Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur plitischen Theorie 9783518290446

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Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur plitischen Theorie
 9783518290446

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Jürgen Habermas Die Einbeziehung des Anderen Studien zur politischen Theorie suhrkamp taschenbuch Wissenschaft

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Welche Konsequenzen ergeben sich heute aus dem universalistischen Gehalt republika­ nischer Grundsätze für pluralistische Ge­ sellschaften, in denen sich multikulturelle Gegensätze verschärfen; für Nationalstaaten, die sich zu supranationalen Einheiten zu­ sammenschließen; für Bürger einer Weltge­ sellschaft, die hinter ihrem Rücken zu einer unfreiwilligen Risikogemeinschaft vereinigt worden sind?

ISBN 978-3-518-29044-6

9 n7 8 3 5 1 81? 9 0 U 611 e 18,00 [D] e 18,50 [A] wwv.suhrkamp.de

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suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 1444

Die in Die Einbeziehung des Anderen enthaltenen Studien sind seit der Veröffentlichung von Faktizität und Geltung (1992) entstanden. Sie ver­ bindet das Interesse an der Frage, welche Konsequenzen sich heute aus dem universalistischen Gehalt republikanischer Grundsätze ergeben - und zwar für pluralistische Gesellschaften, in denen sich multikultureile Ge­ gensätze verschärfen; für Nationalstaaten, die sich zu supranationalen Einheiten zusammenschließen; für die Bürger einer Weltgesellschaft, die hinter ihrem Rücken zu einer unfreiwilligen Risikogemeinschaft vereinigt worden sind. Im ersten Teil verteidigt Habermas den vernünftigen Gehalt einer Moral der gleichen Achtung für jeden und der allgemeinen solidarischen Verant­ wortung des Einen für den Anderen. Der zweite Teil enthält eine Auseinandersetzung mit John Rawls. Dabei geht es Habermas u. a. darum, die Unterschiede zwischen dem Politischen Liberalismus und einem Kantischen Republikanismus, wie er ihn versteht, deutlich zu machen. Der dritte Teil soll zur Klärung der Kontroverse um die Zukunft des Nationalstaats beitragen, die in der Bundesrepublik seit der Wiederverei­ nigung von neuem aufgelebt ist. Der vierte Teil befaßt sich mit der Durchsetzung von Menschenrechten auf globaler und innerstaatlicher Ebene. Kants Konzeption des Weltbürger­ rechts wird im Lichte unserer historischen Erfahrungen revidiert. Der fünfte Teil erinnert an Grundannahmen der diskurstheoretischen Auffassung von Demokratie und Rechtsstaat. Deren Verständnis von deliberativer Politik erlaubt insbesondere eine Präzisierung der Gleichur­ sprünglichkeit von Volkssouveränität und Menschenrechten. Bereits im September 1992 hatte die Cardozo Law School in New York zur bevorstehenden Veröffentlichung von Faktizität und Geltung eine wissen­ schaftliche Konferenz veranstaltet. Der Anhang enthält Habermas’ aus­ führliche Replik auf die dort vorgetragenen Einwände.

Jürgen Habermas Die Einbeziehung des Anderen Studien zur politischen Theorie

Suhrkamp

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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie http://dnb.ddb.de suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 1444 Erste Auflage 1999 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1996 Suhrkamp Taschenbuch Verlag Alle Rechte Vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Printed in Germany Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt ISBN 978-3-518-29044-6

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Inhalt

Vorwort

i. Wie vernünftig

7

ist die

Autorität des Sollens?

1. Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral

11

11. Politischer Liberalismus - Eine Auseinandersetzung mit John Rawls

2. Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch . . . . 3. >Vernünftig< versus >Wahr< oder die Moral der Weltbilder

65 95

in. Hat der Nationalstaat eine Zukunft? 4. Der europäische Nationalstaat - Zu Vergangenheit und Zukunft von Souveränität und Staatsbürgerschaft .... 5. Inklusion - Einbeziehen oder Einschließen? Zum Verhält­ nis von Nation, Rechtsstaat und Demokratie . . 6. Braucht Europa eine Verfassung? Eine Bemerkung zu Dieter Grimm

iv. Menschenrechte -

128

154 185

global und innerstaatlich

7. Kants Idee des ewigen Friedens - aus dem historischen Abstand von 200 Jahren 8. Kampf um Anerkennung im demokratischen Rechtsstaat

192

*57

5

v. Was heisst >Deliberative Politik«?

\] 9. Drei normative Modelle der Demokratie 10. Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie

Anhang

zu

»Faktizität

und

277 293

Geltung«

Replik auf Beiträge zu einem Symposion der Cardozo Law

School

309

Nachweise . . Namenregister

401

6

399

Vorwort

Die vorliegenden Studien sind seit der Veröffentlichung von »Fak­ tizität und Geltung« (1992) entstanden. Sie verbindet das Interesse an der Frage, welche Konsequenzen sich heute aus dem universali­ stischen Gehalt republikanischer Grundsätze ergeben - und zwar für pluralistische Gesellschaften, in denen sich multikulturelle Ge­ gensätze verschärfen, für Nationalstaaten, die sich zu supranatio­ nalen Einheiten zusammenschließen, und für die Bürger einer Weltgesellschaft, die hinter ihrem Rücken zu einer unfreiwilligen Risikogemeinschaft vereinigt worden sind. Im ersten Teil verteidige ich den vernünftigen Gehalt einer Moral der gleichen Achtung für jeden und der allgemeinen solidarischen Verantwortung des einen für den anderen. Das postmoderne Miß­ trauen gegen einen rücksichtslos assimilierenden und gleichschal­ tenden Universalismus mißversteht den Sinn dieser Moral und bringt im Eifer des Gefechts jene relationale Struktur von Andersheit und Differenz zum Verschwinden, die ein wohlverstandener Universalismus gerade zur Geltung bringt. Ich hatte in der »Theo­ rie des kommunikativen Handelns« die Grundbegriffe so ange­ setzt, daß sie eine Perspektive für Lebensverhältnisse bilden, die die falsche Alternative von »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« spren­ gen. Dieser gesellschaftstheoretischen Weichenstellung entspricht in der Moral- und Rechtstheorie ein für Differenzen hoch emp­ findlicher Universalismus. Der gleiche Respekt für jedermann erstreckt sich nicht auf Gleichartige, sondern auf die Person des Anderen oder der Anderen in ihrer Andersartigkeit. Und das soli­ darische Einstehen für den Anderen als einen von uns bezieht sich auf das flexible »Wir« einer Gemeinschaft, die allem Substantiellen widerstrebt und ihre porösen Grenzen immer weiter hinaus­ schiebt. Diese moralische Gemeinschaft konstituiert sich allein über die negative Idee der Abschaffung von Diskriminierung und Leid sowie der Einbeziehung der - und des - Marginalisierten in eine wechselseitige Rücksichtnahme. Diese konstruktiv entwor­ fene Gemeinschaft ist kein Kollektiv, das uniformierte Angehörige 7

zur Affirmation der je eigenen Art nötigen würde. Einbeziehung heißt hier nicht Einschließen ins Eigene und Abschließen gegens Andere. Die »Einbeziehung des Anderen« besagt vielmehr, daß die Grenzen der Gemeinschaft für alle offen sind - auch und gerade für diejenigen, die füreinander Fremde sind und Fremde bleiben wol­ len. Der zweite Teil enthält eine Auseinandersetzung mit John Rawls, zu der mich Redaktion und Herausgeber des Journal of Philosophy eingeladen haben. Darin versuche ich zu zeigen, daß die Diskurs­ theorie besser geeignet ist, jene moralischen Intuitionen auf den Begriff zu bringen, die Rawls wie mich leiten. Meine Replik dient freilich auch dem Zweck, die Unterschiede zwischen dem Politi­ schen Liberalismus und einem Kantischen Republikanismus, wie ich ihn verstehe, deutlich zu machen. Der dritte Teil soll zur Klärung einer Kontroverse beitragen, die in der Bundesrepublik seit der Wiedervereinigung von neuem aufge­ lebt ist. Ich spinne den Faden weiter, den ich seinerzeit in einem Essay über »Staatsbürgerschaft und nationale Identität« aufgenom­ men habe.1 Aus dem romantisch inspirierten Begriff der Nation als einer völkisch verwurzelten Kultur- und Schicksalsgemeinschaft, die eine eigene staatliche Existenz beanspruchen darf, speisen sich immer noch problematische Überzeugungen und Einstellungen der Appell an ein vermeintliches Recht auf nationale Selbstbestim­ mung, die symmetrische Abwehr von Multikulturalismus und Menschenrechtspolitik sowie das Mißtrauen gegen die Übertra­ gung von Souveränitätsrechten auf supranationale Einrichtungen. Die Apologeten der Volksnation verkennen, daß uns gerade die eindrucksvollen historischen Errungenschaften des demokrati­ schen Nationalstaates und dessen republikanische Verfassungs­ prinzipien darüber belehren können, wie wir mit den aktuellen Problemen des unausweichlichen Übergangs zu postnationalen Vergesellschaftungsformen umgehen sollten. Der vierte Teil befaßt sich mit der Durchsetzung von Menschen­ rechten auf globaler und innerstaatlicher Ebene. Das Bicentenarium der Schrift zum Ewigen Frieden gibt Anlaß, Kants Konzepi Faktizität und Geltung (Suhrkamp), 632-660.

8

tion des Weltbürgerrechts im Lichte unserer historischen Erfah­ rungen zu revidieren. Die einstmals souveränen staatlichen Subjekte, die die völkerrechtliche Unschuldsvermutung längst ver­ spielt haben, dürfen sich nicht länger auf das Prinzip der Nichtein­ mischung in innere Angelegenheiten berufen. Zur Frage der humanitären Interventionen verhält sich die Herausforderung des Multikulturalismus spiegelbildlich. Auch hier suchen Minderhei­ ten vor der eigenen Regierung Schutz. Aber diese Diskriminierung nimmt, im Rahmen eines insgesamt legitimen Rechtsstaats, die subtilere Form der Majorisierung durch eine mit der allgemeinen politischen Kultur verschmolzene Mehrheitskultur an. Gegen den kommunitaristischen Vorschlag von Charles Taylor mache ich al­ lerdings geltend, daß eine »Politik der Anerkennung«, die die gleichberechtigte Koexistenz verschiedener Subkulturen und Le­ bensformen innerhalb desselben republikanischen Gemeinwesens sichern soll, ohne Kollektivrechte und Überlebensgarantien aus­ kommen muß. Der fünfte Teil erinnert an Grundannahmen der diskurstheoreti­ schen Auffassung von Demokratie und Rechtsstaat. Dieses Ver­ ständnis von deliberativer Politik erlaubt insbesondere eine Präzi­ sierung der Gleichursprünglichkeit von Volkssouveränität und Menschenrechten. Bereits im September 1992 hatte die Cardozo Law School in New York zur bevorstehenden Veröffentlichung von »Faktizität und Geltung« eine wissenschaftliche Konferenz veranstaltet. Der An­ hang enthält meine ausführliche Replik auf die dort dankenswer­ terweise vorgetragenen Einwände.

Starnberg, im Januar 1996

J.H.

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i. Eine genealogische Betrachtung

zum kognitiven Gehalt der Moral

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Moralische Sätze oder Äußerungen haben, wenn sie begründet werden können, einen kognitiven Gehalt. Um uns über den mög­ lichen kognitiven Gehalt der Moral klarzuwerden, müssen wir also prüfen, was es heißt, etwas »moralisch zu begründen«. Dabei müs­ sen wir den moriXtheoretischen Sinn dieser Frage, ob moralische Äußerungen überhaupt ein Wissen ausdrücken und wie sie gegebe­ nenfalls begründet werden können, von der phänomenologischen Frage unterscheiden, welchen kognitiven Gehalt die an solchen Konflikten Beteiligten selbst mit ihren moralischen Äußerungen verbinden. Von »moralisch begründen« spreche ich zunächst des­ kriptiv im Hinblick auf die rudimentäre Begründungspraxis, die in den alltäglichen Interaktionen der Lebenswelt ihren Ort hat. Hier äußern wir Sätze, die den Sinn haben, von anderen ein be­ stimmtes Verhalten zu fordern (also eine Verpflichtung einzukla­ gen), uns selbst auf eine Handlung festzulegen (eine Verpflichtung einzugehen), anderen oder uns Vorwürfe zu machen, Fehler einzu­ gestehen, eine Entschuldigung vorzubringen, Wiedergutmachung anzubieten usw. Auf dieser ersten Stufe dienen moralische Äuße­ rungen dazu, die Handlungen verschiedener Aktoren auf verbind­ liche Weise zu koordinieren. Die »Verbindlichkeit« setzt freilich die intersubjektive Anerkennung moralischer Normen oder einge­ wöhnter Praktiken voraus, die für eine Gemeinschaft auf überzeu­ gende Weise festlegen, wozu die Aktoren verpflichtet sind und was sie voneinander zu erwarten haben. »Auf überzeugende Weise« soll heißen, daß sich die Angehörigen einer moralischen Gemeinschaft auf diese Normen immer dann, wenn die Handlungskoordinierung auf der ersten Stufe versagt, berufen, um sie als präsumtiv überzeu­ gende »Gründe« für Ansprüche und kritische Stellungnahmen anzuführen. Moralische Äußerungen führen ein Potential von Gründen mit sich, das in moralischen Auseinandersetzungen aktualisiert werden kann. II

Moralische Regeln operieren selbstbezüglich; ihre handlungskoor­ dinierende Kraft bewährt sich auf zwei miteinander rückgekoppel­ ten Interaktionsstufen. Auf der ersten Stufe steuern sie soziales Handeln unmittelbar, indem sie den Willen der Aktoren binden und in bestimmter Weise orientieren; auf der zweiten Stufe regulie­ ren sie deren kritische Stellungnahmen im Konfliktfall. Eine Moral sagt nicht nur, wie sich die Mitglieder der Gemeinschaft verhal­ ten sollen; sie stellt zugleich Gründe für die konsensuelle Beile­ gung einschlägiger Handlungskonflikte bereit. Zum moralischen Sprachspiel gehören Auseinandersetzungen, die aus der Sicht der Beteiligten mit Hilfe eines allen gleichermaßen zugänglichen Be­ gründungspotentials überzeugend geschlichtet werden können. Aufgrund dieses internen Bezuges zur sanften Überzeugungskraft von Gründen empfehlen sich moralische Verpflichtungen, soziolo­ gisch betrachtet, als Alternative zu anderen, nicht verständigungs­ orientierten Arten der Konfliktlösung. Anders ausgedrückt, wenn der Moral ein glaubwürdiger kognitiver Gehalt fehlen würde, wäre sie den kostspieligeren Formen der Handlungskoordinierung (wie der direkten Gewaltanwendung oder der Einflußnahme über die Androhung von Sanktionen bzw. die Aussicht auf Belohnungen) nicht überlegen. Wenn wir den Blick auf moralische Auseinandersetzungen richten, müssen wir Gefühlsreaktionen in die Klasse der moralischen Äu­ ßerungen einbeziehen. Schon der zentrale Begriff der Verpflich­ tung bezieht sich nicht nur auf den Inhalt moralischer Gebote, sondern auf den eigentümlichen Charakter der Sollgeltung, der sich auch im Gefühl des Verpflichtetseins spiegelt. Kritische und selbstkritische Stellungnahmen zu Verstößen äußern sich in Ge­ fühlseinstellungen: aus der Sicht dritter Personen als Abscheu, Empörung und Verachtung, aus der Sicht der Betroffenen gegen­ über zweiten Personen als Gefühl der Kränkung oder als Ressenti­ ment, aus der Sicht der ersten Person als Scham und Schuld.1 Dem entsprechen Bewunderung, Loyalität, Dankbarkeit usw. als affir­ mative Gefühlsreaktionen. Weil diese Stellung nehmenden Gefühle implizit Uneile ausdrücken, korrespondieren ihnen Bewertungen. i Vgl. P. F. Strawson, Freedom and Resentment, London 1974« 12

Wir beurteilen Handlungen und Absichten als »gut« oder »schlecht«, während sich das Tugendvokabular auf Eigenschaften der handelnden Personen bezieht. Auch in diesen moralischen Ge­ fühlen und Bewertungen verrät sich der Anspruch, daß moralische Urteile begründet werden können. Von anderen Gefühlen und Be­ wertungen unterscheiden sie sich nämlich dadurch, daß sie mit rational einklagbaren Verpflichtungen verwoben sind. Wir verste­ hen diese Äußerungen eben nicht als Ausdruck bloß subjektiver Empfindungen und Präferenzen. Aus dem Umstand, daß moralische Normen für die Angehörigen einer Gemeinschaft »in Geltung sind«, folgt freilich noch nicht, daß sie, an sich betrachtet, einen kognitiven Gehalt haben. Ein soziologischer Beobachter mag ein moralisches Sprachspiel als so­ ziale Tatsache beschreiben und sogar erklären können, warum Angehörige von ihren moralischen Regeln »überzeugt« sind, ohne selbst in der Lage zu sein, die Plausibilität dieser Gründe und In­ terpretationen nachzuvollziehen.2 Ein Philosoph kann sich damit nicht zufriedengeben. Er wird die Phänomenologie der einschlägi­ gen moralischen Auseinandersetzungen vertiefen, um dahinterzu­ kommen, was die Angehörigen tun, wenn sie (glauben) etwas moralisch (zu) begründen.3 »Dahinterkommen« heißt freilich et­ was anderes, als Äußerungen geradehin zu »verstehen«. Der reflek­ tierende Nachvollzug der lebensweltlichen Begründungspraxis, an der wir als Laien selber teilnehmen, erlaubt rekonstruierende Übersetzungen, die ein kritisches Verständnis fördern. In dieser methodischen Einstellung erweitert der Philosoph die festgehal­ tene Beteiligurigsperspektive über den Kreis der unmittelbar Betei­ ligten hinaus. 2 Vgl. H.L. A. Hart hat diese Ansicht vertreten und die Einheit von Rechtssyste­ men auf Grund- oder Erkenntnisrcgeln zurückgeführt, die den Regelkorpus im ganzen legitimieren, ohne selbst einer rationalen Rechtfertigung fähig zu sein. Wie die Grammatik eines Sprachspiels, so wurzelt auch die »Erkenntnisregel« in einer Praxis, die ein Beobachter nur als Tatsache konstatieren kann, während sie für die Beteiligten eine einleuchtende kulturelle Selbstverständlichkeit darstellt, »die angenommen und als gültig unterstellt wird«. H. L. A. Hart, Der Begriff des Rechts, Frankfurt a. M. 1973, 155. 3 Vgl. die glänzende Phänomenologie des Moralbewußtseins in: L. Wingert, Ge­ meinsinn und Moral, Frankfun am Main 1993, Kap. 3.

Anhand der in der Moderne entwickelten moralphilosophischen Ansätze lassen sich die Ergebnisse solcher Bemühungen inspizie­ ren. Diese Theorien unterscheiden sich freilich im Grad der herme­ neutischen Bereitwilligkeit. Je nachdem, wie weit sie sich auf das von den Beteiligten intuitiv verwendete moralische Wissen einlas­ sen, gelingt es ihnen, vom kognitiven Gehalt unserer moralischen Alltagsintuitionen mehr oder weniger rekonstruktiv einzuholen. Der starke Nonkognitivismus will den kognitiven Gehalt der mo­ ralischen Sprache insgesamt als Illusion entlarven. Er versucht zu zeigen, daß sich hinter den Äußerungen, die den Teilnehmern als begründungsfähige moralische Urteile und Stellungnahmen er­ scheinen, nur subjektiv zurechenbare Gefühle, Einstellungen oder Entscheidungen verbergen. Zu ähnlich revisionistischen Beschrei­ bungen wie der Emotivismus (Stevensons) und der Dezisionismus (Poppers oder des frühen Hare) gelangt auch der Utilitarismus, der den »bindenden« Sinn von Wertorientierungen und Verpflichtun­ gen auf Präferenzen zurückführt. Anders als der strenge Nonkognitivismus ersetzt er allerdings das unaufgeklärte moralische Selbstverständnis der Beteiligten durch eine aus der Beobachter­ perspektive vorgenommene Nutzenkalkulation und bietet insofern eine moraltheoretische Begründung für das moralische Sprachspiel an. Insoweit berührt sich der Utilitarismus mit Formen eines schwa­ chen Nonkognitivismus, der dem Selbstverständnis der moralisch handelnden Subjekte, sei es im Hinblick auf moralische Gefühle (wie in der Tradition der schottischen Moralphilosophie) oder im Hinblick auf die Orientierung an geltenden Normen (wie im Kontraktualismus Hobbes’scher Prägung) Rechnung trägt. Der Revi­ sion verfällt jedoch das Selbstverständnis der moralisch urteilenden Subjekte. In ihren vermeintlich objektiv begründeten Stellungnah­ men und Urteilen sollen sich tatsächlich nur rationale Motive ausdrücken, seien es (zweckrational zu begründende) Gefühle oder Interessenlagen. Der schwache Kognitivismus läßt das Selbstverständnis der im All­ tag angetroffenen moralischen Begründungspraxis auch insoweit intakt, als er »starken« Wertungen einen epistemischen Status zu­ schreibt. Die reflexive Besinnung auf das, was für mich (bzw. uns) >4

aufs Ganze gesehen »gut« oder für meine (bzw. unsere) bewußte Lebensführung »maßgebend« ist, erschließt (im Gefolge von Ari­ stoteles oder Kierkegaard) eine Art kognitiven Zugang zu Wert­ orientierungen. Was jeweils wertvoll oder authentisch ist, drängt sich uns gewissermaßen auf und unterscheidet sich von bloßen Prä­ ferenzen durch eine bindende, nämlich über die Subjektivität von Bedürfnissen und Präferenzen hinausweisende Qualität. Revidiert wird allerdings das intuitive Verständnis von Gerechtigkeit. Aus der Perspektive einer je eigenen Konzeption des Guten erscheint die auf interpersonale Beziehungen zugeschnittene Gerechtigkeit nur als ein (wie immer auch prononcierter) Wert neben anderen Werten, nicht als kontextunabhängiger Maßstab für unparteiliche Urteile. Der starke Kognitivismus will auch noch dem kategorischen Gel­ tungsanspruch von moralischen Verpflichtungen gerecht werden. Er versucht, den kognitiven Gehalt des moralischen Sprachspiels auf ganzer Breite zu rekonstruieren. In der Kantischen Tradition geht es nicht wie im Neoaristotelismus um die Klärung einer mo­ ralischen Begründungspraxis, die sich innerhalb des Horizonts fraglos anerkannter Normen bewegt, sondern um die Begründung eines moralischen Gesichtspunktes, unter dem solche Normen selbst unparteilich beurteilt werden können. Hier begründet die Moraltheorie die Möglichkeit moralischen Begründens, indem sie den Gesichtspunkt rekonstruiert, den die Mitglieder posttraditionaler Gesellschaften selber intuitiv einnehmen, wenn sie angesichts problematisch gewordener moralischer Grundnormen nur noch auf Vernunftgründe rekurrieren können. Aber im Unterschied zu empiristischen Spielarten des Kontraktualismus werden diese Gründe nicht als aktorrelative Motive begriffen, so daß der epistemische Kern der Sollgeltung intakt bleibt. Ich werde zunächst die Ausgangssituation, in der die religiöse Gel­ tungsgrundlage der Moral entwertet wird, charakterisieren (n). Das ist der Hintergrund für eine genealogische Fragestellung, un­ ter der ich sodann die beiden Varianten des klassischen Empirismus (in), zwei interessante Versuche der Erneuerung des empiristi­ schen Erklärungsprogramms (iv-v) und die beiden auf Aristoteles (vi) und Kant (vn) zurückgehenden Traditionen prüfen möchte. IS

Das dient der Vorbereitung der beiden systematischen Fragen, wel­ che moralischen Intuitionen sich vernünftig rekonstruieren lassen (vm) und ob der diskurstheoretisch entfaltete Gesichtspunkt selbst begründet werden kann (ix).

II

Die Versuche, den »moralischen Gesichtspunkt« zu erklären, erin­ nern daran, daß die moralischen Gebote nach dem Zusammen­ bruch eines »katholischen«, für alle verbindlichen Weltbildes und mit dem Übergang zu weltanschaulich pluralistischen Gesellschaf­ ten nicht mehr von einem transzendenten Gottesstandpunkt aus öffentlich gerechtfertigt werden können. Von diesem Standpunkt jenseits der Welt ließ sich die Welt als ganze vergegenständlichen. Der »moralische Gesichtspunkt« soll diese Perspektive innerwelt­ lich rekonstruieren, d.h. in die Grenzen unserer intersubjektiv geteilten Welt selbst einholen, ohne die Möglichkeit der Distanzie­ rung von der Welt als ganzer - und damit die Universalität des weltumspannenden Blickes - einzubüßen. Mit diesem Perspekti­ venwechsel zu einer »Transzendenz von innen«4 stellt sich aber die Frage, ob aus der subjektiven Freiheit und der praktischen Ver­ nunft des gottverlassenen Menschen die spezifisch bindende Kraft von Normen und Werten überhaupt begründet werden kann - und wie sich dabei gegebenenfalls die eigentümliche Autorität des Sol­ lens verändert. Die moralischen Alltagsintuitionen sind in den profanen westlichen Gesellschaften noch durch die normative Sub­ stanz der gewissermaßen enthaupteten, rechtlich zur Privatsache erklärten religiösen Traditionen geprägt, insbesondere durch die Gehalte der jüdischen Gerechtigkeitsmoral des Alten und der christlichen Liebesethik des Neuen Testaments. Diese werden, wenn auch oft implizit und unter anderem Namen, über Sozialisa­ tionsprozesse weitergereicht. Eine Moralphilosophie, die sich als 4 J. Habermas, »Transzendenz von innen, Transzendenz ins Diesseits«, in: ders., Texte und Kontexte, Frankfurt am Main 1991, 127-156; dazu Th. M. Schmidt, »Immanente Transzendenz«, in: L. Hauser, E.Nordhofen (Hg.), Im Netz der Begriffe. Rcligionsphdosophische Analysen, Freiburg 1994, 78-96.

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Rekonstruktion des alltäglichen Moralbewußtseins versteht, steht damit vor der Herausforderung zu prüfen, was von dieser Substanz vernünftig gerechtfertigt werden kann. Die biblisch überlieferten prophetischen Lehren hatten Interpreta­ tionen und Gründe bereitgestellt, die den moralischen Normen öffentliche Überzeugungskraft verliehen haben; sie hatten erklärt, warum Gottes Gebote nicht blinde Befehle sind, sondern in einem kognitiven Sinn Geltung beanspruchen können. Nehmen wir ein­ mal an, daß es für Moral als solche auch unter den modernen Lebensbedingungen kein funktionales Äquivalent gibt, daß also das moralische Sprachspiel nicht durch eine bloße - und als solche wahrgenommene-Verhaltenskontrolle ersetzt werden kann. Dann stellt uns der phänomenologisch belegte kognitive Geltungssinn von moralischen Urteilen und Stellungnahmen vor die Frage, ob die Überzeugungskraft akzeptierter Werte und Normen so etwas wie ein transzendentaler Schein ist oder ob er auch unter nachme­ taphysischen Bedingungen gerechtfertigt werden kann. Die Moral­ philosophie muß nicht selbst die Gründe und Interpretationen beibringen, die in säkularisierten Gesellschaften an die Stelle der jedenfalls öffentlich - entwerteten religiösen Gründe und Interpre­ tationen treten; aber sie müßte die Art der Gründe und Interpreta­ tionen bezeichnen, die dem moralischen Sprachspiel auch ohne religiöse Rückendeckung eine hinreichende Überzeugungskraft si­ chern können. Im Hinblick auf diese genealogische Fragestellung möchte ich (i) an die monotheistische Geltungsgrundlage unserer moralischen Gebote erinnern und (z) die Herausforderung der modernen Ausgangssituation näher bestimmen. (i) Die Bibel führt moralische Gebote auf das geoffenbarte Wort Gottes zurück. Diesen Geboten ist unbedingt Gehorsam zu lei­ sten, weil sie durch die Autorität eines allmächtigen Gottes gedeckt sind. Insoweit wäre die Sollgeltung nur mit der Qualität eines »Müssens« ausgestattet, in dem sich die unbeschränkte Macht eines Souveräns spiegelt. Gott kann Nachachtung erzwingen. Diese vo­ luntaristische Deutung verleiht aber der Normgeltung noch keinen kognitiven Sinn. Den gewinnt sie erst dadurch, daß die morali­ schen Gebote als Willensäußerungen eines allwissenden sowie absolut gerechten und gütigen Gottes interpretiert werden. Die ■7

Gebote entspringen nicht der Willkür eines Allmächtigen, sondern sind Willensäußerungen eines ebenso weisen Schöpfer- wie gerech­ ten und gütigen Erlösergottes. Aus den beiden Dimensionen der Schöpfungsordnung und der Heilsgeschichte können ontotheologische und soteriologische Gründe für die Anerkennungswürdig­ keit der göttlichen Gebote gewonnen werden. Die ontotheologische Rechtfertigung beruft sich auf eine Einrich­ tung der Welt, die sich der weisen Gesetzgebung des Schöpfergot­ tes verdankt. Sie verleiht dem Menschen und der menschlichen Gemeinschaft inmitten der Schöpfung einen herausgehobenen Sta­ tus und damit ihre »Bestimmung«. Mit der Schöpfungsmetaphysik kommt jene naturrechtliche Begrifflichkeit kosmologisch begrün­ deter Ethiken ins Spiel, die auch aus den unpersönlichen Weltbil­ dern der asiatischen Religionen und der griechischen Philosophie bekannt ist. Was die Dinge ihrem Wesen nach sind, hat einen tele­ ologischen Gehalt. Auch der Mensch ist Teil einer solchen Wesens­ ordnung; an ihr kann er ablesen, wer er ist und sein soll. Der vernünftige Gehalt der moralischen Gesetze erfährt auf diese Weise eine ontologische Beglaubigung aus der vernünftigen Einrichtung des Seienden im ganzen. Die soteriologische Rechtfertigung moralischer Gebote beruft sich andererseits auf die Gerechtigkeit und Güte eines Erlösergottes, der am Ende aller Tage sein - an die Bedingung moralischen oder gesetzestreuen Lebenswandels geknüpftes - Heilsversprechen ein­ löst. Er ist Richter und Erlöser in einer Person. Im Lichte seiner Gebote beurteilt Gott die Lebensführung einer jeden Person nach Maßgabe ihrer Verdienste. Dabei verbürgt seine Gerechtigkeit ein Urteil, das der unvergleichlichen Lebensgeschichte jedes Einzelnen angemessen ist, während seine Güte zugleich der Fehlbarkeit des menschlichen Geistes und der Sündhaftigkeit der menschlichen Natur Rechnung trägt. Einen vernünftigen Sinn erhalten die mora­ lischen Gebote durch beides: dadurch, daß sie den Weg zum persönlichen Heil weisen, wie auch dadurch, daß sie unparteilich angewendet werden. Die Rede von moralischen »Geboten« ist freilich insofern irrefüh­ rend, als der Heilsweg nicht durch ein System von Regeln, sondern durch eine göttlich autorisierte und zur Nachahmung empfohlene 18

Lebensweise vorgezeichnet ist. Das ist beispielsweise der Sinn der Nachfolge Christi. Auch andere Weltreligionen, sogar die Philoso­ phie mit ihrem Ideal des Weisen und der vita contemplativa, verdichten die moralische Substanz ihrer Lehren zu exemplari­ schen Lebensformen. Das bedeutet, daß in religiös-metaphysi­ schen Weltdeutungen das Gerechte noch mit bestimmten Konzep­ tionen des guten Lebens verwoben ist. Wie wir uns in interperso­ nalen Beziehungen gegenüber jedermann verhalten sollen, ergibt sich aus einem Modell vorbildlicher Lebensführung. Im übrigen erlaubt der Bezugspunkt eines in persona auftretenden Gottes, der am Jüngsten Tage über je individuelle Schicksale zu Gericht sitzt, eine wichtige Differenzierung zwischen zwei Aspekten der Moral. Jede Person hat eine doppelte kommunikative Beziehung zu Gott, sowohl als Glied in der Gemeinde der Gläubi­ gen, mit der Gott einen Bund geschlossen hat, wie auch als lebensgeschichtlich individuierter Einzelner, der sich vor dem An­ gesichte Gottes durch niemanden vertreten lassen kann. Diese Kommunikationsstruktur prägt die - durch Gott vermittelte - mo­ ralische Beziehung zum Nächsten unter Gesichtspunkten der Soli­ darität und der (nun in einem engeren Sinne verstandenen) Gerechtigkeit. Als Mitglied der universalen Gemeinde der Gläubi­ gen bin ich dem anderen als Genossen, als »einem von uns«, solidarisch verbunden; als unvertretbarer Einzelner schulde ich dem anderen gleichmäßige Achtung als »einer von allen« Personen, die als unverwechselbare Individuen eine gerechte Behandlung er­ warten. Die auf Mitgliedschaft begründete »Solidarität« erinnert an das soziale Band, das alle vereinigt: einer steht für den anderen ein. Der unerbittliche Egalitarismus der »Gerechtigkeit« fordert hinge­ gen Sensibilität für die Unterschiede, die das eine Individuum vom anderen trennen: jeder verlangt vom anderen, in seiner Andersheit geachtet zu werden.5 Die jüdisch-christliche Tradition betrachtet Solidarität und Gerechtigkeit als zwei Aspekte derselben Sache: sie lassen dieselbe Kommunikationsstruktur von zwei verschiedenen Seiten sehen. 5 Zu »Gerechtigkeit« und »Solidarität« vgl. J. Habermas, Erläuterungen zur Dükursethik, Frankfurt am Main 199t, 15 ff. und 69 ff.; eine andere Fassung schlägt L. Wingert (1993), 179 ff., vor. 1?

I

(2) Mit dem Übergang zum weltanschaulichen Pluralismus zerfällt in modernen Gesellschaften die Religion und das darin wurzelnde Ethos als öffentliche Geltungsgrundlage einer von allen geteilten Moral. Die Geltung allgemein verbindlicher moralischer Regeln kann jedenfalls nicht mehr mit Gründen und Interpretationen er­ klärt werden, welche die Existenz und die Rolle eines transzenden­ ten Schöpfer- und Erlösergottes voraussetzen. Damit entfällt einerseits die ontotheologische Beglaubigung objektiv vernünftiger moralischer Gesetze, andererseits die soteriologische Verknüpfung ihrer gerechten Anwendung mit objektiv erstrebenswerten Heils­ gütern. Die Entwertung metaphysischer Grundbegriffe (und der entsprechenden Kategorie von Erklärungen) hängt im übrigen auch mit einer Verlagerung der epistemischen Autorität zusam­ men, die von den religiösen Lehren auf die modernen Erfahrungs­ wissenschaften übergeht. Mit den Wesensbegriffen der Metaphysik löst sich der interne Zusammenhang der assertorischen mit ent­ sprechenden expressiven, evaluativen und normativen Aussagen auf. Was »objektiv vernünftig« ist, läßt sich nur so lange begrün­ den, wie das Gerechte und das Gute im normativ imprägnierten Seienden selbst fundiert sind; was »objektiv erstrebenswert« ist, nur so lange, wie die Teleologie der Heilsgeschichte die Verwirkli­ chung jenes Zustandes vollkommener Gerechtigkeit garantiert, der zugleich ein konkretes Gutes in sich trägt. Unter diesen Umständen ist die Moralphilosophie auf ein »nach­ metaphysisches Begründungsniveau« angewiesen. Das soll zu­ nächst heißen, daß ihr methodisch der Gottesstandpunkt, inhalt­ lich der Rekurs auf Schöpfungsordnung und Heilsgeschichte und theoriestrategisch der Rückgriff auf jene Wesensbegriffe versagt ist, die die logische Differenzierung zwischen verschiedenen illokutionären Typen von Aussagen unterlaufen.6 Die Moralphilosophie muß ohne dieses Rüstzeug den kognitiven Geltungssinn morali­ scher Urteile und Stellungnahmen rechtfertigen. Vier Reaktionen auf diese Ausgangssituation erscheinen mir aller­ dings so unplausibel, daß ich darauf nicht weiter eingehen werde: - Der moralische Realismus will die ontologische Rechtfertigung 6 J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt am Main 1988. 20

von Normen und Werten mit nachmetaphysischen Mitteln restau­ rieren. Er verteidigt einen kognitiven Zugang zu etwas in der Welt, das die eigentümliche Energie besitzt, unsere Wünsche zu orientie­ ren und unseren Willen zu binden. Da diese Quelle des Normati­ ven nicht mehr aus der Verfassung der Welt im ganzen erklärt werden kann, verschiebt sich das Problem in den Bereich der Epi­ stemologie: für die an Tatsachenaussagen assimilierten Werturteile muß eine wahrnehmungsanaloge Erfahrungsgrundlage, eine intui­ tive Erfassung oder ideale Anschauung von Werten postuliert werden.7 — Der Utilitarismus bietet zwar ein Prinzip zur Begründung mo­ ralischer Urteile an; aber die Orientierung am erwarteten Gesamt­ nutzen einer Handlungsweise erlaubt keine angemessene Rekon­ struktion des Sinnes von Normativität überhaupt. Der Utilitaris­ mus verfehlt insbesondere den individualistischen Sinn einer Moral der gleichen Achtung für jedermann. 7 Zur Kritik vgl. J. L. Mackie, Ethics, N.Y. 1977, 38 ff. Heute hat sich die Argu­ mentationslage zugunsten des Realismus verändert. Die raffinierteste Version einer erkenntniskriüsch eingeführten, aber naturphilosophisch begründeten Wertethik im Anschluß an Plato und Aristoteles entwickelt J. McDowell, Mind and World, Cambridge, Mass. 1994, 82: »The ethical is a domain of rational requirements, which are there in any case, whether or not we are responsive to them. We are alerted to these demands by acquiring appropriate conceptual capacities. When a decent upbringing initiates us into the relevant way of thinking, our eyes are opened to this tract of the space of rcasons.« Den Schritt zum objektiven Idealismus vollzieht McDowell mit der Annahme eines organisch fundierten Bil­ dungsprozesses; in dessen Licht erscheint die praktische Vernunft als eine Natur­ anlage, die objektive Geltung beanspruchen darf: »Our Bildung actualizes some of the potentialities we are bom with; we do not have to suppose it introduces a non-animal ingredient into our Constitution. And although the structure of the space of reasons cannot be reconstructed out of facts about our involvement in the »realm of law«, it can be the framework within which meaning comes into view only because our eyes can be opened to it by Bildung, which is an element in the normal coming to maturity of the kind of animals we are. Meaning is not a mysterious gift from outside nature.« (88) McDowell verleugnet keineswegs den metaphysischen Anspruch dieser Konzeption, die ich hier nicht im einzelnen diskutieren kann: »The position is a naturalism of second nature, and I suggested that we can equally see it as a naturalized platonism. The idea is that the dictates of reason are there anyway, whether or not one’s eyes are opened to them; that is what happens in a proper upbringing.« (91) 21

- Die metaethisch begründete Skepsis führt, wie erwähnt, zu revi­ sionistischen Beschreibungen des moralischen Sprachspiels, die den Kontakt mit dem Selbstverständnis der Beteiligten verlieren. Sie können nicht erklären, was sie erklären wollen: moralische All­ tagspraktiken, die zusammenbrechen würden, wenn die Teilneh­ mer ihren moralischen Auseinandersetzungen jeden kognitiven Gehalt absprechen würden.8 - Der moralische Funktionalismus ist nicht in dem Sinne traditio­ nalistisch, als er zu vormodernen Begründungsmustern zurück­ kehrte. Er beschwört die Autorität erschütterter religiöser Tradi­ tionen um ihrer günstigen, das Moralbewußtsein stabilisierenden Folgen willen. Eine solche aus der Beobachtungsperspektive vor­ genommene funktionale Rechtfertigung kann aber die Autorität jener Gründe, die die Gläubigen überzeugt haben, nicht nur nicht ersetzen; sie zerstört wider Willen den kognitiven Gehalt der reli­ giös begründeten Moral, indem sie die epistemische Autorität des Glaubens nur noch als soziales Faktum behandelt.9

III

Die religiösen Lehren von Schöpfung und Heilsgeschichte hatten epistemische Gründe dafür geliefert, warum die göttlichen Gebote nicht blinder Autorität entspringen, sondern vernünftig oder »wahr« sind. Wenn sich nun die Vernunft aus der Objektivität von Natur oder Heilsgeschichte in den Geist der handelnden und urtei­ lenden Subjekte zurückzieht, müssen die »objektiv vernünftigen« Gründe für moralisches Urteilen und Handeln durch »subjektiv vernünftige« Gründe ersetzt werden.10 Nachdem die religiöse Gel8 Vgl. H. Lenk, »Kann die sprachanalytische Moralphilosophie neutral sein?« in: M. Riedel (Hg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Bd. n, Freiburg *974, 405-4229 Vgl. E.Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main 1993, 199 ff. 10 Zur Gegenüberstellung von objektiver und subjektiver Vernunft vgl. M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfun am Main 1967; H. Schnädelbach, An. »Vernunft«, in: E. Martens, H.Schnädelbach (Hg.), Phi­ losophie, Hamburg 1985. 77"115-

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tungsgrundlage entwertet ist, kann der kognitive Gehalt des mora­ lischen Sprachspiels nur noch mit Bezugnahme auf Willen und Vernunft seiner Teilnehmer rekonstruiert werden. »Wille« und »Vernunft« sind denn auch die Grundbegriffe der moraltheoreti­ schen Ansätze, die sich dieser Aufgabe stellen. Der Empirismus begreift praktische Vernunft als das Vermögen, die Willkür durch Maximen der Klugheit zu bestimmen, während Aristotelismus und Kantianismus nicht nur mit rationalen Motiven rechnen, sondern mit einer durch Einsicht motivierten Selbstbindung des Willens. Der Empirismus begreift die praktische als die instrumentelle Ver­ nunft. Es ist für einen Aktor vernünftig, so und nicht anders zu handeln, wenn das (erwartete) Handlungsresultat in seinem Inter­ esse liegt, ihn befriedigt oder für ihn angenehm ist. In einer bestimmten Situation zählen solche Gründe für einen bestimmten Aktor, der bestimmte Präferenzen hat und bestimmte Ziele ver­ folgt. »Pragmatisch« oder präferentiell nennen wir diese Gründe, weil sie zum Handeln motivieren und nicht, wie epistemische Gründe, Urteile oder Meinungen stützen. Sie bilden rationale Mo­ tive für Handlungen, nicht für Überzeugungen. Sie »affizieren« freilich die Willkür nur in dem Maße, wie sich das handelnde Sub­ jekt eine entsprechende Handlungsregel zu eigen macht. Dadurch unterscheidet sich vorsätzliches von spontan motiviertem Handeln überhaupt. Auch ein »Vorsatz« ist eine Disposition; aber diese kommt, etwa im Unterschied zur »Neigung«, nur durch Willkür­ freiheit zustande, nämlich dadurch, daß der Aktor eine Hand­ lungsregel adoptiert. Der Aktor handelt rational, wenn er aus Gründen handelt, und weiß, warum er einer Maxime folgt. Der Empirismus zieht nur pragmatische Gründe in Betracht, also den Fall, daß ein Aktor seine Willkür durch instrumentelle Vernunft an »Regeln der Geschicklichkeit« oder »Ratschläge der Klugheit« (wie Kant sagt) binden läßt. Damit gehorcht er dem Prinzip der Zweckrationalität: »Wer den Zweck will, will (sofern die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat) auch das dazu unentbehrliche Mittel, das in seiner Gewalt ist.« (Grundlegung der Metaphysik der Sitten, BA 45) Auf dieser Grundlage rekonstruieren die beiden klassischen An­ sätze des Empirismus den rationalen Kern der Moral. Die schotti-

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sehe Moralphilosophie setzt bei moralischen Gefühlen an und versteht unter Moral das, was den solidarischen Zusammenhalt einer Gemeinschaft stiftet (a). Der Kontraktualismus nimmt so­ gleich auf Interessen Bezug und versteht unter Moral das, was die Gerechtigkeit eines normativ geregelten gesellschaftlichen Ver­ kehrs sichert (b). Beide Theorien stoßen am Ende auf dieselbe Schwierigkeit: sie können die über die Bindungskraft der Klugheit hinausweisende Verbindlichkeit moralischer Verpflichtungen nicht allein mit rationalen Motiven erklären. (a) Moralische Stellungnahmen drücken Gefühle der Billigung und Mißbilligung aus. Diese versteht Hume als die typischen Regungen eines Dritten, der handelnde Personen aus wohlwollender Distanz beurteilt. Eine Übereinstimmung in der moralischen Beurteilung eines Charakters bedeutet mithin eine Konvergenz von Gefühlen. Auch wenn Billigung und Mißbilligung Sympathie und Ablehnung ausdrücken, also emotionaler Natur sind, ist es für einen Betrach­ ter rational, in dieser Weise zu reagieren. Denn wir schätzen eine Person als tugendhaft, wenn sie sich für uns und unsere Freunde als nützlich und angenehm (useful and agreeable) erweist. Diese Sym­ pathiebekundung erfüllt wiederum die tugendhafte Person mit Stolz und Befriedigung, während Tadel den Gescholtenen kränkt, also Unlust in ihm hervorruft. Deshalb gibt es auch für altruisti­ sches Verhalten pragmatische Gründe: Die von anderen gebilligte Benevolenz verschafft der für andere nützlichen und angenehmen Person selbst Befriedigung. Auf der Grundlage dieser Gefühlsein­ stellungen kann sich die sozialintegrative Kraft wechselseitigen Vertrauens herausbilden. Diese pragmatischen Gründe für moralische Stellungnahmen und Handlungen leuchten freilich nur so lange ein, wie wir an interper­ sonalen Beziehungen in kleinen solidarischen Gemeinschaften, etwa Familien und Nachbarschaften, denken. Komplexe Gesell­ schaften können nicht allein durch Gefühle, die wie Sympathie und Vertrauen auf den Nahbereich eingestellt sind, zusammengehalten werden. Moralisches Verhalten gegenüber Fremden erfordert »künstliche« Tugenden, vor allem die Disposition zur Gerechtig­ keit. Angesichts abstrakter Handlungsketten entgleiten den Ange­ hörigen primärer Bezugsgruppen die überschaubaren Reziprozitä24

ten zwischen Leistungen und Belohnungen - und damit die pragmatischen Gründe für Benevolenz. Vcrpflichtungsgefühle, die die Distanzen zwischen Fremden überbrücken, sind nicht in glei­ cher Weise »rational für mich« wie die Loyalität gegenüber Ange­ hörigen, auf deren Entgegenkommen ich mich wiederum verlassen kann. Soweit Solidarität die Kehrseite von Gerechtigkeit ist, spricht nichts gegen den Versuch, die Entstehung moralischer Pflichten aus der Übertragung von Primärgruppenloyalitäten auf immer größere Gruppen (oder aus der Umwandlung von persönli­ chem Vertrauen in »Systemvertrauen«) zu erklären.11 Aber eine normative Theorie bewährt sich nicht an Fragen der Moralpsycho­ logie; sie muß vielmehr den normativen Vorrang von Pflichten erklären. Sie soll in Fällen des Konflikts zwischen einer benevolen­ ten Gefühlsbindung einerseits und einem abstrakten Gebot der Gerechtigkeit andererseits erklären, warum es für Angehörige ra­ tional sein soll, ihre Loyalität gegenüber den von Angesicht zu Angesicht vertrauten Personen zugunsten einer Solidarität mit Fremden zurückzustellen. Für die Solidarität zwischen Angehöri­ gen einer unübersichtlich gewordenen Gemeinschaft moralischer Wesen, die gleiche Achtung verdienen, bieten aber Gefühle offen­ sichtlich eine zu schmale Basis.12 b) Der Kontraktualismus blendet von vornherein den Aspekt der 11 A. C. Baier, Moral Prejudices, Cambridge, Mass. 1994, 184 ff. Stau auf Sympa­ thie geht Baier auf das Phänomen des kindlichen Vertrauens zurück: »Trust... is letting other persons ... takc carc of something the truster cares about, wherc such »caring for< involves some exercise of discretionary powers« (105). Das hat den Vorzug, daß moralische Rücksicht phänomengetreu als eine facettenreiche Kompensation von Abhängigkeit und Verletzbarkeit beschrieben werden kann; aber zugleich den Nachteil, daß bei der Übertragung des an asymmetrischen Eltcrn-Kind-Beziehungen entwickelten Modells auf die symmetrischen Bezie­ hungen unter Erwachsenen das Problem der Vertrauenswürdigkeit und des Vertrauensmißbrauchs auftritt (vgl. Kapitel 6, 7 und 8). 12 Das Problem der Gefühlsbindung an Fremde kann auch nicht durch die Um­ stellung von Sympathie oder Vertrauen auf Mitleid gelöst werden. Obgleich unsere Fähigkeit, uns in leidensfähige Kreaturen einzufühlen, zweifellos weiter reicht als positive Gefühle gegenüber nützlichen, angenehmen und vertrauens­ würdigen Personen, ist Mitleid keine ausreichende Basis, um den gleichen Respekt gegenüber Anderen auch und gerade in ihrer nicht einfiihlbaren Andersheit zu begründen.

Solidarität aus, weil er die Frage nach der normativen Begründung eines Systems der Gerechtigkeit unmittelbar auf die Interessen des Einzelnen bezieht - und dabei die Moral von Pflichten auf Rechte umstellt. Die juristische Denkfigur des subjektiven Rechts auf ge­ setzlich gesicherte Spielräume der ungehinderten Verfolgung je eigener Interessen kommt einer Begründungstrategie entgegen, die mit pragmatischen Gründen operiert und auf die Frage abstellt, ob es für den Einzelnen rational ist, seinen Willen einem System von Regeln zu unterstellen. Weiterhin eignet sich die verallgemeinerte privatrechtliche Figur des Vertrages, der solche Rechte symme­ trisch begründet, für die Konstruktion einer auf freier Vereinba­ rung beruhenden Ordnung. Eine solche Ordnung ist gerecht oder im moralischen Sinne gut, wenn sie die Interessen ihrer Mitglieder gleichmäßig befriedigt. Der Gesellschaftsvertrag entspringt der Idee, daß jeder beliebige Anwärter ein rationales Motiv haben muß, um aus freien Stücken Mitglied zu werden und sich den ent­ sprechenden Normen und Verfahren zu unterwerfen. Der kogni­ tive Gehalt dessen, was die Ordnung zu einer moralischen oder gerechten Ordnung macht, beruht also auf der aggregierten Zu­ stimmung aller einzelnen Mitglieder; er erklärt sich genauer aus der Rationalität der Güterabwägung, die jeder von ihnen aus der eige­ nen Interessenperspektive vornimmt. Dieser Ansatz begegnet zwei Einwänden. Zum einen hat die An­ gleichung von moralischen Fragen an die Fragen der politischen Gerechtigkeit einer Assoziation von Rechtsgenossen13 den Nach­ teil, daß auf dieser Basis ein gleichmäßiger Respekt gegenüber jedermann, also eine universalistische Moral nicht begründet wer­ den kann. Nur für diejenigen, die ein Interesse an einer geregelten Interaktion miteinander haben, ist es rational, gegenseitig Ver­ pflichtungen einzugehen. So kann sich der Kreis der Berechtigten nur auf Personen erstrecken, von denen, weil sie kooperieren wol­ len oder müssen, Gegenleistungen zu erwarten sind. Zum anderen kämpft der Hobbismus vergeblich mit dem bekannten Problem des Trittbrettfahrers, der sich auf die gemeinsame Praxis nur mit dem 13 Vgl. Mackie (1977); ders., »Can there be a right-based Moral Theory?«, in: Waldron (Ed.), Theories of Right, Oxford 1984, 168-181.

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Vorbehalt einläßt, bei günstiger Gelegenheit von den vereinbarten Normen auch abweichen zu können. An der Figur des >free rider’s« zeigt sich, daß eine Vereinbarung zwischen Interessenten nicht per se Verpflichtungen begründen kann. Dieses Problem hat zu einer interessanten Verbindung der beiden empiristischen Erklärungsstrategien geführt. Ein innerer Vorbehalt gegenüber formell anerkannten Normen wird unmöglich, sobald Normenverstöße nicht mehr durch äußerlich imponierte, sondern durch verinnerlichte Sanktionen, also durch Gefühle der Scham oder Schuld geahndet werden.14 Dieser Erklärungsversuch schei­ tert aber prima facie an der Schwierigkeit, Gefühle der Selbstbe­ strafung rational zu erklären. Es kann kein rationales Motiv dafür geben, innere Sanktionen dieser Art »haben zu wollen«.15 Schon aus begrifflichen Gründen kann es nicht »rational für mich« sein, ein schlechtes Gewissen unhinterfragt ernst zu nehmen und gleich­ zeitig zum Gegenstand einer praktischen Überlegung zu machen, also doch zu hinterfragen. Soweit wir moralisch handeln, handeln wir so, weil wir das für richtig oder gut halten, und nicht etwa, weil wir innere Sanktionen vermeiden möchten. »Verinnerlicht« heißen genau die Sanktionen, die wir uns zu eigen gemacht haben. Allein, das Zueigenmachen selbst ist nicht zweckrational zu erklären, je­ denfalls nicht aus der Perspektive des Betroffenen: für ihn ist nicht schon rational, was für die Regulierung der Gemeinschaft im gan­ zen funktional sein mag.16 Sowenig wie von moralischen Gefühlen der Sympathie und der Ablehnung ein gerader Weg zur zweckrationalen Begründung von Pflichten führt, so wenig führt von der kontraktualistischen Be­ gründung einer normativen Ordnung ein Weg zurück zu Gefühlen der internalisierten Mißbilligung. Moralische Gefühle drücken Stellungnahmen aus, die moralische Urteile implizieren; und über die Gültigkeit moralischer Urteile streiten wir im Konfliktfall nicht nur mit pragmatischen oder präferentiellen Gründen. Der klassi­ sche Empirismus wird diesem Phänomen nicht gerecht, weil er

14 Vgl. E.Tugendhat, »Zum Begriff und zur Begründung von Moral«, in: ders.» Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 1992, 315-333* 15 E. Tugendhat (1993), 75. 16 Vgl. J. Elster, The Cement of Society, Cambridge 1989, Kap. 3. 27

epistemische Gründe ausschließt. Er kann die verpflichtende Kraft moralischer Normen letztlich nicht aus Präferenzen erklären.

IV

Auf diese Verlegenheit reagieren zwei neuere Versuche, die an em­ piristischen Voraussetzungen festhalten und gleichwohl der Phä­ nomenologie verpflichtender Normen gerecht werden wollen. Allan Gibbard folgt eher der expressivistischen Linie der Erklä­ rung eines solidarischen Zusammenlebens, Ernst Tugendhat eher der kontraktualistischen Linie der Rekonstruktion eines gerechten Zusammenlebens. Aber beide gehen von derselben Intuition aus. Jede Moral löst, funktional betrachtet, Probleme der Handlungs­ koordination zwischen Wesen, die auf soziale Interaktion angewie­ sen sind. Das moralische Bewußtsein ist Ausdruck der legitimen Forderungen, die kooperative Mitglieder einer sozialen Gruppe aneinander richten dürfen. Moralische Gefühle regulieren die Ein­ haltung der zugrundeliegenden Normen. Scham und Schuld signa­ lisieren einer ersten Person, daß sie, wie Tugendhat sagt, als »kooperatives Mitglied« oder als »guter Sozialpartner« versagt hat.17 Gibbard sagt zu diesen Gefühlen: »(they are) tied to poor cooperative will - to a special way a social being can fail to be a good candidate for inclusion in cooperative schemes«18. Beide Autoren wollen die Rationalität der Entstehung bzw. der Wahl von Moral überhaupt, aber auch die einer universalistischen Vernunft­ moral nachweisen. Während Tugendhat an der subjektiven Per­ spektive der Beteiligten festhält, schlägt Gibbard den objektivie­ renden Weg über eine funktionale Erklärung ein. Anders als Kant, der Normen nur als Handlungsmaximen versteht, gebraucht Gibbard den Begriff der Norm für alle Arten von Stan­ dards, die sagen, warum es für uns rational ist, eine Meinung zu haben, ein Gefühl zu äußern oder in bestimmter Weise zu handeln. Bestimmte Meinungen zu haben, kann auf die gleiche Weise für 17 Tugendhat (1993), 29 und 91. 18 A. Gibbard, Wise Choices, Apt Feelings, Harvard U.P., 1992, 296. 28

mich rational sein, wie bestimmte Gefühle zu äußern oder Hand­ lungsabsichten auszuführen. Daß etwas »für mich rational« ist, bedeutet, daß ich mir Normen zu eigen gemacht habe, in deren Licht es »sinnvoll« oder »angebracht«, »plausibel« oder einfach »am besten« ist, etwas zu glauben, zu fühlen oder zu tun. Mora­ lisch nennt Gibbard sodann die Normen, die für eine Gemein­ schaft festlegen, welche Klassen von Handlungen spontane Mißbil­ ligung verdienen. Sie bestimmen, in welchen Fällen es für die Angehörigen rational ist, sich zu schämen oder schuldig zu fühlen oder sich über das Verhalten anderer zu empören. Der inklusive Gebrauch des Normbegriffs schließt aus, daß Gibbard wie Kant die Rationalität des Handelns (nach dem erwähnten Prinzip der Zweckrationalität) auf Gründe zurückführen kann, aus denen der Aktor seinen Willen an diese oder jene Maxime bindet. Wenn aber alle rationalen Motive auf bereits zugrundeliegende Standards ver­ weisen, kann nicht wiederum danach gefragt werden, warum es rational gewesen ist, solche Standards überhaupt zu verinnerlichen. Der Umstand, daß jemand etwas für rational hält, bringt bloß zum Ausdruck, daß die Standards, die dieses Urteil autorisieren, seine Standards sind. Deshalb versteht Gibbard die Äußerung von Ra­ tionalitätsurteilen, ob nun moralischer oder nicht-moralischer Art, als expressive Sprechhandlungen. Sie können nicht wahr oder falsch, sondern nur wahrhaftig oder unwahrhaftig sein. Auch die aktorrelative Verbindlichkeit von moralischen Regeln ist allein durch einen aufrichtig geäußerten mentalen Zustand beglau­ bigt.” Nach dieser »expressivistischen« Erklärung von Normativität tut Gibbard zwei Züge. Er gibt aus der Perspektive eines Beobachters zunächst eine evolutionstheoretische Erklärung für moralische Normen überhaupt und versucht dann, den biologischen »Wert« der Moral wieder in die Teilnehmerperspektive einzuholen, d. h., aus der theoretischen Sprache einer »Biologie der Handlungskoor­ dination« in die Sprache praktischer Überlegungen zu überset­ zen. Die vorgeschlagene neodarwinistische Erklärung besagt, daß sich 19 Gibbard (1991), 84. 2?

moralische Gefühle wie Scham und Schuld als koordinationswirk­ same Regulatoren im Laufe der Evolution der menschlichen Gat­ tung herausgebildet haben. Die Normativität der Regeln, die es für die Mitglieder kooperierender Gruppen rational erscheinen lassen, solche Gefühle zu haben, also normabweichendes Verhalten zu mißbilligen und korrespondierende Entschuldigungen als Repara­ tur für eine mißlungene Handlungskoordinierung anzubieten oder zu erwarten, besitzt keine für die Beteiligten selbst erkennbare Ra­ tionalität. Aber für einen Beobachter erklärt sich die Autorität, die sich in den Rationalitätsurteilen der Beteiligten offenbart, aus dem »Reproduktionswert« der verinnerlichten Normen und der ent­ sprechenden Gefühlseinstellungen. Daß sie evolutionär vorteilhaft sind, soll in der Tatsache ihres subjektiv überzeugenden Charakters zum Ausdruck kommen. Die eigentlich philosophische Aufgabe besteht nun darin, eine plausible Verbindung herzustellen zwi­ schen dem, was für den Beobachter funktional ist, und dem, was vom Beteiligten für rational gehalten wird. Dieses Problem wird spätestens dann aktuell, wenn sich die Aktoren nicht länger auf verinnerhchte Normen verlassen, sondern sich explizit darüber auseinandersetzen, welche Normen sie als gültig akzeptieren soll­ ten. Die Sprache funktioniert ohnehin als wichtigstes Medium der Handlungskoordinierung. Moralische Urteile und Stellungnah­ men, die sich auf verinnerlichte Normen stützen, äußern sich in einer emotionsgeladenen Sprache. Wenn aber der normative Hin­ tergrundkonsens zusammenbricht und neue Normen erarbeitet werden müssen, bedarf es einer anderen Form der Kommunika­ tion. Die Beteiligten müssen dann auf die orientierende Kraft »normativer Diskurse« vertrauen: »I shall call this influence nor­ mative govemance. It is in this governance of action, belief and emotion that we might find a place for phenomena that constitute acceptance of norms, as opposed to merely internalizing them. When we work out at a distance, in community, what to do or think or feel in a Situation we are discussing, we come to accept norms for the Situation.«20 20 Gibbard (1992), 72f.



Es ist freilich nicht ganz klar, worauf sich die von solchen Diskur­ sen erwartete »normative Anleitung« stützen kann. Gute Gründe können es nicht sein, denn diese entlehnen ihre rational motivie­ rende Kraft verinnerlichten Standards, die nach Voraussetzung ihre Autorität eingebüßt haben - sonst wäre ein Bedarf an diskursiver Verständigung nicht entstanden. Was die Teilnehmer zum Gegen­ stand der Diskussion machen müssen, kann ihnen nicht zugleich in der Diskussion als Maßstab dienen. Die diskursive Verständigung über moralische Normen kann Gibbard nicht nach dem Muster kooperativer Wahrheitssuche begreifen, sondern als Prozeß der ge­ genseitigen rhetorischen Beeinflussung. Ein Proponent, der um Zustimmung für eine aus seiner Sicht aner­ kennungswürdige Norm wirbt, kann nichts anderes tun, als den subjektiven Zustand, in dem er selbst die Norm als verpflichtend empfindet, aufrichtig zum Ausdruck zu bringen. Wenn ihm das auf authentische Weise gelingt, kann er seine Gesprächspartner damit »anstecken«, bei ihnen also ähnliche Gefühlszustände induzieren. Auf diese Weise wird in normativen Diskursen die gegenseitige Überzeugung durch so etwas wie reziproke Einstimmung ersetzt. Interessanterweise sollen für diese Art der rhetorischen Beeinflus­ sung die öffentlichen, egalitären und zwanglosen Kommunika­ tionsbedingungen eines sokratischen Dialoges am günstigsten sein. Die »konversationellen Beschränkungen«, denen dieser Dialog un­ terliegt, sind (mit Ausnahme der geforderten Kohärenz der Bei­ träge) pragmatischer Natur.21 Sie sollen Exklusion, also den unmotivierten Ausschluß von Betroffenen, sowie die Privilegie­ rung von Sprechern und Themen, also Ungleichbehandlung, ver­ hindern; sie sollen auch Repression und Manipulation, Einfluß­ nahme mit nicht-rhetorischen Mitteln ausschalten. Diese Kommu­ nikationsbedingungen gleichen den pragmatischen Voraussetzun- ' gen einer kooperativen Wahrheitssuche aufs Haar.22 So nimmt es 21 Gibbard (1992), 193: »A Speaker treats what he is saying as an objecuve matter of rationality if he can demand its acceptance by everybody. More precisely, the test is this: could he coherentiy make his demands, revealing their grounds, and still not browbeat his audience? What makes for browbeating in this test is a quesüon of conversaüonal inhibitions and embarassments.« 22 Gibbard (1992), 195 Fn. 2, verweist selbst auf die Diskurstheorie.

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nicht wunder, daß die Normen, die unter diesen Bedingungen Zu­ stimmung finden, am Ende auf eine Moral der gleichen solidari­ schen Verantwortung für jedermann hinauslaufen. Da der diskur­ sive Prozeß nicht auf die Mobilisierung der besseren Gründe, sondern auf die Ansteckungskraft der eindrucksvolleren Expres­ sionen zugeschnitten ist, kann von »Begründung« nicht die Rede sein. Gibbard muß deshalb erklären, warum unter den pragmatisch aus­ gezeichneten Kommunikationsbedingungen genau die Normen Zustimmung finden sollten, die sich unter dem funktionalen Ge­ sichtspunkt ihres objektiv hohen artspezifischen »Überlebens­ werts« als die besten herausstellen: »In normative discussion we are influenced by each other, but not only by each other. Mutual influence nudges us towards Consensus, if all goes well, but not toward any Consensus whatsoever. Evolutionary considerations suggest this: Consensus may promote biological fitness, but only the consensus of the right kind. The consensus must be mutually fitness-enhancing, and so to move toward it we must be responsive to things that promote our biological fitness.«23 Gibbard erkennt das Problem, daß die aus der objektiven Untersuchungsperspektive gewonnenen Ergebnisse mit den Ergebnissen zusammengeführt werden müssen, von denen sich die Diskursteilnehmer aus ihrer Perspektive als vernünftig überzeugen. Aber eine Erklärung sucht man vergebens. Man erfährt nicht, warum die unwahrscheinlichen Kommunikationsbedingungen normativer Diskurse in demselben Sinne »selektiv« sein und zum gleichen Resultat einer Steigerung der kollektiven Überlebenswahrscheinlichkeit führen sollten wie die Mechanismen der natürlichen Evolution.24

23 Gibbard (1992), 223. 24 Das kann auch nicht dadurch gesichert werden, daß sich die Diskursteilnehmer die biologische Beschreibung zu eigen machen; denn eine solche objektivierende Selbstbeschreibung würde entweder das praktische Selbstverständnis hand­ lungsfähiger Subjekte zerstören - oder beim Wechsel von der Beobachter- zur Teilnehmerperspektive ihren Sinn wesentlich verändern.

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V

Ernst Tugendhat vermeidet den problematischen Umweg über eine funktionalistische Erklärung der Moral. Zunächst beschreibt er, wie moralische Regelsysteme im allgemeinen funktionieren und welche Motive wir haben können, überhaupt moralisch zu sein (a), um dann zu fragen, welche Art von Moral wir unter nachmetaphy­ sischen Bedingungen vernünftigerweise wählen sollten (b). (a) Anders als der Kontraktualismus beginnt Tugendhat mit einem vollen Begriff der moralischen Gemeinschaft. Dazu gehört das Selbstverständnis derer, die sich an moralische Regeln gebunden fühlen, also »ein Gewissen haben«, moralische Gefühle äußern, sich über moralische Urteile mit Gründen streiten usw. Die Mit­ glieder glauben zu »wissen«, was im kategorischen Sinne jeweils »gut« und »böse« ist. Nachdem er dieses Paket geschnürt hat, prüft Tugendhat, ob es für einen beliebigen Anwärter rational ist, einer solchen im ganzen beschriebenen moralischen Praxis beizutreten, d. h., ein kooperationsbereites Mitglied irgendeiner moralischen Gemeinschaft zu werden: »Daß wir überhaupt einer moralischen Gemeinschaft angehören wollen ..., ist letztlich ein Akt unserer Autonomie, und dafür kann es nur gute Motive, keine Gründe geben.«25 Tugendhat versteht unter »Autonomie« nur die Fähigkeit zu einem regelgeleiteten Handeln aus rationalen Motiven. Die praktischen Gründe, die er dann aufzählt, sprengen den empiristi­ schen Rahmen von wertfreien Klugheitserwägungen. Tugendhat nennt nämlich keineswegs vormoralisch gegebene Interessen, son­ dern Wertorientierungen, die sich allein im Erfahrungszusammen­ hang einer moralisch verfaßten Gemeinschaft gebildet haben können. So ist es etwa rational für mich, einer moralischen Ge­ meinschaft beizutreten, weil ich es gegenüber dem Objektstatus gegenseitiger Instrumentalisierung vorziehe, Subjekt und Adressat von Rechten und Pflichten zu sein; oder weil balancierte Freund­ schaftsbeziehungen für mich besser sind als die strukturelle Ein­ samkeit eines strategisch handelnden Aktors; oder weil ich nur als Mitglied einer moralischen Gemeinschaft die Befriedigung erfahre, 1} Tugendhat (1995), 29.

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von moralisch achtenswerten Personen selber geachtet zu werden, usw. Die Präferenzen, die Tugendhat für den Beitritt zu einer morali­ schen Gemeinschaft nennt, sind bereits durch die Werte einer solchen Gemeinschaft imprägniert; sie sind von vorgängigen, in­ tersubjektiv geteilten Wertorientierungen abhängig. Jedenfalls er­ klären diese Motive nicht, warum es für Aktoren, die sich im vormoralischen Zustand befinden und nur diesen kennen, rational sein könnte, in einen moralischen Zustand überzutreten. Wer sich für seinen Entschluß zu einem moralischen Leben Gründe zu­ rechtlegt, die nur aus der Reflexion auf die bereits erfahrenen Vorzüge eines moralisch geregelten Interaktionszusammenhangs stammen können, hat die egozentrische Sicht rationaler Wahl auf­ gegeben und orientiert sich statt dessen an Konzeptionen des guten Lebens. Er stellt seine praktische Überlegung unter die ethische Fragestellung: welche Art von Leben er führen sollte, wer er ist und sein will, was im ganzen und auf lange Sicht »gut« für ihn ist usw. Gründe, die unter diesen Gesichtspunkten zählen, gewinnen motivierende Kraft nur insoweit, wie sie die Identität und das Selbstverständnis eines von einer moralischen Gemeinschaft be­ reits geformten Aktors berühren. So versteht (und akzeptiert) auch Martin Seel das Argument. Ob­ wohl das Glück eines gelingenden Lebens nicht in einem morali­ schen Leben liegt, gibt es aus der Sicht eines um sein gutes Leben besorgten Subjekts vernünftige Gründe, sich überhaupt auf mora­ lische Verhältnisse (welcher Art auch immer) einzulassen. Schon aus der ethischen Perspektive läßt sich erkennen, daß es außerhalb einer moralischen Gemeinschaft kein gutes Leben geben kann. Freilich heißt das nur, »daß es notwendige Überschneidungen zwi­ schen einem guten und einem moralisch guten Leben gibt, nicht hingegen, daß ein gutes Leben nur in den Grenzen eines moralisch guten Lebens möglich wäre«.26 Aber Tugendhat interessiert sich weniger für das Verhältnis des guten Lebens zur Moral als vielmehr für die ethische Begründung des Moralischseins. Und diese muß, wenn man wie Tugendhat zu Recht auf der Differenz zwischen 16 M.Seel, Versuch über die Form des Glücks, Frankfurt am Main 1995. 206.

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dem je eigenen Guten und der moralischen Rücksichtnahme auf die Interessen anderer beharrt, auf eine Paradoxie hinauslaufen: Soweit sich ein Aktor durch Gründe ethischer Art davon überzeu­ gen läßt, daß er moralische vormoralischen Lebensumständen vor­ ziehen sollte, relativiert er den verpflichtenden Sinn der morali­ schen Rücksichtnahme auf andere, dessen kategorische Geltung er unter diesen Umständen anerkennen müßte. Seel registriert den Umstand, daß »moralische Rücksicht... gegen­ über den präferentiellen Gründen, die wir haben, um überhaupt moralische Rücksicht zu üben, (transzendent ist)«27, aber er zieht daraus nicht die richtige Folgerung.28 Eine ethische Begründung des Moralischseins bedeutet ja nicht, daß sich jemand durch präferentielle Gründe motivieren läßt, sich »mit Gründen einer ganz anderen Art zu konfrontieren«; vielmehr verlieren die Gründe, die innerhalb des moralischen Sprachspiels allein zählen, durch eine Relationierung zum selbstbezogenen Interesse am Sprachspiel als solchem ihren illokutionären Sinn - eben Gründe für moralische, und das heißt: unbedingte Forderungen zu sein. Falls der Aktor, der sich des Vorzugs einer moralischen Lebensweise vergewissert, derselbe ist, der sich infolge dieser Präferenz auf solche Verhält­ nisse einläßt, verändert seine ethische Begründung, die das morali­ sche Sprachspiel im ganzen konditioniert, zugleich den Charakter der in ihm möglichen Züge. Denn ein moralisches Handeln »aus Achtung vor dem Gesetz« ist unvereinbar mit dem ethischen Vor­ behalt, jederzeit zu prüfen, ob sich auch die Praxis im ganzen aus der Perspektive des je eigenen Lebensentwurfs lohnt. Aus begriff­ lichen Gründen kann der kategorische Sinn moralischer Verpflich­ tungen nur so lange intakt bleiben, wie den Adressaten die Möglichkeit verwehrt ist, auch nur virtuell jenen Schritt hinter die moralische Gemeinschaft zurückzutreten, der nötig ist, um aus

27 Seel (1995), 203 f. 28 Seel (1993), 203: »Zwar läßt sich auf die Frage »Wozu moralisch sein?« durchaus noch — ja: allein - eine präferentiell begründete Antwort geben: weil nur das Moralischsein die Welt freundschaftlichen und solidarischen Zusammenseins mit anderen eröffnet; aber mit diesem präferentiell begründeten Schritt lassen wir uns auf Verhaltensmuster ein, die in keiner Weise auf präferentiell begrün­ dete Orientierungen rückführbar sind.« (203) 35

dem Abstand und aus der Perspektive der ersten Person die Vorund Nachteile einer Mitgliedschaft überhaupt abzuwägen. Ebenso­ wenig führt umgekehrt von der ethischen Reflexion ein Weg zur Begründung der Moral. (b) Selbst wenn sich der Traum des Empirismus erfüllen und wenn die Reflexion auf das eigene Interesse eine nachvollziehbare Dyna­ mik entfalten würde, die - im Sinne unbedingter moralischer Rücksichtnahme - über die Verfolgung des eigenen Interesses »hin­ austreibt«, wäre das eigentliche Problem noch nicht gelöst. Die erwähnten ethischen Gründe erklären bestenfalls, warum wir uns auf irgendein moralisches Sprachspiel einlassen sollen, aber nicht: auf welches. Tugendhat gibt diesem Problem die Form einer genea­ logischen Fragestellung. Nach dem Verlust der traditionalen Gel­ tungsgrundlage ihrer gemeinsamen Moral müssen sich die Beteilig­ ten gemeinsam überlegen, auf genau welche moralischen Normen sie sich verständigen sollten. In dieser Angelegenheit kann niemand mehr Autorität als irgendein anderer beanspruchen; alle Gesichts­ punkte für einen privilegierten Zugang zur moralischen Wahrheit sind entwertet. Auf die Herausforderung dieser Situation hatte der Gesellschaftsvertrag keine befriedigende Antwort geben können, weil aus einer interessengeleiteten Vereinbarung zwischen Ver­ tragspartnern bestenfalls eine von außen auferlegte soziale Verhal­ tenskontrolle, aber keine verpflichtende Konzeption des gemeinsa­ men, gar universalistisch begriffenen Guten hervorgeht. Tugendhat beschreibt die Ausgangssituation in ähnlicher Weise, wie ich es vorgeschlagen habe. Die Mitglieder einer moralischen Gemein­ schaft fragen nicht nach einer für jeden vorteilhaften sozialen Verhaltenskontrolle, die an die Stelle von Moral treten kann; sie wollen nicht das moralische Sprachspiel als solches, sondern nur dessen religiöse Geltungsgrundlage ersetzen. Diese Fragestellung führt zur Reflexion auf diejenigen Verständi­ gungsbedingungen, die nach Religion und Metaphysik als einzige mögliche Ressource für die Begründung einer Moral des gleichen Respekts für jedermann übriggeblieben sind: »Wenn das Gute nicht mehr transzendent vorgegeben ist, scheint nur die Rücksicht auf Mitglieder der Gemeinschaft, die dann ihrerseits nicht mehr begrenzt werden kann, also auf alle anderen - und das heißt auf ihr 36

Wollen, ihre Interessen - das Prinzip des Gutseins abzugeben. Pla­ kativ formuliert: die so verstandene Intersubjektivität tritt an die Stelle des transzendent Vorgegebenen ... Da die wechselseitigen Forderungen ... die Form einer Moral überhaupt ausmachen, kann man auch sagen: indem nun der Inhalt, auf den sich die Forderun­ gen beziehen, nichts anderes ist als die Rücksicht auf das, was alle wollen, paßt jetzt der Inhalt zur Form.*29 Auf diese Weise gewinnt Tugendhat das Kantische Prinzip der Ver­ allgemeinerung aus den symmetrischen Bedingungen der Aus­ gangssituation, in der sich die aller Privilegien beraubten, insofern gleichgestellten Parteien begegnen, um sich auf Grundnormen zu einigen, die von allen Beteiligten vernünftigerweise akzeptiert wer­ den können.30 Er legt sich freilich keine Rechenschaft darüber ab, daß damit »rationale Akzeptabilität« einen anderen Sinn gewinnt als den, daß etwas »rational ist für mich«. Wenn es für Verhältnisse moralischer Anerkennung keine höhere Autorität gibt als der gute Wille und die Einsicht derer, die sich miteinander über Regeln ihres Zusammenlebens verständigen, muß der Maßstab für die Beurtei­ lung dieser Regeln der Situation selbst entnommen werden, in der sich die Beteiligten gegenseitig von ihren Auffassungen und Vor­ schlägen überzeugen möchten. Indem diese sich auf eine koopera­ tive Verständigungspraxis einlassen, akzeptieren sie bereits still­ schweigend die Bedingung der symmetrischen oder gleichmäßigen Berücksichtigung der Interessen aller. Weil diese Praxis nur zum Ziele führt, wenn jeder bereit ist, andere zu überzeugen und sich vom anderen überzeugen zu lassen, muß jeder ernsthafte Teilneh­ mer prüfen, was unter jener Bedingung symmetrischer und gleich­ mäßiger Interessenberücksichtigung für ihn rational ist. Mit der methodischen Bezugnahme auf die mögliche Intersubjektivität der Verständigung (die bei Rawls beispielsweise von der Struktur des Urzustandes erzwungen wird) wächst aber den pragmatischen Gründen ein epistemischer Sinn zu. Damit werden die Schranken instrumenteller Vernunft transzendiert. Als Geltungsgrundlage der Vernunftmoral dient ein Prinzip der Verallgemeinerung, das nicht aus der Perspektive je eigener Interessen (oder eigener Konzeptio19 Tugendhat (1993), 87 f. 30 Noch deutlicher in: E.Tugendhat, Gibt es eine moderne Moral? (Ms. 1995).

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nen des Guten) begründet werden kann. Dieses Prinzips können wir uns nur durch eine Reflexion auf die unvermeidlichen Bedin­ gungen unparteilicher Urteilsbildung vergewissern. Gibbard analysiert zwar solche Bedingungen als pragmatische Vor­ aussetzungen für normative Diskurse; diese selbst betrachtet er aber nur unter dem funktionalistischen Gesichtspunkt ihres Beitra­ ges zur sozialen Handlungskoordinierung. Demgegenüber hält Tugendhat daran fest, daß die Zustimmung zu moralischen Regeln aus der Perspektive der Beteiligten selbst begründet werden muß; aber auch er verleugnet den epistemischen Sinn, den diese Zustim­ mung unter Diskursbedingungen gewinnt.

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Der schwache Nonkognitivismus geht davon aus, daß Aktoren ihre Willkür nur auf eine Weise durch praktische Vernunft affizieren lassen können, nämlich durch Überlegungen, die dem Prinzip der Zweckrationalität gehorchen. Wenn hingegen die praktische nicht mehr in der instrumentellen Vernunft aufgeht, verändert sich die Konstellation von Vernunft und Wille - und damit der Begriff der subjektiven Freiheit. Freiheit erschöpft sich dann nicht mehr in der Fähigkeit, die Willkür an Maximen der Klugheit zu binden, sondern äußert sich in der Selbstbindung des Willens durch Ein­ sicht. »Einsicht« bedeutet, daß ein Entschluß mit Hilfe epistemischer Gründe gerechtfertigt werden kann. Epistemische Gründe stützen im allgemeinen die Wahrheit assertorischer Aussagen; in praktischen Zusammenhängen bedarf der Ausdruck »epistemisch« der Erläuterung. Pragmatische Gründe beziehen sich auf die Präfe­ renzen und Ziele einer bestimmten Person. Über diese »Daten« entscheidet letztlich die epistemische Autorität des Handelnden selbst, der ja wissen muß, was seine Präferenzen und Ziele sind. Zu »Einsichten« kann eine praktische Überlegung erst dann führen, wenn diese sich über die privilegiert zugängliche subjektive Welt des Aktors hinaus auf Sachverhalte einer intersubjektiv geteilten sozialen Welt erstreckt. So bringt die Reflexion auf gemeinsame Erfahrungen, Praktiken und Lebensformen ein ethisches Wissen 3»

zu Bewußtsein, über das wir nicht schon dank der epistemischen Autorität der ersten Person verfügen. Das Bewußtmachen von etwas implizit Gewußtem ist nicht gleich­ bedeutend mit der Erkenntnis von Objekten oder Tatsachen.31 »Erkenntnisse« sind kontraintuitiv, während reflexiv gewonnene »Einsichten« ein vortheoretisches Wissen explizit machen, in Kon­ texte einordnen, auf Kohärenz prüfen und auf diesem Wege auch kritisch sondieren.32 Ethische Einsichten verdanken sich der Expli­ kation jenes Wissens, das kommunikativ vergesellschaftete Indivi­ duen erworben haben, indem sie in ihre Kultur hineingewachsen sind. Im evaluativen Vokabular und in den Verwendungsregeln für normative Sätze sedimentieren sich die allgemeinsten Bestandteile des praktischen Wissens einer Kultur. Im Lichte ihrer evaluativ imprägnierten Sprachspiele entwickeln die Aktoren nicht nur Vor­ stellungen von sich selbst und dem Leben, das sie allgemein führen möchten; sie entdecken auch in der jeweiligen Situation anziehende und abstoßende Züge, die sie nicht verstehen können, ohne zu »sehen«, wie sie darauf reagieren sollen?3 Weil wir das, was attrak­ tiv und abstoßend, richtig oder falsch, was überhaupt relevant ist, intuitiv wissen, läßt sich hier das Moment der Einsicht vom ratio­ nalen Handlungsmotiv trennen. Es handelt sich um ein intersub­ jektiv geteiltes Gebrauchswissen, das sich in der Lebenswelt eingespielt und praktisch »bewährt« hat. Als der gemeinsame Be­ sitz einer kulturellen Lebensform genießt es »Objektivität« auf­ grund seiner sozialen Verbreitung und Akzeptanz. Deshalb ver­ langt die praktische Überlegung, die dieses intuitive Wissen kritisch aneignet, eine soziale Perspektive. 31 B. Williams, Ethics and the Limits of Philosophy, London 1985, Kap. 8. 32 John Rawls spricht in diesem Zusammenhang von »reflective equilibrium«. 33 McDowell wendet sich gegen eine objektivistische Deutung dieser »salient fcatures« einer Situation: »The relevant notion of salience cannot be undcrstood except in terms of seeing somelhing as a reason for acting which silences all others.« McDowell, Virtue and Reason, Monist, 62, 1979, 345. Er erklärt ethi­ sche Einsichten aus der Interaktion zwischen Lebensorientierung und Selbstver­ ständnis einer Person auf der einen, ihrem durch Werte imprägnierten Verständ­ nis der jeweiligen Situation auf der anderen Seite. Diese Analysen können noch dicsseits des Realismus - im Sinne einer durch Wittgenstein belehrten neoaristo­ telischen Ethik verstanden werden.

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Wertorientierungen, auch das an Werten orientierte Selbstverständ­ nis von Personen oder Gruppen, beurteilen wir unter dem ethi­ schen, Pflichten, Normen, Gebote unter dem moralischen Ge­ sichtspunkt. Zunächst zu den ethischen Fragen, die sich aus der Perspektive der ersten Person stellen. Aus der Sicht der ersten Per­ son Plural zielen sie auf das gemeinsame Ethos: es geht darum, wie wir uns als Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft verstehen, woran wir unser Leben orientieren sollen, was auf lange Sicht und im ganzen gesehen das Beste für uns ist. Aus der Perspektive der ersten Person Singular stellen sich ähnliche Fragen: wer ich bin und sein möchte, wie ich mein Leben führen soll. Auch diese existen­ tiellen Überlegungen unterscheiden sich von Erwägungen der Klugheit nicht nur durch die zeitliche und sachliche Generalisie­ rung der Fragestellung: was auf lange Sicht und im ganzen gesehen das Beste ist. Die Perspektive der ersten Person bedeutet hier nicht die egozentrische Beschränkung auf meine Präferenzen, sondern sichert den Bezug zu einer Lebensgeschichte, die immer schon in intersubjektiv geteilte Traditionen und Lebensformen eingebettet ist.34 Die Attraktivität der Werte, in deren Licht ich mich und mein Leben verstehe, läßt sich nicht in den Grenzen der mir privilegiert zugänglichen Welt subjektiver Erlebnisse klären. Denn meine Prä­ ferenzen und Ziele sind nicht länger etwas Gegebenes, sondern stehen selber zur Diskussion35; in Abhängigkeit von meinem Selbstverständnis können sie sich in der Reflexion auf das, was für uns, im Horizont unserer geteilten sozialen Welt einen intrinsi­ schen Wert hat, auf begründete Weise ändern. Unter dem ethischen Gesichtspunkt klären wir also klinische Fra­ gen des gelingenden, besser: nicht-verfehlten Lebens, die sich im Kontext einer bestimmten kollektiven Lebensform oder einer indi­ viduellen Lebensgeschichte stellen. Die praktische Überlegung vollzieht sich in der Form einer hermeneutischen Selbstverständi­ gung. Sie artikuliert starke Wertungen, an denen sich mein Selbst­ verständnis orientiert. Die Kritik an Selbsttäuschungen und an

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34 Vgl. J. McDowell, Are Moral Reqairements Hypothelical Imperatives?, Proceedings of the Aristotelian Society, suppl. 52, 1978, 13-29. 3$ Vgl. Charles Taylor, Quellen des Selbst, Frankfurt am Main 1994, Teil 1.

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Symptomen einer zwanghaften oder entfremdeten Lebensweise bemißt sich an der Idee einer bewußten und kohärenten Lebens­ führung. Dabei läßt sich die Authentizität eines Lebensentwurfs in Analogie zum Wahrhaftigkeitsanspruch expressiver Sprechhand­ lungen als ein höherstufiger Geltungsanspruch verstehen.36 Wie wir unser Leben führen, ist mehr oder weniger dadurch be­ stimmt, wie wir uns selbst verstehen. Deshalb greifen ethische Einsichten über die Interpretation dieses Selbstverständnisses in die Orientierung unsres Lebens ein. Als Einsichten, die den Willen binden, bewirken sie eine bewußte Lebensführung. Darin manife­ stiert sich der im ethischen Sinne freie Wille. Unter dem ethischen Gesichtspunkt verwandelt sich die Freiheit, meine Willkür an Ma­ ximen der Klugheit zu binden, in die Freiheit, mich zu einem authentischen Leben zu entschließen.37 Die Grenzen dieser ethischen Betrachtungsweise zeigen sich frei­ lich, sobald Fragen der Gerechtigkeit ins Spiel kommen: aus dieser Perspektive wird nämlich Gerechtigkeit zu einem Wert neben an­ deren herabgesetzt. Moralische Verpflichtungen sind für die eine Person wichtiger als für die andere, haben in dem einen Kontext eine größere Bedeutung als im anderen. Gewiß, auch unter dem ethischen Gesichtspunkt mag man der semantischen Differenz zwischen Wertbindung und moralischer Verpflichtung mit einer gewissen Priorität von Fragen der Gerechtigkeit gegenüber Fragen des guten Lebens Rechnung tragen: »Ethical Life itself is important, but it can see that things other than itself are important... There is one kind of ethical consideration that directly connects importance and deliberative priority, and this is Obligation.«38 Aber solange Verpflichtungen allein unter dem ethischen Gesichtspunkt be­ trachtet werden, läßt sich ein absoluter Vorrang des Gerechten vor dem Guten, der erst den kategorischen Geltungssinn moralischer Pflichten ausdrücken würde, nicht begründen: »These kinds of ob36 Auch Theorien stellen beispielsweise einen »höherstufigen« oder komplexeren Geltungsanspruch; sie können nicht in demselben Sinne »wahr« oder »falsch« sein wie die einzelnen aus ihnen ableitbaren Propositionen. 37 Die existentialistische Zuspitzung des Entschlusses auf eine radikale Wahl ver­ kennt den Charakter dieser Freiheit als eines epistemisch gesteuerten Prozesses. 38 Williams (1985), 184 f. 41

ligation very often command the highest deliberative priority ... However, we can also sce how they need not always command the highest priority, even in ethically well disposed agents.«39 Solange Gerechtigkeit als integraler Bestandteil einer jeweils bestimmten Konzeption des Guten gilt, gibt es keine Handhabe für die Forde­ rung, daß in Kollisionsfällen Pflichten nur von Pflichten, Rechte nur durch Rechte »übertrumpft« werden dürfen (wie Dworkin sagt). Ohne den Vorrang des Gerechten vor dem Guten kann es auch kein ethisch neutrales Gerechtigkeitskonzept geben. Das hätte für die Regelung der gleichberechtigten Koexistenz in weltanschaulich pluralistischen Gesellschaften mißliche Folgen. Individuen und Gruppen mit je eigenen Identitäten könnte dann nämlich Gleich­ berechtigung nur nach Maßstäben garantiert werden, die ihrerseits Bestandteil einer gemeinsamen, von allen gleichmäßig anerkannten Konzeption des Guten sind. Dieselbe Bedingung gälte, mutatis mutandis, für eine gerechte Regelung des internationalen Verkehrs zwischen Staaten, des kosmopolitischen Verkehrs zwischen Welt­ bürgern und der globalen Beziehungen zwischen Kulturen. Das Unwahrscheinliche dieser Überlegung zeigt, warum die neoaristo­ telischen Ansätze den universalistischen Gehalt einer Moral der gleichen Achtung und solidarischen Verantwortung für jedermann nicht einholen können. Jeder globale Entwurf eines allgemein ver­ bindlichen kollektiven Guten, auf das die Solidarität aller Menschen (unter Einschluß künftiger Generationen) gegründet werden könn­ te, begegnet einem Dilemma. Eine inhaltlich ausgeführte Konzep­ tion, die hinreichend informativ ist, muß (zumal im Hinblick auf das Glück künftiger Generationen) zu einem unerträglichen Paternalis­ mus führen; eine substanzlose, von allen lokalen Kontexten abgeho­ bene Konzeption muß den Begriff des Guten zerstören.'*0 39 Williams (1985), 187. 40 Martin Seel (1995) bemüht sich um einen solchen formalen Begriff des Guten. Aber die Idee einer-von Moral im kantischen Sinne unterschiedenen - forma­ len Bestimmung des Guten ist ein hölzernes Eisen. Seels Versuch, Verfassung und Bedingungen des gelingenden Lebens zu explizieren, kommt um die Aus­ zeichnung von Grundgutem (Sicherheit, Gesundheit, Bewegungsfreiheit), von Inhalten (Arbeit, Interaktion, Spiel und Kontemplation) und Zielen der Lebens-

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Wenn wir der präsumtiven Unparteilichkeit moralischer Urteile und dem kategorischen GeltungsansprwcA verpflichtender Normen Rechnung tragen wollen, müssen wir die horizontale Perspektive, in der interpersonale Beziehungen geregelt werden, von der verti­ kalen Perspektive der je eigenen Lebensentwürfe entkoppeln und die Beantwortung der genuin moralischen Fragen auf eigene Beine stellen. Die abstrakte Frage, was im gleichmäßigen Interesse aller liegt, übersteigt die kontextgebundene ethische Frage, was das Be­ ste für uns ist. Die Intuition, daß Fragen der Gerechtigkeit aus einer idealisierenden Erweiterung der ethischen Fragestellung her­ vorgehen, behält dennoch einen guten Sinn. Wenn wir Gerechtigkeit als das für alle gleichermaßen Gute inter­ pretieren, bildet das in Moral aufgehobene »Gute« eine Brücke zwischen Gerechtigkeit und Solidarität. Auch die universalistisch verstandene Gerechtigkeit verlangt nämlich, daß einer für den an­ deren einsteht - daß nun allerdings ein jeder auch für einen Fremden einsteht, der seine Identität in ganz anderen Lebenszu­ sammenhängen ausgebildet hat und sich im Lichte von Traditionen versteht, die nicht die eigenen sind. Das Gute im Gerechten erin­ nert daran, daß das moralische Bewußtsein auf ein bestimmtes Selbstverständnis moralischer Personen angewiesen ist: diese wis­ sen sich der moralischen Gemeinschaft zugehörig. Dieser Gemein­ schaft gehören alle an, die in einer - irgendeiner - kommunikativen Lebensform sozialisiert worden sind. Vergesellschaftete Individuen

führung (weltoffene Selbstbestimmung) nicht herum. Das sind falliblc anthro­ pologische Grundannahmen und Wertungen, die nicht nur zwischen verschiede­ nen Kulturen kontrovers sind, aber hier, im interkulturellen Dialog, aus guten Gründen kontrovers bleiben. Auch ein nicht-kriteriales Verständnis eines sol­ chen Projekts menschlicher Möglichkeiten hat paternalistische Konsequenzen, selbst dann, wenn es nur gut gemeinte Ratschläge anleiten soll: »Wenn aber eine dieses Gute nicht will? - So werden wir ihr sagen, daß sie auf das Beste verzich­ tet.« (xSj) Der Aussagengehalt einer Anthropologie des Guten, die über die argumentationslogische Klärung von Bedingungen hermeneutischer Selbstver­ ständigungsdiskurse hinausgreift, bleibt dem Kontext ihrer Entstehung auf besondere Weise verhaftet - wie das Beispiel Heideggers zeigt, dessen Existentialontologie jedem aufmerksamen Leser aus dem historischen Abstand von ein, zwei Generationen nicht nur den Jargon, sondern auch die politischen Vorteile ihrer Zeit preisgibt (vgl. dazu R. Wolin, The Pohtics of Being, N.Y. 1990).

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sind, weil sie ihre Identität nur in Verhältnissen reziproker Aner­ kennung stabilisieren können, in ihrer Integrität auf besondere Weise verletzbar und daher auf einen spezifischen Schutz angewie­ sen. Sie müssen an eine Instanz jenseits der eigenen Gemeinschaft appellieren können - G. H. Mead spricht von der »ever wider Com­ munity«. Aristotelisch ausgedriickt, ist in jeder konkreten Ge­ meinschaft, sozusagen als ihr »besseres Selbst«, die moralische Gemeinschaft angelegt. Als Mitglieder dieser Gemeinschaft erwar­ ten die Individuen voneinander eine Gleichbehandlung, die davon ausgeht, daß jede Person jede andere als »eine von uns« behandelt. Aus dieser Perspektive bedeutet Gerechtigkeit zugleich Solidari­ tät. An dieser Stelle muß das Mißverständnis vermieden werden, als verhalte sich das Gerechte zum Guten wie die Form zum Inhalt: »Der formale Begriff des Guten benennt den materialen Kern einer universalistischen Moral - das, worum es der moralischen Rück­ sicht geht.«'*1 Diese Auffassung verrät den selektiven Blick eines Liberalismus, der die Rolle der Moral - als handele es sich um den Inbegriff negativer Freiheitsrechte - im Schutz fürs individuelle Gute aufgehen läßt und daher die Moral auf dem Unterbau der Ethik errichtet.42 Dann müßte freilich dieses Worumwillen der Moral - also die Kenntnis der »Übel und Güter«, die in morali­ schen Konflikten für alle gleichermaßen »auf dem Spiel stehen« der Moral als feststehende Größe vorgegeben sein. Die Beteiligten müßten vor jeder moralischen Überlegung bereits wissen, was denn das für alle gleichermaßen Gute ist - wenigstens müßten sie sich von Philosophen einen Begriff des formalen Guten entleihen. Aber niemand kann aus der Beobachterperspektive schlicht fest­ stellen, was eine beliebige Person für gut halten soll. In der Bezug­ nahme auf »beliebige« Personen steckt eine Abstraktion, die auch den Philosophen überfordert.43 Gewiß, die Moral läßt sich als Schutzvorrichtung gegen die spezifische Verletzbarkeit von Perso­ nen verstehen. Aber das Wissen um die konstitutionelle VersehrI

41 Seel (1995), 223. 42 Eine ähnliche Theoriearchitektonik bei R.Dworkin, Foundations of Liberal Equality, The Tanner Lectures on Human Values, XI, Sait Lake City, 1990. 43 Vgl. Fußnote 40.

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barkeit eines Wesens, das seine Identität nur in der Entäußerung an interpersonale Beziehungen ausbilden und in Verhältnissen inter­ subjektiver Anerkennung stabilisieren kann, entspringt der intuiti­ ven Vertrautheit mit den allgemeinen Strukturen unserer kommu­ nikativen Lebensform überhaupt. Es ist ein tief verankertes generelles Wissen, das sich als solches erst in Fällen der klinischen Abweichung aufdrängt - aus Erfahrungen, wie und wann die Iden­ tität eines vergesellschafteten Individuums in Gefahr gerät. Der Rekurs auf ein Wissen, das sich aus solchen negativen Erfahrungen bestimmt, ist nicht mit dem Anspruch belastet, positiv anzugeben, was ein gutes Leben überhaupt bedeutet. Nur die Betroffenen selbst können sich aus der Perspektive von Beteiligten an prakti­ schen Beratungen jeweils darüber klarwerden, was gleichermaßen gut ist für alle. Das unter dem moralischen Gesichtspunkte rele­ vante Gute zeigt sich von Fall zu Fall aus der elargierten WirPerspektive einer Gemeinschaft, die niemanden ausschließt. Was als das Gute im Gerechten aufgehoben wird, ist die Form eines intersubjektiv geteilten Ethos überhaupt und damit die Struktur der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die freilich die ethischen Fesseln einer exklusiven Gemeinschaft abgestreift hat. Dieser Zusammenhang von Solidarität und Gerechtigkeit hat Kant dazu inspiriert, den Gesichtspunkt, unter dem Fragen der Gerech­ tigkeit unparteilich beurteilt werden können, anhand des Rousseauschen Modells der Selbstgesetzgebung zu erläutern: »Dem­ nach muß ein jedes vernünftiges Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reich der Zwecke wäre.«44 Von einem »Reich der Zwecke« spricht Kant, weil jedes seiner Glieder sich selbst und alle anderen niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als »Zweck an sich selbst« betrachtet. Als gesetzgebend ist niemand einem fremden Willen untertan; aber zugleich ist jeder den Gesetzen, die er sich selber gibt, wie alle anderen unterworfen. Indem Kant die privat­ rechtliche Figur des Vertrages durch die öffentlich-rechtliche der republikanischen Gesetzgebung ersetzt, kann er für die Moral die beiden im Recht getrennten Rollen - des an der Gesetzgebung be-

44 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke (Weischedel), Bd. iv, 72.

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teiligten Staatsbürgers und des den Gesetzen unterworfenen Pri­ vatmannes - in ein und derselben Person zusammenziehen. Die moralisch freie Person muß sich zugleich als Autor der sittlichen Gebote verstehen können, denen sie als Adressat untersteht. Das wiederum ist nur möglich, wenn sie die gesetzgebende Kompetenz, an der sie ja bloß »Anteil hat«, nicht (im Sinne eines positivisti­ schen Rechtsverständnisses) willkürlich, sondern im Einklang mit der Verfassung eines Gemeinwesens ausübt, dessen Bürger sich selbst regieren. Und dort dürfen nur solche Gesetze herrschen, die »ein jeder über alle und alle über einen jeden« hätten beschließen können.

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Ein Gesetz ist im moralischen Sinne gültig, wenn es aus der Per­ spektive eines jeden von allen akzeptiert werden könnte. Weil nur »allgemeine« Gesetze die Bedingung erfüllen, eine Materie im gleichmäßigen Interesse aller zu regeln, bringt sich die praktische Vernunft in diesem Moment der Verallgemeinerungsfähigkeit der im Gesetz berücksichtigten Interessen zur Geltung. Mithin nimmt eine Person den moralischen Gesichtspunkt ein, wenn sie wie ein demokratischer Gesetzgeber mit sich zu Rate geht, ob die Praxis, die sich aus der allgemeinen Befolgung einer hypothetisch erwoge­ nen Norm ergeben würde, von allen möglicherweise Betroffenen als potentiellen Mitgesetzgebern akzeptiert werden könnte. In der Rolle des Mitgesetzgebers nimmt jeder an einem kooperativen Un­ ternehmen teil und läßt sich damit auf eine intersubjektiv erwei­ terte Perspektive ein, aus der geprüft werden kann, ob eine strittige Norm aus der Sicht eines jeden Beteiligten als verallgemeinerungs­ fähig gelten kann. In dieser Beratung werden auch pragmatische und ethische Gründe erwogen, die ihren internen Bezug zur Inter­ essenlage und zum Selbstverständnis je einzelner Personen nicht verlieren; aber diese aktorrelativen Gründe zählen nun nicht länger als Motive und Wertorientierungen einzelner Personen, sondern als epistemische Beiträge zu einem normenprüfenden Diskurs, der mit dem Ziel der Verständigung geführt wird. Weil eine Gesetzgebungs46



praxis nur gemeinsam ausgeübt werden kann, genügt dafür jene monologisch vorgenommene egozentrische Handhabung des Ver­ allgemeinerungstests, die der Goldenen Regel entspricht, nicht. Moralische Gründe binden die Willkür auf andere Weise als prag­ matische und ethische Gründe. Sobald die Selbstbindung des Wil­ lens die Gestalt der Selbstgesetzgebung annimmt, durchdringen sich Wille und Vernunft vollständig. »Frei« nennt Kant deshalb nur den autonomen, vernunftbestimmten Willen. Frei handelt nur der­ jenige, der seinen Willen durch Einsicht in das, was alle wollen könnten, bestimmen läßt: »Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien zu handeln, oder einen Willen. Da zur Ableitung der Handlungen aus Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts ande­ res als praktische Vernunft.«45 Gewiß, jeder Akt der Selbstbindung des Willens erfordert Gründe der praktischen Vernunft; aber so­ lange noch subjektiv zufällige Bestimmungen im Spiel bleiben und der Wille nicht nur aus Gründen praktischer Vernunft tätig wird, sind nicht alle Momente der Nötigung getilgt, ist der Wille nicht wahrhaft frei. Jene Normativität, die der Fähigkeit zur Selbstbindung des Willens per se entspringt, hat noch keinen moralischen Sinn. Wenn sich ein Handelnder technische Regeln der Geschicklichkeit oder pragma­ tische Ratschläge der Klugheit zu eigen macht, läßt er seine Willkür zwar durch praktische Vernunft bestimmen, aber die Gründe ha­ ben bestimmende Kraft nur im Hinblick auf zufällige Präferenzen und Zwecke. Das gilt in anderer Weise auch für ethische Gründe. Die Authentizität von Wertbindungen überschreitet zwar den Ho­ rizont bloß subjektiver Zweckrationalität; aber starke Wertungen gewinnen objektive, den Willen bestimmende Kraft wiederum nur im Hinblick auf zufällige, wenn auch intersubjektiv geteilte Erfah­ rungen, Praktiken und Lebensformen. In beiden Fällen können die entsprechenden Imperative und Empfehlungen nur eine bedingte Gültigkeit beanspruchen: sie gelten unter der Voraussetzung sub­ jektiv gegebener Interessenlagen bzw. intersubjektiv geteilter Tra­ ditionen.

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45 Kant, Werke Bd. iv, 41. 47

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Eine unbedingte oder kategorische Geltung erlangen moralische Verpflichtungen erst dadurch, daß sie sich aus Gesetzen herleiten, die den Willen, wenn er sich auf sie festlegt, von allen zufälligen Bestimmungen emanzipieren und gleichsam mit der praktischen Vernunft selbst verschmelzen. Denn im Lichte dieser unter dem moralischen Gesichtspunkt begründeten Normen lassen sich auch noch jene zufälligen Ziele, Präferenzen, und Wertorientierungen, die den Willen sonst von außen nötigen, einer kritischen Beurtei­ lung unterziehen. Auch der heteronome Wille läßt sich durch Gründe dazu bestimmen, sich unter Maximen zu stellen; aber die Selbstbindung bleibt über pragmatische und ethische Gründe gege­ benen Interessenlagen und kontextabhängigen Wertorientierungen verhaftet. Erst, wenn diese unter dem moralischen Gesichtspunkt auf ihre Verträglichkeit mit den Interessen und Wertorientierungen aller anderen geprüft worden sind, hat sich der Wille von heteronomen Bestimmungen befreit.46 Die abstrakte Gegenüberstellung von Autonomie und Heteronomie verengt freilich den Blick aufs einzelne Subjekt. Kant schreibt aufgrund seiner transzendentalen Hintergrundannahmen den freien Willen einem im Reich der Zwecke angesiedelten intelligiblen Ich zu. Deshalb legt er die Selbstgesetzgebung, die nach ihrem ursprünglich politischen Sinn ein kooperatives Unternehmen ist, an dem das Individuum nur »Anteil« hat47, doch wieder in die alleinige Kompetenz des Einzelnen. Der Kategorische Imperativ richtet sich nicht zufällig an eine zweite Person im Singular und erweckt den Eindruck, als könne jeder für sich in foro interno die erforderliche Normenprüfung vornehmen. Tatsächlich verlangt aber die reflexive Anwendung des Verallgemeinerungstests eine Be­ ratungssituation, in der jeder genötigt ist, die Perspektive aller anderen einzunehmen, um zu prüfen, ob eine Norm aus der Sicht eines jeden von allen gewollt werden könnte. Das ist die Situation eines auf Verständigung abzielenden rationalen Diskurses, an dem alle Betroffenen beteiligt sind. Auch dem einsam urteilenden Sub-


D«, wonach nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden könnten.49 Wir sind von der genealogischen Frage ausgegangen, ob sich der kognitive Gehalt einer Moral der gleichen Achtung und solidari­ schen Verantwortung für jedermann nach der Entwertung ihrer religiösen Geltungsgrundlage noch rechtfertigen läßt. Ich möchte abschließend prüfen, was wir mit der intersubjektivistischen Deu­ tung des Kategorischen Imperativs im Hinblick auf diese Frage gewonnen haben. Dabei müssen wir zwei Probleme auseinander-

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48 Das gleiche gilt für Tugendhat, siehe oben iv, 2. 49 Vgl. J. Habermas, »Diskursethik«, in: ders., Moralbewufltsein und kommunika­ tives Handeln, Frankfun am Main 1983, 103.

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halten. Zum einen muß geklärt werden, was eine Diskursethik von den ursprünglichen Intuitionen im ernüchterten Universum nach­ metaphysischer Begründungsversuche überhaupt rettet und in welchem Sinn von einer kognitiven Geltung moralischer Urteile und Stellungnahmen dann noch die Rede sein darf (vn). Zum an­ deren stellt sich die grundsätzliche Frage, ob nicht eine Moral, die aus der rationalen Rekonstruktion überlieferter, zunächst religiö­ ser Intuitionen hervorgeht, ihrem Herkunftskontext, ungeachtet des prozeduralistischen Charakters, inhaltlich verhaftet bleibt (vm).

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Mit der epistemischen Autorität des Gottesstandpunktes verlieren die moralischen Gebote ihre soterologische ebenso wie ihre ontotheologische Rechtfertigung. Dafür muß auch die Diskursethik ei­ nen Preis entrichten; sie kann weder den ganzen moralischen Gehalt der religiösen Intuitionen vollständig bewahren (i) noch den realistischen Geltungssinn moralischer Normen aufrechterhal­ ten (z). (i) Wenn sich die moralische Praxis nicht mehr über die Person des Erlösergottes - und dessen Funktion im Heilsplan - mit der per­ sönlichen Heilserwartung und einem als exemplarisch ausgezeich­ neten Lebenswandel verschränkt, ergeben sich zwei mißliche Konsequenzen. Zum einen löst sich das moralische Wissen von den subjektiven Handlungsmotiven, zum anderen differenziert sich der Begriff des moralisch Richtigen von der Konzeption eines guten, eben gottgewollten Lebens. Die Diskursethik ordnet ethischen und moralischen Fragen ver­ schiedene Formen der Argumentation zu, nämlich Selbstverstän­ digungsdiskurse auf der einen, Normenbegründungs- (und Anwendungs-)diskurse auf der anderen Seite. Dabei reduziert sie aber Moral nicht auf Gleichbehandlung, sondern trägt beiden Aspekten, der Gerechtigkeit wie der Solidarität, Rechnung. Ein diskursiv erzieltes Einverständnis hängt gleichzeitig von dem nicht-substituierbaren »Ja« oder »Nein« eines jeden Einzelnen wie



auch von der Überwindung der egozentrischen Perspektive ab, die eine aufs gegenseitige Überzeugen zugeschnittene Argumenta­ tionspraxis allen auferlegt. Wenn der Diskurs aufgrund seiner pragmatischen Eigenschaften eine einsichtsvolle Willensbildung ermöglicht, die beides garantiert, können die rational motivierten Ja-/Nein-Stellungnahmen die Interessen jedes Einzelnen zum Zuge bringen, ohne daß jenes soziale Band reißen müßte, das die an Verständigung orientierten Teilnehmer in ihrer transsubjektiven Einstellung vorgängig miteinander verknüpft. Die kognitive Entkoppelung der Moral von Fragen des guten Le­ bens hat freilich auch eine motivationale Seite. Weil es keinen profanen Ersatz für die persönliche Heilserwartung gibt, entfällt das stärkste Motiv für die Befolgung moralischer Gebote. Die Dis­ kursethik verstärkt die intellektualistische Trennung des morali­ schen Urteils vom Handeln noch dadurch, daß sie den moralischen Gesichtspunkt in rationalen Diskursen verkörpert sieht. Von der diskursiv gewonnenen Einsicht gibt es keinen gesicherten Transfer zum Handeln. Gewiß, moralische Urteile sagen uns, was wir tun sollen; und gute Gründe affizieren unseren Willen. Das zeigt sich am schlechten Gewissen, das uns »schlägt«, wenn wir wider bes­ sere Einsicht handeln. Aber das Problem der Willensschwäche verrät auch, daß sich die moralische Einsicht der schwachen Kraft epistemischer Gründe verdankt und nicht selbst ein rationales Mo­ tiv bildet. Wenn wir wissen, was zu tun moralisch richtig ist, wissen wir zwar, daß es keinen guten - epistemischen - Grund gibt, anders zu handeln. Das verhindert aber nicht, daß andere Motive nicht doch die stärkeren sind.50 Mit dem Verlust der soterologischen Geltungsgrundlage verändert sich vor allem der Sinn normativer Verbindlichkeit. Bereits die Dif­ ferenzierung zwischen Pflicht und Wertbindung, zwischen dem moralisch Richtigen und dem ethisch Erstrebenswerten verschärft die Sollgeltung zu einer Normativität, die allein durch unparteili­ che Urteilsbildung gedeckt ist. Eine andere Konnotation verdankt 50 Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Ergänzung der nur schwach moti­ vierenden Moral durch zwingendes und positives Recht, vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992, 135 ff. 51

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sich dem Wechsel der Perspektive von Gott zum Menschen. »Gül­ tigkeit« bedeutet jetzt, daß moralische Normen die Zustimmung aller Betroffenen finden könnten, sofern diese nur in praktischen Diskursen gemeinsam prüfen, ob eine entsprechende Praxis im gleichmäßigen Interesse aller liegt. In dieser Zustimmung drückt sich beides aus: die fallible Vernunft der beratenden Subjekte, die sich gegenseitig von der Anerkennungswürdigkeit einer hypothe­ tisch eingeführten Norm überzeugen, und die Freiheit der gesetz­ gebenden Subjekte, die sich zugleich als Urheber der Normen verstehen, denen sie sich als Adressaten unterwerfen. Im Geltungs­ sinn moralischer Normen hinterlassen sowohl die Fallibilität des entdeckenden wie die Konstruktivität des entwerfenden menschli­ chen Geistes ihre Spuren. (2) Das Problem, in welchem Sinne moralische Urteile und Stel­ lungnahmen Gültigkeit beanspruchen dürfen, zeigt sich von einer anderen Seite, wenn wir uns die Wesensaussagen in Erinnerung rufen, mit denen die moralischen Gebote einst als Teile einer ver­ nünftig eingerichteten Welt ontotheologisch gerechtfertigt worden sind. Solange sich der kognitive Gehalt der Moral mit Hilfe von deskriptiven Aussagen angeben ließ, waren moralische Urteile wahr oder falsch. Wenn sich aber der moralische Realismus nicht länger mit Berufung auf Schöpfungsmetaphysik und Naturrecht (oder deren Surrogate) verteidigen läßt, darf die Sollgeltung von moralischen Aussagen nicht länger an die Wahrheitsgeltung von deskriptiven Aussagen assimiliert werden. Die einen sagen, wie es sich in der Welt verhält, die anderen, was wir tun sollen. Wenn man davon ausgeht, daß Sätze nur im Sinne von »wahr« oder »falsch« gültig sein können und daß »Wahrheit« im Sinne einer Korrespondenz zwischen Sätzen und Objekten oder Tatsachen zu verstehen ist, muß jeder Geltungsanspruch, der für eine nicht-de­ skriptive Aussage erhoben wird, problematisch erscheinen. Tat­ sächlich stützt sich die moralische Skepsis hauptsächlich auf die These, daß normative Aussagen nicht wahr oder falsch sein, mithin auch nicht begründet werden können, weil es so etwas wie morali­ sche Gegenstände oder Tatsachen nicht gibt. Dabei verbindet sich allerdings ein traditionelles Verständnis der Welt, als der Gesamt­ heit von Objekten oder Tatsachen, mit einem korrespondenz-

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theoretischen Verständnis von Wahrheit und einem semantischen Verständnis von Begründung. Ich kommentiere kurz diese frag­ würdigen Prämissen in umgekehrter Reihenfolge.51 Nach der semantischen Konzeption ist ein Satz begründet, wenn er sich nach gültigen Schlußregeln aus Basissätzen ableiten läßt; dabei wird eine Klasse von Basissätzen nach bestimmten (logischen, er­ kenntnistheoretischen oder psychologischen) Kriterien ausge­ zeichnet. Aber die fundamentalistische Annahme einer solchen, der Wahrnehmung oder dem Geiste unmittelbar zugänglichen Ba­ sis hat der sprachkritischen Einsicht in die holistische Verfassung von Sprache und Interpretation nicht standgehalten; jede Begrün­ dung muß von einem vorverstandenen Kontext oder Hintergrund­ verständnis mindestens ausgehen.52 Deshalb empfiehlt sich eine pragmatische Auffassung von Begründung als einer Praxis öffent­ licher Rechtfertigung, worin kritisierbare Geltungsansprüche mit Gründen eingelöst werden. Dabei können die Rationalitätskrite­ rien, welche Gründe als gute Gründe auszeichnen, selbst zur Diskussion gestellt werden. Letztlich müssen deshalb Verfahrens­ eigenschaften des Argumentationsprozesses selbst die Bürde der Erklärung dafür tragen, warum verfahrensgerecht erzielte Resul­ tate die Vermutung der Gültigkeit für sich haben. Die kommunika­ tive Verfassung rationaler Diskurse kann beispielsweise dafür sorgen, daß alle relevanten Beiträge zum Zuge kommen und allein der zwanglose Zwang des besseren Arguments das »Ja« oder »Nein« der Teilnehmer bestimmt.53 Das pragmatische Begründungskonzept bahnt den Weg zu einem epistemischen Wahrheitsbegriff, der aus den bekannten Verlegen­ heiten der Korrespondenztheorie heraushelfen soll. Mit dem Wahrheitsprädikat beziehen wir uns auf das Sprachspiel der Recht­ fertigung, d. h. der öffentlichen Einlösung von Wahrheitsansprü­ chen. Andererseits ist »Wahrheit« mit Begründbarkeit - warranted j I Vgl. zum folgenden J. Heath, Morality and Social Action, Diss. phil. Northwe­ stern University, 199$, 86-102. 52 Vgl. D. Davidson, Wahrheit und Interpretation, Frankfurt am Main 1986. 53 Vgl. J. Habermas, »Exkurs zur Argumentationstheorie«, in: ders., Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main 1981, Bd. 1,44-71; ders. (1992), 276 ff.

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assertibilicy - nicht gleichzusetzen. Die »warnende« Verwendung des Prädikats->p< mag noch so gut begründet und doch nicht wahr sein - macht uns auf die Bedeutungsdifferenz zwischen »Wahrheit« als einer unverlierbaren Eigenschaft von Aussagen und »rationaler Akzeptabilität« als einer kontextabhängigen Eigenschaft von Äu­ ßerungen aufmerksam.54 Diese Differenz läßt sich innerhalb des Horizonts möglicher Rechtfertigungen als der Unterschied zwi­ schen »gerechtfertigt in unserem Kontext« und »gerechtfertigt in jedem Kontext« verstehen. Dieser Differenz können wir wiederum durch eine schwache Idealisierung unserer - als fortsetzbar gedach­ ten - Argumentationsprozesse Rechnung tragen. Indem wir >p< behaupten und damit für >p< Wahrheit beanspruchen, gehen wir die Argumentationsverpflichtung ein, >p< — im Bewußtsein der Fallibilität - gegen alle künftigen Einwände zu verteidigen.55 In unserem Zusammenhang interessiert mich weniger das kom­ plexe Verhältnis von Wahrheit und Rechtfertigung als vielmehr die Möglichkeit, den von Korrespondenzkonnotationen gereinigten Begriff der Wahrheit als speziellen Fall von Gültigkeit zu begreifen, während dieser allgemeine Begriff von Gültigkeit mit Bezugnahme auf die diskursive Einlösung von Geltungsansprüchen eingeführt wird. Damit öffnet sich ein konzeptueller Raum, in dem der Be­ griff normativer, hier insbesondere moralischer Gültigkeit angesie­ delt werden kann. Die Richtigkeit von moralischen Normen (bzw. allgemeinen Normaussagen) und singulären Geboten läßt sich dann in Analogie zur Wahrheit assertorischer Sätze verstehen. Was beide Geltungsbegriffe verbindet, ist das Verfahren der diskursiven Einlösung entsprechender Geltungsansprüche. Was sie trennt, ist der Bezug zur sozialen Welt bzw. zur objektiven Welt. Die soziale Welt, die (als die Gesamtheit legitim geregelter inter54 R. Rorry, »Pragmaüsm, Davidson and Truth«, in: E.LePore (Hg.), Truth and Interpretation, London 1986, 333-353. 55 Dieser reaktive, nicht auf IdeaJzustände, sondern auf die Entkräftung potentiel­ ler Einwände bezogene Begriff der »diskursiven Einlösbarkeit« berührt sich mit dem der »superassertibility« : C. Wright, Truth and Objectivity, Cambridge 1992, 33 ff. Zur Kritik meiner früheren, noch an Peirce orientierten Wahrheitsauffassung vgl. A. Wellmer, Ethik und Dialog, Frankfurt am Main 1986, 102 ff.; ferner Wingert (1993), 264 ff.

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personaler Beziehungen) nur aus der Teilnehmerperspektive zu­ gänglich ist, ist auf intrinsische Weise geschichtlich und insofern (wenn man will) ontologisch anders verfaßt als die aus der Beob­ achterperspektive beschreibbare objektive Welt.56 Die soziale Welt ist mit den Intentionen und Auffassungen, mit der Praxis und der Sprache ihrer Angehörigen verwoben. Das gilt auf ähnliche Weise für die Beschreibungen der objektiven Welt, aber nicht für diese selbst. Deshalb hat die diskursive Einlösung von Wahrheitsansprü­ chen eine andere Bedeutung als die von moralischen Geltungsan­ sprüchen: im einen Fall besagt das diskursiv erzielte Einverständ­ nis, daß die als Behauptbarkeitsbedingungen interpretierten Wahrheitsbedingungen eines assertorischen Satzes erfüllt sind; im anderen Fall begründet das diskursiv erzielte Einverständnis die Anerkennungswürdigkeit einer Norm und trägt damit selbst zur Erfüllung ihrer Gültigkeitsbedingungen bei. Während rationale Akzeptabilität die Wahrheit assertorischer Sätze nur anzeigt, leistet sie zur Geltung moralischer Normen einen konstitutiven Beitrag. In der moralischen Einsicht verschränken sich Konstruktion und Entdeckung auf andere Weise als in der theoretischen Erkenntnis. Was sich unserer Disposition entzieht, ist der moralische Gesichts­ punkt, der sich uns aufdrängt, nicht eine als von unseren Beschrei­ bungen unabhängig existierend unterstellte moralische Ordnung. Nicht die soziale Welt als solche ist unserer Verfügung entzogen, sondern Strukturen und Verfahren eines Argumentationsprozes­ ses, der zugleich der Erzeugung und Entdeckung von Normen eines richtig geregelten Zusammenlebens dient. Der konstruktivi­ stische Sinn einer nach dem Modell der Selbstgesetzgebung ge­ dachten moralischen Urteilsbildung darf nicht verlorengehen, aber er darf den epistemischen Sinn moralischer Begründungen auch nicht zerstören.57

56 Daraus erklärt sich übrigens die Ergänzungsbedürftigkeit moralischer Begrün­ dungsdiskurse durch Anwendungsdiskurse; vgl. K. Günther, Der Sinn für An­ gemessenheit, Frankfun am Main 1988; dazu J. Habermas (1992), 141 f. 57 Vgl. J.Rawls, »Kantian Constructivism in Moral Thcory«, Journal of Philosophy, Sept. 1980, 519.

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Die Diskursethik rechtfertigt den Gehalt einer Moral der gleichen Achtung und solidarischen Verantwortung für jedermann. Das lei­ stet sie freilich zunächst auf dem Wege der vernünftigen Rekon­ struktion der Gehalte einer in ihrer religiösen Geltungsgrundlage erschütterten moralischen Überlieferung. Wenn die diskurstheore­ tische Lesart des Kategorischen Imperativs dieser Herkunftstradi­ tion verhaftet bliebe, stünde diese Genealogie dem Ziel im Wege, den kognitiven Gehalt moralischer Urteile überhaupt nachzuwei­ sen. Es fehlt eine moraltheoretische Begründung des moralischen Gesichtspunktes selber. Allerdings antwortet das Diskursprinzip auf eine Verlegenheit, in die Mitglieder beliebiger moralischer Gemeinschaften geraten, wenn sie beim Übergang zu modernen, weltanschaulich pluralisti­ schen Gesellschaften des Dilemmas innewerden, daß sie sich über moralische Uneile und Stellungnahmen nach wie vor mit Gründen streiten, obgleich ihr substantieller Hintergrundkonsens über die zugrundeliegenden moralischen Normen zerbrochen ist. Sie sind global und innergesellschaftlich - in regelungsbedürftige Hand­ lungskonflikte verwickelt, die sie, obwohl das gemeinsame Ethos zerfallen ist, nach wie vor als moralische, also begründet lösbare Konflikte verstehen. Das folgende Szenario bildet keinen »Urzu­ stand« ab, sondern einen idealtypisch stilisierten Verlauf, wie er unter realen Bedingungen hatte stattfinden können. Ich gehe davon aus, daß die Beteiligten ihre Konflikte nicht durch Gewalt oder Kompromißbildung, sondern durch Verständigung beilegen wollen. So liegt als erstes der Versuch nahe, in Beratungen einzutreten und auf profaner Grundlage ein gemeinsames ethisches Selbstverständnis zu entwickeln. Unter den differenzierten Le­ bensbedingungen pluralistischer Gesellschaften muß ein solcher Versuch jedoch scheitern. Die Beteiligten lernen, daß die kritische Vergewisserung ihrer starken, in der Praxis bewährten Wertungen zu konkurrierenden Konzeptionen des Guten führt. Nehmen wir an, daß sie an ihrer Verständigungsabsicht festhalten und das ge­ fährdete moralische Zusammenleben auch weiterhin nicht durch einen bloßen modus vivendi ersetzen wollen.

In Ermangelung eines substantiellen Einverständnisses über Norminhalte sehen sich die Beteiligten nun auf den gewissermaßen neutralen Umstand verwiesen, daß jeder von ihnen irgendeine kommunikative, durch sprachliche Verständigung strukturierte Lebensform teilt. Da solche Verständigungsprozesse und Lebens­ formen gewisse strukturelle Aspekte gemeinsam haben, könnten die Beteiligten sich fragen, ob in diesen normative Gehalte stecken, die die Grundlage für gemeinsame Orientierungen bieten. Die in der Tradition von Hegel, Humboldt und G. H.Mead stehenden Theorien haben diese Spur aufgenommen und gezeigt, daß kom­ munikative Handlungen mit reziproken Unterstellungen und kommunikative Lebensformen mit reziproken Anerkennungsbe­ ziehungen verwoben sind und insofern einen normativen Gehalt haben.58 Aus diesen Analysen geht hervor, daß die Moral aus der Form und Perspektivenstruktur der unversehrten intersubjektiven Vergesellschaftung einen genuinen, vom individuellen Guten unab­ hängigen Sinn bezieht.59 Freilich läßt sich aus Eigenschaften kommunikativer Lebensfor­ men allein nicht begründen, warum die Angehörigen einer be­ stimmten historischen Gemeinschaft ihre partikularistischen Wert­ orientierungen überschreiten, warum sie zu durchgängig symme­ trischen und unbegrenzt inklusiven Anerkennungsbeziehungen eines egalitären Universalismus übergehen sollten. Andererseits muß sich eine universalistische Auffassung, die falsche Abstraktio­ nen vermeiden will, kommunikationstheoretische Einsichten zu­ nutze machen. Aus der Tatsache, daß Personen einzig auf dem Wege der Vergesellschaftung individuiert werden, ergibt sich, daß die moralische Rücksichtnahme ebenso dem unvertretbar Einzel­ nen wie dem Angehörigen gilt60, also Gerechtigkeit mit Solidarität verbindet. Die Gleichbehandlung ist eine von Ungleichen, die sich 58 Vgl. A. Honneth, Kampf um Anerkennung, Frankfun am Main 1992; R. Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1994. $9 Vgl. L. Wingert (1984), 29$ ff. Zur Perspektivenstraktur des verständigungs­ orientierten Handelns vgl. den Titelaufsatz in J. Habermas (1983), 117 ff., insbes. 144-152. 60 Die Implikationen dieses doppelten Aspekts hat Wingert (1993) energisch her­ ausgearbeitet.

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ihrer Zusammengehörigkeit gleichwohl bewußt sind. Der Aspekt, daß Personen als solche mit allen übrigen Personen gleich sind, darf nicht auf Kosten des anderen Aspekts, daß sie als Individuen von allen anderen zugleich absolut verschieden sind, zur Geltung ge­ bracht werden.61 Der reziprok gleichmäßige Respekt für jeden, den der differenzempfindliche Universalismus verlangt, ist von der Art einer nicht-nivellierenden und nicht beschlagnahmenden Einbezie­ hung des Anderen in seiner Andersheit. Aber wie ist der Übergang zu einer posttraditionalen Moral über­ haupt zu rechtfertigen? Die im kommunikativen Handeln verwur­ zelten und traditionell eingespielten Verpflichtungen reichen nicht von sich ausbl über die Grenzen der Familie, des Stammes, der Stadt oder der Nation hinaus. Anders verhält es sich mit der Refle­ xionsform kommunikativen Handelns: Argumentationen weisen per se über alle partikularen Lebensformen hinaus. In den pragma­ tischen Voraussetzungen von rationalen Diskursen oder Beratun­ gen ist nämlich der normative Gehalt der im kommunikativen Handeln vorgenommenen Unterstellungen verallgemeinert, ab­ strahiert und entschränkt, d. h. auf eine inklusive Gemeinschaft ausgedehnt, die im Prinzip kein sprach- und handlungsfähiges Subjekt, sofern es relevante Beiträge liefern könnte, ausschließt. Diese Idee zeigt den Ausweg aus jener Situation, wo die Beteiligten den ontotheologischen Rückhalt verloren haben und ihre normati­ ven Orientierungen sozusagen ganz aus sich selber schöpfen müs­ sen. Wie erwähnt, können die Beteiligten nur auf die Gemeinsam­ keiten rekurrieren, über die sie aktuell bereits verfügen. Nach dem letzten Fehlschlag sind diese auf den Vorrat an formalen Eigen­ schaften der performativ geteilten Beratungssituation geschrumpft. Alle haben sich schließlich auf das kooperative Unternehmen einer praktischen Beratung schon eingelassen. Das ist eine ziemlich schmale Basis, aber die inhaltliche Neutralität dieses gemeinsamen Bestandes kann angesichts der Verlegenheit des weltanschaulichen Pluralismus auch eine Chance bedeuten. f

61 Deshalb wird die Bedingung der Unparteilichkeit nicht schon dadurch erfüllt, daß ein Unbeteiligter die Übel und Güter abwägt, die jeweils für eine »belie­ bige« Person auf dem Spiel stehen; anders Tugendhat (1993), 353. 61 Vgl. Seel (1995)» 2°4-

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Aussicht auf ein Äquivalent für die inhaltlich-traditionale Begrün­ dung eines normativen Grundeinverständnisses bestünde dann, wenn die Kommunikationsform, in der sich die gemeinsamen praktischen Überlegungen vollziehen, selber einen Aspekt her­ gäbe, unter dem eine alle Beteiligten überzeugende, weil unpartei­ liche Begründung von moralischen Normen möglich ist. Das fehlende »transzendente Gute« kann nur noch »immanent«, auf­ grund einer der Beratungspraxis innewohnenden Beschaffenheit kompensiert werden. Von hier aus, denke ich, führen drei Schritte zu einer moraltheoretischen Begründung des moralischen Ge­ sichtspunktes. (a) Wenn die Beratungspraxis selbst als einzige mögliche Ressource für einen Gesichtspunkt der unparteilichen Beurteilung morali­ scher Fragen in Betracht kommt, muß die Bezugnahme auf mora­ lische Inhalte durch die selbstreferentielle Bezugnahme auf die Form dieser Praxis ersetzt werden. Genau dieses Verständnis der Situation bringt >D< auf den Begriff: nur die Normen dürfen Gül­ tigkeit beanspruchen, die in praktischen Diskursen die Zustim­ mung aller Betroffenen finden könnten. Dabei bedeutet die »Zustimmung«, die unter Diskursbedingungen herbeigeführt wird, ein durch epistemische Gründe motiviertes Einverständnis; sie darf nicht als eine aus der egozentrischen Sicht eines jeden ra­ tional motivierte Vereinbarung verstanden werden. Allerdings läßt das Diskursprinzip die Art der Argumentation, also den Weg, auf dem ein diskursives Einverständnis erzielt werden kann, offen. Mit >D< wird nicht schon unterstellt, daß eine Begründung moralischer Normen ohne ein substantielles Hintergrundeinverständnis über­ haupt möglich ist. (b) Das konditional eingeführte Prinzip >D< gibt die Bedingung an, die gültige Normen erfüllen würden, wenn sie begründet werden könnten. Klarheit soll einstweilen nur über den Begriff der morali­ schen Norm bestehen. Auf intuitive Weise wissen die Beteiligten auch, wie man an Argumentationen teilnimmt. Obwohl sie nur mit der Begründung assertorischer Sätze vertraut sind und noch nicht wissen, ob sich moralische Geltungsansprüche in ähnlicher Weise beurteilen lassen, können sie sich (in nicht-präjudizierender Weise) vorstellen, was es heißen würde, Normen zu begründen. Was für 59

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die Operationalisierung von >D< fehlt, ist aber eine Argumenta­ tionsregel, die angibt, wie sich moralische Normen begründen lassen. Der Universalisierungsgrundsatz >U< ist gewiß durch >D< inspiriert, aber vorerst nicht mehr als ein abduktiv gewonnener Vorschlag. Er besagt, - daß eine Norm genau dann gültig ist, wenn die voraussichtlichen Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befol­ gung für die Interessenlagen und Wertorientierungen eines jeden voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen gemeinsam zwang­ los akzeptiert werden könnten. Dazu drei Kommentare. Mit »Interessenlagen und Wertorientie­ rungen« kommen die pragmatischen und ethischen Gründe der einzelnen Teilnehmer ins Spiel. Diese Eingaben sollen einer Margi­ nalisierung des Selbst- und Weltverständnisses einzelner Teilneh­ mer vorbeugen und allgemein die hermeneutische Sensibilität für ein hinreichend breites Spektrum von Beiträgen sichern. Des wei­ teren verlangt die verallgemeinerte gegenseitige Perspektivenüber­ nahme (»eines jeden« - »von allen gemeinsam«) nicht nur Einfüh­ lung, sondern auch interpretatorische Intervention in das Selbstund Weltverständnis von Teilnehmern, die sich für Revisionen der (Sprache ihrer) Selbst- und Fremdbeschreibungen offenhalten müssen. Das Ziel des »gemeinsamen zwanglosen Akzeptierens« legt schließlich die Hinsicht fest, in der die vorgetragenen Gründe den aktorrelativen Sinn von Handlungsmotiven abstreifen und un­ ter dem Gesichtspunkt der symmetrischen Berücksichtigung einen epistemischen Sinn annehmen. (c) Die Beteiligten selbst werden sich mit dieser (oder einer sol­ chen) Argumentationsregel vielleicht zufriedengeben, sofern sie sich als brauchbar erweist und nicht zu kontraintuitiven Ergebnis­ sen führt. Es muß sich zeigen, daß eine derart angeleitete Begrün­ dungspraxis allgemein zustimmungsfähige Normen - Menschen­ rechte beispielsweise - auszeichnet. Aber aus der Sicht des Moraltheoretikers fehlt ein letzter Begründungsschritt. Wir dürfen zwar davon ausgehen, daß die Beratungs- und Recht­ fertigungspraxis, die wir Argumentation nennen, in allen Kulturen und Gesellschaften (wenn auch nicht notwendig in institutionali6o

I sierter Form, so doch als eine informelle Praxis) anzutreffen ist und daß es für diese Art der Problemlösung keine Äquivalente gibt. Im Hinblick auf die universelle Verbreitung und Alternativenlosigkeit der Argumentationspraxis dürfte es schwierig sein, die Neutralität des Diskursprinzips zu bestreiten. Aber bei der Abduktion von >U< könnte sich ein ethnozentrisches Vorverständnis, und damit eine bestimmte Konzeption des Guten, eingeschlichen haben, das von anderen Kulturen nicht geteilt wird. Dieser Verdacht auf die euro­ zentrische Befangenheit eines durch >U< operationalisierten Ver­ ständnisses von Moralität läßt sich entkräften, wenn diese Erklä­ rung des moralischen Gesichtspunktes »immanent«, nämlich aus dem Wissen, was man tut, wenn man sich überhaupt auf eine Ar­ gumentationspraxis einläßt, plausibel gemacht werden könnte. Die diskursethische Begründungsidee besteht also darin, daß sich der Grundsatz >UD< ausgesprochenen Vor­ stellung von Normenbegründung überhaupt, aus dem impliziten Gehalt allgemeiner Argumentationsvoraussetzungen gewinnen läßt.63 Intuitiv ist das leicht einzusehen (während jeder Versuch einer formalen Begründung umständliche Diskussionen über Sinn und Durchführbarkeit »transzendentaler Argumente« erfordern würde64). Ich begnüge mich hier mit dem phänomenologischen Hinweis, daß Argumentationen in der Absicht unternommen wer­ den, sich gegenseitig von der Berechtigung von Geltungsansprü­ chen zu überzeugen, die Proponenten für ihre Aussagen erheben und gegen Opponenten zu verteidigen bereit sind. Mit der Argu­ mentationspraxis wird ein kooperativer Wettbewerb um bessere Argumente eingerichtet, wobei die Orientierung am Ziel der Ver­ ständigung die Teilnehmer a limine verbindet. Die Vermutung, daß der Wettbewerb zu »rational akzeptablen«, eben »überzeugenden« Ergebnissen führen kann, gründet sich auf die Überzeugungskraft der Argumente. Was als gutes oder schlechtes Argument zählt, 63 Vgl. Konrad Ott, »Wie begründet man ein Diskussionsprinzip der Moral?«, in: ders., Vom Begründen zum Handeln, Tübingen 1996, 12-50. 64 Vgl. M.Niquet, Transzendentale Argumente, Frankfurt am Main 1991; ders., Nichthintergehbarkeit und Diskurs, Habilitationsschrift (Manuskript), Frank­ furt am Main 1995.

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kann freilich selbst zur Diskussion gestellt werden. Deshalb stützt sich die rationale Akzeptabilität einer Aussage letztlich auf Gründe in Verbindung mit bestimmten Eigenschaften des Argumentations­ prozesses selber. Ich nenne nur die vier wichtigsten: (a) niemand, der einen relevanten Beitrag machen könnte, darf von der Teil­ nahme ausgeschlossen werden; (b) allen wird die gleiche Chance gegeben, Beiträge zu leisten; (c) die Teilnehmer müssen meinen, was sie sagen; (d) die Kommunikation muß derart von äußeren und inneren Zwängen frei sein, daß die Ja/Nein-Stellungnahmen zu kritisierbaren Geltungsansprüchen allein durch die Überzeugungs­ kraft besserer Gründe motiviert sind. Wenn nun jeder, der sich auf eine Argumentation einläßt, mindestens diese pragmatischen Vor­ aussetzungen machen muß, können in praktischen Diskursen, (a) wegen der Öffentlichkeit und Inklusion aller Betroffenen und (b) wegen der kommunikativen Gleichberechtigung der Teilnehmer, nur Gründe zum Zuge kommen, die die Interessen und Wertorientierungen eines jeden gleichmäßig berücksichtigen; und wegen der Abwesenheit von (c) Täuschung und (d) Zwang können nur Gründe für die Zustimmung zu einer strittigen Norm den Aus­ schlag geben. Unter der Prämisse der wechselseitig jedem unter­ stellten Verständigungsorientierung kann schließlich diese »zwang­ lose« Akzeptanz nur »gemeinsam« erfolgen. Gegen den oft erhobenen Zirkeleinwand65 sei darauf hingewiesen, daß der Gehalt der allgemeinen Argumentationsvoraussetzungen noch keineswegs im moralischen Sinne »normativ« ist. Denn In­ klusivität bedeutet nur die Unbeschränktheit des Zugangs zum Diskurs, nicht die Universalität irgendeiner verpflichtenden Hand­ lungsnorm. Die Gleichverteilung kommunikativer Freiheiten im und die Aufrichtigkeitsforderung für den Diskurs bedeuten Argumentaricwpflichten und -rechte, keineswegs moralische Pflichten und Rechte. Ebenso bezieht sich die Zwanglosigkeit auf den Argu­ mentationsprozeß selber, nicht auf interpersonale Beziehungen außerhalb dieser Praxis. Die für das Argumentationsspiel konstitu65 Vgl. Tugendhat (1993), 161 ff. Die Kritik Tugendhats bezieht sich auf eine bereits in der zweiten Auflage von Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, also 1984 (!) revidierte Fassung meines Arguments; vgl. auch J. Habermas ('??■). >34. >7-

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i tiven Regeln bestimmen den Austausch von Argumenten und Ja-/Nein-Stellungnahmen; sie haben den epistemischen Sinn, die Rechtfertigung von Aussagen zu ermöglichen, nicht den unmittel­ bar praktischen Sinn, Handlungen zu motivieren. Der Witz der diskursethischen Begründung des moralischen Ge­ sichtspunktes besteht darin, daß sich der normative Gehalt dieses epistemischen Sprachspiels erst über eine Argumentationsregel auf die Selektion von Handlungsnormen überträgt, die - zusammen mit ihrem moralischen Geltungsanspruch - in praktische Diskurse eingegeben werden. Eine moralische Verbindlichkeit kann sich aus der gleichsam transzendentalen Nötigung unvermeidlicher Argu­ mentationsvoraussetzungen alleine nicht ergeben; sie haftet viel­ mehr den speziellen Gegenständen des praktischen Diskurses an den in ihn eingeführten Normen, auf die sich die in der Beratung mobilisierten Gründe beziehen. Diesen Umstand hebe ich mit der Formulierung hervor, daß sich >U< aus dem normativen Gehalt von Argumentationsvoraussetzungen in Verbindung mit einem (schwa­ chen, also nicht-präjudizierenden) Begriff von Normenbegrün­ dung plausibel machen läßt. Die hier nur skizzierte Begründungsstrategie teilt sich die Bürde der Plausibilisierung mit einer genealogischen Fragestellung, hinter der sich gewisse modernitätstheoretische Annahmen verbergen.66 Mit >U< vergewissern wir uns auf reflexive Weise (das verrät auch die hier nicht zu erörternde Begründungsfigur des zur Identifizie­ rung allgemeiner Argumentationsvoraussetzungen benützten Nachweises performativer Selbstwidersprüche67) einer in posttraditionalen Gesellschaften gleichsam übrigbleibenden, weil in For­ men des verständigungsorientierten Handelns und der Argumenta­ tion bewahrten Rests von normativer Substanz. Als Folgeproblem ergibt sich die Frage der Normanwendung. Mit

66 Das betont W. Rehg, Insight and Solidarity, Berkeley 1994, 65 ff.; vgl. auch S. Benhabib, »Autonomy, Modemity and Community«, in: dies., Situating the Self, Cambridge 1992, 68-88. 67 Vgl. K.-O. Apel, »Die transzendentalpragmatische Begründung der Kommuni­ kationsethik«, in: ders., Diskurs und Verantwortung, Frankfun am Main 1988, 306-369.

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dern (von K. Günther68) entwickelten Prinzip der Angemessenheit bringt sich nämlich der moralische Gesichtspunkt erst im Hinblick auf singuläre moralische Urteile vollständig zur Geltung. In der Konsequenz erfolgreich durchgeführter Begründungs- und An­ wendungsdiskurse zeigt sich sodann, daß sich praktische Fragen unter dem scharf geschnittenen moralischen Gesichtspunkt diffe­ renzieren: moralische Fragen des richtigen Zusammenlebens tren­ nen sich von pragmatischen Fragen der rationalen Wahl auf der einen, von ethischen Fragen des guten oder nicht-verfehlten Le­ bens auf der anderen Seite. Zudem ist mir rückblickend klargewor­ den, daß >U< ein umfassenderes Diskursprinzip zunächst im Hinblick auf eine spezielle, nämlich moralische Fragestellung ope­ rationalisiert hat.69 Das Diskursprinzip läßt sich auch für Fragen anderer Art operationalisieren, so z. B. für die Beratungen eines politischen Gesetzgebers oder für juristische Diskurse.70

68 Siehe Fußnote 56. 69 Vgl. Habermas (1992), 13 5 ff. und Nachwon zur vienen Auflage S. 674 ff. 70 Vgl. R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Frankfun am Main 1991; ders., Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg 1992; ders., Recht, Vernunft, Diskurs, Frankfun am Main 1995; K. Baynes, The Normative Grounds of Social Critidsm, Albany 1992; S.Benhabib, »Dcliberarive Rationality and Models of Democratic Legitimacy«, Constellations, 1, 1994, 26-52; vor allem vgl. R. Forst (.'Wi­

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2. Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch

John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit bedeutet eine Zäsur in der neuesten Geschichte der praktischen Philosophie. Mit diesem Werk hat Rawls die lange Zeit verdrängten moralischen Fragen als Gegenstand wissenschaftlich ernst zu nehmender Untersuchungen rehabilitiert. Kant hatte die moralische Grundfrage so formuliert, daß sie eine rationale Antwort finden konnte: in Konfliktfällen sollen wir das tun, was gleichermaßen gut ist für alle Personen. Ohne Kants transzendentalphilosophische Hintergrundannahmen in Anspruch zu nehmen, hat Rawls diesen Ansatz im Hinblick auf das gerechte Zusammenleben von Bürgern eines politischen Ge­ meinwesens erneuert. In Frontstellung gegen den Utilitarismus auf der einen, den Wertskeptizismus auf der anderen Seite, hat er eine intersubjektivistische Lesart für Kants Begriff der Autonomie vor­ geschlagen: autonom handeln wir, wenn wir genau den Gesetzen gehorchen, die von allen Betroffenen auf der Grundlage eines öf­ fentlichen Gebrauchs ihrer Vernunft mit guten Gründen akzeptiert werden könnten. Diesen moralischen Begriff der Autonomie be­ nützt Rawls als Schlüssel für die Erklärung der politischen Auto­ nomie von Bürgern eines demokratischen Rechtsstaates: »Our exercise of political power is fully proper only, when it is exercised in accordance with a Constitution the essentials of which all citizens as free and equal may reasonably be expected to endorse in the light of principles and ideals acceptable to their common human reason.«1 Dieser Satz stammt aus dem Buch, mit dem Rawls einen zwanzigjährigen Prozeß der Erweiterung und Revision seiner Ge­ rechtigkeitstheorie vorerst abgeschlossen hat. Wie er sich seinerzeit gegen utilitaristische Positionen gewendet hatte, so reagiert er heute vor allem auf kontextualistische Positionen, die die Voraus­ setzung einer allen Menschen gemeinsamen Vernunft bestreiten. Da ich dieses Projekt bewundere, seine Intention teile und die we­ sentlichen Ergebnisse für richtig halte, bleibt der Dissens, den ich zur Sprache bringen soll, in den engen Grenzen eines Familienl J. Rawls, Political Liberalism IV, New York 1993, 137.

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Streits. Meine Zweifel beschränken sich darauf, ob Rawls seine wichtigen und - wie ich meine - zutreffenden normativen Intuitio­ nen stets auf die überzeugendste Weise zur Geltung bringt. Zu­ nächst möchte ich aber an die Umrisse des Unternehmens erinnern, wie es sich jetzt darstellt. Rawls begründet Grundsätze, nach denen eine moderne Gesell­ schaft eingerichtet werden muß, wenn sie die faire Zusammenar­ beit zwischen ihren Bürgern als freien und gleichen Personen gewährleisten soll. In einem ersten Schritt klärt er den Gesichts­ punkt, unter dem fiktive Repräsentanten diese Frage unparteilich beantworten könnten. Er erklärt, warum sich die Parteien im soge­ nannten Urzustand auf zwei Prinzipien einigen würden: und zwar einmal auf den liberalen Grundsatz, wonach allen Bürgern gleiche subjektive Handlungsfreiheiten eingeräumt werden; und zum an­ deren auf den nachgeordneten Grundsatz, der den gleichberechtig­ ten Zugang zu öffentlichen Ämtern regelt und festlegt, daß soziale Ungleichheiten nur insoweit in Kauf genommen werden dürfen, wie sie auch noch für die unterprivilegierten Bürger von Vorteil sind. In einem zweiten Schritt zeigt Rawls, daß diese Konzeption unter jenen Bedingungen eines Pluralismus, den sie selbst beför­ dert, auf Zustimmung rechnen kann. Der politische Liberalismus ist weltanschaulich neutral, weil er eine vernünftige Konstruktion ist, ohne selbst einen Wahrheitsanspruch zu stellen. In einem drit­ ten Schritt skizziert Rawls schließlich die Grundrechte und die Prinzipien des Rechtsstaats, die sich aus den beiden obersten Ge­ rechtigkeitsprinzipien herlejten lassen. In der Reihenfolge dieser Schritte werde ich Einwände vortragen, die sich weniger gegen das Projekt als solches als vielmehr gegen einige Aspekte seiner Durch­ führung richten. Ich fürchte, daß Rawls Zugeständnisse an philo­ sophische Gegenpositionen macht, die der Klarheit seines eigenen Ansatzes schaden. Meine in konstruktiver Absicht vorgetragene Kritik setzt imma­ nent an. Zunächst habe ich Zweifel, ob das Design des Urzustandes in jeder Hinsicht geeignet ist, um den Gesichtspunkt der unpartei­ lichen Beurteilung von deontologisch verstandenen Gerechtig­ keitsprinzipien zu erklären und zu sichern (i). Ferner habe ich den Eindruck, daß Rawls Begründungsfragen von Fragen der Akzep-

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tanz schärfer trennen müßte; er scheint die weltanschauliche Neu­ tralität seiner Gerechcigkeitskonzeption mit der Preisgabe ihres kognitiven Geltungsanspruchs erkaufen zu wollen (11). Diese bei­ den theoriestrategischen Entscheidungen haben eine Konstruktion des Rechtsstaats zur Folge, die die liberalen Grundrechte dem de­ mokratischen Legitimationsprinzip überordnet. Damit verfehlt Rawls sein Ziel, die Freiheit der Modernen mit der Freiheit der Alten in Einklang zu bringen (m). Ich schließe mit einer These zum Selbstverständnis der politischen Philosophie: diese soll unter Bedingungen nachmetaphysischen Denkens bescheiden sein, aber nicht auf die falsche Weise. Die mir von der Redaktion des »Journal of Philosophy« zuge­ dachte Rolle des Opponenten nötigt mich dazu, tentative Beden­ ken zu Einwänden zuzuspitzen. Diese Zuspitzung läßt sich mit der freundschaftlich-provokativen Absicht rechtfertigen, den nicht leicht überschaubaren Argumentationshaushalt einer hoch kom­ plexen und wohldurchdachten Theorie so in Bewegung zu setzen, daß sie ihre Stärken zur Geltung bringen kann.2

i. Das Design des Urzustandes

Rawls konzipiert den Urzustand als eine Situation, in der rational entscheidende Repräsentanten der Bürger genau den Beschränkun­ gen unterliegen, die eine unparteiliche Beurteilung von Gerechtig­ keitsfragen garantieren. Der volle Begriff der Autonomie bleibt den Bürgern vorbehalten, die bereits unter Institutionen einer wohlgeordneten Gesellschaft leben. Für die Konstruktion des Ur­ zustandes zerlegt Rawls diesen Begriff politischer Autonomie in zwei Elemente: in die moralisch neutralen Eigenschaften von Par­ teien, die ihren rationalen Vorteil suchen, und in die moralisch gehaltvollen Situationsbeschränkungen, unter denen jene Parteien Grundsätze für ein System fairer Kooperation wählen. Diese nor­ mativen Beschränkungen erlauben es, die Parteien sparsam auszu1 Bei der Vorbereitung hilfreich waren für mich insbesondere: K. Baynes, Tht Nor­ mative Grounds of Social Criticism, Albany 1992; R. Forst, Kontexte der Gerech­ tigkeit, Frankfun am Main 1994.

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statten, nämlich nur mit »der Befähigung, rational zu sein und von (ihrer) jeweils gegebenen Konzeption des Guten aus zu handeln«? Gleichviel, ob die Parteien nur zweckrationale Erwägungen anstel­ len oder auch ethische Gesichtspunkte der Lebensführung einbe­ ziehen, ihre Entscheidungen fällen sie stets aus der Sicht ihrer eigenen Wertorientierungen (bzw. aus der Perspektive der von ih­ nen repräsentierten Bürger). Sie brauchen und können die Dinge nicht unter dem moralischen Gesichtspunkt betrachten, unter dem zu berücksichtigen wäre, was im gleichmäßigen Interesse aller liegt. Denn diese Unparteilichkeit wird durch eine Situation er­ zwungen, die einen Schleier des Nichtwissens über die wechselsei­ tig aneinander uninteressierten, zugleich freien und gleichen Parteien senkt. Weil diese nicht wissen, welche Position sie einst in der von ihnen zu ordnenden Gesellschaft einnehmen werden, se­ hen sie sich schon aus eigenem Interesse veranlaßt, zu überlegen, was gleichermaßen gut für alle ist. Die Konstruktion eines Urzustandes, der die Willkürfreiheit ratio­ nal entscheidender Aktoren vernünftig einrahmt, erklärt sich aus der anfänglich verfolgten Absicht, die Theorie der Gerechtigkeit als Teil der allgemeinen Theorie rationaler Wahl darzustellen. Rawls war nämlich zunächst davon ausgegangen, daß man den operativen Spielraum rational entscheidender Parteien nur in geeig­ neter Weise beschränken müsse, um aus ihrem aufgeklärten Selbst­ interesse Gerechtigkeitsgrundsätze ableiten zu können. Bald sollte er jedoch einsehen, daß sich die Vernunft autonomer Bürger nicht auf die Wahlrationalität willkürlich entscheidender Aktoren zu­ rückführen läßt? Auch nach der Revision des Beweiszieles, dem das Design des Urzustandes ursprünglich dienen sollte, hat er frei­ lich daran festgehalten, daß sich der Sinn des moralischen Gesichts­ punktes auf diese Weise operationalisieren läßt. Das hat mißliche Konsequenzen, von denen ich im folgenden drei erörtern möchte: (1) Können die Parteien im Urzustand allein auf der Grundlage ihres rationalen Egoismus die vorrangigen Belange ihrer Klienten


“ diesem Ansitz hält weiterhin fest R. Milo, »Contractarian Constructivism«, The Journal of Philosophy, xcn, 1995, 181-204. 104

in. Die Alternative zum Kantischen Prozeduralismus Es kommt zu einem übergreifenden Konsens, »when all reasonable members of political society carry out a justification of the shared political conception by embedding it in their several reasonable comprehensive views« (R 143). Rawls schlägt eine Arbeitsteilung zwischen dem Politischen und dem Metaphysischen mit dem Er­ gebnis vor, daß der Inhalt, worin alle Bürger übereinstimmen können, getrennt wird von den jeweiligen Gründen, aus denen der Einzelne ihn als wahr akzeptiert. Diese Konstruktion geht von zwei, aber nur zwei Perspektiven aus: jeder Bürger verbindet die Perspektive eines Teilnehmers mit der des Beobachters. Beobachter können Vorgänge in der politischen Sphäre beschreiben, beispiels­ weise die Tatsache des Zustandekommens eines übergreifenden Konsenses. Sie können erkennen, daß sich dieser Konsens infolge der gelungenen Überlappung der moralischen Bestandteile ver­ schiedener religiöser oder metaphysischer Weltbilder einstellt und zur Stabilität des Gemeinwesens beiträgt. Aber in der objektivie­ renden Einstellung von Beobachtern können die Bürger nicht reziprok in andere Weltbilder eindringen und deren Wahrheitsge­ halt aus der jeweiligen Innenperspektive nachvollziehen. In die Grenzen tatsachenfeststellender Diskurse gebannt, ist ihnen eine Stellungnahme zu dem, was gläubige oder überzeugte Teilnehmer aus der Perspektive der ersten Person jeweils für wahr, richtig und wertvoll halten, verwehrt. Sobald sich Bürger zu moralischen Wahrheiten oder allgemein zu »Konzeptionen dessen, was im menschlichen Leben von Wert ist« (PL 175) äußern möchten, müs­ sen sie zu der ihrem eigenen Weltbild jeweils eingeschriebenen Teilnehmerperspektive überwechseln. Denn moralische Aussagen oder Werturteile können nur aus dem dichten Kontext umfassen­ der Weltdeutungen begründet werden. Moralische Gründe für eine präsumtiv gemeinsame Konzeption der Gerechtigkeit sind per De­ finition nicht-öffentliche Gründe. Die Bürger können sich nur aus der Sicht des je eigenen Deutungs­ systems von der Wahrheit einer - für alle geeigneten - Gerechtig­ keitskonzeption überzeugen. Eine solche Konzeption erweist ihre io5

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Eignung als gemeinsame Plattform für eine öffentliche Rechtferti­ gung von Verfassungsprinzipien dadurch, daß sie die nicht-öffent­ lich zu begründende Zustimmung aller Beteiligten findet. Nur der glückliche Umstand, daß die verschieden motivierten nicht-öffent­ lichen Gründe im Ergebnis konvergieren, hat die öffentliche Gel­ tung, d. h. die »Vernünftigkeit« des von allen akzeptierten Inhalts dieses »übergreifenden Konsenses« zur Folge. Aus den Prämissen verschiedener Anschauungen resultiert eine Übereinstimmung in den Konsequenzen. Dabei ist es für die Anlage der Theorie im ganzen entscheidend, daß die Beteiligten diese Konvergenz bloß als soziale Tatsache beobachten können: »The express contents of these doctrines have no normative role in public justification.« (R 144) Eine dritte Perspektive, eine zur Beobachter- und Teilnehmer­ perspektive hinzutretende Perspektive, gesteht Rawls seinen Bür­ gern in diesem Stadium nämlich nicht zu. Bevor sich ein übergrei­ fender Konsens einspielt, gibt es keine öffentliche, intersubjektiv geteilte Perspektive, die den Bürgern sozusagen von Haus aus eine unparteiliche Urteilsbildung möglich machen würde. Es fehlt, wie wir sagen können, der »moralische Gesichtspunkt«, unter dem die Bürger in gemeinsamer öffentlicher Beratung eine politische Kon­ zeption entwickeln und rechtfertigen könnten. Was Rawls den »öffentlichen Gebrauch der Vernunft« nennt, setzt die gemeinsame Plattform eines bereits erzielten politischen Grundkonsenses vor­ aus. Diese Plattform betreten die Bürger erst post festum, d. h. in der Folge der sich einstellenden »Überlappung« ihrer je verschiede­ nen Hintergrundüberzeugungen: »Only when there is a reasonable overlapping consensus can political society’s political conception of justice be publicly ... justified.« (R 144) Maßgebend für die komplementäre Beziehung zwischen dem Poli­ tischen und dem Metaphysischen ist eine Beschreibung der moder­ nen Ausgangssituation, wie sie sich aus der Sicht von »Gläubigen«, also von der einen, der »metaphysischen« Seite aus darstellt. In der Arbeitsteilung zwischen dem Politischen und dem Metaphysischen spiegelt sich die komplementäre Beziehung zwischen öffentlichem Agnostizismus und privatisiertem Bekenntnis, zwischen der kon­ fessionellen Farbenblindheit einer neutralen Staatsgewalt und der illuminierenden Kraft von Weltbildern, die um »Wahrheit« im emio6

phatischen Sinne konkurrieren. Die moralischen Wahrheiten, die nach wie vor in religiöse oder metaphysische Weltbilder eingebettet sind, teilen diesen starken Wahrheitsanspruch, obgleich die Tatsa­ che des Pluralismus zugleich daran erinnert, daß die umfassenden Doktrinen einer öffentlichen Rechtfertigung nicht mehr fähig

sind. Die ingeniöse Beweislastenverteilung befreit die politische Philo­ sophie von ihrer beunruhigenden Aufgabe, für die metaphysische Begründung moralischer Wahrheiten Ersatz zu schaffen. Das Me­ taphysische bleibt, obwohl es sozusagen von der öffentlichen Agenda gestrichen worden ist, letzte Geltungsgrundlage für das moralisch Richtige und ethisch Gute. Auf der anderen Seite ist das Politische einer eigenen Geltungsquelle beraubt. Die innovative Idee des »übergreifenden Konsenses« bewahrt der politischen Ge­ rechtigkeit eine interne Verbindung mit den moralischen Bestand­ teilen der Weltbilder, freilich nur unter der Bedingung, daß diese Verbindung allein für die Moral der Weltbilder einsichtig ist, also öffentlich unzugänglich bleibt: »It is up to each comprehensive doctrine to say how its idea of the reasonable connects with its concept of truth.« (PL 94) Der übergreifende Konsens stützt sich auf die jeweils verschiedenen moralischen Bestandteile dessen, was ein Bürger insgesamt für wahr hält. Vom Beobachterstandpunkt aus kann niemand wissen, welches der konkurrierenden Weltbil­ der, wenn überhaupt, tatsächlich wahr ist. Allein, die Wahrheit dieses einen würde schon garantieren, »that all the reasonable doctrines yield the right conception of justice, even though they do not for the right reasons as specified by the one true doctrine« (PL 128).

Rawls konzentriert sich wie Hobbes auf Fragen der politischen Gerechtigkeit und entnimmt der Hobbistischen Tradition den Ge­ danken, daß die angestrebte öffentliche Einigung von privaten, nicht-öffentlichen Gründen zehren muß. Anders als bei Hobbes stützt sich bei ihm die rationale Akzeptabilität eines Vorschlages, der sich als zustimmungsfähig herausstellt, auf die moralische Sub­ stanz verschiedener, aber in dieser Hinsicht konvergierender Welt­ bilder- und nicht auf die Präferenzen verschiedener Personen, die einander ergänzen. Mit der Kantischen Tradition teilt Rawls die

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moralische Begründung politischer Gerechtigkeit. Die moralisch überzeugenden Gründe tragen einen - über einen modus vivendi hinausreichenden - Konsens. Aber diese Gründe können nicht öf­ fentlich von allen gemeinsam geprüft werden, weil der öffentliche Gebrauch der Vernunft auf eine Plattform angewiesen ist, die sich im Lichte nicht-öffentlicher Gründe erst herstellen muß. Der über­ greifende Konsens beruht, wie ein Kompromiß, auf den jeweils verschiedenen Gründen der beteiligten Parteien; aber anders als beim Kompromiß sind diese Gründe moralischer Natur.

iv. Eine »dritte« Perspektive fürs Vernünftige

Der Gedanke des overlapping Consensus macht eine Erklärung des Ausdrucks »reasonable« nötig. Obgleich die Akzeptanz einer frei­ stehenden Konzeption der Gerechtigkeit von ergänzenden meta­ physischen Wahrheiten lebt, soll nämlich dieser politischen Kon­ zeption gleichwohl eine »Vernünftigkeit« zukommen, die jenen idiosynkratischen und füreinander nicht transparenten Wahrheiten den Aspekt öffentlicher Anerkennung hinzufügt. Unter Geltungs­ aspekten besteht eine unbehagliche Asymmetrie zwischen der öf­ fentlichen Konzeption der Gerechtigkeit, die einen schwachen Anspruch auf »Vernünftigkeit« erhebt, und den nicht-öffentlichen Doktrinen mit einem starken Anspruch auf »Wahrheit«. Daß eine öffentliche Konzeption der Gerechtigkeit ihre moralische Autorität letztlich aus nicht-öffentlichen Gründen beziehen sollte, ist kontraintuitiv. Alles, was gültig ist, muß auch öffentlich ge­ rechtfertigt werden können. Gültige Aussagen verdienen aus den­ selben Gründen allgemeine Anerkennung. Der Ausdruck »agreement« ist in dieser Hinsicht zweideutig. Während Parteien, die einen Kompromiß aushandeln, dem Ergebnis aus jeweils anderen Gründen zustimmen können, müssen Argumentationsteilnehmer ein rational motiviertes Einverständnis, wenn überhaupt, aus den­ selben Gründen erzielen. Eine solche Rechtfertigungspraxis ist auf einen öffentlich und gemeinsam erzielten Konsens angelegt. Schon diesseits der politischen Sphäre erfordern Argumentationen einen gewissermaßen öffentlichen Gebrauch der Vernunft. In ra108

tionalen Diskursen wird nur zum Thema erhoben, was im Alltag als Ressource für die Bindungskraft von Sprechakten dient - näm­ lich Geltungsansprüche, die intersubjektive Anerkennung heischen und im Falle ihrer Problematisierung eine öffentliche Rechtferti­ gung in Aussicht stellen. So verhält es sich auch mit normativen Geltungsansprüchen. Die Gewohnheit, über moralische Fragen mit Gründen zu streiten, würde zusammenbrechen, wenn die Teil­ nehmer davon ausgehen müßten, daß moralische Urteile wesentlich von persönlichen Glaubensüberzeugungen abhängen und nicht mehr auf die Akzeptanz derer rechnen dürfen, die diesen Glauben nicht teilen.9 Das läßt sich gewiß nicht unmittelbar auf die Politik anwenden; denn politische Auseinandersetzungen sind gemischter Natur. Aber je mehr sie sich mit Verfassungsprinzipien und den zugrundeliegenden Gerechtigkeitskonzeptionen befassen, um so mehr ähneln sie moralischen Diskursen. Im übrigen hängen politi­ sche Grundfragen mit Fragen der rechtlichen Implementierung zusammen. Und zwingende Regelungen machen einen politischen Grundkonsens der Bürger erst recht nötig. Strittig ist nicht das Erfordernis selbst, sondern wie es zu erfüllen ist. Es fragt sich, ob die Bürger überhaupt etwas als »vernünftig« einsehen können, wenn sie nicht einen dritten Standpunkt - neben dem des Beobachters und des Teilnehmers - einnehmen dürfen. Kann aus der Pluralität weltanschaulicher Gründe, deren nicht­ öffentlicher Charakter wechselseitig anerkannt wird, überhaupt ein Konsens hervorgehen, der sich für die Bürger eines politischen Gemeinwesens als Grundlage für einen öffentlichen Gebrauch der Vernunft eignet? Ich möchte vor allem wissen, ob Rawls die Bil­ dung eines solchen übergreifenden Konsenses erklären kann, ohne stillschweigend auf eine solche »dritte« Perspektive Bezug zu neh­ men, aus der heraus »wir«, die Bürger, gemeinsam und öffentlich beraten, was gleichermaßen im Interesse eines jeden ist. Die Perspektive des Anhängers einer Glaubensgemeinschaft ist verschieden von der eines Teilnehmers an öffentlichen Diskursen. Die existentielle Entschlußkraft eines unvertretbar Einzelnen, der sich aus der Perspektive der ersten Person Singular darüber klar9 Vgl. L. Wingert, Gemeinsinn und Moral, Frankfurt am Main 1993, Teil 11, 166 ff. 109

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werden möchte, wie er sein Leben führen soll, ist etwas anderes als das fallibilistische Bewußtsein des an der politischen Meinungs­ und Willensbildung beteiligten Bürgers. Aber Rawls stellt sich, wie gezeigt, den Prozeß der Verständigung über eine gemeinsame Kon­ zeption der Gerechtigkeit nicht in der Art vor, daß die Bürger gemeinsam dieselbe Perspektive einnehmen. Weil sie fehlt, muß die Konzeption, die sich als »vernünftig« herausstellen wird, in den Kontext der jeweils für »wahr« gehaltenen Weltbilder hineinpas­ sen. Aber muß nicht der Umstand, daß die nicht-öffentliche Wahr­ heit der religiösen oder metaphysischen Lehren gegenüber der Vernünftigkeit einer politischen Konzeption Vorrang hat, den uni­ versalistischen Sinn von »vernünftig« affizieren? Rawls führt das Prädikat »vernünftig« in der folgenden Weise ein. Bürger, die bereit und in der Lage sind, in einer »wohlgeordneten« Gesellschaft zu leben, heißen vernünftig; als vernünftige Leute ha­ ben sie auch vernünftige Auffassungen von der Welt im ganzen. Wenn sich aus vernünftigen Doktrinen der erwartete Konsens er­ gibt, gilt auch dessen Inhalt als vernünftig. »Vernünftig« bezieht sich also zunächst auf die Einstellung von Leuten, die (a) bereit sind, sich über faire Bedingungen der gesellschaftlichen Koopera­ tion zwischen freien und gleichen Bürgern zu verständigen und sich daran zu halten, und die (b) in der Lage sind, Beweislasten und Argumentationspflichten - bürdens of argument - zu erkennen und deren Konsequenzen auf sich zu nehmen. Das Prädikat wird im nächsten Schritt von den Einstellungen auf die Überzeugungen vernünftiger Personen übertragen. Vernünftige Weltbilder bestär­ ken die Anhänger wiederum in einer toleranten Haltung, weil sie auf eine bestimmte An reflexiv sind und im Hinblick auf prakti­ sche Konsequenzen bestimmten Beschränkungen unterliegen. Ein »reflexives« Bewußtsein ergibt sich daraus, daß zwischen konkur­ rierenden Lehren ein vernünftigerweise zu erwartender Dissens besteht. Und derart subjektivierte Glaubensmächte können unter Bedingungen des weltanschaulichen Pluralismus nur gleichberech­ tigt miteinander konkurrieren, wenn sich ihre Anhänger des Mit­ tels politischer Gewalt zur Durchsetzung von Glaubenswahrheiten enthalten. In unserem Zusammenhang ist nun vor allem wichtig, daß eine in iio

dieser Weise spezifizierte »Vernünftigkeit« von Bürgern und Welt­ bildern keineswegs schon jene Perspektive erfordert, aus der die Grundfragen der politischen Gerechtigkeit gemeinsam und öffent­ lich erörtert werden könnten. Der moralische Gesichtspunkt wird weder von »vernünftigen« Einstellungen impliziert noch von »ver­ nünftigen« Weltbildern möglich gemacht. Eine solche Perspektive eröffnet sich erst, wenn sich ein übergreifender Konsens über eine Gerechtigkeitskonzeption hergestellt hat. Dennoch scheint Rawls nicht umhinzukönnen, wenigstens inoffiziell auf diese »dritte« Perspektive auch schon »in jenem grundlegenden Fall der öffentli­ chen Rechtfertigung« (R 144) zurückzugreifen. Man hat den Ein­ druck, daß er zwischen seiner ursprünglichen, in der »Theorie der Gerechtigkeit« verfolgten, noch stärker an Kant angelehnten Stra­ tegie und der später entwickelten Alternative, die mit der Tatsache des Pluralismus ernst machen soll, gespalten bleibt. Auch hier nimmt der Philosoph noch eine Perspektive unparteilicher Beurtei­ lung ein; aber dieser, sagen wir: professionelle Standpunkt findet keine Entsprechung in einem moralischen Gesichtspunkt, den die Bürger von Haus aus selbst teilen könnten. Nun hat sich Rawls inzwischen ausführlicher zum Problem der Rechtfertigung des übergreifenden Konsenses geäußert (R 142 ff.). Wenn wir die »drei Arten« der Rechtfertigung, die er dort erläu­ tert, unter die Lupe nehmen, stoßen wir auf die interessante Frage, wie sich denn »vernünftige« Weltbilder als solche überhaupt iden­ tifizieren lassen, wenn Maßstäbe einer von Weltbildern unabhängi­ gen praktischen Vernunft nicht zur Verfügung stehen. Zum Aussortieren der vernünftigen Weltbilder sind gewissermaßen »schlanke« normative Entscheidungen nötig, die unabhängig von »dichten« metaphysischen Hintergrundannahmen müßten be­ gründet werden können.

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v. Die letzte Stufe der Rechtfertigung10

Rawls nennt den Ort, wo die Rechtfertigung einer politischen Ge­ rechtigkeitskonzeption stattfinden muß »the place among citizens in civil society - the viewpoint of you and me«. Hier geht jeder Bürger vom Kontext seines eigenen Weltbildes und von dem darin eingebetteten moralischen Begriff von Gerechtigkeit aus. Denn für normative Überlegungen steht zunächst nur diese Teilnehmerper­ spektive zur Verfügung. Insoweit gibt es auch am Ausgangspunkt keinen relevanten Unterschied zwischen der Position eines beliebi­ gen Bürgers und der des Philosophen. Ob Philosoph oder nicht, eine vernünftige Person wird ihrem Gerechtigkeitssinn folgen, um eine freistehende Konzeption der Gerechtigkeit zu entwickeln, die, wie sie hofft, von allen vernünftigen Personen, in der Rolle prä­ sumtiv freier und gleicher Bürger, akzeptiert werden kann. Der erste konstruktive Schritt verlangt dann die Abstraktion von um­ fassenden Lehren. Zum Zwecke einer solchen »pro tanto justification« mögen die Bürger im übrigen verschiedene, gut durchdachte philosophische Lehren in Betracht ziehen. Solche Theorien geben einen Leitfaden für den erforderlichen Abstraktionsschritt an die Hand. Beispielsweise bietet sich der »Urzustand« als Schema für einen solchen Verallgemeinerungstest an. Grundsätze, die den Test bestehen, scheinen für jeden akzeptabel zu sein. Gleichwohl wird niemand bei der Anwendung des Verfahrens vom eigenen Vorverständnis ganz absehen können. »Du und ich« kön­ nen den Verallgemeinerungstest nicht voraussetzungslos handha­ ben. Wir müssen ihn aus der Perspektive vornehmen, die durch das je eigene Weltbild konstituiert wird. Damit fließen insbesondere Hintergrundannahmen über die Sphäre des Politischen und all das,

10 Ich folge den »drei Arten« der Rechtfertigung in der von Rawls angegebenen Reihenfolge. Diese logische Reihenfolge ist nicht als eine zeitliche Sequenz von Stufen gemeint, zeichnet aber den Weg vor, auf dem jeder Zeitgenosse seine Stellungnahme zu aktuellen Fragen politischer Gerechtigkeit radikalisieren kann. Sobald seine Kritik den bestehenden politischen Grundkonsens aus der Sicht einer konkurrierenden Gerechtigkeicskonzeption hinterfragt, muß er nämlich diese Alternative auf dem Wege einer solchen logischen Genese vertei­ digen.

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was als politische Angelegenheit zählen soll, ein. Beim nächsten Schritt, wenn jeder Bürger das Konzept, das ihm aussichtsreich erscheint, ins eigene Weltbild einpaßt, dürfte es deshalb kaum eine Überraschung geben. Der Verallgemeinerungstest verlangt gewiß von allen vernünftigen Bürgern, daß sie vom Spezifischen der ver­ schiedenen Weltbilder absehen; aber auch diese Operation der Verallgemeinerung muß noch im Kontext der eigenen Weltauffas­ sung vorgenommen werden. Denn niemand kann seine Teilneh­ merperspektive aufgeben, ohne-vom Beobachterstandpunkt ausdie normative Dimension als solche aus den Augen zu verlieren. Aus diesem Grunde funktioniert der Verallgemeinerungstest im er­ sten Durchgang nicht viel anders als die Goldene Regel: er filtert alle Elemente heraus, die aus je meiner Sicht ungeeignet sind, von allen vernünftigen Leuten akzeptiert zu werden. Den Test passie­ ren genau die Grundsätze und Praktiken sowie diejenigen Rege­ lungen und Institutionen, die, wenn sie sich allgemein durchsetzen, nach meinem Verständnis des Politischen im Interesse eines jeden liegen. In dieser Hinsicht wird die Handhabung des Tests vom weltanschaulichen Vorverständnis konditioniert, sonst wäre der dritte Rechtfertigungsschritt, der analog dem Schritt von der Gol­ denen Regel zum Kategorischen Imperativ vollzogen wird, über­ flüssig.11 Rawls hält diesen Schritt für notwendig, weil »Du und ich« nicht wissen können, ob wir mit der beabsichtigten Abstrak­ tion von jedem weltanschaulichen Kontext erfolgreich waren, als wir, jeder von seinem besten Verständnis der politischen Sphäre ausgehend, unsere normativen Überzeugungen den Beschränkun­ gen des Urzustandes unterworfen haben. Erst auf der letzten Stufe, die Rawls als »the stage of wide and reflective equilibrium« (Reply 14, Fn. 16) beschreibt, nehmen wir von den anderen Bürgern No­ tiz: »Reasonable citizens take one another into account as having reasonable comprehensive doctrines that endorse that political conception.« (R 143) Dieser Schritt, der den übergreifenden Konsens schließlich herbei-

u Vgl.J. Habermas, »Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft«, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt am Main 1991, 106 f. H3

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führen soll, läßt sich als Radikalisierung eines bis dahin unvollstän­ digen, noch egozentrisch durchgeführten Verallgemeinerungstests verstehen. Erst die rekursive Anwendung des Verfahrens führt zum erwarteten Resultat: alle Bürger, nicht nur Du und ich, müssen je aus ihrer Perspektive und ihrer Sicht des Politischen prüfen, ob es einen Vorschlag gibt, der allgemeine Zustimmung finden kann. Rawls spricht von »mutual accounting«; aber gemeint ist eine wechselseitige Beobachtung, durch die festgestellt wird, ob ein Einverständnis zustande kommt. Der Konsens ist ein Ereignis, das eintritt: »Public justification happens (my emphasis) when all the reasonable members of political society carry out a justification of the shared political conception by embedding it in their several reasonable comprehensive views.« (R 143) In diesem Zusammen­ hang sind die Ausdrücke »public« und »shared« etwas irreführend. Der übergreifende Konsens ergibt sich aus der von allen gleichzei­ tig, aber von jedem einzeln und je für sich vorgenommenen Kon­ trolle, ob die vorgeschlagene Konzeption in sein eigenes Weltbild paßt. Wenn es klappen soll, muß jeder dieselbe Konzeption, frei­ lich aus jeweils eigenen, nicht-öffentlichen Gründen, akzeptieren und sich zugleich der affirmativen Stellungnahmen aller anderen versichern: »The express contents of these doctrines have no role in public justification; citizens do not look into the content of other’s doctrines ... Rather, they take into account and give some weight only to the fact - the existence - of the reasonable overlapping consensus itself.« (144) Der übergreifende Konsens beruht also auf dem, was Rainer Forst »einen privaten Gebrauch der Vernunft in politisch-öffentlicher Absicht« genannt hat.12 Nochmals: in die­ sem Design für »drei Arten« der Rechtfertigung fehlt eine Perspek­ tive unparteilicher Beurteilung und ein im strikten Sinne öffentli­ cher Gebrauch der Vernunft, der nicht erst durch den übergreifen­ den Konsens ermöglicht, sondern von Anbeginn gemeinsam praktiziert würde. Allerdings ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß - im angegebenen Sinne - »vernünftige« Bürger jemals zu einem übergreifenden Konsens gelangen, wenn sie sich nur im Kontext ihrer jeweils eige-

12 R. Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1994, 159-

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nen Weltbilder von der Geltung eines Gerechtigkeitskonzepts überzeugen können.13 Die Aussichten hängen wesentlich davon ab, welche Revisionen auf der letzten Stufe einer dezentrierten Rechtfertigung erlaubt sind. Die »pro tanto« gerechtfertigte Kon­ zeption, die »du oder ich« aus deiner oder meiner Perspektive für gültig halten, »nachdem alle Werte zusammengerechnet sind«, kann ja am Veto der anderen scheitern. Bevor unsere Konzeption allen einleuchten kann, muß sie revidiert werden. Der Dissens, der solche Anpassungen auslöst, betrifft in erster Linie die von dir oder mir im ersten Durchgang nicht antizipierten Unterschiede im Ver­ ständnis des Politischen. Rawls folgend, unterscheide ich drei Sorten von Meinungsverschiedenheiten: die eine (a) betrifft die De­ finition des Bereichs politischer Angelegenheiten, die andere (b) die Rangordnung und die vernünftige Abwägung politischer Werte, die letzte und wichtigste (c) den Vorrang politischer vor nicht-politischen Werten. ad a) und b). Verschiedene Interpretationen, beispielsweise des Grundsatzes der Trennung von Staat und Kirche, berühren Aus­ dehnung und Umfang des politischen Bereichs; sie führen nämlich zu verschiedenen normativen Empfehlungen, in diesem Falle Emp­ fehlungen für den Status und die Rolle religiöser Gemeinschaften und Organisationen. Andere Kontroversen beziehen sich auf die Rangordnung politischer Werte, z. B. auf den intrinsischen bzw. bloß instrumentellen Wert der Partizipation der Bürger in Fällen, wo Rechte auf politische Teilnahme gegen negative Freiheiten ab­ gewogen werden müssen. Diese Streitfälle werden normalerweise vor Gericht ausgetragen, in letzter Instanz vor dem Bundesverfas­ sungsgericht, also auf der Grundlage einer bereits akzeptierten Gerechtigkeitskonzeption. So sieht es auch Rawls. Die Konflikte können jedoch in einzelnen Fällen so tief reichen, daß die Mei­ nungsverschiedenheiten den politischen Grundkonsens selbst in Frage stellen. Diese Konflikte untergraben den übergreifenden Konsens selbst. Wir wollen aber annehmen, daß die meisten dieser Streitpunkte konsensuell beigelegt werden können, gegebenenfalls durch Revisionen des herrschenden Verfassungsverständnisses. Erij Vgl. Forst (1994), 152-161 und 72ff.

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folgreiche Adaptationen dieser Art würden bestätigen, daß Bürger auf jener letzten Stufe der Rechtfertigung, wenn auch nur auf indi­ rekte Weise, voneinander lernen können. Das Veto der anderen kann dich und mich zu der Einsicht veranlassen, daß unsere zu­ nächst eingebrachten Konzeptionen der Gerechtigkeit noch nicht hinreichend dezentriert waren. ad c). Eine andere Sorte von Konflikten erstreckt sich auf die De­ finition dessen, was man von »vernünftigen« Weltbildern sollte erwarten dürfen. Dann steht der Begriff des »Vernünftigen« selbst zur Disposition. Ein Beispiel ist, unter einer bestimmten Beschrei­ bung, der Streit um Abtreibung. So behaupten etwa Katholiken, die auf einem generellen Verbot bestehen, daß ihnen ihre religiöse Überzeugung vom Wert der Unverletzbarkeit des Lebens wichti­ ger ist als jeder politische Wert, in dessen Namen andere Bürger ihre Zustimmung zu einer, sagen wir gemäßigt liberalen Regelung fordern. Rawls diskutiert diesen Fall im Vorbeigehen, aber er ver­ schiebt den Konflikt von der Ebene des Vorrangs politischer Werte auf die Ebene der vernünftigen Abwägung zwischen politischen Werten (PL 243 f.). Er setzt nämlich voraus, daß das Prinzip des öffentlichen Vernunftgebrauchs von den Bürgern eine Übersetzung ihrer ethisch-existentiellen Auffassungen in die Sprache der politi­ schen Gerechtigkeit verlangt. Aber unter Rawls’ eigenen Prämis­ sen kann die »öffentliche Vernunft« den Bürgern solche Beschrän­ kungen erst auferlegen, wenn ein politischer Grundkonsens bereits erzielt ist. Während der Herausbildung eines übergreifenden Kon­ senses gibt es keine Entsprechung zur neutralen Autorität eines Bundesverfassungsgerichts (das ja nur die Sprache des Rechts ver­ steht). Noch besteht in diesem Stadium die Möglichkeit, an den Vorrang des Gerechten vor dem Guten zu appellieren, weil diese Priorität wiederum den Vorrang politischer vor nicht-politischen Werten voraussetzt.H Zwar gibt Rawls zu, daß ein übergreifender Konsens nur unter Bürgern zustande kommen kann, die davon ausgehen, daß politische Werte in Konfliktfällen alle anderen Werte 14 »The pmicular meaning of ehe priority of right is that comprehensive c.onceptions of the good are admissible... only if their pursuit conforms 10 the political conception of justice.« (PL 176, Fn. 2). 116

überwiegen (PL 139). Aber aus der »Vernünftigkeit« der Leute und ihrer Überzeugungen ergibt sich das nicht. Rawls begnügt sich denn auch mit der Versicherung, daß politische Werte eben »sehr starke Werte« seien (PL 155). An anderen Stellen beschränkt er sich auf die »Hoffnung«, daß dieser Vorrang von Anhängern vernünfti­ ger Weltbilder letztlich anerkannt werden möge.15 Aus den zurückhaltenden Formulierungen geht hervor, daß tief­ greifende Konflikte der dritten Art auf eine Lösung nur rechnen können, wenn die Toleranz vernünftiger Bürger und die Vernünf­ tigkeit ihrer Weltbilder eine übereinstimmende Wahrnehmung des Politischen und den Vorrang politischer Werte implizieren würden. Aber ein solches Vernunfterfordernis bringt nicht etwa nur Quali­ täten zum Vorschein, die vernünftige Weltbilder sowieso aufwei­ sen; die Erwartung der Vernünftigkeit muß den konkurrierenden Weltbildern auferlegt werden. Im Vorrang politischer Werte spricht sich eine Forderung praktischer Vernunft aus - die Forderung nach einer Unparteilichkeit, die sich sonst im moralischen Gesichts­ punkt artikuliert. Aber dieser ist in dem von Rawls eingeführten Begriff des Vernünftigen nicht enthalten. In der Einstellung »ver­ nünftiger« Leute, die fair miteinander umgehen wollen, obwohl sie wissen, daß sie in ihren religiösen und metaphysischen Anschau­ ungen nicht übereinstimmen, ist ein allen gemeinsamer moralischer Gesichtspunkt ebensowenig impliziert wie in der Reflexivität und dem Gewaltverzicht »vernünftiger« Weltbilder. Eine Forderung praktischer Vernunft, der sich Weltbilder beugen müssen, wenn ein übergreifender Konsens möglich sein soll, kann offensichtlich nur kraft einer epistemischen Autorität gerechtfertigt werden, die von den Weltbildern selbst unabhängig ist.16 Mit einer praktischen Vernunft, die sich aus der Abhängigkeit von der Moral der Weltbilder emanzipierte, würde aber die interne Be­ ziehung zwischen dem Wahren und dem Vernünftigen öffentlich 1 j »In this case (i. e. when an overlapping Consensus is achieved) citizens embed their shared political conception in their reasonable comprehensive doctrines. Then we hope that citizens will judge (by their comprehensive view) that polit­ ical values are normally (though not always) pripr to, or outweigh, whatever non-political values may conflict with them.« (R 147) 16 Ich verdanke dieses Argument R. Forst (1994), siehe Fn. 8. 117

zugänglich. Diese Verbindung muß nur so lange opak bleiben, wie die Begründung einer politischen Konzeption allein aus dem Kon­ text des jeweiligen Weltbildes einsichtig ist. Diese Blickrichtung kehrt sich jedoch um, wenn sich der Vorrang politischer Werte aus einer praktischen Vernunft legitimieren muß, die erst definiert, welche Weltbilder als vernünftig gelten dürfen.

vi. Philosophen und Bürger Die Spannung zwischen der »Vernünftigkeit« einer politischen Konzeption, die für alle Bürger mit vernünftigen Weltbildern ak­ zeptabel ist, und der »Wahrheit«, die der Einzelne dieser Konzep­ tion aus seiner Weitsicht zuschreibt, bleibt unaufgelöst. Einerseits zehrt die Gültigkeit der politischen Konzeption letztlich von den Geltungsressourcen der verschiedenen Weltbilder, soweit diese vernünftig sind. Andererseits müssen sich umgekehrt vernünftige Weltbilder an Maßstäben qualifizieren, die ihnen die praktische Vernunft vorschreibt. Was sie als vernünftig auszeichnet, bemißt sich an Standards, die dem jeweiligen Weltbild nicht entnommen werden können. Kann Rawls diese Beschränkungen aus prakti­ scher Vernunft begründen, ohne zum Kantischen Standpunkt von A Theory of Jxstice zurückzukehren, oder muß er den liberalen Witz der Arbeitsteilung zwischen dem Politischen und dem Meta­ physischen preisgeben? Gewiß, Rawls zieht auch in Political Liberalism Beschränkungen der »öffentlichen Vernunft« in Betracht »the general ones of theoretical and practical reason«. Aber diese kommen erst ins Spiel, nachdem »Gerechtigkeit als Fairneß« von den Bürgern akzeptiert worden ist; dann erst können sie die Prio­ rität des Gerechten vor dem Guten (PL 210) und den Modus des öffentlichen Vernunftgebrauchs (PL 216 ff.) bestimmen. Wenn aber die Vernünftigkeit der Weltbilder in Restriktionen zum Ausdruck kommt, die diese nicht aus sich selber schöpfen können, muß sich, was als vernünftig gelten soll, auf eine Instanz der Un­ parteilichkeit berufen, die schon vor dem Zustandekommen eines politischen Grundkonsenses in Kraft ist. Die »Theorie der Gerech­ tigkeit« hatte im Namen der praktischen Vernunft Gültigkeit bean118

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sprucht; sie war nicht auf die Affirmation von Seiten vernünftiger Weltbilder angewiesen. Im Laufe der Zeit ist Rawls zu Bewußtsein gekommen, daß weniger der Inhalt als vielmehr die Anlage dieser Theorie »der Tatsache des Pluralismus« nicht hinreichend Rech­ nung trägt (Reply 144, Fn.zi). Aus diesem Grunde präsentiert er jetzt den wesentlichen Inhalt der ursprünglichen Theorie als einen ersten, ergänzungsbedürftigen Konstruktionsschritt. Der weitere Schritt soll aus dem Seminar sozusagen in die politische Öffentlich­ keit führen und die philosophische Untersuchung in den politi­ schen Grundkonsens der Bürger einmünden lassen. Die Beweis­ lastenverteilung zwischen diesen beiden Teilen spiegelt sich im Verhältnis des Vernünftigen zum Wahren. Nicht der Philosoph, die Bürger sollen das letzte Wort haben. Rawls wälzt zwar die Last der Begründung nicht ganz auf die vernünftigen Weltbilder ab, aber diesen ist letztlich die Entscheidung vorbehalten. Die Theorie würde nämlich gegen ihren eigenen liberalen Geist verstoßen, wenn sie die politische Willensbildung der Bürger präjudizieren und deren Ergebnisse antizipieren würde: »Students of philosophy take part in formulating these ideas but always as citizens among others.« (R 174) Die Gefahr eines philosophischen Paternalismus droht freilich nur von Seiten einer Theorie, die den Bürgern das ganze Design für eine wohlgeordnete Gesellschaft vorgibt. Rawls zieht die Alternative, daß ein konsequent durchgeführter Prozeduralismus17 die Frage der philosophischen Bevormundung der Bürger entdramatisieren könnte, nicht in Betracht. Eine Theorie, die sich darauf beschränkt, die Implikationen der rechtlichen Institutionalisierung von Verfah­ ren demokratischer Selbstgesetzgebung zu klären, präjudiziert nicht die Ergebnisse, die die Bürger in einem von diesen Verfahren geprägten institutionellen Rahmen selber erst erzielen müßten. Eine praktische Vernunft, die sich in Prozessen, nicht in Inhalten verkörpert, spielt selbst dann keine paternalistische Rolle, wenn ihr

17 Rawls' Ausführungen über prozedurale versus substantielle Gerechtigkeit (Reply 170-180) stimme ich zu; diese Überlegungen treffen aber nicht den Sinn, in dem ich die Ausdrücke »Verfahren« und »Verfahrensrationalität« verwende, wenn ich behaupte, daß eine in bestimmter Weise eingerichtete Argumentations­ praxis die Vermutung auf die rationale Akzeptabilität von Ergebnissen begründet. H9

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eine nachmetaphysische, von Weltbildern unabhängige Autorität zuriickgegeben wird. Für diesen von mir favorisierten Ansatz fin­ den sich bei Rawls wenigstens Anhaltspunkte. Fassen wir zunächst die bisherige Überlegung zusammen. Ver­ nünftige politische Konzeptionen, die den Vorrang politischer Werte zur Geltung bringen und insoweit auch festlegen, welche der religiösen und metaphysischen Weltbilder als vernünftig gelten dürfen, müssen unter einem unparteilichen Gesichtspunkt nicht nur ausgearbeitet, sondern auch akzeptiert werden. Dieser Ge­ sichtspunkt transzendiert die Teilnehmerperspektiven von Bür­ gern, die im Kontext ihrer je eigenen Weltanschauung befangen sind. Deshalb können die Bürger nur dann das letzte Wort behal­ ten, wenn sie sich aus einer umfassenderen, intersubjektiv geteilten Perspektive, wir können auch sagen: unter dem moralischen Ge­ sichtspunkt, bereits an der »Formulierung dieser Ideen« beteiligen. Der rekursive Verallgemeinerungstest, den Rawls der dritten Stufe der Rechtfertigung vorbehält, würde dann zum integralen Be­ standteil einer öffentlichen Auseinandersetzung über Vorschläge zu einer konsensfähigen Gerechtigkeitskonzeption. Ob das Ergeb­ nis - sei es nun »Gerechtigkeit als Fairneß« oder irgendeine andere Konzeption - rational akzeptabel ist, würde nicht durch die wech­ selseitige Beobachtung eines eingespielten Konsenses festgestellt; autorisierende Kraft gewännen vielmehr Diskursbedingungen, for­ male Eigenschaften von Prozessen, die die Beteiligten dazu nöti­ gen, den Gesichtspunkt unparteilicher Urteilsbildung einzuneh­ men. Eine ganz ähnliche Überlegung finden wir auch in Political Liberalism, aber an einem anderen systematischen Ort - nämlich dort, wo der Philosoph dank seiner professionellen Kompetenz eine freistehende Konzeption der Gerechtigkeit und deren pro-tantoRechtfertigung entwickelt und dann prüft, ob seine theoretischen Bausteine zu den normativen Hintergrundintuitionen passen, die in den politischen Überlieferungen einer demokratischen Gesell­ schaft (vorgestellt als ein »vollständiges und geschlossenes soziales System«) verbreitet sind. Geprüft werden Grundbegriffe wie die moralische Person, der Bürger als Mitglied einer Assoziation von Freien und Gleichen, die Gesellschaft als System einer fairen Ko120

Operation usw. Beide Operationen, sowohl (a) die Konstruktion einer Gerechtigkeitskonzeption wie auch (b) die reflexive Verge­ wisserung ihrer konzeptuellen Grundlagen, haben Implikationen, die das Verhältnis des Philosophen zu den Bürgern auf interessante Weise beleuchten. a) Ein Philosoph, der mit Rawls den Grundsätzen des »politischen Konstruktivismus« folgt, verpflichtet sich zur Objektivität, d.h., er beachtet die »essentials of the objective point of view« und ge­ horcht den »requirements of objectivity« (PL ui, §§ 5-7). Dies sind prozedurale Bestimmungen der praktischen Vernunft: »It is by the reasonable that we enter the public world of others and stand ready to propose, or accept, as the case may be, reasonable principles to specify fair terms of Cooperation. These principles issues form a procedure of construction that express the principles of practical reason ...« (PL 114). Der Philosoph gehorcht also Standards der Rationalität, die, obwohl sie von Weltbildern unabhängig sind, ei­ nen moralisch-praktischen Gehalt haben. Ob diese Standards den Weltbildern vernünftiger Bürger zugleich Schranken ziehen, hängt davon ab, welche Rolle der Philosoph spielen soll. Gelegentlich klingt es so, als ob er mit seinem kompetent durchdachten Vor­ schlag auf die Weltbilder der Bürger einen strukturierenden Einfluß nehmen solle. Rawls äußert jedenfalls die Hoffnung, »that in fact (the philosophical offer) will have the capacity to shape (my emphasis) those doctrines toward itself« (R 145). Demnach würde der Philosoph einen Gesichtspunkt der Objektivität zur Geltung brin­ gen, an den die Bürger ihre Weltbilder adaptieren müssen. Das würde gewiß nur eine prozedurale, noch keine inhaltliche Präjudi­ zierung bedeuten; aber nicht einmal diese Lesart ist mit der egali­ tären Stellung des Philosophen als eines Bürgers unter anderen Bürgern ganz in Einklang zu bringen. b) Die Methode des Überlegungsgleichgewichts mutet dem Philo­ sophen ohnehin eine bescheidenere Rolle zu; sie verweist ihn an das intersubjektiv geteilte Hintergrundwissen einer liberalen Kul­ tur. Dieses Wissen taugt freilich nur dann zur Kontrollinstanz für die Wahl der theoretischen Grundbegriffe, wenn sich in ihm die Perspektive einer unparteilichen Beurteilung von Fragen politi­ scher Gerechtigkeit schon niedergeschlagen hat. Sonst könnte der 121

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Philosoph von den Bürgern und deren politischen Überzeugungen nichts lernen. Wenn die Methode des Überlegungsgleichgewichts greifen soll, muß die Philosophie sozusagen ihre eigene Perspektive in der Bürgergesellschaft schon vorfinden. Das darf nicht so ver­ standen werden, als könne sich die Philosophie auf den Grundkon­ sens verlassen, der - nach Voraussetzung - in liberalen Gesellschaf­ ten schon existiert und damit eine Plattform für den öffentlichen (z. B. im Verfassungsgericht institutionalisierten Vernunftge­ brauch) bietet. Nicht jede Kultur, die sich liberal nennt, ist es auch. Eine Philosophie, die nur noch hermeneutisch erläuterte, was oh­ nehin besteht, hätte ihre kritische Kraft eingebüßt.18 An faktisch eingespielte Überzeugungen darf sich die Philosophie nicht nur anschließen, sie muß diese auch nach Maßstäben einer vernünftigen Gerechtigkeitskonzeption beurteilen können. Andererseits darf sie eine solche Konzeption nicht freihändig konstruieren und einer entmündigten Gesellschaft als Norm entgegenhalten. Sie muß die unkritische Verdoppelung der Realität ebenso vermeiden wie das Abgleiten in eine paternalistische Rolle. Sie darf weder die einge­ wöhnten Traditionen einfach aufnehmen noch ein Design für die wohlgeordnete Gesellschaft inhaltlich ausmalen. Einen Weg aus der Sackgasse zeigt die recht verstandene Methode des »Überlegungsgleichgewichts« selbst, denn diese verpflichtet zu einer kritischen Aneignung von Traditionen. Das gelingt mit Tradi­ tionen, die sich als Ausdruck von Lernprozessen verstehen lassen. Um Lernprozesse als solche zu identifizieren, bedarf es eines vor­ gängigen Gesichtspunktes der kritischen Bewertung. Über den verfügt die Philosophie in ihrem eigenen Streben nach Objektivität und Unparteilichkeit. Aber in ihrem eigenen Zugriff auf prozedu­ rale Bestimmungen der praktischen Vernunft kann sie sich wie­ derum bestätigt fühlen durch eine Perspektive, die sie in der Gesellschaft selbst antrifft: durch den moralischen Gesichtspunkt, unter dem moderne Gesellschaften von ihren eigenen sozialen Be­ wegungen kritisiert werden. Affirmativ kann sich die Philosophie 18 So die kontextualistischc Deutung der Rawls’schen Theorie bei R. Rorty, »Der Vorrang der Demokratie vorder Philosophie«, in: ders., Solidarität oder Objek­ tivität, Stuttgart 1988, 82-125. hier 9j ff. 122

nur zu dem negatorischen Potential verhalten, das in den gesell­ schaftlichen Tendenzen zu einer unnachsichtigen Selbstkritik ver­ körpert ist.

vii.

Der Witz des Liberalismus

Wenn wir politische Gerechtigkeit in dieser Weise prozedural ver­ stehen, rücken die Beziehungen zwischen dem Politischen und dem Moralischen, auch die zwischen dem Moralischen und dem Ethischen in ein anderes Licht. Eine politische Gerechtigkeit, die auf eigenen moralischen Beinen steht, braucht von Seiten der Wahr­ heit religiöser oder metaphysischer Weltbilder keine Rückendekkung mehr. Moralische Aussagen können den Bedingungen nach­ metaphysischen Denkens nicht weniger genügen als deskriptive Aussagen, nur in anderer Weise. Dank eines moralischen Gesichts­ punktes, der sich auch in dem artikuliert, was Rawls »the procedural requirements for a public use of reason« und »Standards of reasonableness« nennt, gewinnen moralische Urteile Unabhängigkeit von weltanschaulichen Kontexten. Die Richtigkeit moralischer Aussagen wird wie die Wahrheit assertorischer Aussagen in Begrif­ fen der diskursiven Einlösung von Geltungsansprüchen erklärt. (Beide können natürlich den Sinn metaphysischer Wahrheiten nicht erschöpfen.) Da sich moralische Urteile nur auf Fragen der Gerechtigkeit im allgemeinen beziehen, müssen Fragen der politi­ schen Gerechtigkeit mit Hilfe der Bezugnahme auf das Medium des Rechts spezifiziert werden. Das braucht uns hier nicht weiter zu interessieren. Wenn aber moralische und politische Überlegungen ihre Geltung aus einer unabhängigen Quelle schöpfen, verändert sich die kogni­ tive Rolle der Weltbilder. Sie haben nun einen wesentlich ethischen Gehalt, bilden den Kontext für das, was Rawls den »substantiellen Gehalt von umfassenden Konzeptionen des Guten« nennt. Die »Visionen des guten Lebens« sind der Kern eines persönlichen oder eines kollektiven Selbstverständnisses. Ethische Fragen sind Fra­ gen der Identität. Sie haben existentielle Bedeutung und sind, in gewissen Grenzen, einer rationalen Klärung sehr wohl zugänglich.

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Ethische Diskurse gehorchen Maßstäben einer hermeneutischen Reflexion auf das, was für mich oder uns im ganzen gesehen »gut ist«. Ethische Empfehlungen verbinden sich mit einem Typ von Geltungsanspruch, der sich sowohl von Wahrheit wie von morali­ scher Richtigkeit unterscheidet. Sie bemessen sich an der Authen­ tizität eines Selbstverständnisses von Einzelnen oder Kollektiven, das sich im jeweiligen Kontext einer Lebensgeschichte oder eines intersubjektiv geteilten Überlieferungsgeschehens ausgebildet hat. Deshalb sind ethische Gründe in spezifischer Weise kontextabhän­ gig - »nicht-öffentlich« im Sinne von Rawls. Gewiß übernehmen wir mit jeder Aussage die üblichen Beweislasten und Argumenta­ tionspflichten - bürdens of judgement. Aber starke Wertungen unterliegen nicht nur den allgemeinen fallibilistischen Vorbehalten. Von ethischen Auseinandersetzungen über die Bewertung von konkurrierenden Lebensstilen und Lebensformen dürfen wir ver­ nünftigerweise nichts anderes als einen für die Beteiligten einsich­ tigen Dissens erwarten.15 Demgegenüber erwarten wir - im Prinzip - allgemeinverbindliche Antworten, wenn es um Fragen der politi­ schen Gerechtigkeit und der Moral geht. Kantische Konzeptionen beanspruchen Neutralität gegenüber Weltbildern, einen »freistehenden« Status im Sinne ethischer, aber nicht philosophischer Neutralität. Die Erörterung der epistemolo­ gischen Grundlagen von Political Liberalism sollte zeigen, daß auch Rawls philosophische Kontroversen nicht vermeiden kann. Das problematische Verhältnis zwischen dem Vernünftigen und dem Wahren verlangt nach einer Klärung, die Rawls’ Entlastungs­ strategie in Frage stellt. Der Begriff der praktischen Vernunft kann offenbar nicht moralisch entkernt, die Moral nicht in die black box 19 Natürlich stimme ich mit Charles Larmore (»The Foundations of Modem Democracy«, European Journal of Philosophy, 3, 1995, 63) überein, wenn er sagt: •The fact that our vision of the good life is the object of reasonable disagreement does not entail we should withdraw our allegiance to it or regard it henceforth as a mere article of faith ... We should remember only that such reasons are not likely to be acceptable to other people who are equally reasonable, but have a different history of experience and reflection.< Larmore mißversteht offensicht­ lich meine Auffassung vom ethischen Gebrauch der praktischen Vernunft; vgl. Habermas (1991), 100-118.

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der Weltbilder abgeschoben werden. Zur Kantischen Vorwärtsstra­ tegie sehe ich keine plausible Alternative. Es scheint kein Weg daran vorbeizuführen, den moralischen Gesichtspunkt mit Hilfe eines (dem Anspruch nach) kontextunabhängigen Verfahrens zu erklären. Ein solches Verfahren ist von normativen Implikationen, wie Rawls mit Recht betont, keineswegs frei (Reply 170 ff.), weil es mit einem Begriff von Autonomie verschwistert ist, der »Vernunft« und »freien Willen« integriert; insoweit kann es normativ nicht neutral sein. Als autonom gilt der durch praktische Vernunft gelei­ tete Wille. Allgemein besteht Freiheit in der Fähigkeit, die Willkür an Maximen zu binden; aber Autonomie ist die Selbstbindung der Willkür durch Maximen, die wir uns aus Einsicht zu eigen machen. Weil sie durch Vernunft vermittelt ist, ist Autonomie nicht ein Wert neben anderen. Das erklärt, warum dieser normative Gehalt die Neutralität eines Verfahrens nicht beeinträchtigt. Ein Verfahren, das dem moralischen Gesichtspunkt unparteilicher Urteilsbildung zum Zuge kommen läßt, ist neutral gegenüber beliebigen Wertkonstella­ tionen, aber nicht gegenüber der praktischen Vernunft selber. Mit seiner Konstruktion eines übergreifenden Konsenses ver­ schiebt Rawls den Akzent vom Kantischen Begriff der Autonomie auf so etwas wie ethisch-existentielle Selbstbestimmung: frei ist, wer die Autorschaft für sein eigenes Leben übernimmt. Diese Wei­ chenstellung hat auch einen Vorzug. Die Arbeitsteilung zwischen dem Politischen und dem Metaphysischen lenkt nämlich die Auf­ merksamkeit auf jene ethische Dimension, die Kant vernachlässigt hat. Rawls rettet eine Einsicht, die Hegel einst gegen Kant geltend gemacht hat20: moralische Gebote dürfen der individuellen Le­ bensgeschichte einer Person auch dann nicht abstrakt übergestülpt werden, wenn sie an eine uns allen gemeinsame Vernunft oder an einen universalen Sinn für Gerechtigkeit appellieren. Moralische Gebote müssen mit den Lebensentwürfen und Lebensweisen der betroffenen Person in einem inneren, von ihr selbst nachvollzieh­ baren Zusammenhang stehen. Die verschiedene Gewichtung von moralischer Freiheit und ethisch-existentieller Selbstbestimmung gibt mir Gelegenheit für

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zo Vgl. L. Wingert (1993), 252 ff. i!

eine grundsätzliche Bemerkung. Die Art, wie sich Theorien der politischen Gerechtigkeit in der Anlage, wenn nicht gar in der Sub­ stanz, voneinander unterscheiden, verrät Differenzen in zugrunde­ liegenden Intuitionen. Der politische oder rechtsstaatliche Liberalismus geht von der In­ tuition aus, daß der Einzelne und seine individuelle Lebensführung vor Übergriffen der Staatsgewalt geschützt werden müssen: »Polit­ ical Liberalism allows ... that our political institutions contain sufficient space for worthy ways of life and that in this sense our political society is just and good.« (PL 210) Damit gewinnt die Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Sphäre eine grundsätzliche Bedeutung. Sie stellt die Weichen für die maßge­ bende Interpretation von Freiheit: die gesetzlich garantierte Will­ kürfreiheit privater Rechtspersonen umschreibt den Schonraum für eine bewußte, an der je eigenen Konzeption des Guten orien­ tierte Lebensführung. Rechte sind liberties, Schutzhüllen für die private Autonomie. Die Hauptsorge gilt der gleichen Freiheit eines jeden, ein selbstbestimmtes, authentisches Leben zu führen. Aus dieser Sicht soll die öffentliche Autonomie von Staatsbürgern, die an der Selbstgesetzgebungspraxis des Gemeinwesens teilnehmen, die persönliche Selbstbestimmung der Privatleute ermöglichen. Obwohl sie für manche Leute auch einen intrinsischen Wert haben kann, erscheint die öffentliche Autonomie in erster Linie als ein Mittel für die Ermöglichung der privaten. Der Kantische Republikanismus, wie ich ihn verstehe, geht von einer anderen Intuition aus. Niemand kann auf Kosten der Freiheit eines anderen frei sein. Weil Personen allein auf dem Wege der Vergesellschaftung individuiert werden, ist die Freiheit eines Indi­ viduums mit der aller anderen nicht nur negativ, über gegenseitige Begrenzungen, verknüpft. Richtige Abgrenzungen sind vielmehr das Ergebnis einer gemeinsam ausgeübten Selbstgesetzgebung. In einer Assoziation von Freien und Gleichen müssen sich alle ge­ meinsam als Autoren der Gesetze verstehen können, an die sie sich als Adressaten einzeln gebunden fühlen. Deshalb ist hier der im demokratischen Prozeß rechtlich institutionalisierte öffentliche Gebrauch der Vernunft der Schlüssel für die Gewährleistung glei­ cher Freiheiten. 116

Sobald moralische Grundsätze im Medium des zwingenden und positiven Rechts Gestalt annehmen sollen, spaltet sich die Freiheit der moralischen Person auf in die öffentliche Autonomie des Mit­ gesetzgebers und in die private Autonomie des Rechtsadressaten, und zwar so, daß sich beide reziprok voraussetzen. Diese komple­ mentäre Beziehung zwischen Öffentlichem und Privatem spiegelt keine Gegebenheiten. Sie wird vielmehr durch die Struktur des Rechtsmediums begrifflich erzeugt. Deshalb ist es Sache des demo­ kratischen Prozesses, immer wieder von neuem die prekären Gren­ zen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zu definieren, um allen Bürgern in Formen der privaten wie der öffentlichen Autonomie gleiche Freiheiten zu gewährleisten.2'

2i Zum internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie vgl. in diesem Band 293-305. IV

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4. Der europäische Nationalstaat Zu Vergangenheit und Zukunft von Souveränität und Staatsbürgerschaft

Wie der Name »Vereinte Nationen« bereits verrät, setzt sich heute die politische Weltgesellschaft aus Nationalstaaten zusammen. Je­ ner historische Typ, der aus der Französischen und der Amerikani­ schen Revolution hervorgegangen ist, hat sich weltweit durchge­ setzt. Dieser Umstand ist keineswegs trivial. Die klassischen Staatsnationen im Norden und Westen Europas haben sich innerhalb von bestehenden Territorialstaaten herausge­ bildet. Diese waren Teil des europäischen Staatensystems, das bereits im Westfälischen Frieden von 1648 Gestalt angenommen hatte. Hingegen haben die »verspäteten« Nationen, zunächst Ita­ lien und Deutschland, eine andere, auch für die Nationalstaatsbil­ dung in Mittel- und Osteuropa typische Entwicklung genommen. Hier folgte die Staatenbildung den Spuren eines vorauseilenden, propagandistisch verbreiteten Nationalbewußtseins. Die Differenz dieser beiden Pfade (from state to nation vs. from nation to state) spiegelt sich in der Herkunft der Akteure, die bei der Formierung von Staat oder Nation jeweils die Vorhut bildeten. Auf der einen Seite waren es Juristen, Diplomaten und Militärs, die dem Herr­ schaftsstab des Königs angehörten und eine »rationale Staatsan­ stalt« schufen, auf der anderen Seite Schriftsteller und Historiker, überhaupt Gelehrte und Intellektuelle, die mit der Propagierung der mehr oder weniger imaginären Einheit einer »Kulturnation« die (dann erst von Cavour oder Bismarck) diplomatisch-militärisch durchgesetzte staatliche Einigung vorbereiteten. Eine dritte Gene­ ration ganz anderer Nationalstaaten ist nach dem Zweiten Welt­ krieg aus dem Prozeß der Entkolonialisierung, vor allem in Afrika und Asien, hervorgegangen. Oft haben diese in den Grenzen der früheren Kolonialherrschaft gegründeten Staaten Souveränität er­ langt, bevor die importierten staatlichen Organisationsformen im Substrat einer - über Stammesgrenzen hinausreichenden - Nation Wurzeln fassen konnten. In diesen Fällen mußten artifizielle Staa128

ten mit nachträglich zusammenwachsenden Nationen erst »ge­ füllt« werden. Schließlich hat sich in Ost- und Südosteuropa der Trend zur Bildung unabhängiger Nationalstaaten nach dem Zu­ sammenbruch der Sowjetunion auf dem Wege mehr oder weniger gewaltsamer Sezessionen fortgesetzt; in der sozial und wirtschaft­ lich prekären Lage dieser Länder genügten die alten ethnonationalen Appelle, um verunsicherte Bevölkerungen für die Unabhängig­ keit zu mobilisieren. Heute hat sich also der Nationalstaat endgültig gegenüber den äl­ teren politischen Formationen durchgesetzt.1 Gewiß, die klassi­ schen Stadtstaaten hatten auch im modernen Europa Nachfolger gefunden, vorübergehend in den oberitalienischen Städten und auf dem Gebiet des alten Lotharingien - in jenen Städtegürteln, aus denen die Schweiz und die Niederlande hervorgegangen sind. Auch die Strukturen der Alten Reiche kehrten zunächst in der Ge­ stalt des Römischen Reiches deutscher Nation, später in den Vielvölkerstaaten des russischen, osmanischen und österreichisch­ ungarischen Imperiums wieder. Aber inzwischen hat der National­ staat diese vormodernen Erbschaften verdrängt. Zur Zeit beobach­ ten wir die tiefgehende Transformation Chinas, des letzten der alten Imperien. Hegel war der Auffassung, daß jede historische Gestalt im Augen­ blick ihrer Reife zum Untergang verurteilt ist. Man muß sich seine Geschichtsphilosophie nicht zu eigen machen, um zu erkennen, daß auch der Siegeszug des Nationalstaats eine ironische Kehrseite hat. Der Nationalstaat war seinerzeit eine überzeugende Antwort auf die historische Herausforderung, ein funktionales Äquivalent für die in Auflösung begriffenen frühmodernen Formen der sozia­ len Integration zu finden. Heute stehen wir vor einer analogen Herausforderung. Die Globalisierung des Verkehrs und der Kom­ munikation, der wirtschaftlichen Produktion und ihrer Finanzie­ rung, des Technologie- und Waffentransfers, vor allem der ökolo­ gischen und der militärischen Risiken stellen uns vor Probleme, die innerhalb eines nationalstaatlichen Rahmens oder auf dem bisher

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i Vgl. M. R. Lcpsius, »Der europäische Nationalstaat«, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, 256-269. 129

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üblichen Wege der Vereinbarung zwischen souveränen Staaten nicht mehr gelöst werden können. Wenn nicht alles täuscht, wird die Aushöhlung der nationalstaatlichen Souveränität fortschreiten und einen Auf- und Ausbau politischer Handlungsfähigkeiten auf supranationaler Ebene nötig machen, den wir in seinen Anfängen schon beobachten. In Europa, Nordamerika und Asien bilden sich suprastaatliche Organisationsformen für kontinentale »Regime« heraus, die den heute noch ziemlich ineffizienten Vereinten Natio­ nen die erforderliche Infrastruktur liefern könnten. Dieser unerhörte Abstraktionsschritt setzt aber nur einen Prozeß fort, für den die Integrationsleistungen des Nationalstaates das er­ ste große Beispiel gegeben haben. Deshalb meine ich, daß wir uns auf dem ungewissen Wege zu postnationalen Gesellschaften gerade am Vorbild jener historischen Gestalt, die wir zu überwinden im Begriffe sind, orientieren können. Ich möchte zunächst an die Er­ rungenschaften des Nationalstaats erinnern, indem ich (1) die Begriffe »Staat« und »Nation« kläre und (11) die beiden Probleme erläutere, die in den Formen des Nationalstaates gelöst worden sind. Dann behandele ich das in diese Staatsform eingebaute Kon­ fliktpotential, die Spannung zwischen Republikanismus und Na­ tionalismus (in). Abschließend möchte ich auf zwei aktuelle Herausforderungen eingehen, die die Handlungsfähigkeit von Na­ tionalstaaten überfordern: auf die multikulturelle Differenzierung der Gesellschaft (iv) und auf die Globalisierungsprozesse, die die innere (v) ebenso wie die äußere Souveränität (vi) der bestehenden Nationalstaaten untergraben.

i. »Staat« und »Nation« Nach modernem Verständnis ist »Staat« ein juristisch definierter Begriff, der sich sachlich auf eine nach innen wie außen souveräne Staatsgewalt, räumlich auf ein eindeutig abgegrenztes Territorium, das Staatsgebiet, und sozial auf die Gesamtheit der Angehörigen, das Staatsvolk, bezieht. Die staatliche Herrschaft konstituiert sich in den Formen des positiven Rechts, und das Staatsvolk ist Träger der auf den Geltungsbereich des Staatsgebiets beschränkten 130

Rechtsordnung. Im politischen Sprachgebrauch haben die Begriffe »Nation« und »Staatsvolk« dieselbe Extension. Über die juristi­ sche Festlegung hinaus hat aber »Nation« auch die Bedeutung einer durch gemeinsame Abstammung, mindestens durch gemein­ same Sprache, Kultur und Geschichte geprägten politischen Ge­ meinschaft. Zur »Nation« in diesem historischen Sinne wird ein Staatsvolk nur in der konkreten Gestalt einer besonderen Lebens­ form. Die beiden Komponenten, die in Begriffen wie »National­ staat« oder »Staatsbürgernation« verklammert sind, gehen auf zwei historisch keineswegs parallel verlaufende Prozesse zurück — auf die Bildung von (i) Staaten einerseits, (z) Nationen andererseits. (i) Der historische Erfolg des Nationalstaates erklärt sich zu ei­ nem erheblichen Teil aus den Vorzügen des modernen Staatsappa­ rates als solchen. Offensichtlich hat der gewaltmonopolisierende Flächenstaat mit ausdifferenzierter, aus Steuern finanzierter Ver­ waltung die funktionalen Imperative der gesellschaftlichen, kultu­ rellen und vor allem wirtschaftlichen Modernisierung besser erfüllen können als die politischen Formationen älteren Ur­ sprungs. In unserem Zusammenhang genügt es, an die von Marx und Max Weber herausgearbeiteten idealtypischen Kennzeichnun­ gen zu erinnern. (a) Die von der Hausherrschaft des Königs getrennte und büro­ kratisch ausgestaltete exekutive Gewalt des Staates bestand aus einer mit juristisch geschulten Beamten besetzten, fachlich spezia­ lisierten Ämterorganisation und konnte sich auf die kasernierte Gewalt von stehendem Heer, Polizei und Strafvollzug stützen. Um diese Mittel legitimer Gewaltanwendung zu monopolisieren, mußte der »Landfrieden« durchgesetzt werden. Souverän ist nur der Staat, der im Inneren Ruhe und Ordnung aufrechterhalten und nach außen seine Grenzen de facto schützen kann. Er muß sich im Inneren gegen konkurrierende Gewalten durchsetzen und interna­ tional als gleichberechtigter Konkurrent behaupten können. Der Status eines völkerrechtlichen Subjekts beruht auf der internatio­ nalen Anerkennung als »gleiches« und »unabhängiges« Mitglied des Staatensystems; und dafür bedarf es einer hinreichend starken Machtposition. Innere Souveränität setzt die Fähigkeit zur Durch­ setzung der staatlichen Rechtsordnung voraus, äußere Souveränität 13*

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die Fähigkeit zur Selbstbehauptung in der »anarchischen« Macht­ konkurrenz der Staaten. (b) Noch wichtiger für den Prozeß der Modernisierung ist die Trennung des Staates von der »bürgerlichen Gesellschaft«, also die funktionale Spezifizierung des Staatsapparates. Der moderne Staat ist zugleich Verwaltungs- und Steuerstaat, was bedeutet, daß er sich wesentlich auf administrative Aufgaben beschränkt. Er überläßt die produktiven Aufgaben, die bis dahin im Rahmen der politi­ schen Herrschaft wahrgenommen worden waren, einer vom Staat differenzierten Marktwirtschaft. In dieser Hinsicht sorgt er für die »allgemeinen Produktionsbedingungen«, also für den rechtlichen Rahmen und die Infrastruktur, die für einen kapitalistischen Wa­ renverkehr und die entsprechende Organisation der gesellschaft­ lichen Arbeit nötig sind. Der Finanzbedarf des Staates wird durch ein privat erwirtschaftetes Steueraufkommen gedeckt. Die Vorteile dieser funktionalen Spezialisierung bezahlt das administrative Sy­ stem mit der Abhängigkeit von der Leistungsfähigkeit einer über Märkte gesteuerten Ökonomie. Märkte können zwar politisch ein­ gerichtet und überwacht werden, sie gehorchen aber einer eigenen Logik, die sich staatlicher Kontrolle entzieht. Die Differenzierung des Staates von der Ökonomie spiegelt sich in der Differenzierung des öffentlichen vom privaten Recht. Indem sich der moderne Staat des positiven Rechts als eines Organisa­ tionsmittels seiner Herrschaft bedient, bindet er sich an ein Me­ dium, das mit den Begriffen des Gesetzes, des (daraus abgeleiteten) subjektiven Rechts und der Rechtsperson (als des Trägers von Rechten) ein neues, von Hobbes explizit gemachtes Prinzip zur Geltung bringt: in einer (freilich nur in gewisser Weise) entmoralisierten Ordnung positiven Rechts ist den Bürgern alles erlaubt, was nicht verboten ist. Unabhängig davon, ob die Staatsgewalt selber bereits rechtsstaatlich domestiziert ist und die Krone »unter dem Gesetz« steht, kann sich der Staat des Rechtsmediums nicht bedie­ nen, ohne den Verkehr in der von ihm unterschiedenen Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft so zu organisieren, daß die Privatleute in den Genuß - zunächst ungleich verteilter - subjektiver Freiheiten gelangen. Mit der Trennung des privaten vom öffentlichen Recht gewinnt der einzelne Bürger, in der Rolle des »Untertanen«, wie

sich noch Kant ausgedrückt hat, einen Kernbereich von privater Autonomie.2 (2) Wir alle leben heute in nationalen Gesellschaften, die ihre Ein­ heit einer Organisation dieser Art verdanken. Solche Staaten be­ standen freilich lange, bevor es - im modernen Sinne - »Nationen« gab. Staat und Nation sind erst seit den Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts zum Nationalstaat verschmolzen. Bevor ich auf das Spezifische dieser Verbindung cingehe, möchte ich in der Form eines kurzen begriffsgeschichtlichen Exkurses an die Entstehung jener modernen Bewußtseinsformation erinnern, die die Interpre­ tation des Staatsvolkes als »Nation« in einem anderen als nur juristischen Sinne erlaubt. Nach dem klassischen Sprachgebrauch der Römer ist »natio« ebenso wie »gens« ein Oppositionsbegriff zu »civitas«. Nationen sind zunächst Abstammungsgemeinschaften, die geographisch durch Siedlung und Nachbarschaft, kulturell durch gemeinsame Sprache, Sitte und Überlieferung, aber noch nicht politisch, im Rahmen einer staatlichen Organisationsform integriert sind. Diese Wurzel erhält sich in Mittelalter und früher Neuzeit überall, wo >natio< mit >lingua< gleichgesetzt wird. So wurden beispielsweise an den mittelalterlichen Universitäten die Studenten nach ihrer lands­ mannschaftlichen Herkunft in >nationes< eingeteilt. Mit zunehmen­ der geographischer Mobilität diente der Begriff überhaupt der Binnendifferenzierung von Ritterorden, Universitäten, Klöstern, Konzilen, Kaufmannssiedlungen usw. Dabei verband sich die von anderen zugeschriebene nationale Herkunft von Anbeginn mit der negativen Abgrenzung des Fremden vom Eigenen? Eine der unpolitischen entgegengesetzte Bedeutung erhielt der Ausdruck »Nation« damals in einem anderen Zusammenhang. Aus dem Lehnsverband des Deutschen Reiches hatten sich Ständestaa2 In seinem Aufsatz »Über den Gemeinspruch« unterscheidet Kant bekanntlich »die Gleichheit (des Einzelnen) mit jedem anderen als Untertan« von der »Frei­ heit des Menschen« und der »Selbständigkeit des Bürgers«, Werke (Weischedel), Bd.vi, 145. 3 »Das Nationenmodell hat nach Art asymmetrischer Gegenbegriffe in die euro­ päische Geschichte Einzug gehalten.« H.Münkler, »Die Nation als Modell politischer Ordnung«, Staatswissenschaft und Staatspraxis, $. Jg., H. 3,1994, 381.

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ten entwickelt; sie basierten auf Verträgen, in denen der auf Steuern und militärische Unterstützung angewiesene König oder Kaiser dem Adel, der Kirche und den Städten Privilegien, also eine be­ grenzte Teilhabe an der Ausübung politischer Herrschaft ein­ räumte. Und diese in »Parlamenten« oder »Landtagen« zusam­ mentretenden Herrschaftsstände repräsentierten gegenüber dem Hof das »Land« oder eben die »Nation«. Als Nation genoß der Adel eine politische Existenz, die dem Volk als der Gesamtheit der Untertanen noch versagt war. Das erklärt den revolutionären Sinn von Formeln wie »King in Parliament« und erst recht die Identifi­ zierung des »Dritten Standes« mit der »Nation«. Die seit dem späten 18. Jahrhundert voranschreitende Transforma­ tion der »Adelsnation« in die »Volksnation« setzt schließlich einen von Intellektuellen inspirierten Bewußtseinswandel voraus, der sich zunächst im städtischen, vor allem akademisch gebildeten Bür­ gertum durchsetzt, bevor er in der breiten Bevölkerung ein Echo findet und allmählich eine politische Mobilisierung der Massen be­ wirkt. Das völkische Nationalbewußtsein verdichtet sich zu den in Nationalgeschichten aufbereiteten »imaginären Gemeinschaften« (Anderson), die zu Kristallisationskernen einer neuen kollektiven Selbstidentifikation wurden: »So entstanden in den letzten Jahr­ zehnten des 18. und im Verlaufe des 19.Jahrhunderts die Natio­ nen...: ausgebrütet von einer durchaus überschaubaren Anzahl von Gelehrten, Publizisten und Dichtern - Volksnationen in der Idee, noch längst nicht in der Wirklichkeit.«4 In dem Maße, wie sich diese Idee ausbreitete, zeigte sich jedoch auch, daß der zur Volksnation umgeformte politische Begriff der Adelsnation dem älteren, vorpolitischen Begriff der als Abstammungs- und Her­ kunftsbezeichnung verwendeten »Nation« die Kraft zur Stereoty­ penbildung entlehnt hatte. Die positive Selbststilisierung der eigenen Nation wurde jetzt zum gut funktionierenden Mechanis­ mus der Abwehr alles Fremden, der Abwertung anderer Nationen und der Ausgrenzung nationaler, ethnischer, religiöser Minderhei­ ten - insbesondere der Juden. In Europa hat sich der Nationalis­ mus auf folgenreiche Weise mit dem Antisemitismus verbunden.

4 H. Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, München 1994,189.

II. Die neue Form der sozialen Integration Wenn man verzweigte und lange währende Prozesse von den Er­ gebnissen her interpretiert, spielte die »Erfindung der Nation« (H. Schulze) für die Transformation des frühmodernen Staates in eine demokratische Republik die Rolle eines Katalysators. Das na­ tionale Selbstverständnis hat den kulturellen Kontext gebildet, in dem aus Untertanen politisch aktive Bürger werden konnten. Erst die Zugehörigkeit zur »Nation« hat zwischen Personen, die bis dahin Fremde füreinander gewesen waren, einen solidarischen Zu­ sammenhang gestiftet. Die Leistung des Nationalstaates bestand also darin, daß er zwei Probleme in einem gelöst hat: er machte auf der Grundlage eines neuen Legitimationsmodus eine neue, abstrak­ tere Form der sozialen Integration möglich. Das Legitimationsproblem ergab sich, kurz gesagt, daraus, daß sich im Gefolge der Konfessionsspaltung ein weltanschaulicher Pluralismus entwickelte, der der politischen Herrschaft allmählich die religiöse Grundlage des »Gottesgnadentums« entzog. Der sä­ kularisierte Staat mußte sich aus anderen Quellen legitimieren. Das andere Problem der gesellschaftlichen Integration hing, ebenso vereinfacht, mit Urbanisierung und wirtschaftlicher Modernisie­ rung, mit der Ausdehnung und Beschleunigung des Waren-, Perso­ nen- und Nachrichtenverkehrs zusammen. Die Bevölkerung wurde aus den ständischen Sozialverbänden der frühneuzeitlichen Gesellschaft herausgerissen und damit zugleich geographisch mo­ bilisiert und vereinzelt. Auf beide Herausforderungen antwortet der Nationalstaat mit einer politischen Mobilisierung seiner Bür­ ger. Das entstehende Nationalbewußtsein machte es nämlich mög­ lich, eine abstraktere Form der gesellschaftlichen Integration mit veränderten politischen Entscheidungsstrukturen zu verknüpfen. Eine sich langsam durchsetzende demokratische Beteiligung schafft mit dem Status der Staatsbürgerschaft eine neue Ebene der rechtlich vermittelten Solidarität-, zugleich erschließt sie dem Staat eine säkularisierte Quelle der Legitimation. Natürlich hatte der moderne Staat seine sozialen Grenzen immer schon über Staatsan­ gehörigkeitsrechte reguliert. Aber Staatsangehörigkeit hieß zu­ nächst nicht mehr als die Unterstellung unter eine Staatsgewalt. ’35

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Diese zugeschriebene Organisationsmitgliedschaft verwandelte sich erst mit dem Übergang zum demokratischen Rechtsstaat in eine durch (mindestens implizite Zustimmung) erworbene Mit­ gliedschaft von Bürgern, die an der Ausübung der politischen Herrschaft beteiligt werden. An diesem Bedeutungszuwachs, den die Mitgliedschaft mit dem Wechsel vom Status des Staatsangehö­ rigen zu dem des Staatsbürgers erfährt, müssen wir freilich den politisch-rechtlichen Aspekt von dem eigentlich kulturellen unter­ scheiden. Wie erwähnt, sind für den modernen Staat zwei Merkmale konsti­ tutiv: die im Fürsten verkörperte Souveränität der Staatsgewalt und die Differenzierung des Staates von der Gesellschaft, wobei den Privatleuten ein Kernbestand von subjektiven Freiheiten paternali­ stisch eingeräumt wurde. Diese Rechte des Untertanen verwandeln sich nun, mit dem Wechsel von der Fürsten- zur Volkssouveränität, in Rechte des Menschen und des Staatsbürgers, also in liberale und politische Bürgerrechte. Idealtypisch betrachtet, garantieren diese neben der privaten jetzt auch die politische Autonomie, und zwar im Prinzip gleichmäßig für jedermann. Der demokratische Verfas­ sungsstaat ist seiner Idee nach eine vom Volk selbst gewollte und durch dessen freie Willensbildung legitimierte Ordnung. Nach Rousseau und Kant sollen sich die Adressaten des Rechts zugleich als dessen Autoren begreifen können. Einer solchen rechtlich-politischen Umgestaltung hätte aber die Antriebskraft gefehlt, und der formal eingerichteten Republik die Lebenskraft, wenn nicht aus dem obrigkeitlich definierten Volk, seinem Selbstverständnis nach, eine Nation selbstbewußter Staats­ bürger geworden wäre. Zu dieser politischen Mobilisierung be­ durfte es einer Idee von gesinnungsbildender Kraft, die stärker als Volkssouveränität und Menschenrechte an Herz und Gemüt appel­ liert. Diese Lücke füllt die Idee der Nation. Sie bringt den Bewoh­ nern eines staatlichen Territoriums die neue, rechtlich und politisch vermittelte Form der Zusammengehörigkeit erst zu Bewußtsein. Erst das nationale Bewußtsein, das sich um die Perzeption einer gemeinsamen Abstammung, Sprache und Geschichte kristallisiert, erst das Bewußtsein der Zugehörigkeit zu »demselben« Volk macht die Untertanen zu Bürgern eines einzigen politischen Gemeinwe136

J sens - zu Mitgliedern, die sich füreinander verantwortlich fühlen können. Die Nation oder der Volksgeist - die erste moderne Form kollektiver Identität überhaupt - versorgt die rechtlich konstitu­ ierte Staatsform mit einem kulturellen Substrat. Diese durchaus künstliche, auch von bürokratischen Bedürfnissen gesteuerte Ein­ schmelzung älterer Loyalitäten ins neue Nationalbewußtsein be­ schreiben Historiker als einen längerfristigen Prozeß. Dieser Prozeß führt zu einer doppelten Codierung der Staatsbür­ gerschaft, so daß der durch Bürgerrechte definierte Status zugleich die Zugehörigkeit zu einem kulturell definierten Volk bedeutet. Ohne diese kulturelle Interpretation der staatsbürgerlichen Rechte hätte der Nationalstaat in seiner Entstehungsphase kaum die Kraft gefunden, über die Einrichtung der demokratischen Staatsbürger­ schaft zugleich eine neue, abstraktere Ebene der sozialen Integra­ tion herzustellen. Das Gegenbeispiel der Vereinigten Staaten zeigt allerdings, daß der Nationalstaat auch ohne die Grundlage einer kulturell in dieser Weise homogenisierten Bevölkerung eine repu­ blikanische Gestalt annehmen und aufrechterhalten kann. An die Stelle des Nationalismus tritt hier jedoch eine in der Mehrheitskul­ tur verwurzelte Zivilreligion. Bis jetzt war von den Errungenschaften des Nationalstaats die Rede. Aber die Verbindung von Republikanismus und Nationalis­ mus erzeugt auch gefährliche Ambivalenzen. Mit der Entstehung des Nationalstaats verändert sich, wie wir gesehen haben, der Sinn der staatlichen Souveränität. Das betrifft nicht nur die Umkehrung von Fürsten- in Volkssouveränität; auch die Wahrnehmung der äu­ ßeren Souveränität ändert sich. Die Idee der Nation verschränkt sich mit jenem machiavellistischen Selbstbehauptungswillen, von dem sich der souveräne Staat in der Arena der »Mächte« von An­ beginn hatte leiten lassen. Aus der strategischen Selbstbehauptung des modernen Staates gegen äußere Feinde wird die existentielle Selbstbehauptung der Nation. Damit kommt ein dritter Begriff von »Freiheit« ins Spiel. Ein kollektiver Begriff nationaler Freiheit konkurriert mit den beiden individualistischen Freiheitsbegriffen, der privaten Freiheit der Gesellschaftsbürger und der politischen Autonomie der Staatsbürger. Wichtiger ist, wie diese Freiheit der Nation gedacht wird - in Analogie zur Freiheit von Privatleuten, ■37

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die sich voneinander abgrenzen und miteinander konkurrieren, oder nach dem Muster der kooperativen Selbstbestimmung auto­ nomer Staatsbürger. Das Modell der öffentlichen Autonomie geht in Führung, wenn die Nation als eine rechtlich konstruierte Größe, eben als eine Nation von Staatsbürgern begriffen wird. Diese Bürger können sehr wohl Patrioten sein, die die eigene Verfassung im Kontext der Geschichte ihres Landes als Errungenschaft verstehen und verteidigen. Aber sie begreifen die Freiheit der Nation - ganz im Sinne Kants - kos­ mopolitisch, nämlich als eine Ermächtigung und Verpflichtung zur kooperativen Verständigung oder zum Interessenausgleich mit an­ deren Nationen im friedenssichernden Rahmen eines Völkerbun­ des. Die naturalistische Deutung der Nation als einer vorpoliti­ schen Größe suggeriert hingegen eine andere Interpretation. Danach besteht die Freiheit der Nation wesentlich in der Fähigkeit, ihre Unabhängigkeit notfalls mit militärischer Gewalt zu behaup­ ten. Wie die Privatleute auf dem Markt, so verfolgen die Völker ihre je eigenen Interessen in der freien Wildbahn der internationa­ len Machtpolitik. Das traditionelle Bild der äußeren Souveränität wird in den Nationalfarben koloriert und weckt dadurch neue Energien.

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in. Die Spannung zwischen Nationalismus und Repubiikanismus

Im Unterschied zu den republikanischen Freiheiten der Individuen bezeichnet die Unabhängigkeit der jeweils eigenen Nation, die notfalls mit dem »Blut der Söhne« verteidigt werden muß, je­ nen Ort, an dem sich der säkularisierte Staat einen nicht säkulari­ sierten Rest von Transzendenz bewahrt. Der kriegführende Natio­ nalstaat erlegt seinen Bürgern die Pflicht auf, für das Kollektiv ihr Leben zu riskieren. Seit der Französischen Revolution gilt die all­ gemeine Wehrpflicht als die Kehrseite der Bürgerrechte; in der Bereitschaft, für das Vaterland zu kämpfen und zu sterben, sollen sich gleichermaßen das nationale Bewußtsein und die republikani­ sche Gesinnung bewähren. So spiegeln etwa die Inschriften der ij8

französischen Nationalgeschichte eine doppelte Erinnerungsspur: die Marksteine des Kampfes um die republikanische Freiheit ver­ binden sich mit der Todessymbolik des Gedenkens an die im Feld Gefallenen. Die Nation hat zwei Gesichter. Während die gewollte Nation der Staatsbürger die Quelle für demokratische Legitimation ist, sorgt die geborene Nation der Volksgenossen für soziale Integration. Staatsbürger konstituieren aus eigener Kraft die politische Assozia­ tion von Freien und Gleichen; Volksgenossen finden sich in einer durch gemeinsame Sprache und Geschichte geprägten Gemein­ schaft vor. In die Begrifflichkeit des Nationalstaats ist die Span­ nung zwischen dem Universalismus einer egalitären Rechtsge­ meinschaft und dem Partikularismus einer historischen Schicksals­ gemeinschaft eingelassen. Diese Ambivalenz bleibt ungefährlich, solange ein kosmopoliti­ sches Verständnis der Staatsbürgernation Vorrang behält vor der ethnozentrischen Deutung einer Nation, die sich auf Dauer im la­ tenten Kriegszustand befindet. Nur ein nicht-naturalistischer Be­ griff von Nation fügt sich nahtlos mit dem universalistischen Selbstverständnis des demokratischen Rechtsstaates zusammen. Dann kann die republikanische Idee die Führung übernehmen und ihrerseits die sozial integrierenden Lebensformen durchdringen und nach universalistischen Mustern strukturieren. Seinen histori­ schen Erfolg verdankt der Nationalstaat dem Umstand, daß er die zerfallenden korporativen Bindungen der frühmodernen Gesell­ schaft durch den Solidarzusammenhang der Staatsbürger ersetzt hat. Aber diese republikanische Errungenschaft gerät in Gefahr, wenn umgekehrt die integrative Kraft der Staatsbürgernation auf die vorpolitische Gegebenheit eines naturwüchsigen Volkes, also auf etwas von der politischen Meinungs- und Willensbildung der Bürger selbst Unabhängiges zurückgeführt wird. Für das Umkip­ pen in den Nationalismus lassen sich natürlich viele Gründe anfüh­ ren. Ich erwähne zwei; der eine Grund ist konzeptueller, der andere empirischer Art. In der rechtlichen Konstruktion des Verfassungsstaates besteht eine Lücke, die dazu einlädt, mit einem naturalistischen Begriff des Volkes ausgefüllt zu werden. In normativen Begriffen allein läßt iJ9

sich nämlich nicht erklären, wie sich die Grundgesamtheit jener Personen, die sich vereinigen, um ihr Zusammenleben mit Mitteln des positiven Rechts legitim zu regeln, zusammensetzen soll. Nor­ mativ betrachtet, sind die sozialen Grenzen einer Assoziation freier und gleicher Rechtsgenossen kontingent. Da die Freiwillig­ keit des Entschlusses zur verfassunggebenden Praxis eine vernunft­ rechtliche Fiktion ist, bleibt es in der Welt, die wir kennen, dem historischen Zufall und der Faktizität der Ereignisse - normaler­ weise dem naturwüchsigen Ausgang von gewaltsamen Konflikten, von Kriegen und Bürgerkriegen - überlassen, wer die Macht ge­ winnt, die Grenzen einer politischen Gemeinschaft zu definieren. Es ist ein praktisch folgenreicher, auf das 19. Jahrhundert zurück­ gehender theoretischer Fehler anzunehmen, daß auch diese Frage normativ, und zwar mit einem »Recht auf nationale Selbstbestim­ mung«, beantwortet werden kann.5 Der Nationalismus löst das Problem der Grenzen auf seine Weise. Mag das nationale Bewußtsein auch selber ein Artefakt sein, es entwirft die imaginäre Größe der Nation als ein Gewachsenes, das sich im Gegensatz zur artifiziellen Ordnung des positiven Rechts und der Konstruktion des Verfassungsstaates von selbst versteht. Der Rückgriff auf die »organische« Nation kann deshalb den histo­ risch mehr oder weniger zufälligen Grenzen der politischen Ge­ meinschaft das bloß Kontingente abstreifen, sie mit der Aura einer nachgeahmten Substantialität versehen und durch »Herkunft« legi­ timieren. Der andere Grund ist trivialer. Gerade die Künstlichkeit der natio­ nalen Mythen, sowohl die wissenschaftliche Aufbereitung wie die propagandistische Vermittlung, macht den Nationalismus von Haus aus anfällig für den Mißbrauch durch politische Eliten. Daß innere Konflikte durch außenpolitische Erfolge neutralisiert wer­ den, beruht auf einem sozialpsychologischen Mechanismus, den sich Regierungen immer wieder zunutze gemacht haben. Aber ei-

5 So schon der liberale Staatsrechter Johann Caspar Bluntschli: »Jede Nation ist berufen und daher berechtigt, einen Staat zu bilden ... Wie die Menschheit in eine Anzahl von Nationen geteilt ist, so soll (1) die Welt in ebenso viele Staaten zerlegt werden. Jede Nation ein Staat. Jeder Staat ein nationales Wesen.- (Zit. nach H.Schulze [1994], 1x5.) 140

nem Nationalstaat, der bellizistisch nach Weltgeltung strebt, sind die Bahnen vorgezeichnet, wie sich Konflikte, die während einer beschleunigten kapitalistischen Industrialisierung aus der Klassen­ spaltung entstehen, ableiten lassen: die kollektive Freiheit der Nation konnte im Sinne imperialer Machtentfaltung interpretiert werden. Die Geschichte des europäischen Imperialismus zwischen 1871 und 1914 illustriert ebenso wie der integrale Nationalismus des 20. Jahrhunderts (ganz zu schweigen vom Rassismus der Na­ zis) die traurige Tatsache, daß die Idee der Nation weniger dazu gedient hat, die Bevölkerungen in ihrer Loyalität zum Verfassungs­ staat zu bestärken, als vielmehr dazu, die Massen für Ziele zu mobilisieren, die kaum mit republikanischen Grundsätzen in Ein­ klang zu bringen sind.6 Die Lehre, die wir aus dieser Geschichte ziehen können, liegt auf der Hand. Der Nationalstaat muß das ambivalente Potential, das einst als Schubkraft gewirkt hat, abschütteln. Heute, wo die Hand­ lungsfähigkeit des Nationalstaats an seine Grenzen stößt, ist sein Beispiel gleichwohl lehrreich. Seinerzeit hat der Nationalstaat ei­ nen Zusammenhang politischer Kommunikation gestiftet, der es möglich machte, die Abstraktionsschübe der gesellschaftlichen Modernisierung aufzufangen und eine aus überlieferten Lebenszu­ sammenhängen herausgerissene Bevölkerung über das National­ bewußtsein in die Kontexte einer erweiterten und rationalisier­ ten Lebenswelt wieder einzubetten. Diese Integrationsfunktion konnte er um so eher erfüllen, als sich der Rechtsstatus des Bürgers mit der kulturellen Zugehörigkeit zur Nation verband. Heute, da sich der Nationalstaat im Inneren durch die Sprengkraft des Multikulturalismus, von außen durch den Problemdruck der Globali­ sierung herausgefordert sieht, stellt sich die Frage, ob es für das Junktim von Staatsbürger- und Volksnation ein ebenso funktiona­ les Äquivalent gibt.

6 Vgl. H. Schulze (1994), 243 fr. 141

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iv. Die Einheit der politischen Kultur in der Vielfalt der Subkulturen

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Ursprünglich hatte die suggestive Einheit eines mehr oder weniger homogenen Volkes für die kulturelle Einbettung der rechtlich defi­ nierten Staatsbürgerschaft sorgen können. In diesem Kontext konnte die demokratische Staatsbürgerschaft den Knotenpunkt für reziproke Verantwortlichkeiten bilden. Aber in unseren pluralisti­ schen Gesellschaften leben wir heute mit Alltagsevidenzen, die sich immer weiter vom Modellfall eines Nationalstaats mit kulturell ho­ mogener Bevölkerung entfernen. Die Vielfalt an kulturellen Le­ bensformen, ethnischen Gruppen, Konfessionen und Weltbildern nimmt zu. Dazu gibt es keine Alternative, es sei denn um den normativ unerträglichen Preis ethnischer Säuberungen. Deshalb muß der Republikanismus lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. Sein Witz besteht ja darin, daß der demokratische Prozeß zugleich die Ausfallbürgschaft für die soziale Integration einer immer weiter ausdifferenzierten Gesellschaft übernimmt. In einer kulturell und weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft darf diese Bürde nicht von den Ebenen der politischen Willensbildung und öffentlichen Kommunikation auf das scheinbar naturwüchsige Substrat eines vermeintlich homogenen Volkes verschoben werden. Hinter einer solchen Fassade würde sich doch nur die hegemoniale Kultur eines herrschenden Teils verbergen. Aus historischen Gründen besteht in vielen Ländern eine Fusion der Mehrheitskultur mit jener allge­ meinen politischen Kultur, die den Anspruch stellt, von allen Staatsbürgern, ungeachtet ihrer kulturellen Herkunft, anerkannt zu werden. Diese Fusion muß aufgelöst werden, wenn innerhalb desselben Gemeinwesens verschiedene kulturelle, ethnische und religiöse Lebensformen gleichberechtigt sollen neben- und mitein­ ander existieren können. Die Ebene der gemeinsamen politischen Kultur muß von der Ebene der Subkulturen und ihrer vorpolitisch geprägten Identitäten entkoppelt werden. Der Anspruch auf gleichberechtigte Koexistenz steht freilich unter dem Vorbehalt, daß die geschützten Bekenntnisse und Praktiken den geltenden Verfassungsprinzipien (so wie sie in der jeweiligen politischen Kul­ tur verstanden werden) nicht widersprechen dürfen. 142

Die politische Kultur eines Landes kristallisiert sich um die gel­ tende Verfassung. Jede nationale Kultur bildet im Lichte der eige­ nen Geschichte für dieselben, auch in anderen republikanischen Verfassungen verkörperten Prinzipien - wie Volkssouveränität und Menschenrechte - eine jeweils andere Lesart aus. Auf der Grund­ lage dieser Interpretationen kann ein »Verfassungspatriotismus« an die Stelle des ursprünglichen Nationalismus treten. Ein solcher Verfassungspatriotismus erscheint manchen Beobachtern für den Zusammenhalt komplexer Gesellschaften als ein zu schwaches Band. Um so dringlicher stellt sich die Frage nach den Bedingun­ gen, unter denen das Polster einer liberalen politischen Kultur ausreicht, um eine Nation von Staatsbürgern auch unabhängig von völkischen Assoziationen vor dem Zerfall in Fragmente zu bewah­ ren. Das ist heute selbst für klassische Einwanderungsländer wie die USA zum Problem geworden. Die politische Kultur der Vereinig­ ten Staaten gewährt mehr als andere Länder Raum für eine fried­ liche Koexistenz von Bürgern mit sehr verschiedenem kulturellen Hintergrund; dort kann jeder mit zwei Identitäten gleichzeitig le­ ben, im eigenen Lande Angehöriger und Fremder zugleich sein. Aber der anschwellende Fundamentalismus, gar Terrorismus (wie in Oklahoma), ist ein Warnzeichen dafür, daß sogar hier das Sicherheitsnetz der Zivilreligion, die eine bewundernswert konti­ nuierliche Verfassungsgeschichte von mehr als zwei Jahrhunderten interpretiert, reißen könnte. Ich vermute, daß multikulturelle Ge­ sellschaften durch eine noch so bewährte politische Kultur nur dann zusammengehalten werden können, wenn sich Demokratie nicht nur in Gestalt von liberalen Freiheits- und politischen Teil­ nahmerechten auszahlt, sondern auch durch den profanen Genuß sozialer und kultureller Teilhaberechte. Die Bürger müssen den Gebrauchswert ihrer Rechte auch in der Form sozialer Sicherheit und der reziproken Anerkennung verschiedener kultureller Le­ bensformen erfahren können. Die demokratische Staatsbürger­ schaft wird eine integrative Kraft nur entfalten, d. h. Solidarität zwischen Fremden stiften, wenn sie sich als ein Mechanismus be­ währt, über den die Bestandsvoraussetzungen für erwünschte Le­ bensformen tatsächlich realisiert werden.

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Diese Perspektive wird jedenfalls durch den Typ von Wohlfahrts­ staat nahegelegt, der sich in Europa unter den günstigen, freilich nicht länger obwaltenden Umständen der Nachkriegsperiode ent­ wickelt hat. Hier waren, nach der Zäsur des Zweiten Weltkrieges, die Energiequellen eines überreizten Nationalismus erschöpft. Un­ ter dem Schirm des nuklearen Gleichgewichts der Supermächte blieb den europäischen Mächten - und nicht nur dem geteilten Deutschland - eine eigenständige Außenpolitik versagt. Strittige Grenzfragen waren kein Thema. Gesellschaftliche Konflikte konn- ten nicht nach außen abgeleitet, sie mußten unter dem Primat der Innenpolitik bearbeitet werden. Unter diesen Bedingungen konnte sich das universalistische Verständnis des demokratischen Rechts­ staats von Imperativen einer an nationalen Interessen ausgerichte­ ten und geopolitisch motivierten Machtpolitik weitgehend lösen. Trotz Weltbürgerkriegsstimmung und antikommunistischer Feindbilder lockerte sich auch im öffentlichen Bewußtsein die tra­ ditionelle Verschränkung des Republikanismus mit Zielen der na­ tionalen Selbstbehauptung. Die Tendenz zu einem gewissermaßen »postnationalen« Selbstver­ ständnis des politischen Gemeinwesens mag sich in der besonderen Situation der Bundesrepublik Deutschland, die ohnehin wesent­ licher Souveränitätsrechte beraubt war, stärker durchgesetzt haben als in anderen europäischen Staaten. Aber in den meisten west- und nordeuropäischen Ländern hat die sozialstaatliche Pazifizierung des Klassenantagonismus eine neue Lage geschaffen. Im Laufe der Zeit sind soziale Sicherungssysteme auf- und ausgebaut, Reformen in Bereichen wie Schule, Familie, Strafrecht und Strafvollzug, Da­ tenschutz usw. durchgesetzt, feministische Gleichstellungspoliti­ ken wenigstens eingeleitet worden. Innerhalb einer Generation hat sich der Status der Bürger, wie unvollkommen auch immer, in sei­ ner rechtlichen Substanz erkennbar verbessert. Das hat, und darauf kommt es mir an, die Bürger selbst für den Vorrang des Themas der Verwirklichung von Grundrechten sensibel gemacht - für jenen Vorrang, den die reale Nation der Staatsbürger vor der imaginierten Nation der Volksgenossen behalten muß. Das System der Rechte ist unter den ökonomisch günstigen Bedin­ gungen einer vergleichsweise langen Periode des wirtschaftlichen 144

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Wachstums ausgestaltet worden. So konnte jeder den Status des Staatsbürgers als das erkennen und würdigen, was ihn mit den an­ deren Mitgliedern des politischen Gemeinwesens verbindet, was ihn gleichzeitig von diesen abhängig und für sie mit verantwortlich macht. Alle konnten sehen, daß sich private und öffentliche Auto­ nomie im Kreislauf der Reproduktion und Verbesserung von Be­ dingungen präferierter Lebensweisen wechselseitig voraussetzen. Sie merkten jedenfalls intuitiv, daß sie private Handlungsspiel­ räume nur fair voneinander abgrenzen können, wenn sie von ihren staatsbürgerlichen Kompetenzen einen angemessenen Gebrauch machen; und daß sie zu dieser politischen Teilnahme wiederum nur auf der Grundlage einer intakten Privatsphäre fähig sind. Die Ver­ fassung bewährte sich als institutioneller Rahmen für eine Dialek­ tik zwischen rechtlicher und faktischer Gleichheit, welche gleich­ zeitig die private und die staatsbürgerliche Autonomie der Bürger verstärkt.7 Aber diese Dialektik ist, ganz unabhängig von lokalen Ursachen, inzwischen zum Stillstand gekommen. Wenn wir das erklären wol­ len, müssen wir den Blick auf Tendenzen richten, die heute unter dem Stichwort »Globalisierung« Aufmerksamkeit finden.

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v. Grenzen des Nationalstaats: Beschränkungen der inneren Souveränität

Der Nationalstaat hat einst seine territorialen und sozialen Gren­ zen geradezu neurotisch bewacht. Heute sind diese Kontrollen durch unaufhaltsam grenzüberschreitende Prozesse längst durch­ löchert worden. A. Giddens hat »Globalisierung« als die Verdich­ tung weltweiter Beziehungen definiert, welche die gegenseitige Einwirkung lokaler und weit entfernter Ereignisse zur Folge ha­ ben.8 Die weltweiten Kommunikationen laufen über natürliche Sprachen (meistens über elektronische Medien) oder über spezielle 7 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992, 493 ff. 8 A. Giddens, The Consequences of Modemity, Cambridge 1990, 64; ders., Beyond Left and Right, Cambridge 1994, 78 ff. 145

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Codes (vor allem Geld und Recht). Weil »Kommunikation« hier eine zweifache Bedeutung hat, entspringen diesen Prozessen ge­ genläufige Tendenzen. Sie fördern einerseits die Expansion des Bewußtseins von Aktoren, andererseits die Verzweigung, Reich­ weite und Verknüpfung von Systemen, Netzwerken (wie z. B. Märkten) oder Organisationen. Das Wachstum von Systemen und Netzwerken multipliziert zwar die möglichen Kontakte und Infor­ mationen, aber es hat nicht per se die Erweiterung einer intersub­ jektiv geteilten Welt und jene diskursive Verknüpfung von Rele­ vanzgesichtspunkten, Themen und Beiträgen zur Folge, aus denen politische Öffentlichkeiten entstehen. Das Bewußtsein planender, miteinander kommunizierender und handelnder Subjekte scheint gleichzeitig erweitert und fragmentiert zu werden. Die im Internet erzeugten Öffentlichkeiten bleiben wie globale Dorfgemeinschaf­ ten voneinander segmentiert. Vorerst ist unklar, ob ein expandie­ rendes, aber lebensweltlich zentriertes öffentliches Bewußtsein die systemisch ausdifferenzierten Zusammenhänge überhaupt noch umspannen kann oder ob die selbständig gewordenen systemi­ schen Abläufe längst alle durch politische Kommunikation gestif­ teten Zusammenhänge abgehängt haben. Der Nationalstaat war einmal der Rahmen, innerhalb dessen die republikanische Idee der bewußten Einwirkung der Gesellschaft auf sich selbst artikuliert und in gewisser Weise auch institutionali­ siert worden ist. Für ihn war, wie erwähnt, ein komplementäres Verhältnis zwischen Staat und Ökonomie einerseits, innerstaatli­ cher Politik und zwischenstaatlicher Machtkonkurrenz anderer­ seits typisch. Dieses Schema paßt freilich nur auf Verhältnisse, wo die nationale Politik noch auf eine jeweilige »Volkswirtschaft« Ein­ fluß nehmen kann. So war etwa in der Ära der keynesianischen Wirtschaftspolitik das Wachstum von Faktoren abhängig, die kei­ neswegs nur der Kapitalverwertung, sondern der Bevölkerung insgesamt zugute kamen - von der Erschließung des Massenkon­ sums (unter dem Druck freier Gewerkschaften); von der Steige­ rung technischer, zugleich arbeitszeitverkürzender Produktiv­ kräfte (auf der Basis einer unabhängigen Grundlagenforschung); von der Qualifikation der Arbeitskräfte im Rahmen eines expan­ dierenden Erziehungssystems (das den Bildungsstand der Bevölke-

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rung verbesserte) usw. Im Rahmen nationaler Wirtschaften sind jedenfalls Verteilungsspielräume erwirtschaftet worden, die sowohl tarifpolitisch wie auch - von Seiten des Staates - sozial- und gesell­ schaftspolitisch genutzt werden konnten, um die Aspirationen einer anspruchsvollen und intelligenten Bevölkerung zu befriedi­ gen. Obwohl sich der Kapitalismus von Anbeginn in weltweiten Di­ mensionen entwickelt hat9, hat diese ökonomische, im Zusammen­ spiel mit dem modernen Staatensystem freigesetzte Dynamik eher zur Festigung des Nationalstaats beigetragen. Aber inzwischen verstärken sich beide Entwicklungen nicht länger gegenseitig. Es ist richtig, daß »die territoriale Beschränkung des Kapitals niemals dessen struktureller Mobilität (entsprach). Sie ist den besonderen historischen Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft in Europa geschuldet.«10 Aber diese Bedingungen haben sich mit der Dena­ tionalisierung der wirtschaftlichen Produktion gründlich verän­ dert. Inzwischen werden alle Industrieländer von dem Umstand affiziert, daß sich die Investitionsstrategien von immer mehr Un­ ternehmen an weltweit vernetzten Finanz- und Arbeitsmärkten orientieren. Die »Standortdebatten«, die wir heute führen, bringen die Schere zu Bewußtsein, die sich zwischen nationalstaatlich begrenzten Handlungsspielräumen einerseits und globalen, d. h. mit politi­ schen Mitteln kaum noch beeinflußbaren wirtschaftlichen Impera­ tiven andererseits immer weiter öffnet. Die wichtigsten Variablen sind einerseits die beschleunigte Entwicklung und Diffusion neuer, produktivitätssteigernder Technologien und andererseits der ge­ waltige Zuwachs der Reserven an vergleichsweise billigen Arbeits­ kräften. Nicht aus den klassischen Welthandelsbeziehungen, son­ dern aus global vernetzten Produktionsverhältnissen ergeben sich die dramatischen Beschäftigungsprobleme in der vormals Ersten Welt. Souveräne Staaten können von ihren jeweiligen Ökonomen nur so lange profitieren, wie Volkswirtschaften, auf die interventio­ nistische Politiken zugeschnitten sind, noch existieren. Mit dem 9 Vgl. I. Wallerstcin, The Modem World System, N. Y. 1974. 10 R. Knieper, Nationale Souveränität, Frankfurt am Main 1991, 85. 147

jüngsten Schub zu einer Denationalisierung der Wirtschaft verliert aber die nationale Politik zunehmend die Herrschaft über diejeni­ gen Produktionsbedingungen, unter denen versteuerbare Gewinne und Einkommen entstehen. Die Regierungen haben immer weni­ ger Einfluß auf Unternehmen, die ihre Investitionsentscheidungen in einem global erweiterten Orientierungshorizont treffen. Sie ste­ hen vor dem Dilemma, zwei gleichermaßen unvernünftige Reak­ tionen vermeiden zu müssen. So aussichtslos der Versuch einer protektionistischen Abschottung und der Bildung von Abwehr­ kartellen ist, so gefährlich ist andererseits, angesichts der erwartba­ ren sozialen Folgen, die Kostenanpassung durch sozialpolitische Deregulierung. Die sozialen Folgen einer Abdankung der Politik, die für das Ziel der internationalen Wettbewerbsfähigkeit eine hohe Dauerarbeits­ losigkeit und den Abbau des Sozialstaates in Kauf nimmt, zeichnen sich in den OECD-Ländern schon ab. Die Quellen der gesellschaft­ lichen Solidarität trocknen aus, so daß sich Lebensbedingungen der vormals Dritten Welt in den Zentren der Ersten ausbreiten. Diese Trends verdichten sich im Phänomen einer neuen »Unterklasse«. Mit diesem irreführenden Singular fassen die Soziologen jenes Bün­ del marginalisierter Gruppen zusammen, die von der übrigen Ge­ sellschaft weitgehend segmentiert sind. Zur underclass gehören die pauperisierten Gruppen, die sich selbst überlassen werden, obwohl sie ihre soziale Lage nicht mehr aus eigener Kraft ändern können. Sie verfügen über kein Drohpotential mehr - so wenig wie die verelen­ deten gegenüber den entwickelten Regionen dieser Welt. Allerdings bedeutet diese Art der Segmentierung nicht, daß desolidarisierte Gesellschaften beliebige Teile der Bevölkerung politisch folgenlos von sich abspalten könnten. Auf längere Sicht sind mindestens drei Konsequenzen unausweichlich. Eine Unterklasse erzeugt soziale Spannungen, die sich in selbstdestruktiv-ziellosen Revolten entla­ den und nur mit repressiven Mitteln kontrolliert werden können. Der Bau von Gefängnissen, die Organisation der inneren Sicherheit überhaupt, wird dann zur Wachstumsindustrie. Ferner lassen sich soziale Verwahrlosung und physische Verelendung nicht lokal be­ grenzen. Das Gift der Ghettos greift auf die Infrastruktur von In­ nenstädten, ja Regionen über und setzt sich in den Poren der ganzen

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h Gesellschaft fest. Das hat schließlich eine moralische Erosion der Gesellschaft zur Folge, die jedes republikanische Gemeinwesen in seinem universalistischen Kern versehren muß. Formal korrekt zustandegekommene Mehrheitsbeschlüsse, die nur die Statusängste und Selbstbehauptungsreflexe einer vom Abstieg bedrohten Mittel­ schicht widerspiegeln, untergraben nämlich die Legitimität der Ver­ fahren und Institutionen. Auf diesem Wege wird die eigentliche Er­ rungenschaft des Nationalstaates, der seine Bevölkerung über de­ mokratische Beteiligung integriert hat, verspielt. Dieses pessimistische Szenario ist nicht unrealistisch, aber natür­ lich illustriert es nur eine von mehreren Zukunftsperspektiven. Die Geschichte kennt keine Gesetze im strengen Sinne; und Menschen, selbst Gesellschaften, sind fähig zu lernen. Eine Alternative zur Abdankung der Politik bestünde darin, daß sie - mit dem Aufbau supranational handlungsfähiger Aktoren - den Märkten nach­ wächst. Ein Beispiel ist Europa auf dem Wege zur Europäischen Union. Leider ist dieses Beispiel nicht nur in einer Hinsicht lehr­ reich. Heute verharren die europäischen Staaten vor der Schwelle zu einer Währungsunion, für die die nationalen Regierungen ihre Geldsouveränität preisgeben müssen. Eine Denationalisierung des Geldes und der Geldpolitik würde eine gemeinsame Finanz-, Wirt­ schafts- und Sozialpolitik nötig machen. In den Mitgliedstaaten wächst, seit dem Vertrag von Maastricht, der Widerstand gegen den vertikalen Ausbau einer Europäischen Union, die damit selber we­ sentliche Züge eines Staates annehmen und ihre nationalstaatlichen Mitglieder mediatisieren würde. Im Bewußtsein der historischen Errungenschaften versteift sich der Nationalstaat in dem Augen­ blick auf seine Identität, da er von Globalisierungsprozessen über­ rollt und entmächtigt wird. Noch beschränkt sich eine nach wie vor nationalstaatlich verfaßte Politik darauf, die jeweils eigene Ge­ sellschaft möglichst schonend an die systemischen Imperative und Nebenfolgen einer von politischen Rahmenbedingungen weitge­ hend entkoppelten weltwirtschaftlichen Dynamik anzupassen. Statt dessen müßte sie den heroischen Versuch machen, sich selbst zu überwinden und auf supranationaler Ebene politische Hand­ lungskapazitäten aufzubauen. Wenn dabei auch noch das norma­ tive Erbe des demokratischen Rechtsstaats gegen die Dynamik

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einer einstweilen entfesselten Kapitalverwertung zur Geltung ge­ bracht werden sollte, müßte das sogar in Formen geschehen, die an demokratische Willensbildungsprozesse anschließen.

vi. »Überwindung« des Nationalstaates: Abschaffung oder Aufhebung?

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Die Rede von der Überwindung des Nationalstaates ist zweideutig. Nach der einen, sagen wir postmodernen Lesart trennen wir uns mit dem Ende des Nationalstaates zugleich vom Projekt der staats­ bürgerlichen Autonomie, das, wie es dann heißt, seinen Kredit ohnehin hoffnungslos überzogen hat. Nach der anderen, der nichtdefaitistischen Lesart hat dieses Projekt einer lernenden, mit poli­ tischem Willen und Bewußtsein auf sich einwirkenden Gesellschaft auch jenseits einer Welt von Nationalstaaten noch eine Chance. Der Streit geht um das normative Selbstverständnis des demokrati­ schen Rechtsstaates. Können wir uns darin auch noch im Zeitalter der Globalisierung wiedererkennen, oder müssen wir uns von die­ sem liebenswürdigen, aber funktionslos gewordenen Relikt des alten Europa befreien? Wenn nicht nur der Nationalstaat am Ende ist, sondern mit ihm jede Form der politischen Vergesellschaftung, werden die Bürger in eine Welt anonym vernetzter Beziehungen entlassen, in der sie sich zwischen systemisch erzeugten Optionen nach je eigenen Präfe­ renzen entscheiden müssen. In dieser nachpolitischen Welt wird das transnationale Unternehmen zum Verhaltensmodell. Die Verselb­ ständigung des globalen Wirtschaftssystems gegenüber ohnmächti­ gen Versuchen einer normativ angeleiteten politischen Einfluß­ nahme erscheint aus systemtheoretischer Sicht ohnehin als Spezialfall einer allgemeineren Entwicklung. Fluchtpunkt ist die vollständig dezentrierte Weltgesellschaft, die in eine ungeordnete Menge von sich selbst reproduzierenden und sich selbst steuernden Funktionssystemen zerfällt. Wie die Hobbes’schen Personen im Naturzustand bilden diese Systeme Umwelten füreinander. Sie sprechen keine gemeinsame Sprache mehr. Ohne ein intersubjektiv geteiltes Universum von Bedeutungen begegnen sie einander auf 150

der Grundlage wechselseitiger Beobachtungen und verhalten sich zueinander nach Imperativen der Selbsterhaltung. J. M. Guehenno schildert diese anonyme Welt aus der Sicht der einzelnen Bürger, die aus dem liquidierten Zusammenhang der staatlichen Solidargemeinschaften herausgefallen sind und sich nun in der unübersichtlichen Gemengelage normfrei operierender Selbstbehauptungssysteme zurechtfinden müssen. Diese »neuen« Menschen schütteln das illusionäre Selbstverständnis der Moderne ab. Überdeutlich ist der neoliberale Kern dieser hellenistischen Vi­ sion. Die Autonomie der Bürger wird kurzerhand um die morali­ sche Komponente staatsbürgerlicher Selbstbestimmung verkürzt und auf Privatautonomie zurückgestutzt: »Wie der römische Bür­ ger zur Zeit des Caracalla wird der Bürger im Zeitalter der Vernet­ zung immer weniger durch seine Teilhabe an der Ausübung der Souveränität definiert und immer stärker dadurch, daß er eine Tä­ tigkeit innerhalb eines Rahmens entfalten kann, in dem alle Verfah­ ren klaren und vorhersehbaren Regeln gehorchen ... Es wird unerheblich sein, ob Privatunternehmen oder Verwaltungsbeamte eine Norm setzen. Die Norm wird nicht mehr Ausdruck der Sou­ veränität sein, sondern einfach ein Faktor, der Ungewißheit redu­ ziert, ein Mittel zur Senkung der Geschäftskosten, indem die Transparenz verbessert wird.«11 In trotziger Anspielung auf Hegels Polemik gegen den »Not- und Verstandesstaat« wird der demokra­ tische Staat ersetzt durch einen »Staat des Privatrechts ohne jeden philosophischen Bezug zum Naturrecht, reduziert auf einen Re­ gelkodex und nur durch den täglich erbrachten Beweis seiner Funktionsfähigkeit legitimiert«.12 An die Stelle von Normen, die zugleich effektiv sind und Gesichtspunkten wie Volkssouveränität und Menschenrechten gehorchen, tritt - in Gestalt einer »Logik der Vernetzung« - die unsichtbare Hand der angeblich spontan geregelten Prozesse der Weltgesellschaft. Aber diese für externe Kosten unempfindlichen Mechanismen sind nicht eben vertrau­ enerweckend. Das gilt jedenfalls für die beiden bekanntesten Bei­ spiele globaler Selbstregulierung.

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11 J.M. Guehenno, Das Ende der Demokratie, Münchcn/Zürich 1994, 86 f. 12 J.M.Guehenno (1994), 140. 151

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Das »Gleichgewicht der Mächte«, auf dem das internationale Sy­ stem drei Jahrhunderte lang beruhte, ist spätestens mit dem Zwei­ ten Weltkrieg zusammengebrochen. Ohne internationalen Ge­ richtshof und überstaatliche Sanktionsmacht konnte Völkerrecht nicht wie innerstaatliches Recht eingeklagt und durchgesetzt wer­ den. Für eine gewisse normative Hegung der Kriege haben allen­ falls die konventionelle Moral und die »Sittlichkeit« der dynasti­ schen Beziehungen gesorgt. Im 20. Jahrhundert hat der totale Krieg auch diesen schwachen normativen Rahmen gesprengt. Der fongeschrittene Stand der Waffentechnologie, die Rüstungsdyna­ mik und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen13 haben die Risiken dieser von keiner unsichtbaren Hand gesteuerten An­ archie der Mächte vollends offenbar gemacht. Die Gründung des Genfer Völkerbundes war der erste Versuch, das unkalkulierbare Machtmanagement innerhalb eines kollektiven Sicherheitssystems wenigstens zu domestizieren. Mit der Gründung der Vereinten Na­ tionen ist ein zweiter Anlauf genommen worden, um supranatio­ nale Handlungskapazitäten für eine nach wie vor in den Anfängen stehende globale Friedensordnung aufzubauen. Nach dem Ende des bipolaren Gleichgewichts des Schreckens scheint sich auf dem Feld der internationalen Sicherheits- und Menschenrechtspolitik trotz aller Rückschläge die Perspektive für eine »Weltinnenpolitik« (C. F. v. Weizsäcker) eröffnet zu haben. Das Versagen des anarchi­ schen Mächtegleichgewichts hat wenigstens die Wünschbarkeit einer politischen Regelung sichtbar gemacht. Ähnlich verhält es sich mit dem anderen Beispiel für spontane Ver­ netzung. Auch der Weltmarkt kann offensichtlich nicht allein der Regie von Weltbank und Internationalem Währungsfond überlas­ sen bleiben, wenn je die asymmetrische Interdependenz zwischen der OECD-Weit und jenen marginalisierten Ländern, die selbsttra­ gende Ökonomien noch entwickeln müssen, überwunden werden soll. Die Rechnung, die der Weltsozialgipfel in Kopenhagen prä­ sentiert hat, ist erschütternd. Es fehlen handlungsfähige Akteure, 13 Heute verfügen vermutlich zehn Länder über nukleare, mehr als zwanzig über chemische Waffen, und im Mittleren und Nahen Osten werden auch schon bak­ teriologische Waffen vermutet; vgl. E. O. Czempiel, Weltpolitik im Umbruch, München 1993, 93.

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die auf internationaler Ebene die Kraft haben, sich auf die fälligen Arrangements, Verfahren und politischen Rahmenbedingungen zu einigen. Nach einer solchen Kooperation verlangen nicht nur die Disparitäten zwischen Nord und Süd, sondern ebenso der Verfall des sozialen Standards in den wohlhabenden nordatlantischen Ge­ sellschaften, wo eine nationalstaatlich begrenzte Sozialpolitik ge­ gen die Folgen niedriger Lohnkosten auf globalisierten und rasch expandierenden Arbeitsmärkten ohnmächtig ist. Supranationale Handlungskapazitäten fehlen erst recht für jene ökologischen Pro­ bleme, die in ihrem globalen Zusammenhang auf dem Erdgipfel von Rio verhandelt worden sind. Eine friedlichere und gerechtere Welt- und Weltwirtschaftsordnung ist ohne handlungsfähige inter­ nationale Institutionen nicht vorzustellen, vor allem nicht ohne Abstimmungsprozesse zwischen den heute erst im Entstehen be­ griffenen kontinentalen Regimen, und nicht ohne Politiken, die wohl nur unter dem Druck einer weltweit mobil gewordenen Zi­ vilgesellschaft durchgesetzt werden könnten. Das legt die konkurrierende Lesart nahe, wonach der Nationalstaat eher »aufgehoben« statt abgeschafft würde. Aber würde auch des­ sen normativer Gehalt aufgehoben werden können? Dem lichten Gedanken an supranationale Handlungskapazitäten, die die Ver­ einten Nationen und deren regionale Organisationen in den Stand setzen würden, eine Neue Welt- und Weltwirtschaftsordnung in Angriff zu nehmen, folgt der Schatten der beunruhigenden Frage, ob überhaupt eine demokratische Meinungs- und Willensbildung über die nationalstaatliche Integrationsstufe hinaus bindende Kraft erlangen kann.

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Nation< vermittelt zwischen Rechtsstaat und De­ mokratie, weil sich an der demokratischen Herrschaft nur die Bürger beteiligen können, die sich aus Privatleuten in Angehörige einer politisch bewußten Nation verwandelt haben. (2) Mit dieser Entkoppelung der Grundrechte, die den privaten Verkehr innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft regeln, von einer substantialisierten »Volksdemokratie«19 setzt sich Schmitt in kras­ sen Gegensatz zum vernunftrechtlichen Republikanismus. In die­ ser Tradition sind »Volk« und »Nation« austauschbare Begriffe für eine Bürgerschaft, die mit ihrem demokratischen Gemeinwesen gleichursprünglich ist. Das Staatsvolk gilt nicht als vorpolitische Gegebenheit, sondern als Produkt des Gesellschaftsvertrages. In­ dem sich die Beteiligten gemeinsam entschließen, von ihrem ur­ sprünglichen Recht, »unter öffentlichen Freiheitsgesetzen zu le­ ben«, Gebrauch zu machen, bilden sie eine Assoziation freier und gleicher Rechtsgenossen. Der Entschluß, in politischer Freiheit zu leben, ist gleichbedeutend mit der Initiative zu einer verfassung­ gebenden Praxis. Damit sind, anders als bei Carl Schmitt, Volks­ souveränität und Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat begrifflich verschränkt. Der anfängliche Entschluß zur demokra­ tischen Selbstgesetzgebung kann nämlich nur auf dem Wege der Realisierung derjenigen Rechte ausgeführt werden, die die Beteilig18 C.Schmitt (1983), 234. 19 B.O. Bryde, »Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der De­ mokratietheorie«, Staatswissenschaften und Staatspraxis, 5, 1994, 30J-329.

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ten sich wechselseitig zuerkennen müssen, wenn sie ihr Zusam­ menleben mit Mitteln des positiven Rechts legitim regeln wollen. Das wiederum erfordert ein Legitimität verbürgendes Verfahren der Rechtsetzung, das die Ausgestaltung des Systems der Rechte auf Dauer stellt.20 Nach der Rousseauschen Formel müssen dabei alle über alle das gleiche beschließen. Die Grundrechte entspringen also der Idee der rechtlichen Institutionalisierung eines solchen Verfahrens demokratischer Selbstgesetzgebung. Der Gedanke einer derart prozeduralisierten und zukunftsorien­ tierten Volkssouveränität macht die Forderung, die politische Wil­ lensbildung an das inhaltliche Apriori eines vergangenen, vorpoli­ tisch eingespielten Konsenses unter gleichgearteten Volksgenossen rückzukoppeln, sinnlos: »Positives Recht ist nicht deshalb legitim, weil es inhaltlichen Gerechtigkeitsprinzipien entspricht, sondern, weil es in Verfahren gesetzt wurde, die ihrer Struktur nach gerecht, d.h. demokratisch sind. Daß im Gesetzgebungsprozeß alle über alle das gleiche beschließen, ist eine normativ anspruchsvolle Vor­ aussetzung, die nicht mehr inhaltlich definiert ist, sondern durch die Selbstgesetzgebung der Rechtsadressaten, gleiche Verfahrens­ positionen und Allgemeinheit der Rechtsregelung Willkür verhin­ dern und eine Minimierung von Herrschaft bewirken soll.«21 Ein vorgängiger, durch kulturelle Homogenität gesicherter Hinter­ grundkonsens ist nicht nötig, weil die demokratisch strukturierte MeinQngs- und Willensbildung ein vernünftiges normatives Ein­ verständnis auch unter Fremden ermöglicht. Weil der demokrati­ sche Prozeß dank seiner Verfahrenseigenschaften Legitimität ver­ bürgt, kann er, wenn nötig, in die Lücken sozialer Integration einspringen. In dem Maße, wie er den Gebrauchswert subjektiver Freiheiten gleichmäßig sichert, sorgt er nämlich dafür, daß das Netz staatsbürgerlicher Solidarität nicht reißt. Die Kritik an dieser klassischen Auffassung richtet sich insbeson­ dere gegen deren »liberalistische« Lesart. C. Schmitt stellt die sozialintegrative Kraft des im demokratischen Verfahren zentrier-

20 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992, Kap. 3. all. Maus, »>Volk< und «Nation« im Denken der Aufklärung«, Blätter für deutsche und internationale Politik, 5, 1994, 604.

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ten Rechtsstaates unter jenen beiden Aspekten in Frage, die bereits für Hegels Kritik am »Not- und Verstandesstaat« des modernen Naturrechts bestimmend gewesen sind und die heute von den »Kommunitaristen« in ihrer Auseinandersetzung mit den »Libera­ len« wieder aufgenommen werden.22 Zielscheiben sind die atomistische Auffassung des Individuums als eines »ungebundenen Selbst« und der instrumentalistische Begriff der politischen Wil­ lensbildung als einer Aggregation gesellschaftlicher Interessen. Die Kontrahenten des Gesellschaftsvertrages werden als vereinzelte, rational aufgeklärte Egoisten vorgestellt, die nicht durch gemein­ same Traditionen geprägt sind, also keine kulturellen Wertorientie­ rungen teilen und nicht verständigungsorientiert handeln. Die politische Willensbildung vollzieht sich nach dieser Beschreibung allein in der Art von Verhandlungen über einen modus vivendi, ohne daß eine Verständigung unter ethischen oder moralischen Ge­ sichtspunkten möglich wäre. In der Tat ist schwer zu sehen, wie Personen dieser Art und auf diesem Wege eine intersubjektiv aner­ kannte Rechtsordnung zustande bringen könnten, von der erwar­ tet wird, daß sie aus Fremden eine Nation von Staatsbürgern schmiedet, d.h. staatsbürgerliche Solidarität unter Fremden her­ stellt. Gegen einen solchen, in Hobbes’schen Farben gemalten Hintergrund empfiehlt sich dann die gemeinsame ethnische oder kulturelle Herkunft des mehr oder weniger homogenen Volkes als Ursprung und Garant jener Art von normativen Bindungen, für die der possessive Individualismus blind ist. Die berechtigte Kritik an dieser Variante des Naturrechts zielt al­ lerdings an einem intersubjektivistischen Verständnis der prozeduralisierten Volkssouveränität, zu dem der Republikanismus ohne­ hin die größere Affinität hat, vorbei. Nach dieser Lesart tritt an die Stelle des privatrechtlichen Modells des Vertrages zwischen Markt­ teilnehmern die Praxis der Beratung von Kommunikationsteilneh­ mern, die zu vernünftig motivierten Entscheidungen gelangen möchten. Die politische Meinungs- und Willensbildung vollzieht sich nicht nur in der Form von Kompromissen, sondern auch nach

22 Vgl. R. Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1994, Kap. 1 und 111.

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dem Modell von öffentlichen Diskursen, die auf die rationale Ak­ zeptabilität von Regelungen im Lichte verallgemeinerter Interes­ sen, geteilter Wertorientierungen und begründeter Prinzipien abzielen. Dabei stützt sich dieser nicht-instrumentelle Begriff der Politik auf den Begriff der kommunikativ handelnden Person. Auch Rechtspersonen dürfen nicht als Eigentümer ihrer selbst konzipiert werden. Es gehört zum sozialen Charakter natürlicher Personen, daß sie in intersubjektiv geteilten Lebensformen zu In­ dividuen heranwachsen und ihre Identität in Verhältnissen rezipro­ ker Anerkennung stabilisieren. Auch unter rechtlichen Gesichts­ punkten kann deshalb die einzelne Person nur zusammen mit dem Kontext ihrer Bildungsprozesse, also mit einem gesicherten Zu­ gang zu tragenden interpersonalen Beziehungen, sozialen Netzen und kulturellen Lebensformen geschützt werden. Ein diskursiv eingerichteter Prozeß der Rechtsetzung und politischen Entschei­ dungsfindung, der das im Blick behält, muß neben eingegebenen Präferenzen ebenso Werte und Normen berücksichtigen. Damit qualifiziert er sich sehr wohl für die Aufgabe, eine politische Aus- . fallbürgschaft für andernorts versagende Integrationsleistungen zu übernehmen. Aus der Sicht Kants und eines - recht verstandenen - Rousseau23 hat demokratische Selbstbestimmung nicht den kollektivistischen und zugleich ausschließenden Sinn der Behauptung nationaler Un­ abhängigkeit und der Verwirklichung nationaler Eigenart. Sie hat vielmehr den inklusiven Sinn einer alle Bürger gleichmäßig einbe­ ziehenden Selbstgesetzgebung. Inklusion heißt, daß sich eine sol­ che politische Ordnung offenhält für die Gleichstellung der Diskriminierten und die Einbeziehung der Marginalisierten, ohne diese in die Uniformität einer gleichgearteten Volksgemeinschaft einzuschließen. Dafür ist das Prinzip der Freiwilligkeit signifikant; die Staatsangehörigkeit des Bürgers beruht auf seiner mindestens impliziten Zustimmung. Das substantialistische Verständnis von Volkssouveränität bezieht »Freiheit« wesentlich auf die äußere Un­ abhängigkeit der Existenz eines Volkes, das prozeduralistische

23 Vgl. dazu I. Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheone, Frankfun am Main 199a. 166

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Verständnis auf die allen gleichmäßig gewährleistete private und öffentliche Autonomie innerhalb einer Assoziation freier und glei­ cher Rechtsgenossen. Anhand von Herausforderungen, mit denen wir heute konfrontiert sind, möchte ich zeigen, daß diese kommu­ nikationstheoretische Lesart des Republikanismus angemessener ist als eine sei es ethnonationale oder auch nur kommunitaristische Auffassung von Nation, Rechtsstaat und Demokratie.

II. Von Sinn und Unsinn nationaler Selbstbestimmung Das Nationalitätsprinzip bedeutet ein Recht auf nationale Selbst­ bestimmung. Danach ist jede Nation, die sich selbst regieren will, zu einer unabhängigen staatlichen Existenz berechtigt. Mit dem ethnonationalen Verständnis von Volkssouveränität scheint sich ein Problem lösen zu lassen, auf das der Republikanismus die Antwort schuldig bleiben muß: Wie kann die Grundgesamtheit derer defi­ niert werden, auf die sich die Bürgerrechte legitim beziehen sol­ len? Kant schreibt jedem Menschen als solchen das Recht zu, überhaupt Rechte zu haben und das Zusammenleben mit anderen gemein­ schaftlich so zu regeln, daß alle nach öffentlichen Zwangsgesetzen gleiche Freiheiten genießen können. Aber damit ist noch nicht fest­ gelegt, wer mit wem wo und wann von diesem Recht tatsächlich Gebrauch machen und sich auf der Grundlage eines Gesellschafts­ vertrages zu einem sich selbst bestimmenden Gemeinwesen zusam­ menschließen darf. Die Frage der legitimen Zusammensetzung der Grundgesamtheit der Bürger bleibt offen, solange demokratische Selbstbestimmung allein die Art der Organisation des Zusammen­ lebens assoziierter Rechtsgenossen überhaupt betrifft. Gewiß, die Selbstgesetzgebung einer demokratisch verfaßten Nation geht auf den Entschluß einer Gründergeneration zurück, sich eine Verfas­ sung zu geben; aber die Beteiligten qualifizieren sich mit diesem Akt erst rekursiv zum Staatsvolk. Es ist der gemeinsame Wille, eine staatliche Existenz zu begründen, und in der Konsequenz dieses Entschlusses ist es die verfassunggebende Praxis selber, wodurch

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sich die Beteiligten als eine Nation von Staatsbürgern konstitu­ ieren. Diese Sicht ist so lange unproblematisch, wie Grenzfragen nicht wirklich strittig sind - etwa in der Französischen oder sogar in der Amerikanischen Revolution, als sich die Bürger republikanische Freiheiten entweder gegen die eigene Regierung, also innerhalb der Grenzen eines bestehenden Staates, oder gegen eine Kolonialherr­ schaft, die selbst die Grenzen der Ungleichbehandlung markiert hatte, erkämpften. Aber in anderen Konfliktfällen ist die zirkuläre Antwort, daß sich die Bürger selbst als Volk konstituieren und dadurch von ihrer Umgebung sozial wie territorial abgrenzen, un­ genügend: »To say that all people ... are entitled to the democratic process begs a prior question. When does a Collection of persons constitute an entity - >a people< - entitled to govern itself democratically?«2'* In der Welt, wie wir sie kennen, bleibt es dem histori­ schen Zufall, normalerweise dem naturwüchsigen Ausgang von gewaltsamen Konflikten, Kriegen und Bürgerkriegen überlassen, wer jeweils die Macht gewinnt, um die kontroversen Grenzen eines Staates zu definieren. Während uns der Republikanismus im Be­ wußtsein der Kontingenz dieser Grenzen bestärkt, kann der kon­ tingenzbewältigende Rückgriff auf die gewachsene Nation die Grenzen mit der Aura nachgeahmter Substantialität versehen und durch konstruierte Herkunftsbezüge legitimieren. Der Nationalis­ mus füllt die normative Lücke mit dem Appell an ein sogenanntes »Recht< auf nationale Selbstbestimmung. Anders als die vernunftrechtliche Theorie, die Rechtsverhältnisse aus den individuellen Beziehungen intersubjektiver Anerkennung hervorgehen läßt, scheint Carl Schmitt ein solches kollektives Recht begründen zu können. Wenn nämlich demokratische Selbst­ bestimmung im Sinne kollektiver Selbstbehauptung und Selbstver­ wirklichung eingeführt wird, kann niemand sein fundamentales Recht auf gleiche Bürgerrechte außerhalb des Kontextes einer Volksnation verwirklichen, die staatliche Unabhängigkeit genießt. Aus dieser Sicht ist das kollektive Recht eines jeden Volkes auf eine 24 R. A. Dahl, Democracy and Its Critia, Yale U. P-, New Haven und London,

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eigene staatliche Existenz notwendige Bedingung für die wirksame Garantie gleicher individueller Rechte. Diese demokratietheoreti­ sche Begründung des Nationalitätsprinzips erlaubt es, dem fakti­ schen Erfolg nationaler Unabhängigkeitsbewegungen rückwir­ kend normative Kraft zu verleihen. Denn eine Volksgruppe qualifiziert sich eben dadurch fürs Recht auf nationale Selbstbe­ stimmung, daß sie sich selber als homogenes Volk definiert und zugleich die Macht hat, jene Grenzen zu kontrollieren, die sich aus solchen askriptiven Merkmalen herleiten. Andererseits widerspricht die Unterstellung eines homogenen Vol­ kes dem Prinzip der Freiwilligkeit und führt zu jenen normativ unerwünschten Konsequenzen, die Schmitt auch gar nicht ver­ heimlicht: »Ein national homogener Staat erscheint dann als etwas Normales; ein Staat, dem diese Homogenität fehlt, hat etwas Ab­ normes, den Frieden Gefährdendes.«25 Die Annahme einer unver­ fügbaren kollektiven Identität nötigt zu repressiven Politiken, sei es der zwangsweisen Assimilation fremder Elemente oder der Reinerhaltung des Volkes durch Apartheid und Säuberung, denn »ein demokratischer Staat (würde sich) durch eine konsequente Anerkennung der allgemeinen Menschengleichheit auf dem Gebiet des öffentlichen Lebens und des öffentlichen Rechts seiner Sub­ stanz berauben«.26 Neben vorbeugenden Maßnahmen zur Kon­ trolle des Zuzugs von Fremden nennt C. Schmitt die »Unterdrükkung und Aussiedlung der heterogenen Bevölkerung« sowie deren räumliche Segregierung, also die Einrichtung von Protektoraten, Kolonien, Reservaten, Homelands usw. Natürlich schließt die republikanische Auffassung nicht aus, daß sich ethnische Gemeinschaften eine demokratische Verfassung ge­ ben und als souveräne Staaten etablieren dürfen, soweit sich diese Unabhängigkeit aus dem individuellen Recht der Bürger, in gesetz­ licher Freiheit zu leben, legitimiert. Aber in der Regel entwickeln sich Nationalstaaten nicht auf friedliche Weise aus einzelnen iso­ liert lebenden Ethnien, sondern greifen auf benachbarte Regionen, Stämme, Subkulturen, Sprach- und Religionsgemeinschaften über.

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2j C.Schmitt (1983), 231. 26 C.Schmitt (1983), 233.

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Neue Nationalstaaten entstehen meistens auf Kosten assimilierter, unterdrückter oder marginalisierter »Untervölker«. Die unter ethnonationalen Vorzeichen stehende Nationalstaarsbildung war fast immer von blutigen Reinigungsritualen begleitet und hat stets neue Minoritäten neuen Repressionen unterworfen. Im Europa des spä­ ten 19. und des 20. Jahrhunderts hat sie grausame Spuren der Emigration und Vertreibung, der gewaltsamen Umsiedlung, der Entrechtung und physischen Ausrottung hinterlassen — bis hin zum Genozid. Oft genug verwandeln sich die Verfolgten nach ge­ lungener Emanzipation selbst in Verfolger. In der völkerrechtli­ chen Anerkennungspraxis entsprach dem Aufkommen des Natio­ nalitätsprinzips die Wende zum Effektivitätsprinzip, wonach jede neue Regierung - ohne Ansehung ihrer Legitimität - auf Anerken­ nung rechnen darf, sofern sie nur ihre Souveränität nach außen und innen hinreichend stabilisiert. Wie in den eklatanten Fällen von Fremdherrschaft und Kolonialis­ mus entsteht aber Unrecht, gegen das sich ein legitimer Widerstand richtet, nicht aus der Verletzung eines vermeintlichen kollektiven Rechts auf nationale Selbstbestimmung, sondern aus der Verlet­ zung individueller Grundrechte. Die Forderung nach Selbstbe­ stimmung kann unmittelbar nur die Durchsetzung gleicher Bür­ gerrechte zum Inhalt haben. Die Abschaffung der Diskriminierung von Minderheiten muß keineswegs immer die Grenzen eines beste­ henden Unrechtsregimes in Frage stellen. Eine Sezessionsforde­ rung ist erst dann berechtigt, wenn die zentrale Staatsgewalt einem Teil der Bevölkerung, der auf einem Territorium konzentriert ist, seine Rechte vorenthält; dann kann die Forderung nach Inklusion auf dem Wege über nationale Unabhängigkeit durchgesetzt wer­ den. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Unabhängigkeit der Ver­ einigten Staaten bereits 1778 von Spanien und Frankreich aner­ kannt worden. Seit dem Abfall der spanischen Kolonien in Südund Mittelamerika hat sich, entgegen der bis dahin geltenden Pra­ xis27, allgemein die Auffassung durchgesetzt, daß die internationale 27 Erst, als die 1581 einseitig erklärte Unabhängigkeit der Vereinigten Niederlande im Westfälischen Frieden von Spanien anerkannt wurde, waren für die europäi­ schen Mächte die einschlägigen Statusfragen eindeutig geklärt. 170

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Anerkennung einer Sezession vom Mutterland auch ohne die Zu­ stimmung des früheren Souveräns zulässig sei.28 Solange sich nationale Unabhängigkeitsbewegungen auf demokra­ tische Selbstbestimmung im republikanischen Sinne berufen, läßt sich eine Sezession (oder der Anschluß eines abgefallenen Teils an einen anderen Staat) nicht ohne Ansehung der Legitimität des Sta­ tus quo rechtfertigen. Solange nämlich alle Bürger gleiche Rechte genießen und niemand diskriminiert wird, besteht kein normativ überzeugender Grund zur Separierung vom bestehenden Gemein­ wesen. Unter dieser Voraussetzung kann nämlich von Repression und »Fremdherrschaft«, die Minderheiten das Recht zur Sezession gäben, nicht die Rede sein. Dem entspricht auch die Beschlußlage der UN-Generalversammlung, die in Übereinstimmung mit der UN-Charta zwar allen Völkern ein Recht auf Selbstbestimmung garantiert, aber ohne den Begriff »Volk« im ethnischen Sinne festzulegen.29 Ausdrücklich verneint wird ein Sezessionsrecht, d. h. »ein Anspruch auf Losreißung von solchen Staaten, die sich in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Gleichberechtigung und des Selbstbestimmungsrechts der Völker verhalten und daher eine das ganze Volk vertretende Regierung ohne Diskriminierung nach Rasse, Glaube und Geschlecht besitzen«.30

18 Vgl. J. A. Frowcin, »Die Entwicklung der Anerkennung von Staaten und Regie­ rungen im Völkerrecht«, Der Staat, Jg. n, 1972, 145-159. 29 Der auf die Phase der friedlichen Entkolonialisierung nach dem Zweiten Welt­ krieg zugeschnittene Art. 1 der Menschenrechtspakte vom 16. Dez. 1966 lautet: »All peoples have the right of self-determination. By virtue of that right they freely determine their political Status and freely pursue their economic, social and cultural development.« 30 A. Verdross, B.Sima, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl, Berlin 1984, 318 (§ 511). !

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in. Differenzempfindliche Inklusion

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Die liberalistische Lesart von demokratischer Selbstbestimmung verschleiert allerdings das Problem »geborener« Minderheiten, das aus kommunitaristischer Sicht31 und aus dem Blickwinkel des in­ tersubjektivistischen Ansatzes der Diskurstheorie deutlicher wahr­ genommen wird.32 Das Problem entsteht auch in demokratischen Gesellschaften, wenn eine politisch herrschende Mehrheitskultur den Minderheiten ihre Lebensform aufzwingt und damit Bürgern anderer kultureller Herkunft die effektive Gleichberechtigung ver­ sagt. Das betrifft politische Fragen, die das ethische Selbstverständ­ nis und die Identität der Bürger berühren. In diesen Materien dürfen Minderheiten nicht ohne weiteres majorisiert werden. Das Mehrheitsprinzip stößt hier an seine Grenzen, weil die kontingente Zusammensetzung der Bürgerschaft die Ergebnisse eines scheinbar neutralen Verfahrens präjudiziert: »The majority principle itself depends on prior assumptions about the unit: that the unit within which it is to operate is itself legitimate and that the matters on which it is employed properly fall within the jurisdiction. In other words, whether the scope and domain of majority rule are appropriate in a particular unit depends on assumptions that the majority principle itself can do nothing to justify. The justification for the unit lies beyond the reach of the majority principle and, for that matter, mostly beyond the reach of democratic theory itself.«33 Das Problem »geborener« Minderheiten erklärt sich aus dem Um­ stand, daß Bürger, auch als Rechtspersonen betrachtet, keine ab­ strakten, von ihren Herkunftsbezügen abgeschnittenen Individuen sind. Soweit das Recht in ethisch-politische Fragen eingreift, be­ rührt es die Integrität der Lebensformen, in die die persönliche Lebensgestaltung eingebettet ist. Damit kommen - neben morali­ schen Erwägungen, pragmatischen Überlegungen und verhandel­ baren Interessen — starke Wertungen ins Spiel, die von intersubjek31 Vgl. Cb. Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt am Main 1993. 31 Vgl. J. Habermas, »Kampf um Anerkennung im demokratischen Rechtsstaat«, siehe unten S. 237-276. 33 Dahl (1989), 204. 171

tiv geteilten, aber kulturspezifischen Überlieferungen abhängen. Rechtsordnungen sind auch im ganzen »ethisch imprägniert«, weil sie den universalistischen Gehalt derselben Verfassungsprinzipien verschieden, nämlich im Kontext der Erfahrungen einer nationalen Geschichte und im Lichte einer historisch vorherrschenden Über­ lieferung, Kultur und Lebensform auf jeweils andere Weise inter­ pretieren. In der Regelung kulturell empfindlicher Materien wie der Amtssprache, dem Curriculum der öffentlichen Erziehung, dem Status von Kirchen und religiösen Gemeinschaften, strafrechtlichen Normen (etwa der Abtreibung), aber auch in weniger auffälligen Angelegenheiten, die etwa die Stellung von Familie und eheähn­ lichen Lebensgemeinschaften, die Akzeptanz von Sicherheitsstan­ dards oder die Abgrenzung zwischen privater und öffentlicher Sphäre betreffen, spiegelt sich oft nur das ethisch-politische Selbst­ verständnis einer aus historischen Gründen vorherrschenden Mehr­ heitskultur. An solchen implizit überwältigenden Regelungen kann sich auch innerhalb eines republikanischen Gemeinwesens, das for­ mal gleiche Bürgerrechte garantiert, ein Kulturkampf mißachteter Minoritäten gegen die Mehrheitskultur entzünden - wie die Bei­ spiele der frankophonen Bevölkerung in Kanada, der Wallonen in Belgien, der Basken und Katalanen in Spanien usw. zeigt. Eine Nation von Staatsbürgern setzt sich aus Personen zusammen, die infolge ihrer Sozialisationsprozesse zugleich die Lebensformen verkörpern, in denen sich ihre Identität ausgebildet hat-auch dann noch, wenn sie sich als Erwachsene von den Traditionen ihrer Her­ kunft gelöst haben. In dem, was ihren Charakter ausmacht, sind Personen gleichsam Knotenpunkte in einem askriptiven Netz von Kulturen und Überlieferungen. Die kontingente Zusammenset­ zung des Staatsvolkes, in Dahls Terminologie die »poIitical unit«, bestimmt implizit auch den Horizont von Wertorientierungen, in dem sich Kulturkämpfe und ethisch-politische Selbstverständi­ gungsdiskurse abspielen. Mit der sozialen Zusammensetzung der Bürgerschaft verändert sich auch dieser Werthorizont. Über politi­ sche Fragen, die von einem kukurspezifischen Hintergrund abhän­ gen, wird z. B. nach einer Sezession nicht notwendig anders diskutiert, aber mit anderen Ergebnissen abgestimmt; es gibt nicht immer neue Argumente, aber neue Mehrheiten.

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Auf dem Wege der Sezession kann freilich eine benachteiligte Min­ derheit nur unter der unwahrscheinlichen Bedingung ihrer räumli­ chen Konzentration Gleichberechtigung erlangen. Sonst kehren die alten Probleme bloß unter anderen Vorzeichen wieder. Im all­ gemeinen kann Diskriminierung nicht durch nationale Unabhän­ gigkeit, sondern nur durch eine Inklusion abgeschafft werden, die für den kulturellen Hintergrund individueller und gruppenspezifi­ scher Unterschiede hinreichend sensibel ist. Das Problem »gebore­ ner« Minderheiten, das in allen pluralistischen Gesellschaften auftreten kann, verschärft sich in multikulturellen Gesellschaften. Aber wenn diese als demokratische Rechtsstaaten organisiert sind, bieten sich immerhin verschiedene Wege zum prekären Ziel einer »differenzempfindlichen« Inklusion an: die föderalistische Gewal­ tenteilung, eine funktional spezifizierte Übertragung bzw. Dezen­ tralisierung von staatlichen Kompetenzen, vor allem die Gewäh­ rung kultureller Autonomie, gruppenspezifische Rechte, Politiken der Gleichstellung und andere Arrangements für einen effektiven Minderheitenschutz. Dadurch verändern sich in bestimmten Terri­ torien oder auf bestimmten Politikfeldern die Grundgesamtheiten der am demokratischen Prozeß beteiligten Bürger, ohne dessen Prinzipien anzutasten. Freilich darf die gleichberechtigte Koexistenz verschiedener ethni­ scher Gemeinschaften, Sprachgruppen, Konfessionen und Lebens­ formen nicht um den Preis der Fragmentierung der Gesellschaft erkauft werden. Der schmerzhafte Prozeß der Entkoppelung darf die Gesellschaft nicht in eine Mannigfaltigkeit sich wechselseitig abschottender Subkulturen zerreißen.34 Einerseits muß sich die Mehrheitskultur aus ihrer Fusion mit der allgemeinen, von allen Bürgern gleichermaßen geteilten politischen Kultur lösen; sonst diktiert sie von vornherein die Parameter der Selbstverständigungs­ diskurse. Als Teil darf sie nicht länger die Fassade des Ganzen bilden, wenn sie nicht in bestimmten existentiellen, für Minderhei­ ten relevanten Fragen das demokratische Verfahren präjudizieren 34 Vgl. H.J.Puhle, »Vom Bürgerrecht zum Gruppenrecht? Multikulturelle Politik in den USA«, in: K.J.Baade (Hg.). Menschen über Grenzen, Herne 1995, 134>49174



soll. Andererseits müssen die Bindungskräfte der gemeinsamen politischen Kultur, die um so abstrakter wird, je mehr Subkultu­ ren sie auf einen gemeinsamen Nenner bringt, stark genug bleiben, um die Staatsbürgernation nicht auseinanderfallen zu lassen: »Multiculturalism, while endorsing the perpetuation of several cultural groups in a single political society, also requires the existence of a common culture ... Members of all cultural groups ... will have to acquire a common political language and conventions of conduct to be able to participate effectively in the competition for resources and the protection of group as well as individual interests in a shared political arena.«}5 iv. Demokratie und staatliche Souveränität: der Fall humanitärer Interventionen

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Das substantialistische und das prozedurale Verständnis von De­ mokratie führen nicht nur im Hinblick auf nationale Selbstbestim­ mung und Multikulturalismus zu verschiedenen Auffassungen. Verschiedene Konsequenzen ergeben sich auch hinsichtlich der Konzeptualisierung staatlicher Souveränität. Der Staat, der sich in der europäischen Moderne entwickelt, stützt sich von Anbeginn auf die kasernierte Gewalt von stehendem Heer, Polizei und Straf­ vollzug und monopolisiert die Mittel legitimer Gewaltanwendung. Innere Souveränität bedeutet die Durchsetzung der staatlichen Rechtsordnung, äußere Souveränität die Fähigkeit, sich in der Konkurrenz der großen Mächte (wie sie sich seit dem Westfäli­ schen Frieden im europäischen Staatensystem eingespielt hatte) zu behaupten. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Demokrati­ sierung, die im Zuge der Nationalstaatsbildung eingetreten ist, als Übergang der souveränen Gewalt vom Fürsten auf das Volk. Aber diese Formel bleibt gegenüber der Alternative, die in unserem Zu­ sammenhang interessiert, unscharf. Wenn demokratische Selbstbestimmung die gleichmäßige Beteili­ gung freier und gleicher Bürger am Prozeß der Entscheidungsfin-

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3$ J.Riz, »Multiculturalism: A Liberal Perspective-, Dissent, Winter 1994, 67-79, hier 77. ‘75

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düng und Rechtsetzung meint, verändern sich mit der Demokratie in erster Linie Art und Ausübung der inneren Souveränität. Der demokratische Rechtsstaat revolutioniert die Grundlage der Legi­ timation von Herrschaft. Wenn hingegen demokratische Selbstbe­ stimmung die kollektive Selbstbehauptung und Selbstverwirkli­ chung gleichgearteter oder gleichgesinnter Genossen meint, rückt der Aspekt der äußeren Souveränität in den Vordergrund. Dadurch gewinnt nämlich die Erhaltung der staatlichen Macht im System der Mächte die weitere Bedeutung, daß eine Nation mit ihrer Exi­ stenz zugleich ihre Eigenart gegenüber fremden Nationen sichert. Die Verbindung von Demokratie mit staatlicher Souveränität legt also im ersten Fall anspruchsvolle Bedingungen für die Legitimität der inneren Ordnung fest, während sie die Frage der äußeren Sou­ veränität offenläßt. Im anderen Fall interpretiert sie die Stellung des Nationalstaats in der internationalen Arena, während sie für die Herrschaftsausübung im Inneren kein anderes Legitimitätskri­ terium braucht als Ruhe und Ordnung. Aus dem Souveränitätsbegriff des klassischen Völkerrechts ergibt sich das grundsätzliche Verbot der Einmischung in die inneren An­ gelegenheiten eines international anerkannten Staates. In der Charta der Vereinten Nationen wird dieses Interventionsverbot zwar bekräftigt; aber mit ihm konkurriert von Anbeginn die Ent­ wicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes. Das Prin­ zip der Nichteinmischung ist vor allem durch die Menschenrechts­ politik der letzten Jahrzehnte ausgehöhlt worden.36 Daß C. Schmitt diese Entwicklung entschieden abgelehnt hat, ist nicht weiter überraschend. Die Zurückweisung der menschenrechtlich begründeten Interventionen erklärt sich bereits aus seinem bellizistischen Verständnis der internationalen Beziehungen, ja von Poli­ tik überhaupt.37 Nicht erst die Kriminalisierung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit hat seinen höhnischen Protest hervorge­ rufen. Schon die Diskriminierung des Angriffskrieges38 erscheint 36 Vgl. R. Wolfrum, »Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschut­ zes«, Europa-Archiv, 23, 1993, 681-690. 37 Vgl. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932), Berlin 1979. 38 Vgl. C. Schmitt, Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff (1938), Ber­ lin 1988. 176

ihm unvereinbar mit Status und Handlungsspielraum von Natio­ nen, die ihre je besondere Existenz und Eigenart nur in der antagonistischen Rolle souveräner Völkerrechtssubjekte behaupten können. Michael Walzer, dem nichts ferner liegt als ein militanter Ethnonationalismus Schmittscher Observanz, vertritt eine ähnliche Posi­ tion. Ohne falsche Parallelen zu suggerieren, möchte ich seine kommunitaristisch motivierten Vorbehalte gegenüber humanitären Interventionen heranziehen39, weil sie den internen Zusammen­ hang des Demokratieverständnisses mit der Behandlung von Sou­ veränitätsrechten beleuchten. Walzer geht in seinem Traktat über den »gerechten Krieg«40 vom Recht auf nationale Selbstbestim­ mung aus, das jeder Gemeinschaft mit eigener kollektiver Identität zusteht, wenn diese im Bewußtsein ihres kulturellen Erbes den Willen und die Kraft hat, sich eine staatliche Existenzform zu er­ kämpfen und ihre politische Unabhängigkeit zu behaupten. Eine Volksgruppe genießt das Recht auf nationale Selbstbestimmung, wenn sie es mit Erfolg in Anspruch nimmt. Die politikfähige Gemeinschaft versteht Walzer gewiß nicht als ethnische Nachkommen-, sondern als kulturelle Erbengemein­ schaft. Wie die Abstammungsgemeinschaft gilt freilich auch die historisch gewordene Kulturnation als eine vorpolitische Gegeben­ heit, die dazu berechtigt ist, ihre Integrität in Gestalt eines souve­ ränen Staates zu wahren: »The idea of communal integrity derives its moral and political force from the rights of Contemporary men and women to live as members of a historic Community and to express their inherited culture through political forms worked out among themselves.«41 Aus diesem Selbstbestimmungsrecht leitet Walzer auch Ausnahmen vom Prinzip der Nichtintervention ab. Er

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39 Zur Diskussion dieses Aspekts des Walzer’schen Werkes vgl. B. Jahn, »Humani­ täre Intervention und das Selbstbestimmungsrecht der Völker«, Politische Vier­ teljahresschrift, 34, 1993, 567-587. 40 M. Walzer, Just and Unjust Wart. A Moral Argument with Historical Illustrations (1977), N.Y. 1992. 41 M. Walzer, »The Moral Standing of States«, Philosophy and Public Affairs, 9, 19S0, 209-229, hier 211.

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hält Interventionen für erlaubt a) zur Unterstützung einer natio­ nalen Befreiungsbewegung, die die Identität einer selbständigen Gemeinschaft im Akt des Widerstandes selbst manifestiert, und b) zur Verteidigung der Integrität eines angegriffenen Gemeinwe­ sens, wenn diese nur durch eine Gegenintervention bewahrt wer­ den kann. Auch den dritten Ausnahmefall rechtfertigt Walzer nicht per se mit Menschenrechtsverletzungen, sondern damit, daß c) in Fällen von Versklavung, Massaker oder Genozid eine verbrecheri­ sche Regierung den eigenen Bürgern die Möglichkeit raubt, ihre Lebensform zum Ausdruck zu bringen und auf diese Weise ihre kollektive Identität zu wahren. Auch die kommunitaristische Deutung der Volkssouveränität hebt den Aspekt der äußeren Souveränität so hervor, daß die Frage der Legitimität der inneren Ordnung zurücktritt. Die Pointe von Wal­ zers Überlegung besteht darin, daß eine humanitäre Intervention gegen die Menschenrechtsverletzungen eines diktatorischen Regi­ mes nur dann zu rechtfertigen ist, wenn sich die betroffenen Bürger selbst gegen die politische Repression zur Wehr setzen und durch einen erkennbaren Akt der Rebellion unter Beweis stellen, daß die Regierung zu den wahren Aspirationen des Volkes in Ge­ gensatz steht und die Integrität der Gemeinschaft bedroht. Dem­ nach bemißt sich die Legitimität einer Ordnung in erster Linie am Einklang der politischen Führung mit der kulturellen Lebensform, die für die Identität des Volkes konstitutiv ist: »A state is legitimate or not, depending upon the >fit< of government and community, that is, the degree to which the government actually represents the political Life of its people. When it doesn’t do that, the people have a right to rebel. But if they are free to rebel then they are also free not to rebel... because they still believe the government to be tolerable, or they are accustomed to it, or they are personally loyal to its leaders ... Anyone can make such arguments, but only subjects or citizens can act on them.«42 Walzers Kritiker gehen von einem anderen Verständnis demokrati­ scher Selbstbestimmung aus; sie weigern sich, den Aspekt der inneren Souveränität gegebenenfalls auf den Gesichtspunkt der ef-

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42 M. Walzer (1980), 214.

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fektiven Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung zu reduzieren. Nach dieser Lesart ist nicht das gemeinsame kulturelle Erbe, son­ dern die Realisierung von Bürgerrechten der Angelpunkt für die Beurteilung der Legitimität der inneren Ordnung: »The mere fact that the multitude shares some form of common life - common traditions, customs, interests, history, institutions and boundaries - is not sufficient to generate a genuine, independent, legitimate political community.«43 Die Kritiker bestreiten das Prinzip der Nichtintervention und befürworten, soweit möglich, eine Ausdeh­ nung des internationalen Menschenrechtsschutzes. Dabei ist die Tatsache, daß ein Staat nach Maßstäben des demokratischen Rechtsstaats illegitim ist, natürlich keine hinreichende Bedingung für eine Intervention in dessen innere Angelegenheiten. Sonst müßte auch die Generalversammlung der Vereinten Nationen ganz anders zusammengesetzt sein. Walzer weist mit Recht darauf hin, daß unter moralischen Gesichtspunkten jeder Entschluß, für die Bürger eines anderen Landes zu handeln, prekär ist. Die Vor­ schläge für eine Interventionskasuistik44 berücksichtigen denn auch die Grenzen und die drastischen Gefahren, denen eine Politik der Menschenrechte begegnet.45 Die Beschlüsse und Strategien der Weltorganisation, vor allem die Interventionen der Mächte, die seit 1989 ein Mandat der Vereinten Nationen ausführen, zeigen aber die Richtung an, in der sich das Völkerrecht allmählich in ein Weltbür­ gerrecht transformiert.46 Politik und Rechtsentwicklung reagieren damit auf eine objektiv veränderte Lage. Bereits die neue Kategorie und Größenordnung jener Regierungskriminalität, die sich im Schatten des technolo­ gisch entgrenzten und ideologisch enthemmten Zweiten Weltkrie­ ges ausgebreitet hat, macht die klassische Unschuldsvermutung für souveräne Völkerrechtssubjekte zum puren Hohn. Eine voraus-

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43 G. Doppelt, »Walzer’s Theory of Morality in International Relations«, Philosophy and Public Affairs, 8, 1978, 3-26, hier 19. 44 Vgl. D.Senghaas, Wohin driftet die Welt?, Frankfurt am Main 1994, 45 Vgl. K. O. Nass, »Grenzen und Gefahren humanitärer Interventionen«, EuropaArchiv, 10, 1993, 279-288. 46 Vgl. Ch. Greenwood, »Gibt es ein Recht auf humanitäre Intervention?«, Eu­ ropa-Archiv, 23, 1993, 93-X06.

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schauende Politik der Friedenssicherung verlangt die Berücksich­ tigung der komplexen gesellschaftlichen und politischen Kriegs­ ursachen. Auf der Tagesordnung stehen Strategien, die — nach Möglichkeit gewaltfrei - auf den inneren Zustand formal souverä­ ner Staaten mit dem Ziel einwirken, eine selbsttragende Ökonomie und erträgliche soziale Verhältnisse, eine gleichmäßige demokrati­ sche Beteiligung, Rechtsstaatlichkeit und eine Kultur der Toleranz zu fördern. Solche Interventionen zugunsten einer Demokratisie­ rung der inneren Ordnung sind jedoch unvereinbar mit einem Verständnis von demokratischer Selbstbestimmung, das um der kollektiven Selbstverwirklichung einer kulturellen Lebensform willen ein Recht auf nationale Unabhängigkeit begründet.

v. Nur ein Europa der Vaterländer?

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Angesichts der subversiven Zwänge und Imperative des Weltmark­ tes und angesichts der weltweiten Verdichtung von Kommunika­ tion und Verkehr ist die äußere Souveränität der Staaten, wie immer sie begründet werden mag, heute ohnehin zum Anachronismus geworden. Auch im Hinblick auf jene wachsenden globalen Gefah­ ren, die die Nationen der Welt längst hinter ihrem Rücken zu einer unfreiwilligen Risikogemeinschaft vereinigt haben, ergibt sich die praktische Notwendigkeit, auf supranationaler Ebene politisch handlungsfähige Einrichtungen zu schaffen. Vorerst fehlen die kol­ lektiven Akteure, die eine Weltinnenpolitik betreiben und die Kraft haben könnten, sich auf die fälligen Rahmenbedingungen, Arran­ gements und Verfahren zu einigen. Unter diesem Zwang schließen sich inzwischen Nationalstaaten zu größeren Einheiten zusammen. Wie sich am Beispiel der Europäischen Union zeigt, entstehen da­ bei gefährliche Legitimationslücken. Mit neuen, von der Basis noch weiter entfernten Organisationen wie der Brüsseler Bürokratie wächst das Gefälle zwischen sich selbst programmierenden Ver­ waltungen und systemischen Vernetzungen einerseits, demokrati­ schen Prozessen andererseits. Allein, an den hilflos defensiven Reaktionen auf diese Herausforderung zeigt sich wiederum die 180

Unangemessenheit einer substantialistischen Auffassung von Volkssouveränität. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Maastricht-Vertrag bestätigt zwar im Ergebnis die vorgesehene Aufgabenerweiterung der Europäischen Union, geht jedoch in der Begründung davon aus, daß das Demokratieprinzip unerträglich »entleert« würde, wenn sich die Ausübung staatlicher Befugnisse nicht auf ein »rela­ tiv homogenes« Staatsvolk zurückführen ließe. Der Senat, der auf Hermann Heller (statt auf Carl Schmitt) Bezug nimmt, will offen­ bar einen ethnonationalen Volksbegriff vermeiden. Gleichwohl ist er der Auffassung, daß eine demokratisch legitimierte Staatsgewalt von einem Volk ausgehen muß, das in der politischen Willensbil­ dung seine als vorpolitisch und außerrechtlich angesetzte »natio­ nale Identität« hinreichend artikuliert. Damit sich ein demokrati­ scher Prozeß überhaupt entfalten könne, müsse das Staatsvolk die Möglichkeit haben, »dem, was es - relativ homogen - geistig sozial und politisch verbindet, rechtlichen Ausdruck zu geben«.47 In der Konsequenz dieser Grundannahme legt das Gericht dar, warum der Maastricht-Vertrag keinen Europäischen Bundesstaat begründet, in dem die Bundesrepublik als Teil aufgehen und der sie der Stellung eines Völkerrechtssubjekts (mit dem Recht zur selb­ ständigen Justiz-, Innen- und Außenpolitik und zur Unterhaltung eigener Streitkräfte) berauben würde.48 Im wesentlichen zielt die Argumentation des Senats auf den Nachweis, daß der Unionsver­ trag keine Kompetenz-Kompetenz eines selbständigen supranatio­ nalen Rechtssubjekts begründet (beispielsweise in Analogie zu den Vereinigten Staaten von Amerika). Der »Staatenverbund«45 soll sich allein den »Ermächtigungen souverän bleibender Staaten« ver47 Urteil des 2. Senats des BVG vom 12. Oktober 1993 - 2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/92, Europäische Grundrechte Zeitschrift (EuGRZ) 1993,429-447, hier 438. 48 Vgl. D. Murswiek, »Maastricht und der Pouvoir Constituant«, Der Staat, 1993, 161-190.

49 Zu dieser untertreibenden Begriffsbildung H.P. Ipsen, »Zehn Glossen zum Maastricht-Urteil«, Europarecht, 29, 1994, 20: »In der Einführung des Begriffs »Staatenverbund» verwendet (das Urteil) eine unpassende, weil ökonomisch­ technisch »besetzte» Terminologie. Sie ignoriert überflüssigerweise die Gemein­ schaftssprache und andere Mitgliedstaaten.«

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danken: »Der Unionsvertrag nimmt auf die Unabhängigkeit und Souveränität der Mitgliedstaaten Bedacht, indem er die Union zur Achtung der nationalen Identität ihrer Mitgliedstaaten verpflich­ tet.«50 Formulierungen wie diese verraten die konzeptuellen Schranken, die der Begriff der substantialistischen Volkssouveräni­ tät gegen die Übertragung von Souveränitätsrechten auf suprana­ tionale Einheiten errichtet. Sie nötigen übrigens zu erstaunlichen Schlußfolgerungen, die mit früheren Beschlüssen des Gerichts zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts nicht im Einklang stehen.’1 Man geht wohl nicht fehl, wenn man im Tenor der Urteilsbegrün­ dung eine gewisse Übereinstimmung mit dem Fazit wiedererkennt, das Hermann Lübbe aus seiner Philippika gegen die »Vereinigten Staaten von Europa« zieht; die »wird es«, wie es im Untertitel selbstgewiß heißt, »nicht geben«: »Die Legitimität der künftigen Europäischen Union ... beruht auf den gleichgerichteten Interes­ sen ihrer Mitgliedsländer, nicht aber im selbstbestimmten Willen eines europäischen Staatsvolkes. Ein europäisches Volk ist politisch nicht existent, und wenn es auch keine Gründe gibt zu sagen, daß eine volksanaloge Zusammengehörigkeitserfahrung der Europäer undenkbar wäre, so sind derzeit doch keinerlei Umstände erkenn­ bar, unter denen ein legitimitätsstiftender europäischer Volkswille sich bilden könnte.«52 Demgegenüber läßt sich auf jene historisch einschneidende Erfahrung hinweisen, die die europäischen Völker durchaus verbindet. Die Europäer haben nämlich in den Katastro­ phen von zwei Weltkriegen gelernt, daß sie jene Mentalitäten überwinden müssen, in denen die nationalistischen Ausschlie­ ßungsmechanismen wurzeln. Warum sollte daraus nicht das Be­ wußtsein einer politisch-kulturellen Zusammengehörigkeit er­ wachsen - zumal vor dem breiten Hintergrund von geteilten Traditionen, die weltgeschichtliche Bedeutung erlangt haben, so­ wie auf der Grundlage einer Interessenverflechtung und Kommu-

JO EuGRZ 1993, 439. 51 Vgl. J. A. Frowein, «Das Maastricht-Urteil und die Grenzen der Verfassungsge­ richtsbarkeit«, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, 1994, 1-16. ja H. Lübbe (1994), 100. 182

nikationsdichte, die in Jahrzehnten der ökonomisch erfolgreichen Europäischen Gemeinschaft entstanden sind? Lübbes Euroskepsis zehrt offensichtlich vom konstruierten Erfordernis einer »volks­ analogen« Zusammengehörigkeit. Aberdas »homogene Volk«, das sich erneut als Denkbarriere erweist, ist die falsche Analogie. Kein überzeugendes Gegenbeispiel ist die konfliktreiche Ge­ schichte der postkolonialen Staatenbildung in Asien und vor allem in Afrika. Als die ehemaligen Kolonien durch Verzicht der Koloni­ almächte in die Unabhängigkeit »entlassen« wurden, bestand das Problem darin, daß diese ja artifiziell entstandenen Territorien äu­ ßere Souveränität erlangten, ohne sofort über eine effektive Staats­ gewalt zu verfügen. In vielen Fällen haben die neuen Regierungen nach Abzug der Kolonialverwaltungen ihre Souveränität nach in­ nen nur mühsam behaupten können. Diese Bedingung war auch mit »Staatlichkeit«, sprich Repression, nicht zu erfüllen: »The problem was everywhere to >fill in< ready made States with national content. This poses the interesting question, why postcolonial Sta­ tes had to be nations ... Nation-building as development means the extension of an active sense of membership to the entire populace, the secure acceptance of state-authority, the redistribution of resources to further the equality of members, and the extension of effective state Operation to the periphery.«53 Die anhaltenden Stammeskonflikte in formell unabhängig gewordenen postkolonia­ len Staaten erinnern daran, daß Nationen erst entstehen, wenn sie den schwierigen Weg von ethnisch begründeten Gemeinsamkeiten unter Genossen, die sich kennen, zu einer rechtlich vermittelten Solidarität unter Staatsbürgern, die sich fremd sind, zurückgelegt haben. Im Westen hat sich diese, Stämme und Regionen zwar nicht verschmelzende, aber übergreifende Nationalstaatsbildung länger als ein Jahrhundert hingezogen. Gerade am Beispiel dieses Integrationsprozesses läßt sich lernen, worin die funktionalen Erfordernisse für eine demokratische Wil­ lensbildung wirklich bestanden haben: in den Kommunikations­ kreisläufen einer politischen Öffentlichkeit, die sich auf der Basis 53 Ch. Joppke, Nation-Building after World War Two, (European University Insti­ tute, Florence) 1995, 10. i83

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des bürgerlichen Assoziationswesens und über das Medium der Massenpresse entfaltet hat. So konnten dieselben Themen zur sel­ ben Zeit für ein großes, anonym bleibendes Publikum dieselbe Relevanz gewinnen und die Bürger über große Distanzen hinweg zu spontanen Beiträgen stimulieren. Daraus entstehen öffentliche Meinungen, die Themen und Stellungnahmen zu politischen Ein­ flußgrößen bündeln. Die richtige Analogie liegt auf der Hand: der nächste Integrationsschub zur postnationalen Vergesellschaftung hängt nicht vom Substrat irgendeines »europäischen Volkes« ab, sondern vom Kommunikationsnetz einer europaweiten politischen Öffentlichkeit, die eingebettet ist in eine gemeinsame politische Kultur, die getragen wird von einer Zivilgesellschaft mit Interes­ senverbänden, nichtstaatlichen Organisationen, Bürgerinitiativen und -bewegungen, und die eingenommen wird von Arenen, in de­ nen sich die politischen Parteien unmittelbar auf die Entscheidun­ gen europäischer Institutionen beziehen und sich, über Fraktions­ zusammenschlüsse hinaus, zu einem europäischen Parteiensystem entwickeln können.54

54 Dis BVG hat in der Begründung seines Maastricht-Urteils diese Interpretation an einer Stelle sogar nahegelegt: »Demokratie... ist vom Vorhandensein be­ stimmter vorrechtlichcr Voraussetzungen abhängig, wie einer ständigen freien Auseinandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen, in der sich auch politische Ziele klären und wandeln und aus der heraus eine öffentliche Meinung den politischen Willen vorformt... Parteien, Verbände, Presse und Rundfunk sind sowohl Medium wie auch Faktor dieses Vermittlungsprozesses, aus dem heraus sich eine öffentliche Meinung in Europa zu bilden vermag.« EuGRZ 1993, 437 f. Der dann folgende Hinweis auf das Erfordernis einer gemeinsamen Sprache soll wohl die Brücke schlagen zwischen ■ diesem kommunikationstheoretischen Verständnis von Demokratie und der an­ sonsten für notwendig gehaltenen Homogenität des Staatsvolkes.

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6. Braucht Europa eine Verfassung? Eine Bemerkung zu Dieter Grimm1

Ich stimme der Diagnose von D. Grimm in wesentlichen Teilen zu; die Analyse ihrer Begründung führt mich aber zu einer anderen politischen Schlußfolgerung. Die Diagnose: Unter verfassungspolitischen Gesichtspunkten ist der gegenwärtige Zustand der Europäischen Union durch einen Widerspruch gekennzeichnet. Einerseits ist die EU eine durch völ­ kerrechtliche Verträge begründete supranationale Organisation ohne eigene Verfassung - insofern ist sie kein Staat (im Sinne des modernen, auf Gewaltmonopol gestützten, nach innen und außen souveränen Verfassungsstaates). Andererseits schaffen die Organe der Gemeinschaft europäisches Recht, das die Mitgliedstaaten bin­ det - insofern übt die EU Hoheitsrechte aus, die bisher dem Staat i.e.S. vorbehalten waren. Daraus ergibt sich das oft beklagte demo­ kratische Defizit. Die Beschlüsse der Kommission und des Mini­ sterrates, auch die Entscheidungen des Europäischen Gerichtsho­ fes, greifen immer tiefer in die Verhältnisse der Mitgliedstaaten ein. Im Rahmen der Hoheitsrechte, die auf die Union übertragen wor­ den sind, kann die Europäische Exekutive ihre Beschlüsse gegen das Widerstreben nationaler Regierungen durchsetzen. Gleichzei­ tig fehlt diesen Beschlüssen, solange das Europäische Parlament nur über schwache Kompetenzen verfügt, eine unmittelbare demo­ kratische Legitimation. Die ausführenden Organe der Gemein­ schaft leiten ihre Legitimation aus der der Mitgliedsregierungen ab. Sie sind nicht Organe eines Staates, der durch den Willensakt der vereinigten europäischen Staatsbürger konstituiert worden wäre. Mit dem europäischen Paß verbinden sich bisher keine Rechte, die eine demokratische Staatsbürgerschaft begründen. Die politische Schlußfolgerung: Gegenüber den Föderalisten, die eine demokratische Ausgestaltung der EU fordern, warnt Grimm vor einer weiteren europarechtlichen Aushöhlung nationalstaat-

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i Vgl. den gleichnamigen Beitrag von D. Grimm im European Law Journal i, No­ vember 1995. i85

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licher Kompetenzen. Das demokratische Defizit werde durch eine »etatistische Verkürzung« des Problems nicht beseitigt, sondern verschärft. Neue politische Institutionen - ein mit den üblichen Kompetenzen ausgestattetes Europaparlament, eine zur Regierung ausgebaute Kommission, eine den Ministerrat ersetzende Zweite Kammer und ein in seinen Kompetenzen erweiterter Europäischer Gerichtshof - bieten per se keine Lösungen. Wenn sie nicht mit Leben erfüllt werden, befördern sie vielmehr die im nationalen Rah­ men ohnehin zu beobachtende Tendenz zur Verselbständigung einer bürokratisierten Politik. Bis heute fehlen aber die realen Vorausset­ zungen für eine europaweit integrierte Willensbildung der Bürger. Die verfassungsrechtliche Euroskepsis läuft also auf das empirisch gestützte Argument hinaus: solange es kein europäisches Staatsvolk gibt, das hinreichend »homogen« ist, um einen demokratischen Willen zu bilden, sollte es keine europäische Verfassung geben. Zur Diskussion: Meine Bedenken richten sich (a) gegen die unvoll­ ständige Beschreibung der Alternativen und (b) gegen die nicht ganz unzweideutige normative Begründung der Funktionserfor­ dernisse für eine demokratische Willensbildung. ad a). D. Grimm führt die unerwünschten Konsequenzen vor Augen, die der Ausbau der Europäischen Gemeinschaft zu einem demokratisch verfaßten Bundesstaat in dem Falle haben würde, wenn die neuen Institutionen keine Wurzeln schlagen können. So­ lange eine europäisch vernetzte Zivilgesellschaft, eine europaweite politische Öffentlichkeit und eine gemeinsame politische Kultur fehlen, müßten sich die supranationalen Entscheidungsprozesse gegenüber den nach wie vor national organisierten Meinungs- und Willensbildungsprozessen noch weiter verselbständigen. Diese Ge­ fahrenprognose halte ich für plausibel. Aber was ist die Alterna­ tive? Grimms Option scheint nahezulegen, daß der staatsrechtliche Status quo das bestehende demokratische Defizit mindestens ein­ frieren kann. Ganz unabhängig von verfassungsrechtlichen Inno­ vationen wächst aber dieses Defizit von Tag zu Tag, weil die ökonomische und gesellschaftliche Dynamik auch innerhalb des gegebenen institutionellen Rahmens die europarechtliche Aushöh­ lung nationalstaatlicher Kompetenzen vorantreibt. Grimm selbst 186

sagt es: »Das Demokratieprinzip kommt in den Mitgliedstaaten zur Geltung, diesen schwinden jedoch die Entscheidungsbefug­ nisse; die Entscheidungsbefugnisse wachsen der Europäischen Ge­ meinschaft zu, dort ist aber das Demokratieprinzip nur schwach ausgebildet.« Wenn sich aber die Schere zwischen den wachsenden Entscheidungsbefugnissen der europäischen Behörden und der fehlenden Legitimation der sich verdichtenden europäischen Rege­ lungen so oder so immer weiter öffnet, bedeutet das entschiedene Festhalten am ausschließlich nationalstaatlichen Legitimationsmo­ dus nicht ohne weiteres die Wahl eines kleineren Übels. Die Föderalisten nehmen das vorhergesehene - und unter Umständen abwendbare - Risiko einer Verselbständigung supranationaler Or­ ganisationen als Herausforderung an. Die Euroskeptiker finden sich von vornherein mit der als unaufhaltsam eingeschätzten Ero­ sion der demokratischen Substanz ab, um das, wie es scheint, bewährte nationalstaatliche Gehäuse nicht verlassen zu müssen. Allein, in diesem Gehäuse wird es immer ungemütlicher. Die Standortdebatten, die wir heute führen, bringen eine ganz andere Schere zu Bewußtsein - jene, die sich zwischen nationalstaatlich begrenzten Handlungsspielräumen und Imperativen der weltweit vernetzten Produktionsverhältnisse öffnet. Die modernen Steuerstaaten profitieren von ihren jeweiligen Ökonomien nur so lange, wie es sich um »Volkswirtschaften« handelt, auf die sie mit politischen Mitteln noch Einfluß nehmen können. Mit der Dena­ tionalisierung der Wirtschaft, insbesondere der Finanzmärkte und der industriellen Produktion selbst, und vor allem angesichts der globalisierten und rasch expandierenden Arbeitsmärkte sehen sich indessen die nationalen Regierungen heute zunehmend dazu ge­ drängt, für das Ziel der internationalen Wettbewerbsfähigkeit eine steigende Dauerarbeitslosigkeit und die Marginalisierung einer wachsenden Minderheit in Kauf zu nehmen. Wenn der Sozialstaat wenigstens in seiner Substanz erhalten bleiben und die Segmentie­ rung einer Unterklasse vermieden werden soll, müssen supranatio­ nal handlungsfähige Instanzen aufgebaut werden. Nur regional übergreifende Regime wie die Europäische Gemeinschaft könnten überhaupt noch auf das globale System nach Maßgabe einer koor­ dinierten Weltinnenpolitik einwirken.

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Dieser Modus der Begründung nimmt jedoch den Grundrechten keineswegs ihre juridische Qualität, macht aus ihnen keine morali­ schen Normen. Rechtsnormen — im modernen Sinne positiven Rechts - behalten ihre Rechtsförmigkeit, gleichviel mit Hilfe wel­ cher Art von Gründen ihr Legitimitätsanspruch begründet werden kann. Denn diesen Charakter verdanken sie ihrer Struktur, nicht ihrem Inhalt. Und ihrer Struktur nach sind Grundrechte einklag­ bare subjektive Rechte, die u.a. den Sinn haben, Rechtspersonen auf eine wohlumschriebene Weise von moralischen Geboten zu entbinden, indem sie den Aktoren gesetzliche Spielräume für ein von je eigenen Präferenzen geleitetes Handeln einräumen. Wäh­ rend moralische Rechte aus Pflichten begründet werden, die den freien Willen autonomer Personen binden, ergeben sich Rechts­ pflichten erst in der Konsequenz von Berechtigungen zu willkürli­ chem Handeln, und zwar aus der gesetzlichen Einschränkung dieser subjektiven Freiheiten.39 Diese grundbegriffliche Privilegierung von Rechten gegenüber Pflichten ergibt sich aus der Struktur des zuerst von Hobbes zur Geltung gebrachten modernen Zwangsrechts. Hobbes hat gegen­ über dem vormodernen, noch aus der religiösen oder metaphysi­ schen Perspektive entworfenen Recht einen Perspektivenwechsel eingeleitet.40 Anders als die deontologische Moral, die Pflichten begründet, dient das Recht dem Schutz der Willkürfreiheit des Einzelnen gemäß dem Prinzip, daß alles erlaubt ist, was nicht ex­ plizit durch allgemeine freiheitsbegrenzende Gesetze verboten ist. Allerdings muß die Allgemeinheit dieser Gesetze dem moralischen Gesichtspunkt der Gerechtigkeit genügen, wenn die daraus abge­ leiteten subjektiven Rechte legitim sein sollen. Der Begriff des subjektiven Rechts, das eine Sphäre der Willkürfreiheit schützt, hat

Vgl. die Analyse der Struktur von Menschenrechten bei H. A. Bcdau, »Interna­ tional Human Rights«, in: T. Regan, D.van de Weer (Hg.), And Justier for AU, Totowa 1983, 297, mit Bezugnahme auf Henry Shue: »The emphasis on duties is mcant to avoid leaving the defcnse of human rights in a vacuum, bereft of any moral significance for the spccific conduct of others. But the duties are not intended 10 explain or gcnerate rights; if anything, the rights are supposed to explain and generate the duties.« 40 Vgl. S. König (1994), 84 ff. 224

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für moderne Rechtsordnungen insgesamt eine strukturbildende Kraft. Deshalb begreift Kant das Recht »als Inbegriff der Bedin­ gungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen bestehen kann« (Rechtslehre, Werke iv, 337). Alle speziellen Men­ schenrechte haben nach Kant ihren Grund in dem einzigen ur­ sprünglichen Recht auf gleiche subjektive Freiheiten: »Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusam­ men bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Men­ schen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht« (Rechtslehre, Werke iv, 345). Bei Kant finden Menschenrechte konsequenterweise ihren Platz in der Rechtslehre, und nur hier. Wie andere subjektive Rechte haben sie - und sie erst recht - einen moralischen Gehalt. Aber unbescha­ det dieses Gehalts gehören Menschenrechte ihrer Struktur nach zu einer Ordnung positiven und zwingenden Rechts, die einklagbare subjektive Rechtsansprüche begründet. Insofern gehört es zum Sinn der Menschenrechte, daß sie nach dem Status von Grundrech­ ten verlangen, die im Rahmen einer bestehenden, sei es nationalen, internationalen oder globalen Rechtsordnung gewährleistet wer­ den. Eine Verwechslung mit moralischen Rechten wird allerdings dadurch nahegelegt, daß diese Rechte ungeachtet ihres universalen Geltungsunspr/icAs bisher nur in den nationalen Rechtsordnungen demokratischer Staaten eine unzweideutig positive Gestalt haben annehmen können. Darüber hinaus besitzen sie nur eine schwache völkerrechtliche Geltung und warten noch auf die Institutionalisie­ rung im Rahmen der erst im Entstehen begriffenen weltbürgerli­ chen Ordnung. ad (b). Wenn aber die erste Prämisse, daß Menschenrechte von Haus aus moralische Rechte sind, falsch ist, wird der ersten der beiden Teilaussagen der Boden entzogen - der Aussage, daß die globale Durchsetzung der Menschenrechte einer moralischen Lo­ gik folge und deshalb zu Interventionen führe, die als Polizeiaktio­ nen nur getarnt seien. Zugleich wird die zweite Aussage erschüt­ tert, daß eine interventionistische Menschenrechtspolitik zu einem »Kampf gegen das Böse« entarten müsse. Diese Aussage suggeriert

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ohnehin die falsche Voraussetzung, daß das auf begrenzte Kriege zugeschnittene klassische Völkerrecht genüge, um militärische Auseinandersetzungen in »zivilisierte« Bahnen lenken zu können. Selbst wenn diese Voraussetzung zuträfe, würden die Polizeiaktio­ nen einer handlungsfähigen und demokratisch legitimierten Welt­ organisation den Namen einer »zivilen« Austragung von interna­ tionalen Konflikten eher verdienen als noch so begrenzte Kriege. Denn die Etablierung eines weltbürgerlichen Zustandes bedeutet, daß Menschenrechtsverstöße nicht unmittelbar unter moralischen Gesichtspunkten beurteilt und bekämpft, sondern wie kriminelle Handlungen im Rahmen einer staatlichen Rechtsordnung - nach institutionalisierten Rechtsverfahren - verfolgt werden. Gerade die Verrechtlichung des Naturzustandes zwischen den Staaten schützt vor einer moralischen Entdifferenzierung des Rechts und garan­ tiert den Angeklagten, auch in den heute relevanten Fällen von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, vol­ len Rechtsschutz, also Schutz vor einer unvermittelt durchschla­ genden moralischen Diskriminierung.41

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Dieses Argument möchte ich in Auseinandersetzung mit den Ein­ wänden von Carl Schmitt metakritisch entfalten. Zuvor muß ich auf den Kontext dieser Einwände eingehen, weil Schmitt verschie­ dene Ebenen der Argumentation auf nicht immer durchsichtige Weise verbindet. Die Kritik an einem Weltbürgerrecht, das durch die Souveränität der Einzelstaaten hindurchgreift, beschäftigt Schmitt zwar vor allem im Hinblick auf den diskriminierenden Kriegsbegriff. Damit scheint seine Kritik einen klaren, juristisch begrenzten Fokus zu gewinnen. Sie wendet sich immer wieder ge­ gen die in der UN-Charta festgeschriebene Pönalisierung des Angriffskrieges und gegen die Haftbarmachung einzelner Personen für eine Sorte von Kriegsverbrechen, die das klassische, bis zum

41 Zur Differenzierung zwischen Ethik, Recht und Moral vgl. R. Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1994, 131-142. 226

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Ersten Weltkrieg gültige Völkerrecht noch nicht kannte. Aber diese für sich genommen harmlose juristische Erörterung lädt Schmitt mit politischen Überlegungen und metaphysischen Begründungen auf. Wir müssen deshalb zunächst die im Hintergrund stehende Theorie entblättern (i), um zum moralkritischen Kern des Argu­ ments vorzudringen (2). (1) At face value zielt die juristische Argumentation auf die völker­ rechtliche Zivilisierung des Krieges (a); sie verbindet sich mit einer politischen Argumentation, der es nur um die Erhaltung einer be­ währten internationalen Ordnung zu gehen scheint (b). (a) Schmitt lehnt die Unterscheidung zwischen Angriffs- und Ver­ teidigungskrieg nicht aus dem pragmatischen Grunde ab, daß sie schwer zu operationalisieren ist. Der juristische Grund ist viel­ mehr, daß nur ein moralisch neutraler Kriegsbegriff, der auch die persönliche Haftung für einen pönalisierten Krieg ausschließt, mit der Souveränität der völkerrechtlichen Subjekte vereinbar ist; denn das ius ad bellum, also das Recht, einen Krieg aus welchem Grunde auch immer zu beginnen, ist für die Souveränität eines Staates kon­ stitutiv. Auf dieser Ebene der Argumentation geht es Schmitt noch nicht, wie die einschlägige Schrift zeigt42, um die vermeintlich de­ saströsen Folgen des moralischen Universalismus, sondern um die Begrenzung der Kriegführung. Nur die Praxis der Nicht-Diskri­ minierung des Krieges soll die Kriegshandlungen begrenzen und vor den Übeln eines totalen Krieges schützen können, den Schmitt bereits vor dem Zweiten Weltkrieg mit wünschenswerter Klarheit analysiert.43 Insoweit präsentiert Schmitt die Forderung nach einer Rückkehr zum Status quo ante des begrenzten Krieges lediglich als die reali­ stischere Alternative zu einer weltbürgerrechtlichen Pazifizierung des Naturzustandes zwischen den Staaten; die Abschaffung im Vergleich zur Zivilisierung des Krieges ist ja ein weiterreichendes und, wie es scheint, utopisches Ziel. Freilich läßt sich der »Realis­ mus« dieses Vorschlages mit guten empirischen Gründen bezwei­ feln. Die bloße Berufung auf ein Völkerrecht, das aus den 42 Vgl. C. Schmitt (1994). 43 Vgl. C. Schmitt (1963) und (1988). 227

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Religionskriegen als eine der großen Leistungen des okzidentalen Rationalismus hervorgegangen sei, weist noch keinen pragmatisch gangbaren Weg zur Wiederherstellung der klassisch-modernen Welt des Gleichgewichts der Mächte. Denn in seiner klassischen Form hat das Völkerrecht offensichtlich vor den Tatsachen der im 20. Jahrhundert entfesselten totalen Kriege versagt. Hinter der ter­ ritorialen, technischen und ideologischen Entgrenzung des Krieges stehen starke Antriebskräfte. Diese können immer noch eher durch Sanktionen und Eingriffe einer organisierten Völkergemein­ schaft als durch den juristisch folgenlosen Appell an die Einsicht souveräner Regierungen gezähmt werden; denn eine Rückkehr zur klassischen Völkerrechtsordnung würde gerade jenen kollektiven Aktoren, die ihr unzivilisiertes Verhalten ändern müßten, ihre volle Handlungsfreiheit zurückgeben. Diese Schwäche des Arguments ist ein erster Hinweis darauf, daß die juristische Argumentation nur eine Fassade bildet, hinter der sich Bedenken eines anderen Typs verbergen. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte C. Schmitt die Konsistenz einer rein juristisch verfahrenden Argumentation nur dadurch ret­ ten, daß er die während der NS-Zeit begangenen Massenverbre­ chen als eine Kategorie eigener Art ausklammerte, um auf diesem Wege dem Krieg als solchen wenigstens den Anschein von morali­ scher Neutralität zu bewahren. 1945 unterscheidet Schmitt (in einem für den in Nürnberg angeklagten Friedrich Flick angefertig­ ten Gutachten) konsequent zwischen Kriegsverbrechen und jenen »atrocities«, die als »charakteristische Äußerungen einer bestimm­ ten unmenschlichen Mentalität« das menschliche Fassungsvermö­ gen übersteigen: »Der Befehl eines Vorgesetzten kann solche Untaten nicht rechtfertigen oder entschuldigen.«44 Der rein pro­ zeßtaktische Sinn dieser Unterscheidung, die Schmitt hier als Ad­ vokat vornimmt, geht aus den wenige Jahre später abgefaßten Texten des Tagebuchschreibers mit brutaler Deutlichkeit hervor. In diesem »Glossarium« wird klar, daß Schmitt nicht nur den An­ griffskrieg, sondern auch den Zivilisationsbruch der Juden vernich­ tung entkriminalisiert sehen möchte. Er fragt: »Was ist ein 44 C. Schmitt (1994), >9228 5

>Verbrechen gegen die Menschlichkeit«? Gibt cs Verbrechen gegen die Liebe?« und bezweifelt, daß es sich dabei überhaupt um juristi­ sche Tatbestände handelt, weil die »Schutz- und Angriffsobjekte« solcher Verbrechen nicht hinreichend präzise umschrieben werden können: »Genozide, Völkermorde, rührender Begriff; ich habe ein Beispiel am eigenen Leibe erlebt: Ausrottung des preußisch-deut­ schen Beamtentums im Jahre 1945.« Dieses delikate Verständnis von Genozid führt Schmitt zu dem weitergehenden Schluß: »Ver­ brechen gegen die Menschlichkeit« ist nur die generellste aller Generalklauseln zur Vernichtung des Feindes.« An anderer Stelle heißt es dann: »Es gibt Verbrechen gegen und Verbrechen für die Menschlichkeit. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden von Deutschen begangen. Die Verbrechen für die Menschlichkeit werden an Deutschen begangen.«'*5 Hier schlägt offensichtlich ein anderes Argument durch. Die Durchsetzung des Weltbürgerrechts mit der Folge eines diskrimi­ nierenden Kriegsbegriffs wird nicht mehr nur als die falsche Reak­ tion auf die Entwicklung zum totalen Krieg, sondern als deren Ursache begriffen. Der totale Krieg ist die zeitgenössische Aus­ drucksform des »gerechten Krieges«, in den eine interventionisti­ sche Menschenrechtspolitik zwangsläufig einmündet: »Entschei­ dend ist, daß zur Totalität des Krieges vor allem seine Gerechtig­ keit gehört.«46 Damit übernimmt der moralische Universalismus die Rolle des Explanandum, und die Argumentation verschiebt sich von der juristischen auf die moralkritische Ebene. Die Rück­ kehr zum klassischen Völkerrecht schien Schmitt zunächst im Hinblick auf die Vermeidung des totalen Krieges empfohlen zu haben. Aber es ist nicht einmal mehr sicher, ob er die totale Ent­ grenzung des Krieges, also den unmenschlichen Charakter der Kriegführung, als das eigentliche Übel angesehen oder nicht viel­ mehr in erster Linie die Entwertung des Krieges als solchen gefürchtet hat. Jedenfalls beschreibt Schmitt in einem Korollar zum »Begriff des Politischen« aus dem Jahre 1938 die totalitäre Ausweitung der Kriegführung auf nicht-militärische Gebiete in der

45 C.Schmitt, Glossarium (1947-1951), Berlin 1991, 113, 265, 146, 282. 46 C. Schmitt (1988), 1. 229

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Weise, daß dem totalen Krieg geradezu ein volkshygienisches Verdienst zukommt: »Der Schritt über das rein Militärische hin­ aus bringt nicht nur eine quantitative Ausweitung, sondern eine qualitative Steigerung. Daher bedeutet er (der totale Krieg) keine Milderung, sondern eine Intensivierung der Feindschaft. Mit der bloßen Möglichkeit einer solchen Steigerung der Intensität wer­ den dann auch die Begriffe Freund und Feind wieder politisch und befreien sich auch dort, wo ihr politischer Charakter völlig verblaßt war, aus der Sphäre privater und psychologischer Re­ densarten.«47 (b) Wenn aber dem eingefleischten Gegner des Pazifismus nicht so sehr die Zähmung des totalitär entgleisten Krieges am Herzen lie­ gen sollte, könnte es um etwas anderes gehen, und zwar um die Bewahrung einer internationalen Ordnung, in der Kriege über­ haupt noch geführt und Konflikte auf diesem Wege gelöst werden können. Die Praxis der Nicht-Diskriminierung des Krieges hält einen ordnungsstiftenden Mechanismus uneingeschränkter natio­ naler Selbstbehauptung intakt. Das zu vermeidende Übel ist dann nicht der totale Krieg, sondern der Zerfall einer Sphäre des Politi­ schen, die auf der klassischen Trennung von Innen- und Außenpo­ litik beruht. Das begründet Schmitt mit seiner eigentümlichen Theorie des Politischen. Danach muß die rechtlich pazifizierte In­ nenpolitik durch eine völkerrechtlich lizenzierte kriegerische Au­ ßenpolitik ergänzt werden, weil der gewaltmonopolisierende Staat gegen die virulente Kraft subversiver innerstaatlicher Feinde nur so lange Recht und Ordnung aufrechterhaken kann, wie er seine po­ litische Substanz im Kampf gegen äußere Feinde bewahrt und regeneriert. Diese Substanz soll sich nur im Medium der Tötungs­ und Todesbereitschaft einer Nation erneuern können, weil das Po­ litische selbst seinem Wesen nach auf »die reale Möglichkeit der physischen Tötung« bezogen ist. »Politisch« ist die Fähigkeit und der Wille eines Volkes, den Feind zu erkennen und sich gegen »die Negation der eigenen Existenz« durch »das Anderssein des Frem­ den« zu behaupten.48 47 C. Schmitt (1963), 110. 48 C. Schmitt (1963), 27. 2}0

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Diese skurrilen Überlegungen zum »Wesen des Politischen« müs­ sen uns hier nur in ihrem argumentativen Stellenwert interessie­ ren. Die vitalistische Aufladung des Politikbegriffs ist nämlich der Hintergrund für die Behauptung, daß sich die kreative Kraft des Politischen in eine zerstörende Kraft verwandeln muß, sobald ihr die internationale Wolfsarena »der erobernden Gewalt« verschlos­ sen wird. Die globale Durchsetzung von Menschenrechten und Demokratie, die den Weltfrieden fördern soll, hätte den unbe­ absichtigten Effekt, den »formgerechten« oder völkerrechtlich gehegten Krieg über seine Grenzen treten zu lassen. Ohne Aus­ lauf in die freie Wildbahn müßte er die autonom gewordenen, zivilen Lebensbereiche moderner Gesellschaften überschwem­ men, also die Komplexität ausdifferenzierter Gesellschaften ver­ nichten. Diese Warnung vor den katastrophalen Folgen einer rechtspazifistischen Abschaffung des Krieges erklärt sich aus einer Metaphysik, die sich bestenfalls zeittypisch auf die inzwischen doch etwas abgeblätterte Ästhetik der »Stahlgewitter« berufen könnte. (2) Freilich kann man aus dieser bellizistischen Lebensphilosophie einen Gesichtspunkt herauslösen und spezifizieren. Nach Schmitts Auffassung steht hinter dem ideologisch begründeten »Krieg gegen den Krieg«, der den zeitlich, sozial und sachlich begrenzten militä­ rischen Kampf zwischen »organisierten Völkereinheiten« in den endemischen Zustand eines entgrenzten paramilitärischen Bürger­ krieges überführt, der Universalismus der - von Kant auf den Begriff gebrachten - Menschheitsmoral. Alles spricht dafür, daß Carl Schmitt auf die friedenserhaltenden oder friedenschaffenden Interventionen der Vereinten Nationen nicht anders reagiert hätte als Hans Magnus Enzenberger: »Spezi­ fisch für den Westen ist die Rhetorik des Universalismus. Die Postulate, die damit aufgestellt worden sind, sollen ausnahmslos und ohne Unterschied für alle gelten. Der Universalismus kennt keine Differenz von Nähe und Ferne; er ist unbedingt und ab­ strakt ... Da aber alle unsere Handlungsmöglichkeiten endlich sind, öffnet sich die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer weiter. Bald ist die Grenze zur objektiven Heuchelei über­ schritten; dann erweist sich der Universalismus als moralische 2 31

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Falle.«49 Es sind also die falschen Abstraktionen der Menschheits­ moral, die uns in eine Selbstillusionierung stürzen und zu einer hypokritischen Selbstüberforderung verleiten. Die Grenzen, über die sich eine solche Moral erhebt, bestimmt Enzensberger wie Ar­ nold Gehlen50 anthropologisch in Begriffen von räumlicher Nähe und Ferne: ein Wesen, das aus so krummem Holz geschnitzt ist, funktioniert eben nur im anschaulich erfüllbaren Nahbereich mo­ ralisch. Carl Schmitt hat eher Hegels Kant-Kritik im Sinn, wenn er von Hypokrisie spricht. Er versieht seine verächtliche Formel »Huma­ nität, Bestialität« mit einem zweideutigen Kommentar, der auf den ersten Blick ebensogut von Horkheimer stammen könnte: »Wir sagen: der städtische Zentralfriedhof und verschweigen den Schlachthof taktvoll. Aber das Schlachten versteht sich von selbst, und es wäre inhuman, ja bestialisch, das Wort Schlachten auszu­ sprechen.«51 Zweideutig ist der Aphorismus insofern, als er sich zunächst ideologiekritisch gegen die falsche, weil verklärende Ab­ straktionsleistung platonischer Allgemeinbegriffe zu richten scheint, mit denen wir nur zu oft die Kehrseite einer Zivilisation von Siegern, nämlich das Leiden ihrer, marginalisierten Opfer ver­ schleiern. Diese Lesart würde jedoch genau die Art egalitärer Achtung und universellen Mitleidens einfordern, die der be-

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49 Vgl. H.M. Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfun am Main 1993, 73 f.; dazu A. Honneth, »Univcrsalismus als moralische Falle?«, Merkur 546/47, 1994, 867-883. Enzensberger stürzt sich nicht nur auf eine höchst selek­ tive Beschreibung der internationalen Lage, aus der die erstaunliche Ausbrei­ tung demokratischer Staatsformen in Lateinamerika, Afrika und Osteuropa während der letzten zwanzig Jahre ausgeblendet wird (vgl. E. O. Czcmpiel, Weltpolitik im Umbruch, München 1993,107 ff.). Er verkchn auch den komple­ xen Zusammenhang zwischen der fundamentalistischen Verarbeitung inner­ staatlicher Konfliktpoientiale einerseits, den gesellschaftlichen Deprivationen und fehlenden liberalen Traditionen andererseits kurzerhand in anthropologi­ sche Konstanten. Gerade der erweiterte Friedensbegriff legt prophylaktische und gewaltfreie Strategien nahe und bringt die pragmatischen Beschränkungen zu Bewußtsein, denen humanitäre Interventionen unterliegen - wie das Beispiel Somalia und die ganz andere Situation im ehemaligen Jugoslawien zeigen. Zur Kasuistik verschiedener Interventionstypen vgl. D.Senghaas (1994). 18 5 ff50 A. Gehlen, Moral und Hypermoral, Frankfurt am Main 1969. 51 C.Schmitt, Glossarium (t947-I95I)> Berlin ■99I> 2S9-

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kämpfte moralische Universalismus zur Geltung bringt. Was Schmitts Antihumanismus (mit Mussolinis und Lenins Hegel52) zur Geltung bringen will, ist nicht das Schlachtvieh, sondern die Schlacht — Hegels Schlachtbank der Völker, die »Ehre des Krie­ ges«, denn weiterhin heißt es: »Die Menschheit kann keinen Krieg führen ... Der Begriff der Menschheit schließt den Begriff des Feindes aus.«53 Nach Carl Schmitt ist es also die natürliche Ord­ nung des Politischen, die angeblich unvermeidliche Unterschei­ dung zwischen Freund und Feind, von der die Menschheitsmoral fälschlich abstrahiert. Weil sie »politische« Verhältnisse unter Be­ griffe von »Gut« und »Böse« subsumiert, macht sie auch aus dem Kriegsgegner »das unmenschliche Scheusal, das nicht nur abge­ wehrt, sondern definitiv vernichtet werden muß«.54 Und weil der diskriminierende Kriegsbegriff auf den Universalismus der Men­ schenrechte zurückgeht, ist es letztlich die Infektion des Völker­ rechts durch Moral, die die »im Namen der Menschheit« began­ gene Unmenschlichkeit moderner Kriege und Bürgerkriege erklärt. Dieses moralkritische Argument hat, auch unabhängig von dem Kontext, in dem es bei Carl Schmitt steht, eine unheilvolle Wir­ kungsgeschichte gehabt. Denn darin ist eine richtige Einsicht mit einem fatalen, durch den Freund-Feind-Begriff des Politischen ge­ nährten Irrtum verquickt. Der wahre Kern besteht darin, daß eine unvermittelte Moralisierung von Recht und Politik tatsächlich jene Schutzzonen durchbricht, die wir für Rechtspersonen aus guten, und zwar moralischen Gründen gewahrt wissen wollen. Irrig ist aber die Annahme, daß sich diese Moralisierung nur dadurch ver­ hindern ließe, daß die internationale Politik vom Recht und das Recht von der Moral freigehalten oder gesäubert wird. Unter den Prämissen von Rechtsstaat und Demokratie ist beides falsch: die Idee des Rechtsstaates fordert, daß die Gewaltsubstanz des Staates nach außen ebenso wie nach innen durch legitimes Recht kanali­ siert wird; und die demokratische Legitimierung des Rechts soll $1 Vgl. C. Schmitt (1991), 129. $3 C.Schmitt (1963), 54E 54 C. Schmitt (1963), 37.

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garantieren, daß das Recht mit anerkannten moralischen Grund­ sätzen in Einklang bleibt. Das Weltbürgerrecht ist eine Konse­ quenz der Rechtsstaatsidee. Mit ihm stellt sich erst eine Symmetrie zwischen der Verrechtlichung des gesellschaftlichen und politi­ schen Verkehrs diesseits und jenseits staatlicher Grenzen her. Carl Schmitt ist auf lehrreiche Weise inkonsequent, wenn er auf der Asymmetrie zwischen einem pazifizierten Rechtszustand im In­ neren und einem Bellizismus nach außen besteht. Da er sich auch den innerstaatlichen Rechtsfrieden nur als latente Auseinanderset­ zung zwischen den Organen des Staates und ihren repressiv in Schach gehaltenen Feinden vorstellt, räumt er den Inhabern staat­ licher Macht das Recht ein, Vertreter der politischen Opposition zu innerstaatlichen Feinden zu erklären — eine Praxis, die übrigens in der Bundesrepublik ihre Spuren hinterlassen hat.55 Anders als im demokratischen Verfassungsstaat, wo unabhängige Gerichte und die (in extremen Fällen sogar durch zivilen Ungehorsam aktivier­ ten) Staatsbürger in ihrer Gesamtheit über sensible Fragen des verfassungswidrigen Verhaltens entscheiden, stellt es Carl Schmitt in das Ermessen der jeweiligen Machthaber, politische Gegner als Bürgerkriegsgegner zu kriminalisieren. Weil sich in dieser Rand­ zone des innerstaatlichen Verkehrs die rechtsstaatlichen Kontrollen lockern, kommt genau der Effekt zustande, den Carl Schmitt als Folge einer Pazifizierung des zwischenstaatlichen Verkehrs be­ fürchtet: der Durchgriff moralischer Kategorien auf ein rechtlich geschütztes politisches Handeln und die Stilisierung von Gegnern zu Agenten des Bösen. Dann ist es aber inkonsequent zu fordern, daß der internationale Verkehr von rechtsstaatsanalogen Regelun­ gen verschont bleiben möge. Tatsächlich würde sich in der internationalen Arena eine unvermit­ telte Moralisierung der Politik ebenso schädlich auswirken wie in der Auseinandersetzung der Regierung mit ihren innerstaatlichen Feinden - die Carl Schmitt ironischerweise zuläßt, weil er den Schaden an der falschen Stelle lokalisiert. Aber in beiden Fällen entsteht der Schaden nur daraus, daß ein rechtlich geschütztes po5 5 Vgl. J. Habermas, Kleine Polnische Schriften 1-iv, Frankfurt am Main 1981, 328339-

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litisches oder staatliches Handeln in zweifacher Weise falsch co­ diert wird: daß es zunächst moralisiert, also nach Kriterien von »Gut« und »Böse« beurteilt, und dann kriminalisiert, also nach Kriterien von »Recht« und »Unrecht« verurteilt wird, ohne daß und das ist das entscheidende Moment, das Schmitt unterschlägt die rechtlichen Voraussetzungen für eine unparteilich urteilende gerichtliche Instanz und einen neutralen Strafvollzug erfüllt sind. Die Menschenrechtspolitik einer Weltorganisation verkehrt sich nur dann in Menschenrechtsfundamentalismus, wenn sie einer In­ tervention, die tatsächlich nicht mehr ist als der Kampf einer Partei gegen die andere, eine moralische Legitimation im Deckmantel einer juristischen Scheinlegitimation verschafft. In solchen Fällen begeht die Weltorganisation (oder eine in ihrem Namen handelnde Allianz) einen »Betrug«, weil sie das, was in Wahrheit eine militä­ rische Auseinandersetzung zwischen Kriegsparteien ist, für eine neutrale, durch vollziehbare Gesetze und Strafurteile gerechtfer­ tigte polizeiliche Maßnahme ausgibt. »Moralisch berechtigte Ap­ pelle drohen fundamentalistische Züge anzunehmen, wenn sie nicht auf die Implementation rechtlicher Verfahren für die (Positivierung sowie) Anwendung und Durchsetzung der Menschen­ rechte zielen, sondern unmittelbar auf das Deutungsschema durch­ greifen, mit dem Verletzungen von Menschenrechten zugerechnet werden, und wenn sie die einzige Quelle der geforderten Sanktio­ nen sind.«56 C. Schmitt vertritt darüber hinaus die Behauptung, daß die Ver­ rechtlichung der Machtpolitik jenseits staatlicher Grenzen, also die internationale Durchsetzung von Menschenrechten in einer bisher von militärischer Gewalt beherrschten Arena, stets und notwendig einen solchen Menschenrechtsfundamentalismus zur Folge habe. Diese Behauptung ist falsch, weil ihr die falsche Prämisse zugrunde liegt, daß die Menschenrechte moralischer Natur sind, also die Durchsetzung der Menschenrechte eine Moralisierung bedeute. Die erwähnte problematische Seite einer Verrechtlichung des inter-

56 Klaus Günther, »Kampf gegen das Böse? Wider die ethische Aufrüstung der Kriminalpolitik«, Kritische Justiz, 27, 1994, 135-157 (Zusatz in Klammem von mir). 235

nationalen Verkehrs besteht eben nicht darin, daß ein bislang als »politisch« begriffenes Handeln fortan unter Rechtskategorien fal­ len soll. Anders als die Moral erfordert nämlich der Rechtscode keineswegs eine unmittelbar moralische Bewertung nach Kriterien von »Gut« und »Böse«. Klaus Günther klärt den zentralen Punkt: »Daß eine (im Sinne Carl Schmitts) politische Interpretation men­ schenrechtswidrigen Verhaltens ausgeschlossen wird, darf nicht bedeuten, daß eine unmittelbar moralische Interpretation an ihre Stelle treten darf.«57 Menschenrechte dürfen nicht mit moralischen Rechten verwechselt werden. Die Differenz zwischen Recht und Moral, auf der Günther be­ harrt, bedeutet aber ebensowenig, daß das positive Recht keinen moralischen Gehalt hätte. Über das demokratische Verfahren der politischen Gesetzgebung fließen unter anderem auch moralische Argumente in die Begründung der Normsetzung und damit ins Recht selber ein. Wie schon Kant gesehen hat, unterscheidet sich das Recht von der Moral durch Formeigenschaften der Legalität. Dadurch ist ein Teil des moralisch beurteilbaren Verhaltens (z.B. Gesinnungen und Motive) rechtlicher Regelung überhaupt entzo­ gen. Vor allem bindet aber der Rechtscode die Urteile und Sanktio­ nen der zuständigen Instanzen zum Schutze der Betroffenen an eng gefaßte, intersubjektiv nachprüfbare Bedingungen rechtsstaatlicher Verfahren. Während die moralische Person vor der inneren Instanz der Gewissensprüfung gleichsam entblößt dasteht, bleibt die Rechtsperson in den Mantel von - moralisch gut begründeten Freiheitsrechten eingehüllt. Die richtige Antwort auf die Gefahr der unvermittelten Moralisierung der Machtpolitik ist daher »nicht die Entmoralisierung der Politik, sondern die demokratische Transformation der Moral in ein positiviertes System der Rechte mit rechtlichen Verfahren ihrer Anwendung und Durchsetzung.«58 Der Menschenrechtsfundamentalismus wird nicht durch den Ver­ zicht auf Menschenrechtspolitik vermieden, sondern allein durch die wekbürgerrechtliche Transformation des Naturzustandes zwi­ schen den Staaten in einen Rechtszustand. 57 K. Günther (1994), 144 (*n Klammern mein Zusatz). 58 K. Günther (1994), 144.

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8. Kampf um Anerkennung

im demokratischen Rechtsstaat

Die modernen Verfassungen verdanken sich der vernunftrecht­ lichen Idee, daß sich Bürger aus eigenem Entschluß zu einer Gemeinschaft freier und gleicher Rechtsgenossen zusammen­ schließen. Die Verfassung setzt genau die Rechte in Kraft, die sie sich gegenseitig zugestehen müssen, wenn sie ihr Zusammenleben mit Mitteln des positiven Rechts legitim regeln wollen. Dabei sind die Begriffe des subjektiven Rechts und der individuellen Rechts­ person als des Trägers von Rechten schon vorausgesetzt. Das moderne Recht begründet zwar staatlich sanktionierte Verhältnisse intersubjektiver Anerkennung, aber die daraus abgeleiteten Rechte sichern die versehrbare Integrität jeweils einzelner Rechtssubjekte. In letzter Instanz geht es um den Schutz dieser individuellen Rechtspersonen, auch wenn die Integrität des Einzelnen - im Recht nicht weniger als in der Moral - von der intakten Struktur der Verhältnisse gegenseitiger Anerkennung abhängt. Kann eine derart individualistisch angelegte Theorie der Rechte jenen Kämp­ fen um Anerkennung gerecht werden, in denen es doch um die Artikulation und Behauptung kollektiver Identitäten zu gehen scheint? Eine Verfassung kann als ein historisches Projekt verstanden wer­ den, das die Bürger in jeder Generation von neuem weiter verfol­ gen. Im demokratischen Rechtsstaat ist die Ausübung politischer Macht doppelt kodiert: die institutionalisierte Bearbeitung der an­ fallenden Probleme und die prozedural geregelte Vermittlung der jeweiligen Interessen müssen zugleich als Verwirklichung eines Systems von Rechten verstanden werden können.1 Aber in den politischen Arenen stehen sich kollektive Aktoren gegenüber, die über kollektive Ziele und um die Verteilung kollektiver Güter strei­ ten. Nur vor Gericht und im juristischen Diskurs geht es unmittel­ bar um einklagbare individuelle Rechte. Auch geltendes Recht

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1 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfun am Main 199a, Kap. HI.

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muß in veränderten Kontexten angesichts neuer Bedürfnisse und Interessenlagen auf neue Weise interpretiert werden. Dieser Streit um die Interpretation und Durchsetzung historisch uneingelöster Ansprüche ist ein Kampf um legitime Rechte, in die wiederum kollektive Aktoren verwickelt sind und sich gegen eine Mißach­ tung ihrer Würde zur Wehr setzen. In diesem »Kampf um Aner­ kennung« artikulieren sich, wie A. Honneth gezeigt hat, kollektive Erfahrungen verletzter Integrität.2 Sind diese Phänomene mit einer individualistisch angelegten Theorie der Rechte in Einklang zu bringen? Die politischen Errungenschaften von Liberalismus und Sozial­ demokratie, die aus der bürgerlichen Emanzipationsbewegung und der europäischen Arbeiterbewegung hervorgegangen sind, legen eine affirmative Antwort nahe. Beide haben das Ziel verfolgt, die Entrechtung unterprivilegierter Gruppen und damit die Spaltung der Gesellschaft in soziale Klassen zu überwinden; aber der Kampf gegen die Unterdrückung von Kollektiven, denen gleiche soziale Lebenschancen vorenthalten werden, hat sich dort, wo der sozial­ liberale Reformismus zum Zuge gekommen ist, in den Formen eines Kampfes um die sozialstaatliche Universalisierung der Bür­ gerrechte vollzogen. Nach dem Bankrott des Staatssozialismus ist dies sogar die einzige Perspektive geblieben - die Masse der Bevöl­ kerung soll dadurch, daß der Status abhängiger Erwerbsarbeit durch soziale Teilhabe- und politische Teilnahmerechte ergänzt wird, die Chance erhalten, in der begründeten Erwartung von Si­ cherheit, sozialer Gerechtigkeit und Wohlstand zu leben. Die ungleichen sozialen Lebensbedingungen der kapitalistischen Ge­ sellschaft sollen durch eine gerechtere Verteilung kollektiver Güter kompensiert werden. Dieses Ziel ist mit der Theorie der Rechte durchaus vereinbar, weil die »Grundgüter« (im Sinne von Rawls) entweder (wie Geld, freie Zeit und Dienstleistungen) individuell verteilt oder (wie die Infrastrukturen des Verkehrs-, Gesundheits­ oder Bildungswesens) individuell genutzt und daher in Form indi­ vidueller Leistungsansprüche gewährt werden können. Auf den ersten Blick verhält es sich jedoch anders mit Ansprüchen 2 A. Honneth, Kampf um Anerkennung, Frankfun am Main 1992. 238

auf die Anerkennung kollektiver Identitäten und auf die Gleichbe­ rechtigung kultureller Lebensformen. Um solche Ansprüche rin­ gen heute Feministinnen, Minderheiten in multikulturellen Gesell­ schaften, Völker, die nach nationaler Unabhängigkeit streben, oder jene ehemals kolonialisierten Regionen, die auf der internationalen Bühne die Ebenbürtigkeit ihrer Kulturen einklagen. Verlangt nicht die Anerkennung kultureller Lebensformen und Traditionen, die, sei es im Kontext einer Mehrheitskultur, sei es in der nordatlan­ tisch bzw. eurozentrisch beherrschten Weltgesellschaft, marginali­ siert werden, Status- und Überlebensgarantien, jedenfalls eine Art von kollektiven Rechten, die unser überkommenes, auf subjektive Rechte zugeschnittenes und in diesem Sinne »liberales« Selbstver­ ständnis des demokratischen Rechtsstaates sprengen? Auf diese Frage gibt Charles Taylor eine differenzierte Antwort, die die Diskussion einen großen Schritt weiterführt.3 Wie die im selben Band veröffentlichten Kommentare zeigen, fordern freilich seine originellen Gedanken auch zur Kritik heraus. Im entschei­ denden Punkt bleibt Taylor zweideutig. Er unterscheidet zwei Lesarten des demokratischen Rechtsstaates, die er Liberalismus 1 und Liberalismus 2 nennt. Diese Benennung suggeriert, daß die von ihm favorisierte zweite Lesart ein unangemessenes Verständnis liberaler Grundsätze lediglich korrigiert. Bei näherem Hinsehen greift jedoch Taylors Lesart diese Prinzipien selbst an und stellt den individualistischen Kern des modernen Freiheitsverständnisses in Frage.

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Taylors »Politik der Anerkennung« Unstrittig ist Amy Gutmanns Aussage: »Zu vollständiger öffentli­ cher Anerkennung gehören zwei Formen von Achtung: 1. Ach­ tung vor der unverwechselbaren Identität jedes Individuums, unabhängig von Geschlecht, Rasse oder ethnischer Zugehörigkeit, und 2. Achtung vor jenen Handlungsformen, Praktiken, Spielarten

3 Vgl. Ch. Taylor u. a., Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt am Main 1993, S. 13 ff. 239

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von Weltauffassung, die bei den Angehörigen benachteiligter Gruppen hohes Ansehen genießen oder mit ihnen besonders eng verbunden sind, wobei zu diesen benachteiligten Gruppen die Frauen ebenso gehören wie die asiatischen Amerikaner, die Afro­ amerikaner, die indianischen Amerikaner und eine Vielzahl ande­ rer Gruppen in den Vereinigten Staaten.«4 Dasselbe gilt natürlich für Gastarbeiter und andere Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, für Kroaten in Serbien, Russen in der Ukraine, Kur­ den in der Türkei, für Behinderte, Homosexuelle usw. Diese Forderung zielt nicht in erster Linie auf die Angleichung sozialer Lebensbedingungen, sondern auf den Schutz der Integrität der Le­ bensformen und Traditionen, in denen sich Angehörige diskrimi­ nierter Gruppen wiedererkennen können. Normalerweise verbin­ det sich freilich die kulturelle Nichtanerkennung mit krasser sozialer Unterprivilegierung, wobei sich beide kumulativ verstär­ ken. Strittig ist die Frage, ob sich die Forderung (2) aus (1) - also dem Prinzip des gleichen Respekts für jeden Einzelnen - ergibt oder ob diese beiden Forderungen, wenigstens in einigen Fällen, kollidieren müssen. Taylor geht davon aus, daß die Sicherung kollektiver Identitäten mit dem Recht auf gleiche subjektive Freiheiten — mit Kants einzi­ gem und ursprünglichem Menschenrecht - in Konkurrenz tritt, so daß im Kollisionsfall über den Vorrang des einen oder anderen entschieden werden muß. Dafür spricht die folgende Überlegung. Weil (2) die Berücksichtigung eben der Besonderheiten fordert, von denen (1) zu abstrahieren scheint, muß sich der Gleichbehand­ lungsgrundsatz in gegenläufigen Politiken zur Geltung bringen - in einer Politik der Beachtung kultureller Differenzen auf der einen, in einer Politik der Verallgemeinerung subjektiver Rechte auf der anderen Seite. Die eine Politik soll den Preis ausgleichen, den die andere in Gestalt eines gleichmachenden Universalismus fordert. Taylor buchstabiert diesen - wie ich zeigen möchte: zu Unrecht konstruierten — Gegensatz in den moraltheoretischen Begriffen des Guten und des Gerechten aus. Liberale vom Schlage Rawls’ und Dworkins fordern eine ethisch neutrale Rechtsordnung, die jedem 4 Ebda., S. 12$. 240

gleiche Chancen sichern soll, die jeweils eigene Konzeption des Guten zu verfolgen. Demgegenüber bestreiten Kommunitaristen wie Taylor und Walzer dem Recht die ethische Neutralität und dürfen deshalb vom Rechtsstaat nötigenfalls auch die aktive Förde­ rung bestimmter Konzeptionen des guten Lebens erwarten. Taylor bezieht sich auf das kanadische Beispiel der frankophonen Minderheit, die in der Provinz Quebec die Mehrheit bildet. Sie beansprucht für Quebec das Recht, innerhalb des Gesamtstaates eine »Gesellschaft eigener Art« zu bilden; sie möchte dort die In­ tegrität ihrer Lebensform gegen die angelsächsische Mehrheitskul­ tur unter anderem durch Regelungen sichern, die es der französisch sprechenden Bevölkerung und den Einwanderern verbieten, ihre Kinder auf englische Schulen zu schicken, die für Betriebe mit über 50 Arbeitnehmern Französisch als Verkehrssprache festlegen und allgemein Französisch als Geschäftssprache vorschreiben. Solchen kollektiven Zielen müsse sich eine Theorie der Rechte der ersten Lesart verschließen: »Eine Gesellschaft mit kollektiven Zielen wie im Falle von Quebec verstößt gegen dieses Modell. [...] Diesem Modell zufolge würde man eine wichtige Unterscheidung in ge­ fährlicher Weise mißachten, wenn man etwa die Möglichkeit, in einer beliebigen Sprache Reklame zu machen, als Grundrecht be­ zeichnete. Vielmehr gilt es, die elementaren Freiheiten, die niemals eingeschränkt werden dürfen und deshalb fest verankert werden müssen, von Vor- und Sonderrechten zu unterscheiden, die zwar wichtig sind, aber aus politischen Gründen, allerdings nur aus sehr triftigen, widerrufen oder beschnitten werden können.«5 Taylor schlägt ein Gegenmodell vor, das unter bestimmten Bedingungen grundrechtseinschränkende Statusgarantien für das Überleben be­ drohter kultureller Lebensformen erlaubt und somit Politiken, die »aktiv bestrebt [sind], Angehörige dieser Gruppe zu erzeugen, in­ dem sie zum Beispiel dafür sorgen, daß sich auch künftige Genera­ tionen als Frankophone identifizieren. Man kann nicht behaupten, daß eine solche Politik nur darauf aus sei, einer bestehenden Bevöl­ kerung eine bestimmte Möglichkeit zu eröffnen.«6 5 Ebda., S. 51-53. 6 Ebda., S. 52. 241

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Taylor macht seine Unvereinbarkeitsthese zunächst dadurch plau­ sibel, daß er die Theorie der Rechte in der selektiven Lesart des Liberalismus 1 präsentiert. Ferner interpretiert er sein kanadisches Beispiel nicht trennscharf; unscharf bleibt auch die juristische Re­ ferenz der Fragestellung. Bevor ich die beiden letztgenannten Probleme aufnehme, möchte ich zeigen, daß eine richtig verstan­ dene Theorie der Rechte gegenüber kulturellen Differenzen kei­ neswegs blind ist. Unter Liberalismus 1 versteht Taylor eine Theorie, wonach allen Rechtsgenossen in der Form von Grundrechten gleiche subjektive Handlungsfreiheiten garantiert werden; in Streitfällen entscheiden die Gerichte, wem welche Rechte zustehen; das Prinzip der gleichen Achtung für jedermann kommt somit allein in der Gestalt einer rechtlich geschützten Autonomie zur Geltung, die jedermann nut­ zen kann, um seinen persönlichen Lebensentwurf zu verwirklichen. Diese Deutung des Systems der Rechte bleibt paternalistisch, weil sie den Begriff der Autonomie halbiert. Sie berücksichtigt nicht, daß die Adressaten des Rechts nur in dem Maße Autonomie (im Sinne Kants) erwerben können, wie sie sich selbst als Autoren der Gesetze verstehen können, denen sie als private Rechtssubjekte un­ terworfen sind. Liberalismus 1 verkennt die Gleich Ursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Ergänzung, die der Privatautonomie äußerlich bliebe, sondern um einen internen, d.h. begrifflich notwendigen Zusammenhang. Letztlich können nämlich die privaten Rechts­ subjekte nicht einmal in den Genuß gleicher subjektiver Freiheiten gelangen, wenn sie sich nicht selbst, in gemeinsamer Ausübung ihrer staatsbürgerlichen Autonomie, über berechtigte Interessen und Maßstäbe klarwerden und auf die relevanten Hinsichten eini­ gen, unter denen jeweils Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden soll. Sobald wir diesen internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie ernst nehmen, wird aber klar, daß das System der Rechte nicht nur nicht gegenüber ungleichen sozialen Lebensbe­ dingungen, sondern ebensowenig gegenüber kulturellen Differen­ zen blind ist. Die »Farbenblindheit« der selektiven Lesart ver­ schwindet, vorausgesetzt, daß wir auch den Trägern subjektiver 242

Rechte eine intersubjektivistisch begriffene Identität zuschreiben. Personen, auch Rechtspersonen, werden nur durch Vergesellschaf­ tung individuiert.7 Unter dieser Prämisse verlangt eine richtig verstandene Theorie der Rechte genau die Politik der Anerken­ nung, die die Integrität des Einzelnen auch in seinen identitätsbildenden Lebenszusammenhängen schützt. Dazu bedarf es keines Gegenmodells, das den individualistischen Zuschnitt des Systems der Rechte durch andere normative Gesichtspunkte korrigierte, sondern nur dessen konsequenter Verwirklichung. Um die wäre es allerdings ohne soziale Bewegungen und ohne politische Kämpfe schlecht bestellt. Das möchte ich an der Geschichte des Feminismus zeigen, der im­ mer wieder neue Anläufe machen mußte, um seine rechtspoliti­ schen Ziele gegen starke Widerstände durchzusetzen. Wie die Rechtsentwicklung in westlichen Gesellschaften allgemein, so fol­ gen auch die feministischen Gleichstellungspolitiken während der letzten hundert Jahre einem Muster, das sich als Dialektik zwi­ schen rechtlicher und faktischer Gleichheit beschreiben läßt. Glei­ che rechtliche Kompetenzen räumen Handlungsfreiheiten ein, die differentiell genutzt werden können und daher nicht die faktische Gleichheit von Lebenslagen oder Machtpositionen fördern. Zwar müssen sehr wohl faktische Voraussetzungen für eine chancenglei­ che Nutzung gleich verteilter rechtlicher Kompetenzen erfüllt sein, wenn sich der normative Sinn der Rechtsgleichheit nicht ins Ge­ genteil verkehren soll. Eine unter diesem Gesichtspunkt inten­ dierte Angleichung faktischer Lebenslagen und Machtpositionen darf aber nicht zu normalisierenden Eingriffen von der Art führen, daß die präsumtiven Nutznießer wiederum in ihrem Spielraum für eine autonome Lebensgestaltung empfindlich eingeschränkt wer­ den. Solange der Blick auf die Sicherung der privaten Autonomie eingeschränkt bleibt und den internen Zusammenhang der subjek­ tiven Rechte der Privatleute mit der öffentlichen Autonomie der an der Rechtsetzung beteiligten Staatsbürger ausblendet, schwankt die Rechtspolitik hilflos zwischen den Polen eines im Locke’schen 7 Vgl. J. Habermas, »Individuierung durch Vergesellschaftung«, in: ders., Nachme­ taphysisches Denken, Frankfurt am Main 1988, S. 187-241. M3

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Sinne liberalen und eines ebenso kurzsichtigen sozialstaatlichen Rechtsparadigmas. So auch bei der Gleichbehandlung von Män­ nern und Frauen.8 Die liberale Politik zielte zunächst darauf ab, den Statuserwerb von der Identität des Geschlechts zu entkoppeln und für Frauen eine ergebnisneutrale Gleichheit der Chancen im Wettbewerb um Arbeitsplätze, soziales Ansehen, Biidungsabschlüsse, politische Macht usw. zu gewährleisten. Die teilweise durchgesetzte formale Gleichstellung ließ dann aber die faktische Ungleichbehandlung der Frauen nur um so deutlicher hervortreten. Darauf hat die sozialstaatliche Politik, vor allem im Sozial-, Arbeits- und Fami­ lienrecht, mit speziellen Regelungen reagiert, die sich auf Schwan­ gerschaft und Mutterschaft oder auf soziale Belastungen im Scheidungsfall beziehen. Inzwischen sind freilich nicht nur die uneingelösten liberalen Forderungen, sondern auch die ambivalen­ ten Folgen erfolgreich durchgesetzter sozialstaatlicher Programme zum Gegenstand der feministischen Kritik geworden - beispiels­ weise das durch diese Kompensationen erhöhte Beschäftigungs­ risiko für Frauen, die Überrepräsentation der Frauen in den niederen Lohngruppen, das problematische »Wohl des Kindes«, allgemein die fortschreitende »Feminisierung« der Armut usw. Aus juristischer Sicht besteht ein struktureller Grund für diese reflexiv erzeugte Diskriminierung in den überverallgemeinernden Klassifikationen für benachteiligende Situationen und benachtei­ ligte Personengruppen. Diese »falschen« Klassifikationen führen nämlich zu »normalisierenden« Eingriffen in die Lebensführung, die den intendierten Schadensausgleich in erneute Diskriminie­ rung, also Freiheitsverbürgung in Freiheitsentzug umschlagen las­ sen. Auf feministischen Rechtsgebieten nimmt der sozialstaatliche Paternalismus einen buchstäblichen Sinn an, weil sich Legislative und Rechtsprechung an traditionalen Deutungsmustern orientie­ ren und bestehende Stereotype der Geschlechtsidentität nur befe­ stigen. Die Klassifikation der Geschlechtsrollen und der geschlechtsab­ hängigen Differenzen berührt elementare Schichten des kulturellen 8 Vgl. D. L. Rhode, Justice and Gender, Cambridge, Mass. 1989, Pan One.

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Selbstverständnisses der Gesellschaft. Erst heute bringt der radi­ kale Feminismus den fehlbaren, revisionsbedürftigen und grund­ sätzlich bestreitbaren Charakter dieses Selbstverständnisses zu Bewußtsein. Er beharrt zu Recht darauf, daß die Hinsichten, unter denen Differenzen zwischen Erfahrungen und Lebenslagen von bestimmten Gruppen von Frauen und Männern für eine chancen­ gleiche Nutzung subjektiver Handlungsfreiheiten bedeutsam wer­ den, in der politischen Öffentlichkeit, und zwar im öffentlichen Streit um die angemessene Interpretation der Bedürfnisse, geklärt werden müssen.9 Deshalb läßt sich an diesem Kampf um die Gleichstellung der Frauen der fällige Wandel des paradigmatischen Rechtsverständnisses besonders gut demonstrieren. An die Stelle des Streits, ob die Autonomie der Rechtspersonen besser durch subjektive Freiheiten für den Wettbewerb der Privatleute oder durch objektiv gewährte Leistungsansprüche für Klienten wohl­ fahrtsstaatlicher Bürokratien gesichert wird, tritt eine prozeduralistische Rechtsauffassung, wonach der demokratische Prozeß gleichzeitig private und öffentliche Autonomie sichern muß: die subjektiven Rechte, die Frauen eine privatautonome Lebensgestal­ tung gewährleisten sollen, können gar nicht angemessen formuliert werden, wenn nicht zuvor die Betroffenen selbst in öffentlichen Diskussionen die jeweils relevanten Hinsichten für die Gleich- und Ungleichbehandlung typischer Fälle artikulieren und begründen. Die private Autonomie gleichberechtigter Bürger kann nur im Gleichschritt mit der Aktivierung ihrer staatsbürgerlichen Auto­ nomie gesichert werden. Eine »liberale« Lesart des Systems der Rechte, die diesen Zusam­ menhang ignoriert, muß den Universalismus der Grundrechte als abstrakte Einebnung von Unterschieden mißverstehen, und zwar gleichermaßen von kulturellen wie von sozialen Differenzen. Diese müssen mit immer größerer Kontextsensibilität wahrgenommen und berücksichtigt werden, wenn das System der Rechte auf demo­ kratischem Wege verwirklicht werden soll. Die Universalisierung der Bürgerrechte ist nach wie vor der Motor einer fortschreitenden

9 Vgl. N. Fraser, »Stmggie over necds«, in: dies., Unrnly Practices, Oxford 1989, S.144-160. 245

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Differenzierung des Rechtssystems, das die Integrität der Rechts­ subjekte nicht ohne eine strikte, von den Bürgern selbst gesteuerte Gleichbehandlung ihrer identitätssichernden Lebenskontexte si­ cherstellen kann. Wenn man die selektive Lesart der Theorie der Rechte zugunsten eines solchen demokratischen Verständnisses der Grundrechtsverwirklichung korrigiert, braucht man dem verkürz­ ten Liberalismus i nicht ein Modell gegenüberzustellen, das sy­ stemfremde kollektive Rechte einführt.

Kämpfe um Anerkennung die Phänomene und die Ebenen ihrer Analyse

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Feminismus, Multikulturalismus, Nationalismus und der Kampf gegen das eurozentrische Erbe des Kolonialismus sind verwandte Phänomene, die nicht verwechselt werden dürfen. Ihre Verwandt­ schaft besteht darin, daß sich Frauen, ethnische und kulturelle Minderheiten sowie Nationen und Kulturen gegen Unterdrükkung, Marginalisierung, Mißachtung zur Wehr setzen und dabei um die Anerkennung kollektiver Identitäten kämpfen, sei es im Kontext einer Mehrheitskultur oder in der Gemeinschaft der Völ­ ker. Es handelt sich um Emanzipationsbewegungen, deren kollek­ tive politische Ziele in erster Linie kulturell definiert sind, obgleich immer auch soziale und ökonomische Ungleichheiten sowie politi­ sche Abhängigkeiten im Spiel sind. (a) Der Feminismus ist zwar nicht Sache einer Minderheit, aber er richtet sich gegen eine herrschende Kultur, die das Verhältnis der Geschlechter auf eine asymmetrische Weise interpretiert, welche Gleichberechtigung ausschließt. Die Differenz geschlechtsspezifi­ scher Lebenslagen und Erfahrungen findet weder rechtlich noch informell eine angemessene Berücksichtigung; das kulturelle Selbstverständnis der Frauen findet ebensowenig wie ihr Beitrag zur gemeinsamen Kultur gebührende Anerkennung; unter den herrschenden Definitionen können weibliche Bedürfnisse nicht einmal hinreichend artikuliert werden. So beginnt der politische Kampf um Anerkennung als Kampf um die Interpretation von ge­ schlechtsspezifischen Leistungen und Interessen; soweit er erfolg246

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reich ist, verändert er mit der kollektiven Identität der Frauen auch das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und affiziert dadurch das Selbstverständnis der Männer unmittelbar. Das Werteregister der Gesellschaft im ganzen steht zur Diskussion; die Folgen dieser Problematisierung reichen bis in private Kernbereiche hinein und betreffen auch die etablierten Abgrenzungen zwischen privater und öffentlicher Sphäre.10 (b) Anders verhält es sich mit dem Kampf unterdrückter ethni­ scher und kultureller Minderheiten um die Anerkennung ihrer kollektiven Identität. Da auch solche Emanzipationsbewegungen auf die Überwindung einer illegitimen Spaltung der Gesellschaft abzielen, kann das Selbstverständnis der Mehrheitskultur davon nicht unberührt bleiben. Aber aus ihrer Sicht muß die veränderte Interpretation von Leistungen und Interessen anderer die eigene Rolle nicht in gleicher Weise verändern wie die Uminterpretation des Geschlechterverhältnisses die Rolle des Mannes. Emanzipationsbewegungen in multikulturellen Gesellschaften bil­ den kein einheitliches Phänomen. Sie stellen andere Herausforde­ rungen je nachdem, ob sich endogene Minderheiten ihrer Identität bewußt werden oder ob durch Immigration neue Minderheiten entstehen; je nachdem, ob mit dieser Aufgabe Staaten konfrontiert sind, die sich aufgrund ihrer Geschichte und ihrer politischen Kul­ tur bereits als Einwanderungsland verstehen, oder solche, deren nationales Selbstverständnis an die Integration fremder Kulturen erst angepaßt werden muß. Die Herausforderung wird um so grö­ ßer sein, je tiefer die religiösen, rassischen oder ethnischen Unter­ schiede oder die historisch-kulturellen Ungleichzeitigkeiten rei­ chen, die überbrückt werden müssen; sie wird um so schmerzlicher sein, je mehr die Tendenzen zur Selbstbehauptung einen fundamentalistisch-äbgrenzenden Charakter annehmen, sei es, weil die um Anerkennung ringende Minderheit aus Erfahrungen der Ohn­ macht in Regressionen ausweicht, sei es, weil sie erst auf dem Wege einer Massenmobilisierung das Bewußtsein für die Artikulation einer neuen, konstruktiv erzeugten Identität wecken muß. (c) Davon ist der Nationalismus von Bevölkerungen zu unterio Vgl. S. Benhabib, Situating the Self, Oxford 1952, Part 11. J47

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scheiden, die sich vor dem Hintergrund eines gemeinsamen histo­ rischen Schicksals als ethnisch und sprachlich homogene Gruppen verstehen und ihre Identität nicht nur als Abstammungsgemein­ schaften, sondern in der Form eines politisch handlungsfähigen Staatsvolkes sichern möchten. Das Vorbild nationaler Bewegungen war fast stets der aus der Französischen Revolution hervorgegan­ gene, republikanisch verfaßte Nationalstaat. Italien und Deutsch­ land waren im Vergleich zu den Nationalstaaten der ersten Generation »verspätete Nationen«. Einen anderen Kontext bildete die Periode der Entkolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Wiederum anders war die Konstellation beim Zerfall von Imperien wie des Osmanischen Reichs, Österreich-Ungarns oder der So­ wjetunion. Davon unterscheidet sich die Lage nationaler Minder­ heiten, die wie Basken, Kurden oder Nordiren im Zuge der Nationalstaatsbildung erst entstanden sind. Ein spezieller Fall ist die aus einer national-religiösen Bewegung und dem Grauen von Auschwitz hervorgegangene Gründung des Staates Israel in dem von Arabern beanspruchten englischen Mandatsgebiet Palästina. (d) Eurozentrismus und Vorherrschaft der westlichen Kultur sind schließlich Stichworte für einen auf internationaler Ebene ausge­ tragenen Kampf um Anerkennung. Zuletzt hat der Golfkrieg diese Dimension zu Bewußtsein gebracht: Im Schatten einer noch ge­ genwärtigen Kolonialgeschichte ist die Intervention der Alliierten von den religiös bewegten Massen ebenso wie von säkularisierten Intellektuellen als Mißachtung der Identität und Eigenständigkeit der arabisch-islamischen Welt aufgefaßt worden. Die Spuren ver­ sagter Anerkennung prägen noch immer die historischen Bezie­ hungen zwischen Okzident und Orient und erst recht das Verhältnis der Ersten zur ehemals Dritten Welt. Bereits diese flüchtige Sortierung der Phänomene läßt erkennen, daß es sich beim Verfassungsstreit der kanadischen Regierung mit Quebec um einen Grenzfall zwischen (b) und (c) handelt. Unter­ halb der separatistischen Schwelle der Gründung eines eigenen Staates kämpft die frankophone Minderheit offenbar um Rechte, die ihr ohne weiteres zufielen, wenn sie sich - wie jüngst Kroatien, Slowenien oder die Slowakei, die baltischen Staaten oder Georgien - zur unabhängigen Staatsnation erklären würde. Aber sie strebt 248

einen »Staat im Staat« an, wofür sich in einem breiten Spektrum zwischen bundesstaatlichen Regelungen und einem lockeren Staa­ tenbund föderalistische Konstruktionen anbieten. In Kanada ver­ bindet sich mit der Dezentralisierung staatlicher Hoheitsgewalten die Frage der kulturellen Autonomie für eine Minderheit, die im eigenen Haus zur relativen Mehrheit werden möchte. Freilich wür­ den beim Farbwechsel der Mehrheitskultur wiederum neue Min­ derheiten entstehen. Neben den (a) bis (d) unterschiedenen Phänomenen müssen wir auch verschiedene Ebenen ihrer Analyse auseinanderhalten. Tay­ lors Überlegungen berühren mindestens drei Diskurse, die sich an diesen Phänomenen entzündet haben. (e) In der Debatte über Political Correctness bilden solche Phäno­ mene eher den Anlaß für eine Selbstverständigung amerikanischer Intellektueller über den Stellenwert der Moderne.” Keine der bei­ den streitenden Parteien möchte die Moderne als ein unaufgebba­ res Projekt aus sich selbst heraus weiterführen.12 Was für die »Radikalen« einen ermutigenden Schritt in die Postmoderne und zur Überwindung totalisierender Denkfiguren bedeutet, bildet für die »Traditionalisten« ein Zeichen der Krise, die allein durch den beschwörenden Rückgang auf die klassischen Überlieferungen des Abendlandes bewältigt werden kann. Diese Debatte können wir auf sich beruhen lassen, da sie zur Analyse der Anerkennungs­ kämpfe im demokratischen Rechtsstaat wenig und zu deren politi­ scher Lösung so gut wie nichts beiträgt.13

n Vgl. P. Berman (Ed.), Debating P.C., New York 1992; darin auch J.Searle, »Srorm over ihe University«, S.85-123. 12 Vgl. J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfun am Main 1985. 13 So bemerkt A. Gutmann zur dekonstruktivistischen Entlarvungsmethode: »Diese verkürzte Argumentation wird oft zugunsten von Gruppen vorgetragen, die an der Universität unterrepräsentiert und in der Gesellschaft benachteiligt sind, aber cs ist schwer einsehbar, wie sie irgend jemandem von Nutzen sein soll. Logisch wie praktisch untergräbt sie ihr eigenes Fundament. Ihrer inneren Lo­ gik nach läuft die dekonstruktivistische These, intellektuelle Maßstäbe seien nichts anderes als Maskierungen von Machtstreben, darauf hinaus, daß sich auch in ihr ein Machtwille widerspiegelt, nämlich der der Dekonstruktivisten. Aber warum gibt man sich mit intellektuellen Fragen überhaupt ab, die gewiß nicht

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(f) Auf einer anderen Ebene liegen die im engeren Sinne philoso­ phischen Diskurse, die von den genannten Phänomenen ausgehen, um allgemeine Probleme zu beschreiben. Die Phänomene eignen sich gut zur Illustration von Schwierigkeiten der interkulturellen Verständigung; sie beleuchten das Verhältnis von Moral und Sitt­ lichkeit oder die interne Beziehung von Bedeutung und Geltung und geben der alten Frage neue Nahrung, ob wir den Kontext unserer jeweiligen Sprache und Kultur überhaupt transzendieren können oder ob alle Rationalitätsstandards bestimmten Weltbil­ dern und Traditionen verhaftet bleiben. Die überwältigenden Evi­ denzen der Zersplitterung multikultureller Gesellschaften und der babylonischen Sprachverwirrung in einer überkomplexen Weltge­ sellschaft scheinen uns zu holistischen Sprach- und kontextualistischen Weltbildkonzepten zu nötigen, die gegenüber allen universa­ listischen Ansprüchen, ob kognitiver oder normativer Art, skeptisch stimmen. Die verzweigte und einstweilen noch offene Rationalitätsdebatte hat gewiß auch Konsequenzen für die Begriffe des Guten und des Gerechten, mit denen wir operieren, wenn wir die Bedingungen einer »Politik der Anerkennung« untersuchen. Aber Taylors Vorschlag selbst hat eine andere Referenz; er liegt auf der Bezugsebene von Recht und Politik. (g) Die Frage nach dem »Recht« oder den »Rechten« beleidigter und mißachteter Minoritäten gewinnt damit einen juristischen Sinn. Politische Entscheidungen bedienen sich der Regelungsform des positiven Rechts, um in komplexen Gesellschaften überhaupt wirksam zu werden. Mit dem Medium des Rechts stoßen wir aber auf eine artifizielle Struktur, mit der bestimmte normative Vorent­ scheidungen verbunden sind. Das moderne Recht ist formal, weil es auf der Prämisse beruht, daß alles, was nicht explizit verboten ist, erlaubt ist. Es ist individualistisch, weil es die einzelne Person zum Träger von subjektiven Rechten macht. Es ist zwingendes Recht, weil es staatlich sanktioniert und sich nur auf legales oder regelkonformes Verhaken erstreckt - z. B. die Religionsausübung

den schnellsten und sichersten und nicht einmal den angenehmsten Weg zur politischen Macht weisen, wenn man wirklich nichts anderes im Sinne hat als diese?« Ch. Taylor u.a., Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt am Main 1993, S. 139. 25O

freistellen, aber keine Gesinnung vorschreiben kann. Es ist positi­ ves Recht, weil es auf die — änderbaren - Beschlüsse eines politi­ schen Gesetzgebers zurückgeht, und es ist schließlich prozedural gesatztes Recht, weil es durch ein demokratisches Verfahren legiti­ miert wird. Das positive Recht fordert zwar nur legales Verhalten, muß aber legitim sein: obwohl es die Motive des Rechtsgehorsams freistellt, muß es so beschaffen sein, daß es von den Adressaten jederzeit auch aus Achtung vor dem Gesetz befolgt werden kann. Eine Rechtsordnung ist dann legitim, wenn sie gleichmäßig die Autonomie aller Bürger sichert. Autonom sind diese nur, wenn sich die Adressaten des Rechts zugleich als dessen Autoren verste­ hen können. Und frei sind die Autoren nur als Teilnehmer an Gesetzgebungsprozessen, die so geregelt sind und sich in solchen Kommunikationsformen vollziehen, daß alle unterstellen dürfen, die derart beschlossenen Regelungen verdienten allgemeine und ra­ tional motivierte Zustimmung. Normativ gesehen, gibt es keinen Rechtsstaat ohne Demokratie. Da andererseits der demokratische Prozeß selbst rechtlich institutionalisiert sein muß, erfordert um­ gekehrt das Prinzip der Volkssouveränität jene Grundrechte, ohne die es legitimes Recht überhaupt nicht geben kann: in erster Linie das Recht auf gleiche subjektive Handlungsfreiheiten, welches sei­ nerseits umfassenden individuellen Rechtsschutz voraussetzt. Sobald wir ein Problem als Rechtsproblem behandeln, bringen wir mithin einen Begriff des modernen Rechts ins Spiel, der uns - allein aus konzeptuellen Gründen - dazu nötigt, mit der voraussetzungs­ reichen Architektonik des Rechtsstaats zu operieren. Das hat auch Konsequenzen für die Behandlung des Problems der rechtlichen Gleichstellung und gleichen Anerkennung von kulturell definier­ ten Gruppen, also von Kollektiven, die sich durch Tradition, Lebensform, ethnische Abstammung usw. von anderen Kollekti­ ven unterscheiden - und deren Angehörige sich um der Erhaltung und Entfaltung ihrer Identität willen von allen übrigen Kollektiven unterscheiden wollen.

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Die ethische Imprägnierung des Rechtsstaats Aus rechtstheoretischer Sicht wirft der Multikulturalismus in er­ ster Linie die Frage der ethischen Neutralität von Rechtsordnung und Politik auf. Dabei nenne ich »ethisch« alle die Fragen, die sich auf Konzeptionen des guten oder nicht-verfehlten Lebens bezie­ hen. Ethische Fragen lassen sich nicht unter dem »moralischen« Gesichtspunkt beurteilen, ob etwas »gleichermaßen gut für alle« ist; die unparteiliche Beurteilung dieser Fragen bemißt sich viel­ mehr, auf der Basis starker Wertungen, am Selbstverständnis und dem perspektivischen Lebensentwurf partikularer Gruppen, also an dem, was aus ihrer Sicht aufs Ganze gesehen »gut ist für uns«. Ethischen Fragen ist die Referenz zur ersten Person und damit der Bezug zur Identität (eines Einzelnen oder) einer Gruppe gramma­ tisch eingeschrieben. Am Beispiel des kanadischen Verfassungs­ streits will ich die liberale Forderung der ethischen Neutralität des Rechts zunächst im Hinblick auf das ethisch-politische Selbstverständnis einer Nation von Staatsbürgern betrachten. Die Neutralität des Rechts - und des demokratischen Verfahrens der Rechtsetzung - wird gelegentlich so verstanden, als ob politi­ sche Fragen der ethischen Art durch »gag rules« von der Agenda ferngehalten und der Diskussion entzogen werden müßten, weil sie der unparteilichen rechtlichen Regelung unzugänglich seien. So soll der Staat (im Sinne des Liberalismus i) jenseits der Gewährlei­ stung der privaten Freiheit wie der persönlichen Wohlfahrt und Sicherheit seiner Bürger keine kollektiven Ziele verfolgen dürfen. Das Gegenmodell (im Sinne des Liberalismus z) erwartet hingegen vom Staat, daß er diese Grundrechte zwar im allgemeinen gewähr­ leistet, sich aber darüber hinaus auch für das Überleben und die Förderung einer »bestimmten Nation, Kultur oder Religion bzw. einer begrenzten Anzahl von Nationen, Kulturen und Religionen« einsetzt. Auch nach Michael Walzer ist dieses Modell grundlegend; es erlaubt freilich, daß sich die Bürger unter Umständen auch für den Vorrang individueller Rechte entscheiden. Dabei teilt Walzer die Prämisse, daß Kollisionen zwischen beiden normativen Grund­ orientierungen durchaus möglich sind und daß in solchen Fällen nur der Liberalismus z eine Entscheidung für die Berücksichtigung

und den relativen Vorrang kollektiver Ziele und Identitäten zuläßt. Nun behauptet die Theorie der Rechte in der Tat einen absoluten Vorrang der Rechte vor kollektiven Gütern, so daß Zielsetzungsar­ gumente, wie Dworkin zeigt, nur dann subjektive Rechtsansprü­ che »übertrumpfen« dürfen, wenn diese ihrerseits im Lichte vorrangiger Rechte begründet werden können.14 Aber das allein stützt noch nicht die von Taylor und Walzer geteilte kommunitaristische Auffassung, daß das System der Rechte gegenüber Ansprü­ chen auf den Schutz kultureller Lebensformen und kollektiver Identitäten blind, insofern »gleichmacherisch« und der Korrektur bedürftig sei. Am Beispiel feministischer Gleichstellungspolitiken haben wir ge­ zeigt, was allgemein gilt: daß die demokratische Ausgestaltung des Systems der Rechte nicht nur allgemein politische Zielsetzungen, sondern auch solche kollektiven Ziele aufnimmt, die sich in Aner­ kennungskämpfen artikulieren. Denn im Unterschied zu Moral­ normen, die mögliche Interaktionen zwischen sprach- und hand­ lungsfähigen Subjekten überhaupt regeln, beziehen sich Rechts­ normen auf die Interaktionszusammenhänge einer konkreten Gesellschaft. Rechtsnormen gehen zurück auf Beschlüsse eines lo­ kalen Gesetzgebers, erstrecken sich innerhalb eines geographisch bestimmten Staatsgebiets auf ein sozial abgegrenztes Kollektiv von Staatsangehörigen und bringen innerhalb dieses wohlumschriebe­ nen Geltungsbereichs politische Entscheidungen, mit denen die staatlich organisierte Gesellschaft auf sich selbst einwirkt, in die Form kollektiv verbindlicher Programme. Gewiß darf die Berück­ sichtigung kollektiver Ziele die Struktur des Rechts nicht auflösen, sie darf nicht die Rechts/orm als solche zerstören und damit die Differenz zwischen Recht und Politik aufheben. Aber es liegt in der konkreten Natur regelungsbedürftiger Materien, daß sich die Normierung von Verhaltensweisen im Medium des Rechts - anders als in der Moral - für die Zielsetzungen des politischen Willens einer Gesellschaft öffnet. Deshalb ist jede Rechtsordnung auch der Ausdruck einer partikularen Lebensform, nicht nur eine Spiege14 Vgl. R.Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfun am Main 1984, S. 158 ff.

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lung des universellen Gehalts der Grundrechte. Gewiß müssen sich die Entscheidungen des politischen Gesetzgebers als Verwirkli­ chung, seine Politiken als Ausgestaltung des Systems der Rechte verstehen lassen; aber je konkreter der Zuschnitt der Materie ist, um so mehr drückt sich in der Akzeptabilität einer entsprechenden rechtlichen Regelung auch das Selbstverständnis eines Kollektivs und seiner Lebensform (sowie der Ausgleich zwischen konkurrie­ renden Gruppeninteressen und die informierte Wahl zwischen alternativen Zielen und Mitteln) aus. Das zeigt sich am weiten Spektrum jener Gründe, die in die rationale Meinungs- und Wil­ lensbildung des politischen Gesetzgebers eingehen - neben morali­ schen Erwägungen, pragmatischen Überlegungen und den Ergeb­ nissen fairer Verhandlungen gehen eben auch ethische Gründe in die Beratungen und Rechtfertigungen legislativer Entscheidungen ein. Soweit die politische Meinungs- und Willensbildung der Bürger an der Idee der Verwirklichung von Rechten orientiert ist, darf sie gewiß nicht, wie es die Kommunitaristen Vorschlägen, mit einer ethisch-politischen Selbstverständigung gleichgesetzt werden15; aber der Prozeß der Rechtsverwirklichung ist in Kontexte eingelas­ sen, die als einen wichtigen Bestandteil der Politik eben auch Selbstverständigungsdiskurse erfordern - Diskussionen über eine gemeinsame Konzeption des Guten und die gewünschte, als au­ thentisch anerkannte Lebensform. Das sind Auseinandersetzun­ gen, in denen sich die Beteiligten z. B. darüber klarwerden, wie sie sich als Bürger einer bestimmten Republik, als Bewohner einer bestimmten Region, als Erben einer bestimmten Kultur verstehen wollen, welche Traditionen sie fortsetzen oder abbrechen, wie sie mit ihrem historischen Schicksal, wie sie miteinander und mit der Natur umgehen wollen usw. Und natürlich berührt die Wahl der Amtssprache oder die Entscheidung über das Curriculum öffent­ licher Schulen das ethische Selbstverständnis einer Nation. Weil ethisch-politische Fragen ein unvermeidlicher Bestandteil der Poli­ tik sind und weil entsprechende Regelungen die kollektive Identi­ tät der Staatsbürgernation zum Ausdruck bringen, können sich an ij

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Vgl. R.Beincr, PoliticalJadgement, Chicago 1983, S. 138.

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ihnen Kulturkämpfe entzünden, in denen sich mißachtete Minori­ täten gegen eine unempfindliche Mehrheitskultur zur Wehr setzen. Auslöser ist nicht die ethische Neutralität der staatlichen Rechts­ ordnung, sondern die unvermeidliche ethische Imprägnierung je­ der Rechtsgemeinschaft und jedes demokratischen Prozesses der Verwirklichung von Grundrechten. Davon zeugen beispielsweise die institutionellen Garantien, die die christlichen Kirchen - trotz Religionsfreiheit - in Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland genießen, oder die neuerdings umstrittene Statusgarantie, die hier die Verfassung der Familie im Unterschied zu eheähnlichen Le­ bensgemeinschaften einräumt. In unserem Zusammenhang ist von Interesse, daß solche ethisch­ politischen Entscheidungen, empirisch wie normativ betrachtet, von einer kontingenten Zusammensetzung der Staatsnation abhän­ gen. Die soziale Abgrenzung des Staatsvolkes ergibt sich aus historischen Umständen, die dem System der Rechte und den Prin­ zipien des Rechtsstaates äußerlich sind. Sie entscheidet über die Grundgesamtheit der Personen, die auf einem Territorium Zusam­ menleben und die durch die Verfassung, d.h. den Entschluß der Gründungsväter, ihr Zusammenleben mit Mitteln des positiven Rechts legitim zu regeln, gebunden sind; als Nachgeborene haben sie implizit (als eingewanderte Staatsbürger sogar explizit) zuge­ stimmt, ein vorgefundenes Verfassungsprojekt fortzuführen. Nun verkörpern aber die Personen, aus denen sich zu einem gegebenen Zeitpunkt eine Staatsnation zusammensetzt, mit ihren Sozialisa­ tionsprozessen zugleich die kulturellen Lebensformen, in denen sich ihre Identität ausgebildet hat - selbst dann noch, wenn sie sich von den Traditionen ihrer Herkunft inzwischen gelöst haben. Die Personen, oder besser: ihre Persönlichkeitsstrukturen, bilden gleichsam Knotenpunkte in einem askriptiven Netzwerk von Kul­ turen und Überlieferungen, von intersubjektiv geteilten Erfahrungs- und Lebenszusammenhängen. Und dieser Kontext ist auch der Horizont innerhalb dessen die Staatsbürger, ob sie es wollen oder nicht, ihre ethisch-politischen Selbstverständigungsdiskurse führen. Ändert sich die Grundgesamtheit der Bürger, so ändert sich auch dieser Horizont, so daß über dieselben Fragen andere Diskurse geführt und andere Ergebnisse erzielt werden. Dieser U5

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Umstand ist nationalen Minderheiten wenigstens intuitiv bewußt und bildet ein wichtiges Motiv, einen eigenen Staat zu fordern oder, wie im inzwischen gescheiterten Verfassungsentwurf von Meech Lake, zu verlangen, als »distinctive society« anerkannt zu werden. Würde sich die frankophone Minderheit als eigene Rechts­ gemeinschaft konstituieren, würde sie in wichtigen ethisch-politi­ schen Fragen auf demselben demokratischen Wege andere Mehr­ heiten bilden und zu anderen Regelungen gelangen als bislang die Kanadier in ihrer Gesamtheit. Wie die Geschichte der Nationalstaatsbildung zeigt16, entstehen freilich mit neuen Staatsgrenzen nur neue nationale Minderheiten; das Problem verschwindet nicht, es sei denn um den - politisch­ moralisch nicht zu rechtfertigenden - Preis »ethnischer Säuberun­ gen«. Am Beispiel der Kurden, die über fünf verschiedene Staaten verstreut leben, oder am Beispiel Bosnien-Herzegowinas, wo sich die ethnischen Gruppen erbarmungslos bekämpfen, läßt sich die Zwiespältigkeit des »Rechts« auf nationale Selbstbestimmung deutlich demonstrieren. Einerseits erringt ein Kollektiv, das sich als eine Gemeinschaft mit eigener Identität versteht, mit dem Schritt zur Eigenstaatlichkeit eine neue Stufe der Anerkennung, die ihr als vorpolitischer Sprach- und Abstammungsgemeinschaft, selbst als eingemeindeter oder zersplitterter »Kulturnation« ver­ sagt bleibt. Das Bedürfnis, als Staatsnation anerkannt zu werden, verstärkt sich zumal in Zeiten der Krise, wenn sich - wie nach der Auflösung des Sowjet-Imperiums - die Bevölkerung an die askriptiven Merkmale einer regressiv erneuerten kollektiven Identität klammert. Dieser Halt verspricht fragwürdige Kompensationen für begründete Zukunftsängste und soziale Verunsicherungen. Auf der anderen Seite ist die nationale Unabhängigkeit oft nur um den Preis von Bürgerkriegen, neuen Repressionen oder von Folgepro­ blemen zu haben, welche die Ausgangskonflikte mit umgekehrtem Vorzeichen perpetuieren. Anders liegen die Dinge in Kanada, wo man vernünftigerweise nach einer föderalistischen Lösung sucht, die den Gesamtstaat in­ takt läßt, aber die kulturelle Autonomie eines Teiles durch Dezen-

i6 Vgl. P. Alter, Nationalismus, Frankfurt am Main 1985. 256

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tralisicrung staatlicher Kompetenzen sichern möchte.17 Dadurch verändern sich auf bestimmten Politikfeldern die Grundgesamthei­ ten der am demokratischen Prozeß beteiligten Bürger, nicht jedoch dessen Prinzipien. Denn die Theorie der Rechte verbietet den Bür­ gern des demokratischen Rechtsstaates keineswegs, in ihrer ge­ samtstaatlichen Ordnung eine Konzeption des Guten zur Geltung zu bringen, die sie entweder von Haus aus schon teilen oder auf die sie sich in politischen Diskursen einigen; allerdings verbietet sie innerhalb des Staates die Privilegierung einer Lebensform auf Ko­ sten anderer. In föderalen Staatskonstruktionen gilt das sowohl für die bundes- wie für die einzelstaatliche Ebene. Wenn ich recht sehe, geht in Kanada der Streit nicht um dieses Prinzip der Gleichbe­ rechtigung, sondern um die Art und das Maß der staatlichen Kompetenzen, die auf die Provinz Quebec übertragen werden sol­ len.

Gleichberechtigte Koexistenz vs. Artenschutz Der Weg der Föderalisierung bietet sich freilich nur dann als Lö­ sung an, wenn sich die Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen und kultureller Lebenswelten mehr oder weniger territo­ rial voneinander abgrenzen lassen. Das ist in multikulturellen Gesellschaften wie den USA nicht der Fall; ebensowenig wird es der Fall sein für Länder, in denen sich (wie in der Bundesrepublik) unter dem Druck der weltweiten Immigrationsströme die ethni­ sche Zusammensetzung der Bevölkerung ändert. Auch ein kultu­ rell autonom gewordenes Quebec würde sich in derselben Lage befinden und lediglich eine französische gegen eine englische Mehrheitskultur eingetauscht haben. Nehmen wir einmal an, daß in solchen multikulturellen Gesellschaften, vor dem Hintergrund einer liberalen Kultur und auf der Basis freiwilliger Assoziationen, eine gut funktionierende Öffentlichkeit mit nicht-vermachteten Kommunikationsstrukturen, welche Selbstverständigungsdiskurse ermöglichen und fördern, besteht. Dann kann sich der demokrati-

17 Ich habe diesen Beitrag zu Beginn des Jahres 1993 abgefaßt. U7

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sehe Prozeß der Verwirklichung gleicher subjektiver Rechte auch auf die Gewährleistung der gleichberechtigten Koexistenz ver­ schiedener ethnischer Gruppen und ihrer kulturellen Lebensfor­ men erstrecken. Dafür bedarf es keiner speziellen Begründung und keines konkurrierenden Grundsatzes. Denn die Integrität der ein­ zelnen Rechtsperson kann, normativ betrachtet, nicht ohne den Schutz jener intersubjektiv geteilten Erfahrungs- und Lebenszu­ sammenhänge garantiert werden, in denen sie sozialisiert worden ist und ihre Identität ausgebildet hat. Die Identität des Einzelnen ist mit kollektiven Identitäten verwoben und kann nur in einem kulturellen Netzwerk stabilisiert werden, das sowenig wie die Muttersprache selbst als ein privater Besitz angeeignet wird. Des­ halb bleibt zwar das Individuum im Sinne von W. Kymlicka18 der Träger von entsprechenden »Rechten auf kulturelle Mitglied­ schaft«; aber daraus ergeben sich im Zuge der Dialektik von rechtlicher und faktischer Gleichheit weitreichende Statusgaran­ tien, Rechte auf Selbstverwaltung, infrastrukturelle Leistungen, Subventionen usw. Bedrohte Ureinwohnerkulturen können zu ihrer Unterstützung besondere moralische Gründe aus der Ge­ schichte eines inzwischen von der Mehrheitskultur eingenomme­ nen Landes geltend machen. Ähnliche Argumente für eine »um­ gekehrte Diskriminierung« lassen sich für lange unterdrückte und verleugnete Kulturen ehemaliger Sklaven anführen. Diese und ähnliche Verpflichtungen resultieren aus 7?ecZ>tsansprüchen und keineswegs aus einer allgemeinen Wertschätzung der jeweiligen Kultur. Taylors Politik der Anerkennung stünde auf schwachen Füßen, wenn sie von der »Unterstellung des gleichen Werts« der Kulturen und ihrer jeweiligen Beiträge zur Weltzivilisa­ tion abhängig wäre. Das Recht auf gleichen Respekt, den jeder auch in seinen identitätsbildenden Lebenszusammenhängen bean­ spruchen darf, hat nichts mit der vermuteten Exzellenz seiner Herkunftskultur, also mit allgemein goutierten Leistungen zu tun. Das betont auch Susan Wolf: »zumindest ein massiver Schaden, der durch Nicht-Anerkennung perpetuiert ist, hat wenig mit der Frage zu tun, ob der Mensch oder die Kultur, denen die Anerkennung

18 W. Kymlicka, Libcralism, Community and Culture, Oxford 1989. 258

versagt bleibt, allen Menschen etwas Wichtiges zu sagen hat. Die Notwendigkeit, diesen Schaden zu beheben, ergibt sich nicht aus der Annahme oder aus der Bestätigung der Annahme, daß eine bestimmte Kultur für Menschen, die ihr nicht angehören, einen besonderen Wert besitzt.«19 Insofern braucht die gleichberechtigte Koexistenz verschiedener ethnischer Gruppen und ihrer kulturellen Lebensformen nicht durch die Sorte von kollektiven Rechten gesichert zu werden, die eine auf individuelle Bezugspersonen zugeschnittene Theorie der Rechte überfordern müßte. Selbst wenn solche Gruppenrechte im demokratischen Rechtsstaat zugelassen werden könnten, wären sie nicht nur unnötig, sondern normativ fragwürdig. Denn der Schutz von identitätsbildenden Lebensformen und Traditionen soll ja letztlich der Anerkennung ihrer Mitglieder dienen; er hat keines­ wegs den Sinn eines administrativen Artenschutzes. Der ökologi­ sche Gesichtspunkt der Konservierung von Arten läßt sich nicht auf Kulturen übertragen. Kulturelle Überlieferungen und die in ihnen artikulierten Lebensformen reproduzieren sich normaler­ weise dadurch, daß sie diejenigen, die sie ergreifen und in ihren Persönlichkeitsstrukturen prägen, von sich überzeugen, d.h. zur produktiven Aneignung und Fortführung motivieren. Rechtsstaat­ lich kann diese hermeneutische Leistung der kulturellen Repro­ duktion von Lebenswelten nur ermöglicht werden. Eine Überle­ bensgarantie müßte nämlich den Angehörigen genau die Freiheit des Ja- und Neinsagens rauben, die heute für die Inbesitznahme und Bewahrung eines kulturellen Erbes nötig ist. Unter den Bedin­ gungen einer reflexiv gewordenen Kultur können sich nur solche Traditionen und Lebensformen erhalten, die ihre Angehörigen bin­ den, obwohl sie sich ihrer kritischen Prüfung aussetzen und den Nachwachsenden die Option belassen, von anderen Traditionen zu lernen oder zu konvertieren und zu neuen Ufern aufzubrechen. Das gilt selbst für relativ geschlossene Sekten wie die Pennsylvania Amish.20 Auch wenn wir das Ziel für sinnvoll hielten, Kulturen 19 Ch. Taylor u.a, (1993), S. 84. ao Vgl. die Entscheidung des Supremc Court im Fall Wisconsin vs. Yoder, 406 U. S. ao5 (1972). 2S9

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unter Artenschutz zu stellen, wären die hermeneutischen Bedin­ gungen für eine aussichtsreiche Reproduktion unvereinbar mit dem Ziel - »to maintain and cherish distinctness, not just now but forever*. Dazu braucht man sich nicht nur jene vielen Subkulturen und Le­ benswelten in Erinnerung zu rufen, die etwa in der berufsständisch stratifizierten frühbürgerlichen Gesellschaft der europäischen Neuzeit geblüht haben, oder an die Lebensformen der ländlichen Tagelöhner und der proletarisch entwurzelten städtischen Massen der ersten Industrialisierungsphase, die ihnen gefolgt sind. Sie sind gewiß auf gewaltsame Weise vom Modernisierungsprozeß erfaßt und zermahlen worden; aber keineswegs alle haben ihren Meister Anton gefunden und sind von ihren Angehörigen gegen die Alter­ nativen der neuen Zeit aus Überzeugung verteidigt worden. Le­ bensformen, die kulturell stark und attraktiv genug waren, um den Willen zur Selbstbehauptung zu stimulieren, haben sich, wie viel­ leicht die stadtbürgerliche Kultur des 19. Jahrhunderts, in einigen ihrer Züge allein durch die Kraft zur Selbsttransformation erhalten können. Selbst eine Mehrheitskultur, die sich nicht bedroht sieht, bewahrt ihre Vitalität einzig durch einen rückhaltlosen Revisionis­ mus, durch den Entwurf von Alternativen zum Bisherigen oder durch die Integration fremder Impulse - bis hin zum Bruch mit eigenen Überlieferungen. Das gilt erst recht für Einwanderungs­ kulturen, die zunächst durch den assimilatorischen Druck der neuen Umgebung zur eigensinnigen ethnischen Abgrenzung und zur Wiederbelebung traditionaler Elemente herausgefordert wer­ den, aber daraus alsbald eine Lebensweise formen, die von Assimi­ lation und Herkommen gleich weit entfernt ist.21 In multikulturellen Gesellschaften bedeutet die gleichberechtigte Koexistenz der Lebensformen für jeden Bürger eine gesicherte Chance, ungekränkt in einer kulturellen Herkunftswelt aufzu­ wachsen und seine Kinder darin aufwachsen zu lassen, d. h., die Chance, sich mit dieser Kultur - wie mit jeder anderen - auseinan­ derzusetzen, sie konventionell fortzusetzen oder sie zu transfor­ mieren, auch die Chance, sich von ihren Imperativen gleichgültig

I 21 Vgl. D. Cohn-Bcndit, Th. Schmid, Heimat Babylon, Hamburg 1992, S. 316 ff. i6o

abzuwenden oder selbstkritisch loszusagen, um fortan mit dem Stachel eines bewußt vollzogenen Traditionsbruchs oder gar mit gespaltener Identität zu leben. Der beschleunigte Wandel moder­ ner Gesellschaften sprengt alle stationären Lebensformen. Kultu­ ren bleiben nur am Leben, wenn sie aus Kritik und Sezession die Kraft zur Selbsttransformation ziehen. Rechtliche Garantien kön­ nen sich immer nur darauf stützen, daß jeder in seinem kulturellen Milieu die Möglichkeit behält, diese Kraft zu regenerieren. Und diese wiederum erwächst nicht nur aus der Abgrenzung von, son­ dern mindestens ebensosehr aus dem Austausch mit Fremden und Fremdem. In der Moderne fallen rigide Lebensformen der Entropie anheim. Fundamentalistische Bewegungen lassen sich als der ironische Ver­ such begreifen, der eigenen Lebenswelt mit restaurativen Mitteln Ultrastabilität zu verleihen. Die Ironie besteht im Selbstmißver­ ständnis eines Traditionalismus, der ja erst aus dem Sog gesell­ schaftlicher Modernisierung hervorgeht und eine zerfallene Substantialität nachahmt. Als Reaktion auf den überwältigenden Modernisierungsschub stellt der Fundamentalismus eine durch und durch moderne Erneuerungsbewegung dar. Auch Nationalis­ mus kann in Fundamentalismus umschlagen, darf aber mit ihm nicht verwechselt werden. Der Nationalismus der Französischen Revolution hat sich mit den universalistischen Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates verbündet; damals waren Nationa­ lismus und Republikanismus Zwillinge. Andererseits werden auch die gefestigten Demokratien des Westens, nicht nur Gesellschaften im Umbruch, von fundamentalistischen Bewegungen heimgesucht. Alle Weltreligionen haben ihren eigenen Fundamentalismus her­ vorgebracht, obwohl bei weitem nicht alle Sektenbewegungen solche Züge aufweisen. Wie der Fall Rushdie in Erinnerung gerufen hat, ist ein Fundamen­ talismus, der zu einer intoleranten Praxis führt, mit dem Rechts­ staat unvereinbar. Diese Praxis stützt sich auf religiöse oder geschichtsphilosophische Weltdeutungen, die für eine privilegierte Lebensform Exklusivität in Anspruch nehmen. Solchen Auffas­ sungen fehlt das Bewußtsein der Fallibilität ihres Geltungsan­ spruchs und der Respekt vor den »Bürden der Vernunft« (John 261

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Rawls). Natürlich müssen sich globale Weltdeutungen und reli­ giöse Überzeugungen nicht mit einem Fallibilismus von der Art verbinden, wie er heute das hypothetische Wissen der Erfahrungs­ wissenschaften begleitet. Aber fundamentalistische Weltbilder sind dogmatisch in einem anderen Sinne: Sie lassen keinen Spielraum für eine Reflexion auf ihre Beziehung zu fremden Weltbildern, mit denen sie dasselbe Diskursuniversum teilen und gegen deren kon­ kurrierende Geltungsansprüche sie sich nur mit Gründen behaup­ ten können. Sie lassen keinen Platz für »reasonable disagreement«.22 Demgegenüber sind die subjektivierten Glaubensmächte der mo­ dernen Welt durch eine reflexive Einstellung ausgezeichnet, die nicht nur einen - unter Bedingungen der Religionsfreiheit rechtlich erzwingbaren - modus vivendi erlaubt. Die nicht-fundamentalisti­ schen Weltbilder, die Rawls als »not unreasonable comprehensive doctrines« bezeichnet23, erlauben vielmehr - im Geiste Lessingscher Toleranz - einen zivilisierten Streit der Überzeugungen, in dem eine Partei ohne Preisgabe des eigenen Geltungsanspruchs die anderen Parteien als Mitstreiter um authentische Wahrheiten aner­ kennen kann. In multikulturellen Gesellschaften kann die rechts­ staatliche Verfassung nur Lebensformen tolerieren, die sich im Medium solcher nicht-fundamentalistischen Überlieferungen arti­ kulieren, weil die gleichberechtigte Koexistenz dieser Lebensfor­ men die gegenseitige Anerkennung der verschiedenen kulturellen Mitgliedschaften verlangt: Eine Person muß auch als Mitglied einer Gemeinschaft anerkannt werden, die um eine jeweils andere Kon­ zeption des Guten integriert ist. Die ethische Integration von Gruppen und Subkulturen mit je eigener kollektiver Identität muß also von der Ebene der abstrakten, alle Staatsbürger gleichmäßig erfassenden politischen Integration entkoppelt werden. Die Integration der Staatsbürger sichert Loyalität gegenüber der gemeinsamen politischen Kultur. Diese wurzelt in einer Interpre­ tation der Verfassungsprinzipien, die jede Staatsnation aus der Sicht

22 J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt am Main 1992, S. 204208.

25 J. Rawls, »Der Gedanke eines übergreifenden Kosenses«, in: ders., Die Idee des Politischen Liberalismus, Frankfurt am Main 1992, S. 293-332. 26z

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ihres historischen Erfahrungszusammenhangs vornimmt und die insofern selbst ethisch nicht neutral sein kann. Vielleicht sollte man besser von einem gemeinsamen InterpretationsZ>onzont sprechen, innerhalb dessen aus aktuellen Anlässen öffentlich um das politi­ sche Selbstverständnis der Bürger einer Republik gestritten wird. Der in der Bundesrepublik geführte Historikerstreit der Jahre 1986/87 ist dafür ein gutes Beispiel.24 Aber gestritten wird stets über die beste Interpretation derselben Grundrechte und Prinzi­ pien. Diese bilden den festen Bezugspunkt eines jeden Verfassungs­ patriotismus, der das System der Rechte im historischen Kontext der Rechtsgemeinschaft situiert. Sic müssen mit Motiven und Ge­ sinnungen der Bürger eine dauerhafte Verbindung eingehen; denn ohne eine solche motivationale Verankerung könnten sie nicht zur treibenden Kraft für das dynamisch verstandene Projekt der Her­ stellung einer Assoziation von Freien und Gleichen werden. Des­ halb ist auch die gemeinsame politische Kultur, in der sich die Staatsbürger als Mitglieder ihres Gemeinwesens wiedererkennen, ethisch imprägniert. Gleichzeitig darf der ethische Gehalt des Verfassungspatriotismus die Neutralität der Rechtsordnung gegenüber den auf subpoliti­ scher Ebene ethisch integrierten Gemeinschaften nicht beeinträch­ tigen; er muß vielmehr den Sinn für die differentielle Vielfalt und die Integrität der verschiedenen koexistierenden Lebensformen einer multikulturellen Gesellschaft schärfen. Entscheidend ist die Aufrechterhaltung der Differenz zwischen den beiden Ebenen der Integration. Sobald diese zusammenfallen, usurpiert die Mehr­ heitskultur staatliche Privilegien auf Kosten der Gleichberechti­ gung anderer kultureller Lebensformen und beleidigt deren An­ spruch auf reziproke Anerkennung. Die Neutralität des Rechts gegenüber ethischen Differenzierungen im Inneren erklärt sich schon daraus, daß in komplexen Gesellschaften die Gesamtheit der Bürger nicht mehr durch einen substantiellen Wertekonsens zu­ sammengehalten werden kann, sondern nur noch durch einen Konsens über das Verfahren legitimer Rechtsetzung und Macht­ ausübung. Die politisch integrierten Bürger teilen die rational 24 Vgl. J. Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, Frankfun am Main 1987. 263

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motivierte Überzeugung, daß die Entfesselung kommunikativer Freiheiten in der politischen Öffentlichkeit, das demokratische Verfahren der Austragung von Konflikten und die rechtsstaatliche Kanalisierung der Herrschaft eine Aussicht auf die Bändigung ille­ gitimer Macht und auf die Verwendung administrativer Macht im gleichmäßigen Interesse aller begründen. Der Universalismus der Rechtsprinzipien spiegelt sich in einem prozeduralen Konsens, der freilich in den Kontext einer jeweils historisch bestimmten politi­ schen Kultur sozusagen verfassungspatriotisch eingebettet sein muß.

Immigration, Staatsbürgerschaft und nationale Identität

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Juristen haben den Vorzug, normative Fragen im Hinblick auf Fälle zu diskutieren, die zur Beschlußfassung anstehen; sie denken anwendungsorientiert. Philosophen entziehen sich diesem dezisionistischen Druck; als Zeitgenossen klassischer Gedanken, die sich über mehr als zweitausend Jahre erstrecken, verstehen sie sich un­ geniert als Teilnehmer am ewigen Gespräch. Um so mehr fasziniert es, wenn dann doch einmal einer wie Charles Taylor versucht, seine Zeit in Gedanken zu fassen und philosophische Einsichten für po­ litisch drängende Fragen des Tages fruchtbar zu machen. Sein Essay ist ein ebenso seltenes wie brillantes Beispiel dieser Art, ob­ wohl (oder besser: weil) er nicht die modischen Pfade einer »ange­ wandten Ethik« beschreitet. In der Bundesrepublik - wie überhaupt in der Europäischen Ge­ meinschaft- steht, nach den Umwälzungen in Mittel- und Osteu­ ropa, ein anderes Thema auf der Tagesordnung: Immigration. Ein holländischer Kollege gelangt nach einer umfassenden Darstellung des Problems zu der ungeschminkten Prognose: »Western European countries ... will do their utmost to prevent Immigration from third countries. To this end they will grant work permits to persons who have skills of immediate relevance to the society in fairly exceptional cases only (soccer players, Software specialists from the US, scholars from India etc.). They will combine a very 264

I j restrictive entry policy with policies aimed at dealing more quickly and effectively with requests for asylum, and with a practice of deporting without delay those whose request has been denied ... The conclusion is, that they will individually and jointly use all means at their disposal to stem the tide.«25 Diese Beschreibung trifft exakt auf den Asylkompromiß zu, den Regierung und Oppo­ sition 1993 in der Bundesrepublik ausgehandelt und verabschiedet haben. Es besteht kein Zweifel, daß diese Politik von der großen Mehrheit der Bevölkerung begrüßt wird. Auch Ausländerfeind­ lichkeit ist heute in den Staaten der EG weit verbreitet. Sie ist in den einzelnen Ländern verschieden stark ausgeprägt; aber die Ein­ stellungen der Deutschen unterscheiden sich nicht erheblich von denen der Franzosen und der Engländer.26 Taylors Beispiel kann uns ermutigen, (auch) aus philosophischer Sicht eine Antwort auf die Frage zu suchen, ob diese Politik der Abschottung gegen Im­ migranten gerechtfertigt ist. Ich möchte die Frage zunächst in abstracto erörtern, sodann auf die deutsche Asyldebatte der Jahre 1992/93 eingehen und deren historischen Hintergrund beleuchten, um schließlich die Alternative zu kennzeichnen, die in einer bis heute nicht offen geführten Debatte über das ethisch-politische Selbstverständnis der erweiterten Bundesrepublik geklärt werden müßte. Obwohl sich das moderne Recht durch bestimmte Formeigen­ schaften von der posttraditionalen Vernunftmoral unterscheidet, stehen das System der Rechte und die Prinzipien des Rechtsstaats aufgrund ihres universalistischen Gehalts mit dieser Moral in Ein­ klang. Gleichzeitig sind Rechtsordnungen, wie wir gesehen haben, insoweit »ethisch imprägniert«, als sich in ihnen der politische Wille und die Lebensform einer konkreten Rechtsgemeinschaft spiegeln. Dafür bieten die USA, deren politische Kultur durch eine 200jährige Verfassungstradition geprägt ist, ein gutes Beispiel. Aber das verrechtlichte Ethos einer Staatsnation kann zu den Bür2; D.J.van de Kaa, »European Migration at the End of Hiscory«, in: European Review, Vol. 1, Jan. 1993, S. 94. 16 Vgl. E. Wiegand, •Ausländerfeindlichkeit in der Festung Europa. Einstellungen zu Fremden im europäischen Vergleich«, in: Informationsdienst Soziale Indika­ toren (ZUMA), Nr. 9, Jan. 1993, S. 1-4. 2«5

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gerrechten nicht in Widerspruch geraten, solange sich der politi­ sche Gesetzgeber an rechtsstaatlichen Grundsätzen und damit an der Idee der Verwirklichung der Grundrechte orientiert. Der ethi­ sche Gehalt einer alle Staatsbürger vereinigenden politischen Inte­ gration muß deshalb »neutral« sein gegenüber den Differenzen, die innerhalb des Staates zwischen den ethisch-kulturellen, um je ei­ gene Konzeptionen des Guten integrierten Gemeinschaften beste­ hen. Ungeachtet der Entkoppelung dieser beiden Integrationsebe­ nen kann eine Nation von Staatsbürgern die Institutionen der Freiheit nur am Leben erhalten, indem sie ein bestimmtes, rechtlich nicht erzwingbares Maß an Loyalität gegenüber dem eigenen Staat ausbildet. Es ist dieses ethisch-politische Selbstverständnis der Nation, das von Einwanderung affiziert wird; denn der Zustrom von Immi­ granten verändert die Zusammensetzung der Bevölkerung auch in ethisch-kultureller Hinsicht. Deshalb stellt sich die Frage, ob nicht der Wunsch nach Immigration seine Grenze findet am Recht eines politischen Gemeinwesens, seine politisch-kulturelle Lebensform intakt zu halten. Schließt nicht das Recht auf Selbstbestimmung unter der Prämisse, daß die autonom ausgestaltete gesamtstaatliche Ordnung ethisch imprägniert ist - das Recht auf Selbstbehauptung der Identität einer Nation ein, und zwar auch gegenüber Immi­ granten, die diese geschichtlich gewachsene politisch-kulturelle Lebensform umprägen könnten? Aus der Perspektive der aufnehmenden Gesellschaft wirft das Pro­ blem der Immigration die Frage nach den legitimen Eintrittsbedin­ gungen auf. Unter Vernachlässigung der Zwischenstufen des Zuzuges können wir die Frage auf den Akt der Einbürgerung zu­ spitzen, mit dem ein Staat die Erweiterung des durch Staatsbürger­ schaftsrechte definierten Gemeinwesens kontrolliert. Unter wel­ chen Bedingungen soll er denen, die einen Anspruch auf Einbürgerung geltend machen, die Staatsangehörigkeit verweigern dürfen? Abgesehen von den üblichen Kautelen (etwa gegen Krimi­ nalität) ist in unserem Zusammenhang vor allem die Frage relevant, in welcher Hinsicht ein demokratischer Rechtsstaat zur Wahrung der Integrität der Lebensform seiner Bürger vom Immigranten ver­ langen darf, daß dieser sich assimiliere. Auf der Abstraktionsebene

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philosophischer Überlegungen können wir zwei Stufen der Assi­ milation unterscheiden: (a) die der Zustimmung zu den Prinzipien der Verfassung innerhalb des Interpretationsspielraumes, der zum gegebenen Zeitpunkt durch das ethisch-politische Selbstverständnis der Bürger und die politische Kultur des Landes bestimmt ist; das bedeutet also eine Assimilation an die Art und Weise, wie in der aufnehmenden Gesell­ schaft die Autonomie der Bürger institutionalisiert ist und wie hier der »öffentliche Gebrauch der Vernunft« (Rawls) praktiziert wird; (b) die weitere Stufe einer Bereitschaft zur Akkulturation, d. h. nicht nur zur äußeren Anpassung an, sondern zur Einübung in die Lebensweise, in die Praktiken und Gewohnheiten der einheimi­ schen Kultur auf ganzer Breite; das bedeutet eine Assimilation, die auf die Ebene ethisch-kultureller Integration durchschlägt und so­ mit die kollektive Identität der Herkunftskultur der Einwanderer tiefergehend berührt als die unter (a) geforderte politische Soziali­ sation. Die Ergebnisse der in den USA bislang praktizierten Einwande­ rungspolitik lassen eine liberale Deutung zu, die die schwächere, auf politische Sozialisation beschränkte Assimilationserwartung beleuchtet.27 Für die zweite Alternative ist die auf Germanisierung gerichtete Phase der (allerdings schwankenden) preußischen Polen­ politik im Bismarck-Reich ein Beispiel.28 Der demokratische Rechtsstaat, der mit der Entkoppelung der bei­ den Integrationsebenen ernst macht, darf von Einwanderern nur die politische Sozialisation im Sinne von (a) verlangen (und prag­ matischerweise von der zweiten Generation erwarten). Auf diese Weise kann er die Identität des Gemeinwesens, die auch durch Im­ migration nicht angetastet werden darf, wahren, weil diese an den in der politischen Kultur verankerten Verfassungsprinzipien und nicht an den ethischen Grundorientierungen einer im Lande vor27 Vgl. M. Walzer, »What does it mean to be an American«, in: Social Research, Vol. 57, Fall 1990, S. 591-614 mit der Feststellung, daß die kommunitaristische Auffassung der komplexen Zusammensetzung einer multikukurellen Gesell­ schaft nicht gerecht wird (S. 613). 28 Vgl. R. Brubakcr, Citizenship and Nalionhood in France and Gennany, Cam­ bridge, Mass., 1992, S. 128 ff. 2«7

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herrschenden kulturellen Lebensform festgemacht ist. Demnach muß von Einwanderern nur die Bereitschaft erwartet werden, sich auf die politische Kultur ihrer neuen Heimat einzulassen, ohne deshalb die kulturelle Lebensform ihrer Herkunft aufgeben zu müssen. Das Recht auf demokratische Selbstbestimmung schließt gewiß das Recht der Bürger ein, auf dem inklusiven Charakter ihrer eigenen politischen Kultur zu bestehen; diese sichert die Ge­ sellschaft vor der Gefahr der Segmentierung - vor der Ausgren­ zung fremder Subkulturen oder dem separatistischen Auseinander­ fallen in beziehungslose Subkulturen. Die politische Integration erstreckt sich allerdings nicht, wie gezeigt, auf fundamentalistische Einwandererkulturen. Sie rechtfertigt aber nicht die erzwungene Assimilation zugunsten der Selbstbehauptung einer im Lande do­ minierenden kulturellen Lebensform.29 Diese rechtsstaatliche Alternative hat zur Folge, daß die legitimer­ weise behauptete Identität des Gemeinwesens in der Folge von Immigrationswellen keineswegs auf Dauer vor Veränderungen be­ wahrt wird. Weil die Einwanderer nicht zur Preisgabe ihrer eigenen Traditionen genötigt werden dürfen, erweitert sich gegebenenfalls mit neu etablierten Lebensformen auch der Horizont, in dem die Bürger alsdann ihre gemeinsamen Verfassungsgrundsätze interpre­ tieren. Dann greift nämlich jener Mechanismus ein, dem zufolge sich mit einer veränderten kulturellen Zusammensetzung der akti­ ven Staatsbürgerschaft auch der Kontext ändert, auf den sich das ethisch-politische Selbstverständnis der Nation im ganzen bezieht: »People live in communities with bonds and bounds, but these may be of different kinds. In a liberal society, the bonds and bounds should be compatible with liberal principles. Open Immigration would change the character of the community, but it would not leave the community without any character.«30 So viel zu den Bedingungen, die ein demokratischer Rechtsstaat für die Aufnahme von Immigranten stellen darf. Aber wer hat über­ haupt ein Recht auf Einwanderung? 29 Vgl. Cohn-Bcndit, Schmid, a.a.O., Kap. 8. 30 J.H. Carens, »Aliens and Citizcns«, in: Review of Polltics, Vol.49, 1987» 27’5 vgl. dazu J. Habermas, »Staatsbürgerschaft und nationale Identität«, in: ders., Faktizität und Geltung, a.a.O., S. 632-660.

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Es gibt gute moralische Gründe für einen individuellen Rechtsan­ spruch auf politisches Asyl (im Sinne von GG Art. 16, der mit Bezugnahme auf den in Art. i garantierten Schutz der Menschen­ würde und in Verbindung mit der in Art. 19 festgelcgten Rechts­ schutzgarantie ausgelegt werden muß). Darauf brauche ich hier nicht einzugehen. Wichtig ist die Definition des Flüchtlings. Ge­ mäß Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention kann als asylbe­ rechtigt jeder gelten, der aus Ländern flieht, »in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörig­ keit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde«. Im Lichte der jüngsten Erfahrungen bedarf diese Definition jedoch einer Erweiterung, die den Schutz von Frauen vor Massenverge­ waltigungen einbezieht. Unproblematisch ist weiterhin der An­ spruch von Flüchtlingen aus Bürgerkriegsgebieten auf die Gewäh­ rung eines zeitlich begrenzten Asyls. Aber die große Masse der Einwanderungswilligen hat seit der Entdeckung Amerikas und erst recht seit der explosiven Zunahme der weltweiten Immigration im 19. Jahrhundert aus Arbeitsimmigranten und Armutsflüchtlingen bestanden, die einer elenden Existenz in der Heimat entkommen wollen. So auch heute. Gegen diese Immigration aus den Armuts­ regionen des Ostens und des Südens wappnet sich der europäische Wohlstandschauvinismus. Unter dem moralischen Gesichtspunkt dürfen wir dieses Problem nicht nur aus der Perspektive der Einwohner wohlhabender und friedlicher Gesellschaften betrachten; wir müssen auch die Per­ spektive derer einnehmen, die in fremden Kontinenten ihr Heil, also ein menschenwürdiges Dasein - und nicht Schutz vor politi­ scher Verfolgung - suchen. Vor allem in der heutigen Situation, wo das Einwanderungsbegehren die Aufnahmebereitschaft ersichtlich übersteigt, stellt sich die Frage, ob über den moralischen Anspruch hinaus ein Rechtsanspruch auf Integration besteht. Für einen moralischen Anspruch lassen sich gute Gründe beibrin­ gen. Menschen verlassen ihre angestammte Heimat normalerweise nicht ohne große Not; zur Dokumentation ihrer Hilfsbedürftig­ keit reicht in der Regel die bloße Tatsache der Flucht aus. Eine moralische Verpflichtung zur Hilfestellung ergibt sich insbeson-

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dere aus den wachsenden Interdependenzen einer Weltgesellschaft, die durch den kapitalistischen Weltmarkt und die elektronische Massenkommunikation so weit zusammengewachsen ist, daß die Vereinten Nationen, wie jüngst das Beispiel Somalia zeigte, so et­ was wie eine politische Gesamtverantwortung für die Lebenssiche­ rung auf dieser Erde übernommen haben. Spezielle Pflichten für die Erste Welt resultieren zudem aus der Geschichte der Kolonia­ lisierung und der Entwurzelung regionaler Kulturen durch den Einbruch der kapitalistischen Modernisierung. Weiterhin läßt sich anführen, daß die Europäer in der Periode zwischen 1800 und 1960 an interkontinentalen Wanderungsbewegungen mit 80 Prozent überproportional beteiligt waren und davon profitiert, d. h. ihre Lebensbedingungen im Vergleich zu anderen Migranten und zu den nicht ausgewanderten Landsleuten verbessert haben. Gleich­ zeitig hat dieser Exodus während des 19. und frühen 20. Jahrhun­ derts die wirtschaftliche Situation ihrer Heimatländer ebenso entschieden verbessert wie umgekehrt die Einwanderung nach Eu­ ropa in der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg.31 Europa war so oder so ein Nutznießer dieser Wanderungsströme. Aus diesen und ähnlichen Gründen rechtfertigt sich zwar nicht die Gewährleistung des einklagbaren individuellen Rechtsanspruchs auf Einwanderung, wohl aber die moralische Verpflichtung zu einer liberalen Einwanderungspolitik, die die eigene Gesellschaft für Immigranten öffnet und die Zuwanderung nach Maßgabe der vorhandenen Kapazitäten steuert. Der abwehrende Slogan »Das Boot ist voll« läßt die Bereitschaft vermissen, auch die Perspektive 31 Vgl. P. C. Emmer, »Intercontinental Migration«, in: European Review, Vol. 1, Jan. 1993, S. 67-74: »After 1800 the dramatic incrcase in the economic growth of Western Europc could only bc maintained as an .escape hatch«. The escape of 61 million Europeans after 1800 allowed the European economies to create such a mix of the factors of production as to allow for record economic growth and to avoid a Situation in which economic growth was absorbed by an increase in population. After the Second World War, Europeans also benefitted from intercontinental migration since the colonial cmpires forccd many colonial subjects to migrate to the metropolis. In this particular period thcre was no danger of overpopulation ... Many of the colonial migrants coming to Europe had been well trained and they arrived at exactly the time whcn skilled labour was at a premium in rebuilding Europe*s economy.« (S. 72 f.)

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der anderen Seite einzunehmen — jener «boat people« beispiels­ weise, die auf kenternden Kähnen dem Terror in Indochina zu entkommen suchten. Die Grenzen der Belastbarkeit sind in den europäischen Gesellschaften, die demographisch schrumpfen und schon aus wirtschaftlichen Gründen nach wie vor auf Immigration angewiesen sind, mit Sicherheit nicht erreicht. Aus der moralischen Begründung einer liberalen Einwanderungspolitik ergibt sich zu­ dem die Verpflichtung, die Einwanderungskontingentc nicht auf die wirtschaftlichen Bedürfnisse des aufnehmenden Landes, also auf »gerngesehene Fachkräfte« zu beschränken, sondern sie nach Kriterien festzulegen, die aus der Sicht aller Beteiligten akzeptabel

sind.

Asylpolitik im vereinigten Deutschland Wenn man von diesen Grundsätzen ausgeht, ist der zwischen Re­ gierung und SPD ausgehandelte Asylkompromiß, der im Frühjahr 1993 in die Tat umgesetzt worden ist, normativ nicht zu rechtferti­ gen. Ohne auf Details eingehen zu können, nenne ich die drei zentralen Fehler und kritisiere die ihnen zugrunde liegende Prä­ misse: (a) Die vorgesehene Regelung beschränkt sich auf das politische Asyl, d. h. auf Maßnahmen gegen den »Mißbrauch« des Asyl­ rechts. Damit wird der Umstand ignoriert, daß die Bundesrepublik eine Einwanderungspolitik braucht, die für Immigranten andere rechtliche Optionen öffnet. Das Problem der Einwanderung wird auf folgenreiche Weise falsch definiert. Wer das Junktim zwischen Fragen des politischen Asyls und der Armutsimmigration auflöst, erklärt nämlich implizit, daß er sich der moralischen Verpflichtung Europas gegenüber Flüchtlingen aus den verelendeten Regionen . dieser Welt entwinden will. Er nimmt statt dessen stillschweigend eine illegale Einwanderung in Kauf, die jederzeit zu innenpoliti­ schen Zwecken als »Asylmißbrauch« instrumentalisiert werden kann. (b) Die in einer Parteienvereinbarung vom 15. Januar 1993 in Aus-

sicht genommene parlamentarische Ergänzung des Grundgesetzes um einen Artikel 16 a höhlt den »Wesensgehalt« des individuellen Rechtsanspruchs auf politisches Asyl aus, weil danach Flüchtlinge, die aus einem sogenannten sicheren Drittstaat einreisen, ohne ein­ gelegten Rechtsbehelf deportiert werden können. Damit wird die Last der Immigration auf Osteuropa, auf unsere Nachbarländer Polen, auf Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Österreich abge­ wälzt, auf Länder also, die auf eine rechtlich einwandfreie Bewälti­ gung dieses Problems in ihrer gegenwärtigen Lage kaum vorberei­ tet sind. Problematisch ist zudem die Einschränkung der Rechts­ schutzgarantie für Flüchtlinge aus Ländern, die aus der Sicht der Bundesrepublik als »verfolgungsfrei« definiert werden.32 (c) Der Asylkompromiß lehnt eine Änderung des Einbürgerungs­ rechts ab, statt den in Deutschland bereits ansässigen Ausländern, insbesondere den angeworbenen »Gastarbeitern«, den Erwerb der Staatsbürgerschaft zu erleichtern. Ihnen wird die aus verständ­ lichen Gründen bevorzugte doppelte Staatsbürgerschaft verwei­ gert; nicht einmal ihre in Deutschland geborenen Kinder erhalten ohne weiteres die Staatsbürgerrechte. Selbst für die Ausländer, die auf ihre bisherige Staatsbürgerschaft verzichten wollen, ist eine Einbürgerung frühestens nach 15 Jahren möglich. Demgegenüber besitzen die sogenannten Volksdeutschen, also vor allem Polen und Russen, die eine deutsche Abstammung nachweisen können, ein grundgesetzlich verbrieftes Recht auf Einbürgerung. Auf dieser Grundlage sind neben den rund 500000 Asylbewerbern des Jahres 1992 (von denen ohnehin 130 000 aus den Bürgerkriegsgebieten des ehemaligen Jugoslawien stammen) 220000 Aussiedler in der Bun­ desrepublik aufgenommen worden. 32 Mit einer verfassungsrechtlich skandalösen Begründung hat der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts am 14. 5.1996 die in der Neufassung des Grund­ rechts auf politisches Asyl vorgesehene »Drittstaatenregelung« sowie die Rege­ lung zur Definition »sicherer Herkunftsstaaten« als verfassungskonform erklärt. Damit tritt ein Grundrecht hinter funktionalen Imperativen, die eine schnelle Abschiebung erfordern, zurück. Heribert Prantl (in der Süddeutschen Zeitung vom 1J./16. Mai 1996): »Die schnelle Abschiebung ist dem Verfassungsgericht wichtiger... als das Asylrecht, wichtiger als die Menschenwürde, wichtiger als der Grundsatz des fairen Verfahrens.«

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(d) Die deutsche Asylpolitik beruht auf der immer wieder bekräf­ tigten Prämisse, daß die Bundesrepublik kein Einwanderungsland sei. Das widerspricht nicht nur dem Augenschein auf den Straßen und in den U-Bahnen unserer Großstädte - Frankfurt hat heute einen Ausländeranteil von 26 Prozent sondern auch den ge­ schichtlichen Tatsachen. Zwar sind seit dem frühen 19. Jahrhunden fast 8 Millionen Deutsche allein in die USA ausgewandert. Aber während der letzten hundert Jahre haben sich zugleich große Ein­ wanderungsbewegungen vollzogen. Bis zum Ersten Weltkrieg ka­ men 1 200000 Arbeitsimmigranten ins Land; der Zweite Weltkrieg hinterließ 12 Millionen »displaced persons« - hauptsächlich Zwangsarbeiter, die aus Polen und der Sowjetunion deportiert worden waren. Auf den Spuren dieser nationalsozialistischen Fremdarbeiterpolitik begann 1955, trotz der relativ hohen Arbeits­ losigkeit im eigenen Lande, die organisierte Anwerbung billiger, alleinstehender, männlicher Arbeitskräfte aus dem süd- und süd­ osteuropäischen Ausland - bis zum Anwerbestopp im Jahre 1973. Heute leben die Familien und Nachkommen der nicht zurückge­ kehrten »Gastarbeiter« in der paradoxen Lage von Immigranten ohne klare Einwanderungsperspektive - als Deutsche mit ausländi­ schem Paß.33 Sie bilden die Masse der 8,2 Prozent Ausländer, die 1990 in der Bundesrepublik lebten. Der Widerstand gegen die volle Integration dieser Ausländer, ohne die der nur noch mit Japan ver­ gleichbare ökonomische Aufschwung nicht möglich gewesen wäre, ist um so unverständlicher, wenn man bedenkt, daß die alte Bun­ desrepublik bis zum selben Zeitpunkt 15 Millionen deutsche und deutschstämmige Flüchtlinge, Übersiedler und Ausländer, also ebenfalls »Neubürger«, integriert hat: »If a foreign population of about 4.8 million is added, nearly one third of the West-German population has resulted from Immigration movements since World War 11.«34 Wenn in der politischen Öffentlichkeit die Behauptung, daß »wir kein Einwanderungsland sind«, gegen diese Evidenzen gleichwohl 33 Vgl. K.J. Bade, »Immigration and Integration in Germany since 1945«, in: European Review, Vol. 1, 1993, S. 75-79. 34 Ebda., S. 77.

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aufrechterhaken werden kann, verrät sich darin eine tieferliegende Mentalität - und die Notwendigkeit eines schmerzhaften Wandels des nationalen Selbstverständnisses. Es ist ja kein Zufall, daß über Einbürgerung nach dem Prinzip der Abstammung entschieden wird und nicht, wie in anderen westlichen Staaten, nach dem Ter­ ritorialprinzip. Man muß die (a) bis (d) beschriebenen Defizite des Umgangs mit dem Problem der Einwanderung in Deutschland vor dem historischen Hintergrund eines auf Kultur und Sprache zen­ trierten Selbstverständnisses der Deutschen als einer Nation von Volksgenossen verstehen. Als Franzose gilt, wer in Frankreich ge­ boren ist und die Rechte eines französischen Staatsbürgers besitzt; bei uns hat man noch bis zum Ende des letzten Krieges feine Unterscheidungen gemacht zwischen »Deutschen«, also Staatsbür­ gern deutscher Abstammung, »Reichsdeutschen«, d.h. Staatsbür­ gern anderer Abstammung, und »Volksdeutschen« - den Deutsch­ stämmigen im Ausland. In Frankreich hat sich das Nationalbewußtsein im Rahmen eines Territorialstaates ausbilden können, während es sich in Deutsch­ land zunächst mit der romantisch inspirierten und bildungsbürger­ lichen Idee einer »Kulturnation« verbunden hat. Diese stellt eine imaginäre Einheit dar, die damals in den Gemeinsamkeiten der Sprache, der Tradition und der Abstammung Halt suchen mußte, um über die Realität der bestehenden Kleinstaaten hinausgreifen zu können. Noch folgenreicher war, daß sich das französische Na­ tionalbewußtsein im Gleichschritt mit der Durchsetzung demo­ kratischer Bürgerrechte und im Kampf gegen die Souveränität des eigenen Königs entfalten konnte, während der deutsche Nationa­ lismus, unabhängig von der Erkämpfung demokratischer Bürger­ rechte und lange vor der Durchsetzung des kleindeutschen Natio­ nalstaats von oben, aus dem Kampf gegen Napoleon, also gegen einen äußeren Feind, entstanden ist. Aus einem solchen »Befrei­ ungskrieg« hervorgegangen, konnte sich das Nationalbewußtsein in Deutschland mit dem Pathos der Eigenart von Kultur und Ab­ stammung verbinden - ein Partikularismus, der das Selbstverständ­ nis der Deutschen nachhaltig geprägt hat. Von diesem »Sonderbewußtsein« hatte sich die Bundesrepublik nach 1945, nach dem erst allmählich verarbeiteten Schock über den *74

Zivilisationsbruch der nationalsozialistischen Massenvernichtung, abgewendet. Dem kamen der Souveränitätsverlust und die Rand­ lage in einer bipolaren Welt entgegen. Die Auflösung der Sowjet­ union und die Wiedervereinigung haben diese Konstellation gründlich verändert. Deshalb legen die Reaktionen auf den wieder aufgeflammten Rechtsradikalismus - und in diesem Zusammen­ hang auch die verlogene Asyldebatte - die Frage nahe, ob die erweiterte Bundesrepublik heute den Weg der politischen Zivilisierung fortsetzen wird oder ob sich das alte »Sonderbewußtsein« in anderer Gestalt erneuert. Diese Frage ist prekär, weil ein von oben administrativ durchgepeitschter und vereinnahmender Prozeß der staatlichen Einigung auch in dieser Hinsicht die Weichen falsch gestellt hat. Die dringend notwendige Klärung des ethisch-politi­ schen Selbstverständnisses der Bürger aus zwei Staaten mit weit auseinanderdriftenden historischen Schicksalen hat bis heute nicht stattgefunden. Der verfassungspolitisch zweifelhafte Weg eines Beitritts der neuen Länder hat eine Verfassungsdebatte verhindert, und die nachgeschobene Stellvertreterdebatte über den Sitz der Hauptstadt ist mit schiefen Fronten geführt worden. Inzwischen haben die vielfach gedemütigten, ihrer Wortführer und einer eige­ nen politischen Öffentlichkeit beraubten Bürger der ehemaligen DDR mit anderen Sorgen zu kämpfen: an die Stelle klar artikulier­ ter Beiträge treten eher schwelende Ressentiments. Jede Verdrängung erzeugt ihre Symptome. Eine Herausforderung nach der anderen - vom Golfkrieg über Maastricht, den Bürger­ krieg in Jugoslawien, die Asylfrage und den Rechtsradikalismus bis zum Einsatz der Bundeswehr außerhalb der NATO - provoziert Ratlosigkeit in der politischen Öffentlichkeit und bei einer gelähm­ ten Regierung. Die gewandelte Konstellation der Mächte und eine veränderte Situation im Inneren verlangen gewiß neue Antworten. Es fragt sich nur, in welchem Bewußtsein die Bundesrepublik die fällige Anpassung vollzieht, wenn es beim Reaktionsmuster von ad-hoc-Entscheidungen und subkutanen Stimmungswechseln bleibt. Historiker, die hastig geschriebene Bücher unter Titeln wie »Rück­ ruf in die Geschichte« oder »Angst vor der Macht« veröffentlichen, offerieren uns einen rückwärtsgewandten »Abschied von der alten

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Bundesrepublik«, der die eben noch gefeierte Erfolgsgeschichte der deutschen Nachkriegsdemokratie als den eigentlichen »Son­ derweg« entlarvt. In der alten Bundesrepublik soll sich die erzwun­ gene Abnormalität einer geschlagenen und geteilten Nation ver­ körpert haben, die nun, nach der Wiedererlangung ihrer national­ staatlichen Größe und Souveränität, aus ihrem machtvergessenen Utopismus herausgeführt und auf den von Bismarck vorgezeichne­ ten, machtpolitisch ausgetretenen Pfad einer selbstbewußten Vor­ macht im Zentrum Europas zurückgerufen werden muß. Hinter der Feier der Zäsur von 1989 verbirgt sich nur das immer wieder abgewiesene Normalisierungsbegehren derer, die die Zäsur von 1945 nicht wahrhaben wollten.35 Sie wehren sich gegen eine Alter­ native, die auf kurze Sicht keineswegs bei jedem Anlaß zu anderen Optionen führen muß, aber eine andere Perspektive eröffnet. Nach dieser Lesart bedeutet die Westorientierung der alten Bundesrepu­ blik nicht eine kluge, aber episodische außenpolitische Entschei­ dung, überhaupt nicht nur eine politische Entscheidung, sondern einen tiefgreifenden intellektuellen Bruch mit jenen spezifisch deutschen Traditionen, die das Wilhelminische Reich geprägt und den Untergang der Weimarer Republik gefördert haben. Sie hat die Weichen für einen Mentalitätswandel gestellt, der nach der Jugend­ revolte von 1968, unter den günstigen Bedingungen einer Wohl­ standsgesellschaft, breitere Schichten erfaßt und auf deutschem Boden zum erstenmal eine politisch-kulturelle Verwurzelung von Demokratie und Rechtsstaat ermöglicht hat. Heute geht es darum, die politische Rolle der Bundesrepublik an neue Realitäten anzu­ passen, ohne den Prozeß einer bis 1989 fortschreitenden politi­ schen Zivilisierung unter dem Druck der ökonomischen und gesellschaftlichen Probleme der Vereinigung abzubrechen und ohne die normativen Errungenschaften eines nicht länger ethnisch, sondern staatsbürgerlich begründeten nationalen Selbstverständriisses preiszugeben.

35 Vgl. den Titelaufsatz in J. Habermas, Die Normalität einer Berliner Republik, Frankfurt am Main 199$ 276

9- Drei normative Modelle der Demokratie

Im folgenden beziehe ich mich auf das idealtypisch zugespitzte »liberale« und »republikanische« Verständnis von Politik - Aus­ drücke, die heute in den Vereinigten Staaten die Fronten in der von den sogenannten Kommunitaristen ausgelösten Debatte kennzeich­ nen. Im Anschluß an F. Michelman werde ich zunächst die beiden polemisch gegenübergestellten Demokratiemodelle im Hinblick auf das Konzept des Staatsbürgers, den Rechtsbegriff und die Na­ tur des politischen Willensbildungsprozesses beschreiben, um im zweiten Teil aus einer Kritik an der ethischen Überfrachtung des republikanischen Modells eine dritte, und zwar prozeduralistische Konzeption zu entwickeln, der ich den Namen einer »deliberativen Politik« Vorbehalten möchte.

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Die entscheidende Differenz besteht im Verständnis der Rolle des demokratischen Prozesses. Nach »liberaler« Auffassung erfüllt dieser die Aufgabe, den Staat im Interesse der Gesellschaft zu pro­ grammieren, wobei der Staat als Apparat der öffentlichen Verwal­ tung, die Gesellschaft als System des marktwirtschaftlich struktu­ rierten Verkehrs der Privatpersonen und ihrer gesellschaftlichen Arbeit vorgestellt werden. Dabei hat die Politik (im Sinne der po­ litischen Willensbildung der Bürger) die Funktion der Bündelung und Durchsetzung gesellschaftlicher Privatinteressen gegenüberei­ nem Staatsapparat, der auf die administrative Verwendung politi­ scher Macht für kollektive Ziele spezialisiert ist. Nach »republikanischer« Auffassung geht die Politik in einer sol­ chen Vermittlungsfunktion nicht auf; sie ist vielmehr konstitutiv für den Vergesellschaftungsprozeß im ganzen. Politik wird als Re­ flexionsform eines sittlichen Lebenszusammenhangs begriffen. Sie bildet das Medium, in dem sich die Angehörigen naturwüchsiger Solidargemeinschaften ihrer Angewiesenheit aufeinander innewer*77

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den und als Staatsbürger die vorgefundenen Verhältnisse rezipro­ ker Anerkennung mit Willen und Bewußtsein zu einer Assoziation freier und gleicher Rechtsgenossen fortbiiden und ausgestalten. Damit erfährt die liberale Architektonik von Staat und Gesellschaft eine wichtige Veränderung. Neben die hierarchische Regelungsin­ stanz der staatlichen Hoheitsgewalt und die dezentralisierte Rege­ lungsinstanz des Marktes, also neben administrative Macht und Eigeninteresse tritt Solidarität als eine dritte Quelle der gesell­ schaftlichen Integration. Diese horizontale, auf Verständigung oder kommunikativ erzielten Konsens angelegte politische Willensbildung soll sogar, genetisch wie normativ betrachtet, Vorrang genießen. Für die Praxis staats­ bürgerlicher Selbstbestimmung wird eine autonome, von öffentli­ cher Administration und wirtschaftsgesellschaftlichem Privatver­ kehr unabhängige gesellschaftliche Basis angenommen, die die politische Kommunikation davor bewahrt, vom Staatsapparat auf­ gesogen oder an die Struktur des Marktes assimiliert zu werden. In der republikanischen Konzeption gewinnen die politische Öffent­ lichkeit und, als deren Unterbau, die Zivilgesellschaft eine strategi­ sche Bedeutung. Beide sollen der Verständigungspraxis der Staats­ bürger ihre Integrationskraft und Autonomie sichern.1 Der Entkoppelung der politischen Kommunikation von der Wirt­ schaftsgesellschaft entspricht eine Rückkoppelung der administra­ tiven Macht mit der aus der politischen Meinungs- und Willensbil­ dung hervorgehenden kommunikativen Macht. Aus den beiden konkurrierenden Ansätzen ergeben sich verschie­ dene Konsequenzen. a) Zunächst unterscheiden sich die Konzepte des Staatsbürgers. Nach liberaler Auffassung bestimmt sich der Status der Bürger nach Maßgabe der subjektiven Rechte, die sie gegenüber Staat und anderen Bürgern haben. Als Träger subjektiver Rechte genießen diese den Schutz des Staates, solange sie ihre privaten Interessen innerhalb der durch die Gesetze gezogenen Grenzen verfolgen auch den Schutz gegen staatliche Interventionen, die über den ge1 VgJ. H. Arendt, Über die Revolution, München 196$; dies., Macht und Gewalt, München 1970. 278

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setzlichen Eingriffsvorbehalt hinausgehen. Subjektive Rechte sind negative Rechte, die einen Optionsspielraum gewähren, innerhalb dessen die Rechtspersonen von äußeren Zwängen freigesetzt sind. Politische Rechte haben die gleiche Struktur: Sie geben den Staats­ bürgern die Möglichkeit, ihre privaten Interessen so zur Geltung zu bringen, daß diese sich am Ende über Stimmabgabe, Zusam­ mensetzung parlamentarischer Körperschaften und Regierungsbil­ dung mit anderen Privatinteressen zu einem auf die Administration einwirkenden politischen Willen aggregieren können. Auf diese Weise können die Bürger in ihrer Rolle als Staatsbürger kontrollie­ ren, ob die Staatsgewalt im Interesse der Gesellschaftsbürger aus­ geübt wird.2 Nach republikanischer Auffassung bestimmt sich der Status der Bürger nicht nach dem Muster negativer Freiheiten, die diese wie Privatpersonen in Anspruch nehmen können. Die Staatsbürger­ rechte, in erster Linie die politischen Teilnahme- und Kommunika­ tionsrechte, sind vielmehr positive Freiheiten. Sie garantieren nicht die Freiheit von äußerem Zwang, sondern Beteiligung an einer ge­ meinsamen Praxis, durch deren Ausübung die Bürger sich erst zu dem machen können, was sie sein wollen - zu politisch verantwort­ lichen Subjekten einer Gemeinschaft von Freien und Gleichen.3 Insofern dient der politische Prozeß nicht nur der Kontrolle der Staatstätigkeit durch Bürger, die in Ausübung ihrer privaten 2 Vgl. F. I. Michelmin, »Political Truth and the Rule of Law«, Tel Aviv Univ. Stud­ ie! in Law, 8, 1988, S. 283: »The political society envisioned by bumper-sticker republicans is the society of private right bearers, an association whose first principle is the protection of lives, liberties and cstates, of its individual members. In that society, the state is justifted by the protection it gives to those prepolitical interests; the purpose of the Constitution is to ensure that the Stale apparatus, the government, provides such protection for the people at large rather than serves the special interests of the governors or their patrons; the function of citizenship is 10 operate the Constitution and thereby motivate the governors to act according to that protective purpose; and the value to you of your political franchise-your right to vote and speak, to have your views heard and counted - is the handle it gives you on influencing the System so that it will adequately heed and protcct your particular, pre-political rights and other interests.« 3 Zu positiver vs. negativer Freiheit vgl. Ch. Taylor, »Was ist menschliches Han­ deln?« in: ders., Negative Freiheit? Frankfurt am Main 1988, S.9 ff.

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Rechte und vorpolitischen Freiheiten eine vorgängige Autonomie schon erworben haben. Ebensowenig erfüllt er eine Scharnierfunk­ tion zwischen Staat und Gesellschaft, denn die demokratische Staatsgewalt ist überhaupt keine originäre Gewalt. Diese geht viel­ mehr aus der in der Selbstbestimmungspraxis der Staatsbürger kommunikativ erzeugten Macht hervor und legitimiert sich daran, daß sie durch die Institutionalisierung der öffentlichen Freiheit diese Praxis schützt.4 Die Existenzberechtigung des Staates liegt nicht primär im Schutz gleicher subjektiver Rechte, sondern in der Gewährleistung eines inklusiven Meinungs- und Willensbildungs­ prozesses, in dem sich freie und gleiche Bürger darüber verständi­ gen, welche Ziele und Normen im gemeinsamen Interesse aller liegen. Damit wird dem republikanischen Staatsbürger mehr zuge­ mutet als die Orientierung am jeweils eigenen Interesse. b) In der Polemik gegen den klassischen Begriff der Rechtsperson als den Träger subjektiver Rechte verrät sich eine Kontroverse um den Begriff des Rechts selber. Während nach liberaler Auffassung der Sinn einer Rechtsordnung darin besteht, daß sie im Einzelfall festzustellen erlaubt, welchen Individuen welche Rechte zustehen, verdanken sich diese subjektiven Rechte nach republikanischer Auffassung einer objektiven Rechtsordnung, welche die Integrität eines gleichberechtigten, autonomen und auf gegenseitiger Ach­ tung beruhenden Zusammenlebens zugleich ermöglicht und garan­ tiert. Im einen Fall wird die Rechtsordnung ausgehend von subjektiven Rechten konstruiert, im anderen Fall wird ihrem ob­ jektivrechtlichen Gehalt ein Primat eingeräumt. Diese dichotomisierenden Begriffe treffen freilich nicht den inter­ subjektiven Gehalt von Rechten, die die reziproke Beachtung von Rechten und Pflichten in symmetrischen Anerkennungsverhältnis4 F. I. Michelman, Political Truth (1988), S. 284: »In civic constitutional vision, political society is primarily thc socicty not of right-bearers but of citizens, an association whose first principle is the creation and provision of a public realm within which a pcoplc, together, argue and rcason about the right terms of social coexistence, terms that they will set together and which they understand as their common good ... Hence the state is justified by its purpose of establishing and ordering the public sphere within which persons can achieve freedom in the sense of self-government by the exercise of reason in public dialogue.«

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sen fordern. Einem Rechtskonzept, das der Integrität des Einzel­ nen und seinen subjektiven Freiheiten gleiches Gewicht beimißt wie der Integrität der Gemeinschaft, in der sich die Einzelnen zu­ gleich als Individuen und als Mitglieder erst wechselseitig anerken­ nen können, kommt das republikanische Konzept immerhin entgegen. Es bindet die Legitimität der Gesetze an das demokrati­ sche Verfahren ihrer Genese und wahrt so einen internen Zusam­ menhang zwischen der Selbstbestimmungspraxis des Volkes und der unpersönlichen Herrschaft der Gesetze: »For republicans rights ultimately are nothing but determinations of the prevailing political will, while for liberals some rights are always grounded in a >higher law< of transpolitical reason or revelation ... In a republican view, a community’s objective, the common good substantially consists in the success of its political endeaver to define, establish, effectuate and sustain the set of rights (less tendentiously laws) best suited to the conditions and mores of that Community, whereas in a contrasting liberal view the higher law rights provide the transcendental structures and the curbs on power required so that pluralistic pursuit of diverse and conflicting Interests may proceed as satisfactorily as possible.«5 Das als positive Freiheit interpretierte Wahlrecht wird zum Para­ digma von Rechten überhaupt, nicht nur weil es für die politische Selbstbestimmung konstitutiv ist, sondern weil an ihm klar wird, wie die Inklusion in eine Gemeinschaft von Gleichberechtigten mit der individuellen Berechtigung zu autonomen Beiträgen und eige­ nen Stellungnahmen zusammenhängt: »The claim is, that we all take an interest in each other’s enfranchisment because (i) our choice lies between hanging together and hanging separately; (ii) hanging together depends on reciprocal assurance to all of having one’s vital interests heeded by the others; and (iii) in the deeply pluralized conditions of Contemporary American society, such assurances are attainable ... only by maintaining at least the semblance of a politics in which everyone is conceded a voice.«6 Diese 5 F. I. Michclman, »Concepcions of Democracy in American Constitutional Argu­ ment: Vocing Rights«, Florida Law Rcv. 41, 1989, 8.446!. 6 F. I. Michclman, cbd., S. 484.

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an den politischen Teilnahme- und Kommunikationsrechten abge­ lesene Struktur teilt sich über den Gesetzgebungsprozeß, den die Rechte konstituieren, allen Rechten mit. Auch die privatrechtliche Ermächtigung zur Verfolgung privater, frei gewählter Ziele ver­ pflichtet gleichzeitig zur Einhaltung der im gleichmäßigen Inter­ esse aller konsentierten Grenzen strategischen Handelns. c) Die verschiedenen Konzeptualisierungen der Staatsbürgerrolle und des Rechts sind Ausdruck eines tiefer reichenden Dissenses über die Natur des politischen Prozesses. Nach liberaler Auffassung ist die Politik wesentlich ein Kampf um Positionen, die Verfügung über administrative Macht einräumen. Der politische Meinungs­ und Willensbildungsprozeß in Öffentlichkeit und Parlament ist durch die Konkurrenz strategisch handelnder kollektiver Aktoren um den Erhalt oder den Erwerb von Machtpositionen bestimmt. Der Erfolg bemißt sich an der nach Wählerstimmen quantifizierten Zustimmung der Bürger zu Personen und Programmen. In ihrem Votum bringen die Wähler ihre Präferenzen zum Ausdruck. Ihre Wahlentscheidungen haben dieselbe Struktur wie Wahlakte er­ folgsorientierter Marktteilnehmer. Sie lizenzieren den Zugriff auf Machtpositionen, um die sich die politischen Parteien in der glei­ chen erfolgsorientierten Einstellung streiten. Der Stimmen-Input und der Macht-Output entspricht demselben Muster strategischen Handelns. Nach republikanischer Auffassung gehorcht die politische Meinungs- und Willensbildung in Öffentlichkeit und Parlament nicht den Strukturen von Marktprozessen, sondern den eigensinnigen Strukturen einer verständigungsorientierten öffentlichen Kommu­ nikation. Für Politik im Sinne einer Praxis staatsbürgerlicher Selbstbestimmung ist das Paradigma nicht der Markt, sondern das Gespräch. Aus dieser Sicht besteht zwischen der kommunikativen Macht, die in Gestalt von diskursiv gebildeten Mehrheitsmeinun­ gen aus der politischen Kommunikation hervorgeht, und der admi­ nistrativen Macht, über die der Staatsapparat verfügt, ein struktu­ reller Unterschied. Auch die Parteien, die um den Zugang zu staatlichen Machtpositionen kämpfen, müssen sich auf den deliberativen Stil und den Eigensinn politischer Diskurse einlassen: »Deliberation ... refers to a certain attitude toward social coopera282

tion, namely, that of openness to persuasion by reasons referring to the Claims of others as well as one’s own. The deliberative medium is a good faith exchange of views - including participant’s reports of their own understanding of their respective vital Interests -... in which a vote, if any vote is taken, represents a pooling of judgements.«7 Darum hat der in der politischen Arena ausgetragene Meinungsstreit legitimierende Kraft nicht nur im Sinne einer Autorisierung des Zugriffs auf Machtpositionen; vielmehr hat der kontinuierlich geführte politische Diskurs auch für die Art der Ausübung politischer Herrschaft bindende Kraft. Die administra­ tive Macht kann nur auf der Grundlage der Politiken und in den Grenzen der Gesetze verwendet werden, die aus dem demokrati­ schen Prozeß hervorgehen.

II.

So weit der Vergleich zwischen den beiden Demokratiemodellen, die heute, vor allem in den USA, die Diskussion zwischen den sogenannten Kommunitaristen und den »Liberalen« beherrschen. Das republikanische Modell hat Vorzüge und Nachteile. Den Vor­ zug sehe ich darin, daß es am radikaldemokratischen Sinn einer Selbstorganisation der Gesellschaft durch die kommunikativ verei­ nigten Bürger festhält und kollektive Ziele nicht nur auf einen »deal« zwischen entgegengesetzten Privatinteressen zurückführt. Den Nachteil sehe ich darin, daß es zu idealistisch ist und den demokratischen Prozeß von den Tugenden gemeinwohlorientierter Staatsbürger abhängig macht. Denn die Politik besteht nicht nur, und nicht einmal in erster Linie, aus Fragen der ethischen Selbst­ verständigung. Der Fehler besteht in einer ethischen Entführung politischer Diskurse. Gewiß bilden Selbstverständigungsdiskurse, in denen sich die Be­ teiligten darüber klarwerden möchten, wie sie sich als Angehörige einer bestimmten Nation, als Mitglieder einer Kommune oder ei­ nes Staates, als Bewohner einer Region usw. verstehen, welche

7 F. I. Michelman, Pomography (19S9), S. 293.

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Traditionen sie fortsetzen, wie sie miteinander, mit Minoritäten, mit Randgruppen umgehen, in welcher Art von Gesellschaft sie leben wollen, einen wichtigen Bestandteil der Politik. Aber unter Bedingungen des kulturellen und gesellschaftlichen Pluralismus stehen hinter politisch relevanten Zielen oft Interessen und Wert­ orientierungen, die keineswegs für die Identität des Gemeinwesens insgesamt, also für das Ganze einer intersubjektiv geteilten Lebens­ form konstitutiv sind. Diese Interessen und Wertorientierungen, die innerhalb desselben Gemeinwesens ohne Aussicht auf Konsens miteinander in Konflikt liegen, bedürfen eines Ausgleichs, der durch ethische Diskurse nicht zu erreichen ist - auch wenn die Resultate dieses nicht mehr diskursiv herbeigeführten Ausgleichs unter dem Vorbehalt stehen, die konsentierten Grundwerte einer Kultur nicht verletzen zu dürfen. Der Interessenausgleich vollzieht sich als Kompromißbildung zwischen Parteien, die sich auf Machtund Sanktionspotentiale stützen. Verhandlungen dieser Art setzen gewiß Kooperationsbereitschaft, also den Willen voraus, unter Be­ achtung von Spielregeln zu Resultaten zu gelangen, die für alle Parteien, wenn auch aus verschiedenen Gründen, akzeptabel sind. Aber die Kompromißbildung vollzieht sich nicht in den Formen eines rationalen, Macht neutralisierenden, strategisches Handeln ausschließenden Diskurses. Allerdings bemißt sich die Fairneß von Kompromissen an Voraussetzungen und Verfahren, die ihrerseits einer rationalen, und zwar normativen Rechtfertigung unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit bedürfen. Anders als ethische Fragen sind Gerechtigkeitsfragen nicht von Haus aus auf ein be­ stimmtes Kollektiv bezogen. Das politisch gesalzte Recht muß, wenn es legitim sein soll, mindestens in Einklang stehen mit mora­ lischen Grundsätzen, die über eine konkrete Rechtsgemeinschaft hinaus allgemeine Geltung beanspruchen. Einen empirischen Bezug gewinnt der Begriff einer deliberativen Politik erst dann, wenn wir der Vielfalt der Kommunikationsfor­ men Rechnung tragen, in denen sich ein gemeinsamer Wille nicht nur auf dem Wege der ethischen Selbstnerständignng bildet, son­ dern auch durch Interessenausgleich und Kompromiß, durch zweckrationale Mittelwahl, moralische Begründung und rechtliche Kohärenzprüfung. Dabei können sich jene beiden Politiktypen, die

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Michelman idealtypisch gegenüberstelk, auf vernünftige Weise durchdringen und ergänzen. Dialogische und instrumentelle Poli­ tik können sich, wenn die entsprechenden Kommunikationsfor­ men hinreichend institutionalisiert sind, im Medium von Deliberationen verschränken. Es kommt also alles auf die Kommunika­ tionsbedingungen und Verfahren an, die der institutionalisierten Meinungs- und Willensbildung ihre legitimierende Kraft verleihen. Das dritte Demokratiemodell, das ich Vorschlägen möchte, stützt sich genau auf die Kommunikationsbedingungen, unter denen der politische Prozeß die Vermutung für sich hat, vernünftige Resultate zu erzeugen, weil er sich dann auf ganzer Breite in einem deliberativen Modus vollzieht. Wenn wir den Verfahrensbegriff der deliberativen Politik zum nor­ mativ gehaltvollen Kernstück der Demokratietheorie machen, er­ geben sich Unterschiede sowohl zur republikanischen Konzeption des Staates als einer sittlichen Gemeinschaft als auch zur liberalen Konzeption des Staates als des Hüters einer Wirtschaftsgesell­ schaft. Beim Vergleich der drei Modelle gehe ich von der Dimen­ sion der Politik aus, die uns bisher vor allem beschäftigt hat - von der demokratischen Meinungs- und Willensbildung, die in allge­ meinen Wahlen und parlamentarischen Beschlüssen resultiert. Nach liberaler Auffassung vollzieht sich dieser Prozeß allein in der Form von Interessenkompromissen. Dabei werden die Regeln der Kompromißbildung, die über das allgemeine und gleiche Wahl­ recht sowie die repräsentative Zusammensetzung der parlamentari­ schen Körperschaften, deren Geschäftsordnungen usw. die Fair­ neß der Ergebnisse sichern sollen, aus liberalen Verfassungsgrund­ sätzen begründet. Nach republikanischer Auffassung soll sich hingegen die demokratische Willensbildung in der Form einer ethi­ schen Selbstverständigung vollziehen; dabei kann sich die Deliberation inhaltlich auf einen kulturell eingespielten Hintergrundkon­ sens der Bürger stützen, der sich in der ritualisierten Erinnerung an einen republikanischen Gründungsakt erneuert. Die Diskurstheo­ rie nimmt Elemente beider Seiten auf und integriert sie im Begriff einer idealen Prozedur für Beratung und Beschlußfassung. Dieses demokratische Verfahren stellt einen internen Zusammenhang zwi­ schen Verhandlungen, Selbstverständigungs- und Gerechtigkeits-

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diskursen her und begründet die Vermutung, daß unter solchen Bedingungen vernünftige bzw. faire Ergebnisse erzielt werden. Damit zieht sich die praktische Vernunft aus den universalen Men­ schenrechten oder aus der konkreten Sittlichkeit einer bestimmten Gemeinschaft in jene Diskursregeln und Argumentationsformen zurück, die ihren normativen Gehalt der Geltungsbasis verständi­ gungsorientierten Handelns, letztlich der Struktur sprachlicher Kommunikation entlehnen.8 Mit diesen Strukturbeschreibungen des demokratischen Prozesses werden die Weichen gestellt für eine normative Konzeptualisierung von Staat und Gesellschaft. Vorausgesetzt wird lediglich eine öf­ fentliche Administration von der Art, wie sie sich in der frühen Neuzeit mit dem europäischen Staatensystem herausgebildet und in funktionaler Verschränkung mit einem kapitalistischen Wirt­ schaftssystem entwickelt hat. Nach republikanischer Auffassung bildet die politische Meinungs- und Willensbildung der Bürger das Medium, über das sich die Gesellschaft als ein politisch verfaßtes Ganzes konstituiert. Die Gesellschaft zentriert sich im Staat; denn in der politischen Selbstbestimmungspraxis der Bürger wird das Gemeinwesen sich seiner im ganzen bewußt und wirkt über den kollektiven Willen der Bürger auf sich selbst ein. Demokratie ist gleichbedeutend mit der politischen Selbstorganisation der Gesell­ schaft. Daraus ergibt sich ein polemisch gegen den Staatsapparat gerichtetes Politikverständnis. An Hannah Arendts politischen Schriften kann man die Stoßrichtung der republikanischen Argu­ mentation ablesen: Gegen den staatsbürgerlichen Privatismus einer entpolitisierten Bevölkerung und gegen die Legitimationsbeschaf­ fung durch verstaatlichte Parteien soll die politische Öffentlichkeit so weit revitalisiert werden, daß sich eine regenerierte Bürgerschaft in den Formen einer dezentralisierten Selbstverwaltung die büro­ kratisch verselbständigte Staatsgewalt (wieder) aneignen kann. Diese Trennung des Staatsapparates von der Gesellschaft kann nach liberaler Auffassung nicht beseitigt, sondern durch den demokrati­ schen Prozeß nur überbrückt werden. Die schwachen normativen 8 Vgl. J.Habermas, • Volkssouveränität als Verfahren«, in: ders., (1990), S. 600631. 286

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Konnotationen eines geregelten Macht- und Interessenausgleichs bedürfen allerdings der rcchtsstaatlichen Ergänzung. Die minima­ listisch verstandene demokratische Willensbildung von selbstinter­ essierten Bürgern bildet nur ein Element innerhalb einer Verfas­ sung, die die Staatsgewalt durch normative Vorkehrung (wie Grundrechte, Gewaltenteilung und Gesetzesbindung der Verwal­ tung) disziplinieren und über den Wettbewerb zwischen politi­ schen Parteien einerseits, Regierung und Opposition andererseits zur angemessenen Berücksichtigung gesellschaftlicher Interessen und Wertorientierungen bewegen soll. Dieses staatszentrierte Ver­ ständnis von Politik kann auf die unrealistische Annahme einer kollektiv handlungsfähigen Bürgerschaft verzichten. Es orientiert sich nicht am Input einer vernünftigen politischen Willensbildung, sondern am Output einer erfolgreichen Leistungsbilanz der Staats­ tätigkeit. Die Stoßrichtung der liberalen Argumentation zielt gegen das Störpotential einer Staatsmacht, die den autonomen gesell­ schaftlichen Verkehr der Privatpersonen behindert. Nicht die de­ mokratische Selbstbestimmung deliberierender Bürger ist der Angelpunkt des liberalen Modells, sondern die rechtsstaatliche Normierung einer Wirtschaftsgesellschaft, die über die Befriedi­ gung der privaten Glückserwartungen produktiv tätiger Bürger ein unpolitisch verstandenes Gemeinwohl gewährleisten soll. Die Diskurstheorie, die mit dem demokratischen Prozeß stärkere normative Konnotationen verbindet als das liberale, aber schwä­ chere als das republikanische Modell, nimmt wiederum von beiden Seiten Elemente auf und fügt sie auf neue Weise zusammen. In Übereinstimmung mit dem Republikanismus rückt sie den politi­ schen Meinungs- und Willensbildungsprozeß in den Mittelpunkt, ohne jedoch die rechtsstaatliche Verfassung als etwas Sekundäres zu verstehen; vielmehr begreift sie Grundrechte und Prinzipien des Rechtsstaates als konsequente Antwort auf die Frage, wie die an­ spruchsvollen Kommunikationsvoraussetzungen des demokrati­ schen Verfahrens institutionalisiert werden können. Die Diskurs­ theorie macht die Verwirklichung einer deliberativen Politik nicht von einer kollektiv handlungsfähigen Bürgerschaft abhängig, son­ dern von der Institutionalisierung entsprechender Verfahren. Sie operiert nicht länger mit dem Begriff eines im Staat zentrierten 287

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gesellschaftlichen Ganzen, das als zielorientiert handelndes Subjekt im großen vorgestellt wird. Ebensowenig lokalisiert sie das Ganze in einem System von Verfassungsnormen, die den Macht- und In­ teressenausgleich nach dem Modell des Marktverkehrs bewußtlos regeln. Sie verabschiedet überhaupt die bewußtseinsphilosophi­ schen Denkfiguren, die es nahelegen, die Selbstbestimmungspraxis der Bürger einem gesamtgesellschaftlichen Subjekt zuzuschreiben oder die anonyme Herrschaft der Gesetze auf konkurrierende Ein­ zelsubjekte zu beziehen. Dort wird die Bürgerschaft wie ein kol­ lektiver Aktor betrachtet, der das Ganze reflektiert und für es handelt; hier fungieren die einzelnen Aktoren als abhängige Varia­ ble in Machtprozessen, die sich blind vollziehen, weil es jenseits individueller Wahlakte keine bewußt vollzogenen kollektiven Ent­ scheidungen geben kann (es sei denn in einem bloß metaphorischen Sinne). Demgegenüber rechnet die Diskurstheorie mit der höherstufigen Intersubjektivität von Verständigungsprozessen, die sich einerseits in der institutionalisierten Form von Beratungen in parlamentari­ schen Körperschaften sowie andererseits im Kommunikationsnetz politischer Öffentlichkeiten vollziehen. Diese subjektlosen Kom­ munikationen, innerhalb und außerhalb der politischen, auf Be­ schlußfassung programmierten Körperschaften, bilden Arenen, in denen eine mehr oder weniger rationale Meinungs- und Willensbil­ dung über gesamtgesellschaftlich relevante Themen und regelungs­ bedürftige Materien stattfinden kann. Die informelle Meinungsbil­ dung mündet in institutionalisierte Wahlentscheidungen und legislative Beschlüsse, durch die die kommunikativ erzeugte Macht in administrativ verwendbare Macht transformiert wird. Wie im liberalen Modell wird die Grenze zwischen Staat und Gesellschaft respektiert; aber hier unterscheidet sich die Zivilgesellschaft, als die soziale Grundlage autonomer Öffentlichkeiten, ebensosehr vom ökonomischen Handlungssystem wie von der öffentlichen Admi­ nistration. Aus diesem Demokratieverständnis ergibt sich norma­ tiv die Forderung nach einer Gewichtverschiebung im Verhältnis jener drei Ressourcen Geld, administrative Macht und Solidarität, aus denen moderne Gesellschaften ihren Integrations- und Steue­ rungsbedarf befriedigen. Die normativen Implikationen liegen auf

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der Hand: Die sozialintegrative Gewalt der Solidarität, die nicht mehr allein aus Quellen des kommunikativen Handelns geschöpft werden kann, soll sich über weit ausgefächerte autonome Öffent­ lichkeiten und rechtsstaatlich institutionalisierte Verfahren der de­ mokratischen Meinungs- und Willensbildung entfalten und gegen die beiden anderen Gewalten, Geld und administrative Macht, be­ haupten können.

III.

Diese Auffassung hat Konsequenzen für das Verständnis von Legi­ timation und Volkssouveränität. Nach liberaler Auffassung hat die demokratische Willensbildung ausschließlich die Funktion, die Ausübung politischer Macht zu legitimieren. Wahlergebnisse sind eine Lizenz für die Übernahme der Regierungsmacht, während die Regierung vor Öffentlichkeit und Parlament den Gebrauch dieser Macht rechtfertigen muß. Nach republikanischer Auffassung hat die demokratische Willensbildung die wesentlich stärkere Funk­ tion, die Gesellschaft als ein politisches Gemeinwesen zu konstitu­ ieren und die Erinnerung an diesen Gründungsakt mit jeder Wahl lebendig zu erhalten. Die Regierung wird nicht nur über eine Wahl zwischen konkurrierenden Führungsmannschaften zur Ausübung eines weitgehend ungebundenen Mandats ermächtigt, sondern auch programmatisch auf die Durchführung bestimmter Politiken festgelegt. Eher Ausschuß als Staatsorgan, ist sie Teil einer sich selbst verwaltenden politischen Gemeinschaft, nicht die Spitze einer separaten Staatsgewalt. Mit der Diskurstheorie kommt noch­ mals eine andere Vorstellung ins Spiel: Verfahren und Kommunika­ tionsvoraussetzungen der demokratischen Meinungs- und Wil­ lensbildung funktionieren als wichtigste Schleusen für die diskur­ sive Rationalisierung der Entscheidungen einer an Recht und Gesetz gebundenen Regierung und Verwaltung. Rationalisierung bedeutet mehr als bloße Legitimation, aber weniger als Konstitu­ ierung der Macht. Die administrativ verfügbare Macht verändert ihren Aggregatzustand, solange sie mit einer demokratischen Mei­ nungs- und Willensbildung rückgekoppelt bleibt, welche die Aus-

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Übung politischer Macht nicht nur nachträglich kontrolliert, sondern in gewisser Weise auch programmiert. Unbeschadet des­ sen kann nur das politische System »handeln«. Es ist ein auf kollektiv bindende Entscheidungen spezialisiertes Teilsystem, während die Kommunikationsstrukturen der Öffentlichkeit ein weitgespanntes Netz von Sensoren bilden, die auf den Druck ge­ samtgesellschaftlicher Problemlagen reagieren und einflußreiche Meinungen stimulieren. Die nach demokratischen Verfahren zu kommunikativer Macht verarbeitete öffentliche Meinung kann nicht selber »herrschen«, sondern nur den Gebrauch der admini­ strativen Macht in bestimmte Kanäle lenken. Der Begriff der Volkssouveränität verdankt sich der republikani­ schen Aneignung und Umwertung der frühneuzeitlichen, zunächst mit dem absolutistisch regierenden Herrscher verknüpften Vorstel­ lung von Souveränität. Der Staat, der die Mittel legitimer Gewalt­ anwendung monopolisiert, wird als ein Machtkonzentrat vorge­ stellt, das alle übrigen Gewalten dieser Welt überwältigen kann. Rousseau hat diese auf Bodin zurückgehende Denkfigur auf den Willen des vereinigten Volkes übertragen, mit der klassischen Idee der Selbstherrschaft von Freien und Gleichen verschmolzen und im modernen Begriff der Autonomie aufgehoben. Trotz dieser normativen Sublimierung blieb der Souveränitätsbegriff an die Vorstellung einer Verkörperung im (zunächst auch physisch anwe­ senden) Volk gebunden. Nach republikanischer Auffassung ist das mindestens potentiell anwesende Volk der Träger einer Souveräni­ tät, die grundsätzlich nicht delegiert werden kann: in seiner Eigen­ schaft als Souverän kann sich das Volk nicht vertreten lassen. Die konstituierende Gewalt gründet in der Selbstbestimmungspraxis der Bürger, nicht ihrer Repräsentanten. Dem setzt der Liberalis­ mus die realistischere Auffassung entgegen, daß im demokrati­ schen Rechtsstaat die vom Volke ausgehende Staatsgewalt nur »in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Ge­ setzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt« wird (wie es beispielsweise in GG Art. 20, Abs. 2 heißt). Diese beiden Auffassungen bilden freilich eine vollständige Alter­ native nur unter der fragwürdigen Prämisse eines Staats- und 290

Gesellschaftskonzepts, das vom Ganzen und dessen Teilen ausgeht — wobei das Ganze entweder durch eine souveräne Bürgerschaft oder durch eine Verfassung konstituiert wird. Dem Diskursbegriff der Demokratie entspricht hingegen das Bild einer dezentrierten Gesellschaft, die allerdings mit der politischen Öffentlichkeit eine Arena für die Wahrnehmung, Identifizierung und Behandlung ge­ samtgesellschaftlicher Probleme ausdifferenziert. Wenn man die subjektphilosophische Begriffsbildung preisgibt, braucht die Sou­ veränität weder konkretistisch im Volk konzentriert noch in die Anonymität der verfassungsrechtlichen Kompetenzen verbannt zu werden. Das »Selbst« der sich selbst organisierenden Rechtsge­ meinschaft verschwindet in den subjektlosen Kommunikationsfor­ men, die den Fluß der diskursiven Meinungs- und Willensbildung so regulieren, daß ihre falliblen Ergebnisse die Vermutung der Ver­ nünftigkeit für sich haben. Damit wird die Intuition, die sich mit der Idee der Volkssouveränität verbindet, nicht dementiert, jedoch intersubjektivistisch gedeutet. Eine wenn auch anonym gewordene Volkssouveränität zieht sich in die demokratischen Verfahren und in die rechtliche Implementierung ihrer anspruchsvollen Kommu­ nikationsvoraussetzungen nur zurück, um sich als kommunikativ erzeugte Macht zur Geltung zu bringen. Genau genommen, ent­ springt diese den Interaktionen zwischen rechtsstaatlich institutio­ nalisierter Willensbildung und kulturell mobilisierten Öffentlich­ keiten, die ihrerseits in den Assoziationen einer von Staat und Ökonomie gleich weit entfernten Zivilgesellschaft eine Basis fin­ den. Das normative Selbstverständnis deliberativer Politik fordert zwar für die Rechtsgemeinschaft einen diskursiven Vergesellschaftungs­ modus; dieser erstreckt sich aber nicht auf das Ganze der Gesell­ schaft, in die das rechtsstaatlich verfaßte politische System einge­ bettet ist. Auch nach ihrem Selbstverständnis bleibt die deliberative Politik Bestandteil einer komplexen Gesellschaft, die sich als Ganze der normativen Betrachtungsweise der Rechtstheorie ent­ zieht. In dieser Hinsicht findet die diskurstheoretische Lesart von Demokratie Anschluß an eine sozialwissenschaftlich distanzierte Betrachtung, für die das politische System weder Spitze noch Zen­ trum oder gar strukturprägendes Modell der Gesellschaft ist, son291

dem ein Handlungssystem neben anderen. Weil sie für die Lösung der integrationsgefährdenden Probleme der Gesellschaft eine Art Ausfallbürgschaft übernimmt, muß die Politik gewiß über das Me­ dium des Rechts mit allen übrigen legitim geordneten Handlungs­ bereichen, wie immer diese auch strukturiert und gesteuert sind, kommunizieren können. Aber das politische System bleibt nicht nur in einem trivialen Sinne von anderen Systemleistungen - wie den fiskalischen Leistungen des ökonomischen Systems — abhän­ gig; vielmehr steht die deliberative Politik, ob sie sich nun nach den formellen Verfahren der institutionalisierten Meinungs- und Wil­ lensbildung oder nur informell in den Netzwerken der politischen Öffentlichkeit vollzieht, in einem internen Zusammenhang mit den Kontexten einer entgegenkommenden, ihrerseits rationalisierten Lebenswelt. Gerade die deliberativ gefilterten politischen Kommu­ nikationen sind auf Ressourcen der Lebenswelt - auf eine freiheit­ liche politische Kultur und eine aufgeklärte politische Sozialisa­ tion, vor allem auf die Initiativen meinungsbildender Assoziatio­ nen - angewiesen, die sich weitgehend spontan bilden und regenerieren, jedenfalls ihrerseits politischer Steuerung nur schwer zugänglich sind.

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io. Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie

Im akademischen Betrieb nennen wir zwar Recht und Politik oft in einem Atemzug, aber gleichzeitig haben wir uns daran gewöhnt, das Recht, den Rechtsstaat und die Demokratie als Gegenstände zu betrachten, die verschiedenen Disziplinen zugehören: die Jurispru­ denz behandelt das Recht, die Politikwissenschaft die Demokratie, und die eine behandelt den Rechtsstaat unter normativen, die an­ dere unter empirischen Gesichtspunkten. Die wissenschaftliche Arbeitsteilung steht auch dann nicht still, wenn sich Juristen zum einen mit Recht und Rechtsstaat, zum anderen mit der Willensbil­ dung im demokratischen Verfassungsstaat oder wenn sich Sozial­ wissenschaftler als Rechtssoziologen mit Recht und Rechtsstaat, als Politikwissenschaftler mit dem demokratischen Prozeß befas­ sen. Rechtsstaat und Demokratie erscheinen uns als ganz verschie­ dene Objekte. Dafür gibt es gute Gründe. Weil jede politische Herrschaft in der Form des Rechts ausgeübt wird, existieren auch dort Rechtsordnungen, wo die politische Gewalt noch nicht rechtsstaatlich domestiziert ist. Und es existieren auch dort Rechtsstaaten, wo die Regierungsmacht noch nicht demokratisiert worden ist. Kurzum, es gibt staatliche Rechtsordnungen ohne rechtsstaatliche Institutionen, und es gibt Rechtsstaaten ohne de­ mokratische Verfassungen. Diese empirischen Gründe für eine arbeitsteilige akademische Behandlung der beiden Gegenstände be­ sagen freilich noch keineswegs, daß es, normativ betrachtet, einen Rechtsstaat ohne Demokratie geben könne. Diesen internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie möchte ich im folgenden unter mehreren Aspekten behandeln. Er ergibt sich ebenso aus dem Begriff des modernen Rechts selber (i) wie aus dem Umstand, daß das positive Recht seine Legitimität nicht mehr aus höherem Recht schöpfen kann (n). Das moderne Recht legitimiert sich an der gleichmäßig für jeden Bürger gewährleisteten Autonomie, wobei sich private und öffentliche Autonomie wechsel­ seitig voraussetzen (m). Dieser konzeptuelle Zusammenhang 293

kommt auch in jener Dialektik von rechtlicher und faktischer Gleichheit zur Geltung, die gegenüber dem liberalen Rechtsver­ ständnis zunächst das sozialstaatliche Rechtsparadigma auf den Plan gerufen hat und die heute zu einem prozeduralistischen Selbstver­ ständnis des demokratischen Rechtsstaates nötigt (iv). Dieses prozeduralistische Rechtsparadigma werde ich abschließend am Beispiel feministischer Gleichstellungspolitiken erläutern (v).

i. Formeigenschaften des modernen Rechts

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Seit Locke, Rousseau und Kant hat sich nicht nur in der Philoso­ phie, sondern nach und nach auch in der Verfassungswirklichkeit der westlichen Gesellschaften ein Rechtskonzept durchgesetzt, das gleichzeitig der Positivität und dem freiheitsverbürgenden Charak­ ter zwingenden Rechts Rechnung tragen soll. Der Umstand, daß die mit staatlichen Sanktionsdrohungen bewehrten Normen auf die abänderbaren Beschlüsse eines politischen Gesetzgebers zu­ rückgehen, wird mit der Legitimationsforderung verklammert, daß ein derart gesalztes Recht die Autonomie aller Rechtspersonen gleichmäßig gewährleisten möge; und dieser Forderung soll wie­ derum das demokratische Verfahren der Gesetzgebung genügen. Auf diese Weise wird ein konzeptueller Zusammenhang hergestellt zwischen dem zwingenden Charakter und der Änderbarkeit des positiven Rechts einerseits, einem legitimitätserzeugenden Modus der Rechtsetzung andererseits. Deshalb besteht, normativ betrach­ tet, nicht nur ein historisch-zufälliger, sondern ein begrifflicher oder interner Zusammenhang zwischen Rechts- und Demokratie­ theorie. Auf den ersten Blick sieht das wie ein philosophischer Trick aus. Tatsächlich ist dieser interne Zusammenhang aber tief in den Präsuppositionen unserer alltäglichen Rechtspraxis verankert. Im Gel­ tungsmodus des Rechts verschränkt sich nämlich die Faktizität der staatlichen Rechtsdurchsetzung mit der Legitimität begründenden Kraft eines dem Anspruch nach rationalen, weil freiheitsbegrün­ denden Verfahrens der Rechtsetzung. Das zeigt sich an jener eigentümlichen Ambivalenz, mit der das Recht seinen Adressaten 294

entgegentritt und von ihnen Gehorsam erwartet. Es stellt nämlich seinen Adressaten frei, ob sie die Normen nur als eine faktische Einschränkung ihres Handlungsspielraums betrachten und mit den kalkulierbaren Folgen möglicher Regelverletzungen strategisch umgehen oder ob sie den Gesetzen in performativer Einstellung Folge leisten wollen - und zwar aus Achtung vor Ergebnissen einer gemeinsamen Willensbildung, die Legitimität beanspruchen. Schon Kant hat mit dem Begriff der Legalität die Verbindung dieser beiden Momente hervorgehoben, ohne die Rechtsgehorsam nicht zugemutet werden kann: Rechtsnormen müssen so beschaffen sein, daß sie unter je verschiedenen Aspekten gleichzeitig als Zwangsgesetze und als Gesetze der Freiheit betrachtet werden können. Dieser Doppelaspekt gehört zu unserem Verständnis des modernen Rechts: wir betrachten die Gültigkeit einer Rechtsnorm als gleichbedeutend mit der Erklärung, daß der Staat zur gleichen Zeit faktische Rechtsdurchsetzung und legitime Rechtsetzung ga­ rantiert - also einerseits die Legalität des Verhaltens im Sinne einer durchschnittlichen Normbefolgung, die erforderlichenfalls durch Sanktionen erzwungen wird, wie andererseits die Legitimität der Regel selbst, die eine Befolgung der Norm aus Achtung vor dem Gesetz jederzeit möglich machen muß. Damit stellt sich freilich sogleich die Frage, wie denn die Legitimi­ tät von Regeln begründet werden soll, die doch vom politischen Gesetzgeber jederzeit geändert werden können. Auch Verfassungs­ normen sind änderbar; und sogar die Grundnormen, die die Ver­ fassung selbst als unabänderlich deklariert, teilen mit allem positi­ ven Recht das Schicksal, beispielsweise nach einem Regimewechsel außer Kraft gesetzt werden zu können. Solange man auf religiös oder metaphysisch begründetes Naturrecht zurückgreifen konnte, ließ sich der Strudel der Temporalität, in den das positive Recht hineingezogen wird, durch Moral eindämmen. Das verzeitlichte positive Recht sollte - im Sinne einer Legeshierarchie - dem ewig gültigen moralischen Recht untergeordnet bleiben und von diesem seine bleibenden Orientierungen empfangen. Aber abgesehen da­ von, daß in pluralistischen Gesellschaften solche integrativen Welt­ bilder und kollektiv verbindlichen Ethiken ohnehin zerfallen sind, entzieht sich das moderne Recht schon aufgrund seiner Form-

eigenschaften dem direkten Zugriff einer sozusagen allein übrigge­ bliebenen posttraditionalen Gewissensmoral.

II. Zum Ergänzungsverhältnis von positivem Recht und autonomer Moral

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Subjektive Rechte, aus denen sich moderne Rechtsordnungen auf­ bauen, haben den Sinn, Rechtspersonen auf eine wohlumschrie­ bene Weise von moralischen Geboten zu entbinden. Mit der Einführung subjektiver Rechte, die den Aktoren Spielräume für ein von je eigenen Präferenzen geleitetes Handeln einräumen, bringt das moderne Recht insgesamt das Prinzip zur Geltung, daß alles erlaubt ist, was nicht explizit verboten wird. Während in der Moral von Haus aus eine Symmetrie zwischen Rechten und Pflichten be­ steht, ergeben sich Rechtspflichten erst als eine Konsequenz von Berechtigungen aus der gesetzlichen Einschränkung subjektiver Freiheiten. Diese grundbegriffliche Privilegierung von Rechten ge­ genüber Pflichten erklärt sich aus den modernen Begriffen der Rechtsperson und der Rechtsgemeinschaft. Das im sozialen Raum und in der historischen Zeit entgrenzte moralische Universum er­ streckt sich auf alle natürlichen Personen in ihrer lebensgeschicht­ lichen Komplexität, die Moral selbst auf den Schutz der Integrität vollständig individuierter Einzelner. Demgegenüber schützt eine in Raum und Zeit jeweils lokalisierte Rechtsgemeinschaft die Inte­ grität ihrer Angehörigen genau insoweit, wie diese den artifiziell erzeugten Status von Trägern subjektiver Rechte einnehmen. Des­ halb besteht zwischen Recht und Moral ein Verhältnis eher der Komplementarität als der Unterordnung. Das gilt auch in extensionaler Hinsicht. Die rechtlich regelungsbe­ dürftigen Materien sind zugleich eingeschränkter und umfangrei­ cher als moralisch relevante Angelegenheiten: eingeschränkter, weil nur äußeres, nämlich erzwingbares Verhalten rechtlicher Re­ gulierung zugänglich ist, und umfangreicher, weil sich das Rechtals Organisationsmittel politischer Herrschaft - nicht nur auf die Regelung interpersoneller Handlungskonflikte, sondern auch auf die Verfolgung politischer Zielsetzungen und Programme bezieht. 296

Darum berühren rechtliche Regelungen nicht nur moralische Fra­ gen im engeren Sinne, sondern auch pragmatische und ethische Fragen sowie die Kompromißbildung zwischen widerstreitenden Interessen. Und anders als der klar geschnittene normative Gel­ tungsanspruch moralischer Gebote stützt sich der Legitimitätsan­ spruch von Rechtnormen auf verschiedene Sorten von Gründen. Die legislative Rechtfertigungspraxis ist auf ein verzweigtes Netz von Diskursen und Verhandlungen - und nicht allein auf morali­ sche Diskurse - angewiesen. Die naturrechtliche Vorstellung einer Hierarchie von Rechten ver­ schiedener Dignität ist irreführend. Das Recht läßt sich besser als eine funktionale Ergänzung der Moral verstehen. Das positiv gel­ tende, legitim gesetzte und einklagbare Recht kann nämlich die moralisch urteilenden und handelnden Personen von den erheb­ lichen kognitiven, motivationalen und organisatorischen Forde­ rungen einer ganz aufs subjektive Gewissen umgestellten Moral entlasten. Das Recht kann die Schwächen einer anspruchsvollen Moral, die, wenn man auf die empirischen Folgen schaut, nur ko­ gnitiv unbestimmte und motivational ungesicherte Ergebnisse lie­ fert, kompensieren. Das befreit natürlich den Gesetzgeber und die Justiz nicht von der Sorge, daß das Recht mit der Moral in Ein­ klang bleibt. Aber rechtliche Regelungen sind zu konkret, um sich allein dadurch legitimieren zu können, daß sie moralischen Grund­ sätzen nicht widersprechen. Wem aber, wenn nicht einem überge­ ordneten moralischen Recht, kann das positive Recht dann seine Legitimität entlehnen? Wie die Moral, so soll auch das Recht die Autonomie aller Betei­ ligten und Betroffenen gleichmäßig schützen. So muß auch das Recht unter diesem Aspekt der Freiheitssicherung seine Legitimi­ tät erweisen. Interessanterweise erzwingt allerdings die Positivität des Rechts eine eigenartige Aufspaltung der Autonomie, für die es auf Seiten der Moral kein Gegenstück gibt. Moralische Selbstbe­ stimmung im Sinne Kants ist insoweit ein einheitliches Konzept, als sie jedem Einzelnen in propria persona ansinnt, genau den Nor­ men zu folgen, die er sich nach eigenem - oder gemeinsam mit allen anderen erzieltem - unparteilichen Urteil selber setzt. Nun geht aber die Verbindlichkeit von Rechtsnormen nicht allein auf Pro-

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zesse der Meinungs- und Urteilsbildung, sondern auf die kollektiv verbindlichen Beschlüsse rechtsetzender und rechtsanwendender Instanzen zurück. Daraus ergibt sich mit konzeptueller Notwen­ digkeit eine Rollenteilung zwischen Autoren, die Recht setzen (und sprechen), sowie Adressaten, die jeweils dem geltenden Recht unterworfen sind. Die Autonomie, die im moralischen Bereich so­ zusagen aus einem Guß ist, tritt im juristischen Bereich nur in der doppelten Gestalt von privater und öffentlicher Autonomie auf. Diese beiden Momente müssen dann aber so vermittelt werden, daß die eine Autonomie die andere nicht beeinträchtigt. Die sub­ jektiven Handlungsfreiheiten des Privatrechtssubjekts und die öf­ fentliche Autonomie des Staatsbürgers ermöglichen sich wechsel­ seitig. Dem dient die Idee, daß Rechtspersonen nur in dem Maße autonom sein können, wie sie sich in Ausübung ihrer staatsbürger­ lichen Rechte als Autoren genau der Rechte verstehen dürfen, denen sie als Adressaten Gehorsam leisten sollen.

III. Zur Vermittlung von Volkssouveränität und Menschenrechten So ist es nicht erstaunlich, daß die Theorien des Vernunftrechts die Legitimationsfrage einerseits mit dem Hinweis auf das Prinzip der Volkssouveränität und andererseits mit Bezugnahme auf die durch Menschenrechte garantierte Herrschaft der Gesetze beantwortet haben. Das Prinzip der Volkssouveränität drückt sich in den Kom­ munikations- und Teilnahmerechten aus, die die öffentliche Auto­ nomie der Staatsbürger sichern; die Herrschaft der Gesetze in jenen klassischen Grundrechten, die die private Autonomie der Gesellschaftsbürger gewährleisten. Das Recht legitimiert sich auf diese Weise als Mittel zur gleichmäßigen Sicherung privater und öffentlicher Autonomie. Allerdings hat die politische Philosophie die Spannung zwischen Volkssouveränität und Menschenrechten, zwischen der »Freiheit der Alten« und der »Freiheit der Moder­ nen«, nicht ernstlich zum Ausgleich bringen können. Die politi­ sche Autonomie der Bürger soll sich in der Selbstorganisation einer Gemeinschaft verkörpern, die sich durch den souveränen Willen

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des Volkes ihre Gesetze selber gibt. Die private Autonomie der Bürger soll andererseits in Grundrechten Gestalt annehmen, die die anonyme Herrschaft der Gesetze gewährleisten. Wenn die Wei­ chen erst einmal so gestellt sind, kann die eine Idee nur auf Kosten der anderen zur Geltung gebracht werden. Die intuitiv einleuch­ tende Gleichursprünglichkeit beider Ideen bleibt auf der Strecke. Der auf Aristoteles und den politischen Humanismus der Renais­ sance zurückreichende Republikanismus hat stets der öffentlichen Autonomie der Staatsbürger Vorrang vor den vorpolitischen Frei­ heiten der Privatleute eingeräumt. Der auf Locke zurückgehende Liberalismus hat die Gefahr tyrannischer Mehrheiten beschworen und einen Vorrang der Menschenrechte postuliert. Im einen Fall sollten die Menschenrechte ihre Legitimität dem Ergebnis der ethi­ schen Selbstverständigung und souveränen Selbstbestimmung ei­ nes politischen Gemeinwesens verdanken; im anderen Fall sollten sie von Haus aus legitime Schranken bilden, die dem souveränen Willen des Volkes den Übergriff auf unantastbare subjektive Frei­ heitssphären verwehren. Rousseau und Kant haben zwar das Ziel verfolgt, im Begriff der Autonomie der Rechtsperson beides, den souveränen Willen und die praktische Vernunft, so vereinigt zu denken, daß sich Volkssouveränität und Menschenrechte wechsel­ seitig interpretieren. Aber selbst sie sind der Gleichursprünglich­ keit der beiden Ideen nicht gerecht geworden; Rousseau legt eher eine republikanische, Kant eher eine liberale Lesart nahe. Sie ver­ fehlen die Intuition, die sie auf den Begriff bringen wollten: die Idee der Menschenrechte, die sich im Recht auf gleiche subjektive Handlungsfreiheiten ausspricht, darf weder dem souveränen Ge­ setzgeber als äußere Schranke bloß auferlegt noch als funktionales Requisit für dessen Zwecke instrumentalisiert werden. Um diese Intuition richtig auszudrücken, empfiehlt es sich, das demokratische Verfahren, das dem Prozeß der Rechtsetzung unter Bedingungen des gesellschaftlichen und weltanschaulichen Plura­ lismus erst seine legitimitätserzeugende Kraft verleiht, unter dis­ kurstheoretischen Gesichtspunkten zu betrachten. Dabei gehe ich von dem hier nicht näher zu erörternden Grundsatz aus, daß genau die Regelungen Legitimität beanspruchen dürfen, denen alle mög­ licherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen

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zustimmen könnten. Wenn nun Diskurse und Verhandlungen — de­ ren Fairneß wiederum auf diskursiv begründeten Verfahren beru­ hen - den Ort bilden, an dem sich ein vernünftiger politischer Wille bilden kann, muß sich jene Vermutung auf Vernünftigkeit, die das demokratische Verfahren begründen soll, letztlich auf ein kunst­ volles kommunikatives Arrangement stützen: es kommt auf die Bedingungen an, unter denen die für eine legitime Rechtsetzung notwendigen Kommunikationsformen ihrerseits rechtlich institu­ tionalisiert werden können. Der gesuchte interne Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität besteht dann darin, daß das Erfordernis der rechtlichen Institutionalisierung einer staatsbürgerlichen Praxis des öffentlichen Gebrauchs kom­ munikativer Freiheiten eben durch die Menschenrechte selbst er­ füllt wird. Menschenrechte, die die Ausübung der Volkssouveräni­ tät ermöglichen, können dieser Praxis nicht als Beschränkung von außen auferlegt werden. Diese Überlegung leuchtet freilich unmittelbar nur für die politi­ schen Bürgerrechte, also die Kommunikations- und Teilnahme­ rechte ein, die die Ausübung der politischen Autonomie sichern, nicht jedoch für die klassischen Menschenrechte, die die private Autonomie der Bürger gewährleisten. Hier denken wir in erster Linie an das fundamentale Recht auf das größtmögliche Maß glei­ cher subjektiver Handlungsfreiheiten, aber auch an Grundrechte, die den Status eines Staatsangehörigen sowie umfassenden indivi­ duellen Rechtsschutz konstituieren. Diese Rechte, die jedem allge­ mein eine chancengleiche Verfolgung seiner privaten Lebensziele garantieren sollen, haben einen intrinsischen Wert, jedenfalls gehen sie in ihrem instrumentellen Wert für die demokratische Willens­ bildung nicht auf. Der Intuition der Gleichursprünglichkeit der klassischen Freiheitsrechte mit den politischen Bürgerrechten wer­ den wir erst dann gerecht, wenn wir unsere These, daß die Men­ schenrechte die Selbstbestimmungspraxis der Bürger ermöglichen, in der folgenden Weise präzisieren.

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iv. Zum Verhältnis von privater und öffentlicher Autonomie



Menschenrechte mögen moralisch noch so gut begründet werden können; sie dürfen aber einem Souverän nicht gleichsam paternali­ stisch übergestülpt werden. Die Idee der rechtlichen Autonomie der Bürger verlangt ja, daß sich die Adressaten des Rechts zugleich als dessen Autoren verstehen können. Dieser Idee widerspräche es, wenn der demokratische Verfassungsgesetzgeber die Menschen­ rechte als so etwas wie moralische Tatsachen schon vorfinden würde, um sie nur noch zu positivieren. Andererseits darf aber nicht übersehen werden, daß den Bürgern in ihrer Rolle als Mitge­ setzgeber die Wahl des Mediums, in dem sie allein ihre Autonomie verwirklichen können, nicht mehr freisteht. An der Gesetzgebung sind sie nur als AecArssubjekte beteiligt; sie können nicht mehr darüber disponieren, welcher Sprache sie sich bedienen wollen. Die demokratische Idee der Selbstgesetzgebung muß sich im Medium des Rechts selbst Geltung verschaffen. Wenn aber die Kommunikationsvoraussetzungen, unter denen die Bürger im Lichte des Diskursprinzips beurteilen, ob das Recht, das sie setzen, legitimes Recht ist, ihrerseits - in der Gestalt von poli­ tischen Bürgerrechten - institutionalisiert werden sollen, muß der Rechtscode als solcher zur Verfügung stehen. Zur Einrichtung die­ ses Rechtscodes ist es jedoch nötig, den Status von Rechtspersonen zu erzeugen, die als Träger subjektiver Rechte einer freiwilligen Assoziation von Rechtsgenossen angehören und gegebenenfalls ihre Rechtsansprüche effektiv einklagen. Es gibt kein Recht ohne die private Autonomie von Rechtspersonen überhaupt. Mithin gäbe es ohne Grundrechte, die die private Autonomie der Bürger sichern, auch kein Medium für die rechtliche Institutionalisierung jener Bedingungen, unter denen die Bürger in ihrer Rolle als Staats­ bürger von ihrer öffentlichen Autonomie Gebrauch machen könn­ ten. Auf diese Weise setzen sich private und öffentliche Autonomie wechselseitig voraus, ohne daß die Menschenrechte vor der Volks­ souveränität oder diese vor jenen einen Primat beanspruchen könnten. Darin spricht sich die Intuition aus, daß einerseits die Staatsbürger joi

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von ihrer öffentlichen Autonomie nur dann einen angemessenen Gebrauch machen können, wenn sie aufgrund einer gleichmäßig gesicherten privaten Autonomie hinreichend unabhängig sind; daß sie aber auch nur dann zu einer konsensfähigen Regelung ihrer privaten Autonomie gelangen können, wenn sie als Staatsbürger von ihrer politischen Autonomie einen angemessenen Gebrauch machen. Dieser interne Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie ist von der Konkurrenz der bis heute herrschenden Rechtsparadig­ men lange genug verdeckt worden. Das liberale Rechtsparadigma rechnet mit einer privatrechtlich - vor allem über Eigentumsrechte und Vertragsfreiheit - institutionalisierten Wirtschaftsgesellschaft, die dem spontanen Wirken -von Marktmechanismen überlassen bleibt. Diese »Privatrechtsgesellschaft« ist auf die Autonomie von Rechtssubjekten zugeschnitten, die in ihrer Rolle als Marktteilneh­ mer die eigenen Lebenspläne mehr oder weniger rational verfolgen. Damit verbindet sich die normative Erwartung, daß sich soziale Gerechtigkeit über die Gewährleistung eines solchen negativen Rechtsstatus, also allein über die Ausgrenzung individueller Frei­ heitssphären herstellen kann. Aus der wohlbegründeten Kritik an dieser Unterstellung hat sich das Sozialstaatsmodell entwickelt. Der Einwand liegt auf der Hand: wenn die Freiheit des »Habenund Erwerbenkönnens« soziale Gerechtigkeit garantieren soll, muß eine Gleichheit des »rechtlichen Könnens« bestehen. Mit der wachsenden Ungleichheit von ökonomischen Machtpositionen, Vermögenswerten und sozialen Lebenslagen sind aber die fakti­ schen Voraussetzungen für eine chancengleiche Nutzung gleich verteilter rechtlicher Kompetenzen tatsächlich immer weiter zer­ stört worden. Wenn der normative Gehalt von Rechtsgleichheit nicht vollends in sein Gegenteil verkehrt werden sollte, mußten einerseits die bestehenden Privatrechtsnormen inhaltlich spezifi­ ziert, mußten andererseits soziale Grundrechte eingeführt werden, die Ansprüche auf eine gerechtere Verteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums und auf einen wirksameren Schutz vor gesellschaftlich produzierten Gefahren begründen. Inzwischen hat diese Materialisierung des Rechts freilich ihrerseits die nicht-intendierten Nebenfolgen eines sozialstaatlichen Pater302

nalismus hervorgerufen. Offensichtlich darf die erstrebte Anglei­ chung faktischer Lebenslagen und Machtpositionen nicht zu »normalisierenden« Eingriffen von der Art führen, daß die prä­ sumtiven Nutznießer in ihrem Spielraum für eine autonome Le­ bensgestaltung wiederum eingeschränkt werden. Im weiteren Verlauf der Dialektik von rechtlicher und faktischer Freiheit hat sich gezeigt, daß beide Rechtsparadigmen gleichermaßen auf das produktivistische Bild einer industriekapitalistischen Wirtschafts­ gesellschaft eingeschworen sind, die so funktionieren soll, daß die Erwartung sozialer Gerechtigkeit über eine gesicherte privatauto­ nome Verfolgung je eigener Konzeptionen des guten Lebens erfüllt werden kann. Beide Seiten streiten sich nur über die Frage, ob die private Autonomie unmittelbar über Freiheitsrechte gewährleistet werden kann oder ob die Entstehung privater Autonomie über die Gewährung von sozialen Leistungsansprüchen gesichert werden muß. In beiden Fällen gerät aber der interne Zusammenhang zwi­ schen privater und öffentlicher Autonomie aus dem Blick.

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v. Das Beispiel feministischer Gleichstellungspolitiken Ich möchte abschließend anhand der feministischen Gleichstel­ lungspolitiken zeigen, daß die Rechtspolitik hilflos zwischen den beiden herkömmlichen Paradigmen hin- und herpendelt, solange der Blick auf die Sicherung der privaten Autonomie eingeschränkt bleibt und der interne Zusammenhang der subjektiven Rechte der Privatleute mit der öffentlichen Autonomie der an der Rechtset­ zung beteiligten Staatsbürger ausgeblendet wird. Letztlich können nämlich die privaten Rechtssubjekte nicht einmal in den Genuß gleicher subjektiver Freiheiten gelangen, wenn sie sich nicht selbst, in gemeinsamer Ausübung ihrer staatsbürgerlichen Autonomie, über berechtigte Interessen und Maßstäbe klarwerden und auf die relevanten Hinsichten einigen, unter denen jeweils Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden soll. Die liberale Politik zielte zunächst darauf ab, den Statuserwerb von der Identität des Geschlechts zu entkoppeln und für Frauen eine ■

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ergebnisneutrale Gleichheit der Chancen im Wettbewerb um Arbeitsplätze, soziales Ansehen, Bildungsabschlüsse, politische Macht usw. zu gewährleisten. Die teilweise durchgesetzte formale Gleichstellung ließ dann aber die faktische Ungleichbehandlung der Frauen nur um so deutlicher hervortreten. Darauf hat die so­ zialstaatliche Politik, vor allem im Sozial-, Arbeits- und Familien­ recht, mit speziellen Regelungen reagiert, die sich beispielsweise auf Schwangerschaft und Mutterschaft oder auf soziale Belastun­ gen im Scheidungsfall beziehen. Inzwischen sind freilich nicht nur die uneingelösten Forderungen, sondern auch die ambivalenten Folgen erfolgreich durchgesetzter sozialstaatlicher Programme zum Gegenstand der feministischen Kritik geworden - beispiels­ weise das durch diese Kompensationen erhöhte Beschäftigungsri­ siko für Frauen, die Überrepräsentation der Frauen in den niederen Lohngruppen, das problematische »Wohl des Kindes«, allgemein die fortschreitende Feminisierung der Armut usw. Aus juristischer Sicht besteht ein Grund für diese reflexiv erzeugte Diskriminierung in den überverallgemeinernden Klassifikationen für benachteili­ gende Situationen und benachteiligte Personengruppen. Diese »fal­ schen« Klassifikationen führen nämhch zu »normalisierenden« Eingriffen in die Lebensführung, die den intendierten Schadens­ ausgleich in erneute Diskriminierung, also Freiheitsverbürgung in Freiheitsentzug umschlagen lassen. Auf feministischen Rechtsge­ bieten nimmt der sozialstaatliche Paternalismus einen buchstäb­ lichen Sinn an, soweit sich Legislative und Rechtsprechung an traditionalen Deutungsmustern orientieren und dazu beitragen, die bestehenden Stereotype der Geschlechtsidentität zu befestigen. Die Klassifikation der Geschlechtsrollen und der geschlechtsab­ hängigen Differenzen berührt elementare Schichten des kulturellen Selbstverständnisses einer Gesellschaft. Erst heute bringt der radi­ kale Feminismus den fehlbaren, revisionsbedürftigen und grund­ sätzlich bestreitbaren Charakter dieses Selbstverständnisses zu Bewußtsein. Er beharrt zu Recht darauf, daß die Hinsichten, unter denen Differenzen zwischen Erfahrungen und Lebenslagen von (bestimmten Gruppen) von Frauen und Männern für eine chancen­ gleiche Nutzung subjektiver Handlungsfreiheiten relevant werden, in der politischen Öffentlichkeit - und zwar im öffentlichen Streit 304



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um die angemessene Interpretation der Bedürfnisse und Kriterien geklärt werden müssen. So läßt sich an diesem Kampf um die Gleichstellung der Frauen der fällige Wandel des paradigmatischen Rechtsverständnisses besonders gut demonstrieren. An die Stelle des Streits, ob die Autonomie der Rechtspersonen besser durch subjektive Freiheiten für den Wettbewerb der Privat­ leute oder durch objektiv gewährte Leistungsansprüche für Klien­ ten wohlfahrtsstaatlicher Bürokratien gesichert wird, tritt eine prozeduralistische Rechtsauffassung, wonach der demokratische Prozeß gleichzeitig private und öffentliche Autonomie sichern muß: die subjektiven Rechte, die Frauen eine privatautonome Lebensgestakung gewährleisten sollen, können gar nicht angemessen formuliert werden, wenn nicht zuvor die Betroffenen selbst in öf­ fentlichen Diskussionen die jeweils relevanten Hinsichten für die Gleich- und Ungleichbehandlung typischer Fälle artikulieren und begründen. Die private Autonomie gleichberechtigter Bürger kann nur im Gleichschritt mit der Aktivierung ihrer staatsbürgerlichen Autonomie gesichert werden.

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Anhang zu »Faktizität und Geltung«

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I Replik auf Beiträge zu einem Symposion

der Cardozo Law School

Jeder Autor steht in der Schuld seiner Leser; das gilt erst recht für einen anspruchsvollen Autor, der eine umfangreiche und komplexe Untersuchung vorlegt und dafür - noch vor der Publikation des Buches in deutscher Sprache an einer amerikanischen Universität die kritische Aufmerksamkeit hervorragender Kollegen findet. Aus den sorgfältigen Kommentaren habe ich großen Gewinn gezogen. Diese Behauptung wird sich anhand meiner Antwort nachprüfen lassen, mit der ich zugleich meinen Dank abstatten möchte. Ich beschränke mich auf sieben Themenkomplexe. Zunächst möchte ich zur Einbettung des ^Gerechten* in Konzeptionen des Guten metakritisch Stellung nehmen. Ihren gemäßigten Kontextualismus versehen R. F. Bernstein und F. I. Michelman mit ver­ schiedenen Akzenten - der eine aus der Sicht eines aristotelisch geprägten Pragmatismus, der andere aus der einer republikani­ schen Rechtstheorie (i). Thomas A. McCarthy spitzt diese Kontro­ verse, sozusagen aus nächster Nähe, auf die Frage zu, ob das Diskursmodell, insbesondere die Unterstellung jeweils einer richti­ gen Antwort, den für multikulturelle Gesellschaften typischen Wertkonflikten gerecht wird (n). Michel Rosenfeld setzt die Dis­ kussion über den Vorrang des Verfahrens vor einem substantiellen Hintergrundeinverständnis aus der Sicht des Juristen fort und deu­ tet am Schluß eine Alternative an, die A.J.Jacobson in Gestalt einer dynamischen Rechtskonzeption entwickelt (m). Bill Regh lei­ tet mit seiner interessanten Frage nach dem Verhältnis von Diskurs und Entscheidung zu grundsätzlicheren Fragen der Theoriekon­ struktion über. Michael Power behandelt die Rolle von Idealisie­ rungen, während mich J. Lenoble mit vernunftkritischen Einwän­ den konfrontiert, die den Ansatz einer Theorie des kommunikati­ ven Handelns im ganzen betreffen (iv). Wie Lenoble, so geben mir auch David Rasmussen, Robert Alexy und Gunther Teubner An­ laß, noch einmal auf die Logik von Anwendungsdiskursen einzuge­ hen (v). Ulrich Preuß und Günther Frankenberg diskutieren unter 309

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verschiedenen Aspekten das Verhältnis von privater und öffent­ licher Autonomie, während Dick Howard und Gabriel Motzkin auf den politischen Gehalt meiner Rechtstheorie eingehen (vi). Ab­ schließend nehme ich Stellung zu den rechtssoziologischen Einwän­ den, die Mark Gould aus linksparsonianischer und Niklas Luhmann aus systemtheoretischer Sicht erheben (vn).

i. Das Gute und das Gerechte

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(1) Mein Freund Dick Bernstein ist einer der genauesten Kenner meiner Arbeiten. Mit großer hermeneutischer Sensibilität verfolgt und interpretiert1 er meine Veröffentlichungen - und lokalisiert sie einleuchtend im Kontext der zeitgenössischen Diskussion.2 Seit mehr als zwei Jahrzehnten verbindet uns eine philosophische Aus­ einandersetzung, die in meinen Texten Spuren hinterlassen hat. Seit dem ersten Gespräch auf dem Campus in Haverford drängt mich Bernstein mit guten Argumenten zu einer »Detranszendentalisierung« des Kantischen Erbes - damals kannte ich nicht einmal das Wort. Immer wieder versucht er, ganz im hegelianischen Geist des Pragmatismus, starre Gegensätze aufzulösen. Unterscheidungen haben keinen Wert per se, sie müssen sich an den Problemen be­ währen, die wir mit ihrer Hilfe lösen wollen. What is the difference, fragt er mit Peirce, that makes a difference?3 So auch dieses Mal, offensichtlich mit wachsender Ungeduld. Er wendet sich (a) gegen den Neutralitätsanspruch eines Prozeduralismus, der doch in Wahrheit auf ein bestimmtes demokratisches Ethos angewiesen sei, und (b) gegen die abstrakte, seiner Meinung nach leer laufende 1 Vgl. die subtile Einleitung zu R.J. Bernstein (Ed.), »Habermas and Modernity«, Oxford 1985, 1-32, sowie: ders., The Restructuring of Social and Political Theory, N. Y., London 1976, Ch. iv. 1 Vgl. R.J.Bernstein, Beyond Objectivism and Relativism, Philadelphia 1983; ders., The New Consteilation, Cambridge (England) 1991. 3 Auch wenn seine hermeneutische Großzügigkeit ihn gelegentlich dazu verleitet, Differenzen, die man festhalten sollte, zu verwischen: R.J. Bernstein, »What is the Difference that Makes a Difference? Gadamer, Habermas, and Rorty«, in: ders., Philosophical Profites, Philadelphia 1986, 21-57.

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< Unterscheidung zwischen moralischen und ethischen Fragestel­ lungen, die an den wirklichen Problemen vorbeigehe. ad a). Nach Bernsteins Auffassung sollen bestimmte Verfahren und Kommunikationsvoraussetzungen die Vermutung auf rationale, weil gut informierte und unparteiliche Ergebnisse der demokrati­ schen Meinungs- und Willensbildung nur dann begründen können, wenn die beteiligten Bürger von einem »demokratischen Ethos« beseelt sind; sie müssen durch staatsbürgerliche Tugenden moti­ viert sein, wobei diese generalisierten Wertorientierungen noch nichts über einzelne Normen vorentscheiden. In einer schwachen Lesart bedeutet diese These keinen Einwand gegen meine Konzep­ tion, wonach das rechtsstaatlich verfaßte politische System nicht in sich kreist, sondern auch auf eine »freiheitliche politische Kultur« und eine »an Freiheit gewöhnte Bevölkerung« (und zwar auf die »Initiativen meinungsbildender Assoziationen« und entsprechende Muster der Sozialisation) angewiesen bleibt: »die deliberative Poli­ tik (steht)... in einem internen Zusammenhang mit den Kontexten einer entgegenkommenden, ihrerseits rationalisierten Lebens­ welt.«4 Wenn man hinzunimmt, was ich in der »Theorie des kommunikativen Handelns« über die Rationalisierung von Le­ benswelten sage, kann man dieses »Entgegenkommen« durchaus im Sinne einer »postkonventionellen Sittlichkeit«5 oder eines de­ mokratischen Ethos verstehen. Das Erfordernis einer, wenn man so will »verfassungspatrioti­ schen« Einbettung des demokratischen Prozesses sehe ich aus systematischen Gründen. Es erklärt sich aus dem Umstand, daß auch die politischen Grundrechte die Form subjektiv-öffentlicher Rechte annehmen und daher als subjektive Handlungsfreiheiten interpretiert werden können. In modernen Rechtsordnungen steht es den Staatsbürgern frei, auf welche Weise sie von ihren Kommu­ nikations- und Teilnahmerechten Gebrauch machen wollen. Eine Gemeinwohlorientierung kann ihnen angesonnen, aber nicht zur Rechtspflicht gemacht werden. Gleichwohl ist sie in gewissem

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4 J. Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992, 366. 5 A.Wellmer, »Bedingungen einer demokratischen Kultur«, in: M.Brumlick, H. Brunkhorst (Hg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfun am Main 1993, 173-196. 3"

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Grade nötig, weil die demokratische Gesetzgebung ihre legitimie­ rende Kraft allein aus einem Prozeß der Verständigung der Staats­ bürger über die Regeln ihres Zusammenlebens ziehen kann. Das Paradox der Entstehung von Legitimität aus Legalität löst sich mit­ hin nur auf, wenn die politische Kultur die Bürger dazu disponiert, nicht in der erfolgsorientierten Einstellung selbstinteressierter Marktteilnehmer zu verharren, sondern von ihren politischen Frei­ heiten auch, im Sinne von Kants »öffentlichem Vernunftgebrauch«, einen verständigungsorientierten Gebrauch zu machen. Es ist dieses »auch«, das die schwache von der starken - klassisch­ republikanischen - Lesart unterscheidet, die Bernstein favorisiert. Denn zu einem Einwand spitzt er seine These erst dadurch zu, daß er der politischen Tugend der vereinigten Staatsbürger in letzter Instanz die ganze Legitimationslast des positiven Rechts aufbür­ det. Demgegenüber entlastet die diskurstheoretische Erklärung des demokratischen Prozesses die Staatsbürger von der Rousseauschen Tugendzumutung mit einem strukturalistischen Argument. Die Gemeinwohlorientierung braucht nur noch in kleiner Münze er­ hoben zu werden, soweit sich die praktische Vernunft aus den Herzen und den Köpfen kollektiver oder einzelner Aktoren in die Verfahren und Kommunikationsformen der politischen Meinungs­ und Willensbildung zurückzieht und sich von der individuellen Ebene der sittlichen Motivationen und Einsichten auf die soziale Ebene der Informationsbeschaffung und -Verarbeitung verlagert. Das bedeutet eine gewisse Intellektualisierung. Beratungs- und Entscheidungsprozesse müssen nämlich so eingerichtet sein, daß die Diskurse und Verhandlungen wie Filter funktionieren und nur solche Themen oder Beiträge durchlassen, die für die Beschlußfas­ sung »zählen« sollen. Jenem falschen Realismus, der den Sinn der demokratischen Selbstbestimmung von vornherein als »ideali­ stisch« verwirft, läßt sich besser begegnen, wenn wir bereits auf der Ebene normativer Erklärungen die Twgendzumutung durch eine Rationalitätsvermutung ersetzen. Damit setze ich mich nur insoweit in Widerspruch zur republika­ nischen Tradition, als die Begründungslast für die Wirksamkeit der praktischen Vernunft von der Mentalität der Bürger auf die deliberativen Formen der Politik übergeht. Dieser Prozeduralismus be311

deutet indessen nicht, wie Bernstein meint, eine normative Neutra­ lisierung der Selbstbestimmungspraxis der Bürger. Gewiß, auch wenn die Verfahren und Prozesse sich nicht selber tragen, sondern in eine freiheitliche politische Kultur eingebettet sein müssen, ist es nun das kommunikative Arrangement und nicht die Kompetenz der beteiligten Aktoren, mit dem sich in erster Linie die normative Erwartung legitimer Rechtsetzung verbindet. Aber dieser Modus der Rechtsetzung, der die gleiche Autonomie aller sichern soll, be­ hält einen starken normativen Gehalt. Das demokratische Verfah­ ren begründet eine Rationalitätsvermutung in dem Sinne, daß es neutrale, nämlich unparteiliche Ergebnisse in Aussicht stellt: die Verfahrensrationalität soll Gerechtigkeit im Sinne der unpartei­ lichen Regelung praktischer Fragen verbürgen. ad b). Ein weiteres Bedenken von Bernstein richtet sich nicht so sehr gegen die prozeduralistische Auffassung als solche als viel­ mehr gegen das damit verknüpfte Verständnis von politischer Gerechtigkeit. Denn der in Verfahren und Prozessen verkörperten praktischen Vernunft ist der Bezug zu einer (sowohl im morali­ schen wie im rechtlichen Sinne verstandenen) Gerechtigkeit einge­ schrieben, die über das konkrete Ethos einer bestimmten Gemein­ schaft oder über die in einer bestimmten Tradition und Lebensform artikulierte Weltdeutung hinausweist. Um das deutlich zu machen, unterscheide ich zwischen moralischen Fragen der Gerechtigkeit und ethischen Fragen der Selbstverständigung. Im einen Fall be­ trachten wir ein Problem unter dem Gesichtspunkt, welche Rege­ lung im gleichmäßigen Interesse aller Betroffenen liegt (was »gleichermaßen gut ist für alle«); im anderen Fall wägen wir Hand­ lungsalternativen aus der Perspektive von Einzelnen oder Kollekti­ ven ab, die sich ihrer Identität vergewissern und wissen wollen, welches Leben sie im Lichte dessen, wer sie sind und sein möchten, führen sollen (was »im ganzen und auf lange Sicht betrachtet gut ist für mich bzw. für uns«). Den beiden Fragestellungen entsprechen also verschiedene Standpunkte. Während den Fragen des »guten Lebens« die Welt- und Selbstdeutungsperspektive einer ersten Per­ son Singular oder Plural eingeschrieben ist, lassen sich Gerechtig­ keitsfragen nur unter gleichmäßiger Berücksichtigung der Weltund Selbstdeutungsperspektiven aller Beteiligten unparteilich be-

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urteilen (daher Meads Forderung nach einer »idealen Perspektiven­ übernahme«). Bernstein bestreitet nicht die analytische Unter­ scheidung als solche, er behauptet vielmehr, daß ich diese hypostasiere und keinen sinnvollen Gebrauch davon mache (also dem »myth of the framework« verfalle). Zunächst muß ich ein Mißverständnis aufklären. Fragen der ethi­ schen Selbstverständigung sind in einem anderen Sinne kontextab­ hängig als moralische Fragen, weil sie sich jeweils innerhalb des Horizonts einer persönlichen Lebensgeschichte oder einer inter­ subjektiv geteilten Lebensform stellen und nur mit Bezugnahme auf diesen vorgefundenen Kontext sinnvoll beantworten lassen. Andererseits müssen wir natürlich auch in ethischen Diskursen eine vom Druck unmittelbarer Interessen und Handlungsimpera­ tive entlastende reflexive Einstellung einnehmen, den naiven Le­ bensvollzug gewissermaßen unterbrechen und Distanz gewinnen vom eigenen Lebenskontext. Allein, diese Distanzierung vom gan­ zen Netzwerk unserer Bildungsprozesse kann (und braucht) nicht so tief (zu) reichen wie diejenige, die wir in der moralischen Refle­ xion vornehmen, wo wir eine hypothetische Einstellung gegenüber dem problematisch gewordenen Geltungsanspruch einzelner Nor­ men einnehmen. Gerade der Pragmatismus lehrt uns, daß wir unsere Identität und unsere Lebenswelt nicht als Ganze durch das Fiat eines papiernen Zweifels auf die Objektseite bringen können. Strittig ist allein die Frage, ob wir moralische Fragen nur innerhalb des Horizonts je unseres ethisch artikulierten und insofern parti­ kularen Welt- und Selbstverständnisses stellen und beantworten können oder ob wir, indem wir etwas unter dem moralischen Ge­ sichtspunkt betrachten, diesen Auslegungshorizont zu erweitern versuchen, und zwar so radikal, daß er, um es mit Gadamer zu sagen, mit den Horizonten aller anderen Personen »verschmilzt«. Im Hinblick auf diese Frage des Vorrangs des Gerechten vor dem Guten ist Bernstein nicht ganz eindeutig: »If I take my own life history as a Jew or an American ... I certainly do not restrict myself to questions concerning my fellow Jews, Americans etc. I want to understand my responsibilities and obligations to those who are not members of the identified groups.« Das besagt zunächst nicht mehr, als daß sich uns Gerechtigkeitsfragen als Personen mit einem

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bestimmten Selbst- und Weltverständnis stellen und daß wir sie aus diesem Horizont heraus verstehen. Nicht trivial ist es jedoch, ob wir die Frage innerhalb des gegebenen Horizonts auch befriedi­ gend beantworten können. Das ist so lange nicht nötig und nicht möglich, wie ich mir über meine Identität als Jude oder Protestant, Amerikaner oder Deutscher klarwerden möchte. Aber in Fragen, die unsere moralischen Verpflichtungen gegenüber bosnischen Flüchtlingen oder einheimischen Obdachlosen betreffen, auch in juristischen Fragen wie der Regelung von neu auftauchenden Nö­ tigungstatbeständen (»Gewalt in der Ehe«), geht es um die Legiti­ mität von Erwartungen und Ansprüchen, die wir einander nicht nur als Angehörige zumuten, sondern auch als Fremde, über große geographische und historische, kulturelle und soziale Abstände hinweg. Dann geht es nicht mehr um das, was »gut« ist für uns als Mitglieder eines (durch ein eigenes Ethos ausgezeichneten) Kollek­ tivs, sondern um das, was »richtig« ist für alle, sei es für alle Mitglieder des Universums sprach- und handlungsfähiger Subjekte oder für alle Genossen einer (lokalen oder gegebenenfalls sogar globalen) Rechtsgemeinschaft. Bei der Beurteilung dieser Gerech­ tigkeitsfragen suchen wir nach einer unparteilichen Lösung, der alle Beteiligten (und Betroffenen) in einem zwanglosen, unter sym­ metrischen Bedingungen reziproker Anerkennung geführten Dia­ log ihre wohl erwogene Zustimmung müßten geben können. In dieser Frage stehen sich heute drei Positionen gegenüber. So­ lange jeder Begriff von Gerechtigkeit (a) unauflöslich imprägniert ist von einer jeweils besonderen Konzeption des Guten, bleiben wir auch in der Beurteilung von Gerechtigkeitsfragen im gegebe­ nen Horizont unseres Selbst- und Weltverständnisses befangen. Dann kann ein Einverständnis zwischen Parteien verschiedener Herkunft nur nach dem Muster der Assimilation ihrer Maßstäbe an unsere (Rorty) oder nach dem Muster der Konversion, also der Preisgabe unserer Maßstäbe zugunsten ihrer (Maclntyre) zustande kommen. Sobald wir hingegen (b) eine Mehrzahl von »modernen« Weltbildern in Betracht ziehen, die sich wegen ihres von Haus aus universalistischen Potentials zueinander tolerant verhalten können, dürfen wir in Fragen der politischen Gerechtigkeit mit einem über­ lappenden Konsens (Rawls) rechnen. Weil hier - nach dem Muster 30



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der Religionsfreiheit — eine gewisse Horizonterweiterung (der in­ zwischen reflexiv gewordenen Weltreligionen und Weltanschau­ ungen) vorausgesetzt wird, ergibt sich eine rational motivierte Übereinstimmung, allerdings nur so, daß dieselben grundsätzli­ chen Lösungen (die Rawls in der »Theorie der Gerechtigkeit« rekonstruiert) jeweils aus anderen Gründen akzeptiert werden. Die Diskurstheorie führt schließlich (c) die Unterscheidung zwischen moralischen und ethischen Fragen in der Weise ein und behauptet einen Vorrang des Gerechten vor dem Guten in dem Sinne, daß die Logik von Gerechtigkeitsfragen die Dynamik einer fortschreiten­ den Erweiterung des Horizonts verlangt. Aus dem Horizont ihrer jeweiligen Selbst- und Weltdeutungen heraus beziehen sich die ver­ schiedenen Parteien auf einen präsumtiv gemeinsamen moralischen Gesichtspunkt, der unter den symmetrischen Bedingungen des Diskurses (und des Voneinander-Lernens) zu einer immer weiter gehenden Dezentrierung der verschiedenen Perspektiven nötigt. G. H. Mead sprach in diesem Zusammenhang vom »appeal to an ever wider Community«. Daß die Unterscheidung zwischen moralischen und ethischen Fra­ gen auf dem Feld der politischen Gerechtigkeit »einen Unterschied macht« und keineswegs leerläuft, kann man sich heute ebenso an jenen Diskussionen, die unter dem Stichwort »Multikulturalismus« geführt werden6, klarmachen wie an den Friedensbemühun­ gen für die ethnischen Konflikte in Ost- und Südosteuropa - oder am Beispiel der Wiener Menschenrechtskonferenz, wo asiatische und afrikanische Vertreter mit den Vertretern der okzidentalen Ge­ sellschaften über die Interpretation der - als solche akzeptierten Grundrechte streiten. (2) Frank Michelman gehört nicht zufällig zu den drei oder vier zeitgenössischen Autoren, die ich am häufigsten zitiert habe: ich habe aus seinen Schriften am meisten über deliberative Politik ge­ lernt und bin durch diese Lektüre dazu ermutigt worden, das Diskurskonzept auf Recht und Rechtsetzung - »Jurisgenesis«, wie er sagt - anzuwenden. In dieser Hinsicht besteht eine weitgehende 6 Vgl. J. Habermas, »Kampf um Anerkennung im demokratischen Rechtsstaat*, oben S. 237-276.

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Übereinstimmung zwischen unseren Positionen, die sich aus einer (durchaus nicht symmetrischen) Abhängigkeit erklärt. In einem Familienstreit sind die Differenzen oft so minimal, daß sie nur durch Übertreibung sichtbar gemacht werden können. Vielleicht habe ich mich in meiner eher von systematischen als von herme­ neutischen Absichten geleiteten Darstellung einer solchen Über­ treibung schuldig gemacht. Ich bin nämlich nicht sicher, ob Michelmans Bedenken wie im Fall von Bernstein auf eine letztlich philosophische Meinungsdifferenz oder doch eher auf einen Un­ terschied der disziplinären Blickrichtung zurückgehen. Meine Vor­ behalte beziehen sich allein auf einen »dialogischen« Begriff deliberativer Politik, der durch eine idealisierende Gegenüber­ stellung zur »instrumentellen« Politik die große Masse der Ver­ handlungen, d. h. den Interessenausgleich durch Kompromiß­ bildung, ausschließt. Michelman geht es um die genauere Fassung eines Begriffs von postkonventioneller Sittlichkeit, die den motivbildenden Kontext für die angemessene Wahrnehmung der Bürgerrechte bilden soll. Gewiß geht eine »entgegenkommende« politische Kultur jeweils aus dem Zusammenhang einer nationalen Geschichte hervor; aber was sie zu einer »liberalen« politischen Kultur, die in einer plura­ listischen Gesellschaft ein gemeinsames staatsbürgerliches Be­ wußtsein über alle Differenzen hinweg stiftet und erhält, erst tauglich macht, ist doch der Bezug auf die universalistischen, Gleichberechtigung verheißenden Prinzipien der Verfassung. Die Verfassungsstaaten treten natürlich im Plural auf und unterschei­ den sich voneinander nicht erst in ihren institutionellen Ordnun­ gen, sondern schon im Wortlaut ihrer Gründungsurkunden: »Constitutional law is institutional stuff from the word go«. Al­ lein, was diese Staaten zu demokratischen Rechtsstaaten macht, ist die Implementation von Grundrechten, wobei alle Interpreten da­ von ausgehen, daß diese einen - wie immer auch aus konkurrieren­ den Auslegungshorizonten umstrittenen - universalistischen Be­ deutungsgehalt haben: »But to say that originary discourse of legislative justification must always proceed on ground that is already ethical is not to deny that they must always proceed within a horizon of universalist morality, sub specie aeternitatis.*

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Was Michelman über die Bindung des Verfassungsjuristen, über­ haupt des Richters, an eine ethisch imprägnierte Rechtstradition sagt, widerspricht dem nicht. Diesen Umstand illustriert er mit dem Beispiel, daß die Gerichte in den USA und in Kanada den neuen Tatbestand »hate speech« verschieden behandeln. Aus den beiden von Michelman zur Wahl gestellten Interpretationen dieses Unterschieds möchte ich eine dritte konstruieren, die mir einem solchen Fall angemessen zu sein scheint: »The same (universal) principle of equal liberties for all, resting on somewhat different variants of discourses of originary constitutional justification, prevails in both countries, which have somewhat different cultural, and ethical histories. The doctrinal differences we observe are se­ condary applicational variants reflecting (what is probably) a combination of differing legal traditions and different social facts at the moment.«

11. Die Neutralisierung von Wertkonflikten und das »Aushalten von Differenzen«

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Thomas McCarthy ist für mich ein Glücksfall: meistens habe ich den Eindruck, daß er meine Texte besser versteht als ich selbst. Bei aller Kritik7 verteidigt er das, was ich inzwischen als unsere ge­ meinsame Position erkenne und anerkenne, so scharfsinnig gegen Einwände (insbesondere von selten Foucaults, Rortys und der Dekonstruktivisten8), daß es mich beunruhigt, wenn er mir wie im vorliegenden Essay9 mit Nachdruck widerspricht. Gewiß, seit zwei Jahrzehnten macht er bereits hermeneutische Bedenken gegen 7 Th. A. McCarthy hat mich schon sehr bald auf Konstruktionsproblcmc aufmerk­ sam gemacht, die die Anlage der Theorie im ganzen betreffen: ders., The Critical Theory ofJürgen Habermas, Cambridge, Mass. 1978; vgl. auch den Anhang zur deutschen Taschenbuchausgabe: Kritik der Verständigungsverhältnisse, Frankfun am Main 1989, 501-616; sowie ders., »Komplexität und Demokratie - die Versu­ chungen der Systemtheorie«, in: A.Honneth, H.Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main 1986, 177-215. 8 Vgl. zuletzt: D.Hoy, Th. A. McCarthy, Critical Theory, Oxford 1994. 9 Im Ansatz ist seine Kritik bereits entwickelt in: Th. A. McCarthy, »Praktischer Diskurs über das Verhältnis von Moral und Politik«, in: ders., Ideale und Illusio­ nen, Frankfurt am Main 1993, 3°3“331 •

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starke systematische Ansprüche rationaler Rekonstruktion (zumal wenn sie mit evolutionstheoretischen Annahmen verbunden sind) geltend; daher erstaunt mich nicht so sehr die (heute stärker pragmatistisch gefärbte) Stoßrichtung als vielmehr die antiuniversalisti­ sche Pointe seiner Einwände. McCarthy besteht, ähnlich wie Bernstein, auf einer dialektischen Verschränkung des Guten mit dem Gerechten: »the justice issue of what is >equally good for all« is not, strictly speaking, superordinate to >self-understanding of the kind of society we want to live in«: they are two interdependent aspects of the same problem, namely >which norms citizens want to adopt to reguläre their life together««. Wie bei Bernstein und Michelman heißt es wiederum, daß die analytisch unterscheidbaren Gesichtspunkte »in der Praxis ununterscheidbar sind«. McCarthy geht von der wichtigen Beobachtung aus, daß sich in modernen Gesellschaften eine Schere auftut zwischen den rapide wachsenden Differenzen, die die Bürger in ihren täglichen Interak­ tionen wahrnehmen, einerseits und andererseits der Zumutung, die ein egalitäres Rechtssystem diesen Bürgern zugleich auferlegt, nämlich normativ von diesen immer aufdringlicher wahrgenom­ menen Differenzen abzusehen. Das Spektrum der Unterschiede, die von Einzelnen auf der Ebene einfacher Interaktionen verarbei­ tet werden müssen, wächst in der zeitlichen, sozialen und sach­ lichen Dimension. In immer kürzeren Intervallen, bei immer flüchtigeren Kontakten, müssen wir uns mit immer fremderen (durch ganz andere soziokulturelle Herkünfte geprägten) Personen über immer zahlreichere und speziellere (durch den erforderlichen Vertrauensvorschuß in unbekannte Experten eher verschärfte) Pro­ bleme verständigen.10 Die Individualisierung der Lebensstile und vor allem die ethnisch heterogene Zusammensetzung multikultu­ reller Gesellschaften belegen diese Abstraktionszumutungen nur auf besonders drastische Weise, weil die aufeinanderstoßenden Stile und Lebensformen identitätsbildende, die Persönlichkeitsstruktu­ ren im ganzen ergreifende Totalitäten sind und daher »existen­ tielle« Wertkonflikte auslösen. McCarthy setzt an Konflikten zwischen prägenden Wertorientierungen an, weil diese nicht wie

10 Vgl. Claus Offe, «Modern Barbarity: A Micro State of Nature?«, Constellations, a. >99«. 354-377-

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Interessengegensätze durch Kompromisse über die Verteilung von Entschädigungen ausgeglichen werden können, die ihrer Art nach anerkannt sind. Die gleichberechtigte Koexistenz von Lebensformen ist, wegen ih­ res kollektiven Charakters, nicht per se mit Mitteln des Privatrechts zu sichern; denn subjektive Rechte sichern Freiheiten, die unmit­ telbar als eine Schutzhülle für die autonome Verfolgung je indivi­ dueller Lebenspläne dienen. Das liberale Paradigma rechnete noch mit einer gewissen Vereinzelung der Individuen; diese sollten von­ einander so weit Abstand halten können, daß sie sich bei der Realisierung ihrer je eigenen Konzeptionen des Guten nicht in die Quere kommen und gegenseitig »stören« müssen. In multikulturcllen und hoch individualisierten Gesellschaften schrumpfen aber mit wachsender Komplexität zugleich die »Abschnitte« im sozialen Raum und in der historischen Zeit, die von verschiedenen Individu­ en und den Mitgliedern verschiedener Subkulturen jeweils für sich besetzt und gleichsam »privatisiert« werden können. Die abstrakte Rechtsperson der klassischen Rechtsdogmatik muß heute durch ein intersubjektivistisches Konzept ersetzt werden; die Identität des Einzelnen ist mit kollektiven Identitäten verwoben. Da auch Rechtspersonen nur auf dem Wege der Vergesellschaftung individuiert werden, kann deren Integrität nicht ohne den Schutz jener inter­ subjektiv geteilten Erfahrungs- und Lebenszusammenhänge garan­ tiert werden, in denen sie ihre personalen Identitäten ausgebildet ha­ ben und gegebenenfalls allein stabilisieren können.11 Ich möchte (1) auf zwei Maximen der rechtsstaatlichen Neutralisie­ rung von Wertkonflikten eingehen, (2) verschiedene Details behan­ deln, die mir für die Klärung der Kontroverse wichtig zu sein scheinen, (3) die von McCarthy vorgeschlagene Alternative erör­ tern und (4) eine tentative Überlegung zu dem wirklich problema­ tischen Punkt - der Prämisse der »einen richtigen Antwort« anstellen. (1) Der demokratische Rechtsstaat hat nur ein begrenztes Reper­ toire an Mitteln für die Regelung von Wertkonflikten, die sich aus den unvermeidlichen Interaktionen zwischen (Mitgliedern von)

11 Vgl. J. Habermas, -Kampf um Anerkennung-, oben S. XJ/ff. 320

koexistierenden, aber füreinander auf existentiell dissonante Weise »fremden« Lebensformen ergeben. (Wie McCarthy werde ich mich auf diesen »multikulturell« verursachten Konflikttypus beschrän­ ken.) In unserem Zusammenhang interessieren vor allem zwei Mittel der normativen Neutralisierung von Unterschieden: (a) die Garantie gleichberechtigter Koexistenz und (b) die Sicherung von Legitimation durch Verfahren. Für (a) ist die Unterscheidung zwischen Gerechtigkeitsfragen und Fragen des guten Lebens wesentlich. Das läßt sich an Tatbeständen wie z. B. Euthanasie oder Abtreibung illustrieren. Nehmen wir an, es habe sich in hinreichend diskursiv geführten öffentlichen Aus­ einandersetzungen herausgestellt (was ich für die genannten Bei­ spiele nicht behaupte, sondern nur arguendo unterstelle), daß eine weltanschauungsneutrale Fassung des strittigen Tatbestandes nicht zu erreichen ist, weil die konkurrierenden Beschreibungen der re­ gelungsbedürftigen Materie auf begriffliche Weise mit dem religiös oder weltanschaulich artikulierten Selbstverständnis verschiedener Bekenntnisse, Interpretationsgemeinschaften, Subkulturen usw. verwoben sind. Es liege also ein Wertkonflikt vor, der weder durch Diskurs noch durch Kompromiß aufzulösen ist. Dann darf in einer rechtsstaatlich verfaßten pluralistischen Gesellschaft ein solcher ethisch kontroverser Tatbestand offensichtlich nicht unter der ethisch imprägnierten Beschreibung eines - aus der Sicht des Uni­ versums der Rechtsgenossen - partikularen Selbstverständnisses (und sei es dem der Mehrheitskultur) geregelt werden. Vielmehr muß (wie im Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Kruzi­ fixe in bayerischen Schulzimmern) nach einer neutralen Regelung gesucht werden, die auf der abstrakteren Ebene der gleichberech­ tigten Koexistenz der verschiedenen ethisch integrierten Gemein­ schaften die rational motivierte Anerkennung aller Konfliktpar­ teien finden kann. Für diesen Wechsel der Abstraktionsebene ist ein Wechsel der Perspektive nötig. Von der ethischen Frage, welche Regelung aus jeweils »unserer« Sicht die »für uns beste« ist, müs­ sen nun alle Beteiligten absehen und statt dessen unter dem mora­ lischen Gesichtspunkt prüfen, welche Regelung im Hinblick auf den vorrangigen Anspruch einer gleichberechtigten Koexistenz »gleichermaßen gut ist für alle«.

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Hinsichtlich der Schwierigkeit, die McCarthy mit dieser Abstrak­ tion verbunden sieht, ist allerdings eine Einschränkung am Platz. Der Perspektivenwechsel soll eine moralisch, also aus den gleichen Gründen akzeptable Regelung ermöglichen, die den Wertkonflikt ungeschlichtet läßt. Eine solche Regelung bedeutet noch nicht die symmetrische Verteilung der in Kauf zu nehmenden Folgelasten. Sie ist im Hinblick auf das Ziel der gleichberechtigten Koexistenz »gleichermaßen gut für alle«, nicht in jedem Fall auch im Hinblick auf alle Konsequenzen. Eine ungleiche Verteilung der »Härten«, die eine gerechte Lösung für das ethische Selbstverständnis der ei­ nen oder der anderen Seite bedeutet, ist nicht auszuschließen, eher wahrscheinlich. Im allgemeinen arbeitet nämlich die Abstraktion zugunsten einer vergleichsweise »liberalen« Regelung (die mir per­ sönlich beispielsweise im Falle der Euthanasie ziemlich unerträg­ lich erscheinen würde). Andererseits impliziert die damit verbun­ dene normative Erwartung, gegebenenfalls ein aus »unserer« Sicht ethisch verwerfliches Verhalten der Angehörigen einer anderen Gruppe zu tolerieren, nicht ohne weiteres eine Beschädigung unse­ rer Integrität; »wir« dürfen die rechtlich freigestellte Praxis anderer nach wie vor ethisch verabscheuen. Was uns rechtlich abverlangt wird, ist Toleranz gegenüber den aus »unserer« Sicht ethisch ab­ weichenden Praktiken. Das ist der Preis für ein Zusammenleben im Rahmen einer egalitären Rechtsgemeinschaft, in der Gruppen verschiedener kultureller und ethnischer Herkunft miteinander auskommen müssen. Toleranz ist notwendig, wenn die Grundlage des gegenseitigen Respekts der Rechtspersonen füreinander intakt bleiben soll. Der Preis des »Aushaltens« von ethischen Differenzen dieser Art ist, soweit das Recht auf die gleichberechtigte Koexistenz verschiedener Lebens­ formen gesichert ist, juristisch auch zumutbar. Denn ein solches, aus ethischer Sicht »abstraktes« Recht bildet dann den Bezugs­ punkt für eine Regelung, die, weil sie im Hinblick auf das Ziel von allen aus den gleichen Gründen akzeptiert werden kann, die ein­ zige Alternative erübrigt, nämlich den wesentlich schmerzlicheren, weil integritätsgefährdenden Kompromiß in nicht-kompromißfä­ higen Wertkonflikten. ad b). Das gilt freilich nur unter der Voraussetzung, daß es sich

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tatsächlich um einen ethischen Tatbestand handelt, der unmittelbar und als solcher einer konsensfähigen moralischen Lösung nicht zu­ gänglich ist. Das soll sich, wie angenommen, in hinreichend dis­ kursiv geführten Auseinandersetzungen herausgestellt haben. Die­ ser Streit im Vorfeld wird besonders dann einen hartnäckigen Charakter annehmen, wenn der Wechsel zu einer höheren Ab­ straktionsebene Lösungen begünstigt, die ungleiche Toleranzzu­ mutungen zur Folge haben. Selbst wenn man sich, wie in unserem Szenario angenommen, auf den abstrakteren Bezugspunkt - den der gleichberechtigten Koexistenz verschiedener, in ihrer Identität unangetasteter Gemeinschaften - einigen könnte, ist gewiß nicht mehr gewonnen als eine Grundlage, auf der der Konflikt grund­ sätzlich gelöst werden könnte. Auch auf dieser Ebene moralischer Auseinandersetzungen ist de facto ein Einverständnis nur selten zu erzielen. Wie die Erfahrung lehrt, bleiben sogar scharf definierte Gerechtigkeitsfragen, zumal in einer heterogen zusammengesetz­ ten Gesellschaft, oft genug kontrovers. An der Phänomenologie fortdauernder Kontroversen ändert sich auch dann nichts, wenn alle Beteiligten gemeinsam davon ausgehen (oder wenigstens über­ einstimmend unterstellen), daß es für moralische Fragen, wenn sie nur hinreichend präzise gestellt werden, genau eine richtige Ant­ wort gibt. McCarthy stellt deshalb beharrlich die Frage, ob die (aus der Perspektive von Teilnehmern vielleicht noch einleuchtende) Prämisse der einen richtigen Antwort nicht eine Täuschung ist. Aus der Beobachterperspektive stellen wir doch fest, daß in nor­ mativ strittigen politischen Fragen eine Einigung nicht oder nur selten zu erreichen ist. Warum sollten sich die Teilnehmer am de­ mokratischen Prozeß angesichts des unbestreitbaren Phänomens eines verstetigten Dissenses noch an einem so fragwürdigen Ziel wie einem prinzipiell möglichen Einverständnis orientieren? Eine Antwort auf diese zentrale Frage kann in zwei Schritten erfol­ gen. Wir müssen nämlich beides erklären: warum die Prämisse der einen richtigen Antwort überhaupt nötig ist und wie sie erforder­ lichenfalls mit der überwältigenden Evidenz des fortbestehenden Dissenses vereinbart werden kann. Die erste Frage läßt sich am besten e contrario beantworten. Wenn wir den Verfassungsstaat für eine legitime Ordnung halten, der sei323

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nerseits eine legitime Gesetzgebung (und allgemein legitime Rechtsetzungsprozesse) ermöglicht (wobei »Legitimität« in einem nicht-empiristischen Sinne verstanden wird12), implizieren wir die Möglichkeit einer gewaltlosen Verständigung über politische Fra­ gen. »Verständigung« (in diesem weiteren Sinne) darf nämlich nur dann als Alternative zu einer auf bloßer Gewohnheit, Zwang, über­ legenem Einfluß, Täuschung oder Verführung beruhenden Durch­ setzung eines jeweils stärkeren Interesses angesehen werden, wenn die Beteiligten - mittelbar oder unmittelbar - die Ergebnisse einer politischen Auseinandersetzung aus freien Stücken akzeptieren (oder unter geeigneten Bedingungen akzeptieren könnten). Der weitere Sinn von Verständigung schließt Vereinbarungen, die durch die freie (oder als freiwillig unterstellte) Willensäußerung von Ver­ trags- und Verhandlungspartnern bzw. nach frei akzeptierten - als gerecht oder fair anerkannten - Regeln der Kompromißbildung zustande kommen, ebenso ein wie Konsense und begründete Be­ schlüsse, die auf der rational motivierten Anerkennung sei es von Tatsachen, Normen, Werten und entsprechenden Geltungsansprü­ chen oder von Verfahren der diskursiven Meinungs- und Willens­ bildung (einschließlich argumentationsgestützter Entscheidungen) beruhen. Als Alternative zu »Gewalt« qualifiziert sich eine solche Verständigung dadurch, daß sich die Teilnehmer letztlich auf die vergemeinschaftende Kraft von kommunikativ vergewisserter Ein­ sicht und institutionell gesicherter Freiheit der Willensäußerung (oder einer durch Verfahren geregelten Kombination von »Ver­ nunft« und »freiem Willen«) verlassen. Auf diese gemeinsame Basis könnten sie sich nicht verlassen, wenn sie nicht unterstellen dürf­ ten, daß zum einen die Verfassung, die ein Netzwerk legitimieren­ der Verständigungsprozesse einrichtet, und daß zum anderen die Rationalitätsvermutung, die sich mit diesen Prozessen und Ein­ richtungen selbst verbindet, von allen Bürgern aus denselben guten Gründen akzeptiert werden können. Das läßt immer noch eine republikanische Lesart für die Prämisse der »einen richtigen Antwort« zu. Die guten Gründe, aus denen die Bürger auf die Legitimität der Verfassung und auf die legitimi12 Habermas (1992), 351-358. 324

tätserzeugende Kraft des demokratischen Prozesses vertrauen, könnten durch ein vor Ort eingewöhntes politisches Ethos gedeckt sein und ihre Überzeugungskraft jenseits der Grenzen der jeweils eigenen politischen Gemeinschaft verlieren. Diese Lesart bietet aber für McCarthy keinen gangbaren Weg, weil er für multikultu­ relle Gesellschaften einen »geborenen« Wertekonsens ausschließt, vielmehr mit endemischen Wertkonflikten rechnet, so daß auch der fortwährende Streit über das politisch-ethische Selbstverständnis der Nation im ganzen von den Bürgern selbst als prinzipiell unlös­ bar betrachtet werden muß. Gegenüber McCarthy besagt also mein Argument zunächst so viel, daß er unter seinen Prämissen nicht erklären kann, wie demokratische Legitimität überhaupt möglich ist. Wenn Gerechtigkeitsfragen das ethische Selbstverständnis konkur­ rierender Lebensformen nicht transzendieren können und existen­ tiell relevante Wertkonflikte, also Gegnerschaften, durch alle strittigen politischen Fragen hindurchgreifen, enden wir nämlich in letzter Konsequenz bei einem Carl Schmitt’schen Verständnis von Politik. Wenn politische Konflikte, weil sie wesentlich ethischer Natur sind, als solche keine rational motivierte Vermittlung erwar­ ten lassen, müssen die Bürger davon ausgehen, daß die Politik im ganzen und ohne Ausweg eine Sphäre des vernünftigerweise zu erwartenden Dissenses ist. Denn ein Ausweg würde ja bedeuten, daß die Bürger auch eine andere Perspektive, etwa eine Gerechtig­ keitsperspektive, einnehmen könnten, aus der sie die Perspektive von Angehörigen, von unmittelbar an Wertkonflikten Beteiligten überschreiten können. Solange das nicht zugestanden wird, bleibt unerfindlich, wie die von rational unlösbaren Wertkonflikten durchzogenen, von gegnerischen Identitäten beherrschten politi­ schen Auseinandersetzungen überhaupt anders als durch Oktroy, bestenfalls durch oktroyierte (und mit der Zeit eingewöhnte) Kompromißverfahren sollten beigelegt werden können. Das erfor­ dert dann eine empiristische Beschreibung von Legitimationspro­ zessen, mit denen sich McCarthy aber nicht zufriedengibt. Die deliberative Politik würde ihren Sinn - und der demokratische Rechtsstaat seine Legitimationsgrundlage - verlieren, wenn wir als Teilnehmer an politischen Diskursen nicht andere überzeugen und

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von anderen lernen könnten. Der politische Streit würde seinen deliberativen Charakter einbüßen und zum ausschließlich strategi­ schen Machtkampf degenerieren, wenn die Beteiligten nicht auch gewiß in dem fallibilistischen Bewußtsein, sich jederzeit irren zu können - davon ausgehen würden, daß die strittigen politischen und rechtlichen Probleme eine »richtige« Lösung finden könnten. Ohne die Orientierung am Ziel einer durch Gründe auszuweisen­ den Problemlösung wüßten die Teilnehmer gar nicht, wonach sie suchen sollten. Andererseits dürfen wir auch als Beteiligte die em­ pirischen Evidenzen nicht blauäugig ignorieren. McCarthy besteht mit Recht darauf, daß das, was wir aus der 5eo/wZ>terperspektive über den verstetigten Dissens wissen, mit dem, was wir als verstän­ digungsorientierte Beteiligte an politischen Beratungen und Dis­ kussionen unterstellen, integriert werden muß. Zumindest darf eins dem anderen nicht widersprechen. In praktischen Dingen muß trotz fortbestehenden Dissenses entschieden werden, aber die Ent­ scheidungen sollen gleichwohl so fallen, daß sie als legitim gelten dürfen. Dieser auf den ersten Blick paradoxen Forderung genügt die recht begriffene - »Legitimation durch Verfahren«. Bisher haben wir den Blick darauf gerichtet, daß eine diskursive Meinungs- und Willensbildung dem gesalzten Recht Legitimität verschaffen muß. Ebenso interessant ist aber die Kehrseite, daß der Legitimations­ prozeß selber der rechtlichen Institutionalisierung bedarf. Da­ durch werden nämlich politische Diskurse (und Verhandlungen) mit den Formeigenschaften des Rechts ausgestattet. Nun gehört es zum Spezifischen des Rechts, daß es auf legitime Weise zwingen kann. Dank dieser Eigentümlichkeit können in die demokratischen Beratungsprozesse, auf dem Wege ihrer rechtlichen Institutionali­ sierung, Entscheidungszwänge, die sich aus der Beobachterper­ spektive als notwendig erweisen, eingeführt werden, ohne daß dadurch die legitimitätserzeugende Kraft, die Diskursen aus der Teilnehmerperspektive innewohnt, Schaden nimmt. Ich habe an anderem Ort zu zeigen versucht, wie Beratungs- und Entschei­ dungsprozesse rechtlich so institutionalisiert (und derart in infor­ melle öffentliche Kommunikationen eingebettet) werden können, daß sie eine Vermutung auf die Rationalität verfahrenskonform er-

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zielter Ergebnisse begründen. Vom »Verfahren« des »demokrati­ schen Prozesses« ist hier in einem komplexen Sinne die Rede. Dieser kanalisiert eine rechtlich ermöglichte informelle Meinungs­ bildung in der politischen Öffentlichkeit mit rechtlich institutiona­ lisierten Beratungen (und Verhandlungen) und kombiniert deren Ergebnisse wiederum mit rechtsverbindlichen Entscheidungsver­ fahren. Unter den Entscheidungsverfahren ist die (erforderlichenfalls qua­ lifizierte) Mehrheitsregel besonders wichtig, weil die ihr zuge­ schriebene »Verfahrensrationalität«, in Verbindung mit dem dis­ kursiven Charakter der vorangegangenen Beratungen, Mehrheits­ entscheidungen eine legitimierende Kraft verleiht. Demokratische Mehrheitsentscheidungen bilden nur Zäsuren in einem unter Ent­ scheidungsdruck (einstweilen) abgebrochenen Argumentations­ prozeß, dessen Ergebnisse auch von der überstimmten Minderheit als Grundlage einer für alle verbindlichen Praxis angenommen werden können. Denn die faktische Akzeptanz bedeutet nicht, daß die Minderheit den Inhalt der Ergebnisse als rational akzeptieren, also ihre Überzeugungen ändern müßte. Sie kann aber die Mehr­ heitsmeinung als verbindliche Handlungsorientierung auf Zeit hin­ nehmen, sofern ihr der demokratische Prozeß die Möglichkeit einräumt, die abgebrochene Diskussion fortzusetzen bzw. wieder aufzunehmen und die Mehrheitsverhältnisse kraft (vermeintlich) besserer Argumente zu verändern. Die Mehrheitsregel verdankt ihre legitimierende Kraft einer in Rawls’ Sinn »unvollständigen«, aber »reinen« Verfahrensrationalität.'3 Unvollständig ist sie, weil der demokratische Prozeß so eingerichtet ist, daß er zu der Vermu­ tung rationaler Ergebnisse berechtigt, ohne (wie etwa ein perfektes Zufallsverfahren) die Richtigkeit der Ergebnisse garantieren zu können. Andererseits handelt es sich um einen Fall reiner Verfah­ rensgerechtigkeit, weil im demokratischen Prozeß keine verfahrensunabhängigen Richtigkeitskriterien zur Verfügung stehen und die Korrektheit der Entscheidungen allein von der faktischen Durchführung des Verfahrens abhängt. (Davon bleibt unberührt die weitere Unterscheidung zwischen der »direkten« oder Inhalt-

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f! ■3 Vgl. J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1975, 106ff.

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liehen Rechtfertigung des Verfahrens selbst und der »indirekten« Rechtfertigung der Einzelentscheidungen durch die korrekte An­ wendung des Verfahrens.) (2) Ein Teil der Kontroverse mit McCarthy beruht, wenn ich recht sehe, auf Mißverständnissen. Sie betreffen vor allem drei Detailfragen: (a) die Unterscheidung zwischen einer gesamtstaat­ lichen und einer innerstaatlichen Ebene der ethischen Integration, (b) den prozessual zu verstehenden Begriff der kollektiven Iden­ tität und (c) die ethische Imprägnierung der staatlichen Rechts­ ordnung. ad (a). Im Rahmen eines Nationalstaats müssen wir differenzieren zwischen (mindestens zwei) rechtlich relevanten Ebenen der ethi­ schen Integration. Die Wertkonflikte, die wir bisher betrachtet haben, entstehen aus der Koexistenz verschiedener (wie wir anneh­ men wollen: territorial nicht getrennter) Bekenntnis- oder Inter­ pretationsgemeinschaften, Subkulturen und Lebensformen inner­ halb einer Nation von Staatsbürgern. Diese innerstaatlichen Kon­ flikte entzünden sich oft daran, daß das aus historischen Gründen vorherrschende Ethos einer Mehrheitskultur die Rechtsverhält­ nisse dominiert und dadurch eine Gleichbehandlung von (Mitglie­ dern von) Kollektiven verhindert, die auf dieser subpolitischen Ebene - in füreinander dissonanter Weise - ethisch integriert sind. In ihrer Rolle als Bürger derselben Staatsnation sind die Angehöri­ gen verschiedener Subkulturen aber verpflichtet, in Konfliktfällen der vorrangigen Norm der gleichberechtigten Koexistenz durch abstrakte Regelungen Rechnung zu tragen. Dabei sind solche Re­ gelungen, die die schutzwürdige Integrität eines jeden in seinen besonderen, identitätsprägenden kulturellen Mitgliedschaften si­ chern, wie gezeigt, oft nur um den sozialpsychologischen Preis von herben Toleranzzumutungen zu haben. Davon ist die Ebene der politisch-ethischen Integration des staatlichen Gemeinwesens als solchen zu unterscheiden. Auf dieser Ebene liegt das, was man in den USA »civil religion« genannt hat - ein »Verfassungspatriotismus«, der alle Staatsbürger unangesehen ihrer verschiedenen kulturellen Prägung oder ethni­ schen Herkunft verbindet. Dieser ist eine metajuristische Größe; er * stützt sich nämlich auf die Auslegung der anerkannten, ihrem Ge-

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! halt nach universalistischen Verfassungsgrundsätze aus dem Kon­ text der jeweiligen nationalen Geschichte und Tradition, Eine rechtlich nicht erzwingbare, in Motiven und Gesinnungen veran­ kerte Verfassungsloyalität der Bürger ist nämlich nur dann zu erwarten, wenn diese den demokratischen Verfassungsstaat aus den eigenen historischen Zusammenhängen als eine Errungenschaft be­ greifen können. Ein solcher Verfassungspatriotismus ist nur dann von ideologischen Zügen frei, wenn die beiden Ebenen der ethi­ schen Integration - die gesamtstaatliche und die innerstaatliche auseinandergehalten werden. Normalerweise muß diese Entkop­ pelung gegen den Widerstand der Mehrheitskultur erkämpft wer­ den. Nur dann entsteht eine günstige motivationale Grundlage für jene Toleranzzumutungen, die sich aus den rechtlich aufrechterhal­ tenen Differenzen zwischen den ethisch integrierten Gemeinschaf­ ten innerhalb derselben Nation ergeben.'4 ad (b). McCarthy erinnert an die strukturelle Unähnlichkeit zwi­ schen dem intersubjektiv geteilten Selbstverständnis einer Gemein­ schaft und der Identität einzelner Personen. Ich selbst habe immer wieder davor gewarnt15, die kollektive Identität einer Gemein­ schaft von Staatsbürgern nach dem Modell der Ich-Identität vorzu­ stellen. Beide verhalten sich vielmehr komplementär zueinander. So entsteht aus der ethischen Integration von Bürgern eines politi­ schen Gemeinwesens gewiß kein Subjekt im großen (»a unified we«). Aber die Staatsangehörigen sind auch nicht nur Organisa­ tionsmitglieder; sie teilen vielmehr eine politische Lebensform, die sich in einem entsprechenden Selbstverständnis artikuliert. Ange­ hörige eines Kollektivs wissen intuitiv, in welchen Hinsichten und in welchen Situationen sie »Wir« sagen - und das Wir-sagen auch voneinander erwarten. In einer posttraditionalen und weltanschau14 Mutatis mutandis gilt das natürlich auch für die Neutralität eines allen gleicher­ maßen angesonnenen staatsbürgerlichen Selbstverständnisses gegenüber ande­ ren Differenzen (des Geschlechts, der sozialen Klasse, des Alters usw.) Die vor allem sexuell und sozio-ökonomisch begründeten Differenzen der Lebenslage verbinden sich mit den kulturellen und ethnischen Unterschieden kumulativ, 15 Bereits 1974 in meiner Hegelrede zur Frage: »Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?«, in: J. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt am Main 1976, 92-126.

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ungspluralistischen, zumal in einer mukikukurellen Gesellschaft ist allerdings die aus gegebenen Anlässen explizit gestellte Frage, wie »wir« uns jeweils als Bürger einer bestimmten Republik verste­ hen wollen, grundsätzlich umstritten. Und mit wechselnden Kon­ texten bleiben die Selbstverständigungsdiskurse im Fluß. Unsere Identität ist nicht nur etwas Übernommenes, sondern gleichzeitig unser eigenes Projekt. Wir können uns unsere Traditio­ nen nicht aussuchen: die einen haben die Gründungsväter und eine zweihundertjährige, wie auch immer kritikbedürftige Verfassungs­ tradition im Rücken; die anderen die Französische Revolutionund die Deutschen den sogenannten »Freiheitskrieg« gegen Napo­ leon, die fehlgeschlagene Revolution von 1848, das Wilhelminische Reich, die gescheiterte Weimarer Republik, den Nationalsozialis­ mus und die Massenverbrechen dieser Periode, den Aufbruch von 1989 usw. Aber es liegt an uns, welche Traditionen wir fortsetzen wollen und welche nicht.16 Dem entspricht ein Prozeßbegriff kol­ lektiver Identität. Die Identität einer Staatsbürgernation ist nichts Feststehendes; sie spiegelt sich heute allenfalls in jenen Parametern, die das jeweilige Spektrum des öffentlichen Streits um die beste Interpretation der Verfassung und um ein authentisches Selbstver­ ständnis der für das politische Gemeinwesen konstitutiven Über­ lieferungen begrenzen. Solange geltende Verfassungsprinzipien den gemeinsamen Focus dieser auf die Lebensform der Nation im gan­ zen zugeschnittenen Selbstverständigungsdiskurse bilden, über­ lappen sich aber die konkurrierenden Deutungen hinreichend, um - for the time being - ein wenn auch diffuses, jedoch die politisch­ ethische Integration der Staatsbürger tragendes Einverständnis zu sichern. Vor diesem schwankenden Hintergrund vollziehen sich jedenfalls die Diskussionen über einzelne Themen, die die gemein­ same historische Lebensform einer Nation betreffen. Eine poli­ tisch-ethische Frage der trivialeren Art ist etwa die Bereitschaft einer Bevölkerung, bei der Abwägung von großtechnologischen Sicherheitsstandards gegen ökonomische Folgelasten mehr oder weniger große Risiken einzugehen.

16 Vgl. J. Habermas, >Grenzen des Neohistorismus«, in: ders., Die nachholende Revolution, Frankfurt am Main 1990, 149-156. 33°

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ad (c). McCarthy ist allerdings zu Recht skeptisch gegen meinen (im Nachwort zur 4. Auflage des Buches korrigierten) Versuch, pragmatische, ethische und moralische Aspekte bestimmten Klas­ sen von Gesetzgebungsmaterien zuzuordnen. In der Regel sind politische Fragen so komplex, daß sie gleichzeitig unter allen die­ sen - analytisch sehr wohl zu trennenden - Aspekten erörtert werden müssen.17 Aus dem Umstand, daß jede nationale, in Raum und Zeit lokalisierte Rechtsordnung durch das ethische Selbstver­ ständnis einer politischen Lebensform »imprägniert« ist, zieht McCarthy freilich falsche Konsequenzen. Die ethische Imprägnie­ rung des Rechts tilgt nämlich keineswegs dessen universalistische Gehalte. Wenn verschiedene nationale Verfassungen ebenso viele historische Lesarten derselben — theoretisch rekonstruierbaren - Grundrechte darstellen und wenn verschiedene positive Rechtsordnungen die­ selben Grundrechte in ebenso vielen Lebensformen implementie­ ren, dann muß sich die Identität des Sinnes dieser Rechte - und die Universalität ihres Gehalts - nicht im Spektrum dieser verschiede­ nen Interpretationen auflösen. Zwar hat das positiv geltende Recht stets einen begrenzten staatlichen Anwendungsbereich; selbst ein weltweit durchgesetztes internationales Recht bleibt provinziell gegenüber dem Weltraum; gleichwohl könnten diese Rechtsord­ nungen keine Legitimität beanspruchen, wenn sie nicht auf eine rational akzeptable Weise mit moralischen Grundsätzen im Ein­ klang stünden. Der menschenrechtliche Universalitätsanspruch des Systems der Rechte erhält insbesondere heute seine Aktualität, wo die wachsenden Interdependenzen der Einen Welt den Streit um die Selektivität der verschiedenen kulturellen Lesarten auf die Ta­ gesordnung setzen. Dieser Interpretationsstreit ist nur unter der Prämisse sinnvoll, daß es eine richtige Lesart zu finden gilt, die den universalistischen Gehalt dieser Rechte im gegenwärtigen Kontext hinreichend ausschöpft. Auch innerhalb des Rahmens einer nationalen Rechtsordnung ope­ riert die Unterscheidung zwischen Aspekten der Gerechtigkeit 17 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfun am Main 1994, Nachwort, 667 Anm. 3.

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und der Selbstverständigung nicht im Sinne einer dialektischen Verschränkung, die uns mit einem unschlichtbaren Streit zwischen kontextabhängigen Gerechtigkeitskonzepten zurückließe. Der universalistische Gehalt der Grundrechte wird durch die ethische Imprägnierung der staatlichen Rechtsordnung nicht eingeschränkt, er greift durch die national gefärbten Kontexte hindurch. Nur des­ halb verlangt ja die rechtliche Neutralisierung der Wertkonflikte, die ansonsten das politische Gemeinwesen in Fragmente auseinan­ derreißen würden, die Privilegierung des Gerechtigkeitsaspekts. Fragen der Gerechtigkeit genießen normativ auch aus einem ande­ ren Grunde Vorrang: es gibt Konzeptionen des Guten, die autoritäre Binnenverhältnisse sanktionieren. Nötigenfalls müssen in Deutschland nicht nur die Rechte türkischer Mädchen gegen den Willen von Vätern, die sich auf Prärogativen ihrer Herkunftskultur berufen, durchgesetzt werden, sondern überhaupt individuelle Rechte gegen Kollektivansprüche, die einem nationalistischen Selbstverständnis entspringen. Ich glaube beispielsweise nicht, daß Staaten heute noch die allgemeine Wehrpflicht aufrechterhalten, d.h. von bestimmten Altersgruppen (männlichen Geschlechts) verlangen dürfen, daß sie fürs Vaterland ihr Leben einsetzen. Ich stimme der folgenden Behauptung von McCarthy zu: »Legitimate law is at once a realization of universal rights and an expression of particular self-understandings and forms of life. A concrete law must be both at once.« Aber der anschließende Satz: »Hence its acceptability or legitimacy can be thematized under both aspects: the right and the good« ist nur unter dem Vorbehalt richtig, daß im Konfliktfall Gerechtigkeitsargumente Dworkinsche Trümpfe sind, die Erwägungen aus der Binnenperspektive einer - mit anderen Subkulturen gleichberechtigt koexistierenden - Lebensform aus­ stechen. (3) In der zentralen Frage, ob sich der Vorrang des Gerechten vor dem Guten begründen läßt, ist McCarthy nicht ganz eindeutig. Aus der ethisch-existentiellen Sicht eines persönlichen Lebensent­ wurfs zählt »Gerechtigkeit« gewiß als ein Wert, der gegen andere, gegebenenfalls vorrangige Werte auch dann abgewogen wird, wenn klar ist, daß die bevorzugte Praxis Maßstäben der Gerechtigkeit genügen soll. Einen unbedingten Vorrang behaupten aber Gerech331

tigkeitsfragen im Bezugssystem des rechtsstaatlichen Zusammenle­ bens einer multikulturellen Gesellschaft. Das gibt McCarthy einerseits zu, andererseits insistiert er darauf, daß auch hier Ge­ rechtigkeitsfragen »letztlich« nicht von ethisch-politischen Fragen getrennt werden können. Er wiederholt seine frühere Aussage: »We cannot agree on what is just without achieving some measure of agreement on what is good.«18 Das ist richtig, aber trivial, soweit sich jenes »gewisse Maß an Übereinstimmung« nur auf das funk­ tionale Erfordernis einer hinreichenden Überlappung der subkul­ turellen Lebensformen bezieht. Jedes staatliche Gebilde ist eben auch auf die Integrationskraft einer gemeinsamen politischen Kul­ tur angewiesen, wenn es nicht in seine Segmente zerfallen soll. Das ist eine soziologische Aussage. Als philosophische Aussage läßt der Satz zwei Interpretationen zu. Entweder sind - im Sinne von Tay­ lor und Maclntyre19 - alle Gerechtigkeitsvorstellungen aus kon­ zeptuellen Gründen vom Kontext je besonderer Konzeptionen des Guten abhängig (worauf ich hier nicht näher eingehen kann20); dann wird man sich nur auf einer gemeinsamen ethischen Grund­ lage über den Begriff der Gerechtigkeit einigen können. Oder es wird behauptet, daß alle Erklärungen eines universalistisch ge­ meinten Begriffs von Gerechtigkeit unvermeidlich vom Horizont einer je eigenen Konzeption des Guten ausgehen müssen; dann kann aber der wechselseitigen Kritik an den verschiedenen selekti­ ven Lesarten von »Gerechtigkeit« immer noch die Prämisse zu­ grunde liegen, daß sich aus dem diskursiven Streit der intuitiv vorschwebende allgemeine Begriff der Gerechtigkeit in seinem uni­ versalistischen Gehalt grundsätzlich kontextunabhängig entfalten läßt. McCarthy hält jedenfalls die diskurstheoretische Erklärung der rechtsstaatlichen Praktiken für unzureichend und deutet die Alter­ native eines gewaltlosen Zusammenlebens auf der Basis der Aner­ kennung von »reasonable disagreements« an: »Members may be said >rationally< to accept outcomes with which they substantively 18 McCarthy, Ideals and Illustons, Cambridge (Mass.), 1991, 192. 19 Vgl. meine Kritik in: J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt am Main 1991, 176-184 und 209-218. 20 Vgl. aber L. Wingert, Gerneinsinn und Moral, Frankfurt am Main 1993.

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the< objektive world an appropriate analogue of the search for justice in >our< social world?« Die Frage ist im Hinblick auf die Prämisse der »einen richtigen Antwort« beunruhigend. Nach Diskussionen mit Friedrich Kambartel über den Intuitionismus in der Mathematik möchte ich meine bisher vertretene starke These in einer Hinsicht abschwächen. Das Bivalenzprinzip hat sei­ nen guten Sinn für empirisch gehaltvolle Aussagen über etwas in der objektiven Welt. In Ansehung des Universums der von uns erzeugten symbolischen Gegenstände müssen wir aber, wie ich jetzt vermute, mit einer Klasse von Aussagen rechnen, die hic et nunc weder wahr noch falsch sind und gegebenenfalls erst dann entscheidbar werden, wenn es uns gelingt, ein Begründungsverfah­ ren (wie in der Mathematik ein Beweisverfahren) zu konstruieren. In Anbetracht der ontologischen Verfassung der sozialen Welt, die wir (wie Marx mit Vico sagte) selber, wenn auch nicht mit Willen

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und Bewußtsein, hervorbringen, ist es plausibel, daß sich das für die Erkenntnis der objektiven Welt angenommene Verhältnis von Konstruktion und Entdeckung zu Lasten der abduktiven Phantasie verschiebt. Angesichts schwieriger Probleme müssen uns die rich­ tigen Konstruktionen »einfallen«. Natürlich möchte ich Recht und Moral nicht mit dem Gegen­ standsbereich mathematisch erzeugter Gegenstände und Relatio­ nen gleichsetzen. Hinsichtlich ihres Geltungssinns sind die beiden Typen von Aussagen sogar weit voneinander entfernt. So etwas wie »analytische Wahrheit« (wenn es so etwas pace Quine geben sollte) eignet sich nicht zur Erläuterung von »moralischer Richtigkeit« oder »Legitimität«. Zudem beziehen sich Recht und Moral auf die Regelung interpersonaler Beziehungen zwischen Aktoren, die so­ zusagen in der objektiven Welt verwurzelt sind, dort gewisserma­ ßen ein fundamentum in re haben. Auf der anderen Seite sind moderne Ordnungen des »gesatzten« Rechts in ähnlicher Weise artifiziell erzeugt oder konstruiert, wie es der Intuitionismus für die Gegenstände von Geometrie und Arithmetik annimmt. Es ist daher nicht ganz abwegig, auch in diesem Universum mit Fragen zu rechnen, auf die es so lange keine eindeutig richtige Antwort gibt, wie den Beteiligten die richtige »Konstruktion« nicht »ge­ lingt«. Vielleicht sollten wir in Ansehung der normativen Regelung von Interaktionen nicht a priori mit der Geltung des Bivalenzprin­ zips rechnen. Es mag ja im Einzelfall nicht an argumentativem Scharfsinn, wohl aber an Kreativität mangeln. Gleichwohl können wir in diesem sublunaren Bereich, in dem so oder so fristgerechte Entscheidungen getroffen werden müssen, nicht beliebig lange auf konstruktive Einfälle warten. Wenn unsere Vermutung zutrifft, würden wir in solchen normativ ausweglosen Situationen mit der (im allgemeinen gültigen) Prämisse der »einen richtigen Antwort« nur operieren wie mit einem ungedeckten Wechsel auf die Zukunft. Aber selbst dann dürften wir die Prämisse nicht fallenlassen, wenn nicht der demokratische Prozeß zugleich mit der ihm innewohnen­ den Verfahrensrationalität auch seine legitimierende Kraft verlieren sollte. Dazu sehe ich aber unter den Bedingungen nachmetaphysi­ schen Denkens keine Alternative.

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in. Form und Inhalt: Der »dogmatische« Kern des Prozeduralismus

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(i) Michel Rosenfeld möchte zeigen, daß das von mir entwickelte prozeduralistische Rechtsparadigma nicht in einem »genuinen«, sondern nur in einem »abgeleiteten« Sinne »prozeduralistisch« ist, genauer: »Derivative Proceduralism is not genuine proceduralism but rather substantive theory in procedural garb.« Gegenüber einer solchen Theorie, die sich ihre eigenen substantiellen Voraussetzun­ gen nicht eingesteht, vertritt Rosenfeld einen »umfassenden«, weil substantiell gehaltvollen Pluralismus, der sich von der liberalen Spielart des Pluralismus dadurch unterscheidet, daß er sich nicht auf die Neutralität einer Methode zur Beilegung von Wertkonflik­ ten beruft. Ich möchte Michel Rosenfeld den Vorwurf zurückge­ ben: Comprehensive pluralism is not substantive theory but rather proceduralism in substantivist garb. Um festzustellen, wo der Streit um Worte mehr ist als das, möchte ich zunächst (a) den Be­ griff des »Verfahrens« kommentieren und (b) auf die Problematik der Rechtsinhaltsgleichheit eingehen. (a) Rosenfeld nennt die Hobbes’sche Theorie des Gesellschafts­ vertrages als Beispiel für einen genuinen Prozeduralismus, weil sie die Regeln des sozialen Zusammenlebens durch eine verfahrens­ konform zustande gekommene Vereinbarung aller Beteiligten rechtfertige. Demgegenüber gilt Lockes Theorie als ein Beispiel für »abgeleiteten« Prozeduralismus, weil hier das natürliche Recht auf Eigentum eine substantielle Vorgabe für den Gesellschaftsvertrag sei. Gegen Hobbes vertritt Rosenfeld die einleuchtende These, daß die Legitimation einer Rechtsordnung nicht allein auf der Basis von Verfahrensgerechtigkeit möglich ist: »Proceduralism may (only) be acceptable in the context of contestable substantive norms.« Rich­ tig ist diese These für einen engen Verfahrensbegriff. Tatsächlich liegt ja dem Abschluß des Hobbes’schen Gesellschaftsvertrags (nach dem Modell des bürgerlichen Privatrechtsvertrages) allein die formgerechte Willenserklärung der Beteiligten zugrunde. Diese Rechtsfigur sollte sowohl »perfekte« wie »reine« Verfahrensge­ rechtigkeit garantieren. Rosenfeld möchte seine These aber auch auf andere juristische Ver-

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fahren angewendet sehen, z. B. auf gerichtliche oder gerichtsför­ mige Prozeßverfahren, die eine reine, von substantiellen Vorgaben unabhängige, aber imperfekte Verfahrensgerechtigkeit sichern. Als Beispiel dient ihm die Anhörung eines Klienten vor dem Sozialge­ richt oder einem Verwakungsausschuß, die über soziale Leistungs­ ansprüche entscheiden. In solchen Fällen sichere zwar der regelge­ rechte Ablauf des Verfahrens den Respekt vor der Menschenwürde des Klienten, aber wiederum sei dem Verfahren selbst eine inhalt­ liche Sozialnorm vorgegeben, die unabhängig vom Verfahren als gerecht oder ungerecht gilt. Wenn man dieses Beispiel weiter ver­ folgt, stößt man jedoch auf das demokratische Verfahren des politischen Gesetzgebers, der diese Norm zuvor beschlossen ha­ ben muß. Dann gelangt man zu der eigentlich strittigen Frage, woraus denn Rechtsnormen, ob sie nun Verhalten regeln, Kompe­ tenzen erzeugen oder Verfahren (der Gesetzgebung, der Justiz, der Verwaltung - und der Verschränkung der Gewalten miteinander) festlegen, letztlich ihre Legitimität schöpfen - aus substantiellen Gründen oder aus Verfahren? Es hängt vom Verständnis dieses Le­ gitimität erzeugenden Prozesses ab, welche Rolle die Form/InhaltUnterscheidungim prozeduralistischen Rechtsparadigma behält. Am Anfang meiner Rekonstruktion des Sinnes einer legitimen Rechtsordnung steht der Entschluß einer (beliebigen) Gruppe von Personen, die ihr Zusammenleben fortan mit Mitteln des positiven Rechts legitim regeln wollen und daher in eine gemeinsame Praxis eintreten, mit der sie diese Absicht ausführen können. Der performative Sinn dieser verfassunggebenden Praxis besteht mithin darin, gemeinsam herauszufinden und zu beschließen, welche Rechte sich die Beteiligten (unter der genannten Prämisse) gegenseitig zuer­ kennen müssen. Der verfassunggebenden Praxis sind damit zwei Dinge vorgegeben: das positive Recht als Medium verbindlicher Regelungen sowie das Diskursprinzip als Anleitung für vernünf­ tige Beratungen und Entscheidungen. Eine Kombination und Ver­ schränkung dieser beiden formalen Elemente muß für die Einrich­ tung von Prozessen der Erzeugung und Anwendung legitimen Rechts genügen. Denn unter Bedingungen nachmetaphyischen Denkens kann mit einem weitergehenden, in diesem Sinne inhaltli­ chen Konsens nicht gerechnet werden. Die Beschränkung auf in

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diesem Sinne formale Voraussetzungen ist auf die spezifisch mo­ dernen Bedingungen eines Pluralismus von Weltanschauungen, kulturellen Lebensformen, Interessenlagen usw. zugeschnitten. Sie bedeutet natürlich nicht, daß eine verfassunggebende Praxis dieser Art von normativen Gehalten frei wäre. Im Gegenteil, im performativen Sinn dieser Praxis, der im System der Rechte und in den Prinzipien des Rechtsstaats lediglich entfaltet wird, steckt bereits als dogmatischer Kern die (Rousseausche und Kantische) Idee der Selbstgesetzgebung von freiwillig assoziierten, zugleich freien und gleichen Rechtsgenossen. Diese Idee ist nicht nur formal, aber da sie sich vollständig in Formen einer nicht näher inhaltlich determi­ nierten verfassungsgebenden Praxis (und einer allein durch Verfas­ sungsnormen bestimmten Praxis der Ausgestaltung eines Systems von ungesättigten Rechten) entwickeln läßt, besteht die begründete Vermutung, daß sie weltanschaulich neutral ist, sofern die verschie­ denen Selbst- und Weltdeutungen nicht-fundamentalistisch, d.h. (im Sinne der »not unreasonable comprehensive doctrines« von Rawls) mit den Bedingungen nachmetaphysischen Denkens kom­ patibel sind. Diese Form/Inhak-Unterscheidung bezieht sich zunächst nur auf die präsumtive Neutralität der Rechtsprinzipien gegenüber weltan­ schaulichen Inhalten. Ihre formale Natur zeigt sich sodann am prozeduralen Modus der Legitimation von Rechtsetzung und -durchsetzung, in erster Linie an der politischen Meinungs- und Willensbildung (mit dem Fokus des Gesetzgebungsprozesses) und an der Rechtsprechung. Beides sind Prozesse, die durch »Verfah­ ren« im weiteren Sinne reguliert sind. Dieser komplexe Verfahrens­ begriff ist, wie gesagt, normativ nicht neutral und insofern auch nur in einem erläuterungsbedürftigen Sinne »formal« oder inhalts­ neutral. (Bei der folgenden pauschalen Erläuterung kann ich auf die wichtigen Differenzen zwischen Gesetzgebungs-, Rechtsprechungs- und Verwaltungsverfahren nicht eingehen.) In diesen Fällen handelt es sich um soziale Entscheidungsverfah­ ren21, die die Beschlußfassung an das Ergebnis von Beratungen 21 Vgl.. zum folgenden B. Peters, Rationalität, Recht und Gesellschaft, Frankfurt am 1Main 1991, Kap. vn.

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binden, indem sie Diskurse mit Beschlußverfahren (normalerweise Abstimmungen) verkoppeln. Die Prozesse der Meinungs- und Willensbildung sind im ganzen wie auch in Struktur und Ablauf rechtlich institutionalisiert. In diesem Komplex verschränken sich drei Sorten von Verfahren. Den Kern bilden Diskurse, in denen Argumente ausgetauscht werden, um empirische und praktische Fragen zu beantworten, also Probleme zu lösen. Diese Argumen­ tationsprozesse gehorchen rein kognitiven Verfahren. Die argu­ mentativ erzielten Überzeugungen bilden sodann die Grundlage von Entscheidungen, die ihrerseits durch Beschlußverfahren regu­ liert sind (in der Regel durch Mehrheitsbeschluß). Und beide Prozesse, Beratung wie Beschlußfassung, werden schließlich durch Rechtsverfahren institutionalisiert. Die juristischen Verfahren re­ geln u. a. die Zusammensetzung der Körperschaften (in der Regel durch Wahl oder Delegation), die Verteilung der Teilnehmerrollen (z.B. im Gerichtsverfahren), die Spezifizierung der Inhalte (zuläs­ sige Themen und Beiträge), die Schritte der Analyse (z. B. von Tatsachen- und Rechtsfragen), die Informationsgrundlagen (Ex­ penisen, Untersuchungsmethoden usw.) sowie die sachgerechte Interpunktion der zeitlichen Abläufe (wiederholte Lesungen, Ent­ scheidungsfristen usw.). Kurzum, die Rechtsverfahren sollen für die verbindliche Einrichtung von diskursiven Beratungs- und fai­ ren Entscheidungsprozessen sorgen. Diskurse, die je nach Fragestellungen ihrer eigenen Logik gehor­ chen (und im parlamentarischen Betrieb mit fairen, also ihrerseits diskursiv begründeten Verfahren der Kompromißbildung ver­ knüpft sind) bilden das Herzstück dieser mehrfach verschränkten Prozesse insofern, als sie die Bürde der Legitimation tragen sollen. Argumentationsprozesse genügen aber, wie schon erwähnt, nur Bedingungen einer imperfekten Verfahrensrationalität, und zwar in dem Maße, wie sie sich in Formen der Kommunikation und nach Regeln vollziehen, die eine »kooperative Wahrheitssuche« fördern. Die Institutionalisierung (eines Netzwerks) von Diskursen (und Verhandlungen) muß sich in erster Linie an dem Ziel orientieren, die allgemeinen pragmatischen Voraussetzungen von Argumenta­ tion überhaupt (universeller Zugang, gleichberechtigte Teilnahme und Chancengleichheit der Beiträge, Verständigungsorientierung 340

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der Teilnehmer und strukturelle Zwanglosigkeit) so weit wie mög­ lich zu erfüllen. Die Einrichtung der Diskurse soll also unter den sachlichen, sozialen und zeitlichen Beschränkungen der jeweiligen Entscheidungsprozesse das freie Flottieren von Vorschlägen, The­ men und Beiträgen, Informationen und Gründen möglichst in der Weise sichern, daß die rational motivierende Kraft des besseren Arguments (des überzeugenden Beitrags zum relevanten Thema) zum Zuge kommen kann. Hier scheint freilich die von Rosenfeld monierte Verschleierung der Substanz durch die Form ihren Ursprung zu haben. Man kann nämlich mit Bernhard Peters22 bezweifeln, daß die Argumenta­ tionspraxis als ein zwar imperfektes, aber »reines« Verfahren be­ schrieben werden darf, welches die Vermutung auf rationale Ergebnisse begründet. Geben nicht am Ende die substantiellen Gründe — statt des »Verfahrens« eines geregelten Austauschs von Argumenten - den Ausschlag für ein korrektes Ergebnis? Gibt es für die Beurteilung eines verfahrenskonform erzielten Ergebnisses nicht Gründe, die vom Verfahren selbst unabhängig sind, so daß von prozeduraler Legitimation eigentlich nicht die Rede sein kann? Die Antwort hängt davon ab, in welchem Sinne wir praktische Fragen für »wahrheitsfähig« halten. Aus der Sicht von nonkognitivistischen Positionen wird man der Argumentation in Recht und Moral ohnehin nur zutrauen, Ein­ sichten zu suggerieren, wo es keine Einsichten geben kann, son­ dern allein Präferenzen und Einstellungen, Emotionen und Ent­ scheidungen. Ebenso unbefriedigend ist freilich ein moralischer Realismus, der mit erkennbaren Werttatsachen oder natürlichen Rechten, mit einer von unseren Konstruktionen unabhängig beste­ henden normativen Ordnung rechnet. Die Korrespondenztheorie der Wahrheit ist ja schon für deskriptive Aussagen unplausibel; für die Richtigkeit von normativen Aussagen können wir eine Korre­ spondenz zu etwas Gegebenem erst recht nicht annehmen. Wenn wir ihnen gleichwohl einen kognitiven Anspruch nicht bestreiten können, bleibt als Ausweg, »Richtigkeit« als rationale Akzeptabi­ lität unter gewissen idealisierten Bedingungen zu begreifen. Für

22 Peters (1591), 253 ff. u. 258ff.

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gültig haken wir diejenigen normativen Aussagen, für die wir den Anspruch erheben, daß sie sich argumentativ begründen lassen. Diese Formulierung ist freilich noch zweideutig, weil sich das »Be­ gründen« sowohl auf die Begründungspraxis wie auf den jeweili­ gen Grund stützt. Was sollte »Prozeduralismus« noch heißen, wenn sich das Ergebnis einer korrekt befolgten Begründungspraxis im Lichte einzelner substantieller Gründe dennoch kritisieren ließe? Das ist die Frage von Bernhard Peters. Im Hinblick auf die grundsätzliche Fallibilität unseres Wissens reicht indessen keines dieser beiden Elemente, weder Form noch Substanz für sich genommen, aus. Einerseits kann eine noch so förderliche Struktur der stets in einen beschränkenden Kontext eingelassenen Begründungspraxis bestenfalls wahrscheinlich ma­ chen, daß sich der Austausch von Argumenten auf der Grundlage aller relevanten, zu einem Zeitpunkt verfügbaren Informationen und Gründe sowie innerhalb des jeweils fruchtbarsten Vokabulars (oder Beschreibungssystems) vollzieht. Andererseits gibt es keine Evidenzen und keine Bewertungskriterien, die der Argumentation vorauslägen, also nicht selbst wiederum problematisiert werden könnten und ihrerseits durch ein diskursiv erzieltes, unter Diskurs­ bedingungen rational motiviertes Einverständnis validiert werden müßten. Weil es in praktischen Fragen keine »letzten« Evidenzen und keine »schlagenden« Argumente gibt, müssen wir auf Argu­ mentationsprozesse als »Verfahren« rekurrieren, um zu erklären, warum wir uns überhaupt zutrauen, »transzendierende«, über den jeweiligen Kontext hinausweisende Geltungsansprüche zu erheben und einzulösen. Verfahren und Gründe, Form und Inhalt sind derart miteinander verschränkt, daß wir überzeugt sind, Aussagen, die wir für gültig halten, gegen alle Einwände-wann und von wem immer sie erhoben werden mögen - mit guten Gründen verteidigen zu können. In die­ sem Vorgriffaufdie Entkräftung »aller» möglicherweise vorgetrage­ nen Einwände, wie ich im Anschluß an A. Wellmer und L. Wingert sagen möchte, steckt eine Idealisierung, die es erlaubt, die »Gültig­ keit« der Aussage von »rationaler Akzeptabilität« zu unterscheiden, ohne der Gültigkeit den epistemischen Bezug eines »Geltens für uns« abzustreifen. Das erklärt die eigentümliche Ambivalenz, auf 34*

die Peters seinen Zweifel stützt. Es sind einerseits die substantiellen Gründe, die uns von der Richtigkeit eines Ergebnisses überzeugen; aber deren Stichhaltigkeit kann sich andererseits nur in tatsächlich durchgeführten Argumentationsprozessen, nämlich in der Verteidi­ gung gegen jeden faktisch vorgetragenen Einwand erweisen. Das gilt für Diskurs als Verfahren generell. Die im demokratischen Rechtsstaat institutionalisierten, mit Entscheidungsfristen und Ab­ stimmungsverfahren verkoppelten Beratungen garantieren ohne­ hin keine gültigen Ergebnisse, sondern begründen nur die Vermu­ tung auf deren Rationalität; sie sichern damit für die Bürger die »rationale Akzeptabilität« verfahrensgerecht zustandegekommener Entscheidungen. Gegenüber einem solchen als legitim aner­ kannten Verfahren kann man immer noch die Differenz zwischen einem »gültigen« und einem (im gegebenen institutionellen Rah­ men) »rational akzeptablen« Ergebnis geltend machen - sei es mit dem Meinungsvorbehalt einer Minderheit, die sich prozedural ein­ wandfreien Beschlüssen bloß fügt, sei es mit dem symbolischen Protest desjenigen, der zivilen Ungehorsam leistet und, nach Aus­ schöpfung aller formalen Revisionsmöglichkeiten, mit einer Regel­ verletzung an die Mehrheit appelliert, in einer Angelegenheit von prinzipieller Bedeutung das Verfahren erneut aufzunehmen. (b) Rosenfeld muß sich, auch wenn er einen Prozeduralismus in diesem Sinn akzeptieren würde, nicht geschlagen geben. Für Ge­ rechtigkeitsfragen lehnt er nämlich kontexttranszendierende Gel­ tungsansprüche ab: »Justice beyond law (that is beyond a particular legal Order, J.H.) cannot achieve complete impartiality ... to the extern that it must ... rely on a vision of the good that has intracommunal roots, thus favoring the members of the relevant intracommunal group over the remaining legal subjects.« Nach dieser Auffassung sollen moderne Rechtsordnungen sogar ihr Ver­ sprechen, die gleiche private und öffentliche Autonomie für jeden zu sichern, bereits aus begrifflichen Gründen nicht einlösen kön­ nen. Die Dialektik zwischen rechtlicher und faktischer Gleichheit müsse, wie Rosenfeld meint, immer wieder zu einseitigen Lösun­ gen führen, die, je nach Kontext, um den Preis unterdrückter Differenzen zuviel oder um den Preis ausgebeuteter Differenzen zu wenig Gleichheit herstellen. Mit einem poststrukturalistischen

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Zungenschlag behauptet Rosenfeld, daß das Prinzip der Gleichbe­ handlung selbst kein Korrektiv biete, weder gegen jene Art der Nivellierung von Unterschieden noch gegen diese Art illegitimer Ungleichheit. Nach seiner Auffassung soll sich die Idee der glei­ chen Rechte für alle auf dem Wege ihrer Realisierung in ein auswegloses Hin und Her zwischen unterdrückter Differenz und vorenthaltener Gleichbehandlung verstricken. Ich halte weder das begriffliche Argument, noch das Beispiel, mit dem es historisch belegt werden soll, für einleuchtend. Rosenfeld meint, daß die liberalen Gleichheitsrechte, die einst un­ ter dem Slogan »All men are created equal« gegen ständische Ungleichheiten durchgesetzt worden sind, zwar auch als Maßstab dienen können, um soziale Rechte einzuklagen; aber im veränder­ ten Kontext etwa der Entkolonialisierung (oder des Kampfes von ethnischen Minderheiten gegen eine Mehrheitskultur) zeige sich, daß dasselbe Prinzip der Gleichbehandlung, das einmal der Eman­ zipation gedient habe, den Zwang zur Assimilation und damit zur Unterdrückung legitimer Unterschiede rechtfertige: »The master treats the slave as inferior because he is different, whereas the colonizer offers the colonized equal treatment provided that the latter give up his own language, culture and religion ... Accordingly, in a master-slave setting, equality as identity is a weapon of liberation whereas in a colonizer-colonized setting, it is a weapon of domination.« Rosenfeld will mit diesem Beispiel zeigen, daß gleichlau­ tende Gerechtigkeitsprinzipien im Rahmen verschiedener Konzep­ tionen des Guten ihren Sinn verändern und insofern nicht auf eigenen Füßen stehen. Tatsächlich zeigt das Beispiel aber, daß der Kritik an der fehlenden rechtlichen Gleichbehandlung unter feuda­ len Herrschaftsverhältnissen und der Kritik an der fehlenden sozia­ len Gleichstellung unter Bedingungen eines laissez-faire-Kapitalismus genau derselbe normative Gesichtspunkt zugrunde liegt wie der Kritik an der fehlenden Rücksichtnahme auf kulturelle Unter­ schiede unter dem imperialistischen Zwang zur Assimilation. In allen diesen Fällen geht es um die Forderung, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Die gleichen Rechte, die eingeklagt werden, beziehen sich im ersten Fall auf Kompetenzen, im zweiten Fall auf soziale Leistungen, die eine chancengleiche

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Nutzung der inzwischen gewährleisteten Kompetenzen ermög­ lichen sollen, im dritten Fall um beides — aber nun nicht in erster Linie im Hinblick auf einen Macht- und Interessenausgleich, der nicht mehr mit Hilfe (anerkannter Klassen) von sozialen Entschä­ digungen (wie Geld, freie Zeit, Schulbildung usw.) erreicht werden kann, sondern im Hinblick auf nationale Unabhängigkeit oder kul­ turelle Autonomie oder, im Falle des Multikulturalismus, im Hin­ blick auf die gleichberechtigte Koexistenz verschiedener kulturel­ ler, ethnischer, oder religiöser Gruppen. Stets geht es um den Anspruch auf die Wahrung der Integrität von Rechtspersonen, de­ nen gleiche Freiheiten im Sinne einer nicht-selektiv verstandenen Rechtsinhaltsgleichheit garantiert sind. Denn diese sollen für Bür­ ger nicht nur formal, sondern effektiv, d.h. in den sozialen und kulturellen Entstehungsbedingungen ihrer privaten und öffentli­ chen Autonomie gewährleistet sein. Mit feministischen Gleichstellungspostulaten verhält es sich im Prinzip nicht anders. Rosenfeld entwirft (für den Zweck des Argu­ ments) zwei konkurrierende geschlechtsspezifische Lebensformen, deren Werteregister unversöhnlich aufeinanderprallen - mit der Betonung von Intimität, Bindung, Fürsorge, Aufopferung auf der einen, von Distanz, Wettbewerb, Leistungsorientierung usw. auf der anderen Seite. Nun würde sich dieser monolithisch stilisierte Gegensatz von zwei »Visionen« des guten Lebens ohnehin in viele verschieden gelagerte Konkurrenzen zwischen verschiedenen Gruppen von Frauen und Männern auflösen, sobald es um die Re­ gelung einzelner Intercssenlagen und Wertkonflikte ginge; zudem müßten in verschiedenen Lebensbereichen je andere funktionale Imperative berücksichtigt werden. Aus der Sicht des prozeduralistischen Rechtsparadigmas können solche Konflikte sehr wohl gelöst werden, allerdings nur dann, wenn die Definitionsmacht für geschlechtsspezifische Erfahrungen und Situationen nicht länger den Delegierten oder den Experten überlassen wird. Die Beteilig­ ten selbst müssen auf öffentlichen Foren um die Anerkennung unterdrückter oder marginalisierter Bedürfnisinterpretationen kämpfen, damit neue Tatbestände als relevant und regelungsbe­ dürftig anerkannt sowie Kriterien ausgehandelt werden, unter denen dann erst Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt

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werden kann. Aber jeder Kritik, und jedem Anspruch auf Revision der alten Kriterien, wäre ohne das a fortiori zugrunde gelegte Prin­ zip der Gleichbehandlung der Boden entzogen. Schließlich spitzt Rosenfeld die »feministische Herausforderung« noch einmal zu: nun soll das Medium des Rechts und die Struktur der Rechte selbst mit der Forderung, »die Hierarchie von Rechten durch ein Netz interpersonaler Beziehungen zu ersetzen«, in Frage gestellt werden. Soweit dieser Forderung bloß die Kritik an der lange herrschenden possessiv-individualistischen Lesart von »Rechten« zugrunde liegt, bringt sie aus guten Gründen - übrigens in Übereinstimmung mit Martha Minow oder Frank Michelman einen intersubjektivistischen Begriff von Recht zur Geltung. Rechte sind von Haus aus relational, weil sie Verhältnisse symme­ trischer Anerkennung stiften oder befestigen. Auch die Privat­ rechte, die in Konfliktfällen einer gegen den anderen geltend machen kann, entspringen ja einer Rechtsordnung, die von allen die reziproke Anerkennung eines jeden als freier und gleicher Rechtsperson verlangt, somit gleiche Achtung für jeden garantiert; sie kann nur in dem Maße legitim sein, wie sie aus einer gemeinsa­ men Praxis staatsbürgerlicher Selbstbestimmung hervorgeht. Sofern sich die Kritik jedoch gegen das Konzept der Rechte als solches richtet, verlagert sich die Diskussion auf eine andere Ebene. Die Gegenseite muß dann entweder, wie seinerzeit Marx, Alterna­ tiven zum Recht oder aber alternative Rechtskonzepte Vorschlä­ gen. Mit diesem Typus von Fragestellungen habe ich keine Probleme, da ich keine normative Begründung für den Rechtszu­ stand als solchen vorschlage. Eine sinnvolle Diskussion läßt sich freilich erst in Gang bringen, wenn die Alternativen hinreichend präzisiert sind. Ich begnüge mich mit einer funktionalen Erklärung dafür, warum wir überhaupt Ordnungen positiven Rechts bevor­ zugen (in der Sprache des klassischen Vernunftrechts: warum wir in den »Gesellschaftszustand« eintreten) sollten. Ein funktionales Äquivalent für diese Art der Stabilisierung von Verhaltenserwar­ tungen (durch gleichverteilte subjektive Rechte) sehe ich vorerst nicht. Die - in einem nicht-pejorativen Sinne - romantische Hoff­ nung des jungen Marx auf ein »Absterben« des Rechts wird sich in komplexen Gesellschaften unseres Typs kaum erfüllen. 346

Die Alternative, die Rosenfeld selbst am Schluß seiner Arbeit an­ deutet, bewegt sich noch, den Gedanken eines »reiterativen Universalismus« aufnehmend, innerhalb des grundbegrifflichen Rah­ mens einer Theorie der Rechte. Dem vagen Hinweis auf eine »dynamische Konzeption der Rechte« läßt sich nicht viel mehr als der Wunsch nach einer alternativen Rechtskonzeption entneh­ men. (2) Deutlicher wird diese Alternative bei Arthur J. Jacobson.23 Er stellt zunächst der Theorie der Rechte eine Theorie der Pflichten gegenüber. Dem liegt, wenn ich recht verstehe, eine politische Theologie zugrunde, die - wie die von Leo Strauss oder Carl Schmitt, allerdings mit sehr verschiedenen Konsequenzen - das moderne Recht als Ausdruck des Verfalls einer bindenden gött­ lichen Autorität beklagt. Tatsächlich bringt ja erst Hobbes, zusam­ men mit einem positivistischen Begriff des Rechts, das moderne Prinzip zur Geltung, daß alles erlaubt ist, was nicht verboten ist. Dadurch wird der moralische Vorrang der Pflichten vor Rechten, die aus Pflichten anderer resultieren, zugunsten einer Priorität von Rechten aufgelöst, die subjektive Freiheiten - oder private Sphären der Willkür - einräumen. In modernen Rechtsordnungen ergeben sich Pflichten erst aus der reziproken Beschränkung solcher Frei­ heiten unter allgemeinen Gesetzen. Dem stellt Jacobson ein aristo­ telisch (oder thomistisch?) konzipiertes göttliches Recht gegen­ über, das nur Pflichten kennt; es verpflichtet die Adressaten dazu, in ihrem Verhalten die Person eines vollkommenen oder »idealen Gebieters« (ideal legal commander) nachzuahmen. Das Common Law begreift er schließlich als eine dialektische Vermittlung zwi­ schen jenen beiden Typen von Rechtsordnung: »Common law breaks the correlation of rights with duties in both directions in Order to produce a succession of correlations, according to the principle that law is just the application of law in single cases. Here dynamism flows from the incessant activities of legal persons to assemble, then disassemble, then reassemble correlations.« 23 Auf die Kritik an meiner Rcchtskonzeption einzugehen, wäre wegen der vielen Mißverständnisse zu mühsam: wenn ich ein »Positivist« bin, ist Jacobson ein »Naturrechtler«.

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Während das moderne Recht das - offenbar als narzißtisch verstan­ dene - Bedürfnis nach Anerkennung und das göttliche Recht das Streben der Person nach Vollkommenheit befriedigen soll, beide jedoch in der aktuellen Anwendung dieses Ziel verfehlen, scheitert das Common Law sozusagen auf höherem Niveau. Damit kommt ein zentrales Motiv der Critical Legal Studies zum Zuge. Die Ein­ sicht in das prinzipielle Scheitern aller göttlichen Gerechtigkeit auf Erden mutet den Adressaten zu, die Unbestimmtheit des Rechts in einem radikalen Sinne zu akzeptieren. Richter und Klienten sind stets in Versuchung, das Recht zu fixieren, indem sie einzelne Ent­ scheidungen als Präzedenzfälle behandeln. Der Individualität jedes neuen Falles, so verstehe ich Jacobson, können wir im Geiste des Common Law aber nur Rechnung tragen, wenn wir hinnehmen, daß sich die fälschlich unterstellte Identität des Rechts im Fluß nicht antizipierbarer Entscheidungen auflöst: »Law is just the application of law to single cases«. So entsteht das Bild von einem ungreifbaren Gesetz, das in der Unruhe je ursprünglicher Ent­ scheidungen schicksalhaft waltet: »The legal manifold in Common Law is constantly in motion ... (It) lacks a stable ground, because it both unfolds and enfolds it’s ordering principle in each application.« Diese kryptotheologische Konstruktion ist, wenn ich recht verstehe, der Versuch, die Vorstellung der Deutschen Historischen Schule von einem aus dem »Volksgeist« entspringenden »lebendi­ gen« Recht mit Mitteln des Dekonstruktivismus zu erneuern. Ich muß gestehen, daß mir dieses alternative Rechtskonzept, selbst wenn es sich präziser fassen ließe, sowohl aus normativen wie aus funktionalen und historischen Gründen unplausibel erscheint. Normativ deshalb, weil es in der Praxis darauf hinausläuft, die Le­ gitimation des Rechts durch den demokratischen Gesetzgeber zugunsten der Jurisdictio einer als Nebengesetzgeber auftretenden Justiz einzuziehen. Zudem wird man an der Brauchbarkeit eines Rechts zweifeln, das in der Aura einer (nicht länger als Defizit empfundenen, sondern) heiliggesprochenen »Unbestimmtheit« schon im Prinzip auf die Vorhersehbarkeit von Fallentscheidungen verzichtet - und damit auf seine Funktion, Verhaltenserwartungen zu stabilisieren. Schließlich beobachten wir, gerade im Privatrecht, eine erstaunliche Konvergenz der Rechtsentwicklungen in allen

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westlichen Gesellschaften, so daß heute aus komparatistischer Sicht das Common Law immer weniger eine Sonderstellung gegen­ über den kontinentalen Kodifikationen beanspruchen dürfte.

iv. Probleme der Theoriekonstruktion (1) Ich verdanke Bill Rehg eine der scharfsinnigsten Analysen und eine der produktivsten Ausarbeitungen der Diskursethik. Wie der Titel seines Buches »Insight and Solidarity« anzeigt, ist Rehg schon hier unzufrieden mit einem gewissen Intellektualismus dieses An­ satzes; er ist überzeugt, daß die gemeinsame Argumentationspraxis nur zu Einsichten führt, wenn sich die Teilnehmer auf vorgängig eingespielte solidarische Beziehungen verlassen können. Zum ei­ nen werden sie nur dann hinreichend dazu motiviert sein, sich auf eine umwegige diskursive Verständigung überhaupt einzulassen, wenn sie übereinstimmend »rationale Kooperation« als ein »Gut« betrachten, das anderen Formen der Interaktion vorzuziehen ist; der Entscheidung zwischen der Alternative von vernünftiger Eini­ gung und einer (wie auch immer sublimiert) gewaltsamen Ausein­ andersetzung liegt eine Präferenz zugrunde, die in gemeinsamen Wertorientierungen jedenfalls zuverlässiger verankert ist als in je eigenen Interessen. Zum anderen läßt sich, wie Rehg meint, der diskursethische Ansatz nur dann von letzten Resten der Subjekt­ philosophie befreien, wenn die unvermeidlich unvollständige Er­ füllung der idealen, über räumliche und zeitliche Kontexte hinaus­ greifenden pragmatischen Voraussetzungen der Argumentation durch das »Vertrauen« der Teilnehmer in die Regulation eines übersubjektiven, über ihre Köpfe hinweg fortgesetzten und über die Grenzen einer aktuellen Teilnehmerschaft hinaus erweiterten Kommunikationsprozesses ausgeglichen wird: »if rational Consen­ sus is cooperative even to the degree of requiring a decentered kooperative insight

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Idealisierungen bedeuten keinen Vorgriff auf einen idealen Endzu­ stand, sondern beleuchten nur die Differenz zwischen der rationa­ len Akzeptanz eines Geltungsanspruchs in einem gegebenen Kontext und der Gültigkeit einer Aussage, die sich in allen mög­ lichen Kontexten erweisen lassen müßte. Power sieht sehr gut, daß diese Idealisierungen, die der sozialen Faktizität der Alltagspraxis selbst entspringen, keinen abstrakten Universalismus retten, sondern aus den jeweiligen lebensweltlichen Kontexten heraus eine »Transzendenz von innen« begründen sol­ len: »We can only >make sense< of certain practices on the basis of assuming an operative role for deeply embedded fictional norms. These fictions are foundations from within, without any heavyweight metaphysical Support.« Das gilt nicht nur für die Argumen­ tationspraxis, wenn auch für diese in ausgezeichneter Weise. Nach einer entschiedenen Detranszendentalisierung der Kantischen Ver­ nunft hat sich die Spannung zwischen dem Intelligiblen und dem Empirischen in die sozialen Tatsachen selbst zurückgezogen. (3) Auf die Grundlagen der Diskurstheorie des Rechts zielt auch der rhetorisch weit ausholende Beitrag von Jacques Lenoble ab. Er ist zu komplex, als daß ich auf die Einwände im Detail eingehen könnte. Ich habe im ganzen den Eindruck, daß Lenoble die formal­ pragmatische Sprachauffassung mit der dekonstruktivistischen auf einen Nenner bringen und damit Unvereinbares vereinbar machen möchte. So will er auf der einen Seite an dem Grundsatz der for­ malpragmatischen Bedeutungstheorie festhalten, wonach wir einen sprachlichen Ausdruck verstehen, wenn wir wissen, wie wir ihn verwenden müssen, um uns mit seiner Hilfe mit jemandem über etwas in der Welt zu verständigen-, trotz dieses internen Zusam­ menhangs zwischen Bedeutung und Geltung insistiert er anderer­ seits auf einer prinzipiellen Unentscheidbarkeit des illokutionären Erfolgs jedes Verständigungsversuchs: die Kommunikationsteil­ nehmer sollen nicht feststellen können, ob einer das Sprechaktan­ gebot des anderen als gültig akzeptiert oder nicht. Ich werde zunächst (a) diese für alles weitere zentrale Unentscheidbarkeits-

düng«, in: Forum für Philosophie (Hg.), Philosophie und Begründung, Frank­ furt am Main 1987, 116-211.

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these zurückweisen, um (b) die Unterscheidung zwischen verständigungs- und erfolgsorientierter Einstellung sowie die korrespon­ dierende Unterscheidung zwischen illokutionären und perlokutionären Zielen zu verteidigen. Schließen werde ich (c) mit einer Bemerkung zu Lenobles probabilistischer Ontologie.281 (a) Es ist sinnvoll, zwischen folgenden Fällen zu unterscheiden: A stellt eine Behauptung >p< auf, womit er beansprucht, die Aussage >pp< in hypothetischer Einstellung, läßt also die Wahrheit oder Falschheit seiner Aussage einstweilen da­ hingestellt; oder A äußert >p< als eine im strikten Sinne unent­ scheidbare (mathematische) Aussage, wobei er deren Unentscheidbarkeit (in seltenen Fällen) beweisen kann. Der erste Fall ist offensichtlich die Basis, von der alle weiteren Fälle parasitär zeh­ ren; denn selbst die Unentscheidbarkeit muß sich gegenüber der Alternative von wahr/falsch profilieren. Die Behauptung einer Aussage die wahr oder falsch, richtig oder unrichtig sein kann, ist ohnehin der Regelfall in der kommunikativen Alltagspraxis. Als elementare Einheit einer solchen Äußerung läßt sich das Sprechaktangebot eines Sprechers A zusammen mit der Ja/NeinStellungnahme eines Hörers B auffassen und analysieren. Diese Analyse wird aus der Perspektive einer zweiten Person vorgenom­ men; die beiden Ziele des Sprechers, sich verständlich auszudrükken und sich mit jemandem über etwas zu verständigen, werden nämlich aus der Sicht eines Hörers definiert, der das Gesagte ver­ stehen und, obwohl er jederzeit »Nein« sagen kann, als gültig akzeptieren soll. Bezugspunkt des Verstehens sind die Bedingun­ gen für eine mögliche Verständigung. Aber diese sind erst erfüllt, wenn der Hörer den vom Sprecher für seine Aussage erhobenen Geltungsanspruch akzeptiert. Grundlage der Verständigung ist also die intersubjektive Anerkennung eines von selten des Hörers 28a Zum Folgenden vgl. J. Habermas »Sprechakt-theoretische Erläuterungen zum Begriff der kommunikativen Rationalität«, Zeitschrift für philosophische For­ schung, 50, 1996, 65-91. 357

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kritisierbaren Geltungsanspruches, für dessen — gegebenenfalls er­ forderliche - diskursive Einlösung der Sprecher eine - prima facie mehr oder weniger glaubwürdige - Garantie übernimmt. Natür­ lich kann sich diese Garantie als nicht tragfähig erweisen; aber auch brüchige Garantien dienen, vor einem breiten Hintergrundkonsens über lebensweltliche Gewißheiten, oft genug als Grundlage für eine Akzeptanz, die handlungsfolgenrelevante Verpflichtungen schafft. Was dem Hörer als rational akzeptabel erscheint, muß nicht schon gültig sein; das kommunikative Alltagshandeln lauft über die Akzeptanz von Geltungsansprüchen, die den Adressaten im gegebenen Kontext hinreichend rational erscheinen, aber nicht über die Gültigkeit von Sprechakten, die sich bei näherer Prüfung als rational akzeptabel erweisen. Lenoble bestreitet den Ansatz dieser (hier nur angedeuteten) Ana­ lyse mit der Behauptung, daß der Sprecher niemals entscheiden könne, ob sein Sprechaktangebot ernsthaft akzeptiert wird oder nicht: der illokutionäre Erfolg sei im Prinzip unentscheidbar. Bei­ spielsweise könne ein Sprecher nicht wissen, ob ein Hörer, der einer Behauptung zustimmt oder einen Befehl ausführt, die be­ hauptete Aussage tatsächlich glaubt oder bezweifelt und ob er die befohlene Handlung in Befolgung des Befehls oder aus ganz ande­ ren Gründen ausführt. Dabei geht Lenoble offenbar von einem subjektphilosophischen Verständnis sprachlicher Kommunikation aus, wonach diese sich nicht im Medium öffentlich zugänglicher symbolischer Ausdrücke, sondern zwischen wechselseitig intrans­ parenten Geistern abspielt. Lenoble scheint nicht zu sehen, daß der intentionalistische Vorbehalt nach einer konsequent vollzogenen linguistischen Wende sinnlos wird. Mit der affirmativen Stellung­ nahme zu einer Behauptung oder zu einem Befehl schafft der Hörer eine - öffentlich nachprüfbare - soziale Tatsache, gleichviel, was er sich dabei denkt; es wird sich im weiteren Verlauf der Inter­ aktion ebenso öffentlich herausstellen, ob der Adressat gegen die Verpflichtungen, die er damit übernommen hat (auf den als wahr akzeptierten Umstand Rücksicht zu nehmen, die befohlene Hand­ lung, aus welchen Motiven auch immer, auszuführen), verstößt oder nicht. Ähnlich verhält es sich mit dem weiteren Beispiel eines Versprechens, das der Sprecher aus anderen als den damit erklärten 358

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Gründen einhält. Der Akt des Versprechens schafft eine neue so­ ziale Beziehung, eben die Verbindlichkeit gegenüber einer anderen Person; und ob dieses Versprechen aufrichtig gemeint war, wird sich im weiteren Verlauf der Interaktion allein am ernsthaften Ver­ such seiner Einlösung zeigen. Die Ernsthaftigkeit der Sprecherin­ tention gehört zu den Voraussetzungen des verständigungsorien­ tierten Sprachgebrauchs, aber wie alle Präsuppositionen kann sich auch diese als falsch herausstellen. In konstativen und regulativen Sprechhandlungen bleibt sie implizit und tritt erst in expressiven Sprechhandlungen, beispielsweise Geständnissen (mit denen ein Sprecher ein ihm privilegiert zugängliches Erlebnis offenbart) the­ matisch hervor. Der damit explizit erhobene Wahrhaftigkeitsan­ spruch läßt sich ebenfalls nur indirekt »im weiteren Verlauf der Interaktion« überprüfen, also an deren konsistenter Fortsetzung, jedoch nicht unmittelbar in einem Diskurs. Derrida hat in seiner Auseinandersetzung mit Searle andere und auf den ersten Blick plausiblere Beispiele herangezogen, um die Unentscheidbarkeit kommunikativer Erfolge nachzuweisen. Diese sind dem Bereich fiktiver Rede sowie dem metaphorischen oder ironischen Sprachgebrauch entnommen: der Schauspieler, der das Publikum mit dem Ruf »Feuer« warnen will, wenn im Theater tatsächlich ein Brand entstanden ist, wird unter Umständen auch dann nicht ernst genommen, wenn er, auf der Bühne stehend, hin­ zufügt: »Ich meine es ernst.«25 An diesen speziellen Beispielen läßt sich der allgemeine Sachverhalt illustrieren, daß es für den kommu­ nikativen Erfolg eines Sprechers nicht ausreicht, daß der Hörer die wörtliche Bedeutung des Gesagten versteht. Die Verschränkung von Sprach- und Weltwissen erstreckt sich auch darauf, daß kom­ petente Sprecher eine Äußerung nur dann korrekt verstehen, wenn sie wissen, wie ein - in seinem wörtlichen Sinn verständlicher Satz situationsangemessen geäußert wird; denn nur aufgrund eines

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29 Albrecht Wdlmer behandelt das Beispiel im Zusammenhang mit Davidson unter dem hier interessierenden Gesichtspunkt: »Autonomie der Bedeutung und Principle of Charity aus sprachpragmatischer Sicht« (1994). Diesem unveröf­ fentlichten Manuskript entnehme ich auch die Unterscheidung zwischen der Kenntnis der wörtlichen Bedeutung eines Satzes und dem Wissen um die Situa­ tionsangemessenheit seiner Verwendung.

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solchen Verständnisses der Hintergrundmerkmale typischer Ver­ wendungssituationen wird der Hörer in untypischen Fällen auf die Sprecherintention und die gegebenenfalls »übertragene« oder iro­ nische Bedeutung seiner Äußerung schließen können. Mit dieser Analysestrategie will ich keineswegs das Okkasionelle, Flüchtige und Diffuse von Alltagskommunikationen leugnen, in denen sich Verständigungsmöglichkeiten nur transitorisch — durch die vielstimmige Dissonanz undeutlicher, fragmentarischer, mehr­ deutiger, interpretationsbedürftiger und mißverständlicher Äuße­ rungen hindurch — realisieren lassen. Aber den Ausgangspunkt der Analyse bildet das Faktum, daß sich über dieses trübe Medium die zahllosen kontingenten Handlungspläne neinsagender Aktoren zu einem dichten Gewebe von mehr oder weniger konfliktfreien In­ teraktionen vernetzen. Jede transzendental ansetzende Analyse will die Bedingungen der Möglichkeit eines Faktums aufklären, das sie voraussetzt. Kant ist vom Faktum der Newtonischen Physik ausgegangen und hat sich die Frage vorgelegt, wie objektive Erfah­ rung überhaupt möglich ist. Die Formalpragmatik ersetzt diese erkenntnistheoretische Grundfrage durch die sprachphilosophi­ sche, wie so etwas wie intersubjektive Verständigung möglich ist. Dabei geht sie aus von dem nicht minder erstaunlichen lebenswelt­ lichen Faktum einer gewaltlos über (meist implizite) Verständi­ gungsprozesse vollzogenen sozialen Integration. Daß Verständi­ gung gelingt, wird also vorausgesetzt in einer Analyse, die erklären soll, wie diese möglich ist. An dieser Voraussetzung meine ich, gegen Lenobles Zweifel, um so eher festhalten zu dürfen, als sich der Erfolg von Verständigungsversuchen für die Beteiligten unmiß­ verständlich an dem öffentlichen >Ja< und >Nein< der Angesproche­ nen bemißt. (b) Von der angeblichen Unentscheidbarkeit kommunikativer Er­ folge schließt Lenoble auf die Ununterscheidbarkeit zwischen verständigungs- und erfolgsorientiertem Sprachgebrauch einer­ seits, illokutionären und perlokutionären Zielen andererseits. Maßgebend für diese Unterscheidungen ist die Rolle der zweiten Person, die nicht ignoriert werden darf, wenn das Verstehen eines sprachlichen Ausdrucks nicht (wie bei Quine und Davidson) an die Hypothesenbildung eines Beobachters assimiliert oder wenn die 360

Kommunikation in einer natürlichen Sprache nicht (wie bei Grice oder Luhmann) auf die indirekte Einflußnahme einander beobach­ tender Aktoren zurückgeführt wird, die den anderen eigene Inten­ tionen »erkennen lassen« wollen. Die Einstellung gegenüber einer zweiten Person, mit der ich mich in einer gemeinsam beherrschten Sprache über etwas verständigen möchte, ist intuitiv leicht zu un­ terscheiden von der Einstellung einer ersten gegenüber einer (be­ obachteten) dritten Person, der ich eine eigene Meinung oder Absicht zu verstehen geben will, indem ich diese veranlasse, aus meinem klug berechneten Verhalten die richtigen Schlüsse zu zie­ hen. Zur Illustration eignen sich Situationen eines unfreiwilligen Ein­ stellungswechsels - so, wenn der Arzt in einer psychiatrischen Klinik während des Gesprächs bemerkt, daß ich ihn nicht, sagen wir, als Kollege, sondern als Patient aufsuche - und er plötzlich seine Blicke forschend auf mich richtet, um das, was ich sage, als Symptom eines Ungesagten zu entziffern. Die spezifische »Ent­ fremdung«, die in solchen Situationen einsetzt, erklärt sich aus dem unfreiwilligen Positionswechsel des Adressaten, der sich unter dem vergegenständlichenden Blick des Beobachters aus der Rolle der zweiten Person in die eines beobachteten Gegenspielers versetzt sieht. Aus einem, mit dem geredet wurde, wird er zu einem, über den geredet werden kann. Foucault hat eindrucksvoll untersucht, wie sich dieser klinische Blick zum institutionellen Kern des An­ staltswesens auskristallisiert; Goffman hat die Phänomenologie dieses Blicks aus unverfänglichen Szenen des Alltags entfaltet. Diese Erfahrungen haben ihre unschuldige Basis in einer Um­ gangssprache, der das System der Personalpronomina, also die Pronomina nicht nur der ersten und dritten, sondern auch der zweiten Person eingeschrieben ist. Weil sich der illokutionäre Erfolg an der Zustimmung zu einem Geltungsanspruch bemißt, dem der Adressat widersprechen kann, vermag ein Sprecher sein Ziel nur in der Einstellung gegenüber zweiten Personen zu erreichen. Denn Zustimmung oder Wider­ spruch zu einer geäußerten Aussage sind, auf der Grundlage eines gemeinsamen Verständnisses des Gesagten, nur aus der Perspektive einer beteiligten Person möglich. Das zeigt sich am Status von Ein-

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Verständnis und Dissens, worin Zustimmung und Widerspruch terminieren: beide unterscheiden sich von der (aus der Beobachter­ perspektive feststellbaren) interpersonalen Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Meinungen durch ihren intersubjekti­ ven Charakter. Eine mit anderen objektiv übereinstimmende Mei­ nung kann jeder für sich alleine haben, aber ein Konsens läßt sich nur gemeinsam mit anderen herbeiführen, wobei sich die Gemein­ samkeit des Unternehmens darauf gründet, daß Sprecher und Hörer an demselben System verschränkter und reziprok aus­ tauschbarer Ich-Du-Perspektiven teilhaben. Perlokutionär nennen wir hingegen die Effekte, die durch Sprech­ handlungen auf selten des Adressaten bewirkt werden, ob sie nun (wie die Ausführung eines Befehls) mit der Bedeutung des Gesag­ ten intern verknüpft sind, ob sie (wie das Erschrecken über eine Nachricht) von zufälligen Kontexten abhängen oder (wie im Falle der Manipulation) durch Täuschung zustande kommen. Perlokutionäre Effekte werden durch die beabsichtigte oder unbeabsich­ tigte Einwirkung auf einen Adressaten ohne dessen Mitwirkung hervorgerufen: sie stoßen ihm zu. Der Sprecher, der perlokutionäre Ziele verfolgt, orientiert sich an Konsequenzen seiner Äuße­ rung, die er richtig prognostizieren kann, wenn er aus der Beobachterperspektive die Wirkungen seiner eigenen Intervention in die Welt richtig berechnet. Illokutionäre Erfolge lassen sich, weil sie auf die rational motivierte Stellungnahme einer zweiten Person angewiesen sind, nicht auf diese Weise kalkulieren. Streitspezifi­ sche Sprechakte wie Drohungen, Beleidigungen, Flüche usw. las­ sen sich als »Perlokutionen« verstehen, d. h. als Äußerungen, deren standardisierte Bedeutung nicht durch den als Vehikel verwendeten illokutionären Akt selbst, sondern durch den mit ihnen beabsich­ tigten perlokutionären Effekt festgelegt ist. Im allgemeinen ist für die Erzielung dieser Effekte die Sprache nicht in einem wesent­ lichen Sinne nötig: nicht-sprachliche Handlungen sind oft funktio­ nale Äquivalente für einen solchen, nicht per se an Verständigung, sondern an deren Konsequenzen orientierten Sprachgebrauch. Auf dieselbe Weise lassen sich Praktiken, die wesentlich auf Spra­ che angewiesen sind, weil die Handlungskoordinierung über die Verständigung performativ eingestellter Teilnehmer läuft, von stra-

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tegischen Interaktionen unterscheiden; diese vollziehen sich nach dem Muster der reziproken Einflußnahmen von Aktoren, die allein an den Konsequenzen ihrer nach je eigenen Präferenzen getroffe­ nen Entscheidungen orientiert sind und die, aus der objektivieren­ den Einstellung eines Beobachters, die rational motivierende Bindungskraft illokutionärer Akte nicht in Anspruch nehmen kön­ nen. Daß diese Unterscheidung zwischen verständigungs- und erfolgsorientiertem Handeln kein theoretisches Artefakt ist, läßt sich intuitiv leicht an moralischen Gefühlen nachprüfen. Wir kön­ nen uns durch den Normverstoß eines anderen nur verletzt fühlen, darüber empört sein oder selbst ein schlechtes Gewissen haben, wenn wir einen normativen Konsens unterstellen und davon ausge­ hen, daß wir uns in der performativen Einstellung von verständi­ gungsorientiert handelnden Aktoren »richtig« zueinander verhal­ ten, nämlich so, daß sich das Verhalten erforderlichenfalls im Lichte dieses Konsenses auch rechtfertigen läßt. Wir wissen sehr wohl, wann wir eine Norm befolgen, weil wir sie als gültig oder verpflich­ tend anerkennen, und wann wir bloß im Einklang mit ihr handeln, weil wir die Konsequenzen eines abweichenden Verhaltens vermei­ den möchten. Im einen Fall handeln wir aus aktorunabhängigen Gründen, über die wir uns mit anderen (implizit) verständigt haben (oder glauben, Einverständnis herbeiführen zu können); im anderen Fall aus aktorrelativen Gründen, die nur relativ zu den eigenen Zie­ len und Präferenzen zählen. Auf diese Unterscheidungen stützen sich (nicht nur die Kantischen) Begriffe des Rechts und der Rechts­ geltung. Ich sehe deshalb nicht, wie Lenoble legales Verhalten und legitime Ordnungen analysieren kann, ohne von solchen oder äqui­ valenten Unterscheidungen Gebrauch zu machen. (c) Lenoble möchte die grundbegrifflichen Unterscheidungen, an deren intuitive Plausibilität ich noch einmal erinnert habe, dekonstruieren, weil er annimmt, daß diese Konzeption noch dem Welt­ bild des klassischen Determinismus verhaftet ist. Er selbst scheint, ähnlich wie Jacobson, von kosmologischen Spekulationen beein­ druckt zu sein, die sich - aus einiger Entfernung - von der Chaosforschung inspirieren lassen. Jedenfalls stellt Lenoble die prinzipielle Unentscheidbarkeit kommunikativer Erfolge und die Zufallsdynamik des Sprachgeschehens in den Rahmen einer proba-

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bilistischen Ontologie. Dem nur noch statistisch erfaßbaren Welt­ geschehen soll das Modell des Laplace'schen Würfelspielers ange­ messener sein als der Kantische Kritiker, der Gründe gegeneinan­ der abwägt, statt die zufällig erwürfelten Punkte abzuzählen. Der Verdacht ist klar: die kommunikative Vernunft postuliert zu viel Ordnung im Taumel der Signifikanten. Dazu nur eine kurze Be­ merkung. Wie sich die mentalistische Wende in der modernen Philosophie als Antwort auf eine neue Kontingenzerfahrung, nämlich auf die Er­ fahrung einer durchgängig kontingent gewordenen Natur begrei­ fen läßt, so verarbeitet die linguistische Wende den Einbruch einer neuen Sorte von geschichtlichen Kontingenzen, die erst in Folge des im späten 18. Jahrhundert entstandenen historischen Bewußtseins philosophische Relevanz erlangen. Das detranszendentalisierte Be­ wußtsein des erkennenden Subjekts muß nunmehr in historischen Lebensformen situiert, in Sprache und Praxis verkörpert werden. Dabei geht seine weltbildende Spontaneität auf die welterschlie­ ßende Funktion der Sprache über. Die Frage, um die heute die Rationalitätsdebatte kreist, ist freilich, ob die kommunikativ han­ delnden Subjekte vom Auf und Ab der epochalen Weltauslegun­ gen, Diskurse und Sprachspiele gefangengenommen werden, ob sie an das ontologische Vorverständnis, das innerweltliche Lernpro­ zesse möglich macht, schicksalhaft ausgeliefert sind, oder ob die Ergebnisse dieser Lernprozesse rückwirkend auch das weltausle­ gende Sprachwissen selbst revidieren können. Wenn wir dem tran­ szendentalen Faktum des Lernens gerecht werden wollen, müssen wir wohl mit der zweiten Alternative rechnen — und mit einer kom­ munikativen Vernunft, die keine Inhalte mehr präjudiziert. Diese nur noch prozedurale Vernunft operiert mit kontexttranszendie­ renden Geltungsansprüchen und mit pragmatischen Weltunterstellungen. Aber die Unterstellung einer einzigen objektiven Welt hat nur die formale Bedeutung eines ontologisch neutralen Bezugssy­ stems. Sie besagt nicht mehr, als daß wir auch unter wechselnden Beschreibungen auf dieselben - wiedererkennbaren - Entitäten Be­ zug nehmen können.30 jo Vgl. C.Lafont, Sprache und Welterschließung, Frankfurt am Main 1994. 364

v. Zur Logik juristischer Diskurse

Lenoble läßt sich auf eine Kritik am Begriff der kommunikativen Vernunft und an Grundannahmen der Theorie des kommunikati­ ven Handelns ein, weil er in der »Unbestimmtheit« des Rechts und der juristischen Entscheidungspraxis nur einen Reflex jener »Unentscheidbarkeit« sieht, die der sprachlichen Kommunikation als solcher innewohnen soll. Mir ist nicht klar, wie das Recht seine Funktion, Verhaltenserwartungen zu stabilisieren, weiterhin sollte erfüllen können, wenn die Klienten ebenso wie die Experten daran zweifeln müßten, daß das geltende Recht ex ante hinreichend be­ stimmt, nach welchen Verfahren und welchen normativen Ge­ sichtspunkten künftige Fälle interpretiert und entschieden werden sollen. Die Rechtssicherheit, die gewiß nicht verabsolutiert werden darf, aber einen rechtsformimmanenten Beitrag zur Legitimität der Rechtsordnung darstellt, erfordert ein gewisses Maß an Vorherseh­ barkeit. Themen, die Lenoble in diesem Zusammenhang berührt, kehren bei anderen Autoren wieder. David Rasmussen verteidigt die juristische Hermeneutik (1), Robert Alexy seine Version der Diskurstheorie (2) und Gunther Teubner eine neue Formulierung des alten Kollisionsproblems (3). (1) David Rasmussen behandelt meine Analyse der Rechtspre­ chung und die diskurstheoretische Aneignung der juristischen Hermeneutik aus der Sicht eines Philosophen, der die deutsche Diskussion von Husserl und Heidegger über Gadamer bis Apel verfolgt hat. Seine metakritischen Betrachtungen bringt er auf die folgende These: »Habermas’s argument claims too much for a theory of rationality. At the same time, while buying in to a form of philosophy of language, it claims to little for language.« Vor dem Hintergrund der Debatte zwischen Hermeneutik und transzen­ dentaler Phänomenologie erscheint nämlich für Rasmussen die formalpragmatische Untersuchung allgemeiner Kommunikations­ voraussetzungen — trotz linguistischer Wende — wie eine Rückkehr hinter den Ausgangspunkt der Detranszendentalisierung des rei­ nen Bewußtseins. Den Fehler sieht er in der Annahme, daß man nach der linguistischen Wende den transzendentalen Stil der Argu­ mentation beibehalten könne-statt das transzendentale Erbe einer

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Spannung zwischen Faktizität und Geltung ganz preiszugeben und mit der Hermeneutik auf alle Idealisierungen zu verzichten. Mich erstaunt, daß Rasmussen die rhetorisch gestellte Frage: »Does Interpretation require idealization?« umstandslos verneint. Denn Gadamer und Davidson haben je auf ihre Weise gezeigt, daß die Interpretation von sprachlichen Ausdrücken (und symbolisch vorstrukturierten Gebilden überhaupt) sehr wohl ein Prinzip der Nachsicht erfordert. Wir müssen den Aktoren Zurechnungsfähig­ keit und ihren Äußerungen Rationalität unterstellen - nichts ande­ res verlangt die Theorie des kommunikativen Handelns.31 Das sind gewiß nur methodologisch in Anschlag gebrachte Idealisierungen; sie haben aber ein fundamentum in re, und zwar in den Rationali­ tätsunterstellungen der Verständigungspraxis selber. Daß man zwischen der Diskurspraxis und dem Verfahren demo­ kratischer Meinungs- und Willensbildung nicht kurzschlüssig ei­ nen Zusammenhang herstellen darf, habe ich selbst immer wieder betont. Im übrigen führt auch ein diskurstheoretisches Verständnis der Rechtsprechung keineswegs zur Forderung nach einer »Demo­ kratisierung« der Gerichte. Aus der postulierten Einbettung der Justiz in eine offene, Justizkritik übende Gemeinschaft der Verfas­ sungsinterpreten ergeben sich vielmehr rechtspolitische Forderun­ gen nur im Hinblick auf die erwähnte Aushöhlung der funktiona­ len Gewaltenteilung: je mehr Rechtsfortbildung die Justiz betreibt, um so energischer muß sie genötigt werden, sich nicht nur vor einer Öffentlichkeit von Experten, sondern nach außen, vor dem Forum der Bürger zu rechtfertigen. (2) Alexys Dissertation32 hatte mich seinerzeit dazu ermutigt, die für die Moral entwickelte Diskurstheorie auf Recht und Verfas­ sungsstaat auszudehnen. Für das Verständnis der Dialektik von rechtlicher und faktischer Gleichheit hat mir zudem seine »Theorie der Grundrechte« geholfen.33 Freilich schlägt er darin auch eine

31 Vgl. Habermas (1981), Bd.i, 152-195. 32 Vgl. R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Auf), (mit einem inter­ essanten Nachwort), Frankfun am Main 1991. 33 Vgl. R. Alexy, Baden-Baden 1985; inzwischen ist erschienen: R. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg/München 1992. 366

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Deutung von Rechtsnormen vor, die von Klaus Günther und mir kritisiert worden ist?4 Danach soll sich das deontologische Ver­ ständnis von Normen in ein äquivalentes Verständnis korrespon­ dierender Wertinhalte überführen lassen. Alexy sieht sehr wohl die Differenz zwischen beiden Betrachtungsweisen: »Was im Werte­ modell prima facie das beste ist, ist im Prinzipienmodell prima facie gesollt, und was im Wertemodell definitiv das beste ist, ist im Prin­ zipienmodell definitiv gesollt. Prinzipien und Werte unterscheiden sich also nur wegen ihres einerseits deontologischen und anderer­ seits axiologischen Charakters.«35 Aber der Streit geht um das »nur«: »Im Recht geht es darum, was gesollt ist. Dies spricht für das Prinzipienmodell. Andererseits bereitet es keine Schwierigkeit, ... in der juristischen Argumentation statt vom Prinzipien- vom Wertemodell auszugehen.«36 Diese These hatte Alexy in Gestalt eines (Kosten-Nutzen-Analysen einschließenden) Optimierungs­ oder Abwägungsmodells entfaltet. Nun verteidigt er diese Position mit einem weiteren Argument. Die starre Unterscheidung zwischen deontologischen und axiologi­ schen Gesichtspunkten passe nicht zu Rechtsnormen, die ja, weil sie vergleichsweise konkrete Materien regeln, sowohl im Hinblick auf politische Ziele und ethische Werte wie unter moralischen Ge­ sichtspunkten gerechtfertigt werden müssen. Alexy antizipiert meine Antwort, daß es bei der Begründung von Rechtsnormen immer nur (im Sinne Dworkins) um den relativen Vorrang von Prinzipien- vor Zielsetzungsargumenten gehe; andernfalls müsse die Rechtsform (und die Sollgeltung von Rechtsnormen) Schaden leiden, weil sich das Recht von Haus aus mit der Moral die Aufgabe teilt, interpersonelle Konflikte zu lösen, und eben nicht in erster Linie — wie Politiken - der Verwirklichung von kollektiven Zielen dient.37 Mit dieser Replik gibt sich Alexy nicht zufrieden. Er ver­ steht nämlich den deontologischen, also unbedingten Charakter

34 Vgl. K. Günther, Der Sinn für Angemessenheit, Frankfurt am Main 1988, 163176; Habermas (1992), 309 ff. 35 Alexy (198$), 133. 36 Ebda. 37 Vgl. Habermas (1992), jiöff.

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der Sollgeltung, den ich den Rechtsnormen bewahren möchte, im Sinne einer universellen, alle sprach- und handlungsfähigen Sub­ jekte einschließenden Geltung und hat dann leichtes Spiel: Rechts­ normen binden immer nur eine historische, in Raum und Zeit begrenzte Gemeinschaft von Personen und können deshalb nicht in jenem strikten Sinne »deontologisch« sein. Dazu ist zu sagen, daß sich der Ausdruck »deontologisch« zu­ nächst nur auf den binär codierten Verpflichtungscharakter von Verhaltenserwartungen bezieht. Normen sind entweder gültig oder ungültig, während Werte um den Vorrang vor anderen Werten kon­ kurrieren und jeweils in eine transitive Ordnung gebracht werden müssen. Der Code einer wahrheitsanalogen Unterscheidung von »richtigen« und »falschen« Geboten und die entsprechende Unbe­ dingtheit ihres normativen Geltungsanspruchs bleibt von der Ein­ schränkung des Geltungsbereichs auf eine partikulare Rechtsge­ meinschaft unberührt. Innerhalb eines solchen Geltungsbereichs tritt das Recht seinen Adressaten nach wie vor mit einem Geltungs­ anspruch gegenüber, der eine Gewichtung von Rechten nach dem Modell der Abwägung von vorrangigen oder nachgeordneten »Rechtsgütern« ausschließt. Wie wir unsere Werte bewerten und wie wir entscheiden, was jeweils »gut ist für uns« und was »das Bessere«, ändert sich von heut auf morgen. Sobald wir das Prinzip der Rechtsgleichheit nur noch als ein Gut neben anderen betrach­ ten, können individuelle Rechte von Fall zu Fall kollektiven Zielen aufgeopfert werden - statt daß ein Recht im Kollisionsfall hinter einem anderen Recht »zurücktritt«, ohne dadurch seine Gültigkeit zu verlieren. Daß das mehr ist als ein Streit um Worte, zeigt sich daran, wie wir das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verstehen, nach dem sich die Rechtsprechung in Kollisionsfällen richtet. Alexy sieht seine Auf­ fassung, daß Prinzipien wie Werte behandelt werden dürfen, da­ durch bestätigt, daß Rechte im juristischen Diskurs die Rolle von Gründen spielen, die gegeneinander »abgewogen« werden. Nun kann es in der Tat für eine Aussage mehr oder weniger gute Gründe geben, während die Proposition selbst entweder wahr oder falsch ist. »Wahrheit« unterstellen wir auch dann als eine »unverlierbare« Eigenschaft von Aussagen, wenn wir sie nur anhand der Gründe 368

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beurteilen können, die uns gegebenenfalls berechtigen, Aussagen für wahr zu halten. Der Unterschied zwischen Prinzipien- und Wertemodell zeigt sich daran, daß nur im einen Fall der Bezugs­ punkt eines Anspruchs auf die binär codierte oder »unbedingte« Gültigkeit erhalten bleibt: die vom Gericht zur Rechtfertigung ei­ nes (singulären) Urteils (unter anderem) herangezogenen allgemei­ nen Normsätze gelten hier als Gründe, die uns berechtigen sollen, die Entscheidung des Falls für richtig zu haken. Wenn hingegen die rechtfertigenden Normen als Werte begriffen werden, die aus gege­ benem Anlaß ad hoc in eine transitive Ordnung gebracht werden, resultiert das Urteil aus einer Güterabwägung. Das Urteil ist dann selbst ein Werturteil, das im Rahmen einer konkreten Wertordnung eine sich darin artikulierende Lebensform mehr oder weniger an­ gemessen reflektiert, aber gar nicht mehr auf die Alternative bezo­ gen ist, ob die gefällte Entscheidung richtig oder falsch ist. Mit einer solchen Assimilation von Geboten an Werturteile entsteht erst die Legitimation für einen Spielraum subjektiven Ermessens. Aber normative Aussagen verhalten sich grammatisch anders als evaluative Aussagen. Die schleichende Assimilation von Aussagen des einen an Aussagen des anderen Typs beraubt das Recht seines klar geschnittenen und diskursiv einzulösenden Sollgeltungsan­ spruchs. Mit diesem verschwindet auch der beruhigende Rechtfer­ tigungszwang, unter dem das positive Recht schon deshalb stehen sollte, weil es mit Sanktionen bewehrt ist und mit Strafen empfind­ lich in die Freiheitsrechte Zuwiderhandelnder Personen eingreifen darf. Ähnliches gilt für die Assimilation von Anwendungs- an Begrün­ dungsdiskurse?8 Alexy sieht sehr wohl die Unterschiede in der Logik der Fragestellung, die im einen Fall auf die Rechtfertigung allgemeiner Normsätze im Lichte der Konsequenzen für vorher­ sehbare Beispielfälle, im anderen Fall auf die Rechtfertigung singu­ lärer Urteile im Lichte der als gültig vorausgesetzten Normen abzielen. Bestimmte Phänomene kann er aber nicht erklären, bei38 Auf die einschlägige Diskussion zwischen Alexy und Günther kann ich hier nicht eingehen: K. Günther, »Critical Remarks on Robert Alexy’s »Special case Thesis«, Ratio Juris, Vol.6, 1993, 143-156; R. Alexy, »Justification and Appli­ cation of Norms«, ebda., 157-170.

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spielsweise die Unterschiede des kommunikativen Arrangements von Gesetzgebung und Rechtsprechung. Diese ergeben sich näm­ lich argumentationslogisch aus den in Begründungs- und Anwen­ dungsdiskursen jeweils leitenden Prinzipien der Verallgemeine­ rung und der Angemessenheit. Beispielsweise wäre die Rolle des unparteilichen Dritten, die die Struktur des Gerichtsdiskurses be­ stimmt, im Begründungsdiskurs, wo es Unbeteiligte nicht geben kann, deplaziert. Wenn wir die Unterscheidung zwischen beiden Diskurstypen einbeziehen, entfällt zudem die rationale Grundlage für eine funktionale Gewaltenteilung, die sich aus den verschiede­ nen Zugriffsmöglichkeiten auf bestimmte Sorten von Gründen rechtfertigt. Der Justiz und der Verwaltung stehen die Gründe, mit denen der politische Gesetzgeber die beschlossenen Normen be­ gründet hat (oder vernünftigerweise dafür hätte mobilisieren kön­ nen), bei deren Anwendung und Implementierung nicht einfach zur Disposition. Das hat einen kritischen Sinn überall dort, wo Justiz und Verwaltung rechtsfortbildende Entscheidungen treffen oder verschleiert legislative Aufgaben übernehmen müssen - und sich damit anderen Legitimationszwängen aussetzen, als denen, die in der traditionellen Gewaltenteilung vorgesehen sind. (Daraus er­ geben sich rechtspolitisch beispielsweise die Forderung nach ju­ stizkritischen Foren, nach Formen der Verwaltungsbeteiligung, Ombudsleuten usw.) (3) Gunther Teubners Kritik zielt aufs Grundsätzliche. Zunächst begrüßt er die Differenzierung der Beratungen nach Diskursen und Verhandlungen (sowie die Differenzierung der Diskurse nach verschiedenen Formen der - pragmatischen, ethischen, morali­ schen und juristischen Argumentation). Wenn man jedoch ange­ sichts dieses Diskurspluralismus nicht, wie etwa Lyotard, von der semantischen Geschlossenheit der Diskurse und ihrer gegenseiti­ gen Indifferenz ausgeht, entsteht das Folgeproblem, das Teubner interessiert. Im Kollisionsfall muß dann nämlich für die Verein­ barkeit der verschiedenen Diskurse gesorgt werden: »After the move to pluridiscursivity, the success of Habermas’ theory depends on a plausible solution to the collision of discourses.« Wir benötigen Verfahren - Teubner spricht von »rational metaprocedures for interdiscursivity« —, nach denen wir entscheiden 37°

können, welche Materien unter welchen Aspekten vorrangig zu regeln sind bzw. welcher der verschiedenen Aspekte, unter denen ein und dieselbe Materie behandelt wird, Vorrang haben soll. Teubner stellt mich vor die Alternative, zwischen der Heterarchie gleichberechtigter Diskurse oder ihrer Hierarchisierung unter Führung eines Superdiskurses zu wählen; und er meint, daß ich der Diskurstheorie die Rolle eines solchen Superdiskurses zumute. Das trifft nicht zu. Gewiß ist die Klärung von pragmatischen, ethischen und morali­ schen Fragestellungen sowie die Analyse von entsprechenden Ar­ gumentationsregeln und Diskurstypen in erster Linie ein philoso­ phisches Geschäft; aber die Philosophie führt einen unter vielen anderen Diskursen und erklärt sogar, warum es Metadiskurse gar nicht geben kann. Soziologisch gesehen, genießen deshalb Philoso­ phen so wenig wie andere Wissenschaftler irgendein Privileg in öffentlichen Angelegenheiten. Sie können sich allenfalls als Exper­ ten zu einschlägigen Materien fragen lassen oder sich ungefragt als Intellektuelle einmischen, sie dürfen aber keineswegs die institutio­ nelle Rolle eines Schiedsrichters in Anspruch nehmen. Meine diskurstheoretischen Überlegungen laufen auf die Selbstse­ lektivität von Fragestellungen hinaus; die Logik der entsprechen­ den Diskurse zeichnet auch rationale Übergänge vom einen zum anderen Diskurs vor. Zur Illustration nur die folgende Überle­ gung. Soweit es bei der Artikulation und Abwägung von Politiken darauf ankommt, (auf der Grundlage empirischer Informationen) zweckrationale Mittel oder Strategien zu wählen, müssen konsens­ fähige und hinreichend klare Präferenzen gegeben sein. Wenn die Präferenzen selbst strittig sind, weil gegensätzliche Interessen auf­ einanderstoßen, müssen verfahrensgerechte Kompromisse gefun­ den werden (während über die Fairneß der Verfahren in morali­ schen Diskursen entschieden wird). Wenn jedoch die Präferenzen weniger strittig als vielmehr unklar sind, müssen sich die Beteilig­ ten in ethischen Diskursen über ihre Lebensform und ihre kollek­ tive Identität verständigen, um sich gemeinsamer Wertorientierun­ gen zu versichern. Wenn dann anstelle kompromißbedürftiger Interessenkonflikte unversöhnliche Wertkonflikte vorliegen, müs­ sen die Parteien die Ebene wechseln und sich unter dem abstrakte-

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ren, aber gemeinsam unterstellten moralischen Gesichtspunkt auf Regeln des Zusammenlebens einigen, die gleichermaßen im Inter­ esse aller liegen. Das ist nur ein Muster interdiskursiver Beziehun­ gen neben vielen anderen möglichen Mustern. Hier geht es nur darum, daß die Übergänge nicht in einem Superdiskurs festgelegt werden; sie ergeben sich vielmehr aus der Logik der Fragestellung eines jeweiligen Diskurses mit dem Ergebnis, daß das Gute gegen­ über dem Zweckmäßigen und das Gerechte gegenüber dem Guten privilegiert wird. Im Kollisionsfall »stechen« moralische Gründe ethische Gründe und ethische Gründe pragmatische, weil die je­ weilige Fragestellung, sobald sie in ihren eigenen Voraussetzungen problematisch wird, selbst die Richtung weist, in der sie dann ra­ tional überschritten werden muß. Daß Kompromisse mit den jeweils anerkannten ethischen Grundwerten und diese wiederum mit gültigen moralischen Grundsätzen in Einklang stehen müssen, ergibt sich aus der Logik der Fragestellungen und der durch sie geregelten interdiskursiven Zusammenhänge. Diese »Selbstselektivität« der Fragestellungen kann freilich nur funktionieren, solange die Selektion der Fragestellungen und die Wahl der Aspekte, unter denen eine strittige Materie überhaupt behandelt werden soll, nicht strittig sind. Eine »Diskurskollision« liegt aber dann vor, wenn sich die Beteiligten nicht darauf einigen können, ob es sich beispielsweise um einen kompromißfähigen In­ teressen- oder einen nicht kompromißfähigen Wertkonflikt, ob es sich um eine ethische oder um eine moralische Frage, ob es sich überhaupt um eine politisch regelungsbedürftige und rechtlich re­ gelbare Materie handelt usw. Da es auch für solche Probleme zweiter Ordnung keine Metadiskurse gibt, müssen hier die recht­ lich institutionalisierten Verfahren greifen; denn diese bedeuten eine Vorselektion nur insofern, als alles, was verhandelt wird, unter juristischen Gesichtspunkten und in der Sprache des Rechts ver­ handelt werden muß (sofern das eine der berechtigten Parteien wünscht). Die juristischen Verfahren verdanken ihre Regelungs­ kompetenz im Falle von Diskurskollisionen dem Umstand, daß der Rechtscode zu unspezifisch ist, um gegenüber der »Logik der Fragestellungen« sensibel zu sein. Es gibt kein juristisches Verfah­ ren, das Materien nach Fragestellungen sortiert. Das ist zwar

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prozedural nützlich, weil auf diese Weise fristgerechte Entschei­ dungen in jedem Falle, also auch bei Diskurskollisionen zustande kommen; aber es ist substantiell unbefriedigend, weil auf diese Weise nicht ausgeschlossen werden kann, daß über konfligierende Werte Kompromisse geschlossen, daß ethische Fragen unter dem moralischen Gesichtspunkt entschieden, daß private Angelegen­ heiten politisiert, Handlungsbereiche verrechtlicht werden usw. Andererseits kann diesen »Sortierfehlern« nur dadurch begegnet werden, daß die juristischen Verfahren Argumentationen zugleich ermöglichen und intakt lassen, also Diskurse freisetzen, ohne in deren eigene Logik einzugreifen. In dem Maße, wie das gelingt, kann dann die Selbstselektivität der Fragestellungen zum Zuge kommen.39 Das bedeutet aber keineswegs, daß der juristische Diskurs als Su­ perdiskurs eingesetzt würde. Das schlägt Teubner vor; dabei stützt er sich auf zwei problematische Annahmen: (a) daß jene verschie­ denen Diskurse, die sich der juristische Diskurs gegebenenfalls anverwandelt, untereinander inkommensurabel sind; und (b) daß die spezifische Rolle des juristischen Diskurses darin besteht, die übrigen Diskurse auf den eigenen Nenner zu bringen und dadurch miteinander kompatibel zu machen. ad a). Teubner erläutert, was er (in einem noch juristisch unspezi­ fischen Sinne) unter Inkommensurabilität versteht, am Beispiel des internationalen Privatrechts. Dieses mußte immer schon mit dem Problem fertig werden, Regeln für die im Einzelfall auftretenden Kollisionen zwischen national verschiedenen Rechtsordnungen auszubilden. Nach diesen »Kollisionsregeln« wird entschieden, ob jeweils eigenes oder fremdes Privatrecht angewendet werden soll; aber diese Metaregeln werden wiederum aus der Perspektive des je eigenen Rechts gebildet. Deshalb reproduziert sich bei der Anwen­ dung der aus der eigenen Perspektive wahrgenommenen Unter­ schiede zwischen dem jeweils eigenen und fremden Privatrecht das Ausgangsproblem auf höherer Reflexionsstufe: »In vain do dis39 Vgl. J. Habermas, »Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft», in: ders., Erläuterungen zur Diskunethik, Frankfun am Main 1990, 1 i/f.

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course collisions search for one central meta-discourse. There is only a plurality of decentralized meta-discourses that reformulate collisions in their own idiosyncratic language.« Unter dieser Wiethölterschen - Beschreibung dienen die internationalen Privat­ rechte, die den Singular »des« internationalen Privatrechts nur im Plural der vielen nationalen Rechtsordnungen verwirklichen kön­ nen, als Beispiel für die allgemeine Problematik der »Verständi­ gung« zwischen Diskursen, die füreinander fremde Welten bilden. Diese sind zwar nicht semantisch geschlossen in dem Sinne, daß sie füreinander unverständlich wären; aber sie werden von verschiede­ nen, miteinander unverträglichen Rationalitäten und Grundbegrifflichkeiten regiert, so daß im einen Universum richtig oder vorrangig sein kann, was im anderen falsch oder nachgeordnet ist. Diese Inkommensurabilität ist von derselben Art wie der inner­ staatliche Konflikt zwischen jenen um eine je eigene Konzeption des Guten integrierten Gemeinschaften, die beispielsweise »Ab­ treibung« aus der einen Perspektive anders beschreiben als aus der anderen, so daß die Identität des Tatbestandes mangels einer ge­ meinsamen Bewertungsperspektive verschwimmt. Wenn das zu­ trifft, ergibt sich aber für Teubner die unangenehme Konsequenz, daß er mit seiner Auffassung von Inkommensurabilität stillschwei­ gend den ethischen Diskurs gegenüber allen anderen Diskurstypen in eine Vorrangstellung bringt. Das widerspricht der Prämisse der Gleichrangigkeit der verschiedenen Diskurse, aus der sich ja eine unvermeidliche Asymmetrie der »Verständigung« zwischen ihnen erst ergeben soll. Darauf komme ich gleich zurück. Tatsächlich ist die Asymmetrie, die Teubner anhand der Kollisions­ regeln des internationalen Privatrechts erläutert, das kontraintui­ tive Erzeugnis einer theoretischen Weichenstellung, die noch der Tradition der Bewußtseinsphilosophie verhaftet ist. Wenn man von Systemen oder Diskursen ausgeht, die wie ein transzendentales Subjekt nach eigenen Prämissen ihre je eigene Welt konstituieren, dann läßt sich »Verständigung« nur auf der Basis wechselseitiger Beobachtung intentionalistisch, und zwar in der Weise begreifen, daß einer den anderen zu je eigenen Operationen »veranlaßt«. Kontraintuitiv ist diese Theoriestrategie, weil sie den Umstand und die hermeneutische Grundeinsicht — ignoriert, daß sich nie374

mand in einer Umgangssprache mit einem anderen über etwas in der Welt verständigen kann, wenn er nicht das System der inein­ ander transformierbaren Personalpronomina beherrscht und weiß, wie er eine Symmetrie zwischen den austauschbaren Perspektiven der ersten und der zweiten Person innerhalb einer aus der Dritten-Person-Perspektive beobachtbaren Interaktion herstellen kann. Im übrigen kann das internationale Privatrecht nur so lange als Beispiel dafür dienen, daß ein Recht seine Konflikte mit anderen Rechten unvermeidlicherweise unter eigenen Prämissen löst, wie es sich um die nationalen Rechtsordnungen souveräner Staaten han­ delt. Aber nur in der Periode zwischen 1648 und 1914 waren Staaten in dem Sinne »souverän«, daß sie sich weder einer interna­ tional verbindlichen Menschenrechtskonvention unterworfen noch in den eigenen Verfassungen Menschenrechte positiviert hatten. Sobald das der Fall ist, schlägt nämlich der universalistische Gehalt der Grundrechte über die Privatrechtsgesetzgebung auf alle konkreten Regelungen durch. Der inzwischen wirksame Zangen­ druck eines von außen und innen wirksamen Systems der Men­ schen- und Grundrechte schließt gewiß nicht den interkulturellen Streit über die Interpretation dieser Rechte aus. Aber der Diskurs über Menschenrechte ist wiederum informativ für die vor interna­ tionalen Gerichtshöfen ausgetragenen Rechtsstreitigkeiten, die so oder so entschieden werden. Mindestens läßt sich ein künftiger weltbürgerlicher Zustand ohne Widerspruch denken, was zeigt, daß das Beispiel der Kollisionsregeln keineswegs die Unausweich­ lichkeit der im internationalen Privatrecht auftretenden Asymme­ trien belegt. ad b): Die Rolle eines Superdiskurses soll dem Recht nach Teub­ ners Auffassung deshalb zufallen, weil es sich zu allen übrigen Diskursen in dem Bewußtsein verhält, daß diese füreinander in­ kommensurable Welten bilden und sich, wegen ihrer asymmetri­ schen Beziehungen, gegenseitig »unrecht« tun müssen. Das Rechtsmedium gleicht dieses »Unrecht« aus, indem es sich alle in seiner gesellschaftlichen Umwelt angetroffenen Diskurse auf seine Weise aneignet und miteinander kompatibel macht. Nach dieser Konzeption ist also das Recht auf die Kompatibilisierung des im 375

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grammatischen Sinn Unvereinbaren spezialisiert; das gelingt ihm natürlich nur unter eigenen Prämissen, da auch der juristische Dis­ kurs, trotz allem, die Eigenschaft der Inkommensurabilität aufwei­ sen soll: »Justice can be realized to the degree as a concrete legal discourse is simultaneously able, externally, to incorporate the rationalities of other discourses and, internally, to observe its own requirements of legal consistency.« Was den juristischen Diskurs und dessen »Eigenlogik« auszeichnet, ist nicht nur normative Ko­ härenz, also der Anschluß eines jeden neu auftretenden Falles an die Kette der bisherigen Entscheidungen, sondern eine spezifische Fragestellung - wie Gleiches gleich und Ungleiches ungleich be­ handelt werden kann (how to treat new cases alike/not alike). Das bedeutet zugleich eine Assimilierung der angeeigneten Rationalitä­ ten fremder Diskurswelten an den eigenen Standard der Gleichbe­ handlung. Das Recht ist »Herr« über Gleichheit und Ungleichheit. Dieser Standard liegt dem »Vergleich« von bzw. der »ausgleichen­ den Gerechtigkeit« gegenüber Diskursen zugrunde, die inkom­ mensurabel sind und sich daher zueinander nur »ungerecht« (in Derridas und Lyotards hermeneutisch-ästhetisierendem Sinne von »ungerecht«) verhalten können. Mit dieser assimilierenden Eineb­ nung erklärt Teubner auch die »Schamlosigkeit« und den »Eklekti­ zismus« einer Rechtsprechung, die die »Abwägung von Gütern« auf ihr Panier schreibt - »be it balancing between principles, between values, or even between interests«. Selbst wenn man Teubners Beschreibung von Inkommensurabilität und »Ungerechtigkeit« (der höheren, dekonstruktivistischen Art) akzeptieren würde, könnte die Konzeption des Rechts als eines ausgleichenden »Superdiskurses« (mindestens) aus zwei Gründen nicht überzeugen. Zum einen eignet sich das Prinzip der Gleichbe­ handlung nicht als Proprium des Rechts, weil die Moral demselben Grundsatz auf ihre Weise ebenso zur Geltung verhilft. Recht und Moral gehorchen demselben Diskursprinzip und folgen derselben Logik von Anwendungs- und Begründungsdiskursen. Was das Recht von der Moral unterscheidet, ist nicht die abstrakte Frage­ stellung, wie interpersonelle Konflikte im gleichmäßigen Interesse aller zu regeln sind, auch nicht die Argumentationsregeln der Universalisierung und Angemessenheit. Das Spezifische liegt nicht im

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Diskurs, sondern in der Rcchtsförmigkeit von — diskursiv begrün­ deten und angewendeten - Normen, die politisch gesetzt, verbind­ lich interpretiert und unter Androhung staatlicher Sanktionen durchgesetzt werden. Mit der Rechtsform hängt auch die institu­ tionelle Ausdifferenzierung von Begründungs- und Anwendungs­ diskursen zusammen, der spezifische Zwang zur Präzisierung der Regeln, zur Kohärenz ihres Zusammenhangs und zur Konsistenz des Entscheidens. Diese Eigenschaften des Rechtscodes erfordern eine »Übersetzung« der pragmatischen, ethischen und moralischen Argumente, auch der Verhandlungsergebnisse, die über die Bera­ tungen und Beschlüsse des politischen Gesetzgebers ins Rechtssy­ stem Eingang finden und auf die die Justiz in ihren Urteilsbegrün­ dungen Bezug nehmen kann. Das entbindet aber - zum anderen die richterliche Entscheidungspraxis keineswegs von der Beach­ tung des deontologischen Geltungssinns der Rechtsnormen. Wenn sich die Justiz im Rahmen einer flexiblen Wertordnung, wie Teub­ ner behauptet, tatsächlich freihändig bewegen könnte und wenn sie darauf angewiesen wäre, Prinzipien und Zielsetzungen, Normen und Werte auf dem gemeinsamen Nenner von »Rechtsgwtem« zu nivellieren und gegeneinander »abzuwägen«, dann wurden juristi­ sche Diskurse die Rolle von paternalistischen Stellvertreterdiskur­ sen für eine den Bürgern abgenommene politisch-ethische Selbst­ verständigung übernehmen. Für die stillschweigende Privilegie­ rung einer Werteethik gegenüber Recht und Moral liefert die Praxis der Obergerichte gewiß Beispiele, aber eine solche Konsequenz ist wohl kaum im Sinne Teubners.

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vi. Zum politischen Gehalt des prozeduralen Paradigmas

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(1) Ich bin Ulrich K.Preuß dafür dankbar, daß er den Hinter­ grund einer spezifisch deutschen Tradition des Rechtsdenkens konturiert, vor dem die Pointe einer Verknüpfung von Recht und kommunikativer Macht erst deutlich wird. Gewiß, es gehört allge­ mein zur liberalen Tradition, den Rechtsstaat aus dem Antagonis­ mus zwischen einem individuelle Freiheiten gewährenden Recht und einer kollektive Ziele verwirklichenden politischen Gewalt zu erklären; dabei wird diese »Staatsgewalt« auf einen autochthonen, vom Recht unberührten, »barbarischen« Ursprung: auf die Fähig­ keit zur physischen Überwältigung zurückgeführt.40 Aber in den politisch zivilisierten Gesellschaften des Westens ist dieser Antago­ nismus nicht zu einem Kampf entgegengesetzter Prinzipien zuge­ spitzt, sondern stets als ein im Rechtsstaat auszubalancierender Gegensatz wahrgenommen worden. Statt dessen hatte man in Deutschland eine unauflösliche Konkurrenz zwischen der politi­ schen Integration durch Recht einerseits oder durch staatliche Gewalt andererseits im Auge. Hier hatte sich die Diskussion zwi­ schen liberalen und konservativen Staatsrechtlern an der Frage entzündet, in welchem Maße die monarchische Gewalt einer recht­ lichen Disziplinierung unterworfen werden sollte. Die in Armee, Polizei und Bürokratie verkörperte »Substanz« des Staates, die die einen fürchteten und die anderen feierten, behielt so sehr die Aura einer im Kern irrationalen, alles übrige überwältigenden Gewalt, daß selbst die Linken die Demokratie nur als eine invertierte, vom Kopf des Monarchen auf die Füße des Volkes gestellte Fürstensou­ veränität begreifen konnten. Die Demokratie blieb deshalb auch bei ihren Verteidigern ein etatistisches Konzept. Vor diesem Hintergrund wird die Marx’sche Idee vom »Absterben des Staates« verständlich - eine Radikalisierung des von Friedrich Engels aufgenommenen Saint-Simonismus, wonach die »politi­ sche« Herrschaft von Menschen über Menschen in die »rationale«

40 Vgl. zum Beispiel Ch. Larmore, »Die Wurzeln radikaler Demokratie«, Deutsche Zeitung für Philosophie, 41, 1993. 378

Verwaltung von Sachen überführt werden sollte. Mich hat diese Idee von Anbeginn fasziniert. Über Carl Schmitt und dessen Schü­ ler hatte sich nämlich die Tradition einer Verherrlichung des »poli­ tischen Elements« der Staatsgewalt über das Ende des NS-Regimes, in dem diese Verherrlichung doch kulminierte, hinaus fortge­ setzt/*1 Wie Preuß selbst verdanke ich der marxistisch verwurzelten Ge­ gentradition der »streitbaren Juristen«42, vor allem Hermann Hel­ ler, Franz Neumann, Otto Kirchheimer und Wolfgang Abendroth wichtige Impulse. Freilich haben diese Staatsrechtler die zentrale Idee, die Preuß mit Recht hervorhebt, in anderer Richtung entfal­ tet: sie haben die demokratische »Aufhebung« der herrschaftlichen Substanz der Staatsgewalt vor allem unter dem kapitalismuskriti­ schen Gesichtspunkt einer Umgestaltung der sozioökonomischen Organisation der Ungleichheit verfolgt, während ich den Gedan­ ken einer »Rationalisierung« der Ausübung administrativer Macht zunächst immanent, auf dem Wege einer Rekonstruktion des dem Recht und dem demokratischen Rechtsstaat eigentümlichen nor­ mativen Gehaltes entwickelt habe. Das - und nicht nur die Nähe zu Lehrern, die einen zuweilen vergessen läßt, was man von ihnen gelernt hat — mag erklären, warum ich auf diese Quellen nicht aus­ drücklich eingegangen bin.43 Dennoch sehe ich rückblickend ein Defizit darin, daß ich nicht im einzelnen die Tendenzen untersucht habe, die heute den demokratischen Prozeß auch zum Instrument einer starke Minderheiten ausgrenzenden Mehrheitsherrschaft ma­ chen. Vielleicht müßte die veränderte Konstellation, in der die Klassenstrukturen durch die auffälligere Segmentierung überflüssig 41 Vgl. meine Rezension zu den Dissertationen von R. Kosellcck und H.Kesting aus dem Jahre 1960: J. Habermas, Kultur und Kritik, Frankfurt am Main 1973, 355-36442 Vgl. Kritische Justiz (Hg.), Streitbare Juristen. Eine andere Tradition, BadenBaden 1988. 43 Anknüpfungspunkte boten aber die nicht zufällig dem Andenken von A. R. L. Gurland gewidmeten Überlegungen von Jürgen Seifert zur •Verfassung als Forum«: ders., -Haus oder Forum. Wertsystem oder offene Verfassung., in: J. Habermas (Hg.), Stichuiorte zur 'Geistigen Situation der Zeit-, Frankfurt am Main 1979, 321-339; dort auch weitere Literatur. Vgl. inzwischen. J.P. Müller, Demokratische Gerechtigkeit, München 1993.

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gewordener Populationen und eine Verwahrlosung der Infrastruk­ tur ganzer Stadteile und Regionen abgelöst worden sind, auch auf normativer Ebene Konsequenzen haben - in der Form von Vetound Minderheitenrechten sowie advokatorischen Instanzen für jene, die aus den etablierten Öffentlichkeiten immer weiter heraus­ gedrängt werden und immer weniger die Chance haben, aus eige­ ner Kraft ihre Situation zu verbessern und ihre Stimme zur Geltung zu bringen. Der Trend zur Zerstörung des Sozialstaates und zur Entstehung einer Unterklasse in den entwickelten indu­ striellen Gesellschaften bedarf einer unnachsichtigen Analyse auch unter dem normativen Gesichtspunkt der chancengleichen Nut­ zung von politischen Teilnahmerechten. Mit Preuß möchte ich festhalten, daß der interne Zusammenhang von Recht und politischer Macht weder im sozialstaatlichen noch im liberalen Rechtsparadigma ernst genommen und aufgeklärt wird. Das leistet erst ein Begriff von Macht, der die falsche Alter­ native von Recht und politischer Gewalt auflöst; die Macht, die aus dem öffentlichen Gebrauch der kommunikativen Freiheiten der Staatsbürger entsteht, ist mit legitimer Rechtsetzung verschwi­ stert. Am Ende wirft Preuß Fragen auf, die ich schon andernorts behan­ delt habe.4'’ In vielen Fällen verhält es sich so, daß Materien, die rechtlich geregelt werden sollen, unter pragmatischen, ethischen und moralischen Gesichtspunkten gleichzeitig erörtert werden müssen. Allerdings beansprucht der Aspekt der Gerechtigkeit Vor­ rang vor den anderen Aspekten. Das politisch gesatzte Recht einer konkreten Rechtsgemeinschaft muß mit moralischen Grundsätzen in Einklang stehen, wenn es legitim sein soll. Den komplexen Gel­ tungsanspruch von Rechtsnormen verstehe ich als den Anspruch, auf der einen Seite die strategisch behaupteten Teilinteressen ge­ meinwohlverträglich zu berücksichtigen, auf der anderen Seite Gerechtigkeitsgrundsätze innerhalb des Horizonts einer besonde­ ren, durch bestimmte Wertkonstellationen geprägten Lebensform zur Geltung zu bringen. Die Erzeugung kommunikativer Macht und legitimen Rechts macht es nötig, daß die Bürger ihre demokra44 Vgl. Nachwort zur 4. Auflage von Faktizität und Geltung. 380

tischen Rechte nicht ausschließlich wie subjektive Freiheiten, also selbstinteressiert, sondern auch als Berechtigungen zum öffent­ lichen Gebrauch kommunikativer Freiheiten, also gemeinwohl­ orientiert in Anspruch nehmen. Aus guten Gründen dürfen sie dazu nicht wiederum rechtlich gezwungen werden. Deshalb ist die Gewöhnung an Institutionen der Freiheit im Rahmen einer libera­ len politischen Kultur nötig - nötig im Sinne eines funktionalen Erfordernisses. Weil politische Indoktrination vermieden werden muß, sollte jedoch die empirische Frage nach den Bedingungen für eine günstige politische Sozialisation nicht umstandslos in die nor­ mative Forderung nach Werten und politischen Tugenden über­ setzt werden. Preuß hat an anderer Stelle selbst darauf hingewie­ sen, daß öffentliche Tugenden nur »in kleiner Münze« erhoben werden dürfen. Das mag auch ein Motiv für den Vorschlag sein, die Wertkonflikte, die als ethische nicht zu lösen sind, in kompromißfähige Interes­ senkonflikte zu überführen. Das halte ich normativ nicht für gerechtfertigt, weil die Umdefinition von Werten in Interessen die Beschädigung von Identitäten zur Folge haben kann. Den Idealen, in deren Licht sich ein existentieller Lebensentwurf oder eine kul­ turelle Lebensweise artikulieren, liegen »starke Wertungen« zu­ grunde. Die relative Stärke von Werten variiert; in manchen Fällen rangieren Fragen der Sicherheit und der Gesundheit vor Fragen der distributiven Gerechtigkeit oder der Bildung; in anderen Fällen verhält es sich umgekehrt. Aber solche Wertrelationen lassen sich nur über Selbstverständigungskurse ändern und nicht auf dem Wege der Kompromißbildung. Verhandlungen sind nur sinnvoll, wenn sich die konkurrierenden Ansprüche oder Interessen auf die­ selben oder auf vergleichbare Güter beziehen. In Verhandlungen müssen sich die Parteien von vornherein über die Dimensionen dessen, was relevant ist, einig sein - wie im Falle von Rawls’ prirnary goods (also gesellschaftlich anerkannten und teilbaren Kol­ lektivgütern wie Einkommen, arbeitsfreie Zeit, soziale Sicherheit, überhaupt geldwerte soziale Entschädigungen). Soweit sich die Kompromißbildung auf das Bezugssystem der Güter selbst er­ streckt, muß a fortiori festgelegt sein, welche Relevanzen nicht verhandelbar sind - nämlich »Grundwerte«, die für die Identität 38i

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und damit das Selbstverständnis der Teilnehmer konstitutiv sind. Die Verwechslung von Grundwerten mit Interessen ist ein folgen­ reicher Kategorienfehler. Liebe oder Achtung können auf der politischen Ebene nicht gegen Geld getauscht werden, die Mutter­ sprache oder das religiöse Bekenntnis nicht gegen Arbeitsplätze. Was in Identitätsdefinitionen eingreift, ist nicht kompromißfähig. Übergriffe dieser Art würden übrigens einen Verstoß gegen die Menschenwürde bedeuten und wären schon aus rechtlichen Grün­ den unzulässig. (2) Die staatliche Sozialpolitik bildet das Herzstück des Sozial­ staats und des sozialstaatlichen Rechtsverständnisses. Seitdem die sozialen Grundrechte in der Form von einkommensbezogenen Zwangsversicherungen gegen die Risiken des Arbeitslebens (wie Krankheit, Unfall, Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit und Al­ ter- übrigens unter Vernachlässigung der immer noch geschlechts­ spezifischen Belastungen von Hausarbeit und Kindererziehung) gewährleistet werden, ist eine bürokratische Daseinsvorsorge an die Stelle traditionaler Fürsorgepflichten getreten. Bei dieser Trans­ formation blieb das Bewußtsein, einer Gemeinschaft anzugehören, die nicht nur über abstrakte Rechtsbeziehungen, sondern unmittel­ bar durch Solidarität zusammengehalten wird, auf der Strecke. Zwischen den vereinzelten Klienten, die gegenüber wohlfahrts­ staatlichen Bürokratien Leistungsansprüche geltend machen, konnten die zerfallenen Solidaritätsbeziehungen nicht regeneriert werden. Günter Frankenberg interessiert sich für die normative Seite dieses Prozesses; er meint, daß der richtigen Form der Imple­ mentierung ein richtiges normatives Verständnis der Sozialrechte vorausgehen muß. Daher die Frage: »Why care?« Für unzureichend hält Frankenberg die (auch von mir vertretene) relative Begründung der sozialen Grundrechte, wonach diese (un­ ter anderem) Lebensbedingungen sichern sollen, die für eine chan­ cengleiche Nutzung der - absolut begründeten - privaten Frei­ heits- und politischen Bürgerrechte notwendig sind. Diese Begründungsstrategie, die der Gewährleistung privater und öffent­ licher Autonomie Vorrang einräumt, richtet sich gegen die Effekte eines wohlfahrtsstaatlichen Paternalismus. Die Bürger müssen von ihren Rechten für eine autonome Lebensgestaltung auch tatsäch382

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lieh Gebrauch machen können; deshalb sollen sie zur Wahrneh­ mung ihrer formal gewährleisteten Kompetenzen gegebenenfalls durch staatliche Leistungen in die Lage versetzt werden. Franken­ berg bringt gegen diese Konzeption einen guten und einen weniger guten Einwand vor. Das Prinzip »Hilfe zur Selbsthilfe« kann nur im Hinblick auf die Personen befriedigen, die entweder im Vollbesitz ihrer Kräfte sind oder - wie Kinder - eines Tages den Status der Mündigkeit errei­ chen werden oder die - wie vorübergehend Kranke oder in anderer Weise Benachteiligte und Zurückgebliebene - ihre Kräfte und Kompetenzen wiedererlangen können. Etwas anderes ist die Hilfs­ bereitschaft gegenüber Hilflosen und Hinfälligen oder die Für­ sorge für die unheilbar Leidenden. Dieser Beistand hat offensicht­ lich einen intrinsischen Wert und geht nicht in seiner Funktion für die Herstellung oder Wiederherstellung von Autonomie auf. Die­ ser einleuchtende moralische Impuls, der auf positive Pflichten verweist, läßt sich freilich nicht unvermittelt auf die politische Ebene übersetzen, wo schon aus organisatorischen Gründen eine »moralische Arbeitsteilung« nötig ist.45 Normalerweise wird sich ein in der politischen Kultur verankertes Solidaritätsgefühl in der Unterstützung für entsprechende Politiken und Hilfsprogramme äußern. Frankenberg gibt dem Argument eine andere Stoßrichtung mit der These, daß die Bezugnahme auf die Entstehungsbedingungen pri­ vater und öffentlicher Autonomie zu einer einseitigen Auffassung der sozialen Rechte führe. Diese seien in Gefahr, zu Instrumenten für die Wiederherstellung der Arbeitskraft oder für die Qualifika­ tion von Staatsbürgerbeteiligung zu degenerieren. Nur wenn so­ ziale Rechte absolut, nämlich als Bestandteile von Mitgliedschafts­ rechten begründet würden, bleibe der Sinn für solidarische Beziehungen zwischen »Angehörigen« erhalten: »Instead of underprivileging social rights as >implied< or >relative< ... it seems more plausible to argue for social rights as self-mcurred obligations to limit one’s autonomy in Order to realize it in society.« Franken­ berg möchte, wenn ich ihn recht verstehe, gegenüber den dichoto45 Vgl. H. Shue, »Mediaung Duties«, Ethia 98, Juli 1988, 687-704.

383

misierenden Begriffen von privater und öffentlicher Autonomie so etwas wie die in Gemeinschaft zu verwirklichende soziale Autono­ mie eines jeden ins Spiel bringen. Dem liegt die Intuition zugrunde, daß die possessiv-individualistische Lesart von subjektiven Rech­ ten zugunsten eines solidaristischen Verständnisses überwunden werden muß. Daraus ergibt sich die kommunitaristische Konse­ quenz, daß nur eine Wiederbelebung der ethischen Substanz des Gemeinwesens den desintegrierenden Tendenzen des Rechtssy­ stems, entgegenwirken kann. Die Frage »Why care?« beantwortet Frankenberg mit einem Ruf nach mehr »civic virtue«, mehr »communal spirit« und stärkerem »sense of solidarity«. Ich halte dieses Konzept nicht nur für unrealistisch, sondern für problematisch, weil es dem Recht als dem einzigen Medium, über das in komplexen Gesellschaften eine »Solidarität mit Fremden« gesichert werden könnte, zu wenig an Integrationskraft, den vor­ politischen Bindungen informeller Gemeinschaften zu viel an uni­ versalistischem Potential zutraut. Vielleicht spiegelt sich in diesen Gewichtungen noch das Erbe eines frühen Sozialismus, der mit seinem janusgesichtigen Blick gleichzeitig nach vorn, in eine eman­ zipierte Zukunft, und zurück, in eine idealisierte Vergangenheit, schaute und die sozialintegrativen Kräfte der aufgeriebenen korpo­ rativen, großfamilialen und nachbarschaftlichen Solidargemeinschaften aufheben, unter den veränderten Bedingungen einer industriellen Gesellschaft transformieren und retten wollte. Wie dem auch sei, Frankenberg meint, daß die sozialen Rechte nicht in erster Linie unter dem moralischen Gesichtspunkt einer gleichmä­ ßigen Ermöglichung privater und öffentlicher Autonomie begriffen werden dürfen. Das eigentliche Problem bestehe darin, wie ein So­ lidaritätsbewußtsein mobilisiert werden könne, das in den Gren­ zen einer ethisch integrierten Gemeinschaft die Einschränkung der eigenen Autonomie zugunsten anderer Angehöriger akzeptabel mache. Dieser Vorstellung vom Nullsummenspiel privater Freiheiten liegt aber ein undialektischer Gegensatz zwischen privater und öffent­ licher Autonomie zugrunde. Wenn man statt dessen von einem intersubjektivistischen Ansatz ausgeht, wonach sich Rechte aus der Zugehörigkeit zu einer Assoziation freier und gleicher Rechtsge-

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nossen herleiten und ihre Legitimität allein aus der reziproken Anerkennung gleicher Freiheiten beziehen, erhält jene, aus den konkreten Anerkennungsverhältnissen einfacher Interaktion be­ kannte und von Frankenberg beschworene Solidarität für das Recht selbst eine strukturbildende Kraft. In abstrakterer Form bleibt Solidarität eine gesellschaftliche Ressource, aus der sich die demokratische Selbstbestimmung der Bürger speisen muß, wenn daraus legitimes Recht hervorgehen soll. Nur diejenigen Regelun­ gen sind legitim, die Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln, also auch gleiche subjektive Freiheiten effektiv sichern; und solche legitimen Regelungen sind nur zu erwarten, wenn die Bürger von ihren kommunikativen Freiheiten gemeinsam in der Weise Gebrauch machen, daß alle Stimmen die gleiche Chance ha­ ben, Gehör zu finden. So ist die effektive Inanspruchnahme der sich wechselseitig voraussetzenden privaten und öffentlichen Autonomie zugleich die Bedingung dafür, daß die Bürgerrechte in wechselnden Kontexten angemessen interpretiert und gewährlei­ stet wie auch in ihrem universalistischen Gehalt immer weiterge­ hend ausgeschöpft werden. Weil die Reproduktion des Rechts, normativ betrachtet, stets die Verwirklichung einer Assoziation freier und gleicher Rechtsgenossen bedeutet, der alle Angehörigen in gleichmäßiger Achtung füreinander verbunden sind, entsteht im Kreisprozeß der gegenseitigen Ermöglichung und Sicherung priva­ ter und öffentlicher Autonomie keine Lücke, keine Lücke jeden­ falls für eine soziale Autonomie, die in anderer Weise, als es sich aus dem Staatsbürgerstatus ohnehin ergibt, durch die Solidarität von Angehörigen ausgefüllt werden müßte. (3) Rechtsphilosophien haben, obgleich sie nicht für den Tag ge­ schrieben werden, auch einen politischen und zeitdiagnostischen Gehalt, in dem sich ihr Entstehungskontext gewissermaßen spie­ gelt. Die politische Sprengkraft der Hegelschen Rechtsphilosophie hat bekanntlich mehrere Generationen zu leidenschaftlichen Reak­ tionen herausgefordert. Natürlich legt mein Text - trotz der schmeichelhaften Hinweise von Dick Howard - auch in dieser Hinsicht keinen Vergleich mit Hegel nahe. Trotzdem freuen mich die politischen Diagnosen von Dick Howard und Gabriel Motzkin. Häufig begegne ich nämlich anderen Reaktionen. 3»5

Gewiß nötigt ein welthistorisches Ereignis wie der Zusammen­ bruch des Sowjetimperiums jeden dazu, seine politische Position zu überdenken; aber seit eh und je vertrete ich einen radikalen Reformismus.46 Trotz aller Veränderungen meiner theoretischen Position47 verbinde ich auch mit der Diskurstheorie des Rechts einen radikaldemokratischen Sinn. Howards Analyse des Stellen­ werts, den Lebenswelt und Zivilgesellschaft in dieser Theorie einnehmen, und seine Suche nach einem revolutionären Erbe, das er in einer politischen Kultur entfesselter kommunikativer Freihei­ ten entdeckt, treffen diese Intention. Ebenso richtig scheint mir Motzkin die politische Konstellation zu beschreiben, auf die ich reagiere. Die innere Situation der erweiterten Bundesrepublik er­ faßt er ziemlich genau, auch wenn man hier, historisch und sozio­ logisch betrachtet, vielleicht eher von einem »Extremismus der Mitte« als von der »Rechten« sprechen sollte: »The demise of the left had liberated the right from its servitude to the center: no longer does it need liberalism as the best defence for antiliberalism ... The critical enterprise ... is not one of dismantling the power structure and replacing it by another, but rather one of buttressing the existing power structure against the threat looming from the right, whether the political, the economic or the religious right.«

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35b 357. 365-367. 37°. 373. 379. 386-388 Hare, Richard M. 14 Han, H. L. A. 13, 73 Hauser, L. 16

Heath, J. 53 Hegel, G.W. F. 57, 125, 129, 151, 165, 201, 207, 219, 232L, 387 Heidegger, Martin 43, 365 Held, D. 200, 218 Heller, Hermann 181, 379 Hinsch, Wilfried 73 Hitler, Adolf 207 Hobbes, Thomas 98, 100 f., 107, 132, 224, 337, 347 Höffe, Otfried 222, 353 Honneth, Axel 57, 206, 232, 238, 318 Horkheimer, Max 22, 232 Howard, Dick 310, 385 f. Hoy, D. 318 Huber, W. 211 Humboldt, Wilhelm von 57 Hume, David 24 Hurley, S. 221 Husserl, Edmund 365

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Ipsen, H. P. 181 Isensee, J. 209, 220

Jacobson, Arthur J. 309, 347 f.,

363 Jahn, B. 177 Jellinek 87 Joas, H. 318 Joppke, Ch. 183 Kaa, D. J. van de 265 Kambartel, Friedrich 335 Kant, Immanuel 8, 15, 23, 28 f., 45. 47-49. 6$, 89, 92. 98. toi, 111, 125, 133, 136, 138, i66f., >92, 193-208, 2iof., 213, 215 f., 219f., 225, 231 f., 236, 242, 294h, 297, 299, 312, 360, 395 Kelsen, Hans 219, 394 Kesting, Hanno 379 Kierkegaard, Sören 15 Kirchheimer, Otto 379 Knieper, R. 147, 203 König, S. 222, 224 Korsgaard, Chr. M. 48 Koselleck, Reinhart 379 Kymlicka, W. 258

Lafont, Cristina 364 Larmore, Charles 124, 378 Leggewie, Claus 155 Lenin, W. I. 161, 233 Lenk, Hans 22 Lenoble, Jacques 309, 356-358, 360, 363, 365 LePre, E. 54 Lepsius, M. Rainer 129, 154 Lindholm, T. 216 Locke, John 221, 294, 299, 337 Lübbe, Hermann 154, 159, 182 f.

Luhmann, Niklas 310, 361, 387, 393-397 Lukäcs, Georg 201 Lyotard, Franjois 370, 376

Maclntyre, Alasdair 315, 333 Mackie, J. L. 21, 26 Martens, Ekkehard 22 Marx, Kari 131, 335, 346 Maus, Ingeborg 161, 164, 166 McCarthy, Thomas A. 95, 309, 318-323,325 f., 328 f., 331-335 McDowell, J. 21, 39 f. Mead, George Herbert 44, 57, 75 Michclman, Frank I. 102, 277, 279-281, 283, 285, 309, 314, 316-319. 346 Milo, R. 104 Minow, Martha 346 Motzkin, Gabriel 310, 385 f. Müller, J. P. 379 Münkler, Herfried 133 Murswick, D. 181 Mussolini, Benito 233

Napoleon 274 Nass, K. O. 179 Neumann, Franz 379 Niquet, Marcel 61 Nordhofen, Eckhard 16 Nye, J.S. 203 O’Neill, Onora 72 Offe, Claus 319 Ott, Konrad 61

Parsons, Talcott 389 Peirce, Charles S. 310 Peters, Bernhard 339, 341 f. Plato 21

Popper, Sir Karl 14 Power, Michael 309, 353 f., 356 Prantl, Heribert 272 Preuß, Ulrich K. 309, 378-381 Puhle, Hans J. 174 Putnam, Hilary 354

Quaritsch, Helmut 212 Quine, Willard Van Orman 336,360 Rasmussen, David 309, 365 f. Rawls, John 8, 37, 39, $5, 65-68, 70-104, 106 f., 109-121, 123125, 238, 240, 261 f., 267, 315 f.,

317.38'

Raz, J. 175 Regan, T. 224 Rehg, William R. 63, 76, 309, 349353 Rhode, D. L. 244 Riedel, E. 211 Riedel, Manfred 22 Rorty, Richard 54,79,122,315,318 Rosenfeld, Michel 309, 337,341, 343'347 Rousseau, J.-J. 89, 136, 166, 221, 290, 294, 299 Rushdie, Salman 261 Sahlins, P. 156 Scanlon, T. M. 69, 78, 101 f. Scelle, Georges 211 Schmid, Th. 260, 268 Schmidt, Th. M. 16 Schmitt, Carl 160-164, 168 f., 176, 181, 193, 2ttf., 220f., 226-236,

379 Schnädelbach, Herbert 22 Schulze, H. 134f., 140f., 155, 200 Schwardtländer, J. 222 403

Schwarz, G. 216 Searle, John 249, 359 Seel, Martin 34 f., 42, 44, 58 Seifert, Jürgen 379 Sen, A. K. 69, 101 Senghaas, Dieter 179, 202, 216, 232 Senghaas, Eva 216 Shue, Henry 224, 383 Shue, St. 221 Sima, B. 171 St. Pierre, Abbe de 192 Stevenson 14 Strauss, Leo 347 Strawson, P. F. 12

I

Taylor, Charles 9, 40, 172, 239242, 249 f., 253, 258 f., 264 f.,

379.333 Teubner, Gunther 309, 365, 370f., 373. 375-377 Tugendhat, Ernst 22, 27 f., 33 f., 36-38, 49, 58, 62

Waldron 26 Wallerstein, Immanuel 147 Walzer, Michael 177-178, 241, 2J2f., 267 Weber, Max 91, 131, 155 Wecr, D. van de 224 Wehler, Hans-Ulrich 154, 159 Weischedel, Wilhelm 4$, 133, 192 Weizsäcker, Carl Friedrich von 152 Wellmer, Albrecht $4, 206, 311, 343. 354, 3J9 Wiegand, E. 265 Williams, Bernard 39, 41 f., 69, 101 Wilson, Woodrow 161, 207 Wingert, Lutz 13, 19, 54, 57, 95. 109, 125, 333, 342 Wittgenstein, Ludwig 39 Wolf, Susan 258 Wolfrum, Rüdiger 176, 211 Wolin, Richard 43 Wright, Crispin 54, 355

Young, I.M. 71 Verdross, A. 171 Vico, Giovanni Battista 335 Voltaire 204

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404

Jürgen Habermas im Suhrkamp Verlag Eine Auswahl Ach, Europa. Kleine politische Schriften XI. es 2551. 191 Seiten

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Ein Bewußtsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas. Herausgegeben von Michael Reder und Josef Schmidt, es 2537. 109 Seiten

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Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, stw 1444. 404 Seiten Erkenntnis und Interesse, stw 1. 420 Seiten Erläuterungen zur Diskursethik, stw 975. 229 Seiten

Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. 667 Seiten. Gebunden, stw 1361. 704 Seiten

Glauben und Wissen. Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. es-Sonderdruck. 60 Seiten

Lcgitimationsproblcme im Spätkapitalismus, es 623. 196 Seiten

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Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, stw 422. 208 Seiten Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. Gebunden und stw 1004. 286 Seiten

Philosophisch-politische Profile. Gebunden und stw 659. 479 Seiten NF 119/1/5.09 1

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Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, stw 749. 450 Seiten Die postnationalc Konstellation, es 2095. 272 Seiten

Protestbewegung und Hochschulreform. Mit der DVD des Dokumentarfilms: Ruhestörung. Mit einer Nachbemerkung von Alexander Kluge. 270 Seiten

Philosophische Texte. Studicnausgabc in fünf Bänden - Sprachtheoretische Grundlegung der Soziologie. Band 1. Broschur. 411 Seiten - Rationalitäts- und Sprachthcorie. Band 2. Broschur. 389 Seiten - Diskursethik. Band 3. Broschur. 470 Seiten - Politische Theorie. Band 4. Broschur. 437 Seiten - Kritik der Vernunft. Band 5. Broschur. 463 Seiten Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, stw 891. 391 Seiten

Technik und Wissenschaft als »Ideologie«, es 2S7. 184 Seiten

Texte und Kontexte, stw 944. 217 Seiten Theorie des kommunikativen Handelns. - Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung - Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Gebunden und stw 1175. 1216 Seiten Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, stw 243. 473 Seiten

NF 119/2/5.09