hinweis auf ihren phylogenetischen Ursprung aus tieräffischen Kommunikationsmechanismen (vgl. Bild 28). Objektsprachliche Verständigung gegenüber metasprachlicher Reflexivität. Aus dem Symbolgehalt der menschlichen Sprache ergibt sich, daß außer den Lautzeichen ein besonderes System von Regeln existieren muß, nach dem die Symbole kombiniert werden können. Die Reflexivität, d. h. die Fähigkeit, über das Symbolsystem zu sprechen, in dem wir selbst sprechen, ist eine typische Eigenart menschlichen Sprachverhaltens, die bisher für die Kommunikation äffischer Primaten noch nicht nachgewiesen wurde, hier auch nicht notwendig ist, da es sich um einen genetisch vorgegebenen Satz von Lautgebungen handelt. >Tiersprachen< lassen sich deshalb auch negativ dadurch charakterisieren, daß in ihnen möglicherweise eine Verständigung über Objekte der Außenwelt oder den motivationalen Status des Senders, aber nicht über das Kommunikationssystem selbst erfolgt. Das Sprechen über Sprachen wird erst zu einem Gegenstandsbereich der menschlichen Kommunikation, in der nun nicht nur ein umfangreiches Symbolsystem existiert (bereits die als sehr primitiv angesehene Sprache der Buschmänner Südafrikas besitzt ca. 3000 Wörter, von denen allerdings 50% einsilbig sind), sondern auch unbegrenzt viele hierarische Abstraktions- und Sprachebenen. Die metasprachliche Orientierung gilt nicht nur der Vervollständigung und Verbesserung des eigenen Sprachsystems, indem eine Verständigung über das grammatische Regelsystem und eindeutige Symbolzuordnungen stattfindet, sondern auch dem Erlernen neuer Sprachen, der gegenüber das eigene Sprachsystem als Metasprache fungiert. Der sprachliche Symbolvorrat kann so vervielfacht werden. In engem Zusammenhang mit der Reflexivität des Sprechenden und der metasprachlichen Kommunikation stehen verschiedene andere spezifisch menschliche Spracheigenschaften wie z. B. das Lügen, indem bewußt falsch Symbolzu240

Ordnungen eingeführt werden oder Widersprüche zwischen den einzelnen Sprachebenen zu paradoxen Aussagen führen. Diese und ähnliche Probleme wie z. B. Begriffsdefinitionen führen dazu, daß metatheoretische Kommunikation über Sprachkonstruktionen zu einem immer umfangreicheren Gegenstandsbereich der menschlichen Sprache werden, was gelegentlich zu der irrigen Auffassung führt, daß die Wirklichkeit bereits das Symbolsystem selbst sei. Analoge gegen digitale Codierung. Im Ausdrucksverhalten wird die motivationale Zustandsänderung des Senders noch kontinuierlich mit fließenden Übergängen dargestellt. Die Signalwerte zwischen den einzelnen Momenten des Ausdrucksverhalten können deshalb beliebige Zwischenwerte annehmen. Die Vorteile einer derartigen Codierung liegen vor allem in der Stetigkeit der Informationsübertragung. Die menschliche Sprache obwohl in ihr die analoge Informationsübertragung auch weiterhin eine wesentliche Rolle spielt, entspricht aus informationstheoretischer Sicht dagegen eher einem digitalen Signalsystem. Die Buchstaben stellen dabei diskrete Signale dar, durch deren Kombination auch von der Motivation des Senders unabhängige Informationsparameter übertragen werden können. Überführung der >praekulturellen< in >gesellschaftlich-kulturelle< Traditionsbildung. Allen Kommunikationssystemen der Primaten ist gemeinsam, daß sie in enger Abhängigkeit zur sozialen Organisation stehen. Von den fünf Situationen, die bei Primaten Lautgebung auslösen, ordnet Andrew (1962) allein vier sozialen Zusammenhängen zu: freundschaftliche Begegnung von Sozial-Partnern nach einer Trennung, bei Kontaktverlust mit der Gruppe, Rufe bei dem Gejagtwerden durch ein ranghohes Tier und der Lautgebung im unmittelbaren Kontaktbereich (z. B. bei der Kopulation, Spielverhalten, Kitzellaute). Das Sprachverhalten kann als eine besondere Form der sozialen Traditionsbildung angesehen werden, das individuell von den Mitgliedern einer Gruppe übernommen und sozial >vererbt< wird. Verschiedene Arten der Traditionsbildung werden auch bei tierischen Primaten gefunden und hier als >praekulturell< bezeichnet. Kawai (1975) unterscheidet zwischen >praekulturellen< Traditionen im ökologischen Bereich (z. B. Tradierung der Nahrungswahl und Zubereitungstechnik), Traditionsbildungen im sozialen Bereich und eine Tradierung gruppenspezifischer Erfahrungen im Bereich des instrumenteilen Verhaltens (z. B. Waschen der Nahrungsmittel). Die Tradierung von Rufsignalen, die Kawai z. B. für Warn- und Pflegerufe vermutet, kann als ein Spezialfall der sozialen Traditonsbildung angesehen werden. Bei Vögeln ist die Bildung besonderer Ortsdialekte unter anderem für den Baumläufer, die Kohlmeise, den Buchfink und die Weißkopfammer nachgewiesen (Thielcke 1970), so daß die Möglichkeit von Kommunikationsunterschieden zwischen verschiedenen Primatenpopulationen als eine Variante der Traditionsbildung durch241

aus besteht. Wesentlicher ist aber zunächst das biologische Verhältnis von Arteigentümlichkeit und Individualität der Rufsignale, das bisher lediglich bei Vögeln genauer untersucht ist. Das allgemeine Zeitmuster der Lautbildung bleibt hier unverändert, während die innere Struktur der Strophen individualisiert werden kann. Der deutliche Unterschied zwischen der äffischen Kommunikation und der menschlichen Sprache beruht zu einem wesentlichen Teil gerade darauf, daß die Traditionsbildung ebenso wie die Individualisierung nur in einem geringen Umfang ausgebildet ist. Die genaue Identifikation der Art, die zur Auslese signifikante und stabile Lautmuster führt, dominiert über die Individualität der Informationsübertragung. Die menschliche Sprache ist dagegen ein Kommunikationssystem, das überwiegend auf nicht-genetischem Weg über Traditionsbildung weitergegeben wird. Die wesentlichste Voraussetzung dafür ist die Symbolisierung der Lautzeichen, die einer Lösung von der unmittelbar biologischen Bindung der Kommunikation gleichkommt. Selbst bei der >ökologischen< und >instrumentellen< Traditionsbildung der japanischen Makaken hat sich gezeigt, daß die Ausbreitung in einem starken Maße von biologisch-sozialen Faktoren wie Kontakthäufigkeit, Dominanz des Informanten, Übertragung innerhalb der Mutter-Kind-Beziehung usw. reglementiert wird. Eine sprachliche Tradierung muß dagegen gleichermaßen für die Gesamtpopulation durchgesetzt werden, da sie sonst zu einer akustischen Isolierung des Spezialisten führt. Durch die Traditionsbildung entsteht dann eine symbolische Repräsentation der Umwelt, die nicht nur individuell von den Nachkommen sehr schnell angeeignet werden kann, sondern auch - im Gegensatz zu der noch stark gebundenen äffischen Kommunikation - einen permanenten Erfahrungsaustausch ermöglicht. Die menschliche Sprache vermittelt als wichtigstes »gesellschaftliches Instrument aber nicht nur den Entwicklungsstand zur Außenwelt in psychisch direkter Form, sondern symbolisiert auch die Verhältnisse der Gruppenmitglieder untereinander in ihrer gesellschaftlichen Spezifik. Etwas vereinfacht baut das gesamte System menschlicher Traditionsbildungen nur auf den zwei Pfeilern der materiellen Vergegenständlichung und der sprachlichen Symbolisierung auf, von denen der zweite Weg zugleich die unmittelbare psychische Erscheinungsform des gesellschaftlichen Bewußtseinstandes selbst ist. Der Abstand der menschlichen Kultur zur allgemein äffischen Traditionsbildung wird - abgesehen, daß sie in der Lautbildung bisher nur sporadisch nachgewiesen wurde, durch zwei Faktoren unterstrichen: ihre Ausbildung bei den phylogenetisch entfernter verwandten Makaken, während über Tradierung bei Menschenaffen bisher wenig bekannt ist, zum anderen handelt es sich nicht um natürliche, sondern experimentell provozierte Formen der Traditionsbildung (vgl. 10.2.1.).

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8.4. Die Verständigung zwischen Menschenaffen und Menschen über gemeinsame Zeichen- und Sprachsysteme In der Evolution des Sprachverhaltens haben sich bisher zwei wesentliche Entwicklungsstufen in einem gewissen Umfang auch empirisch konkretisieren lassen. Einmal der Unterschied zwischen dem kommunikativen Repertoire der Menschenaffen zu primitiven menschlichen Sprachen, hier besonders des Schimpansen, der vor allem Gegenstand ethologischen Forschungsinteresses ist (Yerkes & Learned 1926, Andrew 1963, Marler 1969, Tembrock 1975), sowie Strukturunterschiede zwischen primitiven und hochentwickelten menschlichen Sprachen, die überwiegend von Linguisten und Sprachpsychologen untersucht werden (Kainz 1960, Chomsky 1967, Stopa 1975). Tonspektrographische Untersuchungen haben gezeigt, daß von den verschiedenen akustischen Signalen der Primaten die Grunzlaute der Schimpansen und das Grunzen der Paviane, das bereits in verschiedener Weise ritualisiert ist, von ihrer physikalischen Struktur her der menschlichen Sprache am ähnlichsten sind (Andrew 1963), ohne daß damit ein phylogenetisches Entwicklungsverhältnis ausgesprochen werden soll. Das äffische Grunzen enthält ebenso wie die menschliche Sprache ein breites Frequenzband als Fundament und zahlreiche Obertöne, welche dann variiert werden und begleitet zahlreiche Verhaltensaktivitäten, beim Schimpansen vor allem die Begrüßung zweier Tiere und das Spielverhalten. Das Lautvokabular des Schimpansen enthält auch velare Injekte sowie labiale und dentale Schnalzlaute, die ebenfalls in primitiven menschlichen Sprachen gehäuft auftreten (z. B. beträgt ihr Anteil in der Buschmannsprache ca 70%). Nichthumane Primaten besitzen aber nicht die Fähigkeit, einzelne Silben zu Wörtern zusammenzusetzen, die den eigentlichen Lautsymbolvorrat der Sprache darstellen, ebenso wie die semantische Steigerung der Lautstärke und Lautdauer sowie die Bildung fester Tonschablonen fehlt. (Stopa 1975). Von den formbildenden Bestandteilen fehlen verschiedene Vokale. Da die symbolische Kommunikationsebene nicht erreicht wird, entfällt auch jede Art der Verzeitung als Vergangenheit oder Zukunft in der Informationsübertragung. Die ökologischen und sozialen Situationen, in denen Primaten lautliche Zeichen geben, sind dagegen bereits recht differenziert. Hockett (1963) rechnet dazu Freudenrufe bei gefundener Nahrung, Warnungssignale, Begrüßung eines Gruppengenossen, Hilferuf eines Herdenmitgliedes, Rufsysteme zwischen Geschlechtspartnern, Kommunikation zwischen Jung- und Muttertier sowie Schmerzensschreie. Als allgemeine Bestimmungen von Kommunikationssituationen treten zwei Kriterien besonders gehäuft auf, die deshalb auch für den phylogenetischen Ursprung der 243

menschlichen Sprache von Bedeutung sind: die Lautbildung nimmt im Nahbereich zu, was auf den sozialen Ursprung der Sprache schließen läßt, bei der die positive Bekräftigung durch den Artgenossen eine wichtige Rolle spielt sowie eine motivational entspannte Situation. Das inhaltliche Problem des Unterschiedes zwischen den Kommunikationssystemen des Schimpansen und der menschlichen Sprache betrifft weniger die Differenz zwischen der Fähigkeit der Problemerfassung und Problemlösung> sondern ihre Übersetzung in ein semantisches Zeichensystem. Da hier die eigentlichen Kommunikationsgrenzen zwischen Schimpanse und Mensch liegen, die für das Tier ohne menschliche Sprachhilfe nicht überschreitbar sind, erscheinen auch gegenwärtig häufig noch die phonetischen Fähigkeiten als die eigentlichen Sprachunterschiede. Stopa (1975) stellt so z. B. die Lautbildung durch Zungengebärden (z. B. m) und das Fehlen von Tonaschablonen beim Schimpansen der Existenz fester Tonschablonen und von Schnalzblöcken (z. B. ! ka) bei Buschmännern gegenüber. Auf die >innere< Sprachentwicklung nach ihrer Vergegenständlichung in der Schrift braucht hier nicht eingegangen werden, da sie im wesentlichen ein Produkt der neolithischen Entwicklung ist. Immerhin liefern aber die gegenwärtig wenig entwickelten Sprachen (z. B. Quechua, kaukasische Sprachen) auch Hinweise darauf, welche Entwicklungsstadien die sprachliche Kommunikation des palaeolithischen Menschen möglicherweise durchlaufen hat. Dazu gehören einmal verschiedene phonetische Eigenschaften wie der grammatikalische Ton oder der Reichtum an schnalzähnlichen Lauten, vor allem aber auch der Symbolgehalt der Lautmuster und die begriffliche Abstraktionshöhe. In der Sprache der Buschmänner treten z. B. als phonetische Elemente Ejektive, verschiedene schnalzähnliche Laute, gepreßte Vokalbildung und ein semantischer Ton auf (Stopa 1975). Die Gestikulation bleibt ein semantisch unentbehrliches Element. Bei der Abstraktionsfähigkeit und der Ausbildung semantischer Bedeutungen sind vor allem folgende Grenzen gegenüber modernen Sprachen bemerkenswert: a.) Die Reduplikation von Lautelementen, durch deren Redundanz die Informationssicherheit erhöht wird (z. B. ngum- ngum = Donnern). Wiederholungen von Lautbildungen finden sich auch häufig beim Erlernen der ersten Wörter in der modernen Sprache (z. B. Mama). b.) Die Sprache der Buschmänner zeichnet sich außerdem durch einen Mangel an Zahlwörtern aus. Der Begriff für >drei< ist identisch mit der semantischen Bedeutung von >vielSonne< gleichzeitig >warmdunstighöre< oder das Bewegen der Handfläche vor der Nase für >riechen< noch anschauliche Züge tragen, sind andere Zeichen wie z. B. das wiederholte Schlagen auf die Schenkel für >Hund< bereits stark symbolisiert. Washoe verwendete nicht nur den wesentlichen Teil der erlernten Zeichen richtig, sondern war in begrenztem Umfang auch in der Lage, mehrere Zeichen miteinander zu kombinieren. Auch die Unterrichtung der Schimpansin Sarah erfolgte über den optischen Kanal, indem die symbolische Bedeutung verschiedener Plastikzeichen erlernt wurde, die mit ihrer magnetischen Unterfläche an eine Metalltafel geheftet wurden (Premack 1971). Der entscheidende Lernschritt war in jedem Fall der Erwerb eines symbolisierten Zeichenvorrates, der in seinem Umfang nicht nur weit über das natürliche Vokabular hinausgeht, sondern auch die unmittelbare Kommunikationsebene als bloße Ausdruck-Eindruck-Beziehung verläßt. Der Wechsel des Kommunikationskanals zeigt damit die Relativität der biologischen Grundlagen des Spracherwerbs, da die »mentale Potenz< des Schimpansen für eine zwischenartlicbe Verständigung ausreicht. Voraussetzungen d, für sind allerdings ein hoher Grad emotionaler Gebundenheit an den Erzieher, da auch in diesem Fall der Spracherwerb nicht außerhalb des sozialen Kontextes stattfindet. Neben der Belohnung mit Früchten bei der Sprachunterrichtung spielt außerdem das Lob für die Lernleistung eine wichtige motivationale Rolle. Im Prinzip ist es dem Menschen durchaus möglich, sich in die verschiedenen >Tiersprachen< als Kommunikationspartner z. B. durch die technische Imitation der artspezifischen Lautbildung einzuschalten. In der Regel bedeutet das ein vollständiges Anpassen an die Kommunikationsbedingungen der >TierspracheTiersprache< und menschlicher Sprache, sondern ist für zahlreiche Operationen in das Spektrum von Kriterien der menschlichen Sprache verschoben wie z. B. das Auftreten metasprachlicher Verständigungsebenen. Während ursprünglich neue Wörter durch direkte Zeigeoperationen oder innerhalb eines spezifischen Handlungskontextes gelernt wurden, lernte Sarah später Symbole für die Operationen >Name von< bzw. »nicht Name vongeistige< Qualität psychischer Prozesse erreicht wird, wie sie für die menschliche Verständigung typisch ist. Die operative Grundlage dafür ist die symbolische Repräsentation der Außenwelt im Kopf. Die Symbolisierung der Benennung selbst ist dann eine weitere Abstraktionsqualität in der sprachlichen Aneignung der Realität, weil sie einmal den Unterschied zwischen Gegenstand und Namen verdeutlicht und zum anderen die Sprach- und Begriffsbildung selbst wieder als Gegenstand der Kommunikation einführt. Natürlich bleiben auch die Symbole gegenständlich, d. h. Objekte der Außenwelt. Ihre Abstraktionsfunktion besteht aber in der zunehmenden Vereinfachung des bezeichneten Gegenstandes. Wichtige Informationsparameter sind dabei durch den visuellen Charakter der Kommunikation Form und Farbe des Symbols, das zunächst als arbiträres Zeichen eingeführt werden kann und dann zunehmend Eigenschaften des Naturgegenstandes durch Eigenschaften des Symboles ersetzt. Der Sinn einer derartigen Symbolisierung bleibt nur dann erhalten, wenn für Sarah dieses Symbolsystem, in diesem Fall die Plastikzeichen, permanent verfügbar ist. Die Abwesenheit des Gegenstandes wird durch die Anwesenheit des Symboles ersetzt. Farbe kann so z. B. durch Form ersetzt werden, d. h. auch ein grünes Plastiksymbol kann mit einer definierten Form die Eigenschaft >rot< symbolisieren. Voraussetzung für das Erlernen des Symboles >rot< durch die Klassifikation der verschiedensten Gegenstände mit diesem Merkmal, ist die Fähigkeit gleichzeitig von anderen Dingeigenschaften zu abstrahieren. Unter den äffischen Primaten verfügen nicht nur Schimpansen, sondern die Mehrzahl der bisher untersuchten höheren Primaten über eine ausgeprägte Generalisationsfähigkeit (z. B. Rhesusaffen, Kapuziner), die als wichtige naturgeschichtliche Voraussetzung zum Erwerb symbolisierter Zeichensysteme angesehen werden kann. Sarah lernte sowohl die Klassifizierung von Färb- und Formmerkmalen (z. B. >gelbviereckiggroßkleinRot Farbe von Apfelgeben< und >nehmen< zu erlernen. Wesentlich isty daß hier keinerlei manipulative Veränderungen eines Gegenstandes vorgenommen werden, sondern lediglich eine soziale Transaktion stattfindet. Experimentell ging Premack dabei so vor, daß, bevor ein begehrtes Nahrungsstück verzehrt werden konnte, ein bestimmtes Plastiksymbol an der Tafel angebracht werden mußte. Nachdem dieses Symbol mit mehreren begehrten Gegenständen kombiniert wurde, bildet sich allmählich seine Bedeutung als >geben< heraus. Für diese einfache Tauschoperation (in der Warengesellschaft des Mesolithicums erhält sie dann eine allgemeine gesellschaftliche Funktion durch den ökonomischen Austausch von Produkten) sind bereits einige grundsätzliche Abstraktionsleistungen notwendig. »Um die ganze Transaktion des Gebens darstellen zu können, muß das Tier Handelnde von Objekten, Handelnde voneinander, Objekte voneinander und sich selbst von anderen unterscheiden« (Premack & Premack 1973, 417). Symbolisierungsmöglichkeiten bestehen phylogenetisch damit bereits dann, wenn Primaten die Unterschiede zwischen verschiedenen Individuen kennen. Möglichkeiten der Austauschoperationen bietet z. B. die bei freilebenden Schimpansen nachgewiesene Verteilung von Nahrung (vgl. 9.5.). Die Schwierigkeit der Beschränkung einer sprachlichen Symbolisierung auf einen Zusammenhang mit elementaren Produktionsformen und Werkzeugherstellung liegt vor allem darin, daß die gesellschaftliche Erfahrung, die jeder individuellen Werkzeugherstellung vorausgeht, nur als sehr abstrakte Größe eingeführt werden kann. Es ist außerdem schwer vorstellbar, wie sich sachliche Gegenstandsbedeutungen unabhängig von personalen Gegenstandsbedeutungen entwickeln sollen. Umgekehrt kann die individualisierte Gegenstandserfahrung des Grup250

penmitgliedes als soziales Erfahrungsmedium die später auftretende und kompliziertere Gebrauchswerterfahrung des Gegenstandes vorbereiten. Phylogenetisch entwickeln sich die Gebrauchswerterfahrungen deshalb wahrscheinlich nicht nur in der äußersten Zone der Auseinandersetzung der Natur, sondern auch mit der inneren Gruppenerfahrung des Artgenossen als Instrument und Widerstand eigener Interessen. In diesem Zusammenhang ist auch der Einfluß emotionaler und sozialer Faktoren auf die Symbolisierungsleistungen Sarahs von Bedeutung. Bei der Kommunikation mit neuen Lehrern kam es z. B. zu einem Leistungsrückfall (was aber keineswegs bedeutet, daß Sarah wie der >kluge Hans< nur über das Ausdrucksverhalten lernt). Antworten, die sich nicht auf sie selbst bezogen, wurden nur widerstrebend gegeben, ebenso wie Bezeichnungen uninteressanter Objekte schlechter erlernt wurden. Werkzeuge setzen dagegen ein hochentwickeltes Naturverhältnis voraus, in dem bereits unmittelbare Formen der subjektiven Interessiertheit wieder reduziert und durch ein System abstrakter gruppenspezifischer Notwendigkeiten ersetzt sind. Umgekehrt beherrschte Washoe die Symbole für >du< und >ich< und war in der Lage, damit Sätze zu bilden, während die Bezeichnung von Prozessen wie das Zerschneiden einer Frucht von Sarah nicht artikuliert wurden, was möglicherweise an der Komplexität dieses Vorganges liegt. Die Kommunikation zwischen Schimpansen und Mensch, die man sicher noch nicht ohne Einschränkungen als Sprachgebrauch bezeichnen kann und die in ihrer spezifischen Methodik auch nicht mit dem phylogenetischen Spracherwerb der humanen Hominiden verglichen werden kann, läßt doch einige Schlußfolgerungen zu, die für das Verständnis der historischen Sprachentwicklung von Bedeutung sind: a.) Der phylogenetische Unterschied zwischen der Primatenkommunikation und der menschlichen Sprache ist so groß, daß es den Menschen nicht möglich ist, sich z. B. auf das Kommunikationsniveau des Schimpansen einzustellen, umgekehrt gelingt es aber diesen nach mehrjährigen Training spezifisch menschliche Symbol- und Zeichensysteme zu erlernen und sich über sie mit den Menschen zu verständigen. Seine >mentale< Kapazität ist deshalb größer als das tatsächliche Kommunikationsniveau unter natürlichen Bedingungen (vgl. 10.1.). b.) Den experimentellen Ansatzpunkt der Vermittlung von Symbolen bildet ein naturgeschichtlich entstandenes System von Gebrauchswerten, die in einem ersten Schritt selbst symbolisiert (z. B. als ein abstraktes Zeichen für Apfel) um dann ihrerseits für den Erwerb weiterer Zeichen benutzt zu werden. Während zunächst vor allem Nahrungsobjekte über die richtige Handhabung von Symbolen erworben werden, liegen auch vereinzelte Beobachtungen vor, daß von Schimpansen neue Zeichen allein zum Zweck der verbesserten Kommunikation eingeführt werden. 251

C3 P^^ MARY

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SARAH

Bild 29 Sarah lernt nicht nur Begriffe wie >ApfelSchokolade< und Personennamen, sondern auch einfache logische Operationen wie z. B. die Identifikation gleicher Gegenstände durch einen Namen, indem aus einer Gruppe verschiedener Objekte jeweils die gleichen zusammengestellt wurden (a). In der Abstraktion entspricht das der Bildung von Äquivalenzklassen. Die Feststellung derartiger Identitäten (>A = AErnstbezug< wie bei Instinkthandlungen, so daß der Beschäftigungsgrad nicht nur mit unterschiedlichen Intensitäten betrieben werden kann, sondern auch wiederholbar ist (Meyer-Holzapfel 1956). Werkzeugverhalten auf einer elementaren Stufe erhält seinen Funktionswert aber nicht nur aus einer besonders eleganten Problemlösung, sondern auch aus der motorischen Fähigkeit, die gleiche Reaktion mehrmals hintereinander auszuführen. Die ursprüngliche Bedeutung einer Endhandlung, deren Erreichen das Niveau der Handlungsbereitschaft sinken läßt, wird zunehmend von einer komplexen Motivation übernommen, die gegenüber den einzelnen speziellen Reaktionsschritten weitgehend unabhängig bleibt. Ebenso wie das Handlungsziel des Spiels in ihm selbst liegt, bekommt auch die Objektmanipulation eine eigenständige Motivation, die sich schließlich zum gesellschaftlichen Interesse differenziert. Extreme Motivationen, etwa hervorgerufen durch eine Verknappung des Nahrungsangebotes, sind dabei wahrscheinlich keine günstige Grundlage für die Entstehung so komplexer Verhaltensweisen wie der Arbeit. Tierexperimente haben gezeigt, daß ein mittleres Maß an Handlungsbereitschaft für Aufgabenlösungen am günstigsten ist, während starke Motivationen die Möglichkeiten einer crea258

tiven Lösung einengen und zu einer zu direkten Ausdrichtung auf das (Nahrungs-) Ziel führen. Zu den Handlungsbereitschaften, für die bei freilebenden Primaten am häufigsten Werkzeuggebrauch nachgewiesen ist, gehören Nahrungsaufnahme und Aggressivität. Die Imponierbewegungen der Menschenaffen sind dabei direkt auf den Gegner gerichtet und werden gelegentlich durch Schlagwaffen (Knüppel) und Wurfgeschosse ergänzt. Besonders häufig tritt Manipulation bei der Nahrungssuche auf. Die Mehrzahl der Primaten untersuchen und verändern ihre Nahrung, bevor sie gefressen wird. Häufig zwingt aber der Nahrungserwerb bereits selbst zu komplexen motorischen Operationen, z. B. bei Früchtefressern, die gezielt ihre Nahrung aus dem Laub ergreifen oder bei insektenfressenden Arten, die bewegliche Objekte fangen oder durch Zuschlagen erbeuten. Bei gras- und samenfressenden Primaten wie den Dscheladas konnte z. B. beobachtet werden, daß sie in sitzender Stellung lange Zeit mit den Nahrungsobjekten manipulieren, bevor sie fressen. Ebenso suchen Paviane gezielt unter Steinen und bearbeiten pflanzliche Nahrung. Unter den Halbaffen gibt es Spezialisten wie das Fingertier, die besondere biologische Spezialisationen wie bekrallte Extremitäten besitzen, während Galagos gezielt nach Insekten schlagen. Dabei ist nicht nur manipulatives Geschick notwendig, sondern auch eine bestimmte Ausdauer, um das Nahrungsobjekt auszumachen und schließlich eine präzise Fangoperation. Da zwischen Nahrungsgewohnheiten und manipulativen Fähigkeiten ein enger Zusammenhang besteht, kann man annehmen, daß eine wichtige biologische Wurzel der manipulativen Bearbeitung auch bei Menschenaffen in diesem Bereich liegt. Die ursprünglich nur auf Nahrungsobjekte beschränkten Operationen, wie sie für die meisten Neuwelt- und Altweltaffen typisch sind, wurden bei Menschenaffen so generalisiert, daß auch Zweige, Knüppel und Steine Gegenstand manipulativen Interesses wurden. Der Zusammenhang zwischen biologischen Primärbedürfnissen und Werkzeugverhalten bleibt bei freilebenden Menschenaffen noch insofern erhalten, als die instrumenteile Verwendung von Gegenständen sich überwiegend auf Erleichterungen des Nahrungserwerbs bezieht. Man kann die für alle Primaten kennzeichnende Veränderung der Nahrung, die sowohl zu einem Auslesen als auch zur mechanischen Zubereitung z. B. durch Verkleinerung vor dem Kauvorgang führen, als eine biologische Vorform des Werkzeugverhaltens im weiteren Sinne interpretieren, von dem es sich aber durch zahlreiche Merkmale unterscheidet. Der wichtigste Unterschied zur menschlichen Arbeit ist, daß die Nahrung noch mit den Organspezialisierungen des Körpers selbst bearbeitet wird. Im einfachsten Fall sind die Instrumente Krallen (z. B. bei einigen Halbaffen), häufig aber sind es die Vorderextremität selbst in verschiedenen 259

Stellungen, z. B. als Faust bei Insektenfang oder als gezielter Griff. Der Werkzeuggebrauch bleibt hier noch vollständig auf einer biologischen Ebene, da kein Einsatz zusätzlicher mechanischer Objekte zur Manipulation erfolgt. Andererseits tritt doch schon ein System qualitativer Änderungen gegenüber einer unmittelbaren Nahrungsaufnahme hervor. So wird die Frucht oder das Insekt nicht nur mit der Schnauze erfaßt, sondern über andere instrumentell verwendete Körperorgane. Zwischen Ortung in der Umwelt und Bearbeitung durch das Gebiß sind mehrere Zwischenglieder geschaltet, die in sich eine immer kompliziertere Reaktionskette bilden. Anatomische Voraussetzung dafür ist der Einsatz der Vorderextremitäten als Greifinstrument, die das Gebiß von dem Erfassen und Zerkleinern der Nahrung entlasten. Diese Form der biologischen Manipulation von Nahrungsobjekten, ist nicht nur auf die Primaten beschränkt, sie findet sich auch bei anderen Säugetieren und bei Vögeln. Aus ihrer Existenz heraus erscheint die weitere Komplizierung durch die Einführung mechanischer Objekte, die jetzt worden Nahrungsobjekten ergriffen werden,um diese zu bearbeiten, eine logische Konsequenz, da einerseits entsprechende Greiforgane bereits vorhanden sind, andererseits die Beeinflussung der Nahrungsobjekte durch die eigenen körperlichen Möglichkeiten bei komplizierten Operationen abnimmt. Dieser Griff nach einem zusätzlichen Instrument ist die eigentliche Grenze zwischen Mensch und Tier, die potentiell zwischen simischen Primaten und Menschenaffen liegt, für die gelegentlicher Werkzeuggebrauch durch mehrere Beobachtungen sicher nachgewiesen ist. Allerdings unterliegt der Werkzeuggebrauch zumindest in seiner äffischen Anfangsphase noch primär biologischen Selektionsbedingungen. Kortlandt (1967) vertritt die Auffassung, daß die biologische Notwendigkeit, den Einbau von Instrumenten in die Reaktionsketten des Nahrungserwerbs und der Selbstverteidigung weiter zu vervollständigen, von den ökologischen Bedingungen abhängig ist. Für Schimpansen, die nicht nur in tropischen Urwäldern, sondern auch in reichgegliederten Savannen und Monsunwäldern vorkommen, wird der Werkzeuggebrauch auf der Ebene eines manipulativen Einsatzes von Stöcken um so überflüssiger, je günstiger Ernährungs- und Verteidigungsmöglichkeiten durch die Lebensbedingungen des Urwaldes werden. Der Werkzeuggebrauch bei Menschenaffen ist deshalb nur potentieller Natur, der sich auf kurze Zeiträume und besondere Situationen beschränkt. Der mehrfach beobachtete Gebrauch von Grashalmen bei Schimpansen, die abgebrochen und beleckt zum Instrument von Erwerb der Termiten werden (LawickGoodall 1963), zeigt alle Merkmale des Werkzeuggebrauchs. Die Zweige oder Halme werden sorgfältig ausgesucht, wenn notwendig verändert und sogar die verschlossenen Ausgänge des Termitenbaues geöffnet, um das Hilfsinstrument gezielt einzuführen. Im Gegensatz zu den Beispielen, wo etwa Blätter zum Säubern des

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Körpers benutzt werden, erfolgt auch eine wiederholte Verwendung des Werkzeuges, das damit einen erhöhten funktionellen Wert bekommt. Auch innerhalb des manipulativen Einsatzes von Blättern für das Komfortverhalten, das Aufsaugen von Wasser, das mit dein Lippen nicht erreicht werden kann oder dem Einsatz von Zweigen existiert damit eine Abstufung des instrumentellen Charakters, der bei einer Mehrfachverwendung steigt. Der erleichterte Erwerb der Instrumente schwächt dabei zweifellos die Notwendigkeit einer wiederholten Verwendung oder gar einer Aufbewahrung ab. Trotz der bemerkenswerten Komplexität des Termitenfanges ist die biologische Bedeutung gering, da nur wenige Gramm Nahrung in stundenlanger Arbeit gefangen werden, deren Erwerb zudem mehr spielerischen Wert besitzt. Schimpansen sind spezialisierte Früchtefresser, die nur gelegentlich auf Insektenbzw. Fleischnahrung zurückgreifen. Dazu kommt, daß eine instrumenteile Erbeutung von Termiten keineswegs die Regel ist, sondern in spezifischer Weise erlernt werden muß. Die Grenzen des Werkzeugverhaltens bei Schimpansen zeigt auch der Sachverhalt, daß z. B. ein Aufschlagen von ölpalmnüssen, die bei den westafrikanischen Schimpansen teilweise die Hauptnahrung bilden, bisher nur vereinzelt beobachtet werden konnten. Kortlandt betont, daß Schimpansen bei praktischen biologischen Anforderungen einen erstaunlich geringen Werkzeuggebrauch erkennen lassen.

Die Evolution des Werkzeugverhaltens ist in frühen Phasen bei Menschenaffen und Hominiden zweifellos ein Prozeß, der primär noch der biologischen Selektion unterliegt und für sich keineswegs genügt, um aus der Eigendynamik der operativen Möglichkeiten heraus zur gesellschaftlich-ökonomischen Organisation zu führen. Werkzeugverhalten und Bearbeitung von Gegenständen sind unterschiedliche Entwicklungsstufen, über die sich das zunächst sporadische Auftreten der Werkzeugbenutzung zu einem generalisierten Verhalten verdichtet, das sich nicht nur auf spezialisierte Seiten des Nahrungserwerbes und der Verteidigung beschränkt, sondern die Instrumentverwendung auf alle biologischen Funktionskreise gleichermaßen ausdehnt. Ein wesentlicher Unterschied zwischen äffischem Werkzeugverhalten und menschlicher Arbeit ist darin zu sehen, daß bei der ersteren die jeweilige Spezialisierung des biologischen Bedürfnisses noch nicht verlassen ist und außerdem die Werkzeugverwendung individualisiert bleibt und keine Vergesellschaftung des Instrumentes oder des manipulierten Objektes stattfindet. Die ökologische Verschärfung der Lebensbedingungen kann dann auch mit zu einer Stimulierung der instrumentellen Anpassung führen, die sich in der Hominidenentwicklung von einem bestimmten Komplexitätsgrad an als >Arbeit< verselbständigt. Ein weiteres Problem der Evolution des Werkzeugverhaltens bei Tieren ist der Übergang von instinktivem zu erlerntem Werkzeugverhalten. Der Spechtfink der Galapagos-Inseln (Cactospizapallida) benützt z. B. Zweige, um Insekten aus dem Holz zu hebeln. Er bearbeitet dabei häufig erst das Instrument, ehe es dazu benutzt wird, nach Insekten zu stochern. Aber 261

selbst auf dieser Entwicklungsebene sind wesentliche Verhaltenskomponenten angeboren (Eibl-Eibesfeldt 1972), so daß die Jungtiere das Werkzeugverhalten erst nach und nach lernen. Auch Menschenaffen besitzen komplexe Verhaltensmuster, für die zumindest eine angeborene Disposition ausgebildet ist, in deren Verlauf es zur manipulativen Veränderung von Gegenständen kommt. Bezeichnenderweise werden diese nur selten unter dem Blickpunkt des Werkzeugverhaltens diskutiert, wie z. B. der Bau besonderer Schlafnester bei dem Orang-Utan und den afrikanischen Pongiden. Schimpansen bauen geflochtene Baumnester, bei denen zuerst große Zweige miteinander verbunden und dann durch kleinere abgebrochene Äste verstärkt werden. Die Gorillas bauen dagegen relativ grob angelegte Bodennester, in denen sie übernachten. Der Nestbau ist bei Primaten eine verbreitete Verhaltenseigentümlichkeit. Bereits Halbaffen legen Schlaf- und Brutnester an, die dem Schutz und der Aufzucht der Jungtiere dienen. Die Menschenaffen konstruieren auf ihren Wanderungen ständig neue Nester, ohne eine engere territoriale Bindung an sie zu zeigen. Auch die Jungtiere werden nicht, wie noch bei den Halbaffen, während der Nahrungssuche im Nest zurückgelassen. Ob Schimpansen in der Gefangenschaft zum Nestbau kommen, hängt unter anderen von einer entsprechenden Umgebung ab. Da auch Jungtiere im ursprünglichen Lebensraum die Nestbauoperationen während der 3-4jährigen Bindung an das Muttertier erlernen, ist es möglich, daß es während der künstlichen Haltung zu dauerhaften Verhaltensstörungen etwa als Folge sozialer Isolation kommt. Wahrscheinlich liegt dem Nestbau eine genetische Praedisposition zugrunde, wie dies auch für andere Formen des Werkzeugverhaltens bei Primaten angenommen werden kann, deren konkrete Realisation dann aber sozial durch Beobachtung gelernt werden muß. Verallgemeinernd läßt sich feststellen, daß zwei wesentliche Entwicklungsstufen des Werkzeugverhaltens nicht mit dem Tier-Mensch-Ubergang zusammenfallen, sondern sich bereits während der tierischen Evolution durchsetzen. Sie sind auch nicht nur für die Primatenentwicklung typisch. Es sind vielmehr Verhaltenseigentümlichkeiten, die sich bei den verschiedensten Tiergruppen finden. a.) Mehrere Tiere benutzen körpereigene Spezialisierungen als »Werkzeugen Als besonders erfolgreich haben sich neben den Schnäbeln bei Vögeln frei bewegliche Vorderextremitäten erwiesen, die zu Greiforganen umgebildet werden. Die manipulative Bearbeitung z. B. von Nahrungsobjekten führt zu einer funktionellen Entlastung anderer Organe. Eine biologische Form des Werkzeugverhaltens ist immer dann erreicht, wenn nochmals besondere Gegenstände zur Manipulation verwendet werden, deren physikalische Eigenschaften die Möglichkeiten der eigenen motorischen Reaktionen überschreiten. Die ursprünglich rein biologische Funktions262

kette wird durch instrumenteile Zwischenglieder erweitert, damit aber die natürliche Anpassung durch Werkzeugverhalten ergänzt. b.) Der Einbau der instrumentellen Glieder erfolgt in den meisten Fällen innerhalb eines komplizierten angeborenen Verhaltenssystems und ist arttypisch. Für das >echte< Werkzeugverhalten reicht damit eine direkte oder über Instrumente vermittelte Gegenstandsveränderung als Kriterium nicht aus, so lange es nicht erlernt ist. Der Übergang von angeborenem zu erlerntem Werkzeugperhalten ist nicht erst für das TMÜ typisch, sondern vollzieht sich bereits partiell während der Entwicklung des tierischen Verhaltens. Schimpansen verfügen sowohl über stärker genetisch beeinflußte Formen wie den Nestbau, als auch bereits über sozial erlernte Möglichkeiten des Werkzeugverhaltens, wie das kooperative Jagen von jungen Pavianen, Zerschlagen von ölpalmnüssen, das nur auf einige Populationen begrenzt ist, oder das Termitenangeln. Cognitiver Werkzeuggebrauch kommt aber nur bei Menschenaffen vor. Rotgesichtsmakaken tradieren ihre Erfahrungen bei der Nahrungszubereitung über Generationen und die neuweltlichen Kapuzineraffen benutzen systematisch Zweige zur Nahrungssuche (Kowai 1975). Uber Beobachtungen des spontanen Werkzeugverhaltens bei freilebenden Primaten hinaus haben sich aber bei Menschenaffen noch komplexere Ebenen der instrumenteilen Handlungsfähigkeit nachweisen lassen. Nur zwei exemplarische Beispiele können hier angeführt werden. Kortlandt (1963, 1967) hat in mehreren Untersuchungen das unterschiedliche Verhalten von Urwald- und Savannenschimpansen beim Auftauchen eines ausgestopften Leoparden beobachtet und zu einem Modell der Evolution des Werkzeuggebrauchs bei Pongiden und Hominiden als >Dehumanisierungshypothese< verallgemeinert. Die Mehrzahl der männlichen Primaten zeigt beim Auftauchen eines Raubfeindes kein ausgesprochenes Verteidigungsverhalten, stellen sich aber der Herausforderung. Dies trifft sowohl auf die baumbewohnenden sozial organisierten Arten (z. B. Brüllaffen), als auch auf terrestrische Primaten wie Grüne Meerkatzen und Paviane zu. Menschenaffen sind bereits durch ihre Körpergröße weniger gefährdet, dazu kommt bei männlichen Gorillas ein imponierendes Brusttrommeln (Schaller 1963), während Kortlandt (1968) grelle Angriffsschrei von Schimpansen beim Auftauchen eines Leoparden beobachtete. Von Gorillas ist bekannt, daß sie über Scheinangriffe hinaus durch Umklammerung und Bisse dem Gegner gefährliche Verletzungen zufügen können. Bei 6 Versuchen mit kongolesischen Schimpansen wurde das Erscheinen des Leoparden mit gezielten Angriffsoperationen beantwortet. Diese urwaldbewohnenden Schimpansen stampften einmal ungerichtet mit Händen und Füßen gegen den Boden und Bäume und erkletterten Bäume, auf denen sie sich in Richtung des Leoparden schwangen. Außerdem wurden aber Stöcke aufgenommen und gegen den Feind geschwungen oder geworfen. Kortlandt betont, daß die Wurfweite sehr gering war und einer großen Streubreite unterlag, der Waffengebrauch aber detaillierter ist als beim sozialen Imponierverhalten gegenüber dem Art-

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genossen ist. Es handele sich aber nicht um ein bewaffnetes Kämpfen, da die Knüppel teilweise ungeschickt gehalten und nur ungezielt eingesetzt werden, sondern um eine Art »Hassen mit Imponierwerkzeugenhumanen Phase< der Hominisation empirisch gesichert ist, führt von Beginn an zu einer Differenzierung in körperliche 265

und geistige Arbeit, Zu den geistigen Komponenten des Arbeitsprozesses gehören unter anderem die ideelle Reproduktionsfähigkeit sinnlich-konkreter Erfahrungsinhalte, Entwicklung von Zielvorstellungen, Planung von Handlungsabläufen und die Trennung der Motivation für den Arbeitsvorgang und den psycho-physischen Bedürfnispegel. Für den Arbeitsvorgang der frühen Hominiden muß noch eine undifferenzierte psycho-somatische Einheit des Ablaufs angenommen werden, die einerseits bereits die essentiellen cognitiven Momente wie Zielsetzung, Zweckmäßigkeit des Verhaltens, zeitunabhängige Planung usw. enthält, andererseits aber noch in einem besonders starken Maße durch die körperlichen Möglichkeiten der Frühmenschen bestimmt ist. Die Begrenzung des Arbeitsvermögens ist von Beginn an deshalb nicht nur eine geistig-ideelle, sondern vor allem auch von den eigenen physiologischen Grenzen als mechanischer Naturmacht abhängig, die es nicht gestattet, etwa unbegrenzt die verschiedenartigsten Materialien zu bearbeiten, denn Erschöpfungszustände können physiologisch zwar überwunden werden, nicht aber etwa bestimmte biologisch vorgegebene Grenzen der mechanischen Gewaltausübung. Die Überschreitung derartiger Beschränkungen ist erst für den hochentwickelten Arbeitsprozeß charakteristisch. Die eigene physiologische Grenze der mechanischen Kraftausübung des Menschen wird teilweise durch Werkzeuggebrauch kompensiert bzw. es kommt zu einer sozialen Gegenorganisation, da im einfachsten Fall bereits eine Addition der Körperkräfte verschiedener Individuen eine Vervielfachung der Wirkungsmöglichkeiten bedeuten. Die entwickelte Form der Arbeit ist dann erreicht, wenn die Erkenntnis von Naturgesetzen eine zweckmäßige Veränderung der Außenwelt ermöglicht, die planmäßig betrieben werden kann, indem z. B. Naturkräfte unterschiedlicher Größenordnung gegeneinander wirken, ohne daß der Mensch selbst noch seine physischen Kräfte für die Erreichung der gewünschten Zielstellung einsetzen muß. (vgl. HolzkampOsterkamp 1975, 243 ff.). Hier interessiert jedoch nur die elementarste Form menschlicher Arbeitsmöglichkeit, bei der der Umfang der Veränderung des Naturgegenstandes primär noch von den eigenen phylogenetisch vorgegebenen Bedingungen des Körperbaues abhängig ist und die Funktion des Menschen sich in seiner Wirkung als Naturkraft erschöpft. Die frühen Hominiden konnten nur arbeiten, indem sie ihre eigenen psycho-physischen Mittel, zu denen nicht nur Körpergewicht und Muskelkraft, sondern auch Abstraktionsvermögen und Kommunikationstechniken gehören, einsetzen, die aber zweifellos den meisten entgegenwirkenden Naturkräften unterlegen waren. Trotzdem tritt in derartigen Veränderungsprozessen der Mensch bereits »dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber . . . um sich den Naturstoff in einer für das eigene Leben brauchbaren Form anzueignen. 266

Indem er auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eigenen Botmäßigkeit.« (MEW, 23, 192). Selbst bei einem entwickelten System von Bedürfnissen scheitert deren Befriedigung aber zunächst an der Größe und Schnelligkeit des Beutetieres, der Härte der bioklimatischen Bedingungen usw. Diese Negativität der eigenen Funktion als Naturkraft, die Einsicht in die Begrenzung der Naturveränderung trotz zahlreicher Ziel- und Zweckvorstellungen, wird zweifellos zu einer Quelle der Veränderung des Arbeitsprozesses, wobei die geistige Arbeit ebenso wie die soziale Organisation des Arbeitsvorganges eine immer größere Bedeutung erhält. Die meiste Zeit der phylogenetischen Entwicklung des Menschen standen jedoch lediglich die biophysikalischen Kräfte des Skelett- und Muskelsystems sowie die physiologischen Kennwerte des Stoffwechsels als Instrument der Naturveränderung zur Verfügung. Auch bei der Veränderung des Steines oder Knochens als Werkzeug zeigt sich die begrenzende Wirkung der spezifisch menschlichen Naturkraft noch mannigfach und bestimmt die Auswahl des Materials, die Art der Bearbeitung, die Form des Werkzeuges, die den Bewegungsmöglichkeiten der menschlichen Extremität angepaßt werden muß usw. Aus der »biologischen Phase< der Evolution des Arbeitsverhaltens, in der die limitierende Wirkung der physiologischen Kraftwirkung des Menschen noch nicht überwunden ist und jede Bearbeitung unterhalb des biologischen Kräfteniveaus der verschiedenen Hominidenvertreter bleibt, kann hier nur eine Struktur des Kräfteparallelprogramms zwischen Mensch und Natur im Detail in seiner biophysikalischen Effektivität betrachtet werden. In der Lokomotion der Primaten, davon beeinflußt aber auch im Handgebrauch des Menschen, ist das Hebelprinzip zu einem zentralen biomechanischen Instrument zunächst zur Eroberung des terrestrischen Lebensraumesy später dann der aktiven Manipulation in der Umwelt selbst geworden. Bei vielen Säugetieren führte eine extreme Anpassung an das Bodenleben zu einer Reduktion der Fingerstrahlen (z. B. bei Unpaarhufern und Paarhufern), zum Verlust des Schlüsselbeines (Clavicula), der Verschmelzung von Radius und Ulna, d. h. insgesamt zu einer Einschränkung der Rotationsmöglichkeiten des Oberarmgelenkes und zu einer Verstärkung der mechanischen Stabilität der Vorderextremität im Dienste der Fortbewegung. Durch die Bipedie der Hominiden ist es dagegen in der Evolution der Vorderextremität zu einer mehrfachen Umsetzung der Hebelwirkung durch das Schulter-, Ellbogen und Handgelenk gekommen, die den Bewegungsgrad der Vorderextremität erheblich erweitert und Greifhandlungen in verschiedenen Körperpositionen ermöglicht. Die Kenntnis der anatomischen Verhältnisse des menschlichen Körperbaues 267

ermöglicht in gewissen Grenzen die biophysikalischen Möglichkeiten der Arbeitsoperationen der frühen Menschen abzuschätzen. Zu der Hebelwirkung der verschiedenen Skelettelemente kommt dabei die Wirkung der gekoppelten Muskelsysteme. Der Schultergürtel als die direkte Verknüpfung von Vorderextremität und Körperrumpf hat bei den Primaten gegenüber anderen quadrupeden Säugetieren insofern bereits eine grundsätzliche Veränderung erfahren, als er nicht mehr aus drei, sondern nur noch aus zwei Knochen besteht, dem Schulterblatt (Scapula) und dem Schlüsselbein (Clavicula). Durch die Verbreiterung des Rumpfes haben sich innerhalb der Hominoidea außerdem zwei weitere Spezialisierungen herausgebildet: die Schlüsselbeine werden verlängert und die Schulterblätter auf den Rücken verschoben. Der größere Beweglichkeitsgrad der menschlichen Vorderextremität gegenüber dem Fuß, der allerdings gleichzeitig zu einem Verlust der Stabilität führt, entsteht einmal über die Verfestigung des Schulterblattes durch eine verstärkte Ausbildung des Musculus trapezius und des M. serratus anterior, durch die es schwebend aufgehängt ist, zum anderen durch die mechanische Verbindung des Schlüsselbeins mit dem Schulterblatt und dem Brustbein (Sternum) durch zwei Gelenke. Während beim Becken das Schambein, das dem Schlüsselbein funktionell entspricht, fest verwachsen ist, gestattet das Sternoclaviculargelenk eine Bewegung der Vorderextremität von 40 Grad in zwei Ebenen. Im Acromioclaviculargelenk kann das Schulterblatt zum Schlüsselbein frei bewegt werden. Goerttler schreibt dazu: »Das technische Beispiel eines fahrbaren Drehkrans mit Ausleger entspricht diesen Verhältnissen. Das Schwergewicht der Muskelmasse ist so verteilt, daß die Last peripheriewärts abnimmt. Die Hand wird vom Unterarm aus mit Hilfe langer Sehnen bewegt und besitzt selbst nur wenig Muskeln. Die Finger sind völlig muskelfrei. Diese Anordnung fördert die Präzision der Bewegung und schafft damit ein Greiforgan, dessen Leistungsfähigkeit in der Technik unerreicht ist.« (1972, 225) Das Schlüsselbein selbst muß dabei als eine morphologische Struktur verstanden werden, die sowohl zur Abstützung als auch zur Stabilität der Verbindung von Vorderextremität und Körper dient, denn bei Tiergruppen, in deren Fortbewegung die Vorderextremität keine seitlichen Bewegungen durchführen muß, ist das Schlüsselbein phylogenetisch verloren gegangen. Bei den Pongidae hat der extreme Hochstand der Schultern andererseits zu einer besonderen Verlängerung der Schlüsselbeine geführt (Schultz 1965). Das Schulterblatt mit der Spinae scapulae dient vor allem als mechanischer Widerstand und als Hebelarm für die Muskulatur des Schultergürtels wie den M. serratus anterior, den M. deltoideus und den M. trapezius. Aus diesen Gründen variiert die Ausbildung des Schulterblattes in Abhängigkeit von der Ausbildung der Muskelsysteme der Vorderextremität, die wiederum unmittelbar von der Lokomotionsart der entsprechenden Tiergruppe abhängig ist. Um die Hebelwirkung zu erhöhen, kommt es bei einem zunehmenden Gebrauch der Vorderextremitäten zur Fortbewegung zu einer Verlängerung der Scapulae. Dementsprechend sind bei quadrupeden Primaten sowohl der M. serratus anterior und der M. trapezius im geringeren Maße ausgebildet und das Schlüsselbein kürzer, während bei den brachiatorischen Primaten die größere Muskelmasse auch eine Vergrößerung der Ansatzfläche und die Verstärkung verschiedener morphologischer Spezialisierungen wie der Spina scapulae und des Processus

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acromialis erfordert, was durch vergleichende Messungen an Cercopithecoidea und Hominoidea nachgewiesen werden konnte (Schultz 1965). Oxnard (1963) führte einen Vergleich der relativen Muskelmasse zwischen dem M. trapezius und dem M. serratus anterior bei den drei Fortbewegungsgruppen der Primaten durch, der zeigte, daß ihre Masse bei den Brachiatoren am größten ist und über Semibrachiatoren zu den quadrupeden Primaten abnimmt. Der Unterschied erklärt sich aus der unterschiedlichen Funktion. Beim Schwingel-Hangel-Klettern tragen die Vorderextremitäten das Körpergewicht, während bei der vierfüßigen Fortbewegung die Stützfunktion gegenüber dem Körpergewicht günstiger durch ein stabiles und relativ starres Knochensystem erreicht wird. Die menschlichen Verhältnisse entsprechen denen der Semibrachiatoren und Brachiatoren, es gibt jedoch auch Merkmale innerhalb des Schultergürtels, die denen quadrupeder Arten entsprechen, da durch die bipede Fortbewegung die Arme von der Schulter herabhängend getragen werden, während sie bei den Pongiden Hanglerfunktion besitzen. Der Fund von knöchernen Elementen des Schultergürtels bei fossilen Hominiden ist deshalb besonders aufschlußreich, da die morphologischen Differenzierungen der Clavicel und der Scapulae Rückschlüsse auf den Fortbewegungsstatus und damit auf die allgemeine Lebensweise ermöglichen. Wegen der leichten Zerstörbarkeit des Schulterblattes sind derartige Fossilien aber selten.

Die Evolution des Schultergürtels innerhalb der Hominoidea führt durch die Kombination der Muskelaufhängung der Vordergliedmaßen und die Übertragung mechanischer Kräfte über das Sternoclavicular- und das Akromioclaviculargelenk zu einer erheblichen Erweiterung des Bewegungsspielraums für das Greifen und Tasten sowie eine gezielte manuelle Beschäftigung mit verschiedenen Objekten. Außerdem kann mit der Hand durch den Freiheitsgrad des Schultergürtels jeder Punkt der eigenen Körperoberfläche erreicht werden, so daß der Körper durch die Vorderextremitäten sowohl mit einer zusätzlichen Verteidigungszone ausgestattet ist und ein ausgedehntes Operationsfeld besitzt. Trotzdem sind die Verlängerung der Schlüsselbeine, die Verlagerung der Schultergelenkpfannen usw. nur ein Entwickungsaspekty der erst dann zu einer wirksamen Entfaltung kommt, wenn er mit der Verlängerung der Vorderextremitäten und gleichzeitig mit der Vervollkommnung der weiteren Übersetzungsstellen in den Gelenken bis zur Hand verbunden ist. Die größere Bewegungsfreiheit der Armbewegung wird im Unterarm einmal dadurch ermöglicht, daß seine beiden Knochenelemente, Ulna und Radius, frei beweglich sind und gegeneinander gedreht werden können, so daß die menschliche Hand sowohl nach außen (Supination) als auch nach innen (Pronation) gewendet werden kann, zum anderen ist der Unterarm durch das Scharniergelenk im Ellbogen gezielt streckbar. Eine andere kausal-morphologische Abhängigkeit betrifft die Ausbildung des menschlichen Brustkorbs, der nicht mehr seitlich abgeflacht ist, die Verlagerung der Gelenkflächen des Schulterblattes nach dorsal und eine dadurch notwendig 269

gewordene Torsion der Oberarmknochen (Humerus) als ein humanes Merkmal, das an die aufrechte Haltung gebunden ist. Die Verbreiterung des Rumpfes führte zu einer Verlagerung der Schulterblätter von der Seite auf den Rücken des Brustkorbs, so daß die Schultergelenkpfannen nicht mehr wie bei den quadrupeden Primaten in der Ebene des Brustbeines, sondern in einer Ebene mit dem Rückgrat liegen. Während bei einem Neugeborenen zwischen der Frontal- und der Schulterblattebene noch ein Winkel von etwa 45° besteht, wird mit zunehmender Umformung des Brustkorbs dieser Winkel immer kleiner, so daß die Gelenkflächen für den Oberarm nach der Seite gerichtet werden, und damit bei gebeugten Ellbogen die Hände abgespreizt vom Körper und außerhalb eines gemeinsamen Blickfeldes hantieren müßten. Diese durch die veränderte Lage der Schultergelenke ausgelöste Entwicklung wird durch die Oberarm-Torsion kompensiert, was bei niederen Primaten mit einem faßförmigen Rumpf nicht notwendig ist. Wenn das Ellbogengelenk bei dem Menschen gegenüber dem Humeruskopf nicht nach innen verdreht wäre, würden die Handflächen nach außen gerichtet sein. Die entsprechende Einstellung, die ein Hantieren mit Gegenständen unter direkter Kontrolle der Augen gestattet, läßt sich sowohl für die individuelle, ontogenetische Entwicklung des Menschen als auch für die phylogenetische Evolution der Hominoidea nachweisen, denn bei Primaten mit einem schmalen Brustkorb ist der Oberarmkopf nach hinten gerichtet, wenn das Ellbogengelenk quer zur Körperlängsachse steht. Weitere wichtige Differenzierungen im Oberarmbereich, die am stärksten bei brachiatorisch lebenden Primaten ausgebildet sind, aber auch für den Menschen gelten, betreffen die Verbreiterung des Ellbogengelenkes (Trochlea), durch die eine größere Seitenstabilität beim Schwingel-Hangel-Klettern erzielt wird, sowie die allgemeine Vergrößerung des Oberarmknochens in Bezug auf Länge und Dicke. Die mittlere Armlänge (Oberarm + Radius) in Prozent der Rumpflänge ergeben für Makaken den Index 83, für Hylobates 184, für den Gorilla 121 und für den Menschen 113. Gleichzeitig mit dem Ubergang zur Brachiation verschiebt sich die untere Grenze des Ansatzes vom M. deltoideus in Richtung Trochlea. Auch das Verhältnis anderer am Oberarm ansetzender Muskeln verändert sich, da bei quadrupeden Säugetieren der M. triceps, der das Gewicht des Tieres im Ellbogen überträgt, stärker als sein funktioneller Gegenspieler, der M. biceps, ausgebildet ist, während dieser wiederum bei hangelnden Primaten dominiert und der M. triceps reduziert ist. Auch hier entsprechen die menschlichen Verhältnisse denen der Semibrachiatoren (Oxnard 1963). Von besonderem Interesse ist natürlich die Entwicklung des letzten Abschnittes der Vorderextremität, der Hand. Trotzdem ist sie nur der Abschluß eines mehrstelligen Umsetzungs- und Rotationssystems der verschiedenen Gelenke und Hebelstrukturen, ohne dessen Funktionsfähigkeit 270

sie erheblich an Bedeutung verlieren würde. Dieses System beginnt mit der Existenz des Schlüsselbeins bei den Primaten, durch das eine einfache antero-posteriore Bewegung zu einem auch seitlichen Aktionsradius erweitert wird. Die Einbettung des Schulterblattes in die Muskulatur, die Ansatzpunkte am Arm, der Wirbelsäule, dem Schädel und dem Brustkorb gefunden hat, dient zugleich als Gelenk, denn bei jeder Bewegung der Scapula wird der Arm mitbewegt, der seinerseits in der Gelenkpfanne des Schulterblattes verankert ist. Diese hohe Beweglichkeit des Schultergelenkes wird sowohl durch das Ellbogen- und Handgelenk als auch durch die Rotationsfähigkeit von Ulna und Radius erweitert, dessen Ausmaß davon abhängig ist, in welchem Maße beide Knochen gebogen sind und wie stark die entsprechende Muskulatur ausgebildet ist. Bei den Pongidae und Hominidae liegt die Drehungsfähigkeit bei 180°, bei quadrupeden Pongiden bei 90°. Pronation und Supination bedeuten hier einen zusätzlichen Freiheitsgrad der Bewegungsmöglichkeit, der phylogenetisch ebenfalls durch die semibrachiatorische und brachiatorische Fortbewegung erworben worden ist. Erst diese Kombination von mechanischen Voraussetzungen des Schulter-, Ellbogen- und Handgelenkes, der Rotationsmöglichkeiten des Unterarmes sowie schließlich die fünfstrahlige Struktur der Primatenhandy für die die Opponierbarkeit des Daumens wiederum das wichtigste Merkmal ist, schafft die morphologischen und funktionellen Bedingungen, damit ein Gegenstand aus seiner Umwelt herausgenommen, geprüft und sogar als Werkzeug verwendet werden kann, wenn nämlich die Operationen mit Objekten bereits so kompliziert sind, daß selbst diese bisher erwähnten biomechanischen Voraussetzungen nicht mehr genügen. Obwohl die vielseitige Verwendungsfähigkeit der menschlichen Hand allgemein auf der Befreiung der Vorderextremitäten von den Aufgaben der Lokomotion beruht, ist ihre pentadactyle Grundstruktur jedoch phylogenetisch andererseits auch eine Anpassung an das Baumleben, das die Ausführung komplizierter Greifhandlungen notwendig machte. Funktionell kann der Halt an einem Zweig oder einem Ast dadurch gesichert werden, daß der Daumen von den Phalangen abduzierbar ist und die Primatenhand dadurch den Ast vollständig umfaßt in der Art eines Klammergriffs oder der Daumen wird zurückgebildet, die Phalangen aber verlängert und der Halt als Hakengriff vermittelt. Diese Anpassung ist für die Schwing-Hangelkletterer charakteristisch. Die konservative Struktur der menschlichen Hand zeigt sich darin, daß sie jede extreme Spezialisierung wie den Verlust des äußeren Daumes bei Spinnenaffen, die Reduktion des 2. Fingers bei Pottos, das Einbiegen der Finger 2-5 gegen die dorsoflexierte Hand, wodurch Gorilla und Schimpanse als besondere Eigenart sich auf den Knöcheln der Vorderextremität bewegen, was wiederum zur Ausbildung von Hautleisten führt, die bei keinen anderen Primaten vorkommen, sowie eine 271

Verkürzung oder Verlängerung der Finger vermieden hat. Ihr wichtigstes Merkmal, die Opponierbarkeit des Daumens, ist bereits ein phylogenetischer Erwerb der Prosimiae, die sich aus bodenlebenden Formen entwikkelten, deren Anpassung an die arboricole Lebensweise bestimmte grundsätzliche Neuanpassungen notwendig machte, die sich aber nicht nur auf den Übergang vom Boden- zum Baumleben bei den Primaten beziehen, sondern auch für andere Säugetiergruppen nachweisbar sind, für die ein ähnlicher Anpassungsdruck bestand. Dazu gehören z. B. die Verlagerung des Körperschwerpunktes nach dorsal, so daß eine sitzende Stellung und damit erste Formen der Aufrichtung möglich werden und die bevorzugte Entwicklung der Hinterextremitäten, durch die das Eigengewicht des Körpers vorwärtsgeschoben wird oder die funktionelle Differenzierung zwischen den Extremitäten. Hier hat sich die Ausbildung von Krallen, wie sie bei primitiven Affen noch auftreten, nicht als besonders erfolgreich erwiesen und ist durch lange bewegliche Finger und einen opponierbaren Daumen ersetzt woerden. Die spezifische Funktionsfähigkeit des Daumens ist damit ein Ergebnis der Herausbildung des Greifkletterns, das bereits bei quadrupeden arboricol lebenden Primaten auftritt. Die Opponierbarkeit des Daumens hat dabei auch selbst wieder eine Entwicklung mit verschiedenen Abwandlungen durchgemacht. Bei primitiven Primatengruppen, die an ihren Extremitäten noch Krallen tragen, wie die Tupaiiformes und Callithricidae, ist der Daumen in einem bestimmten Grad abduzierbar, er kann aber noch nicht opponiert werden. Bei den Lemuriformes und Cebidae z. B. kann der Daumen sowohl gegenübergestellt als auch abduziert werden. Er liegt mit den Phalangen auf einer Linie und ist von ihnen durch einen Zwischenraum getrennt. Da diese Bewegungsmöglichkeit auf einem Scharniergelenk beruht, wird sie als Pseudoopponierbarkeit der echten Opposition gegenübergestellt, die funktionell auf der Ausbildung eines Carpo-Metacarpalgelenkes (Sattelgelenkes) beruht und bei den catarrhinen Primaten einschließlich des Menschen auftritt. Während dieTupaiidae noch mit allen fünf Fingern zugleich zugreifen, setzt dann eine Differenzierung ein, bei der sich die Gegenüberstellung von Daumen und der Phalangen 2-5 am erfolgreichsten erwiesen hat, obwohl phylogenetisch auch andere Möglichkeiten durchprobiert wurden. Die Cebidae z. B. umfassen Äste nicht mit Daumen und Zeigefinger, sondern zwischen zweitem und drittem Finger. Bereits bei den Prosimiae erreicht die Funktionsfähigkeit des Daumens eine erstaunliche Breite, der hier auch auffallend ausgebildet ist und gegenüber den lateralen Fingern in einem Winkel von 180° eingestellt werden kann, während bei anderen Primaten der Daumen nur bis 90° abduziert werden kann (Schultz 1968). Obwohl sich mit der Weiterentwicklung der quadrupeden Fortbewegung der arboricolen Primaten auch neue Bedingungen für die Lokomotion ergaben, ist die Spezialisierung des Daumens bei den Alt272

weltaffen nicht verloren gegangen. Er spielte zwar keine besondere Rolle beim Greifen und Klammern mehr, aber seine Rotierbarkeit gestattete doch zahlreiche Manipulationen beim Nahrungserwerb, der Verteidigung und der Aufzucht von Jungtieren. Der Selektionsvorteil bestand nicht mehr primär in der Übertragung mechanischer Kräfte bei der Fortbewegung, sondern in der Präzision der Operation, die in grundsätzlicher Weise allerdings durch das Greifklettern vorbereitet wurde, bei dem das genaue Ergreifen und Festklammern an den Ästen eine Frage des Überlebens ist. Die brachiatorisch lebenden Pongidae haben eine andere Entwicklung eingeschlagen, da mit dem Schwing-Hangel-Klettern weniger die Spezialisierung des Daumens als die Funktionsfähigkeit der gesamten Hand in den Vordergrund trat. Dabei ist es zu zwei Extremlösungen gekommen. Bei brachiatorisch lebenden Neuwelt- und Altweltaffen (z. B. Spinnen- und Stummelaffen) ist eine Reduktion des Daumens eingetreten, der durch das Umfassen des Astes ein zu kompliziertes Kräftesystem darstellt, demgegenüber eine einfache Hakenhand wesentlich vorteilhafter ist. Oder aber das Sattelgelenk wurde praktisch wie bei dem Gibbon zu einem Kugelgelenk umgebildet und ermöglichte damit ein direktes Anlegen des Daumens an den Handteller. Aus diesen Gründen verfügt der Gibbon über einen extrem langen und beweglichen Daumen, der die Hakenhand beim Schwing-Hangel-Klettern verstärkt, während die anderen Menschenaffen über einen relativ kurzen Daumen verfügen (vgl. Bild 31). Korreliert mit der Reduktion des Daumens, die auch bei semibrachiatorischen Affen nachweisbar ist, ist eine Verlängerung der Phalangen, durch die der Wirkungsgrad der Hakenhand erhöht wird. Dies ist auch die Ursache dafür, daß der Anteil der menschlichen Handskelette am Anteil des Gewichts am Gesamtskelett 2,7%, das der Menschenaffen jedoch zwischen 4,6 und 6,1 % beträgt (Schultz 1962). Bei der menschlichen Hand dagegen sind die Phalangen, aber nicht der Daumen verkürzt, so daß eine günstige Zuoordnung des Daumens zu den einzelnen Fingern möglich ist, die wiederum eine gute Präzisionseinstellung bei Manipulationen mit Gegenständen gestattet. Dazu kommen die erwähnten Möglichkeiten der Abduktion, der Rotation, Flexion und Opponierbarkeit des Daumens, die über den M. adductor pollicis und den M. abductor pollicis gesteuert werden.

9.3. Die biologische Spezialisierung zwischen Hand und Kopf Engels hat in der Schrift »Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen« über die allgemeine Bedeutung der Arbeit für die menschliche Entwicklung hinaus diesem Prozeß eine biologische Interpretation gegeben, die einiger kritischer Bemerkungen bedarf. Ein zentrales Moment ist dabei die 273

Funktion der Hand als biologische Grundlage des Arbeitsprozesses. »So ist die Hand nicht nur das Organ der Arbeit, sie ist auch ihr Produkt. Nur durch Arbeit, durch Anpassung an immer neue Verrichtungen, durch Vererbung der dadurch erworbenen besonderen Ausbildung der Muskeln, Bänder, und in längeren Zeiträumen auch der Knochen, und durch immer erneute Anwendung dieser Verfeinerungen auf neue, stets verwickeitere Verrichtungen hat die Menschenhand jenen hohen Grad der Vollkommenheit erhalten, auf dem sie Raffaelsche Gemälde, Thorvaldsche Statuen, Paganinische Musik hervorzaubern konnte« (Engels 1971, 165). Zunächst ist, wie in dem zweiten Satz behauptet wird, die phylogenetische Entstehung der biologischen Voraussetzungen der menschlichen Arbeit keineswegs eine lamarckistische Vererbung erworbener Eigenschaften, sondern unterliegt wie auch alle anderen morphologischen, physiologischen und psychischen Veränderungen einem komplizierten MutationsSelektionsmechanismus, durch den günstige genetische Varianten ausgelesen werden. Engels folgt hier wie übrigens auch bei Problemen der Sprachentstehung einer teleologischen Entwicklungsvorstellung, bei der die zu erklärende Änderung als transzendente Zweckursache in der Theorie bereits mit vorausgesetzt wird und von ihm auf die Formel gebracht wird: Das Bedürfnis schafft sich sein Organ (1971, 166). Die Vorstellung von Lamarck, daß sich die biologische Entwicklung über ein immanentes Zweckbedürfnis des Organismus vollziehe, durch dessen Vollzug die verschiedenen Abänderungen als neue erworbene Eigenschaften dann weitervererbt werden, ist durch Darwins Theorie der natürlichen Auslese widerlegt worden (Mayr 1975, Dobzhansky 1975). Komplizierter ist jedoch die Einseitigkeit der ersten Aussage, da sie von einer scheinbar plausiblen Wechselwirkung zwischen biologischen und gesellschaftlichen Prozessen ausgeht. Dabei geht es besonders um die Annahme, inwieweit die menschliche Hand, Repräsentant biologischer Strukturen, tatsächlich auch das Produkt des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses ist. Eine derartige Vorstellung, die von der Voraussetzung ausgeht, daß eine unmittelbar aufweisbare Rückwirkung gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse bei der Ausbildung der tierischen Vorderextremität zur Hand existiert, ist deshalb zumindest in diesem Fall falsch, weil sie die primäre Natur biologischer Entwicklungsprozesse gegenüber der menschlichen Geschichte übersieht. Sie soll hier deshalb etwas genauer untersucht werden, da die phylogenetische Entstehung und die gegenwärtige Funktion der Hand als exemplarisches Beispiel für die innere Widersprüchlichkeit der Umsetzung biologischer Anpassungen in gesellschaftlich-ökonomische Prozesse angesehen werden kann. Morphologisch ist die menschliche Hand - im Gegensatz zu der von Engels gegebenen Interpretation - gerade dadurch gekennzeichnet, daß sie 274

sich unter dem Einfluß des Arbeitsprozesses praktisch kaum verändert hat. Sowohl die fünfgliedrige (pentadactyle) Grundstruktur als auch die Opponierbarkeit des Daumens sind keine spezifischen Errungenschaften der Menschwerdung, sondern biologische Anpassungen, die phylogenetisch bereits wesentlich früher in der Säuger- und Primatenevolution in anderen Funktionszusammenhängen entstanden sind. Die morphologische Struktur der Handistals ein konservatives Organisationsmerkmal anzusehen, so daß der äff ische Beitrag zur Umgestaltung der Vorderextremität zur Hand eher darin besteht, die unspezialisierte, aber vielseitig anwendbare pentadactyle Grundstruktur zu erhalten und einseitige Abwandlungen zu vermeiden. Bereits bei den Halbaffen, aber auch bei den echten Affen und besonders den Menschenaffen ist die unspezialisierte fünfgliedrige Vorderextremität ein vielseitiges Instrument zur individuellen und sozialen Körperpflege, zum Transportieren der Jungen, Kampfmittel, Organ der Beschaffung und menchanischen Zubereitung der Nahrung, des Ausdrucksverhaltens und nicht zuletzt Element der Fortbewegung und des Halte- bzw. Stützapparates. Bei den stammesgeschichtlich primitiven Vertretern der Halbaffen (z. B. den Spitzhörnchen) und bei den Krallenäffchen unter den echten Affen bleiben alle fünf Strahlen der Vorderestremität auf einer Ebene angeordnet und greifen auch synchron. Die Spreizbarkeit der Strahlen der Vorder» und Hinterextremitäten bereitet die Seperation des Daumens (Pollux) vor, der die Funktionsfähigkeit der menschlichen Hand, die unter anderem von der Länge und der Rotationsmöglichkeit des Daumens abhängig ist, entscheidend mitbestimmt. Diese Opponierbarkeit des Daumens ist aber bereits eine Anpassung zahlreicher Gruppen der Halbaffen (mit Ausnahme z. B. der Indriidae), die wahrscheinlich durch den Übergang vom Bodenzum Baumleben notwendig geworden ist und nicht'etwa eine morphologische Anpassung an die Bedingungen der Arbeitsoperationen (vgl. Bild 31). Das Klettern erfordert ein festes Umfassen der Äste und eine genaue Einstellung des Körpers und schafft damit morphologische Voraussetzungen, die einer späteren generalisierten Objektmanipulation nicht im Wege stehen. Wichtig ist, daß sich in der Evolution der simischen Primaten die Opponierbarkeit des 1. Strahls der Vorderextremität gegenüber den Fingern 2-5 allgemein durchsetzt und eine weitergehende Spezialisierung unterbleibt, wenn auch bei einigen spezialisierten Affenarten die Phalangen stark verlängert werden oder der Daumen wieder verlorengeht, wenn dadurch eine bessere Greifmöglichkeit erreicht werden kann. Die menschliche Vorderextremität konnte also genau deshalb zum Organ der Arbeit werden, weil sie sich nicht bzw. nur bedingt an neue ökologische Bedingungen angepaßt hat, sondern die funktionell äußerst omnipotente fünf strahlige Anordnung erhalten bleibt wie sie bereits bei den ersten Landwirbeltieren gefunden wird. Die Opponierbarkeit des Daumens, 275

Bild 31 Evolution der Vorderextremitäten von Primaten. Nach Gregory und Alland (1970) 276

die diese Unspezialisiertheit nicht einschränkt, wird bereits lange vor der Hominisation mit der Verlagerung der Lokomotion in den arboricolen Lebensraum ausgebildet. Man muß deshalb annehmen, daß die biologischen Voraussetzungen des Kletterverhaltens der Primaten in ihrer funktionellen Potenz gleichzeitig auch die Möglichkeiten einer generalisierten Objektmanipulation mit enthalten, ohne daß eine nochmalige morphologische Anpassung notwendig ist. Der konservative Charakter der menschlichen Hand setzt sich also aus zwei Faktoren zusammen. Einmal ist sie so unspezialisierty daß sie auch die kompliziertesten Arbeitsoperationen durch ihre generalisierte Funktionsfähigkeit ermöglicht, zum anderen kommt es auch zu keiner Rückwirkung der gesellschaftlichen Faktoren, durch die sich etwa die Hand unter dem Einfluß des Arbeitsprozesses in irgendeiner Weise spezialisiert hätte, Sowohl die äffische Vorderextremität wie auch die menschliche Hand besitzen deshalb die generell gleiche morphologische Struktur (vgl. Bild 31). Das bedeutet aber nicht, daß die Wechselwirkung zwischen Biologischem und Gesellschaftlichem in einem so grundsätzlichen Verhältnis wie der Entwicklung der motorischen Grundlagen der Arbeitsoperationen gegen Null geht, sondern sie vollzieht sich auf einer Ebene, die die morphologische Extremitätenstruktur nur noch indirekt berührt. Tatsächlich würde die Vielseitigkeit der Arbeitsoperationen die biologische Spezialisierung der Hand sehr schnell an ihre konstruktionsbedingten Grenzen führen. Die Rückkopplung gesellschaftlicher Faktoren führt vielmehr zu einer Weiterentwicklung des zentralnervösen Apparates der Steuerung und Kontrolle der Handbewegung, die jede morphologische Spezialisierung überflüssig macht. Wenn man also die Frage überprüfen will, in welchem Maße die Hand auch das Produkt der Arbeit ist, darf man deshalb nicht ihre morphologische Struktur heranziehen, sondern muß das Ausmaß ihrer zentralvernösen Repräsentation gegenüber anderen Körperbereichen im motorischen Cortex untersuchen. Unter dieser Voraussetzung, daß nicht mehr die Hand in ihrer konkreten Erscheinungsform, sondern das Ausmaß ihrer Abbildung in das ZNS als Vergleichsmaßstab herangezogen wird, erhält die Aussage, daß die Hand nicht nur das Organ der Arbeit ist, sondern auch ihr Produkt, durch die Berücksichtigung sowohl der inneren Widersprüchlichkeit naturhistorischer Entwicklungsprozesse als auch des Verhältnisses von Naturgeschichte und menschlicher Geschichte seine moderne wissenschaftliche Interpretation. Neuroanatomisch verdienen dabei zwei Sachverhalte besonders hervorgehoben zu werden. Einmal die Entstehung neuer spezialisierter nervaler Leitungsbahnen, über die willkürliche Impulse an das entsprechende motorische Organ oder ein besonderes Muskelsystem der Hand übermittelt werden können, und zum anderen im zentralnervösen Bereich die schnelle 277

Bild 32 Somatotopische Gliederung des motorischen Cortex. Die Spezialisierung der Hand wird in der Gliederung des ZNS entsprechend ihrer funktionellen Bedeutung abgebildet.

Entwicklung des Kleinhirns und des motorischen Cortex im Vorderhirn. Durch die Ausbildung der Pyramidenbahn, über die beim Menschen Willkürreaktionen vom Vorderhin zum motorischen Effektor direkt übertragen werden, kommt es nicht nur zu einer bewußten Kontrolle der Motorik und der Möglichkeit, neue Reaktionen gezielt zu erlernen, was für den Arbeitsprozeß eine unabdingbare Voraussetzung ist, sondern auch zu einer Feinmotorik und dem Präzisionsgriff der menschlichen Hand. Bereits das Greifklettern der Primaten erfordert eine enge Koordination zwischen dem Daumen und den übrigen Phalangen, die beim Menschen zur bewußten Zielbewegung wird. Beim Menschen ist der Daumen durch ein Sattelgelenk und eine kräftige Muskulatur mit der zentralen Hand verbunden, so daß Abduktion, Elexion und verschiedene Rotationsbewegungen möglich sind. Sowohl das Pflücken von Blättern und Früchten, der Nestbau, Benutzen von Steinen und Stöcken als Wurfgeräte (vgl. 9.1.) sind potentielle Verhaltensmuster, aus denen sich in der subhumanen Phase und im TMÜ die ersten Operationen des Menschen als >Arbeit< herausgebildet haben können. Im zentralnervösen Bereich spezialisieren sich verschiedene Hirngebiete auf die Ausführung und willkürliche Kontrolle der Motorik. Die für die 278

Neencephalisation des Menschen typische schnelle Ausbildung des Kleinhirns (Cerebellum) ist aber ebenfalls nicht nur ein Ergebnis der Entstehung der Arbeit, sondern der Endpunkt einer phylogenetischen Entwicklung, die ihren Ausgang bereits bei den Sauropsiden nimmt, für die zentralnervöse motorische Koordinationsinstanzen durch den Beginn der terrestrischen Lebensweise an funktioneller Bedeutung gewinnen. Das Verhältnis von morphologischer Struktur der Hand und der Rückwirkung des Arbeitsprozesses auf ihre Ausbildung ist, wie die angeführten Sachverhalte zeigen, zweifacher Natur. Einmal besteht ein ganzes System von bereits vor dem Eintritt in die subhumane Phase bis spätestens zum TMÜ ausgebildeten Skelettmerkmalen mit einer entsprechenden Muskelinnervation, die ein generalisiertes motorisches Reaktionsmuster ermöglichen, wie es später für den Arbeitsprozeß notwendig ist. Die unmittelbare Rückwirkung des Arbeitsprozesses auf seine biologischen Voraussetzungen, die in der humanen Phase der Hominisation stärker hervortritt, hat dagegen keinen Einfluß auf die morphologische Ausbildung der Hand mehr, sondern wird über die Weiterentwicklung des Gehirns abgefangen, das sich wesentlich günstiger und schneller den ständig neuen und immer komplizierteren Operationen anpassen kann. Die Ausbildung des Kleinhirns und des motorischen Cortex wirkt als Puffer, der dafür sorgt, daß die menschliche Hand so ursprünglich bleibt, wie sie bereits bei primitiven Hominiden war. Die Spezialisierung der Hand im Arbeitsprozeß reduziert sich damit auf eine Spezialisierung der motorischen Gehirnpartieny durch die jede grundsätzliche anatomische Typusänderung abgeschirmt wird. Die verschiedenen, bereits in der Primatenevolution entstandenen Anpassungen des Skelettbaus und der Sensorik, innerhalb derer sich dann das Arbeitsverhalten entwickelt, sollen abschließend noch einmal zusammengefaßt werden, da sie im besonderen Maße zeigen, daß die Entstehung des Bewußtseins im TMÜ letztlich ein Prozeß ist, in dem die verschiedensten Tendenzen der Veränderung des Körperbaues zusammenspielen. Umweltänderungen führen dabei synchron zu neuen Anpassungen in der Fortbewegung und im Nahrungserwerb, die in ihrer Gesamtheit derart revolutionär sind, daß sie durch einzelne Organänderungen nur noch bedingt kompensiert werden. Dadurch wird die Gehirnbildung stimuliert, durch die mit geringem Raum- und Materialaufwand dem Anpassungsdruck in einer besonders vielseitigen Weise begegnet werden kann. a.) Die Ausbildung und Konservierung der fünfstrahligen Extremität ist vor allem ein Ergebnis der Anpassung an das Baumklettern. Echte Affen sind Greifkletterter, die durch die Opponierbarkeit des Daumens einen Ast so umfassen können, daß der Körper aufwärts gestemmt oder vorwärts gezogen bzw. geschwungen wird. Bei den Cercopithecoidea und den Hominoidea ist der Daumen, bei anderen Primaten häufig auch die Großzehe den 279

übrigen Zehen bzw. Fingern entgegenstellbar (opponierbar), während bei primitiveren Formen Daumen und Großzehe zumindest abspreizbar sind (z. B. bei Lemuren). Als Ausgangspunkt dieser Entwicklung kann die Spreizhand der Spitzhörnchen angesehen werden. Allgemein wird in der Primatenentwicklung durch das Baumklettern eine allseits freie Beweglichkeit der Vorder- und Hinterextremitäten sowie der Zehen und Finger erzwungen. Die besondere Rotationsfähigkeit der Vorderextremitäten wird durch die Existenz eines Schlüsselbeins, das bei Primaten immer vorhanden ist, unterstützt. Damit ergeben sich auch differenzierte Möglichkeiten der biomechanischen Kräfteumsetzung durch die Kombination von Scharnier- und Sattelgelenken sowie die zusätzliche Torsionsmöglichkeit des Humerus. Die Kombination der fünfstrahligen Extremität des Menschen als einem universell einsetzbaren ersten Arbeitsinstrument zusammen mit dem mehrstufigen Hebelsystem der Vorderextremität schafft ein motorisches System, das über einen bisher in der Evolution nicht erreichten Freiheitsgrad verfügt. Die funktionelle Omnipotenz in der Fortbewegungsfähigkeit der äffischen Primaten, die durch das Baumleben entsteht, ist die wichtigste biologische Grundlage für die Generalisierbarkeit der menschlichen Motorik, die für den Arbeitsprozeß unentbehrlich ist. Wichtig für diese Entwicklung ist auch der Verlust verschiedener Spezialisierungen, wie die mit Krallen bestückten Zehen und Finger der Halbaffen und Krallenäff chen, die einer Entwicklung der Greiffunktion im Wege stehen, und die bei den meisten echten Affen und dem Menschen durch Plattnägel ersetzt sind. b.) Während das Baumklettern durch die morphologische und biophysikalische Konstruktion der Extremitäten bereits potentiell die Manipulation und das Ergreifen besonderer Gegenstände vorbereitet, besteht ein zweiter wichtiger Entwicklungsschritt in der biologischen Spezialisierung der vier Gliedmaßen auf unterschiedliche Funktionen. Die Differenzierung der Funktionsfähigkeit der Extremitäten schafft durch die Befreiung der Vordergliedmaßen von der Fortbewegungsfunktion gleichermaßen die biologischen Voraussetzungen des Arbeitsverhaltens wie sie selbst als eine erste wichtige organismische Form der Arbeitsteilung auf{gefaßt wer den kann, die sich gegenüber den späteren gesellschaftlichen Arbeitsteilungen durch zwei Besonderheiten auszeichnet. Einmal ist sie, ähnlich wie die natürliche Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau in der frühen Hominidenentwicklung, überwiegend der biologischen Spezialisierung verhaftet, zum anderen ist sie eine Arbeits- bzw. Funktionsteilung, die sich nicht auf zwei oder mehrere Individuen bezieht, sondern sich noch zwischen den Organen einunddesselben Körpers vollzieht. Die außerordentliche funktionelle Bedeutung der Differenzierung zwischen Vorder- und Hintergliedmaßen macht es verständlich, warum die Grundlagen dieser biologischen Arbeitsteilung, die Aufrichtung des Kör280

pers, die auch innerhalb der Primatenordnung in dieser strukturellen Ausprägung einmalig ist, zum Hauptproblem der Hominisation in der subhumanen Phase geworden ist. Einmal kommt es durch diese tiefgreifende Änderung der Skelettkonstruktion zu zahlreichen Rückwirkungen auf den Körperbau, wie die ventrale Verlagerung der Wirbelsäule, die bei quadrupeden Primaten noch nicht auftritt, ihre s-förmige Gestalt oder die Vergrößerung des transversalen Durchmessers des Brustkorbes gegenüber den sagittalen Werten möglicherweise unter dem Einfluß der Ausbildung des Schultergürtels. Zum anderen leitet sie aber durch die Möglichkeit der objektbezogenen Manipulation und des Arbeitsverhaltens die Hominisation auch im psychischen Bereich ein. Die Freihändigkeit war bereits für Cuvier ein so wichtiges Merkmal, daß er den Menschen als einzigen Vertreter der >Bimana< (Zweihänder) von den Tieraffen als >Quadrumana< (Vierhänder) unterschied. Phylogenetisch vollzog sich diese Trennung in der bereits diskutierten Trennung des Menschen von den Schwing-Hangel-Kletterern. Strenggenommen handelt es sich in beiden Fällen um Bipedie, die sich aus dem ursprünglich quadrupeden Grundmodell entwickelt hat. Bei den Gattungen Hylobates und Symphalangus unter den Menschenaffen ist die Fortbewegung primär eine Aufgabe der Vorderextremitäten, die dieser Aufgabe z. B. durch eine große Bewegungsfreiheit des Oberarmgelenkes, starke Muskelsysteme und eine Verlängerung im Vergleich zu den Hintergliedmaßen angepaßt sind. Die Hintergliedmaßen, das ist der grundsätzliche Nachteil dieser Lösung, sind praktisch funktionslos, zumindest können sie durch ihre räumliche Lage am Organismus kaum zur Manipulation herangezogen werden. Bei der Bipedie des Menschen haben sich dagegen die Hinterextremitäten auf die Fortbewegungsfunktion spezialisiert und die Vordergliedmaßen wurden von Lokomotionsfunktionen befreit. Im Gegensatz zu den Brachiatoren führte das zu einer erheblichen Verlängerung der Hinterextremitäten, zur Umbildung des Beckens und der Wirbelsäule sowie zur Konstruktion eines Standfußes, da nun die Beine im Gegensatz zur quadrupeden Fortbewegung das ganze Körpergewicht allein tragen müssen. Insgesamt wird die Beweglichkeit der Hinterextremitäten zugunsten ihrer Stabilität eingeschränkt, während die Vorderextremität mit ihrer hohen motorischen Flexibilität auf diesem Niveau konserviert wird. Die Folgen der biologischen Arbeitsteilung zwischen den Extremitäten lassen sich damit nicht nur zwischen den brachiatorischen Gibbons und dem Menschen, sondern auch an ihm selbst mit der unterschiedlichen Funktionsfähigkeit von Armen und Beinen nachweisen. c.) Das Freiwerden der Vorderextremitäten und ihre Verwendung als erste biologische Arbeitsinstrumente bedingt auch eine neue funktionelle Gewichtung im senso-motorischen und sinnesphysiologischen Bereich. Durch das Baumklettern bei äffischen Primaten und die Bipedie des Men281

sehen werden z. B. Raumwahrnehmung und Schwerkraftauswirkungen zu unerläßlichen Momenten der Bewegungskontrolle. Während sich die primär olfaktorisch orientierenden Halbaffen noch auf einen Gegenstand zubewegen müssen, um seine Verwertung als Nahrung zu überprüfen, entsteht mit der Herausbildung der Greiffähigkeit, die zunächst funktionell dem Erfassen der Bewegungsunterlage dient, bei den subhumanen Hominiden aber bereits auf alle Objekte generalisiert wird, die Möglichkeit, den mit anderen Gegenständen bestehenden Raum-Zeit-Zusammenhang aktiv aufzuheben und damit das interessierende Objekt auf sich selbst zuzubewegen. In dieser Phase schlägt die Passivität tierischen Verhaltens erstmals in die menschliche Aktivität der Naturveränderung um (vgl. 10.2.1.). Für den direkten Kontakt mit den Gegenständen der Umwelt, ihrer manipulativen Veränderung und schließlich den ersten körperlichen Arbeitsoperationen der Frühmenschen besitzt vor allem der Tastsinn eine überragende sensorische Bedeutung. In der Primatenevolution hat sich eine empfindliche sensible Tasthaut (Volarhaut) herausgebildet, die sich von der normalen Haut durch eine deutliche Leistenbildung unterscheidet. Sie ist von elastischen, bindegewebigen Ballen bedeckt, die in einer charakteristischen Struktur auf die Hand- und Fußflächen verteilt sind. In der Leistenhaut befinden sich zahlreiche Tastkörperchen (Meissnersche Tastkörperchen), so daß nicht nur die Standfestigkeit beim Klettern erhöht wird, sondern zugleich eine Kontrolle darüber möglich ist, was ergriffen wird. Dazu kommen bei einzelnen Arten (z. B. Koboldmakis) besondere Anpassungen, indem die terminalen Fingerballen saugnapfartig erweitert sind, was zu einer größeren Festigkeit der Verbindung Vorder/Hinterextremität-Klettergegenstand beiträgt. Während sich die Volarhaut von der normalen Haut morphologisch dadurch unterscheidet, daß mehrere vergrößerte Schweißdrüsen auf den Hautleisten einmünden, keine Talgdrüsen und Haare vorhanden sind, gibt es bei den Prosimiae (z. B. den Tupaiidae) oberhalb der Handwurzel noch ein weiteres Tastsinnesorgan, spezifische Tasthaare, wie sie auch die Mehrzahl der Säugetiere besitzen. Im Laufe der Primatenevolution nimmt in dem Maße, wie die Bedeutung der Tastsinneshaare zurückgeht, die der Volarpolster zu. Beim Menschen tritt die Hauptpapille, die die Tasthaare trägt, nur noch in der embryologischen Entwicklung auf, während sich hier die Endpolster der Finger zu wichtigen Tastorganen herausgebildet haben. Bei den Prosimiae findet sich die Leistenhaut beschränkt auf den verbreiterten Ballen der Extremitäten. Mit der weiteren Anpassung an das Baumleben bei den Simiae bedeckt sie schließlich an der Vorderextremität die ganze Hand- und Fingerfläche und findet sich außerdem bei den Greifschwanzaffen Atelex, Lagothrix usw. auch auf der Tast- und Greiffläche des Schwanzes als 5. Extremität sowie, bedingt durch den >Knöchelgangtertiären< Folge des Erwerbs des aufrechten Ganges werden. Schließlich führt die funktionelle Differenzierung zwischen Hinter- und Vorderextremitäten innerhalb der Lokomotion zu einer dritten wichtigen Konsequenz (3), der Übernahme von Aufgaben im Dienste des Sozialkontaktes (z. B. der gegenseitigen Körperpflege) und der sozialen Kommunikation durch die Ausbildung besonderer Signalhandlungen. 9.4. Werkzeugherstellung und Bewußtseinsgenese bei Frühmenschen 9.4.1. Die Schlüsselstellung der Australopithecinen Logisch ist der Begriff des TMÜ dadurch bestimmt, daß hier für einzelne fossile Primaten weniger eine Phase der Gleichwertigkeitpongider und hominider Merkmale im biologischen und physischen Bereich existiert als vielmehr zwischen hominiden und humanen Charakteristika. Die Annahme eines derartigen Ubergangsfeldes ergibt sich aus der wissenschaftlich unbestrittenen Evolution von äffischen Ancestoren zum gegenwärtigen Mensch Homo s. sapiens. Als >stärkstes< humanes Merkmal ist die Entstehung des Bewußtseins anzusehen. Eine andere Frage ist jedoch das phylogenetische Ausmaß eines derartigen Tier-Mensch-Ubergangsfeldes, die geologische Datierung, für die gegenwärtig das Obere Tertiär bzw. das Pliocän angenommen werden kann, das psycho-physische Merkmalsmuster und ob für diese Periode eine spezifische Art existiert, da diese Periode möglicherweise auch durchlaufen wurde, ohne einen besonders typischen Vertreter hervorzubringen. Tatsächlich ist es bereits aus erkenntnispsychologischen Gründen nur schwer vorstellbar, daß man sich auf einen Typus einigt, der weder den tierischen Status verlassen noch den menschlichen erreicht hat, sondern man wird auch in diesem Fall versuchen, ein Uberwiegen der pongiden oder hominiden Merkmale anzunehmen. Faktisch zeichnen sich die möglichen Vertreter des TMU durch ein komplexes Mosaik aus homoähnlichen und pongiden Merkmalen aus, das einem dynamischen Umwandlungsprozeß unterliegt. Zu ihnen gehören Oreopithecus bambolii aus dem Unter-Pliocän, der früher mit der Hominidenwurzel 284

in Verbindung gebracht wurde, wahrscheinlich jedoch einem ausgestorbenen Seitenzweig der Hominoiden angehört, Ramapithecus punjabicus, der durch parabolische Zahnbögen, kleine Eckzähne und ein verkürztes Visceralcranium bereits mehrere hominide Merkmale besitzt und die Arten der Gattung Australopithecus. Durch ihre ambivalente Bewertung ist auch ihre taxonomische Einordnung umstritten und teilweise gegensätzlich (z. B. erhebt von Koenigswald 1964 die Oreopithecidae neben den Hominoidea zu einer , eigenen Superfamilie Oreopithecoidea, während Kälin & Hürzeler 1962 und Simpson 1973 sie als fossilie Familie den Hominoidea zuordnen). Hier soll nur die biologische Merkmalskonfiguration der Australopithecinen näher betrachtet werden, da sie in vieler Hinsicht eine Zwischenstellung einnehmen, die in der Organisation des postcranialen Skelettes, der Gehirnbildung sowie den Lebensbedingungen zwischen Menschenaffen und Menschen vermittelt. Sehr wahrscheinlich handelt es sich zumindest bei A. africanus nicht wie bei Oreopithecus um eine phylogenetische Sackgasse, die Ansätze zu einem hominiden Typus zeigt, dann aber ohne Nachkommen ausstarb, sondern Vertreter, die in enger Beziehung zum realen Ablauf der Hominidenevolution stehen. Die Australopithecinen haben durch ihre zahlreichen humanen Merkmale das TMU zwar schon durchlaufen, stehen jedoch andererseits noch am Beginn der humanen Phase der Hominisation. Als wichtigstes biologisches Merkmal des humanen Status wird in der Regel noch vor der Gehirnvergrößerung die Aufrichtung des Körpers angesehen, da sie auch phylogenetisch der Gehirnvergrößerung vorausgeht. Die Frage ist hier, ob ein fossiler Primat, der sich biped vorwärtsbewegt, ohne Rücksicht auf weitere Merkmale als hominid angesehen werden soll oder nicht. Wie Oreopithecus zeigt, besaß wahrscheinlich eine Reihe von ausgestorbenen Primaten die Fähigkeit, auf zwei Beinen zu gehen. Wenn sich diese Hypothesen bestätigen und die Bipedie weiterhin als zentrales biologisches Merkmal des humanen Status aufrechterhalten werden soll, müßte dann die Bipedie der Hominiden als eine spezielle Art der Körperaufrichtung und Fortbewegung näher charakterisiert werden (z. B. ist von mehreren äffischen Primaten bekannt, daß sie auch mit gekrümmten Knien aufrecht gehen können). Bei Australopithecinen weist am Schädel die Lage des Foramen magnum und der occipitalen Condylen auf eine bipede Fortbewegung hin. Auch die Wirbelsäule zeigt die für den aufrechten Gang charakteristische Lordose (doppel-S-förmige Wirbelsäulenkrümmung zur Abfederung des Körpergewichtes) und eine Verbreiterung der Verbindungsfläche des Kreuzbeins (Os sacrum) mit den Darmbeinschaufeln, die für die Gewichtsübertragung bei Bipedie wichtig ist. Das Darmbein (Os ilium) selbst ist im Gegensatz zu den quadrupeden Primaten breit und niedrig und bietet mit den dorsal ausgedehnten Darmbeinschaufeln eine Ansatzfläche des für die Fortbewegung wichtigen Gesäßmuskels (M. gluteus maximus). Weitere Hinweise auf eine bereits orthograde Körperhaltung der Australopithecinen ergeben sich aus der Verlagerung des Kniegelenks unter den Körperschwerpunkt und einer funktionellen

285

Spezialisation, wie sie auch für den menschlichen Fuß nachgewiesen sind (parallele Stellung des Unterschenkels zum Schwerelot des Körpers, Standfuß, Halluxdivergenz). Ein wichtiges biologisches Merkmal, das dazu führte, daß der Hominidencharakter der Australopithecinen zunächst bestritten wurde, ist ihre relativ geringe Schädelkapazität. Die Untersuchung an 7 fossilen Schädelresten ergaben einen durchschnittlichen Wert von ca. 500 cm 3 (Tobias 1963). Mit Zunahme der Fundzahl z. Zt. liegen bereits Fossilien von über hundert Australopithecinen vor - stieg aber auch, allerdings in Abhängigkeit von einer erweiterten Interpretation der Gattung Australopithecus auf Formen, die andere Autoren bereits zu den Homo-Formenkreis stellen, die Gehirnschädelkapazität, deren Variationsbreite gegenwärtig innerhalb der Gattung Australopithecus von 390-760 cm 3 geschätzt wird. Die untere

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Variationsbreite bilden die Funde von A. africanus in Taung mit 405 cm3 und Sterkfontein mit 428 cm3, also Werte, die mit der Gehirnschädelkapazität des Schimpansen vergleichbar sind. Andererseits liegen die niedrigsten bisher bekannten Gehirnschädelkapazitäten des Homo erectus bei 775 cm3 (Funde von Sangiran/Java) noch in der oberen Variationsbreite der Kapazität des Australopithecus. Zu der pongid ausgerichteten Bewertung der Hirnkapazität führte auch der von dem englischen Anthropologen Keith aufgestellte theoretische Leitwert des Tier-Mensch-Uberganges bei 750 cm3 und die Gehirn-Körper-Relation bei dem Australopithecus und dem Menschen (vgl. 6.3.). Trotz des pygmänoiden Kleinwuchses des größeren A. robustus mit ca. 150 cm Körpergröße ergibt sich jeweils eine Relation von 1 : 42 und 1 : 47. Der Australopithecus liegt hier im Bereich äffischer Zahlenwerte (z. B. beträgt Gehirn-Körperbeziehung bei den Kapuzineraffen 1 : 43). Ein weiteres pongides Merkmal des Australopithecinenschädels ist ein verhältnismäßig großer Kiefer-Gesichtsschädelanteil und damit ein dominierendes Visceralcranium. Die Nasenbeine (Ossa nasalia) sind flach und treten kaum aus dem Gesichtsprofil heraus. Australopithecinen besitzen noch eine vorspringende Kieferanlage (Prognathie) und mäßig entwickelte Uberaugenwülste (Tori supraorbitali). Gegenüber den Pongiden besitzt der Australopithecinenschädel aber auch bereits mehrere hominide Merkmale. So ist die Schädelbasis stärker abgeknickt, das Schädeldach dünnwandiger und in der ontogenetischen Entwicklung tritt der Schädelnahtverschluß wie beim Menschen verzögert auf. Auch das Gebiß zeigt zahlreiche hominide Entwicklungen. So ist der Zahnbogen wie beim Menschen parabolisch gerundet und nicht u-förmig. Die Australopithecinen besitzen nicht mehr wie die Pongiden eine zahnfreie Lücke zwischen Schneideund Eckzähnen (Diastema) und nur noch einen gering ausgebildeten Sexualdimorphismus des Gebisses. Der Durchbruch der Dauerzähne erfolgt wie bei den Hominiden bereits stark verzögert.

^ Bild 33 Schema der phylogenetischen Stellung der Australopithecinen, das besonders in der angelsächsischen Literatur Verbreitung gefunden hat (Robinson 1960). Nachdem Broom 4 Gattungen unterschied, stellte Robinson (1954) eine Klassifikation auf, in der die Subfamilie der Australopithecinae in den Genus Australopithecus mit der Species A. a. africanus (Taung) und A. a. transvaalensis (Sterkfontein, Makanskapat) und den Genus Paranthropus mit den Species P. r. robustus (Kromdraai) und P. palaeojavanicus (Sangiran) unterteilt wurde. Die beiden Gattungen sollen danach in Ökologie, Verhaltensweisen und Morphologie deutlich differieren (vgl. 4.1.). Seit 1965 wird von Robinson die Species A. africanus zur Gattung Homo gestellt und hier die zwei Species H. africanus ( = A. africanus) und H. sapiens unterschieden (Robinson 1972). Gieseler (1974) wendet dagegen kritisch ein, daß damit eine zu enge Verwandtschaft zwischen A. africanus und den Hominiden angenommen wird sowie andererseits ein zu großer Abstand zwischen den beiden Formenkreisen der Australopithecinen, die überwiegend in der Gattung der Australopithecinae mit 2-4 Arten den Hominiden gegenübergestellt wird. 287

Insgesamt besitzen die Australopithecinen ein Merkmalsbild, das für Ubergangsformen typisch ist. Neben Skelettmerkmalen, die auf die Gattung Homo weisen, finden sich auch noch zahlreiche Merkmale, die für die Pongidae typisch sind. Obwohl die Gehirngröße noch im pongiden Bereich liegt, sind z. B. bereits zahlreiche Gebißmerkmale und die aufrechte Körperhaltung hominid. In Abhängigkeit von der Bewertung dieses Merkmalsmosaiks hat sich auch ihre systematische Stellung innerhalb der Primatenordnung verändert. Die frühen Klassifikationssysteme von Simpson (1945), Kälin (1955) und Fiedler (1956) ordnen die Australopithecinen zwar der Superfamilie Hominoidea zu, hier aber dann nicht der Familie Hominidae. Nach diesen Primatensystemen sind die Australopithecinen noch keine Menschen, sondern Tiere. Neuere Klassifikationssysteme (Heberer 1959, Napier 1967, Starck 1974) stellen dagegen die frühesten bisher bekannten sicheren Hominiden in die Gattung Australopithecus und betonen damit die primär hominide Ausprägung des Merkmalsmosaiks.

Uber die Analyse des Körperbaus von über hundert Individuen bzw. Fragmenten der Australopithecinen hat sich eine wesentliche Präzisierung des biologischen Menschenbildes ergeben. Während als geologisches Alter der Australopithecinen zunächst ca. 1 Million Jahre angenommen wurde - ein Zeitraum, der möglicherweise genetisch nicht gereicht hätte, um die Unterschiede im Körperbau zwischen Australopithecus und Homo zu überbrücken - haben genauere Datierungen aber wesentlich ältere Zeitmarken ergeben (z. B. Batingo/Kenia 2,6 Mill. Jahre, Omo-Tal/Äthiopien 4 Mill. Jahre, einige systematisch allerdings noch unbestimmte Funde 8 Mill. Jahre). Die Entstehungsgeschichte des Menschen liegt damit bereits im Oberen Tertiär. Während durch diese Entwicklung die Zugehörigkeit der Australopithecinen zu den Hominiden in der Regel nicht mehr bestritten wird und sie damit dem Rubicon Tier-Mensch überschritten haben, bestehen über die Stellung innerhalb der Hominiden noch erhebliche Kontroversen. Einmal existiert z. B. die Tendenz, den Ubergang von Ramapithecusformen zum Australopithecus in der Art zu problematisieren, daß erstere in eine fossile Menschengattung mit aufgenommen werden (Camphell 1972), zum anderen ist auch der Ubergang zu der Homo erectus-Gruppe über die Habilis-Formen umstritten, die entweder zu der Gattung Australopithecus oder Homo gestellt werden. Einige Systematiker (Mayer 1950, Robinson 1960, Simons 1965) haben als weitestgehenden Vorschlag auch eine Streichung des Gattungsunterschiedes zwischen den 2-4 Arten des Australopithecus und der Homo-Gruppe diskutiert. Entgegen dem Vorschlag von Leakey, Napier und Tobias (1964), eine selbständige Art H. habilis als Bindeglied zwischen den Australopithecinen und den Homo-Formen einzuführen - als Körperbaumerkmale werden eine 288

höhere Stirn, eine größere Gehirnschädelkapazität bis 760 cm3 und in Richtung Homo sapiens entwickelte Fußknochen und Zähne angeführt betont Robinson die große Variationsbreite der Gattung Australopithecus, die bereits durch ihre Kleinheit verschiedene Merkmale wie gerundeter Schädel und eine geringe Außenstruktur des Schädels bedingen. Ein besonderes Problem stellt dann die Frage dar, inwieweit es sich bei A. robustus um eine phylogenetische Sackgasse der Hominidenevolution handelt bzw. inwieweit A. africanus die Entwicklung zum H. sapiens mitträgt. Die biologisch-anthropologische Diskussion um den humanen Status der Australopithecinen wird ausschließlich mit Körperbaumerkmalen wie der Körperhaltung und Gehirnschädelkapazität geführt. Die Gesamteinschätzung des Merkmalsbildes als pongid oder menschlich ist aber letztlich auch durch zwei Argumente einer übergeordneten Betrachtungsebene entschieden worden: a.) Wahrscheinlich waren die Australopithecinen Träger der ersten Geröllgeräte-Industrie, deren Spuren an den süd- und ostafrikanischen Fundplätzen zusammen mit Fossilien gefunden wurden (bei A. robustus ist die Zuordnung der Begleitfunde allerdings noch nicht gesichert). Die Geröllsteine wurden mit einfachen, zunächst groben Abschlägen so bearbeitet, daß sie verschiedene Zwecke innerhalb des Nahrungserwerbs, möglicherweise auch als Verteidigungsinstrumente erfüllen. Derartige >pebble tools< können als einfache Schlag-, Schneide- oder Schabewerkzeuge dienen. Durch die Bearbeitung mit Schlagsteinen erhalten die Steinknollen einoder zweiflächig behauene Abschlagkanten. In der Olduvai-Schlucht konnte die Entwicklung der sogenannten >01duvai-Industrie< in den verschiedenen Ablagerungsschichten verfolgt werden. Die von den Australopithecinen hergestellten primitiven >pepple tools< wurden von weiterevoluierten Hominiden zu mehrseitig behauenen sog. Sphaeroiden und später als Ubergang zu der Faustkeilkultur zu sog. Zweiseitern entwickelt. Mit der Geröllgeräte-Industrie, deren älteste Funde gegenwärtig auf 2,6 Mill. Jahre datiert werden, beginnt das Alt-Palaeolithicum bzw. allgemein die Steinzeit und damit jene Produktionsperiode, die sich bereits grundlegend von dem tierischen Werkzeuggebrauch unterscheidet. Zwar werden später auch besondere Steine wie Obsidian oder Feuerstein ausgelesen, insgesamt bleiben aber Steine, bedingt durch ihre physikalischen Eigenschaften gegenüber den weicheren Nahrungssubstanzen, das grundlegende Material aller fossilen Hominiden. b.) Dart (1968) hat an den von ihm untersuchten Fundstellen der Australopithecinen Anhäufigungen von Säugetierknochen gefunden und sie einer >Knochen-Zahn-Horn-Industrie< der Australopithecinen zugeordnet. Die Funde stammen aus dem Unteren Mittel-Pleistocän und sind Begleitfunde des A. africanus und des A. bzw. H. habilis. Der Werkzeugcharakter der 289

290

osteodentokeratischen Industrie stützt sich auf die systematische Anhäufung 1.) bestimmter Knochen (Mittelhandknochen von Antilopen), die offenbar für den Werkzeuggebrauch besonders geeignet waren, 2.) zusammengesetzter Knochengeräte z. B. aus Knochensplittern in Langknochen und 3.) künstlicher Gebrauchsspuren an mehreren Knochen. Dart (1968) vermutet, daß auch Kiefer mit Zähnen, Schädelteile usw. ohne Bearbeitung als Werkzeuge z. B. bei der Zertrümmerung der Pavianschädel gedient haben, die als Begleitfunde mehrmals auftraten. 9.4.2. Werkzeugtypen als gesellschaftliche des Unter- und Mittel-Pleistocäns

Relikte< der fossilen

Hominiden

Die sich an die Australopithecinen anschließende Evolutionsstufe der Hominiden bildet die Homo erectus-Gruppe, in der verschiedene klassische Fundbezeichnungen wie Pithecanthropus (pithekos = Affe, anthropos = Mensch) und der Peking-Mensch Sinanthropus zusammengefaßt werden, die zeitlich überlappend mit dem um 700000 v. u. Z. ausgestorbnen Australopithecinen lebten. Die ältesten Funde von H. erectus stammen aus Süd-Ost-Asien und besitzen ein geologisches Alter von 1,9 Mill. Jahren, während der eigentliche Entwicklungsschwerpunkt im Mittel-Pleistocän lag und einzelne Ausläufer (Ngandong, Bröken Hill) bis in das Ober-Pleistocän reichen. Während Australopithecus sicher bisher nur aus dem afrikanischen Raum bekannt ist, existieren H. erectus-Fossilien aus Asien (H. e. erectus, H. e. pekinensis), Afrika und Europa (H. e. heidelbergensis). Sowohl über die Beziehungen des H. erectus zu den vorausgehenden Australopithecinen als auch zu der folgenden Homo sapiens-Gruppe bestehen bisher nur Hypothesen. Eine lineare Fortschreibung ist nicht nur durch die zeitliche Überlappung der Übergänge problematisch, sondern auch, weil der H. erectus durch zahlreiche Sondermerkmale wie eine massive Schädelgestaltung, einen stark hervorspringenden einheitlichen Torus supraorbitalis usw. gekennzeichnet ist. Die späten Ausläufer des H. erectus, die zeitgleich mit Homo sapiens lebten, geografisch möglicherweise aber bereits isoliert waren, werden entweder als Weiterentwicklung des H. erectus aufgefaßt, der mit dieser Evolutionsrichtung abseits der modernen Menschwerdung steht, da zu diesem Zeitpunkt in anderen Gebieten bereits H. sapiens-ähnliche Hominiden existerten, oder sie werden als »tropische Neanderthaler< durch ihre große Gehirnschädelkapazität direkt zur Entwicklungslinie der Neanderthaler innerhalb des H. sapiens in Beziehung gesetzt.

< Bild 34 Werkzeugtypen des Australopithecus. (a) >pebble tools< der Oldowaymkultur (Ostafrika). Die bisher ältesten Werkzeuge werden durch Abschlagen von Steinen gewonnen und zum Schneiden, Hacken und Schaben verwendet. (b) Handhabung verschiedener Knochen-Zahn-Horn-Geräte aus Makanskapat (Südafrika). Nach Oakley (1968) und Vogel (1974)

291

Fundort

frühere Klassifikation

Subspecies

Alter1

Modjokerto (Mittel-Java) Trinil u. Sangiran

Pithecanthropus robustus Pithecanthropus erectus Sinanthropus lantianensis Sinanthropus pekinensis Chellean Man, Olduvai hominid 9 Homo heidelbergensis Athlanthropus mauritanicus Javanthropus

H.e.modjokertensis H.e.erectus

ca. 1,9 Mill. J.

H.e.lantianensis

700000

H.e.pekinensis

300-400000

H.e.leakeyi

700000-1 Mill.

H.e.heidelbergensis H. e.mauretanicus

400000

H.e.sloensis

100000

H.e.rhodersiensis H.e.rhodesiensis

30-40000

Lantian (China) Choukoutien (China) Oldoway (Ostafrika) Mauer (Deutschland) Ternifine (Algerien) Ngandong (Mittel-Java) Bröken Hill (Sambia) Saldanha (Südafrika)

Homo rhoderlensis Homo saldanensis

500-830000

350000

70-100000

Tab. 11 Wichtigste Formen der Homo erectus-Gruppe. Sowohl gegenüber den Australopithecinen als auch im Ubergangsbereich zum Homo sapiens existieren Funde, deren systematische Zuordnung unsicher ist. Homo habilis und die Funde von Swartkrans/Südafrika werden deshalb von einigen Anthropologen zu den Australopithecinen gezählt, ebenso wie die Stellung von H.e. soloensis, H.e. rhodosiensis und die Funde von Verteszöllös als Homo erecstus oder sapiens umstritten ist.

In den biologischen Merkmalen des postcranialen Skelettes und des Schädels nimmt der H.erectus in vieler Hinsicht eine Zwischenstellung gegenüber dem Australopithecus und dem H.sapiens ein. Besonders deutlich zeigt sich das in der durchschnittlichen Gehirnschädelkapazität mit 1000 cm3, deren Variationsbreite auf 700-1250 cm3 geschätzt wird. Andererseits besitzt der H.erectus zahlreiche Besonderheiten, die gegenüber dem Australopithecus als primitiver bewertet werden. Dazu zählen z. B. die Tendenz zu einem massiven Knochenbau am Schädel und dem Skelett, verschiedene Merkmale der Zahnmorphologie und das Auftreten einer >Affenlücke< (Diastema) im Gebiß früher H. erectus-Formen. Im postcranialen Skelett ergaben die bisherigen Fossilien noch keine wesentlichen Unterschiede zu dem H. sapiens, was auf eine generalisierte Bipedie in der Fortbewegung schließen läßt. Am Schädel fehlt eine Crista 292

sagittalis, die Prognathie ist stärker als beim H. sapiens ausgebildet. Da die Kinnplatte ähnlich wie beim Neanderthaler flieht, fehlt die menschliche Kinnbildung. Durch die Niedrigkeit des Gehirnschädels und die tiefe Lage der größten Breite kommt es zu einer Flachstirnigkeit. Gegenüber den Australopithecinenist dieSchädelbasisknickung stärker abgeknickt und die basale Schädelöffnung (Foramen magnum) weiter in Richtung Schädelzentrum verschoben. Beide Merkmalsausbildungen deuten in eine H. sapiensähnliche Weiterentwicklung, ohne daß dessen Evolutionsniveau bereits erreicht wird. Die wichtigsten Fundplätze des H. erectus liegen auf Java und in China, dazu kommen afrikanische Fossilien aus dem Mittel-Pleistocän (H. e. leakeyi aus der Olduvai-Schlucht und H. e. mauretanicus). Ähnlich wie die ostafrikanischen Australopithecinenfunde mehrere Entwicklungsübergänge, einmal von dem Ramapithecus zum Australopithecus durch den Keniapithecus wickeri, der von Simons zur Gattung Ramapithecus gezählt wird, und vom Australopithecus zu der Homo erectus-Gruppe über den umstrittenen A. bzw. H. habilis veranschaulichen können, existiert auch Java eine Schichtung von fossilen H. erectus-Formen. Auf die DjetisSchicht im Unter-Pleistocän, zu der als frühester Fund der H. e. modjokertensis mit 1,9 Mill. Jahren und zahlreichen Primitivmerkmalen (Gehirnschädelkapazität von ca 800 cm3, Diastema) gehört, folgt die TrinilSchlucht mit dem H. e. erectus, dessen Alter auf 800000 bis 500000 Jahre geschätzt wird. Für diese Funde ist bisher noch kein Werkzeuggebrauch nachgewiesen. Der H. e. soloensis, der bei Ngandong in Mitteljava gefunden wurde, gehört bereits zu den Ausläufern der H.erectus-Gruppe, dessen Gehirnkapazität schon über 1000 cm3 liegt. Als Begleitfunde finden sich durch Abschläge hergestellte Steinwerkzeuge und bearbeitete Knochen. Die künstliche Öffnung der Schädelbasis wird als Hinweis auf Kopfjägerei bzw. Kannibalismus interpretiert. Die umfangreichsten Funde des H. erectus stammen aus dem chinesischen Raum. Der 1963/64 entdeckte H. e. lantiaensis besitzt eine Gehirnschädelkapazität von ca. 780 cm3 und ein Alter von 700000 Jahren. Die Funde von Choukoutien H. e. pekinenses sind zwar im 2. Weltkrieg verlorengegangen, aber vorher von Weidenreich (1939) systematisch untersucht worden. Insgesamt handelt es sich um Knochenfragmente von ca. 40 Individuen, unter denen Schädelteile dominieren, während ganze Skelette fehlen. Außer den für die anthropologische Interpretation wichtigen Unterkiefer verschiedener Altersstufen existieren 150 Zähne. Biologisch ist der H. e. pekinensis gegenüber dem H. e. erectus der Trinil-Schicht in vieler Hinsicht weiterentwickelt. So ist die Massivität des Unterkiefers reduziert und die Kinnvorwölbung angedeutet. Der Gehirnschädel ist etwas höher und die Stirnbildung weniger stark geneigt. Während die Gehirnschädel293

kapazität des H. e. erectus zwischen 700-975 cm3 liegt, beträgt die des Peking-Menschen bereits 915-1225 cm3. Für die psychische und kulturelle Entwicklung aufschlußreich sind zahlreiche Begleitfunde, die einen Einblick in das Evolutionsniveau der Hominiden im Mittel-Pleistocän vor ca 400000-300000 Jahren gestatten. Gegenüber den Australopithecinen zeigt die Geräteherstellung des H. erectus, die für den H. e. soloensis, den H. e. lantianensis, den H. e. pekinensis und afrikanische Fundorte nachgewiesen ist, zahlreiche Weiterentwicklungen. Die Menschen des Mittel-Pleistocäns müssen danach bereits eine beträchtliche Ausdauer und Intelligenz bei der Jagd großer Säuger entwickelt haben, da sich unter den Begleitfossilen der Skelettreste vor allem Knochen verschiedener Hirscharten finden. Auch die charakteristischen Werkzeuge des H. erectus werden aus Steinmaterial hergestellt. Dabei können zwei verschiedene Industrien unterschieden werden. Die bei dem >Peking-Menschen< gefundenen Steingeräte sind in ihrer Bearbeitung noch roh geformte Haumesser (>chopping toolschopperHeidelberger Kultur< beschrieben worden (Rust 1955). Die einseitig oder zweiseitig bearbeiteten >Haumesser< sind gelegentlich durch sekundäre Abschlagkorrekturen verfeinert worden. >Chopper< und >chopping tools< sind von den >pebble tolls< der Australopithecinen nicht scharf unterschieden, deren Herstellung in der OlduvaiIndustrie möglicherweise auch bereits von weiterentwickelten Hominidenformen mit getragen wurde. Die Produktion von Faustkeilen, die dann zum wichtigsten Instrument der frühen H. sapiens-Formen wird, tritt in ihren Anfängen wahrscheinlich auch bereits bei dem H. erectus auf. Faustkeile sind asymmetrische Werkzeuge, deren eine Seite deutlich zugespitzt und mitunter von einer umlaufenden Schneidekante umgeben ist. In ihrer Anlage sind sie der Funktionsmöglichkeit der menschlichen Hand besonders günstig angepaßt und in mehreren Entwicklungsstufen immer weiter vervollkommnet worden. Von den grob behauenen und großformatigen Zweiseitern z. B. aus Olduvai Bed II, die H. erectus zugeordnet werden, sind die bereits retuschierten Faustkeile des Acheuleen unterschieden, deren Träger möglicherweise neben dem H. erectus bereits erste H. sapiens-Formen waren. Ihnen folgen dann die feinbearbeiteten, flachen Faustkeile mit einer lang ausgezogenen Spitze der Hominiden des Ober-Pleistocäns. Sowohl bei den >pebble toolschopping tolls< und den Faustkeilen handelt es sich um >Kerngeräte (>core tools), bei denen Steinknollen durch gezielte Abschläge selbst zu Werkzeugen umgestaltet werden. 294

Da der >Peking-Mensch< in einem noch geringeren Maße als der A.africanus über biologische Schutzanpassungen zum Angriff oder Flucht verfügt, die für eine räuberische bzw. an der Jagd orientierte Lebensweise von herausragender Bedeutung sind, ist die Existenz primitiver Steingeräte als Haumesser oder Faustkeil eine logische Konsequenz der hominiden Kieferumbildung, der Reduktion der Eckzähne und anderer mechanischer Möglichkeiten der Nahrungszerkleinerung, die nun von einfachen Arbeitsoperationen hergestellten künstlichen Instrumenten geleistet wird. Darüberhinaus ist für den H.e.pekinensis aber auch die Verwendung des Feuers nachgewiesen, dessen Erwerb damit erst ein relativ spätes Ergebnis der Werkzeugentwicklung ist und an zwei Bedingungen gebunden ist: das Ablegen einer angeborenen Scheu vor Feuer, wie sie auch bei höheren äffischen Primaten noch auftritt und eine arbeitsteilige Gruppenkooperation (vgl 9.5.), da die Unterhaltung von Feuerstellen eine Spezialiserung zwischen Nahrungserwerb während der Jagd und der häuslichen Nahrungsverwertung notwendig macht. Der Feuergebrauch dokumentiert, daß sich die bereits bei den Australopithecinern noch auf der biologischen Artbildungsebene vorhandene Spezialisierung zwischen Pflanzen bzw. Früchtefressern in der weiteren Hominidenentwicklung zu einer stärker carnivoren Ernährung geführt hat. Die Erzeugung und der Unterhalt von Feuerstellen besitzt in der Evolution des Werkzeuggebrauchs deshalb einen besonderen Stellenwert, weil durch sie die Umweltunabhängigkeit des Menschen in doppelter Weise verstärkt wird. Einmal bedeutet die Fleischnahrung eine größere Unabhängigkeit von Vegetationsperioden und ermöglicht außerdem die Besiedlung kälterer Zonen z. B. während der Eiszeiten, und sie dient in diesen Gebieten zugleich als Wärmequelle. Der Erwerb der Fleischnahrung hat aber auch zu tiefgreifenden gesellschaftlich-kulturellen Auswirkungen des H. erectus geführt. Fünf der am besten erhaltenen fossilen Schädel von Choukoutien sind an der Basis durch mechanische Gewalt geöffnet oder auf andere Weise gezielt verletzt worden. Weidenreich (1939) vertrat deshalb die Auffassung, daß die Höhle keine Begräbnisstätte des Peking-Menschen, sondern ein Wohn- und Speiseplatz sich kannibalisch ernährender Frühmenschen war. Auch Gieseler (1959) sieht in der Ansammlung und Verletzung der Schädel einen Hinweis, daß der H. e. pekinensis einen Teil seiner Nahrung durch Kopfjagd erworben hat, während Schmidt (1942) die alternative Erklärung vertritt, daß hier die kultische Behandlung der Schädel Verstorbener zu ihrer Anhäufung geführt hat, wie sie völkerkundliche Parallelen in der in asiatischen Gebieten verbreiteten Totentrauersitte findet. Beide Hypothesen, die sich nicht unbedingt ausschließen müssen, bestätigen unabhängig von ihrer Richtigkeit allgemein den bereits spezifischen gesellschaftlichen Entwicklungscharakter dieser Periode. Das Auftreten 295

des Kannibalismus ist, unabhängig von seiner modernen ethischen Bewertung her, ein Kennzeichen des Durchbrechens ethologischer Instinktschranken. Für den Frühmenschen müssen, wenn er von der Fleischnahrung anderer Tiere zur kannibalischen Ernährung überging, die Spezifik wichtiger Schlüsselreize verlorengegangen sein,die bei Tieren die Auswirkungen innerartlicher Aggressionen regulieren und nur in Ausnahmen zur Tötung führen. Biologisch gesehen ist Kannibalismus sinnlos, da er auf die Vernichtung der eigenen Art, nicht auf ihre Erhaltung ausgerichtet ist. Auf der einen Seite steht so der Verlust instinktiver Hemmungen der Aggression, die für ein flexibles kooperatives Jagdverhalten notwendig sind, um zu einem maximalen Beuteertrag zu kommen, andererseits wird die räuberische Lebensweise auch gegenüber den Artgenossen generalisiert, der erst auf einer entwickelteren gesellschaftlichen Bewußtseinsniveau durch ethische Normsysteme sekundär geschützt wird (vgl. 10.2.2.). Kannibalismus, der auch für den Neanderthaler (z. B. Krapina) nachgewiesen ist, bleibt eine Übergangserscheinung zwischen Naturgeschichte und menschlicher Geschichte, die einerseits den Verfall instinktiver Verhaltensregulation anzeigt, andererseits aber auch nur so lange wirksam ist, wie eine gesellschaftliche Gegenregulation durch menschliche Eigenwertvorstellungen noch nicht eintritt. Die auf den H. erectus folgenden H. sapiens-Formen sind in vielen Merkmalen nicht klar abgrenzbar. Zu dem Problem, ob es sich bei den unter der Bezeichnung H. sapiens gefaßten verschiedenen Typen tatsächlich nur um eine Art handelt, weil sich z. B. der klassische Neanderthaler durch spezifische Merkmale vom gegenwärtigen Menschen unterscheidet, kommen verschiedene Hypothesen über die Entwicklung vom H. erectusNiveau zum Erscheinungsbild des recenten Menschen. Neben der linearen Vorstellung, daß sich der H. sapiens einmal an einem bestimmten Ort aus H. erectus-Populationen entwickelt hat, gewinnt zunehmend die Hypothese an Bedeutung, daß dieser Übergang unabhängig voneinander mehrmals aus verschiedenen lokalen H. erectus-Gruppen erfolgt ist (Coon 1962). Durch die hohe Wanderungsaktivität ist eine genetische Spezialität in getrennte Stammlinien nicht eingetreten, sondern es hat sich ein komplexes Netzwerk genetischer Beziehungen zwischen den einzelnen Populationen herausgebildet, ohne daß es zurArtbildung kam. Zu der Variabilität des biologischen Merkmalsbildes des H. sapiens kommt so eine räumliche Uberlagerung verschiedener Populationen und eine komplizierte zeitliche Verzahnung der einzelnen Gruppen hinzu. Die wichtigsten biologischen Merkmale des Gesichtsschädels des H. sapiens sind die tendenzielle Reduzierung der Prognathie und die Ausbildung eines orthognaten, nicht aus der Profilebene des Gesichts hervorspringenden Kinns. Die Augenhöhlen sind weiter unter das Frontalhirn verlagert 296

und der Torus supraorbitalis unter den Nasenwurzel unterbrochen (vgl. Bild 19). Gegenüber dem H. erectus ist der Schädelbasiswinkel verkleinert und das Foramen magnun unter das Zentrum des Gehirnschädels verlagert (vgl. Bild 19a). Der Gehirnschädel nimmt an Höhe zu und besitzt seine größte Breite oberhalb der Scheitelbeine (vgl. Bild 19b). Die Gehirnschädelkapazität steigt auf ca 1400 cm3 an. Im europäischen Raum trat der H. sapiens im Mittel-Pleistocän vor ca 400000 Jahren auf. Die ältesten fossilen Funde von Vertesszöllös zeigen Ubergangserscheinungen zum H. erectus (z. B. stark herausgehobene Eckzahnspitzen, während bei den typischen H. sapiens der Spitzenteil der Canini reduziert ist). Einen relativ ursprünglichen Entwicklungsstand des H. sapiens repräsentieren die Funde von Steinheim an der Murr und Swanscobe/England, deren Alter auf 250-200000 Jahre geschätzt wird. Bei Swanscobe fanden sich als Begleitfunde fein bearbeitete Faustkeile vom Acheuleen-Typ. Diese mittelpleistocänen H.sapiens-Formen haben sich, wie man hypothetisch annimmt, in zwei divergierende Entwicklungslinien aufgespalten, die einmal über >Prae-Neandertaler< zum Typ des klassischen Neandertalers führt, zum anderen über einen Prae-sapiens-Status zum modernen H. sapiens. Die Fundorte des klassichen Neandertalers liegen vor allem in Mittel- und Westeuropa (Neandertal, Spy/Belgien, La Chapelle aux Saint, Le Moustier, La Quina, Monte Cicero). Einige seiner wichtigsten biologischen Merkmale sind ein großer und massiver Gesichtsschädel und kräftig entwickelter Torus supraorbitalis, der in der Glabella-Region zwischen den Augenbrauen durchgehend verläuft. Durch ein stark nach vorn heraustretendes Nasenskelett entsteht das typische >Spitzgesicht< des Neanderthalers, während das Hinterhaupt kegelförmig ausgezogen ist. Die Stirn ist stark geneigt und vermittelt den Eindruck eines flachen, langgestreckten Gehirnschädels. Bemerkenswert ist der mit ca 1500 cm 3 hohe Wert des Gehirnschädelinhaltes, dessen Variationsbreite auf 1350-1750 cm3 geschätzt wird. Da in Europa H. s. sapiens unvermittelt auf den H. s. neandertalensis folgt, wird angenommen, daß der Neandertaler eine phylogenetische Sackgasse des Hominidenentwicklung darstellt, der während der mittleren Würmeiszeit ausstarb, bzw. von einer weniger spezialisierten Line der H. sapiens-Entwicklung aufgesogen wurde. Biologisch ist der H. s. sapiens durch einen Gehirnschädel mit hoher Scheitelwölbung, weit über die Augenhöhlen nach vorn geschobenen Stirnhirn und senkrecht gestellten Seitenwänden des Schädels gekennzeichnet (vgl. Bild 19). Das Kieferskelett ist kurz und klein mit einer Tendenz zur Orthognathie und schwach markierten Ansätzen für die Kaumuskulatur. Die Schädelbasis ist schwächer gewinkelt als beim Neandertaler (110-115 ° gegenüber ca 134°). Die Gehirnschädelkapazität des H. s. sapiens beträgt durchschnittlich 1400 cm3 mit einer Variationsbreite von 1000-2000 cm 3 . Die ältesten Fossilbelege stammen aus Combe-Capelle (ca 34000 Jahre) und Cromagnon (30000-25000 Jahre), die gelegentlich auch zur Unterscheidung zweier Formenkreise herangezogen werden, welche als Extremata eines insgesamt sehr variablen Variationsspektrums verstanden werden können. Der Combe-Capelle-Typ ist durch einen zierlichen Knochenbau, einen relativ schmalen und hohem Schädel mit einer nur geringfügig hervorspringenden Überaugenregion charakterisiert, während der Cromagnon-Mensch ein großwüchsiger, derbknochiger Typ mit betonter Uberaugenregion und kräftigen Muskelmarken am Skelett ist.

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In der Technologie der Werkzeugherstellung (vgl. 10.2.1.) kommt es zu einer Weiterentwicklung der Faustkeil-Kultur des Spät-Acheuleen, die für die frühen H. sapiens-Formen typisch sind, indem nun >Abschlagflake toolsKerngeräten< werden die von den Steifiknollen abgeschlagenen Stücke als Werkzeuge verwendet. Einige Grundmuster dieser Abschlaggeräte sind z. B. Bohrer, Klingen und Kratzer, die durch weitere Verbesserungen technisch immer weiter vervollkommnet werden. Ebenso wie bei der Herstellung der Arbeitskanten bei den Faustkeilen verschiedene Techniken der Bearbeitung unterschieden werden (z. B. Abbevillien: zick-zackförmige Arbeitskante mit unregelmäßigen Verlauf, Acheuleen: durch Retuschen korrigierte Arbeitskanten), werden auch bei den Abschlag-Geräten verschiedene hochentwickelte Arbeitstechnologien entwickelt. Bei der Lavallois-Technik entstehen z. B. durch besonders zubereitete Steinkerne Abschläge, die kaum einer weiteren sekundären Bearbeitung bedürfen. Im Ober-Palaeolithicum existierte bei frühen H. sapiens-Formen noch eine parallele Herstellung von Kern- und Abschlaggeräten. Bereits im Mittel-Palaeolithicum (90000-36000 Jahre) dominieren durch feine Retuschen gekennzeichnete Abschlaggeräte z. B. als Schaber, Kratzer, messerartige Blattspitzen gegenüber den Faustkeilen, die nun ebenfalls häufig aus Abschlägen hergestellt werden. Besonders typisch für die Mousterien-Kultur des H.s.neanderthalensis sind zu Handspitzen umgearbeitete Steingeräte (>MousterienSpitzenzweite< künstliche Umwelt aus, deren Strukturen über Bewußtseinsfunktionen entstehen. Vereinfacht gesprochen haben sich damit die Außenbeziehungen des Abbildungsorgans verdoppelt. Neben der primären Aufnahme von Informationen aus der Außenwelt ( = biologische Umwelt), die auch für psychische Prozesse bei Tieren gilt, kommt es zu einer gesteuerten Rückwirkung, die nicht nur zu einer immer besseren Anpassung an die Außenwelt führt, sondern zu deren aktiven Umgestaltung. Das Ausmaß der Umgestaltung der biologischen Umwelt ist damit zugleich ein Maß für die Bewußtseinsfunktion, die hier als >Vergegenständlichung< psychischer Fähigkeiten bezeichnet wird. Instrument der sekundären Veränderung der primären Umwelt sind ursprünglich die eigenen physischen Körperkräfte, die von ihrer rein mechanischen Funktion her potentiell auch bei Tieren eine aktive Umweltänderung herbeiführen könnte, hier aber der Informationsgehalt der ZNS-Funktion nicht ausreicht. Die Entwicklung des Psychischen in der Phylogenese kann unter diesen Gesichtpunkten als Anreicherung und ständige Verbesserung der Informationsverarbeitungskapazität des Nervensystems verstanden werden, die im TMÜ eine derartige Perfektionierung erfährt, daß die Rückwirkung auf die Außenwelt, die natürlich auch innerhalb des psychischen Verhaltens bei Tieren bereits existiert, der eigentlich dominierende Faktor der Beziehungen zwischen Außenwelt -

sich insofern von den mehr-mehrdeutigen psycho-physischen Verhältnissen bei Tieren unterscheidet, da eine zusätzliche künstliche Umwelt (A') als Vergegenständlichung menschlicher Interessen konstruiert wird. Psychisches und Bewußtsein unterscheiden sich damit nicht durch den Übergang von ein-eindeutigen zu mehr-mehrdeutigen psycho-physischen Beziehungen, sondern allein durch die Umsetzung psychischer Funktionen in besondere, nichtphysiologische Strukturen. P = physiologische Strukturen, Ph = psychische prozesse, B = Bewußtsein, A' = künstlich geschaffene Außenwelt (Gesellschaft).

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ZNS wird, da sie einer gezielten Veränderung der ursprünglichen Informationsquelle dient. In der psychologischen Terminologie sollte dieser qualitative Unterschied zwischen Psychischem und Bewußtsein zumindest in zweifacher Hinsicht berücksichtigt werden: a.) der klaren Unterscheidung zwischen tierischem Verhalten und menschlicher Tätigkeit. >Verhalten< beschreibt dabei die absolute Abhängigkeit des biologischen Systems von der Außenwelt, so daß auch alle reaktiven Funktionen letztlich nur dazu dienen, sich immer genauer auf die Außenbedingungen einzustellen. Gegenüber der menschlichen Tätigkeit, die zu einer aktiven Umgestaltung der Außenwelt führt, erscheint das tierische Verhalten deshalb trotz aller Spontaneität und Flexibilität verallgemeinert als passiv. Die Unterstellung des behavioristischen Verhaltensbegriffs in der Psychologie, in dem die Maßstäbe der tierischen Reaktionsfähigkeit Definitionskriterium sind, bedeutet deshalb eine besonders systematische Negation menschlicher Spezifik. Andererseits ist der in Hinblick auf das bewußte Naturverhältnis geschriebene Marxsche Satz »Wo ein Verhältnis existiert, existiert es für mich, das Tier >verhält< sich zu nichts und überhaupt nicht.« (MEW 3,20) zu relativieren, da in der Tat einerseits fundamentale, durch die Bewußtseinsfunktion bestimmte Unterscheidungskriterien zwischen tierischem Verhalten und menschlicher Tätigkeit als bewußtem Verhalten bestehen. Andererseits ist aber auch das menschliche Verhalten nicht aus dem >Nichts< entstanden, sondern setzt ein hochentwickeltes tierisches Verhalten voraus. Ein besonderes bewußtes Naturverhältnis existiert zwar für das Tier nicht, es bleibt selbstständiger Teil der Natur, aber die Beziehungen zu einer Umwelt sind durch ihre psychische Qualität doch von den wirklich verhältnislosen Beziehungen anderer biologischer und physikalischer Systeme deutlich unterschieden. b.) einer Trennung zwischen der Abbildungsfähigkeit des tierischen und der Widerspiegelungsfähigkeit des menschlichen ZNS. Der Widerspiegelungsbegriff betont, daß in der menschlichen Erkenntnis die Außenwelt nicht nur kopiert, sondern als gesellschaftliche Umwelt auch ideell neu geschaffen wird. 10.1. Höhere psychische Leistungen der nichtmenschlichen Primaten im Grenzbereich zur Bewußtseinsbildung Die phylogenetische Rekonstruktion der Bewußtseinsformen kann empirisch im wesentlichen über drei Empiriebereiche bzw. entsprechende Wissenchaftsspezialisierungen präzisiert werden: a.) durch eine ethologische Untersuchung des Verhaltens der Primaten. 305

Dies entspricht einer Rekonstruktion >von untenvon oben indem ausgehend von dem Bewußtseinsverhältnis bei noch existierenden Naturvölkern die Analogisierung in möglichst weit zurückliegende Zeiträume verschoben wird. Auch für dieses Vorgehen gibt es zahlreiche methodische Probleme, wie die Beeinflussung dieser Kulturen durch Zivilisationseinflüsse oder die Annahme bestimmter Gesetzmäßigkeiten, die von frühen menschlichen Gesellschaftsformen durchlaufen werden sollen. c.) sowohl die Rekonstruktion über das Verhalten äffischer Primaten wie auch ethnologische und kultursoziologische Untersuchungen über Denken und Bewußtseinsformen bei Naturvölkern können aber den wesentlichen Zeitraum der Hominisation, das TMU und die frühe Phase der humanen Entwicklung nicht erf assen. Diese Lücke wird in der Regel durch eine psycho-physische Interpretation der fossilen Reste der Hominiden geschlossen, die aber nur sehr vage Aussagen über psychische Leistungsfähigkeit, Sprachverhalten oder soziale Organisation gestattet wie z. B. aus der Kenntnis, daß die Hominiden vor 500000 Jahren in der Lage waren, Tiere von der Größe eines Elefanten zu erlegen. Mit der Zunahme tierexperimenteller Daten hat sich nun innerhalb der Ebene a.) eine interessante Differenzierung herausgebildet. Auf der einen Seite steht das außerordentliche Lernvermögen von Primaten, mit dem nur 306

wenige andere Säugergruppen konkurrieren. Schimpansen können so auch komplizierte Manipulationen imitieren (z. B. Zigarettenrauchen, Autofahren usw.). Ihr einseitiges Lernen ist die Grundlage für zahlreiche Problemlösungen, die das Erkennen eines differenzierten Zieles und eine bestimmte Ausdauer auch gegenüber mißlungenen Lösungsversuchen ermöglicht. Zur Abstraktionsfähigkeit sowohl als Diskriminationslernen als auch bei der Klassifikation von Gegenständen (generalisierende Abstraktion) kommt der Aufbau differenzierter Wertsysteme durch relationales Lernen. In zahlreichen Experimenten konnte außerdem beobachtet werden, daß außer dem Erreichen des Lernzieles und damit der Belohnung der eigene Anspruch an die Fähigkeit, bestimmte Probleme zu lösen, als bereits eigener Motivationsantrieb wirkt. Gegenwärtig werden die anthropologischen Problemstellungen zunehmend durch Fakten und Modellvorstellungen aus der Primatologie ergänzt, da die Rekonstruktion der Eigenphylogenie der Hominiden bei aller Direktheit des Problembezuges für die Bewußtseinsentwicklung wesentliche erkenntnistheoretische Grenzen aufweist. Z. B. können die komplexeren Funktionsebenen wie die Evolution von Kommunikationsmustern, des Sozialverhaltens usw., anthropologisch nur sehr spekulativ rekonstruiert werden. Außerdem fehlt die Möglichkeit einer empirischen Überprüfung der theoretischen Vorstellungen. Der entscheidende Nachteil der primatologischen Untersuchungsebene, die sich besonders um ökologische und ethologische Probleme der psychophysischen Entwicklung in der Anthropogenese gruppiert, ist ihr nur indirekter empirischer Bezug zur Bewußtseinsentstehung. Alle primatologischen Daten beziehen sich auf ein psycho-physisches Entwicklungsniveau, daß phylogenetisch vor der Hominidenentwicklung liegt, wozu noch die zusätzliche Schwierigkeit kommt, daß von den seit diesem Zeitpunkt eingetretenen Veränderungen abstrahiert werden muß. Es handelt sich hier deshalb um Aussagen, die die tatsächlichen stammesgeschichtlichen Entwicklungsprozesse in verschiedener Weise vereinfachen und deshalb einen insgesamt nur modellhaften Charakter annehmen. Innerhalb des Versuchs, Probleme der Bewußtseinsentstehung unter Umgehung einer direkten Rekonstruktion über empirische Befunde und Hypothesen der Primatenforschung zu präzisieren, lassen sich methodisch wieder mehrere Vorgehensweisen, die teilweise zugleich historische Entwicklungsetappen sind, unterscheiden: a.) lern- und tierpsychologische Experimente im Labor. Hier waren vor allem die Untersuchungen Köhlers (1921), von Yerkes (1926) und Ladygina-Kohts (1935), die jeweils verschiedenen methodologischen Schulen angehörten, bahnbrechend. Allgemein wurde während dieser Periode die experimentelle Bedeutung der Menschenaffen für Probleme der Bewußt307

seinspsychologie entdeckt. Vor allem zu der Fähigkeit der Menschenaffen bezüglich des Werkzeuggebrauchs, der Manipulationsfähigkeit usw. entstanden zahlreiche Arbeiten (Guillaume & Meyerson 1937, Crawford 1937, Birch 1945, Yerkes 1945), die sich bis in die Gegenwart fortsetzen (z. B. Döhl 1966, Rensch & Dücker 1966, Rensch & Döhl 1967, Rensch 1968, Parker 1968) und auch andere simische Primatenarten (z. B. Ceboiden, Cercopitheciden) mit einbeziehen (Neilmann & Trendelenburg 1926, Bierens de Haan 1931, Klüver 1936, Bolwig 1964). b.) Verhaltensbeobachtungen verschiedener Primatenarten unter künstlichen Bedingungen (z. B. Laboratorien, Zoos). Uber einige Halbaffenarten ist auch gegenwärtig deshalb noch so wenig bekannt, da sie bisher nochnicht in Gefangenschaft gehalten werden konnten (Jolly 1972). Selbst für viele höhere Affenarten wie dem Orang-Utan sind Verhaltensbeobachtungen aus Zoologischen Gärten über Sexualität, Futtergewohnheiten, Sozialverhalten usw. trotz der Veränderung durch das Erlernen neuer Verhaltensmuster (z. B. Bettelbewegungen) oder dem Abschleifen normaler Reaktionsmuster immer noch eine unentbehrliche Informationsquelle (Jantschke 1973). In diese Gruppe sind auch die verschiedenen Versuche der Aufzucht von Schimpansen (Hayes & Hayes 1951) und die Möglichkeiten der Spracherziehung (Gardner & Gardner 1969, Premack & Premack 1972, Fouts 1975) sowie Untersuchungen an deren Primatenarten über Sozialverhalten und Kommunikationsmechanismen zu rechnen (z. B. Ploog, Blitz & Ploog 1963). c.) Freilandbeobachtungen. Das besondere Interesse an Ökologie und Sozialverhalten, zugleich auch die kompliziertesten Faktoren des Hominisationsprozesses, haben in der Neuzeit zu zahlreichen Freilandbeobachtungen an verschiedenen Primatenarten geführt, nachdem auch auf diesem Gebiet die klassischen Untersuchungen frühzeitig einsetzten (z. B. Nissens Beobachtungen an Schimpansen (1931), Carpenters Untersuchungen an Klammer- und Brüllaffen oder die Freilandbeobachtungen Zuckermanns (1932)). Einige der wichtigeren neueren Ergebnisse finden sich bei Washburn (1963), De Vore (1965), Reynolds (1966), Napier & Napier (1967), Kummer (1971), Jolly (1972), Vogel (1975) und Eibl-Eibesfeldt (1975). Schaller (1963) und Lawick-Goodall (1971,1975) haben das Verhalten von Berggorillas und Schimpansen unter natürlichen Bedingungen beschrieben, aber auch andere Arten wie Paviane (Kummer 1968, Altmann & Altmann 1970, Angst & Kummer 1975), Languren (Ripley 1970) oder Makaken (Strushaker 1969) sind in ihrer sozialen Organisation mehrfach untersucht worden. Die andere, in der Regel allerdings unterschlagene und deshalb besonders problematische empirische Seite, über die eine phylogenetische Rekonstruktion früher Bewußtseinsformen vorangetrieben wird, ist der Bezug 308

der verschiedenen anthropologischen und primatologischen Fakten auf den gegenwärtigen Menschen und seine operative Intelligenz und die Fähigkeit der Werkzeugherstellung. Die phylogenetische Evolution des Bewußtseins seit dem TMÜ und dem Eintritt in die humane Phase ist aber ein permanenter Veränderungsprozeß, der über eine gegenwärtige Selbsterfahrung des gesellschaftlichen Charakters des Arbeitsvorganges nur sehr bedingt erschlossen werden kann. Z. B. ist keine der Werkzeugtypen wie Haumesser und Faustkeile innerhalb des ursprünglichen Produktionszusammenhanges mehr present, da sich dieses spezifische Bewußtsein eben aufgrund des Werkzeuggebrauchs differenziert hat, neue Werkzeugtypen entstanden sind, die wiederum neue Bewußtseinsträger erforderten. Die Übertragung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Erfahrung auf frühe Hominiden, die sich allerdings nie ganz ausschließen läßt, führt nicht nur zu einer Subjektivierung und introspektiven Verfälschung des psychischen Aspektes der Anthropogense, sondern ist vor allem auch eine psychologische Schranke für die Einzigartigkeit früher Bewußtseinsformen. Ein erster Klärungsschritt wäre hier die Zurückführung der verschiedenen zunächst rein privaten Vorstellungen über Funktion und Struktur des Bewußtseins auf eine wissenschaftliche (psychologische) Theorie, von deren Grundlage aus ein methodisches Programm einer objektiven Rekonstruktion entworfen werden könnte. Selbst wenn eine derartige allseits akzeptierte Bewußtseinstheorie existieren würde, kann sich eine introspektive Analogisierung immer nur auf die allgemeinsten, innerhalb der gesellschaftlichen Bewußtseinsveränderung invariant gebliebenen Strukturen beziehen, die gerade nicht interessieren. Mit der Verschärfung der experimentellen Bedingungen und einer Intensivierung des Lernprozesses, z. B. durch eine direkte >Erzieherfunktion< des Experimentators, hat sich eine zunehmende Diskrepanz zwischen dem Verhalten tierischer Primaten in der natürlichen Umwelt und den experimentell provozierten Leistungen ergeben. Deutlich zeigt sich das z. B. in der Divergenz zwischen dem Werkzeuggebrauch von Schimpansen in ihrem Biotop und den Leistungen beim Werkzeuggebrauch im Labor. Z. B. lernte hier die Schimpansin »Julia« das öffnen von 14 Kisten mit unterschiedlichen Werkzeugen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen (Döhl 1966) und war in der Lage, komplizierte Labyrinthe mit sehr hoher Erfolgsquote zu überschauen (Rensch & Döhl 1968). Sowohl Werkzeugbenutzung als auch Werkzeugerfindungen unter Laborbedingungen stellen psycho-physische Anforderungen, denen die Tiere unter natürlichen Lebensbedingungen nicht ausgesetzt sind, die aber gelöst werden. Eine ähnliche Differenz gilt für die Traditionsbildung bei Primaten, deren Auftreten bei verschiedenen freilebenden Primaten unbestritten ist, die aber erst über zusätzliche experimentelle Stimulation verdeutlicht werden konnte. Wie weit hier die 309

Eingriffe des Experimentators den natürlichen Verhaltensablauf beeinflussen, zeigt die instrumentelle Traditionsbildung der japanischen Makaken, die Kartoffeln und Weizen vor der Nahrungsaufnahme waschen. Aber auch die Nahrungsobjekte selbst sind hier gesellschaftliche Produkte der spezifisch menschlichen Entwicklung, die an Primaten weitergegeben werden. Insofern handelt es sich um zwischenartliche Traditionsbildung, indem äffische Primaten kulturelle Traditionen des Menschen übernehmen, die dann innerartlich tradiert werden. Die Forcierung der psychischen Fähigkeiten im Experiment kann auch zur Ausübung völlig neuer Verhaltensweisen wie z. B. dem Malen führen und damit zu einer >Vermenschlichung< tierischen Verhaltens. Am deutlichsten wird dies bei der Aneignung sprachlicher Symbole, die das bisher erreichte Höchstmaß Reproduktion menschlicher Abstraktionsleistungen durch äffische Primaten darstellt. Schimpansen, aber auch andere Primaten verfügen offensichtlich über eine mentale Kapazität, die unter natürlichen Lebensbedingungen nicht vollständig ausgenutzt wird, aber unter Experimentalbedingungen deutlich hervortritt. Phylogenetisch läßt dies drei Interpretationen zu, die alle gleichermaßen hypothetisch sind: 1.) es handelt sich um verkümmerte Reste eines früher höher psychophysischen Niveaus, dessen Abstieg das Gefälle von experimentell stimulierten Verhalten und dem Normverhalten freilebender Tiere zeigt (Kortlandt & Kooij 1963). 2.) es handelt sich um eine Stagnation, wobei Schimpansen auf dem psycho-physischen Entwicklungsstand während der Trennung von Pongiden und Hominiden stehen geblieben sind, ihre mentale Potenz aber die Möglichkeiten der geistigen Entwicklung in der Hominisation andeutet. 3.) es handelt sich um eine prinzipiell in der Primatenevolution bestehende Spanne zwischen bereits möglichen, aber durch den Selektionsdruck noch nicht erzwungenen psychischen Leistungsfähigkeit, deren Gesamtentwicklung sich nur gegenüber psycho-physischen den Verhältnissen in der Hominidenevolution bei Pongiden verlangsamt hat. Eine Grenze der oberen Assimilationsfähigkeit menschlicher Ziel- und Zweckvorstellungen z. B. im Werkzeuggebrauch oder der Übernahme kultureller Traditionen und Wertvorstellungen durch Menschenaffen besteht bisher nicht. Die Verbesserungen der methodischen Lerntechnik und vor allem auch die Verstärkung des Sozialcharakters der Beziehungen zwischen Schimpanse und Mensch lassen die Liste der Imitation menschlicher Abstraktionsleistungen immer weiter anwachsen, da offensichtlich4 die psychischen Voraussetzungen des Schimpansen genügend hochentwickelt sind,um die Lernbeziehungen zum Menschen offen zu gestalten. Die Einführung eines zwischenartlichen Kommunikationssystems auf symboli310

scher Grundlage erscheint unter diesen Gesichtspunkten erst als ein Instrument, über dessen Gebrauch der Umfang einer psychischen Annäherung gemessen werden kann. Diese Ebene des >künstlichen< Verhaltens, deren Maßstab das Nachvollziehen bestimmter für die gesellschaftliche Organisation grundlegender psychischer Leistungen ist, schafft auch einen Ersatz für die zwischen den Punkten a.) und b.) bestehende Lücke an sinnlich-konkreter Verhaltenserfahrung. In vieler Hinsicht handelt es sich beim tierischen Nachvollzug menschlicher Handlungsmaßstäbe um eine partielle Partizipation an der Bewußtseinsfunktion des Mentors, die modellartig primitive Entwicklungsmechanismen der menschlichen Gesellschaft verdeutlichen kann.

10.2. Unterscheidungskriterien von psychischen und bewußten Prozessen 10.2.1. Die Vergegenständlichung ideeller Strukturen In der Evolution kommt es zu einer ständigen Anreichung des Informationsvorrates gegenüber der Umwelt. Thermodynamisch gesehen besitzen Organismen einen höheren Ordnungsgrad als ihre Umgebung und sind ständig bemüht, diesen Abstand durch die Entwicklung neuer Anpassungsstrategien zu verbessern. Der Begriff der Höherentwicklung ist dann die biologische Umschreibung der ständigen Vergrößerung des Organisationsabstandes von Organismus und Umwelt. In dieser informellen Ausbeutung der Umgebung, bei der in der Gesamtbilanz immer mehr Informationen aufgenommen als abgegeben werden, haben sich phylogenetisch unterschiedliche Ebenen der biologischen Informationsverarbeitung herausgebildet. a.) Durch die genetische Informationsweitergabe werden phylogenetisch erfolgreiche Organisationsprinzipien identisch auf die Nachkommen weitergegeben. Die biochemische Grundlage dafür sind DNA-Moleküle, die als Matritze zur Reproduktion endlicher Mengen von Kopien des Vorbildes dienen. Die genetische Reproduktion kann deshalb als ein Beispiel für die ein-eindeutige Abbildung biologischer Strukturen aufeinander angesehen werden. Die genetische Informationsweitergabe ist insofern diskontinuierlich, als lange Perioden der Stabilität nur von kurzen Perioden der Veränderbarkeit (z. B. durch Reduplikationsfehler, Mutationen usw.) durchbrochen werden. b.) Die physiologische Abbildung der Außenwelt wirkt dagegen wesentlich kurzfristiger (z. B. Adaptionsphänomene, Rhythmenbildung), wird 311

aber ebenfalls genetisch verankert, so daß auch einige physiologische Organisationsprinzipien phylogenetisch sehr alt sind. 2. B. ist das >innere Milieu< des Menschen ein Relikt der Herkunft der Lebewesen aus dem Meer als erster Umwelt. Die Verteilung von Na + , K + und anderer Ionen im menschlichen Organismus findet deshalb ein ungefähres Äquivalent in ihrer Verteilung im Meerwasser. Beim Ubergang in das Süßwasser und zum Landleben ist sie als Isoionisation beibehalten worden. c.) Die psychische Ebene der Informationsverarbeitung als phylogenetisch jüngster Erwerb bleibt an die Gesetzmäßigkeiten der Ebenen a.) und b.) gekoppelt und dient ebenso wie sie der Informationsausbreitung der Umgebung. Sie besitzt ihnen gegenüber aber zahlreiche eigengesetzliche Konditionen, z. B. als Erregungsfähigkeit, Signal- und Symbolbildung usw. Bei hochentwickelten Tieren existiert ein »internes Modell< der Außenwelt. In der Phylogenese kommt es nicht nur zu einer Anreicherung des absoluten psychisch verfügbaren Informationsvorrates (z. B. als Kurz- und Langzeitgedächtnis), sondern auch zu einer ständigen Verbesserung der zentralnervösen Verarbeitungsmechanismen (z. B. der verschiedenen Lernformen). Der Verlauf der Psychophylogenese läßt sich deshalb auch so interpretieren, daß während dieser Periode ein Informationsdefizit gegenüber der Umgebung besteht und über die Weiterentwicklung neuer Receptorsysteme und zentralisierter Nervensysteme eine Angleichung erreicht wird. Diese Entwicklung führt mit Notwendigkeit zu dem Punkt, wo durch die interne Informationsverarbeitung der psychisch verfügbare Informationsvorrat größer wird als der der Umgebung und nun nicht nur die Außenwelt in den Organismus abgebildet, sondern die psychische Funktion in einer besonderen Weise, nämlich als Bewußtsein, auf die Außenwelt zurückgespiegelt werden. Obwohl diese Rückwirkung der psychischen Organisation z. B. als Verhalten ständig vorhanden ist, bleibt sie doch in ihrer Bedeutung der biologischen Informationsaufnahme untergeordnet. Mit der Bewußtseinsentstehung im TMÜ hat die psychische Informationsgewinnung und organismusinterne Verarbeitung jene Intensität erhalten, die in der Rückwirkung auf die Außenwelt auch zu deren materieller Veränderung führt. Das Bewußtsein ist dementsprechend die psychische Fähigkeit, die ideelle Erfassung der Umwelt auch wieder sekundär in besonderer Weise zu materialisieren. Die Vergegenständlichung ist das Ergebnis und letzte Konsequenz der phylogenetisch entwickelten ideellen Aneignung der Außenwelt und das Kriterium, was die menschliche Bewußtseinsbildung von der nur psychischen Abbildung der Außenwelt bei Tieren unterscheidet. Seit dem TMÜ reicht die Funktionsfähigkeit des ZNS der Hominiden aus, diese Rückprojektion vermenschlichter Bedürfnisse in einem wachsenden Umfang zu betreiben. Voraussetzung dafür ist 312

die Funktionsfähigkeit der in einem mehrere hundert Millionen Jahre währenden Speicherprozeß als Psychophylogenese erworbenen primären psychischen Informationsverarbeitungsmechanismen. Die spezifisch menschliche Fähigkeit einer Vergegenständlichung der geistigen Fähigkeiten z. B. in der Geräteherstellung gilt auch insofern absolut, als sie als entwicklungsgeschichtliches Ergebnis auch nicht mehr zurückgenommen werden kann: menschliche Bewußtseinsfunktionen sind immer mit Vergegenständlichungen wechselnder Art verbunden. Dementsprechend enthält jede Umweltbeziehung, die über den menschlichen Kopf vermittelt wird, potentiell auch die Möglichkeit, sekundär eine materielle Gestalt anzunehmen, die alle Kennzeichen einer vorhergehenden bewußten Informationsverarbeitung nun auch in sinnlich-konkreter Form enthält. Die Grenzen der Bewußtseinseingriffe liegen andererseits dort, wenn versucht wird, die Bewußtseinsentstehung selbst wieder bewußt auf phylogenetische Vorformen zurückzuschrauben. In einer etwas konkreten Form kann die Abb. 37 die prinzipielle Bedeutung der Vergegenständlichung veranschaulichen. Der Strang (a) symbolisiert die individuell erworbenen Informationen, die nur dann eine phylogenetische Bedeutung erhalten, wenn sie als genetisches Merkmal verankert werden. Neben einem basalen Satz genetisch fixierter Verhaltensweisen, die artspezifisch sind, geht die während des Lernens individuell erworbene Information wieder verloren. Genetisch gesehen ist die positive Selektionswirkung deshalb indirekter Natur, da die Lernfähigkeit die Selbsterhaltung des Tieres begünstigt und damit aber auch zugleich seine Fortpflanzungschance erhöht wird. Bei der tierischen Traditionsbildung (b) entstehen das Individuum überdauernde Informationssysteme nicht-genetischer Natur. Die individuelle Erfahrung sowie besondere Entdeckungen werden in einem populationsspezifischen Informationsmuster niedergelegt, daß über mehrere Generationen erhalten bleiben kann. Der Nachteil dieser Art der Informationsspeicherung besteht in ihrer Bindung an die Existenz biologischer Individuen. Wenn die Population vernichtet wird, stirbt auch die tradierte Information vollständig aus. Die Informationsspeicherung bleibt hier funktionell, hat aber noch keinen Niederschlag in einer zusätzlichen Struktur gefunden. Die Vergegenständlichung in materiellen Sekundärstrukturen (c) ist die höchstentwickelte Form der nicht-genetischen Informationsweitergabe. Das Informationssystem hat hier sowohl gegenüber dem Individuum wie auch der Populationen und der Art eine Selbständigkeit erreicht, die alle Möglichkeiten der biologischen Informationsweitergabe übertrifft. Derartige vergegenständlichte Traditionsbildungen, die mit der Herstellung von Werkzeugen beginnen,können als >Kultur< gegenüber der >praekulturellen< 313

Bild 37 Qualitativ verschiedene Ebenen der Informationsspeicherung. (a) genetische Informationsverarbeitung als biologische Anpassung des Organismus an die Außenwelt, (b) Traditionsbildung attischer Primaten. Informationen werden zusätzlich zu langfristigen Qenveränderungen gelernt und sozial gespeichert. Erreichung bereits von überindividueller Speicherzeiten in nichtgenetischen Strukturen, (c) Menschliche Traditionsbildung (Kultur) legt sekundäre materielle Speicher an (Vergegenständlichungen). In den »Industrien« der Frühmenschen wird bereits eine beliebige Vervielfachung der Einzelelemente erreicht. Während biologische Strukturen individualisiert bleiben, ermöglicht die Vergegenständlichung eine deutliche Vervielfachung des gleichen Gegenstandes. Die menschliche Entwicklung wird von allen drei Informationsebenen bestimmt. 314

tierischen Traditionsbildung unterschieden werden. Andererseits stellt sie nur einen Sonderfall der tierischen Vorformen dar. Der Mensch ist nun in der Lage, seine vergegenständlichte Umwelt wesentlich öfter zu verändern als die biologische, genetisch fixierte Umgebung. Die Informationsspeicherung in materiellen Vergegenständlichungen schafft zu seinem genetischen Pol einen Sekundärspeicher, der eine von der biologischen Grundlage unabhängige Entwicklung als gesellschaftlich-ökonomischer Organisation ermöglicht. »Man kann den Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch, was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst.. . Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren.« (Marx 1968 b, 347). Die Unterscheidung zwischen b.) und c.) gilt insofern absolut, als nur die menschliche Traditionsbildung über vergegenständlichte Strukturen auf die folgenden Generationen überliefert wird, praekulturellen Traditionen bei äffischen Primaten aber jede zusätzliche >Geräte-Umwelt< fehlt. Andererseits bedeutet dies nicht, daß auch die nicht-genetische Informationsweitergabe nach dem Typ (b) keine wichtige Rolle mehr spielt. Tendenziell wird aber auch sie, wenn diese Traditionen von essentieller Bedeutung sind, einer Vergegenständlichung unterworfen. Die Vergegenständlichung setzt sich damit für die einzelnen psychischen Leistungen in sehr unterschiedlichen Zeiträumen durch. Z. B. beruhen die frühesten historischen Nachweise für Sprachgebrauch auf Dokumenten ihrer Vergegenständlichung in der Schrift (ca 3 300 v. u. Z), es kann aber keinen Zweifel unterliegen, daß bereits lange vor dieser neuen Stufe der Vergesellschaftung der Sprachgebrauch zu den typischen kulturellen Kennzeichen früher Hominidenpopulationen gehört. Zwischen der Vergegenständlichung von Bewußtseinsqualitäten in Geräten und der Schrift besteht also ein erheblicher Entwicklungszeitraum, da die Sprache die längste Zeit nur über soziale Beziehungen tradiert wurde. Die Entstehung einer zusätzlichen >Geräte-Umwelt< ist nun aber keineswegs so zu verstehen, daß die biologischen Entwicklungsgesetze durch gesellschaftlich-ökonomische Gesetze im Sinne einer zeitlichen Sukzession einander ablösen, sondern es handelt sich um eine allmähliche Uberlagerung, die zu einer komplizierten Wechselwirkung zwischen biologischen und gesellschaftlichen Faktoren führen »Die Produktion des Lebens, sowohl des eigenen in der Arbeit wie des fremden in der Zeugung, erscheint nun zugleich als ein doppeltes Verhältnis - einerseits als ein natürliches, andererseits als gesellschaftliches Verhältnis - gesellschaftlich in dem Sinne, 315

als hierunter das Zusammenwirken mehrerer Individuen . . . verstanden wird.« (Marx 1968 b, 356) Damit wird das psycho-physische Problem, das als Verhältnis von Physischem und Psychischem auf einem bestimmten historischen Erkenntnisstand ausgesprochen wurde, in seiner traditionellen Fassung für das Bewußtseinsproblem zu eng. Es handelt sich hier nicht mehr, wie noch in der Psychophylogenese, um eine kausale Beziehung nur zwischen genetischen bzw. physiologischen Prozessen und psychischer Informationsverarbeitung, sondern diese wird nun nochmals in den besonderen Bedingungen der >Geräte-Umwelt< gebrochen, so daß eine insgesamt dreifache Relation existiert. Etwas vereinfacht läßt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Psychischen und dem Bewußtsein dahingehend beschreiben, daß die materiellen Grundlagen des Psychischen >einfacher< (physiologischer) Natur sind, die des Bewußtseins jedoch eine >doppelte< Basis einmal in den physiologischen Prozessen und zum anderen in der gesellschaftlichökonomischen >Geräte-Umwelt< besitzt. Das Verhältnis von >primärer< und >sekundärer< Umwelt des Menschen soll nun in Hinblick auf die Bewußtseinsentwicklung etwas genauer betrachtet werden, bevor auf die spezifischen Vergegenständlichungstechniken der frühen Hominiden konkret Bezug genommen wird. Die Besonderheit des Bewußtseins gegenüber dem Psychischen resultiert nicht nur aus der komplexen Doppelnatur des Verhältnisses ZNS-Außenwelt, sondern auch daraus, daß die >Geräte-Umwelt< für die Bewußtseinsentwicklung eine zunehmende Eigenständlichkeit erhält. Die gesellschaftliche Umwelt des Menschen entsteht als Produkt der menschlichen Tätigkeit und ist die Zusammenfassung all dessen, was produziert wird. Zunächst ist dieser Bereich sehr klein und umfaßt nur einige Werkzeugtypen als Kernstücke der gesellschaftlichen Organisation. Bereits am Ende des Paläolithicums existiert aber ein ganzes System menschlicher Gebrauchsgegenstände, das dann zu den komplexen Instrumente- und Apparate-Systemen der modernen Gesellschaften führt. Die gegenständlichen Resultate der Arbeit nehmen auch bereits als einfache Werkzeuge ein selbständiges Dasein an, da sie ihrerseits für neue Generationen zur unmittelbaren Erfahrungsgrundlage werden. Andererseits entsprechen die Geräte in ihrer materiellen Ausführung nur bedingt den ursprünglichen Absichten des Konstrukteurs und reizen damit zu einer erneuten geistigen Bewältigung. Mit der Vergegenständlichung des Bewußtseins in den ersten Geräten ist damit zugleich ein selbständiger, auf die innere Struktur der neu geschaffenen Umwelt beschränkter Rückkoppelungsmechanismus entstanden, der über immer neue und verbesserte Vergegenständlichungen zu immerhöheren Bewußtseinsformen führt. Das Bewußtsein, durch die biologischen Bedingungen des TMU entstanden, entwickelt sich nach der 316

Herstellung der Geräte zunehmend in der Reflexion früherer oder gegenwärtiger Vergegenständlichungen, setzt aber immer den Primärprozeß der Verwandlung von Naturprodukten in gesellschaftliche Gegenstände voraus. Dieser erste Regelkreis ist die Voraussetzung der gesellschaftsimmanenten Rückkoppelungswirkung, die, einmal angestoßen, zu einer Vervielfachung der Vergegenständlichungen führt. Abstrakt zeigt sich diese Beschleunigung z. B. in der Verkürzung der gesellschaftlichen Entwicklungsperioden des Frühmenschen. Während das Alt-Palaeolithicum mit den Geröllgeräte- und Faustkeil-Industrien noch mehrere Millionen Jahre dauert (ca 2,6-70000), erstreckt sich das MittelPalaeolithicum mit dem Neanderthaler undPrae-Sapiensformen als Kulturträger bis in die 1. Hälfte der Würmeiszeit vor ca. 36000 Jahren, die Jung-Steinzeit mit dem Aurignacien, Solutreen und Magdelenien als Produktionsperioden bis vor ca 10000 Jahren, während das Mesolithicum dann noch 5000 Jahre umfaßt, und das Neolithicum, in dem der Durchbruch zur modernen Gesellschaft und Warenproduktion schließlich nur noch 3000Jahre. Diese Verkürzung folgt keiner subjektiven Hybris, Entwicklungsperioden immer wichtiger zu nehmen, je näher sie an die menschliche Gegenwart heranreichen, sie spiegelt vielmehr die Potenzierung der Vergegenständlichung menschlicher Wesenskräfte in objektiver Weise wider. »Der Mensch ist nicht nur ein Naturwesen, sondern auch ein menschliches Naturwesen: d. h. für sich selbst seiendes Wesen, darum Gattungswesen, als welches er sich sowohl in seinem Sein als in seinem Wissen bestätigen und betätigen muß. Weder sind also die menschlichen Gegenstände die Naturgegenstände, wie sie sich unmittelbar bieten, noch ist der menschliche Sinn, wie er unmittelbar ist, gegenständlich ist, menschliche Sinnlichkeit menschliche Gegenständlichkeit. Weder die Natur-objektiv - noch die Natur subjektiv ist unmittelbar dem menschlichen Wesen adäquat vorhanden. Und wie alles natürliche entstehen muß, so hat auch der Mensch seinen Entstehungsakt, die Geschichte, die aber für ihn eine gewußte und darum als Entstehungsakt mit Bewußtsein sich aufhebender Entstehungsakt ist. Die Geschichte ist die wahre Naturgeschichte des Menschen.« (Marx 1968 b, 275). Die Menschen der folgenden Generationen fanden innerhalb ihrer natürlichen Umgebung ein System von Vergegenständlichungen vor, das sich für die Befriedigung ihrer Lebensbedürfnisse als besonders funktionell erwies und deshalb ständig weiter komplettiert und in seinem Umfang vergrößert wurde. Neben der naturhistorischen Voraussetzung ihrer Lernund Denkleistungen war ein »gesellschaftlicher Informationsspeicher entstanden, der in seinen Speicherkapazitäten bald das ZNS übertraf. Gleichzeitig wird aber durch die kulturell-traditionelle Informationsweitergabe das menschliche Gehirn erheblich entlastet. Der menschliche Kopf 317

bleibt aus dem ursprünglich geschlossenen System von Naturgegenständen innerhalb das Verhältnisses Organismus-Umwelt das einzige biologische Organ, über dessen physiologische Funktion sich nun eine ständige Metamorphose von Vergegenständlichungen vollzieht. Mit dem wachsenden Umfang der >Geräte-Umwelt< wächst auch die Geschwindigkeit der Bewußtseinsänderungen, die ihrerseits von einer zunehmenden gesellschaftlichen Arbeitsspezialisierung getragen wird. Ausgangspunkt der psychischen Alltagserfahrung bildet dann häufig nicht mehr die biologische Umwelt, sondern eine hochgradig abstrakte und symbolisierte Außenwelt (z. B. die >Superzeichen< der Großstadtarchitektur). Unter diesen Gesichtspunkten, daß 1.) die Bewußtseinsfunktion von der biologischen Außenwelt weg sich zunehmend auf die Widerspiegelung der Beziehungen zwischen den verschiedenen Vergegenständlichungen konzentriert und 2.) das tradierte Informationssystem als Kultur, durch die Einführung immer neuer Kommunikationsebenen vervollständigt, zum wesentlichen sinnlichen-konkreten Erfahrungshintergrund der individuellen menschlichen Entwicklung wird, kann der Umfang des Verhältnisses von biologisch-natürlicher und gesellschaftlicher Außenwelt und der Grad ihrer Instrumentalisierung auch einen Einblick in den Bewußtseinsstand der Frühmenschen ermöglichen. Ohne den Entwicklungsprozeß der Vergegenständlichung zu sehr zu schematisieren, lassen sich doch drei wesentliche Stadien unterscheiden: a.) Werkzeugbenutzung. Der instrumenteile Gebrauch von Objekten, ohne sie in ihrer Naturbeschaffenheit wesentlich zu ändern, ist ein Merkmal bereits hochentwickelter psychischer Umweltbeziehungen. Da er auch bei freilebenden Pongiden zu den bereits sehr variabel eingesetzten Mitteln der Umweltbewegung gehört, ist er zweifellos auch zu den typischen Verhaltensweisen früher Hominiden zu zählen. Das Moment der Aktivität beschränkt sich hier noch auf die Auswahl geeigneter Instrumente, die ihre Funktion aber bereits daraus gewinnen, daß sie in einer bestimmten Weise der rein körperlichen Reaktionsweise überlegen sind. Eine systematischere Form der Werkzeugbenutzung liegt bereits dann vor, wenn die Instrumente mehrmals benutzt werden, weil sich elementare Formen des Gebrauchswertes herausbilden, die auf der geistig-abstrakten Ebene die Durchsetzung des spezifisch menschlichen Zweck-Mittel-Denkens erzwingen. Obwohl sich theoretisch alle Zwischenstadien von der zufälligen bis zur planmäßig betriebenen Instrumentalisierung der verschiedensten Umweltbereiche konstruieren und zwischen Pongiden und Hominiden ansiedeln lassen, sind empirische Nachweise der Art der Werkzeugbenutzung nicht zu erbringen. Da die ersten Geröllgeräte (durch grobe Anschläge behauene Steine, die später durch Arbeitskanten und sekundäre Abschlagkorrekturen immer instrumentaleren Charakter erhalten) im 318

Unter-Pleistocän auf ca 2,6 Mill. Jahre datiert werden, liegt eine doppelte Zeitdauer der systematischen Werkzeugbenutzung, die bereits ein planendes und zwecksetzendes Bewußtsein voraussetzt, im Bereich des Möglichen. Werkzeugbenutzung wäre damit eine typische Eigenschaft der Hominiden des TMÜ, die auch für andere Basisformen der Hominiden (z. B. Ramapithecus) gelegentlich diskutiert wird (Simons 1968). Die Bedeutung einer bloßen Werkzeugbenutzung ist aber nicht nur auf die phylogenetische Herausbildung von Bewußtseinsformen beschränkt, über die dann eine vergegenständlichte Veränderung der Realität erreicht wird, sondern sie umgibt auch weiterhin die verschiedenen Techniken der Werkzeugherstellung als eine Vorzone ihrer eigentlichen Erprobung. Diese Funktion eines bloß instrumentellen Durchprobierens von Objekten verliert spätestens am Ende des Jung-Palaeolithicums seine generelle Bedeutung, da die Klingen-Industrie des Aurignacien mit Sticheln, Bohren und fein gearbeiteten Messerklingen die Möglichkeit einer unmittelbaren Erfahrungsbildung des Werkzeugverhaltens bereits weit hinter sich gelassen haben. b.) Werkzeugherstellung. Die Veränderung eines Objektes - der damit zugleich im eigentlichen Sinne des Wortes zum >Gegenstand< des Menschen wird - erscheint zumindest von den psychischen Voraussetzungen her lediglich als Vollendung bzw. konsequente Umsetzung der im systematischen Werkzeuggebrauch erworbenen Fähigkeiten der Planung eines Handlungsablaufes, der Aufstellung und Korrektur von Zielvorstellungen, als eine zweckmäßige Änderung in der Wahl der Mittel usw. Die gerichtete Änderung der Gegenstandseigenschaften bedingt die Objektivierung möglicher, in der Zukunft liegender Ereignisse und eine ständige Kontrolle der momentanen Handlungsschritte an den Zielkriterien. Die intentionelle Geräteherstellung ist deshalb sicher mit der Entstehung eines Bewußtseins von zeitlichen Verhältnissen vergangener und zukünftiger Ereignisse sowie vom Unterschied von Wirklichkeit und Möglichkeit verbunden. Werkzeuge sind nichts anderes als »steinerne Begriffes deren Bedeutung auf der Kombination ideeller Mittel (der Gedanke des Instrumentes als Blattspitze oder Schaber) und materieller Realisation beruht. Die Herstellung geht weit über die psychischen Fähigkeiten des einzelnen Menschen hinaus. Bei den Grundideen der Werkzeugherstellung handelt es sich bereits um die verallgemeinerte (gesellschaftliche) Zwecksetzung eines Mittels, an dem dann auch der Einzelne partizipiert. Während der instrumentelle Charakter eines Gegenstandes sich bei der Werkzeugbenutzung nach dem Gebrauchswert des Endproduktes richtet, ist nun das gezielte hergestellte Werkzeug eine Summierung derartiger Gebrauchswerteigenschaften, um die sich deshalb das geistige und praktische Leben des Frühmenschen zentriert. Der entscheidende >Sprung< in319

nerhalb des manipulativen Denkens entstand in jedem Fall mit der Wendung der Veränderung eines Gegenstandes auf das Instrument dieser Veränderung selbst, wenn auch, wie z. B. das Eolithenproblem zeigt (v. Koenigswald 1968), der Ubergang von der Werkzeugverwendung (es handelt sich dabei nur um >einfacheSphaeroide< und >ZweiseiterIndustrien< der Frühmenschen schließlich zur eigentlich gesellschaftlich-ökonomischen Entwicklung und war eine Grundlage des Jagdverhaltens. Durch den Umfang der Geräte entsteht eine spezifisch kulturelle Tradition auch in der Art der Werkzeugherstellung (z. B. die Clactonian- oder die Levalloisien-Technik bei der Herstellung von Abschlag-Geräten im Mittel-Pleistocän). Die Vergegenständlichung wird mehrschichtig und führt zu einem System von Instrumenten, deren Herstellung voneinander abhängig ist. Andererseits läßt sich der Werkzeuggebrauch im Paläolithicum auch negativ charakterisieren. Obwohl die Instrumente häufig Jagdgeräte waren und das Sammeln pflanzlicher Nahrung eine wichtige Rolle spielt, gelingt es den frühen Hominiden noch nichts Tiere zu domestizieren und Pflanzen zu züchten. Der »biologische WerkzeuggebrauchGeräte-Umwelt< mittels eines Systems von Vergegenständlichungen wirft ein noch grundsätzlicheres Problem auf, das hier nur in der Frage angedeutet werden kann, inwieweit die Existenz der gesellschaftlichen Umwelt Rückwirkungen auf die biologische Evolution hat bzw. inwieweit gesellschaftlich-ökonomische Entwicklungsprozesse biologischen Evolutionskriterien unterliegen. Der Mantel von Vergegenständlichungen, der den Menschen umgibt, ist einmal unter dem Druck der biologischen Selektion entstanden, andererseits ist er ein Schutz gegenüber biologischen Konkurrenten. Die Entwicklung des Werkzeugverhaltens bei frühen Hominiden entspricht der Entdeckung einer ökologischen Nische, die ihm Evolutionsvorteile gegenüber anderen Arten einbrachte und schließlich als »Gesellschaft sich konkurrenzlos ausbreitete. Allerdings ist auch innerhalb dieser Nische die Selektionswirkung nicht erloschen, da immer höher entwickelte Hominiden mit einer vergrößteren Gehirnkapazität entstehen und es z. B. denkbar ist, daß die Australopithecinen durch die parallel auftretenden überlegenen Homo erectus-Formen verdrängt wurden, ebenso wie der Neanderthaler und H. sapiens räumlich und zeitlich als Konkurrenten die gleiche Nische bewohnten. Wenn auch keine anderen Konkurrenten in die >Geräte-Umwelt< eindringen können, ist es doch so, daß die Selektionswirkung zwischen den verschiedenen Hominidenpopulationen in der Frühphase der Menschwerdung erhalten blieb. Eine andere häufige Ursache des Aussterbens, plötzliche Biotopänderungen, spielen für die Hominidenevolution ebenfalls eine immer geringere 323

Rolle, weil die Vergegenständlichung eine einmalige Konstanz der Umweltfaktoren mitsichbringt. Zwar ändern sich ständig die Abstraktionsgrundlagen, aber das ist für die physiologischen Eckwerte, die allen Vergegenständlichungen zugrunde liegen, ohne Bedeutung. Die Gesamtheit der Rückwirkungen der gesellschaftlichen Umwelt auf die biologische Wirkungsebene führen im Körperbau und Verhalten zu zahlreichen Domestikationserscheinungen, wie sie auch bei Haustieren gefunden werden. Was den Menschen von diesen aber grundsätzlich unterscheidet, ist, daß es keine Wildform mehr gibt, sondern sich die Vergesellschaftung von vornherein auf die Gesamtgattung Mensch bezog und höher entwickelte Gesellschaftsformen einen Konkurrenzdruck ausüben, der sich zuerst gegenüber den die gleiche ökonomische Nische besiedelnden Hominiden bemerkbar macht. Die Hominiden des TMÜ und des Paläolithicums sind damit zwar von sich ändernden biologischen Umweltbedingungen weniger gefährdet und ökologischen Tierarten überlegen, sie unterliegen jedoch der verschärften Selektion innerhalb der Hominidae selbst, was möglicherweise zum Aussterben bis auf die jeweils am höchsten entwickelte Art führte. Die Evolution der menschlichen Gesellschaft ist in dieser Phase der Hominisation lediglich ein besonders erfolgreicher Selektionsfaktor und unterliegt auch den Gesetzmäßigkeiten der biologischen Selektion. Die Domestikationswirkung (z. B. Hypertrophie von Verhaltensweisen, Veränderungen des AAM, Zerfall ursprünglich zusammengehörender Verhaltensmuster usw.) bei Haustieren zeigt, daß die Schaffung einer künstlichen Umwelt nicht ohne Rückwirkung auf die biologische Organisation ist, deren Entwicklung erst die Vergegenständlichungen ermöglicht. Damit entsteht aber bereits in der Produktion der ersten Instrumente noch eine völlig andere Art der Vergegenständlichung: die Veränderung der biologischen Natur des Menschen im gesellschaftlichen Produktionsprozeß selbst. In der Arbeit entdeckt der Mensch die »Gegenstände als die Vergegenständlichung seiner selbst, als die seine Individualität bestätigenden und verwirklichenden Gegenstände, als seine Gegenstände, d. h. Gegenstand wird er selbst« (Marx 1968a, 191). Mit der Einsicht, daß die Entäußerung seiner psychischen Qualitäten in materiellen Gegenständen über deren Wirkung auch zu einer Veränderung seiner eigenen Natur führt, erscheint der Prozeß der Naturaneignung in einem neuen Licht, da er letztlich immer nur die eigene Vergegenständlichung zum Ziel hat. 10.2.2. Die

Subjekt-Objekttrennung

Das Verhältnis der frühen Hominiden zu ihrer Umwelt beschränkt sich nicht auf eine technische Auseinandersetzung. Diese ist nur als Ergebnis 324

einer besonderen geistigen Realitätsauffassung verständlich, deren umfassendes Merkmal die Subjektivierung des Psychischen ist. In der Werkzeugherstellung der Australopithecinen ist eine SubjektObjekttrennung insofern vorausgesetzt, als jede Manipulation mit bestimmten Objekten auch im menschlichen Kopf das Bewußtsein der Wirkung gegensätzlicher Kräfte voraussetzt, die dann entsprechend den eigenen subjektiven Bedürfnissen ausgenutzt werden. Die Trennung der Materialien z. B. als Arbeitsmittel und zu bearbeitende Stoffe erfordert ebenso eine Objektivierung der Außenwelt wie die Auswahl der Werkzeugmaterialien und ihre Unterscheidung von anderen. Die ideelle Aneignung des Frühmenschen ist in ihrer psychischen Gestalt deshalb von Beginn der Bewußtseinsbildung an immer doppelter Natur und beinhaltet einmal die geistige Reproduktion als objektives Wissen des Gegenstandes und zweitens die subjektive Verwertung dieser Objektivität. Die Subjektivität des Bewußtseins ist auch die Ursache dafür, daß alle Gegenstände, da sie vom Menschen für menschliche Zwecke hergestellt werden, immer das Kennzeichen der Subjektivität tragen und in dieser Eigenart fossil ohne Schwierigkeit als menschliche Gegenstände wiedererkannt werden, auch wenn der Anthropologe die spezifische Zweckgebundenheit häufig nur schwierig dechiffrieren kann. Es ist gerade die »Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte, deren Aktion auch eine gegenständliche sein muß«. Jede Form der Werkzeugherstellung ist deshalb immer bereits eine besondere Realisation des SubjektObjektverhältnisses, indem der Mensch seine LJnterschiedenheit von der Außenwelt in psychisch besonderer Weise als Subjekt praktisch erfährt, ebenso wie er die Selbständigkeit der Außenwelt gegen seine Bedürfnisse als Objektivität erfährt. Die Vergegenständlichung der psychischen Wesenskräfte ist deshalb nicht nur eine Verbesserung der Techniken der Naturaneignung, sie bietet auch die Möglichkeit, die Geschichte des Selbstbewußtseins des Subjekts, die aus dem Wissen um den Unterschied zwischen Subjekt und Objekt resultiert, selbst wieder zu objektivieren. Wenn auch jede Art der Vergegenständlichung und Werkzeugherstellung das Merkmal menschlicher Subjektivität trägt, so bleibt doch zu fragen, ob es nicht doch Formen der Materialisation des menschlichen Bewußtseins gibt, die in einem spezifischen Zusammenhang mit dem Subjektivitätsgrad des Erzeugers stehen. Derartige Zeugen der geistigen Welt der frühen Hominiden sind aber nicht nur selten, sondern in ihrer anthropologischen Interpretation verständlicherweise sehr umstritten. Für den H. s, neanderthalensis sind rituelle Bestattungen für die frühe Würmeiszeit nachgewiesen (die Toten wurden z. B. in der Ost-West-Richtung bestattet und Kopf und Schulter durch Steinplatten besonders geschützt). Neben einfachen Ornamenten (z. B. in La Quina) wurden an 325

einigen Begräbnisstätten auch Opfergaben gefunden, für andere Fundplätze (z. B. La Ferrassie) lassen Uberreste von Farbe auf rituelle Handlungen schließen. Zahlreiche Tote des Neandertalers sind außerdem in einer Hockstellung begraben. Die seit dem Zeitraum von 100000-50000 Jahren sich häufenden Funde, die keinen technischen Gebrauchswert besitzen, sondern nur aus der subjekt-psychischen Eigenart der Bewußtseinsträger begründet werden können, zeigen, daß offensichtlich der Tod zu den Erfahrungen gehört, die das subjektive Selbstverständnis besonders nachhaltig beeinflussen. Die Toten werden in ritueller Weise behandelt, bzw. überhaupt begraben, und damit auch ihr biologisches Ende zu einem spezifisch menschlich-gesellschaftlichen Ereignis. Diese Integration war dann ihrerseits die Grundlage für Vorstellungen, die über die körperliche Gegenwart hinaus geistige Verbindungen mit dem Toten knüpften und schließlich auch komplexere naturreligiöse Systeme für das eigene Weiterleben nach dem Tode ermöglichten. Entscheidend für die Subjektivität des Neandertalers ist aber bereits die Zur-Kenntnisnahme des Todes, die auf die Entwicklung seines Bewußtseins einen nachhaltigen Eindruck machte und sich dann auch in einer besonderen Vergegenständlichung niederschlug. Die geistige Auseinandersetzung erstreckte sich aber auch auf die verschiedenen Jagdtiere. Die in dem >Drachenloch< bei St. Gallen gefundene Kultstätte wird ebenfalls mit den H. s. neandertalensis in Verbindung gebracht. Es handelt sich dabei um eine Anordnung von Bärenschädeln, die durch Steinplatten eingerahmt und abgedeckt werden. Der Höhlenbärenkult setzt psychische Beziehungen zwischen Jäger und Wild voraus, die über das objektive Wissen und die Lebensgewohnheiten weit hinausgehen und letztlich aus der Bedeutung für die Selbsterhaltung resultieren. Der reale Lebenszusammenhang zwischen Tier und Mensch erscheint schon in einer >ideologisierten< Form, indem sowohl dem Beutetier als auch den Beziehungen zwischen Wild und Jäger psychische Qualitäten (z. B. Macht zauberischer Beeinflussung, Regulierung der Fruchtbarkeit) zugesprochen werden. Diese besondere subjektive Erlebnis- und Handlungswelt zwingt dann im Kult auch zu besonderen praktischen Handlungen, die nur aus dieser Subjektivität verständlich werden. Zu den besonderen Vergegenständlichungen der Subjektivität früher Hominiden gehören außerdem verschiedene Schmuckgegenstände, die sich bei dem Neandertaler zunächst noch auf primitive Knochenanhänger beschränken, aber im Jung-Palaeolithicum seit dem Aurignacien (ca. 36000-20000 v. u. Z.) verschiedene Skulpturen und Statuetten auch der eigenen Darstellung und im Magdelenien (16-10000 v. u. Z.) Höhlenzeichnungen auftreten. Dazu gehört auch der Sprachgebrauch als Instrument der Artikulation individueller Subjektivität, der zweifellos bereits vor 326

der Verselbständigung ästhetischer Prinzipien in Kunstdarstellungen vorhanden war. Die Subjekt-Objekttrennung der ersten Hominiden mit einem humanen psycho-physischen Status bezieht sich aber keineswegs nur auf die materiellen Objekte ihrer Gebrauchswelt, sondern betrifft auch ihre sozialen Beziehungen untereinander, indem zwischen verschiedenen Subjekten differenziert wird und sie selbst wieder zum Objekt werden. Zwar entsteht die menschliche Subjektivität vor allem als psychisches Ergebnis der tätigen Auseinandersetzung mit der Umwelt, deren Unterschiedenheit zum eigenen Ich auch geistig fixiert wird, aber die sozialen Kooperationsbeziehungen sind aus diesem Tätigkeitsfeld keineswegs ausgenommen. Ob die Subjektivierung der gesellschaftlichen Beziehungen dabei erst das Ergebnis der Subjekt-Objekttrennung gegenüber den Naturgegenständen ist oder umgekehrt deren Objektivierung das Ergebnis der Differenzierung der sozialen Umwelt in verschiedene Einzelsubjekte, die dann ihre Trennung auch gegenüber der Außenwelt verallgemeinert wird, bleibt unentscheidbar. Die Subjekt-Subjekttrennung als Entwicklungsgrundlage einer allgemeinen Subjekt-Objekttrennung in der Evolution des Bewußtseins ist eine wesentliche Entwicklungsstufe, in der der Artgenosse und nicht ein Gegenstand der ökologischen Umwelt Grundlage der Selbsterfahrung ist. Auf jeden Fall ist die Subjektivierung des Psychischen als Selbstbewußtsein - gleichgültig in welcher historisch-konkreten Form es entstanden ist - nicht Ausgang, sondern immer bereits Ergebnis des Verhältnisses Mensch-Umwelt. Am Beginn der Entwicklung der Subjektivität hat deshalb auch nicht ein vereinzelter besonders intelligenter Hominide gestanden, sondern eine allmähliche Verschiebung der durchschnittlichen Bewußtseinslage, aus der sich allmählich Persönlichkeiten mit von diesem Durchschnitt abweichenden Bewußtseinsformen herausbildeten. Die Entstehung des Einzelmenschen als individuelles Subjekt ist sehr wahrscheinlich erst ein besonderes Ergebnis der ökonomisierung auch des Bewußtseins im Prozeß der Warenproduktion, wo das homogene Gesamtbewußtsein endgültig >atomisiert< werden mußte, um eine Austauschbarkeit zu erreichen. Die individuelle Subjektivität, wie sie heute der Selbsterfahrung verfügbar ist, kann deshalb nicht ohne weiteres für das Bewußtsein der Frühmenschen unterstellt werden, da sie selbst bereits ein spätes historisches Produkt der menschlichen Subjektivitätsentfaltung ist. »Das individuelle und das Gattungsleben des Menschen sind nicht verschieden, so sehr auch - und dies notwendig - die Daseinsweise des individuellen Lebens eine mehr besondre oder mehr allgemeinerem des Gattungslebens ist, oder je mehr das Gattungsleben ein mehr besondres oder allgemeines individuelles Leben ist« (Marx 1968 a, 187f.). Die psychische Individualität kann nur soweit entwickelt sein, wie auch das Gesamtbewußtsein ein Selbstverständnis seiner Subjektivität und 327

Gesellschaftlichkeit entwickelt hat. »Es ist vor allem zu vermeiden, die »Gesellschaft wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren. Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen. Seine Lebensäußerungen - erscheinen sie auch nicht in der unmittelbaren Form einer gemeinschaftlichen, mit anderen zugleich vollbrachten Lebensäußerungen - ist daher eine Äußerung und Bestätigung des gesellschaftlichen Lebens.« (Marx 1968 a, 187) Wie schwierig die konkrete Interpretation der Subjekt-Objekttrennung im sozialen Bereich mit der Behandlung des Artgenossen als Objekt seiner Tätigkeit ist, zeigt die Kannibalismusfrage (vgl. 9.4.2.). Der Verzehr des eigenen Artgenossen, gewissermaßen das Kainsmerkmal der Hominisation, das seit dem H. e. pekinensis fossil belegt ist, aber auch beim Neandertaler und Prä-Sapiens-Formen verbreitet war, ist, gleichgültig wie das Verhalten im einzelnen erklärt wird, offensichtlich ein spezifisch menschliches Merkmal. Ethologische Untersuchungen an Raubtieren haben gezeigt, daß hier eine Tötung des Artgenossen nur gelegendich als Zufall, aber nicht als Regel vorkommt. Bei der Kopfjägerei kann es sich einmal um einen Nahrungskannibalismus handeln, oder es entwickelt sich ein kultischer Kannibalismus. Die Hominisation des Menschen bedeutet auch in seinem eigenen Selbstverständnis keineswegs nur den Erwerb durchgängig positiver Charakteristika, sondern ebenso ein System gesellschaftlicher Verhaltensweisen, die sogar seine biologische Existenz als Gattungswesen gezielt in Frage stellen. Der Kannibalismus ist erst dann möglich, wenn die inneren artspezifischen Tötungshemmungen während der Hominisation verloren gegangen sind. Das Auftreten des Kannibalismus 400000 Jahre v. u. Z. muß unter diesen Gesichtspunkten als ein beonderes Ubergangsstadium der Vergesellschaftung der Hominiden angesehen werden, in dem wesentliche instinktive Verhaltensbildungen verlorengehen und damit ein Freiraum für innersoziale Auseinandersetzungen entsteht, die Hinweise auf die besondere gesellschaftliche Natur des Frühmenschen geben. Zu den Konsequenzen des Verlustes instinktiver Aggressionsbindung ist dann auch die Generalisierung systematischer innerartlicher Auseinandersetzungen (Kriege) zu rechnen, die in dem Umfang als gesellschaftliche Ereignisse möglich sind, wie Aggression tradiert und erlernt werden kann. Kurth (1975) führt als eine Erklärungsmöglichkeit des Kannibalismus die unterschiedliche Lernfähigkeit in einzelnen Populationen an, deren Differenz keinen direkten Austausch mehr gestattet, da bereits gruppenspezifische Identifikationsmechanismen bestehen. Diese Hypothese ist deshalb interessant, weil sie zeigt, daß die ursprünglichen Formen der Subjektivität eben keineswegs an den objektiven Merkmalen der Species >Mensch< ausgerichtet waren, sondern aus dem unmittelbaren Sozial- und Tätigkeitsbereich abgeleitet wurden. Hominiden anderer Populationen konnten unter diesen 328

Bedingungen, obwohl ebenfalls menschliche Subjekte, leicht zum Fremdobjekt werden. Die Entstehung des Kannibalismus als extremster Form der Objektbehandlung eines Subjektes kann aber auch alternativ gerade durch die subjektive Spezifik des Handlungsobjekts erklärt werden, da z. B. die psychischen Wesenskräfte, die Tieren gerade fehlen, Ursache eines kultischen Kannibalismus werden können. Der Verzehr von Artgenossen ist zweifellos eine Subjekt-Subjekt-Beziehung, die nur für bestimmte Entwicklungsstadien der Hominiden typisch ist und noch einen sehr rohen gesellschaftlichen Zustand darstellt, da hier die intersubjektiven psychischen Beziehungen auf ein biologisches Verhältnis reduziert werden. Andererseits zeigt sich die spezifische Subjektivität der Frühmenschen in ihrer besonderen Spezifik, da hier die Beziehung zu anderen Subjekten in einer brutalen Weise objektiviert wird, der gegenüber erst allmählich eine soziale Tabuisierung einsetzt. Die Evolution der menschlichen Subjektivität besteht deshalb zu einem wesentlichen Teil im Paläolithicum darin, den anderen Menschen als Gegenstand und Objekt der eigenen Naturaneignung auszuklammern, da er zunächst als ein Beuteobjekt unter mehreren fungierte und ihm so schließlich als Gattungswesen eine Sonderstellung zuzubilligen. Die Abstraktionsleistung führt allmählich dazu, sich von der gruppenspezifischen Subjektivitätsvorstellung zu lösen und den Subjektbegriff in seiner umfassenden und objektiven Form durchzusetzen, der dann alle Individuen der Gattung Mensch einschließt. Ethnologische Untersuchungen haben jedoch gezeigt, daß eine derartige objektive Subjektvorstellung für das Denken der Naturvölker gerade nicht typisch ist, das sich deshalb als »magisches Denken< in wesentlichen Punkten von den logisch-diskursiven Abstraktionsleistungen des modernen Bewußtseins unterscheidet. Das magische Denken zeichnet sich vielmehr gerade dadurch aus, daß eine Unterscheidung zwischen Denken über die Realität und der Realität selbst noch nicht in der Art getroffen wird, wie sie in der Wissenschaftssprache als Subjekt-Objektverhältnis bezeichnet wird. Das Bewußtsein des Subjektes von sich selbst entwickelt sich erst inder weiteren Differenzierung des Produktionsprozesses und einer zunehmenden sozialen Kontrolle der Aktionen des Einzelindividuums, während bei frühen Denkformen die Subjektivität nur an soziale Gruppen gebunden auftritt und damit auch eine bestimmte kollektive Verantwortlichkeit für die Handlung einzelner besteht. Diese psychische Integration verdichtet sich noch bei eng verwandten Gruppenmitgliedern, die als nahezu identisch betrachtet werden können. Für das logisch-diskursive Denken sehr ungewöhnlich ist auch der Umfang der Gruppenbildung, da einerseits bestimmte Pflanzen und Tiere als verwandt mit angesehen werden, andererseits Kinder erst aufgenommen werden, wenn sie benannt sind. Die Einbeziehung von Naturgegenständen, wie sie über totemistische Klassifi329

kationen oder bestimmte Ahnen begründet werden, führt dann auch zu besonderen Verhaltensweisen, die ohne Kenntnis dieser Gruppenverwandtschaft unerklärlich bleiben. Dem magischen Denken fehlt damit die Einsicht in die wirklichen Kausalzusammenhänge sowohl der Gegenstände zueinander als auch seines Verhältnisses zu der Umwelt. Die in der Subjekt-Objekttrennung ausgesprochene Verdoppelung der Welt existiert nicht, sondern Ereignisse der Außenwelt erhalten nur dann eine Bedeutung, wenn sie in irgendeinem Zusammenhang mit dem eigenen Verhalten stehen. Dieses Kausalverständnis beschränkt sich aber nicht auf objektive Ursache-Wirkungs-Beziehungen, sondern postuliert z. B. über die Einführung totemistischer Ahnen auch nicht existierende Abhängigkeiten, die dann in einem starken Maße das eigene Verhalten wieder regulieren. Das magische Denken bewegt sich damit über teilweise komplizierte totemistische bzw. animistische Weltbilder innerhalb seiner eigenen Subjektivität, die natürlich immer bereits auch wesentliche objektive Erkenntnisse mit einschließt. Die Wirklichkeit wird auch dadurch kompliziert, daß nicht nur verschiedene Totenvorstellungen existieren, sondern sowohl Pflanzen wie auch Tiere und Menschen über >Doppelexistenzen< verfügen können. Zahlreiche soziale und kulturelle Riten dienen dann nur dazu, diese besonderen subjektiven Beziehungen, die dem Außenstehenden als Magie bzw. Zauberei erscheinen, in bestimmter Weise zu beeinflussen. Die Struktur des magischen Denkens bei Naturvölkern, die in ihren Einzelheiten teilweise sehr unterschiedlich interpretiert wird, zeigt, daß das Wissen um die Subjekt-Objekttrennung nicht automatisch mit den ersten Vergegenständlichungen entsteht, sondern hier nur in elementaren Vorformen entsteht. Der Möglichkeit nach ist es in der Vergegenständlichung und den individuellen Aneignungen bereits enthalten, da jede Vergegenständlichung immer bereits auch eine subjektive Individualität des Produzenten voraussetzt. Die Entwicklung der Vergegenständlichung ist deshalb immer zugleich auch ein Entwicklungsprozeß neuer Subjektivitätsformen, da das Subjekt das praktische, tätige Wesen ist, das Ziele und Werte setzt, das Objekt aber Gegenstand dieser Tätigkeit. Die Betrachtung des Subjektes als Objekt (z. B. in der psychologischen Theorienbildung) ist dann ein relativ spätes Produkt des Subjekt-Objektverhältnisses. Bereits im JungPaläolithicum ist es nicht nur zu ersten Vorformen der Trennung von Kopfund Handarbeit gekommen, sondern es entstanden mit Zauberern und Künstlern, die die totemistischen Riten organisierten, auch erste Formen der sozialen Arbeitsteilung, deren Weiterentwicklung dann auch die Ursache der Auflösung der besonderen Subjektivität des magischen Denkens wird.

330

Anhang

supenor

dorsal ventral anterior

dorsal posterior

Mediansagittale

caudal cranial proxn

ventral

m ventral

Morphologische Lagebezeichnungen des Gehirns und des Körpers bei Primaten. Nach Ankel (1970)

buccal distal

= auf der Wangenseite liegend = von der Körpermitte abgelegen, im Gebiß von der Mitte der Zahnfront abgelegen dorsal = rückenwärts gelegen dorsoventral = Richtung vom Rücken zum Bauch frontal = auf der Stirnseite liegend labial = zur Lippe gehörig lingual = auf der Zungenseite gelegen lateral = zur Körperseite hin gelegen medial = zur Mittelebene des Körpers hin gelegen Mediansagittale = dorsoventrale Mittelebene des Körpers mesial = zur Mitte der Zahnfront occipital = am Hinterhaupt liegend proximal = zur Körpermitte hin gelegen 331

sagittal

in dorsoventraler Richtung, rechtwinklig zur Vertikalachse des Körpers anterior or rostral coronal plane sagittal plane

ventral

Morphologische Lage-, Richtungs- und Achsenbezeichnungen

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Volker Schurig Die Entstehung des Bewußtseins ca. 400 Seiten, Pbck.

Irmgard Vogt Drogenpolitik 125 Seiten, Pbck.

Andreas Treppenhauer Emanzipatorische Psychologie 200 Seiten, Pbck.

G. G. Wendt Vererbung und Erbkrankheiten 140 Seiten, Pbck.

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Soziologie Daniel Bell Die nachindustrielle Gesellschaft 392 Seiten, geb. Eike Beierstedt, Wolfgang Glatzer Soziologischer Almanach 531 Seiten, Pbck. Wolfgang Zapf Soziale Indikatoren Bd. 1:303 Seiten, Pbck. Bd. 2: 308 Seiten, Pbck. Bd. 3: 357 Seiten, Pbck. Murray Edefman Politik als Ritual ca. 250 Seiten, Pbck. Jürgen Ritsert Wissenschaftsanalyse als Ideologiekritik 172 Seiten, Pbck.

Stefan Kirchberger Kritik der Schichtungs- und Mobilitätsforschung 207 Seiten, Pbck. Dirk Hülst Erfahrung - Gültigkeit - Erkenntnis 110 Seiten, Pbck. Peter Weingart (Hg.) Wissenschaftsforschung 257 Seiten, Pbck. Jürgen Ritsert (Hg.) Gründe und Ursachen gesellschaftlichen Handelns 226 Seiten, Pbck. Heinz Harald Abholz (Hg.) Krankheit und soziale Lage 211 Seiten, Pbck.

Ursula Koch Bürgerliche und sozialistische Forschungsmethoden? 160 Seiten, Pbck.

Hans-Joachim Pohl Ältere Arbeitnehmer 183 Seiten, Pbck.

Jürgen Ritsert, Elmar Stracke Grundzüge der Varianz- und Faktorenanalyse ca. 210 Seiten, Pbck.

Hans Braun, Ute Leitner (Hg.) Problem Familie ca. 200 Seiten, Pbck.

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