Die doppelte Katastrophe: Klima und Kultur in der europäischen Hungerkrise 1770–1772 [1 ed.] 9783666355929, 9783525355923

581 90 6MB

German Pages [467] Year 2018

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Die doppelte Katastrophe: Klima und Kultur in der europäischen Hungerkrise 1770–1772 [1 ed.]
 9783666355929, 9783525355923

Citation preview

Dominik Collet

Die doppelte Katastrophe Klima und Kultur in der europäischen Hungerkrise 1770–1772

Umwelt und Gesellschaft

Herausgegeben von Christof Mauch und Helmuth Trischler

Band 18

Dominik Collet

Die doppelte Katastrophe Klima und Kultur in der europäischen Hungerkrise 1770–1772

Mit 24 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und des Rachel Carson Center for Environment and Society, LMU München.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Anon. Künstler, Schützenscheibe auf die Hungerjahre 1770–1772 (1773), gestiftet durch Gottfried Zapf, Detail. Königliche Privilegierte Schützengesellschaft Fürth e. V. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-7157 ISBN 978-3-666-35592-9

Inhalt I. An der Schnittstelle von Natur und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3. Vulnerabilität – Zugang, Methode, Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 II. Die europäische Hungerkrise 1770–1772 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1. Die Getreidegesellschaft – sozioökologische Arrangements . . . . . . . . 41 2. Die Klimaanomalie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2.1. Archive der Gesellschaft (55)  2.2. Archive der Natur (72)

3. Die Hungerjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.1. Agrarkrise (79)  3.2. Wirtschafts- und Bankenkrise (86)  3.3. Sterblich­ keitskrise (101)  3.4. Europäische Konstellationen (110)

III. Deuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

1. Strafgericht, Naturereignis, Sozialkatastrophe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 2. Bruchzonen: Waren Hungertote Sünder? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 3. Die Hungerkrise als Laboratorium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 IV. Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Der Krisenstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 1.1. Alte und neue Teuerungspolicey (147)  1.2. Normdurchsetzung (151)  1.3. Sperren (159)  1.4. Speichern (169)  1.5. Importieren (182)  1.6. Urbane Fürsorge (189)  1.7. Symbolische Herrschaft (197)  1.8. Eine Krise des Staats? (200)

2. Überlebensökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 2.1. Notnahrung (206)  2.2. Nachbarschaftshilfe (211)  2.3. Glaubenspra­ xis (213)  2.4. Kriminalität und Devianz (214)  2.5. Protest (218)  2.6. Mi­­­gration (231)  2.7. Praktiken des Notbehelfs (252)

3. Empowering Interactions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 3.1. Supplikationen und Kommunikationen (255)  3.2. Verdichtung von Herrschaft (256)  3.3. Inklusion durch Exklusion – ›Kornjuden‹ und Antijudaismus (259)

6

Inhalt

4. Wissensgeschichten des Hungers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 4.1. Ökonomisierungen (269)  4.2. Medikalisierungen (279)  4.3. Scheitern als Chance – Agronomie, Meteorologie, Statistik (296)

5. Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 5.1. Regensburg und der Reichstag – Mikropolitik des Hungers (308)  5.2. Das Erzgebirge – Pädagogisierung der Not (329)  5.3. Polen-Litauen und die Erste Teilung – Hungern und Herrschen (346)

6. Handeln in Hungerkrisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 V. Bewältigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 1. Erinnern und Vergessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 2. Die materielle Kultur des Hungers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 3. Lernen aus Katastrophen? Klima als Katalysator . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 VI. Klimakulturen und Sozionaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Ungedruckte Quellen (409)  Gedruckte Quellen (413)  Zeitungen (424)

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Datenbanken und Internetressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463

I.  An der Schnittstelle von Natur und Kultur

Kaum ein Ereignis trifft eine Gesellschaft so umfassend wie eine Hungersnot. Die physische und emotionale Gewalt des Hungers ist enorm. Sie erschüttert alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Oftmals prägt die kollektive Noterfahrung die Betroffenen noch nach Generationen. Aus diesem Grund gehören Hungerjahre seit jeher zu den Schlüsselereignissen der Geschichtsschreibung. Ihr Auftreten erscheint als ähnlich epochemachend wie Krönungen und Kriege. Ihre Abwesenheit unterscheidet gute von schlechten Zeiten. In den vormodernen Mangel­ gesellschaften bildeten sie »Urerfahrungen traumatischer Art«, die sonst verborgene gesellschaftliche Arrangements sichtbar werden lassen.1 Zugleich fordern Hungersnöte die moderne Wissenschaft heraus. Sie ereignen sich an der Schnittstelle von Natur und Kultur. Damit liegen sie quer zu den fachwissenschaftlichen Grenzziehungen unserer Zeit. Hungerkrisen besitzen sowohl eine äußere, biophysikalische als auch eine innere, sozioökonomische Seite. Die erste beeinflusst das Angebot von Nahrung, die zweite den Zugang zu Lebensmitteln. Ihre verheerende Wirkung beziehen diese Ereignisse aus der Verflechtung beider Felder. Hungersnöte gehören zudem zu den langsamen Katastrophen, die sich über Monate hinweg entwickeln. Daher eröffnen sie dem Wechselspiel von naturaler Umwelt und gesellschaftlichem Handeln einen besonders großen Raum. Als doppelte, sozionaturale Ereignisse stellen sie zugleich Natur- und Kultur­ katastrophen dar. Sie rufen die Ko-Konstitution von Klima und Kultur, von Mensch und Umwelt in Erinnerung, die im spezialistischen Zugriff der Disziplinen oft aus dem Blick gerät. Ihre Untersuchung verlangt dementsprechend einen integrativen, fachübergreifenden Zugang. Im Zentrum der Geschichtswissenschaft steht allerdings die Autogenese des Menschen. Die Überzeugung, dass der Mensch sein Schicksal selbst bestimmt, bildet den Kern des Faches. Demgegenüber spielt die Untersuchung der naturalen Umwelt eine untergeordnete Rolle. Da der Einfluss nicht-menschlicher Akteure heute weitgehend marginalisiert wird, sind Ansätze selten geworden, welche die Natur als integralen Teil der Geschichte verstehen.2 Diesem Sozialdeterminismus stehen in den Naturwissenschaften verbreitete geo- oder klimadeterministische Verengungen gegenüber. Hier werden Extremereignisse oft einseitig als direkte Folge biophysikalischer Faktoren begriffen – ein Trend, der durch die Diskussionen um den aktuellen Klimawandel noch befördert wird. Dabei bleibt die Bedeutung 1 Joachim Radkau, Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2012, 52. 2 Dipesh Chakrabarty, The Climate of History. Four Theses, in: Critical Inquiry 35, 2009, 197–222.

8

An der Schnittstelle von Natur und Kultur

und Vielfalt sozialen Handelns oft unverstanden. Stattdessen erleben starre UrsacheWirkungs-Gefüge von Natur und Mensch, von Klima und Kultur eine Renaissance.3 Diese Studie verfolgt hingegen eine integrative, umweltgeschichtliche Perspektive. Sie versteht Hungerkrisen als sozionaturale Ereignisse. An die Stelle sozial- und klimadeterministischer Ansätze setzt sie eine Verflechtungsgeschichte von Mensch und Umwelt. Für ein solches Vorgehen gibt es gute Gründe: Prognosen sagen im Rahmen des Klimawandels eine starke Zunahme von Extremereignissen voraus.4 Damit stellt sich die Frage, wie solche Herausforderungen in der Vergangenheit bewältigt wurden. Bisher finden die Debatten um den Einfluss des Klimas jedoch weitgehend ohne historische Expertise statt. Angesichts der Zurückhaltung der Geschichtswissenschaften basiert der populäre Verweis auf dramatische Auswirkungen früherer Klimaanomalien und Hungerperioden häufig auf Mutmaßungen.5 Hier kann ein genuin historisierender Zugang Orientierungswissen jenseits deterministischer Vereinfachungen schaffen, den Blick für Handlungsspielräume schärfen und die Verengungen der modernen Diskussion aufzeigen. Ein solcher Perspektivwechsel ist zugleich für die Geschichtswissenschaft selbst von Bedeutung. Ihr Anthropozentrismus gerät im Zeitalter von Umweltdegradation und Klimawandel grundlegend unter Druck. Mit dem postulierten ›Anthropozän‹ stellen sich neue Fragen zu Koevolution und Interdependenz von Mensch und Natur.6 Zudem hat die Vernachlässigung der materiellen Natur zentrale Bereiche historischer Gesellschaften preisgegeben: Das tägliche Brot diente nicht nur der Versorgung. Es stand im Zentrum vormoderner Herrschaft, Ökonomie und Kultur. Nahrungskrisen gewähren daher Einblicke in Kernbereiche historischer Lebenswelten.7 Sie materialisieren und fokussieren die zunehmende Verdichtung von Herrschaft, Prozesse sozialer Inklusion und Exklusion, die Verschränkung religiöser und weltlicher Deutungsmuster sowie die Praktiken von Überlebensökonomie und Versicherheitlichung. Unter dem äußeren Druck des Klimaextrems treten zudem innergesellschaftliche Konflikte, Bruchzonen und Wandlungsprozesse zu Tage, die in normalen Zeiten nur schwer zu fassen sind. Hungerkrisen sind daher zu Recht als die »missing pages« moderner Geschichtserzählungen beschrieben worden.8 Die Notsituation erinnert nicht nur daran, dass menschliche Gemein 3 Mike Hulme, Reducing the Future to Climate. A Story of Climate Determinism and Reductionism, in: Osiris 26, 2011, 245–266. 4 Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), Managing the Risks of Extreme Events and Disasters to Advance Climate Change Adaptation. Cambride 2012, 9–12. 5 Franz Mauelshagen, Klimageschichte der Neuzeit. Darmstadt 2010, 102 f. 6 Will Steffen, Jacques Grinevald, Paul Crutzen, John McNeill, The Anthropocene. Conceptual and Historical Perspectives, in: Philosophical Transactions of the Royal Society A 369, 2011, 842–867. 7 Steven Kaplan, Bread, Politics, and Political Economy in the Reign of Louis XV, 2 Bd. Den Haag 1976, Bd. 1, XVI. 8 Mike Davis, Late Victorian Holocausts. El Niño Famines and the Making of the Third World. London, New York 2002, 8.

An der Schnittstelle von Natur und Kultur

9

schaften offene Systeme sind, die im ständigen Stoffwechsel mit der umgebenden Umwelt stehen. Sie unterstreicht auch, dass in solchen ›gebauten Umwelten‹ Naturimpulse zugleich soziale Beobachtungen ermöglichen.9 Die umweltgeschichtliche Perspektive erlaubt daher nicht nur eine thematische Erweiterung, sondern auch eine Vertiefung historischer Fragestellungen. Mit der europaweiten Hungersnot von 1770–1772 nimmt diese Arbeit eines der schwersten sozioökologischen Extremereignisse der Kleinen Eiszeit (1300–1800) in den Blick. Ihr Ausmaß ähnelte den verheerenden Hungerkrisen der 1315er und der 1570er Jahre oder übertraf sie sogar noch.10 Die Auswirkungen erfassten den gesamten Kontinent und kosteten hunderttausenden Menschen das Leben. Zu ihrem Verlauf existiert zudem eine dichte Überlieferung sowohl im Hinblick auf die natürlichen als auch die sozialen Faktoren, obwohl sie noch im ›alten biologischen Regime‹ (F. Braudel) stattfand, bevor Industrialisierung und Agrarrevolution die gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten grundlegend veränderten. Dadurch ermöglicht diese Hungersnot einerseits die Einordnung früherer Krisen, die sich zwar in demselben sozioökologischen Umfeld ereigneten, zu denen aber weniger Material vorliegt. Andererseits gestatten die detaillierten Quellen zum Witterungsverlauf bereits den Anschluss an die aktuelle Klimaforschung. Historisch fällt die Hungersnot zudem in eine zentrale Umbruchphase der europäischen Geschichte. Das 18. Jahrhundert konstituierte einen Kontaktraum von religiösen und säkularen Deutungsmustern, von moralischen und utilitaristischen Naturvorstellungen, von paternalistischen und freihändlerischen Wirtschaftskonzepten. An diesem Schnittpunkt konnte Hunger zugleich als göttliches Strafgericht, als Naturereignis oder als menschengemachte Krise verstanden werden. Dementsprechend sind auch die Praktiken der Zeitgenossen außergewöhnlich vielfältig. Sie reichten von Wallfahrten bis zu Hungertumulten, von Migration bis zum Bau von Messstationen. Im Umfeld der Krise radikalisierte sich zudem ein neues Mensch-Umwelt-Verständnis, das Natur und Kultur als getrennte Sphären verstand und das die Lebenswelt des Menschen bis heute prägt. Die Hungersnot der 1770er Jahre bildete ein einzigartiges ›Laboratorium‹, in dem Erklärungsmuster und Bewältigungspraktiken der Vor- und der ›Hochmoderne‹ koexistierten und konkurrierten.11 9 Anthony Oliver-Smith, Theorizing Vulnerability in a Globalized World. A Political Ecol­ ogical Perspective, in: Greg Bankoff, Georg Frerks, Dorothea Hillhorst (Hrsg.), Mapping Vulnerability. Disasters, Development and People. London 2004, 10–24, hier 12. 10 Dominik Collet, Daniel Krämer, Germany, Switzerland and Austria, in: Guido Alfani, Cormac Ó Gráda (Hrsg.), Famine in European History. Cambridge 2017, 101–118. 11 Zu den 1770er Jahren als Gelenkstelle europäischer Naturwahrnehmung: Richard Hölzl, Historicizing Sustainability. German Scientific Forestry in the 18th and 19th Centuries, in: Science as Culture 19, 2010, 431–460, hier 437–439. Zur high modernity als Epoche der Mensch-­ Natur-Dichotomie und zu möglichen Parallelen von vor- und post- bzw. spätmodernen Naturkonzepten vgl. Peter J. Taylor, Modernities, A Geohistorical Interpretation. Minneapolis 1999.

10

An der Schnittstelle von Natur und Kultur

Trotz dieser Schlüsselposition existiert bisher keine umfassende Untersuchung dieses Ereignisses. Dies ist umso erstaunlicher, da die Krise der 1770er Jahre gleich mehrere Kontinente erfasste und weltweit Millionen Menschen bedrohte. In Zentralamerika, Indien und Teilen Afrikas manifestierten sich die extremen Klimaanomalien dieser Jahre in schweren Dürren, in Europa brachten sie verheerende Niederschläge. Hier konzentrierten sich die Regenfälle fast drei Jahre lang auf die Sommermonate. Sie schädigten die europäischen Ernten in einem gewaltigen Gebiet, das sich von Frankreich bis in die Ukraine und von Skandinavien bis in die Schweiz erstreckte. Die sozialen Strukturen der Ständegesellschaften verschärften die naturalen Impulse noch. Das Zusammenspiel von Feuchtigkeit, Migration und Mangelernährung beförderte schließlich den Ausbruch von Epidemien. In den Krisenregionen resultierten aus Hunger und Krankheit massive Übersterblichkeit und dramatische Bevölkerungsrückgänge von bis zu 10 Prozent.12 Augenzeugen berichten auf dem Höhepunkt der Not von Zuständen, die heute nur noch aus den Ländern des globalen Südens bekannt sind. Sie beobachten die weitreichende Zerstörung sozialer Strukturen und die Auflösung von Familien- und Nachbarschaftsverbänden. Sie beschreiben halbnackte Kinder, die mit Hungerbäuchen auf den Straßen vegetierten, und schildern verbreitete Hungerkriminalität, den Verzehr von Aas sowie das Auftreten von Kannibalismus – die klassischen Topoi europäischer Hungerbeschreibungen. Vielen erschien die Not umso verstörender, weil sie wie aus der Zeit gefallen schien. Sie vertrug sich weder mit dem Glauben der Aufklärer an die Beherrschbarkeit der Natur noch mit dem verklärten Naturbild der beginnenden Romantik. Mitten im ›Zeitalter der Vernunft‹ stellte sie Fortschrittsglauben und Machbarkeitsoptimismus vehement in Frage. Die Auswirkungen der Krise lassen sich europaweit und auf allen Ebenen beobachten. Sie sind bisher aber weder in ihrem sozionaturalen noch in ihrem überregionalen Zusammenhang wahrgenommen worden. In der großen Politik brachte der Druck der Hungersnot die Regierungen in Frankreich, Dänemark und Schweden zu Fall. In Böhmen mündete sie in Volksaufstände und Bauernbefreiung, in Frankreich in den ›Mehlkrieg‹ von 1775. Die Krise beeinflusste auch den Verlauf der Ersten Polnischen Teilung 1772 und damit den Beginn der größten Gebietsverschiebung im frühneuzeitlichen Europa. Im Feld der Ökonomie löste die Teuerung eine europaweite Wirtschafts-, Finanz- und Bankenkrise aus. In den Regionen verursachte sie weitreichende Verarmung und den Höhepunkt einer der größten zeitgenössischen Migrationswellen, des sogenannten Zweiten Schwabenzugs. Die Nahrungskrise wirkte aber auch als Katalysator. Sie beförderte grundlegende Reformen des Agrar-, Schul- und Armenwesens. Sie stieß die Etablierung neuer Wissenszweige wie der Meteorologie, der Nationalökonomie oder der Statistik an. Im Reich verhalf sie sogar dem Immerwährenden Reichstag zu einem seltenen Politikerfolg und beförderte die Entwicklung eines deutschen Proto-Nationalismus. 12 Einen Überblick über Raum, Verlauf und mögliche Ursachen der Krise bietet Kap. II.

An der Schnittstelle von Natur und Kultur

11

Die Menschen blieben dabei keine passiven Opfer: Fürsten nutzten die Krise, um konkurrierende Obrigkeiten und Herrschaften zu entmachten. Untertanen diente sie dazu, Partizipationsrechte auszuweiten. Bürgerliche ›Experten‹ etablierten mit ihrer Hilfe neue Wissensfelder und -hierarchien. Pfarrer wiederum bedienten sich der Notlage im Kampf gegen zunehmende Verweltlichung. Aus diesem Grund ist in diesem Buch von ›Kultur‹ im weitesten Sinne die Rede. Sie umfasst alle Bereiche menschlichen Gestaltens, von der Agrikultur bis zur Volkskultur, von der Bildung bis zu Politik, Ökonomie und Religion. Betrachtet man ihre Verflechtungen mit dem Klima nicht allein aus der Vogelperspektive demographischer oder meteorologischer Datenreihen, sondern auch ›aus der Nähe‹, wird deutlich, dass naturale Umwelt und soziales Handeln hier nicht in starren Ursache-Wirkungs-Gefügen zu fassen sind, sondern je nach Konstellation dynamisch miteinander verflochten waren. So verstanden können Hungerkrisen auch wieder Impulse für zentrale historische Debatten liefern. In einem ersten Themenfeld vertieft Nahrung als zentraler Bereich von Herrschaft die Überlegungen zu einer Rückbesinnung der Kultur­ geschichte auf die ›harten Fakten‹ sowie zu einer ›Kulturgeschichte des Politischen‹. In der Extremsituation der Hungerkrise werden die Mechanismen einer symbolisch-kommunikativen Herstellung von Herrschaft und die legitimierende Bedeutung von Verfahren ebenso konkret wie Formen von »empowering interactions« oder »akzeptanzorientierter Herrschaft«.13 Statt starrer Konfrontationen lassen sich hier Praktiken krisengebundener Zusammenarbeit von Partnern in asymmetrischen Machtverhältnissen beobachten. Charakteristisch ist die Kollusion von Obrigkeiten und Untertanen auf Kosten Dritter.14 Damit ergeben sich Bezüge zur Normdurchsetzungsdebatte der Frühneuzeitforschung und zur Diskussion um den ›Reformabsolutismus‹. Zugleich illustriert die Krise die Gebundenheit politischer Entscheidungen in lokalen Praktiken, konkret etwa im Falle des Reichstags im hungernden Regensburg. Hier materialisiert die sozionaturale Krise das Potential einer kulturgeschichtlichen Perspektive auf Herrschaft und Herrschaftsverdichtung. Für ein zweites Feld, die Wissensgeschichte der Aufklärung, ist die Koexistenz von Naturromantik und Naturkatastrophe um 1770 zentral. In die Krisenjahre fallen sowohl der Beginn des Wörlitzer Gartenreichs als auch die Gründung zahlreicher Agrarsozietäten. In der Parallelität der Quantifizierung von Natur und 13 Barbara Stollberg-Rilinger, André Krischer (Hrsg.), Herstellung und Darstellung verbindlicher Entscheidungen. Verhandeln, Verfahren und Verwalten in der Vormoderne. Berlin 2010; Wim Blockmans, André Holenstein, Jon Matieu (Hrsg.), Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300–1900. Farnham 2009; Stefan Brakensiek, Akzeptanzorientierte Herrschaft. Überlegungen zur politischen Kultur der Frühen Neuzeit, in: Helmut Neuhaus (Hrsg.), Die Frühe Neuzeit als Epoche. München 2009, 395–406. 14 Achim Landwehr, Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg. Frankfurt a. M. 2000.

12

An der Schnittstelle von Natur und Kultur

ihrer Verklärung im Erhabenen, von Landwirtschaftsschule und Landschaftspark spiegeln sich unterschiedliche Spielarten der beginnenden Trennung von Natur und Mensch. Ihre Konzeptionalisierung als zu überwindende Wissensasymme­ trie (B. Latour), als Dichotomie, die bis in die »Spätmoderne« fortdauert (A. Giddens), oder als verlorene und wiederherzustellende Pluralität (D. Chakrabarty) lässt sich im Ereignis der Hungerkrise prüfen. Zugleich wird in der regen ›Teuerungsliteratur‹ das self-fashioning der aufgeklärten Wissenseliten greifbar. Als historische Schnittstelle illustriert das Ereignis 1771 die soziale Rolle von Wissen jenseits von Wissenschaft. Das dritte Feld umfasst die entstehende Kulturgeschichte des Ökonomischen. Hier stellt die Hungerkrise Bezüge zu Überlegungen her, die statt der Produktion die Reproduktion, statt des Marktes die umfassende ›Überlebensökonomie‹ in den Blick nehmen und sich damit auf das Konzept der ›embedded economy‹ (K. ­Polanyi) beziehen.15 Anhand der Hungerkrise lässt sich der vermeintliche Beginn einer ›ökonomischen Befreiungsgeschichte‹ um 1770 ebenso überprüfen, wie Überlegungen zur Praxis ökonomischer Theorie oder zur Reichweite integrativer Ansätze, beispielsweise der food-studies, die Produktion und Konsumption programmatisch verknüpfen.16 Methodische und inhaltliche Bezüge ergeben sich auch im Bereich der Agrargeschichte, in der das technologiezentrierte Narrativ der ›Agrarrevolution‹ jener Zeit zunehmend hinterfragt und stattdessen alternative Formen bäuerlicher Dynamik herausgestellt werden.17 Die Hungerkrise liefert hier umfassende Impulse für eine Anthropologie des Ökonomischen. Die Frage, wie Gesellschaften des 18. Jahrhunderts extreme Naturereignisse bewältigten, berührt nicht zuletzt einige der großen Geschichtsnarrative. Dazu gehören die Konzepte des »Great Escape« (R. Fogel), des »European Miracle« (E. Jones) oder der »Great Divergence« (K. Pomeranz).18 Sie vermuten, dass die 15 Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt a. M. 1978 (zuerst London 1945); Werner Troßbach, Historische Anthropologie und frühneuzeitliche Agrargeschichte deutscher Territorien. Anmerkungen zu Gegenständen und Methoden, in: Historische Anthropologie 5, 1997, 187–211, hier 193. Zur Erforschung der »verborgenen Ökonomien« oder der »economy of makeshifts« (dt., »Ökonomien des Notbehelfs«) vgl. Rainer Prass, Grundzüge der Agrargeschichte. Vom dreißigjährigen Krieg bis zum Beginn der Moderne (1650–1880). Köln, Weimar, Wien 2016, 50; Olwen Hufton, The Poor in Eighteenth Century France, 1750–1789. Oxford 1974. Zur anthropologischen Erweiterung der Wirtschaftsgeschichte vgl. Hartmut Berghoff, Jacob Vogel (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels. Frankfurt a. M. 2004; Wolfgang Reinhard, Justin Stagl (Hrsg.), Menschen und Märkte. Studien zur historischen Wirtschaftsanthropologie. Köln, Weimar, Wien 2007. 16 Andrew Wakefield, The Disordered Police State. German Cameralism as Science and Practice. Chicago 2009; Emma C. Spary, Feeding France. New Sciences of Food 1760–1815. Cambridge 2014. 17 Michael Kopsidis, Agrarentwicklung. Historische Agrarrevolutionen und Entwicklungsökonomie. Stuttgart 2006. 18 Robert William Fogel, The Escape from Hunger and Premature Death. Cambridge 2004;

13

Forschungsstand

überlegene Naturbeherrschung westlicher Kulturen in dieser Zeit den Beginn eines europäischen Sonderwegs markierte. Auch diese Meistererzählungen lassen sich mit Hilfe des Ereignisses der Hungerkrise konkretisieren und korrigieren. Daher berühren die zeitgenössischen Verflechtungen von Hunger und Herrschaft, von Klima und Kultur neben dem Verständnis historischer Gesellschaften auch unser modernes, anthropozentrisches Selbstverständnis.

1. Forschungsstand Die Hungerforschung leidet insgesamt an einem Paradox. Akuter Nahrungsmangel beeinflusst alle gesellschaftlichen Lebensbereiche. Genau diese hohe Reichweite hat aber dazu geführt, dass das Geschehen zumeist nur im disziplinären Rahmen untersucht wird. Da das ausgesprochen reichhaltige Material Grenzüberschreitungen als kaum notwendig erscheinen ließ, haben Medizin, Ökonomie oder Ethnologie je eigene Zugänge zu diesem Thema entwickelt. Die Fragmentierung des Forschungsfeldes entlang der Fachgrenzen hat dazu geführt, dass Hunger nicht etwa als Grenzobjekt begriffen wird, das Kooperation ermöglicht und einfordert. Stattdessen haben sich rigide Oppositionen entwickelt. Heute dominieren zwei einander ausschließende Erklärungsmodelle das Feld. Nahrungskrisen werden entweder als Folge ›natürlicher‹ oder aber als Resultat ›politischer‹ Faktoren konzeptioniert.19 Der erste Ansatz versteht Hunger als Folge des fehlenden Angebots an Nahrung aufgrund naturaler Impulse wie des Klimas. Der zweite sieht Hunger als Resultat des fehlenden Zugangs zu Lebensmitteln und somit als Folge sozialer Ursachen wie ungleich verteilter Anrechte oder ›en­ titlements‹. Der indische Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen hat für diese gegensätzlichen Ansätze das Begriffspaar des Food Availability Decline (FAD) einerseits und des Food Entitlement Decline (FED) andererseits eingeführt.20 Diese Opposition reflektiert zum einen postkoloniale Konfliktlagen, in denen die eine Seite im globalen Süden eine vermeintlich ›natürliche‹ Hungerzone verEric L. Jones, The European Miracle. Environments, Economies and Geopolitics in the History of Europe and Asia. Cambridge 32003; Kenneth Pomeranz, The Great Divergence. Europe, China, and the Making of the Modern World Economy. Princeton (NJ) 2000. 19 Einen Überblick bieten: Christian Pfister, Hunger. Ein interdisziplinäres Problemfeld, in: Archiv für Sozialgeschichte 28, 1988, 382–390; David Arnold, Famine. Social Crisis and Historical Change. Oxford 1988; Cormac Ó Gráda, Famine. A Short History. Princeton 2009 sowie Brian Murton, Famine, in: Kenneth F. Kiple, Kriemhild Conée Ornelas (Hrsg.), The Cambridge World History of Food, Bd. 2. Cambridge 2000, Sp. 1411–1427. Eine nuancierte Diskussion der Modellbildungen des Forschungsfeldes bietet: Daniel Krämer, Menschen grasten nun mit dem Vieh. Die letzte grosse Hungerkrise der Schweiz 1816/17. Mit einer theoretischen und methodischen Einführung in die historische Hungerforschung. Basel 2015, 117–180. 20 Amartya Sen, Poverty and Famines. An Essay on Entitlement and Deprivation. Oxford 1981.

14

An der Schnittstelle von Natur und Kultur

mutet, während die andere Seite deren politische Ausbeutung anprangert. Zum anderen spiegelt sie die Trennung von Natur- und Kulturwissenschaften wider, die dazu führt, dass entweder biophysikalische oder gesellschaftliche Impulse in den Blick genommen werden.21 In den 1980er Jahren half diese Polarisierung zunächst Alternativen aufzuzeigen. Mittlerweile hat sich die starre Opposition von natur- und kulturzentrierten, von produktions- und distributionsbasierten Modellen jedoch zu einem Hindernis weiterer Forschungen entwickelt. Dies gilt vor allem für die aktuellen Herausforderungen, die ihre Brisanz gerade durch die Verschränkung von Klimawandel und sozialer Ungleichheit gewinnen. Dies gilt aber auch für die historische Forschung. Denn beide Zugänge behaupten, dass Hungerkrisen in der Vergangenheit stärker von der Natur geprägten Logiken gefolgt seien, die außerhalb des Kompetenz­bereichs der Geisteswissenschaften verortet werden. Zudem hat die Frontstellung von FAD- und FED-Konzepten die relativ abstrakte Modellierung des Geschehens befördert und dazu beigetragen, die konkrete Hungersnot, die unmittelbare Erfahrung von Zwang, Ohnmacht und Tod, zu verdecken. Die Modellbildungen von Klimatologie einerseits und Ökonometrie andererseits zielen auf die Erfassung des abstrakten Verlaufs einer Krise. Ihre Aussagekraft endet jedoch bei der bereits von E. P. Thompson nachdrücklich gestellten Frage: »being hungry, what do people do?«22 Das Handeln der Betroffenen, die Kontingenz und Dynamik ihrer Bewältigungsstrategien sowie die kulturellen Konsequenzen der Extremerfahrung gehen in solchen Modellen verloren. In den Kulturwissenschaften, in denen praxeologische Zugänge dominieren, haben diese Leerstellen das Thema weitgehend an den Rand der Forschungsdebatten gedrängt. In den letzten Jahrzehnten beschäftigte sich die Geschichtswissenschaft daher nur kursorisch mit vormodernen Hungersnöten. Statt die Dichotomien der Hungerforschung zu hinterfragen, wurden sie einfach auf die Geschichte übertragen und vorindustrielle Nahrungskrisen primär als Naturereignisse gedeutet. Größere Arbeiten widmeten sich vor allem den späteren Hungersnöten, die stärker als menschengemacht verstanden und daher ins kulturwissenschaftliche Pro­blemfeld eingeordnet werden. Dazu zählen etwa die Irische Hungersnot 1845–48 sowie die großen Nahrungskrisen des 20. Jahrhunderts in totalitären Regimen und im postkolonialen Afrika.23 21 Mauelshagen, Klimageschichte, 95–97. 22 An formalistischen Hungermodellen kritisierte Thompson: »[They] conclude the investigation at the exact point at which it becomes of serious interest: being hungry, what do people do? How is their behavior modified by custom, culture, and reason?« E. P. Thompson, The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century, in: Dorothy Thompson (Hrsg.), The Essential E. P. Thompson. New York 2001, 316–377, hier 317. 23 Robert Kindler, Stalins Nomaden. Herrschaft und Hunger in Kasachstan. Hamburg 2014; Stephen Wheatcroft, R.W. Davies, The Years of Hunger. Soviet Agriculture 1931–1933.

Forschungsstand

15

Im Desinteresse an den früheren Krisen spiegelt sich hingegen die grundlegende und berechtigte Skepsis gegenüber potentiell klimadeterministischen Ansätzen wider, welche die historischen Wissenschaften bereits seit der Trennung von der Naturgeschichte im 19. Jahrhundert prägt.24 Hinzu treten die enttäuschend verlaufenen Versuche, den modellierenden Zugang der Nachbarwissenschaften zu adaptieren. Die klio- und ökonometrischen Studien der 1940er bis 1960er Jahre interpretierten vormoderne Hungersnöte als starres, dem menschlichen Handeln weitgehend entzogenes Wechselspiel von Klimaimpulsen und demographischer Entwicklung.25 Für eine Geschichte als ›Wissenschaft vom Menschen‹ erschien das Feld daher als wenig relevant. Der Kenntnisstand zu Wahrnehmung, Deutung und Bewältigung vorindustrieller Hungerereignisse ist dementsprechend gering.26 Die Lücken, welche die Geschichtswissenschaft gelassen hat, füllen in den letzten Jahren zunehmend neo-deterministische Arbeiten aus Klimaforschung und Geographie. Im Windschatten der aktuellen Klimadiskussionen postulieren sie starre und direkte Ursache-Wirkungs-Verhältnisse zwischen Umweltextremen und menschlichen Gesellschaften. In diesem Zusammenhang sind vormoderne Hungerkrisen – als reine ›Klimafolge‹ verstanden – für die Französische Revolution, die Völkerwanderung oder das Ende des Ancien Régime verantwortlich gemacht worden.27 Auch in renommierten wissenschaftlichen Zeitschriften erscheinen immer wieder Studien, die Hunger- und Klimakrisen als Ursache für den ›Kollaps‹ ganzer Zivilisationen, den Ausbruch von Kriegen oder die allgemeine Zunahme von Gewalt verstehen.28 Ihre großen Thesen folgen nicht allein den Vorgaben der ­ asingstoke 2004; Felix Wemheuer, Der große Hunger. Hungersnöte unter Stalin und Mao. B Berlin 2012. Zur umfangreichen Historiographie der Irish Famine, deren Interpretation bereits mehrere Revisionen einschließlich der Neubewertung proto-kolonialer, sozioökonomischer und klimatischer Faktoren erlebt hat, vgl. Cormac Ó Gráda, Black ‚47 and Beyond. The Great Irish Famine in History, Economy, and Memory. Princeton (NJ) 1999. Zu den parallelen Teuerungswellen auf dem Kontinent im Vorfeld der Ereignisse von 1848 vgl. Hans Heinrich Bass, Hungerkrisen in Preußen während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. St. Katharinen 1999; Michael Hecht, Nahrungsmangel und Protest. Teuerungsunruhen in Frankreich und Preußen in den Jahren 1846/47. Halle 2004. 24 Mauelshagen, Klimageschichte, 32–35; Reinhold Reith, Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit. München 2011, 72 f. 25 Steven Kaplan, Bread, Bd. 1, XX–XXV. 26 Wolfgang von Hippel, Armut, Unterschichten und Randgruppen in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie der Geschichte 34). München 1995, 64 f. 27 Brian Fagan, The Little Ice Age. How Climate made History 1300–1850. New York 2000, 149–266; Ulf Büntgen u. a., 2500 Years of European Climate Variability and Human Susceptibility, in: Science 331, 2011, 578–582; Manfred Vasold, Die Hunger- und Sterblichkeitskrise von 1770/73 und der Niedergang des Ancien Régime, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 59, 2008, 107–142. 28 Jared Diamond, Collapse. How Societies Chose to Fail or Suceed. New York 2005; Gerald H. Haug u. a., Climate and the Collapse of Maya civilization, in: Science 299, 2003, 1731– 1735; Solomon M. Hsiang, Kyle C. Meng, Mark A. Cane, Civil Conflicts are Associated with the Global Climate, in: Nature 476, 2011, 438–441.

16

An der Schnittstelle von Natur und Kultur

wissenschaftlichen Aufmerksamkeitsökonomie, sie resultieren auch aus der Tatsache, dass präzisere und stärker nuancierte Aussagen mit den gewählten Methoden, Archiven und Analyserahmen kaum möglich sind.29 Oft projizieren sie die langfristigen Trends der Paläoklimatologie einfach auf gesellschaftliche Entwicklungen. Angaben aus historisch-gesellschaftlichen Quellen werden dabei häufig extrapoliert, geglättet und rein statistisch ausgewertet.30 Diese Studien erfolgen trotz der Ausrichtung auf die Vergangenheit zumeist ohne Beteiligung der Geschichtswissenschaften. Dies geht nicht nur auf die Sprachlosigkeit zwischen Natur- und Kulturwissenschaften zurück, sondern auch auf den Mangel an interdisziplinär geschulten und motivierten Ansprechpartnern. Diese Untersuchungen bleiben im Kern deterministisch, prägen aber nicht nur populäre Geschichts­bilder, sondern auch die Wahrnehmung historischer Umweltextreme in Politik- und Naturwissenschaften.31 Dieser Trend wird dadurch bestärkt, dass auch viele genuin geschichtswissenschaftliche Arbeiten Naturimpulse unhinterfragt verabsolutieren (und so beiseiteschieben). Fast alle Studien zu vormodernen Hungerkrisen übernehmen implizit oder explizit das Modell der ›Krise des alten Typs‹. Es wurde bereits in den 1940er Jahren durch Ernest Labrousse und Wilhelm Abel anhand von Preisreihen, Geburts- und Sterbeziffern entwickelt.32 Ihre Typisierung einer bis zur Industrialisierung unveränderlichen und weitgehend unvermeidbaren Abfolge von Missernte, Gewerbekrise, Mangelernährung und Übersterblichkeit sah die Ursache von Hunger allein in natürlichen und deshalb nicht weiter zu erforschenden Faktoren begründet. Die in den Nachbardisziplinen entwickelten Ansätze zur Bedeutung sozialer, politischer und ökonomischer Faktoren sind hingegen kaum rezipiert 29 So lassen sich Interaktionen zwischen der multidekadischen Ebene der Klimaforschung (Klima als 30-jähriger Durchschnitt des Wetters) und historischen Ereignissen kaum empirisch konkretisieren. Präziser aufgelöste Naturarchive stehen entweder nur eingeschränkt zur Verfügung oder werden schon in der Erhebung stark geglättet. Vgl. Kap. II.2.2. 30 Vgl. etwa David D. Zhang u. a., The Causality Analysis of Climate Change and Large-­ Scale Human Crisis, in: Proceedings of National Academy of Sciences of the United States 108, 2011, 17296–17301, die für die Jahre 1500–1800 baumringbasierte Temperaturdaten mit der Anzahl der Hungerjahre, Erntemengen, Körpergrößen, Migranten sowie Zahl und Opfermengen der Kriege korrelieren. Da allerdings für keinen dieser Parameter auch nur annähernd verlässliche historische Daten vorliegen (vgl. etwa zu den Jahren 1770–1772 Kap. II.3.), extrapolieren sie diese Werte aus fragmentarischen und randständigen Überblickswerken. Die extremen Krisenjahre 1770–1772 tauchen etwa weder in der angegebenen »Chronology of Famine« noch in dem benutzten »Conflict Catalogue« auf. Entsprechend willkürlich fallen die statistischen Korrelationen von Klima und Krisen aus. 31 Adam Izdebski u. a., Realising Consilience. How Better Communication Between Archaeologists, Historians and Natural Scientists can Transform the Study of Past Climate Change in the Mediterranean, in: Quaternary Science Reviews 30, 2015, 1–18; Hulme, Future. 32 Ernest Labrousse, La crise de l’économie française à la fin de l’Ancien régime et au début de la Révolution. Paris 1943; Wilhelm Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Versuch einer Synopsis. Hamburg, Berlin 1974.

Forschungsstand

17

worden. Dazu gehört etwa die Entitlement-Theory Amartya Sens, die darauf verweist, dass Hungersnöte auch in wenig entwickelten Gesellschaften nicht allein durch Missernten, sondern auch durch Veränderungen im komplexen Gefüge von Zugangs- und Besitzrechten (entitlements und endowments) entstehen können. Dadurch drohen einzelne Gruppen den Zugang zu Nahrung selbst in Zeiten des Überflusses zu verlieren. Solche »green famines« lassen sich mit rein produktionsbasierten Ansätzen nicht erklären.33 Mit dem Perspektivwechsel vom Nahrungsangebot zum Nahrungszugang verweist Sen eindrücklich auf gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten, auf die Bedeutung nicht-marktförmiger Transaktionen und auf die Heterogenität der Armen. Hier ergeben sich vielfältige Bezüge zu frühneuzeitlichen Gesellschaften, die bisher kaum berücksichtigt wurden.34 Heute stehen in der Forschung zu vormodernen Hungersnöten daher einzelne wirtschaftshistorische Arbeiten, die Hunger vollständig auf menschliches Handeln zurückführen, einer breiten Renaissance klimazentrierter Ansätze gegenüber.35 Erst in jüngster Zeit lässt sich ein Aufweichen dieser Frontstellung beobachten. Dabei zeichnet sich ein Zugang ab, der naturale Umwelt und soziales Handeln programmatisch miteinander verknüpft. In der Geschichtswissenschaft ist dieser Ansatz zunächst in der Historischen Katastrophenforschung fruchtbar gemacht worden. Sie hat gezielt Extremereignisse an der Schnittstelle von Natur und Kultur in den Blick genommen.36 Im Zentrum standen allerdings zumeist ›schnelle‹ Katastrophen wie Erdbeben und Sturmfluten. Hungersnöte blieben als sozionaturale Grenzgänger außen vor. Sie erschienen der Katastrophenforschung als zu wenig, der Krisenforschung wiederum als zu sehr naturgeprägt.37 Die Studien zu historischen Katastrophen illustrieren jedoch, dass Naturextreme generell erst im Kontext menschlichen Handelns zum Desaster werden. Vermeintliche Naturkatastrophen sind daher 33 Sen, Poverty. 34 Auf das Potential einer stärkeren Einbeziehung dieser politisch-kulturellen Faktoren wurde bereits früh hingewiesen: Hans Medick, Teuerung, Hunger und »moralische Ökonomie von oben«. Die Hungerkrise der Jahre 1816–17 in Württemberg, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 2, 1985, 39–44. 35 Das Spannungsfeld von sozial- bzw. klimazentrierten Ansätzen umreißen Fogel, Escape und Bruce Campbell, Nature as Historical Protagonist. Environment and Society in Pre-Industrial England, in: Economic History Review 63.2, 2010, 281–314. 36 Manfred Jakubowski-Tiessen, Sturmflut 1717. Die Bewältigung einer Naturkatastrophe in der Frühen Neuzeit. München 1992; Wolfgang Behringer, Hartmut Lehmann, Christian Pfister (Hrsg.), Kulturelle Konsequenzen der »Kleinen Eiszeit«. Göttingen 2005; Christian Rohr, Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit. Köln u. a. 2007. 37 Zentrale Publikationen zur Katastrophen- und Krisengeschichte sparen Hungersnöte daher häufig aus. Vgl. etwa: Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen (Hrsg.), Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Tübingen 2003; Gerrit Jasper Schenck (Hrsg.), Katastrophen. Vom Untergang Pompejis bis zum Klimawandel. Stuttgart 2012; Rudolf Schlögl, Philip R. Hoffmann-Rehnitz, Eva Wiebel (Hrsg.), Die Krise in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2016.

18

An der Schnittstelle von Natur und Kultur

ebenso oft ›Kulturkatastrophen‹.38 Ein zentrales Ergebnis dieser Studien besteht in der unerwarteten Dynamik historischer Deutungs- und Bewältigungsstrategien, die grundlegende Transformationsprozesse im Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt sichtbar machen. Diese Beobachtungen sind auch für die Hungerforschung bedeutsam. Zum einen ermöglichen sie, die florierenden klimadeterministischen Ansätze zu hinterfragen. Zum anderen öffnen sie das Feld für die Methoden der Kulturgeschichte. Mit der Betonung der kulturellen Konsequenzen von Katastrophen korrigieren sie Ökonometrie und Demographie, die Hungersnöte als bloßes ›Feuerwerk‹ ohne längerfristige Folgen sehen – eine Vorstellung, die zuvor lediglich in der französischen Annales-Schule hinterfragt wurde.39 Damit lenkt die Katastrophenforschung den Blick wieder auf die zentrale Bedeutung einer ausgefeilten historischen »Hungerkultur« oder einer »Culture of Disaster«.40 Sie hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die Bewältigungsstrategien in einer durch Formen der »Subsistenzethik« geprägten »Knappheitsgesellschaft«, wie Kulturhistoriker und -anthropologen an modernen und nicht-europäischen Beispielen herausgearbeitet haben.41 Diese Anregungen sind vor allem von der Umweltgeschichte aufgenommen worden. Sie hat die Verflechtung von Kultur und Natur konsequent zur Forschungsperspektive erhoben. Mit Konzepten wie den »sozionaturalen Schauplätzen«, der »slow violence« in Mensch-Umwelt-Beziehungen, mit Bezügen zur »sozialen Ökologie«, dem Entwurf einer »Panarchy« oder der Erforschung »gesellschaftlicher Naturverhältnisse« hat die Umweltgeschichte dieses Spannungsfeld jenseits 38 François Walter, Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert. Stuttgart 2010, 15. 39 Robert W. Hoyle, Famine as Agricultural Catastrophe: The Crisis of 1622–4 in East Lancashire, in: Economic History Review 63, 2010, 974–1002, 975. Zur Vermutung der Wirtschaftsgeschichte, diese kurzfristigen Krisen verhielten sich ähnlich »wie Banküberfälle zur Geschichte des Bankwesens«, vgl. Mauelshagen, Klimageschichte, 115. Zur frühen Verknüpfung von Klima, Demographie und Kultur in den Regionalstudien der Annales vgl. etwa: François Lebrun, Les Hommes et la mort en Anjou aux XVIIe et XVIIIe siècles. Essais de démographie et des psychologie historique. Paris, Den Haag 1971. 40 Piero Camporesi, Das Brot der Träume. Hunger und Halluzinationen im vormodernen Europa. Frankfurt a. M. u. a. 1990; Greg Bankoff, Cultures of Disaster. Society and Natural Hazards in the Philippines. London 2003; Anthony Oliver-Smith, Susanna M. Hoffman (Hrsg.), Catastrophe and Culture. The Anthropology of Disaster. Oxford 2001; Kevin Rozario, The Culture of Calamity. Disaster and the Making of Modern America. Chicago 2007; Fred Krüger u. a. (Hrsg.), Cultures and Disasters. Understanding Cultural Framings in Disaster Risk Reduction. London 2015. 41 James C. Scott, The Moral Economy of the Peasant. Rebellion and Subsistence in Southeast Asia. New Haven (CT) 1976; Gerd Spittler, Handeln in einer Hungerkrise. Tuaregnomaden und die große Dürre von 1984. Opladen 1989; Massimo Montanari, Der Hunger und der Überfluss. Kulturgeschichte der Ernährung in Europa. München 1999; James Vernon, Hunger. A Modern History. Cambridge (MA) 2007. Zum Konzept einer durch naturale Bedarfdeckungswirtschaft geprägten Mangel- oder Knappheitsgesellschaft vgl. Nina Odenwälder, Nahrungsproteste und moralische Ökonomie. Das Alte Reich von 1600 bis 1789. Saarbrücken 2008, 29, 77–81.

Forschungsstand

19

von Ökodeterminismus und Geomaterialismus zu umreißen versucht.42 Zentrale Arbeiten problematisieren die Koevolution beziehungsweise Ko-Konstitution von Mensch und Umwelt und untersuchen die historische Verflechtung von Natur und Macht oder von Natur und Geschichtsschreibung.43 Dieser Ansatz findet heute vielfach Parallelen im ›new materialism‹ und der aktuellen Rückbesinnung auf materielle Kulturen und Grundlagen der Geschichte, die ebenfalls versuchen symbolische und materielle Daseinsmodi miteinander zu verknüpfen.44 Einen dezidiert umwelthistorischen Zugang zu Hungerkrisen verfolgen bisher nur wenige Arbeiten. Dazu zählen etwa Studien zu den Witterungskrisen des 14. und 17. Jahrhunderts sowie der Jahre 1570–75 und 1815–17.45 Erste entsprechende Ansätze finden sich auch in Werken zur »Great Famine« 1315–1318 oder den globalen Hungerkrisen des späten 19. Jahrhunderts. Sie illustrieren etwa die Impulse, die Missernten auf Wirtschaftskrisen, Hexenverfolgung oder Imperialismus ausübten.46 Aus einer ähnlich sozioökologischen Perspektive haben Vertreter der Historischen Klimatologie begonnen, die typischen physikalischen Impulse für ›Hungerjahre‹ in Zentraleuropa zu identifizieren und in abgestuften Interaktionsmodellen zu orga 42 Rob Nixon, Slow Violence and the Environmentalism of the Poor. Cambridge (MA) 2013; Crawford Stanley Holling, Lance H. Gunderson, Panarchy, Understanding Transformations in Systems of Humans and Nature. Washington 2002; Michael Weingarten, Die Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Annäherung an die kulturell konstituierte Differenzierung von Natur und Kultur, in: Dirk Hartmann, Peter Janich (Hrsg.), Die Kulturalistische Wende. Frankfurt a. M. 1988, 371–414 sowie Marina Fischer-Kowalski, Karlheinz Erb, Epistemologische und konzeptionelle Grundlagen der Sozialen Ökologie, in: Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft 148, 2006, 33–56. Einen detaillierten Forschungsüberblick bietet Martin Knoll, Die Natur der menschlichen Welt. Siedlung, Territorium und Umwelt in der historisch-topographischen Literatur der Frühen Neuzeit. Bielefeld 2013, 92–107. 43 William Cronon, Uncommon Ground. Rethinking the Human Place in Nature. New York 1996; Ders., A Place for Stories. Nature, Histories and Narrative, in: Journal of American History 78, 1992, 1347–1376. Grundsätzlich dazu: Bernd Herrmann, Jörn Sieglerschmidt, Umweltgeschichte und Kausalität. Entwurf einer Methodenlehre. Wiesbaden 2018. 44 Knoll, Natur, 94; Marian Füssel, Die Materialität der Frühen Neuzeit. Neuere Forschungen zur Geschichte der materiellen Kultur, in: Zeitschrift für Historische Forschung 42/3, 2015, 433–463. 45 Bruce Campbell, The Great Transition. Climate, Disease and Society in the Late-­Medieval World. Cambridge 2016; Geoffrey Parker, Global Crisis. War, Climate Change and Catastrophe in the Seventeenth Century. New Haven (CT) 2013; Wolfgang Behringer, Die Krise von 1570. Ein Beitrag zur Krisengeschichte der Frühen Neuzeit, in: Manfred Jakubowski-Tiessen, Hartmut Lehmann (Hrsg.), Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten. Göttingen 2003, 51–156; Ders., Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte. München 2015; Krämer, Menschen. Integrative Neuansätze bündelt der Band: Dominik Collet, Maximilian Schuh (Hrsg.), Famines During the »Little Ice Age« (1300–1800). Socio­natural Entanglements in Premodern Societies. Cham 2018. 46 William Chester Jordan, The Great Famine. Northern Europe in the Early Fourteenth Century. Princeton (NJ) 1996; Wolfgang Behringer, Weather, Hunger and Fear. Origins of the European Witch-Hunts in Climate, Society and Mentality, in: German History 13, 1995, 1–27; Davis, Holocausts.

20

An der Schnittstelle von Natur und Kultur

nisieren. Ihre Forschungen ermöglichten es auch, die akuten Witterungsanomalien in den größeren klimatologischen Rahmen der »Kleinen Eiszeit« einzuordnen.47 Die klassischen historischen Studien zeichnen sich hingegen dadurch aus, dass sie die Verflechtung von Natur und Kultur weitgehend vernachlässigen. Sie konzentrieren sich ganz auf die Ereignis- oder Regionalgeschichte oder zielen darauf ab, ältere Hungerereignisse zuverlässig zu identifizieren.48 Sie illustrieren, dass sich bereits in den Hungersnöten der Karolingerzeit Teile des späteren Repertoires obrigkeitlicher Maßnahmen beobachten lassen.49 Spätestens seit dem frühen 14. Jahrhundert ist auch das Nebeneinander religiöser, sozialer und naturaler Deutungsmuster von Hunger dokumentiert.50 In den Teuerungen der 1430er Jahre ließ sich dank der breiteren Überlieferung aufzeigen, wie die Krise in den Städten zum Katalysator einer umfangreichen Teuerungspolicey wurde. Die Versuche, den Verkauf, Preis und Transport von Getreide ebenso wie Migration und moralisches Verhalten der Menschen zu kontrollieren, trieb die Verdichtung von Herrschaft insgesamt voran.51 Für die Frühe Neuzeit hat man verfolgt, wie sich dieses Repertoire an Maßnahmen vom urbanen Raum auf die Territorien ausbreitete. Untersuchungen zu einzelnen Krisen liegen hier vor allem zu Frankreich, Italien und den britischen Inseln vor, während für das Reich eher die allgemeine Getreidehandelspolitik untersucht worden ist.52 Im Zentrum all dieser Studien 47 Christian Pfister, Rudolf Brázdil, Social Vulnerability to Climate in the »Little Ice Age«. An Example from Central Europe in the Early 1770s, in: Climate of the Past 2, 2006, 115–129, hier 120. Chantal Chamenisch, Endlose Kälte. Witterungsverlauf und Getreidepreise in den Burgundischen Niederlanden im 15. Jahrhundert. Basel 2015. Konzeptionelle Überlegungen zu Verflechtungsmodellen von Klima und Kultur formuliert auch: Wolfgang Behringer, Kultur­ geschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur Globalen Erwärmung. München 22011. 48 Ulrich-Christian Pallach, Hunger. Quellen zu einem Alltagsproblem in Europa und der Dritten Welt. 17. bis 20. Jahrhundert. München 1986; Fritz Curschmann, Hungersnöte im Mittelalter. Ein Beitrag zur deutschen Wirtschaftsgeschichte des 8. bis 13. Jahrhunderts. Leipzig 1900. Einen Überblick über historische Hungerereignisse im Untersuchungsraum bietet: Collet, Krämer, Germany, Switzerland and Austria. 49 Christian Jörg, Die Besänftigung göttlichen Zorns in karolingischer Zeit. Kaiserliche Vorgaben zu Fasten, Gebet und Buße im zeitlichen Umfeld der Hungersnot von 805/06, in: Das Mittelalter 15/1, 2010, 38–51; Peter Meyer, Studien über die Teuerungsepoche von 1433 bis 1438 insbesondere über die Hungersnot von 1437–38. Diss. Erlangen. Hannover 1914, 43–55; Stephan Ebert, Starvation under Carolingian Rule. The Famine of 779 and the Annales Regni Francorum, in: Collet, Schuh, Famines, 211–230. 50 Katherine Ludwig Jansen, Giovanni Villani on Food Shortages and Famine in Central Italy (1329–30, 1347–48), in: Dies., Joanna Drell, Frances Andrews (Hrsg.), Medieval Italy, Texts in Translation. Philadelphia 2009, 20–24. 51 Christian Jörg, Teure, Hunger, Großes Sterben. Hungersnöte und Versorgungskrisen in den Städten des Reiches während des 15. Jahrhunderts. Stuttgart 2008; Chamenisch, Kälte. 52 Marcel Lachiver, Les années de misère. La famine au temps du Grand Roi 1680–1720. Paris 1991; Karen J. Cullen, Karen, Famine in Scotland. The »Ill Years« of the 1690s. Edinburgh 2010; Gregory W Monahan, Year of Sorrows. The Great Famine of 1709 in Lyon. Columbus (OH) 1993; Guido Alfani, Calamities and Economy in Renaissance Italy. The Grand Tour of the Horse-

Forschungsstand

21

steht jeweils die Normsetzung durch die Obrigkeiten. Erst für das 16. und 17. Jahrhundert nehmen einzelne Arbeiten auch die kulturellen Konsequenzen der Ex­trem­ erfahrungen in den Blick.53 Viele andere Bereiche sind weiterhin kaum erforscht. Zu den Hungerkrankheiten, die für den Großteil der Opfer verantwortlich sind, liegen bisher lediglich demographiegeschichtliche Makrostudien vor.54 Auch zur Verknüpfung von Hunger und Migration existieren für die Vormoderne kaum empirische Studien, obwohl sie im 19. und 20. Jahrhundert eine wichtige Rolle einnahm und im aktuellen Klimadiskurs immer wieder vermutet wird.55 Zudem werden die Forschungen zu modernen Hungersnöten in historischen Arbeiten bisher kaum berücksichtigt. Die Bedeutung informeller Ökonomien, Einkommen und Hilfen sowie nicht-staatlicher Akteure, die mit dem livelyhood-Ansatz erforscht werden, oder die Rolle des Geschlechts für die innerfamiliäre Nahrungsallokation sind für vormoderne Gesellschaften trotz zahlreicher Parallelen kaum aufgearbeitet.56 Gleiches gilt für die überragende Rolle der kommunikativen Konstitution solcher Katastrophen.57 Selbst eng benachbarte Forschungen zur Ko-Entwicklung von Naturund Gesellschaftskonzepten, zur Beziehung von Nahrung und Herrschaft oder zur Entstehung von spezifischen Nahrungsregimes und Biopolitiken wurden bisher nicht auf vormoderne Hungerkrisen übertragen.58 Gleiches gilt für die umfangmen of the Apocalypse. Basingstoke 2013. Zur (urbanen) Getreidehandelspolitik vgl. Gian Luigi Basini, L’uomo e il pane. Mailand 1970; Kaplan, Bread; Bernd Roeck, Bäcker, Brot und Getreide in Augsburg. Zur Geschichte des Bäckerhandwerks und zur Versorgungspolitik der Reichsstadt im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Sigmaringen 1987. Die Studien illustrieren die zentrale Rolle von Nahrung, übernehmen den obrigkeitlichen Blick des reichen Quellenmaterials aber weitgehend. 53 Behringer, Lehmann, Pfister, Kulturelle Konsequenzen. 54 John Dexter Post, Nutritional Status and Mortality in Eighteenth-Century Europe, in: Lucile F. Newman (Hrsg.), Hunger in History. Food Shortage, Poverty, and Deprivation. Cambridge (MA), Oxford 1990, 241–280. 55 Steven Engler, Johannes P. Werner, Processes Prior and During the early 18th Century Irish famines. Weather Extremes and Migration, in: Climate 3, 2015, 1035–1056. Zur aktuellen Debatte vgl. Kap. IV.2.6. 56 Robert Chambers, Gordon Conway, Sustainable Rural Livelihoods. Practical Concepts for the 21st Century. IDS discussion paper 296 (1991) http://opendocs.ids.ac.uk/opendocs/bitstream/handle/123456789/775/.dp296.pdf [24.5.2016]; Claudia Ulbrich, Zwischen Resignation und Aufbegehren. Frauen, Armut und Hunger im vorindustriellen Europa, in: Gabriele Klein (Hrsg.), Begehren und Entbehren. Bochumer Beiträge zur Geschlechterforschung. Pfaffenweiler 1993, 167–183. 57 Suzanne Franks, Reporting Disasters: Famine, Aid, Politics and the Media. London 2013; Charlotte Boyce, Representing the Hungry Forties in Image and Verse: The Politics of Hunger in Early-Victorian Illustrated Periodicals, in: Victorian Literature and Culture 40, 2012, 421–449; Gerrit Jasper Schenck, Monica Juneja (Hrsg.), Disaster as Image: Iconographies and Media Strategies Across Europe and Asia. Regensburg 2014. 58 Bisher keinen Niederschlag gefunden haben etwa Michel Foucaults einschlägige Ausführungen zu Nahrungspolitik und Sicherheitsregimen: Michel Foucault, Sicherheit, Territo-

22

An der Schnittstelle von Natur und Kultur

reichen Forschungen zu einer Anthropologie des Hungers, die etwa den Umgang mit Nahrungskrisen in nicht-europäischen Gesellschaften in den Blick nimmt.59 Umgekehrt gilt, dass die moderne Hungerforschung Vielfalt und Potential vormoderner Krisen durchweg unterschätzt. Vermutungen, dass zivilgesellschaftliches Engagement, Opferdiskurse oder die mediale Vermittlung allein die modernen Hungerereignisse kennzeichnen, sind ebenso häufig anzutreffen, wie die Vorstellung, dass frühere Krisen primär religiös bewältigt wurden.60 Dass vormoderne Katastrophen die technizistischen Verengungen der Hochmoderne aber nicht einfach religiös spiegeln, sondern in ihrer Pluralität von Deutungen und Praktiken eher Vergleiche mit der post-modernen Gegenwart erlauben, wird bisher kaum wahrgenommen.61 Forschungen zur europäischen Hungersnot 1770–1772 selbst existieren bisher nur in Ansätzen. In Handbüchern fehlt oft jeglicher Verweis auf dieses Ereignis, obwohl es weit mehr Menschenleben forderte als die Kriege des 18. Jahrhunderts.62 Da die Not die politischen und kulturellen Eliten nur bedingt betraf, unterschätzen die vielen Forschungen zu diesen Gruppen das Ausmaß der Krise. Hinzu tritt, dass die Klimaanomalie der 1770er Jahre nicht auf einen klar zu identifizierenden, singulären Auslöser zurückzuführen ist. Während das ›Jahr ohne Sommer‹ 1816, das durch den Ausbruch des Vulkans Tambora verursacht wurde, viel Aufmerksamkeit gefunden hat, sperrt sich die weniger spektakuläre Anomalie der Hydro­ sphäre der 1770er Jahre gegen klassische Katastrophennarrative. Tatsächlich trafen solche mehrjährigen Schwankungen die betroffenen Gesellschaften aber weit härter und häufiger als kurze, vulkanische Extreme. Klimahistoriker haben die Krise der 1770er daher zu Recht als Testfeld für die Interaktion klimatischer und sozialer ›Vulnerabilität‹ identifiziert.63 Die letzte größere Studie zur Hungerkrise 1770–1772 in Zentraleuropa entstand vor mehr als 40 Jahren noch aus demographiegeleiteter Perspektive.64 Seither rium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernmentalität I. Frankfurt a. M. 2004, 52–79. Gleiches gilt weitgehend für die Verknüpfung von Nahrung und Herrschaft, in: Kaplan, Bread. 59 Sharman Apt Russell, Hunger. An Unnatural History. Cambride (MA) 2005; Spittler, Handeln; Scott, Moral Economy. 60 Etwa in Vernon, Hunger. 61 Cornel Zwierlein, Return to Premodern Times? – Contemporary Security Studies, the Early Modern Holy Roman Empire, and Coping with Achronies, in: German Studies Review 38, 2015, 373–392. 62 Ausnahmen bilden die Überblickswerke von Christof Dipper, Deutsche Geschichte 1648–1789 (Moderne Deutsche Geschichte 3). Frankfurt a. M. 1991 sowie Barbara Stollberg-­ Rilinger, Europa im Jahrhundert der Aufklärung. Stuttgart 2006, die die Epoche als »Jahrhundert des Hungers« analysiert. 63 Pfister, Brázdil, Social Vulnerability. 64 Abel, Hungerkrisen, 191–257. Die Studie spart Umweltfaktoren vollständig aus und ordnet das Geschehen im Reich eng in das Konzept der »Krise des Alten Typs« ein. Sie bietet jedoch bereits eine aufschlussreiche Synthese von quantitativen und qualitativen Quellen. Eine zweite Arbeit aus der historischen Demographie identifizierte die europäische Reichweite der

Forschungsstand

23

haben sich verschiedene kleinere Arbeiten weitgehend auf drei Teilbereiche konzentriert: die Maßnahmen der Obrigkeiten, die Hungerproteste und die Debatte um den Freihandel. Das erste Feld, die obrigkeitlichen Krisenvorkehrungen, wurde vor allem von der regionalgeschichtlichen Forschung aufgegriffen.65 Hinzu kommen einige übergreifende Arbeiten, welche die Rolle der Reichskreise, die Existenz eines herrschaftlichen ›Maßnahmenkanons‹ sowie die obrigkeitliche Instrumentalisierung der Figur des ›Kornjuden‹ oder das Narrativ des ›Hungerkomplotts‹ thematisieren.66 Hier fehlt jedoch durchweg eine Ergänzung der normativ-obrigKrise, griff dazu allerdings auf extrem aggregiertes und mittlerweile veraltetes Datenmaterial zurück. John Dexter Post, The Mortality Crisis of the Early 1770s and European Demographic Trends, in: Journal of Interdisciplinary History 12, 1990, 29–62. 65 Erika Weinzierl-Fischer, Die Bekämpfung der Hungersnot in Böhmen 1770–1772 durch Maria Theresia und Joseph II., in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 7, 1954, 478– 514; Fritz Blaich, Die wirtschaftspolitische Tätigkeit der Kommission zur Bekämpfung der Hungersnot in Böhmen und Mähren 1771–1772, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 56, 1969, 299–331; Markus Mattmüller, Die Hungersnot der Jahre 1770/71 in der Basler Landschaft, in: Nicolai Bernhard, Quirinus Reichen (Hrsg.), Gesellschaft und Gesellschaften. Festschrift zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Ulrich Im Hof. Bern 1982, 271–291; Werner Freitag, Krisen vom »type ancien«. Eine Fallstudie. Die Grafschaft Lippe 1770–1773, in: Lippische Mitteilungen 55, 1986, 97–139; Clemens Zimmermann, »Noth und Theuerung« im badischen Unterland. Reformkurs und Krisenmanagement unter dem aufgeklärten Absolutismus, in: Aufklärung 2, 1987, 95–119; Ders., Hunger als administrative Herausforderung. Das Beispiel Württembergs, 1770–1847, in: Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 7, 1995, 19–42; Frank Göttmann, Die Versorgungslage in Überlingen zur Zeit der Hungerkrise 1770/71, in: Ders. (Hrsg.), Vermischtes zur neueren Sozial-, Bevölkerungs- und Wirtschaftsgeschichte des Bodenseeraumes. Horst Rabe zum Sechzigsten. Konstanz 1990, 75–134; Georg Schmidt, »Libertas commerciorum« or »Moral Economy«? The Austrian Vorlande in the Famine of the 1770s, in: Charles W. Ingrao (Hrsg.), State and Society in Early Modern Austria. West Lafayette (IN) 1994, 252–272; Rudolf Brázdil u. a., Die Hungerjahre 1770–1772 in den böhmischen Ländern. Verlauf, meteorologische Ursachen und Auswirkungen, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 12, 2001, 44–78; Helmut Rankl, Die bayerische Politik in der europäischen Hungerkrise 1770–1773, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 68, 2005, 745–779; Britta Schneider, Wo der getreidt-Mangel Tag für Tag grösser, und bedenklicher werden will. Die Teuerung der Jahre 1770 bis 1772 im Hochstift Bamberg, in: Mark Häberlein, Kerstin Kech, Johannes Staudenmaier (Hrsg.), Bamberg in der Frühen Neuzeit. Neue Beiträge zur Geschichte von Stadt und Hochstift. Bamberg 2008, 261–292. Drei ältere Dissertationen beschränken sich ebenfalls auf die Obrigkeiten: Elisabeth Vogt, Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der fürstbischöflichen Regierung in Würzburg gegen die Getreideteuerung der Jahre 1770–1772. Diss. Würzburg 1921; Josef Kumpfmüller, Die Hungersnot von 1770 in Österreich. Diss. Wien 1969; Antonie Derflinger [verh. Wartburg], Die große Getreideteuerung 1770–1774 in Salzburg. Diss. Salzburg [1945]. 66 Ferdinand Magen, Reichsexekutive und regionale Selbstverwaltung im späten 18. Jahrhundert. Zur Funktion und Bedeutung der süd- und westdeutschen Reichskreise bei der Handelsregulierung im Reich aus Anlass der Hungerkrise von 1770/72 (Historische Forschungen 48). Berlin 1992; Michael Huhn, Zwischen Teuerungspolitik und Freiheit des Getreidehandels. Staatliche und städtische Maßnahmen 1770–1847, in: Hans Jürgen Teuteberg (Hrsg.), Durchbruch zum modernen Massenkonsum. Lebensmittelmärkte und Lebensmittelqualität im Städtewachstum des Industriezeitalters. Münster 1987, 37–89; Manfred Gailus, Die Erfindung des »Korn-Juden«. Zur Erfindung eines antijüdischen Feindbildes des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in:

24

An der Schnittstelle von Natur und Kultur

keitlichen Ebene durch die Untersuchung der zeitgenössischen Praktiken. Ein zweites Feld bildet seit der Protestforschung der 1980er Jahre die Auseinandersetzung mit E.P. Thompsons Konzept der moral economy. In Abgrenzung von Frankreich und England vermutete man einen deutschen Sonderweg der Verrechtlichung oder eine »moralische Ökonomie von oben« zu erkennen, die in paternalistischer Befriedung resultierten.67 Diese Interpretation ging jedoch auf Defizite in der Auswertung von Kriminal- und Gerichtsakten zurück. Jüngere Analysen haben auch im Reichsgebiet zahlreiche Hungerproteste nachgewiesen, die 1770–1772 einen Höhepunkt erreichten.68 In der Folge hat man insbesondere das ›soziale Königtum‹ Friedrichs II. von Preußen in der Hungerkrise einer Neubewertung unterzogen.69 Das dritte Analysefeld bildet die beginnende Freihandelsdiskussion der 1770er Jahre. Die Interpretation der Hungerkrise als ideengeschichtlichem Zündfunken wirtschaftlicher Liberalisierung ist jedoch angesichts des praktischen Scheiterns der physiokratischen Experimente zunehmend hinterfragt worden. Anstatt als Wendepunkt interpretiert man diesen Zeitraum nun als Laboratorium neuer ökonomischer Ideen.70 Jenseits dieser drei Teilbereiche existieren für die Hungerjahre um 1771 die gleichen Desiderate wie bei der Erforschung vormoderner Hungerereignisse insgesamt. Dies gilt etwa für die Erforschung der außereuropäischen Schauplätze der Klimaanomalie.71 Zudem sind neben den Erkenntnissen der jüngeren Klima- und der Hungerforschung auch die Kultur-, Umwelt- und Katastrophengeschichte bisher kaum berücksichtigt worden. Gleiches gilt für die rege Policey-, KriminaliHistorische Zeitschrift 272, 2001, 597–622; Steven Kaplan, The Famine Plot Persuasion in Eighteenth-Century Paris, in: Transactions of the American Philosophical Society 72, 1982, 1–79. 67 Medick, Teuerung; Heinz-Dietrich Löwe, Teuerungsrevolten, Teuerungspolitik und Marktregulierung im 18. Jahrhundert in England, Frankreich und Deutschland, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 37, 1986, 291–312; Georg Schmidt, Die frühneuzeitlichen Hungerrevolten. Soziale Konflikte und Wirtschaftspolitik im Alten Reich, in: Zeitschrift für historische Forschung 18, 1991, 257–280. 68 Odenwälder, Nahrungsproteste. 69 Ulrich Kluge, Hunger, Armut und soziale Devianz im 18. Jahrhundert. Hungerkrisen, Randgruppen und absolutistischer Staat in Preußen, in: Freiburger Universitätsblätter 26, 1987, 61–91, hier 65; Dominik Collet, Storage and Starvation. Public Granaries as Agents of ›Food Security‹ in Early Modern Europe, in: Historical Social Research/Historische Sozialforschung 35, 2010, 234–253. 70 Schmidt, Libertas; Rolf Graber, Protektionistische Marktsteuerung oder physiokratische Freihandelsdoktrin? Zum Verhalten städtischer Obrigkeiten der Alten Eidgenossenschaft während der Hungerkrise 1770/72, in: Michael Fischer u. a. (Hrsg.): Aufklärung, Freimaurerei und Demokratie im Diskurs der Moderne. Festschrift zum 60. Geburtstag von Helmut Reinalter. Frankfurt a. M. u. a. 2003, 123–142. 71 Studien existieren bisher nur zu Bengalen: David Arnold, Hunger in the Garden of Plenty. The Bengal Famine of 1770, in: Alessa Johns (Hrsg.), Dreadful Visitations. Confronting Natural Catastrophe in the Age of Enlightenment. New York 1999, 81–112; Vinita Damodaran, Famine in Bengal. A Comparison of the 1770 Famine in Bengal and the 1897 Famine in Chotanagpur, in: The Medieval History Journal 10, 2007, 143–181.

25

Quellen

täts- und Migrationsforschung zur Frühen Neuzeit. Methodische Impulse kamen lediglich aus der Klima- und Kommunikationsgeschichte.72 Über die Handlungsstrategien der Betroffenen, ihre Deutung der Katastrophe oder die kulturellen Folgen der Krise ist daher ebenso wenig bekannt, wie über das konkrete Ineinandergreifen von Klima und Kultur.

2. Quellen Eine Hungersnot zu erleben, gehört zu den stärksten Schreibanlässen überhaupt. Bereits in den ältesten Schriftstücken stehen Hungersnöte gleichberechtigt neben Kriegen und Krönungen. Einige der frühesten Texte der Menschheit beschäftigen sich mit diesen Schlüsselereignissen.73 Im Europa des späten 18. Jahrhunderts umfasst die Überlieferung Zeugnisse aus allen gesellschaftlichen Schichten. Dies geht nicht nur auf die mit der Aufklärung gestiegene Schreibfähigkeit zurück. Es reflektiert auch, dass eine Hungersnot eine Extremerfahrung bildete, die alle Gruppen der Gesellschaft betraf. Fürsten und Verwaltungen fühlten sich ebenso dazu gedrängt, Stellung zu nehmen, wie die unmittelbar betroffenen ›kleinen Leute‹ oder auswärtige Beobachter. Die Regierungen der Katastrophengebiete beschäftigten sich in dieser Zeit nahezu ausschließlich mit der Notsituation. Auch in der Presse, der Gelehrtenwelt oder der privaten Korrespondenz dominierte der Hunger die Agenda. Für Zentraleuropa ist die Hungerkrise 1770–1772 daher außerordentlich gut dokumentiert. Dies gilt auch für die äußere, naturale Seite der Hungersnot. Obwohl es sich um eine vormoderne Krise handelt, liegen bereits eine Reihe direkter meteorologischer Messungen vor. Viele instrumentelle Messreihen begannen in unmittelbarer Reaktion auf die Witterungsanomalie.74 Daneben existieren indirekte ›­Proxy‹-Daten. Sie stammen sowohl aus den ›Archiven der Natur‹ als auch aus den ›Archiven der Gesellschaft‹. Im ersteren Fall bieten sich vor allem Baumringe an, die anders als Speläotheme (Tropfsteine) oder Eisbohrkerne eine hohe zeitliche und räumliche Auflösung erreichen. Im letzteren Fall handelt es sich etwa um Wettertagebücher oder phänologische Daten von Blüh- und Erntezeiten. Infolge der fundamentalen Bedeutung der Witterung in agrarischen Gesellschaften erschei 72 Pfister, Brázdil, Social Vulnerability, überprüfen mit dem Vulnerabilitäts-Konzept die Wetterrekonstruktionen der Autoren auf soziale ›Impacts‹ und liefern trotz der noch lückenhaften Forschungslage wichtige methodische Impulse. Zur Kommunikationsgeschichte: Clemens Zimmermann, »Krisenkommunikation«. Modellbildung und das empirische Beispiel der Teuerungskrisen 1770/72, 1816/17, 1845/46 im südwestdeutschen Raum, in: Carla Meyer, Katja Patzel-Mattern, Gerrit Jasper Schenck (Hrsg.), Krisengeschichte(n). »Krise« als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Stuttgart 2013, 387–406. 73 Russell, Hunger, 15. 74 Vgl. Kap. II.2.2.und IV.4.3.

26

An der Schnittstelle von Natur und Kultur

nen sie in zahlreichen Quellengattungen, etwa in Anschreibebüchern, Kalendern, Korrespondenzen, Zeitschriften oder Predigten.75 Die witterungsrelevanten Aussagen liegen teilweise in historisch-klimatologischen Datenbanken aggregiert vor.76 In der Zusammenführung erlauben natürliche und historische Klimadaten eine präzise Rekonstruktion des Witterungsverlaufs der drei ›Wasserjahre‹ 1770–1772. Sie reicht von den Luftdruckverhältnissen bis zur weitgehend tagesgenauen Datierung von Ereignissen wie Kältewellen, Starkregen, Überschwemmungen oder dem Durchzug von Schneefronten.77 Die innere, soziale Seite der Hungersnot ist in Zentraleuropa ebenfalls in einem breiten Ensemble historischer Zeugnisse greifbar. Die Maßnahmen der weltlichen Obrigkeiten sind in umfangreichen Verwaltungsakten dokumentiert. Der drohende Legitimationsverlust in der Krise motivierte die Regierungen überall zu hektischem Aktionismus. In vielen Territorien setzten Fürsten hochrangige Getreide- oder Frucht-Deputationen ein.78 Der Umfang dieser Unterlagen reflektiert zum einen die Komplexität des Nahrungssystems mit seiner Vielzahl beteiligter Akteure. Zum anderen diente die detaillierte Dokumentation den Verfassern auch als Selbstschutz in einer potentiell explosiven Situation. Die Reaktion der geistlichen Autoritäten ist zusätzlich in Form von Predigttexten oder Gebeten dokumentiert. Sie reagiert in ihrer Breite auch auf die Herausforderung durch säkulare Deutungsmuster.79 Gemeinsam erlauben diese Aufzeichnungen einen detaillierten Blick auf die normativen Vorgaben der Obrigkeiten. Andere Quellen schildern die Katastrophe aus der Perspektive der Untertanen. Im schreibbegeisterten 18. Jahrhundert notierten auch viele ›kleine Leute‹ ihre Hungererlebnisse in Tagebüchern und Lebensbeschreibungen. Dazu gehörten etwa der Soldat Johann Heinrich Ludewig Grotehenn, der Kleinbauer Ulrich Bräker oder der sorbische Bauernsohn Hanso Nepila, dessen außergewöhnliche Aufzeichnungen die Hungerjahre aus der Sicht eines Kindes dokumentieren.80 Die Perspektive der Betroffenen ist auch in zahlreichen Supplikationen, Kriminal­akten, 75 Für eine ausführliche Abwägung der Aussagekraft der verschiedenen Archive vgl. Kap. I.2. 76 Für Zentraleuropa sind die von Christian Pfister (www.euroclimhist.unibe.ch/) und Rüdiger Glaser (Tambora.org) initiierten Datenbanken relevant. Letzte umfasst auch das Material, dass im CLIMDAT-Projekt für Sachsen erhoben wurde (vgl. Stefan Militzer, Klima, Mensch, Umwelt (1500–1800). Studien und Quellen zur Bedeutung von Klima und Witterung in der vorindustriellen Gesellschaft. Unpubl. Abschlussbericht zum DFG-Projekt MI-493). 77 Vgl. Kap. II.2.1. 78 Vgl. Kap. IV.1.2. 79 Vgl. Kap. III.2. 80 Johann Heinrich Ludewig Grotehenn, Briefe aus dem Siebenjährigen Krieg, Lebensbeschreibung und Tagebuch. Hrsg. von Sven Petersen, Marian Füssel. Potsdam 2012; Ulrich Bräker, Sämtliche Schriften, Bd. 1 (Tagebücher 1769–1778). Bearbeitet von Alfred Messerli und Andreas Bürgi. München 1998; Peter Milan Jahn, Vom Roboter zum Schulpropheten. Hanso Nepila (1766–1856). Mikrohistorische Studien zu Leben und Werk eines wendischen Fronarbeiters und Schriftstellers aus Rohne in der Standesherrschaft Muskau. Bautzen 2010.

Quellen

27

Liedern und einigen Flugschriften überliefert. Implizit wird sie auch in ihrem Handeln deutlich, das obrigkeitliche Vorgaben immer wieder unterlief. Damit ermöglicht die Krise sowohl einen Blick auf die Wahrnehmung als auch auf die Praktiken der Untertanen – insbesondere im Bereich der sonst kaum dokumentierten ›Überlebensökonomie‹. Die gelehrte Debatte ist in der reichen zeitgenössischen ›Teuerungsliteratur‹ greifbar. Die rege Diskussion um göttliche, menschliche und natürliche Ursachen der Not sowie um religiöse, soziale und ökonomische ›Lösungen‹ fand europaweit vernetzt statt. Sie wurde in der Umbruchphase der Mensch-Umwelt-Beziehungen um 1800 besonders kontrovers geführt und umfasst mehrere hundert Publikationen, die noch durch zahlreiche Preisschriften sowie Beiträge in gelehrten Zeitschriften und Magazinen ergänzt werden.81 Neben diesen qualitativen Zeugnissen existieren serielle Quellen, die auch eine quantitative Auswertung möglich machen. Dazu gehören Verzeichnisse der Preise und Löhne, der Steuern und Abgaben, der Erntemengen sowie der Vitaldaten, wie Geburten, Hochzeiten und Sterbefälle. Sie dokumentieren den demographisch-ökonomischen Rahmen der Hungerkrise, weisen jedoch einige krisenbedingte Lücken auf.82 Diese Schriftquellen werden zudem durch Zeugnisse der materiellen Kultur ergänzt. Die Gewalt der Hungerkrise visualisierte und memorierte man in Gemälden, Votivtafeln, Grab- und Denkmälern.83 In der Extremsituation der Hungersnot entstanden zudem eigene Quellenformen. Dazu zählen in der Krise erscheinende ›Hungerzeitschriften‹, die nun im Rahmen der expandierenden bürgerlichen Wohlfahrt publiziert wurden. Sie boten praktische Ratschläge sowie geistigen Trost an und dienten dazu, über ihren Verkaufserlös Hilfen für die Betroffenen zu finanzieren.84 Die Ausnahmesituation motivierte darüber hinaus spezifische Sachzeugnisse, darunter dutzende Hungermünzen mit memorativem, politischem oder antijüdischem Charakter.85 In der Zusammenschau ermöglicht diese breite Überlieferungslage eine Perspektive, die neben der normativen Ebene auch die Praxis in den Blick nimmt und das menschliche Handeln mit den materiellen Rahmenbedingungen verknüpft. 81 Einen Überblick bietet: Julius von Soden, Die annonarische Gesetzgebung. Versuch eines Systems über den Getraidhandel und die Gesetze, nach welchen die Staatsverwaltung in Absicht des Getraides zu handeln hat. Nebst einer annonarischen Bibliothek. Nürnberg 1828. 82 Anders als für Frankreich oder England existieren für das Reich in seiner proto-statistischen Phase (1740–1800) nur lokale Aufzeichnungen von Geburten und Todesfällen, die in der Aggregation zudem starke regionale und soziale Verzerrungen aufweisen. Vgl. Ulrich Pfister, Georg Fertig, The Population History of Germany. Research Strategy and Preliminary Results, in: Max Planck Institut for Democraphic Research Working paper, http://www.demogr.mpg.de/ papers/working/wp-2010–035.pdf [13.5.2015]. Zur begrenzten Validität krisengebundener Preisund Erntedaten vgl. Kap. II.3.1–2. 83 Vgl. Kap. V.2. 84 Vgl. Kap. IV.5.2. 85 Vgl. Kap. V.2.

28

An der Schnittstelle von Natur und Kultur

Mit der dichten, krisengebundenen Überlieferung sind jedoch auch quellenkritische Herausforderungen verbunden. Die weitgehend ungeprüfte Übernahme historischer Aussagen als Fakten durch weite Teile der Paläoklima- und Kata­ strophenforschung ist zu Recht kritisiert worden.86 So dokumentiert die obrigkeitliche Überlieferung in Krisenzeiten vor allem normative Vorgaben. Die tatsächliche Durchsetzungskraft der Verordnungen während der Extremsituation blieb jedoch oft gering. Dies belegen schon die ständig notwendigen Wiederholungen der Erlasse. Die dichte Überlieferung illustriert hier weniger die Tatkraft der Verwaltungen als vielmehr ihre faktische Ohnmacht. Die ostentativen Schilderungen von Emotionen in zeitgenössischen Dokumenten verlangt ebenfalls nach Kontextualisierung. Im Zuge der affective revolution dieser Jahre spiegeln sie nicht einfach das Innenleben der Betroffenen wider, sondern reagieren auf die Normierung und Nutzung von Gefühlen. Die häufig sehr emotionale Quellensprache reflektiert nicht einfach das Ausmaß der Not, sie muss vielmehr als komplexe soziale Praxis verstanden werden.87 Überall erfordern die in Krisenzeiten geschärften strategischen, symbolischen und legitimatorischen Funktionen der Quellen eine sorgfältige und kritische Einordnung der Texte. Auch die seriellen Quellen müssen sorgfältig geprüft werden. Ihre Auswertung erfolgt bisher zumeist im Hinblick auf lange Reihen und verdeckt daher oft die Extreme. In bestehenden Datensätzen werden vermeintliche Ausreißer häufig geglättet und fehlende Angaben aus den überlieferten Normalzeiten extrapoliert. Dies gilt für Klimamodelle ebenso wie für Preisreihen und demographische Daten. In der Aggregation geht häufig verloren, dass gerade Krisenzeiten gravierende und typische Lücken verursachen – etwa in der Erfassung der Toten, der Bilanzierung des Marktgeschehens oder der Witterungsbeobachtung. Dies führt nicht nur dazu, dass Extremereignisse in ihrer Tragweite unterschätzt, sondern auch in ihrer spezifischen Charakteristik und Kontingenz verkannt werden. Nicht zuletzt unterliegen auch serielle Aufzeichnungen kulturellen Prägungen. Die Verschriftlichung extremer Wetterereignisse ist ebenso durch topische Formulierungen geprägt wie die Dokumentation von Ernteausfällen oder die Benennung des Krankheits­ geschehens. Was hier als bedeutend, außergewöhnlich oder normal galt, lässt sich erst vor dem Hintergrund der einzelnen Verfasser beurteilen.88 Die sonst in der Historischen Klimatologie übliche Indexierung und Serialisierung der Rahmendaten stößt hier an ihre Grenzen. Aus diesem Grund wird im Folgenden bewusst auf die quantifizierende Darstellung des Geschehens verzichtet, die riskiert, die 86 Vgl. Maximilian Schuh, Umweltbeobachtungen oder Ausreden? Das Wetter und seine Auswirkungen in den grundherrlichen Rechnungen des Bischofs von Winchester im 14. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Historische Forschung 43, 2016, 445–471. 87 Dominik Collet, Mitleid machen. Die Nutzung von Emotionen in der Hungersnot 1770– 1772, in: Historische Anthropologie. Kultur – Gesellschaft – Alltag 23, 2015, 54–69. 88 Mauelshagen, Klimageschichte, 18. Zur Kritik an der preisgeschichtlichen Forschung mit ihren aggregierten ›Kornlöhnen‹ und Realeinkommen vgl. Hippel, Armut, 61 f.

Quellen

29

konstitutiven Unsicherheiten und die spezifischen Logiken einer Katastrophensituation zu verdecken. Die relative Vielfalt der Quellen in Notzeiten darf zudem nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Überlieferung einige aufschlussreiche Lücken existieren. Die größten Leerstellen bestehen im Handeln der Untertanen. Ihre informelle Überlebensökonomie hinterließ wenig Spuren. Teilweise bewegte sie sich in einem semi-legalen Graubereich. Beim Rückgriff auf Notnahrung, Schmuggel, Tumult, Wilderei oder Migration lag es daher sogar im Interesse der Akteure, möglichst wenige Fährten zu hinterlassen. Gleiches galt für die in vielen sozialen Gruppen verbreitete Spekulation mit Lebensmitteln. Dass hier kaum einschlägige Dokumente überliefert sind, darf nicht mit dem Ausbleiben solcher Schattenökonomien oder Wucherpraktiken verwechselt werden.89 Schließlich fehlt in den Quellen die Stimme der Verstorbenen. Die Hunderttausende, die in den Notjahren Hunger oder Krankheiten zum Opfer gefallen sind, bleiben zwangsläufig stumm. Diese gewaltige Lücke wird noch dadurch vergrößert, dass der konkrete Hungertod weitgehend tabuisiert blieb. Dazu existieren kaum Aufzeichnungen und nahezu keine Abbildungen. Eine solche Extremerfahrung können Angehörige und Beobachter auch heute nur schwer in Worte fassen. Die damaligen Betroffenen griffen zumeist auf die etablierte christliche Leidenstopik zurück. Sie diente dazu, die Not verständlich zu machen und religiös einzuhegen. Überall lag es im wohlverstandenen Eigeninteresse der betroffenen Gesellschaften, das Fortbestehen, die empfangenen Hilfen und die Zukunft stärker zu thematisieren als den Tod. Die Perspektive der Quellen ist daher immer diejenige der Überlebenden.90 Berücksichtigt man diese Herausforderungen, steht eine außergewöhnlich dichte Überlieferung zur Verfügung. Sie geht in Umfang und Qualität deutlich über die Dokumentation anderer vormoderner Hungerereignisse, etwa in den 1570er oder 1690er Jahren, hinaus. In ihrer Breite und Güte bietet sie eine belastbare Grundlage für die Untersuchung der Verflechtung von Klima, Kultur und Katastrophe.

89 Prass, Agrargeschichte, 50. Helmut Bräuer, Reflexionen über den Hunger im Erzgebirge um 1700, in: Manfred Hettling u. a. (Hrsg.), Figuren und Strukturen. Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag. München 2002, 225–239, hier 238. 90 Zum ›Phönix-Effekt‹, der Ausblick und Wahrnehmung der Überlebenden prägt, vgl. Parker, Crisis, 590.

30

An der Schnittstelle von Natur und Kultur

3.  Vulnerabilität – Zugang, Methode, Gliederung Diese Arbeit nimmt die Hungersnot der frühen 1770er Jahre aus einer umwelt­ geschichtlichen Perspektive in den Blick. Hunger wird dabei als zentrales Problem verstanden, das verwundbare Gesellschaften umfassend prägt. Die Studie untersucht das Geschehen als sozionaturales Schlüsselereignis, als Laboratorium religiöser und säkularer Vorstellungen sowie als Katalysator ökonomischen, sozialen und politischen Wandels. Ausgehend von den Überlegungen der Historischen Katastrophenforschung umfasst die Analyse nicht nur die Ebene der Handlungsangebote, sondern auch die der Handlungspraxis. Im Anschluss an die Umwelt­geschichte werden naturale Umwelt und menschliches Handeln, Diskurse und materielle Praktiken als eng miteinander verflochtene Sphären verstanden. Um diese Ko-Entwicklungen greifbar zu machen, wurde für die Untersuchung ein Zugang »aus der Nähe« gewählt.91 Gerade in der Klimageschichte sind bisher oft weitreichende Synthesen großer zeitlicher, geographischer und ökologischer Räume üblich. Im Zentrum dieser Arbeit steht hingegen die zeitlich hochauflösende Untersuchung kleinerer Räume (small scale, high-resolution approach), die Verflechtungen mit menschlichen Wahrnehmungs- und Handlungsräumen greifbar macht. Die Analyse fokussiert daher auf eine einzelne Krise. Aus der Vielzahl vormoderner Extremereignisse wählt sie zudem eine besonders gut dokumentierte Hungersnot, ein Vorgehen, das die Umweltforschung als ›best-data‹-Ansatz konzipiert.92 Für die Hungerkrise 1770–1772 erlaubt die Qualität der Natur- und Gesellschaftsarchive einen hochauflösenden Zugriff sowohl im Bereich der naturalen Impulse (tägliche Wetterdaten) als auch im Feld des sozialen Handelns (lokale Mikrostudien). Der gewählte Zugang aus der Nähe motiviert zudem räumliche Beschränkungen. Umweltereignisse orientieren sich nicht an politischen Grenzen. Daraus folgen vielfach programmatische Grenzüberschreitungen und vergleichende Fragestellungen.93 Trotz der transkontinentalen Reichweite der Klimaanomalie konzentriert sich diese Arbeit jedoch auf den Raum mit der besten Dokumentation. Dazu zählt Zentraleuropa und hier vor allem das Heilige Römische Reich mit den angrenzenden Gebieten. In diesem Raum erlaubt die gute Überlieferung kleinräumige Fallstudien, in denen Umweltimpulse mit Deutungsmustern und Praktiken verknüpft werden können. Für außereuropäische Regionen lässt die lückenhafte Datenlage eine vergleichbar detaillierte Analyse bisher nicht zu. Sie werden jedoch in Ausblicken herangezogen – nicht zuletzt, weil etwa die zeitgleichen Hungerkrisen in Indien und Europa schon von den Zeitgenossen miteinander verglichen 91 Exemplarisch für diesen Ansatz: Benigna von Krusenstjern, Hans Medick (Hrsg.), Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe. Göttingen 1999. 92 Krämer, Menschen, 96. 93 John R. McNeill, Erin Stewart Mauldin, Global Environmental History. An Introduction, in: Dies. (Hrsg.), A Companion to Global Environmental History. Chichester 2012, XVI–XXIV.

Vulnerabilität – Zugang, Methode, Gliederung

31

wurden. Erst diese zeitlichen und räumlichen Beschränkungen machen eine Verflechtung von naturalen Impulsen mit den Praktiken der Akteure möglich, die über eine reine Prozess- und Strukturgeschichte oder simple umweltdeterministische Korrelationen hinausgeht.94 Der dichte, historisierende Zugang erstreckt sich auch auf die Lexik. Begriffe wie Hungersnot, Famine oder Disette wirken bis heute hochemotional. Gleichzeitig ist die Definition einer Hungersnot historisch starken Schwankungen unterworfen. Ob als Indikator der Brotpreis, die zur Verfügung stehende Kalorienzahl oder das Ausmaß der Kindersterblichkeit gewählt wird, dokumentiert den Wandel gesellschaftlicher Prioritäten.95 Gleiches gilt für den Klimabegriff, der im 18. Jahrhundert noch stark auf den Menschen bezogen war, während er heute einen abstrakten, zumeist 30jährigen Mittelwert bezeichnet, der nicht mehr direkt wahrgenommen werden kann.96 Mit seiner unreflektierten, anachronistischen Benutzung droht man historische Ereignisse allein auf die Vorgeschichte der aktuellen Problem­ lagen durch den Klimawandel zu reduzieren.97 Die Arbeit orientiert sich daher an den historischen Bezeichnungen, die mit ihren Abstufungen von »Teuerung« bis »Hungersnot« die zeitgenössischen Wahrnehmungen und Ursachenzuschreibungen widerspiegeln. Dies gilt zumal, da in Hungerkrisen als langsamen Katastrophen der kommunikativen Ebene eine zentrale Rolle zukommt. Ihr Beginn und ihr Ende stehen nicht fest, sondern müssen erst ausgerufen werden. Dabei kann das Reden über eine Hungersnot den Mangel noch verschärfen oder sogar erst hervorrufen (etwa über Gerüchte oder Spekulation). Wer wann und in welchen Begriffen von einer Hungersnot spricht, welche Absichten er verfolgt und wer in der Lage ist, das Naturgeschehen als Hungersnot zu definieren, ist daher Teil der Untersuchung. Wo der Begriff abstrakt verwendet wird, folgt er der breiten Definition Cormac Ó’Grádas und bezeichnet den »Mangel an Nahrung oder Zugangsrechten, der direkt zu Übersterblichkeit aufgrund von Hunger oder durch Hunger verursachte Krankheiten führt.«98 Die Begrenzung auf ein einzelnes Extremereignis birgt Vor- und Nachteile. Der höheren Aussagekraft steht eine möglicherweise limitierte Reichweite der 94 Die Globalgeschichten zu den sozionaturalen Krisen des Holozäns, des 17. Jahrhunderts, zu 1816/17 und den 1890er Jahren leiden genau an dieser Problematik. John L. Brooke, Climate Change and the Course of Global History. A Rough Journey. New York 2014; Gillen D’Arcy Wood, Tambora. The Eruption That Changed the World. Princeton 2013; Behringer, Tambora; Davis, Holocausts. Vgl. etwa die Kritik an den durch die globale Perspektive entstehenden argumentativen Unschärfen in Parker, Crisis durch Paul Warde, Global Crisis or Global Coincidence, in: Past & Present 228, 2015, 287–301. 95 Einen Überblick über historische Definitionen und Indikatoren bietet: Krämer, Menschen, 97–107. 96 Franz Mauelshagen, Ein neues Klima im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 10, 2016, 39–58. 97 Hulme, Future. 98 Ó’Gráda, Famine, 4.

32

An der Schnittstelle von Natur und Kultur

Erkenntnisse gegenüber. Hungersnöte stellen aber nur aus moderner Perspektive seltene Ereignisse dar. Vormoderne Gesellschaften trafen sie in weit höherer Frequenz. In Zentraleuropa ereigneten sich Missernten im Durchschnitt alle vier Jahre. Größere Nahrungskrisen mit deutlicher Übersterblichkeit durchlebte nahezu jede Generation.99 Ihre Auswirkungen auf Agrarsysteme, Naturvorstellungen und Kulturpraktiken weisen daher weit über das akute Geschehen hinaus. Als langsame Katastrophen sperren sich Hungerkrisen zudem gegen einen allein auf das Ereignis fokussierten Zugang. Schon das Geschehen selbst entwickelt sich über Jahre hinweg, seine Wurzeln reichen aber viel weiter zurück. Sie liegen in verwundbaren Agrarsystemen und sozialer Ungleichheit, die sich lange vor der Not entwickeln und als ›gebaute Umwelt‹ die Katastrophe präfigurieren.100 Die Analyse umfasst daher notwendigerweise den historischen Kontext mit seinen sozioökologischen Arrangements und die lange Nachwirkung der Extremerfahrung. Die Untersuchung versteht die Hungerjahre als Zeit der ›Krise‹. Sie bildet eine offene Situation, in der sich frühere Strukturen zeitweise auflösen und in der unterschiedliche Verläufe möglich sind.101 Zu den Vorteilen eines solchen Zugriffs gehört, dass außergewöhnliche Ereignisse das Potential besitzen, sonst verborgene oder kaum greifbare Entwicklungen schlaglichtartig zu erhellen. Angesichts der in Hungersnöten prononcierten sozialen Asymmetrien gilt dies in Anlehnung an Carlo Ginzburg gerade dort, wo »die Quellen die soziale Realität der subalternen Klassen systematisch verschweigen und deformieren«.102 Hier kann der Blick auf ein einzelnes Extremereignis viel aussagekräftiger sein als hunderte normierter Zeugnisse. In diesem Sinne lassen sich Hungerkrisen als ›normaler Ausnahmefall‹ vormoderner Gesellschaften verstehen, dessen Sprengkraft verborgene Routinen offenlegt und aufbricht.103 Um die Vielfalt der Wechselwirkungen von Mensch und Natur aufzufächern, sind vielfach Stufenmodelle vorgeschlagen worden. So identifizieren Christian Pfister und Daniel Krämer Interaktionsfelder auf drei Ebenen: Die direkten biophysikalischen Impulse der Klimaanomalie auf die Landwirtschaft konzipieren sie als »first order impacts«. Die zweite Ebene umfasst die ökonomischen Folgen 99 Berhard Hendrik Slicher van Bath, Agriculture in the Vital Revolution, in: Edward Ernest Rich, Charles Henry Wilson (Hrsg.), The Cambridge Economic History of Europe, Bd. 5. Cambridge 1977, 42–132, 60 sowie: Horst Buszello, »… das solicher großer hunger und not was in dem lande allenthalb, das die welt nach verzaget worden …«. Ergebnisse einer Datenbank zu Mangeljahren und Hungersnöten am Ober- und Hochrhein in vorindustrieller Zeit (1350–1850), in: Alemannisches Jahrbuch 59/60, 2011/12, 113–145. 100 Vgl. Kap. II.1. 101 Zum Konzept der historischen Krisenforschung und den immer noch maßgeblichen Ausführungen Reinhart Kosellecks vgl. Schlögl, Hoffmann-Rehnitz, Wiebel, Krise. 102 Hans Medick, Entlegene Geschichte? Sozialgeschichte und Mikro-Historie im Blickfeld der Kulturanthropologie, in: Joachim Matthies (Hrsg.), Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs. Göttingen 1992, 167–178, hier 173, Anm. 17 103 Zum Konzept des »außergewöhnlich Normalen« vgl. ebd.

Vulnerabilität – Zugang, Methode, Gliederung

33

des veränderten Angebots an Nahrung und Biomasse. Die dritte Ebene verfolgt die Umweltimpulse auf der kulturellen Ebene. Dabei verstehen sie den direkten Einfluss der Klimafaktoren als stetig abnehmend, während sich der gesellschaftliche Handlungsspielraum von Ebene zu Ebene vergrößert.104 Ein solches Stufenmodell kann ein Gerüst bilden, das hilft, die verschiedenen Felder der Interaktion pragmatisch zu gliedern (etwa in Kapitel II.). Als analytischer Rahmen greift es jedoch zu kurz: In der Praxis lassen sich auch über die konzipierten ›Ebenen‹ hinweg bedeutende Impulse beobachten – so prägen kulturelle Deutungen etwa das Agrarsystem maßgeblich mit, während umgekehrt die Pfadabhängigkeiten der Getreidekultur alle anderen gesellschaftlichen Bereiche einhegen. Methodisch greift diese Untersuchung daher auf einen Ansatz zurück, der die tatsächlichen Verflechtungen nuancierter reflektiert: das Konzept der ›Vulnerabilität‹. In den historischen Wissenschaften wird dieser Zugang bisher kaum genutzt. Er überführt den multifaktoriellen Zugriff programmatisch in eine Forschungsperspektive. Im Kern zielt der Vulnerabilitäts-Ansatz darauf, die Verflechtungen mehrerer ›Stressoren‹ sichtbar und analysierbar zu machen. Zumeist ist damit das Wechselspiel von Mensch und Natur gemeint. Er wird in diesem Sinne unter anderem in der Medizin, der Ökologie, der Geographie oder der Soziologie verwandt. Im Bereich der Mensch-Umwelt-Beziehungen versteht man ›Verwundbarkeit‹ als Zusammenspiel einer Innen- und einer Außenseite, bei der externe, biophysikalische Umweltgefahren (hazards) mit internen, sozio-kulturellen Impulsen (coping capacities) der betroffenen Individuen, Gruppen oder Gemeinschaften interagieren.105 Dieser Zugriff erlaubt es, die Dichotomie von klima- und sozialdeterministischen Modellen zugunsten integrativer Erklärungsansätze zu überwinden. Zudem verfolgt das Vulnerabilitäts-Konzept einen handlungsorientierten, zukunftsoffenen und historisierenden Zugang, während verwandte Ansätze häufig in einer systemischen und statischen Perspektive verharren. So zielt etwa die Untersuchung von ›Resilienz‹, die umgangssprachlich oft als Komplementärbegriff zur ›Vulnerabilität‹ verwandt wird, auf die Fähigkeit eines Systems nach externen Schocks in einen vermeintlichen Ausgangszustand zurückzukehren. Damit fokussiert sie weniger auf Entwicklung als auf Bewahrung.106 Seine sozio 104 Krämer, Menschen, 136. 105 Hans-Georg Bohle, Michael Watts (Hrsg.) Hunger, Famine and the Space of Vulnerability, in: GeoJournal 30, 1993, 117–125. 106 Kritiker beklagen zudem, das Resilienz-Konzept übertrage Überlegungen der Biosystemlehre (Crawford Stanley Holling, Resilience and Stability of Ecological Systems, in: Annual Review of Ecology and Systematics 4, 1973, 1–23) ohne empirische Überprüfung auf menschliche Gesellschaften und klammere das konkrete Handeln der Akteure sowie Ungleichheit und Machtgefälle weitgehend aus. George C. D. Adamson, Matthew J. Hannaford, Eleonora J. Rohland, Re-thinking the Present. The Role of a Historical Focus in Climate Change Adaptation Research, in: Global Environmental Change 48, 2018, 195–205, 199; Hans Gebhardt, Das »Anthropozän«. Zur Konjunktur eines Begriffs, Heidelberger Jahrbücher Online 1, 2016, 28–40, 38. Während das Vulnerabilitäts-Konzept von Beginn an durch Handlungsorientierung gekennzeichnet war,

34

An der Schnittstelle von Natur und Kultur

naturale Spannbreite und die Offenheit für historischen Wandel unterscheiden den Vulnerabilitäts-Ansatz klar von verwandten Konzepten wie Fragilität, Persis­ tenz und Kritikalität.107 In der Geschichtswissenschaft hat sich bisher allein die Umweltgeschichte mit dem Konzept der Vulnerabilität auseinandergesetzt.108 Dabei eignet sich der Ansatz auch deshalb für eine historische Untersuchung, weil er sich dem multifaktoriellen Verständnis der Zeitgenossen wieder stärker annähert. Während für Hunger in der Hochmoderne des 19. und 20. Jahrhunderts monokausale Erklärungen dominierten, verstanden die Menschen der Frühen Neuzeit Nahrungsmangel noch als komplexes Zusammenspiel von Natur, göttlicher Vorsehung und menschlichem Versagen. Im Kontext dieser Untersuchung erfasst der Vulnerabilitäts-Zugang die vielfältigen Ursachen von Hunger, deren Überschneidung den Betroffenen Handlungsspielräume eröffnete. Da sich dieser Zugriff nicht nur auf die Makroebene von Gesellschaften oder demographischen Kohorten, sondern auch auf Individuen anwenden lässt, erfasst er zugleich die Ungleichheiten der täglichen ›Überlebenspolitik‹, etwa nach Alter und Geschlecht. Verwundbarkeit wird aus dieser Perspektive nicht als eine statische, abstrakte Messgröße konzeptioniert, sondern als historisch gewachsenes Phänomen. Sie wird lange vor der Katastrophe in Umwelt und Kultur eingeschrieben, wo sie sich in spezifischen ›built environments‹ manifestiert.109 Zudem muss Vulnerabilität in die Hungerforschung nicht erst übersetzt werden. Das Konzept wurde hier entscheidend geprägt und mitentwickelt.110 Seine Formulierung reagierte unmittelbar auf die Herausforderung der dominanten naturalen Erklärungsmodelle durch soziale Deutungsversuche in den 1980er Jahren. Ihre werden kulturwissenschaftliche Perspektiven in der Resilienz-Forschung erst noch entwickelt – etwa im Umfeld der DFG-Forschergruppe »Resilienz« in Trier: Martin Endreß, Andrea Maurer (Hrsg.), Resilienz im Sozialen. Wiesbaden 2015. 107 Fragilität, Persistenz und Kritikalität zielen (bisher) primär auf gesellschaftliche oder technische statt auf sozionaturale Felder. Vgl. Stephan Alexander Jansen, Eckhard Schröter, Nico Stehr (Hrsg.), Fragile Stabilität – stabile Fragilität. Wiesbaden 2013; Franziska Hasselmann, Kritische Infrastrukturen: Vulnerabilität, Raum und sozio-technische Komplexität. Einführung zum Themenheft, in: Geographica Helvetica 66, 2012, 74–75; Jens Ivo Engels, Alfred Nordmann (Hrsg.), Was heißt Kritikalität? Zu einem Schlüsselbegriff der Debatte um Kritische Infrastrukturen. Bielefeld 2018. 108 Greg Bankoff, Time is of the Essence. Disasters, Vulnerability and History, in: International Journal of Mass Emergencies and Disasters 22, 2004, 23–42; Brázdil, Pfister, Vulnerability; Anthony Oliver-Smith, Peru’s Five Hundred Year Earthquake. Vulnerability to Hazard in Historical Context, in: Ann Varley (Hrsg.), Disasters, Development and Environment. London 1995, 31–48. 109 Greg Bankoff, The Historical Geography of Disaster. ›Vulnerability‹ and ›Local Knowledge‹ in Western Discourse, in: Bankoff, Frerks, Hillhorst, Mapping, 25–36, hier 30. 110 Dominik Collet, Vulnerabilität als Brückenkonzept der Hungerforschung, in: Ders., Ansgar Schanbacher, Thore Lassen (Hrsg.), Handeln in Hungerkrisen. Neue Perspektiven auf soziale und klimatische Vulnerabilität. Göttingen 2012, 13–26.

Vulnerabilität – Zugang, Methode, Gliederung

35

Etablierung bahnte den Weg für die Verknüpfung der beiden Seiten, die man bald mit dem Begriff der Vulnerabilität zu beschreiben begann. In einer klassischen Definition des Ansatzes formulierte der Entwicklungsforscher Robert Chambers: »Vulnerability thus has two sides: an external side of risks, shocks, and stress to which an individual or household is subject; and an internal side which is defenselessness, meaning a lack of means to cope with damaging loss.«111 Mit dieser Doppelstruktur von Verwundbarkeit wandte man sich explizit gegen die Tendenz der neuen sozioökonomischen Modelle, nun ihrerseits absolut zu argumentieren. So wie die früheren technizistischen Ansätze allein auf die Vergrößerung der Produktion abgezielt hatten, forderten die neuen Ansätze nun ebenso einseitig die Erhöhung von Einkommen. Demgegenüber betonte das Konzept der Vulnerabilität Interdependenzen und Verflechtungen. Forscher wie Chambers reagierten darauf, dass die Gefährdung der Hungernden nicht allein von Armut oder Naturextremen ausging, sondern von ihrer wechselseitigen Verschränkung. Einseitig durchgeführte technische oder ökonomische Hilfsmaßnahmen vergrößerten die Risiken oft noch oder erzeugten sie überhaupt erst – etwa durch ›development agression‹, Umweltdegradation oder die Erosion ökologischen Wissens. Mit dem Konzept der Verletzlichkeit wollte man demgegenüber eine Herangehensweise etablieren, die das breite Panorama naturräumlicher und gesellschaftlicher Gefährdungen erfassen und miteinander in Beziehung setzen konnte. Im Laufe der 1990er Jahren verschob sich der Schwerpunkt zunehmend von der Auseinandersetzung mit Hilfsmaßnahmen hin zu einer stärker systemischen Betrachtungsweise. Seither beschreibt der Begriff Vulnerabilität nicht mehr nur einen Zustand, sondern auch einen programmatischen Ansatz.112 In der Folge dieser Systematisierung hat sich der sozionaturale Zugang auch außerhalb der Hungerforschung etabliert. Mittlerweile bildet er unter anderem in der Diskussion um die Auswirkungen des anthropogenen Klimawandels einen zentralen Referenzpunkt.113 Seit der Jahrtausendwende haben zahlreiche Forscher das Vulnerabilitätskonzept in der Katastrophen-, Krisen- und Entwicklungsforschung fest etabliert und mehrfach erweitert. Mit der Aufmerksamkeit für die Prozessualität von Verletzlichkeit spielt nun das Handeln der betroffenen Akteure eine zentrale Rolle. An die Stelle fester Vulnerabilitätskarten ist ein dynamischeres Verständnis 111 Robert Chambers, Editorial Introduction. Vulnerability, Coping, and Policy, in: IDS Bulletin 20, 1989, 1–7, hier 1. 112 Bohle, Watts, Hunger; Neil W. Adger, Vulnerability, in: Global Environmental Change 16.3, 2006, 268–281. 113 IPCC, Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), Fourth Assessment Report. Working group II: Impacts, Adaptation and Vulnerability. Cambridge 2007, 6. Hier beschreibt Vulnerabilität den Grad der Wahrscheinlichkeit, mit der Gesellschaften, Gruppen oder Individuen aufgrund der Exposition gegenüber Schocks oder Stress Schaden erleiden. Eine Übersicht über die zahlreichen Definitionen von Vulnerabilität bietet: Katharina Thywissen, Core Terminology of Disaster Reduction. A Comperative Glossary, in: Jörn Birkmann (Hrsg.), Measuring Vulnerability to Natural Hazards. Towards Disaster Resilient Societies. Tokyo 2006, 448–496.

36

An der Schnittstelle von Natur und Kultur

des ›mappings‹ getreten, das neben der räumlichen auch die zeitliche Dimension akzentuiert.114 Neuere Untersuchungen brechen gezielt mit dem ›Katastrophismus‹ der früheren Forschung und akzentuierten die Historizität von Verletzlichkeit. Mit dem Verweis darauf, dass Vulnerabilität – oft über Jahrhunderte – ›gemacht‹ wird, erschließen sie das Konzept nicht nur für die Raum-, sondern zunehmend auch für die Geschichtswissenschaften.115 Aktuell öffnet sich der Ansatz vor allem für den Faktor Kultur. Jüngere Studien haben gezeigt, welche Bedeutung Erinnerungskulturen, der Ausschluss aus hegemonialen Diskursen oder fehlendes kulturelles Kapital für Verletzlichkeitsmuster haben können.116 Damit gewinnt das Vulnerabilitätskonzept auch für die Geisteswissenschaften an Relevanz. Der Vulnerabilitäts-Ansatz stellt kein präzise definiertes Methoden-Instrumentarium bereit, er gibt aber – ähnlich wie die Brückenkonzepte ›Subsistenz‹, ›Nachhaltigkeit‹ oder ›Diskurs‹ – eine Perspektive vor: Multifaktorielle statt monokausaler Zugänge, dynamische Interdependenzen statt deterministischer Verläufe, Mensch-Natur Beziehungen als Verflechtungs- statt als Konfliktgeschichte. Der Zugang ermuntert und organisiert zudem interdisziplinäres ›borrowing‹ und Grenzüberschreitungen, die in der fragmentierten Umweltforschung besonders nötig sind. Für die Erforschung historischer Hungersnöte ist er – trotz berechtigter Kritik117 – in fünf Bereichen von besonderer Relevanz: Erstens eröffnet das Vulnerabilitätskonzept einen Blick auf das Handeln der Betroffenen. Anders als in den Modellierungen der Ökonometrie oder der Klimatologie werden die Praktiken der Akteure nicht als sekundäre Reaktion auf externe Stimuli, als bloße Ableitung von Bevölkerungszahl und Niederschlagsmenge verstanden. Statt des planhaften Ablaufs einer Krise integriert der Vulnerabilitätsansatz die konkrete, vielfältige und oft durch Improvisation gekennzeichnete Ökonomie des Überlebens. 114 Vgl. das noch weitgehend geographisch verstandene ›mapping‹ in Bohle, Watts, Hunger mit dem dynamischen Konzept in Bankoff, Frerks, Hillhorst, Mapping. 115 Bankoff, Time; Oliver-Smith, Peru. 116 Martin Voss, The Vulnerable can’t Speak. An Integrative Vulnerability Approach to Disaster and Climate Change Research, in: Behemoth. A Journal of Civilisation 1, 2008, 39–56. 117 Eine Bestandsaufnahme liefert Collet, Schanbacher, Lassen, Handeln in Hungerkrisen. So klagen die messenden Wissenschaften angesichts der vielen Faktoren, der größere Realismus werde auf Kosten der Anwendbarkeit erkauft. Die hermeneutischen Wissenschaften stoßen sich hingegen an der Tendenz des Konzeptes zur Abstraktion. Susanne van Dillen, Naturrisikoforschung und das Konzept der sozialen Verwundbarkeit. Zum Stand der Diskussion, in: Gerd Tetzlaff u. a. (Hrsg.), Zweites Forum Katastrophenvorsorge. Extreme Naturereignisse. Folgen, Vorsorge, Werkzeuge. Bonn, Leipzig 2002, 143–149, hier 148; Voss, Vulnerable, 48. Zu Recht steht auch die dem Vulnerabilitätsbegriff inhärente Perspektivierung der Betroffenen als (passive) Opfer in der Kritik, die übersieht, dass diese Risiken auch absichtsvoll eingehen können und sollen und dass Adaptionen nicht nur Verlust, sondern auch Chancen bedeuten. Zudem wird die Zuschreibung von ›Verwundbarkeit‹ im Entwicklungsdiskurs vielfach politisiert und dazu herangezogen, Regierungen der Entwicklungsländer zu delegitimieren und Eingriffe in staatliche Souveränität zu begründen. Bankoff, Historical Geography, 34.

Vulnerabilität – Zugang, Methode, Gliederung

37

Zweitens öffnet der Ansatz die Erforschung von Klima und Katastrophen für einen genuin historisierenden Zugang. An die Stelle des verbreiteten Katastrophismus, der sich ganz auf das akute Ereignis konzentriert, tritt mit den sozio-kulturellen Faktoren ein Verständnis von Hunger als ›Spitze des Eisbergs‹, das auf lange andauernde Problemlagen verweist. Verwundbarkeit wird durch kulturelle und soziale Faktoren lange vor der Katastrophe präfiguriert und hergestellt. Während die Katastrophenforschung die Prozesshaftigkeit ihres Untersuchungsgegenstands zumeist nur formelhaft betont und sich weitgehend auf den Zyklus von einer Katastrophe bis zur nächsten beschränkt, erfasst das Vulnerabilitätskonzept auch die lange Vorgeschichte einer Hungersnot. Drittens beschreibt Vulnerabilität die Beziehung von Mensch und Natur anstatt als Konflikt- als Verflechtungsgeschichte. Statt starre Reiz-Reaktion-Beziehungen zu behaupten, nimmt der Zugang die abgestufte, wechselseitige Verschränkung klimatischer und anthropogener Impulse in den Blick, die gesellschaftlich sehr unterschiedlich angeeignet und ›sozialisiert‹ werden können. Anstatt das Verhältnis natürlicher und sozialer Faktoren bereits modellhaft festzuschreiben, macht der Ansatz diese Interdependenzen zum zentralen Untersuchungsgegenstand. Viertens ist der Zugang skalierbar. Er lässt sich sowohl auf der Ebene einzelner Akteure anwenden als auch auf der von Haushalten oder Gruppen. Gerade historische Studien wählten oft eine (proto-)nationale Perspektive, die innergesellschaftliche Asymmetrien häufig verdeckt. Die untersuchten Ebenen werden dabei als interdependent konzeptualisiert.118 Vulnerabilität kann damit zwischen Mikro- oder Makrozugängen vermitteln. Fünftens ermöglicht das Konzept Vergleiche – sowohl zwischen den betroffenen Gesellschaften als auch zu früheren oder späteren Krisen. Die Erweiterung der erfassten Faktoren um informelle Ökonomien, subalterne Risikostrategien oder kulturelle Deutungs- und Verhaltensmuster legt dabei Verbindungen offen, die bisher übersehen oder unterschätzt wurden. Im methodologischen Vergleich zeichnet sich dieser Zugang durch die Ergänzung von rein physikalisch-technologischen um ökologische, gesellschaftliche und kulturelle Faktoren aus. Damit bricht das Konzept gezielt mit deterministischen Ansätzen und unterstreicht stattdessen die vielfältigen Ursachen von Hunger und die daraus resultierenden Handlungsspielräume der Betroffenen. Er fordert dazu heraus, naturale Umwelt und menschliches Handeln, Strukturen und Praktiken, Mikro- und Makroebenen als verbundene Sphären zu analysieren. Sein multifaktorieller Ansatz geht dabei deutlich darüber hinaus, was stärker fachgebundene Methodiken – etwa durch Diskursanalyse, Klimamodellierung oder 118 Größere Widerstandsfähigkeit auf der einen Ebene kann dabei mit erhöhter Verwundbarkeit auf einer anderen Ebene einhergehen – beispielsweise durch forcierte technologische Entwicklung, die den Staat auf Kosten der Bauern stärkt und zu einigen der schlimmsten Hungersnöte der Moderne geführt hat. Vgl. Kindler, Nomaden.

38

An der Schnittstelle von Natur und Kultur

­ liometrie – zu leisten im Stande wären. Damit ermöglicht es einen Zugriff, der K sich in seiner Reichweite wieder stärker dem multipolaren Phänomen annähert, das er beschreibt. Die Gliederung der Arbeit folgt der Krise daher auf zwei Zeitebenen. Sie nimmt einerseits die langfristigen Prozesse in den Blick, die vom sozioökologischen Setting im Vorfeld bis zu den dauerhaften Folgen der Hungerkrise reichen. Andererseits beobachtet sie die Ereignisse der Hungerjahre selbst. Dies geschieht aus der Nähe in Form mehrerer Fallstudien. Kapitel II gibt zunächst einen Überblick über das Geschehen. Hier erfolgt eingangs eine Analyse der ›Getreidegesellschaft‹ Zentraleuropas, die als sozioökologischer Rahmen die Katastrophe vorbereitete und präfigurierte. Anschließend werden die äußere und die innere Seite der Hungersnot in den Jahren 1770–1772 skizziert. Die Rekonstruktion der Klimaanomalie verknüpft dabei programmatisch die Archive der Natur mit denen der Gesellschaft. Die Beschreibung der gesellschaftlichen Auswirkungen gibt einen Überblick über das Ausmaß der Not in Europa, die betroffenen Räume und Gruppen sowie über den Verlauf der Katastrophe. Die Analyse in den weiteren Kapiteln folgt den Überlegungen der Katastrophenforschung, dass die Wahrnehmung des Geschehens durch die Betroffenen deren Handeln und die Folgen maßgeblich mitbestimmt. Er gliedert sich daher in die Bereiche Deuten, Handeln und Bewältigen. Kapitel III analysiert die Konkurrenz, Koexistenz und Verflechtung naturaler, religiöser und sozialer Deutungsmuster in der Hungerkrise. Es skizziert die Krise als Laboratorium alter und neuer Entwürfe der Mensch-Natur Beziehungen und verfolgt, wie die Pluralität der Interpretationen den Betroffenen neue Handlungsspielräume eröffnete. Die konkrete Konstellation um 1770 illustriert die ›­Sillig-Kontroverse‹, in deren Rahmen um die heilsgeschichtliche, soziale und politische Stellung der Hungertoten gerungen wurde. Kapitel IV untersucht die sozialen Praktiken, die durch diese Deutungen motiviert und legitimiert wurden. Es bildet sowohl inhaltlich als auch im Umfang das Zentrum der Untersuchung. Diese Schwerpunktsetzung reflektiert zum einen, dass die Vielfalt konkreter klimakultureller Verflechtungen im pragmatischen Handeln besonders deutlich wird. Zum anderen reagiert sie darauf, dass klima-, ökonomie- oder obrigkeitszentrierte Arbeiten dieses Feld zumeist vernachlässigen. Analysiert wird hier das Handeln von Obrigkeiten (IV.1.), Untertanen (IV.2.) und neuen ›Experten‹ (IV.4.), in dem sich jeweils spezifische Interessenlagen manifestierten. Aus der Nähe wird sichtbar, dass die Krise sowohl Ungleichheit entlarvend als auch Gemeinschaft stiftend wirken konnte. Die Katastrophe förderte neben Formen demonstrativer Ausgrenzung – etwa der vermeintlichen ›Kornjuden‹ – auch Praktiken der Kollusion zwischen Untertanen und Obrigkeiten (IV.3.). Das Kapitel zeichnet nach, wie diese Praxis der ›Inklusion durch Exklusion‹ zur Verdichtung von Herrschaft und der spezifischen Form einer ›Staatsbildung durch Katastrophen‹ beigetragen hat.

Vulnerabilität – Zugang, Methode, Gliederung

39

Auch hier werden die spezifischen Konstellationen und Kontingenzen in Fallstudien erprobt. Sie erfassen neben Handlungsangeboten auch die Handlungspraxis der Akteure und führen die Ebenen Klima, Diskurse und Praktiken in spezifischen sozionaturalen Schauplätzen zusammen. Die pragmatische Aneignung der Witterungsanomalie wird anhand von drei Beispielen analysiert (IV.5.) Die erste Fallstudie widmet sich der Reichsstadt Regensburg. Sie war als urbaner Raum in der Hungerkrise ganz besonderen Herausforderungen ausgesetzt, die vom Zufluss von Nahrung bis zum Zustrom von Migranten sowie von Epidemien bis zu Hungerrevolten reichten. Zum anderen bildete Regensburg als Sitz des Reichstags einen kommunikativen und politischen Knotenpunkt, dem in der Hungerkrise eine zentrale Bedeutung für die Koordination reichsweiter Hilfsmaßnahmen zukam. Hier lässt sich beobachten, wie aus dem Zusammenprall von Hungerflüchtlingen und ökonomischer Theorie eine neue Reichspolitik entsteht. Das Kapitel untersucht daher, neben der Dynamik städtischer Inklusions- und Exklusionsmechanismen, auch die lokale Gebundenheit großer Politik. Das zweite Fallbeispiel zeigt, wie die Krise im schwer getroffenen Sachsen zum Katalysator für umfassende Schul- und Fürsorgereformen wurde. Es verfolgt, wie selbsternannte Patrioten und ›Menschenfreunde‹ die Lücke an Staatlichkeit während der Krise nutzten. Über das neue Medium der Hungerzeitschriften gelang es ihnen, Emotionen zu kanalisieren und für bürgerliche Selbsthilfeprojekte zu instrumentalisieren, die bereits auf ein noch zu errichtendes ›Deutschland‹ zielten. Die dritte Fallstudie untersucht die Verknüpfung von Hunger- und Machtpolitik im Umfeld der Ersten Polnischen Teilung 1772. Sie verfolgt einerseits, wie die Konfliktparteien Klimaanomalie und Hungersnot opportunistisch ausnutzten, um ihre Interessen im Teilungsprozess durchzusetzen. Zugleich illustriert sie, wie Friedrich II. sich der Krise bediente, um im Landesinneren sein »soziales Königtum«119 zu inszenieren. Im beobachteten preußischen ›Magazinstaat‹ materialisieren sich dabei die Verflechtungen von Umwelt- und Politikgeschichte ebenso wie die transnationale Reichweite von Umwelteinflüssen. Gemeinsam machen diese Fallstudien die vielfältigen Möglichkeiten sichtbar, klimatische Impulse vor Ort zu ›sozialisieren‹. Das abschließende Kapitel V. nimmt die Folgen der Hungersnot in den Blick. Das Spannungsfeld von Erinnern und Vergessen wird anhand der reichen materiellen Kultur der Notjahre analysiert, die von privaten Gedenkmünzen bis zu öffentlichen Denkmälern reicht. Das Kapitel untersucht, warum die enorme Not in strukturellen Bereichen kaum Folgen zeitigte, in anderen Feldern jedoch als Katalysator weitreichender Wandlungsprozesse fungierte – etwa in den Wissenschaften, der Landwirtschaft und der Bildung. In der Zusammenschau (Kap. VI) erhellt die Hungersnot schlaglichtartig Problemlagen, Konfliktfelder und Wandlungsprozesse zwischen 1750 und 1800. Sie 119 Gailus, Erfindung, 605.

40

An der Schnittstelle von Natur und Kultur

reichen von der Konzeption von Herrschaft, Natur und Ökonomie bis zum konkreten Mensch-Umwelt-Verhältnis. Ihre Analyse beantwortet nicht nur die Frage, wie die verwundbaren Gesellschaften der Frühen Neuzeit Klimaextreme, Katastrophen und Risiken wahrnahmen und bewältigten, die den Menschen bis heute bedrohen. Sie verweist auch darauf, dass Natur und Geschichte keine Gegensätze, sondern eng miteinander verwobene Sphären darstellen, deren weitgehend getrennte Erforschung weder den tatsächlichen historischen Verflechtungen noch den aktuellen Herausforderungen gerecht wird.

II.  Die europäische Hungerkrise 1770–1772

1.  Die Getreidegesellschaft – sozioökologische Arrangements Die zeitgenössischen Berichte vom Höhepunkt der Hungersnot schildern dramatische, existentielle Situationen. Sie beschreiben mitten in Europa ausgemergelte Menschen, die »wie Todten-Gerippe« oft »bloß und nackend« und »in Gestalt von Leichen« vor ihren Häusern kauerten oder bereits »im freyen Felde oder auf den Straßen verschmachtet lagen«, während ihre hungernden Kinder auf der Suche nach Brot »fast nackend Heerdenweise umher« zogen.1 Diese Noterzählungen fokussieren ganz auf das akute Ereignis, auf die Person, auf die unmittelbare Gewalt des Geschehens. Unter dem Druck der Extremerfahrung reicht ihr zeitlicher Horizont selten weiter als zur letzten Ernte zurück. Ihren Anfang nahm die Not aber weit früher. Lange bevor die extreme Witterung die ersten Missernten verursachte, hatten die sozioökologischen Arrangements in den betroffenen Regionen der späteren Hungersnot bereits die Bahn geebnet. Der Grund für diese strukturelle Verwundbarkeit lag darin, dass Getreide in den betroffenen Gesellschaften weit mehr darstellte als ein Nahrungsmittel. Neben seiner Bedeutung als die mit Abstand wichtigste Kalorienquelle diente es auch als Herrschaftsinstrument, als Stellschraube der frühneuzeitlichen Wirtschaft und als militärische Ressource. Die Verfügbarkeit von Getreide steuerte maßgeblich das Gefüge von Löhnen und Preisen, die Beziehungen von Stadt und Land oder die Einnahmen von Staat und Kirche.2 Über seinen Konsum ließ sich Distinktion demonstrieren, seine Verteilung in Notzeiten legitimierte Herrschaft, das Anrecht auf diese Hilfen materialisierte gesellschaftliche Partizipation. Anbau, Handel und Konsumption des Getreides bildeten daher einen der am dichtesten regulierten und kontrollierten Bereiche der Vormoderne.3 Seine kalorische, ökonomische und politische Bedeutung war so umfassend, dass man die Kulturen dieser Zeit zu Recht als ›Getreidegesellschaften‹ bezeichnen kann.4 1 Dresdener Gelehrte Anzeigten, 1772, 4; Bericht von Ernst August von Studnitz an Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg, in: ThStA Gotha, GA OO VI Nr. 46, Fol. 6r.; Gotthelf Friedrich Oesfeld, Von der gebürgischen Theuerung und Hungers-Noth, welche in den Jahren 1771 und 1772 das Gebürg sehr gedrücket hat, in: Der Erzgebürgische Zuschauer 2/1, 1774, 198–252, 199. 2 Kaplan, Bread, Bd. 1, S. XVIf. 3 Carl Weishaupt, Altbayerische Getreidehandelspolitik. Beiträge zur neueren bayerischen Wirtschaftsgeschichte. Diss. München 1922, 1. 4 Angesichts der ungewollten Pfadabhängigkeiten und vielfältigen Konstriktionen sprechen Studien auch von der »tyranny of cereal-dependence«, von Getreide als dem »Gefäng-

42

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

Wie in den asiatischen Reis- oder amerikanischen Maiskulturen prägte Getreide nicht nur die europäische Ernährung, sondern auch den Aufbau von Herrschaft und Ökonomie in Form einer spezifischen Biopolitik.5 Diese Bereiche waren so eng miteinander verwoben, dass sich eine regelrechte Koevolution von Mensch und Getreide beobachten lässt.6 Getreide unterschied sich signifikant von anderen Nahrungsquellen der Zeit. Es ließ sich außergewöhnlich lange lagern und relativ gut transportieren. Aufgrund seines geringen Wassergehalts war es mehrere Jahre mit geringen Verlusten haltbar. Getrocknet konnte es ohne Schaden über weite Strecken befördert werden. In Europa, wo lange Winter überbrückt werden mussten und viele Regionen auf externe Zufuhr angewiesen waren, eignete es sich hervorragend als zentrales Grundnahrungsmittel. Die gleichen Eigenschaften erlaubten aber auch Spekulation, Appropriation und herrschaftliche Kontrolle. Die obrigkeitliche Abschöpfung war relativ einfach und in einem ganz anderen Ausmaß möglich als etwa bei Kartoffeln oder Gemüse. Getreide ließ sich hervorragend akkumulieren und speichern. Als Grundpfeiler des Steuersystems besaß Getreide über Jahrhunderte Geldfunktionen. Mit ihm ließen sich Städter ebenso ernähren wie Soldaten. Bei Bedarf konnte es ausgeführt und überall wieder verkauft werden. Getreide und Herrschaft waren daher eng miteinander verknüpft. Die Kontrollierbarkeit von Getreide ermöglichte die vormodernen Machttechnologien und prägte sie zugleich.7 Aufgrund seiner Polyvalenz wurde der Anbau von Korn durch Obrigkeiten und Grundherren vielfältig gegenüber anderen Feldfrüchten privilegiert. In der Frühen Neuzeit geschah dies durch die Zehntordnungen und Naturalsteuern ebenso wie durch die integrierte Ökonomie des Gemeindeverbands. Seinen Status als

nis der langen Dauer« oder von der »food trap« vormoderner Gesellschaften. Kaplan, Famine Plot, 62; Erich Landsteiner, Wenig Brot und saurer Wein. Kontinuität und Wandel in der zentraleuropäischen Ernährungskultur im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts, in: Behringer, Lehmann, Pfister, Kulturelle Konsequenzen, 87–147, hier 125; Wolfgang Haber, Energy, Food, and Land. The Ecological Traps of Humankind, in: Environmental Science and Pollution Research 14, 2007, 359–365. 5 Vgl. Foucault, Sicherheit, 52–79. Aus globaler und diachronischer Perspektive: Evan D. G. Fraser, Andrew Rimas, Empires of Food. Feast, Famine and the Rise and Fall of Civilizations. New York u. a. 2010; Richard Manning, Against the Grain. How Agriculture has Highjacked Civilization. New York 2004, 43–84. Grundlegend zu den eingebetteten Ökonomien dieser historischen storage economies: Karl Polanyi, Conrad M. Arensberg, Harry W. Pearson (Hrsg.), Trade and Market in the Early Empires. Economies in History and Theory. New York 1957. 6 Felipe Fernández-Armesto, Daniel Lord Smail, Food, in: Ders., Andrew Shylock (Hrsg.), Deep History. The Architecture of Past and Present. Berkeley (CA) 2011, 131–159, hier 147. Zum historischen Zusammenhang von Getreideanbau und sozialer Stratifikation: Fraser, Rimas, Food, 115. 7 James C. Scott, Against the Grain. A Deep History of the Earliest States. New Haven, London 2017; Foucault, Sicherheit, 61; Rolf Peter Sieferle u. a., Das Ende der Fläche. Zum gesellschaftlichen Stoffwechsel der Industrialisierung. Köln, Weimar, Wien 2006, 37.

Die Getreidegesellschaft – sozioökologische Arrangements

43

staple food verdankte das Getreide genau diese doppelten, physiologischen und politischen Funktionen.8 Mit dem Getreideanbau entwickelten sich in ganz Zentraleuropa charakteristische Landschaften. Die Getreidekultur bestimmte das Verhältnis von Wald, Weide und Acker zueinander ebenso wie die Struktur der Dörfer oder Größe und Anzahl der Städte. Sie beeinflusste auch die Tierhaltung, die als Quelle von Zugkraft, Dünger und Protein eng mit dem Ackerbau verkoppelt war.9 Die Bedeutung der Getreidewirtschaft schlug sich auch in kulturellen Prägungen nieder, die von der Esskultur über Ernterituale, Fastenzeiten, Heiratsbräuche und tiefsitzende Ängste vor Nahrungslosigkeit bis zum Gebet für das ›täglich Brot‹ reichten.10 In diesem sozioökologischen Geflecht kollidierte die Nutzung von Getreide als Nahrungsmittel regelmäßig mit anderen Funktionen. Seinem großen Potential als haltbare und transportable Grund- und Notnahrung stand seine Rolle als Steuergut, als Machtinstrument und als Taktgeber der Ökonomie gegenüber. Während Bauern und Landbesitzer tendenziell von einem höheren Niveau der Getreidepreise profitierten, waren Städte und Gewerbe auf niedrige Lebensmittel­ kosten angewiesen. Landesherren und Regierungen finanzierten sich ebenfalls aus der Urproduktion, nahmen aber je nach Konstellation unterschiedliche Haltungen ein. Wo die Träger der Regierungen selbst stark im Agrarsektor involviert waren, förderte man dessen Profitmargen. Wo man das Militär und das steuerträchtige Gewerbe privilegierte, sorgte man hingegen für niedrigere Preise. Die multiplen und konkurrierenden Aufgaben resultierten in einer entsprechend komplexen Agrarkultur Zentraleuropas. Ihre Vielfalt lässt sich je nach Perspektive entsprechend der Feldsysteme (Dreifelder-, Fruchtwechsel-, Zelgenwirtschaft), der Rechtsverhältnisse (Grundherrschaft, Gutsherrschaft) oder der Ökozonen (Wein-, Hirten-, Kornland) gliedern.11 Gemeinsam war allen Systemen, dass sie die Umverteilung der Urproduktion von den Erzeugern zu den Konsumenten organisierten und kontrollierten. Dieser Fluss von Biomasse aus den Anbauregionen in die Bevölkerungszentren war jeweils eng in Machtstrukturen eingebettet und lässt sich daher nicht allein durch Marktmechanismen erklären.12 Die Eingriffe reichten von der Ebene der Landesherrschaft bis ins Innere der einzelnen Dorfgemeinschaften und erstreckten sich vom Zugriff auf die Abgaben bis 8 Karl Polanyi, The Economy as Instituted Process, in: Ders. (Hrsg.), Trade, 243–270. 9 Hansjörg Küster, Am Anfang war das Korn. Eine andere Geschichte der Menschheit. München 2013, 8. 10 Jean Delumeau, Die Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 4. bis 18. Jahrhunderts, 2 Bd. Hamburg 1985 (zuerst Paris 1978), Bd. 1, 228–234; Fernández-Armesto, Smail, Food, 141. Zur Verflechtung physischer und psychischer Dimensionen in einer spezifischen Subsistenzethik, Scott, Moral Economy, 9. 11 Reith, Umweltgeschichte 12, 25, 32. 12 Zum Konzept des sozialen Metabolismus oder des gesellschaftlichen Stoffwechsels vgl. Sieferle u. a., Fläche, 2. Zum Konzept der interlocked factor markets, dass diese Verflechtungen aus ökonomischer Perspektive in den Blick nimmt, vgl. Kopsidis, Agrarentwicklung, 169.

44

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

zur lokalen Kontrolle von Anbau und Vermarktung. Schon den Zeitgenossen der Hungerjahre um 1770 war völlig klar, wie eng Getreide- und Herrschaftssystem verflochten waren. Der neapolitanische Staatstheoretiker Ferdinando Galiani spottete: Das ganze gegenwärtige System in allen Staaten der Welt ist auf eine Gewalttat gegründet, die man einst den Besitzern der einzigen wahren Güter angetan hat und fortgesetzt gegen sie verübt. Man hat sich rittlings auf die Bauern gesetzt. Könige, Päpste, Parlamente […] alles ist auf sie heraufgestiegen.13

Damit formulierten sie bereits jene Verschränkungen, die heute als »Nahrungsregimes« gefasst oder – aus umwelthistorischer Perspektive – als »langsame Gewalt« beschrieben werden.14 In diesem System erreichte die Abgabenquote zusammen mit Gefällen und Nachsaat oft über 40 Prozent.15 Die Abschöpfungspraktiken reichten bis in die Details der Agrarverfassung hinein. So privilegierten etwa die Termine von Steuern und Frondiensten die Stände gegenüber den Bauern. Während kleine Höfe ihre Ernte sofort verkaufen mussten, konnte der Adel abwarten, bis die Preise auf den jährlichen Höhepunkt stiegen. Viele Pächter arbeiteten darüber hinaus zur besten Jahreszeit auf den Feldern des Grundherrn, während sie den eigenen Acker zuweilen in der Nacht bestellen mussten.16 Marktzwang, Schrannenwesen und Handelsbeschränkungen begünstigten zusätzlich die urbanen Konsumenten auf Kosten kleinerer Produzenten. Vielerorts hielt auch ein ausgefeiltes ländliches Schuldund Kreditsystem die Bauern systematisch in finanzieller Abhängigkeit gefangen. Österreich oder Preußen untersagten zudem über Jahrzehnte jeden Getreide­export, um ihre Armeen günstiger zu versorgen und drückten den Kornpreis sowie die

13 Wilhelm Weigand (Hrsg.), Die Briefe des Abbé Galiani. Starnberg 1947, 306 (Brief an Louise d’Épinay vom 22.12.1770). Vgl. auch Walter Achilles, Deutsche Agrargeschichte im Zeitalter der Reformen und der Industrialisierung. Stuttgart 1993, 91–98; Gunther Mahlerwein, Die Herren im Dorf. Bäuerliche Oberschicht und ländliche Elitenbildung in Rheinhessen 1700– 1850. Mainz 2001, 267–275. Zum Getreideanbau als populärem Gründungsmythos vieler Zivilisationen: Fraser, Rimas, Food, 107–110. Zur transkulturellen Ideengeschichte dieses Feldes: Susan Richter, Pflug und Steuerruder. Zur Verflechtung von Herrschaft und Landwirtschaft in der Aufklärung. Köln, Weimar, Wien 2015. 14 Nixon, Slow Violence. Allerdings wird das Konzept der ›Nahrungsregimes‹ bis heute weitgehend ökonomistisch und ohne Einbezug der Ökologie (und der Vormoderne) benutzt. Vgl. Philip McMichael, A Food Regime Genealogy, in: Journal of Peasant Studies 36, 2009, 139–169. 15 Franz Josef Brüggemeier, Schranken der Natur. Umwelt, Gesellschaft, Experimente 1750 bis heute. Essen 2014, 57. 16 Michael Hochedlinger, Anton Tantner (Hrsg.), »… der größte Teil der Untertanen lebt elend und mühselig«. Die Berichte des Hofkriegsrates zur sozialen und wirtschaftlichen Lage der Habsburgermonarchie 1770–1771. Wien 2005, 125, 135; Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 13.

Die Getreidegesellschaft – sozioökologische Arrangements

45

Einnahmen der Landwirte noch zusätzlich.17 Solche »systematischen landesväterlichen Plündereien« führten dazu, dass kleinere Bauern sich zuweilen ihr eigenes Korn nicht mehr leisten konnten. Selbst in normalen Erntejahren griffen viele für ihre Ernährung lieber auf günstige Substitute wie Mais oder Hafer zurück, die sonst als Tierfutter dienten.18 In diesem »alten organischen System« (F. ­Braudel) begünstigte die Abschöpfung der Getreideproduktion den Aufstieg von Städten und Landesherrschaften. Zugleich behinderte sie größere Investitionen der Bevölkerung in Vorsorge und Rücklagen gegen Umwelteinflüsse. Lange vor der Katastrophe existierten damit Strukturen, welche die Verwundbarkeit von Ackerbau und Landbevölkerung systematisch erhöhten. Sie etablierten ein spezifisches Ressourcen­regime, in dem der Zugang zu Nahrung nicht primär durch Leistung oder den Markt, sondern durch ständische Prinzipien vermittelt wurde.19 Adel und Kirche genossen in diesem Nahrungssystem besondere Vorteile. Die Stände bauten häufig selbst Getreide an, waren aber von Steuern und Regulationen weitgehend ausgenommen. Klöster, Landadel und Reichsritter unterlagen Handelsbeschränkungen, Marktzwang oder Exportverboten meist nur eingeschränkt oder gar nicht.20 Sie bewirtschafteten daher oft große Flächen. Als Großproduzenten profitierten sie zusätzlich von ökonomischen Skaleneffekten: Die unelastische Nachfrage nach dem Grundnahrungsmittel Getreide sorgte dafür, dass sein Preis weit überproportional stieg, wenn das Angebot im Jahresverlauf oder durch Witterungseinflüsse zurückging. Getreide konnte der Verbraucher anders als Fisch und Fleisch nur schwer substituieren. Ein Angebotsrückgang um ein Drittel ließ den Preis daher regelmäßig nicht bloß um 30, sondern um bis zu 300 Prozent steigen. Größere Produzenten mit höherer Marktquote konnten die zurückgehende Produktion daher über den höheren Erlös weit überkompensieren. Während kleinere Höfe bei einer verminderten Ernte rasch dazu gezwungen waren, selbst teuer auf dem Markt zuzukaufen, ergab sich für Großproduzenten ein ganz anderes, para 17 Peter George Muir Dickson, Finance and Government under Maria Theresia 1740–1780, 2 Bd. Oxford 1987, hier Bd. 2, 128; August Skalweit, Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung Preußens 1756–1806 (Acta Borussica, Getreidehandelspolitik 4). Berlin 1931, 24 f. 18 Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 16, 19. In den Hungerjahren notierte Joseph II. in seinem Bericht aus den böhmischen Notstandsgebieten ausführlich die »Landes-Plagereien«, mit denen Gefälle systematisch erhöht wurden. Unter anderem wurden den Bauern durch zu niedrig berechnete Werte nur ein Drittel ihrer staatlichen Getreidekontributionen vergütet. HHStA, Hofreisen 4, Konv. 5, 2. Abt., p. 4v-5r (teilw. gedruckt in Rudolf Graf Khevenmüller-Metsch, Hanns Schlitter (Hrsg.), Aus der Zeit Maria Theresias. Tagebuch des Fürsten Johann Josef Khevenmüller-Metsch, Kaiserlichen Oberhofmeisters 1742–1776. 1770–1773. Wien 1925, 373 f. 19 Foucault, Sicherheit, 69. Zum konsumentenfeindlichen Agrarprotektionismus in Preußen vgl. Lars Atorf, Der König und das Korn. Die Getreidehandelspolitik als Fundament des brandenburgisch-preußischen Aufstiegs zur europäischen Großmacht. Berlin 1999, 115. 20 Zahlreiche Beispiele dieser Privilegierungen bei Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 53–92.

46

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

doxes Bild. Dank der steigenden Preise gelang es ihnen, den Gewinn in schlechten Erntejahren sogar noch zu steigern.21 Er führte dazu, dass die Stände vielfach nicht nur zu den Profiteuren, sondern auch zu den größten ›Spekulanten‹ gehörten, die ihre Ernte regelmäßig bis zuletzt zurückhielten. Während sie damit in normalen Erntejahren eine produktive Rolle im jahreszeitlichen Ausgleich des Angebots einnahmen, war die Versuchung bei Missernten groß, die Preisentwicklung gezielt anzuheizen. Demgegenüber war der reguläre Kornhändler, der typischerweise als Spekulant verunglimpft wurde, weit höheren Risiken ausgesetzt. Sie reichten vom ungewissen Witterungsverlauf über den riskanten Transport bis zu jederzeit möglichen Exportverboten. Für Adel und Klöster taten sich daher zwischen ihrer Rolle als verantwortlichen Herrschern und als Marktteilnehmern oft unüberbrückbare Zielkonflikte auf. In vielen Regionen waren es die privilegierten Stände, die den ›Flaschenhals‹ zwischen Bauern und Konsumenten direkt und indirekt kontrollierten.22 Die Verbraucher am anderen Ende der Handelskette verfügten hingegen nur über eng begrenzte Spielräume. Sie gaben regelmäßig 60–70 Prozent ihres Einkommens für Brot aus.23 Schon leichte Teuerungen trafen sie dementsprechend hart. Ihre prekäre Lage in diesem Nahrungsregime lässt sich bereits daran ermessen, dass die Getreidepreise auch in normalen Jahren starken jahreszeitlichen Schwankungen unterlagen. Kaum ein Durchschnittskonsument besaß offenbar genügend Finanzkraft, um im günstigeren Herbst größere Vorräte einzukaufen. Die gesellschaftlichen Ungleichheiten, Prioritäten, Hierarchien und Konfliktlagen materialisierten sich auch in den prekären Infrastrukturen. Angesichts der begrenzten Ressourcen frühneuzeitlicher Herrschaft genoss die Nahrungsversorgung der einfachen Leute keinen unumschränkten Vorrang. Straßen für den Getreidetransport waren daher oft nur rudimentär ausgebaut. Gleiches galt für die Wasserwege. Sie funktionierten zudem oft gerade dann nicht, wenn sie am meisten gebraucht wurden: Dauerregen – in Zentraleuropa der Hauptauslöser von Missernten – ließ sie oft monatelang unbenutzbar werden. Die Flüsse traten dann 21 Ein empirisches Beispiel für das Jahr 1771 dokumentiert Freitag, Krisen, 108. Modellrechnungen bietet: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1. München 1989, 78 f. 22 Fraser, Rima, Food, 26. Beispiele für die Spekulation der Herren bieten: Hochedlinger, Tantner, Berichte, 142 f., 151; Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 46–55; Max Müller, Die Getreidepolitik, der Getreideverkehr und die Getreidepreise in Schlesien während des 18. Jahrhunderts. Diss. Breslau 1897, 51. Zu den Ständen als den heimlichen Gewinnern von Klimakrisen vgl. Manfred Jakubowski-Tiessen, Die Auswirkungen der »Kleinen Eiszeit« auf die Landwirtschaft. Die Krise von 1570, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie, 58, 2010, 31–50. 23 Warenkorbstudien ermitteln selbst für kleinbürgerliche Stadtfamilien um 1770 einen Aufwand für Nahrungsmittel von ca. 70 % des Haushaltseinkommens. Für ärmere Gruppen dürfte der Anteil noch höher gelegen haben (Engelsches Gesetz). Abel, Massenarmut, 295, Ulrich Kluge, Hunger, ein zeitloses Thema, in: Freiburger Universitätsblätter 26, 1987, 15–40, 25. In den Teuerungsjahren deckte der Verdienst für einfache Arbeiter in einer Stadt Leipzig daher nur noch den Erwerb von 660 statt der erforderlichen 3.000 kcal ab. Militzer, Klima, Kap. 5.12.2.1.

Die Getreidegesellschaft – sozioökologische Arrangements

47

großflächig über ihre Ufer, überfluteten Weiden und Felder und beeinträchtigten so neben dem Transport auch den Anbau von Nahrung.24 Öffentliche Speichersysteme für Getreide, die etwa in China oder Peru das Herz des Staatsapparats bildeten, wurden im frühneuzeitlichen Europa ebenfalls nur mit geringem Aufwand unterhalten. Priorität genossen Getreidemagazine lediglich in Städten und Garnisonen. Ihr Unterhalt als flächendeckende Schutzmaßnahme erschien Landesherren und Grundbesitzern gleichermaßen als zu aufwendig.25 Statt als planvolle Vorsorgemaßnahme entstanden Infrastrukturen oft nur in Reaktion auf akute Krisen. Hungersnöte förderten oft kurzfristig den Chausseebau oder die Anlage von Kornspeichern. Nach dem Ende der unmittelbaren Bedrohung verloren diese Infrastrukturen jedoch rasch wieder an Bedeutung und verfielen. Größere Projekte dienten in diesem Umfeld meist weniger der Vorsorge als dazu, die ökologische der politischen Umwelt künstlich anzupassen. So bereitete der Bau eines Kanalsystems zwischen Netze und Weichsel die preußische Expansion in Polen vor und zielte auf den Import billigen Getreides für die Armee. Der Plauener Kanal (1743–45) diente hingegen der Behinderung des Exports und sollte Magdeburgisches Korn statt über die Elbe ins fremde Hamburg in die eigene Hauptstadt Berlin leiten.26 Auch in diesen gebauten Umwelten artikulierten sich daher konkrete gesellschaftliche Entscheidungen, politische Gefüge und soziale Hierarchien. Feldsysteme, Straßennetze, Kanalbauten, Mühlen und Magazine spiegelten die widerstreitenden Interessenlagen der Zeit. Als materialisierte Aushandlungsprozesse reflektierten sie ein sozioökologisches System, in dem Getreide nicht nur der sicheren Ernährung, sondern auch als Herrschaftsinstrument diente. In einem solchen Geflecht konkurrierte das Bemühen um Schutz gegen Krisen regelmäßig mit politischen und ökonomischen Interessen.27 Diese ›Getreidegesellschaft‹ war Witterungseinflüssen in hohem Maße ausgesetzt. Besonders sensibel waren dabei die Monate der sommerlichen Wachstumsphase sowie die Erntezeit. Das Agrarjahr erstreckte sich dabei üblicherweise von der Ende September beginnenden Aussaat des Wintergetreides und dem Ausbringen des Sommerkorns im März bis zum Erntebeginn im Juli/August und 24 Zur damit verbundenen »Überschwemmungskultur« vgl. Brüggemeier, Schranken der Natur, 25 sowie David Blackbourn, Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft. München 2007, 33–52. 25 Vgl. Collet, Storage sowie Kap. IV.1.4. 26 Dominik Collet, Hungern und Herrschen. Umweltgeschichtliche Verflechtungen der Ersten Teilung Polens und der europäischen Hungerkrise 1770–72, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 62.2, 2014, 237–254, hier 251 sowie Kap. IV.5.3. 27 Zu entsprechenden Ansätzen der jüngeren Infrastrukturgeschichte vgl. Dirk van Laak, Infrastruktur und Macht, in: François Duceppe-Lamarre, Jens Ivo Engels (Hrsg.): Umwelt und Herrschaft in der Geschichte. München 2008, 106–114. Es handelt sich dabei nicht um ein Phänomen der Vormoderne. Auch die heutigen Infrastrukturen gegen Hunger – von der ›strategic grain reserve‹ der UN bis zu den nationalen Vorräten – bleiben aus diesen Gründen häufig fragil. Fraser, Rimas, Food, 66.

48

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

der anschließenden Nachsorge und Vorbereitung der Äcker. Je nach Wetterlage schwankte das Verhältnis zwischen Aussaat und Ernte erheblich. Im 18. Jahrhundert bewegte es sich für den zentralen Kalorienträger Roggen etwa zwischen 1:12 im Fall einer Rekordernte und einem negativen Ertrag in schlechten Jahren. Die durchschnittlichen Ertragsquotienten lagen oft nur bei 1:3 bis 1:4 (statt wie heute bei 1:40 bis 1:50).28 Davon musste zudem noch das Saatgut (bis zu 30 Prozent) und erhebliche Nachernteverluste abgezogen werden. Im Mittel waren 70–80 Bauern nötig, um 100 Personen zu ernähren.29 Der demographische Druck steigerte die Verletzlichkeit dieser Arrangements noch. Die Bevölkerung stieg im Verlauf des 18. Jahrhundert allein im Reich von 16 auf 22 Millionen.30 Der erhöhte Ressourcenbedarf war innerhalb des etablierten Agrarsystems kaum zu kompensieren. Aufgrund der Düngerlücke (manuring gap) des vormodernen Agrarsystems resultierte er langfristig in der schrittweisen Degradation der Böden.31 Die Gegenmaßnahmen waren entsprechend vielfältig. Da etwa 95 Prozent der akuten Ertragsschwankungen auf die Witterung zurückgingen, war ein aktives Gefahrenmanagement fester Teil der Agrarpraxis.32 In einem ersten Schritt konzentrierte man sich auf Getreidesorten, die dem regionalen Klima angepasst waren. In Südeuropa überwog daher Weizen, während der Norden Hafer bevorzugte, der trotz der kürzeren Vegetationsperiode gedieh. Im dazwischen gelegenen Zentraleuropa dominierte der Roggen, obwohl er zur Brotherstellung erst durch Säuerung backfähig gemacht werden musste. Er vertrug Nässe jedoch relativ gut, gedieh auch auf ärmeren Böden und ermöglichte als winterharte Frucht den Anbau in Rotationssystemen mit drei oder mehr Feldern. Diese extensive Anbauform kam mit geringer Düngerzufuhr zurecht und verfügte über Puffer, um saisonale Witterungsschwankungen abzufedern. Stellte sich heraus, dass die Wintersaat missraten war, konnte man deren Ausfall durch die Nachsaat des weniger ertragreichen Sommergetreides auf Winterfeld und Brache teilweise kompensieren.33 Hinzu traten die beständige Optimierung der genutzten Getreidesorten und der Felder sowie Versuche zur Verbesserung der Böden und Fruchtfolgen. Zur 28 Thomas Miedaner, Kulturpflanzen. Botanik, Geschichte, Perspektiven. Heidelberg, Berlin 2014, 77; Reith, Umweltgeschichte, 12 f. 29 Brüggemeier, Schranken der Natur, 23; Prass, Agrargeschichte, 95 f. 30 Christian Pfister, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1500–1800. München 1994, 10. 31 Christian Pfister, Bevölkerung, Klima und Agrarmodernisierung 1525–1860. Das Klima der Schweiz von 1525–1860 und seine Bedeutung in der Geschichte von Bevölkerung und Landwirtschaft. Bern 1985, 126–129; Brüggemeier, Schranken der Natur, 27, 50 f. Bereits die Zeitgenossen waren sich dieses schleichenden Prozesses der »Degradation der [Agrar-]Kultur« wohl bewusst. Vgl. Johann August Schlettwein, Vollständige und beurkundete Nachricht von der im Jahre 1770 geschehenen Einführung des physiokratischen Staatswirtschaftssystems in dem Baden-Durlachschen Orte Dietlingen, in: Archiv für den Menschen und Bürger 3, 1786, 480–508, 492. 32 Christian Pfister, Klimageschichte der Schweiz, 2 Bände. Bern 1984, Bd. 2, 34. 33 Miedaner, Kulturpflanzen, 62–89.

Die Getreidegesellschaft – sozioökologische Arrangements

49

Risiko­minimierung und Düngung betrieb man Ackerbau und Viehzucht zumeist parallel. Wo dies möglich war, bemühte man sich, mit der ›Verzettelung‹ der Parzellen Witterungseinflüsse durch die Streuung auf verschiedene Höhenlagen und Böden auszugleichen. Neben dem Getreide experimentierte man mit Alternativfrüchten und betrieb eine intensive Gartenwirtschaft. Die Haltung von Kleinvieh sowie der heimische Anbau von Hack- und Hülsenfrüchten (Linsen, Erbsen, Bohnen, Wicken) ergänzte die Getreidekost mit Eiweiß und diente zugleich als Puffer gegen Missernten. Allmenden und Wälder dienten über Viehhaltung und Wildsammlung als weitere stille Reserven gegen Witterungsschwankungen.34 Auch auf Seiten der Konsumenten versuchte man Fluktuationen durch Vorratshaltung und Transporte zwischen Überschuss- und Mangelregionen auszugleichen. Die Einrichtung von Märkten sollte den Konsumentenschutz ebenfalls befördern. Der Zwang, Getreide nur hier zu verkaufen, zielte auf Kontrolle durch Öffentlichkeit und richtete sich dagegen, dass sich Transaktionen verborgen und entpersonalisiert vollzogen. Hinzu trat ein ganzes Bündel an Maßnahmen zweiter Ordnung, die von Begrenzungen des demonstrativen Konsums, über die Pflege personaler und familialer Netzwerke bis zum europäischen Heirats- und Erb­regime als ›preventive checks‹ der demographischen Entwicklung reichten.35 Trotz alledem war die Nahrungsdecke in diesem alten biologischen System so dünn, dass selbst in guten Erntejahren monatelange Einschränkungen während der ›Hungerlücke‹ (engl. hungry gap/frz. soudure) des Frühjahrs üblich waren. Für rund ein Viertel der Bevölkerung gehörte chronischer oder saisonaler Hunger zum Alltag.36 Die Dynamik innerhalb dieser vormodernen agrosozialen Systeme ist in den letzten Jahren einer deutlichen Neubewertung unterzogen worden. Jüngere Forschungen haben die kleinbäuerliche Innovationskraft bereits vor den großen Veränderungen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts betont und dem technikzentrierten Narrativ der sogenannten Agrarrevolution die ›yeoman’s revolution‹ vorweg- und gegenübergestellt.37 Allerdings bewegten sich auch deren Innovationen in Zentraleuropa weiterhin im engen Korsett des Getreidestaats. Der Fokus auf einfach zu besteuerndes Korn setzte etwa der Ausbreitung von Polykulturen enge Grenzen, die Witterungsschwankungen mit größerer Fruchtvielfalt begegnen wollten.38 Alternativen zum Getreide blieben daher zumeist auf jene 1–5 Prozent 34 Brüggemeier, Schranken der Natur, 23; Mahlerwein, Herren, 200 f. 35 Maßnahmen zum Konsumentenschutz nahmen bereits im antiken Rom einen breiten Stellenwert ein und wurden im Amt der Annona institutionalisiert. Seit dem Mittelalter existierten vergleichbare Institutionen überall im urbanen Raum, traten aber häufig nur im Krisenfall zusammen. Jörg, Teure. 36 Ulbrich, Resignation, 168. 37 Michael Kopdsidis, Georg Fertig, Agrarwachstum und bäuerliche Ökonomie 1640–1880. Neue Ansätze zwischen Entwicklungstheorie, Historischer Anthropologie und Demographie, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 52, 2004, 11–24. 38 Stattdessen verpflichtete man etwa Bauern in den Alpen bis in große Höhen Getreide zu pflanzen, um das kornbasierte Steuersystem zu stützen. Mattmüller, Hungersnot, 274.

50

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

der Fläche beschränkt, die ohne Veränderungen der Fruchtfolge zur Verfügung standen. Weitergehender Wandel ließ sich nur durch grundlegende Eingriffe in das sozioökologische System von Flurzwang, Viehtrift und Naturalsteuern erreichen. Er hätte neben dem Agrar- auch das Herrschaftsverhältnis der Stände­gesellschaft tangiert. Hinzu traten kulturelle Vorbehalte. Viele Kleinbauern hielten auch deshalb an der Getreidekultur fest, um sich nicht dauerhaft aus dem ersten Nahrungsmarkt und der Dorfgemeinschaft drängen zu lassen.39 Der permanent nötige Ausgleich von Nahrung und Herrschaft setzte dem Wandel enge Grenzen. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts beschleunigten sich die Veränderungen des Agrarsystems jedoch spürbar. Während und durch die Hungerkrise 1770–1772 steigerten sich die landwirtschaftlichen Reformprogramme zu einer regelrechten »Agromanie«.40 Auch dieses Bündel von Innovationen zielte aber nicht etwa auf die Erhöhung der Widerstandsfähigkeit. Ihr Fokus lag vielmehr auf der Steigerung der Produktion durch bewusst in Kauf genommene Risiken.41 Seit der Jahrhundertmitte propagierten Experten, beflügelt vom wachsenden Selbstbewusstsein der Aufklärer und dem Druck der steigenden Bevölkerung, umfangreiche agrosoziale Veränderungen. Die dominierende extensive Fruchtfolge, bei der fast ein Drittel der Felder brach lag, sollte intensiviert werden. Die Palette an Vorschlägen war breit: Die Besömmerung der Brache, der Anbau von cash crops auf dem Sommerfeld, die Teilung von Allmenden und Gemeindeland sowie die Aufhebung von Flurzwang und Fronen sollten die Produktion erhöhen. Parallel hoffte man mit der Ablösung des üblichen Weidegangs durch die Stallfütterung die Düngung zu verbessern.42 Der schrittweise Wandel vom alten biologischen Regime zur »advanced organic society«43 war jedoch überall mit gesteigerten sozioökologischen Risiken verbunden. Sie trafen vor allem kleinere Bauern, die über weniger flexible Arbeitskraft und geringere Rücklagen verfügten, um Witterungsschwankungen auch in der intensiven Produktion auszugleichen. Den im neuen Regime deutlich gestiegenen Futtermittelbedarf konnten sie bei schlechtem Wetter oft nur noch durch teure Zukäufe decken. Für das in der Fruchtwechselwirtschaft nötige häufigere Pflügen fanden sie in längeren Regenphasen keinen Raum mehr. Die insgesamt gesteigerte Arbeitsintensität bedrohte zudem soziale und familiäre Netzwerke, die sonst in Krisen wichtige Nothilfe boten.44 Die Einschränkung der Allmenderechte oder der informellen Waldnutzung, die in vielen Regionen um 1770 ein 39 Mahlerwein, Herren, 205, 243. 40 Prass, Agrargeschichte, 79–86. 41 Zur Debatte um Risiken vs. Subsistenz während der »Great Transformation« des späten 18. Jahrhunderts vgl. Dieter Groh, Anthropologische Dimensionen der Geschichte. Frankfurt a. M. 1992, 54–116. 42 Einen Überblick über die Maßnahmen bietet: Achilles, Agrargeschichte 91–154. 43 Blackbourn, Eroberung, 129. Vgl. zum Konzept auch Edward Anthony Wrigley, Poverty, Progress, and Population. Cambridge 2004. 44 Mahlerwein, Herren, 241–246.

Die Getreidegesellschaft – sozioökologische Arrangements

51

setzte, wirkte sich für sie mittelfristig ebenso negativ aus, wie die daraus folgenden Veränderungen in der dörflichen ›Gesellung‹ mit ihren traditionellen Solidaritätsund Beistandsregelungen.45 Auch wenn die Gemeinden die konkrete Umsetzung der Veränderungen wohl weit stärker als angenommen beeinflussten, profitierten nicht alle gleichermaßen.46 Denn die Reformen der Agrarverfassung sollten, wie es französische Physiokraten und deutsche Ökonomen ab 1750 propagierten, gerade nicht mit entsprechenden Änderungen der Ständeordnung einhergehen. Dort wo sie umgesetzt wurden, gehörten die Kleinbauern entsprechend häufig zu den Verlierern.47 In deren verbreiteter Ablehnung der Reformen artikulierte sich nicht bloß bäuerlicher Konservatismus, sondern auch das Bewusstsein, dass die Reformphantasien der Agronomen oft Kopfgeburten waren, die mit hohen ökologischen Opportunitätskosten und gravierenden Subsistenzrisiken einhergingen.48 Lediglich die größeren Höfe profitierten langfristig von der verstärkten Marktorientierung bei höherem Ausfallrisiko. Dadurch und durch den vermehrten Einsatz von Tagelöhnern vergrößerten sich dörfliche Ungleichheiten teilweise erheblich.49 Diese sozioökologischen Gefährdungen bildeten die Kehrseite der ›Agrarrevolution‹ des 18. Jahrhunderts.50 In Krisenjahren traten die trade-offs zwischen höherem Ertrag und größeren Risiken besonders deutlich zu Tage. Dort wo Agrarreformen bereits umgesetzt worden waren, erhöhten sie die Verwundbarkeit breiter Teile der Landbevölkerung noch weiter. Für kleinere Produzenten reichten die gesteigerten Gewinne am Markt bei weitem nicht aus, um den Verlust an informellen Subsistenzmöglichkeiten auszugleichen. Gegen Missernten bot auch die Ergänzung der Landwirt 45 Richard Hölzl, Umkämpfte Wälder. Die Geschichte einer ökologischen Reform in Deutschland 1760–1860. Frankfurt 2010; Marion W. Gray, Ökologie, Gesellung und Herrschaft im königlichen Vorwerkdorf Schlalach in den 1760er Jahren, in: Silke Lesemann, Axel Lubinski (Hrsg.), Ländliche Ökonomien. Arbeit und Gesellung in der frühneuzeitlichen Agrargesellschaft. Berlin 2007, 125–148. Die von Kleinbauern zuweilen befürwortete und mitgestaltete Teilung der Gemeingüter brachte ihnen nur kurzfristig Vorteile. Mahlerwein, Herren, 184 f. Zur Gemeindeteilungen vor 1770 in Rheinhessen vgl. ebd., 217. 46 Prass, Agrargeschichte, 29, Niels Grüne, Dorfgesellschaft – Konflikterfahrung – Partizipationskultur. Sozialer Wandel und politische Kommunikation in Landgemeinden der badischen Rheinpfalz (1720–1850). Stuttgart 2011; Stefan Brakensiek, Agrarreformen und Ländliche Gesellschaft. Die Privatisierung der Marken in Nordwestdeutschland 1750–1850. Paderborn 1991, 432–434. 47 Achilles, Agrargeschichte, 97; Graber, Marktsteuerung, 133. 48 Zur Kluft zwischen Experten und Praktikern in der Landwirtschaft des 18. Jahrhunderts vgl. Wakefield, Police State, 111–133; Mahlerwein, Herren, 255. Zum problematischen Transfer von Agrarwissen Walter Achilles, Georg III. als Königlicher Landwirt. Eine Bestätigung als Beitrag zur Personalunion, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 73, 2001, 351–408. 49 Prass, Agrargeschichte, 50; Gustav Mahlerwein, Herren, bes. 241. 50 Zur andauernden Forschungsdebatte um Risikostrategien, soziale Logiken und Übergangsformen von Subsistenz- und Marktökonomie vgl. Groh, Dimensionen, 54–67 sowie Mahlerwein, Herren, 241.

52

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

schaft durch andere Einkommen kaum Schutz. Angesichts der steigenden Brotpreise brach die Nachfrage nach Gewerbeprodukten und Dienstleistungen meist schlagartig ein. Neben urbanen Räumen litten daher protoindustrielle Regionen besonders unter dem typischen Zusammenfall von Agrar- und Gewerbekrise. Der sonst so vorteilhafte Mix verschiedener Einkommensarten bot in solchen Notzeiten keinen Schutz.51 Den Betroffenen wurde oft erst in Krisenjahren klar, wie sehr sich die Marktbedingungen gewandelt hatten. Hinzu kam, dass die sozialen kaum mit den agrarischen Veränderungen schritthielten. Das Fürsorge- und Armenwesen im Reich blieb weiterhin extrem fragmentiert, unterfinanziert und auf die Sockelarmut ausgerichtet.52 Im Vorfeld der Hungerkrise lässt sich somit vielfach ein Wandlungsprozess beobachten, den die moderne Entwicklungsökonomie als »development agression« und die Umweltgeschichte als »slow violence« bezeichnet hat.53 Die Grundgefährdung vieler Betroffener wurde durch vermeintliche Improvements zunächst weiter erhöht, etwa durch gesteigerte ökologische Risiken, vergrößerte soziale Ungleichheit und die Verringerung informeller Entitlements. Im starren Gefüge der Getreidegesellschaft ließen sich agrarische Reformen nicht getrennt von sozialen Veränderungen durchführen, ohne dass dies zugleich die ökologischen Risiken verschärfte. Bereits am Vorabend der Hungerkrise bewegten sich die Getreidegesellschaften Zentraleuropas daher oft am Rande ihrer Leistungsfähigkeit. Die Existenzbasis war dünn, der demographische, soziale und ökologische Druck hoch und die Infrastrukturen und Fürsorgeinstitutionen schwach.54 Die vorhandenen Puffersysteme dienten lediglich dazu, kurzfristige Witterungsimpulse soweit abzufedern, dass keine Mortalitätskrise, sondern nur eine Teuerung entstand. Einjährige Missernten in einem begrenzten Raum ließen sich durch Transporte und rudimentäre Speicher ausgleichen, solange keine militärischen oder ökonomischen Krisen hinzutraten. Solche schlechten Erntejahre ereigneten sich im Durchschnitt alle vier 51 Abel, Massenarmut, 267–290, Rankl, Politik, 756. In Normaljahren konnten Kommerzialisierungsprozesse in bestimmten Konstellationen hingegen durchaus Strukturstabilisierend wirken. Vgl. Grüne, Dorfgesellschaft, 6 f. 52 Vgl. Kap. IV.1.6. und 5.1. 53 Greg Bankoff, Dorothea Hillhorst, Introduction. Mapping Vulnerability, in: Dies., Frerks, Mapping, 1–9, hier 3. Nixon, Slow Violence, 6–14. Weishaupt, Getreideteuerung, 13, benutzt dafür den Begriff des »Fortschrittsdespotismus«. Noch deutlicher zeigt sich dies bei einem Seitenblick auf das zeitgenössische Bengalen. Dort griff die britische East India Company mit einem ganz ähnlichen intellektuellen Motivationsgerüst in die subsistenzorientierten Agrarsysteme ein, förderte den Anbau von cash crops und delegitimierte traditionelle Fürsorgesysteme durch Änderungen der Agrarverfassung. Da die Briten dort als Außenstehende weniger Rücksicht auf vorhandene Traditionen, Abhängigkeiten und Rechte nehmen mussten, fielen die Reformen – ebenso wie die folgende Hungersnot – weit drastischer aus. Sie erinnern aber daran, dass auch in der europäischen Landwirtschaft – bei aller Anerkennung bäuerlichen Eigensinns – Situationen bestanden, die man unter anderen Vorzeichnen als ›kolonial‹ bezeichnen würde. Damodaran, Famine in Bengal sowie David Arnold, Hunger. 54 Brüggemeier, Schranken der Natur, 57; Miedaner, Kulturpflanzen, 77.

Die Getreidegesellschaft – sozioökologische Arrangements

53

Jahre.55 Mehrere aufeinanderfolgende Ernteausfälle in einem größeren Gebiet überwältigten die getroffenen Vorsorgemaßnahmen jedoch. Sie setzten regelmäßig eine Spirale von Teuerung, Gewerbekrise, Mangelernährung, Epidemien und Übersterblichkeit in Gang. Solche ›double-back events‹ lassen sich während der Kleinen Eiszeit etwa alle 25 Jahre beobachten. Sie trafen nahezu jede Generation. Sich auch gegen sie zu wappnen, wäre möglich gewesen, hätte aber enorme Ressourcen gebunden und substantielle Eingriffe in die Getreidegesellschaft erfordert, die jenseits der Vorstellungs- und Handlungskraft der einzelnen Akteure lagen.56 In der sozialen Praxis bildeten die Landwirtschaft und Getreidepolitik daher kein reines Nahrungssicherungsregime (wie es etwa Foucault für den Merkantilismus annimmt). Es musste vielfältigen Ansprüchen genügen und war geprägt von Zielkonflikten zwischen den Interessen von Produzenten und Konsumenten, Land und Stadt, Herrschaft und Ökonomie.57 Sie formten eine agrosoziale Landschaft, die man als »riskscape« verstehen muss.58 In dieser Umwelt waren Risiken nicht naturgegeben, sondern kulturell geformt und zugleich extrem ungleich verteilt. Die sozionaturalen Arrangements der Getreidegesellschaft nahmen periodischen Nahrungsmangel durch mehrjährige Witterungsanomalien billigend in Kauf.59 Die 1769 einsetzende Klimaanomalie brachte den »perfect storm«60 über dieses fragile sozioökologische System Zentraleuropas. Die fast drei Jahre anhaltende 55 Slicher van Bath, Agriculture, 60; Ó Gráda, Famine, 27–33. Zu ähnlich hohen Frequenzen in anderen Kulturkreisen vgl. Manning, Grain, 68 f. 56 Zu alternativen, historisch gewachsenen Speicherkulturen und deren umfassenden Niederschlag im Aufbau der Gesellschaft vgl. Carol H. Shiue, Local Granaries and Central Government Disaster Relief. Moral Hazard and Intergovernmental Finance in Eighteenth and Nineteenth Century China, in: Journal of Economic History 64, 2004, 100–124; Volker Reinhardt, Überleben in der frühneuzeitlichen Stadt. Annona und Getreideversorgung in Rom 1563–1797. Tübingen 1991; David Jenkins, A Network Analysis of Inka Roads, Administrative Centers, and Storage Facilities, in: Ethnohistory 48, 2001, 655–687. Eine Versicherung gegen entsprechende Risiken, wie sie um 1770 gegen Feuer und Hagel entstehen, war (und ist) im Agrarbereich nicht möglich. Vgl. Cornel Zwierlein, Der gezähmte Prometheus. Feuer und Sicherheit zwischen Früher Neuzeit und Moderne. Göttingen 2011. 57 Foucault, Sicherheit, 56; Achilles, Agrargeschichte, 127. Exemplarisch am Beispiel der Stadt: Roeck, Bäcker. 58 Detlef Müller-Mahn, Riskscapes. The Spatial Dimensions of Risk, in: Ders. (Hrsg.), The Spatial Dimension of Risk. How Geography Shapes the Emergence of Riskscapes. London, New York 2013, 22–36. 59 Mattmüller, Hungersnot, 274. Dieser Zusammenhang war bereits den Zeitgenossen bewusst. Sie resümierten etwa angesichts der Privilegien der Landstände: »Es giebt in gewissen Staaten solche Regierungsverfassungen deren innere Beschaffenheit schon von der Art ist, daß der theuern Zeit und Hungersnoth nicht vorgebeuget werde kann, sondern ein Theil der Einwohner nothwendig dem Untergange überlassen werden muß.« Schrader, Kunst, 30. Grundlegend zur sozionaturalen Konstitution von Risiken vgl. Piers Blaikie, Ben Wisner, Terry Cannon, Ian Davis, At Risk. Natural Hazards, People’s Vulnerability and Disasters. London, New York 2003. 60 Campbell, Transition, 328.

54

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

Verkettung von nassen Sommern und langen Wintern traf die Getreidegesellschaft an ihrer empfindlichsten Stelle. Der Wetterstress wurde durch den beginnenden Agrarwandel und die neue (Um-)Welt des gewinnorientierten »Plusmachersystems« noch verschärft.61 Im Gegensatz zu vielen anderen Hungerkrisen ereignete sich die Katastrophe der 1770er Jahre jedoch vor einem relativ ruhigen allgemeinhistorischen Hintergrund. Während die Hungerjahre 1709/10 und 1816/17 maßgeblich durch kriegerische Konflikte mitsamt begleitenden Wirtschaftskrisen beeinflusst wurden, ereigneten sich im Vorfeld der 1770er Jahre (mit Ausnahme Polen-Litauens) keine größeren politischen, ökonomischen oder militärischen Turbulenzen. Dadurch tritt die hohe Grundgefährdung dieser Gesellschaften umso deutlicher hervor, die man zu Recht als »unsichere Lebensverhältnisse« (Livi-Bacci) oder »unsichere Lebenszeit« (Imhof) bezeichnet hat.62 Ihre Vulnerabilität war in die gebauten Umwelten der zentraleuropäischen Getreidegesellschaften weit vor der Katastrophe eingeschrieben. Sie präfigurierte die Krise, lange bevor im Sommer 1769 die ersten Regenfälle einsetzten.63 Die Missernten lassen sich in dieser sozionaturalen Konstellation, in der vielen das Wasser bereits bis zum Hals stand, als »the ripple that drowns« verstehen.64 In der Hungersnot überkreuzten sich daher langfristige Struktur und akutes Ereignis.

2.  Die Klimaanomalie Der extreme Witterungsverlauf der Hungerjahre schockierte viele zeitgenössische Beobachter. Die scheinbar durcheinander geratenen Jahreszeiten mit sintflutartigem Dauerregen in den Sommermonaten und drei langen Wintern erschienen ihnen als Zeichen einer ›verkehrten Welt‹.65 Immer wieder betonten sie, dass selbst die ältesten Mitlebenden solche Verhältnisse noch nie erlebt hätten. Aus Sicht der Historischen Klimatologie verlief die Witterung weniger ungewöhnlich. Sie lässt sich heute in den klimatischen Rahmen der ›Kleinen Eiszeit‹ einordnen. Anders als dieser Begriff vermuten lässt, zeichnete sich diese Phase klimatischer Ungunst zwischen 1300 und 1800 nicht in erster Linie durch eine anhaltende Depression der Temperatur aus. Sie war vielmehr durch eine Häufung meteorologischer Wit 61 Brüggemeier, Schranken der Natur, 60; Mahlerwein, Herren, 242. 62 Reith, Umweltgeschichte, 19. 63 Greg Bankoff, The Historical Geography of Disaster. ›Vulnerability‹ and ›Local Knowledge‹ in Western Discourse, in: Bankoff, Frerks, Hillhorst, Mapping, 25–36, hier 30. 64 Cormac Ó Gráda, The Ripple that Drowns? Twentieth-Century Famines in China and India as Economic History, in: Economic History Review 61, 2008, 5–37. 65 Vgl. etwa Bräker, Schriften, Bd. 1, 211 oder das Münchnerische Wochenblatt in Versen 13, 1771, Num 1 und 3 (o. P.): »Es schnaubt der Schöpfer nur, und alle Dämme brechen / Das Wasser überschwemmt des Landes Oberflächen […] Das schönste Ackerfeld wird eine breite See /  Der Himmel waffnet sich mit Regen, Wind und Schnee […] Die Ordnung der Natur ist gleichsam umgekehrt / Hier blickt der Hunger ein«.

55

Die Klimaanomalie

terungsextreme gekennzeichnet. Dazu zählten in Zentraleuropa vor allem lang­ anhaltende Winter, späte Fröste und erhöhte Niederschläge im Sommerhalbjahr, die zudem oft gemeinsam auftraten.66 Solche cold/wet-complexes, zu denen auch die 1770er Jahre zählen, klassifiziert die Paläoklimaforschung daher auch als »Little Ice Age Type Impacts« (LIATIMP).67 Aufgrund dieses meteorologischen Rahmens handelt es sich bei der Anomalie der 1770er Jahre nicht nur um ein Witterungsereignis, sondern um den Teil eines Klimaphänomens.68 Ungewöhnlicher als die Meteorologie des Extrems ist seine Dauer. Die unzeitigen und langanhaltenden Regenfälle prägten das Wettergeschehen über drei Jahre hinweg (Juni 1769–Mai 1772). Sie betrafen aber nur zwei Ernten in vollem Ausmaß. Bereits eine leichte Verschiebung um einige Monate hätte eine dritte Missernte und damit eine Katastrophe vom Ausmaß der großen Hungersnot 1315–1318 zur Folge haben können.69 Die verheerenden Auswirkungen der hydrologischen Anomalie resultierten in diesem Fall nicht aus dem extremen Grad der Abweichung, sondern aus der jahreszeitlichen Verschiebung der Witterung. Solche subannuellen Verlagerungen sind mit paläoklimatischen Methoden jedoch wesentlich schwerer zu bestimmen als etwa extreme Kälte, Nässe oder Trockenheit. In vielen geglätteten Klimakurven erscheint die Anomalie der 1770er Jahre daher bisher gar nicht, obwohl sie weltweit Millionen Tote forderte.70 Der Versuch, dieses Defizit im Folgenden durch eine Fülle an hochaufgelösten natürlichen und gesellschaftlichen Archiven aufzufangen, zielt daher auch darauf, diese blinden Flecken der Paläoklimaforschung aufzudecken und zu füllen.

2.1.  Archive der Gesellschaft Die externe Seite der Hungerkrise mit ihren biophysikalischen Schocks lässt sich aus einer Reihe historischer und natürlicher Daten rekonstruieren. Menschengemachte Archive erreichen dabei die höchste zeitliche Auflösung. Sie erfassen die Witterung im humanen Wahrnehmungsspektrum von einigen Monaten bis zu 66 Dagegen bezieht sich die etwa von Cormac Ó Gráda geäußerte Kritik am Konzept der Kleinen Eiszeit auf eine als weitgehend linear konzipierte Kältephase. Sie geht daher bei aller berechtigten Skepsis hinsichtlich der statistischen Glättungen paläoklimatischer Modellierungen von falschen Prämissen aus. Vgl. die ausführliche Diskussion dazu in: Journal of Interdisciplinary History, 44, 2014, Special Issue: The Little Ice Age. Climate and History Reconsidered. Ó Grádas Kritik an dem bloß anekdotischen Bezug vieler klimatologischer Arbeiten zum historischen Geschehen, bleibt jedoch berechtigt. 67 Pfister, Brázdil, Social Vulnerability. 68 Ebd., 120 f. 69 Ian Kershaw, The Great Famine and Agrarian Crisis in England 1315–1322, in: Past and Present 59, 1973, 3–50; Jordan, Famine. 70 Etwa Büntgen, 2500 Years, 581 oder Moinuddin Ahmed u. a., Continental-Scale Temperature Variability During the Past Two Millennia, in: Nature Geoscience 6, 2013, 339–346.

56

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

mehreren Stunden, etwa in Form von ersten instrumentellen Messungen bis zu Tagebüchern und saisonalen Erntedaten. Diese Präzision geht allerdings mit einer begrenzten räumlichen Reichweite einher. Zumeist beschränken sich die Aufzeichnungen auf das unmittelbare Nahfeld des Beobachters. Um sich dennoch ein Bild des allgemeinen Geschehens machen zu können, ist daher die Kombination zahlreicher Einzelbeobachtungen nötig. In den 1770er Jahren sind die Voraussetzungen dafür besonders günstig. Im Zuge der Hochaufklärung fühlten sich besonders viele Beobachter zu Aufzeichnungen motiviert, die zudem außergewöhnlich vollständig erhalten sind. So liegen allein aus dem Reich in den Krisenjahren tägliche Wetteraufzeichnungen aus Bern, Berlin, Nürnberg, Meissen, Würzburg, Ansbach, der Lausitz und Wittenberg vor.71 Sie verzeichnen Temperatur und Regenfall, in einigen Fällen auch Luftdruck, Windrichtung und Bewölkung. Ergänzende, monatliche Aufzeichnungen existieren zu Lindau, dem Südharz, Leipzig oder Dresden.72 Hinzu kommen zahl 71 Anon., Meteorologische Tabellen, und landwirthschaftliche Beobachtungen von 1769, in: Abhandlungen und Beobachtungen durch die Ökonomische Gesellschaft zu Bern 11, 1770, 177–221 sowie Anon., Meteorologische Tabellen, und landwirthschaftliche Beobachtungen von 1770, in: Ebd., 12, 1771, 75–122 und Anon., Physisch-Ökonomische Bemerkungen des Jahres 1772, in: Ebd. 13, 1772, 221–239; Nikolaus von Beguelin, Extrait des Observations métérologiques faites à Berlin, en l’année 1770, in: Nouveaux Mémoirs de l’Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres 1, 1770, 74–94; Christian Gottlob Pötzsch, Carl Gottlieb Krahl, Auszüge mit kurzen Betrachtungen aus dessen und Hrn. C. G. Krahls tabellarisch aufgezeichneten gemeinschaftlichen Witterungsbeobachtungen zu Meissen auf die Jahre 1772 bis mit 1776, in: Schriften der Leipziger Ökonomischen Societät 4, 1777, 67–284; Anon., Witterungsbeobachtungen über einen jeden Tag der Jahre 1770, 1771 und 1772 als im Jahre vor, in und nach der letzten merkwürdigen Theurung. Aus einer zuverlässigen Quelle geschöpft und in einer bequemen Uebersicht zusammengestellt. Nürnberg 1817 [im Folgenden: Anon., Witterungsbeobachtungen über einen jeden Tag]; Franz Huberti, Observationes Meteorologicae ad annum MDCCLXX. Cum Nonnullis Miscellaneis Philosophico-Litterariis. Würzburg 1771; Johann Georg Rabe, Meteorologische Beobachtungen vor das Jahr 1770 worinnen sowohl die Barometer als Thermometerhöhen, ingleichen die Wind- und Wetterveränderungen, nebst der Höhe des gefallenen Regenwassers, täglich zu drey verschiedenen mahlen aufgezeichnet worden. Anspach [1771]; Witterungs-­ Geschichte vom Jahr 1769 [-1772] in: Lausitzisches Magazin, 1770, 380–383; 1771, 24–26, 56–58, 72–74, 129 f., 145–147, 236–240, 322–325, 391 f.; 1772, 61 f., 77–79, 108–110, 343 f., 357–359; 1773, 31 f., 78–80, 146–148. Die »Wetterbeobachtungen in Wittenberg von 1768 bis 1779. Manuskript der königlichen Akademie der Wissenschaften«, die im Wittenbergischen Wochenblatt veröffentlicht wurden, nutzt: Justus Karl Friedrich Hecker, Geschichte der neueren Heilkunde, Bd. 1: Die Volkskrankheiten von 1770. Berlin 1839, 132–142. Eine weitere (evt. durch Anton Pilgram in Wien aufgezeichnete) Messreihe bietet: Anon., Meteorologische Beobachtungen für Mai 1771 bis Dezember 1775. O. O. ca. 1776 [http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver. pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10133367–8] [20.3.2017]. 72 Josef Paffrath, Zum Wetterverlauf am Bodensee, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 44, 1915, 163–179, 175 [ediert als Euroclimhist.org series 1]; Rimrod, Bericht von der ausserordentlichen Nässe seit der Erndte 1770 bis dahin 1771, in: Anzeige von der Leipziger Oekonomischen Societät in der Michaelis-Messe, 1771, 15–46; Anon., Witterungsbeobachtungen, in: Anzeigen der Königl. Sächsischen Leipziger Ökonomischen So-

Die Klimaanomalie

57

reiche Einzelbeobachtungen in Zeitschriften, Briefen, Chroniken, Egodokumenten und den Akten der Verwaltungen. Sie liegen teilweise aggregiert in Editionen und Datenbanken vor.73 Diese Aufzeichnungen zeigen untereinander ein hohes Ausmaß an Korrelation und erlauben es, den Verlauf einzelner Wetterphänomene wie Schneefronten, Fröste, Dauerregen oder Überschwemmungen überregional zu verfolgen und Angaben nur dort als gesichert aufzunehmen, wo sie von mehreren unabhängigen Beobachter bestätigt werden. Sie ermöglichen sie es, die äußere Seite der Hungerkrise kleinteilig und zuverlässig zu rekonstruieren und in das europaweite Geschehen einzuordnen. Aus der Zusammenschau der historischen Quellen ergibt sich folgender Witterungsverlauf: Die Extremwetterlage begann bereits im Sommer 1769. Sie kündigte sich zunächst durch ergiebigen Regen an, der zudem in Monaten fiel, die eigentlich weit trockener sein sollten. Ab dem Herbst trat eine deutliche Abkühlung hinzu. Beide Phänomene blieben in unterschiedlicher Intensität bis in das Frühjahr 1772 hinein wetterbestimmend. Sie erstreckten sich über ganz Zentraleuropa und betrafen neben dem Reich auch ganz Skandinavien, das Baltikum, Polen, Böhmen, die Schweiz, Frankreich sowie die Niederlande und weite Teile der britischen Inseln. Die ersten spürbaren Abweichungen ereigneten sich im Juni 1769. Anschließend sind aus ganz Zentraleuropa Berichte über Kälte und Dauerregen erhalten. Bern verzeichnete im Juni 23 Regentage.74 In Lindau am Bodensee kam es in der sommerlichen Regenperiode sogar zu Schneefall, »so dass man einander zum Angedenken mitten im Sommer mit Schneeballen werfen konnte«.75 In Nordböhmen und dem Erzgebirge regnete es ab dem 8. und 24. Juni jeweils acht Wochen lang nahezu ununterbrochen. In Schlesien notierte man ab September 61 Tage lang Regen.76 Die »fast täglichen Regengüsse« führten an Rhein, Elbe und den böhmischen Flüssen zu starkem Sommerhochwasser.77 In Sachsen konzentrierten cietät in der Oster-Messe, 1771, 66–81 [im Folgenden: Anon., Witterungsbeobachtungen]; Anon, Feldbestellung, in: Anzeige von der Leipziger oekonomischen Societät, in der Oster-Messe, 1772, 30–56; Anon., Einige Anmerkungen über den zeitherigen Mißwachs, in: Miscellanea Saxonicae, 1771, 322–329, 338–350. 73 Dazu gehören Tambora.org und euroclimhist.unibe.ch sowie Curt Weikinn, Quellentexte zur Witterungsgeschichte Europas von der Zeitwende bis zum Jahre 1850. Hydrographie, Teil 4 (1701–1750). Berlin 1963; Wilhelm Christian Müller, Außerordentliche Wärme und Kälte in Sommern und Wintern seit fünfhundert Jahren, nach Bremischen, Hamburgischen und Oldenburgischen Chroniken und mehreren anderweitigen Thermometer-Beobachtungen seit 100 Jahren, Bremen 1823. 74 Anon., Meteorologische Tabellen, 1770, 197. Zu ähnlichen Verhältnisse in Basel von Juni-Dez vgl. Euroclimhist, series 4 (precipitation days Basel), 1770. 75 Paffrath, Wetterverlauf, 175. 76 Brázdil, Hungerjahre, 47 sowie die Chronik des zeitgenössischen Schneidermeisters Christian Friedrich Marburg in: Otto Sebastian, Entstehung und Entwicklung der Bergstadt Hohenstein. Hohenstein 1887, 193. 77 Weikinn, Witterungsgeschichte, 144–146, hier 144.

58

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

sich die 214 Regentage des Jahres auf den Spätsommer und Herbst. Der Juli war dort »sehr naß, und dessen Witterung der angefangenen Aernte sehr beschwerlich«. Aufgrund des anhaltenden Regens begann das Getreide auszuwachsen.78 In weiten Teilen des Reiches konnte die Ernte 1769 nur nass eingefahren werden, was Haltbarkeit und Ertrag weiter schmälerte.79 Schwerer wogen aber die Behinderungen der neuen Wintersaat. Die extrem nassen Felder ließen sich kaum pflügen und eggen. An vielen Orten musste die Aussaat wegen Regens immer wieder aufgeschoben werden, wodurch sich die Wachstumsphase des Getreides weiter verkürzte.80 Ungewöhnlich früh, Ende September und Anfang Oktober, setzte der erste längere Frost ein und beeinträchtigte die Landwirtschaft zusätzlich.81 In der Lausitz, im Erzgebirge und in Unterfranken fiel noch in der Vegetationsphase der erste Schnee, so dass er »viele Bäume, welche ihr Obst und Blätter noch hatten, zerspaltete und niederbrach« und die Weinernte schädigte.82 In der Schweiz berichteten Augenzeugen von wahren »Gewölben von Schnee«, die sich in diesem Winter aufschichteten.83 Das neue Jahr, 1770, behielten die Zeitgenossen dann als das erste »Wasserjahr« in Erinnerung.84 Nun zeigte sich die veränderte Witterung in vollem Ausmaß. Ihr Kennzeichen bestand in der Kombination von heftiger Winterkälte und unzeitigen Frösten mit extrem gebündelten Regenfällen in der Blüte- und Erntezeit. Sie verband genau jene Stressoren, für die das europäische Agrarsystem besonders 78 Hofmann, Armee, 24; Lausitzisches Magazin, 1771, 73. Als Auswachsen bezeichnet man bei Getreide den ungewollten Beginn der Keimung. Bei nasser Witterung kann dies bereits auf dem Halm erfolgen. Ausgewachsenes Getreide besitzt deutlich weniger Stärke und Eiweiß. Es eignet sich daher selbst nach künstlicher Trocknung kaum zur Brotherstellung. 79 Vgl. etwa Karl Ried, Neumarkt in der Oberpfalz. Eine quellenmäßige Geschichte der Stadt Neumarkt. Neumarkt 1960, 637. 80 Anon., Einige Anmerkungen, 338; Lausitzisches Magazin, 1771, 130. 81 Euroclimhist, series 1 (monthly weather reports), Oktober 1769; Franz-Josef Heyen (Hrsg.), Die Berichte der Kellner der Abtei Marienberg bei Boppard über die Merkwürdigkeiten und häuslichen Begebenheiten der Jahre 1724–1782. Boppard 1964, 82, Rimrod, Bericht, 43. 82 Lausitzisches Magazin, 1771, 130 (Schneefall bis ins Tiefland am 3.10.1769). George Heinrich Fichtner, Merkwürdige Beschreibung von der in denen Jahren 1770 bis 1773 gewesenen großen Theurung und Hungersnoth nebst seiner Lebensgeschichte und Wanderschaft damals in Reimweise seinen Kindern und Nachkommen zum unvergeßlichen Andenken beschrieben anjetzo aber auf Verlangen guter Freunde zum Druck befördert. Schneeberg 1791, Anmerkung; Rüdiger Glaser, Winfried Schenk, Antje Schröder, Die Hauschronik der Wiesenbronner Familie Hüßner. Würzburg, 1991, hier 18 f.; Anon., Die Teuerung von 1770 bis 1772. Nach dem Bericht des Pfarrers Eggel in der Schäftersheimer Pfarrchronik, in: Württembergisch-Franken N. F. 4, 1892, 51–54, hier 51. 83 Max Burri, Gregor Zenhäusern, Sommertemperaturen im Spiegel von Ernte- und Schneebeobachtungen aus Bern und Wallis 1766–1912, in: Gabriel Imboden, Christian Pfister (Hrsg.), Klimageschichte in den Alpen. Methoden, Probleme, Ergebnisse. Brig 2009, 189–206, 199. Zur Häufung von Starkregen, Hochwasser, Erdrutschen und Sturmereignissen im diesem Winter vgl. Pirnaisches gemeinnütziges Wochenblatt, 1770, 29, 44–46, 60 f., 76–78. 84 Weikinn, Witterungsgeschichte, 150.

Die Klimaanomalie

59

anfällig war. Zu Beginn des Jahres dauerte zunächst der lange, sehr kalte Winter an. Ungewöhnlich spät, in der zweiten Märzhälfte, setzte überall noch einmal schwerer Schneefall ein. Die Schneefront ist in ganz Zentraleuropa dokumentiert. Die Wetteraufzeichnungen verzeichneten überregional einen starken Luftdruckabfall und Winde aus Nordosten.85 In Braunschweig schrieb ein Soldat in sein Tagebuch: Am 14ten Marti[ii] fing ein Schnee gestöber an zu fallen, dieses Contiuierte bis d[en] 26ten Mart[ii] ohne das es weder Tag noch Nacht aufhörte, und fast ein beständiger Wind dabey, dieser wehete nicht allein alle gründe und graben eben, sondern auch die Häuser und gebäude wurde durch dächer und ritzen voll Schnee gemacht und getrieben […]. Mann hatt aus dem Zeitungen aus weit entlegenen gegenden, alles eben so gelesen, wie es hier bey uns gewesen ist, und wird von allen orten fast bestättigt, das kein Mensch sich eines so vielen Schnees zu erinnern wüste, welcher unter eins so Häufig von Himmel gefallen wäre.86

In Naumburg, Berlin, Ansbach, Thüringen, dem Erzgebirge oder der Oberpfalz hielt das »Schneegestürm« ab dem 19. März eine ganze Woche lang an.87 Die Schneedecke erstreckte sich nun von der Küste bis in die Alpen. In Greifswald lag der Schnee »so hoch, daß auch die Türen mancher Häuser zugeschneit waren und sich solches alte Leute nicht zu erinnern wissen«.88 Im Kanton St. Gallen notierte Ulrich Bräker, es sei »ein userordentlicher groser schnee gefahlen, das man in Bündten und anderen wilden orthen villen leüten zu hilff komen müste sonsten sey hungers sterben hätten müssen«.89 Überall feierten Menschen noch am 15. April ein weißes Osterfest. In der Kälte froren in Hessen die Mühlen fest und die Elbe vereiste in der Kurmark fast bis zum Grund. Vögel erfroren auf dem Feld oder suchten bei den Menschen Schutz.90 Anschließend blieb der Schnee oft wochenlang liegen. In der Oberpfalz fuhr man noch im Mai drei Wochen lang mit dem 85 Beguelin, Extrait, Tabelle; Anon., Meteorologische Tabellen 1771, 93. Huberti, Observationes, 7. Ein Vergleich der Messungen in London, Regensburg und St. Petersburg zeigt, dass solche Messungen bereits gut korrelierten und hinreichend verlässlich waren. Peter Winkler, Historische Wetterbeobachtungen und -aufzeichnungen in Bayern. Wie wir die Atmosphäre heute verstehen, in: Birgit Angerer u. a. (Hrsg.), Gutes Wetter, schlechtes Wetter. Finsterau 2014, 107–120, hier 111. 86 Grotehenn, Briefe, 181 f. 87 StA Naumburg, Miscr. 24; Heyde, Roggenpreis, 114; Rabe, Meteorologische Beobachtungen, 15 f.; Sigmar Löffler, Geschichte des Dorfes Langenhain von den Anfängen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Erfurt, Waltershausen 2002, 198; Sebastian, Entstehung, 191; Tambora.org [keywords: hunger, 1770, Klarmann]. 88 Tambora.org [keywords: 1770, Besch, Pommern]. Ähnliche Berichte zu extremem Schneefall bis über die Hausdächer in Mecklenburg in: Pirnaisches gemeinnütziges Wochenblatt, 1770, 235 f. 89 Bräker, Schriften, Bd. 1, 257. 90 Heyen, Berichte, 83; Tambora.org [keywords: 1770, Schribbuch, Lautersbach]; Lausitzisches Magazin (1772), 76; Glaser, Hauschronik, 19; Fichtner, Beschreibung, Anmerkung.

60

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

Schlitten aus.91 Die dauerhafte Schneedecke schädigte die darunter liegende Saat massiv. Ulrich Bräker notierte: »unter disem schnee ist auch eine menge sammen erstikt und erfault im Schwaben land u. anderer orten. W[e]ill er sehr lang gelegen, das es im meyen noch wenig ober war, an wilden orten noch kaum im brach monat [Juni].«92 In der Schweiz blickte Johann Jakob Sprüngli ängstlich auf die Schneemassen der Berge und notierte in sein Wettertagebuch, es sei zu befürchten, »dass sich hie und da Gletscher ansezen möchten« – eine Befürchtung, die sich bewahrheitete und in deutlichen Gletschervorstößen um 1770 resultierte. Selbst im Rheinland herrschte im Mai eine „solche Kälte, daß man bis zu End deselves die Stuben hat einhitzen müsse[n].93 Als endlich wärmeres Wetter einsetzt, zerstörten der Eisgang der Flüsse und das hinter den Eisbarrieren angestaute Tauwasser zahlreiche Dörfer und Äcker.94 Nach wenigen ungünstig trockenen Wochen in der Keimphase des Sommergetreides begann dann der Regen mit Macht das Wetter zu bestimmen. Der Beginn der Niederschläge Ende Mai fiel mitten in die verspätete Blütephase und richtete weitere Verheerungen an. In einer fränkischen Hauschronik notierte der bäuerliche Verfasser, dass mitten »in der blut regenwetter eingefallen, daß der bl[üte] sehr schädlich gewest und sind hinweggefallen«.95 Joseph von Hazzi berichtete: »Es regnete unaufhörlich und noch im Anfange Julius fiel in Ungarn und Tyrol tiefer Schnee.« Auch in den Vogesen und im Hunsrück schneite es nun mitten im Sommer.96 In Sachsen fing am 23. Juni ein »Regen an, welcher auch seit der Zeit bis zu Ende des Jahres nicht aufhörete«.97 Tagesgenaue Wetteraufzeichnungen der Zeit stützten diese Aussagen. Allein für den ›Sommermonat‹ Juli registrierte man in Basel 22, in Bern, Ansbach und Nürnberg 18 sowie in Berlin 15 Regentage. In Mafferdsorff an der sächsisch-böhmischen Grenze zählte man von Mai bis September 91 Regentage. In Kassel regnete es fast 100 Tage ununterbrochen.98 91 Joseph Barth, Geschichte des Marktes Mitterteich in der Oberpfalz nach Urkunden und anderen Quellen, in: Verhandlungen des Historischen Vereins von Oberpfalz und Regensburg 35, 1880, 153–284, hier 265. Ähnlich im Eichsfeld: Arand, Abhandlung, 154. 92 Bräker, Schriften, Bd. 1, 257 f. 93 Burri, Zenhäusern, Sommertemperaturen, 200; Heyen, Berichte, 83. Einen Überblick über die raschen Gletschervorstöße in den Alpen ab 1770 bietet: Manuel Barriendos, M. Carmen Llasat, The case of the Maldá Anomaly in the Western Mediterranean Basin (AD 1760–1800). An example of a strong climatic variability, in: Climatic Change 61, 2003, 191–216, hier 207. 94 Zu den Zerstörungen an Elbe, Aland und Düna: Lausitzisches Magazin, 1772, 75–77. 95 Glaser, Hauschronik, 19. 96 Joseph von Hazzi, Betrachtungen über Theuerung und Noth der Vergangenheit und Gegenwart. München 1818, 37; Berlinische Nachrichten, 1770, 501; Emmanuel Le Roy Ladurie, Histoire humaine et comparée du climat, Bd. 2. Disettes et révolutions 1740–1860. Paris 2006, 47. 97 Anon., Einige Anmerkungen, 342. 98 Pfister, Brázdil, Social Vulnerability, 122; Anon., Meteorologische Tabellen 1770, 107; Rabe, Beobachtungen, 29–32; Anon., Witterungsbeobachtungen über einen jeden Tag, 11; Beguelin, Extrait 1770, 86; Anton Jäger, Dorfchronik. Geschichte der Ortschaften Maffersdorf, Proschwitz und Neuwald, nebst einer übersichtlichen Geschichte der betreffenden Herrschaf-

Die Klimaanomalie

61

Der außerordentliche Dauerregen führte in ganz Zentraleuropa zu heftigen Überschwemmungen. Das kontinentale Ausmaß der Wasserfluten war zumindest den zeitungslesenden Beobachtern bewusst.99 Der Bodensee erreichte nun den höchsten Wasserstand seit 1640. Auch der Zürichsee stieg im Juli auf eine »fürchterliche Höhe.« Der Main führte 1770 ganze sechzehn Mal Hochwasser. Auch Elbe, Spree, Rhein und Donau überschritten mehrfach ihr Flussbett.100 Da die Flüsse am Ende des 18. Jahrhunderts kaum reguliert waren, breiteten sie sich über große Flächen aus (Abb. 1). Das enorme Ausmaß der Regenanomalie überstieg jedoch das Potential der Rand- und Auflächen als Pufferzone und führte zu verheerenden Wasserschäden in den umliegenden Kulturlandschaften. Auch viele Städte kämpften mit schweren Überschwemmungen. Dazu gehörten Bregenz und Lindau am Bodensee, aber auch Demmin in Vorpommern oder Kirchhain in der Lausitz.101 Zum anhaltenden Niederschlag kamen zahlreiche Starkregen-Ereignisse. In Leipzig fiel den 22. Julius in der Nacht ein dergestaltiger Regen, daß alle Felder und Wiesen, binnen wenig Stunden überschwemmet wurden. An Orten, wo niemals Wasser stehen bleibt, fand man früh Morgens eine Elle hoch Wasser, welches auch nicht ablaufen konnte, weil alle Bäche, Teiche und Gräben voll waren. […] Es hatte viel Wintersaat wieder umgepflüget und mit Sommergetrayde besäet werden müssen. Durch die Ueberschwemmungen aber ward nun auch diese gänzlich weggerissen.102

ten und vielen Nachrichten aus der Umgegend. Gablonz 1925, 235; Anon., Kasseler Wetter, in: Hessenland 9, 1895, 94–95. Zum Dauerregen in Norddeutschland, Böhmen und der Region um Paris vgl. Wilhelm Christian, Ausserordentliche Wärme und Kälte in Sommern und Wintern seit fünfhundert Jahren, nach Bremischen, Hamburgischen und Oldenburgischen Chroniken und mehreren anderweitigen Thermometer. Beobachtungen seit 100 Jahren. Bremen 1823, 58 f.; Brázdil, Hungerjahre, 48; Le Roy Ladurie, Disette, 552. 99 In Würzburg notierte der Jesuitenpater Huberti: »De insolitis, horrificis, calamitosis inundationibus & tempestatibus queruntur Anglia, Gallia, Hispania, Neopolis, Mutinensis, Ducatus, Belgium, Hollandia, Saxonia, Striria, Carinthia, Carniola«. Huberti, Observationes, 20. Im Wienerischen Diarium hieß es: »Durch das stette Regenwetter schwellen die Gewässer dermassen gewaltig, daß nicht nur der Donaustrohm, sondern auch alle andere kleine Flüße allenthalben die Schranken ihres Ufers übersteigen, die Wege und Strassen verderben, und dem Landmann mit Überschwemmung der Wiesen und Felder großen Schaden verursachen. Derley übel von niedergegangenen Wolkenbrüchen, Ergießung der Flüssen und Überschwemmung, wird durch Briefe aus dem Oberlande, Böhmen, und Hungarn einberichtet«. Zit. nach Elisabeth Strömmer, Klima-Geschichte. Methoden der Rekonstruktion und historische Perspektive. Ostösterreich 1700 bis 1830, Wien 2003, 177. Ähnlich im Lausitzischen Magazin, 1772, 75. Einen Überblick der Einzelereignisse bietet: Weikinn, Witterungsgeschichte, 150–173. 100 Weikinn, Witterungsgeschichte, 148–166; Militzer, Kap. 5.2.1.; Strömmer, Klima-Geschichte, 176–178. 101 Weikinn, Witterungsgeschichte, 149, 164; Tambora.org [keywords: 1770, Besch, Pommern]. 102 Anon., Wetterbeobachtungen, in: Anzeigen der Königl. Sächsischen Leipziger Ökonomischen Societät in der Oster-Messe, 1771, 66–81, hier 71 f.

62

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

Die Auswirkungen auf die Landwirtschaft waren verheerend. In der Lausitz notierte ein Zeitungskorrespondent: »Was in den Auen von Haber gesäet gewesen wurde an Saamen, Dünger und Erdreich weggeschwemmet; Brücken, Stege und Wege sehr zerrissen.«103 Der anschließende harte Winter brachte so viel Schnee, dass er vielerorts »Bäume samt der Wurzel aus der Erde nieder drückte«. Wie der Blick in die Messreihen zeigt, hatte man im Elbtal während des gesamten Jahres überhaupt nur 5 sonnige Tage verzeichnet.104 1771 steigerte sich die Intensität der Witterungsanomalie noch. Der Ablauf von Winterkälte, spätem Schneefall und unzeitigem Regen in Sommer und Herbst entsprach teilweise bis auf die Woche genau dem des Vorjahres, nahm aber noch extremere Ausmaße an. Das Annual Register in London sprach nun von einer »Zweiten Sintflut«.105 Nach zwei Missernten trafen die Auswirkungen von Kälte und Regen zudem auf Gesellschaften, die kaum noch über Vorräte oder Ressourcen zur Gegenwehr verfügten. Wieder zog Ende März eine Kaltfront mit heftigem Schneefall über Zentraleuropa hinweg. Der Winter war schon zuvor so eisig gewesen, dass etwa die Weser bis auf den Grund zufror.106 Vom 19. bis zum 24. März 1771 fielen nun, wie schon im Vorjahr, gewaltige Mengen an Schnee, die wieder viele Wochen, oft bis in den Mai, liegenblieben.107 Die Augenzeugen betonten die Einzigartigkeit der Schneemassen. Sie seien so gewaltig, »daß kein Mensch sich dergleichen zu entsinnen weiß«, oder dass »dergleichen in hiesiegen Gegenden [Meißen], um diese Jahreszeit fast niemand erlebt hatte« und dass man nicht wisse »daß [je] eine solche Kälte gewesen ist.«108 Auch in diesem Fall wusste etwa der braunschweigische Soldat Grotehenn aus der Presse, dass es sich um ein überregionales bzw. sogar weltweites Phänomen handelte.109 Für Karfreitagsprozessio 103 Lausitzisches Magazin, 1771, 323. Ausführliche Beschreibungen der Ereignisse und Schäden, ebd., 1772, 100–102. 104 Euroclimhist, series 1 (monthly weather reports), Dezember 1770; Hecker, Heilkunde 139 (vermutlich nach den Aufzeichnungen Titius’ in Wittenberg (vgl. FN 70). 105 »The continual rains, which fell from the latter end of May, through the whole month of June, and part of July, presented in the level countries the appearance of a second deluge. The inundations of the Elbe were particularly dreadful, and the damage incredible.« Annual Register, 1771, [History of Europe], 84. 106 Müller, Wärme, 58 f. 107 Berichte aus Franken und Böhmen in Brázdil, Hungerjahre, 48 und Anon., Die Teuerung, 52; zu Bern: Anon., Meteorologische Tabellen 1770, 97; zu Sachsen und Österreich: Sebastian, Entstehung, 191; Lausitzisches Magazin, 1772, 344; Christian Oskar Polster, Nachrichten über die Kirchgemeinde Reichenbach bei Königsbrück aus alter und neuer Zeit. Kamenz 1895, 10; Militzer, Klima, Daten [1771], 108 Grotehenn, Briefe, 184; Tambora.org [keywords: 1770, Schribbuch, Lautersbach]. Laut Grotehenn, Briefe, 184 lagen die instrumentell gemessenen Temperaturen auf dem extremen Niveau der ›großen Winter‹ von 1709 und 1740. 109 »[D]ieser frost und Schnee hat bis zu Ende des Monat Aprill fort gedauert; die Zeitungen haben uns auch berichtet wie dieser außerordentlicher Schnee und frost in dem weit entferntesten Ländern eben so gewesen […].« Grotehenn, Briefe, 184.

Die Klimaanomalie

63

Abb. 1: Gewässerkarte der Spree mit den 1770 überschwemmten Ländereien zwischen ­Hangelsberg und Hartmannsdorf.

nen am 31. März 1771 mussten die Wege erst mühsam freigeschaufelt werden.110 Diesmal war die Kälte so extrem, dass Vögel im Flug erfroren oder erschöpft in den Häusern Zuflucht suchten.111 Mitte April fuhr man im Hamburger Umland noch mit dem Schlitten über die gefrorenen Flüsse und viele Meeresengen wurden erst im Mai wieder eisfrei.112 Als der Schnee endlich taute, hinterließ er anstatt der Wintersaat vielerorts braune felder. Die Pflanzen waren durch die Kälte »ausgewintert« und abgestorben.113 Das erste Gras zeigte sich oft erst, nachdem im Mai endlich die letzten Fröste endeten. In Bayern beobachtete Joseph von Hazzi: »Selbst am ersten May konnte man in den Gegenden der Donau weder an Bäumen noch am Grase den eingetretenen Frühling erkennen. Nicht Laub, nicht Blüthe

110 Franz Haus, Chronik von der Stadt Aschaffenburg. Aschaffenburg 1855, 5; Sebastian, Entstehung, 191; Polster, Nachrichten, 10 111 »Es sind den Leuten die Vögel in die Häuser, ja gar in die Stuben geflogen, sich der Kälte zu verbergen. In unserem Brunnen hab ich auch eine Lerche gefangen, die Schneegäns sind wieder zurückgeflogen, sind hier im Dorf auf die Dächer gefallen, ihr Leben zu retten«. Tambora.org [keywords: 1770, Schribbuch, Lautersbach]. Ebenso Lausitzisches Magazin, 1772, 344. 112 Friedrich Samuel Bock, Versuch einer wirthschaftlichen Naturgeschichte von dem Königreich Ost- und Westpreussen, Bd. 1. Dessau 1782, 817; Weikinn, Witterungsgeschichte, 186– 188. 113 Constantin Beyer, Neue Chronik von Erfurt oder Erzählung alles dessen, was sich vom Jahre 1736 bis zum Jahr 1815 in Erfurt Denkwürdiges ereignete. Erfurt 1821, 161; Heinrich Harms zum Spreckel (Hrsg.), Des Kupferschmiedemeisters Ludwig Kleinhempel Hauschronik. Im Anhang: Die große Teuerung zu Annaberg im Jahre 1771. Nach den Originalen des Annaberger Ratsarchivs herausgegeben. Annaberg 1927, 116. Zur Gefahr des Befalls mit dem Schneeschimmel-Pilz (fusarium nivale) vgl. Pfister, Brázdil, Social Vulnerability, 120.

64

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

sah man, Alles war noch todt, kaum das Gras hervorgekrochen!« Vergleichbare Beobachtungen machte man in Braunschweig und Ostpreußen.114 Auch in diesem Jahr wird die zweite Maihälfte als relativ warm und sehr trocken beschrieben. Aber schon im Juni setzten die gleichen sintflutartigen Regenfälle wie im Vorjahr ein. Der anonyme Schreiber einer erzgebirgischen Familienchronik notierte zum Regenextrem: Und wenn es einen Guß oder Regen tat, so war es sogleich, als wenn ein Wolkenbruch niederginge, daß das Wasser gleich als Bäche floß und über Felder, Gärten als ein Strom ging und wohl ¼ Joch herum stand. Sobald es anfing, so lagen die Schloßen [Hagelkörner, D.C.] hoch, und wo ein Fahrweg war, den konnte man nicht sehen wie tief das Wasser stand, bis es sich verlief. Und das dauerte beständig fort. Die Obstbäume hatten gewaltige Knospen und Blüten. Da sie aber in schönstem Flor stunden, kamen Schloßen und die starken Güsse – keine Regen konnte mans nennen – da ging alles zu Schaden […]. Wenn die Leute früh aufs Feld gingen, auf die Erde durften sie nicht sehen, sondern in die Höhe.115

Dauerregen vermischt mit Hagel und Starkregen charakterisierte von nun an die Witterung. Im Juni zählte man in Nürnberg 19 in Basel 20 und in Berlin 22 Regentage.116 In der preußischen Hauptstadt, konzentrierte sich der Regen, anders als in Normaljahren, auf die Sommer- und Herbstmonate. Zwischen Juni und August regnete es in Berlin mehr als doppelt so oft, wie sonst üblich.117 Die Niederschlagsmengen lagen dabei extrem hoch.118 Zeitgenossen klagten schockiert über den »fast unaufhörlichem Regen«, der es nahezu unmöglich machte, die Ernte trocken und ohne das gefürchtete Auswachsen der Ähren einzufahren.119 Zusätzliche Starkregen-Ereignisse führten vielfach

114 Lausitzisches Magazin, 1772, 343; Hazzi, Betrachtungen, 53; Grotehenn, Briefe, 184; Bock, Versuch, 817. 115 Spreckel, Hauschronik, 116, 120. 116 Anonym, Witterungsbeobachtungen über einen jeden Tag, 10; Euroclimhist, series 4 (precipitation days Basel), Juni 1771; Beguelin, Extrait, 85. 117 Gegenüber dem (heutigen) langjährigen Mittel stieg die absolute Zahl der jährlichen Regentage zwar nur von 106 auf 123. Von Juni bis August lag sie aber bei 62 statt der üblichen 26 Tage. Beguelin, Extrait 1771; Deutscher Wetterdienst: Klimainformationen Berlin: http:// worldweather.wmo.int/016/c00059.htm [4.1.2013]. Zur ähnlichen Verteilung in Sachsen: Miscellanea Saxonicae, 1771, 37. Ansbach verzeichnete 1770 statt der 94 heute durchschnittlichen Regentage 202. Rabe, Beobachtungen, 64; http://www.klima.org/deutschland/klima-ansbach/ [22.10.2015]. 118 Beguelin, Extrait 1771, 85, 93. 119 Gottlieb Christoph Schmaling, Sammlung vermischter Nachrichten zur Hohnsteinischen Geschichte, Erdbeschreibung und Statistik. Halberstadt 1791, 295. Ähnlich: Bernhard Opfermann, Die Geschichte des Heiligenstädter Jesuitenkollegs, Bd. 2. Duderstadt 1989, 390.

Die Klimaanomalie

65

zur großflächigen Erosion der Ackerkrume und zu schweren Erdrutschen.120 In Leipzig berichtete man, dass aufgrund der Wassergüsse die Straßen und Felder niemals trocken wurden […] wie denn im ganzen Sommer wenig Tage ohne Regen gewesen sind. [Es] fielen so häufige und anhaltende Regen ein, daß fast ganz Sachsen, zu geschweigen die flachen Leipziger Gegenden, überschwemmet wurden, und die besäeten Felder großen Teichen ähnlich wurden. Die vorherige Witterung hatte die Felder mit Wasser dergestalt angefüllet, daß der Regen weder sich in solche ziehen, noch durch die graben und Flüsse etwas binnen fast drey Wochen ablaufen konnte.121

Das Ausmaß der Regenanomalie materialisierte sich nun für jeden sichtbar im Erscheinen der gefürchteten »Hungerbrunnen«. Der Ausbruch solcher wilder Quellen, die nur in extrem niederschlagsreichen Jahren Wasser führten, ist in Böhmen, Bayern und Sachsen dokumentiert.122 In der Bezeichnung als Hungerbrunnen oder -quelle artikulierte sich die langjährige Erfahrung der Zeitgenossen, dass solche extremen Niederschläge in Mitteleuropa regelmäßig schwere Teuerungen nach sich zogen.123 Diese spontanen Wasserquellen dienten nicht allein als volkstümliche Menetekel, sie verursachten oft auch direkte und schwere landwirtschaftliche Schäden.124 Als Folge des unnachgiebigen Regens fielen auch die Hochwasser-Ereignisse 1771 extremer aus als im Vorjahr. Wieder waren nahezu alle zentraleuropäischen Flusssysteme betroffen.125 Die Überschwemmungen wurden vielfach mit Hochwassermarken dokumentiert.126 Einen Schwerpunkt bildeten Sachsen und Böhmen. Die Elbe blieb »von Monat März an, bis zum Monat Aug. fast nie ordentlich in [ihren] Ufern«. Auch der Stand der Moldau wurde nur vom Extremhochwasser 120 Brázdil, Hungerjahre, 49; Miscellanea Saxonicae 5, 1771, 222–224; Anon, Feldbestellung, in: Anzeige von der Leipziger oekonomischen Societät, in der Oster-Messe, 1772, 30–56, hier 32; Arbeitskreis für Dorfchronik (Hrsg.), Heimatbuch der Gemeinde Erda. Erda 1971, 115 f.; Friedrich Schmidt, Vor 200 Jahren. Die Hungersnot von 1770–1772, in: Der Heimatfreund für das Erzgebirge 2, 1972, 35 f. 121 Anon., Feldbestellung, 32. Ähnlich: Fichtner, Beschreibung, Anmerkung. 122 Anon, Feldbestellung, 31; Rankl, Politik, 745; Brázdil, Hungerjahre, 49. 123 Es handelt sich um Karstquellen, die nur nach Regenextremen Wasser führten oder um artesische Quellen, die auf freiem Feld durch den gestiegenen hydrostatischen Druck des Umlandes entsprangen. Zu den Hungerbrunnen »aus dessen starkem oder schwachen ueberlaufen der gemeine Mann Theurung oder wohlfeile Zeit weissagt« vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsche Sagen. Bd. 1. Berlin 1816, 141 f. sowie Krünitz, Oeconomische Encyklopädie, Bd. 26. Berlin 1782, 607. 124 »Auf hohen Feldern sind sogenannte Hungerquellen, welche man seit Jahren undenklichen nicht gesehen hatte, entstanden […] welche den Gebäuden und darinnen befindlichen Getreyde vielen Schaden gethan […]. Diese Hungerquellen haben sich sehr zahlreich eingefunden, und viele gute Felder verdorben«. Anon, Feldbestellung, 31. 125 Zahlreiche Quellenbelege bietet Weikinn, Witterungsgeschichte 178–209. 126 Pötzsch, Krahl, Auszüge, Tab III, 73–75.

66

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

1784 übertroffen. Entlang des Erzgebirges wurden »alle kleinen unbedeutenden Bäche, ohne Namen, und Quellen großen Seen ähnlich, und setzten ganze Dörfer mit ihren Feldfluhren unter Wasser, welches auch währendem Sommer hindurch, auf keine Weise abzuleiten war.«127 In der Region fielen die Hochwasser so extrem aus, dass sie immer wieder bis an die Altäre der Kirchen reichten, obwohl diese zumeist strategisch an erhöhten Plätzen erbaut worden waren.128 Das betroffene Gebiet besaß ein solches Ausmaß, dass viele Predigten der Zeit auf die biblische Sintflut anspielten. Die Wassermassen rissen »die Aerndte, das Vieh, die Wohnungen der Menschen mit sich fort zu dem Meere hin, in welches sie sich wütend stürzen […]. Die Ufer der Düna [in Lettland], der Elbe, der Moldau, der Donau, des Tanais [Don], des Niepers [Dnjepr], auch so die des Rheins und des Lechs waren einem See ähnlich«.129 Im Reich zeigte sich das Ausmaß der Regenanomalie besonders am extremen Sommerhochwasser der Elbe. Deren Überschwemmung sorgte für verheerende Schäden in Gebieten, die bereits unter schwerem Nahrungsmangel litten. Schon im März 1771 meldete man aus Meißen »die allerhöchste Fluth, im gegenwärtigen Jahrhundert« – ein Rekord, der im Juni bereits wieder eingestellt und mehrfach bildlich festgehalten wurde (Abb. 2).130 Am 20. Juni überschwemmte die Elbe Dresden, nachdem sie zuvor schon mehrere Wochen Hochwasser geführte hatte. In der Altstadt reichte das Wasser bis in den ersten Stock der Häuser und richtete schwere Schäden an. Danach weiteten sich die Überschwemmungen flussabwärts aus, ohne dass der Pegel in Dresden zurückging. Stetiger Regen und der bereits durchnässte Boden im Ufer- und Einzugsbereich sorgten dafür, dass das Hochwasser mehrere Wochen anhielt. Noch am 29. und 30. Juni zerstörten Sturzfluten nach einem Starkregen in Chemnitz sämtliche Brücken und eine Kirche. In Gera wuschen die Wassermassen sogar die Toten aus ihren Gräbern.131 Fortdauernder Regen führte am 8. Juli im Erzgebirge zu weiteren verheerenden Überschwemmungen. In Altenburg stand Regenwasser bis zum Altar der Spitalkirche und riss 22 Häuser mit sich. Nach weiteren Wochen durchgehenden Niederschlags kam es durch Starkregen vom 28. bis 30. Juli überall zu Erdrutschen und Verwüstungen.132 Über die flussabwärts gelegenen Gebiete klagten die Dresdener Zeitungen: 127 Miscellanea Saxonicae, 1771, 231–234; Militzer, Klima, Kap. 5.2.1.; Regensburger Zeitung vom 15.3.1784. Zitate aus Christian Gottlob Pötzsch, Chronologische Geschichte der großen Wasserfluthen des Elbstroms seit tausend und mehr Jahren. Dresden 1784, 82 f. 128 Weikinn, Witterungsgeschichte, 191, 201, hier 206. 129 Zesch, Kanzelrede, 13. 130 Pötzsch, Geschichte, 82 f. 131 Anon., Kurzgefaßte Beschreibung der zu Ende des Monats Junii c. a. in den Gegenden der Elbe, Mulde, Pleisse, Saale und Elster gehabten großen Ueberschwemmung, in: Miscellanea Saxonicae 5, 1771, 231–234 und Anon., Fortgesetzte Beschreibung der letzern großen Wasserfluthen, in: Ebd., 242–248. 132 »Wo niemals zuvor ein Wasser gesehen worden, da entstanden Quellen, Moder, Sümpfe und Brüche, es stürzten ganze Berg ein, als zu Glauchau und Rochlitz. Alle Straßen wurden un-

Die Klimaanomalie

67

»Das bedencklichste bey dießmaliger Ueberschwemmung [der Elbe, D.C.] war der langsame Abfluß […] der von dem steten Zuwachs von immer neuen Regengüßen« herrührte.133 Wo die Wasser zusammentrafen, nahmen die Zerstörungen ein noch katastrophaleres Ausmaß an. Im Wittenbergischen liefen die Fluten bis über die Dächer der Häuser auf und töteten viele Anwohner. Die großräumigen Überschwemmungen fielen so drastisch aus, dass dort »gar keine Erndte zu erwarten stund« und selbst die Obstbäume im Wasser abstarben. Die Kraft des Wassers bedeckte die Felder großräumig mit Schlamm und Geröll. In der Region waren »ganze Kornfuhren an beyden Elbufern, über 1 Elle hoch mit Schlamm überdeckt, unter dem Wasser verderbt worden.«134 Die enormen Schäden bezifferte man allein in der Region Meißen auf knapp eine Million Reichsthaler.135 Zudem blockierte das Hochwasser den zentralen und gerade in dieser Hungerzeit dringend benötigten Transportweg der Elbe. Erst im Herbst wich das Wasser so weit zurück, dass »die nunmehr unumgänglich nöthigen Getreidetransporte aus entfernten Ländern, besonders aus Rußland, über Hamburg […] herbeigeschafft werden konnten.«136 Hamburg wurde jedoch selbst schwer vom Elbhochwasser getroffen. Die Flutwelle erreichte die Stadt am 8. Juli und durchbrach die Deiche bei Neuengamme und Bergedorf. Das Wasser stieg noch bis zum 21. Juli an, überschwemmte die Elbmarschen großflächig und setzte sie bis zur Geesthöhe unter Wasser. Am Hamburger Gesundbrunnen waren die Häuser bis zum Dach überflutet, das Umland »auf 5 Meilen weit ein See, auf welchem man mit Kähnen fuhr«.137 Am 24. Juli klagte der Senat: Eine allgemeine Ueberschwemmung [hat] unsere Korn-Felder in Seen verwandelt, und die Früchte des Landes verdorben. Mancher Landmann hat kaum noch unter dem Dache

brauchbar, denn daß Toben des Wassers riß dieselben immer zu 3, 4 und 5 Ellen tief auf […]. In unserer Kirche, die hoch auf dem Berge liegt, stand das Wasser bei dem Taufstein ½ Elle hoch […]. Auch konnten es die Reisenden nicht genug beschreiben, was die Mulde, Pleiße und Elster für Schaden angerichtet. Es war sechs bis acht Meilen um uns herum keine Brücke mehr.« Im Anschluss blieben die Märkte der Region ohne Korn, weil alle Transportwege zerstört waren, die Mühlen voller Schlamm standen und ihre Wehre erst nach fast einem Jahr wieder repariert werden konnten. Sebastian, Entstehung, 195 f. 133 Ebd., 233. 134 Ebd., 232. 135 Pötzsch, Geschichte, 86. Vgl. auch HStA Dresden, Loc 508, Vol. I, bes. p. 168–177. 136 Pötzsch, Geschichte, 82–85. Dies traf auf viele Flusswege zu. So konnten an der Wiener Donau wegen des Hochwassers die bereits im Vorjahr beschädigten Brücken nicht repariert werden. Die Hilfslieferungen nach Böhmen mussten daher über Pontonbrücken abgefertigt werden. Strömmer, Klima-Geschichte, 180; Weinzierl-Fischer, Hungersnot, 495 f. Auch das Straßennetz war betroffen. Viele Fuhrleute stellten angesichts der gefährlich durchnässten Straßen und »reissenden feldwasser« ihre Arbeit ein, »um der Lebensgefahr zu entgehen.« Anon., Feldbestellung, 32. 137 Weikinn, Witterungsgeschichte, 208.

68

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

einen schlechten Winkel, wo er sich hinlegen könne. Hunger und Elend herrscht überall, und die ganze Natur ruft um Hülfe.138

Der Schock dieser »stillen Flut« war so groß, dass der Senat das Ereignis mit einem eigenen Monument würdigte (Abb. 10), dem ersten öffentlichen Denkmal dieser Art in der Stadt.139 Die unzeitigen Regenfälle hielten auch in den Folgemonaten an und schädigten im Herbst ein drittes Mal Ernte und Aussaat. Die nasskalte Witterung setzte sich bis in das Frühjahr des Jahres 1772 hinein fort. Im Januar war es noch einmal so kalt, dass die Donau zufror. Die dringenden Getreidetransporte aus Ungarn mussten deshalb unter enormen Kosten auf Karren erfolgen.140 Erst als die neue Vegetationsphase begann, berichteten die Zeitzeugen wieder von längeren warmen und trockenen Abschnitten.141 Nach fast drei Jahren stellte sich langsam der bekannte Witterungsverlauf wieder ein. Trotz der schwierigen Bedingungen bei der Aussaat sorgte das trockenere Wetter dafür, dass die Ernte des Wintergetreides im Juli 1772 in vielen Regionen etwas besser ausfiel als zuvor. Dass die Brotpreise trotzdem teilweise noch über Jahre hinweg deutlich erhöht blieben und oft weiterhin Hunger herrschte, war nun keine direkte Folge der Witterung mehr, sondern das Resultat der auch sozial tief erschütterten Gesellschaften in Zentraleuropa. Im Erzgebirge schloss ein Augenzeuge seinen Rückblick auf die vorausgegangenen »Wasserjahre« mit dem Verweis auf Psalm 42: »Deine Fluten rauschen daher […] all deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich«. Seine Beschreibung endet mit den Worten: Die Fenster des Himmels hatten sich aufgetan, die Quellen der Erde ergossen, wo vorher nichts war. Die kleinsten Bäche wurden zu Strömen, die Wasser ergossen sich aus ihren Ufern, der unaufhörliche Regen erweichte sogar die Berge und viele Felder, verdeckte alles mit Sand, Schlamm und Verwüstungen. Da waren schmerzliche Empfindungen.142

Ihre enorme Wucht bezog die Witterungsanomalie nicht zuletzt aus ihrer geographischen Ausdehnung, die weit über das Reichsgebiet hinausging, in der historischen Forschung aber kaum wahrgenommen worden ist. Frankreich litt unter denselben Kälte- und Regenanomalien, die das agrosoziale System erschütterten. Angesichts des Dauerregens verzeichnete man die schwersten Überschwemmun 138 Anon., Sammlung der von Eurem Hochedlen Rathe der Stadt Hamburg […] ausgegangenen allgemeinen Mandate, Teil 6. Hamburg 1774, Verordnung vom 24.6.1771. 139 Volker Plagemann, Denkmäler und Brunnen in Hamburg. Flut 1771 – Feldzug 1870/71. Unveröff. Habilitationsschrift RWTA Aachen 1973, 83. 140 Strömmer, Klima-Geschichte, 181; Kumpfmüller, Hungersnot, 63. 141 Selbstzeugnis Johannes Marti, Landesbibliothek des Kantons Glarus N 184, 5; Hazzi, Betrachtungen, 69–72; Euroclimhist, series 1 (monthly weather reports), Juni-September 1772. 142 Spreckel, Hauschronik, 124.

Die Klimaanomalie

69

Abb. 2: Der Jahrmarkt in Meissen während des Hochwassers 1771. Lithographie um 1830 nach einer zeitgenössischen Zeichnung von Gottlob Ehrlich.

gen seit 50 Jahren und stand buchstäblich »mit den Füßen im Wasser«.143 Auch in Irland begann 1769 eine dreijährige Phase schwerer Regenfälle, die sich jeweils im Spätsommer und Herbst massierten. Sie führte zu verheerenden Überschwemmungen, fortgespülten Brücken und Wegen sowie zu drei konsekutiven Miss­ ernten. Der extrem kalte Winter 1771/72 mit seinen enormen Schneefällen erinnerte die Zeitgenossen an das Extremjahr 1740. Angesichts der fortdauernden Niederschläge und der spürbaren Teuerung befürchteten die Korrespondenten der Zeitschriften auch hier früh den Ausbruch einer »famine«.144 In Schottland blieb den Zeitgenossen vor allem das eiskalte und verregnete Frühjahr 1771 als »black spring« in Erinnerung. Auch in England und Wales verzeichnete man aus diesem Grund Missernten sowie verheerende Überschwemmungen später im Jahr.145 Im 143 Le Roy Ladurie, Disette, 44–46, hier 552 f. 144 Ipswich Journal vom 27.10.1770. Zum Witterungsverlauf und den Missernten vgl. James S. Donnelly, Hearts of Oak, Hearts of Steel, in: Studia Hibernica 21, 1981, 7–73, hier 44–46. 145 Vasold, Sterblichkeitskrise, 134. Helen Berry, The Great Tyne Flood of 1771. Community Responses to an Environmental Crisis in the Early Anthropocene, in: Jason Kelly, u. a. (Hrsg.), Rivers of the Anthropocene. Oakland 2018, 119–134, 126. Die extreme Kälte in Schottland setzte sich im folgenden Winter fort und führte zu einer schweren Teuerung. Reading Mercury vom 30.3.1772. In den englischen Midlands maß der Meteorologe Thomas Barker im Februar 1771 mit

70

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

Norden war ganz Skandinavien betroffen. Wie im Reich konzentrierten sich die extremen Niederschläge in den Sommermonaten, während die Wintertemperaturen gegenüber dem Durchschnitt der beiden vorausgehenden Jahrzehnte um 1 bis 4 ° C absanken. In weiten Teilen Finnlands fror es daher bis in den Juni und Juli des Jahres 1769. Noch Ende Mai 1770 klagten Beobachter in Stockholm, das ganze Land sei unter Schneemaßen begraben.146 Im Osten trafen die Regenfluten ganz Mitteleuropa bis nach Siebenbürgen.147 Nur südlich der Alpen und westlich der Pyrenäen bot sich ein anderes Bild. Hier fehlte der Regen. Während Italien eine trockenere Witterung mit guten Ernten verzeichnete, herrschte in weiten Teilen Spaniens eine mehrjährige Dürre, die ihrerseits die Nahrungsversorgung bedrohte.148 Damit ging das Ausmaß der Anomalie deutlich über die Reichweite vergleichbarer europäischer Witterungsextreme wie etwa dem Jahr ohne Sommer 1816 hinaus.149 Dies galt zumal, da parallele Anomalien auch Regionen außerhalb Europas trafen. Die zeitgleiche Dürre und katastrophale Hungersnot im nördlichen Indien mit mehreren Millionen Toten und Flüchtlingen ist gut dokumentiert.150 In Ägypten verursachte ausbleibendes Nilhochwasser schwere Missernten.151 In der Karibik, Zentralamerika und Mexiko verzeichnete man 1769 bis 1772 ebenfalls verheerende Dürren, Nahrungsknappheit und Hunger, die zu schweren Konflikten führten. Der Mangel an Nahrung motivierte dort eine Welle von Kriminalität und militanten Angriffen der indigenen Bevölkerung, gegen die sich die Kolonisten 4 ° Fahrenheit (etwa -15 ° C) die tiefste Temperatur seiner jahrzehntelangen Aufzeichnungen. Aufgrund der extremen Niederschläge im November 1770 (fünffache Menge über dem zehnjährigen Mittel) begann er seine Messreihen zu veröffentlichen, konstatierte aber, dass Nordengland noch weit heftiger betroffen sei: Thomas Barker, A Letter from Thomas Barker, Esq; of Lyndon in Rutlandshire, to James West, Esq; Pres. R. S. concerning Observations of the Quantities of Rain fallen at that Place for several Years, in: Philosophical Transactions of the Royal Society 61, 1771, 221–226. Zur Teuerung in England vgl. Kap. II.3.4. 146 Jährliche Niederschlagshöhepunkte bildeten auch hier die Sommermonate, etwa der August 1771 und der Juli 1772. Arthur Erwin Imhof, Aspekte der Bevölkerungsentwicklung in den nordischen Ländern. 1720–1750. Bern 1976, 377–410; Vasold, Sterblichkeitskrise, 112. 147 Brázdil, Hungerjahre. Zu monatelangem Regen in Rumänien im Juni und Juli 1771 mit verheerenden Überschwemmungen vgl. Michael Conrad von Heidendorf, Eine Selbstbiographie, in: Archiv des Vereins für siebenbürgische Landeskunde N.F. 16, 1880, 158–203, hier 191–195; Anon., Die Überschwemmung Schäßburgs im Jahre 1771, in: Sächsischer Hausfreund 14, 1852, hier 111–114. 148 Hier setzten erst ab 1772/73 wieder feuchtere Jahre ein. Derflinger, Getreideteuerung, 25; Bräker, Schriften, Bd. 1, 262; Grab, Politics, 306–347. Von einer drohenden Hungersnot aufgrund der Dürre in Spanien spricht der Hampshire Chronicle vom 19.10.1772. Eine klimatologische Analyse bietet: Barriendos, Llasat, Maldá Anomaly. 149 Zu dessen begrenzterer Ausdehnung vgl. Krämer, Menschen. In der Folge kehrten sich etwa die Handelsströme entlang des Rheins um, was 1770 mangels Angebot gar nicht mehr möglich war. Behringer, Tambora, 76, 95. 150 Arnold, Hunger. 151 Galiano, Briefe, 302; Hampshire Chronicle vom 12.10.1772.

Die Klimaanomalie

71

mit einer Mischung aus Militäraktionen und Bettagen zur Wehr zu setzen versuchten.152 Wie in Europa beobachtete man auch in Nordamerika eine Spaltung des Wettergeschehens. Während die südlicheren Gebiete unter einer Dürre litten, kam es im Norden zu schweren Überschwemmungen und anhaltender Kälte.153 Vermutlich existiert in der Vormoderne kein Jahr, in dem sich nicht irgendwo in der Welt eine schwere Missernte ereignete. Die ungewöhnliche Häufung dieser Ereignisse um 1770 motivierte aber bereits die Zeitgenossen, über Telekonnektionen zwischen den Extremlagen in Europa und den anderen Kontinenten nachzudenken. Substantiieren lassen sich solche Überlegungen aber nur mithilfe der Klimaforschung.154 Für die Alte Welt bekräftigt die Anomalie der Jahre 1769 bis 1772 die Signatur »europäischer Hungerjahre«, wie sie die Historische Klimatologie zuletzt identifiziert hat. Im Raum nördlich der Alpen gingen solche Ereignisse immer auf übermäßigen Regen zurück.155 Gerade die Kombination von starken Niederschlägen in der Blüte- und Erntephase mit späten Kälteeinbrüchen, traf das frühneuzeitliche, getreidebasierte Agrarsystem an seinem verletzlichsten Punkt. Die Verteilung, das Ausmaß und die Effekte von Niederschlag und Kälte ähneln deutlich den Verhältnissen der Hungerjahre 1315–1318, 1437–1438, 1569–1574, 1594–1598, 1691–1695 oder 1816/17, gehen aber in ihrer geographischen und zeitlichen Ausdehnung teilweise noch über sie hinaus.156 Die Veränderungen gegenüber einem Normaljahr fielen dabei weniger durch ihr absolutes Ausmaß als vielmehr durch die saisonalen Verschiebungen ins Gewicht. In ihrer Abweichung vom 30-jährigen Durchschnitt verliefen die Jahre 1769 bis 1772 weniger extrem als die Anomalien des ›Großen Winters‹ von 1709, des Laki-Ausbruchs 1783/1784 oder des Jahrs ohne Sommer 1816. Diese Ereignisse waren durch drastischere, aber begrenzte Anomalien gekennzeichnet.157 152 Georgina H. Endfield, Climate and Crisis in Eighteenth Century Mexico, in: Medieval History Journal 10, 2007, 99–125, hier 112 f. Zeitgenössische europäische Berichte zum Nahrungsmangel am Golf von Mexiko bieten der Derby Mercury vom 26.10.1770 und der Leeds Intelligencer vom 23.10.1770. Zur Karibik, Shrewsbury Chronicle vom 23.11.1772. Das Scots Magazine vom 1.3.1772, 630 meldete, die »famine« in Honduras, habe 80.000 Tote gefordert. Zum klimatischen, politischen und sozioökologischen Umfeld der Dürre von 1770–1773 vgl. Sherry Johnson, El Niño, Environmental Crisis, and the Emergence of Alternative Markets in the Hispanic Caribbean, 1760s-70s, in: William and Mary Quarterly 62, 2005, 365–410; Ari Ouweneel, Shadows over Anáhuac. An Ecological Interpretation of Crisis and Development in Central Mexico, 1730–1800. Albuquerque 1996, bes. 24, 94 f. 153 Sebastian, Entstehung, 193; Vasold, Sterblichkeitskrise, 135. 154 Vgl. Kap. IV.4.3. Zur zeitgenössischen Verknüpfung der Dürre in Indien und der Nässe in Europa vgl. etwa Anon., Wahrscheinliche Vermuthungen oder Annual Register, 1771 [History of Europe], 83. 155 Pfister, Brázdil, Social Vulnerability, 120; Reith, Umweltgeschichte, 14. 156 Collet, Krämer, Germany; Behringer, Tambora, 76; 157 Zu 1709 vgl. Luterbacher u. a., European Seasonal and Annual Temperature Variability, Trends, and Extremes Since 1500, in: Science 303, 2004, 1499–1503, 1500 sowie Monahan, Year.

72

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

Die Witterung der 1770er Jahre entwickelte ihre fatale Kraft hingegen nicht aus dem Grad der Veränderung, sondern aus ihrer langen Dauer und dem jahreszeitlichen Muster ihrer Effekte. Auf das sozionaturale Gefüge wirkte sich die 36 Monate andauernde Verschiebung und Bündelung der Regenfälle in die Vegetationsperiode weit verheerender aus als punktuelle Kälteextreme oder die saisonale Abkühlung nach Vulkanausbrüchen.

2.2.  Archive der Natur Eine ähnlich hochauflösende Rekonstruktion wie die eben beschriebene lässt sich mit paläoklimatischen Proxy-Daten nicht erzielen. Sie erreichen bisher weder die zeitliche noch die räumliche Präzision der gesellschaftlichen Archive. Ihre Informationen vermitteln mit ihrer größeren Reichweite aber besseres Orientierungswissen und sind unerlässlich, um die Periodizität, die Amplitude und den Verlauf einzuordnen sowie die möglichen Ursachen der Klimaanomalie zu bestimmen. Umgekehrt illustrieren die historischen Daten nicht nur den präzisen lokalen Ablauf der größeren Witterungsmuster, welche die Paläoklimatologie beobachtet. Sie decken auch beträchtliche Unsicherheiten in den bisherigen Modellierungen auf und verweisen auf das Potential einer besseren Integration der beiden Archive. Angesichts der aus klimatologischer Perspektive kurzen Dauer der Anomalie kommen aus dem breiten Spektrum indirekter, sogenannter ›proxy‹-Daten nur wenige Archive in Frage. Die Analyse von Seesedimenten oder Pflanzenpollen erreicht bestenfalls eine dekadische Auflösung. Bei Stalagmiten ist eine genauere, annuelle Resolution noch in der Erprobung. Eisbohrkerne wiederum lassen sich zwar oft jahresgenau erfassen, bilden aber lediglich großräumige Temperatursignale ab. Die notwendige zeitliche Präzision für solche kurzen Schocks erreicht bisher allein die Dendrochronologie.158 Die Breite einzelner Baumringe und ihre maximale Spätholzdichte erlaubt je nach Standort, Gattung und Analyseparameter Aussagen über Temperatur und Feuchtigkeit in der Wachstumsperiode. Allerdings bleiben auch hier bedeutende Unsicherheiten. In der Paläoklimatologie hat man Baumringchronologien zumeist für Zeiträume von einigen hundert bis mehreren tausend Jahren herangezogen.159 Ihre Nutzung für hochauflösende Klimauntersuchungen liegt angesichts der analogen Verwendung in der historischen Baudatierung zwar nahe, ist aber in ihren Unsicherheiten immer noch wenig untersucht. So können aussagekräftige Daten bisher nur dort erhoben Zu 1816: Jürg Luterbacher, Christian Pfister, The Year Without a Summer, in: Nature Geoscience 8, 2015, 246–248 und Krämer, Menschen, 278–281. 158 Eine Übersicht über Klimaproxies und ihre Reichweiten bieten: Frank Sirocko, Geschichte des Klimas. Stuttgart 2013, 41–65 sowie Raymond S. Bradley, Paleoclimatology: Reconstructing Climates of the Quaternary. Amsterdam 32015, 4–8. 159 Büntgen, 2500 Years.

Die Klimaanomalie

73

werden, wo das Wachstum der Bäume einem bekannten Stressfaktor unterliegt. Das trifft vor allem auf die Vegetationsgrenzen im Norden Europas oder in den Alpen zu. Ob man anhand dieser Daten Aussagen zu weiter entfernten Regionen extrapolieren kann, lässt sich nur mit statistischen Methoden abschätzen, deren Verlässlichkeit schwankt. Bisher erzielt man daher vor allem für den skandinavischen Raum hohe Übereinstimmungswerte zwischen dendrochronologischen und historischen Daten.160 Hinzu kommt, dass Baumringe extreme Temperaturanomalien, weit deutlicher anzeigen, als graduelle Niederschlagsverschiebungen, die jedoch viel häufiger und viel verheerender waren. Besonders klare Signale ließen sich daher für die Witterungsanomalien der Jahre 1783/84 und 1816/17 identifizieren, die auf die Ausbrüche der Vulkane Laki und Tambora zurückgingen.161 Ihre Prägnanz lädt dazu ein, die Prognosekraft der Baumringe zu überschätzen. Dagegen schlägt sich die meteorologische Signatur eines typischen mitteleuropäischen Hungerjahres mit starken Regenfällen im Spätsommer und Herbst dendrochronologisch kaum nieder, da Bäume ihr Wachstum zu dieser Zeit bereits weitgehend einstellen. In den etablierten Klimarekonstruktionen scheinen die Krisenjahre 1770–1772 daher lediglich in Form einer leicht verringerten Durchschnittstemperatur auf. Die verheerenden Niederschläge zur Erntezeit werden dagegen meist gar nicht registriert.162 Als entsprechend unsicher müssen daher (die oft sehr weitreichenden) Aussagen zu Chronologien vermeintlicher sozionaturaler Extremereignisse in Zen­ traleuropa bewertet werden, die sich in erster Linie auf Baumringdaten stützen.163 Gerade im Bereich der Niederschläge besteht zwischen den gängigen Klimamodellen und den historisch beobachteten Werten eine erhebliche Diskrepanz.164 Bisher sind die blinden Flecken der Naturarchive noch so groß, dass auch katastrophale Extreme völlig übersehen werden könnten. Daher sprechen die Ergeb 160 Heli Huhtamaa, Exploring Past Food Crises with Written and Tree-Ring Evidence: A Case Study from Finland, in: Collet, Schuh, Famines sowie Ulf Büntgen u. a., Assessing the Spatial Signature of European Climate Reconstructions, in: Climate Research 41, 2010, 125–130. 161 Luterbacher, Pfister, Year Without a Summer. 162 Vgl. Andreas Pauling u. a., 500 Years of Gridded High-Resolution Precipitation Reconstructions over Europe and the Connection to Large-Scale Circulation, in: Climate Dynamics 26, 2006, 387–405; IPCC, Fourth Assessment Report. Working group I. The Physical Science Basis. London 2007, 467–483; Alexander Land u. a., Do Trees from Southern Germany Reveal Insights into Multi-Millennia Central European Hydroclimate? in: Quaternary Science Reviews (under review). Zu Abweichungen zwischen Baumring-Analysen und historischen Daten um 1770, besonders im Spätsommer, vgl. etwa: Petr Dobrovolný, Rudolf Brázdil, Mirek Trnka, Oldřich Kotyza, Hubert Valášek, Precipitation Reconstruction for the Czech Lands, AD 1501–2010, in: International Journal of Climatology 35.1, 2015, 1–14 sowie laufendes Forschungsprojekt C ­ arolin Rethorns zur Multiproxyanalyse von Teuerungsjahren des 18. Jahrhunderts. 163 Zur Korrelation von Baumringproxies und dem Aufstieg Roms, der Völkerwanderung und dem Dreißigjährigen Krieg vgl. etwa: Büntgen, 2500 Years. 164 Fredrik Charpentier u. a., Northern Hemisphere Hydroclimate Variability over the Past Twelve Centuries, in: Nature 532, 2016, 94–98.

74

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

nisse dieser Arbeit dafür, Proxy-Daten aus Naturarchiven möglichst gemeinsam mit historischen Quellen – etwa in Form von relativen Indexwerten – zu analysieren und zu kalibrieren.165 Weit belastbarere Aussagen liefern die Naturarchive bei der meteorologischen Einordnung sowie der Erklärung von Klimageschehen und Witterungsmustern. Da die entsprechenden Datensätze jedoch häufig für andere Zwecke konzipiert wurden, ist auch in diesem Fall eine weitgehende Desaggregation nötig. Lange Klimareihen zeichnen sich oft durch Glättungen und stillschweigend interpolierte Lücken aus, die nicht immer nachvollziehbar gemacht werden. Wenn aus diesen Datenaggregationen im Nachhinein jährliche Werte herausgelöst werden, entstehen zuweilen erhebliche Verfälschungen. Ein Beispiel dafür bietet etwa der Old World Drought Atlas, eine vielgenutzte Zusammenführung der wichtigsten langjährigen Klimarekonstruktionen, der trotz der beträchtlichen Unsicherheiten jährliche Werte ausgibt. Er ermittelt aufgrund fehlerhafter Interpolation für die Jahre 1770 bis 1772 in Zentraleuropa kontrafaktisch eine schwere Dürre.166 Da auf diesen Datenreihen oft auch die gängigen Modellierungen historischer Klimata und die Rekonstruktionen annueller Strömungssanomalien wie der North Atlantic Oscillation (NAO) basieren, drohen hier unsaubere Zirkelschlüsse.167 165 Bisher arbeiten die gängigen Klimarekonstruktionen meist mit absoluten Temperaturund Niederschlagswerten, die sich besser mit den späteren instrumentellen Messungen korrelieren und kalibrieren lassen, aber für die Zeit vor 1800 nur sehr begrenzt vorliegen. Fehlende Daten werden daher häufig interpoliert oder aus der instrumentellen Periode zurückgerechnet (vgl. FN 166). Diese Lücken lassen sich füllen, indem man – wie von Christian Pfister vorgeschlagen – aus qualitativen historischen Quellen, die in weit größerem Umfang vorliegen (Wetteraufzeichnungen, Erntedaten, Tagebüchern, etc.), relative Indexwerte bestimmt (klassisch auf einer Skala von +3 bis -3). Die Integration dieser Pfister-Indices in auf absoluten Werten beruhende Rekonstruktionen ist mit zusätzlichem mathematischem Aufwand verbunden. Sie geben die Situation für Krisen wie die der Jahre 1770–1772 jedoch weit präziser wieder. Vgl. zur Methode und einer Rekonstruktion für diese Jahre: Pfister, Brázdil, Social Vulnerability. 166 Edward R. Cook, u. a., Old World Megadroughts and Pluvials duing the Common Era, in: Science Advances 1, 2015, DOI: 10.1126/sciadv.1500561. Die Daten sind abrufbar unter: http:// kage.ldeo.columbia.edu/TRL/OWDA/. Wie häufig der Fall, ist die Ursache der Abweichung für den Endnutzer nur schwer zu ermitteln, da weder Unsicherheitsfaktoren noch die Rohdaten der benutzten Serien offengelegt und nachprüfbar gemacht werden und deren jährliche Auflösung erst im Nachhinein erfolgte. Sie geht in diesem Fall offenbar auf eine Messlücke der Berner Wetterstation von 1766–1776 zurück, die verzerrend interpoliert wurde – anstatt etwa die präzisen Angaben in Anon., Meteorologische Tabellen zu nutzen. Die zentrale Bedeutung Berns (bei insgesamt nur vier Messpunkten in Europa) wird jedoch nur in der ursprünglichen Publikation offengelegt: Urs Gimmi u. a., A Method to Reconstruct Long Precipitation Series Using Systematic Descriptive Observations in Weather Diaries. The Example of the Precipitation Series for Bern, Switzerland (1760–2003), in: Theoretical and Applied Climatolology 87, 2007, 185–197, hier 189: »Gaps in the observation records (August 1766–1776) were completed with the results of the statistical reconstruction«. Ähnlich fehlerhafte Ergebnisse liefert bisher (Juni 2017) auch der vergleichbar aufgebaute Climate Explorer: https://climexp.knmi.nl/. 167 Vgl. die Diskussion in: Cormac Ó Gráda, The Waning of the Little Ice Age, in: Journal of Interdisciplinary History 44, 2014, 301–325.

Die Klimaanomalie

75

Während die hohe Auflösung der Naturproxies noch Probleme bereitet, erlaubt die komparative Einordnung ein klareres Bild. Vergleicht man die europäische Anomalie der 1770er Jahre mit anderen historischen Witterungsabweichungen, tritt sie als ein in der Dauer extremes, im Verlauf aber charakteristisches Beispiel eines cold/wet-complexes der Kleinen Eiszeit hervor. In Anlehnung an die Anomalien von 1491 und 1816 lassen sich auch 1770 und 1771 in Zentraleuropa als »Jahre ohne Sommer« bezeichnen.168 Die in Klimarekonstruktionen für 1770 und 1771 errechnete Absenkung der Temperatur gegenüber den Vordekaden von −1 bis −2 ° C in Zentraleuropa und von bis zu −4 ° C in den Alpen sowie Mittelund Nordskandinavien, entspricht weitgehend den historischen Aufzeichnungen und ist auch durch das spürbare Anwachsen der Alpengletscher in diesen Jahren dokumentiert.169 Die Paläoklimaforschung bietet zwei Erklärungen für dieses Witterungsmuster an. Die erste legt eine vulkanische Ursache nahe und setzt die beobachteten Effekte mit jenen der Jahre 1784 und 1816/17 in Beziehung, die auf die Ausbrüche der Vulkane Laki und Tambora zurückgehen. Tatsächlich verzeichnet man im Umfeld der Hungerjahre mehrere bedeutende Eruptionen. Der Vesuv brach im Jahr 1766/7 und 1770 aus, der Cotopaxi in Ecuador im Jahr 1768. Dennoch erscheint diese Herleitung nach aktuellem Wissensstand unwahrscheinlich. Lokale Ausbrüche, wie der des Laki auf Island 1784, besaßen mit ihrer sulfathaltigen Aschewolke zwar einen spürbaren, jedoch eher kurzfristigen Effekt. Die Aktivität des Vesuvs in diesen Jahren kommt daher allenfalls als verstärkender Faktor, nicht aber als Ursache der überregionalen Klimaanomalie in Frage. Weit besser passen die erheblich stärkeren Ausbrüche des Cotopaxi am 10. Februar und 4. April 1768 in das vermutete Raster. Sie ereigneten sich in der für Klimawirkungen sensiblen Jahreszeit und entsprächen mit einem guten Jahr Vorlauf der beobachteten Verzögerung zwischen Eruption und Klimaeffekt. Der Vulkan befindet sich zudem auf einem ähnlichen Breitengrad wie der Tambora und besitzt so das Potential mit einem Eintrag in die Stratosphäre vergleichbare globale Fernwirkungen zu erzielen. Diese Eruptionen könnten neben der europäischen Anomalie auch die parallelen Extreme auf den anderen Kontinenten erklären. Allerdings sind für diese Jahre bisher in keinem Eisbohrkern die typischen klimawirksamen Schwefeldioxid-Einträge eines solchen Ereignisses nachgewiesen worden. Auch die lokalen Quellen berichten zwar von erheblichen Zerstö 168 Chantal Chamenisch, Two Decades of Crisis: Famine and Dearth during the 1480s and 1490s in Western and Central Europe, in: Collet, Schuh, Famines, 69–90. 169 Carlo Casty u. a., A European Pattern Climatology 1766–2000, in: Climate Dynamics 29, 2007, 791–805; Anders Moberg, Heikki Tuomenvirta, Per Øyvind Nordli, ›Recent climatic trends‹ in: Matti Seppälä (Hrsg.), The Physical Geography of Fennoscandia. Oxford 2005, 113– 133; Luterbacher u. a., Temperature. Ähnliche lokale Messwerte notieren: Beguelin, Extrait; Brázdil u. a., Hungerjahre oder Imhof, Bevölkerungsentwicklung, 403. Zu den Gletschervorstößen vgl. Barriendos u. a., Llasat, Maldá Anomaly, 207; Le Roy Ladurie, Disette, 522.

76

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

rungen. Sie erreichten aber nicht das katastrophale Ausmaß des Tambora-Ausbruchs von 1815.170 Bisher wird die Eruption daher vermutlich zu Recht in die Stufe 4 des Vulkanexplosivitätsindex (VEI) einordnet, die anders als die Stufe 7 der Tambora-Eruption keinen stratosphärischen Eintrag und damit auch keine überregional spürbaren Klimaeffekte bewirkt haben dürfte. Daher erscheint ein primär vulkanischer Antrieb der Anomalie nach dem momentanen Forschungsstand unwahrscheinlich.171 Ein zweiter Ansatz identifiziert Anomalien der marinen und atmosphärischen Strömungen als mögliche Auslöser. Die großen Zirkulationssysteme sind erst in den letzten Jahren in ihren Mustern, Perioden und Wirkungen verstanden worden. Dazu gehören neben der El Niño Southern Oscillation (ENSO), die Atlantic Multidecadal Oscillation (AMO) sowie die für Europa maßgebliche North Atlantic Oscillation (NAO). Vor allem das ENSO-Phänomen wird mittlerweile trotz der bestehenden Unsicherheiten für eine Vielzahl historischer Ereignisse verantwortlich gemacht.172 Allerdings bleiben mögliche globale Wechselwirkungen zwischen NAO und ENSO bisher spekulativ, weil die gegenseitige Beeinflussung von Luft- und Meeresströmungen mit ihren eigenen Klimawirkungen noch nicht hinreichend geklärt ist. Aus diesem Grund lässt sich bisher auch nicht mit Sicherheit feststellen, ob die ungewöhnlich klare Synchronizität von Wetterextremen in Europa und den anderen Kontinenten nicht auf Zufällen beruht, sondern tatsächlich auf klimatische Telekonnektionen zurückzuführen ist.173 Dies gilt auch für die naheliegende Korrelation von nassem Europa und trockenem Indien um 1770, die als Muster historisch mehrfach gut belegt ist, etwa in den 1690er, 1740er und den 1890er Jahren. Sie erschien so prägnant, dass sie bereits den Zeit 170 Vgl. die Beschreibung in Alexander von Humboldt, Vue de Cordillères. Monumens des Peuples indigènes de l’Amérique, Bd. 1. Paris 1816, 142–147. 171 Eine vulkanische Ursache vermutet etwa: Vasold, Sterblichkeitskrise. Zur Aktivität des Vesuvs vgl. etwa: Pirnaisches Wochenblatt, 1770, 367 oder Berlinische Nachrichten, 1770, 100, 242. Zum Cotopaxi und seinen Zerstörungen vgl. Humboldt, Vue, 142–147 sowie den entsprechenden NOAA-Eintrag in: https://www.ngdc.noaa.gov/hazard/volcano.shtml [1.5.2017]. Allerdings sind auch die Klimawirkungen des Tambora-Ausbruchs zwar seit der Eruption des Krakatau 1883 weitgehend anerkannt, wurden aber erst in den letzten Jahren schlüssig bewiesen. Zu diesen Klimawirkungen vgl. Alan Robock, Climatic impacts of Volcanic Eruptions, in: Haraldur Sigurdsson (Hrsg.), Encyclopedia of Volcanoes. Amsterdam 2015, 935–942. Zu den erheblichen Unsicherheiten in der VEI-Klassifikation historischer Eruptionen und ihren Klimawirkungen vgl. Didier Swingedouw u. a., Impact of Explosive Volcanic Eruptions on the Main Climate Variability Modes, in: Global and Planetary Change 150, 2017, 24–45. 172 Davis, Holocausts, 268; César Caviedes, El Niño – Klima macht Geschichte. Darmstadt 2014, 113–119. 173 Stefan Brönnimann, Impact of El Niño–Southern Oscillation on European Climate, in: Review of Geophysics 45.3, 2007, DOI: 10.1029/2006RG000199. Der in einigen Studien beobachtete Zusammenhang von ENSO und negativer NAO könnte die globalen Witterungslagen 1770–1772 zumindest teilweise erklären. Die klimatologische Korrelation scheint aber nur schwach ausgeprägt zu sein und erstreckt sich vermutlich nicht auf die Sommermonate (s. u.).

Die Klimaanomalie

77

genossen auffiel.174 Anders als ihre transkontinentalen Wechselwirkungen sind die einzelnen Strömungssysteme deutlich robuster erforscht und erlauben abgewogene Verknüpfungen von regionalen Klimaimpulsen und Missernten.175 Für die Dürren in Zentralamerika hat man ein starkes ENSO-Ereignis als Ursache plausibel gemacht.176 Für Europa legen die Forschungen nahe, dass zumindest die Kältephase im Winter auf eine mehrjährige, negative nordatlantische Oszillation (möglicherweise überlappend mit einer Phase der AMO) zurückgeht. Sie würde etwa die deutliche Spaltung des Witterungsgeschehens entlang von Alpen und Pyrenäen erklären, die für NAO-Extreme typisch ist. Das daraus resultierende jetstream blocking der üblichen Luftzirkulation durch ein beständiges Tiefdrucksystem über Zentraleuropa lässt sich auch anhand von historischen Messdaten und den Wetterangaben aus Schiffstagebüchern rekonstruieren.177 Es erscheint daher am wahrscheinlichsten, dass der Auslöser der europäischen Klimaanomalie in einer Störung der atmosphärischen Zirkulation zu suchen ist. Was wiederum die Fluktuationen der Strömungssysteme auslöst, wird bis heute kontrovers diskutiert. Vermutet wird eine Kombination von ozeanischen ›Treibern‹ und solaren ›Forcings‹, wie sie auch für die Muster der Kleinen Eiszeit insgesamt verantwortlich gemacht werden.178 Zu letzterem Impuls machten auch die Zeit 174 Vgl. Anon., Wahrscheinliche Vermuthungen oder Hecker, Heilkunde, 133–137, der die Tatsache »daß gerade um die Zeit der größten Dürre in Südasien Europa am meisten überfluthet wurde« auf Veränderungen des Erdmagnetismus zurückführte. Zu 1690, 1740 und 1890 vgl. etwa Davis, Holocausts, 239–276, Thore Lassen, Hungerkrisen. Genese und Bewältigung von Hunger in ausgewählten Territorien Nordwestdeutschlands 1690–1750. Göttingen 2016, 132–134 und Endfield, Climate, 105–109. 175 Zur nuancierten und reflektierten Verknüpfung von ENSO und dem Empire am Ende 19. Jahrhunderts vgl. Davis, Holocausts. Weitgehend spekulativ und deterministisch hingegen: Brian Fagan, Floods, Famines, and Emperors. El Niño and the Fate of Civilizations. New York 1999. Zu den Unsicherheiten einer globalen Verknüpfung dieser Effekte: Parker, Crisis, 14–17, 686. 176 Johnson, El Niño. 177 Anomalien der NAO beeinflussen vor allem die Wintermonate. Eine tentative Rekonstruktion der extrem negativen NAO-Phase um 1771 (und umstrittene Überlegungen zu ihrer möglichen Verknüpfung mit der Kleinen Eiszeit) bietet: Valérie Trouet u. a., Persistent positive North Atlantic Oscillation mode dominated the Medieval Climate Anomaly, in: Science 324, 2008, 78–80. Die Auswirkungen historischer NAO-Extreme auf den Niederschlag modelliert Pauling, 500 Years, 399–401. Aussagen zu den zentraleuropäischen Sommermonaten lassen die bisherigen Modelle aber nur eingeschränkt zu, da hier weitere Faktoren eine Rolle zu spielen scheinen. Ebd., 401. Monatliche Luftdruckkarten des persistenten Tiefdruckgebiets um 1771 bietet: Brázdil, Hungerjahre. Dass ältere Rekonstruktionen oft nur eine normal negative NAO ausweisen, geht möglicherweise darauf zurück, dass sie anhand moderner Messwerte entstehen, die mithilfe weniger, langfristig gemessener und in absoluten Werten vorliegenden historischen Daten zurückberechnet werden. Eine stärkere Berücksichtigung der relativen Werte aus den in FN 71 genannten historischen Quellen, würde vermutlich noch ein sehr viel deutlicheres Bild zeigen. Dazu und zu einer Abschätzung des NAO-Impulses auf historische Klimaanomalien vgl. Jürg Luterbacher u. a., Temperature. 178 Vgl. Heinz Wanner u. a., North Atlantic Oscillation – Concepts and Studies, in: Surveys in Geophysics 22, 2001, 321–382 oder Eduardo Moreno-Chamarro u. a., Winter Amplification of

78

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

genossen bemerkenswerte Beobachtungen. Sie berichteten in den Krisenjahren immer wieder von stark gehäuft auftretenden Nordlichtern, die außergewöhnlich weit im Süden Europas zu sehen waren, besonders intensiv erschienen und aufgrund der unklaren Quellensprache leicht als Hinweis auf eine vulkanisch veränderte Albedo missdeutet werden können. Den Höhepunkt solarer Aktivität bildete der 18. Januar 1770, an dem es zu einem großen geomagnetischen Sturm gekommen zu sein scheint, der diese Himmelserscheinung aus den üblichen nördlichen Breiten bis tief in den Süden hinein ausdehnte.179 Die elektromagnetischen Turbulenzen korrespondierten eng mit dem Maximum des 3. Sonnenfleckenzyklus um den September 1769. Sie waren so stark, dass an Kirchtürmen zuweilen elektrische Entladungen in Form sogenannter Elmsfeuer zu sehen waren.180 Heute gilt es als unwahrscheinlich, dass die dafür verantwortlichen Sonnenstürme und -eruptionen eigene, kurzfristige Witterungseffekte erzeugen können. Die Zeitzeugen verstanden sie jedoch als bemerkenswerten Ausdruck eines aus den Fugen geratenen Wettergeschehens. Ihnen dienten sie als sichtbares Zeichen der für sie nur schwer zu erfassenden atmosphärischen Verschiebungen.181 Betrachtet man Natur- und Gesellschaftsarchive gemeinsam, legen die Ergebnisse nahe, dass es sich bei der Anomalie der 1770er Jahre um einen extremen, aber typischen cold/wet complex gehandelt hat, wie er sich im klimatologischen Rahmen der Kleinen Eiszeit gehäuft beobachten lässt. Es handelt sich daher nicht bloß um ein Witterungs-, sondern um ein Klimaphänomen. Als wahrscheinlichsthe European Little Ice Age Cooling by the Subpolar Gyre, in: Nature Scientific Reports, 7, 2017, 9881, DOI:10.1038/s41598-017-07969-0. 179 In Chemnitz beobachtete man am 18. Januar 1770 eine große »Nordscheine und war der ganz Himmel blut roth, die strahlen schoßen durch einander von Norden gegen Süden gegen 11 Uhr in der Nacht wurden die rothe Strahlen ganz weis, und schoßen von Osten gen Westen«. Stadtarchiv Chemnitz, Weishaarsche Chronik, GC 5, p. 389. Ähnliche Beobachtungen machte man in Ansbach, Böhmen, Zwickau und in den Alpen. Das gleiche Ereignis beschreiben vermutlich auch Berichte aus Stuttgart, Wien und sogar aus Cadiz. Rabe, Beobachtungen, 53; Jäger, Dorfchronik, 234; Sebastian, Entstehung, 194; Rudolf Wolf, Johann Jakob Sprüngli und seine klimatologischen Beobachtungen in den Jahren 1759–1802, in: Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern 334, 1855, 28–51, 43 [mit weiteren Daten]; Pirnaisches gemeinnütziges Wochenblatt, 1770, 92, 157. Während des Ereignisses verschob sich der magnetische Nordpol um 16 °. Heckel, Heilkunde, 133. Weitere Ereignisse erwähnen: Hecker, Heilkunde, 133 f.; Lausitzisches Magazin, 1770, 130; 1771, 240, 323; 1772, 78; 1773, 147 sowie Bräker, Schriften, Bd. 1, 211, 257, 260. 180 Bräker, Schriften, Bd. 1, 258. Datenbank des Royal Observatory of Belgium [http://www. sidc.be/silso/datafiles] [9.3.2016]. 181 Üblicherweise wird eher ein mittelfristiger Zusammenhang zwischen solarer Aktivität und der Kleinen Eiszeit, etwa während des Maunder- und Spörerminimums hergestellt, der sich aber bisher weder hinreichend global noch in Isotopenanalysen nachweisen lässt. Rasmus E. Benestad, Solar Activity and Earth’s Climate. Chichester 2002, 169–196. Auch Hecker bewertete die Korrelation mit den vielen Nordlichtern als so signifikant, dass er enge Beziehungen zwischen dem Geomagnetismus mit der »Erschütterung [des] Haushalts der Natur« und den »Veränderungen der Witterung im Ganzen« vermutete. Hecker, Heilkunde, 133 f.

79

Die Hungerjahre

ter Auslöser lässt sich eine Störung der atmosphärischen Zirkulation identifizieren, die – etwa im Rahmen einer NAO-Anomalie – zu einer Blockade der üblichen Luftströmungen führte. Sie initiierte einen der für diese Klimaperiode charakteristischen mehrjährigen »mode shifts«.182 In Nord- und Zentraleuropa resultierte das Phänomen in der verheerenden Kombination von harten Wintern, einer verkürzten Vegetationsperiode und einer Massierung der Niederschläge im Sommerhalbjahr. Überregionale Telekonnektionen mit den synchronen Anomalien in Indien und auf weiteren Kontinenten liegen zwar nahe, lassen sich anhand des bisherigen Forschungsstandes aber nicht abschließend belegen. Dass diese Konstellation bei allen Parallelen in den Witterungseffekten vermutlich nicht auf den einmaligen Sonderimpuls eines Vulkanausbruchs zurückzuführen ist, illustriert eindringlich, wie katastrophal sich auch eine ungünstige Verkettung ›normaler‹ Schwankungen auswirken konnte. Die Zusammenschau offenbart, dass diese folgenschweren und weit häufigeren Muster mit den bisherigen Klimarekonstruktionen kaum aufzuspüren sind. Eine verbesserte Integration von gesellschaftlichen und natürlichen Archiven erscheint daher dringend geboten, um Fehleinschätzungen und deterministische Verkürzungen zu vermeiden.

3.  Die Hungerjahre 3.1. Agrarkrise Die Effekte ›erster Ordnung‹, mit denen die Witterungsanomalie die Landwirtschaft traf, fielen verheerend aus.183 Dies galt umso mehr, als sie sich über mehrere Jahre hinweg aggregierten. Der wichtigste Faktor bestand in der andauernden Feuchtigkeit. Sie hatte gleich mehrere negative Folgen: Die Nässe erschwerte die Feldarbeit erheblich, sie minderte die Qualität der Ernte und sie verringerte die Lagerfähigkeit des Korns. Die Furcht vor dem Verderben des Getreides verzögerte zunächst die Ernte des Wintergetreides. Feuchtes Getreide drohte im Speicher auszukeimen, begünstigte die Entstehung von Pilzen und ließ sich kaum weiterverarbeiten. Die Bauern warteten daher lange auf trockene Tage. Da das Regenwetter immer weiter anhielt, trieb Getreide oft noch auf dem Halm aus. Begann man deshalb doch mit der Ernte, erschwerten die durchnässten Böden die Erntearbeiten. In Sachsen klagte man:

182 Pfister, Brázdil, Social Vulnerability, 120 f.; Landsteiner, Brot, hier 94. 183 Zum Versuch, den Impuls mit Indexwerten zu bestimmen und vergleichbar zu machen vgl. Pfister, Brázdil, Social Vulnerability, 122–127. Ausführliche zeitgenössische Beschreibungen der Missernten bieten: Anon., Feldbestellung; Anon., Einige Anmerkungen; Lüders, Bedenken.

80

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

Die Felder waren dadurch dergestalt eingeweicht worden, daß die besten Pferde Vorund Nachmittags in guten und etwas bündigen Boden kaum drey Stunden arbeiten konnten. Viele Pferde haben sich den Leib gesprenget, und sind todt auf dem Felde liegen geblieben.184

Bis auch das Sommergetreide eingebracht war, dauerte es zuweilen bis in den Dezember hinein. Die gesamte Arbeitsperiode verkürzte sich durch Kälte, Regen und verspätete Aussaat oft um vier oder mehr Wochen und verschob sich im Kalender teilweise mehrere Monate nach hinten.185 Angesichts der frühen Fröste und der nassen Böden gefährdeten diese Verzögerungen nun auch die Aussaat für das kommende Jahr.186 Auf völlig durchnässten oder bereits gefrorenen Böden konnten die Samen mit der Egge nicht eingearbeitet werden und das Korn ging nicht mehr rechtzeitig auf. Die lose aufliegenden Samen wurden oft von Vögeln vertilgt oder weggespült. Viele Felder blieben wegen Zeitmangels sogar ganz unbestellt.187 Selbst Sandböden waren aufgrund der extremen Staunässe »viele Wochen unbrauchbar, daß solche darüber versauerten, und da die Zeit zum Säen mittlerweile verfloß, weder besät noch mit etwas bestecket werden konnten«.188 Mehr noch als die Kälte schädigte der späte Schneefall im März 1770 und 1771 mit seiner über Wochen geschlossenen Schneedecke die Saat. Unter dem Schnee winterte das Getreide aus, verfaulte und starb ab.189 Oft konnte es nur noch untergepflügt und der Acker mit 184 Anon., Feldbestellung, 30. 185 Zur um vier Wochen verzögerten Getreideernte in Preußen, Böhmen, Kurhannover und der Schweiz vgl. Burri, Sommertemperaturen, 199; Brázdil, Hungerjahre, 50; Otto von Münchhausen, Der freye Kornhandel als das beste Mittel Mangel und Theurung zu verhüten. Zur Warnung auf künftige Zeiten aus der Erfahrung und aus neuen Gründen erweisen. Hannover 1772, 79; Bock, Versuch, 818. Zur Verzögerung von zehn bzw. sieben Wochen im Schwarzwald und um Leipzig vgl. Werner Hacker, Auswanderung aus dem südöstlichen Schwarzwald zwischen Hochrhein, Bar und Kinzig, insbesondere nach Südosteuropa im 17. und 18. Jahrhundert. München 1975, 10; Anon., Einige Anmerkungen, 344. Zur Aussaat in Sachsen im Dezember statt im August vgl. Anon., Feldbestellung, 35. Phänologische Angaben zur um zwei bis drei Wochen verzögerten Kirschblüte, Weinlese und Roggenernte im Schweitzer Mittelland und in Frankreich in: Euroclimhist, series 14–16, 1769–1772; Le Roy Ladurie, Disette, 535. 186 »Die Witterung war im Herbste 1769 so ungünstig, und der Frost trat so frühzeitig ein, daß viele ihre Aecker vor dem Winter nicht einmal stoppeln, geschweige daran denken konnten, zum voraus zur Saat zu pflügen, oder wie man es hier nennet, Auftrift zu machen«. Rimrod, Bericht, 43. Chronisten notierten: »Der Anbau der Felder verspätete sich bis Oct. und November. Auch da unterbrach ihn das häufige Regnen. Niedrige Felder sind gar nie trocken geworden. Der Anbau erregte daher nirgends Zufriedenheit.« Hazzi, Betrachtungen, 45. 187 »[M]an ward mit dieser schlechten Bestellung erst Anfangs Novembr. [1770] fertig und konnten hiernächst bey dieser Nässe viele tausend Scheffel Wintergetrayde nicht einmal ausgesäet werden«. Anon., Einige Anmerkungen, 344. 188 Anon, Feldbestellung, 30 f. 189 Anon, Witterungsbeobachtungen, 67; Bräker, Schriften, Bd. 4, 489; Rabe, Beobachtungen, 55; Sebastian, Entstehung, 191.

Die Hungerjahre

81

dem weniger ertragreichen Sommergetreide oder anderen Substituten nachgesät werden.190 Allerdings behinderten Frost und Schnee häufig noch das Umpflügen und die Sommersaat.191 Im Verlauf des verspäteten Frühjahrs schädigten Regen und Unwetter dann die Blütephase und damit den Ertrag der Frucht.192 Im Sommer verringerte der Dauerregen zudem Anzahl und Gewicht der Getreidekörner. Das Resultat war eine geringe und qualitativ schlechte Ernte. Die Körner waren oft unreif, mehlarm, ausgekeimt und das Getreide von Roggen-Trespe (Bromus secalinus) und Unkraut regelrecht überwuchert.193 Die Effekte begannen im Spätsommer 1769 und potenzierten sich im zweiten und dritten Erntejahr noch. Verzögerungen im Anbau summierten sich nun immer weiter auf. Durch den Zeitdruck verringerte sich die bebaute Fläche weiter und das übliche Pflügen, Eggen und Stoppeln der Felder musste entfallen.194 Die Verwendung minderwertigen, mit Trespen und Unkräutern vermengten Saatguts aus dem Vorjahr und die fehlenden Pflegeschritte verschärften die witterungsbedingten Ernteverluste noch. Die andauernde Feuchtigkeit förderte zudem zahlreiche Schädlinge wie den Kornkäfer. Hinzu kamen Keime, wie der Mutterkorn-Pilz (Claviceps purpurea), der als Antoniusfeuer oder Ergotismus bezeichnete Vergiftungen auslöste.195 Vielerorts waren die Erträge im zweiten Jahr so 190 Etwa im Eichsfeld und in Franken: Opfermann, Geschichte, 376; Anon., Vergleichung der im Jahr 1736. das Herzogtum Schlesien betroffenen grossen Theuerung und Hungers-Not, mit derjenigen, womit Gott einen grossen Theil von Deutschland, in dem abgewichenen 1770. Jahre heimgesuchet. O. O. 1771, 47. 191 Anon., Witterungsbeobachtungen, 68–70. 192 Spreckel, Hauschronik, 117; Opfermann, Geschichte, 376 f.; Glaser, Hauschronik, 19; Anon., Vergleichung, 49; Georg Franz, Weinerträgnisse, Weinpreise, Witterung und ähnliches mehr in der Gemeinde St. Martin von 1767 bis zur Gegenwart. Nach alten und neueren Aufzeichnungen zusammengestellt. Ludwigshafen [1927], 6 (Haus- oder Schreibbüchlein Johannes Christmann). 193 Strömmer, Klima-Geschichte, 51; Anon., Feldbestellung, 31; Lüders, Bedenken, 5. Zur negativen Korrelation der Niederschlagsmenge zwischen dem 10. Juni und 20. Juli eines Jahres und dem Getreideertrag vgl. Militzer, Klima, Kap. 5.4.2. 194 Zur hohen Zahl der »wegen der vielen Näße« unbestellten Felder in Brandenburg vgl. Samuel von Coccejus (Hrsg.), Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensium Praecipue Marchicarum, Bd. 5. Berlin 1776, No. XI. Zu Böhmen, wo 1771 laut des Reiseberichts Kaiser Josephs II. ein Drittel der Felder »wegen Abgang des benötigten Samens, bis anjetzo, wo es wirklich schon zum Anbau zu spät ist, auf den Winter nicht zugesät werden wird« und der Rest mit »unreinen, tauben und mehr als zur Hälfte mit Treps [Roggen-Trespe] vermengtem Korn« bestellt wurde vgl. HHStA, Hofreisen 4, Konv. 5, p. 5. Im Erzgebirge war 1771/72 jedes vierte Feld unbestellt geblieben. Dresdener Gelehrte Anzeigen, 1772, 596. 195 Hazzi, Betrachtungen, 48, Pfister, Brázdil, Social Vulnerability, 120; Opfermann, Geschichte, 383; Anon., Witterungsbeobachtungen, 75. Der Zusammenhang zwischen feuchter Erde und Schädlingsplage war den Zeitgenossen bekannt: A. G. Schirach, Nachricht von einigen physischen Wahrnehmungen das 1771ste sehr nasse Jahr betreffend. Einer überaus großen Menge so genannter Wasser-Pferde, und rostartigen verdorbenen Heu und Viehsterben, in: Dresdener Gelehrte Anzeigen, 1771, 440–446, hier 440. Karl Bönig, Die Auswirkungen der Hungerjahre 1770–1772 auf die letzte Großepidemie der Mutterkornseuche und die damals und in der Folge-

82

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

gering, dass Bauern sich gezwungen sahen, wider besseres Wissen Teile ihres Saatguts zu verbacken.196 Die Wetteranomalie traf zudem auch die Viehwirtschaft. Die verkürzte Vegetationsperiode machte es schwer, Tiere durch den Winter zu bringen. In den Alpen war das Wetter 1770 so rau, dass man schon kurz nach dem Auftrieb »an villen Orten wieder von [der] Alp hat müssen«.197 Selbst im Flachland war man gezwungen, die Stallfütterung bis in den Juni hinein fortzusetzten. In den Monaten zuvor wuchs am Rhein, in Ostpreußen, Brandenburg oder Sachsen kaum Gras auf den Wiesen und die nassen Böden waren für Großvieh ungeeignet.198 Das nötige Heu und Stroh musste bis dahin teuer angekauft werden. In ihrer Verzweiflung nutzten viele Bauern auch das Stroh der Dächer, so dass 1771 »bereits viele Gebäude von selbigem entblößet worden.«199 Für die Pferde fehlte es überall an Hafer. Zum einen war dieses Getreide zuletzt eingesät worden, nachdem man endlich den wichtigeren Roggen ausgebracht hatte. Es wurde daher kaum reif. Zum anderen hatte man viele Haferfelder nach dem harten Winter umgepflügt und stattdessen mit Sommergetreide bestellt.200 In den Notstandsgebieten nutzte man den Hafer zudem für die Brotherstellung. Die Reichspost beklagte daher immer wieder Schwierigkeiten bei der Futterversorgung der Kutschpferde. Im verschuldeten Sachsen war die Versorgung der Armee mit Pferden und Futter gefährdet. Im Erzgebirge stellten die Fuhrleute wegen der teuren Haferpreise ihre Lieferungen ein. In den Alpen stieg der Fuhrlohn wegen des Futtermangels auf das Fünffache und drohte den dringend notwendigen Getreidetransport zum Erliegen zu bringen.201 Auch beim Kleinvieh wurde das Tierfutter nun für die Ernährung der Menschen benötigt. Die Kleie oder die wenigen Kartoffeln dienten statt den Schweinen nun ihren Haltern selbst als Speise.202 In der Folge gingen die Nutztierbestände überall spürbar zurück. In den Alpen verkaufte etwa Ulrich Bräker all seine Kühe und Ziegen »aus Mangels Gelds und Futter«.203 Vor allem das Kleinvieh wurde »aus Hunger mehresten Teils aufgegessen«. Besucher zeit veranlaßten Gegenmaßnahmen, in: Nachrichtenblatt des deutschen Pflanzenschutzdienstes 24, 1972, 122 ff. 196 Anon., Feldbestellung, 34; Derflinger, Getreideteuerung, 6; HStA Hannover, Hann. 74 Münden 6684, Verordnung vom 23.3.1771 und vom 2.3.1772. 197 Selbstzeugnis Johannes Marti, Landesbibliothek des Kantons Glarus N 184, 3. 198 Heyen, Berichte, 83; Militzer, Klima, Kap. 5.4.3. 199 Lagebericht der Königsberger Kammer vom 29.5.1771. Zit. nach Militzer, Klima, Kap. 5.4.3. Vergleichbare Berichte aus Böhmen und Mähren, in: HHStA, Hofreisen 4, Konv. 5, p. 8 und aus Sachsen, in: Anon., Einige Anmerkungen, 340. 200 Ebd., 342. 201 HHStA, Reichskanzlei, Schwäbische Kreisakten 20 D (Teil 1, Exhibita); Johannes Hofmann, Die Kursächsische Armee 1769 bis zum Beginn des Bayerischen Erbfolgekrieges. Leipzig 1914, 25; Spreckel, Hauschronik, 116, 118; Bräker, Schriften, Bd. 1, 261. 202 Spreckel, Hauschronik, 118. 203 Bräker, Schriften, Bd. 4, 489.

Die Hungerjahre

83

in den Notstandsregionen berichteten von ›stillen‹ Dörfern, in denen bald überhaupt keine Tiere mehr anzutreffen waren.204 Die Verluste an Nutzvieh wurden durch das Auftreten schwerer Viehseuchen noch verstärkt. Zum einen überschnitten sich die Krisenjahre auf fatale Weise mit einer der verheerendsten Rinderpestepidemien der Vormoderne, die 1769 von Kleinasien aus Zentraleuropa erreichte. Zum anderen begünstigten Feuchtigkeit und Futtermangel zahlreiche weitere Erkrankungen.205 Während des Wetter­ extrems wüteten daher überall in Europa schwere Tierseuchen und töteten in Sachsen ebenso wie in Bayern, Holland, Pommern, im Baltikum oder in Mecklenburg hunderttausende Stück Vieh.206 Diese Seuchenzüge verringerten den Tierbestand deutlich und nachhaltig. Die eng verkoppelte Landwirtschaft wurde dadurch noch weiter geschädigt. Zum einen stand nun weniger dringend benötigtes Zugvieh zur Verfügung. Zum andern verringerte sich die wichtigste Düngerquelle der frühneuzeitlichen Landwirtschaft. Das Agrarsystem geriet so insgesamt ins Wanken.207 Die Bauern versuchten ihrerseits alles, um die Witterungseffekte aufzufangen. Dazu konnten sie auf eine Reihe von Schutz- und Anpassungsmaßnahmen zurückgreifen, die auf die Verwundbarkeit des mitteleuropäischen Agrarsystems durch unzeitigen Regen reagierten. Diese Mittel zielten jedoch in erster Linie darauf, kurzfristige Schäden auszugleichen. Gegen die mehrjährige Kombination von extremer Nässe und Kälte reichten sie kaum aus. So hatte das Unterpflügen der Winterfrucht und die Neusaat von Sommergetreide angesichts der kurz darauf wieder einsetzenden Regenperiode kaum Erfolg. Anderswo entschied man sich daher für einen »Nothschnitt« des verbleibenden Wintergetreides bereits Anfang Juli, der den Ertrag weiter reduzierte.208 In Franken wurden angesichts des Dauerregens sogar Weinberge für den Anbau von Getreide gerodet – eine verzweifelte Maßnahme angesichts der langen Rekuperationszeit im Weinbau. Anscheinend versprachen die weniger von Staunässe betroffenen Steilhänge im zweiten Regenjahr, 1771, trotz der geringen Anbaufläche und der mühseligen Arbeit noch am ehesten eine Ernte.209 Für eine weitere Notmaßnahme, die Bestellung der Brache, 204 HHStA, Hofreisen 4, Konv. 5, p. 8; Spreckel, Hauschronik, 116, 120. Zahlen für Preußen zeigen großflächige Verluste beim Tierbestand zwischen 5 und 20 %. Militzer, Klima, Kap. 5.4.3. 205 Etwa bakterielle Koli-Infektionen, Klauenerkrankungen oder Dysenterien. Eine verlässliche, retrospektive Identifizierung ist anhand der zeitgenössischen Berichte nicht möglich. Zum Rinderpestzug vgl. Klug, Hunger, 72. Zum von den Zeitgenossen vermutenden Zusammenhang mit der Witterung vgl. Dresdener Gelehrte Anzeigen, 1771, 443. 206 Anon., Einige Anmerkungen, 346; Pirnaisches gemeinnütziges Wochenblatt, 1770, 92; Churbaierisches Intelligenzblatt, 1770, 265; Hazzi, Betrachtungen, 38; Dresdener Gelehrte Anzeigen, 1771, 443; Zesch, Kanzelrede, 12; Kurt Fenske, Das Rinderpestjahr 1771 in Mecklenburg-Strelitz. Diss. Tierärtzliche Hochschule Berlin 1934. 207 Zu den Wechselwirkungen vgl. Pfister, Klimageschichte, Bd. 3, 63 f., 85 f. 208 Opfermann, Geschichte, 390; Lausitzisches Magazin, 1773, 32. 209 »Viele Leuthe haben Wein berge raus gehauen, und Acker draus gemacht, um Korn oder Gerste zu bauen«. Zeitgenössisches Bauerntagebuch zit. nach Renate Bärnthol, Den Reben und

84

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

fehlte etwa in Sachsen aufgrund der nassen, schwer zu bestellenden Böden oft die Zeit und 1771 teilweise auch schon das Saatgut. Die Witterung schädigte zudem auch nahezu alle alternativen Feldfrüchte, die man als Notreserve angebaut hatte. Leguminosen oder Knollengemüse konnten zwar kürzere Vegetationsperioden kompensieren, waren aber gegen Blüteschäden und Staunässe anfällig. Anders als in einfachen Missernten traf es daher nun auch Erbsen, Wicken, Möhren, Rüben und Linsen. In Sachsen brachte man sie daher weitgehend vergeblich aus, nachdem man die Schäden am Wintergetreide bemerkte.210 Bei dieser spezifischen Witterungslage halfen auch Polykultur und Getreide-Substitution nur begrenzt. Selbst die anspruchslose Gerste, die als letztes Mittel noch auf den Rübenäckern ausgesät wurde, geriet schlecht »theils, weil die Zeit dazu verstrichen war, theils, weil bey anhaltendem Regen die Felder nicht trockneten«.211 Angesichts der Nässe traten zudem große Mengen von Schädlingen auf. Auch hier griffen die Bauern auf das gesamte Arsenal zeitgenössischer Gegenmittel zurück. Aber weder Asche noch Kalk, Knoblauchlauge, Mistjauche oder die ins Feld getriebenen Enten brachten Erfolg.212 Schließlich versuchten manche, das wenige Getreide nass und noch grün zu ernten und im Ofen zu trocken, erhielten aber nur spärliches und minderwertiges Mehl.213 Allein mit den Hilfsmitteln der Bauern war diesem mehrjährigen Witterungsextrem kaum beizukommen. In der Summe resultierte die Wetteranomalie daher in drei deutlich reduzierten Ernten im mitteleuropäischen Raum – einer regional und besonders in Frankreich schlechten Ernte im Jahr 1769 und zwei katastrophalen überregionalen Missernten 1770 und 1771. Die Zeitgenossen bezifferten die großräumigen Rückgänge beim Getreide im zweiten und dritten Jahr auf mindestens ein Drittel. Regional reichten sie weit höher, bis hin zum Totalverlust bei Roggen, Weizen, Hafer und den wichtigsten Substituten. Präzise Ertragsdaten sind für diesen Zeitraum – wie schon die Zeitgenossen beklagten – nur sporadisch erhalten. Die Angaben sind auch nicht immer verlässlich, da auf der Ernte Steuern und Abgaben ruhten. Zudem variierte der Ertrag je nach Boden und Standort erheblich. Eine mehrjährige, überregionale Ertragsminderung um mindestens 30 Prozent erscheint aber durchaus realistisch.214 Bei dem im 18. Jahrhundert üblichen extrem knappen Verhältnis der Geiß, den’ wird’s nie zu heiß. Witterung und Weinbau in historischen Aufzeichnungen aus Mainstockheim, in: Angerer, Gutes Wetter, 121–148, 135. 210 Anon. Feldbestellung, 31–33; Anon., Einige Anmerkungen, 325 f. 211 Anon., Einige Anmerkungen, 345–347. Ähnlich im Eichsfeld: Opfermann, Geschichte, 390. 212 Anon., Feldbestellung, 36. 213 Brázdil, Hungerjahre, 50. 214 Vgl. die Diskussion dazu bei Abel, Hungerkrisen 201. Anders als die Preise sind die Erträge von Getreide – teilweise bis heute – nur schwierig zu ermitteln. Vgl. Mahlerwein, Herren187. Agrohistorische Rekonstruktionen stecken noch in den Anfängen. Vgl. Simon Flückinger, u. a., Simulating Crop Yield Losses in Switzerland for Historical and Present Tambora Climate Scenarios, in: Environmental Research Letters 12, 2017, 074026. Zu ähnlichen Verlusten in den Krisen

Die Hungerjahre

85

zwischen Aussaat und Ernte von 1:3 oder 1:4 vor Abzug von Abgaben und Saatgut, brachten solche Verlustquoten rasch das ganze Nahrungssystem ins Ungleichgewicht.215 Dies galt zumal für die Regionen im Süden und Osten des Reiches, in denen durch weit stärkere Einbußen die Ernten nahezu komplett ausfielen. Entsprechende Berichte sind in großer Zahl und Streuung erhalten. So erhielt man etwa im Wittenbergischen nach dem Dreschen nur ein Viertel bis ein Fünftel der üblichen Menge Korn, das zudem noch geringes Gewicht und Qualität besaß. Aussaat und Ernteertrag bewegten sich daher im Verhältnis 1:1. Man gewann gerade einmal das Saatgut für das kommende Jahr zurück.216 Ähnliche Ergebnisse sind aus anderen Teilen Sachsens, Frankens, Hessens und der Umgebung von Halberstadt dokumentiert.217 Hazzi berichtete aus Bayern unter Rückgriff auf zeitgenössische Statistiken von einer »Drittheil Aerndte« für beide Krisenjahre. Auch hier verblieb nach Abzug des Saatgutes und erst Recht nach der Begleichung von Gefällen und Abgaben kein nennenswerter Ertrag.218 Selbst im weniger betroffenen Worms und im Raum Lippe oder der sonst so fruchtbaren Kornkammer um Magdeburg lag die Roggenernte bei maximal 50 Prozent des Üblichen.219 Die geringe Erntemenge wurde durch die miserable Qualität des Getreides noch verschärft. Beim Versuch aus dem minderwertigen Roggen der Krisenjahre Brot zu backen, entstand häufig »bloß ein bläulichter ungenießbarer Klumpen Taig.«220 In einer Hauschronik aus dem Erzgebirge resümierte man das Agrarjahr 1771 mit den Worten: Nun soll sich die Ernte anfangen, welches auch geschah; aber man merkte sogleich, daß es wenig geben würde. Es geschah auch, daß gar keine Körner innen waren; wenn gedroschen wurde 1 Schock, waren sie zufrieden, wenn sie 3/4 droschen. Die Hoffnung war stark darauf gesetzt, denn der Landmann war ausgezehrt. Es war nichts zu machen. Das Korn war meistens wie schwarzer Kümmel, und wenn es wohl viel gewesen, hätten sie es nicht einmal gedroschen, es kam bei manchen nicht der Drescherlohn heraus, und 1316–18 und 1349–51 im besser dokumentierten England vgl. Bruce Campbell, The European Mortality Crises of 1346–52 and Advent of the Little Ice Age, in: Dominik Collet, Maximilian Schuh (Hrsg.), Famines During the ›Little Ice Age‹ (1300–1800). Socionatural Entanglements in Premodern Societies. Cham 2018, 19–42, 32. 215 Vgl. Kap. II.1. 216 Anon., Einige Anmerkungen, 325 f. Paradoxerweise trug das später eingesäte Korn etwas besser, weil es weniger Dauerregen und Nässe ausgesetzt war. Ebd., 326. 217 Ebd., 344 f., Militzer, Klima, Kap. 5.4.2; Rabe, Meteorologische Beobachtungen, 58; Bericht des Rentmeisters Christoph Geise vom 18.5.1772, in: StAM Best. 40a, Rubr. 48, Grebenstein; Skalweit, Getreidehandelspolitik, 135. 218 Hazzi, Betrachtungen, 43, 60; 219 Skalweit, Getreidehandelspolitik, 270; Freitag, Krisen, 108; Mahlerwein, Herren, 159, 236. 220 Johann Konrad Krais, Fortsetzung des Tagebuchs über diejenigen Begebenheiten welche die vormalige Reichsstadt Biberach während des französischen Kriegs vom Jahr 1802 an bis zum Jahr 1815 erfahren hat […]. Samt einem Anhang von der Theuerung im Jahre 1770–1771 und 1816–1817 […]. Buchau 1822, 227.

86

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

wurde sehr schlechtes Brot daraus. Im Niederland [Flachland] war eben die gleiche Not, da sie im Niederland andere Jahre 3, 4, auch wohl 5 halbe, itz aber anderhalben Scheffel gedroschen. Und in Böhmen war dergleichen Klage. […] Wo in einer Wirtschaft zuweilen 24 Tonnen Kraut eingeschnitten wurden, konnten sie keine halbe Tonne einschneiden, und wo 70–80 Scheffel erbaut wurden, waren sie zufrieden, wenn sie nur 6 bis 8 Scheffel hatten. Und muß auch wieder Samen sein.221

Ähnliche Einbußen sind auch für Gemüse, Obst und andere Substitute belegt. Dies galt auch für Kartoffeln, die von Reformern eifrig beworben wurden. Sie gediehen zwar auf schlechteren Böden, erwiesen sich aber als anfällig gegenüber Regen und Staunässe. Die Einbußen lagen so hoch, dass einzelne Befürworter bereits wieder an ihrem Nutzen zu zweifeln begannen.222 Im Erzgebirge lag die Kartoffelernte laut den sächsischen Behörden flächendeckend nur bei der Hälfte des Üblichen.223 Wirksame Hilfen konnten angesichts einer solchen dreijährigen Missernte nur noch durch Maßnahmen außerhalb der Landwirtschaft erfolgen. Stattdessen wurden die naturalen Impulse durch soziale Faktoren aber oft noch verstärkt. Das zurückgehende Angebot und der eingeschränkte Zugang zur Nahrung griffen nun auf fatale Weise ineinander. Aus dem Naturextrem entwickelte sich eine Sozialkatastrophe.

3.2.  Wirtschafts- und Bankenkrise In der vormodernen Agrargesellschaft wusste die breite Bevölkerung genau, was die extreme Wetterlage für sie bedeutete. Für sie war früh absehbar, dass nach der knappen Ernte 1769 und angesichts des fortdauernd schlechten Wetters ein katastrophaler Mangel drohte. Lange vor den ersten Feldarbeiten des Jahres 1770 setzte daher im Reich ein »Lärmen« und »allgemeines Feldgeschrey« ein, mit dem die Bevölkerung auf die missliche Lage hinwies.224 In den Folgemonaten wuchsen Unmutsäußerungen und förmliche Eingaben zu einer regelrechten Kommunikationsflut an. Hunderte Schreiben erreichten die Verwaltungen.225 Solcher Alarmkommunikation kommt in Hungerkrisen bis heute eine zentrale Rolle zu. Bei 221 Spreckel, Hauschronik, 117. In den Ernteproben, welche die Leipziger Ökonomische Gesellschaft untersuchte, war überhaupt nur 5–10 % echter Roggen enthalten. Der Rest bestand aus Unkräutern. Vgl. Wöchentliche Nachrichten von Gelehrten Sachen (Leipzig), Wöchentlicher Nachtrag, Mai 1771, 5 Stück, 46. Ähnliche Beobachtungen aus Franken und Böhmen meldet Anon., Vergleichung, 50 f.; Rabe, Beobachtungen, 58 und HHStA, Hofreisen 4, Konv. 5, p. 5 (Reisebericht Joseph II.). 222 Bräker, Schriften, Bd. 1, 272; Fichtner, Beschreibung, Anmerkung; Anon., Einige Anmerkungen, 328 f.; Spreckel, Hauschronik, 120; Sebastian, Entstehung, 196. 223 Militzer, Klima, Kap. 5.4.2. 224 Hazzi, Betrachtungen, 38, 102. 225 Vgl. Kap. IV.3.

Die Hungerjahre

87

schnellen Katastrophen wie Erdbeben steht das Ereignis unmittelbar vor Augen. Wann jedoch eine Nahrungskrise beginnt (und wann sie endet), ist weit weniger offensichtlich. Bis heute ist es umstritten, welche sozioökologischen Indikatoren den Beginn von Hungersnöten zuverlässig anzeigen und ihn mess- und objektivierbar machen.226 Umso größeres Gewicht besaß für die Zeitgenossen die kommunikative Vergegenwärtigung der Notlage. Dies galt zumal, da frühneuzeitliche Obrigkeiten oft nur sehr lückenhaft über die Situation auf dem Land unterrichtet waren. Für die Verwaltungen musste das für die menschlichen Sinne nur schwer zu fassende saisonale Naturgeschehen erst über Eingaben, Tabellen und Statistiken ›lesbar‹ gemacht werden. Ernteangaben spiegelten jedoch häufig die Interessen der Produzenten wider, die Regulationen vermeiden wollten. Zudem war es nicht einfach, die akute Unter- von der üblichen Mangelernährung weiter Bevölkerungsteile abzugrenzen.227 Die Verwaltungen agierten daher extrem zurückhaltend, zumal jeder Eingriff mit hohen Kosten verbunden war und den eigenen Fiskalinteressen zuwider lief. Formen der Bedrohungskommunikation standen daher am Beginn jeder Hungerkrise.228 Die Notwendigkeit, eine Gefahr erst kommunikativ materialisieren zu müssen, war jedoch mit Risiken verbunden. In Hungerkrisen riskierte jede Alarmkommunikation, die Bedrohung noch zu verstärken oder gar erst zu erzeugen. Hamsterkäufe, Wucher und Spekulation drohten in den extrem ungleichen Märkten der Frühen Neuzeit das Angebot weiter zu verknappen. Auch 1770 zogen die Brotpreise daher bereits lange vor der Ernte deutlich an. Vielerorts entstanden in der Folge hitzige Debatten und Gerüchte. Während die Untertanen befürchteten, dass die Teuerung von Wucherern artifiziell erzeugt worden sei, vermuteten die Ökonomen, sie sei mutwillig herbeigeredet worden.229 Mit dem Beginn der Erntearbeiten im August 1770 wurde jedoch allgemein augenfällig, wie drastisch der Einbruch ausgefallen war. In der Folge stiegen die Preise noch weiter, anstatt wie sonst üblich im Herbst zu fallen. Sie erreichten bald überregional das Doppelte des Üblichen. Den Durchschnittskonsumenten, der regelmäßig mehr als zwei Drittel seines Einkommens auf Nahrungsmittel verwandte, traf eine solche gewaltige Verteuerung hart. Für die ärmeren Bevölkerungsgruppen bedeutete sie unmittelbare Not. In seinem ›Hungergedicht‹ formulierte der Hutmacher Fichtner den Zusammenhang so:

226 Viele Modelle nutzen Abwandlungen der indischen ›Famine Codes‹, die Erhöhungen von Getreidepreisen, Migration, Kindersterblichkeit und Kriminalität erfassen. Krämer, 273–275; Ó Gráda, Famine, 3–5. Dagegen setzt das von USAID betriebene Famine Early Warning System (http://www.fews.net/) vor allem auf meteorologische Daten. 227 Zur (gezielten) Desinformation der Verwaltungen vgl. Kap. IV.1. 228 Zur Katastrophenkommunikation vgl. Kap. IV.3.1. 229 Zur zeitgenössischen Deutung der Teuerung als »Krankheit der Vorstellungskraft« vgl. Foucault, Sicherheit, 84 sowie Kap. III.1.

88

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

Was sonst die Schweine nicht gefressen / Das mussten da die Menschen essen / Denn das Armuth war nicht im Stand / Sein Brod zu schaffen mit der Hand / Weil 7 Pfund Brot wenn mans verglich / Dem Taglohn dreymal überstieg / So konnte nun kein Armer leben / Er musste sich dem Tod ergeben.230

Getreidepreise liegen in großer zeitlicher und räumlicher Dichte vor. Sie illustrieren als Leitindikator, wie ausgedehnt und wie allgemein die Notlage im Winter 1770 ausfiel. Die Preissteigerungen reichten von Frankreich bis Polen und von Skandinavien bis zu den Alpen. Selbst in gut vernetzten Handelszentren wie Hamburg oder den Niederlanden verteuerte sich Getreide rapide.231 Die parallelen Steigerungen bei Substituten wie Reis, Gemüse und Kartoffeln dokumentieren nicht nur deren ebenfalls schlechte Erträge, sondern auch dass die Konsumenten verzweifelt nach günstigen Alternativen zum teuren Brot suchten. In der Rückschau waren es oft diese Höchstpreise, die den Zeitgenossen im Gedächtnis blieben. Sie wurden in Bildern, Denkmälern und Chroniken der ›Teuerung‹ dokumentiert. Dort wo man den Brotpreis deckelte und stattdessen das Brotgewicht reduzierte, waren es die ›kleinen Brötchen‹, die die Not versinnbildlichten (Abb. 12 und 16).232 Brot- und Getreidepreise standen lange auch im Zentrum der historischen Forschung, häufig in extrem aggregierter Form. Wie auch in der Klimageschichte, lag der Schwerpunkt meist auf langfristigen Entwicklungen statt auf akuten Ereignissen.233 In Krisen bilden diese offiziellen, tabellarischen Preise aber nur einen kleinen und zudem extrem unsicheren Teil des Geschehens ab. Gerade auf dem 230 Fichtner, Beschreibung, o.P. Ein Erwachsener benötigte etwa 250 kg Getreide jährlich, um den minimalen Bedarf von 2000 kcal am Tag decken zu können. Hans Glatzel, Das Brot in der heutigen Ernährung. Ulm 1961, 9 f.; Mahlerwein, Herren, 235, Abel, Massenarmut, 295. 231 Einen geographischen Überblick bietet Abel, Massenarmut, 202–207. Große Teile der preisgeschichtlichen Quellen Abels sind im Moritz John Elsas Archiv dokumentiert, dass sich heute an der Universität Leipzig befindet. In Frankreich, wo Missernten, beginnender Freihandel, Steuer- und Wirtschaftskrise einander überlagerten, stiegen die Preise bereits nach der schwachen Ernte 1769 an. Vgl. Kaplan, Bread, Bd. 1, 483–493 sowie J. F. Bosher, The French Crisis of 1770, in: History. Journal of the Historical Association 57, 1972, 17–31, hier 22. In Nordwesteuropa liegen die Preisspitzen dagegen in den Jahren 1772–1774. Imhof, Bevölkerungsentwicklung, 412. Diese langsame Verlagerung nach Osten folgt neben meteorologischen Effekten auch sozio-ökonomische Faktoren, etwa dem kurz zuvor eingeführten Freihandel in Frankreich, der die Auswirkungen der schwachen Ernte 1769 durch unsichere Märkte potenzierte oder der 1772 einsetzenden inflationären Geldpolitik in Schweden nach dem absolutistischen Putsch ­Gustav III. Kaplan, ­Bread, Bd. 2, 451–554; Rodney Edvinsson, Swedish Harvests 1665–1820. Early Modern Growth in the Periphery of European Economy; in: Scandinavian Economic History Review 57, 2009, 2–25, hier 16. Die von den Zeitgenossen geäußerte Vermutung, dass die Exporte nach Frankreich die nachfolgende Krise im Reich verursacht haben könnten, benennt zwar eine reale Gefahr (vgl. etwa die Teuerung im Reich im Gefolge der Französischen Revolution), überschätzt aber für die 1770er Jahre wohl deren wirtschaftliches Gewicht. Weishaupt, Getreide­handelspolitik, 173. 232 Vgl. Kap. V.2. 233 Troßbach, Anthropologie, 188 f.

Die Hungerjahre

89

Land versorgte sich ein großer Teil der Bevölkerung nicht über den Markt, sondern über ihre Dienst- und Grundherren mit Nahrung. Gleiches galt für Soldaten und ihre Familien.234 Auch in den Städten machte es zudem einen großen Unterschied, wer, zu welcher Tageszeit und auf welcher Grundlage einen Preis notierte. In der Praxis durften auf den meisten Märkten zunächst die einheimischen Privatkonsumenten kaufen, oft unterteilt nach Status- oder Einkommensgruppen. Erst am Nachmittag kamen, häufig markiert durch verschiedene Fahnen, die örtlichen Bäcker, die Großeinkäufer und zuletzt die Ortsfremden zum Zug.235 Desaggregierte Angaben zeigen, dass zu den offiziell notierten Preisen tatsächlich oft gar kein Handel mehr stattfand.236 Stattdessen entwickelte sich ein blühender Schwarzmarkt und Schleichhandel in Kombination mit obrigkeitlichen Brotausgaben. Zudem weisen die Aufzeichnungen gerade in den extremen Notphasen häufig Lücken auf oder führten aufgrund der politischen Sensibilität des Brotpreises einfach die letzte Notierung weiter.237 Das tatsächliche Ausmaß der Preisschwankungen wird dadurch ebenso verschleiert wie durch die Glättung von Spitzen im Tages- und Monatsverlauf oder die regionale Aggregation. Dies zeigt sich besonders im zweiten und dritten Krisenjahr. Nachdem 1771 auch die dritte Ernte missriet und die letzten Vorräte aufgezehrt waren, verzeichnete man teilweise dramatische Preissteigerungen, in deren Gefolge 234 Die systematische Überschätzung der Marktquote frühneuzeitlicher Gesellschaften hat wesentlich dazu beigetragen, dass personale und informelle Subsistenzstrategien lange unterbewertet und die Akteure als weitgehend passiv eingeschätzt wurden. John Walter, Subsistence Strategies, Social Economy and the Politics of Subsistence in Early Modern England, in: Anti Häkkinen (Hrsg.), Just a Sack of Potatoes? Crisis Experiences in European Societies, Past and Present. Helsinki 1992, 53–86, 60. Zu einer Marktquote von unter 50 % durch die Versorgung von Militärfamilien vgl. Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 148. 235 Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 25–34, 143; Huhn, Teuerungspolitik, 46. 236 In Köln, wo sich die Preise dank der günstigen Verkehrslage ›nur‹ verdoppelten, brach der Umsatz dennoch massiv ein. Statt der üblichen 400 Malter Roggen pro Woche, wurden nun von Herbst 1770 bis Mitte 1771 nur noch 30–50 Malter verkauft. Von September 1770 bis Juli 1771 verzeichnete man jeweils eine oder mehrere Wochen, in denen überhaupt kein Roggen mehr gehandelt wurde. Die Versorgung der Bürger lief über Monate nahezu ausschließlich über das an die Bäcker ausgegebene städtische Magazingetreide. Dietrich Ebeling, Franz Irsigler. Getreideumsatz, Getreide- und Brotpreise in Köln 1368–1797, Bd. 1. Köln, Wien 1976, 478–485; Bd. 2. Köln, Wien 1977, XLIV–LII. In den aggregierten Trends sind diese massiven Abweichungen hingegen völlig geglättet. Ebd., LI. In Basel lag das Handelsvolumen des Getreidemarktes 1771 nur noch bei 10 % der üblichen Menge. Mattmüller, Hungerjahre, 275. Zu ähnlichen Verhältnissen in Bayern vgl. Hazzi, Betrachtungen, 51 sowie Krämer, Menschen, 310–315. 237 Nachdem die Preise auf das Vierfache gestiegen waren, meldete etwa das Erfurter Intelligenzblatt am 20.7.1771, die Getreidepreise seien »bey jetzigen Umständen und da sich viele Verkäufer des Landes Noth zu ihren Nutzen bedienen so übertrieben hoch und unbestimmt, daß dem Publicum kein sonst üblicher und fester Markt Tax angegeben werden kann« (Ebd., 232). Auch das Regensburgische Diarium stellte von Februar 1771 bis August 1772 die Angabe von Großhandelspreisen für Getreide ein. Ähnlich in Bamberg und in Köln: Schneider, Mangel, 273, Ebeling, Irsigler, Getreideumsatz, Bd. 2, LI.

90

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

sich die Teuerung zur Hungersnot steigerte. In Teilen Bayerns und Böhmens, in der Lausitz oder in Nürnberg verfünffachte sich der Getreidepreis, in Erlangen, Bamberg und Regensburg verlangte man das Sieben- bis Achtfache.238 Im Erzgebirge, Thüringen und in Teilen Frankens sind sogar Teuerungsraten von 1.000 Prozent dokumentiert.239 Diese Notierungen stellten häufig nur noch Nominalpreise ohne größeres Handelsvolumen dar. Für die normale Bevölkerung lagen solche Preise außerhalb ihrer Möglichkeiten.240 In der Regel ebbte der Anstieg beim drei- bis vierfachen der dekadischen Durchschnittspreise ab, weil höhere Preise über längere Zeit nicht mehr über den Markt eingelöst werden konnten und die Konsumenten notgedrungen andere Versorgungswege suchten.241 Ab dem Herbst 1771 lagen die Lebensmittelpreise im Reich nahezu flächendeckend auf diesem extrem hohen Niveau.242 Der Preisaufschlag fiel damit deutlich größer aus und dauerte länger an, als etwa während der Hungerkrise 1816/17.243 Kleinere Schwankungen im Preisgefüge reflektierten topographische Unterschiede. Verkehrsgünstige Fluss- und Küstenregionen wiesen oft tiefere Preisniveaus auf, solange Überschwemmungen die Transportwege nicht beeinträchtigten. Dies galt 1770–1772 insbesondere für den Nordwesten des Reiches und das Rheinland.244 Abgelegene Gebirgsgegenden, insbesondere im Eichsfeld, dem Erzgebirge, im Harz, im Oden- und Schwarzwald oder in den Alpen lagen deutlich darüber. Schon bald kamen aber politische Faktoren hinzu. Territorien wie Preußen und Österreich konnten auch in Krisenzeiten auf ihre traditionellen, externen Kornkammern Polen und Ungarn zurückgreifen – oft mithilfe von Gewalt.245 Städte wiederum verfügten meist über weitreichende 238 Albert Schuhbauer, Getreidepreise im Raum München 1400–1820. Borsdorf 2011, 32, 75; Jäger, Dorfchronik, 235; Lausitzisches Magazin, 1769, 324 und 1771, 326; Will, Teuerung, 368 f.; Ernst Schubert, Arme Leute. Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts. Neustadt/Aisch 1990, 17. Zu Regensburg vgl. Kap. IV.5.1. 239 Karl Eichhorn, Die Hungersnot von 1770 bis 1773 im Sonneberger Oberamt, in: Veröffentlichungen des Museumsvereins Schieferbergbau Steinach/Thüringen e. V. 9, 1996, 1–12, 5; Curt Langer, Die Hungerjahre 1771 und 1772 nach zeitgenössischen Quellen, in: Sächsische Heimatblätter 9, 1963, 360–367, hier 360; Ludwig Pfeiffer, Carl Ruland, Pestilentia in nummis. Geschichte der grossen Volkskrankheiten in numismatischen Documenten. Ein Beitrag zur Geschichte der Medicin und der Cultur. Tübingen 1882, 69. 240 Guido Alfani, Luca Mocarelli, Donatella Strangio, Italy, in: Alfani, Ó’Gráda, Famine, 25–47, 41. 241 Zu solchen non-market transactions vgl. Kap. IV.2. 242 Zur Verdreifachung der Preise in Berlin, Wien, Basel, Lippe und der Schweiz insgesamt vgl. Kluge, Hunger, 72; Dickson, Finance, Bd. 1, 132; Mattmüller, Hungerjahre, 272; Freitag, Krisen, 110; Roman Studer, Pascal Schüpli, Deflating Swiss Prices over the Past Five Centuries, in: Historical Methods. A Journal of Quantitative and Interdisciplinary History 41, 2008, 131–153, hier 145. 243 Krämer, Menschen, 288. 244 Zur Verdoppelung der Getreidepreise entlang des Rheins vgl. Ebeling, Irsigler, Getreideumsatz, Bd. 1, 478–485 und Christian Schlöder, Bonn im 18. Jahrhundert. Die Bevölkerung einer geistlichen Residenzstadt, Köln, Weimar, Wien 2014, 264–266. 245 Vgl. Kap. IV.5.3.

Die Hungerjahre

91

Handelsbeziehungen und zogen Getreide aus einem großen Raum an. Durch den besseren Zugang zu Kredit konnten ihre Räte Backwaren zudem subventionieren. In den meisten Städten fielen Getreide- und Brotpreise daher zeitweilig auseinander.246 Andererseits waren gerade süddeutsche Reichsstädte ohne eigenes Territorium extrem anfällig gegenüber Blockaden und Getreidesperren ihrer Nachbarn und notierten einige der höchsten Teuerungsraten überhaupt. Preissteigerungen geben daher zwar Anhaltspunkte für das räumliche und zeitliche Ausmaß der Katastrophe. Sie belegen einen klaren Schwerpunkt im Osten und Süden zwischen Herbst 1771 und Frühjahr 1772. Sie bilden aber nicht einfach den Witterungseffekt oder die tatsächliche Versorgungslage ab, sondern beinhalten bereits zahlreiche gesellschaftliche Faktoren. Die Teuerung erschwerte vielen Menschen unmittelbar den Zugang zu Lebensmitteln. Ihr Einfluss reichte aber weiter. In dem Maße, in dem die Konsumenten zusätzliches Einkommen für die Ernährung aufwenden mussten, sank ihre Nachfrage nach gewerblichen Gütern. In vormodernen Gesellschaften resultierten Missernten daher mit großer Regelmäßigkeit in Wirtschaftskrisen. Dieser Zusammenhang zweiter Ordnung ist so eng, dass er als »sekundäre Klimafolge« Eingang in viele Modelle sozionaturaler Verflechtungen gefunden hat.247 Entsprechend der heftigen Klimaanomalie fielen 1770–1772 auch die ökonomischen Turbulenzen ungewöhnlich stark aus. Sie erfassten neben Europa auch weite Teile der kolonialen Welt – mit teilweise weltgeschichtlich bedeutsamen Folgen. Wie die Zeitgenossen zunächst notierten, verfiel bereits nach der Missernte im Herbst 1770 »alle Nahrung und Handlung, alles Gewerbe, Fabriquen, auch alle Professiones und Handwerk, daß sowohl Meister und Gesellen nichts zu tun und zu arbeiten hatten und sich nunmehr zum betteln anschickten.«248 Dienst­ boten, Arbeiter und Handwerksburschen verloren Arbeit und Einkommen. Zu den Betroffenen gehörte auch Ulrich Bräker. In seiner »Lebensgeschichte« notierte er für das Jahr 1771: [D]er Handel nahm ab, so wie die Fruchtpreise stiegen; und bey den armen Spinnern und Webern war nichts als Borgen und Borgen. […] Ich hatte itzt fünf Kinder und kei 246 Dass die streng kontrollierten Brotpreise, die Getreideteurung nicht vollständig wiedergaben, lässt sich in nahezu allen Städten beobachten. In Berlin stieg der Getreidepreis um das Dreifache an, das auf Kosten der Bäcker und aus Magazinen subventionierte 2 Groschen Roggenbrot verlor aber nur ⅓ seines Gewichts. In Köln blieb die Brottaxe mehr als ⅓ unter den Getreidepreisen. Kluge, Hunger, 72, 76; Ebeling, Irsigler, Getreideumsatz, Bd. 2, XLVIf, 226–231. Dieses Brot war jedoch nicht immer in ausreichender Menge zu bekommen, so dass der Brotpreis allein keine Auskunft über die tatsächliche Versorgungslage gibt. 247 Krämer, Menschen, 136, 160. 248 Spreckel, Hauschronik, 115. Vgl. auch Anonym, Beschreibung des in vielen Orten des Teutschen Reiches annoch fortwährenden ganz außerordentlichen Theurungszustandes welcher nebst der Anno 1632. vorgewesenen Hungersnoth nach denen göttlichen Strafgerichten beurtheilt und mit theologischen Anmerkungen erläutert wird. O. O. 1771, 4.

92

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

nen Verdienst, ein bißchen Gespunst [Weberei] ausgenommen. Bei meinen Händelchen büßt ich von Woche zu Woche immer mehr ein. Ich hatte ziemlich viel vorrätig Garn, das ich in hohem Preis gekauft und an dem ich [nun] verlieren mußte.249

Vergleichbare Erfahrungen machten alle Gewerbetreibenden und -regionen. Im Erzgebirge brach neben der Weberei auch die Kohleförderung fast um die Hälfte ein. Ebenso wie im Harz mussten hier zahlreiche Bergwerke – teilweise dauerhaft – schließen und die Bergleute notversorgt werden.250 Die verzweifelten Berichte von Handwerkern illustrieren, dass es in einem solchen Umfeld praktisch unmöglich war, noch Waren abzusetzen.251 Auch im Eichsfeld »lag alles Gewerbe danieder«. Im Lippischen ruhte die Leinenproduktion »wegen mangels des Absatzes«, ohne dass andere Beschäftigung zu haben war, da selbst große Haushalte nun »alle ihre Arbeit selbst verrichten«. Im zweiten Krisenjahr erschien den Krefelder Tuchfabrikanten das »comertium so sterill«, dass umfangreiche Stilllegungen geboten erschienen. Im mährischen Iglau standen im Februar 1771 nur noch »70 bis 80« von zuvor 400 Tuchmachern in Lohn.252 Gerade in diesen protoindustriellen Regionen litten die Menschen doppelt. Die Kombination von hohen Brotpreisen und ausbleibendem Lohn traf sie besonders hart. Im Reich nahm die Erwerbs­ losigkeit bald ein solches Ausmaß an, dass der übliche moralisierende Appell an die Armen, ihre Not durch harte Arbeit zu lindern, kaum mehr plausibel erschien.253 Neben solchen regionalen Effekten besaß die Wirtschaftskrise schwerwiegende und teilweise globale makroökonomische Auswirkungen. Die enorme Teuerung brachte zunächst das überregionale Handelssystem ins Wanken. Der Nachfrage 249 Bräker, Schriften, Band 4, 489, 491. 250 Hubert Kiesewetter, Die industrielle Entwicklung der Zwickauer Steinkohlenregion, in: Toni Pierenkemper (Hrsg.), Die Industrialisierung europäischer Montanregionen im 19. Jahrhundert. Stuttgart 2002, 103–150, hier 120; H. von Minckwitz, Steinkohlenbergwerke im Schneekopfgebiet, in: Der Museumskurier. Mitteilungen des Geschichts- und Museumsvereins Zella-Mehlis 7, 2001, 4–11, hier 10. Zum Verfall des Harzbergbaus, HStA Hannover, Deutsche Kanzlei in London, 683 sowie StA Wolfenbüttel, 33 Alt Nr. 500. 251 Im Bericht eines Hutmachers aus dem Erzgebirge hieß es: »Zu Ende des Jahrs 1771 im December arbeitete ich […] noch 38 Hüte. […] Allein als der heilige Abend kam, war den Tag über kein Mensch bei mir gewesen, der nach einem Hut gefragt hätte. […] Am Christtag früh, hatten wir nur noch ein Stück Brod, ohngefehr 2 Pfunden, davon bekamen die Kinder, jedes ein Bisschen. […] Den Tag nach den Feyertagen, nahm ich 6 neue Hüthe und gieng damit nach Schönheyde; ich fragte allda den ganzen Tag, von Haus zu Haus, konnte aber keinen Hut verkaufen, und hatte auch diesen ganzen Tag keinen Bissen Brot gegessen […]. Den 3 ten Tag gieng ich nach Stützengrün, Rothkirschen und Wernesgrün, auch da konnte ich keinen Huth verkauffen: Es war bey den meisten Menschen überall Armuth, Hunger und Elend.« Fichtner, Beschreibung, Anmerkung. 252 Abel, Massenarmut, 211; Peter Kriedte, Taufgesinnte und großes Kapital. Die niederrheinisch-bergischen Mennoniten und der Aufstieg des Krefelder Seidengewerbes. Göttingen 2007, 227. 253 Schmahling, Nachruff, 86.

Die Hungerjahre

93

einbruch wurde durch unpassierbare Transportwege, drastisch erhöhte Futterkosten und steigende Fuhrlöhne noch verschärft. In Leipzig war daher lange unklar, ob die dortige Messe überhaupt noch stattfinden konnte. 1771 konstatierte man, daß die in der Schweiz und dem Reich immer mehr zunehmende Getreideteuerung nebst der daraus entspringenden allgemeinen Armut und damit verknüpfte, fast gänzliche Stillstand in Handel und Wandel, wodurch auch die letzte Frankfurter Messe am Main bereits äußerst schlecht ausgefallen war, viele Einkäufer in Person und noch weit mehrere Waren Commissiones und Geld Rimessen zurückgehalten.

1771 produzierten die Seidenfabriken der Stadt nur noch mit 12 von 300 Webstühlen, während überall »die gefertigten Waren auf dem Lager als ein totes Kapital liegenbleiben«. Viele der entlassenen Arbeiter fanden sich anschließend in den Armenlisten der Stadt.254 Ähnliche Stockungskrisen verzeichnete man in ganz Nord- und Zentraleuropa. In Irland und Schottland sank die Ausfuhr von Leinen auf die Hälfte ab, obwohl deutliche Preisnachlässe gewährt wurden. In England verkaufte die Wedgwood Porzellan Fabrik nahezu keine Waren mehr.255 In Cornwall konnten die Bergwerke kaum noch Zinn und Kupfer absetzen, was in Kombination mit den hohen Brotpreisen zu gewalttätigen Protesten führte. In London konstatierte man eine allgemeine »stoppage of trade«, die zu extremer Not unter den Arbeitern führte.256 Auch Frankreichs Textilindustrie geriet in eine schwere Depression. In der Wirtschaft herrschte eine »crise générale de Commerce«.257 Voller Verzweiflung berichtete ein Lippischer Tuchhändler seinen Kollegen, dass sich in Bremen, trotz der eingebrochenen Preise bereits mehr feinstes Leinens staue, »als unsre gröste Kirche fassen könnte«.258 Im dritten Krisenjahr, 1772, wuchs sich die Gewerbekrise daher zu einer europaweiten Bankenkrise aus. Die Forschung hat Finanz- und Hungerkrise bisher kaum in Verbindung gebracht.259 Überall reagierten die Kreditmärkte in Folge 254 Meßrelation der Ostermesse 1771, in: HStA Dresden, Loc. 11463, 2, p. 47, 78; Militzer, Klima, Tab. 42. 255 Abel, Massenarmut, 209; Donnelly, Hearts, 46. 256 Cornwall Record Office, T/874 und 878 [Misc. Papers regarding tin, production, tin prices and tinners’ riots]; National Archives, T 1/502/29–31 [Treasury papers], o. P. 257 Bosher, Crisis, 23 f. 258 Freitag, Krisen, 120. 259 Während ältere Darstellungen, die Missernten noch als wichtigen Auslöser ansahen, argumentieren jüngere Schilderungen zunehmend finanzimmanent (ähnlich wie die moralisierenden und personalisierenden Interpretationen der Zeitgenossen) oder fokussierten angesichts der Beziehungen zum amerikanischen Unabhängigkeitskrieg auf England und seine Kolonien. Vgl. etwa Bosher, Crisis; Mentor Bouniatian, Die Krise von 1772, in: Ders., Geschichte der Handelskrisen in England im Zusammenhang mit der Entwicklung des englischen Wirtschaftslebens 1640–1840. München 1908, 135–142 und darauf aufbauend Abel, Massenarmut, 208 f. Dagegen Tyler Beck Goodspeed, Legislating Instability, Adam Smith, Free Banking, and

94

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

der stockenden Handelserlöse extrem angespannt und nervös. Die meisten Bankhäuser hatten im Boom nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges im Vertrauen auf weitere gute Jahre enorme Summen verliehen, die ihre Einlagen bei weitem überstiegen. Angesichts der abrupt zusammenbrechenden Nachfrage war absehbar, dass diese Kredite nicht mehr in vollem Umfang bedient werden konnten. Auf dem Höhepunkt der Krise, im Juni 1772, reichte dann ein kleiner Zwischenfall aus, um das gesamte System zu erschüttern. Zunächst war die britische East India Company in Schwierigkeiten geraten. Bezeichnenderweise rührten sie nicht aus dem Rückgang der Produktion in Indien, wo die Direktoren trotz der parallelen Hungersnot rücksichtslos die volle Menge an Gütern und Steuern eintrieben.260 Sie ging vielmehr auf den fehlenden Absatz im ebenfalls hungernden Europa zurück. In den europäischen Lagern stapelten sich Textilien und Konsumgüter, die keine Abnehmer mehr fanden. In dieser Situation spekulierte das Bankhaus Neal, James, Fordyce and Down massiv auf fallende Aktienkurse der EIC, um so eigene Kreditausfälle aus der Krise auszugleichen. Als der Kurs jedoch zunächst stabil blieb, musste das Geldhaus über Nacht Konkurs anmelden. Zahlungsausfälle und Bankenstürme zwangen in der Folge 25 weitere Geldhäuser in den Bankrott, die teilweise weit bedeutender waren. Selbst die Bank of England musste die Ausgabe von Wechseln aussetzen und staatliche Finanzhilfen in Anspruch nehmen. Daraufhin stoppten irische Großhändler die so wichtigen Getreidelieferungen nach England.261 Rasch weitete sich die Krise auf ganz Europa aus. Das Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit der Banken sank angesichts der übervollen Lager ihrer größten Kreditnehmer rapide. In der Folge gingen zahlreiche Finanz- und Handelshäuser von Stockholm, über Augsburg und Hamburg bis St. Petersburg in die Insolvenz. Allein in Amsterdam mussten 40 Unternehmen Konkurs anmelden. Erst durch umfangreiche staatliche Stützungskäufe und die Gründung von ersten Rückversicherungen gelang es, die Lage zumindest teilweise wieder unter Kontrolle zu bringen.262 Ihre Fernwirkungen ließen sich jedoch nicht so einfach begrenzen. Sie entwickelten nun welthistorische Bedeutung. Anfang 1772 destabilisierten die Turbulenzen tatsächlich die angeschlagene Londoner East India Company. Im Somthe Financial Crisis of 1772. Cambridge (MA) 2016. Eine Edition zeitgenössischer Reaktionen bietet: Stefan Altorfer (Hrsg.), History of Financial Disasters. 1763–1995, Bd. 1. London 2006, 29–83. 260 Damodaran, Famine. 261 Goodspeed, Instability, 3–5, 18; Derby Mercury vom 10.7.1772. Angesichts der bereits bestehenden Teuerung fürchtete die Zeitung: »Universal Bankruptcy is not the only Evil we are threatened with; absolute and unanvoidable Famine, if public credit is not immediately restored, must be the Fate of this Part of the Kingdom.« 262 Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 115; Goodspeed, Instability, 11 f. Zur Finanzkrise in Frankreich vgl. Bosher, Crisis, bes. 24. Im irischen Handel ereignete sich bereits im Dezember 1770 aufgrund der Handelsstockung ein erster Bankencrash. Donnelly, Hearts, 46. Die Verflechtung von Bankenkrise und Teuerung wurde auch in deutschen Zeitungen debattiert. Vgl. Müncherisches Wochenblatt in Versen 13, 1771, Num. 43 (o. P.).

Die Hungerjahre

95

mer 1772 musste sie ihre Zahlungsunfähigkeit erklären, weil sich ihre Produkte im krisengeplagten Europa nicht mehr verkaufen ließen. Sie konnte nur durch einen staatlichen bail-out der britischen Regierung gerettet werden. In der Folge setzte das Parlament aber umfassende Reformen durch, die im Regulation Act von 1773 mündeten. Mit ihm übernahm die Regierung die territoriale und politische Kontrolle über die Handelskompagnie und ihre indischen Besitzungen. Als populäre Begründung für diesen weitreichenden Schritt diente im aufgeheizten Klima der Teuerungsjahre der Vorwurf, dass die Company, die Hungersnot in Bengalen absichtsvoll herbeigeführt hatte.263 Um die wirtschaftliche Lage der nun teilverstaatlichten East India Company zu stabilisieren, entschieden sich die neuen Anteilseigner zu einem folgenschweren Schritt. In den Lagern der Gesellschaft stapelten sich mittlerweile 22 Millionen Pfund Tee, die im krisengeplagten Europa keine Abnehmer fanden. Mit der Absicht die eigenen Investitionen zu sichern, gewährte die Regierung der EIC daher ein Monopol auf den Teehandel mit den Kolonien in Nordamerika. Die erzürnten Konsumenten in den Kolonien reagierten mit heftigen Protesten auf diese Entscheidung, die wieder einmal über ihre Köpfe hinweg getroffen worden war. Im Dezember 1773 gipfelten sie in der Boston Tea Party und entwickelten sich zum Zündfunken der amerikanischen Revolution.264 Im Verlauf der Krise entwickelte sich Großbritannien damit zur Konfliktpartei in Nordamerika und zur Territorialmacht in Indien. In Europa brachen im Gefolge der Finanzkrise Wirtschaft und Handel überall dramatisch ein. Auf die Lage der frühneuzeitlichen Territorialstaaten und Städte wirkte sich die ökonomische Depression verheerend aus. Bereits in normalen Jahren resultierte die rapide Expansion herrschaftlicher Aufgaben und Verwaltungen in einer drückend hohen Verschuldung. Im Reich litten viele Territorien zudem noch unter den finanziellen Folgen des Siebenjährigen Krieges. Nun mussten sie zusätzlich einen drastischen Rückgang der Steuereinnahmen verkraften – teils weil der Handel einbrach, teils weil die Abgaben schrumpften oder die Bevölkerung ihre Steuerlast nicht mehr begleichen konnte. In Böhmen ging das Steueraufkommen fast um die Hälfte zurück. Durch den Einbruch im einkommensstärksten Kronland fehlten der österreichischen Staatskasse fast 20 Millionen Gulden im Jahr.265 Auch Preußen musste drastische Zolleinbußen verkraften, etwa im hart getrof 263 Nicholas B. Dirks, The Scandal of Empire. India and the Creation of Imperial Britain. Cambridge (MA), 2006, 7–37, 89–132. Die Indienkompagnien galten als Verkörperung des neuen, unlimitierten Handels. Zu ähnlichen Repressionen gegen die Kompagnien in Frankreich während der Hungerkrise 1740 vgl. Kaplan, Famine Plot, 38. 264 Bouniatian, Handelskrisen, 139 f. Goodspeed, Instability, 18 f. Die Kolonien litten bereits zuvor unter dem ruinösen großflächigen Widerruf von Kreditlinien durch die in der Krise ins Schlingern geratenen europäischen Banken. Goodspeed, Instability, 13 sowie Richard B. Sheridan, The British Credit Crisis of 1772 and the American Colonies, in: The Journal of Economic History 20, 1960, 161–186. 265 Dickson, Finance, Bd. 1, 134.

96

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

fenen Schlesien.266 Die Finanzkrise traf die Obrigkeiten zudem genau in jenem Moment, in dem die Untertanen teure Hilfsmaßnahmen einforderten. Der Ankauf von auswärtigem Getreide oder die subventionierte Ausgabe von Brot verschlangen gewaltige Summen. Angesichts der wegbrechenden Einnahmen ließen sich diese Maßnahmen nur durch Kredite finanzieren, die sich angesichts der Bankenkrise massiv verteuerten und zu denen daher nicht jeder Souverän noch Zugang hatte. Das hochverschuldete Bayern musste daher Teile seines Staatsschatzes verpfänden. Ärmere Städte und Länder gerieten an den Rand des Bankrotts.267 Selbst finanzkräftige Potentaten wie Friedrich II. waren gezwungen zusätzliche Maßnahmen in den Krisenjahren abzulehnen. Verzweifelte Bitten um die Förderung des Gewerbes beschied er brüsk mit: »Ist ganz schön; ein ander Jahr aber jetzo nicht« oder »Ich habe nicht einen Groschen. Ich muss Korn kaufen«.268 Die staatliche Finanzkrise wiederholte sich, mit weit drastischeren Folgen, beim gemeinen Mann. In den Hungergebieten war die Not so groß, dass bald kaum noch Geld im Umlauf war. Selbst wo noch Nahrung vorhanden war, blieben die Märkte nun aufgrund der fehlenden Kaufkraft leer. Der leidenden Bevölkerung war dabei völlig klar, dass ihre Not nicht einfach dem absoluten Mangel an Nahrung geschuldet war, sondern dem fehlenden Geld – oder in moderner Terminologie, ihren mangelnden entitlements. Im Herbst 1771 war im erzgebirgischen Annaberg kein Bäcker mehr in der Lage, Korn gegen Geld anzukaufen: »Es kamen 200 Scheffel Korn von Leipzig hier an; stunden auf dem Markt. Ließ sich kein hiesiger Bäcker sehen«. Auch von einer Herde Schweine auf dem Markt wurde kein einziges Tier mehr verkauft, zumal die Menschen die als Futter benötigten »Erd­äpfel lieber gegessen, wenns gewesen wäre.« Die umliegenden Bauern bezogen Waren aus der Stadt jetzt nicht mehr gegen Geld, sondern nur noch im Tausch gegen ihre extrem teuren Naturalien. »Daher kam der große Geldmangel, daß es hieß: ›Es ist kein Geld.‹ Von Stadtleuten wurde gar nichts gekauft, denn alles Gewerbe lag tot.«269 Angesichts des fehlenden Geldes traten neben den Markt nun andere Versorgungswege. Zuweilen erreichten Annaberg Lebensmittelspenden aus dem Flachland. Der sächsische Kurfürst ließ in Russland aufgekauftes Getreide verteilen. Einzelne Bürger schritten zur Selbsthilfe und organisierten Brot in den Nachbargemeinden. Die ärmeren Bewohner sammelten Preiselbeeren und »schlugen einander drum im Wald« oder bettelten bei den selten gewordenen Schlachttagen um das Blut der Tiere. Einige griffen auch zum Diebstahl von Lebensmitteln und anderen Formen der Kleinkriminalität. Ein findiger Uhrmacher begegnete dem 266 Hugo Rachel, Die Handels-, Zoll- und Akzisepolitik Preußens 1740–1786 (Acta Borussica Handels-, Zoll- und Akzisepolitik 3.2). Berlin 1928, 235 f., 247 f. Auch Georg III. musste in seinen Kurhannoverschen Territorien auf die Hälfte der (direkten) Steuern verzichten. Reading Mercury vom 9.3.1772. Ähnlich in der Schweiz: Le Roy Ladurie, Disette, 549. 267 Rankl, Politik, 765; Abel, Massenarmut, 240–242. 268 Zit. nach Abel, Massenarmut 207 f. 269 Spreckel, Hauschronik, 117–119.

Die Hungerjahre

97

extremen Kaufkraftverlust auf eigene Weise und verlegte sich »aufs Geldmachen«, bis seine Münzen schließlich als Fälschungen entlarvt wurden.270 Vor diesem Hintergrund muss man die auch in anderen Berichten immer wieder geäußerten Klagen der Hungernden zurückhaltend deuten, dass nunmehr absoluter Mangel herrsche, dass in ihrer Region »trotz übergrosser Teuerung in allen Getreidesorten kein Getreide zu bekommen sei.«271 Die Betonung völliger Nahrungslosigkeit sollte Hilfen initiieren und beugte dem üblichen Verweis auf einen unseriösen Lebenswandel vor. Tatsächlich griffen in den Notstandsgebieten das mangelnde Angebot durch die Witterung und die fehlende Kaufkraft aufgrund der Wirtschaftsdepression eng ineinander. Wohlhabenden Gegenden gelang es hingegen durchaus, sich durch den Zugang zu Krediten auch mitten in der Krise mit Getreide zu versorgen, im Extremfall mit Lieferungen sogar aus Afrika, Amerika oder Russland.272 Umso deutlicher trat den Zeitgenossen mit der Wirtschaftsdepression ein anderer Faktor neu vor Augen: die soziale Ungleichheit. In der ständischen Gesellschaft des Alten Regimes gehörte sie seit jeher zu den Grundprinzipien sozialer Ordnung und war tief in die Lebenswelt eingeschrieben. Gleichwohl formulierten nicht nur die Aufklärer Kritik an ständischen Privilegien, rechtlicher Ungleichheit und der damit verbundenen strukturellen Verwundbarkeit. Dies galt insbesondere in Krisenzeiten, wenn die nominellen Beistands- und Schutzpflichten der Herrschaft unerfüllt blieben und die Binnendifferenzierung im Zuge einer Hungersnot drohte, »soziale Massaker« (F. Braudel) zu begründen.273 In Annaberg musste die hungernde Bevölkerung zusehen, wie die 200 Scheffel Marktgetreide vor ihren Augen wieder in andere, kaufkräftigere Gemeinden abtransportiert wurden, da keiner der Bewohner mehr in der Lage war, den geforderten Preis zu bezahlen.274 Solche Durch- und Abtransporte ereigneten sich im ganzen Reich unter heftigen Protesten der hungernden Bevölkerung.275 Die Fuhren materialisierten auf brutale Weise die extremen Unterschiede, die im Alltag oft verdeckt blieben oder internalisiert worden waren. An Bäckereien und Mühlen, seit jeher Orte sozialer Verdichtung, wurde nun allzu sichtbar, wie ungleich der Zugang zu Lebensmitteln verteilt war. In der Stadt Überlingen verfügten in der Krise die unteren 90 Prozent der Bevölkerung nur noch über 10 Prozent der Getreidevorräte. Der Rest befand sich in den Händen der Wohlhabenden und der

270 Ebd., 120 f. 271 Derflinger, Getreideteuerung, 11; [Christoph Heinrich Korn], Briefe eines Land-Edelmanns im Reich, an seinen Freund bei Hofe, über die jetzige Theurung und den Mangel des Getreides. Frankfurt a. M. 1772, 45. 272 Vgl. Kap. IV.1.5. 273 Zit. nach Hippel, Armut, 8. 274 Spreckel, Hauschronik, 117. 275 Vgl. Kap. IV.2.5.

98

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

Stände.276 Überall wurden nun Soldaten bevorzugt mit Magazinkorn versorgt oder die Bewohner der Residenz- und Hauptstädte durch Importe unterstützt, während die normale Bevölkerung hungerte. Mitten in der Hungerkrise vergnügten sich die Fürsten auf Jagden. Der pfälzische Kurfürst gab noch auf dem Höhepunkt der Krise dreimal mehr Geld für Gemälde aus als für Almosen. In den Tagebüchern adeliger Reisender taucht das Regenwetter statt als Bedrohung als lästige Unterbrechung üppiger Festlichkeiten auf.277 Immer wieder schildern Beobachter die enormen Disparitäten zwischen dem »Seufzen und den Thränen der Elenden« auf dem hungernden Land und dem Leben der Wohlhabenden: Wenn ich »in die Hauptstadt komme, so dünket mich, ich seye in eine neue Welt versetzet worden. Was für eine Veränderung der Scene! Hier siehet, hier empfindet man keinen Mangel […] Tanz, Spiel, und Gesellschaften, wechseln noch beständig mit einander ab [….] welch ein Unterschied unter den Schicksalen der Menschen!« Für viele materialisierte sich die krasse Ungleichheit ganz konkret im Haarpuder der Reichen, das mitten in der Krise aus genau jenem Mehl hergestellt wurde, das sich die Armen längst nicht mehr leisten konnten.278 Es trat ihnen auch in Form des Jagdwilds vor Augen, das hungrig auf die Felder strömte und kostbare Nahrung verzehrte, um ihren Adeligen Besitzern als Lustbarkeit zu dienen.279 Den modernen Betrachter irritiert diese spezielle Form der frühneuzeitlichen ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹.280 Naturkatastrophen gelten heute eher als Ereignisse, die soziale Unterschiede temporär einebnen. Ebenso häufig akzentuieren sie aber zuvor verdeckte Disparitäten. Um 1770 motivierte die vertiefte Spaltung eine neue Form radikaler Kritik.281 Dagegen verfing das traditionelle Erklärungsmuster, Gott habe die »Ungleichheit der Stände und Personen« gezielt geschaffen, um gegenseitige Hilfen zu ermuntern, immer weniger.282 Die Ungleichheit beschränkte sich nicht auf den sozialen Bereich. Die Zeitgenossen erfuhren auch die regionalen Differenzen von Hochland und Tiefland oder Stadt und Land neu. Im Erzgebirge monierte man: »Der Bauer war itzund Bür 276 Göttmann, Versorgungslage, 103. 277 Jahn, Roboter, 166; Kabinettskassenrechnung Karl Theodors, 1771, in: Stefan Mörz, Aufgeklärter Absolutismus in der Kurpfalz während der Mannheimer Regierungszeit des Kurfürsten Karl Theodor (1742–1777). Stuttgart 1991, 449; Khevenmüller-Metsch, Tagebuch, 89. 278 Korn, Briefe, 4, 37. Korn klagte, »auf den Tafeln der Reichen und in den galanten Gesellschaften, lässet sich kein Mangel spüren; das Geld laufet auf den Spieltischen herum wie zuvor«, während die Armen vor der Tür »Gras zur Speise genießen.« Ebd., 50 f. 279 Die Wildschäden sorgten für dauernde Konflikte bis hin zu Wilderei. Hazzi, Betrachtungen, 37; Hochedlinger, Tantner, Berichte, 60; Rankl, Politik, 761 f. 280 Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt a. M 1973, 104. 281 Vgl. Kap. III.1. 282 Carl von Leitner [= Leuthner], Bittrede zur Zeit der Theuerung bey Gelegenheit des gewöhnlichen Feld-Umrittes, an eine löbliche Stadt-Baumannschaft zu Ingolstadt. Ingolstadt 1771, 21. Die Pfarrer waren daher gezwungen ihrer Gemeinde energisch in Erinnerung zu rufen: »Wären alle reich, wären alle arm? Dann hörete das Gebott des Allmosen und der Verdienste auf.« Ebd.

Die Hungerjahre

99

ger. […] Denn es wurde alles von Bürgern aufs Land verkauft an Wäsche, Kleidung, zum Betten. Sie gaben kein Geld dafür, sondern nur Erdäpfel, den Scheffel zu 2 Thlr. Sie gingen vornehmer als Bürgersweiber und -Töchter.«283 In den Alpen klagte man, dass in der Krise die klimatisch bedingten früheren Erntetermine im Hochland dazu führten, dass Getreide in die tiefer gelegenen Städte abfloss, die noch auf die Ernte warteten. Deren größere Finanzkraft sorgte dafür, dass die Menschen in den unterversorgten Gebirgsregionen oft schon um Weihnachten über keinerlei Vorräte mehr verfügten.284 Überall forderte man Exportsperren, um Getreide trotz niedrigerer Kaufkraft im Land zu halten. Wer sich auf der schwächeren Seite der Grenzen befand, wie die Sachsen an der Grenze zu Preußen, bekam die regionalen Ungleichgewichte eindrücklich vor Augen geführt. Vielen blieb nichts anderes übrig, als illegal und unter Leibesgefahr auf der anderen Seite nach Nahrung zu suchen.285 Die Zeitgenossen resümierten entsprechend: »[D]er Regen traf vielleicht das ganze Deutschland überall; aber nicht in ganz Deutschland ist Mangel« oder »wer Geld gehabt, bekam auch Frucht«.286 Ökonomische, soziale und regionale Ungleichheiten, die in normalen Jahren zum Alltag gehörten, entpuppten sich mit der Hungersnot als lebensbedrohende Formen struktureller Gewalt.287 Die Spekulation mit Lebensmitteln gehörte in diesen extrem stratifizierten Gesellschaften zum ständigen Begleiter von Hungerkrisen. Solche Geschäfte­ macherei profitierte von dem hohen Kaufkraftgefälle, von der Diskrepanz zwischen ökonomischen und politischen Räumen sowie von der schieren Not der Verzweifelten. Viele Hungernde klagten wiederholt, dass die Knappheit künstlich verursacht und größtenteils menschengemacht sei.288 Die Forschung hat (ähnlich wie die zeitgenössischen ›Ökonomen‹) gerne auf die Topik und die lange Geschichte des Wuchervorwurfs verwiesen. Es wäre aber naiv anzunehmen, dass Nahrungsspekulation angesichts der enormen Profitmöglichkeiten in den extrem agonalen Märkten der Frühen Neuzeit mit ihrer asymmetrischen Verteilung von Zugangsrechten, keine Rolle gespielt hätte. Die Bewertung spekulativer Praktiken ist in 283 Spreckel, Hauschronik, 119. 284 Derflinger, Getreideteuerung, 14, 33. 285 Jahn, Roboter, 646–651. 286 Georg Christian Albrecht Rückert, Gedanken bey dem Getreidemangel in Deutschland von 1770 bis 1771 über dessen Quellen und Mitteln wieder denselben auf künftige Zeiten, in: Ders., Der Feldbau chemisch untersucht um ihn zu seiner letzten Vollkommenheit zu erheben. Zweiter Theil. Erlangen 1789, 175–186, hier 176; Anon., Lesenswürdige Beschreibung von der Theurung. Die sich von anno 1770. bis 1772. fast ganz in Europa zugetragen dergleichen bey Mannsdenken nicht erlebt worden, welches man zu einem eigen Andenken dem geneigten Leser beysetzen wollen, mit dem Wunsche, daß unsere Nachkommen dergleichen Jammer und Elend nimmer mehr erleben, vielweniger erfahren dürften. Augsburg 1773, o. P. 287 Paul Farmer, On Suffering and Structural Violence. A View from Below, in: Daedalus 125, 1996, 261–283. 288 Paul August Schrader, Die Kunst ohne Miswachs theuere Zeiten zu machen, nebst den bewährtesten Mitteln darwider. In einem Sendschreiben. Frankfurt a. M., Leipzig 1771.

100

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

Hungerkrisen allerdings bis heute umstritten.289 Ähnlich wie schon im 18. Jahrhundert steht auch heute der Klage über künstliche Verknappung, Preistreiberei und Monopolbildung der Verweis auf die ökonomische Sinnhaftigkeit von Spekulation gegenüber, um Schwankungen und regionale Defizite auszugleichen. Präzise Nachweise solcher Eingriffe sind selbst unter modernen Bedingungen schwer zu führen.290 Das gilt zumal für das 18. Jahrhundert, in dem entsprechende Handlungen zumeist kriminalisiert wurden und es nicht im Interesse der Profiteure lag, entsprechende Spuren zu hinterlassen. Hinter den Hungerjahren vermuteten die Zeitgenossen immer wieder größere und gezielte Markteingriffe oder regelrechte ›Hungerverschwörungen‹. In Frankreich führten diese Gerüchte 1770 zu einer Verhaftungswelle sowie einer Staatskrise.291 Tatsächlich erschienen die Bedingungen für Manipulationen gut. Die Unsicherheit während der Krise – über die verbleibenden Vorräte, das räumliche und zeitliche Ausmaß der Witterungsanomalie oder die geplanten politischen Gegenmaßnahmen – schuf die Voraussetzung, um mit Informationsvorsprüngen Gewinne zu machen.292 Allerdings waren selbst staatlich geförderte Handelsunternehmungen nicht in der Lage, diese Kontingenzen gewinnbringend zu nutzen, obwohl sie über reichlich Kapital, politisches Wohlwollen und ausgezeichnete überregionale Netzwerke von Informanten verfügten. Ob in Preußen, in Hannover oder in Bayern, überall scheiterten staatliche Unternehmungen an den Unwägbarkeiten des Marktes in Krisenzeiten. Der Getreidehandel war zu einem Hochrisikogeschäft geworden.293 Es ist jedoch offensichtlich, dass viele Zeitgenossen dennoch versuchten, zumindest in geringem Umfang von der Not zu profitieren. In Erfurt ertappte man den Bürgermeister dabei, wie er gehortetes Getreide widerrechtlich aus der Stadt bringen ließ, um anderswo größere Gewinne zu erzielen – ein Vorgang, der schwere Tumulte nach sich zog. Im Erzgebirge taten sich einige Dorfrichter zusam 289 Zur regen Debatte der 1920er Jahre, bei denen der Handel mit ›Futures‹ den Platz des vormodernen ›Fürkaufs‹ übernommen hatte vgl. Monika Dahlmann, Bühnen des Kapitalismus. Der Getreidehandel als Wissensobjekt zwischen den Weltkriegen, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 37, 2014, 112–131. 290 Vgl. etwa die entsprechende Debatte zur Hungerkrise 2008 in: Foodwatch, Die Hungermacher. Wie Deutsche Bank, Goldman Sachs & Co. auf Kosten der Ärmsten mit Lebensmitteln spekulieren. Berlin 2011. Dagegen: Thomas Glauben u. a., Alarm oder Fehlalarm? Ergebnisse eines Literaturüberblicks über empirische Forschungsarbeiten zur Finanzspekulation mit Agrarrohstoffen, in: Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien Policy Brief 9, 2012, 1–4. Unbestritten ist, dass spekulatives Handeln Nahrungskrisen bis heute mitprägt. Vgl. die Beiträge in: Michael Bergstresse, Franz-Josef Möllenberg, Gerd Pohl (Hrsg.), Globale Hungerkrise. Der Kampf um das Menschenrecht auf Nahrung. Hamburg 2009. 291 Kaplan, Famine Plot. 292 Foucault, Sicherheit, 66; Weishaupt, Getreideteuerung, 233. Zum Konnex von »hidden information« und »moral hazard« vgl. Anton Brandenberger, Ausbruch aus der »Malthusianischen Falle«. Versorgungslage und Wirtschaftsentwicklung im Staate Bern 1755–1797. Bern 2004, 399. 293 Vgl. Kap. IV.1.5.

101

Die Hungerjahre

men, um Getreide zu exportieren, bis sie von einer Ausfuhrsperre jäh gestoppt wurden. In Nürnberg machte ein Bürger enormen Profit mit gezielt zurückgehaltenem Hafer. In Berlin verdiente ein Bäckermeister so gut an der Teuerung, dass er sein Haus umfangreich renovieren konnte.294 Selbst für den kleinen Mann gehörte der Schmuggel von Getreide angesichts hoher Gewinne und großer Not bei lückenhafter Kontrolle zum Alltag.295 Neben diesen Amateuren versuchten auch die regulären Getreidehändler den angespannten Markt für sich zu nutzen. Aus vielen Regionen gibt es Hinweise, dass Kaufleute Getreide am Markt vorbei erwarben, Bauern mit Notkrediten in Abhängigkeit brachten und deren Korn in Erwartung steigender Preise bereits ›auf dem Halm‹ erwarben, lange bevor es geerntet und marktfähig war. Solche frühen Warentermingeschäfte waren kaum zu kontrollieren und verringerten den Zugriff lokaler Konsumenten auf Getreide.296 Die größten Profiteure bildeten aber nicht diese als ›Kornjuden‹ geächteten wahren oder vermeintlichen Spekulanten, sondern die privilegierten Stände. Sie durften aufgrund der Agrarverfassung auch in Krisenjahren weitgehend außerhalb der üblichen Regulationen handeln. Die Geschäftemacherei von Landadel, institutionellen Grundbesitzern oder den Klöstern zog daher zwar weniger Aufmerksamkeit auf sich, kontrollierte aber weit größere Teile des Angebots und der Gewinne.297 Ihr Geschäftsgebaren umfasste den allergrößten Teil des ganz realen Wuchers, der nur deshalb nicht so hieß, weil er legal war.

3.3. Sterblichkeitskrise Ab dem Herbst 1771 resultierte die Verkettung von Umwelteinflüssen und sozialem Handeln, von Regenanomalie, Missernten und Wirtschaftskrise in einer Katastrophe. Die dritte Missernte in Folge ließ sich mit den Hilfsmaßnahmen, die im Rahmen der Getreidegesellschaft zur Verfügung standen, nicht mehr abfedern. Spätestens jetzt sprachen die Beobachter nicht mehr nur von Teuerung, sondern

294 Vgl. Kap. IV.2.5. sowie Spreckel, Hauschronik, 121 f.; Georg Andreas Will, Theuerung zu Nürnberg in den Jahren 1770, 1771 und 1772, in: Historisch-diplomatisches Magazin für das Vaterland und angrenzende Gegenden 2, 1782, 357–375, hier 360; Helga Schultz (Hrsg.), Der Roggenpreis und die Kriege des großen Königs. Chronik und Rezeptsammlung des Berliner Bäckermeisters Johann Friedrich Heyde 1740 bis 1786. Berlin 1988, 39. Weitere Beispiele für ›künstliche‹ Teuerungen bei Schrader, Kunst, 104–111. 295 Vgl. Kap. IV.1.4. 296 Freitag, Krisen, 123. Diese Praxis war trotz Verboten weit verbreitet. Vgl. Hochedlinger, Tanter, Berichte, 49, 80, 113; Korn, Briefe, 39 f.; Derflinger, Getreideteuerung, 12. 297 Abel, 213–215; Weishaupt, 91 f.; Le Roy Ladurie, Disette, 69. Vgl. etwa Derflinger, Getreideteuerung, 13 zur Praxis der Großproduzenten, das Ausdreschen und den Verkauf gezielt hinauszuzögern, um die Preise zu erhöhen. Zur Kritik der Zeitgenossen daran vgl. Schrader, Kunst, 19–21.

102

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

von Hungersnot.298 Zum Teil erinnern die Berichte aus den Notstandsgebieten in ihrer Dramatik an moderne Katastrophen. Dies geht nicht nur auf die bis heute stabile Topik des narrativen Repertoires zurück, sondern auch darauf, dass in der völligen Reduktion der Lebensumstände auf das nackte Überleben die Unterschiede zwischen modernen und vormodernen Krisenlagen verblassen. Um das Ausmaß der Not zu umreißen, soll zumindest eine Schilderung etwas ausführlicher wiedergegeben werden. Ein durchreisender Augenzeuge berichtete im Winter 1771/72 aus dem Erzgebirge: Ich habe das Elend in Breitenbrunn, Rittersgrün, Wiesenthal, Crotendorf, Pöhla, Wilden­ thal, Eybenstock und Neudorf gesehen. Nie wünsche ich mir, und keinem andern, einen solchen traurigen Anblick wieder zu erleben […]. Das innere Elend der Orte wage ich mich gar nicht zu schildern. [Traurig war es] die meisten Einwohner nicht so nothdürftig bekleidet, daß sie ihre Blösse bedecken konnten, ihre Wohnungen von allem Hausgeräthe, ihre Lager von Betten leer zu sehen. Kleider, Wäsche, Betten, Haus- und Handwerksgeräthe hatten die meisten, ja viele die eisernen Töpfe und blecherne Röhren aus den Oefen, die Schlösser von den Thüren, und ihre Aexte verstossen und um ein geringes verkaufen mussen, (viele haben die Fenster, die Ziegelsteine von den Feueressen u.s.f. aus Noth verkauft. Viele Häuser, die ausgestorben waren, sind von den Nachbarn eingerissen, und das Holz verbrannt worden) um ihr und ihrer Kinder Leben auf einige Tage zu fristen […]. Oft müssen sie von der Arbeit wieder abgehen, oft davon hinweg getragen werden; ja einige sind todt dabey liegen geblieben.

Fassungslos berichtet der Autor vom Fatalismus der Hungernden im anbrechenden dritten Hungerjahr: »Ich erstaunte über die Gelassenheit der vielen Elenden, die mir allenthalben entgegen kamen: aber selbst zu Kummer und Klagen schon zu empfindungslos […].« Die Schilderung gipfelt in der dramatischen Beschreibung der Hungertoten und jener, die bereits durch Hungerödeme entstellt dem Tod geweiht waren: Viele wissen keine Krankheit und Schmerzen zu klagen; aber geschwollen, keichend, ganz verschmachtet, taumeln sie umher, vermuthlich sind ihre Eingeweide zusammengeschrumpft. Nur erst vor wenigen Tagen hat man in der Gegend von Eybenstock zwey Kinder, die in den Wald gegangen waren, um sogenannte Schwarzbeeren zu holen, auf der Strasse aus Mattigkeit umgefallen und todt gefunden. [In Rittersgrün war] ein Hausgenosse vor zwey Tagen verhungert, lag aber noch in dem Bette, in dem er gestorben war, weil Witwe und Kinder alle ganz unbedeckt nichts zum Sarge auftreiben konnten. Nicht weit davon lag der Wirth vom Hause abgemattet auf dem Boden, ohne etwas klagen zu 298 Zesch, Kanzelrede, Titel (vom 14.8.1771); Churbaierisches Intelligenzblatt vom 11.10.1771, 294; Miscellanea Saxonica vom 1.10.1771, 304. In England konstatierte man im Reich bereits ab dem Juni 1771 »the Horrors of Famine«. Derby Mercury vom 28.6.1771.

Die Hungerjahre

103

können. Dessen Bruder mit einer Frau nebst sechs Kindern, waren seit zehn Wochen eines nach dem andern verhungert.299

Es lässt sich leicht zeigen, wie eng Teile der zeitgenössischen Hungerbeschreibungen der Topik des christlichen Leidens folgten. Oft finden sich vergleichbare Formulierungen bereits seit der Antike. Allerdings illustrieren detaillierte Berichte von Amtsleuten und Ärzten, dass es sich deshalb nicht um Übertreibungen handeln musste. Ein Amtsphysikus bestätigte den entsetzten Dresdener Kollegen, dass seine Patienten in diesen Orten »wirklich vor Hunger gestorben seien«. Den ­Sterbenden träten vielfach bereits »die Würmer, die keine Nahrung mehr fanden, aus dem Munde«. Ein Pfarrer notierte, dass »wenige an Krankheit, fast alle aber vor  Hunger nach und nach eingegangen und gestorben« wären. Auch ein Richter bestätigte, mehrere Tote hätten »keine besondere, noch weniger aber fangende Krankheit gehabt, sondern der Hunger und die allzu große Auszehrung ist schuld, wie denn sehr viele gar nicht krank gelegen, sondern Knall auf Fall umgefallen und tot gewesen. Daß ein solches der Wahrheit gemäß, wird pflichtschuldigst attestiert.«300 Zahlreiche vergleichbare Aufzeichnungen sind – teilweise samt Autopsiebericht – aus dem Eichsfeld, Böhmen, Franken und zahlreichen anderen Orten erhalten.301 Auch das Auftreten von Hungerödemen, die auf eine Kwashiorkor-­ Erkrankung durch Eiweißmangel hindeuten, wird von verschiedenen Beobachtern bestätigt.302 Bei aller Unsicherheit in der Diagnostik scheinen die Menschen zumindest in einigen Notstandsgebieten im Erzgebirge oder dem Eichsfeld regel 299 Dresdnener Gelehrte Anzeigen, 1772, 596–600. Dieser Brief eines ungenannten Reisenden vom 4.9.1772 aus der Gegend um Johanngeorgenstadt wurde in der Zeitung im Zusammenhang mit Spendenaufrufen abgedruckt. Umso mehr betonte man, dass es sich beim Autor um einen »sicheren Mann« handele. Ebd., 569. 300 HStA Dresden, Loc. 35048, Nr. 90 (zit. nach Militzer, Klima, Kap. 5.11.1.1. und 5.8.1.) und Miscellanea Saxonicae, 1772, 77. 301 »Bei der Öffnung des Magens, der zu einem engen Kindermagen zusammengeschrumpft war, fand man außer einer kleinen Menge Sauermilch keine Kleienspeise; als Nahrung wurde sogar das aufgenommen, was sonst als Viehfutter dient«. Opfermann, Geschichte, 390. Einen ähnlichen Autopsiebefund bietet: Arand, Abhandlung, 224 f. In Böhmen wurden Hungertote mit Attest bestätigt, um jede Skepsis auszuräumen: Weinzierl-Fischer, Hungersnot, 500. Zu weiteren Berichten von ›echten‹ Hungertoten vgl. Hecker, Heilkunde, 141; Carsten Kuther, Menschen auf der Straße. Vagierende Unterschichten in Bayern, Franken und Schwaben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1983, 141 f.; Arand, Abhandlung, 214; Jäger, Dorfchronik, 236; Langer, Hungerjahre, 365; Militzer, Klima, Kap. 8.8.1; Schneider, Mangel, 262 f.; Will, Teuerung, 367. 302 »ganz aufgedunsen« (Arand, Abhandlung 214); »aufgedunsen im Gesicht und am ganzen Leibe« (Miscellaneae Saxonicae 1772, 74); »geschwollen und aufgedunst« (Fichtner, Beschreibung, Anmerkung); »an den Beinen geschwollen« (Dresdener Gelehrte Anzeigen, 1772, 168); »die dem Tode nahe waren, sahen gelb aus und schwollen zum Entsetzen an« (Sebastian, Entstehung, 199); »Drey Auswärtige, die hier unter freyem Himmel totgefunden worden, in Hunger und Geschwulst verschmachtet« (Langer, Hungerjahre, 365).

104

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

recht verhungert zu sein. Moderne Hungerstreiks und -experimente zeigen, wie überraschend schwierig es ist, an bloßer Unterernährung zu sterben, selbst wenn der Tod absichtsvoll herbeigeführt werden soll.303 Das Auftreten solcher Hungertoten unterstreicht daher umso mehr, die völlige Entblößung von materiellen Besitztümern, das extreme Ausmaß und die lange Dauer der Krise. Der weitaus größere Teil der Opfer starb jedoch, wie in jeder Hungerkrise, durch Krankheiten. In seltenen Fällen wurden sie wie die Mutterkornvergiftungen durch Nässe und Fehlernährung ausgelöst. Die meisten Krankheiten besaßen aber keine direkte ätiologische Verbindung zu Klima oder Ernährungsstatus. Die typischen Hungerkrankheiten wie Fleckfieber oder Dysenterien trafen die Menschen nicht, weil die geschwächten Opfer sich einfacher infiziert hätten oder die Erreger von der Feuchtigkeit profitierten. Sie verbreiteten sich deshalb rascher, weil mehr Menschen auf der Suche nach Nahrung unterwegs waren oder unter schlechten hygienischen Zuständen auf engem Raum zusammenkamen. Ihr Vektor war nicht der Hunger selbst, sondern soziale Faktoren, die durch den Mangel befördert wurden, wie erhöhte Migration, mangelnde Hygiene und beengtes Zusammenleben. Dass die Verknüpfung von Hunger und Krankheit nicht biologisch, sondern sozial hergestellt wurde, erhöhte ihre Gefährlichkeit noch. Die entsprechenden Seuchen bedrohten nämlich nicht allein die Hungernden, sondern alle Schichten der Bevölkerung.304 Seit dem Jahreswechsel 1770/71 verbreiteten sich die Epidemien unter der Bevölkerung. Damit setzte überall das ›große Sterben‹ ein. Im Reichsgebiet trafen Fleckfieber (bzw. Hungertyphus), Pocken und Dysenterien vor allem die Mitte, den Osten und den Süden. Lediglich die Rheinregion und der Nordwesten blieben verschont.305 Aus den betroffenen Gebieten sind Berichte massenhaften Leids überliefert. Im Eichsfeld beobachtete ein Arzt die katastrophalen Zustände bei den Armen, wo »sieben und mehrere Personen in einer Hütte, die kaum einen Schritt breit und 2 lang war, beisammen liegen. [… Einer lag] an einem immergährenden unerträglichen stinkenden Durchfalle nieder, andere waren in der nemlichen Gelegenheit ohnmächtig und schwitzten, und einige sahe ich als Tode ausgestreckt.«306 Die emotionale Wucht für die Betroffenen selbst schildert Ulrich Bräker in seiner Lebensgeschichte: 303 Russell, Hunger, 113–135. 304 Zur Biologie des Hungers sowie zu Identifizierung, Verlauf, dem sozialen Nexus und der Medikalisierung der Hungerkrankheiten vgl. ausführlich Kap. IV.4.2. 305 Aufgrund des Forschungsstandes der historischen Epidemiologie lässt sich nur mutmaßen, ob diese Verteilung die bessere Versorgung entlang von Rhein und Küste widerspiegelt oder umgekehrt die günstige Ernährungslage das weitgehende Ausbleiben der Krankheiten reflektiert. Möglicherweise gibt die geographische Verbreitung nur die – bis heute schwer zu rekonstruierende – natürliche epidemiologische Dynamik wieder. Vgl. Kap. IV.4.2. sowie Post, Mortality Crisis und Rolf Gehrmann, Bevölkerungsgeschichte Norddeutschlands zwischen Aufklärung und Vormärz. Berlin 2000, 108. 306 Arand, Abhandlung, 90 f.

Die Hungerjahre

105

Im Herbstmonate, da die rote Ruhr allenthalben grassierte, kehrte sie auch bei mir ein und traf zuerst meinen lieben Erstgeborenen […]. Noch in der letzten Todesstunde riß es mich mit seinen kalten Händchen auf sein Gesicht herunter, küßte mich noch mit seinem erstorbenen Mündchen und sagte unter leisem Wimmern mit stammelnden Zünglin: ›Lieber Aeti! Es ist genug. Komm auch bald nach. Ich will itzt im Himmel ein Englin werden‹, rang dann mit dem Tod und verschied. […] Mir war, mein Herz wollte mir in tausend Stücke zerspringen. Noch war mein Söhnlein nicht begraben, so griff die wütende Seuche mein ältestes Töchterchen, und zwar noch viel heftiger an.307

Auch Bräkers Tochter starb nach kurzer Zeit, während er selbst und drei weitere Kinder die Krankheit nur knapp überlebten. Die Virulenz der Epidemien beschreiben auch die Ärzte eindringlich. Von den 370 Patienten des Eichsfelder Arztes starben 62. Noch höhere Todesraten sind aus dem Erzgebirge belegt.308 Bräker notierte: »Sonst war der Jammer, Hunger und Kummer, damals im Land allgemein. Alle Tag’ trug man Leichen zu Grabe, oft 3. 4. bis 11. miteinander.«309 Anfang 1772 nahm die Not in den Krisengebieten extreme Ausmaße an. Immer häufiger zeigten sich nun Anzeichen eines gesellschaftlichen Zusammenbruchs. Kranke wurden nicht mehr versorgt und ausgesetzt. Kleine Kinder mussten die verstorbenen Eltern selbst in notdürftige Särge legen und aus dem Haus bringen.310 An einigen Orten stieg die Zahl der Toten so dramatisch, dass sich kein individuelles Begräbnis mehr organisieren ließ. An der sächsisch-böhmischen Grenze wurden die bis zu 40 Leichen am Tag statt in Särge nur noch in Säcke gehüllt, notdürftig verscharrt und ohne Namen als »ein Mensch« in die Sterbematrikel eingetragen.311 Im Erzgebirge musste ein verzweifelter Pfarrer Massenbegräbnissen zustimmen. Sie fanden angesichts der vielen Toten und der völligen Verarmung ohne Sarg und geistliche Begleitung statt. Schon bald sah der Geistliche mit an, wie die Toten nachts einfach gruppenweise, nackt und namenlos herbeigetragen und in notdürftige Gruben geworfen wurden. Betroffen zählte er 211 Personen, die ohne Gesang und Klang, ohne Sarg und Kasten, meistens nackigt und bloß, viele mit aufgedeckter Schaam, vielmahls abens wie Übelthäter, ja wie arme Hunde in drittehalb eiligte (gräber), zu 4 oder 5 sind geschmissen worden, auch in Löcher wo eine halbe Elle 307 Bräker, Schriften, Bd. 4, 492 f. Zur Ruhr, einer durch Bakterien ausgelösten Dysenterie, vgl. Kap. IV.4.2. 308 Arand, Abhandlung, 3; Militzer, Klima, Kap. 5.11.1.1. sowie Tab. 38. 309 Bräker, Schriften, Bd. 4, 494. 310 Jäger, Dorfchronik, 236; Fichtner, Beschreibung, Anmerkung; Joachim Seyffarth, Edith Seyffarth, Von Krieg und Not, vom »Schwarzen Tod«. Geschichten um vergessene Denkmale (Erzgebirgische Heimat 5). Marienberg 2001, 44 f.; Kalendereinträge des Wagnermeisters Caspar Heinrich Nonn, in: Sigmar Löffler, Geschichte des Dorfes Langenhain von den Anfängen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Erfurt 2002, 199. 311 Jäger, Dorfchronik, 236 f.

106

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

hoch eine Leimpfütze stand, zum Ex[empel] die Graumatzdorn, und offener Scham der Guerfried, das ich selber gesehen.312

Der Verlust jeder Würde und Individualität sowie die Abwesenheit aller Riten und Heilsversprechen schockierten die Zeitgenossen und erschütterten die Grundpfeiler gesellschaftlichen Miteinanders.313 Mit dem Notstand nahmen überall im Reich Räuberbanden, Notdiebstahl und Kriminalität dramatisch zu.314 Öffentliche Getreidetransporte benötigten militärischen Schutz, um sie vor verzweifelten Plünderern zu schützen. Teilweise waren es aber die Soldaten selbst, die auf der Suche nach Nahrung marodierend durch das Land zogen.315 In den Dörfern brachen unter dem Druck der Krise Ehen, Familien und soziale Netzwerke auseinander. Frauen wurden von ihren Partnern verlassen, die sich den Auswanderertrecks anschlossen oder heimlich in den Kriegsdienst traten. Kinder zogen vielfach wild und ohne Aufsicht auf der Suche nach Nahrung umher.316 Flächendeckend bildeten sich große Züge von Emigranten, die sich eigenmächtig auf den Weg nach Ungarn oder Amerika machten.317 Vielerorts blieben die Gotteshäuser und Schulen leer, weil es den verbleibenden Menschen an Kraft und Kleidung mangelte. In den Notstandgebieten waren Wechselkleidung, Hausrat und Betten verkauft, die Häuser verpfändet, die Lehrer beurlaubt und die Lehrlinge abgedankt worden. Wer konnte, brach auf der Suche nach Hilfe in die Städte auf. Zahlreiche Häuser standen daher leer und verfielen. Zur Jahreswende 1771/72 berichteten Reisende von unheimlichen, stillen Dörfern, in denen kein Hahn mehr krähte und kein Mensch mehr zu sehen war.318 312 Sterbematrikel Ehrenfriedersdorf von Pfarrer Christian Friedrich Becher, in: Langer, Hungerjahre, 364–366. 313 Auch im thüringischen Ernstthal notierte man im Juni 1771: »Da es nicht möglich war, für alle Leichen Särge zu schaffen, trugen die Totengräber die Toten in einem Kasten auf den Gottesacker, legten zwei und zwei in ein Grab und nahmen den Kasten wieder mit zurück«. Festausschuß, Ernstthal 275 Jahre. Hohenstein-Ernstthal 1955, 4. »Die Kinder aber, die keinen Sarg hatten, wurden Abends in Körben hinausgetragen und zu sechs bis acht ohne Sarg und Leichenkleid in ein Grab gelegt.« Sebastian, Entstehung, 199. 314 Vgl. Kap. IV.2.4. 315 Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 131, 145. 316 Zu zerbrechenden Familien vgl. etwa: Bräker, Schriften, Bd. 1, 308, 398; Militzer, Klima, Kap. 5.11.2.7.; Bräuer, Capitalisten, 71. Beobachter klagten: »Ich finde Anverwandte, die ihre Freunde nicht mehr kennen, so bald sie reicher und vornehmer als sie sind, die durch die schändlichsten Ränke einander um Gut und Ehre bringen, und sich unter einander mehr als Fremde hassen.« Andere berichteten, »daß Eheleute, welche allzeit ehrliebend, friedliebend und sparsam miteinander gehauset hatten, jetzo in Unfrieden und Streit zu gerathen, und einander auf das ärgerlichste zu beschimpfen sich in den Sinn kommen lassen, Eines beschuldigt das andere eines übel geführten Hauswesens, weil die Nahrung ermangelt«. Schmahling, Nachruff, 16 f.; Anon., Beschreibung des Theurungszustandes, 4 f. 317 Vgl. Kap. IV.2.6. 318 Vgl. den Bericht des Diakons Rabenstein aus Annaberg, in: Helmut Bräuer, Armut in

Die Hungerjahre

107

Selbst in den besser versorgten urbanen Zentren wurden Universitäten geschlossen, Messen und Feste abgesagt und die Musikanten abgedankt.319 Bäcker gaben das teure Brot aus Angst vor Tumulten nur noch durch die Fenster aus (Abb. 19). In den Städten harrten lange Schlangen von Leuten nachts vor den Bäckereien aus oder blieben hungernd und erschöpft auf den Straßen liegen. Vor den öffentlichen Brotausgaben kam es immer wieder zu verzweifelter Gewalt, bei der die Menschen sich »die Kleider vom Leib rissen und einander halbtot schlugen«.320 Dennoch sammelten sich dort täglich enorme Menschenmassen. In der Folge verbreiten sich ansteckende Krankheiten und Epidemien auch in diesen Regionen. Überall verdrängten im Alltag der Menschen nun Totenfeiern die Taufen.321 Die Bevölkerungsverluste waren verheerend. In ihrer Wucht erinnerten sie die Zeitgenossen an Kampfhandlungen und erschienen ihnen wie ein ›stiller Krieg‹.322 Allein in Sachsen starben auf dem Höhepunkt der Krise 1771/72 etwa 60.000 Personen an Hunger und Hungerkrankheiten. Zusammen mit dem dramatischen Einbruch der Geburtenzahlen (-36.000) führte dies zu einem Rückgang der Bevölkerung um 6,7 Prozent. Ähnliche Zahlen hat man 1772 für Bayern und Preußen ermittelt. Hier sank die Bevölkerung um 5,8 und um 7 Prozent, was in absoluten Zahlen 58.000 und 112.000 Menschen entsprach.323 Regional, Bergstädten des sächsischen Erzgebirges, in: Karl Heinrich Kaufhold, Wilfried Reinighaus (Hrsg.), Stadt und Bergbau. Köln, Weimar, Wien 2004, 199–238, 221 f. sowie Langer, Hungerjahre, 361 f., 365; Spreckel, Hauschronik, 116; Jäger, Dorfchronik, 237; Hazzi, Betrachtungen, 67, 147. 319 Derflinger, Getreideteuerung, 30; Volker Press, Die europäischen Hungerjahre, in: Organisationskomitee 750 Jahre Stadt Erding (Hrsg.), Stadt Erding. Altenerding 1908, 203–209, hier 206; Hazzi, Betrachtungen, 54; Ubbo Mozer, Dorfmusik während des 18. Jahrhunderts im Kreis Hersfeld-Rotenburg, in: Heimatkalender Hersfeld-Rotenburg, 1974, 119–143, hier 137. Dort wo der Lehrbetrieb der Universitäten noch aufrechterhalten wurde, kehrten Scharen von Studenten wegen der Teuerung in ihre Heimat zurück: Peter Hanke, Ein Bürger von Adel. Leben und Werk des Julius von Soden 1754–1831. Würzburg 1988, 45. 320 StA Nürnberg, Rep. F. 1. Nr. 62, S. 213 (Chronik Nürnberg); Hazzi, Betrachtungen, 46. 321 In Toggenburg, der Heimat Ulrich Bräkers, kamen auf nur noch 63 Taufen 237 Begräbnisse – laut Bräker »eine anzahl gestorbener, welche ich noch nie erlebet«. In Annaberg waren es 89 Geburten und 490 Begräbnisse, in Zittau 269 und 862 (statt wie 1768 noch 431 zu 382). Bräker, Schriften, Bd. 1, 380; Bräuer, Armut in Bergstädten, 221; Lausitzisches Magazin, 1769, 41 und 1773, 76. 322 »Ein stiller Feind jedoch schlägt unbarmherzig zu / Er tödtet ohne Schwert und sein ergrimmtes Toben macht in und neben uns die jämmerlichsten Proben, O Teurung! Das bis du«. Münchnerisches Wochenblatt in Versen 13, 1771, Num. 22 (o. P.). 323 Karlheinz Blaschke, Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur industriellen Revolution. Weimar 1967, 127; Uwe Schirmer, Der Bevölkerungsgang in Sachsen zwischen 1743 und 1815, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 83, 1996, 25–58, hier 46; Rankl, Politik, 254–257; Kluge, Hunger, 77. Solche aggregierten Zahlen bilden angesichts der lückenhaften und oft verzerrten Daten im protostatistischen Zeitalter nur Näherungswerte, die meist nicht auf der Erfassung von (nur teilweise vorhandenen) Kirchenbüchern beruhen, sondern auf zeitgenössischen Auswertungen und Interpolationen: Pfister, Fertig, Population History.

108

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

etwa im Erzgebirge, lagen die Todesraten noch weitaus höher.324 Städte wie Erfurt, Nürnberg, Augsburg, Erding oder Zittau verloren in einem einzigen Jahr 10 Prozent ihrer Bevölkerung. Allein in Nürnberg zählte man 1.500 zusätzliche Tote, was einer Verdoppelung der Sterbeziffer entsprach.325 Besser erging es lediglich den Regionen im Norden und Westen des Reiches, die eine günstige Verkehrslage aufwiesen und von Hungerkrankheiten weitgehend verschont blieben. Am Rhein, an der Nordseeküste und in Teilen Württembergs stiegen die Todesfälle nur moderat an. Bevölkerungsverluste ergaben sich hier vor allem durch den Rückgang der Geburten und Migrationsverluste.326 Anderswo dokumentieren die Kirchenbücher jedoch regelmäßig die Verdoppelung oder sogar die Vervierfachung der Todeszahlen bei drastisch zurückgehenden Geburtenraten. In ihrer demographischen Wucht übertrafen diese Hungerjahre damit vermutlich alle anderen Krisen des 18. und 19. Jahrhunderts im Reich.327 Ähnliche Verhältnisse herrschten in weiten Teilen Zentraleuropas. Frankreich verzeichnete deutliche Bevölkerungsverluste. Böhmen, für das ein ausführlicher Militärzensus vorliegt, verlor in der Hungerkrise nahezu 250.000 Menschen, etwa 10 Prozent seiner Einwohner. Die Schweiz erlitt außerhalb der relativ gut versorgten Städte ebenfalls einen Einbruch von bis zu 10 Prozent, vornehmlich aufgrund 324 Blaschke, Bevölkerungsgeschichte, 128 nennt 9,7 %. Im dortigen Breitenbrunn sank die Bevölkerung sogar um 17 % in einem Jahr, nachdem allein ein Fünftel der Bevölkerung (201 Personen) verstorben war. Militzer, Klima, 5.11.2.6. 325 Horst Moritz, Teure Zeiten. Hunger und Hungersterben in Erfurt 1771/72, in: Stadt und Geschichte. Zeitschrift für Erfurt 6, 2005, 25 f.; Press, Hungerjahre, 208; Lausitzisches Magazin, 1769, 41 und 1773, 76; Vasold, Hungerkrise, 124 f. 326 Zu einer solchen crise larvée in Württemberg, am Bodensee, dem Rheinland und der Stadt Basel vgl. Zimmermann, Noth, 112; Göttmann, Versorgungslage, 121 f.; Schlöder, Bonn, 261–270; Mattmüller, Hungerjahre, 279. Der Unterschied geht vermutlich stärker auf das Ausbleiben von Epidemien als auf ökonomische, politische oder klimatische Vorteile zurück. Gehrmann, Bevölkerungsgeschichte, 108; Post, Mortality Crisis, 41. 327 Vgl. zum Anstieg der Mortalität auf mindestens das Doppelte: Rudolf Hruschka, Die Hungersnot 1771–72 im Fladinger Raum, in: Zeitschrift des deutschen Vereins für die Geschichte Mährens und Schlesiens 42, 1940, 74–77; Löffler, Langenhain, 199; Helmut Priewer, Wilfired Göbler, Mathias Priewer, Subsistenzkrisen im Kirchspiel Rückeroth/Ww. vom 17. bis zum 19. Jahrhundert aus historisch-demographischer Sicht, in: Nassauische Annalen 113, 2002, 331–340; Friedrich Ludwig Keßler, Beobachtungen über die epidemischen Faulfieber in den beiden Wintern 1770 bis 1772. Halle 1773, 119 (zur Provinz Magdeburg) sowie (für ganz Bayern) Rankl, Politik, 755. In Thüringen errechneten bereits die Zeitgenossen eine Verdreifachung: Adam Friedrich Ernst Jacobi, Verhältniß zwischen der Vermehrung und Abnahme der Menschen in einer gewissen Gegend in den Jahren 1770, 1771 u. 1772, in: Hannoverisches Magazin 12, 1774, 47–48. In den akuten Krisengebieten kam es zu einer Verfünf- bis Verzehnfachung: Langer, Dorfchronik, 365; Jäger, Dorfchronik, 236. Der Nahrungsmangel war so groß, dass er sich langfristig auch in der sinkenden Körpergröße der betroffenen Kohorten nachweisen lässt: Jörg Baten, Ernährung und wirtschaftliche Entwicklung in Bayern 1730–1880. Stuttgart 1999, 64. Die auf den wenigen Angaben bei Wilhelm Abel beruhende Vermutung eines Bevölkerungsrückgangs von 2,5–4,5 % dürfte daher eher zu niedrig liegen. Le Roy Ladurie, Disettes, 71.

Die Hungerjahre

109

von Migrationsbewegungen. Ähnlich dramatisch fiel die Krise in Skandinavien aus. In Schweden verdoppelte sich überregional die Sterberate.328 Absolute Opferzahlen sind angesichts der krisenbedingten Aufzeichnungslücken auch in modernen Hungerkrisen nur schwer zu ermitteln. Die erhaltenen Zählungen und Schätzungen für die Jahre 1770–1772 erlauben nur ein ungefähres Bild. Vorsichtig betrachtet legt es für Europa den Verlust von knapp einer Million Menschenleben nahe. Damit forderte die Hungersnot in nur zwei Krisenjahren deutlich mehr Opfer als der Siebenjährige Krieg.329 Die demographische Forschung verweist oft darauf, wie rasch diese ›Bevölkerungslücken‹ wieder gefüllt wurden. Die Zeitgenossen dachten jedoch in anderen Kategorien und beklagten einen tiefgreifenden Wandel. Rückkehrer fanden ihre Dörfer nach der Krise oft bis zur Unkenntlichkeit verändert vor. Die vielen verlassenen und verfallenden Häuser dienten bald als Spielplatz streunender Kinder.330 Aus dem Erzgebirge berichtete ein Reisender: Zu Ende des Jahrs 1772 kam ich wieder nach Eybenstock, da waren in diesem Jahr, nach laut des Kirchen-Zettel 700 Menschen begraben worden. Wenn ich nach diesen und jenen Bürger fragte; was macht denn der? So hieß es: Er ist todt. O! der und die, sind alle todt.331 328 Brázdil, Hungerjahre, 63. In der Schweiz war das Ungleichgewicht zwischen protoindustrialisierten Regionen und den Städten besonders groß. Mattmüller, Hungersnot, 283. Zu Skandinavien vgl. Martin Dribe, Mats Olsson, Patrick Svensson, Nordic Europe, in: Alfani, Ó’Gráda, Famine, 185–211; Imhof, Bevölkerungsentwicklung, 412; Sølvi Sogner, Folkevekst og flytting. En historisk-demografisk studie i 1700-årenes Øst-Norge. Oslo 1976 sowie Olav Aaraas, Befolknings­ krisa i Norge 1770–74: sult eller sykdom? Bergen 1978. Großbritannien und die Niederlande waren von den Missernten und Preiserhöhungen ebenfalls betroffen, erlebten aber aufgrund der ausbleibenden Krankheiten keine scharfen Mortalitätskrisen. 329 Post (Mortality Crisis, 33 f.) berechnet anhand fragmentarisch erhaltener Erhebungen und modernen demographischen Forschungen allein in Westeuropa ohne Österreich, Polen und das krisengeschüttelte Böhmen einen Bevölkerungsrückgang von 700.000 Menschen aufgrund der Kombination von gestiegener Mortalität und fallenden Lebendgeburten. Für Böhmen geht man aufgrund eines Zensus von einem Rückgang um 250.000 Personen aus (Brázdil, Hungerjahre, 63). Die oben angeführten lokalen Werte liegen teilweise deutlich über den von Post benutzten Angaben. Zu den Schätzungen von etwa 500.000 europäischen Opfern des Kriegs vgl. František Stellner, Zu den Ergebnissen des Siebenjährigen Kriegs in Europa, in: Prague Papers on History of International Relations 4, 2000, 85–98, hier 86. Zu den bis heute notorisch unsicheren Opferzahlen von Hungersnöten (und Kriegen) vgl. Ó Gráda, Famine, 92–98. 330 »Im Frühjahr nach dem großen Sterben ersah sich eines Sonntags ein Schwarm mutwilliger Jungen in Neuwald die herrenlosen Häuser zum Tummelplatze. Sie wurden der Reihe nach besucht und neugierig alle Winkel durchstöbert. […] Auf dem Fußboden lagen noch die Streuen und Buchten umher, auf denen vor einigen Monaten die sterbenden Hausbewohner ihre letzten Seufzer ausgehaucht.« Jäger, Dorfchronik, 238. 331 Fichtner, Beschreibung, Anmerkung. Bayern bot – aus physiokratischer Perspektive – ein ähnlich »jämmerliches Bild«: »Bettler und Mönchen ohne Zahl, die Fluren den Wildschweinen preisgegeben, alles voll wüster Waldungen, Sümpfe und Gemeinweiden – und tausende Höfe öde.« Hazzi, Betrachtungen, 75.

110

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

3.4.  Europäische Konstellationen Die kumulative Wucht der verkoppelten Klima-, Ernte-, Wirtschafts-, und Mortalitätskrisen hinterließ 1770–1772 seine Spuren in ganz Europa. Von der weitgehend ›klimablinden‹ Forschung wurden sie bisher aber nicht in einen Zusammenhang gebracht. Zunächst brachen in den Notjahren überall schwere Tumulte aus. In Brüssel protestierte ein wütender Mob gegen Teuerung und Fruchtsperren. Er konnte erst mit Hilfe von zwei hinzugezogenen Bataillonen gestoppt werden.332 In Frankreich führten flächendeckende Tumulte in den Städten zu zahlreichen Todesfällen, so dass der König 1770 auf sein übliches Sommerlager verzichten musste und stattdessen im besser gesicherten Versailles blieb.333 In Irland kamen die Proteste einer Revolution gleich. Im Norden der Insel befeuerte die Kombination aus Missernten und Wirtschaftskrise die bereits länger schwelenden Konflikte zwischen Grundherren und Pächtern. Immer wieder griffen die sogenannten Steelboys in Haufen von mehreren tausend Personen Gutsbesitzer, Müller und Getreidespeicher an und verlangten eine Reduktion der Abgaben sowie verbilligtes Brot. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung verwüstete 1772 eine 8.000 Personen umfassende, militärisch organisierte Gruppe im Battle of Gilford das Haus des örtlichen Friedensrichters und schlug sowohl das in Belfast stationierte schottische Regiment als auch drei aus dem Süden hinzugezogene Kompagnien in die Flucht. Wenige Monate später zog ein weiterer Mob durch Dublin, um gegen die Teuerung zu protestieren. Wieder konnte die aufgebrachte Menge nur durch Gewehrsalven zerstreut werden, bei denen mehrere Personen starben.334 In Böhmen brachen im Bereich von 72 Grundherrschaften Aufstände aus. In Prag verkündeten die verzweifelten Protestierenden offenbar überzeugend, dass sie lieber durch Kugeln als durch den Hunger sterben wollten, woraufhin der Gouverneur das Militär wieder abzog und stattdessen die Kaiserin um Hilfe 332 Derby Mercury vom 22.11.1771 sowie Scots Magazine vom 1.6.1772, 327. 333 In französischen Zeitungen wurden entsprechende Berichte zensiert. Dagegen berichtete der Bath and Bristol Chronicle vom 16.8.1770 von jeweils mehreren hundert Toten in Cherbourg, Rouen, Nancy und Valogne. Weitere Proteste wurden aus der Auvergne, dem Limousin, aus Besançon und Lamarche gemeldet. In Tours gelang es dem Erzbischof mit den Aufständischen zu verhandeln, nachdem der Stadtverwalter über Nacht die Flucht angetreten hatte. Ebd, sowie Leeds Intelligencer vom 5.6.1770; Caledonia Mercury vom 22.6.1771 und Newcastle Courant vom 16.6.1770. 334 Ipswich Journal vom 28.3.1772 sowie Leeds Intelligencer vom 14.9.1773. Zum Aufstand der Steelboys im Norden und der Hearts of Oak im Süden im Gefolge der Missernten von 1769 und 1770 sowie der Textilabsatzkrise vgl. James S. Donnelly, Hearts, bes. 44–50, 61 f. In deutschen Chroniken sprach man von 500 Toten auf beiden Seiten des Battle of Gilford. Andreas Lazarus von Imhof (Hrsg.), Des neueröffneten Historischen Bilder-Saals Sechzehender Theil. In welchen die allgemeine Welt-geschichte vom Jahr 1771 bis 1775 unter Kaiser Joseph II. und dessen glorreicher Regierung mit vielem Fleiß, aufrichtig und unpartheyisch beschrieben und die vornehmsten Begebenheiten in anmuthigen Kupfern vorgestellet sind. Nürnberg 1779, 355.

Die Hungerjahre

111

anflehte.335 In Schottland und England sind insgesamt 35 schwere Nahrungstumulte verzeichnet, bei denen Lager gestürmt, Getreideexporte blockiert, Zwangsverkäufe durchgeführt sowie Mühlen, Gasthäuser, Verwalter und Kaufleute angegriffen wurden. Sie konzentrierten sich auf die Textil- und Bergbauregionen, die durch die Kombination von Teuerung und Gewerbekrise besonders hart betroffen waren. Aber auch der »Lord-Major in Londen war vor dem aufgebrachten Volk nicht mehr sicher«.336 Die Proteste zogen sich bis 1773 hin und konnten in einigen Fällen nur durch den Einsatz von tödlicher Gewalt durch Soldaten beendet werden. Zeitgenössische Beobachter sprachen angesichts der heftigen Aufstände in Großbritannien von »total Anarchy« sowie einem drohenden »civil war«.337 Selbst im Zentrum des europäischen Getreidehandels, in den wohlhabenden Niederlanden, zwang die ständige Gefahr von Ausschreitungen die Generalstaaten zu hektischen Krisenmaßnahmen.338 Ausmaß und Verbreitung dieser Tumulte wurde als so außergewöhnlich empfunden, dass sie in der populären Erinnerung an die Krisenjahre einen herausgehobenen Platz einnahmen (Abb. 3 und 4). In Frankreich mündeten Hungersnot und Tumulte in einer schweren Staatskrise. Eine rasch eingesetzte neue Regierung entschloss sich, den gerade erst eingeführten Freihandel wieder einzuschränken und scharfe Kontrollen durch die régie zu reaktivieren. Damit erfüllte sie zwar populäre Forderungen, die zur Umsetzung nötigen staatlichen Getreidetransporte im Innern führten dennoch zu wilden Gerüchten und Protesten. Sie gipfelten in der verbreiteten Vorstellung eines obrigkeitlich orchestrierten »pacte de famine«. Die heftigen Auseinandersetzungen kulminierten 1771 in der Entmachtung und Auflösung der revoltierenden Provinzparlamente durch den König und einer chaotischen Rückkehr zum Freihandel 1774.339 Der

335 Franz A. J. Szabo, Kaunitz and Enlightened Absolutism 1753–1780. Cambridge 1994, 171 sowie Jahresrückblick 1771 im Scots Magazine vom 1.12.1772, 629. Zu den beiden in Prag eingerückten Regimentern vgl. Khevenmüller-Metsch, Tagebuch, 385. 336 »Die Landleute nahmen denenjenigen, welche Korn, Mehl, Fleisch und andere Lebensmittel besassen, solches mit Gewalt weg, brachten es zu Markte, und nachdem sie es um einen nach ihrem Gutdünken gesetzten Preiße verkauft hatten, stellten sie den Eigenthümern das daraus gelöste Geld richtig zu. Am allergrösten aber war die Noth zu Sunderland, und in der Grafschaft York, wo sich die armen Leute haufenweise zusammenrotteten […]«. Imhof, Bilder-Saal, 341; Andrew Charlesworth, An Atlas of Rural Protest in Britain 1548–1900. London 1983, 92 f.; John Bohstedt, The Politics of Provisions. Food Riots, Moral Economy and Market Transition in England, c. 1550–1850. Farnham 2010, 105, 122 f., 162. 337 National Archives, T 1/502/29–31, Customs House Falmouth to E Stanley vom 11.7.1773 (zum Einsatz von Schusswaffen gegen die Demonstranten); Cornwall Record Office, T/878, 22.6.1773; Francis Moore, Considerations on the Exorbitant Price of Provisions. Setting Forth the Pernicious Effects which a Real Scarcity of the Neccesities of Life must Eventually have upon the Commerce, Population, and Power, of Great Britain […]. London 1773, hier 24. 338 Caledonian Mercury vom 6.1.1772. 339 Zum Ringen von Physiokraten und Merkantilisten in der Krise und dem Wechsel der Regierungen Terray und Turgot vgl. Bosher, Crisis und Kaplan, Famine Plot, 58–61. Britische

112

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

Abb. 3: Stilisierte Illustration des Tumults von »4000 Frauen« in Nancy, die den dortigen Markt stürmten, das Getreidemagazin plünderten sowie Garten und Haus des Polizei-Lieutenants zerstörten (Imhof, Bilder-Saal, 98).

darauf folgende Mehlkrieg (guerre de farine) von 1775 nahm in vielen Bereichen bereits die Frontstellungen der Revolution von 1789 vorweg.340 In Böhmen festigte die extreme Hungersnot die Überzeugung des jungen Kaisers Joseph II., dass nur noch eine grundstürzende Neuordnung von Agrarverfassung, Verwaltung, Klerus und Bildung sein Land wieder auf feste Grundlagen stellen könne. Während seiner Reise durch die Hungergebiete skizzierte er noch im hungernden Prag den radikalen Plan zu einer Generalreform, seinem »großen Werk«, das die Rechte von Ständen, Kirche und Lokalverwaltung zugunsten von Bauern und Kaiser massiv beschnitt und seine späteren Reformen vorwegnahm und motivierte.341 Die unter dem Druck der Krise bereits eilig ausgefertigten Beobachter beschrieben die Entmachtung der lokalen Parlamente in der Krise bereits als »great revolution«. Annual Register, 1771 [History of Europe], 89. 340 Cynthia A. Bouton, The Flour War. Gender, Class, and Community in Late Ancien Régime French Society. University Park (PA), 1993. 341 HHStA, Hofreisen 4, Konv. 5. In der Edition (Khevenmüller-Metsch, Tagebuch, hier 396) fehlen die vorausgehenden Passagen, so dass der Zusammenhang von Hunger und Reform verdeckt wird.

Die Hungerjahre

113

Abb. 4: Illustration zum Bericht über den Aufstand der Hearts of Steel im irischen Gilford. ­»Veranlassung zu diesem Aufstand war die Theuerung der Lebensmittel« (Imhof, Bilder-Saal, 355).

Gesetze zur Abschaffung von Leibeigenschaft, Gefällen und Diensten, ließen sich gegen den Widerstand der Stände jedoch nicht durchsetzen. Die Enttäuschung darüber kulminierte im großen böhmischen Bauernaufstand von 1775, bei dem im ganzen Land Schlösser und Herrensitze gebrandschatzt wurden.342 Auch in Skandinavien beförderte die Teuerung tiefgreifende politische Umbrüche. Die Situation in Dänemark war geprägt durch wachsende Spannungen zwischen dem Adel und der reformgesinnten Regierung des König Christian  VII. Ab dem Sommer 1771 drohte dem Land aufgrund der ausbleibenden, dringend notwendigen Getreidezufuhr zudem eine Hungersnot. Als in dieser Situation die Soldaten revoltierten und angesichts der Teuerung mehr Sold und bessere Versorgung forderten, nutzten Stände und Adel die angespannte Lage, um die Regierung zu stürzen. Sie setzten den Reformer sowie faktischen Regenten Johann Friedrich Struensee gewaltsam ab und ließen ihn schließlich sogar hinrichten.343 342 Joseph Richard Goldman, Count Karl Hatzfeld and the Bohemian Famine of 1771, in: Austrian History Yearbook 19, 1984, 73–87; Brázdil, Hungerjahre, 68 f. 343 Caledonian Mercury vom 26.8.1771; Georg Friedrich Jenssen-Tusch, Die Verschwörung gegen die Königin Caroline Mathilde von Dänemark, geb. Prinzessin von Großbritannien und

114

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

In Schweden verliefen die Fronten umgekehrt. Hier instrumentalisierte der frisch gekrönte König Gustav III. die Krise, um wiederum das Adelsparlament zu entmachten und im August 1772 einen absolutistischen Putsch durchzuführen. Die Stimmung im Volk war angesichts der extremen Notlage so angespannt, dass die Provinz­gouverneure nur noch mit Geleitschutz durch das Land reisen konnten.344 Unter dem Vorwand der Teuerungsbekämpfung verlegte der König im Vorfeld des Umsturzes Soldaten an strategisch wichtige Orte des Landes. Als die königstreuen Regimenter die Macht übernahmen, gaben sie als Grund an, dass die Reichsstände nichts »für die Abhelfung des Mangels« unternähmen.345 Nach dem Putsch machte der König die alten Adelsparteien öffentlich für den dramatischen Nahrungsmangel verantwortlich und suchte das Volk mithilfe demonstrativer Fürsorgemaßnahmen für seinen paternalistischen Kurs zu gewinnen.346 In England verursachte die Teuerung ebenfalls heftige politische Turbulenzen. Debatten über die Agrar- und Staatsverfassung wurden auf allen Ebenen geführt, in den coffee-houses, in Traktaten und auf der Straße.347 Bisher hatten üppige Irland und die Grafen Struensee und Brandt. Leipzig 1864, 124. Das Misstrauen des durch Struensees Reformen bedrohten Adels wurde durch dessen Teuerungspolicey auf ihre Kosten (Sperre der Kornausfuhr, Lieferpflicht an Getreidemagazine, geplante Agrarreform und Abschaffung der Fronen) ebenso bestärkt, wie durch seine Symbolpolitik gegenüber dem Volk (Öffnung der königlichen Kornmagazine). Stefan Winkle, Johann Friedrich Struensee. Arzt, Aufklärer, Staatsmann. Stuttgart 1989, 233, 249, 252; Skalweit, Getreidehandelspolitik, 151. Die politikgeschichtliche Literatur hat mögliche Verflechtungen zwischen Staatsstreich und Hunger bisher kaum untersucht. 344 Derby Mercury vom 9.10.1772. Zur schlechten Versorgungslage vgl. auch Reading Mercury vom 8.1.1771 und Caledonian Mercury vom 1.1.1772. 345 Der König wiederum befürchtete, der Adel plane, »sich seiner Person zu bemächtigen, und ihme die Ursache der Noth beizumessen.«. Das allen Soldaten verlesene Manifest der schwedischen Armee bezichtigte hingegen die Stände eines »illegal despotism […] which is manifest, no sufficient measures having been so much as thought of for preventing or relieving the want of corn and the dearth«. Imhof, Bilder-Saal, 446; Scots Magazine vom 1.9.1772, 500. 346 Kimmo Katajala, Suomalainen kapina. Talonpoikaislevottomuudet ja poliittisen kulttuurin muutos Ruotsin ajalla (n. 1150–1800). Helsinki 2002, 11–14; Karl Åmark, Spannmålshandel och spannmålspolitik i Sverige 1719–1830. Stockholm 1915, 204–227. Zu Gustavs Verknüpfung der vermeintlichen Despotie des Adels und der Teuerung vgl. J. E. Schartau, Hemliga handlingar, hörande till Sveriges historia efter konung Gustaff IIIs anträde till regeringen. 3: handlingar till historien om revolutionen i Sverige 1772. Stockholm 1825, 39–44. Der König beschuldigte die Stände, die Hungersnot gezielt angezettelt zu haben, und ließ Mehl verteilen. Scots Magazine vom 1.4.1772, 210, vom 1.12.1772, 676 und vom 1.12.1773, 630. Demonstrativ verbot er alle Feiern seiner Person und ließ das Geld stattdessen den Armen und Hungernden zukommen. Am Jahrestag des Putsches stiftete er aus den gesparten Festgeldern ein Armenhaus. Imhof, Bilder-Saal, 459–462. Zur paternalistischen Selbstinszenierung des Königs in der Krise vgl. auch: Annual Register, 1771 [History of Europe], 87. Sein Werben war durchaus erfolgreich. Vgl. Jörg-Peter Findeisen, Das Hungerjahr 1771 in Schwedisch-Pommern. Ein bisher unbekannter Briefbestand im Reichsarchiv Stockholm, in: Erich Donnert (Hrsg.), Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günther Mühlpfordt, Bd 6. Weimar 2002, 775–785. 347 Die zentralen Argumente bieten: Moore, Considerations; Anon., Thoughts on the Present Scarcity of Provisions. London 1773 (eine entschärfte Version dieses Textes erschien 1772

Die Hungerjahre

115

Ausfuhrprämien den Getreidepreis künstlich erhöht und vor allem die staatstragende gentry privilegiert. Das Agrarsystem und die parlamentarische Verfassung griffen auf diese Weise eng ineinander. Nun brachten die Zeitungen immer wieder Beispiele für die daraus resultierende extreme soziale Ungleichheit, die in der Krise besonders drastisch vor Augen trat – bis hin zu Menschen, die aus Hunger in den Selbstmord getrieben worden waren.348 Angesichts grassierender Hungerkriminalität und Tumulten forderten auch in England viele die Wiedereinführung von Regulationen des Getreidehandels, die gerade erst offiziell abgeschafft worden waren.349 Als schlagkräftiges Argument diente ihnen der Verweis auf die fatale Hungersnot in Bengalen, die man auf den Wucher der East India Company zurückführte. Das 1772 eingeleitete Korruptionsverfahren gegen deren Gouverneur Robert Clive entwickelte sich vor diesem Hintergrund zu einem spektakulären Schauprozess.350 Angesichts der aufgeheizten Stimmung lenkte die Regierung schließlich ein. Das Heimatland des Freihandels verhängte nun Exportsperren, Importzulagen und Regulationen.351 Den Ausschlag für die abrupte Kehrtwende unter dem Titel »The Causes of the Present Scarcity and Dearth of Provisions Assigned« in Edinburgh) sowie [A Farmer], An Inquiry into the Connection Between the Present Price of Provisions and the Size of Farms, with Remarks on Population as Affected Thereby. To Which are Added Proposals for Preventing Future Scarcity. London 1773. Während die eine Seite beklagte, die Krise träfe vor allem »industrious people, who despair and languish out a miserable existence« (Moore, Considerations, 69), betonte die andere – angelehnt an Arthur Young: »scarcity promotes industry« (A Famer, Inquiry, 93). Zu Debatten in den Kaffeehäusern vgl. Moore Considerations, 29 sowie das Oxford Journal vom 11.4.1772. Zu drohenden Tumulten auf der Straße: Scots Magazine vom 1.3.1772, 118 und vom 1.4.1772, 221. 348 Oxford Journal vom 9.3.1773. Der Derby Mercury vom 26.4.1771 klagte, »At a Time when Famine is making daily Approaches in this Nation […] instead of assisting the Thousands now wanting in the Necessaries of Life, the Soho Tables are filled with 700 Covers of the most costly Viands.« Der Hampshire Chronicle vom 21.12.1772 forderte eine Steuer auf die extravagante Kleidung der »Maccaroni Ladys« und »puny hermaphrodites« in London zugunsten der Hungernden. Im Ipswich Journal vom 13.6.1772 kritisierte man, dass sich die Armen »on the eve of a general famine« befänden, während die Reichen »masked ball after masked ball, plays, concerts, public gardens, fireworks, puppet-shews, hocus pocus exhibitions« und andere Vergnügungen frequentierten. 349 Zu Notdiebstahl und Migration vgl. Moore, Considerations, 79 sowie Douglas Hay, War, Dearth and Theft in the Eighteenth Century. The Record of the English Courts, in: Past&Present 95, 1982, 117–160, hier 129, 134. Zum repeal der Getreidehandelsregulationen, Bohstedt, Politics, 147. 350 Die Anklage lautete auf »Monopolizing […] which produced the late Famine«. British Library, IOR, Miss Eur G37/79/6 [Clive Papers]. Die Zeitungen brachten fürchterliche Schilderungen über die Hungersnot in Bengalen. Etwa im Derby Mercury vom 29.3.1771 und vom 12.6.1771, im Ipswich Journal vom 13.7.1771, im Caledonian Mercury vom 20.4. 1771 oder der Kentish Gazette vom 21.12.1771. Die Schuld wurde klar auf Seiten der EIC und ihrer geldgierigen Angestellten vermutet und so implizit mit der Not in England verknüpft. Reading Mercury vom 1.4.1771; Scots Magazine vom 1.4.1771, 216 und vom 1.7.1771, 383 f. Zum Prozess gegen Robert Clive vgl. Dirks, Scandal. 351 Ipswich Journal vom 5.12.1772. So wollte man weiteren »riot and confusion« verhindern. Ebd. Der Parlamentarier und Staatsphilosoph Edmund Burke gestand widerwillig: »On this oc-

116

Die europäische Hungerkrise 1770–1772

gab die Befürchtung, dass sonst auch hier der König eingreifen und die parlamentarische Sommerpause dazu nutzen könnte, sich auf Kosten der Abgeordneten beim Volk zu profilieren.352 Wie der Blick auf das Reich sowie auf Schweden und Frankreich zeigt, war die Befürchtung einer aus der Krise geborenen Allianz von Monarch und Volk auf Kosten der Stände durchaus berechtigt.353 Jeder Versuch, Klima und Kultur in Beziehung zu setzen, muss sich davor hüten, Korrelationen mit Kausalitäten zu verwechseln und lediglich »Kreise um die Einschusslöcher« zu zeichnen.354 Das gilt insbesondere, wenn es um die Ebene der großen Politik auf nationaler Ebene geht. In den skizzierten Fällen gingen die Verknüpfungen aber deutlich über bloße Korrelationen hinaus. Bereits den Zeitgenossen erschien es als offensichtlich, dass diese ungewöhnliche Bündelung politischer Krisen – bei allen lokalen Unterschieden – ihre gemeinsame Wurzel in der Hungersnot hatte. Der Aufklärer und Historiker August Ludwig Schlözer resümierte etwa am Ende der Hungerjahre: »So hat der Hunger in unsren Zeiten große Taten getan, in Böhmen, Frankreich, auch in Schweden, wo er 1772 die Revolution mächtig beförderte«.355 Diese politischen Niederschläge der Missernten lassen sich mit Christian Pfister als ›tertiäre Klimafolgen‹ verstehen. Während die Landwirtschaft ganz direkt und die Ökonomie zumindest mittelbar durch die Klimaanomalie beeinflusst wurden, war die politische Ebene weit stärker durch bestehende gesellschaftliche Strukturen und kulturelle Präferenzen geprägt. Welche politischen Allianzen in der Krise Bestand hatten oder sich neu entwickelten, welche sozialen Hierarchien affirmiert oder diskreditiert wurden, hing von den lokalen Konstellationen, Traditionen und Vorgeschichten ab. In diesem über lange Zeit entwickelten Gefüge fungierte der Nahrungsmangel eher als Katalysator, als Vorwand oder als Ventil. Wie und wo solche sozionaturalen Verflechtungen konkret wirksam wurden, lässt sich – wie in den folgenden Kapiteln – am besten aus der Nähe untersuchen.

casion I give way to the present [corn] bill, not because I approve of the measure, but because I think it prudent to yield to the spirit of the times – the people will have it so.« British Library, Burke Papers 6552, o.P. [»On the Corn Bill« 1772]. 352 Kentish Gazette vom 23.4.1771. Auch die beliebte Königin wandte sich gelegentlich mit Appellen zugunsten der »poorer sorts« an die Öffentlichkeit. Reading Mercury, 20.4.1772. Der König begab sich sogar persönlich ins Parlament, um die Sitzungen zu beenden, nachdem die heftigen Konflikte zwischen dem Ober- und Unterhaus um die Corn-Bill eskaliert waren. Imhof-Bilder-Saal, 344. 353 Dies galt zumal, da Georg III. sich in seinen Kurhannoverschen Territorien mit demonstrativen Hilfen bereits erfolgreich als Landesvater inszeniert hatte. Vgl. etwa: HStA Hannover, Hann. 74 Göttingen 3389, Verordnung vom 19.3.1772 und Ebd., Hann. 74 Göttingen 3377, Verordnung vom 28.2.1772. 354 Parker, Global Crisis, XIX. 355 August Ludwig Schlözer, Briefwechsel, meist historischen und politischen Inhalts, 1 Teil, Heft I–IV (1776). Göttingen 1778, 18.

III. Deuten

Die Menschen der Frühen Neuzeit verfügten über ein breites Repertoire an Praktiken, um auf extreme Naturereignisse zu reagieren. Welche Handlungsoptionen sie tatsächlich verfolgten, hing maßgeblich davon ab, wie sie das Geschehen interpretierten. Die Untersuchung von Deutungsmustern zielt daher nicht bloß auf den kulturellen Überbau physischer Realitäten. Die Wahrnehmung der Zeitgenossen war vielmehr konstitutiv für den Verlauf der Krise. Die Umweltgeschichte hat wiederholt auf die Bedeutung einer solchen ›Wahrnehmungsgeschichte‹ von Natur und Naturextremen verwiesen. Sie wird zunehmend als Möglichkeit verstanden, die Trennung in sozialkonstruktivistische und materialistische Forschungsansätze zu überwinden. Aus ihrer Perspektive erscheinen Mensch und Umwelt weder als getrennte Sphären noch als mechanistisch miteinander verknüpfte Wirkungsgefüge, sondern als Bereiche, die über die Wahrnehmung der Zeitgenossen flexibel miteinander in Beziehung treten. Je nachdem wie Natur gedeutet wurde, änderten sich daher auch die sozioökologischen Praktiken und materiellen Arrangements historischer Gesellschaften.1 In Hungerkrisen tritt dieser Zusammenhang besonders deutlich hervor: Wer die Not als Strafgericht verstand, privilegierte Gebet und sittliche Reform. Wer sie als Naturereignis deutete, investierte eher in Getreidespeicher. Wer sie als menschengemacht begriff, wandte sich gegen Wucherer und Spekulanten. Dasselbe Naturereignis konnte sehr unterschiedliche Gegenmaßnahmen motivieren, wenn man es ganz oder in erster Linie als Wetterphänomen, als Strafe Gottes oder als ökonomisches Problem interpretierte.2 Die zeitgenössischen Vorstellungen moderierten den Einfluss naturaler Phänomene. Versteht man die Deutungsmuster der Zeitgenossen nicht, bleiben auch die aus heutiger Perspektive oft kontraintuitiv erscheinenden Handlungen der Betroffenen unverständlich.3 Das späte 18.  Jahrhundert gilt in diesem Zusammenhang als eine Phase beschleunigter Veränderung sowohl in der Vorstellung von Natur als auch in der Deutung von Naturextremen.4 Ein möglicher Beitrag der Hungerkrise 1770–1772 1 Vgl. Knoll, Natur, 92–107; Blackbourn, Eroberung, 31; Urte Undine Frömming, Naturkatastrophen: kulturelle Deutung und Verarbeitung. Frankfurt a. M. 2006. Zur Ideengeschichte dieses Feldes vgl. Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kultur. Berlin 2013. 2 Dies gilt bis heute, wenn etwa Vertreter/innen angebotsorientierter Hungermodelle Produktionssteigerung und Agrarmodernisierung fordern, während zugangsorientierter Ansätze auf Demokratie, Partizipation und Medienfreiheit setzen. Murton, Famine. 3 Bankoff, Geography of Disaster. 4 François Walter, Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21 Jahrhundert. Stuttgart 2010, 23. Reinhold Reith, Umweltgeschichte, 82 f.; Odenwälder, Nahrungsproteste 66, 74.

118

Deuten

zu diesem Wandlungsprozess ist bisher nicht erforscht. In Querschnittsdarstellungen zu historischen Naturvorstellungen wird die Periode zumeist als Epoche des Umbruchs von religiösen zu säkularen Deutungsmustern charakterisiert. Der Zeitpunkt, ab dem säkulare Vorstellungen zu dominieren begannen, wurde dabei zuletzt immer weiter hinausgeschoben. Zugleich hat man die Übergangsphase deutlich ausgeweitet. So lassen sich weltliche Naturkonzepte bereits im Mittel­alter festmachen, während religiöse Residuen bis heute überdauern und in Krisenzeiten immer wieder aktiviert werden.5 Auch in der akuten Umbruchphase des 18. Jahrhunderts standen religiöse und säkulare Naturvorstellungen nicht notwendig in Konkurrenz zueinander. Vielmehr lassen sich zahlreiche Mischformen beobachten, etwa in der Physikotheologie, die empirische Naturerforschung als Verherrlichung der Schöpfung verstand. Im Reich gingen Religion und Aufklärung zudem eine enge Verbindung ein, die sich auch auf das Personal erstreckte, etwa bei den Pastoren. Statt der Verdrängung religiöser durch säkulare Naturvorstellungen lässt sich im 18. Jahrhundert eine Pluralisierung beobachten. Die Ökonomie konzipierte die Natur zunehmend als Ressource. Die Politik semantisierte Natur als zu überwindenden Urzustand (Hobbes), als Ideal und Vorbild (Rousseau) oder als Metapher für Freiheit (Humboldt). In der Kunst begann die Verklärung der Natur im Erhabenen. Auch hier gab es Mischformen, etwa im Landschaftsgarten, der Nützlichkeit und Schönheit zu verbinden suchte.6 Ähnlich verhält es sich bei der Deutung von Naturextremen. Sie interpretierte man im 18. Jahrhundert weit pluralistischer als in den Epochen davor oder danach. Die Spurensuche der Historischen Katastrophenforschung hat gezeigt, dass von einer raschen und unumkehrbaren Säkularisierung oder gar von einem europäischen Sonderweg im Zugriff auf die Natur keine Rede sein kann.7 Zugleich hat sie demonstriert, dass gerade extreme Naturereignisse das Potential besaßen, die alltägliche Koexistenz unterschiedlicher Wahrnehmungsmuster in Frage zu stellen. In der räumlichen und zeitlichen Verdichtung einer Katastrophe traten Deutungs- und Handlungsmuster oft zwangsweise miteinander in Konkurrenz. Sobald Ausführlich mit der Umbruchphase beschäftigen sich Gerhard Lauer, Thorsten Unger, Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert. Göttingen 2008; Andreas Schmidt, »Wolken krachen, Berge zittern, und die ganze Erde weint …«. Zur kulturellen Vermittlung von Naturkatastrophen in Deutschland. Münster 1999; Matthias Georgi, Heuschrecken, Erdbeben und Kometen. Naturkatastrophen und Naturwissenschaft in der englischen Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts. München 2009. 5 Dazu ausführlich Walter, Katastrophen. 6 Brüggemeier, Schranken der Natur, 33 f. sowie Andreas Gestrich, Religion in der Hungerkrise von 1816/1817, in: Manfred Jakubowski-Tiessen, Hartmut Lehmann (Hrsg.), Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten. Göttingen 2003, 275–293; Ina Mittelstädt, Wörlitz, Weimar, Muskau. Der Landschaftsgarten als Medium des Hochadels (1760–1840). Köln, Weimar, Wien 2015, 9–16. 7 Dazu grundlegend Jakubowski-Tiessen, Sturmflut 1717. Zu Eric L. Jones modernisierungsteleologischer These eines »European Miracles« vgl. Kap. VI.

Deuten

119

Extrem­ereignisse das übliche ›Sowohl-als-auch‹ in Frage stellten und rasche Entscheidungen verlangten, konnten verdeckte Konflikte offen zu Tage treten. In diesem Sinne sind etwa die verheerende Weihnachtsflut von 1717 oder das Erdbeben von Lissabon am Allerheiligentag 1755 als Wendepunkte von religiösen zu säkularen Deutungen beschrieben worden. Ihr Eintreten an hohen kirchlichen Feiertagen sowie die vielen Todesfälle unter Gläubigen und Kindern erschütterten aber nicht nur theologische Deutungsmuster. Auch der Machbarkeitsoptimismus der Aufklärer geriet angesichts der offensichtlichen Grenzen ihres Eingreifens zumindest zeitweise ins Wanken.8 Diese Studien zeigen, dass Extremereignisse sich besonders dafür eignen, die subtilen Verschiebungen innerhalb des frühneuzeitlichen Kontinuums unterschiedlicher Deutungsmuster aufzudecken. Dies gilt für Hungerkrisen sogar in besonderem Maße. Denn während die Menschen einer rasch hereinbrechenden Flut oder einem Erdbeben oft machtlos gegenüber standen, lässt die langsame Katastrophe einer Hungersnot den Betroffenen nicht nur mehr Raum für Reflexion und Gegenmaßnahmen, sondern auch für Konflikte. In der Hungerkrise 1770–1772 lässt sich daher einerseits die frühneuzeitliche Vielfalt religiöser und säkularer, naturaler und sozialer, moralischer und utilitaristisch-ökonomischer Naturkonzepte untersuchen. Dies erlaubt einen geschärften Blick auf die spätere Verengung der Mensch-Umwelt-Beziehungen in der ›Hochmoderne‹.9 Andererseits wird hier offenbar, wie innerhalb der frühneuzeitlichen Deutungspluralität einzelne Interpretationen nicht länger bloß koexistierten, sondern konkurrierten. Die ökonomistischen, naturalen oder sozialen Deutungsmuster, die in dieser Krise entstanden oder sich radikalisierten, verstanden viele nun als absolut und inkommensurabel mit anderen Interpretationen. Ihr Auftreten markiert den Beginn der modernen Mensch-Natur-Dichotomie, die bis heute nicht nur unser Verständnis von Hunger, sondern auch die moderne Lebenswelt prägt. In Frühjahr 1771 diskutierte ein Stadtpfarrer in Ingolstadt die Ursache der Krise daher folgendermaßen: »Einige suchen den Grund in natürlichen (a), andere in politischen (b), die dritte in muthwilligen (c), die vierte in sittlichen, oder gar übernatürlichen (d) [Dingen].« Als natürliche Ursachen verstünde man etwa die schwankende Bahn der Erde um die Sonne, als politische Faktoren hingegen fehlende Vorsorge oder das Missverhältnis von Produzenten und Konsumenten. Den Anhängern der dritten Kategorie erschienen Wucher und Spekulation als maßgeblich, während denen der vierten der sittlich-moralische Verfall bedeutender erschien.10 Als Pfarrer beharrte Carl von Leitner selbstverständlich auf der min 8 Jakubowski-Tiessen, Sturmflut 1717; Ulrich Löffler, Lissabons Fall, Europas Schrecken. Die Deutung des Erdbebens von Lissabon im deutschsprachigen Protestantismus des 18. Jahrhunderts. Berlin 1999. 9 Zur Deutung von Hunger als allein technisch zu bewältigende »Natur«-Katastrophe im 19. und frühen 20. Jhd vgl. Murton, Famine. 10 In Leitners Worten: »a) Nämlich in der natürlichen Unbeständigkeit der Erde, Abwechslung der Planeten, Einfluß der Gestirnen, oder Zeitpunkt eines kritischen Himmelslaufes. b) Als

120

Deuten

destens stillschweigenden Beteiligung Gottes. Bei seinen Zeitgenossen beobachtete er jedoch Deutungen, die Hunger entweder als »Werk der Natur, des Menschen, oder der Verfassung« konzipierten.11 Diese Deutungsvielfalt ist typisch für die Krise 1770–1772. Sie wurde aber offenbar als ungewöhnlich genug empfunden, dass nicht nur Pfarrer sie intensiv diskutierten. Im dörflichen Umfeld konstatierte etwa Ulrich Bräker ähnlich widersprüchliche Interpretationen und eine weitreichende Abkehr von religiösen Deutungen: [E]s sind villerley meinungen. die meisten sagen, die fruchtsperrungen seyen schuld, sonst seye noch frucht genug. die anderen sagen das gelt seye schuld […] wider andere schreiben es dem wucher zu. u. andere den grosen herren. Nur unsere sünden wollen es wennige zuschreiben und das es gottes dreüende hand sey.12

Die Hungerkrise lässt sich daher als eine Art Laboratorium, eine contact zone verstehen. Hier trafen zunehmend heterogene Vorstellungen aufeinander, die zuvor ein einziger, dominanter Deutungsrahmen eingehegt hatte.

1.  Strafgericht, Naturereignis, Sozialkatastrophe Bisher wird der Dekade von 1765–1775 zwar häufig eine besondere Bedeutung im Mensch-Umwelt-Verhältnis zugemessen. Die Rolle der Hungerkrise in ihrem Zentrum wird dabei aber kaum wahrgenommen. So versteht etwa David Blackbourn das Jahr 1770 aufgrund des Höhepunkts der preußischen Meliorationsprojekte als Beginn eines neuen, mechanistisch-martialischen Verständnisses von Natur. Es werde von einem Machbarkeitsglauben beflügelt, in dessen Zusammenhang auch der Begriff »Technologie« erstmals im Titel eines deutschen Buches erscheint. Der selbstbewusste Zugriff auf die Natur manifestiere sich ebenso in der allgemeinen »Agrarmode« dieser Jahre, wie in der nun weitgehend vollendeten Ausrottung von Wolf, Bär und Luchs.13 Er materialisierte sich auch in der Installation des ersten deutschen Blitzableiters auf der Hamburger Jacobi-Kirche im Jahr 1770 – ein Vorgang, der heftigen Protest unter den Gläubigen auslöste, die darin eine HerausUnfürsichtigkeit des Vorraths, Mangel des menschlichen Fleißes, und Gebrechung der Gleichheit zwischen dem Nähr- und Zehr-Stande. c) Das ist in einer Geiztheurung, Übertreibung des Preises, geflissentliche Zurückhaltung, Wucherey und Kipperey. d) Solche sind die außerordentliche Bosheit der Menschen, die Vorbedeutung der seltsamen Himmelszeichen, die Gattung einer offenbaren Straffe Gottes, die Annäherung des jüngsten Tages, etc«. Leitner, Bittrede, 2 f. 11 Ebd., 3 f. 12 Bräker, Schriften, Bd. 1, 224. Bräker selbst kombinierte den Glauben an eine göttliche Prüfung und die Suche nach Prodigien bruchlos mit präziser Naturbeobachtung. Vgl. ebd., 257, 263, 269–273. 13 Blackbourn, Eroberung, 53–65, 113. Ähnlich: Reith, Umweltgeschichte, 82.

Strafgericht, Naturereignis, Sozialkatastrophe

121

forderung Gottes sahen.14 Emma Spary hat in dieser Zeit die Transformation der »Nahrung« von einer Gabe in ein Konsumgut verortet. Im Gefolge des 1767 von François Quesnay publizierten Tableau économique brachen sich auch die neuen Kreislauf-Theorien der Physiokraten Bahn. Sie konzipierten Natur nun als Ressource, deren begrenzte Verfügbarkeit als ökonomisches Problem und nicht als göttlicher Wille verstanden wurde.15 Zugleich entwickelte sich an der Seite der rationalistischen Zugänge eine neue Naturromantik. Sie verstand die ungezähmte Natur nicht mehr als Gefahr, sondern als Quelle von Weisheit und Schönheit. Die Dichter des Hainbunds publizierten – mitten in der Hungersnot – ihre zentralen naturhymnischen Schriften. In Wörlitz und Weimar entstanden zwischen 1769–1776 die berühmten Landschaftsparks. In den gleichen Jahren verklärten die Hauptwerke der Stürmer und Dränger die Natur als heiligen Ort. Im 1774 erschienenen Werther gebrauchte der junge Goethe seine zentrale Flutmetapher nicht etwa als Sinnbild von Zerstörung und Bedrohung angesichts der jahrelangen Regenanomalie, sondern als Symbol für die Freiheit.16 Das Spektrum der Naturkonzepte reichte im Umfeld der Krise von der Gottesgabe bis zur Ressource, von der Bedrohung bis zur Verklärung. Ob und wie die Hungersnot zu den raschen Verschiebungen innerhalb dieses Intepretationsrahmens um 1770 beitrug, ist jedoch kaum erforscht. Im Fall von Hungersnöten bilden plurale Deutungsmuster kein alleiniges Phänomen des 18. Jahrhunderts. Bereits im europäischen Mittelalter wurden die konfliktgeladenen Ereignisse nicht ausschließlich als Strafgericht verstanden. Schon die große Hungersnot von 1315–1317 führte man auch auf soziale Ursachen wie Wucher, Kriege oder das Versagen der Herrscher zurück. Die Betroffenen forderten daher rechtliche Gleichheit (libertatibus et privilegiis pares). Auch naturale Erklärungen wurden hier bereits als Alternative angeführt. Astronomen lehnten die Rückführung auf die Sünden der Menschen ab und erklärten, das Wetterextrem sei auf natürliche Weise (naturaliter eunisse) entstanden und müsse als Folge bestimmter Sternenkonstellationen verstanden werden.17 Dieser Dreiklang von religiösen, naturalen und sozialen Interpretationen blieb über Jahrhunderte bestehen. Lediglich über das Verhältnis der einzelnen Faktoren wurde – innerhalb eines christlichen Deutungsrahmens – gestritten.18 14 Manfred Jakubowski-Tiessen, Kommentar zur Wahrnehmung und Deutung von Katastrophen, in: Paul Münch (Hrsg.), Erfahrung als Kategorie der Frühneuzeitforschung. München 2001, 261–267; Bernd Hamacher, Der Streit um die himmlische Herrschaft. Der erste deutsche Blitzableiter in Hamburg 1770, in: Johann Anselm Steiger, Sandra Richter (Hrsg.), Hamburg. Eine Metropolregion zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung. Berlin 2012, 337–348. 15 Spary, Feeding France; Stollberg-Rilinger, Aufklärung, 63–68. 16 Blackbourn, Eroberung, 79–96. 17 »Dicunt tamen sapientes astrologie hac celi tempestates naturaliter eunisse«. Wendy R. Childs (Hrsg.), Vita Edwardi Secundi, The Life of Edward the Second. Oxford 2005, 122. Ähnlich im Italien des 14. Jahrhunderts bei Jansen, Villani. 18 Vgl. zum Ringen von Theologen und »kunstreiche[n] Ingenieure[n] um 1600: Schmidt,

122

Deuten

Diese religiöse Umrahmung lässt sich auch in der Hungerkrise der 1770er Jahre noch beobachten. Sie konnte heute scharf getrennte Zugänge bruchlos verbinden. Denkschriften auf die Hungersnot verknüpften Naturkunde und Sozialkritik regelmäßig mit dem Verweis auf das Strafgericht. Selbst Beiträge zur Chemie des Landbaus oder zur »Naturlehre« der Agrarwirtschaft hielten eine göttliche Herkunft der Krise für plausibel.19 Umgekehrt enthielten auch Predigten und Texte von Pfarrern neben theologischen häufig präzise naturkundliche Beobachtungen.20 ›Beten und Bauen‹ verstanden viele weiterhin als miteinander verflochtene Schutzpraktiken. Eine Denkmünze auf die Überwindung der Hungersnot illustrierte diese Wechselseitigkeit. Sie zeige auf der einen Seite Getreidelieferungen und auf der anderen die erste gute Ernte verbunden mit den Worten: »Das haben Menschen / Das hat Gott gethan«.21 Religiöse Deutungsmuster erwiesen sich als flexibel und integrationsfähig, da sie Mensch und Natur im Konzept der göttlichen Schöpfung vereinten. Naturkundliche Interpretationen der Missernten konnten Theologen so mit dem Verweis auf den dahinter wirkenden Schöpfergott auffangen. Auf diese Weise ließen sich gesellschaftliche Missstände moraltheologisch wenden und als individuelle ›Prüfung‹ in religiöse Muster eingliedern. Diese gängige frühneuzeitliche Auffächerung in causa prima (Gott) und causae secundae (Natur, Mensch) harmonisierte widerstreitende Zugänge.22 Selbst rein naturale Deutungen der Hungersnot ließen immer noch genug Raum für Gott als den ersten Beweger.23 Jürgen Michael, Gottes Zorn? Religiöse Bewältigungsstrategien von Hungerkrisen in der Frühen Neuzeit, in: Andreas Holzem (Hrsg.), Wenn Hunger droht. Bewältigung und religiöse Deutung (1400–1980). Tübingen 2017, 71–116. 19 Johann Friedrich Mayer, Gedanken bey dem Getraidemangel in Teutschland von 1770 bis 1771 über dessen Quellen und den Mitteln wider denselben auf künftige Zeiten, in: Ders., Zwote Fortsetzung der Beyträge und Abhandlungen zur Aufnahme der Land- und Hauswirtschaft nach den Grundsätzen der Naturlehre und der Erfahrung entworfen. Frankfurt a. M. 1771, 105–208 sowie die Ausführungen zur Vermeidung der Hungersnot 1771 durch die Kombination von Gebet und Meliorationen in: Georg Christian Albrecht Rückert, Der Feldbau chemisch untersucht um ihn zu seiner letzten Vollkommenheit zu erheben. Zweiter Theil. Erlangen 1789, 175–186. 20 Zur Verknüpfung von Wetterbeobachtung, medizinischem Wissen, ökonomischem Diskurs und göttlicher Rahmung vgl. etwa Zesch, Kanzelrede; Johann Ehrenfried Wagner, Beschreibung der Marienbergischen Theuerung in den Jahren 1771 und 1772 mit den von Gott dagegen angewiesenen Mitteln. Wobey zugleich die erste öffentliche Nachricht von daselbst errichteten ökonomischen Schule für arme verlassene Kinder ertheilet wird. Dresden 1772, 11–17; Oesfeld, Theuerung, 218–223. Zur meteorologischen Praxis in Kirchenkreisen vgl. Kap. IV.4.3 und 5.1. 21 Anon., Beschluß der Erinnerungen an die traurigen Merkwürdigkeiten des 1771sten Jahres, in: Lausitzisches Magazin, 1772, 144–151, hier 146. 22 Reith, Umweltgeschichte, 22; Foucault, Sicherheit, 79, FN 3. 23 »Ich merke zwar auch, daß es ganz natürlich zugehen kan, daß Mangel und Hunger entstehen können […]. Indeme ich aber erkenne, daß alles so natürlich zugehe, so denke ich doch, es muß eine Grund=Ursache da seyn, welche machet, daß es also zugehe.« Anon., Vergleichung der im Jahr 1736 das Herzogtum Schlesien betroffenen grossen Theuerung und Hungers-Not, mit

Strafgericht, Naturereignis, Sozialkatastrophe

123

In der Hungersnot hatten aber auch traditionelle straftheologische Deutungsmuster wieder Konjunktur. Im kirchlichen Alltag des späten 18. Jahrhunderts war ihre Rolle zurückgegangen. In Krisenzeiten fanden sie jedoch viele Anhänger – sowohl in der Amtskirche, als auch in populären Vorstellungen.24 Aus dieser Perspektive reagierte der zürnende Gott mit den Missernten auf Verfehlungen der Menschen. In dieser traditionellen ›Sündenökonomie‹ waren individuelles Fehlverhalten und kollektive Strafe über eine gottgelenkte Natur miteinander verknüpft. Soziales Handeln und naturale Umwelt erschienen so als kommunizierende Sphären. In Sinnsprüchen wie »die Sündt ists / die das Wetter macht« erfasste man diese enge Verflechtung von Mensch und Umwelt.25 Der Glaube an das direkte Eingreifen Gottes in diesen Wirkungszusammenhang konnte sich auf zahlreiche biblische Vorbilder stützen.26 1771/72 artikulierte er sich etwa in Berichten von Wunderähren und Kornregen.27 Er zeigt sich auch in der populären Suche nach Vorzeichen der Hungersnot in der Natur. Außergewöhnliche Sternenkonstellationen im Dezember 1770, seltene Nordlichter oder der Transit des Kometen Lexell (D/1770 L1) in der ersten Jahreshälfte wurden von vielen als Prodigien gedeutet, welche Gott, Mensch und Natur verknüpften. Ihre Popularität verweist auf das breite und weitgehend intakte Repertoire volksreligiöser Praktiken.28 derjenigen, womit Gott einen grossen Theil von Deutschland, in dem abgewichenen 1770. Jahre heimgesuchet. O. O. 1771, 132. 24 Zur Praxis der privaten Bibellektüre um die Teuerung zu verstehen vgl. etwa Bräker, Schriften, Bd. 1, 281. 25 Patrice Veit, Gerechter Gott, wo will es hin/Mit diesen kalten Zeiten? Witterung, Not und Frömmigkeit im evangelischen Kirchenlied, in: Behringer, Lehmann, Pfister, Kulturelle Konsequenzen, 283–310, hier 297. 26 Die Bibel bot Hungergeschichten, die von Josefs Kornspeicher in Ägypten über das Manna-Wunder während des Exodus bis zur Belagerung Samarias und die Brotwunder von Jesus reichten. Vgl. den Artikel »Famine/Dearth« in: Christine Helmer u. a. (Hrsg.), Encyclopedia of the Bible and its Reception, Bd. 8. Berlin 2014, 851–862. 27 Anon., Abbildung und Betrachtung außerordentlicher und bewundernswürdiger Kornähren, die in diesem 1771sten Jahre bey Dreßden vor dem schwarzen Thore auf dem sogenannten Sande auf einem unbesäeten Lande hervorgewachsen sind. O. O. o. J. (StA Dresden, Bibliothek, Sign. B 70. 1540); Anon., Sonderbahre Begebenheit welche sich zu Fahrenreid, einem Dorfe, ohnweit Hof am 27. October 1771 in einer Scheune mit Vier Engeln welche in menschlicher Gestalt Getreyde gedroschen, zugetragen was sie vor Reden geführet, und wie sie plötzlich verschwunden, allen Schwachgläubigen und Verzagten zum Troste nebst einem erbaulichen Liede. [Hof] 1772; Anon., Vergleichung der Theuerung, 36–43. Konkurrierende natürliche Erklärungen des Kornregens finden sich in: Miscellanea Saxonicae, 1771, 235–238 sowie Spreckel, Hauschronik, 124. Zur Konjunktur solcher Kornwunder in der Krise der 1570er Jahre vgl. Manfred Jakubowski-Tiessen, »Was sol ein frommer gutherziger Christ thun?« Religiöse Bewältigungsstrategien von Hungerkrisen in der Frühen Neuzeit, in: Holzem, Hunger, 55–70, hier 59. 28 Ulrich Bräker und sein Umfeld verstanden etwa Himmelsrötungen, Winde, Hagel und den Kometen als »warnungs zeichen«, deren göttliche Herkunft sie später durch die Hungersnot bestätigt fanden: »[D]er jenige, der noch nicht glauben will, das die zeichen am himmel in den vorigen jahren, gegenwertige nott möchte bedeüt haben, der muß wol nicht gläubig sein […]. sähe gott vil bußfertige hertzen, das wäre das beste«. Bräker, Schriften, Bd. 1, 211, 257–260, 372,

124

Deuten

Auch die offiziellen Kirchenvertreter befanden sich während der Hochaufklärung nicht durchweg in der Defensive. Viele verstanden die Hungerkrise sogar als Chance. In ihren Augen entlarvte der Hunger die Wirkungslosigkeit weltlich-agronomischer und technischer Schutzmaßnahmen gegenüber göttlichem Wirken. Die Debatte um die »falsche Sicherheit«, die Technik und menschliches Handeln gegenüber der wahren Sicherheit in Gott böten, erreichte hier einen Höhepunkt.29 Stellvertretend für viele bemerkte der Halberstädter Kircheninspektor Ludwig Christoph Schmahling zufrieden: »Was hat denn das arbeiten, das pflügen, das bessern des Feldes geholfen? Die fettesten Ebenen, welche am besten sind gedünget worden, haben die wenigste Frucht getragen […]«.30 Es sei ein deutliches Zeichen, dass der Regen gerade die tiefliegenden, fruchtbarsten Felder am schwersten getroffen habe. Die zeitgenössische Agrarmode mit ihren neuen Pflüge- und Düngetechniken habe in der Krise nicht geholfen. In einer von Gott gestalteten Natur lasse sich Erfolg nicht technisch erzwingen. Der Schöpfer entscheide letztlich mit »bequemer Witterung« über den Ernteerfolg. Auch die überall beginnenden meteorologischen Forschungen seien aus diesem Grund zum Scheitern verurteilt. Gegen die göttliche Natur könne man nur mit »Demuth und Unterwerfung« bestehen.31 Angesichts der offensichtlichen Fehlschläge der Agro- und Ökonomen ermunterte er seine Priesterkollegen dazu, »von dieser göttlichen Züchtigung Gebrauch zu machen« und die Not dazu zu nutzen, die um sich greifende »Verachtung Gottes und der Religion« zurückzudrängen. Der Hunger eigne sich in besonderer Weise, um die Gemeinde zur Umkehr zu bewegen. Andere Plagen könne der Mensch leichter verdrängen. Hungergefühle hingegen ließen sich nicht beiseiteschieben, sie »muß ein jeder fühlen, sie dringen sich zu«.32 Zitat 263. Die gleiche Kombination von Naturkunde und Prodigienglaube findet sich in: Heidendorf, Selbstbiographie, 193. Zur Deutung des Kometen Lexell als Prodigium vgl. Jäger, Dorfchronik 234. Dagegen betonten Aufklärer rein naturale Zusammenhänge zwischen dem Kometen und den Regenfluten. Vgl. Pirnaisches gemeinnütziges Wochenblatt, 1770, 45. 29 Dominik Collet, Eine Kultur der Unsicherheit? Empowering Interactions während der Hungerkrise 1770–72, in: Christoph Kampmann, Ulrich Niggemann (Hrsg.), Sicherheit in der Frühen Neuzeit. Norm. Praxis. Repräsentation. Köln, Weimar, Wien 2013, 367–380. Zu ihrer Vorgeschichte vgl. Jürgen Michael Schmidt, Gottes Zorn? Religiöse Bewältigungsstrategien von Hungerkrisen in der Frühen Neuzeit, in: Holzem, Hunger, 71–116, hier 85. 30 Ludwig Christoph Schmahling, Nachruff an das Publicum, die vergangene Theurung betreffend. Leipzig 1772, 71. 31 Es würde »thörigt von einem Menschen seyn, wenn er sich anmaßen wollte, die Witterung, dabey so viele Sachen in Betrachtung gezogen werden müssen, nach seinem Gutbefinden zu verwalten, und Gott darinnen Gesetze zu geben«, Schmahling, Nachruff, 72 f. Solche Ausführungen reflektierten das Ringen mit konkurrierenden, weltlichen Autoritäten. Anders als noch im 16. und 17. Jahrhundert ging es nicht mehr um die generelle Statthaftigkeit von Maßnahmen wider die »göttliche Fürsehung«. Vgl., ebd. 67 und Marie Luisa Allemeyer, Kein Land ohne Deich. Lebenswelten einer Küstengesellschaft in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2006. 32 Schmahling, Nachruff, 55, 75.

Strafgericht, Naturereignis, Sozialkatastrophe

125

Vergleichbare religiöse Aneignungen der Hungerkrise finden sich konfessionsübergreifend bei vielen Kirchenleuten.33 Die häufigen Seitenhiebe auf allzu weltliche Deutungsmuster und Gegenmaßnahmen zeigen allerdings, dass man sich der Konkurrenz weltlicher Entwürfe nur allzu bewusst war. Der Kircheninspektor Schmahling etwa beobachtete, dass ein Großteil der Gelehrten nicht die Gottesfurcht, sondern die Ökonomie als beste »Arzeney« gegen die Hungersnot verstand.34 Solche Deutungsmuster schlichtweg zu ignorieren, war um 1770 offenbar weder möglich noch attraktiv. Auch Straftheologen bemühten sich, konkurrierende Wahrnehmungen in die eigene Analyse zu integrieren. Bei Schmahling resultierte dies in dem Vorschlag, die von Ökonomen heftig diskutierten Magazine doch in den Dachstühlen der Kirchen anzulegen. So könne man weltliche und geistliche Vorsorge zusammenführen und – wie Schmahling hoffte – das religiöse Primat in der Daseinsfürsorge symbolisch und praktisch wieder herstellen.35 Solche Vorschläge zeugen von der Laboratoriums-Situation der Krise, in der Interpretationen interagierten, einander zuweilen sogar überlappten. Sie verweisen auch darauf, dass differente Deutungen zwar in divergierenden Maßnahmen resultieren konnten, aber nicht mussten. Neben den Vertretern explizit religiös motivierter Interpretationen stand um 1770 allerdings ein breiter Bevölkerungsteil, für den diese Erklärungen zwar einen Rahmen boten, der aber über den Kirchgang hinaus keine Handlungsaufforderung mehr beinhaltete. Der Verweis auf göttliches Wirken wirkt häufig formelhaft. Viele in der Krise entstandenen medizinischen, naturkundlichen oder ökonomischen Beobachtungen nennen den strafenden Gott zwar im Vor- oder Nachwort. Auf die eigentlichen Ausführungen und die empfohlenen Maßnahmen hatte dies aber keine Auswirkung mehr.36 Zuweilen setzte man den Verweis auf Gottesstrafe und Sündhaftigkeit sogar rein strategisch ein. Er diente der hungernden Bevölkerung als Vorwand für den Angriff auf korrupte oder untätige Obrigkeiten.37 Umgekehrt verwiesen überforderte Regierungen oft auf Gott, um von eigenen Versäumnissen 33 Vgl. etwa Leitner, Bittrede, 10 oder Anon., Fortsetzung der Abhandlung von der gegenwärtigen Noth der Zeiten, in: Lausitzisches Magazin, 1771, 193–195, der das Naturextrem als bloße »Mittelursache« konsequent auf Gottes Strafgericht zurückführt. 34 Schmahling, Nachruff, 93. 35 Ebd., 97. Der Vorschlag war allerdings angesichts der hohen baulichen Anforderungen für Magazingebäude undurchführbar. Umgesetzt wurde er später unter völlig anderen Vorzeichen, als der Staat Kirchen als Getreidemagazine requirierte und so seine Vorrangstellung in der Fürsorge demonstrierte – etwa in Minden ab 1796 oder in großem Umfang nach der russischen Revolution. Karl Hengst, Westfälisches Klosterbuch 1. Münster 1992, 624–629 und James E. Mace, Soviet Man-Made Famine in the Ukraine, in: Samuel Totten, William S. Parsons (Hrsg.), Centuries of Genocide. Essays and Eyewitness Accounts. New York 42013, 157–190, hier 177. 36 So enthielt etwa eine Liste zu den Ursachen der Hungersnot in den Miscellanea Saxonicae (1771, 345–350) zwölf ausführliche Punkte zu physikalischen Ursachen und einen 13., der sich formelhaft gegen unchristlichen Lebenswandel aussprach. 37 Thompson, Moralische Ökonomie, 124–127.

126

Deuten

abzulenken.38 In vielen zeitgenössischen Hinweisen auf göttliches Wirken äußerte sich keine physikotheologisch motivierte Verschränkung von Mensch, Gott und Natur mehr, sondern bloße Konvention. Sie konnte ebenso häufig folgenlos weggelassen werden. An die Seite religiös motivierter Deutungsmuster trat um 1770 eine Reihe von Alternativen. Im Feld der Ökonomie begründeten die seit den 1750er Jahren entwickelten neuartigen Kreislaufmodelle ein Naturverständnis, dass sich nicht mehr allein auf die Wirtschaft beschränkte. Die ›Physiokraten‹ verstanden die landwirtschaftliche Urproduktion als Zentrum und Taktgeber des ganzen Staats. Um den dort erwirtschafteten primären Gewinn zu steigern, musste die natürliche Ordnung (ordre naturel) gesamtgesellschaftlich wiederhergestellt werden. Daher sollten ›sterile‹ Klassen wie die Grundbesitzer Privilegien verlieren, Agrarreformen eingeleitet und der Handel mit Agrargütern völlig freigegeben werden.39 Die Veränderung der Getreidezirkulation verstand man als eng mit der Neuordnung der Regierung verknüpft.40 Hungersnöte erschienen aus dieser Perspektive nicht länger als göttliche Strafe, sondern als Folge einer künstlichen Stockung, die entsprechend des Blutkreislaufes als eine Art ›Infarkt‹ betrachtet und naturalisiert wurde. Diese Umdeutung zog die Forderung entsprechend neuartiger Gegenmaßnahmen nach sich. An die Stelle von Marktkontrollen und Gebeten sollte der landesweite Freihandel treten. Im Stammland Frankreich entwickelte sich die Hungerkrise 1770–1772 zum Testlauf dieser neuen liberalen Agenda.41 Im Reich, wo die protonationale Stoßrichtung der französischen économistes nicht in gleichem Maße umsetzbar war, reduzierte sich der Anspruch der Reformer. Die Aufhebung ständischer Privilegien spielte eine geringere Rolle. Stattdessen konzentrierte man sich im Umfeld der florierenden Ökonomischen Gesellschaften auf jene Agrarreformen, die das Herrschaftsverhältnis nicht antasteten. Auch im Reich entwickelte sich die Hungerkrise zum Katalysator dieser neuen Ideen und mündete in einigen spektakulären, wenn auch lokal begrenzten Freihandelsexperimenten.42 Die Vorstellungen der Freihändler gingen jedoch im Prinzip weit über das Feld der Wirtschaft hinaus. Sie umfassten ein grundlegend neues Verständnis oder, in Foucaults Worten, ein neues Dispositiv von Natur und Gesellschaft, das den religiösen Rahmen nicht länger zwingend benötigte.43 In der Krise selbst 38 So versah der Hamburger Senat inmitten von Teuerung und verheerendem Elbhochwasser seine hilflosen Patente mit dem Hinweis: »Wenn wir iemals Ursache gehabt haben, die züchtigende Hand Gottes zu erkennen; so ist es gewiß anietzt« Anon., Sammlung der von Eurem Hochedlen Rathe der Stadt Hamburg […] ausgegangenen allgemeinen Mandate, Teil 6. Hamburg 1774, Verordnung vom 24.6.1771. Zur Kritik an der exkulpatorischen Nutzung durch die Obrigkeiten vgl. Schrader, Kunst, 39. 39 Stollberg-Rilinger, Aufklärung 65 f. 40 Weigand, Briefe, 183, 217, 248. 41 J. F. Bosher, The French Crisis of 1770, in: History 57, 1972, 17–30. 42 Vgl. Kap. IV.4.1. 43 Foucault, Sicherheit, 63. Die Beteiligten führten angesichts der Missernten eine scharfe

Strafgericht, Naturereignis, Sozialkatastrophe

127

wurde das inhärent sozialreformerische Potential dieser Ideen noch kaum wirksam. Zu eng waren ihre Protagonisten vom Status quo abhängig. Unterschwellig lässt sich aber beobachten, wie diese Konzepte die Konjunktur eines neuen Nationalismus beförderten, etwa in der wiederkehrenden Kritik an der Kleinstaaterei und der demonstrativen Adressierung vieler Schriften an ein neues, noch zu schaffendes »Deutschland«.44 Weit häufiger ist zu beobachten, dass die neuen ökonomistischen Deutungsmuster die Kritik an vermeintlichen Profiteuren radikalisierten und personalisierten. In der Krise wurden die üblichen Angriffe sowohl gegen Spekulanten, als auch gegen ›starke‹ Bettler mit den neuen utilitaristischen Vorstellungen aufgeladen und deutlich verschärft. Arme denunzierte man nun dafür, dass sie »dem Staate nicht das geringste genutzt« hätten und stattdessen dazu beitrügen, den »an sich schon gebrechenden Vorrath« aufzuzehren. In Anlehnung an die biologistischen Metaphern der Physiokraten verdammte man Bettler als »Raubbiene[n]«, als »Krebs am Cörper des gemeinen Wesens« oder als »menschliche Raubthiere«.45 Zugleich wurde die Hetze gegen Wucherer als vermeintlich unproduktive Gruppe in der Figur des »Kornjuden« deutlich radikalisiert und zunehmend antisemitisch aufgeladen.46 Solche Popularisierungen ökonomischer Deutungsmuster fokussierten nurmehr auf Sündenböcke, nicht auf das Standessystem. Im Feld der politischen Debatte gingen manche Zeitgenossen jedoch deutlich weiter. Sie konzentrierten sich statt auf das System der Ökonomie auf jenes der Herrschaft. Aus ihrer Perspektive erschien die Hungerkrise als Folge von Ausbeutung, Entrechtung und Ungleichheit. Die Wortführer deuteten den Hunger nicht als Resultat ökonomischer, religiöser oder naturaler, sondern als Folge politischer Faktoren. Ähnliche Argumente lassen sich zuweilen auch in früheren Hungerkrisen beobachten.47 In den Notjahren 1770–1772 adressierte diese Kritik aber nicht mehr nur konkrete Missstände. Sie richtete sich nun gegen das gesamte in der Ständegesellschaft geronnene Geflecht von Ungleichheit und Entmündigung und trug teilweise vorrevolutionäre Züge. Ein fiktives Bittschreiben des Gemeinen Wesens an die Herren Capitalisten und Wucherer fasste viele dieser Argumente zusammen. Der anonyme Autor des Drucks kritisierte keine konkreten Missstände, sondern das gesamte HerrDebatte darüber, ob man tatsächlich einfach ›der Natur vertrauen‹ solle, oder ob man sie nicht doch zu bekämpfen habe. Das Argument der Reformer, dass die Natur nach einiger Zeit von sich aus ein Gleichgewicht herstelle, konterten ihre Gegner mit dem Verweis auf die allzu kurze menschliche Lebensspanne, die kaum auf die langen Zyklen der Natur warten könne. Kaplan, Bread, Bd. 2, 598. 44 Vgl. Kap. IV.4.1. 45 Rückert, Feldbau, 183; Anon., Pflichten der Reichen und der Armen bey noch immerzu kümmerlichen Zeiten. Leipzig, Freyberg 1773, VII, IX. 46 Vgl. Kap. IV.3.3. 47 Behringer, Krise.

128

Deuten

schaftssystem. Lediglich die gewählte Form des bitter-ironischen Bittbriefs an die »gestrengen Herrlichkeiten« fällt aus dem Rahmen der Teuerungsschriften.48 Im Zentrum des Textes stand die Attacke auf die wachsende Finanzwirtschaft. Anders als in früheren Traktaten gegen Wucherer und Spekulanten konzipierte der Text diese Entwicklung nicht länger als ein äußerliches oder personalisierbares Übel, sondern als notwendiges Resultat ständischer Herrschaft. Die aktuelle Not erscheint hier nur mehr als Ausdruck einer dauerhaften Ausbeutungspraxis, die durch das Finanz- und Abgabensystem gestützt und durch Gerichte und Verwaltung exekutiert werde.49 Mithilfe ständischer Privilegien und der »Theorie von dem Eigenthume« werde garantiert, dass die Vermögenden ihr »Capital« immer weiter und ohne Risiko auf Kosten der Armen vermehren – ein System, das auf dem alles kontrollierenden Kornpreis, »gleich wie auf einem unbeweglichen Felsen, beruhet«.50 Da die Herren »den Vorrath der Lebensmittel in Händen, und eben daher den allgemeinen Schatzkasten im Besitz haben […]« könnten sie die Bevölkerung kontrollieren.51 Der Hunger diene ihnen als Machtinstrument, das die Zurichtung und Demütigung des gemeinen Mannes bis hinein in die Familienplanung garantiere. Durch nichts könnten die Leute »so bequem im Zaume gehalten werden […], als wenn man sie in einem beständigen halbfasten erhält«.52 Auf diese Weise »richten sie uns doch nur so zu, daß wir Ihnen noch ferner nützlich seyn können.« Die systemische Ungleichheit finde ihren Ausdruck in weitgehender sozialer Segregation, so daß die »Gestrengen Herrlichkeiten […] sogleich der Schwindel anwandelt, sobald Ihnen nur der deutsche Pöbel etwas zu nahe kommt.«53 Die Frontstellung wird hier durch den Verweis auf die »deutsche« Identität des gemeinen Mannes noch gesteigert. Sie richtet sich nicht nur gegen die ständische Gliederung, sondern auch gegen die territorial-dynastische Logik des Reichssystems. 48 Anon., Demüthiges Bittschreiben des Gemeinen Wesens an die Herren Capitalisten und Wucherer um die Verleihung besserer Zeiten. Frankfurt a. M., Leipzig 1772 [ediert als: Helmut Bräuer (Hrsg.), Capitalisten und Wucherer, 1772. Eine Schrift aus dem 18. Jahrhundert. Leipzig 2011]. Vergleichbar in der Form, aber konventioneller in der Deutung ist das vermeintliche Geständnis eines Spekulanten, das anonym als »Sendschreiben eines Kornhändlers, in S. an seinen Freund in L.« in den Gelehrten Beyträgen zu den Braunschweigischen Anzeigen 93 (27.11.1771), 738–742 erschien. 49 »[…] es sey Denenselben noch lange nicht genug, das Publikum nur vor gegenwärtig in eine erbärmliche Hungersnoth gesetzt zu haben sondern sie sorgen auch, kraft Dero weisen Einsichten und Speculationen, dafür, daß dieselbe […] niemahls aufhören möge. Bräuer, Capitalisten, 109. Zur Herrschaft durch Gerichte und die »Rechtmäsigkeit Ihres Verfahrens« vgl. ebd. 85–87. 50 Ebd., 112 f., 122. 51 Ebd., 95. 52 Ebd., 113, 117. Zum Ziel, das »Privilegium, Kinder zu zeugen, als ein Camerale« zu behandeln, ebd., 73. Zur Beschimpfung der promisken Armen, die »des Landmanns Schweis in Wollust [verzehren]« vgl. Rückert, Feldbau, 183. 53 Bräuer, Capitalisten, 125 f.

Strafgericht, Naturereignis, Sozialkatastrophe

129

Solche radikalen Erweiterungen der Wucherkritik blieben zwar eine Mindermeinung, waren aber nicht länger undenkbar. In der Krise diskutierten viele über die Zweckbindung des Eigentums, die Rechtmäßigkeit gewaltsamen Widerstands und die Grenze von Privilegien im Gemeinwohl.54 Trotz oftmals beißend vorgetragener Kritik, trotz Begriffen wie »Capitalisten«, »Concurrenz« und »Zurichtung«, trotz der Anklänge an nationale und sozialrevolutionäre Thesen der folgenden Revolutionszeit, zielten diese Diskussionen noch nicht notwendig auf einen Umsturz. Selbst den »Bittbrief« prägte letztlich ein defensiver Charakter, der als Lösung nur das Eingreifen einer gebesserten Obrigkeit für vorstellbar hielt.55 Er skizzierte aber Deutungsmuster, die deutlich jenseits der bisherigen Koexistenz lagen. Religiöse oder naturale Interpretationen des Hungers wurden klar als Opposition identifiziert. »Aerzte und Naturkündiger« schalt der Autor für ihre präzisen, aber wirkungslosen Naturbeobachtungen, die lediglich auf die Symptome, nicht aber auf die Ursachen der Not zielten. Auch die Pfarrherrn, die den »Magen statt des Brods, mit geistreichen Worten und Vorstellungen sättigen«, identifiziert der Text als Gegner.56 Selbst die besorgten Bürger werden nun als bigotte Heuchler kritisiert, die sich an den aufwühlenden Notberichten in gelehrten Zeitschriften emotional berauschten, im privaten aber insgeheim über die Belästigungen durch die Bettler klagten.57 Die Koexistenz religiöser, naturaler und sozialer Deutungen geriet hier deutlich an ihre Grenzen. Die dritte Alternative zum religiösen Deutungsrahmen bestand in einer Interpretation von Witterung und Hungersnöten, die man heute als naturwissenschaftlich bezeichnen könnte. Sie manifestierte sich im zunehmend selbstbewussten Auftreten von Naturforschern, Agronomen und Medizinern. Diese Expertengruppen 54 Vgl. etwa Paul August Schrader, Die Kunst ohne Miswachs theuere Zeiten zu machen, nebst den bewährtesten Mitteln darwider. In einem Sendschreiben. Frankfurt a. M., Leipzig 1771, 33–45. Während Schrader die Deutung als Strafgericht angreift, wendet sich der Ulmer Schriftsteller Christoph Heinrich Korn dagegen, dass man in der Krise, die er als Konflikt zwischen Arm und Reich verstand, »die Natur […] zu seinem Gott macht«. Beide befürworten vielmehr die radikale Aufhebung ständischer Privilegien durch eine zukünftige Regierung: »Warum sollten tausend Unglückliche zu Grunde gehen, damit zwanzig andre im Überflusse leben können? […] Es kommt nur auf das Wollen der Gesetzgebenden Macht an, die Ausführung ist leicht, und der Nutzen augenscheinlich«. Korn, Briefe, 22, 70 f. 55 Vgl. die an marxistischen Kriterien ausgerichtete Deutung der Schrift als ›verpasste Chance‹ durch den Herausgeber, in: Bräuer, Capitalisten, 56. 56 Ebd., 122, 129. 57 Korn, Briefe, 65: »[W]enn in solchen Gesellschaften einmal von ohngefehr eine das Herz durchdringende Erzehlung, von dem Elende einer dürftigen Familie, als eine neue Zeitung vorgebracht wird, so höret man wohl zuweilen sagen: Ey! Das ist erschrecklich! Ach! Wie bedaure ich die guten Leute! Aber dabey bleibet es […]. Sie haben ein Körbchen mit Pfennigen und halben Kreuzern am fenster stehen. Sie weisen keinen Bettler ab, jeder bekommt was, und da vermeinen sie grosse Dinge verrichtet zu haben. […] Da heißt es öfters: Es ist ganz erstaunlich wie man von den Bettlern geplagt wird. Ich kann es bald nicht mehr ausstehen; aber doch lasse ich keinen leer weggehen«.

130

Deuten

suchten keine direkte Konfrontation mit religiösen Deutungsmustern. Beobachten lässt sich vielmehr eine Zergliederung der Natur. Statt der ›Schöpfung‹ studierte man exakter zu erfassende Subsysteme wie Wetter, Getreidewirtschaft oder Krankheiten. Sie ließen sich messend-experimentell beobachten, ohne in offenen Widerspruch mit der religiösen oder der politisch-ökonomischen Verfasstheit der Gesellschaft zu geraten. Die Kompartmentalisierung der Natur erlaubte auch Kirchenleuten die Mitarbeit, etwa in der Meteorologie. Sie entsprach auch der besonderen Nähe zwischen Aufklärung und Herrschaft im Reich. Ökonomische Gesellschaften, Akademien und bürgerliche Lesekreise konzentrierten sich in der Krise auf die Erforschung von Nahrungssubstituten, Wetterbeobachtungen, Witterungs- und Bevölkerungsstatistiken.58 Solche pragmatischen Zugriffe kamen ohne Verweis auf göttliche oder soziale Ursachen des Hungers aus und widmeten sich allein seiner Bekämpfung. In der Summe empfanden Kirchenmänner diesen mechanistischen Zugriff auf die Natur aber zu Recht als bedrohlich.59 Die Beschränkung ihres Untersuchungs- und Prognosefeldes verhalf diesen Studien zu hoher Plausibilität (wenn auch nicht unbedingt zu Anwendbarkeit).60 Wo umfassendere religiöse, soziale oder ökonomische Ausdeutungen zahlreiche Nebenwidersprüche integrieren mussten, überzeugten naturale Erklärungen durch ihre innere Geschlossenheit. Die suggestive Evidenz naturkundlicher Deutungsmuster wurde von Vertretern der Kirchen immer wieder vehement beklagt und als oberflächlich denunziert.61 Sozialreformer klagten wiederum, dass der Verweis auf die Natur den Obrigkeiten als billige Entschuldigung fürs Nichtstun diene.62 Dies änderte allerdings wenig am Erfolg dieses Ansatzes. Viele Wissensfelder etablierten sich in und durch die Krise. Experten nutzten die Hungersnot um Meteorologie, Demographie, Agrarwissenschaft oder Epidemiologie zum Durchbruch zu verhelfen.63 Ihr sezierender Zugriff auf die Umwelt, der Reichweite gegen Präzision tauschte, prägte das Naturverständnis im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In der Hungerkrise 1770–1772 konnten die Zeitgenossen somit auf ein breites Spektrum möglicher Deutungsmuster zurückgreifen, um die eigene Verwund 58 Vgl. Kap. IV.4. und Stollberg-Rilinger, Aufklärung, 195. 59 Tatsächlich lassen sich teilweise auch deistische Ansätze beobachten, in denen die Naturgesetze die Rolle Gottes weitgehend ersetzen. Vgl. etwa: Anon, Wahrscheinliche Vermuthungen von einigen größern und allgemeinern Perioden in der Witterung, in: Gelehrte Beyträge zu den Braunschweigischen Anzeigen 100 (21.12.1771), 793–800 und 101 (25.12.1771), 800–808. Der Text richtet sich auch gegen vermeintliche Strafgerichte durch Verweise auf die Ordnung der Natur (etwa in Form von periodischen Witterungsschwankungen) und den transkontinentalen Telekonnektionen des Klimas. 60 Vgl. Kap. IV.4. zum Spannungsverhältnis von gelehrter Praxis und Volksaufklärung. 61 Man vermutete, dass naturale Deutungen der Hungerkrise auch exkulpatorische Funktionen besaßen, »weil es uns unangenehm ist, daß wir uns vor Sünder erkennen sollten, [schreiben wir] solche lieber ganz natürlichen Ursachen« zu. Korn, Briefe, 26. 62 Bräuer, Capitalisten, 122; Kaplan, Famine Plot, 46. 63 Vgl. Kap. IV.4.

Bruchzonen: Waren Hungertote Sünder?

131

barkeit zu rationalisieren. Es reichte von straftheologischen, sozialen und ökonomischen bis zu naturalen Vorstellungen. Die Verschiebungen, Interaktionen und Konflikte zwischen diesen Mustern lassen sich am prägnantesten am konkreten Beispiel beobachten – etwa der heftig geführten Debatte um den Status der Hungertoten.

2.  Bruchzonen: Waren Hungertote Sünder? Im Juli 1772 hielt der Diakon der kleinen sächsischen Stadt Döbeln, Johann Gottfried Sillig, eine Predigt. Zu diesem Zeitpunkt war die traditionelle Deutung der Hungerjahre als göttliches Strafgericht offenbar bereits so sehr unter Druck geraten, dass sie wieder erneuert und affirmiert werden musste. Ins Zentrum seiner Predigt stellte der Diakon die Frage nach den Hungertoten. Waren »alle diejenigen, welchen bey der bisherigen Theurung die Angesichter verfallen und die Leiber verschmachtet, sehr große Sünder gewesen?«64 Hatten die Toten der Hungerjahre ihr Verderben also durch sündhaften Lebenswandel selbst verschuldet? Oder waren sie unschuldige Opfer, die durch natürliche oder soziale Prozesse ums Leben gekommen waren? Wie Sillig schrieb, reagierten seine Ausführungen auf den drängenden Wunsch seiner Gemeinde nach Orientierung in Katastrophenzeiten. In Sachsen, als einer der am schwersten getroffenen Regionen, gingen 1772 auch die letzten Nahrungsvorräte zur Neige. Der Gemeinde in Döbeln stand zudem das Beispiel des benachbarten Erzgebirges vor Augen, wo Hungernde bereits zu Hunderten den grassierenden Epidemien erlagen, die sich im Gefolge der Not verbreitet hatten. Sillig verstand diese Situation jedoch als Chance. Ganz wie es auch sein Halberstädter Kollege Schmahling vorgeschlagen hatte, wollte er die Hungererfahrung nutzen, um seiner Gemeinde ins Gewissen zu reden. Mit einer strengen Strafpredigt hoffte er sie mit der Krise zu Reue und Bußfertigkeit zu bewegen. Die Frage, ob die Hungertoten »große Sünder« gewesen seien, beantwortete er daher mit einem klaren Ja. Die Verstorbenen seien offenbar »leichtsinnig, ungezogen und ruchlos gewesen«. Sillig erklärte, »Theurung und Hunger sind die gerechten Strafen für die Gottlosen«. Den wahren Frommen habe Gott hingegen versprochen, sie auch in schweren Zeiten zu erhalten. Dementsprechend schlussfolgerte er: »Wer aber nicht Gnade vor Gott findet, der kann nicht fromm gewesen seyn«. Sillig schloss seine Predigt mit dem Appell: »So ihr euch nicht bessert, so werdet ihr auch alle also umkommen« und setzte drohend hinzu »Wir wollen sehen, wer am Ende des 1773sten Jahres noch leben wird«.65 64 Johann Gottfried Sillig, Drey höchstwichtige Fragen, an die Christen seiner Zeit, und an Seine Gemeinde insonderheit. Leipzig 1772, 11. 65 Ebd., 28–30.

132

Deuten

Die Zeitgenossen kannten den Döbelner Diakon als äußerst streitfreudigen Pfarrer, mit einem Hang zu kontroversen Meinungen, einer »starcke[n] Art« sich auszudrücken sowie einem Hang zur »prophetisch-apokalyptischen Theologie«.66 Er habe zudem eine »hohe Meinung von seinem Amte und von der Würde seiner Person«. Seine »buchstäbliche Schriftauslegung« verteidige er vehement gegen konkurrierende Autoritäten, was sich unter anderem in einer tiefen »Abneigung gegen Ärzte« ausdrücke.67 Er wandte sich scharf gegen die Tendenz dieser Konkurrenten, »alles mit ihrem Verstande ergründen und mit ihren Händen greifen« zu wollen.68 In der Predigt des selbstbewussten Pfarrers fehlte hingegen jeder Verweis auf die weltliche Seite der Hungersnot. Silligs vom konkreten Geschehen abgehobener Text zielte ganz auf theologische Ausdeutung. Die Polemik gegen die Hungertoten diente ihm lediglich als Aufhänger, um die generelle Sündhaftigkeit der Menschen zu diskutieren. Diesen Sinn für feingeistige Irenik teilte seine Gemeinde inmitten der Katastrophe allerdings nicht. Sie litt vermutlich auch ökonomisch weit stärker unter der Not als der Pfarrer selbst. Zudem war Silligs mahnend-paränetische Interpretation keineswegs schlüssig und ließ viele Fragen offen: Wie verhielt es sich mit an Hunger und Krankheit verstorbenen Kindern? Warum starben auch erkennbar gottesfürchtige Arme, während reiche Sünder überlebten? Wie war zu erklären, dass Sachsen weit härter getroffen wurde als die Nachbarterritorien, die auch keinen frommeren Lebenswandel pflegten? Diese argumentativen Lücken und Silligs wenig emphatische Haltung waren es, die in der Gemeinde umgehend ein »große[s] Lärmen« verursachten. Als auch in den Nachbargemeinden »allerhand ärgerliche Auslegungen« und Gerüchte zu kursieren begannen, entschloss sich Sillig, seine mit einigen Erläuterungen versehene Predigt im Druck zu veröffentlichen.69 Die Publikation konnte den Unmut aber nicht beenden. Stattdessen löste sie eine Flut von Gegenreden aus. Neben der regen Debatte auf der Straße umfasste sie mindestens zwölf gedruckte Flugschriften, die sowohl von Pfarrern als auch von Publizisten und selbsternannten Verteidigern der Hungernden stammten.70 In ihnen artikulierte sich nicht nur der

66 Johann Gottfried Sillig wurde 1734 in der Nähe von Döbeln geboren und kehrte 1762 nach einem Theologiestudium in Leipzig als Diakon in seine Heimat zurück. 1790 wurde Sillig seine Streitlust zum Verhängnis, als man ihn denunzierte, zu Unruhen aufgerufen zu haben. Seine gegen allzu selbstbewusste Gutsherren gerichtete Predigt zur »Gleichheit der Menschen vor dem Richterstuhle Gottes« wurde ihm vor dem Hintergrund der Ereignisse im revolutionären Frankreich als umstürzlerische Schwärmerei ausgelegt. Vgl. Heinrich Döring, Die deutschen Kanzelredner des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Neustadt/Orla 1830, 440–446. 67 Ebd., 442. 68 Sillig, Fragen, 25. 69 Ebd., 3 f. 70 Döring, Kanzelredner, 440 diskutiert die zwölf Gegenschriften. Zehn davon werden rezensiert in: Anon., Rezension von Sillig, Fragen, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 20, 1773, 522–525, sowie Anon., Rezension von Wolf, Untersuchung, in: ebd., Anhang 13–24, 1777, 26–28.

Bruchzonen: Waren Hungertote Sünder?

133

Unmut über eine Predigt, in der Barmherzigkeit und Trost weitgehend fehlten. Sie formulierten auch alternative Deutungen aus, die zu dieser Zeit kursierten.71 Die erste Antwort auf Silligs Thesen setzte der religiösen eine säkulare Perspektive entgegen. Sie bediente sich dazu juristischer statt theologischer Argumente. Der Text stammte von Johann Heinrich Wolf, dem Stadtschreiber und Advokaten des benachbarten Städtchens Roßwein, der mit Sillig persönlich bekannt war. Wolf adressierte seine Widerlegung an die »Armen, Elenden und Verlaßnen«. Sie seien von Sillig »beleidigt worden, äußerst gekränkt, ja würklich gedemüthiget« worden.72 Der Stadtschreiber bekannte freimütig, dass die theologischen Debatten »nicht in mein Forum« gehörten. Er fühlte sich aber dennoch aufgefordert, seine Sicht der Dinge zu veröffentlichen, da dieses Feld in seiner Zeit nicht mehr allein den »Herren Theologen« zu überlassen sei. Gegen Silligs »Urtheil« stehe etwa die juristische Unschuldsvermutung, wie sie in jedem fairen Prozess vor weltlichen Obrigkeiten Geltung habe. Sillig habe es versäumt, den tatsächlichen Lebenswandel der vermeintlichen Sünder zu untersuchen. Sein Text stelle deshalb eine »strafbare Beleidigung vieler tausend Unschuldige[r]« dar. Er habe allein nach der Bibel geurteilt, ohne dass ihm von den vermeintlichen Verfehlungen »glaubwürdige Zeugnisse« vorlägen.73 Juristische Evidenz und theologischen Beweis stellte Wolf gegeneinander. Zudem verwies er in seinem Text auf mehrere argumentative Bruchzonen. Dazu gehörte zum einen das Schicksal der an Hunger verstorbenen Kinder. Laut Sillig müssten diese »unmündigen Kinder und Säuglinge doch auch solche sehr grosse Sünder gewesen seyn«.74 Diese weltfremde Vorstellung ließe sich aber durch Hausbesuche widerlegen. Dort träfe man nämlich regelmäßig halb verhungerte Kinder an, die vor sich als letzten Trost »das Gebethbuch liegen« hätten.75 Zum anderen sei offenbar, dass in der Not vor allem Arme umkamen. Nehme man die Erfahrung statt der Bibel als Lehrmeister, dann zeige sich, dass sich der Tod offenbar an sozialen, nicht an peccatologischen Kriterien orientiere. Statt der Frommen würden gerade »die Gottlosen glückselig in der Welt und reich«.76 Aus diesem Grund träfe der Hunger vor allem das Erzgebirge, das zwar ärmer, aber wohl kaum verdorbener sei als das Umland.77 Wolf verstand die Ungleichheit vor dem Tod nicht als Folge religiöser, sondern weltlicher Ordnungen: »Ganz natürlicher 71 Zur in Katastrophen aufscheinenden Pluralität von Deutungsmustern vgl. Jakubowski-­ Tiessen, Sturmflut sowie Ders., Divine Judgement or Incalculable Risk? A Natural Disaster and its Consequences, in: François Walter (Hrsg.), Les cultures du risqué. Genf 2006, 87–98. 72 Johann Heinrich Wolf, Gründliche Untersuchung und nöthige Wiederlegung der von Hrn. M. Joh. Gottfried Silligen Diakon zu Döbeln, unter denen im Druck erschienenen drey höchst wichtigen Fragen an die Christen seiner Zeit […]. Leipzig 1773, Vorrede. Wolf kannte Sillig aus der gemeinsamen Schulzeit in St. Afra. Ebd., 44 u. 73. 73 Ebd., Vorbericht, 55, 74. 74 Ebd., 54. Wolfs Text erschien programmatisch am Tag der unschuldigen Kinder (28.12.). 75 Ebd., 67. 76 Ebd., 25. 77 Ebd., 56.

134

Deuten

Weise trifft Theuerung und Hungersnoth lediglich den Armen nicht den Reichen. Wenn der Arme für Hunger in der Theurung erblaßt, wenn er verschmachtet, so hat der Reiche vollauf und erwirbt wohl noch Schätze«.78 Silligs Urteil sei daher nicht nur in der Analyse undurchdacht, sondern auch in seinen Auswirkungen. So führe die Verdammung der Toten als Sünder nicht etwa zur sittlichen Umkehr, sondern zur Selbstgerechtigkeit der vermeintlich sündenfreien Überlebenden. Dadurch befördere er die Entsolidarisierung mit den angeblich sündigen Hungernden: Die Hilfsbereiten würden »durch die alle für Hunger erblaßten als die rechtlosesten Sünder und Bösewichter abschildernde Silligsche Schrift wohl einigermaßen härter« und zurückhaltender gemacht. Als Mitglied der Stadtverwaltung warnte Wolf scharf davor, dass Sillig sich mit dieser Haltung auch in Konfrontation mit den welt­lichen Hilfsaktionen und Sammlungen der »Landes-Obrigkeit« bringe.79 Er schloss seinen Text mit einem Appell an die Leser, den er als Anwalt an seine »Clienten« richtete. Sie sollten Silligs religiöse »Sophisterey« mit einer Anklage vor einem weltlichen Gericht beantworten. Zudem verlangte er dessen Maßregelung durch die Kirchenobrigkeit.80 Wolfs Plädoyer formulierte eine alternative soziale Interpretation der Hungersnot. Die eigene Erfahrung, den fairen Prozess vor Gericht, die juristische Beweisführung oder die als natürlich verstandene soziale Ordnung schilderte er als der Bibelexegese gleichberechtigte Evidenzen. Silligs Thesen blieben aber auch im theologischen Bereich keineswegs unwidersprochen, zumal sie keineswegs der traditionellen Kirchenlehre entsprachen. Scharfe Kritik kam vom Superintendenten des benachbarten Kirchenbezirks Chemnitz. Der erst kürzlich in sein Amt gekommene Johann Michael Mehlig vertrat nun eine Region, die von der Hungersnot besonders stark betroffen war. Mehlig erkannte in Silligs Argumentation eine Gefahr für den Kirchenfrieden. Inmitten der Hungersnot seien »lieblose und verdammende Urtheile über die bereits Verhungerten und Verschmachteten« in jedem Fall zu vermeiden.81 Silligs Schrift argumentiere in ihrer Bibelauslegung aber nicht allein provokant, sondern 78 Ebd., 30, 56. 79 Ebd., Vorwort, 61. 80 Ebd., 71–74. Ein Verteidiger Silligs sah sich daraufhin genötigt auf Gerichtsurteile zu verweisen, nach denen Strafpredigten selbst von der Strafverfolgung (etwa wegen Bedrohung) ausgenommen seien. Johann Gabriel Büschel, Beytrag zur Silligschen Streitigkeit, aus welchem zu ersehen ist, was in derselben Lutheri Lehre gemäs sey. Leipzig 1774, 64. Andere Theologen reagierten auf Wolfs Prozessandrohung mit Verweisen auf die ökonomischen Eigeninteressen der Juristen und der Unsicherheit ihrer ›Beweise‹. Vgl. die bezeichnenderweise anonyme Schrift eines Pfarrers: Sendschreiben an Tit. Herrn Stadtschreiber Wolff in Roßwein, worinne alle in der Silligschen Streitschrift bis anhero heraus gekommene Schriften unparteyisch beurtheilet werden von einem aufrichtigen Liebhaber der Wahrheit. Frankfurt a. M., Leipzig 1773, bes. 34–37. 81 Johann Michael Mehlig, Die neuerlich aufgeworfene und unrichtig beantwortete Frage: Sind alle diejenigen, welchen bey der bisherigen Theurung und Hungersnoth die Angesichte verfallen und die Leiber verschmachtet, sehr groß Sünder gewesen aufs neue schrifftmäßig beantwortet. Chemnitz 1773.

Bruchzonen: Waren Hungertote Sünder?

135

falsch. Sie entspräche mit ihrer Individualisierung der Strafe gar nicht dem theologischen Konzept der allgemeinen Landplage, die alle Menschen treffe. Die von Sillig herangezogenen Bibelstellen, die den vermeintlichen Schutz der Frommen in Katastrophen belegen sollten, verwiesen auf eine irrige, allzu wörtliche Auslegung der Heiligen Schrift und insbesondere des Alten Testaments. Es gebe nämlich sehr wohl auch biblische Belege für den Tod von Frommen in Landplagen. Diese Widersprüche in der Überlieferung ließen sich aber nur durch sorgfältige Differenzierung, sowohl des Bibeltextes als auch der Sünden der Hungernden, auflösen. Bei aller selbstbewussten Distanzierung von Silligs provokanten Thesen offenbart Mehligs Text, dass sich auch die etablierten Kirchenmänner ihrer Interpretation keineswegs mehr völlig sicher waren. Die Bibel erlaubte durchaus unterschiedliche Auslegungen von Naturkatastrophen.82 Angesichts der konkurrierenden weltlichen Deutungsmuster erschien ihm die traditionelle straftheologische Auflösung der Widersprüche aber als fragil. Bisher war es üblich gewesen, die Leidenden damit zu trösten, dass die gestraften Frommen eben im Jenseits ein weit besseres Leben erlangten. Mehlig erwähnte dies nur noch am Rande.83 In einer Zeit des »überhandnehmenden Unglaubens« verstand er den Verweis auf das im Himmelreich zu gewinnende Seelenheil offenbar nicht mehr als besonders belastbar. Die Bereitschaft der Zeitgenossen, lebensbedrohliche Ungleichheiten im Diesseits aufgrund religiöser Verheißungen für die Zukunft zu tolerieren, war geschrumpft. Mehligs Fazit bestand daher darin, Sillig nicht für seine Thesen zu kritisieren, sondern für die vorschnelle Bereitschaft zum verdammenden Urteil. In der Konsequenz befördere seine Absolution der Überlebenden nämlich genau jene Selbstgerechtigkeit und »rasende Freygeisterei«, die er zu bekämpfen vorgebe.84 Spätestens mit diesem Text hatte die Debatte allgemeine Aufmerksamkeit erzielt. Die Verknüpfung des akuten Schicksals der Hungernden mit der großen zeitgenössischen Diskussion um den Widerstreit von religiöser und weltlicher Autorität verlieh ihr Brisanz. Überall in der Region zirkulierten nun parallel zur täglichen Debatte zahlreiche Briefe und Manuskripte zum Thema.85 Einige waren angesichts der schweren Angriffe auf Johann Gottfried Sillig anonym verfasst, wurden nur von Hand zu Hand weitergegeben oder nutzten die lateinische Sprache, um ihr Publikum zu begrenzen. Andere suchten gezielt die Öffentlichkeit, gingen in den Druck und erreichten Auflagen von 600 bis 1000 Exemplaren.86 Wie einige Diskutanten beobachteten, spielten bei den begehrten Drucken zunehmend auch die Profitinteressen der Verfasser und Verleger eine Rolle.87 Mit 82 Dazu: Johann Gabriel Büschel, Beytrag zur Silligschen Streitigkeit, aus welchem zu ersehen ist, was in derselben Lutheri Lehre gemäs sey. Leipzig 1774. 83 Ebd., 9. 84 Ebd., 16. 85 Vgl. Anon., Sendschreiben an Herrn Stadtschreiber Wolff, 45. 86 Vgl. die Anmerkungen zur Ökonomie des gelehrten Streits in Ebd., 45 f. 87 Ebd., 28 f.

136

Deuten

der Veröffentlichung der wesentlichen Argumente in den großen Zeitschriften kam der Streit schließlich in einer breiteren, bürgerlichen Öffentlichkeit an. Die Diskussion wurde auch nach dem Ende der akuten Hungersnot fortgeführt. Sie kreiste nun nicht mehr um das konkrete Leid der Hungernden, sondern um die Rolle der Beteiligten. Zur Debatte standen nun der Status der beteiligten Wissensfelder und die Bestätigung der entsprechenden Netzwerke. Mehrere Pfarrer nutzten die Debatte beispielsweise, um sich bei ihren Vorgesetzten beliebt zu machen. Johann Ehrenfried Wagner, ein Pfarrer aus dem Erzgebirge, widmete seine Schrift seinem neuen Superintendenten Mehlig, nach dessen Aufstieg auf seinen »weit erhöhten Posten«.88 Ähnlich verfuhr sein Kollege Gotthelf Friedrich Oesfeld. Beide verstanden die Debatte als Gelegenheit, Netzwerke zu festigen und sich etwa mit gelehrten Verweisen auf Leibniz’ Theodizee dem Superintendenten als kluge Köpfe zu empfehlen.89 Zugleich waren beide in die umfangreichen Hilfsmaßnahmen im Erzgebirge involviert. Sie hatten mit einer europaweiten Kampagne Spenden für eine Reihe von Armen-, Schul- und Arbeitshäuser gesammelt.90 Ihnen war deshalb nicht daran gelegen, die straftheologische Deutung dominant werden zu lassen und so den Spendenfluss für die vermeintlichen ›Sünder‹ zu gefährden. Schließlich drohe die von Sillig vorgenommene falsche »Classification« von Frommen und Sündern, die »unbarmherzigen Reichen« noch unempfindlicher gegen den »Jammer der Schmachtenden« zu machen.91 Diese Geistlichen suchten vielmehr nach einem Mittelweg, auf dem göttliches Eingreifen und weltliche Fürsorge koexistieren konnten, ohne die Deutungskompetenz der Geistlichen insgesamt zu gefährden. Wagner nutzte zu diesem Zweck gezielt das emotionale Potential des »Angstjahr[es]« 1772. Sillig habe als »schrecklicher Richter« die armen Leute als »Erzbösewichter«, »Verdammte« und »Gottlose« diffamiert und damit den weinenden Waisenkindern den letzten Trost genommen.92 Göttliches Wirken sei zwar möglich, diese Hungersnot aber »kam aus Überschwemmungen, Mißwachs und andern Naturbegebenheiten […]. Der Mangel überfiel uns daher ganz natürlich«.93 Die bergige Topographie und Bevölkerungsdichte seien der Grund, dass die Not im Erzgebirge so viel schlimmer ausfalle als andernorts, nicht die besondere Sündhaftigkeit der Bevölkerung. Angesichts der Widersprüche in der Heiligen Schrift 88 Johann Ehrenfried Wagner, Das bisher im Hunger schmachtende und zum Theil verschmachtete Erzgebirge von dem Verdammungsurtheile des Herrn M. Silligs in Döbeln in einem Sendschreiben an Ihro Hochehrwürdigen Herrn M. Johann Michael Mehligen, Hochverordneten Superintendenten zu Chemnitz gerettet. Chemnitz 1773, 20 f. 89 Gotthelf Friedrich Oesfeld, Beweis der Wahrheit: Daß auch Fromme in der Theurung verschmachten können […]. Chemnitz 1773, 4, 27. 90 Vgl. dazu Kap. IV.5.2. 91 Wagner, Hunger, 14. 92 Ebd., 5–7. 93 Ebd., 10.

Bruchzonen: Waren Hungertote Sünder?

137

integrierte nun auch der Kirchenmann Wagner die eigene »Erfahrung« als zentrale Evidenzkategorie in seine Argumentation.94 Wie schwer seinen Zeitgenossen dieser Spagat fiel, zeigen die Texte des Lößnitzer Pfarrers Gotthelf Friedrich Oesfeld. Zunächst veröffentlichte auch er einen »Beweis der Wahrheit: Daß auch Fromme in der Theurung verschmachten können.« Er zielte darauf, die allgemeine Hilfsbereitschaft zu fördern, und betonte dementsprechend, Gott habe »nicht den ganzen Effect gethan«. Vielmehr sei es die menschliche Gesellschaft, die das Wetter zur Katastrophe werden lasse: »Allein des bloßen Miswachses wegen, würden Fromme so wenig als Gottlose verschmachten, wofern nicht ihre eigenen Sorglosigkeit und die Unbarmherzigkeit anderer Menschen hinzu käme«.95 Natürliche, soziale und religiöse Ursachen wirkten demnach gemeinsam. Auch Oesfeld bezog sich in der Beweisführung nicht mehr allein auf die Exegese der Schrift, sondern auf die Kategorie der Erfahrung. Er führte ausführliche medizinische Betrachtungen in die Debatte ein. In Verbindung mit dem Schneeberger Stadtarzt unternahm er genaue Studien der Krankheiten, die für den weitaus größten Teil der Toten verantwortlich waren. Detailliert schilderte er die Ergebnisse der Autopsien und bediente sich so zusätzlich der Autorität medizinischer Experten. Erst wegen der epidemiologisch erklärbaren und vermeidbaren Krankheiten, habe der »Tod seine grosse Erndte« gehalten.96 Angesichts der Deutungskonkurrenzen um 1770 erschien ihm der Einbezug weltlicher Erklärungen der Hungersnot schon als Rückversicherung angeraten. Wenig später kamen ihm jedoch Bedenken. Er befürchtete, mit seiner weltlichen Deutung zugunsten der Hungernden zu weit gegangen zu sein und damit die Bereitschaft zur Buße gefährdet zu haben. Noch im selben Jahr veröffentlichte er daher den Beweis der Wahrheit, daß die meisten im Hunger verschmachteten Menschen vor der Zeit ihrer Heimsuchung im Jahr 1772 unbekehrt gewesen sind.97 Er wollte nämlich keineswegs so verstanden werden, dass seine Betrachtungen zur Rolle von Krankheit und sozialer Ungleichheit in der Hungerkrise die Bereitschaft zur Bußfertigkeit unnötig machten. Er habe daher »durch letzteren Beweis dem Mißbrauch des ersteren vorbeugen wollen«.98 Um sicher zu gehen, dass sein Mittelweg auch wirklich richtig rezipiert wurde, veröffentlichte er sogar noch einen dritten Text, die Vertheidigung seiner Meynung von dem Seelenzustande derer in der Theurung im Jahre 1772 verschmachteten Men 94 Ebd., 15. 95 Gotthelf Friedrich Oesfeld, Vertheidigung seiner Meynung von dem Seelenzustande derer in der Theurung im Jahre 1772 verschmachteten Menschen. Chemnitz 1774, 23. Seine Harmonisierung widersprüchlicher Bibelstellen sowie von religiösen und säkularen Ursachen fasste er auch in ein Lied. Darin heisst es: »Die Frommen nahmst du wohl in Acht / Doch manche, weil ihr Lauf vollbracht / Riß dieser Strohm mit fort«. Ebd., 38. 96 Oesfeld, Theurung, 218–223. 97 O. O. o. J. 98 Oesfeld, Theuerung, 225.

138

Deuten

schen.99 Die Synthese medizinisch-naturaler und religiöser Erklärungen war um 1770 offenbar zu einem Minenfeld geworden. Für Aufklärer, wie den anonymen Rezensenten der vielen Streitschriften in Friedrich Nicolais Allgemeiner Deutscher Biographie, bestand diese Spannung bereits nicht mehr. Für ihn sprach aus Silligs Schrift »fanatischer Eifer« und der »Mangel der Aufmerksamkeit auf die ganz natürlichen, zum Theil auch politischen Ursachen solcher verheerenden Unglücksfälle«.100 Für ihn machten auch die Pfarrer Mehlig, Wagner und Oesfeld denselben Fehler, nämlich anzunehmen, dass »die Theuerung und Hungersnoth allerdings göttliche Strafgerichte gewesen« seien. Ihre Haltung lasse sich vor allem durch die wenig quellenkritische Lektüre des Alten Testaments erklären, die lediglich die historischen »Umstände der alten Juden« widerspiegele.101 Gegen die Annahme, dass mit der Hungersnot die »Freigeisterey« der Sachsen bestraft werden solle, spräche schon die Tatsache, dass der Großteil der Bevölkerung, zumal die Kinder, gar nicht »wissen, was ein Freygeist ist«. Hätte ein »gerechte[r] Regierer« tatsächlich die Unmoral bestrafen wollen, müsse er zudem »die lasterhaften Reichen angreifen, und nicht die unschuldigere Armuth.« Außerdem sei kaum anzunehmen, dass Gott allein wegen »der sächsischen Religionsverächter in ganz Deutschland ein zu nasses Jahr kommen, die Ströme anschwellen und austreten [und] dadurch die Erndte mißrathen« lasse. Dies widerspräche nicht zuletzt der »Proportion zwischen den Verbrechen und der Strafe«.102 Anstelle der Theologie erschienen ihm Geographie, Verhältnismäßigkeit und »gesunde[r] Menschenverstande« als weit überzeugendere Evidenzen. Die Rolle Gottes bestünde nicht in beständigen Eingriffen in die Natur, sondern lediglich darin, den »natürlichen […] einmal angeordneten Lauf der Dinge« in Bewegung gesetzt zu haben.103 Seiner eigenen, separaten Rolle im Streit der Weltanschauungen war sich der anonyme Rezensent daher sehr sicher. Im Ringen zwischen »orthodoxen Juristen [und] Theologen« verstand er sich als Außenstehender, dessen naturkundliche Deutungsmuster weder Teil der einen noch der anderen Gruppe waren. Deren Auseinandersetzungen erschienen ihm bloß als »eckelhafter Anblick […], wie eine Spinne die andere frißt.«104 Im Rückblick erschien die Hungerkrise den Debattanten als Ereignis, in dem das alte Deutungsgefüge von Mensch und Natur an sein Ende kam. Die etablierte 99 Oesfeld, Vertheidigung. 100 Anon. Rez. Sillig, 522. 101 Ebd., 522, 524. 102 Ebd., 524. 103 In den weiteren Ausführungen des anonymen Rezensenten erscheint Gott zwar noch einmal. Allerdings geschieht dies im Rahmen einer eigenartigen Verquickung mit proto-malthusianischen, bevölkerungsökonomischen Gedanken. Der Herr habe die Welt möglicherweise so angelegt, dass das massenhafte Sterben, »in eine[m] besseren Lebenszustand das beste der übrig bleibenden Menschen« befördere. Ebd., 524 f. 104 Anon., Rez. von Wolf, 28.

Die Hungerkrise als Laboratorium

139

pastoraltheologische Praxis, Ängste zunächst auszulösen, um sie dann wieder einzuhegen, stieß um 1770 auf Widerspruch und auf Konkurrenz durch alternative Deutungsangebote und Verfahrensweisen.105 Neben die Trostpraktiken der Kirche traten selbstbewusste Angebote, die sich auf medizinische, naturale oder politische Erklärungen stützten. In einer der neuen Hungerzeitschriften aus dem Erzgebirge bilanzierte man diese neuartige Deutungspluralität: O! spricht der Ungläubige, es gieng ganz natürlich zu mit dieser Theurung. Wir brauchen die Vorsehung nicht zur Hilfe zu nehmen; sie läßt sich aus natürlichen Ursachen erklären! […] Ein anderer seufzt heimlich über ökonomische Versehen, während ein dritter laut wieder die boshaften Chicanen der Menschen declamirt. [Ein weiterer meint] ohne die physicalischen Ursachen, Nässe, Winde, Mißwachs, Ueberschwemmungen, und dergleichen [seien] jene Versehen und jene Chicanen theils gar nicht möglich, theils von keinen sonderlichen Folgen gewesen.106

Den vehementen Konflikt von religiösen und säkularen Interpretationen beschrieb der Herausgeber als Debatte zwischen »Körperwelt« und »Geisterwelt«. Die sich abzeichnende Dominanz weltlicher Deutungsmuster kommentierte er jedoch auch mit nachdenklichen Worten: In Zukunft also »hängt mein Leben und Tod bloß von dem guten Willen eines hartherzigen Geizhalses ab?«107

3.  Die Hungerkrise als Laboratorium Die 1770er Jahre bildeten eine zentrale Schnittstelle unterschiedlicher Deutungsmuster von Natur und Naturextremen. Etablierte religiöse und soziale Interpretationen trafen hier auf neue ökonomische und naturwissenschaftliche Erklärungen. Die Hungerkrise verdichtete und beschleunigte diese Entwicklung. Sie konstituierte einen Kontaktraum, ein Laboratorium, in dem unterschiedliche Vorstellungen zunehmend in Konkurrenz traten. Unter dem Druck der Krise zeichneten sich Bruchzonen deutlicher ab als zuvor. Um 1770 ging es vielen Zeitgenossen nicht mehr um die relative Gewichtung der unterschiedlichen Faktoren. Die Deutungen der Hungersnot als Strafgericht, als Naturereignis oder als sozio-ökonomische Krise verstand man zunehmend als konkurrierende und inkommensurable Entwürfe. Dies galt sowohl für das protestantische Deutschland als auch für den katholischen Reichsteil.108 105 Vgl. Andreas Bähr, Die Furcht der Frühen Neuzeit. Paradigmen, Hintergründe und Perspektiven einer Kontroverse, in: Historische Anthropologie 16/2, 2008, 291–309, hier 302. 106 Monatschrift aus Mitleid von vermischtem Inhalte 6, 1772, 324 f. 107 Ebd., 325. 108 Vgl. Leitner, Bittrede für eine der Sillig-Kontroverse vergleichbare Bestandsaufnahme konkurrierender Ursachen aus katholischer Perspektive. Anhänger der unterschiedlichen Frak-

140

Deuten

Aus der Rückschau lässt sich diese Aufgliederung als Wendepunkt identifizieren, der einen zentralen Ausgangspunkt der modernen Mensch-Natur-Dichotomie markiert. Die Opposition naturaler und sozialer Deutungsmuster, die sich hier abzeichnete, ist nicht zuletzt in der Lagerbildung der Hungerforschung bis heute konserviert.109 Eine solche rückblickende Deutung privilegiert allerdings einen Wahrnehmungsstrang innerhalb eines breiten Spektrums. Die später dominanten naturalen und naturwissenschaftlichen Vorstellungen wurden in der Krise 1770 radikalisiert und selbstbewusst als eigenständig artikuliert. Den Zeitgenossen stand aber noch ein weitaus breiteres Panorama zur Verfügung. Die neuen Vorstellungen wurden zunächst von einer Minderheit propagiert, die damit auch konkrete eigene Interessen verfolgte. Die Schärfe mit der die Debatten um die Deutung der Hungerkrise geführt wurden, resultierte nicht allein aus der lebensbedrohlichen Extremsituation oder der Infragestellung des religiösen Rahmens. Sie reflektierte auch die ›Hungernutzung‹ der beteiligten Expertengruppen. Sie bedienten sich der Krise, um ihre Wissensfelder abzugrenzen. Wie die Theologen nutzten nun auch Ökonomen, Juristen, Ärzte und Naturforscher die Hungersnot, um sich als Sachverständige zu empfehlen und ihr persönliches Fortkommen zu befördern. Den Gestus der Separation in den Diskursen über das Mensch-­Natur Verhältnis, muss man daher als rhetorische Figur zur Verwirklichung eines historisch spezifischen Programms begreifen. Er reagierte ebenso auf ideengeschichtliche Entwicklungen wie auf die konkreten Interessen der Wortführer.110 Die meisten Zeitgenossen kombinierten und fusionierten aber weiterhin heute scharf getrennte säkulare und religiöse Deutungsmuster. Dies zeigt sich insbesondere, wenn im Folgenden neben den Deutungen auch das Handeln der Betroffenen in den Blick genommen wird. In der Praxis blieben die in der intellektuellen Debatte konkurrierenden Lager oft eng miteinander verwoben. »Erfindung [und] Gebeth«, Wallfahrten und Brotproteste gingen in der Überlebensökonomie der Betroffenen Hand in Hand.111 Das einzigartig breite Spektrum der Deutungsmuster um 1770 motivierte damit einerseits eine ungewöhnlich breite Palette von Bewältigungspraktiken. Auf der anderen Seite legte es auch die Grundlage für außergewöhnlich scharf ausgetragene Konflikte.

tionen konnten oft nicht einmal mehr einen Konsens zu den grundlegenden Phänomenen der Krise finden. So verneinte etwa der Braunschweiger Hofrat Schrader (Kunst, 101), dass es überhaupt Missernten gegeben habe, obwohl der ebenfalls dort wohnende Grotehenn (Briefe, 184) sie detailliert beschrieb. 109 Zur Trennung von angebotsorientierten Zugängen, die naturale Faktoren betonen, und zugangsorientierten Ansätze, die sozioökonomische Ursachen herausheben, vgl. Murton, Famine. 110 Vgl. Kapitel IV.4. zu ›Hungerexperten‹ und ihrer ›Hungernutzung‹. 111 Benjamin Gottfried Reyher, Die Kunst in allen möglichen sowohl leiblich als geistlichen Nöthen vergnügt und glücklich zu sein. Leipzig 1772, 3.

IV. Handeln

Wir sind es heute gewohnt, die Betroffenen einer Hungersnot als Opfer anzusehen, die das Geschehen weitgehend passiv erleiden. Dieser Eindruck wird durch Untersuchungen der klimatischen Impulse des Hungers oft noch bestärkt. Sie sind zu grob aufgelöst, um individuelle Handlungsmuster zu erfassen, und konzentrieren sich zumeist auf ganze Gesellschaften oder ›Zivilisationen‹. Betrachtet man die zeitgenössischen Akteure hingegen aus der Nähe, dann offenbaren sich rasch vielfältige individuelle und kollektive Praktiken, mit denen die naturalen Impulse ›sozialisiert‹ wurden. Wenn dieses Bewältigungshandeln im Folgenden untersucht wird, geht es allerdings nicht darum, nun anstelle der Naturimpulse die menschliche ›agency‹ zu essentialisieren und zu überhöhen. Die Analyse menschlichen Handelns bildet keinen Selbstzweck, der die Abstraktionen von Natur- und Ideengeschichte mit Authentizitätsfiktionen kontert. Die Praktiken der Akteure werden immer erst in ihrem Kontext von materiellen und sozialen Zwängen, von gebauten Umwelten, Diskursen und Institutionen bedeutsam.1 Erst in dieser Verflechtung können sie als Schlüssel für die Analyse des katalytischen Effekts sozionaturaler Krisen dienen. Für die Untersuchung ist es deshalb erstens zentral, die »Handlungsmacht der Dinge« zu berücksichtigen, die »den Vollzug der Praktiken und damit auch das soziale Handeln konstitutiv mitformen«.2 Zweitens gilt es, auch den performativen Aspekt des Handelns zu integrieren und daher die kommunikativen Aspekte der Bewältigungspraxis in den Blick zu nehmen. Dies hat sich gerade für Hungersnöte als fruchtbar erwiesen, da diese ›slow disasters‹ von Kommunikation nicht nur begleitet, sondern mitverursacht werden (etwa durch Gerüchte). Erleichtert wird diese eingebettete Analyse dadurch, dass Hungerkrisen etablierte Routinen aufbrechen und teilweise zerstören. Diese Situation kann den Blick dafür schärfen, wie sehr Handlungen Machtstrukturen zugleich in Frage stellen und sie reproduzieren, wie Praktiken zugleich regelmäßig und regelwidrig verlaufen.3 Als Herausforderung bleibt das Quellenproblem bestehen. Während die historischen Normen klar zu fassen sind, kann der Zugriff auf die Praktiken nur vermittelt und indirekt erfolgen. Die Handlungen selbst liegen hinter der zeitgenös 1 Eine aktualisierte Definition konzipiert Praktiken daher als »situierter Vollzug von Sprechakten und Handlungen im Zusammenspiel von Dingen und körperlichen Routinen von Akteuren«. Marian Füssel, Die Praxis der Theorie. Soziologie und Geschichtswissenschaft im Dialog, in: Arndt Brendecke (Hrsg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure, Handlungen, Artefakte. Köln, Weimar, Wien 2015, 21–33, hier 26. 2 Füssel, Praxis, 27. 3 Ebd., 25.

142

Handeln

sischen Narration verborgen. Es macht daher Sinn, die folgende Untersuchung in drei Schritten vorzunehmen und mit den Obrigkeiten, den Untertanen und den Experten zugleich jeweils eine spezifische Quellengruppe (Verwaltungstexte, Egodokumente und gelehrte Schriften) mit ihrer je eigenen Logik ins Zentrum zu stellen. Die pragmatischen Interaktionen zwischen Herrschern und Beherrschten, zwischen Bevölkerung und Gelehrten sind jedoch so bedeutsam, dass sie anschließend in mehreren eigenen Fallstudien entfaltet werden.

1.  Der Krisenstaat Der Schutz der Bevölkerung vor Hunger gehört zum Kernbereich jeder Form von Herrschaft. In Europa verstand man die Sicherung der Nahrung bereits seit der Antike als integralen Teil der ›guten Regierung‹. In Zeremonien, Gemälden oder Festen wurde diese Verpflichtung seither immer wieder affirmiert und memoriert. Umgekehrt betrachtete man das Fehlen von Nahrung als Auslöser von Gewalt, Kriminalität und Revolutionen. Wie kaum ein anderes Ereignis zwang drohender Hunger die Obrigkeiten daher zum Handeln.4 Den allgemein geforderten Eingriffen der Obrigkeiten standen allerdings bedeutende Herausforderungen entgegen. Dazu gehörten erstens die fiskalischen Arrangements des ›Getreidestaates‹: Die Einnahmen der Regierungen waren eng an die Agrarerträge geknüpft. In Missernten verringerte sich der finanzielle Spielraum der Obrigkeiten daher erheblich, sowohl durch verringerte Abgaben, als auch durch den Einbruch des steuerkräftigen Gewerbes. Dieses Problem wurde noch dadurch verschärft, dass viele klassische Schutzmaßnahmen die Einnahmen der herrschaftlichen Haushalte ebenfalls verminderten. Mit jedem Verbot, Lebensmittel zu exportieren, und der Erlaubnis sie zu importieren, gingen der Herrschaft wichtige Zolleinnahmen aus dem Getreidehandel verloren. Das Gleiche galt für die Verbote, aus Getreide weiterhin Bier und Branntwein herzustellen, auf die sonst wichtige Luxussteuern erhoben wurden.5 Dem Schutzbedürfnis der Untertanen stand daher ein beträchtliches fiskalisches Eigeninteresse der kameralistisch geprägten Regierungen gegenüber. Diese Zielkonflikte von Steuerstaat 4 Zum ›Nahrungsprinzip‹ und den verwandten Konzepten der ›Notdurft‹ und des gerechten ›Auskommens‹ im Reich vgl. Werner Schulze, Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrifte 243, 1986, 591–626 sowie für einen europäischen Blick: Kaplan, Bread, Bd. 1, 3–7, 587; Bohstedt, Politics of Provisions, 1–7; Odenwälder, Nahrungsproteste, 31 f. Zur Ideengeschichte der Verknüpfung von Herrschaft und Nahrung, Richter, Steuerruder. 5 Zu Preußen vgl. Hugo Rachel, Die Handels-, Zoll- und Akzisepolitik Preußens 1740–1786 (Acta Borussica Handels-, Zoll- und Akzisepolitik 3.2). Berlin 1928, 235 f., 247 f. Zu Sachsen vgl. den entschuldigenden Bericht der Landakziseeinnahme zu den Steuereinbrüchen (19.10.1771) in: HStA Dresden, Loc. 11463, 3, p. 57.

Der Krisenstaat

143

und Fürsorgewesen ließen sich innerhalb der Getreidegesellschaft kaum auflösen. Setzte man die geforderten Maßnahmen um, musste man tief in die Zollpolitik eingreifen, die das Herz obrigkeitlicher Wirtschaftspolitik bildete. Dadurch fehlten anderenorts die Finanzmittel, etwa für direkte Hilfen. Entsprechend zögerlich handelten viele Regierungen. In der Folge lässt sich vielerorts die paradoxe Situation beobachten, dass noch auf dem Höhepunkt der Hungersnot die Einfuhr von Lebensmitteln besteuert wurde.6 Zweitens wurde die Handlungsfähigkeit durch die desolate Informationslage der Regierungen eingeschränkt. Damals wie heute musste die Klimaanomalie für die Verwaltungen erst einmal sichtbar gemacht werden. Die Beamten konnten mit ihrem begrenzten Beobachtungsfeld kaum beurteilen, ob die Regenfälle tatsächlich das ganze Land trafen, oder wie schwer die Ernteeinbußen in den Regionen tatsächlich ausfielen. Für sie musste die Natur zunächst lesbar gemacht werden – über Berichte, Tabellen oder Verzeichnisse.7 Meteorologische Aufzeichnungen oder Statistiken zu Bevölkerung und Nahrungsversorgung erlebten durch die Krise zwar einen dramatischen Aufschwung.8 Während der Notjahre lagen sie aber zunächst kaum vor, obwohl Entscheidungen um 1770 zunehmend nicht mehr auf Präsenz beruhten, sondern über große räumliche Distanzen getroffen werden mussten.9 Keine Regierung – auch nicht die des vermeintlichen Vorbilds Preußen – verfügte zu Beginn der Krise über belastbare Informationen zu Angebot und Bedarf von Getreide.10 Hinzu trat die gezielte Desinformation. Sie betraf nahezu alle Bereiche der Nahrungsversorgung: Produzenten gaben ihre Erträge erst zu hoch an, um Exportverbote zu vermeiden und ungestört Profite einfahren zu können. Später meldeten sie dann überhöhte Einbußen, um Steuernachlässe einzufordern oder Abgaben zu vermeiden.11 Konsumenten nannten zu 6 In Sachsen traf die Akzise sogar wohltätige Hilfslieferungen. Stadtarchiv Chemnitz, Ratsarchiv, Polizeisachen, V XVIII, 4. In Österreich galten die Zölle auch im Verkehr zwischen den einzelnen Erbländern: Derflinger, Getreideteuerung, 17. Den Wegfall dieser Steuern verstanden die Fürsten daher bereits als »Mildthätigkeit«. Vogt, Getreideteuerung, 51. Zur zeitgenössischen Debatte um Staatsinteressen vs. Wohlfahrt in Krisenzeiten vgl. Huhn, Teuerungspolitik, 55 f. 7 Zu umwelthistorischen Erweiterungen von James C. Scotts Konzept des seeing like a state vgl. Hölzl, Historizising Sustainability, 434–439. 8 Vgl. unten Kap. 4.3. 9 Zum Effekt dieser Veränderung auf das Regierungshandeln vgl. Rudolf Schlögl, Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit. Konstanz 2014. 10 Vgl. unten Kap. 5.3. 11 Freitag, Krisen, 107; [Christian Hiskias Heinrich von Fischer], Genuine Nachricht von der Beendigung der zweyjährigen allgemeinen Getraidetheurung in Deutschland und an vielen Orten erlittenen Hungersnoth, durch den Reichsschluß vom 7. Febr. 1772, in: Neue Litteratur und Völkerkunde 1.2, 1787, 480–497, 483. Münchhausen (Kornhandel, 58) fasste die anfällige Alarmkommunikation lakonisch folgendermaßen zusammen: »Ein Beamter berichtete einmal der Cammer, sein ganzes Amt müsse verhungern, wenn nicht auf das schleunigste 2000 Malter Korn hingeliefert würden und bald nachher meldete er, er habe sich geirrt«.

144

Handeln

geringe Vorräte, um Requirierungen zu entgehen. Selbst öffentliche Stellen verfolgten jeweils ihre eigenen Interessen. Die überraschten Zentralen konnten oft nur noch zur Kenntnis nehmen, dass die vermeintlich gut gefüllten Kornspeicher de facto leer standen.12 Auch die Zahlen der vermeintlichen Experten, der Ökonomen, Physiokraten und Statistiker, waren häufig entsprechend der eigenen Agenda geschönt.13 Vor Ort kontrollieren ließen sich diese Angaben kaum. Gemeinsame Erntetermine, die sonst eine gewisse Überwachung der Erträge ermöglichten, fielen während der Witterungsanomalie weg. Hinzu kamen die ständig wechselnden Formen des Getreides, vom Halm, über das Korn, das Mehl bis zum Brot, die häufige, oft grenzüberschreitende Transporte nötig machten und jede Überprüfung erheblich erschwerten. Als Reaktion versuchten die Behörden, ihren Informationsstand zumindest ad-hoc mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verbessern. Man versandte Fragebögen, verordnete die Einführung von Getreidepässen und forderte Berichte ein. Vor Ort veranstaltete man Visitationen, die zuweilen den Charakter von Hausdurchsuchungen annahmen.14 So entstanden oft gewaltige Tabellenwerke, die einen vollständigen Überblick über Angebot und Nachfrage zumindest suggerierten.15 Der praktische Erfolg dieser Maßnahmen blieb jedoch gering. Der obrigkeitlichen Katastrophenkommunikation gelang es kaum, die außerhalb der Verwaltungen bestehenden »Informations-Silos«16 aufzubrechen. Produzenten, Händler, Konsumenten und selbst die Lokalbehörden schützten ihr implizites Wissen aus wohlverstandenem Eigeninteresse. Die großen Landesbefragungen, die während der Krise stattfanden – etwa die Dachsbergische Landesbeschreibung Bayerns oder die allgemeine Seelenkonskription der habsburgischen Territorien – wurden von den Untertanen regelmäßig abgelehnt oder unterlaufen, da man Nachteile von der Besteuerung bis zum Militärdienst fürchtete. Sie gaben Eindrücke der Notlage, blieben in den Details aber unzuverlässig. Dies galt zumal, da mit dem landsässigen Adel sowie den Kirchengütern gerade die größten Produzenten umfang-

12 Derflinger, Getreideteuerung,16. Zu Magazinen und ihren Dauerproblemen vgl. unten Kap. 1.4. 13 Kaplan, Famine Plot, 43. 14 Derflinger, Getreideteuerung, 33. 15 Vgl. etwa die Generaltabelle über die Nahrungsversorgung der Kurmark im GStA PK, II HA 15 CLXXVI Nr. 5. Zu ›Getreidebeschreibungen‹ in Ansbach, Böhmen, Lippe, Würzburg, Salzburg, Speyer oder Hannover vgl. Abel, Massenarmut, 234 f.; Kumpfmüller, Hungersnot, 111 f. und Blaich, Tätigkeit, 323; Freitag, Krisen 107; Vogt, Getreideteuerung, 96; Derflinger, Getreideteuerung, 30 f.; HStA Hannover, Dep7 B 1853/2 sowie Hann. 74 Münden, 6684 (Verordnung vom 16.8.1772). Sie wurden wie etwa in Sachsen oft nur in Teuerungsjahren erhoben. HStA Dresden, Loc. 5744–5746. 16 Phil Ensor, The Functional Silo Syndrome, in: AME Target 16, 1988, 16. Zur Beobachtung Josephs. II., das Wissen der Bauern und Gutsherren gelange nicht in die Verwaltungen vgl. unten FN 19.

Der Krisenstaat

145

reiche Exemptionsprivilegien genossen und auch der beträchtliche Verbrauch des Militärs weitgehend fehlte.17 Das ganze Ausmaß an Desinformation und Nichtkooperation zeigt sich etwa im Fürstbistum Würzburg. Wie an vielen Orten verfügte man dort zu Beginn der Krise über keinerlei belastbare Informationen zu Erntemengen, Bevölkerungsgröße und Verbrauch. Schon im September 1770 begann man daher mit einer zuvor noch nie durchgeführten Volks- und Vorratszählung. Obwohl man die fehlerhafte Beantwortung der Fragebögen mit der Entlassung aus dem Dienst bedrohte, verlief die Rückmeldung nur lückenhaft. Da sich die Ernte aufgrund des Regenwetters hinzog und das Korn oft nur in nassen Garben vorlag, fehlten überall Angaben zu Erntemengen. In einem zweiten Schritt entschloss man sich daher im Februar 1771 eine Visitation vor Ort durchzuführen. Um deren korrekte Durchführung zu gewährleisten, wurden die Aufseher zu einem Handgelöbnis verpflichtet, von mehreren hochrangigen Zeugen begleitet und für Fehler neben der Amtsenthebung auch mit Zuchthaus bedroht. Dennoch erschien das Resultat der Regierung so offensichtlich von Falschangaben und Korruption geprägt zu sein, dass Ende April 1771 noch eine dritte Visitation anberaumt werden musste. Diesmal drohte bei Fehlverhalten die direkte Beschlagnahme der Bestände und man ignorierte sämtliche ständischen Privilegien. Adel und Geistlichkeit, Rittergüter und Klöster, selbst die Untertanen auswärtiger Herren wurden visitiert, mussten aber oft erst durch Eide und in einigen Fällen auch mit militärischer Gewalt zur Herausgabe der Informationen gezwungen werden.18 Mit dem Fortschreiten der Krise erschien dieses Ausmaß der Desinformation Fürsten und Verwaltungen zunehmend als Staatsproblem. Joseph II. formulierte unter dem Druck der Notlage umfassende Pläne zu einer völlig neuen internen Kommunikationsstruktur für die habsburgischen Territorien, das dem Informationschaos aufgrund interner Konkurrenzen ein Ende bereiten und den Staats­ apparat auf eine moderne, empirische Grundlage stellen sollte.19 In vielen Terri 17 Lars Behrisch, Die Berechnung der Glückseligkeit. Statistik und Politik in Deutschland und Frankreich im späten Ancien Régime. Ostfildern 2016, 115–119, 214, 225–231; Hochedlinger, Tantner, Berichte, 88; Rankl, Politik, 763; Kumpfmüller, Hungersnot 112. Gelangten allzu präzise Beschreibungen an die Öffentlichkeit, bestand zudem die Gefahr, dass sie Panik oder den Anspruch auf Hilfen begründeten. Ebd., 90. 18 Vogt, Getreideteuerung, 55–61. Vor Ort meldeten die Visitatoren »heftige contradictiones, Protestation und untergelaufene Grobheiten«, ebd., 62. Die dritte Visitation bot später die Grundlage für erste regelmäßige Landesstatistiken. Ebd., 104. 19 Joseph II. notierte frustriert: »Allein! Da steckt das größte Übel unserer Einrichtung: kein Mensch ist über die Facta genau unterrichtet, der Beamte kennt sie und ist nicht gehalten, samt seinem Grundherrn seine Unterthanen und ihre innerliche Umstände zu kennen; der Creiss-Hauptmann kann und darf seinen Creiss nicht recht übersehen; die Länder-Stellen wissen nichts, als was der Creiss-Hauptmann schreibt […]; die Hof-Stellen ingleichen. […] Nicht ein Mißjahr, nicht Trockene und Nässe, aber solche schreckbareste Verfaßungen zehren den Staat auf«. Khevenmüller-Metsch, Tagebuch, 375 f., 379.

146

Handeln

torien motivierte die Katastrophe die Anlage umfangreicher Landesstatistiken. Zunächst musste man sich aber damit behelfen, die erhobenen Angaben entsprechend der eigenen Erfahrungswerte händisch zu korrigieren.20 Insgesamt prädisponierten diese strukturellen Wissenslücken die Verwaltungen jedoch eher zum Reagieren als zum Agieren. Drittens kämpfte das ›Krisenmanagement‹ mit der begrenzten Durchsetzungskraft der Verwaltungen. Machtlos war die frühneuzeitliche Administration nicht nur angesichts der Naturgewalten, sondern oft auch angesichts der zersplitterten Rechts-, Verwaltungs- und Finanzstrukturen. Eine simple Ausfuhrsperre erforderte erhebliche kommunikative und personelle Aufwendungen, um die Vielzahl beteiligter Akteure zu koordinieren.21 Aber selbst in weitgehend geschlossenen Territorien entwickelten zentrale Anweisungen vor Ort häufig nur geringe Wirkung. Die Behörden der Oberpfalz verspotteten die Ausfuhrregelungen ihres bayerischen Kurfürsten regelmäßig mit den Worten: »Ist ein Münchener Gebot, dauert von elf bis Mittag«. Die von dort befohlene freie Ausfuhr nach Kurbayern bedrohte man sogar mit der Todesstrafe. Immer wieder ignorierten die lokalen Ämter Anordnungen der Regierung. Sogar das straff regierte Preußen hatte in der Krise große Mühe, Regelungen zu implementieren und etwa Korntransporte aus den Provinzen in die Hauptstadt durchzusetzen.22 Stattdessen führten Interessenskonflikte zwischen den Zentralen und Lokalbehörden immer wieder zu eigenmächtigem Handeln – etwa im Umgang mit Auswanderungswilligen oder Bettlern, die man entgegen der Anweisungen von oben ziehen ließ, um Kosten zu sparen.23 Als vollends fragil erwies sich die Normsetzung, wenn neben den behördeninternen noch externe Akteure auftraten. Mit dem begrenzten Personal war in den vielfach mit privilegiertem Adel, geistlichen Herrschaften und anderen Indigenaten durchsetzten Territorien oft nicht einmal die Grenzsicherung gegenüber Getreideschmugglern oder Migranten möglich.24 Dies galt zumal, da in den Krisengebieten zahlreiche Soldaten desertierten oder eigenmächtig ihre persönliche Versorgung priorisierten.25 Ständige Ermahnungen und Nachsteuerungen gehörten somit zum Tagesgeschäft. Daher illustriert der 20 Etwa in Österreich: Kumpfmüller, Hungersnot, 112. In Bayern schwankten die zeitgenössischen Schätzungen der Produktion auf diese Weise zwischen 1,2 und 5,8 Millionen Scheffel, die des Verbrauchs sogar zwischen 2,5 und 9,3 Millionen Scheffel. Weishaupt, Getreideteuerung, 17–19. Angesichts der Datenlücken korrigierte der zuständige Rat die Zahlen anhand von vagen Vermutungen zu Pro-Kopf-Verbrauch, Übertrag, Substituierung und üblichen Ernteverhältnissen. Behrisch, Berechnung, 222. 21 Vgl. unten Kap. 1.3. 22 Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 80, 98; Hazzi, Betrachtungen, 49; Skalweit, Getreide­ handelspolitik, 285, 289 f., 310, 329. 23 Vgl. unten Kap. 2.6. 24 Collet, Moral Economy. 25 Vgl. Hoffmann, Kursächsische Armee, 25; Spreckel, Hauschronik, 118; Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 131, 145.

147

Der Krisenstaat

beeindruckende Umfang administrativer Quellen bei näherem Hinsehen oft nicht das beherzte Eingreifen der Regierungen, sondern ihre begrenzte Durchsetzungskraft – und zuweilen auch das Bemühen, dies durch demonstrative Geschäftigkeit zu überspielen. In der Praxis traten Untertanen oft nicht so sehr als Befehlsempfänger, sondern als Impulsgeber und Verhandlungspartner in Erscheinung. Anstelle von straffen Weisungsketten werden in der Krise vielfach Formen der ›Kollusion‹ von Obrigkeiten und Untertanen sichtbar, einer Zusammenarbeit also, die von Absprachen jenseits der sonst üblichen Partizipationsreglements gekennzeichnet ist. Aus diesem Spannungsfeld von hohem regulatorischen Anspruch und eng beschränkter Handlungsmacht resultierte häufig eine spezifische Symbolpolitik. Sie verband Herrscher und Beherrschte und fand ihren Ausdruck in Visitationen, Spendenaktionen oder Trauermessen. Zuweilen wird sie auch in modernen Desastern noch praktiziert, wenn Regierende Katastrophenregionen persönlich besuchen. Entsprechende Formen frühneuzeitlicher politischer Kommunikation sind mittlerweile umfassend neubewertet worden.26 Sie erlaubten es, die fehlende militärische und finanzielle Potenz frühneuzeitlicher Herrschaft effektiv zu kompensieren. Auch Hungersnöte lassen sich mit diesem Instrumentarium analysieren. Formen symbolischer Kommunikation erweisen sich aus dieser Perspektive anstatt als Zeichen administrativer Hilflosigkeit als pragmatische Politik, die durchaus konkrete Fürsorgepraktiken zu motivieren vermochte. Symbolisches und pragmatisches Handeln stellten gerade in Katastrophenzeiten keinen Widerspruch dar.

1.1.  Alte und neue Teuerungspolicey Von Zeitgenossen und Forschung sind die Aktionen der Obrigkeiten im Angesicht der Katastrophe immer wieder als zögerlich, zurückhaltend und verspätet beschrieben worden.27 Für die Verwaltungen lag ein defensives Agieren aber nicht nur angesichts des fiskalischen Eigeninteresses, der unsicheren Informationslage oder der polykratischen Herrschaftsstrukturen nahe, sondern auch aufgrund der berechtigten Befürchtung, durch überstürzte Aktionen Panik in den volatilen Nahrungsmärkten zu verursachen. In der Praxis griffen die Administrationen zumeist auf ein Bündel von lange etablierten Maßnahmen zurück. Sie reichten von der simplen Aufforderung zur Ungezieferbekämpfung, über Marktregulationen bis zur vollständigen Übernahme des Nahrungssystems. Dieses Repertoire existierte in ganz Europa. Es entwickelte 26 Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Forschungsperspektiven – Thesen, in: Zeitschrift für historische Forschung 31, 2004, 489–527. 27 Michael Huhn, Ein Ernstfall des Konsums. Obrigkeitliche Teuerungspolitik im Übergang zur Moderne, in: Michael Prinz (Hrsg.), Der lange Weg in den Überfluss. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne. Paderborn u. a. 2003, 231–254, hier 240.

148

Handeln

sich im Verlauf der Frühen Neuzeit zu einem erstaunlich homogenen und langlebigen ›Kanon‹ der Teuerungspolicey. Er war hinreichend flexibel, um den Obrigkeiten Spielraum bei der Wahl und Auslegung der Maßnahmen zu gewähren, und gleichzeitig beständig genug, um die Erwartung regulativer Maßnahmen fest in den Köpfen der Zeitgenossen zu verankern und sie im Krisenfall zu bedienen.28 1770 lässt sich der Prozess der Affirmation und Tradierung dieses Kanons ganz konkret beobachten. Viele Verwaltungen suchten einfach in der Registratur nach den Akten der letzten größeren Hungersnot, um die entsprechenden Maßnahmen daraus händisch zu kopieren. In Bayern nahmen die kurfürstlichen Räte die alten Erlasse zur Hand und benutzten eine Verordnung von 1570 fast wörtlich als Vorlage für ihr aktuelles Exportverbot – nach über zweihundert Jahren ließ man lediglich die Gebete aufgrund der »jetzigen aufgeklärten Zeitläuften« weg.29 Auch in Österreich wurde zunächst der Sekretär beauftragt, im Archiv herauszusuchen, »waß in denen älteren Zeithen, wann sich eyne Getraid Theurung geäußert, für Maßregeln genommen und wie dem Notstand abgeholfen worden«.30 Die aus diesem Vorgehen gewonnen Maßregeln lassen sich in drei Bereiche gliedern: Sie dienten erstens der Steigerung des Angebots – etwa durch die Bekämpfung von Ungeziefer, das Verbot, Branntwein aus Getreide zu brennen, die subventionierte Abgabe von Saatgut, den Schutz der Ernte und der Verkehrswege, die Anpassung von Ausfuhrzöllen und Einfuhrprämien, die Öffnung von Magazinen, die Einführung von Getreidesubstituten wie Kartoffelbrot, die Pflicht, nur über den Markt zu verkaufen, die Kontrolle des Marktgeschehens und der Preise, das Verbot des Hortens von Getreide sowie die Durchführung entsprechender Visitationen und Beschlagnahmungen und schließlich durch die drei verbreitetsten und teuersten Maßnahmen: den Ankauf von Getreide im Ausland, die Anlage öffentlicher Getreidemagazine sowie die Sperrung der Grenzen für den Export – die sogenannte ›Fruchtsperre‹. Hinzu kamen zweitens Maßnahmen zur Reduktion der Nachfrage. Dazu gehörten die Ermahnung zur Sparsamkeit und Konsumptionsverbote, die Ausweisung von Bettlern und Fremden, die Rationierung von Lebensmitteln, das Verbot, frisches Brot zu verkaufen, sowie die Einführung von Notnahrung. Ein dritter Bereich umfasste flankierende sozio-ökonomische Fürsorgemaßnahmen. Hierzu zählten die (vor allem städtische) Einrichtung von 28 Huhn, Teuerungspolitik. 29 Auch die Kommission selbst war nach dem Vorbild der Hungerkrise von 1692 konzipiert worden. Ihre Überlegungen zur Visitation bezogen sich auf das Teuerungsjahr 1740. Im Jahr ohne Sommer, 1816, reaktivierte man wiederum die Dekrete von 1771. Dieses Vorgehen war so üblich, dass immer wieder Akten verloren gingen, weil sie in neuen Krisen aus ihren alten Ablagen entnommen worden waren. Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 84 f., 90–93, 96, 222. Ähnlich verfuhr man beim Fränkischen Kreis oder in Württemberg. Auch hier wurden die Maßnahmen von 1570–74 weitgehend aus dem Archiv kopiert oder die Maßnahmen von 1770 im Jahr 1816 wiederholt. Schneider, Mangel, 277; Zimmermann, Krisenkommunikation, 398. 30 Zit. nach Kumpfmüller, Hungersnot, 98.

Der Krisenstaat

149

Armenhäusern, Schulanstalten und Suppenküchen, die Subvention von Brot für Bedürftige, die Stundung von Steuern, die Vergabe von Krediten, die medizinische Versorgung (und Kontrolle) der Hungernden, die Sicherung der öffentlichen Ordnung durch verstärkte Polizeikräfte, Gottesdienste und Sittenmandate sowie – keinesfalls zuletzt – die kommunikative Beruhigung der Lage durch eine deeskalierende Informationspolitik und die Inszenierung landesväterlicher Handlungsbereitschaft.31 In der Hungerkrise 1770–1772 traten zu diesen etablierten Maßnahmen vereinzelt Neuerungen hinzu. Sie umfassten erstens ›Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen‹, zweitens den Ausbau der geschlossenen Fürsorge sowie drittens vereinzelte Freihandelsexperimente. Diese Veränderungen gingen nur teilweise von den Obrigkeiten selbst aus, selbst wenn sie von ihnen maßgeblich umgesetzt wurden. Ihre Initiatoren waren die Träger der neuen bürgerlichen Wohlfahrt, die sich in der Krise der 1770er Jahre formierte und deren moralisch-pädagogischer Anspruch deutlich über frühere Formen von Nachbarschaftshilfe und Almosen hinausging. Hinzu kamen die ›Ökonomen‹, die sich im Umfeld der Krise verstärkt als eigene Gruppe konstituierten und reformerische, freihändlerische oder physiokratische Ideen vertraten. Trotz aller Überschneidungen etwa zwischen ökonomischen Sozietäten und den Regierungen zeigt sich auch hier, dass Fürsten, Landesherrschaft und städtische Eliten ihre Programme nicht einfach zu dekretieren vermochten. Die Krisensituation erwies sich vielmehr als Triebfeder für neue Formen der Kooperation. Hunger durch Arbeit zu bekämpfen, hatte man vereinzelt bereits in früheren Krisen versucht. Um 1770 führte die Neubewertung von Arbeit und Selbsthilfe im Zuge der Aufklärung aber zu einer deutlichen Ausweitung derartiger Hilfsmaßnahmen. Das Vorbild für solche antizyklischen Investitionen waren vielfach bürgerliche Bauprojekte. In Leipzig ließ der Bankier Löhr mitten in der Not einen prachtvollen englischen Garten anlegen, »um der drückenden Armuth« abzuhelfen und die Arbeiter vor dem Hungertod zu bewahren. In Schneeberg im Erzgebirge vergab der Kaufmann Christian Heinrich Richter ebenfalls Arbeiten zu einem Lustgarten samt einer bis heute erhaltenen chinesischen Pagode (Abb. 15), um »in dieser brotlosen Zeit vieler Armen Hände zu beschäftigen und mit Brot zu versehen«.32 Ähnliche Projekte gab es auch im benachbarten Lößnitz, ohne dass die Auftraggeber eine Spannung zwischen Naturextrem und Naturemphase empfunden hätten.33 Die Landesherrschaften förderten in gleicher Absicht die Anlage 31 Versuche zur Systematisierung des Teuerungskanons bieten: Hazzi, Betrachtungen, 103; Huhn, Teuerungspolitik, 39 f.; Krämer, Hungerkrise 145–149. 32 Helmut Bräuer, Der Leipziger Rat und die Bettler. Quellen und Analysen zu Bettlern und Bettelwesen in der Messestadt bis ins 18. Jahrhundert. Leipzig, 1997, 82; Hermann Lungwitz, Die Hungersnot im sächsischen Erzgebirge in den Jahren 1771 und 1772, in: Sächsischer Pestalozzi Verein. Bunte Bilder aus dem Sachsenlande, Bd. 1. Leipzig 1895, 339–343, hier 343. 33 Vgl. Kap. V.2.

150

Handeln

von Streuobstwiesen, die Trockenlegung von Mooren, die Befestigung der Flussufer, die Errichtung städtischer Gebäude sowie wahlweise den Abriss oder Aufbau der Stadtmauern.34 Der Schwerpunkt lag jedoch im Chaussee- und Festungsbau. Allein in Böhmen arbeiteten mehrere tausend Menschen in eilig aufgelegten Straßen- und Flusswegeprojekten.35 Überall zog man nun hungernde Erwachsene und selbst notleidende Kinder zu Straßenarbeiten heran – eine zweifelhafte Praxis, die im 19. Jahrhundert allgemein wurde. Allerdings schreckten die hohen Kosten kleinere Herrschaften ab. Dies galt auch für den Versuch der indirekten Gewerbestützung, etwa durch den gezielten Ankauf von Textilprodukten für die Armee.36 Günstiger erschien die Einrichtung von Spinnstuben oder Werkhäusern, die sich durch den Verkauf ihrer Produkte selbst tragen sollten. In der verheerenden Wirtschaftsdepression konnten die bedürftigen Insassen die dramatisch fallenden Preise jedoch nicht kompensieren, sodass die meisten Anstalten aus Kostengründen bald wieder schlossen. Oft wurden sie nur aus moralischen Gründen weiter aufrechterhalten.37 Der tatsächliche Nutzen der Maßnahmen blieb gering. Angesichts der hohen Kosten hätte man über direkte Zuwendungen vermutlich weit mehr Betroffenen helfen können und dies ohne die ständige Gefahr von Seuchen, die durch die Zusammenlegung der Hungernden entstand.38 Diese Arbeitsmaßnahmen gingen Hand in Hand mit dem Ausbau der geschlossenen Fürsorge in Form von Armen-, Waisen- oder Schulhäusern für die Hungernden. Sie entsprachen lange gehegten Wünschen der bürgerlichen Reformer, Fürsorge und Arbeit aus moralischen Gründen eng miteinander zu verknüpfen und zu pädagogisieren. Auch hier erwiesen sich die Kosten als limitierender Fak 34 Christian Friedrich Kästner, Chronik der Stadt Crimmitschau. Crimmitschau 1853, 218; Sascha Weber, Kurmainz und die Hungerkrise 1770–72. Ursachen, Umgang, Folgen, in: Collet, Lassen, Schanbacher, Handeln, 87–110; Derflinger, Getreideteuerung, 2; HStA Dresden, Loc. 2385, Vol. 1, p. 272 (Abriss der Schanzen); Paul von Stetten d. J., Selbstbiographie. Die Lebensbeschreibung des Patriziers und Stadtpflegers der Reichsstadt Augsburg (1731–1808). Hrsg. von Helmut Gier. Augsburg 2009, Bd. 1, 59 (Aufbau der Schanzen). Selbst einzelne Gemeinden versuchten, den Armen mit Gemeindearbeiten zu einem Einkommen in der Teuerung zu verhelfen, etwa im Amt Eltville: HStA Wiesbaden, Abt. 108, Nr. 2668. 35 Ob die Notleidenden solche Aufgaben noch effektiv erfüllen konnten, lässt sich den Quellen nicht entnehmen. Friedrich II. lehnte entsprechende Maßnahmen für Preußen aus diesen Bedenken heraus ab. Militzer, Klima, Kap. 5.12.1.8. 36 Zu Straßenbaumaßnahmen: ThStA Gotha, GA, OO VI, Nr. 46, p. 6–14; HStA Wiesbaden Abt. 340, Nr. 4176; Militzer, Klima, Kap. 5.13.2; August Schmitt, Chronik der Stadt Kitzingen. Mit möglichster Berücksichtigung der Umgebung Kitzingens. Kitzingen 1873, 156; Kumpfmüller, 79–82; Krämer, Menschen, 377; Louis Specker, Die grosse Heimsuchung. Das Hungerjahr 1816/17 in der Ostschweiz. St. Gallen 1993, 14. Zu Gewerbestützung: Ebd., 72–78; Weinzierl-­ Fischer, Bekämpfung, 492, 506–9; Werner Hacker, Die Auswanderung nach Südosteuropa aus der Sicht Südwestdeutschlands im 18. Jahrhundert, in: Südostdeutsches Archiv 14, 1971, 122–143, hier 139. 37 Vgl. unten Kap. 5.2. 38 Kumpfmüller, Hungersnot, 76.

151

Der Krisenstaat

tor. Offene Hilfsangebote waren in der Lage, mit den gleichen Mitteln weit mehr Menschen zu helfen, etwa über Brotausgaben. Zuweilen lässt sich zeigen, dass der enorme Auftrieb, den geschlossene Fürsorgeformen in der Krise dennoch erlebten, auf die Partizipation gut vernetzter bürgerlicher Kreise vor allem in schwachen Territorialstaaten zurückging.39 Ähnlich verhält es sich mit den vereinzelten Freihandelsexperimenten, die während der Krise etwa in Baden und der Grafschaft Neuwied durchgeführt wurden. Sie erfolgten zumeist auf Betreiben überzeugter physiokratischer Berater wie Johann August Schlettwein oder Christian Hiskias Heinrich von Fischer. Ihr praktischer Erfolg blieb angesichts des abgeriegelten Umlands gering. Der ideelle Nutzen erwies sich aber angesichts der mäßigen Bilanz des überlieferten Teuerungskanons als umso größer und verankerte die neue ›nationale‹ Ökonomie im öffentlichen Bewusstsein.40 Im Rückblick erweist sich die Hungerkrise 1770–1772 daher als Schnittstelle von alten und neuen, von regulativen und marktförmigen Maßnahmen. Der traditionelle Kanon der Teuerungspolicey bezog seine Legitimität aus Paternalismus, Kameralismus und Sündenökonomie, die neuen Ansätze nahmen bereits den späteren Fokus auf Markt, Selbsthilfe und Infrastrukturen vorweg. In der Krise bildeten sich bereits jene Frontstellungen zwischen angebots- und nachfrageorientierten, staatlichen und privaten Maßnahmen aus, die Nahrungspolitiken bis heute charakterisieren.41

1.2. Normdurchsetzung Zwischen Normsetzung und Handlungspraxis lag im frühneuzeitlichen Staat eine notorisch tiefe Kluft. Zum Herrschaftsrepertoire gehörten daher seit jeher informelle Lösungsstrategien, wie die Vermittlung durch Dritte, das absichtsvolle Ver 39 Vgl. unten Kap. 4.2. 40 Vgl. unten Kap. 4.1. 41 Im Europa unserer Zeit, das zuletzt von Versorgungskrisen weitgehend verschont geblieben ist, vertraut die Nahrungssicherung weitgehend auf das Marktgeschehen. Zumindest aus dieser Perspektive erscheinen die drastisch anmutenden Eingriffe des älteren Teuerungskanons zuweilen übertrieben. Sie sind aber keinesfalls Geschichte: Das 2016 vorgestellte Zivilschutzkonzept des deutschen Innenministeriums sieht zur »Ernährungsnotfallvorsorge« Maßnahmen von der Marktkontrolle bis zur vollständigen staatlichen Übernahme der Lebensmittelwarenkette, der Beschlagnahme von Bauernhöfen sowie »Verfügungsbeschränkungen und Abgabepflichten hinsichtlich des Anbaus, der Verarbeitung, der Verteilung und des Verkaufs von Lebensmitteln« vor. Hinzu kommt eine durch die Bundesanstalt für Landwirtschaft organisierte staatliche Vorratshaltung, die neben der »Bundesreserve Getreide« weitere Notfallreserven aus Reis, Linsen und Kondensmilch in der Nähe der Ballungsgebiete umfasst. Bundesministerium des Inneren, Konzeption Zivile Verteidigung. Berlin 2016, 74 unter http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/ Downloads/DE/Broschueren/2016/konzeption-zivile-verteidigung.pdf [1.9.2016]. Zu ähnlichen Regelungen in der heutigen Schweiz vgl. Krämer, Hungerkrise, 147–149.

152

Handeln

sanden-Lassen von Konflikten, Absprachen jenseits offizieller Protokolle oder durch komplexe Symbolik und Sprachregelungen abgefederte Kompromisse. Dies galt umso mehr in Extremsituationen, die mit ihrem Zeitdruck übliche Verfahrensweisen und Routinen in Frage stellten. Hungerkrisen konfrontierten die Behörden regelmäßig mit mehr Problemen, als sie zu lösen im Stande waren. Zu den Maßnahmen selbst trat damit die Aufgabe, das bei den Untertanen zu beobachtende Auseinandertreten von Erwartungen und Erfahrungen kommunikativ zu lösen.42 Die beginnende Hungersnot setzte die dünn besetzten frühneuzeitlichen Verwaltungen unter enormen Druck. Einzelpersonen konnten die Koordination der nötigen Maßnahmen kaum bewältigen. Zentrale Verantwortliche, wie der Erzkanzler für Böhmen, Karl von Hatzfeld, arbeiteten in der Notzeit oft bis zur totalen körperlichen Erschöpfung.43 Die größeren Territorien setzten deshalb am Beginn der Krise Ad-hoc-Kommissionen ein, die – ähnlich wie die französische régie – weite Teile der obersten Regierungsbehörden umfassten. Hinzu kamen, je nach Landesverfassung, Vertreter der Stände und Kirchen. Württemberg gründete im Dezember 1770 eine 13-köpfige »Fruchtdeputation«, die aufgrund von mehrfach täglich einlaufenden Nachrichten innerhalb eines knappen Jahres 3683 Entscheidungen traf.44 In Österreich produzierte eine Kommission zur Hungerbekämpfung für Böhmen ab dem Januar 1771 100 Protokolle und über 1.000 Akten.45 Ähnliche Institutionen entstanden unter verschiedenen Namen in Bayern, im Fürstbistum Salzburg oder Kurmainz.46 Auf dem Höhepunkt der Hungersnot vom Herbst 1771 bis zum Frühjahr 1772 dominierte die Krise die Regierungsarbeit in den Territorien nahezu vollständig.47 Die Policeyordnungen der Zeit vermitteln einen Eindruck der enormen Spannbreite obrigkeitlicher Normsetzungen. Zugleich illustriert schon die ständige Wiederholung der Mandate, als wie schwierig sich deren Durchsetzung erwies. Die typische Dynamik, die ständig nötigen Nachsteuerungen und die stufenweise Eskalation der Maßnahmen zeigt etwa das Beispiel des Herzogtum Pfalz-Zweibrücken. Seine Behörden benötigten fast 50 Verordnungen und Mandate, um ihre Teuerungspolicey zu kommunizieren. Der Prozess startete Anfang August 1770 mit der Aufforderung zur Jagd auf Spatzen und Fraßschädlinge. Mitte September erließ 42 Zimmermann, Krisenkommunikation, 391. 43 Goldman, Hatzfeld, 84. 44 Zimmermann, Noth, 114–116; Ders., Krisenkommunikation, 395. 45 Weinzierl-Fischer, Bekämpfung, 483 f., 513; Blaich, Tätigkeit. 46 HStA München, Generalregistratur 818.38; Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 93; Derflinger, Getreideteuerung, 9; Weber, Kurmainz, 97. Keine gesonderten Gremien gab es in Preußen, wo Friedrich II. die Maßnahmen persönlich koordinierte, und in Sachsen, wo die zentrale Teuerungspolicey aus finanziellen und politischen Gründen rudimentär blieb. 47 Huhn, Teuerungspolitik, 54. Ein Blick auf die Policeyordnungen der Zeit bestätigt diesen Befund. Die Dominanz der Krise dokumentiert in hunderten Mandaten der Teuerungspolicey: Karl Härter, Michael Stolleis, Repertorium der Policeyordnungen, 11. Bde. Frankfurt a. M. 1996–2016.

Der Krisenstaat

153

man wie im ganzen Reich eine Fruchtsperre, mit der die Landesgrenzen für den Getreideexport geschlossen wurden. Zudem verbot man die Herstellung von Branntwein sowie den »Fürkauf«, das spekulative Aufkaufen von Getreide außerhalb der Märkte. Diese Regelung erwies sich als so schwierig umzusetzen, dass kurz darauf zwei weitere Mandate dazu erschienen. Ende September verfügte man zusätzlich die Ausweisung von Juden, ›Zigeunern‹ und Landesfremden und erließ Einreiseverbote, um die Seuchengefahr zu verringern. Da auch das Ausweisungsgebot wenig Erfolg zeigte, verschärfte man Ende Oktober die Ausführungsbestimmungen und erließ nun sogar Schießbefehl (nach einem Warnruf) auf bewaffnete »Zigeuner und Vagabunden« sowie auf die ebenfalls offenbar in größerer Menge vorhandenen Wilderer. Im gleichen Monat musste man die Getreidesperre bei hoher Strafandrohung auch auf Kartoffeln ausweiten, da diese nun anstelle des Korns aus dem Land geführt wurden. Auch dieses Verbot musste bereits zwei Wochen später wiederholt werden. Im November ordnete man die Versorgung von Witwen und Waisen an. Kurz darauf rügte man Blockaden des Getreidetransports im Landesinneren, die offenbar in übereifriger und eigenmächtiger Interpretation der früheren Sperrverordnungen entstanden waren. Zwei Tage später, am 15.11., dekretierte man strenge Anordnungen zur Zusammensetzung des günstigeren Mischbrots und zur Ernte des nassen Getreides. Zugleich versuchte man die Auswanderung zu kontrollieren, die angesichts der nur begrenzt erfolgreichen Maßnahmen rapide anstieg. Am 25.11. erließ man Regeln für den Zugang zu Zuchtund Arbeitshäusern. Erst Mitte Dezember strich man endlich den Einfuhrzoll für Lebensmittel. Angesichts der Steuerausfälle musste er aber bereits nach einigen Monaten wieder eingeführt werden. Zu Beginn des neuen Jahres wurden weitere Erlasse nötig, um die Getreideeinfuhr und die Aufsicht über Getreidevorräte zu klären. Zusätzliche Verordnungen regelten das Verbot süßer Backwaren und den Verkauf von Brot, das weniger als zwei Tage alt war. Im Februar forderte man die Verstärkung des Kartoffelanbaus und die Melioration von Brachland, um das Angebot in der kommenden Ernte zu erhöhen. Das Bierbrauen war ab jetzt nur noch mit auswärtigem Getreide erlaubt. Erst im März entschloss man sich schließlich dazu, auch die Abgaben für das Mahlen von Getreide abzuschaffen. In weiteren Verordnungen erließ man einen Höchstpreis für die trotz des Exportverbots selten gewordenen Kartoffeln. Zugleich appellierte man an die Gutsherren, Saatgut bereit zu stellen. In der Jahresmitte mahnte man an die Überwachung der Bäcker zu verschärfen und erließ neue Höchstpreise für Brot. Die folgenden Mandate regelten in immer neuen Details die Fruchtsperre. Wie umkämpft diese Maßnahme war, zeigen die ständig ausgeweiteten Ausnahmeregelungen, verschärften Strafen und Appelle zu ihrer Einhaltung. Nach der zweiten Missernte drohte man ab dem August 1771 auch jenen »umherscheifenden Comödianten/Seil- und Drahttänzern/Taschenspielern und anderen dergleichen Circumforaneis« die Ausweisung an, die sich trotz früheren Anordnungen offenbar noch immer im Lande aufhielten. Zudem musste man ein weiteres Mal die Versorgung der Bauern mit Saatgut

154

Handeln

anmahnen. In der Hochphase der Teuerung ergänzte man die Regelungen um symbolische Maßnahmen, welche die soziale Integration fördern und Sündenböcke ausgrenzen sollten. Sie umfassten verschiedene Luxusverbote, die Kaffeekonsum und Feierlichkeiten beschränkten. Hinzu kam die Errichtung sogenannter »Zigeunerstöcke« an den Landesgrenzen, welche die immer noch einreisenden Migranten und Bettlern mithilfe drastischer Illustrationen der drohenden Körperstrafen abschrecken sollten. Sie endeten mit Maßnahmen gegen den »Judenwucher« und demonstrativen Beschränkungen des Kreditwesens.48 Ähnliche Regelungskaskaden lassen sich in fast allen Territorien beobachten. Mit Verordnungen im Wochentakt reagierten die Verwaltungen auf die Verwerfungen der Notzeit. Immer wieder mussten Mandate aufgrund von Nichtbeachtung erneuert, Strafen verschärft und Erlasse korrigiert werden.49 Fast alle Maßnahmen brachten unerwünschte Nebenwirkungen mit sich. Angesichts der lebensbedrohlichen Notlage, den heterogenen Interessen in der extrem stratifizierten Gesellschaft und der Vielzahl der Akteure waren solche Zielkonflikte unvermeidlich. Am deutlichsten traten Fehlsteuerungen bei direkten Markteingriffen vor Augen. So bildete die Festsetzung von Höchstpreisen eine klassische Maßnahme. Auch in normalen Zeiten waren Gewicht und Preis des Brotes streng kontrolliert. Für die Obrigkeiten besaßen Höchstpreise den großen Vorteil, dass sie die Staatskasse im Gegensatz zu vielen anderen Eingriffen nichts kosteten. Den Untertanen versprachen sie eine Lösung, die – anders als Ankäufe und Visitationen – nicht erst nach vielen Wochen Wirkung zeitigte. In der Praxis reagierte der Markt auf Preisdeckelungen aber regelmäßig mit einem abrupten Angebotsrückgang. In München kamen nach der Einführung von Höchstpreisen gerade noch 50 statt der üblichen 3.000 bis 4.000 Scheffel auf dem Markt. Brot wurde anschließend »eine heimliche verbothene Waare«. Ähnliche Reaktionen kennzeichneten die Märkte im ganzen Reich.50 Statt unter der Kontrolle der Marktöffentlichkeit wurde Getreide nun in illegalen Treidkögeln und Winkelmärkten gehandelt. Der Verkauf verlagerte sich auf die Straßen oder direkt zu den Bauernhöfen. Er geschah vom Wagen herab oder zog – im Fall der Städte – vor die Tore.51 Vielerorts entwickelten sich Wirtshäuser, deren Betreibern der Ankauf für ihre Gäste gestattet war, zu alternativen 48 Regesten der entsprechenden Mandate bietet Härter, Stolleis, Repertorium, Bd. 3.2, 1762–1782. 49 Zu Münster vgl. Huhn, Teuerungspolitik, 60–80. Zu Bamberg, Schneider, Mangel, 280– 289. Auch Württemberg und Bayern erließen fast 40 bzw. 60 Mandate zur Teuerungspolicey. Härter, Stolleis, Repertorium, Bd. 4, 906–913; Bd. 3.1, 885–899. Bereits die Zeitgenossen beobachteten in einem Territorium während der Hungerkrise »in einem Jahr über hundert neue Verordnungen«. Münchhausen, Kornhandel, 43. 50 Hazzi, Betrachtungen, 52 f. Zu ähnlichen Marktzusammenbrüchen nach Preisdeckelungen vgl. Kumpfmüller, Hungersnot, 46; Vogt, Getreideteuerung, 48. 51 Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 23, 27; Derflinger, Getreideteuerung, 12 sowie Karl I., Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel, Serenissimi gnädigste Verordnung, den Korn Verkauf in der Stadt Braunschweig betreffend. Braunschweig [30.11.] 1771.

Der Krisenstaat

155

Marktplätzen.52 In der Folge zogen die Höchstpreise immer weitere Eingriffe nach sich. Man ordnete strenge Visitationen an, um zurückgehaltene Vorräte auf den Markt zu zwingen. Magazine wurden angelegt, in der Hoffnung, den Markt daraus beschicken zu können. Die Exportsperren wurden verschärft, um den Abtransport ins Ausland zu verhindern. Denunzianten bekamen immer höhere Anteile der versteckten Waren versprochen. Dennoch blieb der Erfolg zumeist gering. Viele Bauern teilten ihre Vorräte auf und lagerten sie gegen Bezahlung bei den Nachbarn, um Eigenbedarfsgrenzen zu umgehen. Andere nutzten die Mühlen als ›Waschanlagen‹ für illegales Getreide. Korn wurde in Weinfässern versteckt oder in der Erde vergraben.53 Zumeist scheiterten Versuche, die Bewegungen des Korns oder der verdächtigen Aufkäufern mit strengen Passsystemen nachzuverfolgen, an Personalmangel, Nachlässigkeit und Kommunikationslücken.54 Selbst die strengsten Visitationen stießen daher kaum auf nennenswerte Vorräte.55 In München etwa mussten die Höchstpreise deshalb bereits nach nur drei Wochen wieder kassiert werden.56 Mit der Freigabe ging nun allerdings die Gefahr von Tumulten einher. Zudem riskierte man, dass die Untertanen Kredite zu Wucherpreisen aufnahmen, um ihren Bedarf nur irgendwie zu decken.57 Auch zog die Rücknahme ein ganzes Maßnahmenbündel nach sich, mit dem das sorgfältig austarierte Interessengefüge ins Wanken geriet. Damit der bayerische Landadel und die Kaufleute wieder bereit waren, ihren Boykott des Münchener Marktes zu beenden, musste man den Schrannenzwang für sie aufheben. Diese Regelung war allerdings erst kurz zuvor auf Druck der Untertanen eingeführt worden, die den Adel (vermutlich zu Recht) der Spekulation verdächtigten. Die Beschneidung ihrer Ständeprivilegien war zudem in Reaktion auf blutige Krawalle in der bayerischen Hauptstadt erfolgt. Das damalige Nachgeben der Regierung hatte in der Praxis zwar dazu geführt, dass die revoltierenden Städter noch schlechter versorgt wurden. Die Rückkehr zu Ständerechten und internem Freihandel erwies sich dennoch als so delikat, dass sie einige Monate später ebenfalls wieder rückgängig gemacht wurde, nur um sie eine Woche später erneut einzuführen.58 Ein weiterer 52 Vgl. etwa das Verhör des Herbergswirtes Georg Ludwig Pflug, in: HStA Darmstadt Best. F 24 C Nr. 230/3. 53 HStA Stuttgart L6 Bü 1345, Verordnung vom 5.12.1770 sowie Vogt, Getreideteuerung, 91; Anon, Lesenswürdige Beschreibung, o. P.; Weishaupt. Getreidehandelspolitik, 104. 54 HStA Stuttgart L6 Bü 1345, Verordnung vom 5.12.1770; Ebeling, Irsigler, Getreideumsatz, Bd. 2, XLIX. 55 Vgl. etwa Krais, Fortsetzung, 228; Kumpfmüller, Hungersnot, 49; Mahlerwein, Herren, 203 f.; Göttmann, Versorgungslage. 56 Hazzi, Betrachtungen, 52. Ebenso in Österreich, Böhmen oder Franken: Kumpfmüller, Getreideteuerung, 46; Vogt, Getreideteuerung, 48. 57 Erste Versuche, mit Hypothekenbanken, Leihkassen oder staatlichen Pfandhäusern gegenzusteuern, ließen sich aufgrund finanzieller Engpässe erst nach der Krise umsetzen. HStA Stuttgart, L6 Bü 1327, 1328, p. 17; Freitag, Krisen, 127. 58 Hazzi, Betrachtungen, 44, 50–52, 54, 59 f.; Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 93.

156

Handeln

Tumult in München führte noch bis zur ersten guten Ernte 1773 zu hektischem Aktionismus der Regierung, die den internen, landesweiten Getreidehandel mal frei stellte, mal verbot.59 Während dieser Zeit gab die Münchener Hofkommission ihre Rolle als Regierung weitgehend preis. Stattdessen versuchte man sich als Moderator, der die widerstreitenden Interessen von Adel und Bürgern, Stadt und Land, von Produzenten und Konsumenten auszugleichen suchte. Am Ende wurde die Kommission von den unversöhnlichen Parteien jedoch erfolgreich dazu gezwungen, diese abwiegelnde Haltung aufzugeben und zumindest die Münchener Konflikte auf eigene Kosten zu lösen und mit dem teuren Ankauf von auswärtigem Getreide zu besänftigen.60 Solche Fehlsteuerungen lassen sich überall in Reaktion auf obrigkeitliche Eingriffe beobachten. Verbilligt abgegebenes Magazingetreide wurde zu Marktpreisen weiterverkauft, kostenlos ausgehändigtes Saatkorn verzehrt. Profiteure erstanden die Leinwand, die man vergünstigt an die hungernden Weber verteilte.61 Immer wieder zogen erste Eingriffe in das komplexe Nahrungssystem zahlreiche weitere nach sich. Das simple Württemberger Exportverbot für Getreide entwickelte sich daher nach Ausweichbewegungen zu einer »Frucht- Mastvieh- Heu- Oehmd- StrohGrundbieren- und Brodsperre«. Sie musste zudem in unzähligen Sonderregelungen nachjustiert und mit militärischen Postierungen exekutiert werden.62 In einigen Fällen versuchten die Regierungen die verbreiteten Fehlanreize kommunikativ zu bekämpfen. Auf die Misserfolge der Visitationen reagierte man in Kurhannover mit der strategischen Warnung, dass die unmittelbar bevorstehende Öffnung der Magazine weiterhin zurückgehaltene Vorräte wertlos machen werde.63 Auch auf die Taktik einiger Bauern, ihre Vorräte im Vertrauen auf spätere Staatshilfen profitabel ins Ausland zu verkaufen, versuchte man durch Informationskampagnen steuernd einzuwirken.64 Allerdings konnte diese kommunikative Krisensteue 59 Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 98 f. 60 Rankl, Politik, 764–768. Zu ähnlichen Konflikten zwischen Ständen und Konsumenten in Münster vgl. Huhn, Ernstfall, 243. 61 HStA Hannover, Hann. 74 Göttingen 3377, Verordnung vom 30.5.1772; HSTA Hannover Hann. 74 Göttingen 3392 (Prozess wegen Verkaufs von Magazinkorn ins Eichsfeld); Wilhelm Bode, Das vorgoethesche Weimar. Berlin 1908, 140 (Verzehr von Saatgut); Kumpfmüller, Getreideteuerung, 74 (Aufkauf von Leinwand). Ähnliche Maßnahmen beschreiben: Vogt, Massnahmen, 82; Schneider, Mangel, 281. 62 Oehmd und Grundbieren bezeichnen Heu und Kartoffeln. HStA Stuttgart L6 Bü 1345, Verordnung vom 5.12.1770. 63 Es »dürffte daher eines jeden selbst eigenes Interesse es erfordern, mit Losschlagung der zum Verkauf habenden Korn-Vorräthe nicht länger zu warten.« HStA Hannover, Hann. 74 Münden 6684, Verordnung vom 22.6.1771. Dass der Wortlaut weitgehend einem Mandat vom 31.5.1756 entspricht (HStA Hann. 74 Göttingen 3377), lässt an der Effektivität dieser Kampagne zweifeln. 64 Die Amtsleute wies man daher an, zu verbreiten, dass die Untertanen sich »auf den herrschaftlichen Fruchtvorrath keine Rechnung zu machen haben, vielweniger hoffen dürfen, etwas davon zu Borge zu erhalten«. HStA Hannover Hann. 74 Göttingen 3389 Verordnung vom

Der Krisenstaat

157

rung auch scheitern. So musste die Regierung in Kurhannover die zur Beruhigung demonstrativ angekündigten Saatguthilfen wieder zurücknehmen, nachdem sich mit den verfügbaren Finanzmitteln gar kein Korn auftreiben ließ.65 Zuweilen finden sich auch Hinweise darauf, dass öffentlichkeitswirksam angekündigte Eingriffe insgeheim gar nicht durchgeführt oder kontrolliert werden sollten. Stattdessen zirkulierten innerhalb der Behörden vertrauliche Anweisungen, dass die Anordnungen zu Höchstpreisen und Beschlagnahmungen unter der Hand zu ignorieren seien, um die fragilen Märkte nicht zu torpedieren. Anderswo reagierte man auf die offensichtliche Machtlosigkeit gegenüber den Spekulanten mit stillschweigenden Amnestien.66 Eine ›richtige‹ Politik existierte angesichts der asymmetrischen Interessenslagen und der tiefen Verflechtung von Getreide und Gesellschaft nicht. Diese Dynamik prägte auch die mit den Erlassen verbundene Strafpraxis. Die Strafandrohungen eskalierten parallel zu den Mandaten und steigerten sich rasch von Geld- über Haft, bis hin zu schweren Körperstrafen. Die illegale Ausfuhr von Getreide bedrohte man zunächst oft nur mit Bußgeld, dann mit Beschlagnahmung, Zuchthaus und Zwangsarbeit und zuletzt sogar mit der Todesstrafe.67 Auf dem Münchener Kornmarkt errichtete man demonstrativ einen Galgen und verkündete, dass für »Ausschwärzer« keinerlei mildernde Umstände gelten gemacht werden könnten. Auch diesem letzten Mittel der Strafjustiz kam wohl eher eine theatralische Funktion zu.68 Es wurde häufig verkündet, aber selten vollstreckt.69 Auch hier existierten vertrauliche Anordnungen, Strafnorm und Strafpraxis zu entkoppeln. So wurden die Behörden in Österreich stillschweigend angewiesen, 3.10.1770). Tatsächlich wurde aber genau diese Magazinversorgung später angewiesen (ebd., Verordnung vom 19.3.1772). 65 HStA Hannover, Hann. 74 Göttingen 6684 und 3389, Verordnungen vom 18.3.1771 und vom 28.8.1771. 66 Huhn, Ernstfall, 242; Kumpfmüller 37; Vogt, Massnahmen, 123. 67 Vgl. etwa Hazzi, Betrachtungen, 42, 50. 68 Ebd., 46. Vgl. Richard van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der Frühen Neuzeit. München 1988, 122. 69 Von vollstreckten Todesstrafen wegen Nahrungsdiebstahl und -schmuggel berichten: Hazzi, Betrachtungen, 57; Kuther, Menschen, 97; Will, Teuerung, 375 sowie Bräker, Schriften, Bd. 1, 326, der aber zugleich beobachtete, dass sie nur selten umgesetzt wurden. Die von Hazzi genannte Zahl von 72 Fällen in Bayern stützte sein Argument, dass Markteingriffe in die Barbarei führten, und dürfte deutlich zu hoch liegen: Rankl, Politik, 760 f. Hazzi bezieht sich unter anderem auf ein Verfahren aus Oberbayern, dessen intensive publizistische Flankierung eher die erhoffte Symbolwirkung solcher Verfahren illustriert: Anon., Wohlverdientes Todesurtheil nebst einer Moralrede des Jakoben Hubers welcher auf gnädigste Anbefehlung einer Churfürstl. Hochlöbl. Regierung zu Burghausen [Oberbayern] wegen unternommener Getreid außer Landesschwärzung heut den 16. Dezember 1771 in Neuötting an einem offenen Platz errichteten Galgen mit dem Strang vom Leben zum Tod hingerichtet worden. O. O. [1771] [Sammlung Museum der Brotkultur, Ulm]. Lediglich gegen Mitglieder organisierter Räuberbanden wurden in den Hungerjahren Todesstrafen regelmäßig exekutiert – ebenfalls eng begleitet von moralisierenden Flugschriften. Vgl. Richard J. Evans, Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte 1532–1987. Berlin, Hamburg 2001, 83, 123 f., 205 f.

158

Handeln

die demonstrativ verhängten Todesstrafen nicht zu exekutieren.70 Die wachsende Kluft zwischen beständig eskalierenden Strafdrohungen und einer pragmatischeren Strafpraxis lässt sich in fast allen Territorien beobachten. In einer existentiellen Notsituation ließ sich auch mit schweren Strafen Konformität nicht mehr einfach erzwingen.71 Ebenso wie die Maßnahmen selbst mussten auch die Strafen eher durch Symbolkraft und exemplarische Anwendung wirken, als durch ihre flächendeckende Durchsetzung. Auch das Strafregime lässt sich daher nur als Teil einer performativen, wechselseitigen und symbolischen Herrschaftspraxis verstehen.72 Letztendlich resultierte die Zurückhaltung der Obrigkeiten neben Desinformation und Überforderung daher auch aus dem Bewusstsein, dass jeder Eingriff Gefahr lief, das Gefüge der Getreidegesellschaft insgesamt ins Wanken zu bringen. Wie den Münchener Untertanen war auch den meisten Zeitgenossen wohl bewusst, dass die Obrigkeiten die Not nicht innerhalb der bestehenden sozioökologischen Arrangements zu bewältigen vermochten. Dass sie dennoch beständig Eingriffe forderten, richtete sich daher nicht nur gegen die akute Notlage, sondern implizit auch gegen die alltäglichen Asymmetrien und Privilegien.73 Eine schiefe Ebene führte vom simplen Marktzwang für den Landadel zur teuren Direktversorgung der Bevölkerung. Schon einfache Maßnahmen, wie der Aufruf zur Denunziation von Kornwucherern, konnten in dieser Situation dazu führen, dass auch der privilegierte Adel ins Visier von Strafmaßnahmen geriet.74 Entsprechend vorsichtig mussten die Obrigkeiten ihr Vorgehen abstimmen und mit den Beteiligten aushandeln. Das vermeintliche Fehlen einer klaren Linie75 in der obrigkeitlichen Regelsetzung ist daher keine Folge von Inkompetenz, sondern ein Hinweis auf die polyzentrische Herrschaftspraxis dieser Zeit. Ihr Spannungsfeld lässt sich anhand einiger klassischer Maßnahmen genauer analysieren: der Sperrung der Grenze für Nahrungsexporte, der Anlage von Magazinen, des Ankaufs von Getreide im Ausland sowie der städtischen Armenfürsorge.

70 Kumpfmüller, Getreideteuerung, 37. 71 Vgl. etwa Kumpfmüller, Hungersnot, 47 f.; Vogt, Massnahmen, 78. Zur juristischen Debatte und Praxis vgl. Franz Dorn, »Not kennt kein Gebot«. Der Notdiebstahl (›Stehlen in rechter Hungersnot‹) in der frühneuzeitlichen Strafrechtsdogmatik, in: Sebastian Schmidt (Hrsg.), Arme und ihre Lebensperspektiven in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. u. a. 2008, 207–236. 72 Rebekka Habermas, Recht- und Kriminalitätsgeschichte revisited – ein Plädoyer, in: Dies., Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Verbrechen im Blick. Perspektiven der neuzeitlichen Kriminalitätsgeschichte. Frankfurt a. M. 2009, 19–41. 73 Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 31–44. 74 Daher wurde der Adel in einigen Territorien von Denunziationen und den darauf folgenden militärischen Visitationen zunächst befreit. Auf dem Höhepunkt der Krise richteten Untertanen ihre Eingaben aber auch erfolgreich gegen die eigenen Herren. Ebd., 94 f.; Vogt, Massnahmen, 61. 75 Ebd., 122.

159

Der Krisenstaat

1.3. Sperren Das Verbot, in Notjahren Lebensmittel zu exportieren, bildete in ganz Europa einen Eckpfeiler obrigkeitlicher Krisenpolitik. In Zeiten des Mangels sollten diese ›Fruchtsperren‹ die Nahrung für die lokale Konsumption sichern. Sie lassen sich bereits seit dem Spätmittelalter flächendeckend nachweisen und gehören bis heute zum Repertoire der Krisenbekämpfung.76 Diese Sperren reagierten auf die erheblichen Diskrepanzen zwischen den ökologischen und politischen Räumen der Frühen Neuzeit. Die Waren- und Stoffströme folgten nur in den seltensten Fällen den Grenzziehungen territorialer Herrschaft. Die wachsende räumliche Trennung von Getreideproduzenten und -konsumenten und die soziale Ungleichheit beförderten regionale Produktions- und Kaufkraftunterschiede noch zusätzlich. Reiche Städte oder prosperierende Territorien waren in der Lage, deutlich höhere Preise zu bezahlen als ihre Nachbarn. Der weniger vermögenden Bevölkerung konnte man dagegen kaum vermitteln, dass in Krisenzeiten die für sie unerschwinglich gewordenen Vorräte vor ihren Augen in wohlhabendere Regionen abtransportiert werden sollten. Wer in dieser Lage zuletzt sperrte, dem drohten Aufkäufer aus den Nachbarstaaten bald die Lager leerzuräumen. Die optimistischen Thesen der Freihändler aus den Normaljahren konterte die Göttinger Akademie der Wissenschaften daher mit dem pragmatischen Hinweis, es lehre die »Erfahrung von 1770, daß Hessen bey dem Anschein einer schlechten Erndte aufkaufen ließ, und in kurzer Zeit ward das Fürstenthum Göttingen so reingemacht, daß sich jedersmann verwunderte wo die reichen Erntdten geblieben waren.«77 In den Hungerjahren um 1771 verhängten nahezu alle betroffenen Staaten Europas solche Sperren. Frankreich machte bereits 1769 den Auftakt, Dänemark und Schweden folgten im Herbst 1770. Schließlich verboten mit England und den Niederlanden sogar die größten Befürworter des Freihandels die Getreideausfuhr.78 Im Zentrum Europas begannen einzelne Territorien ab dem Frühsommer 1770 mit Exportsperren. Da die Nachbarn diese Maßnahme sofort mit entsprechenden Verfügungen beantworteten, überzog das Reichsgebiet rasch ein enges Netz von Ausfuhrsperren, das kaum noch von den komplizierten politischen Grenzen abwich.79 Angesichts der Ungleichheiten im Inneren beschränkten sich die Sperren schon bald nicht mehr auf die Ebene der Territorien. Die immer weitergehende Einrich 76 Jörg, Teure, 182–206. Zu den russischen Exportsperren als Katalysator der Welthungerkrise 2008 vgl. Fraser, Rimas, Food, 195 f. 77 Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen unter Aufsicht der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften 86, 1773, 734. 78 Heli Huhtamaa, Food Crises; Lars N. Henningsen, Misvækst og kornspekulation i Sønderjylland 1698–1847. En studie i dyrtids- og hungerår og krisenpolitik, in: Sønderjyske årbøger, 1981, 5–56, 25; Kaplan, Bread, Bd. 2, 622. 79 Den Auftakt machte der fränkische Kreis, der den Export bereits am 12.6.1770 verbot. Bis zum Herbst folgten nahezu alle Reichsterritorien. Abel, Massenarmut, 227.

160

Handeln

tung von eigenmächtigen ›Particular Sperren‹ bis auf die Ebene einzelner Dörfer oder Gemeinden ließ diese neuen Grenzen immer näher an die Bevölkerung heranrücken. Für die Zeitgenossen gehörten die aufwendig gesicherten Sperren zu den prägenden Erfahrungen der Hungerjahre. Zugleich wurden die Jahre um 1771 durch die beginnende Debatte um den Freihandel geprägt. 1772 beschloss der Reichstag erstmals die reichsweite Freigabe des Getreidehandels und das Verbot von Fruchtsperren im Inneren. In der Forschung ist dies zuweilen als Beginn einer ›nationalen‹ Wirtschaftspolitik gedeutet worden.80 Zwar entwickelten diese Ideen kaum praktische Wirkung. Die verstärkte Konkurrenz von paternalistischen und freihändlerischen Motiven erlaubt es aber, das Konfliktfeld sozialer und territorialer Grenzziehungen ebenso klar zu beobachten, wie die Diskrepanzen zwischen den materiellen und den mentalen Kartographien der Beteiligten.81 Von der Forschung sind die Grenzsperren in zweierlei Weise interpretiert worden. Die eine Gruppe schloss sich den Polemiken der zeitgenössischen Freihändler an und beschrieb die Sperren als Hemmnisse ökonomischer Entwicklung. Sie hätten, auf naivem Sündenbockdenken beruhend, den Mangel eher noch vergrößert und einen bereits national gedachten Wirtschaftsraum fahrlässig zerschnitten.82 Die andere Gruppe betrachtete sie in Abwandlung des Konzepts von E. P. Thompson als Ausdruck einer »Moralischen Ökonomie von oben«, mit der Obrigkeiten den Unmut ihrer Untertanen auf ferne Schuldige lenkten und so versuchten, soziale Grenzziehungen in territoriale zu überführen.83 Beide Interpretationen konstruieren Gegensätze zwischen einer lokalistisch-paternalistischen Vormoderne einerseits und der freihändlerisch-partizipativen Moderne andererseits. Kulturgeschichtliche Forschungen legen jedoch eine alternative Sichtweise nahe. Sie haben sich verstärkt mit der sozialen Konstruktion von Grenzziehungen und Formen der ›Grenznutzung‹ auseinandergesetzt. Dabei verweisen sie darauf, dass Staats- oder Wirtschaftsgrenzen nicht einfach gezogen, sondern zwischen einer Vielzahl von Akteuren ausgehandelt werden. Sie bilden demnach weniger eine Linie, als vielmehr eine Übergangszone, deren Verlauf immer wieder neu bestätigt werden muss. Grenzen sind so verstanden nicht allein geographische, sondern auch symbolische und soziale Gebilde.84 Getreidesperren stellen ein prägnantes Beispiel für diese doppelte Funktion der Grenze dar. Neben dem Zweck, Getreide 80 Schmidt, Libertas sowie Magen, Reichsexekutive. 81 Marcus Sandl, Ökonomie des Raumes. Der kameralwissenschaftliche Entwurf der Staatswirtschaft im 18. Jahrhundert. Köln u. a. 1999 82 Vgl. etwa Schmidt, Libertas. 83 Hans Medick, Teuerung. 84 Einen Überblick bieten Etienne François, Jörg Seifahrt, Bernhard Struck, Einleitung. Grenzen und Grenzräume. Erfahrungen und Konstruktionen, in: Dies. (Hrsg.), Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M., New York 2007, 7–32.

Der Krisenstaat

161

in Zeiten der Not im eigenen Territorium zu halten, markierten sie zugleich die Grenzen von Zugehörigkeit zu einer Fürsorge-Gemeinschaft und die Ausgrenzung von Fremden und Rechtlosen. Sie umgrenzen damit nicht nur ein geographisches Territorium, sondern stellen gleichzeitig einen sozialen Raum her. Aus einer solchen Perspektive lassen sich die Sperren statt als vergebliches Mittel obrigkeitlicher Angebotskontrolle als Instrument zur Aushandlung von Zugangsrechten interpretieren. Diese Nutzung ließ sich allerdings nicht einfach von oben dekretieren. In dem Maße, in dem die Regierungen versuchten, über die Grenzziehungen soziale Konflikte nach außen zu projizieren, eröffneten sie ihren Untertanen Räume, wo diese nun ihrerseits als ›Eingeschlossene‹ Fürsorgeansprüche einfordern konnten. Somit illustrieren die Sperren auch die Grenzen obrigkeitlicher Regulierung und die Bedeutung von Interaktionen. Im Getreidestaat unterlag der Transport von Korn bereits in normalen Jahren zahlreichen Beschränkungen. Ein Getreidetransport per Schiff passierte allein von Würzburg nach Mainz 23 Zollstationen.85 Dennoch gehörte der überregionale Austausch überall zur Tagesordnung. Städte waren auf Zufuhr ebenso notwendig angewiesen, wie viele weniger fruchtbare Regionen. Bereits der einfache Weg vom Bauern zur Mühle und Bäcker bis zum Konsumenten verlief oft grenzüberschreitend. In dieser Situation überhaupt effektive Sperren zu etablieren, erwies sich als ausgesprochen schwierig. Dies galt zumal, da die Obrigkeiten keineswegs einhellig hinter den Verboten standen, weil sie als Produzenten oder Zollnehmer selbst vom Handel profitierten. Mehrere hundert Fruchtsperrpatente der Hungerjahre dokumentieren daher nicht nur die Verbreitung dieser Maßnahme, sondern auch ihr Konfliktpotential. Allein Pfalz-Zweibrücken benötigte acht Mandate, um seine Fruchtsperre zu regeln, Würzburg zehn, Kurköln und Bayern sogar elf. Die ständigen Wiederholungen und Nachsteuerungen verweisen ebenso wie die kumulative Radikalisierung der Strafandrohungen bis zur Todesstrafe auf Probleme bei der Normdurchsetzung.86 Überall galt es detailliert zu regeln, ob auswärtige Herren von den Verboten betroffen sein sollten, ob die Sperren auch den Kirchenzehnten umfassten, ob Auswärtigen zumindest die Durchfuhr erlaubt sein sollte und wie sie zu regeln sei, ob Ausnahmen für Postreiter, Durchreisende, Gesandte oder Wallfahrer gewährt wurden oder wie mit eingeschlossenen Gebieten und Reichstädten ohne eigenes Territorium zu verfahren sei. Angesichts der akuten Notlage war das Konfliktpotential jeder einzelnen Entscheidung gewaltig. Wie alle Marktregulationen zogen die Sperren unintendierte Folgen und immer weitere Eingriffe nach sich. Die Verbote mussten wegen Ausweichbewegungen ständig auf weitere Lebensmittel ausgedehnt, Naturalabgaben gestundet und Geschä 85 Vogt, Massnahmen, 12. 86 Härter, Stolleis, Repertorium Bd. 1, 552–560; Bd., 3.1, 887–899; Bd. 3.2, 1762–1785; Bd. 11, 865–872; Huhn, Teuerungspolitik, 62–66; Zimmermann, Noth, 113 f.

162

Handeln

digte Kompensation erhalten.87 Vor allem aber brach mit dem Verbot der Ausfuhr auch die Einfuhr zusammen – entweder aufgrund von Gegensperren der Nachbarn oder durch die Abschreckung auswärtiger Kaufleute. Dadurch wurden weitere umfassende Regulationen nötig. In deren Folge gingen bald immer weitere Bereiche der Nahrungsversorgung in die Verantwortung der Obrigkeiten über. Auch die Sperren selbst ließen sich angesichts der extrem hohen Gewinnspannen in den Notjahren vielfach nicht mehr mit Mandaten, sondern nur noch mit Militär aufrechterhalten. Anstelle von Zöllnern bewachten nun Dragoner die Mautstationen. Immer wieder kam es dabei zu Gewalt, sowohl gegen Passanten als auch gegen Soldaten der Gegenseite.88 Die Gefahr direkter militärischer Konfrontationen erschien so groß, dass sich bald der Reichstag einschaltete.89 Dies galt zumal, da viele Territorien die Sperren auch dazu benutzten, um politischen Druck auf kleinere Nachbarn und vor allem auf die autonomen Reichsstädte in ihrem Gebiet auszuüben.90 Auch viele Zeitgenossen deuteten die Sperren als reine Machtpolitik. »Der verborgene, höchst feindselige obschon nöthige krieg, den sich durch eine allgemeine sperre auch gefreundete und verbündete staaten zu machen gezwungen glaubten«, führe im Reich zu einer »ökonomische[n] anarchie«.91 Die Konfliktlagen und Sperrpraktiken lassen sich exemplarisch in den österreichischen Vorlanden studieren. Das zersplitterte Territorium im Schwäbischen und um den Bodensee war ökonomisch eng mit der Schweiz verbunden, unterstand politisch trotz eigener Regierung aber weitgehend der Zentrale in Wien.92 Diese erließ im Herbst 1770 eine Fruchtsperre gegen die Schweizer Städte, die eher reichspolitischen als wirtschaftlichen Überlegungen folgte.93 Daraufhin mussten in einem komplizierten Verfahren alle Anrainer vom Herzogtum Württemberg, 87 Zu Klagen lokaler Bäcker und Händler auf Entschädigung ihrer Verluste durch die Sperren vgl. etwa HStA Marburg 80–397 und HStA Wiesbaden Abt. 168 b Nr. 10. 88 Will, Teuerung, 363; Mattmüller, Hungersnot, 288; Militzer, Klima, Kap. 5.11.1.3.; Magen, Reichsexekutive, 33, 112. 89 Vgl. unten Kap. 5.1. 90 Schmidt, Hungerrevolten, 273 f. Viele Städter konnten aufgrund der Sperren oft nicht einmal mehr das eigene Getreide und Vieh verzehren, das im Umland aufwuchs. Vgl. Will, Teuerung, 361. Zum Regensburger Fall vgl. ausführlich das Kap. 5.1. Viele Ritterschaften nutzten ihre Souveränität in Handelsfragen allerdings auch, um als Freihäfen von den Sperren zu profitieren. Die Städte wiederum bezogen über ihre Handelskontakte wiederholt Getreide aus eigentlich gesperrten Notstandsgebieten. Vgl. Vogt, Massnahmen, 85–87 sowie (zu Augsburger Ankäufen im gesperrten Sachsen) Franz Eugen Joseph Anton von Seida und Landensberg, Augsburgs Geschichte von Erbauung der Stadt bis zum Tode Maximilian Josephs, ersten Königs von Bayern 1825, Bd. 2. Augsburg 1826, 632. 91 Anon., Physisch-ökonomische Bemerkungen des Jahrs 1772, in: Abhandlungen und Beobachtungen durch die Ökonomische Gesellschaft zu Bern gesammelt 13, 1772, 221–239, hier 221. 92 Frank Göttmann, Getreidemarkt am Bodensee. Raum, Wirtschaft, Politik, Gesellschaft (1650–1810). St. Katharinen 1991. 93 Magen, Reichsexekutive, 26 f.

Der Krisenstaat

163

Abb. 5: Karte des Mond- und Attersees mit eingezeichneten Schmuggelrouten für Getreide und Rechtszugehörigkeiten während der Hungersnot 1771.

über die lokalen Grafen und die Reichsstädte bis zu den Bischöfen, informiert werden. Unmittelbar darauf trafen bereits erste Ausnahmegesuche ein – so für das Futter der Postpferde oder die Transporte des Grafen von Königsegg.94 Die anschließenden Debatten verdeutlichen, wie wenig die nominellen Grenzen des politischen Territoriums mit den zahlreichen konkurrierenden und sich überlappenden Herrschaftsansprüchen, Gerechtsamen und Privilegien übereinstimmten. Statt einer klaren Grenzlinie lassen sich vielfältig verflochtene Loyalitäts-, Abhängigkeits- und Rechtsbeziehungen beobachten, deren versuchsweise Visualisierung in Form von Landkarten überall mit großem Aufwand verbunden war (Abb. 5).95

94 Haus- Hof- und Staatsarchiv (HHStA) Wien, Reichskanzlei, Schwäbische Kreisakten 20 D (Teil 1, Exhibita) 95 Versuche, die komplexen Grenzverläufe zu Land und zu Wasser mit Hilfe einer Landkarte zumindest ansatzweise zu vereindeutigen, finden sich bei Göttmann, Getreidemarkt, 105 sowie Ders., Kreuzschiffe auf dem Bodensee. Die grenzpolizeiliche Überwachung des Getreidehandels im 18. Jahrhundert, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 106, 1988, 145–182, hier 159.

164

Handeln

Aus diesem Grund mussten immer neue Ausnahmen gemacht werden. Deren Kontrolle durch Pässe scheiterte aber weitgehend. Daher wurde Militär an die Grenzen beordert. Es sollte vor allem die heikelste Außengrenze kontrollieren: den Bodensee. Über das Wasser betrieben das Hochstift Konstanz, die Reichsstadt Buchhorn oder der Graf von Montfort »eine sehr starcke Contrabande« und »Schlauhandel«.96 Die überforderten Amtsleute baten daher bald darum, dass »die ganze situs von Bregenz bis zu Überlingen mit Trouppen besetzt wird,« dass bewaffnete Schiffe auf dem See kreuzen sollten und Schmuggler mit dem Tod zu strafen seien.«97 Die Regierung entschied sich angesichts der Kosten solcher Maßnahmen jedoch für ein eher symbolisches Vorgehen, dass vor allem die Untertanen beruhigen sollte. Sie ließ demonstrativ ein Schmugglerboot aus dem Montfortischen mitsamt seiner Mannschaft festsetzen. Die Gegenseite beantwortete dies sofort mit entsprechenden Vergeltungsmaßnahmen. Ein monatelanges Tauziehen um die Schiffe und ihre Mannschaften folgte. Intern gestand man sich jedoch nach zwei Jahren vergeblicher Mühen ein, dass die eigenen Maßnahmen lediglich »der Exportation wenigstens in soweit Einhalt thun, daß sie von dieseitigen Unterthanen nicht gesehen und so vieles Aufsehen und apprehension erwecket, daß sie wenigstens nicht so häufig vor sich gehen«.98 Die Vorlande unterschieden sich kaum von den Verhältnissen in anderen Territorien. Auch in Franken, Württemberg oder dem Habsburgischen Kernland machten verworrene Gerechtsame, kirchliche Privilegien oder reichsritterliche Enklaven ständige Ausnahmeregelungen nötig, die wiederum den Schleichhandel beförderten und auch durch die Militarisierung der Grenzen kaum effektiv bekämpft werden konnten. Überall dienten die unausweichlichen Transporte des Getreides zwischen Bauer, Müller, Bäcker und Konsument als Hindernis für Kontrollen und als Einfallstor für Devianz. Nicht nur in den Vorlanden reagierte die Herrschaft mit permanenten Nachsteuerungen, die weniger als Resultat der Freihandels-Debatte erscheinen, sondern vielmehr als Versuch der kommunikativen Vereinnahmung der Bevölkerung verstanden werden müssen.99 Bereits den Zeitgenossen war bewusst, dass die Sperren neben ökonomischen auch politischen Logiken folgten. Spöttisch verwies der Berner Aufklärer Albrecht von Haller von der anderen Seite der Grenze darauf, dass die Sperren die verschie 96 HHStA Wien, Reichskanzlei, Schwäbische Kreisakten 21 D unpag. (Schreiben vom 21.2.1771 und vom März 1771). 97 Ebd. Schreiben vom 21.3 und Erlass vom 23.3.1771. Zur Geschichte der in der Praxis weitgehend wirkungslosen Grenzsicherungsmaßnahmen am Bodensee vgl. Göttmann, Kreuzschiffe. 98 HHStA Wien, Reichskanzlei, Schwäbische Kreisakten 22 D (Note des Militär Directoriums vom 20.1.1772). 99 Vgl. Vogt, Maßnahmen, 26–45; Kumpfmüller, Hungersnot, 282 f. Aus zeitgenössischer Perspektive schildert Anon, Lesenswürdige Beschreibung, die Sperren als permanenten Aushandlungsprozess.

Der Krisenstaat

165

denen Herrschaftsformen reflektierten. Während seine solidarische Stadtrepublik die hungernden Untertanen mit konkreter Fürsorge unterstütze, herrsche im Reich billige Symbolpolitik vor: Die Sperren dienten lediglich dazu, die »despotische Gewalt der deutschen Fürsten« und deren »Monopolion« auf das Getreide zu sichern. Währenddessen kompensiere der gemeine Mann seinen weitgehenden Ausschluss aus der Regierung durch die aus England bekannten Drohungen gegenüber dem Kornhändler, »sein Getreide wegzunehmen, und seine Person unerträglich zu beschimpfen.«100 Mit der Sperre machten Adel und Pöbel daher gemeinsame Sache gegen den Bürger. Tatsächlich lassen sich überall im Reich flankierende Maßnahmen beobachten, mit denen die Obrigkeiten gezielt versuchten, die moralische Ökonomie der einfachen Bevölkerung zu vereinnahmen. Sie richteten sich vor allem nach außen und reichten von der Exklusion von Migranten, visualisiert in der Errichtung von »Heidenstöcken« an den Grenzen, bis zu den Kampagnen gegen »Kornjuden« als grenzüberschreitende Profiteure.101 Man hat die Sperren daher wiederholt als gezielte Vereinnahmung popularer Erwartungshorizonte durch die Obrigkeiten interpretiert, die eine »untertänig verharrende Erwartung« der Bevölkerung bewirkt und tiefe »Spuren in der Mentalität der Deutschen« hinterlassen habe.102 Nimmt man jedoch auch das Handeln des gemeinen Mannes in den Blick, erscheint die These einer durch die Sperren geförderten Untertanenmentalität als fragwürdig. Die Bevölkerung war in der Krise sehr wohl in der Lage, ihren Interessen Gehör zu verschaffen. Auf Konferenzen der Stände befürchtete man zu Recht, dass Unruhen drohten, falls man nichts gegen die Gewinner der Krise unternehme, da »das gemeine Volck hie und da bereits den anlass gegeben, in würckliche aufläufe auszubrechen.«103 Der Druck der Bevölkerung sorgte dafür, dass Getreide nicht einmal zwischen gemeinsam regierten Gebieten zirkulieren konnte. Sowohl die habsburgischen Kronländer, die dynastisch eng verbundenen Territorien des ernestinischen Sachsen als auch die in Personalunion regierten Hochstifte Bamberg und Würzburg sperrten einander gegenseitig. In der Krise überwältigten die lokal-ökonomischen Kartographien der Untertanen den dynastisch-politisch konzipierten Raum der Obrigkeiten.104 Die überall eigensinnig eingerichteten ›Particularsperren‹ folgten örtlichen Konstellationen statt territorialen Logiken und reagierten etwa 100 Hermann Fischer (Hrsg.), Briefwechsel zwischen Albrecht von Haller und Eberhard Friedrich von Gemmingen nebst dem Briefwechsel zwischen Gemmingen und Bodmer aus Ludwig Hirzels Nachlass. Tübingen 1899, 34, 40. Tatsächlich war die Situation in Bern und der Schweiz ähnlich dramatisch. Zur Hungersterblichkeit und dem extremen Stadt-Land-Gefälle vgl. Erika Flückiger Strebel, Zwischen Wohlfahrt und Staatsökonomie. Armenfürsorge auf der bernischen Landschaft im 18. Jahrhundert. Zürich 2002, 151; Mattmüller, Hungersnot sowie Göttmann, Getreidemarkt, 160–206. Zur Debatte in Hallers Umfeld vgl. Graber, Marktsteuerung. 101 Vgl. unten Kap. 2.6. und 3.3. 102 Medick, Teuerung, 43; Schmidt, Hungerrevolten, 280. Ähnlich Rankl, Politik, 777. 103 Göttmann, Getreidemarkt, 93. 104 Kumpfmüller, Hungersnot, 42 f.; ThStA Gotha, KK, Nr. 22; Schneider, Mangel, 283.

166

Handeln

auf die unterlassenen Hilfen der Nachbargemeinde in früheren Hungerkrisen.105 Die Zentralen reagierten hilflos auf diese eigensinnige Aneignung der Sperrerlasse. Auch die Bemühungen, der Zersplitterung durch Maßnahmen auf der Ebene der Reichskreise entgegenzuwirken, blieben folgenlos.106 In weiten Teilen des Reiches brach damit das einheitliche Staatsterritorium ebenso zusammen wie die kameralistische Hoffnung auf eine stärkere Verräumlichung von Herrschaft.107 Zum Alltag der Untertanen gehörte aber auch die Überschreitung der Grenzsperren. Wo es ihnen nutzte, wurden die Verbote großflächig unterlaufen. Bereits die Vielfalt der zeitgenössischen Begriffe für den Getreideschmuggel (Ausschwärzen, Schleichhandel, Paschen, Partieren, Schlauhandel, Contrabandieren) verweist auf die Omnipräsenz dieses Themas. In der Notzeit fand er nicht mehr individuell, sondern in größerem Ausmaß und unter Beteiligung breiter Personenkreise statt. So benötigte der nächtliche Schmuggel über den Bodensee eine erhebliche Zahl an Schiffern, Trägern und Wachen. Überall waren in diese Unternehmungen große wohlorganisierte Gruppen der lokalen Bevölkerung verstrickt.108 Angesichts der breiten lokalen Beteiligung geriet selbst bewaffnetes Militär in Bedrängnis. Im Erzgebirge wurde ein Trupp böhmischer Grenzsoldaten von der Bevölkerung eines ganzen sächsischen Dorfes bedrängt, die ihnen unter Prügel nicht nur das beschlagnahmte Schmuggelgut, sondern auch noch ihre Waffen abnahm.109 Oft genug waren die Sperrtruppen am Schmuggel sogar beteiligt. Man versuchte deshalb, verstärkt ortsfremde Kräfte einzusetzen, da die »lokalen Beamten in ihren Kirchspielen und Bauernschaften nicht zu gebrauchen seien, weilen diese ihre Mitwohner nicht verrathen werden und gar mitselben unter der Decken liegen.« Martialische Anweisungen, die Wachen »dahin zu instruiren, dass sie sich vorstellen, als wären sie im würklichen krieg wie ein leichter Trup employet« und zur Not ihre Schusswaffen einzusetzen, zeugen daher vor allem von Hilflosigkeit.110 Stattdessen konstatierten Beobachter den durchschlagenden Erfolg eigensinniger Formen der Grenznutzung in weiten Kreisen der Bevölkerung: »Man könnte Orte nennen, aus welchem, nach der Sperrung […] mehr Früchte heimlich verführet worden sind, als in mehrern Orten zusammen bei der vorausgegangenen Aufzeichnung der Vorräte angegeben worden sind.«111 Die Misserfolge der 105 Derflinger, Getreideteurerung, 29. Zu Sperren auf der Ebene von Ämtern und einzelnen Hofmarschen in Thüringen und Bayern vgl. Eichorn, Hungersnot, 3; Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 97. 106 Vgl. unten Kap. 5.1. sowie Magen, Reichsexekutive. 107 Vgl. Derflinger, Getreideteuerung, 296–28; Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 98 sowie Sandl, Ökonomie. 108 Vgl. die Berichte in HHStA Wien Reichskanzlei, Schwäbische Kreisakten 21, Konvolut vom 23.3.1771 sowie Göttmann, Kreuzschiffe. 109 Militzer, Klima, Kap. 5.11.3. 110 Huhn, Teuerungspolitik, 63. 111 [Fischer, Christian Hiskias Heinrich von], Anmerkungen über die dermalige Fruchtsperre. Deutschland [sic] 1771, 13. Zur Sozialtypologie des Schmugglers vgl. auch Norbert Finzsch,

Der Krisenstaat

167

Fruchtsperren dieser Jahre bilanzierte man rückblickend mit den Worten: »Wo wir zum äußersten Nothfalle herauf steigen, so hat die ganze Polizei […] ein gar kurzes Ende.«112 Angesichts der breiten Beteiligung an organisierten Grenzverletzungen ließen sich auch Strafmaßnahmen kaum flächendeckend umsetzen. Zwar brachte man gegen den Schmuggel nominell das ganze Panorama von Strafmaßnahmen in Stellung. Es reichte von Schlägen »auf den Poder« über Verkauf des eingesetzten Zugviehs und Zwangsdienst beim Militär bis zu Kollektivstrafen für ganze Dörfer, deren Bevölkerung – vermutlich zu Recht – als stillschweigende Mitwisser angesehen wurde. Aber selbst großzügige Kronzeugenregelungen, hohe Erfolgsprämien für die Aufseher und die wiederholte Drohung mit der Todesstrafe blieben weitgehend wirkungslos.113 Stattdessen verlegte man sich auf symbolische Einzelstrafen. Die weitverbreitete Praxis von Strafmilderung kompensierte man mit demonstrativen Berichten über einzelne »erhenkte Pascher«.114 Sie wurden als mediale Inszenierungen begierig aufgenommen und in den Gedenkmedaillen auf vermeintliche Kornjuden verbreitet. Auf diese Weise wurden sie antijüdisch aufgeladen, aber auch sozial externalisiert und entpersonalisiert.115 Schmuggel blieb zudem nicht die einzige Form der Grenzüberschreitung. Hinzu trat die grenzüberschreitende Migration, die in den Hungerjahren ein gewaltiges Ausmaß annahm. Wo das Getreide nicht mehr zu den Konsumenten gelangte, machten sich die Menschen selbst auf den Weg.116 Auch die während der Krise wiederholt durchgeführten grenzüberschreitenden Wallfahrten erregten den Unmut der Behörden. Die berechtigte Besorgnis, dass die Grenzgänger ihre Reisen dafür nutzten, illegal Getreide über die Grenzen aus- und einzuführen, resultierte in peniblen, aber kaum zu kontrollierenden Eigenbedarfsregelungen.117 Berücksichtigt man dieses breite Panorama der Grenznutzung, steht der Vermutung, die Untertanen hätten das Handeln der Obrigkeiten passiv entgegengenommen, eine durchaus eigensinnige Aneignung dieser Vorgaben gegenüber. Von den bürgerlichen Gelehrten, Staatswissenschaftlern und Ökonomen wurden die Sperren daher heftiger Kritik unterzogen. Was ihnen als Verderbnis, als Obrigkeit und Unterschichten. Zur Geschichte der rheinischen Unterschichten gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1990, 199–240. 112 Justus Möser, Gedanken über die Getraidesperre, in: Ders., Sämtliche Werke. Berlin 1842, 49. 113 Anon., Lesenwürdig Berschreibung, o. P.; Hazzi, Betrachtungen, 36; Huhn, Teuerungspolitik, 62 f.; Vogt, Massnahmen 30. Lediglich die Belohnung anonymer Denunzianten brachte zuweilen Erfolg. Vogt, Massnahmen, 31; Zimmermann, Noth, 121. 114 Vgl. SächsHStA, Loc. 34127, Nr. 164a unpag. (Schreiben vom 1.11.1771). Zur Todesstrafe und zur Strafpraxis vgl. FN 70. 115 Vgl. unten Kap. 3.3. 116 Vgl. unten Kap. 2.6. 117 Vgl. die Passvorschriften in HHStA Wien Reichskanzlei, Schwäbische Kreisakten 21 sowie Göttmann, Kreuzschiffe, 171 f.

168

Handeln

Wahn oder gar als eine Art Seuche erschien, war nicht allein die fehlende Effektivität der Sperren, sondern auch der Handlungsspielraum, der sich Fürsten und Untertanen durch ihre Kollusion auf Kosten Dritter bot.118 Den Obrigkeiten erlaubten die Getreidesperren ihre Tatkraft zu inszenieren. Sie stellten den durch die Krise bedrohten Zusammenhalt des Herrschaftsterritoriums zumindest symbolisch wieder her und übersetzten den Gegensatz von reichen und armen Konsumenten in regionale Konkurrenz. Die Grenzposten ließen das eigene Handeln auch dort sichtbar werden, wo die tatsächliche Sicherung der Versorgung die administrativen Möglichkeiten überstieg. Die Sperren halfen, die sonst oft wenig greifbaren Anstrengungen der Regierungen augenfällig zu materialisieren. In dem Wettbewerb um Autorität, den die konkurrierenden geistlichen, ökonomischen und naturalen Deutungsmuster um 1770 ausgelöst hatten, bedeutete dies einen wichtigen legimitatorischen Vorteil. Die Sperren boten zudem einen Vorwand für weitergehende Eingriffe. In vielen Herrschaften rechtfertigten sie die Beschränkung ständischer Privilegien im Inneren. Die profitable Handels- und Marktfreiheit des Landadels geriet zusehends unter Druck.119 Auch im Bereich der Territorialverwaltung erlaubten sie es, dezentralisierte Rechte wieder stärker an die Zentrale zu binden, etwa im Pass- und Zollwesen.120 Die Sperren ließen sich zudem in der Außenpolitik einsetzen und dienten dazu, Druck auf unliebsame Nachbarn auszuüben.121 Damit eröffneten sie den Regierenden trotz ihrer mangelnden Effektivität in der Hunger­bekämpfung ein facettenreiches Machtinstrument. Die Untertanen nutzten diese Maßnahme ähnlich flexibel. Ihnen öffneten die Grenzsperren ebenso viele Räume, wie sie verschlossen. Durch Schmuggel konnten einige hohe Gewinne erzielen, die frei von den sonst so drückenden Zöllen waren. Anderen ermöglichte die Sperre, unpopuläre Abgaben an auswärtige Herren einzustellen. Spielräume ergaben sich aber auch nach Innen. Die mit den Sperren verbundene Aussetzung von Außenhandel und ständischen Privilegien erlaubte es den »Eingesperrten«, Partizipations- und Schutzrechte zu aktivieren, die sonst kaum gewährt worden wären. Die Akteure eigneten sich so die territorialen Grenzziehungen an und deuteten geographische Exklusion erfolgreich in soziale Inklusion um. Auch wenn diese erweiterte Teilhabe nur einen Teil der Bevölkerung abdeckte, erscheint es zweifelhaft, dass Landarme und Unterschichten ohne die Fruchtsperren tatsächlich besser versorgt worden wären. Innerhalb des ständischen Systems 118 Vgl. unten Kap. 4.1. 119 Zu Württemberg vgl. HStA Stuttgart L6 1346 (Verordnung vom 31.8.1770). Klagen mit dem Ziel der Wiederherstellung adeliger Zollprivilegien blieben häufig erfolglos. Zu einem hessischen Fall vgl. HStA Marburg Best 5., 17d von Dalwigk, Nr. 390. 120 Im zersplitterten Franken durften Pässe daher nur noch direkt von der fürstbischöflichen Zentrale ausgestellt werden. Vogt, Massnahmen, 40. 121 Vgl. unten Kap. 5.1.

169

Der Krisenstaat

stellten die Sperren für viele schwächere Marktteilnehmer ein sinnvolles Instrument zur situativen Aktivierung von Fürsorge und zur Verringerung von Kaufkraftkonkurrenzen dar.122 Eine effektivere Möglichkeit, Teilhabe und Entitlements zu aktivieren, bot sich ihnen innerhalb des Getreidestaates nicht. Aus den Grenzen, welche die Sperren zogen, resultierte daher nicht nur Ausgrenzung. Sie markierten zugleich einen Raum symbolischer Inklusion. Sie lassen sich weder auf eine moralische Ökonomie von oben reduzieren noch bildeten sie einen Ort, an dem sich Obrigkeit und Untertanen unversöhnlich gegenüber standen. Was die bürgerlichen Freihändler in ihrer Mittelposition erregte, war gerade die Komplizenschaft von Grenzziehern und Grenznutzern, die hier sichtbar wurde. Die bürgerlichen Reformer kritisierten zu Recht, dass die Sperren bloß weitere und langfristigere Eingriffe nötig machten. Die Bevölkerung verstehe die Verbote nicht als punktuelle Notmaßnahmen. Sie würden vielmehr dauerhaft als eine »Pflicht von der Obrigkeit gefordert, die immer weitere Ausschweiffungen« nach sich zöge.123 Da mit Sperren und Gegensperren auch keine offizielle Zufuhr mehr möglich war, ging die Verantwortung für die Nahrungsversorgung von den Kaufleuten auf die Regierungen über. Den Fruchtsperren mussten daher weitere Maßnahmen etwa zum Aufbau von Speichern folgen, die das Gefüge von Staat, Ständen und Bürgern deutlich verschoben.

1.4. Speichern Die Anlage von Vorräten, Speichern und Magazinen bildete in den gemäßigten Zonen, in denen lange nahrungsarme Winter überbrückt werden mussten, die unumgängliche Voraussetzung für das Überleben. Neben unzähligen Formen kleinteiliger, privater Vorratshaltung existierten in den meisten komplexen Gesellschaften auch staatliche Magazine. Sie begleiteten den Aufstieg der Städte, deren Bevölkerung sich nicht mehr selbst mit Getreide versorgen konnte. Ihre Anlage bildete die Voraussetzung für die Unterhaltung von Bergwerken, Garnisonen und Handelsposten in unwirtlichen Regionen. Während der Frühen Neuzeit wuchsen diese Speicher gemeinsam mit dem frühneuzeitlichen Staat und entwickelten sich zu immer massiveren Bauten. Die Magazine waren darauf ausgelegt, schwere Lasten in zahlreichen niedrigen Stockwerken zu tragen und schützten das zumeist in flachen Kästen aufgeschüttete Korn, durch ein erhöhtes Erdgeschoß und doppelte Mauern vor Feuer, Feuchtigkeit und Schädlingen.124 In ihrer demonstrativen 122 Zu Hinweisen auf preis- und angebotsstabilisierende Wirkungen von Sperren in ex­ trem agonalen Märkten vgl. Göttmann, Getreidemarkt, 218; Kumpfmüller, Hungersnot, 19; Vogt, Massnahmen, 113. 123 Johann Albert Heinrich Reimarus, Die Freiheit des Getraidehandels nach der Natur und Geschichte. Frankfurt a. M., Leipzig 1791, 131. 124 Zur Bau- und Lagertechnik der Zeit vgl. Georg Friedrich Dinglinger, Die beste Art,

170

Handeln

Solidität spiegelte sich aber zugleich die Standhaftigkeit und Fürsorge ihrer städtischen oder fürstlichen Träger wider. Bis ins 19. Jahrhundert lagen diese Bauwerke in unmittelbarer Nähe der Verbraucher und boten so eine willkommene Gelegenheit, öffentlichkeitswirksam Sicherheitsansprüche gegenüber anderen Fürsorgeträgern wie der Kirche zu markieren. Ihre städtebauliche Prominenz verloren die Speicher erst im 19. Jahrhundert, nachdem die Eisenbahn es erlaubte, sie wieder zu den Produzenten aufs Land zu verlegen und kostbaren Stadtraum freizugeben.125 Selbst in den heutigen desaggregierten Märkten unterhalten die meisten Staaten aber weiterhin strategische Getreidelager. In Deutschland regelt ein eigenes Ernährungssicherstellungsgesetz Umfang, Finanzierung und Zugriff auf die an geheimen Orten gelagerten Reserven.126 Bereits in der Entstehungsgeschichte der Speicher scheinen damit zentrale Konfliktfelder auf. Die Magazine entstanden nicht als Fürsorge-, sondern als Herrschaftsinstrumente. Zunächst dienten sie der Lagerung von Zinskorn oder der Ernährung von Soldaten. Ihr Auftreten begleitet zudem das folgenreiche Auseinandertreten von Produzenten und Konsumenten. Die Speicher von Stadt- und Landesherrschaft stellen somit eine heftig umstrittene Schnittstelle militärischer, fiskalischer, ökonomischer und humanitärer Interessen dar. Sie verknüpfen Bauern und Städter ebenso wie Militär und Zivilisten oder Obrigkeit und Untertanen. Wer wieviel Korn an sie abgeben musste und wer es zu welchen Konditionen wieder erhielt, markierte zentrale und konfliktträchtige Prozesse von Inklusion und Exklusion. Wie jede Infrastruktur lassen sich auch diese Magazine daher als materialisierte Aushandlungsprozesse verstehen. Als Teil der gebauten Umwelt, reflektieren sie die sozionaturale Verfasstheit der Gesellschaft. Ihre Architektur prägt die Erwartungen, den Vollzugsrahmen und die Sicherheitsdispositive der Handelnden mit. Im späten 18. Jahrhundert erlebte die Diskussion um die Rolle von Magazinen für Ökonomie, Staat und Vorsorge einen Höhepunkt. Im Zuge der immer umfassender gedachten Konzepte von Ökonomie, der zunehmend fragilen ErnährungsKorn-Magazine und Frucht-Boden anzulegen: auf welchen das Getrayde niemahls, weder vom weissen noch schwarzen Wurm, angestecket werden kann. Eine Preisschrift, Hannover, 1768 sowie François Sigaut, A Method for Identifying Grain Storage Techniques and its Application for European Agricultural History, in Tools & Tillage 6, 1988, 3–32. 125 Zur Geschichte des Kornspeichers vgl. Marceau Gast, François Sigaut, Les techniques de conservation des grains à long terme. Leur rôle dans la dynamique des systèmes de cultures et des sociétés. 2 Bd. Paris 1974; Geoffrey Rickman, Roman Granaries and Store Buildings. London 1971; Peter Garnsey, Famine and Food Supply in the Graeco-Roman World. Responses to Risk and Crisis. Cambridge 1988; Tate Sewell Paulette, Grain Storage and the Moral Economy in Mesopotamia (3000–2000). PhD Diss., Univ. of Chicago 2015; Volker Reinhardt, Überleben in der frühneuzeitlichen Stadt. Annona und Getreideversorgung in Rom, 1563–1797. Tübingen 1991; Pierre-Étienne Will, R. Bin Wong, Nourish the People. The State Civilian Granary System in China, 1650–1850. Ann Arbor 1991. 126 Karen Horn, Staatliche Vorsorge. Deutschland auf der Erbse, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.5.2005.

Der Krisenstaat

171

situation und des wachsenden Anspruchs an die herrschaftliche Policey spielte das Magazin eine zentrale Rolle – oftmals weit über die reine Nahrungsversorgung hinaus.127 Die Vorstellung, mithilfe großer Speicher in den Markt einzugreifen und mit antizyklischen Käufen den für alle Lebensbereiche so zentralen Getreidepreis zu steuern, faszinierte Ökonomen und Kameralisten. Viele forderten, den Preis mithilfe gezielter Magazinkäufe künstlich anzuheben, um so den Landbau zu fördern und gleichzeitig zu verhindern, dass man sich »in wohlfeilen Zeiten […] mit faulen und ungehorsamen Bedienten plagen« muss.128 Weitaus mehr Stimmen verlangten, den Preis künstlich zu senken, um so Gewerbe, Konsumenten und Handwerk zu stützen.129 Der Großteil der Diskutanten forderte aber, die Staatsmagazine zum Ausgleich von Schwankungen einzusetzen und über den gezielten An- und Verkauf einen ›gerechten‹ Preis zu stabilisieren. Diese Idee fand selbst bei einigen Physiokraten Anklang, die zwar dem Freihandel positiv gegenüber standen, mögliche Exzesse aber auch weiterhin korrigieren wollten.130 In den Krisenjahren intensivierte sich die Debatte noch. Magazine spielten eine zentrale Rolle in den Beratungen der Hungerkommissionen, den Forderungen der Untertanen, in den Zeitschriften oder den Preisfragen der Akademien.131 Die breite Zustimmung resultierte auch aus der Tatsache, dass dieses Vorsorge 127 Zur zeitgenössischen Ausweitung der Magazinidee auf alle lebensnotwendigen Dinge vgl. etwa Johann Bernhard Basedow, Anschläge zu Armen-Anstalten wider die Betteley, besonders in mittelmäßig-großen Städten. Dessau 1772, 31 f. Eine zeitgenössische Bibliographie des Themas bietet: Johann Traugott Müller, Einleitung in die Oekonomische und Physikalische Bücherkunde und in die damit verbundenen Wissenschaften bis auf die neuesten Zeiten, Bd. 2. Leipzig 1782, 109–118. 128 [Anon.], Untersuchung: Ob es möglich und vortheilhaft ist, das ein Landesherr das Korn immer in erträglichem Preisse erhalte, und wie derselbe beschaffen seyn müsse?, in: Physikalische Belustigungen 12, 1752, 131–137, hier 136. 129 Johann Heinrich Gottlob von Justi, Herrn von Justis Abhandlung von dem Unterhalt des Volkes, in: Anon. (Hrsg.), Von Getreydemagazinen, von Lebensmitteln und von dem Unterhalt des Volkes. Frankfurt a. M. 1771, 67–112, hier 102. 130 Ebd. sowie Johann Heinrich Bergius, Abhandlung von Magazinanstalten, in: Anon. (Hrsg.), Von Getreydemagazinen, von Lebensmitteln und von dem Unterhalt des Volkes. Frankfurt a. M. 1771, 4–30 sowie Joseph von Sonnenfels, Politische Abhandlungen. Wien 1777, 376– 381. 131 Die wichtigsten Argumente pro und contra in: Johann Albert Heinrich Reimarus, Preisschrift über die, von der K. Societät der Wissenschaften zu Göttingen aufgegebene Frage: In wie fern und unter welchen Umständen die Anlegung beträchtlicher öffentlicher Kornmagazine dem Kornhandel und dem Lande überhaupt nachtheilig oder nützlich oder gleichgültig sey? […], in: Hannoversches Magazin 10, 1772, 1057–1070 und 1073–1082; Johann Ludwig Friedrich Scharnweber, Fortgesetzte Untersuchung der wichtigen Fragen: Ob es besser sey, ganze Länder durch Anlegung und beständige Unterhaltung obrigkeitlicher Magazine zu versorgen oder ob es rathsamer sey, des Endes den freyen Kornhandel uneingeschränkt zu verstatten und zu begönstigen […]. Göttingen 1773 sowie in: [Adam Friedrich Ernst Jacobi], Plan zu einem Societätsmagazin, in: Hannoversches Magazin 11, 1773, 1515–1520 und in: Churbaierische Intelligenzblätter, 1773, 313–315.

172

Handeln

instrument, anders als die in dieser Zeit ebenfalls entstehenden finanzbasierten Versicherungen, materiell greifbar blieb und auf konkreten Vorbildern aufbauen konnte.132 Zu Beginn der Krise waren landesweit koordinierte Speichersysteme allerdings nur in den wenigsten Territorien vorhanden. Größere Magazine in öffentlicher Trägerschaft existierten vor allem in bedeutenden Städten und auch sie dienten nicht primär der Krisenbekämpfung. In den Notjahren wurden daher vielfach ad-hoc Magazine angelegt, um die bestehende Infrastruktur auszubauen.133 Als Vorbild galt vielen Obrigkeiten der vielleicht umfassendste europäische Versuch eines zentralisierten Speichersystems: das Preußische Staatsmagazinwesen des 18. Jahrhunderts.134 Auch in Preußen lag die Aufgabe der Magazine ursprünglich aber keineswegs in der Wohlfahrt, sondern in der Notwendigkeit, eine große und zunehmend mobile Armee zu versorgen.135 Ihre enormen Unterhaltskosten in Friedenszeiten inspirierten jedoch immer wieder komplementäre Funktionen. Als Friedrich II. seine Regierung im Jahr 1740 mitten in einer schweren europaweiten Teuerung antrat, begann ihre Nutzung als Symbol landesväterlicher Fürsorge. Eine seiner ersten Amtshandlungen bestand in der feierlichen und publizistisch flankierten Öffnung der Magazine (Abb. 6). Nur wenige Monate später spielten die Speicher eine zentrale Rolle im Ersten Schlesischen Krieg, in dem sie die schwierige Ernährung der preußischen Besatzungstruppen gewährleisteten. Die 32 daraufhin erbauten Großmagazine verzehnfachten die Speicherkapazität des Staates und leisteten Friedrich II. sowohl im Siebenjährigen Krieg als auch in der anschließenden schweren Teuerung wertvolle Dienste.136 Zu Beginn der Hungerkrise der 1770er Jahre war ihr vermeintlicher Vorsorgecharakter so bekannt, dass sie den bayerischen und österreichischen Verwaltungen als logische Inspiration für die eigenen Magazinpläne erschien.137 Diese Wahrnehmung wurde durch Friedrich II. tatkräftig unterstützt. In seiner selbstverfassten »Geschichte meiner Zeit« beschrieb er ihre zentrale Stellung in den Krisenjahren folgendermaßen:

132 Zum Prozess der Versicherheitlichung dieser Zeit vgl. Zwierlein, Prometheus. 133 Etwa in Gotha (ThStA Gotha, GA, UI Nr. 77b), Münster (Huhn, Ernstfall, 243), Bonn (Schlöder, Bonn, 269), Genf (Laurence Wiedmer, Un débat autour de stockage des grains à Genève. La construction du grenier à blé de Rive (1760–1775), in: Liliane Mottu-Weber (Hrsg.), Mèlanges d’histoire économique offerts au professeur Anne-Marie Piuz. Genf 1989, 281–298) oder in Bayern (s. u.). 134 Einen Überblick bietet Atorf, König sowie Skalweit, Getreidehandelspolitik. Als vergleichbarer zeitgenössischer Speicherstaat erschien den Zeitgenossen lediglich Bern. Korn, Briefe 47. Zur Berner Speicherpraxis vgl. Brandenberger, Ausbruch. 135 Friedrich II., Politische Correspondenz Friedrichs des Großen. Hrsg. von Gustav Berthold Volz u. a., 48 Bd. Berlin 1879–2015, hier Bd. 31, 584, 640 sowie ebd., Bd. 32, 242, 298, 400, 416. 136 Atorf, König, 182, 214; Skalweit, Getreidehandelspolitik, 63. 137 Kumpfmüller, Hungersnot, 53; Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 123.

Der Krisenstaat

173

1770 entstand in ganz Nordeuropa eine große Teuerung […]. Der König aber hatte große Vorratsmagazine in Schlesien und in seinen Erblanden angelegt […]. Diese weisen Vorkehrungen beschützten das Volk vor der drohenden Hungersnot […]. Die Leiden, die die Untertanen anderer Mächte zu erdulden hatten, rührten daher, daß in keinem Lande, außer in Preußen, Magazine vorhanden waren. Hier allein war man gegen die Notlage gerüstet und konnte sie durch Maßregeln beheben, die die Klugheit diktiert hatte.138

Diese Darstellung haben nicht nur die Zeitgenossen, sondern auch die borrusophilen Historiographien späterer Jahrhunderte weitgehend übernommen. Sie charakterisierten Preußen in den Hungerjahren entgegen der demographischen und historischen Daten als »Insel der Sicherheit«.139 In der Praxis standen auch die preußischen Speicher am Beginn der Krise halb leer. Den verantwortlichen Militärs erschien die mühsame Pflege der Magazine in Friedenszeiten wenig prestigeträchtig. Bestärkt wurden sie in ihrer Haltung durch unwillige Grundherren und Getreidehändler.140 Die steigende Flut von verzweifelten Supplikationen richtete sich daher nicht an die lokalen, mit Getreidehandel und -produzenten eng verbundenen Verwalter, sondern direkt an den Landesherrn. Zu Beginn der Hungerkrise musste Friedrich die verzweifelten Bitten um Magazinkorn jedoch brüsk zurückweisen: »Meine Magazine sind leer. Ist nichts mehr vorhanden.«141 Eine ›Lösung‹ ergab sich erst, als der König auf dem Höhepunkt der Krise unter einem Vorwand Teile Polens besetzte und dort große Mengen Getreide gewaltsam requirieren ließ. Die Magazine mutierten so von vermeintlichen Speichern zu Durchgangslagern für polnisches Beutegut.142 Friedrich II. nutzte diese Vorräte intensiv für die Selbstdarstellung als Landesvater. Tatsächlich geschützt wurde aber nur das Überleben weniger privilegierter Gruppen. Gegen die allgemeine Teuerung halfen die Magazine kaum und waren dazu trotz gegenteiliger Propaganda auch nicht gedacht, wie Friedrich insgeheim eingestand.143 Die Preise stiegen in Preußen ähnlich wie im restlichen Reich und führten zu großer Not.144 Neben den öffentlichen Fürsorgeversprechen muss daher immer auch die Magazinpraxis in den Blick genommen werden. 138 Gustav Volz, Friedrich von Oppeln-Bronikowski (Hrsg.), Die Werke Friedrichs des Großen, Bd. 5. Berlin 1913, 63 f. 139 Ernst Hinrichs, Rezension von: Skalweit, Getreidehandelspolitik, in: Historische Zeitschrift 148, 1933, 359. 140 Skalweit, Getreidehandelspolitik, 75–77, 281–283. 141 GStA PK, I. HA, Rep. 96B Nr. 139, fol. 315. 142 Vgl. unten Kap. 5.3. 143 Die Bewerbung der Magazine als Fürsorgeeinrichtung überzeugte sogar die eigenen Beamten, so dass Friedrich gezwungen war, sie intern zu korrigieren. Seinen Ministern schrieb er: »Meine Kriegsmagazine [sind] gar nicht in der Absicht angeleget, den Untertanen Brot- und Futter, auch sogar Sommerkorn […] zu fournieren […] auch das platte Land zu ernähren [ist Mir] schlechterdings nicht möglich. GStAPK, I. HA, Rep. 96 B Nr. 72 (1771), p. 37. 144 Ulrich Kluge, Hunger, Armut und soziale Devianz im 18. Jahrhundert. Hungerkrisen, Randgruppen und absolutistischer Staat in Preußen, in: Freiburger Universitätsblätter 26, 1987, 61–91.

174

Handeln

Abb. 6: Johann David Schleuen, Huldigung Friedrich II. (Mitte) mit Öffnung der Getreide­ magazine (unten) im Jahr 1740.

Der Krisenstaat

175

In den historischen Getreidegesellschaften wurden in den Planungen regelmäßig enorme Zeiträume diskutiert, welche die Speicher in Mangelzeiten überbrücken sollten. Im alten China betrachtete man Vorräte für neun Jahre als ideal, während man drei Jahre als Minimum für eine stabile Regierung ansah. Im christlichen Europa galten die sieben Jahre der biblischen Josephsgeschichte oft als Vorbild.145 In der Krisenzeit zielte man in Tirol und Bern immerhin noch darauf, den lokalen Verbrauch von drei Jahren vorzuhalten. Die tatsächlichen Speicherstände fielen jedoch überall beträchtlich niedriger aus. Das Berner Stadtmagazin enthielt lediglich für drei statt für die vorgesehenen 36 Monate Vorrat. In österreichischen Städten wurde selbst diese Menge verfehlt.146 Allzu oft fanden die Obrigkeiten die Speicher zu Beginn der Katastrophe in katastrophalem Zustand vor. Viele Vorräte waren verdorben, heimlich verkauft oder von Schädlingen verzehrt worden. In vielen Fällen standen die Speicher nahezu leer.147 Erstaunlich häufig stellte man in den Regierungszentralen auch fest, dass Magazine, die man in der vorrausgehenden Teuerung hatte errichten lassen, in der Zwischenzeit aufgegeben oder ganz verschwunden waren.148 Die preußischen Probleme mit der Pflege der Magazine waren also kein Einzelfall.149 Die Gründe für dieses flächendeckende Versagen waren vielfältig. Die Anlage umfassender Vorräte war extrem teuer. Selbst China, ein veritabler ›Speicherstaat‹, der ein Viertel seiner gesamten Steuereinnahmen für enorme Getreidemagazine aufwandte, konnte damit nur drei Prozent des Jahresverbrauchs vorhalten. Eine 145 Will, Wong, Nourish the People, 2, 15; Paul Jacob Marperger, Das in Theuerung und Mißwachs-Zeiten Neueröffnete Proviant-Hauß. Nach Veranlassung Der in denen Sieben Egyptischen fruchtbaren und auch so vielen mageren Jahren gebrauchten Josephinischen Vorsichtigkeit Auch Cammeralischen und politischen Staats-Klugheit beschrieben […]. Dresden 1722; Anon., Wohlgemeynte Gedanken über die Frage: Ob es einem Lande nützlich sey, daß man die Ausfuhre des Getraides aus demselben verbiete, in: Erfurtisches Intelligenzblatt 7, 16.2.1771, 84–94, hier 93. 146 Brandenberger, Ausbruch, 381; Kumpfmüller, Hungersnot, 51, 92. In Schweden und Finnland hielten die Staatsmagazine nur einen Vorrat für einige Tage vor, der eher als Saatguthilfe gedacht war. Huhtamaa, Crises. Lediglich in ausgesprochenen Handelsstädten wie in Bremen lagerte in städtischen Speichern tatsächlich ein ganzer Jahresvorrat. Heinrich Sasse, Die Kornteuerungspolitik Bremens im 18. und 19. Jahrhundert. Diss. Münster 1922, 27. Einen Überblick über Ausmaß und Formen der Lagerhaltung bietet: Karl Gunnar Persson, Grain Markets in Europe, 1500–1900. Cambridge 1990. 147 So etwa in Sachsen, Böhmen, Bayern und Hannover: HStA Dresden Loc. 3622, A 24 A, Nr. 50 (Magazin Torgau) und Loc. 34127, Nr. 118a (Magazin Großenhain); Goldman, Hatzfeld, 74; Reinhard Oberschelp, Niedersachsen 1760–1820. Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur im Land Hannover und Nachbargebieten, Bd. 1. Hildesheim 1982, 77; Derflinger, Hungersnot, 16. In Salzburg stieß man nur noch auf verschimmeltes Getreide. Ebd., 3. 148 Zimmermann, Noth, 117; Post, Status, 263. 149 Zu ähnlichen Problemen in Schweden vgl. etwa Bengt Åke Berg, Volatility, Integration and Grain Banks. Studies in Harvests, Rye Prices and Institutional Development of the Parish Magasins in Sweden in the 18th and 19th century. Diss. Stockholm 2007. Die Anlage strategischer Speicher – etwa der UN strategic grain reserve – bleibt bis heute extrem störanfällig. Fraser, Rimas, Food, 66 f.

176

Handeln

mehrjährige Reserve bewegte sich, wie bereits einige Zeitgenossen ausrechneten, jenseits der Möglichkeiten des frühneuzeitlichen Fiskalstaates.150 Auch bei weit geringeren Speichermengen bot der hohe Wert des Getreides dauernden Anlass für Konflikte und Korruption. Während die Bevölkerung die Verantwortung für die Brotversorgung bei ihren Landesherren verortete, lag die Verwaltung der Speicher bei lokalen Beamten, die sich dieser Asymmetrie nur allzu bewusst waren.151 Bereits ein mittelgroßes Magazin, wie das in Rohrschach, beschäftigte 98 Personen, von denen viele über einen großen Ermessenspielraum verfügten.152 Die Grauzonen wurden durch die ambivalenten und zuweilen widersprüchlichen Zielvorgaben für die Magazine noch beträchtlich vergrößert. Die Speicher sollten gleichermaßen Gewinn für die herrschaftliche Kammer abwerfen und der Fürsorge dienen. Sie sollten Preisschwankungen ausgleichen, ohne jedoch den Bauern, den Konsumenten oder den herrschaftlichen Einnahmen zu schaden. Sie sollten den eigenen Unterhalt aus dem Verkauf von Getreide finanzieren und zugleich Vorräte für Krisenzeiten vorhalten.153 Solche Zielkonflikte bereiteten überall Korruption und Vorteilsnahme den Weg. Beschwerden über Bestechung, Betrug und Filz gehörten daher zur Tagesordnung. Alltägliche Praktiken, wie der illegale Handel mit Speichergut, gerieten jedoch oft erst in der Krise ans Tageslicht.154 Zudem litten die Magazine an praktischen Problemen. Die Lagerung von Getreide bedeutete einen hohen Arbeitsaufwand. Es musste ständig unter großem Aufwand gewendet und auf Ungeziefer kontrolliert werden. Da diese Arbeit in guten Jahren aber kaum Anerkennung fand, wurde sie oft nur nachlässig ausgeführt. Lagerschäden und vermeidbare Verluste von bis zu einem Drittel des Bestands blieben daher keine Seltenheit.155 Auch stieß die Ablieferung ans Magazin immer wieder auf Unmut. Zur Abgabe verpflichtete man zumeist nur die einfachen Bauern, während die Stände ausgenommen blieben. Gerade die kleinen 150 Carol H. Shiue, Local Granaries and central Government Disaster Relief. Moral Hazard and Intergovernmental Finance in Eighteenth and Nineteenth Century China, in: Journal of Economic History 64.1, 2004, 100–124, hier 105. Zeitgenössische Rechenbeispiele in: Reimarus, Preisschrift, 1059 f. In Tirol kalkulierte die Regierung einen umfassenden Vorrat mit utopischen Kosten von 1,5 Millionen Gulden pro Jahr. Kumpfmüller, Hungersnot. 92. 151 Grundsätzliche Ausführungen zu konfligierenden Verwaltungsebenen und Missmanagement in: Shiue, Granaries. 152 Karl Heinrich Rau, Lehrbuch der politischen Ökonomie, Bd. 2. Leipzig 1862, 288. 153 Zu Zielkonflikten vgl. A. H. Wagemann, Land Kornmagazin in der Hessischen Grafschaft Schaumburg, in: Göttingisches Magazin für Industrie und Armenpflege 5, 1802, 265–273, hier 266, 270 und [Karl Gottfried Rimrod], Ein Vorschlag zu Anlegung eines öffentlichen Getreydemagazins, zu Jedermanns Vortheil und Niemandes Nachtheil. Leipzig 1772. 154 Zu einem hessischen Rentmeister, der 1771 von der Teuerung überrascht und wegen heimlichen Verkäufen entlassen und zu Gefängnisstrafe verurteilt wurde, vgl. HStA Marburg Best. 5, Nr. 13164. Zur alltäglichen Korruption vgl. Wagemann, Kornmagazin, 272; Bergius, Abhandlung, 28–30; Georg Friedrich Wehrs, Ökonomische Aufsätze. Schwerin, Wismar 1791, 143; Skalweit, Getreidehandelspolitik, 68. 155 Kumpfmüller, Hungersnot, 97; Hazzi, Betrachtungen, 141; Sigaut, Method.

Der Krisenstaat

177

Produzenten empfanden die langen Lieferwege jedoch als große Last und schickten nur das schlechteste Erntegut dorthin. Selbst die Abnehmer mussten zuweilen zum Kauf gezwungen werden, da sich viele Bäcker weigerten, minderwertiges Magazinkorn zum Festpreis anzunehmen. Immer wieder reagierte man vor Ort mit dem gezielten Vergessen von Lieferverpflichtungen, dem strategischen Verweis auf die Machtlosigkeit weltlicher Schutzmaßnahmen gegen Gottesstrafen und dem verdeckten Boykott der ungeliebten Einrichtungen.156 In den Teuerungsjahren verfügte daher kaum eine Administration über größere Speicherbestände. Zumeist mussten Magazine neu angelegt werden. Sie sollten nun das Getreide aufnehmen, das bei Visitationen aufgefunden oder auf anderen Wegen verfügbar wurde. Diese Speicher entstanden nach einigem Vorlauf in zahlreichen Territorien. Unter dem Druck der Krise potenzierten sich jedoch die üblichen Konflikte um Lieferpflichten, Vergütung und Zwangsabgaben. In Münster wehrte sich der Landadel erfolgreich dagegen, doch noch zur Magazinlieferung herangezogen zu werden. In Österreich mussten die Speicher sogar nahezu vollständig aufgegeben werden, da es an Beschickern fehlte. Auch in Sachsen trafen Lieferungen nur in Kleinstmengen ein und konnten den Abgang nicht einmal Ansatzweise ersetzen.157 Dort wo Magazine dennoch eingerichtet wurden, konnte man der tatsächlichen Konfusion bei Ab- und Ausgabe selbst durch enorme Bürokratisierungsanstrengungen kaum abhelfen. Penible Anweisungen an die Aufseher oder vorgedruckte Formulare mit genauen Erläuterungen der Modalitäten halfen in der akuten Notlage kaum, das Prozedere zu vereinheitlichen. Immer wieder musste man feststellen, dass Ausgaben an die Notleidenden jenseits der Vorgaben und ohne Nachweis geschahen.158 Mit der Krise änderte sich der Charakter der Magazine daher grundlegend: Sie dienten nicht mehr der Vorratshaltung, sondern der Umverteilung. Mit ihrer Hilfe versuchten die Obrigkeiten weite Teile der Nahrungsversorgung ihrer Kontrolle zu unterstellen. Mit der Anlage dieser Notmagazine ging jedoch ein ganzes Bündel unintendierter Konsequenzen einher: Verteilte man das Magazingetreide zu freigiebig, wurde es durch Spekulanten aufgekauft und außer Landes geschafft. Gab man es nur gegen genaue Kontrolle aus, schädigte man den privaten Handel und riskierte, den Mangel damit mittelfristig sogar noch zu vergrößern. Kaufte man das nötige Getreide öffentlich auf den Märkten ein, drohte man die Preisspirale noch anzuheizen und Mitnahmeeffekte zu ermuntern. Besorgte man es hingegen stillschweigend, riskierte man, mit den nötigen Transaktionen und Transporten wilde Gerüchte und Widerstand zu schüren. Hinzu kam das Paradox vieler Sicherheitsmaßnahmen: Das Gefühl von Sicherheit verleitet zu riskantem Verhal 156 Kumpfmüller, Hungersnot, 24 f., 51–53, 125. 157 Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 134, FN 3; 158 Vorgedruckte »Borgzettel« finden sich etwa in: HStA Hannover, Hann. 74 Göttingen 3389 (11.4.1772) oder HStA München, GR 819.43. In der Praxis waren trotzdem undokumentierte Entnahmen an der Tagesordnung: HStA Hannover, Hann. 74 Göttingen 3377 Verordnungen vom 30.5.1772 und vom 15.10.1772 sowie HStA Dresden Loc. 34127 Nr. 118.

178

Handeln

ten. Der vermeintliche Schutz des Magazins konnte dazu ermuntern, private Vorräte leichtsinnig zu verringern.159 Die enormen Herausforderungen, die auf die Obrigkeiten zukamen, lassen sich etwa in Bayern beobachten.160 Das Land verfügte zum Beginn der Krise über keine landesherrliche Speicherstruktur. Am 5.10.1771 beschloss man, angeregt vom vermeintlichen preußischen Vorbild, die Neuanlage landesweiter Magazine.161 Bauern mussten nun einen festgelegten Teil ihrer diesjährigen Ernte in bis zu 20 Kilometer entfernte Zentralmagazine liefern, während die Stände nur zu freiwilligen Abgaben aufgefordert wurden. Da es an Bargeld mangelte, bezahlte man die Abgaben mit Schuldscheinen, die später weit unter Marktpreis gegen die fälligen Steuern verrechnet werden sollten. Die tatsächliche Zulieferung blieb entsprechend gering, hatte aber zur Folge, dass sich die Verantwortung für die Nahrungsversorgung in den Augen der Bevölkerung von den lokalen Grundherren zum Kurfürsten verlagerte. Die Last der Abgaben war extrem asymmetrisch verteilt. Jene 10 Prozent der Bauern, die direkt unter kurfürstlicher Gerichtsbarkeit standen, mussten fast 50 Prozent der Abgaben liefern. Adel und Geistlichkeit trugen hingegen fast nichts bei. Ihre Erntequoten aus früheren Jahren blieben in der Verwaltung während der Krise unauffindbar, so dass eine Überprüfung scheiterte. Obwohl das eingelieferte Korn von durchweg schlechter Qualität war, gab man nahezu die Hälfte als Saatkorn aus. Der Rest kam – geschützt von bewaffneten Transporten – vor allem der Hauptstadt zugute. Im ersten Jahr geschah dies in Form direkter Hilfen, im zweiten hoffte man stattdessen, allein mit verbilligtem Korn den Marktpreis drücken zu können, erreichte dafür aber nicht die nötige Marktquote. Genauere Aufzeichnungen über die Verteilung existierten, möglicherweise absichtsvoll, nicht. Die Bevölkerung in den Landstädten wehrte sich mit harten Worten gegen das Handeln der Münchener Hofkommission. Sie beschuldigten die Regierung mit den Magazinen den Bauern das wenige Getreide, dass sie hatten, abgezwungen zu haben, um hernach die Hauptstadt damit zu futtern, damit die hohen Herren noch oben hin gut stehen und sie durch kein Geschrey von Hungernden mehr in ihrem beschaulichen Schlaf gestört werden, ganz gleich was im übrigen Land geschieht.162

Durch die niedrige Vergütung handele es sich bei den Magazinlieferungen de facto um eine verdeckte Abgabe, die nahezu die Höhe der Landsteuer erreiche. 159 Vgl. Felix von Cube, Gefährliche Sicherheit. Die Verhaltensbiologie des Risikos. München 1990. Friedrich II. befürchtete daher zu Recht, dass seine bekannten Magazine konträre Wirkungen entfalteten: »[…] die Leute haben so schlechte Ernte nicht gehabt […]. Sie müssen das Korn nach Sachsen verkaufft haben und denken es aus dem Magazin […] wiederzuerhalten.« GStA PK, I. HA Rep. 96B Nr. 140, fol. 244r. 160 Einzelbelege für das Folgende in: Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 121–143. 161 Ausschreiben in HStA München, GR 819.44 1/2. 162 Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 131.

Der Krisenstaat

179

Sie bewirke zudem keine Verbreiterung der Anrechte auf Nahrung, sondern nur eine Umverteilung zuungunsten der Landbevölkerung. Eine zweite Magazinordnung im Oktober 1772 versuchte einige Missstände, insbesondere im Verhalten der Magazinverwalter, abzustellen, bestätigte aber zugleich die Privilegien der Stände. Am Ende der Hungerjahre hatten die Magazine kaum die Hälfte der kalkulierten Lieferungen erhalten – viel zu wenig, um die erhoffte Steuerungswirkung zu erzielen. Auf die Preisgestaltung nahmen sie, wenn überhaupt, eher einen negativen Einfluss, indem sie die Kosten sogar noch in die Höhe trieben. Ihr weitgehender Misserfolg gab in den Folgejahren freihändlerischen Positionen deutlichen Auftrieb.163 Neben der zeitweisen Besänftigung der explosiven Lage in München lag ihr größter Effekt vermutlich im symbolischen Bereich: Sie demonstrierten in der Krise obrigkeitliche Handlungsbereitschaft, allerdings um den Preis, dass die Untertanen diese Fürsorge auch bei der fürstlichen Regierung verorteten, statt bei ihren Grundherren. Die Verteilung des Magazinkorns erwies sich nicht nur in Bayern als ebenso konfliktträchtig wie die Einlieferung. Überall stritt man darüber, wer von den Magazinen profitieren und wer ausgeschlossen bleiben sollte. In Bremen störte die Bevölkerung, dass der Rat auch die Untertanen außerhalb der Stadtmauern mitversorgen wollte. In Österreich wehrten sich »die von Wien« heftig gegen Lieferungen an das Umland.164 Das Anrecht auf Magazinkorn materialisierte in den Notzeiten überall soziale In- und Exklusion. In den meisten Fällen bestärkten die Speicher bestehende Asymmetrien, anstatt sie auszugleichen. Nutznießer war fast überall die Bevölkerung der Hauptstädte, dem Fürsten nahestehende Gruppen und vor allem das Militär.165 Weitgehend ausgeschlossen blieben hingegen die Landbevölkerung, die peripheren Hungergebiete, die städtischen Unterschichten und die vielen Migranten. Während preußische Soldaten mit ihren Magazindeputaten einen schwungvollen Handel trieben und Reservisten sich selbstständig einzogen, um an der privilegierten Versorgung zu partizipieren, blieben die Hungernden in Stadt und Land auf informelle Hilfen angewiesen.166 Karitativen Zwecken dienten die Speicher nur in Ausnahmefällen.167 Die Ausgabe aus zivilen Magazinen erfolgte zumeist an Bäcker mit der Maßgabe, daraus Brot leicht unter dem Marktpreis zu produzieren. In einigen Fällen verkaufte man das Getreide auch. Dies geschah zumeist etwas günstiger 163 Ebd., 142. 164 Sasse, Kornteuerungspolitik, 88–98; Kumpfmüller, Hungersnot, 51. 165 Vgl. zum Fokus auf der Residenzstadt: Derflinger, Getreideteuerung, 8; Kaplan, Bread; Jacques Revel, Les privilèges d’une capitale. L’approvisionnement de Rome à l’époque moderne, in: Annales. Histoire, Sciences Sociales 30, 1975, 563–574. Zur Bevorzugung des Militärs: Rankl, Politik, 768; Zimmermann, Noth, 118. Zur Privilegierung von Oderkolonisten, Gewerbestädten und der Armee in Preußen: Skalweit, Getreidehandelspolitik, 294–299, hier 302 f. 166 Skalweit, Getreidehandelspolitik, 107, 312. 167 Vgl. für Münster Huhn, Ernstfall, 244.

180

Handeln

als über den Markt. Für die wirklich Armen waren aber auch diese Preise kaum erschwinglich. Nur in wenigen Ausnahmefällen verteilte man das Getreide als direkte Hilfe umsonst oder gegen Schuldscheine an Bedürftige. Angesichts der Notsituation, der Funktionskonkurrenz der Speicher und des Eigensinns der Hungernden drohten solche Ausgaben aber rasch zu eskalieren und die Magazine völlig zu entleeren. Kurhannover etwa versuchte jede unentgeltliche Nothilfe streng zu begrenzen. Gleichzeitig erklärte man, dass die Rettung von Personen vor dem direkten Hungertod »keinem Beamten soll zur Last gelegt werden« und deutete für den Fall, dass jemand »wegen Hungers umkommen sollte« sogar demonstrativ Strafen an.168 In Folge dieser konkurrierenden Vorgaben stieg der unentgeltliche und weitgehend undokumentierte »Korn-Verborg« so stark an, dass die Magazine kurz vor dem Zusammenbruch standen.169 Eine umfassende Versorgung durch die Magazine blieb hier ebenso wie in den anderen Territorien Utopie. Stattdessen spiegelte sich in den direkten Hilfen der Klientelismus der frühneuzeitlichen Gesellschaften wider. Der Nutzen der Magazine blieb daher unter den Zeitgenossen umstritten. Dass die Speicher trotz der Kosten, Konflikte und Misserfolge einen Schwerpunkt obrigkeitlichen Krisenhandelns bildeten, verdankten sie weniger ihrer technischen Effizienz in Notzeiten als ihren kommunikativ-theatralischen Leistungen. Die Speicher dienten der Inszenierung landesväterlicher Tatkraft und der Performanz von Inklusion und Exklusion. Zudem beruhigten sie potentiell die fragilen Märkte. Da Hungersnöte nicht nur durch klimatische, sondern auch durch soziale Faktoren geformt werden, besaßen diese Effekte durchaus pragmatisches Potential. Die psychologische Wirkung von Speichern wurde bereits von den Zeitgenossen beschrieben. Sie beobachteten besorgt, dass die Furcht vor dem Mangel ebenso verheerende Folgen zeitigen konnte, wie der Mangel selbst.170 Hamsterkäufe und das Horten von Getreide stellten angesichts der extrem agonalen Marktbedingungen typische Reaktionen auf Knappheit dar. Zur Krisenbewältigung gehörten daher neben physischen auch vertrauensbildende Maßnahmen. In diesem Rahmen ließen sich Magazine nutzen, um den Markt zu beruhigen, zuvor zurückgehaltenes Getreide wieder in Umlauf zu bringen und so doch noch praktisch wirksam zu werden. Beispiele für diese Nutzung finden sich bereits im alten Rom.171 Während der Hungerjahre berichtete man von ähnlichen Kunstgriffen 168 HStA Hannover, Hann. 74 Göttingen 3389, Verordnung vom 19.3.1772 und ebd., Hann. 74 Göttingen 3377, Verordnung vom 28.2.1772. 169 HStA Hannover, Hann. 74 Göttingen 3389, Verordnung vom 23.6.1772 sowie ebd., Hann. 74 Göttingen 3377, Verordnungen vom 30.5.1772 und vom 15.10.1772. 170 Otto von Münchhausen, Der freye Kornhandel als das beste Mittel um Mangel und Theurung zu verhüten; zur Warnung auf künftige Zeiten aus der Erfahrung und aus neuen Gründen erwiesen. Hannover 1772, 21. Vgl. auch: [Fischer], Genuine Nachricht, 482. 171 Kaiser Augustus schrieb man zu, eine drohende Hungersnot dadurch abgewandt zu haben, dass er altes Magazinkorn demonstrativ im Tiber vernichten ließ – angeblich um Platz für

Der Krisenstaat

181

aus Neuwied. Als sich dort ein Mangel abzeichnete, habe der Graf »unter Trommelschlag« die bevorstehende Ankunft holländischer Lieferungen angekündigt und es jedem freigestellt, in der Zwischenzeit Früchte aus seinem Magazin abzuholen. Damit sei die Zuversicht der Öffentlichkeit so sehr gestärkt worden, dass der Markt wieder beschickt wurde, während der Speicher ungenutzt blieb. Allein durch die strategische Kommunikation habe man »Früchte genug [besorgt], ohne sie zu erschaffen«.172 Aus dem gleichen Grund behandelte Friedrich II. den Pegel seiner Magazine als Staatsgeheimnis, um Marktteilnehmer über seine Möglichkeiten im Dunkeln zu lassen und selbst mit geringen Vorräten steuernd eingreifen zu können.173 Angesichts der undurchsichtigen Marktverhältnisse erscheint ein solcher Effekt durchaus denkbar, obgleich er in den Quellen nicht empirisch nachzuweisen wäre. Die Zeitgenossen hielten diese symbolisch-kommunikative Wirkung auf jeden Fall für plausibel. Weitaus mehr Widerspruch zog eine andere Nutzung der Magazine auf sich: Die Instrumentalisierung für herrschaftliche Kontrolle und Selbstinszenierung. Offiziell entzündete sich die Kritik daran, dass die Magazine die in sie gesetzten großen Hoffnungen als Preisregulatoren nicht erfüllen konnten. Im Umfeld der Verwaltungen versuchten Anhänger physiokratischer Ideen, diese Misserfolge zu nutzen, um für den Freihandel zu werben. In ihren Augen behinderten die Magazine den Handel, wodurch sich die Abhängigkeit von obrigkeitlichen Hilfsmaßnahmen eher noch vergrößere. Herrschaftliche Speicher beschnitten die Profite der Landwirte, verminderten dringend nötige Investitionen in die Landwirtschaft und drohten, den Umfang der privaten Vorratshaltung mittelfristig noch zu verringern. Damit liefen sie letztlich Gefahr, die Hungersnot erst zu erzeugen, die sie eigentlich verhindern sollten. Ihr Urteil fiel entsprechend scharf aus: Ihr Wortführer Reimarus bilanzierte, dass die Magazine weit »mehr Schaden als Nutzen« stifteten. Laut Krügelstein dienten sie der Obrigkeit bloß zur »Vergrößerung ihrer Macht«, Hazzi charakterisierte sie gar als »Giftmedicin«.174 Hinter dieser Abwertung verbarg sich eine tiefergehende, grundsätzliche Kritik gegenüber herrschaftlichen Eingriffen. Sie speiste sich aus dem Unbehagen der bürgerlichen Kritiker gegenüber der Kollusion von Obrigkeit und Untertanen, die über die Speicher, ähnlich wie über die Sperren, organisiert wurde.175 Wie erfolgreich die Nutzung der Magazine für die politische Kommunikation von Herrschaft sein konnte, zeigen die Lobgedichte auf den »Brodvater« Friedrich II. oder die »Brodmutter« Maria bevorstehende Lieferungen zu schaffen – und so der Getreidehortung ein Ende bereitet habe. Garnsey, Famine and Food Supply, 223 f. 172 [Fischer], Genuine Nachricht, 485 f. und 496. 173 Kumpfmüller, Hungersnot 26; Skalweit, Getreidehandelspolitik, 116. 174 Reimarus, Preisschrift, 1070; Beherzigung der Zeit, 1772, 331; Hazzi, Betrachtungen, 136. Münchhausen, Kornhandel, 170 verstand Magazine nur dann als »allerbeste Sicherheit in Gefahren«, wenn sie in rein privater Hand betrieben würden. 175 Vgl. unten Kap. 4.1.

182

Handeln

Theresia, in denen die Getreidespeicher eine zentrale Rolle einnahmen.176 In der legitimationsbedrohenden Krisensituation kam diesen Infrastrukturen eine zentrale herrschaftsaffirmative Rolle zu. Im Gegenzug nutzten die Untertanen die Magazine jedoch, um nun ihrerseits Partizipationsrechte zu aktivieren und Versorgung einzufordern. Nicht nur in Preußen umgingen die Untertanen dabei regelmäßig intermediäre Obrigkeiten und eröffneten sich einen direkten Kommunikationsweg zum Souverän – eine Strategie, die typisch für die Krisensituation war und auch auf anderen Ebenen vormoderner Herrschaft zu beobachten ist.177 Unabhängig von der tatsächlichen Wirksamkeit der Maßnahmen legitimierten beide Parteien einander so als Sicherheitsgeber und Sicherheitsnehmer, häufig auf Kosten anderer Akteure wie den Kaufleuten oder exkludierten sozialen Gruppen. Bei näherer Betrachtung handelte es sich daher auch bei den Magazinen nur im administrativen Sinn um eine ›obrigkeit­ liche‹ Maßnahme. Tatsächlich boten die nur aus materieller Sicht dysfunktionalen Speicher Herrschern und Beherrschten ein erfolgreiches Instrument wechselseitiger Interaktion. In der Folge beschränkte sich die Reichweite der Speicher auch nicht auf diejenigen, die tatsächlich physisch daraus versorgt wurden. An Orten, an denen die Magazine leer standen oder fehlten, forderte man mit Erfolg den Ankauf von Getreide im Ausland, um sie zu befüllen oder zu errichten.

1.5. Importieren In vielen Territorien führte die interne Umverteilung von Lebensmitteln über Sperren und Speicher nicht zum Erfolg, weil entweder die Missernten zu groß oder die sozialen Ungleichheiten zu bedeutend waren. In diesem Fall musste die Zufuhr von außen die Nahrungslücken decken. Wie Ankauf, Transport und Verteilung der Importe organisiert und finanziert waren, erlaubt einen weiteren Einblick in die gesellschaftlichen Macht- und Partizipationsverhältnisse. Der Fernhandel von Getreide hatte sich bereits im Mittelalter entwickelt.178 In vielen Defizitregionen gehörte er auch in normalen Jahren zum Alltag. Da die Missernten ab 1769 ganz Zentraleuropa getroffen hatten, musste er in aller Regel von außerhalb des Reiches erfolgen. Bereits im Dezember 1770 hatten zudem nahezu alle Reichsterritorien den Getreideexport verboten. Die beharrlichen Versuche, etwa der Reichsstädte, dennoch mit Aufkäufern in den direkten Nachbarterritorien an Vorräte zu gelan 176 Zesch, Kanzelrede, 19; Ute Frevert, Gefühlspolitik. Friedrich II. als Herr über die Herzen? Göttingen 2012, 101 f., 114. In einem Gedicht auf Friedrich II. hieß es etwa: »Der Ruhm unseres Friedrichs / der aus seinen Magazinen den Brodtmangel bannte […] / Und dem Hunger gebot, vernichtet / O Volk, dein König ist gerichtet!« Der Wohltäter 56, 1773, 74–78. 177 Brakensiek, Akzeptanzorientierte Herrschaft. 178 Zum baltischen Getreidehandel, der durch die Hungersnot der 1570er Jahre weiteren Auftrieb erhielt, vgl. Alfani, Ó Grada, Famine und Behringer, Krise, 151.

Der Krisenstaat

183

gen, waren daher nur noch in begrenztem Umfang erfolgreich und mit hohen Risiken verbunden. So gelang es Nürnberg, das über exzellente Kontakte, Kaufkraft und Kredit verfügte, auf diesem Wege noch, Getreide aus Frankfurt, Magdeburg, Erfurt und sogar aus dem notleidenden Sachsen in die Stadt zu holen. Dieses Vorgehen löste aber mehrfach gewalttätige Tumulte aus.179 Für größere Lieferungen kamen 1770–1772 nur noch einige wenige Regionen Europas in Frage. Frankreich und England litten selbst unter den Missernten und hatten den Export verboten. Lediglich Kurhannover konnte sich hier im Rahmen der Personalunion mit Großbritannien versorgen.180 Polen, eine traditionelle Exportregion, die selbst bei schlechter Witterung noch Überschüsse erzielte, befand sich in einer bürgerkriegsähnlichen Lage. Zudem sperrten die externen Konfliktparteien Preußen, Österreich und Russland den Getreideexport der von ihnen kontrollierten polnischen Gebiete, damit deren Produkte nicht den Konkurrenten zur Ernährung ihrer Armeen dienen konnten. Aus Polen ließ sich daher nur in wenigen Fällen Getreide beziehen – eine Einschränkung, die britische Zeitungen sogar als ursächlich für die Not in Europa ausmachten.181 Verfügbar blieb Getreide aus vier Regionen: Aus Ungarn, Italien, dem Baltikum und aus Russland.182 In all diesen Fällen stellten bereits die zu bewältigenden Entfernungen hohe Hürden dar. Zwar bildeten die Alpen eine Klimagrenze, die oft genug dafür sorgte, dass Getreide auf der einen Seite gedieh, während es auf der anderen missriet. Zugleich bildeten die Berge aber auch eine Geogrenze, die den Transport deutlich erschwerte und verteuerte. Während der Regenanomalie waren viele Steige und Pässe kaum noch passierbar und extrem gefährlich.183 Ungarisches, baltisches oder russisches Getreide musste zudem so lange Wege zurücklegen, dass der Transport nur entlang der Wasserwege praktikabel blieb – im ersten Fall über die Donau, im zweiten Fall über die Nordsee in die Niederlande, Bremen oder Hamburg und dann entlang des Rheins, der Weser oder der Elbe ins Inland. Jedes Mal bedrohten die zahlreichen Hochwasser den Transport und verzögerten ihn oft über Monate hinweg. Zudem barg der Wasserweg immer die Gefahr, dass Getreide verdarb und schimmelte.184 179 Vogt, Massnahmen, 42. Hinzu kamen Lieferungen aus Danzig und Amsterdam. Will, Teuerung, 358 f. Zur Aktivierung von Nürnbergs Handelsnetz in der Krise vgl. Abel, Massenarmut, 221. Zu den Erfurter und Gothaer Protesten gegen Nürnberger Aufkäufer vgl. unten Kap. 2.5. 180 HStA Hannover, Deutsche Kanzlei, 1164. 181 Vgl. unten Kap. 5.3. 182 Russland übernahm in den Notjahren teilweise die Stellung Polens als Lieferant, was sich in rapide ansteigenden Exportmengen selbst aus weit entfernten Häfen wie Archangelsk manifestierte. Vgl. Anon., Getreide Ausfur aus Rußland, in den resp. HungerJaren 1771, 1772, und 1773 blos an der OstSee, in: Stats-Anzeigen 16, 1791, 288–289 sowie Abel, Massenarmut, 219 f. und Robert E. Jones, Bread upon the Waters. The St. Petersburg Grain Trade and the Russian Economy, 1703–1811. Pittsburgh (PA) 2013. 183 Heinz Schelle, Tagebuch eines Bauernlebens. Rosenheim 2000, 37 f. 184 Weinzierl-Fischer, Bekämpfung, 491; Kumpfmüller, Getreideteuerung, 109; Sebastian, Entstehung, 199.

184

Handeln

Während des Transports traten zu den physischen noch politische Probleme hinzu. Überall existierten in den Notjahren mit Militär besetzte Sperren für Getreide. Viele Herrscher verstanden sie als legitimes Mittel im politischen Konkurrenzkampf. Österreich machte die Passage von ungarischem Getreide von strategischen Überlegungen abhängig, etwa im Dauerdisput mit Bayern. Zahlreiche Landesfürsten verweigerten den Reichsstädten in ihrem Gebiet die Einfuhr fremden Getreides, um sie zu politischen Zugeständnissen zu zwingen. Auch Preußen verweigerte dem notleidenden Sachsen demonstrativ die Einfuhr polnischen Getreides, und versorgte stattdessen seine eigene Armee.185 Hinzu kamen lokale Privilegien der Anrainer, die in der Not nicht nur auf ihren Zöllen bestanden, sondern auch auf ihrem althergebrachten Stapelrecht. Immer wieder provozierten die Transporte auch informelle Maßnahmen der Notleidenden, etwa auf der Werra, wo Schiffer zum Zwangsverkauf genötigt wurden.186 Zusammen machten sie den Import zu einem Hochrisikogeschäft. Neben hohen Kosten und Unsicherheiten war es insbesondere die lange Dauer, die Kalkulationen erschwerte. Zwischen Bestellung und Lieferung verging regelmäßig ein halbes Jahr und mehr. In vielen Fällen trafen die Ladungen erst ein, nachdem wieder normale Ernten erzielt wurden, so dass die Besteller auf den teuren Früchten sitzen blieben.187 Angesichts der extremen Not, gehörte der Ankauf trotzdem und gezwungenermaßen zum Standardrepertoire obrigkeitlicher Hungerbekämpfung. Augsburg versorgte sich aus Sizilien, Salzburg aus Triest, Ansbach aus Danzig, Stuttgart aus den Niederlanden und Chemnitz aus Riga und Reval, das Erzgebirge aus Russland.188 Die teilweise enorm langen Transportwege, die bis nach Kazan an der Wolga, nach Nordafrika oder nach Amerika reichten, konfrontierten die Zeitgenossen am heimischen Esstisch oft erstmals mit einem neuen, ungewohnt transkontinentalen Wirtschaftsraum.189 185 Vgl. unten Kap. 5.1. und 5.3. 186 HStA Marburg, Best. 5, Nr. 2520 [Von der Stadt Allendorf vermöge der Stapelgerechtigkeit prätendierte Befugnis, die mit Früchten vorbeifahrenden Schiffr zu nöthigen, den dortigen Armen das notwendige Getreide etc. zu verkaufen]; Abel, Massenarmut, 228. 187 Kumpfmüller, Getreideteuerung, 67; Tambora.org [kewords: Stuttgart Chronikschreiber, 1771]. 188 Vogt, Massnahmen, 42; Derflinger, Getreideteuerung, 8; Abel, Massenarmut, 413; HStA Stuttgart A 419 Bü 358 sowie L6 Bü 1347; Stadtarchiv Chemnitz, Ratsarchiv, Polizeisachen, V XVIII, 4; HStA Dresden Loc. 34127 Nr. 118 (26.9.1771); Spreckel, Hauschronik, 121. Einen Überblick über die Handelsrouten bietet Abel, Massenarmut, 216–226. Auch hier handelt es sich um ein europaweites Phänomen. Vgl. etwa zu Großtransporten aus dem Baltikum ins hungernde Nantes, Le Roy Ladurie, Disette, 53. 189 Anon., Wahrscheinliche Vermuthungen von einigen größern und allgemeinern Perioden in der Witterung, in: Gelehrte Beyträge zu den Braunschweigischen Anzeigen 1771, 793– 808, 808 und LBGL Glarus, N 184 (Selbstzeugnis Johannes Marti), 4 sowie Franz Xaver Clavell, Überzeugender Beweis daß eine etwas länger fürdaurende Getraid- oder Frucht-Sperre gegen die Schweiz, den Hochlöbl. Schwäbischen Reichs-Kreis und die darinn gesessene Hoch- und Löbliche Stände in kurzer Zeit gänzlich zu Grunde richten müsse. O. O. 1772, 40 [alle zu afrik.

Der Krisenstaat

185

Wieder ist das bayerische Beispiel typisch für die Praxis der Obrigkeiten.190 Angeregt von Ankäufen in früheren Hungerkrisen und angesichts der leeren Magazine begann die Münchener Regierung bereits im Frühjahr 1770 nach möglichen Zulieferern Ausschau zu halten. Als Vorbild diente die Proviantierung der Armee, weshalb man die Leitung dem Hofkammerrat und Direktor der Militärmagazine Josef von Tiereck übertrug. Der Wiener Hof lehnte jedoch umgehend jede Versorgung aus Ungarn ab, da mit Bayern vielfältige Spannungen bestanden, etwa um die Versorgung des Reichstags in Regensburg. Zudem benötigte man Getreide für das hungernde Böhmen sowie zur Versorgung der eigenen Soldaten im Konflikt um Polen. In dieser Situation bedienten sich die Bayern auch unlauterer Mittel, um an Korn zu gelangen. Mit dem Geschenk einer prunkvollen, goldenen Tabattiere konnte der sächsische Fürstenhof ›überzeugt‹ werden, trotz der verheerenden Not im eigenen Land, den Export von 2.000 Scheffeln Getreide zu genehmigen.191 Größere Transporte ließen sich so aber nicht organisieren. Daher wandten sich die Münchener schließlich nach Italien. Mit eigenem Personal war dieses internationale Unternehmen nicht zu bewältigen, so dass man die Käufe in korruptionsträchtiger Partnerschaft mit bayerischen Mittelsmännern und italienischen Kaufleuten durchführte. Auf den norditalienischen Märkten trafen die Faktoren Bayerns bereits auf zahlreiche Konkurrenten aus den anderen nordalpinen Ländern, die den Preis in die Höhe trieben. Die Schweizer schlossen sogar mehrfach Exklusivverträge ab, die den Bayern den Ankauf verboten. Der Transport des wenigen dennoch zu erhaltenden Getreides wurde durch die anhaltenden Hochwasser von Etsch und Isar noch erschwert. Allein auf dem so erzwungenen Umweg über Verona und Bozen nach München verdoppelten sich die Kosten des Ankaufs. Immerhin konnte man innerhalb von Bayern auf eine günstigere staatliche Infrastruktur zurückgreifen. Dort nutzte man die Salzfuhren, die auch in normalen Jahren auf ihren Leerfahrten Getreide transportierten – und zuweilen auch schmuggelten.192 Dennoch erreichten die Kosten mitsamt Provisionen und Zöllen schließlich das Vierfache des ursprünglichen Ankaufspreises. Mit 25–40 fl pro Scheffel lag das Importgetreide sogar noch über den Marktpreisen in Bayern, obwohl es sich größtenteils um minderwertige und feuchte Ware handelte. Immerhin ermöglichten die Lieferungen der Regierung, zum ersten Mal überhaupt handfest und nicht nur steuernd einzugreifen. Der symbolische Wert dürfte daher deutlich über den monetären Ausgaben gelegen habe. An eine kostenlose Abgabe war angesichts der enormen Beschaffungskosten aber kaum zu denken. bzw. ägypt. Getreide in die Schweiz]; Ipswich Journal vom 9.5.1772 und Caledonian Mercury vom 6.1.1772 [Getreidetransporte von Amerika nach England und die Niederlande]; Spreckel, Hauschronik, 121 [Russisches Getreide nach Sachsen]. 190 HStA München, GR 819.40–44. Das Folgende nach der Zusammenfassung in Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 105–121. 191 Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 108. 192 Ebd., 42–44.

186

Handeln

Stattdessen wurde das Getreide zum Marktpreis oder leicht darunter verkauft. Allerdings nicht als Mehl, sondern als Brot, um den Weiterverkauf soweit wie möglich zu verhindern. In der Verteilung artikulierte sich der typische Klientelismus der frühneuzeitlichen Herrschaft. Die Lieferungen spiegelten die Nähe zum Fürsten und zur Münchener Regierung wider. Sie konzentrierten sich weitgehend auf das Militär und die Hauptstadt. Die am härtesten betroffenen, politisch aber kaum repräsentierten Gebiete, wie der Bayerische Wald und die Oberpfalz, blieben ganz oder weitgehend exkludiert. Aus der Regierung kommentierte man dies gleichermaßen kritisch wie akzeptierend: »Mit wachsender Entfernung von der Hauptstadt mindert sich die Versorgungspflicht wie sich die Möglichkeiten der Geheimhaltung übler Folgen der Not vor Sr. Hochfürstl. Durchl. mehrt«.193 Diese Ungleichverteilung löste gewaltige Migrationsströme aus. Aus dem Münchener Umland brachen die Leute nun zu gewaltigen Fußmärschen von 16 und mehr Stunden auf, um an den Lieferungen zu partizipieren. Auch in der Finanzierung lassen sich bedeutende Unwuchten beobachten. Die Kosten beliefen sich auf etwa 2 Millionen Gulden. Aufgenommen wurde diese gewaltige Summe über neue Schulden in Genua und Amsterdam, für die sogar der Hausschatz des Kurfürsten verpfändet oder eingeschmolzen werden musste. Allein wegen dieses Unternehmens stiegen die bereits erheblichen Schulden des finanzschwachen Bayern nochmals um 15 Prozent.194 Die Landschaft betrachtete die Ausgaben äußerst kritisch: Zum einen verstand sie die Teuerung als hausgemachtes Problem. Zum anderen hatte sie an dem politischen Kapital, das aus der Brotverteilung zu schlagen war, keinen Anteil. Die meisten der dort repräsentierten Ständevertreter profitierten als Grundherren sogar stillschweigend von den hohen Getreidepreisen. Die Hofkammer versuchte, die Unkosten daher nicht über die Landschaft, sondern über nachgelagerte Konsumsteuern wieder aufzufangen. Es wurde zunächst eine Brotsteuer, dann eine Getreidesteuer eingeführt, die aber beide lediglich den Verbrauch zurückgehen ließen und kaum Einnahmen brachten. Als Drittes griff man auf eine in Bayern offenbar weniger leicht zu umgehende Biersteuer zurück. Dennoch hatte man zwanzig Jahre später erst 20 Prozent der Ausgaben rekuperiert, ein Betrag der vermutlich weit unter der Zinsschuld der aufgenommenen Anleihen lag. Die zuständige Allodial­ kommission beendete ihren Bericht mit dem Kommentar: »Nach 20 Jahren ist die Unternehmung zu spat. In einer so verworrenen, man darf sagen totaliter vernachlässigten Sache bleibt guther Rath theuer«. 1792 wurden daher alle Versuche beendet, die Kosten wieder hereinzubekommen. Den verbleibenden, weit überwiegenden Teil musste der Hof abschreiben.195 Für das über die Brotverteilung erworbene symbolische Kapital musste die Regierung also in harter Münze zahlen. 193 Gutachten der Hofkommission, zit. nach Ebd., 111. 194 Ebd., 115; Rankl, Politik, 765. 195 Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 121.

Der Krisenstaat

187

Die Ankäufe in den anderen Ländern folgten ähnlichen Mustern. Auf allen Auslandsmärkten konkurrierten die Käufer aus den Mangelgebieten miteinander, teilweise auch mit Agenten aus dem eigenen Territorium.196 Der Transport erwies sich als enorme Herausforderung, da Schiffe, Pferde oder Pferdefutter fehlten. Getreide wurde feucht und keimte aus. Die Transporte wurden wochenlang blockiert und erreichten die Konsumenten viel zu spät.197 Die Passformalitäten erforderten sogar im eigenen Land unzählige Bittschreiben und Audienzen vor Ort. Oft genug ergaben sich regelrechte Briefstafetten, mit deren Hilfe die Höfe, Ämter und Zollstationen der Nachbarn um Ein- und Ausfuhr gebeten wurden. Immer wieder mussten die renommiertesten Unterhändler quer durch Europa geschickt werden, um mit ihrem Ansehen, Geschenken oder regelrechter Bestechung für die Durchfuhr zu werben.198 Der Finanzbedarf war regelmäßig so hoch, dass Städte und Territorien ihn nicht aus den laufenden Einnahmen begleichen konnten. Je nach Verfassung mussten Ständevertretungen, private Kaufleute oder Schuldverschreibungen den Ankauf mitfinanzieren.199 Verschiedene ambitionierte Pläne scheiterten, die Versorgung durch halbstaatliche Kompagnien zu organisieren und zu kontrollieren. Angesichts der unsicheren Märkte und der Gefahr, den Preis durch große Ankäufe noch in die Höhe zu treiben, mussten sie fallen gelassen werden.200 Stattdessen führte man die Trans­aktionen mithilfe von Kaufleuten durch, die dafür mit staatlichen Privilegien versehen wurden. Ihr Engagement war angesichts des öffentlichen Drucks sehr risikoreich, bot aber zahlreiche Profitmöglichkeiten.201 Wie in Bayern lagen die Endkosten des Getreides regelmäßig über den inländischen Marktpreisen. Die Verteilung brachte daher weitere Verluste und geschah nur in seltenen Ausnahmefällen unentgeltlich.202 Lediglich in einigen Städten außerhalb der akuten Hunger 196 In Ungarn konkurrierte die »Hungerbekämpfungskommission« mit der »Proviantierungshofkommission«, dem Militär und privilegierten Kaufleuten im öffentlichen Auftrag. In Polen trieben rivalisierende preußische Militärkommissionen und private Händler die Preise in die Höhe. Kumpfmüller, Hungersnot, 55 f.; Skalweit, Getreidehandelspolitik, 25, 32, 78. 197 Kumpfmüller, Hungersnot, 55–69; Abel, Massenarmut, 222 f. und 413; Spreckel, Hauschronik, 121. Ein Schiff der Stadt Augsburg versank mit 1649 Metzen in der Donau: Seida und Landensberg, Geschichte, 632. 198 Derflinger, Getreideteuerung, 17 f.; Abel Massenarmut, 224–226; Seida und Landensberg, Geschichte, 633; Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 108. 199 Vogt, Massnahmen, 45. In Salzburg wurden die gemeinsamen Gelder daher in einer Kiste mit mehreren Schlössern gelagert, um das Gemeinschaftsprojekt auch visuell zu materialisieren. Derflinger, Getreideteuerung, 38–40. 200 Zur in der Krise gescheiterten monopolisierten Elbkompagnie Preußens vgl. GStAPK, II HA Abt 15 CLXXVI Nr. 6 sowie Skalweit, Getreidehandelspolitik, 22 f. und Abel, Massenarmut, 213 f. Zu einem ähnlichen Unternehmen in Göttingen vgl. Abel, Massenarmut, 226. 201 Vgl. etwa zum Fall bzw. Aufstieg der jüdischen Getreidehändler Adam Oppenheimer in Österreich und Jakob Kaskele in Preußen, Militzer, Klima, Kap. 5.12.1.7. 202 Kostenlose Ausgaben an die Allerärmsten gab es etwa in Kurhannover. HStA Hannover, Hann. 74 Göttingen 3377 (Verordnung vom 28.2.1772) und ebd., Hann. 74 Göttingen 3389 (Verordnung vom 19.3.1772).

188

Handeln

gebiete, konnte man mit den Lieferungen tatsächlich eine rudimentäre Versorgung gewährleisten.203 In den Territorialstaaten reichte ihr Volumen aber an keiner Stelle aus, um flächendeckend einzugreifen. Angesichts der begrenzten Mittel bevorzugten die Verwaltungen oft nicht einmal die am stärksten betroffenen Gebiete. Sie versorgten lieber Orte und Gruppen, die der Regierung besonders nahestanden. Dazu zählten überall die von Aufständen bedrohten Residenz- und Hauptstädte, das Militär, das Gewerbe und die Bergleute – oder in Preußen – die Oderkolonisten.204 Die abschließenden Versuche der Verwaltungen, die enormen Kosten wieder aufzufangen, scheiterten nicht nur in Bayern, sondern auch in Württemberg, der Pfalz, Österreich oder Preußen an Verarmung und Widerstand weiter Teile der Bevölkerung.205 Die hohen Kosten bei eng begrenztem Nutzen sprachen eher gegen den staatlichen Ankauf von Getreide als Mittel obrigkeitlicher Krisenbewältigung.206 Allerdings hätten effizientere Maßnahmen unerwünschte Eingriffe in die Gesellschaftsstruktur erfordert. Unter dem Druck der akuten Notsituation standen zudem kaum Alternativen zur Disposition, da sie entweder Vorlauf benötigten (Vorratshaltung) oder wie Umverteilung und Freihandel aufgrund der Tätigkeit von Nachbarn (Fruchtsperren) und Ständen (Spekulation) kaum praktikabel waren. Die Fernversorgung blieb daher oft genug der einzige mögliche Weg aus den akuten sozionaturalen Konfliktlagen. Ähnlich wie im Fall der Magazine gelang es einigen 203 So war die Stadt Köln in der Lage, die Versorgung für sechs Monate komplett aus Ankäufen des Rats zu bestreiten. Innerhalb von einem Jahr verzehnfachte sich der städtische Ankauf (1769: 3780 Malter; 1771 35.473 Malter). Der städtische Getreidemarkt lag in der gleichen Zeit nahezu brach. Wochenlang wurde dort überhaupt kein Roggen mehr gehandelt. Stattdessen übernahm die Stadt die Versorgung und belieferte die Bäcker selbst. Die Magazinbestände sanken dadurch trotz der gewaltigen Zukäufe auf ein Viertel ab (1769: 20.695 Malter, 1771: 7966 Malter). Dieses Unternehmen war aber nur finanzierbar, weil die Getreidepreise sich am Rhein lediglich verdoppelten und der Import über die Niederlande relativ kostengünstig erfolgen konnte. Ebeling, Irsigler, Getreideumsatz, Bd. 1, 478–485, Bd. 2, XLV. 204 Die Hungergebiete im Eichsfeld etwa erhielten nur deshalb Getreide, weil dort Lieferungen beim Transit in die Hauptstadt Mainz im Regen stecken blieben. Ob es sich dabei vielleicht um Sabotage handelte, ist unklar. Weber, Kurmainz, 100. Zur Priorisierung der Bergleute vgl. HStA Hannover, BaCl Hann. 84a Nr. 05541 f.; StA Wolfenbüttel, 33 Alt Nr. 500 sowie Lungwitz, Hungersnot, 343. Zur bevorzugten Versorgung der Kolonisten und Residenzstädte: GStAPK I. HA Rep. 96b Nr. 139, fol. 305r, 315r.; Wagner, Beschreibung, 24; Zimmermann, Noth, 115. 205 In Württemberg verschlangen die Lieferungen nahezu 30 % des Jahresbudgets der Landschaft und waren größtenteils nicht rekuperierbar. Zimmermann, Noth, 119. In Preußen hatten viele Bauern die Lieferungen auch bei Beginn der nächsten Teuerung 1784 noch nicht zurückgezahlt. Vgl. GStAPK II. HA Abt. 7 II Nr. 6048, 67–72. In Österreich mussten die Rückzahlungen zunächst auf drei, dann auf 13 Jahre gestreckt und schließlich eingestellt werden. Kumpfmüller, Hungersnot, 69–72, 88, 97, 123 f. Auch in der Pfalz wehrten sich die Empfänger von vergünstigt abgegebenen Korn in einem Prozess am Reichskammergericht erfolgreich gegen die nachholende Erstattung der erheblichen Kosten. Landesarchiv Speyer, Reichskammergericht XXV. E 6 114. 206 In Bayern etwa reichten die unter Einsatz erheblicher Mittel eingeworbenen Importe lediglich, um München und einige andere Schrannen einige Wochen lang zu versorgen. Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 112 f.

189

Der Krisenstaat

Fürsten auch mit Korntransporten, ihre landesväterliche Gesinnung erfolgreich zu inszenieren und – zuweilen trotz weiterbestehender Not – hohe Sympathieeffekte zu erzielen. Gedenkmünzen, Denkmäler und Dankgottesdienste feierten sie für die Lieferungen als »Nährvater« (Abb. 20).207 Da der Ankauf aber häufig auf den manifesten Druck der Bevölkerung hin erfolgte, feierte man mit den Paraden zugleich auch sich selbst. Vielen Städtern gelang es auf diese Weise, in der Krise ihre Versorgung zumindest teilweise auf Kosten der Obrigkeiten zu erzwingen. Trotz der zentralen Rolle der Regierungen in der Durchführung der Transporte handelt es sich also auch in diesem Falle nicht um eine souveräne, ›obrigkeitliche‹ Maßnahme. Sie illustriert vielmehr die in der Krise fassbar werdende Multipolarität und Gebundenheit frühneuzeitlicher Herrschaftspraxis.

1.6.  Urbane Fürsorge Das Zentrum obrigkeitlicher Maßnahmen bildeten die Städte. Hier standen die Magazine, hier kamen die Transporte an und hierher zogen deshalb auch die vielen Migranten. In den urbanen Zentren war der Handlungsdruck auf die Obrigkeiten besonders groß. Das Elend manifestierte sich hier sichtbarer als auf dem Land. Zusammengedrängt auf den Straßen ließen sich die Notleidenden weniger leicht als in den Dörfern ignorieren, zumal ihre große Zahl die ständige Gefahr von Krawallen mit sich brachte. Die Regierungen sahen sich hier mit besonderen Herausforderungen und Möglichkeiten konfrontiert. Einerseits litten Städte besonders unter der Teuerung. Der urbane Metabolismus war für seine Versorgung auf den ständigen Stoffwechsel mit der umgebenden Umwelt angewiesen. Die Teuerung behinderte jedoch die beiden wichtigsten Ströme, die Einfuhr von Nahrungsmitteln und die Ausfuhr von Gewerbeerzeugnissen. Andererseits verfügten Städte genau aufgrund dieser Vulnerabilität über eine gewachsene Fürsorgestruktur von Stiftungen, Krankenhäusern, und Armenanstalten, die auf dem Land oft fehlte. Sie besaßen zudem Zugang zu Kredit und Handelsnetzen. Viele regulative, prohibitive und karitative Maßnahmen ließen sich überhaupt nur in den Städten durchführen, in denen das Regiment stärker verdichtet war und gleichermaßen Personal wie Finanzen für Eingriffe zur Verfügung standen.208 Die Steuerungsmöglichkeiten wurden aber dadurch eingeschränkt, dass im urbanen Raum oft mehrere Herrschaften miteinander konkurrier 207 Arand, Abhandlung, 140; Ambrosius Zesch, Kanzelrede […] an dem Dankfest gesprochen […] für die von Ihrer Röm. Kaiserl. und Apost. Konigl. Majest. Marien Theresien in der Zeit der Hungersnoth empfangegen Getraidhülf […]. Burggau 1771. Ähnliche Feste und Memorialpraktiken beschreiben Schlöder, Bonn, 270; Weber, Kurmainz, 101 und Heyen, Berichte, 85. 208 Bereits im Florenz des 14. Jahrhunderts lässt sich eine breite Palette von Maßnahmen beobachten. Sie umfasste die Ausweisung von Bettlern, den über kommunale Kredite finanzierten Getreideankauf im Ausland, die Preiskontrolle durch Magazinkorn sowie die Ausgabe städtischen Brots gegen Gutscheine. Jansen, Villani.

190

Handeln

ten. Die landesherrliche Gewalt traf hier auf städtische und kirchliche Obrigkeiten sowie auf die beginnende bürgerliche Wohlfahrt. Die Vielzahl von Akteuren schlägt sich in einer einzigartig dichten Überlieferung nieder, die das weit größere Leid in den ländlichen Hungergebieten zuweilen zu verdecken droht.209 Was sich in den urbanen Brennpunkten jedoch beobachten lässt, ist die gebundene, adaptive Praxis herrschaftlichen Handelns sowie einige durch die Krise motivierte Veränderungen. In den Hungerjahren vervielfachte sich die Zahl der Hilfsbedürftigen. In Städten wie Leipzig oder Nürnberg waren regelmäßig mehrere tausend Einwohner zusätzlich auf Fürsorge angewiesen. Hinzu kamen zahllose Elendsmigranten aus dem Umland. Sie suchten in den Städten jenen Schutz, den es auf dem Land für sie kaum gab.210 Die vielen Hilfsbedürftigen überforderten sowohl die bestehenden, auf Sockelarmut ausgerichteten Fürsorgeeinrichtungen, als auch die akuten Notmaßnahmen.211 An ihrer Zahl drohte der breite Kanon von Hilfsmaßnahmen zu scheitern, der von Bevorratung, Ankauf und Subvention von Brot über die Kontrolle des Marktes, die Ausgabe von Almosen, die Organisation von Bettagen und die Sammlung von Spenden bis hin zur Seuchenpolizei reichte. In einem ersten Schritt versuchten die Obrigkeiten daher zumeist, die Schar der Hilfesuchenden zu begrenzen, zu kontrollieren und zu unterteilen. Einheimische sollten von auswärtigen Armen ebenso geschieden werden wie starke von schwachen Notleidenden und akute, oft ›verschämte‹ Bedürftige von den alltäglichen Vagabunden. Die entsprechenden Praktiken von Exklusion und Inklusion gehörten seit jeher zum Leben in der Stadt mit seinen abgestuften inneren und äußeren Rechtsverhältnissen. In den Hungerjahren um 1771 versuchten die Obrigkeiten jedoch, diese Stratifizierung mit einer deutlich intensivierten Verwaltung zu exekutieren. Zum üblichen Vorgehen zählten die persönlichen und eher kursorischen Überprüfungen am Stadttor sowie die Kontrolle durch Bettelvögte oder periodische Visitationen. An ihre Seite trat nun eine zunehmend bürokratische Erfassung. Die Hilfesuchenden wurden in umfassenden Verzeichnissen registriert, um ihre Identität, 209 In Dresden füllen die Proviant- und Teuerungsakten der Stadt von 1531–1805 111 Bände. Schlenkrich, Bräuer, Armut, 771. Zur ähnlich umfangreichen Überlieferung in Augsburg vgl. Roeck, Bäcker. 210 Kap. IV, 2.6. 211 Zu den Verhältnissen in Regensburg vgl. unten Kap. 5.1. Typisch sind auch die Zustände in Bamberg, wo in der Krise überhaupt nur ein Drittel der Stiftungsgelder tatsächlich den Armen zugutekam. Schubert, Arme, 214. In Augsburg versorgte etwa das städtische Armenhaus lediglich 24 Menschen, während 5000 starben. Vielfach mussten Stiftungen und Armeninstitute ihre Hilfen aufgrund hoher Preise und niedriger Erträgen reduzieren oder sogar ganz einstellen. Einige brachen ganz zusammen. Stetten, Selbstbiographie, 53, 57; Schlenkrich, Bräuer, Armut, 1055; Press, Hungerjahre, 207; Frank Präger, Das Spital und die Armen. Almosenvergabe in der Stadt Langenzenn im 18. Jahrhundert. Regensburg 1997, 34 f., 229; Alfred Stefan Weiss, »Providum Imperium Felix«. Glücklich ist eine voraussehende Regierung. Aspekte der Armenund Gesundheitsfürsorge im Zeitalter der Aufklärung. Dargestellt anhand Salzburger Quellen ca. 1770–1803. Wien 1997, 56 f.

Der Krisenstaat

191

Abb. 7 und 8: Almosenmarke zum Brotbezug, Fürth 1770; Bettlermarke, Ecclesgreig (­Schottland) 1773.

Herkunft und Bedürftigkeit festzustellen. Die Ergebnisse der Prüfung materialisierten sich anschließend in immer aufwendigeren Praktiken der Kennzeichnung. In Köln, Nürnberg, Augsburg, Bamberg oder Leipzig gab man spezielle Brotpfennige oder Armenzeichen an die Berechtigten aus, die teilweise auf die Kleidung aufgenäht werden mussten (Abb. 7, 8). Dieses labelling visualisierte zugleich die Inklusion in die städtische Fürsorgegemeinschaft wie die Exklusion aus der bürgerlichen Lebenswelt. Je nach Vermögen der Stadt berechtigten die Armenmarken zum Betteln oder zum Bezug von subventioniertem Brot. Zuweilen waren sie an den Besuch des Gottesdienstes geknüpft.212 Der Aufwand, mit dem diese Kennzeichnung praktiziert wurde, reagierte zum einen auf den massiven Kontrollverlust der Obrigkeiten in der Notzeit und zum anderen auf das steigende Bedürfnis der Bürger, die bedrohliche Masse der Armen durch eine sichtbare Ordnung zu bändigen. Mit den Zeichen reaktivierte man teilweise in Vergessenheit geratene spätmittelalterliche Praktiken. Sie vollzogen sich nun aber unter neuen Vorzeichen. Gemeinsam mit dem völligen Verbot des Bettelns und des privaten Almosens zielten sie auf umfassende Registrierung, Moralisierung und Erziehung. 212 Schubert, Arme, 197. Zu dieser europaweiten Praxis vgl. Steve Hindle, Dependency, Shame and Belonging. Badging the Deserving Poor, c. 1550–1750, in: Cultural and Social History 1, 2004, 6–10; Helmut Bräuer, Bettel- und Almosenzeichen zwischen Norm und Praxis, in: Gerhard Jaritz (Hrsg.) Norm und Praxis im Alltag des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Wien 1997, 75–93; Kumpfmüller, Hungersnot, 29. Vgl. zu Brotpfennigen und Armenzeichen in Köln: Irsigler, Getreideumsatz, Bd. 2. XVI; in München: Silke Kröger, Armenfürsorge und Wohlfahrtspflege im frühneuzeitlichen Regensburg. Regensburg 2006, 150–152; in Augsburg und Nürnberg: Max Bisle, Die öffentliche Armenpflege der Reichsstadt Augsburg mit Berücksichtigung der einschlägigen Verhältnisse in anderen Reichsstädte Süddeutschlands. Ein Beitrag zur christlichen Kulturgeschichte, Paderborn 74–77 und Abel, Massenarmut, 414 f.; in Bamberg: Schubert, Arme 197; in Salzburg: Weiss, Providum, 45, 56; in Regensburg: vgl. unten Kap. 5.1.

192

Handeln

Einen besonders weitreichenden Versuch, Konflikte durch Verwaltung zu lösen und ›Herrschaft durch Verfahren‹ herzustellen, unternahm die Stadt Leipzig. Die Maßnahmen unterscheiden sich lediglich in ihrem Ausmaß, nicht aber in der Zielrichtung von denen anderer Stadtobrigkeiten. In der sächsischen Messestadt kollidierten Wirtschafts- und Gewerbekrise mit Teuerung und Armutsmigration besonders drastisch. Nachdem die Zahl der Arbeitslosen und Hilfesuchenden im Verlauf des ersten Hungerjahres massiv zugenommen hatte, sah sich der Leipziger Rat zu Maßnahmen gezwungen, die über den etablierten Rahmen hinausgingen. Zunächst holte man mehrere Gutachten ein, in denen der Stadtarzt, der Stadtjustiziar, ein Kammerrat und der Vorsteher des Hospitals Vorschläge machten.213 Auf dem Höhepunkt der Not, im Februar 1772, entschied man sich für den weitreichendsten Vorschlag. Er sah die völlige Kommunalisierung der bisher vielteiligen Fürsorge in der Stadt vor. Im Zuge eines neuen Armengesetzes wurde eine neue, umfangreiche »Armen­ anstalt« für mehr als 1.000 Notleidende beschlossen. Im Gegenzug verbot man in der Stadt alle privaten oder kirchlichen Almosen und untersagte das Betteln vollständig. Die nötigen Mittel sollten über eine allgemeine Sondersteuer erhoben werden. Ziel war es, die Notleidenden, die nicht nur als bemitleidenswert, sondern auch als belästigend, ansteckend und gefährlich wahrgenommen wurden, im Stadtbild zurückzudrängen. Die vollständige »Abstellung des Umherlaufens und Zudringens unverschämter Bettler« sollte gewährleisten, dass der »nahrhafte Bürger nicht bei seinen Verrichtungen behindert und sonst belästiget werde« und die für die Stadt so wichtigen Messe-Kaufleute ihrer Arbeit ohne unangenehme Störungen nachgehen konnten.214 Die Registrierung und Verwaltung übernahm eine eigens hierfür geschaffene Armenversorgungsdeputation. Sie setzte zunächst eine umfassende Registrierung der Bedürftigen ins Werk. Neben strengen Visitationen und flächendeckenden Kartierungen in den Stadtteilen schlug man auch vor, die Armen »unter dem Praetext, eine Gabe oder Spende auszuteilen« anzulocken, zu vernehmen und auszusortieren.215 Die so entstandenen detaillierten Verzeichnisse und Verhöre fügen sich zu einer einzigartigen Armentopographie zusammen.216 An diejenigen, die ihren Leipziger Wohnsitz glaubhaft machen konnten, wurden nummerierte, blecherne Bettelzeichen ausgegeben. Ihre Speisung mit Suppe und Brot sowie spezielle Arbeitseinsätze sollten endgültig verhindern, dass Almosenempfänger wie 213 Zu den Maßnahmen in Leipzig vgl. Militzer, Klima, Kap. 5.12.2. sowie Bräuer, Rat, 80– 104, der im Anhang auch die Denkschriften ediert. Mögliche Maßnahmen wurden auch in den Leipziger Zeitungen diskutiert und dazu europaweit nach möglichen Vorbildern gesucht. Vgl. etwa Anon., Nachricht an das Publikum von einer neuen Verfassung der Armenpflege in Kopenhagen, und einer damit verbundenen königlichen Realschule, in: Leipziger Intelligenzblatt, 1771, 604–609. 214 Stadtarchiv Leipzig, Stift VII, Nr. 5, p. 8–14.  Teilweise ediert in: Militzer, Klima, Kap. 5.12.2.2. sowie Bräuer, Rat, 71. 215 Bräuer, Rat, 196. 216 Teilweise ediert bei Bräuer, Rat, 197–209 und Militzer, Klima, Tab. 42.

Der Krisenstaat

193

zuvor zusätzlich betteln gehen mussten.217 Die Ausgaben wurden ebenso wie die Kontrolle des Bettelverbots durch zusätzliches Personal organisiert. Wie in vielen anderen Gemeinden reagierte die Zusatzsteuer darauf, dass es im Reich kein der englischen poor tax entsprechendes Finanzinstrument gab. Die eilig beschlossenen Beiträge zur Armenversorgung beruhten daher nominell auf Freiwilligkeit. Bei säumigen Zahlern wurde die Zahlungsmoral jedoch mit wiederholten, eindringlichen Hausbesuchen unterstützt.218 Anders als viele ältere Steuern wurden die Beiträge allein nach dem Vermögen gestaffelt und sollten sämtliche zahlungsfähigen Einwohner inklusive der Oberschicht treffen, gleich welchen Rechts- oder Personenstands. Neben diesen weltlichen Steuern flossen auch sämtliche Kollekten aus den kirchlichen Bettagen an die Armendeputation. Schon bald erwies sich die Not als so groß und das Unternehmen als so erfolgreich, dass es auf 700 weitere Personen ausgedehnt werden musste.219 Der Beitrag des Landesherrn beschränkte sich angesichts knapper Kassen darauf, die städtischen Reformen wohlwollend zur Kenntnis zu nehmen. Zwei Monate nach ihrem Beginn erließ er ein Mandat »wegen Versorgung der Armen und Abstellung des Bettelns«, das die Leipziger Maßnahmen für das gesamte Land übernahm. Der Kurfürst konnte jedoch weder eine vergleichbare Finanzierung noch einen entsprechenden administrativ-institutionellen Rahmen gewährleisten. Gleichwohl betonte der Hof nachdrücklich, dass die in einer ungewissen Zukunft überall im Land anzulegenden Zucht- und Armenhäuser direkt der Landesregierung unterstehen würden. Zugleich übernahm man enthusiastisch die Verwaltungsförmigkeit der Leipziger Maßnahmen und ließ bereits Vordrucke für Ausgaben, Festnahmen und Verhöre produzieren. Offenbar begriff die Regierung des Kurfürsten die städtischen Eingriffe zugleich als Vorbild und als Konkurrenz.220 Mit diesem weitreichenden Fürsorgeprojekt schuf sich die Stadt in und mithilfe der Not ein eigenes, neues Kriseninstrument. Es bewahrte zuletzt fast 2.000 Menschen verhältnismäßig erfolgreich vor unmittelbarer Not.221 Vergleichbare Ansätze hatte man im Reich zuvor immer wieder gefordert.222 Erst unter dem äußeren 217 Ein Fünftel der Bedürftigen war zuvor zusätzlich auf das Betteln angewiesen. Ebd., Kap. 5.12.2.2. 218 Einige Protokolle »zur Aussprache mit säumigen Spendern«, in: Ebd., Kap. 5.12.2.3. 219 Ebd., Kap. 5.12.2.3. 220 Mandat Friedrich Augusts III. vom 11.4.1772, in: StA Zwickau, Ratsarchiv Polizeisachen, Rep. V, V B1 4, fol. 4v-29r. Erst nach der Krise übernahm man die Vorkehrungen (gemeinsame Almosenkasse und Arbeitsmaßnahmen im Gegenzug für ein völliges Bettelverbot, auch für »Wettergeschädigte«) zumindest für Dresden. der Rat der Stadt Dresden, Armen-Ordnung bey der Chur-Fürstl. Sächs. Residenz-Stadt Dreßden, Neustadt, Friedrichstadt und denen Vorstädten. Dresden 1773, hier 36. 221 Anders als in den meisten sächsischen Städten stieg die (offizielle) Mortalität in Leipzig nur um das Anderthalbfache. Militzer, Klima, Tab. 43. 222 Robert Jütte, Klimabedingte Teuerungen und Hungersnöte. Bettelverbote und Armenfürsorge als Krisenmanagement, in: Wolfgang Behringer, Hartmut Lehmann, Christian Pfister (Hrsg.), Kulturelle Konsequenzen der »Kleinen Eiszeit«. Göttingen 2005, 225–237.

194

Handeln

Druck der Notlage ließen sie sich aber auch umsetzen. Die Erneuerung lag dabei nicht in den umfangreichen Brotausgaben oder den Bettelverboten, die es immer wieder gegeben hatte. Innovativ war vielmehr der Anspruch, nicht nur mit Einzelmaßnahmen, sondern mit einem übergreifenden, koordinierten Werk einzugreifen. Dazu zählten auch der Vorrang der weltlichen Obrigkeit, die Rücknahme ständischer Privilegien, die Harmonisierung der heterogenen Fürsorgelandschaft und die Kontrolle durch kontinuierliche Verfahren statt durch punktuelle Strafen. In der Praxis erreichte auch dieses Unternehmen seine Ziele nur teilweise. Vielfach verlagerte sich das Betteln lediglich und wanderte vor die Tore der Stadt.223 Wie überall dürfte die Effizienz der Kontrollen darunter gelitten haben, dass zahlreiche Mitglieder der Stadtgarnison selbst zu den Hilfsbedürftigen gehörten und in den Armenlisten auftauchten.224 Auch die Hoffnung, die Zahl der Fürsorgeempfänger mithilfe der peniblen Registrierung zu senken, erfüllte sich nicht. Als Betrüger entpuppten sich nur die allerwenigsten. Unter der Hand blieben zudem auch alternative Fürsorgeangebote weiter bestehen.225 Das größte Problem lag aber in der Verstetigung. Obwohl die Anstalten über die unmittelbare Krisenzeit hinaus bis in den April 1773 hinaus geführt wurden, blieb ihre Legitimation an akute Not gebunden. Das Leipziger Armenprojekt endete daher wie so viele Krisenmaßnahmen, sobald die schwerste Zeit vorüber war. Diese neuen Ansätze wurden jedoch von vielen bürgerlichen Reformern weitergetragen. Sie sahen die Krise als Chance, um lang gehegte Vorstellungen umzusetzen, nämlich die offenen Almosen durch eine geschlossene ›Erziehung zur Arbeit‹ zu ersetzen. Während die meisten Stadtobrigkeiten wie in Leipzig darauf bedacht waren, die akuten Notleidenden scharf von den üblichen Armen zu trennen, betrieben die selbsternannten ›Menschenfreunde‹ genau das Gegenteil. Sie verwischten gezielt die Unterschiede zwischen Hungernden, Bettlern und Vaganten, um ihren Plänen zunächst in der Notzeit Gewicht zu verleihen, sie aber zugleich dauerhaft relevant zu machen.226 Dort wo schwache Obrigkeiten in der Krise viel Raum ließen, gelang es 223 Beispiele dafür in: Bräuer, Rat, 96 und Militzer, Klima, Tab. 42. 224 Vgl. die Verhöre in Militzer, Klima, Tab. 42, Nr. 20, 22, 25, 40, 55, 88, 91, 93. 225 Entgegen dem Plan mussten auch 706 fremde Arme mit Zehrgeld versorgt werden. Bräuer, Rat, 83, 100. 226 Vgl. etwa Johann Bernhard Basedow, Anschläge zu Armen-Anstalten wieder die Unordnung der Betteley, besonders in mittelmäßig-großen Städten. Dessau 1772, in denen der langjährige Reformpädagoge und spätere Begründer des Dessauer Philantropinums die »Angst vor Dieben« unter den Hungernden und die Gefahr »ansteckender Seuchen« dazu nutzte, Armenanstalten zu popularisieren, die dem Leipziger Modell in Finanzierung und Trägerschaft folgten, aber auf Dauer angelegt sein sollten. Ebd., 16, 18, 24. Vgl. auch Anon., Gedanken von besserer Versorgung der Armen, zum Vortheil des gemeinen Wesens, in: Gemeinnützige Abhandlungen 4, 25.4.1772, 25–31, in dem der Autor angesichts der »aufgeklärten Zeiten« ähnliche Armenanstalten fordert, die aber durch Zwangskollekten oder Lotterien finanziert und demonstrativ in aufgelassenen Klöstern oder zu schließenden Damenstiften einzurichten seien. Ebd., 28. Zur tatsächlichen Umsetzung solcher Maßnahmen vgl. unten Kap. 5.2.

Der Krisenstaat

195

den Reformern großen Einfluss auf die Gestaltung städtischer Fürsorge zu nehmen. Im Erzgebirge entstanden daher neben den befristeten Maßnahmen Dutzende auf Dauer angelegte Armen- und Schulanstalten, die an die Seite traditioneller Fürsorgeformen traten oder sie sogar ersetzten. In diesen Orten wurde das traditionelle Stadtregiment in der Krise durch bürgerliche ›Patrioten‹ herausgefordert und ergänzt.227 In den Städten, die weder über das administrative Potential Leipzigs noch über eine aktive Gruppe reformgesinnter ›Menschenfreunde‹ verfügten, blieb hingegen das traditionelle Ensemble heterogener Hilfsmaßnahmen intakt. In Köln, Biberach, Frankfurt und Hannover bestand die zentrale Hilfsmaßnahme weiterhin in der offenen Ausgabe von Armenbrot oder Suppen.228 Große Handelsstädte wie Nürnberg bemühten weiterhin das etablierte Arsenal der Teuerungspolitik, von Ankäufen im gesamten europäischen Ausland, über Preiskontrollen, Brotsubventionen bis zur unentgeltlichen Versorgung der Seuchenkranken. Zweimal die Woche gab man warmes Essen in einem neuen »Institut« an Arme aus. Auch hier warb man aber nun bürgerliche Spenden ein und bediente sich dazu des eindringlichen Verweises auf sonst drohende Epidemien. Statt an christliche Nächstenliebe appellierte man nun an den Selbstschutz der Bürger. Anders als in Leipzig wollte man das traditionelle personale Almosen aber nicht durch eine anonyme Fürsorge ersetzen, weshalb die Bürger sich selbst aussuchen konnten, wen ihre Spenden unterstützen sollten.229 Da all diese städtischen Maßnahmen aber nur einen kleinen Teil der Hungernden versorgen konnten, ergänzte man sie zunehmend mit symbolischen Maßnahmen. In Nürnberg wurde die Armenspeisung nun im Fechthaus vorgenommen, das zuvor der Lustbarkeit der Elite gedient hatte. In Biberach nahm das neue Arbeitshaus demonstrativ den Platz des städtischen Brauhauses ein.230 Trotz der enormen Kosten, insbesondere der Brotankäufe und -subvention, blieben diese heterogenen Maßnahmen in ihrer Wirkung begrenzt. Ohne Eingriffe in die Stadtverfassung und Hilfslieferungen des Umlands ließ sich der Hunger ebenso wenig bekämpfen wie die daraus resultierenden Krankheiten. Daher blieb auch die horrende Übersterblichkeit von bis zu 10 Prozent der Bevölkerung Teil des Alltags.231 In absoluten Zahlen verlor allein Augsburg in den Hungerjahren zusätzlich 5.000 Menschen, Dresden sogar 6.200.232 227 Vgl. unten Kap. 5.2. 228 Irsigler, Getreideumsatz, Bd. 2, XLIX; Krais, Fortsetzung, 227; Hazzi, Betrachtungen, 56; Ursula Brügman, Die Öffentliche Armenpflege der Stadt Hannover in den Jahren 1700 bis 1824, in: Hannoversche Geschichtsblätter NF 24, 1970, 89–146, hier 109. 229 Will, Teuerung; Abel, Massenarmut, 414 f.; Rat der Stadt Nürnberg, Mandat vom 9.3.1771 http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10490003_00001.html [6.10.2016]. 230 Rat der Stadt Nürnberg, Mandat vom 9.3.1771 http://reader.digitale-sammlungen.de/ de/fs1/object/display/bsb10490003_00001.html [6.10.2016]; Krais, Fortsetzung, 228. 231 Vgl. Kap. II.3.3. 232 Selbst das kleine Schwäbisch-Hall gab angeblich 400.000 Reichstaler für Ankäufe in Polen aus. Augsburg benötigte sogar 1 Million Gulden, von denen fast 200.000 als Verlust ver-

196

Handeln

Einen seltenen Einblick in die Art, wie die Akteure der städtischen Obrigkeit die Zumutungen und Chancen des Krisenmanagements selbst wahrnahmen, bietet die »Selbstbiographie« des Augsburger Ratsherren Paul von Stetten d. J. Der Patriziersohn war erst 1770 in den Inneren Rat der Stadt gewählt und unmittelbar darauf in die städtische Brotkommission berufen worden, da die älteren Ratsherren von der exponierten, unbesoldeten und undankbaren Aufgabe »bald genug« hatten. Wie vielen Nachwuchskräften boten ihm die Hungerjahre eine willkommene Chance, sich zu profilieren. Allerdings erlebte von Stetten die Position als »höchst unangenehmes Geschäfte. Auf der einen Seite Geschrey und Lermen aus Jammer und Habsucht, welchen beeden auf der andern nicht genug gesteuert werden konnte.« Sein Handlungsspielraum erwies sich rasch als eng begrenzt. Er musste mitansehen, wie seine teuren Hilfsausgaben von Profiteuren entfremdet und mit hohem Gewinn ins Ausland verkauft wurden. Auch seine Versuche, das desolate Zucht- und Arbeitshaus in ein funktionierendes Armenhaus umzuwandeln, scheiterten. Mitten in der Teuerung musste das Haus »aufhören auszutheilen«, weil »fast alle Einkünfte schwach oder unrechtigt« waren. Statt den Armen kamen die Einnahmen fast vollständig den »Officianten und Bedienten« zugute. Zugleich wuchs der Druck auf den Rat durch die rapide steigende Zahl der Armen in der Stadt, die mangels Alternativen der Bettelei nachgehen mussten. Angesichts dessen »schrieen die meisten Politicker, man müßte den armen Arbeit und Brod verschaffen.« Aber auch auf diesem Feld scheitern die ambitionierten Pläne eines städtischen »Projektanten«. Die Finanzierung von Arbeitshäusern, Schanzarbeiten oder der Reinigung des Stadtgrabens ließ sich im Rat angesichts der kostspieligen Getreidekäufe nicht mehr durchsetzen.233 In der Folge schlug sich die soziale Ungleichheit direkt in den Todeszahlen nieder. Die Mortalität unter den ärmeren Protestanten stieg auf das Zweieinhalbfache der katholischen Bevölkerung an.234 Der Tod brach auch in von Stettens eigenes Umfeld ein. Zwei seiner Töchter und mehrere enge Freunden starben. Am Ende der Hungerjahre bilanzierte der Patrizier sein Wirken daher äußerst zurückhaltend. Dabei klingen neben der standesgemäßen Bescheidenheit auch grundlegende Selbstzweifel und Resignation angesichts der vielen Toten durch. Er notierte: Man mußte bey diesen Gelegenheiten oft hart seyn und ich sorge selbst, daß ich zuweilen zu weit gegangen, wann mich der Ungestüm und Zudringlichkeit unmuthig machten. Allein diese waren zu groß, um dabey immer gelassen bleiben zu können […] doch obwohl ich seit 2 Jahren dabey nicht müßig gewesen, so ist doch dasjenige, was ich dermalen dabey thun können, des Erinnerns nicht würdig.235 blieben. Anon., Lesenswürdige Beschreibung, o. P.; Seida und Landensberg, Geschichte, 636. Zu den Todeszahlen: Jahn, Roboter, 164 und Stetten, Selbstbiographie, 53. 233 Stetten, Selbstbiographie, 53–61. 234 Seida und Landensberg, Geschichte, 635. 235 Stetten, Selbstbiographie, 54, 61.

197

Der Krisenstaat

Die selbstgesetzten Ansprüche städtischer Verantwortlicher ließen sich in den Krisenjahren offenbar nicht mehr erfüllen. Einerseits wuchsen mit der verfügbaren Infrastruktur der Städte auch die Erwartungshaltungen. Andererseits beschnitt die Notlage aber die Spielräume für souveränes Handeln. Die Beschränkungen resultierten nicht allein aus dem Ausmaß des Mangels oder den sozioökologischen Rahmenbedingungen. Sie gingen auch auf die komplexen städtischen Machtgefüge, agonale ökonomische Interessen und die stratifizierte Verfasstheit der Stadtgesellschaft zurück. In dieser Gemengelage war obrigkeitliches Handeln auf Kooperationen angewiesen. Je nach Konstellation nahm diese Zusammenarbeit unterschiedliche Formen an und ließ Raum für Neuerungen: Sie konnte wie in Leipzig zur situativen Verdichtung von Herrschaft durch Verfahren führen, zur Übernahme reformpädagogischer Ansätze wie im Erzgebirge oder zur Kollusion mit den Untertanen auf Kosten des Umlandes wie in Berlin.236 Allein per Dekret ließ sich Fürsorge auch in den Städten nicht organisieren.

1.7.  Symbolische Herrschaft In der Fläche des Landes blieben die Möglichkeiten der Obrigkeiten noch weitaus eingeschränkter. Keine der üblichen Maßnahmen versetzte die Herrschaft in die Lage, nicht nur bestimmte Gruppen, sondern der ganzen Bevölkerung Linderung zu verschaffen. Um dennoch Präsenz zu suggerieren, waren daher kommunikative und symbolische Maßnahmen nötig. Zahlreiche Fürsten versuchten in ihrem Territorium dadurch Nähe herzustellen, dass sie in der Notzeit demonstrativ auf Prunk und Festlichkeiten verzichteten und so die Einschränkungen ihrer Untertanen nachvollzogen. Jagden wurden verschoben, geplante Festivitäten abgesagt oder zumindest nicht mehr öffentlich zelebriert.237 Friedrich II. drängte sogar seinen Bruder Heinrich, sich in den Hungerjahren bei Tisch auf ein »simple diner« zu beschränken.238 In einer vielbeachteten und sofort publizierten Geste vergoss Maria Theresia sogar öffentlich Tränen über das Schicksal der Hungernden.239 Mehrfach begaben sich die Landesherren auf Reisen in die Notstandsgebiete, um dort sichtbar zu sein. Joseph II. brach 1771 zu einer groß angelegten Tour 236 Vgl. unten Kap. 5.2. und 5.3. 237 HStA Darmstadt Best. F 27 A Nr. 23/32; Khevenmüller-Metsch, Tagebuch, 115 (privat gingen die Vergnügungen jedoch weiter, ebd., 89, 139). 238 Friedrich II., Correspondenz, Bd. 31, 696. Einen ähnlichen Apell der britischen Königin dokumentiert der Reading Mercury vom 20.2.1772. Tatsächlich handelte es sich bei Friedrichs demonstrativer Askese wohl um eine sorgfältige Inszenierung: Tim Blanning, Frederick the Great. King of Prussia. London 2015, 449 f. 239 Zesch, Kanzelrede, 23. Ihre Rührung wurde europaweit verbreitet. Vgl. Caldeonian Mercury vom 15.7.1771; Derby Mercury vom 19.7.1771.

198

Handeln

durch die böhmischen Notstandsgebiete auf. Er selbst verstand die Fahrt nicht nur als Beschwichtigung der Untertanen, sondern auch als Möglichkeit zum direkten Eingriff in die Krisenbekämpfung. Entsprechend frustriert äußerte er sich darüber, dass die Wiener Behörden seine Reformvorschläge aus den Hungergebieten ignorierten und die Reise als reine Symbolpolitik des ›Volkskaisers‹ behandelten.240 Ähnliche Inspektionsreisen unternahmen der Salzburger Fürstbischof sowie – erheblich verspätet – der sächsische Kurfürst.241 Daneben bot die Hungersnot vor allem den Erbprinzen eine Chance, sich über Spenden als zukünftige Herrscher zu empfehlen.242 Wer sich dieser »Gefühlspolitik«243 hingegen verweigerte und trotz der Not weiterfeierte, riskierte den Verlust von Ansehen bis hin zu gewalttätigen Tumulten.244 Flankiert wurden solche Gesten durch Maßnahmen der Moralpolicey, wie dem Verbot der Herstellung von Haarpuder aus Mehl oder der Prohibition üppiger Hochzeitsfeiern, welche die scharfen sozialen Grenzen allzu deutlich visualisierten.245 Auch die ständigen Visitationen von Haus zu Haus fielen häufig in den Bereich der Symbolpolitik. Ergebnisse brachten sie mit zunehmender Dauer der Not kaum noch.246 Während Magazine und Getreidetransporte aber nur wenige Untertanen erreichten, trugen sie die Anordnungen der Obrigkeiten buchstäblich an jede Tür und schufen Präsenz auch in der Fläche. 240 Weinzierl-Fischer, Bekämpfung, 511. Vgl. seine im hungernden Prag verfasste »wohl wichtigste Denkschrift« in: Khevenmüller-Metsch, Tagebuch, 373–398. Dem Herzog der Toskana klagte er: »trotz all meines Geschreies thut man nichts«. Kumpfmüller, Hungersnot, 31. Zu seinen substantiellen Barspenden, ebd., 73. 241 Derflinger, Getreideteuerung, 8; Lungwitz, Hungersnot, 343. 242 Vgl. die demonstrativen Brotspenden des 14-jährigen Prinzen Karl August von Sachsen-Weimar. Wilhelm Bode, Das vorgoethesche Weimar. Berlin 1908, 140. 243 Frevert, Gefühlspolitik. 244 Der bayerische Kurfürst, der auf dem Höhepunkt der Hungerkrise, seinen Namenstag »with great splendor« feierte, sah sich bald mit Hungertumulten konfrontiert. National Archives, State Papers 81/109, Bericht vom 13.10.1771; Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 99. In einem kodierten Bericht urteilte der britische Gesandte: »The Crisis, to which this Country is reduced, has a real Foundation in the character of the Prince [Max III. Joseph]«. Sein Verhalten »extinguishes in the Hearts of Men the natural attachment to their Prince and Country. Much Paine has been taken with the Elector of Bavaria to expose to him the real Danger and the general Discontent.« National Archives, State Papers 81/109, Bericht vom 14.7.1771. Auch der schlechte Ruf des sächsischen Kurfürsten verdankte sich wohl der Tatsache, dass er trotz der finanziellen Notlage die kaum Hilfen zuließ, in den Hungerjahren weiter ostentative »Tafelfeste« feierte und sein Hof gegen dubiose Geschenke sogar Getreideexporte erlaubte, während die Untertanen hungerten. Miscellanea Saxonicae, 1772, 82–88; Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 108. Die Aufstände in Frankreich vollzogen sich auch vor dem Hintergrund der demonstrativ prunkvollen und extrem kostspieligen Hochzeit des Dauphins im Krisenjahr 1770. Vgl. Hans Pleschinski (Hrsg.), Nie war es herrlicher zu leben. Das geheime Tagebuch des Herzogs von Croÿ. München 2011, 236–242. 245 Hazzi, Betrachtungen, 51; Wagner, Beschreibung, 24; Vogt, Massnahmen, 69, HStA Stuttgart L6 Bü 1345, Verordnung vom 5.12.1770; Johann Heinrich Bieler, Im Schatten unserer gnädigen Herren. Aufzeichnungen eines Basler Überreiters. Hrsg. von Paul Köhler. Basel 1930, 186, Härter, Stolleis, Repertorium, Bd. 1, 552, Bd., 3.2., 1766, 1776, Bd. 6.2., 1249, Bd. 11, 894 f. 246 Schneider, Mangel, 285.

Der Krisenstaat

199

Auch die Anordnung von Gebeten wirkte auf diese Weise. Sie erreichten nicht bloß Teile, sondern die gesamte Bevölkerung. Sie wurden deshalb nicht nur in protestantischen, sondern auch in den vielen katholischen Territorien und Fürstbistümern auf Anregung oder in enger Abstimmung mit der weltlichen Obrigkeit angesetzt.247 Selbst den inneren Ablauf überließ man dabei nicht allein den Geistlichen. Viele Obrigkeiten gaben Details bis hin zu Gebetstexten durch gedruckte Vorlagen vor.248 Diese Gottesdienste schufen in der Not, in der sich bestehende ständische Ungleichheiten potenzierten, eine wichtige gemeinsame Plattform. Sie machten in den Zeiten extrem auseinanderklaffender Lebenswirklichkeiten eine vermeintliche Gemeinschaft erlebbar. Solche symbolischen Maßnahmen füllten die Lücken, welche die begrenzteren, physischen Mittel in der Fläche gelassen hatten. Sie machten Herrschaft präsent und erfahrbar und suchten die tiefen Gräben zuzudecken, die sich in der Notzeit offenbarten. Fürsten, die sie geschickt zu nutzen wussten, konnten sich damit erfolgreich als Landesvater inszenieren. Aber gerade diese Maßnahmen basierten weniger auf Herrschaft per Dekret als vielmehr auf einer Politik der Wechselseitigkeit. Die zeitweisen Beschränkungen von Luxus und Prunk reagierten direkt auf populäre Ressentiments. Die Reisen der Fürsten folgten der Klage, dass die Herren in der Not kaum greifbar erschienen. Sie wurden von den Bereisten sofort dafür instrumentalisiert, ihre Versorgung »fußfällig«, aber nachdrücklich – und oftmals durchaus erfolgreich – einzufordern.249 Die Bettage schließlich nahmen nicht nur das Trostbedürfnis und tiefe volksreligiöse Stimmungen positiv auf. Sie brachten mit ihren Kollekten auch erhebliche Spendensummen zusammen, die oftmals weit über den herrschaftlichen Zuwendungen lagen und anders als diese direkt an die Armen gingen.250 Statt einer paternalistischen Vereinnahmung von oben artikulierte sich hier eine notwendige, kommunikativ vermittelte Interaktion. 247 Anon., Feyerliches Bustagsgebeth in anhaltender Theuerung und kummervollen Zeitläuften am zweyten Sonntage nach trinitatis 1771, als am dermalen besonders angeordneten quatemberlichen Bus- und Bethtage für alle evangelischen Gemainen beym öffentlichen Gottesdienste mit vorgedruckter, acht Tage zuvor abgelesener Anzeige der gemeinschaftl. Predigttexte und Lieder. Augsburg 1771; Vogt, Massnahmen, 71. Zur langen Tradition von obrigkeitlich »angeordneten errndtGebeth und Prozessionen sonderbar in Nothfällen« in Bayern vgl. HStA München, GR 1209.17. In Wien ersetzte der Hof das übliche Kammerfest durch ein dreitägiges öffentliches Gebet gegen die Hungersnot. Khevenmhüller-Metsch, Tagebuch, 114 f. Ein praktisches Beispiel der Verknüpfung weltlicher Herrschaft und religiöser Form im katholischen Raum mitsamt der Gebetstexte bietet: Zesch, Kanzelrede. 248 Anon., Verordnung wie es bey der überhandgenommenen Theurung und Hungersnoth in denen Reußischen Herrschaften Jüngerer Linie mit der wöchentlich verordneten Bethstunde gehalten werden soll. Gera 1772; HStA Stuttgart L6 Bü 1345, Verordnung mit Gebetstexten vom 18.4.1771. Die überarbeitete Version in ebd., L6 Bü 1346, Verordnung vom 7.8.1771. 249 Kumpfmüller, Hungersnot, 80. 250 In Dresden kamen so 4.500 Rtlr. zusammen, die an die Armen gingen. HstA Dresden, Loc. 34126 Nr. 103.

200

Handeln

1.8.  Eine Krise des Staats? Trotz der enormen Vielfalt von geistlichen und weltlichen Obrigkeiten, von Landes-, Stadt- und Kleinstherrschaften lassen sich im Handeln der Regierungen Gemeinsamkeiten ausmachen. Alle folgten zunächst einem festgefügten ›Kanon‹ der Teuerungspolicey, der sich um 1770 kaum vom regulatorischen Repertoire des Spätmittelalters unterschied.251 Dieses eingeführte Ensemble von Praktiken prägte den Erfahrungshorizont der Obrigkeiten und ihrer Untertanen im Reich und darüber hinaus. Der Kanon vermittelte zwischen der Hungerkrise als Struktur und als Ereignis, zwischen Krise und Alltag. Er beförderte auch den unverkennbaren Präsentismus der gewählten Mittel, die allein als Notmaßnahme angelegt waren und keine nachhaltigen Veränderungen bezweckten. Zugleich sahen sich alle Obrigkeiten mit gravierenden Problemen konfrontiert. Sie durchbrachen die Routinen des Hungerkanons und schufen Raum für Neuerungen. Nicht nur die Klimaimpulse auch die Marktkräfte erwiesen sich dem Instrumentarium der Obrigkeiten als durchweg überlegen. Selbst große Territorien konnten die ökonomische Logik der Krise nicht durch Regulationen durchbrechen, sondern höchsten einhegen, etwa durch Ankäufe im Ausland, die weiterhin den Gesetzen des Marktes folgten. Auch die inneren Verteilungskonflikte zwischen Produzenten und Konsumenten oder die Zielkonflikte zwischen Steuerstaat und Fürsorge ließen sich im Kontext der Getreidegesellschaft nicht aufheben. Hinzu traten tiefgreifende Kommunikations- und Informationsdefizite. Sie entsprangen sowohl strategischer Desinformation der Untertanen und den Konkurrenzen innerhalb der Verwaltungen als auch der Notwendigkeit, das Natur­geschehen sowie das implizite Wissen der Untertanen überhaupt erst in die Sprache der Verwaltung zu übersetzen. Sie treten in der Krise lediglich deutlicher hervor, prägen aber das Handeln jeder vormodernen Verwaltung.252 Die faktische Machtlosigkeit vor Ort lässt sich in Subsistzenzkrisen bei fast jeder europäischen Regierung beobachten. Auch in der Frühen Neuzeit ist sie, anders als zuweilen angenommen, nicht primär davon abhängig, ob den Obrigkeiten genügend Beamte oder stehendes Militär zur Verfügung stand. Die Fähigkeits­ lücken reagierten vielmehr auf die zwangsläufigen Interessens- und Ressourcenkonflikte der Getreidekulturen. Möglichkeiten zur Partizipation oder Kollusion der Untertanen im Rahmen der moralischen Ökonomie eröffneten sich daher nicht bloß im exekutiv schwachen England, sondern auch im Reich.253 Die Schwäche der Reichsterritorien in der Normdurchsetzung wurde in der Krise so offensicht 251 Vgl. etwa zu 1437–38: Jörg, Teure, 178–271; Meyer, Studien, 43–55. 252 Peter Becker, Kulturgeschichte der Verwaltung, in: Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 15, 2003, 311–336, hier 322. 253 Zur Vermutung, die Entstehung der englischen ›moral economy‹ verdanke sich der Abwesenheit von Militär vgl. Walter, Subsistence, 61, 78.

Der Krisenstaat

201

lich, dass bereits die Zeitgenossen ihr Handlungsvermögen angesichts der vielfach geteilten Souveränität und der Ständeprivilegien höchst skeptisch bewerteten.254 Das Handeln der Obrigkeiten unterlag aber nicht nur Zwängen, es manifestierte sich auch selbst als Zwang.255 In ihren Eingriffen äußerte sich ein Klientelismus, der Gruppen, die dem Staatsapparat räumlich oder sozial besonders nahe standen, auf Kosten Dritter unterstützte. In der Verteilung der begrenzten Mittel wurden daher häufig die Bewohner der Residenzstädte oder die Stände gegenüber den verwundbarsten Gruppen bevorzugt. Die Notzeit mit ihren dramatisch begrenzten Ressourcen akzentuierte diese im Alltag oft verdeckten Asymmetrien nicht nur, sie verlieh ihnen angesichts der existentiellen Not auch ein größeres Gewicht. Diese Beschränkungen und Probleme vertrugen sich nur schlecht mit dem Selbstbild der Regierungen. Sie waren um 1770 weitgehend kameralistisch geprägt. Ihr Anspruch an die Reichweite ihrer Handlungen ging deutlich über den ihrer merkantilistischen Vorgänger hinaus. Er artikulierte sich in den immer umfassenderen Regelungen der ›Guten Policey‹ und zielte tendenziell darauf, die Interessen von Fürst und Untertanen in eins zu setzen.256 In der Praxis ließ sich während der Krise aber weder das angestrebte Gewaltmonopol noch die Verräumlichung des Staates, die Verdichtung obrigkeitlicher Kontrolle oder die erhoffte Versicherheit­lichung durch Vorsorge realisieren. In der Not manifestierte sich vielmehr der »disordered police state«, den Andrew Wakefield konstatiert hat.257 Die Fallhöhe zwischen Anspruch und Praxis der Kameralisten bahnte in der Folge den neuen liberalen ökonomischen Theorien und der privat organisierten Wohlfahrt den Weg.258 Die Verwaltungen reagierten auf die Mängel mit permanenten Nachsteuerungen, mit intensivierter Krisenkommunikation und mit Kooperationen, die von außen betrachtet zuweilen chaotisch wirken. In der Forschung werden die Maßnahmen der Regierungen daher häufig als »konzeptlos«, »halbherzig«, als »bloße Reaktionen« oder als »zwiespältig und planlos« beschrieben.259 Die Praxis der Obrigkeiten entsprang aber nicht einfach der desaströsen Informationslage oder den eigenen Fiskalinteressen. In ihr artikuliert sich vielmehr der kollektive Kontext frühneuzeitlicher Herrschaft. Sie gestaltete sich weder absolut, automatisiert noch autonom, sondern vielfach geteilt, gebunden und vermittelt. In der Krise zeigt sich deutlicher als sonst, wie sehr das Regiment auf kommunikativen Akten statt auf internalisierten Befehlsketten beruhte. 254 Schrader, Kunst, 30. 255 Zu dieser doppelten Einhegung von Praktiken vgl. Füssel, Praxis, 29. 256 Justus Nipperdey, Regulierung zur Sicherung der Nahrung. Zur Übereinstimmung von Menschenbild und Marktmodell bei Zünften und Kameralisten, in: Margrit Müller, Heinrich R. Schmidt, Laurent Tissot (Hrsg.), Regulierte Märkte. Zünfte und Kartelle. Zürich 2011, 165–182. 257 Wakefield, Police State. 258 Vgl. unten Kap. 4.1. und 5.2. 259 Schlöder, Bonn, 270; Huhn, Teuerungspolitik, 80; Schneider, Mangel, 290; Kluge, Hunger, 74.

202

Handeln

Die Mandate, Verrufe und Verordnungen besaßen neben ihrer normativen auch eine symbolische Komponente, die aber durchaus praktische Effekte auslösen konnte. Selbst an der Stelle, an der sie keine direkten physischen Hilfen zu mobilisieren vermochten, markierten sie sehr effektiv Zuständigkeiten, Hierarchien und Abhängigkeiten. Sie benannten Sicherheitsgeber und Sicherheitsnehmer und formulierten Konsensfiktionen, oft unter Ausschluss anderer konkurrierender Akteure.260 Die offensichtliche Bedürftigkeit der Hungernden ließ sich aus dieser Perspektive statt als Versagen sogar als Bestätigung dieser Abhängigkeitsbeziehungen lesen. Wie die folgenden Kapitel zeigen, machte es für die Untertanen vielfach Sinn, diese Sichtweise zu unterstützen, um Hilfen zu akquirieren. In den 1770er Jahren traf der kommunikative Ausschluss vor allem die Kirchen. Sie verantworteten nach wie vor zentrale Teile der Fürsorgestrukturen, auch wenn ihre Vertreter zuweilen zu den heimlichen Profiteuren gehörten. Ihre Rolle als Trostspender und Sinnstifter nahm in der Not sogar noch zu. Gleichwohl kamen die Kirchen im Konzert obrigkeitlichen Handels kaum noch vor. Gebete und Kollekten konnten mit Mandaten und Gesetzen nicht mehr konkurrieren. Sie wurden kommunikativ auf die Rolle als »Juniorpartner«261 reduziert. Ihre materielle und spirituelle Bedeutung übersetzte sich nicht mehr in eigenständige Gestaltungsmacht. Die finanziell zuweilen weit schwächer aufgestellten weltlichen Regimenter bestimmten die Agenda.262 Diese kommunikativ gegründete Herrschaft ruhte allerdings auf dem Fundament der Wechselseitigkeit. Sie erlaubte Aushandlungs- und Verständigungsprozesse. Diese materialisierten sich in der Anlage von Grenzsperren und der Aus 260 Zur Relevanz dieses Prozesses vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, The Impact of Communication Theory on the Analysis of the Early Modern Statebuilding Processes, in: Blockmans, Holenstein, Mathieu, Empowering Interactions, 313–318. 261 So in Anlehnung an Wolfgang Reinhardt: Joachim Bahlcke, Landesherrschaft, Territorien und Staat in der Frühen Neuzeit. München 2012, 97. 262 Zur Debatte um das Ausmaß religiöser Fürsorge vgl. etwa Rankl, Politik, 768. Einzelne Pfarrhäuser versorgten zwar weiterhin zahlreiche Arme (vgl. etwa Schubert, Arme, 5; Wagner, Beschreibung, 25; Oppermann, Geschichte, Bd. 2, 276). Dennoch häuften sich die Klagen über die fehlende Hilfsbereitschaft der Kirchen. Khevenmüller-Metsch, Tagebuch, 283; Bräuer, Capitalisten, 129. Dies galt zumal, da diese über ihren Landbesitz oft zu den Gewinnern der Teuerung gehörten. Ihre Profite boten mehrfach Anlass für gewaltsame Proteste. Vgl. Stadtarchiv Pfullingen, A 262 (Frucht-Vorraths-Rechnung, 1771), 1v.-2r.; Gemeindechronik Jenbach, http://www. jenbach.at/gemeindeamt/html/04_1770–1838.pdf (aufgerufen am 7.11.2016). Der schleichende Transfer von Hilfen aus dem kirchlichen in den weltlichen Bereich lässt sich nicht nur im protestantischen Bereich beobachten: Bayern handelte in der Krise mit dem Papst die Besteuerung kirchlicher Profite aus, um die teuren Getreideankäufe finanzieren zu können. National Archives, State Papers, 81/109, Bericht aus München vom 15.8. und 19.9.1771. Zudem bot die Aufhebung des Jesuitenordens 1772 die Gelegenheit, kirchliche Einkünfte der staatlichen Armen- und Bildungspolitik zufließen zu lassen. Heinrich August Erhard, Erfurth mit seinen Umgebungen; nach seiner Geschichte und seinen gegenwärtigen gesamten Verhältnissen dargestellt. Ein Handbuch für Einheimische und Fremde. Erfurt 1829, 105.

203

Überlebensökonomie

teilung des Magazinkorns ebenso wie in den erzwungenen Ankäufen im Ausland oder in neuen städtischen Fürsorgekonzepten. Je nach der Agenda der Dialogpartner bot sich hier Raum für Neuerungen und die Kollusion von Herrschern und Beherrschten. Aus der Nähe betrachtet erweisen sich die Obrigkeiten in der Krise daher nur selten als autonom handlungsfähig. Auf vielen Feldern stellten sie nicht einmal die maßgeblichen Akteure der Hungersnot. Um die Logik ihres Handelns zu verstehen, muss man daher unbedingt auch die anderen Teilnehmer in den Blick nehmen. Dabei wird sich zeigen, dass die in Klimakrise und Notzeit gewährte Partizipation nicht nur Potential für die Reproduktion von Machstrukturen besaß, sondern auch für ihre temporäre Subversion.

2. Überlebensökonomie Das Handeln der Untertanen ist weit schwieriger zu erfassen, als das der Regierungen. Die Aktionsformen der einfachen Leute blieben oft informell, hinterließen weniger Spuren und bewegten sich häufig in legalen Grauzonen. Viele Notpraktiken waren sozial geächtet und drohten bei ihrem Bekanntwerden die soziale Teilhabe zu gefährden. Daher existieren oft nur indirekte Hinweise auf ihre Reaktionen auf die Hungersnot. Wo sie dennoch fassbar werden, lassen sich auch die Praktiken der Untertanen nur im Zusammenspiel mit den anderen Akteuren verstehen. Eine separate Hungerkultur der Unterschichten existierte in der Vormoderne ebenso wenig wie völlig souveräne Obrigkeiten. Viele Handlungen bezogen die Herrschaft mit ein, indem sie diese direkt adressierten oder indem sie deren Vorgaben gezielt umgingen. Auch bei den Untertanen lässt sich aber ein traditionelles Ensemble von Praktiken beobachten, das zunächst eine eigenständige Betrachtung sinnvoll macht. Dem obrigkeitlichen ›Kanon‹ der Teuerungspolicey entsprach auf Seiten der Untertanen das Repertoire der ›Überlebensökonomie‹. Das Spektrum dieser Notmaßnahmen war ähnlich breit wie die Regelungsfelder der herrschaftlichen Mandate. Es reichte von Fasten, Verpfänden, Borgen und Beten bis zu Nahrungssubstitution, Migration, Schmuggel und Hungerkriminalität. Ein zentrales Aktionsfeld bildete die kommunikative Aktivierung horizontaler oder vertikaler sozialer Netzwerke. Sie reichten von der Familien- und Nachbarschaftshilfe einerseits bis zur Supplikation beim Herrscher und dem Hunger­ tumult andererseits. Weitervermittelt wurden diese Aktionsformen nicht wie der Teuerungs­kanon durch Gesetzestexte, sondern durch ein dichtes, europaweites Netz popularer Traditionen. In Festen, Huldigungsformeln, Ritualen, Sprichwörtern, Märchen oder Bauernregeln spielte die Abwendung von Hunger eine zentrale Rolle. Viele Maßnahmen praktizierte man zudem nicht nur in Hungerjahren. In ärmeren Gesellschaftsschichten oder in den kargen Wintermonaten gehörten sie überall zum Alltag, wenn auch in abgemilderter Form. Diese »economy of makeshift« reagierte auf die strukturelle Vulnerabilität weiter Teile der Getreide-

204

Handeln

gesellschaft. Sie war so allgemein präsent, dass man von einer regelrechten europäischen »Hungerkultur« sprechen kann.263 Aufgrund dieser kulturellen Gebundenheit orientierte sich das Handeln der Betroffenen nicht allein an der physischen Effizienz der Maßnahmen, sondern auch an ihren sozialen Folgen oder ihrer religiösen Einhegung. Allerdings müssen diese Felder einander nicht ausschließen. Gebete konnten ebenso das Trostbedürfnis der Hungernden befriedigen, wie den Vermögenden die soziale Gemeinschaft in Erinnerung rufen. Wallfahrten und Prozessionen stifteten Gemeinschaft, wurden von den Obrigkeiten aber, vielfach zu Recht, als Demonstration wahrgenommen. In dem trotzigen Beharren auf Brot als Hauptnahrung artikulierte sich auch die berechtigte Befürchtung, mit der Aufgabe der bürgerlichen Nahrungs- zugleich die Fürsorgegemeinschaft verlassen zu müssen. Viele vermeintlich kontraintuitive Handlungsmuster lassen sich daher erst aus der Perspektive der Betroffenen verstehen. Die erste Reaktion auf den Mangel bestand in der Reduktion des Konsums. Bei der Nahrung selbst bestanden meist nur sehr geringe Spielräume. Schon in normalen Zeiten lag die Kalorienaufnahme für den Großteil der Bevölkerung nur äußerst knapp über dem Bedarf und verschlang dennoch einen Großteil der Haushaltsbudgets. Mehr Flexibilität bot der verbleibende Teil der Ausgaben. Anschaffungen, die über die Nahrung hinausgingen, wurden nun aufgeschoben oder unterblieben völlig. Die schwere Gewerbekrise deutet an, welch drastische Einschränkungen hier in Krisenzeiten gemacht wurden. Sobald Sparsamkeit allein die weiter steigenden Preise nicht auffangen konnte, setzte Schritt für Schritt das Ensemble der Überlebensökonomie ein. Vielfach versuchten die ärmeren Leute zunächst ihr Einkommen temporär zu vergrößern. Dazu griffen sie etwa auf informelle Kredite sowie die Verpfändung oder den Verkauf ihrer Güter zurück.264 Der Landeshauptmann des Erzgebirges beobachtete, dass seine Untertanen das »Geld für ein Brot mit Mühe und Not, mit Sorgen, Borgen und Betteln, durch Pfänder zusammenbringen«.265 Das Borgen von Geld, Naturalien oder Produktionsmitteln war zuweilen im privaten Umfeld möglich. Daneben gaben – wie auch in normalen Zeiten – Wirtshäuser, Kleinhändler oder Verleger in begrenztem Rahmen Kredit.266 Ulrich Bräker notierte in den Notjahren: »Bey den armen Spinnern und Webern war nichts als Borgen und 263 Hufton, Poor; Camporesi, Brot. 264 Zur fundamentalen Bedeutung dieser Überlebenspraktiken vgl. Laurence Fontaine, L’Économie morale. Pauvreté, crédit et confiance dans l’Europe préindustrielle. Paris 2008; Jürgen Schlumbohm (Hrsg.), Soziale Praxis des Kredits. 16.-20. Jahrhundert. Hannover 2007. 265 Graf zu Solms an das Kammerkollegium vom 26.7.1771, Dresden, HStA Dresden, Loc. 34127, Nr. 164a o. P. 266 Militzer, Klima, Kap. 5.13.2.; Walter, Subsistence, 68. Zu den privaten Kreditgebern gehörte auch Ulrich Bräker, der »villen armen leüthen geborgt«, da offizieller Kredit nicht mehr zu haben war. Bräker, Schriften, Bd. 1, 470.

Überlebensökonomie

205

Borgen.«267 War diese Möglichkeit erschöpft, gehörte die Verpfändung des Besitzes zum festen Repertoire der Schutzmaßnahmen. Die Pfandleihe war nominell vielen Regeln unterworfen. In den Notjahren verlief sie aber dennoch oft informell und unkontrolliert, sodass sich die Regierungen häufig zum Einschreiten gezwungen sahen.268 Diese sekundären Ökonomien existierten auch in den normalen Jahren neben und unter dem offiziellen Marktgeschehen. In der Krise wird ihre Bedeutung aber allgemein sichtbar. Ihr Ausmaß haben neben den zeitgenössischen Obrigkeiten auch weite Teile der historischen Forschung lange unterschätzt.269 Neben den Praktiken dieser Schattenökonomie beobachteten die Zeitgenossen häufig reguläre, aber gleichwohl zwangsförmige Notverkäufe. Immer wieder empörten sich Augenzeugen, dass die Häuser der Ärmsten bald von jedem Besitz entblößt waren. Sogar das Stroh der Dächer wurde verkauft. In den Hungergebieten besaßen die Notleidenden zuletzt oft nicht einmal mehr die Kleidung, um ihr Haus zu verlassen oder den Gottesdienst zu besuchen.270 Weit weniger ist über die Nutznießer dieser Verkäufe bekannt. Implizit deuten die Transaktionen auf die eskalierende soziale Ungleichheit hin, dank der all diese Waren irgendwo einen vermögenderen Besitzer fanden. Aus dem Erzgebirge berichtete ein zeitnaher Chronist, es »wurde alles von Bürgern aufs Land [den Bauern] verkauft an Wäsche, Kleidung, zum Betten.«. Auch die armen Leipziger zogen vor die Stadttore, um »aus Not von ihren Kleidern etwas auf dem Lande« zu verkaufen.271 Diese Klagen artikulieren jedoch auch antibäuerliche Ressentiments angesichts der schmerzhaften Umkehrung des üblichen Stadt-Land-Gefälles. Ebenso häufig waren es die vermögenderen Nachbarn und dörflichen Eliten, bei denen Kleider und Möbel-

267 Bräker, Schriften, Bd. 2, 489. 268 HStA Stuttgart, L6 Bü 1327, 1328, p. 17 (Einrichtung eines staatlichen Leihauses, Verordnung gegen Vermögenszerfall); Freitag, Krisen, 106. 269 Vgl. etwa Thomas Büchner, Philip R. Hoffmann-Rehnitz, Introduction. Irregular Economic Practices as a Topic of Modern (Urban) History. Problems and Possibilities, in: Dies. (Hrsg.), Shadow Economies and and Irregular Work in Urban Europe. 16th to Early 20th ­Centuries. Wien, Berlin, Münster 2011, 3–36; Gerd Stöger, Sekundäre Märkte? Zum Wiener und Salzburger Gebrauchtwarenhandel im 17. und 18. Jahrhundert. München 2011 sowie Garbiela Signori (Hrsg.), Prekäre Ökonomien. Schulden in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Konstanz, München 2014. 270 In einem Hungergedicht aus dem Erzgebirge hieß es: »Ich hab die Kleider meist alle verkaufen müssen/Und andre Meublen mehr, Zinn, Betten, Pfühl und Kissen/Letzt wurde noch verkauft die Federn aus den Betten/Nur daß ich mich in Noth mit Weib und Kind konnt retten«. Fichtner, Beschreibung, o.P. Der Schneidermeister Christian Friedrich Marburg notierte: »Um sich des Hungers zu erwehren, so verkauften viele Familien alle ihre Mobilien um einen geringen Preis. Frauen- und Herrenkleider wurden für 1 bis 2 Taler verkauft. Den ganzen Tag über wurden Federbetten, Bettwäsche, Schränke, Kommoden, Koffer, Laden, Zinn, Kupfer, Messing, Halsbänder, gute Schnallen bis in die Nacht hinein feilgetragen und um ein Spottgeld verkauft«. Sebastian, Entstehung, 199. Vgl. auch Wagner, Beschreibung, 11. 271 Spreckel, Hauschronik, 119; Militzer, Klima, Tab. 42, Nr. 89.

206

Handeln

stücke endeten.272 In der populären Überlieferung finden sich Geschichten, dass auf dem Höhepunkt der Notökonomie ganze Grundstücke oder Häuser für einen Laib Brot ihren Besitzer wechselten. Diese vermuteten Transaktionen prägten sich in Form von Ortsbezeichnungen wie der »Brotwiese« oder dem »Brotmännelhaus« in das kollektive Gedächtnis der Überlebenden ein.273 Sie stehen stellvertretend für das als erschreckend empfundene Ausmaß asymmetrischer Tauschgeschäfte in den Notzeiten und die Tatsache, dass der völlige Besitzverlust die Betroffenen wohl noch Jahre nach dem Ende der akuten Teuerung getroffen hat.

2.1. Notnahrung Wenn all diese Möglichkeiten ausgeschöpft waren, blieb den Betroffenen nur noch der Umstieg auf Notnahrung. In der Getreidegesellschaft verband sich mit dem Ausstieg aus der Broternährung und dem Verzehr von Substituten ein erhebliches Stigma. Es erklärt die Zurückhaltung der Betroffenen, die bis zuletzt versuchten, an der Brotkultur und damit an der dörflichen Nahrungsgemeinschaft teilzuhaben. Es motiviert wohl auch die Vielzahl der empörten Berichte über den Gebrauch von Notnahrung. Die Abkehr vom Brot galt seit jeher als Indikator schwerer gesellschaftlicher Erschütterungen. Ihre Schilderung beinhaltete implizit immer auch die Forderung an die Obrigkeiten, die gewohnte Ordnung durch Eingriffe und Brotverteilungen wieder herzustellen.274 Dass es sich beim Verzehr von Notnahrung trotz dieser langen narrativen Tradition nicht um bloße Topoi handelt, zeigen bereits die Autopsien der Hungertoten.275 Nahrung bildet in jeder Gesellschaft ein zentrales Feld, über das Teilhabe und Identität vermittelt werden. Nahrungswechsel in Krisenzeiten sind daher bis heute umstritten und umkämpft.276 In den 1770er Jahren rief die Thematik eine Reihe bürgerlicher Reformer auf den Plan. Sie propagierten mögliche Brotsubstitute in volksaufklärerischen Schriften, den Zeitungen oder dem immer wieder aufgeleg-

272 Zu einem Stadtrichter, der im erzgebirgischen Hohenstein den Hungernden ihre Habe für Spottpreise abkaufte vgl. Sebastian, Entstehung, 203. 273 Jäger Dorfchronik, 236. Heinz Dieter Kurz, Klassiker des ökonomischen Denkens, Bd. 1. München 2008, 273. Dass die Häuserpreise fielen und »ville mobilien […] um ein spott verkaufft« werden, beobachtete auch Ulrich Bräker: Bräker, Schriften, Bd. 1, 265. 274 Zur europaweiten Verbreitung und Geschichte der Notnahrung vgl. Camporesi, Brot; Weiss, Providum 44; Susan M. Drury, The Use of Wild Plants as Famine Foods in Eighteenth Century Scotland and Ireland, in: Plant Lore Studies 18, 1984, 43–60. Zur physiologischen Perspektive vgl. Hans Jürgen Holtmeier, Überlebensernährung. München 1986. 275 Vgl. etwa Opfermann, Geschichte, 390: »als Nahrung wurde sogar das aufgenommen, was sonst als Viehfutter dient.« 276 Steven Shapin, ›You Are What You Eat‹. Historical Changes in Ideas about Food and Identity, in: Historical Research 87, 2014, 377–392.

Überlebensökonomie

207

ten Handbuch Wie man bei diesen theuren Zeiten wohlfeil und gut leben könne.277 Das Thema lag den Aufklärern aus mehreren Gründen besonders nahe. Es überschnitt sich mit ihrer Begeisterung für Naturkunde und bot ihnen die Möglichkeit, vermeintlich unsinnige Tabus zu hinterfragen. Es entsprach zudem ihrer Überzeugung, dass sich die Hungersnot am besten durch technische Reformen statt durch soziale Veränderungen bewältigen lasse. Zudem reagierte ihr Engagement darauf, dass die Klage über Notnahrung unterschwellig dazu diente, die kostspielige Interaktion von Herrschern und Untertanen zu legitimieren, der die bürgerlichen Reformer grundsätzlich skeptisch gegenüber standen. In den Notjahren kamen aus ihren Reihen daher zahlreiche Vorschläge, wie die Ernährung der Armen mithilfe fremder oder bisher verschmähter Lebensmittel erfolgen könnte. Dabei übersahen sie gezielt, wie sehr Nahrung neben der kalorischen auch eine soziale Bedeutung besaß. Der Widerstand, der sich etwa gegen die in den 1770er Jahren beginnende Austeilung von Reis formierte, ging nicht bloß auf Unwissen oder die Ablehnung von Neuerungen zurück. Er richtete sich auch dagegen, die wachsende Kluft zwischen Bürgertum und Unterschicht durch unterschiedliche Nahrungsmittel zu zementieren.278 Zuweilen ließ sich selbst die Herstellung eines separaten Mischbrotes für die gemeinen Leute nur mit der Androhung von »Arbeitshaus oder das Karbatschen« durchsetzen.279 In den Kämpfen um die Notnahrung manifestierten sich immer auch soziale Konflikte. Umgesetzt wurden die Vorschläge der bürgerlichen Experten daher zumeist erst in späteren Jahren – etwa in Form der notorischen Rumfordschen Suppe.280 Sie illustrieren aber bereits den Willen der Reformer zur Exklusion sowie den sozialen Sprengstoff, den dieses Feld barg. In der Praxis versuchten die Konsumenten zunächst, zumindest teilweise weiter an Brot und Getreide zu partizipieren. Statt des Korns selbst nutzte man nun die beim Mahlen entstehenden Abfallprodukte Kleie und Spelz (Samenhüllen- und 277 Vgl. Holger Böning, Reinhart Siegert, Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850, Bd. 1. Stuttgart 1990, Nr. 795, 850, 852, 853, 832, 858, 872, 895, 946, 986 sowie Anon., Von einigen Nahrungsmitteln bey einer allgemeinen Theurung; Anon., Ökonomischer Reis, in: Erfurthisches Intelligenzblatt vom 4.11.1770, 355 und vom 27.7.1771, 237–239; Anon., Wohlgemeinte Nachricht an alle Mangelleidende, und die so Ihnen zu helffen begehren. Trogen 1771 [Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, App b 7521]; Anon., Anweisung wegen der Speise des gemeinen Mannes, in: Beherzigung der Zeit 1772, 75–77. Ziel dieser Schriften war es, »daß man dem gemeinen Manne bey aller Gelegenheit die Vorstellung benehmen muß, daß er nicht leben könne, wenn er nicht täglich seine gewöhnliche Portion von ordentlich gebackenem Rockenbrot habe«. Münchhausen, Kornhandel, 129 f. 278 Zur umstrittenen Reisverteilung in Kurhannover und Böhmen vgl. HStA Hannover, Hann. 74 Göttingen 3389, Verordnung vom 17.3.1772; Kumpfmüller, 83 f.; Wagner, Beschreibung, 43. In Paris nutzte man ihn bereits in der Krise 1740. Vgl. Kaplan, Famine Plot, 41. 279 Ried, Neumarkt, 638; Hazzi, Betrachtungen, 42. 280 Benjamin Thompson Graf von Rumford, Ueber Speiße und Beköstigung der Armen, in: Ders., Kleine Schriften politischen, ökonomischen und philosophischen Inhalts. Weimar 1797, 247–267.

208

Handeln

blätter), die sich allerdings nur schwer verdauen ließen.281 Vielfach wurde damit experimentiert, das Brotgetreide mit Zusätzen zu strecken.282 War auch das nicht mehr möglich, versuchte man ›Brot‹ ganz aus Ersatzstoffen herzustellen. Zu diesen Surrogaten zählten Getreidegräser wie Quecken und Hafer, aber auch Reis, Kartoffeln, Rüben, getrocknete Kohlrabi, Wurzeln oder sogar Gurken. Auf diese Art hoffte man, zumindest der äußerlichen Form nach, weiterhin am ersten Nahrungsmarkt teilzuhaben.283 Jenseits des Getreides standen in den Notjahren bald kaum noch Alternativen zur Verfügung, die gesellschaftliche Akzeptanz besaßen. Die übliche Beikost in Form von Gemüse, Hülsenfrüchten oder Kartoffeln war von den Ernteausfällen ebenfalls betroffen und stieg im Preis ebenso rasch wie das Getreide selbst. Wo dies möglich war, versuchte man, die Nahrungsgrundlage durch das Sammeln wilder Beeren und Kräuter zu ergänzen. Oft war die Konkurrenz hier jedoch so groß, dass es zu regelrechten Prügeleien um die besten Sammelplätze kam.284 Auf dem Höhepunkt der Not griffen daher weite Teile der Bevölkerung auch auf ungewohnte oder ›unreine‹ Nahrung zurück. Aus den Hungergebieten meldete man immer wieder den Verzehr von Katzen und Hunden oder von Aas.285 In ihrer Not versuchten die Hungernden, ihre Not schließlich auch mit Eicheln, gehacktem Stroh, Wurzeln und »schwarzen Schnecken« zu lindern, oder indem sie »wie das Vieh das gras auf dem Felde vor Hunger« aßen.286 Der Konsum solcher Notnahrung führte rasch zu heftigen Dysenterien und Mangel-Krankheiten. 281 »Viele rührten Kleyen mit Wasser ein, bucken es auf dem Ofen, und kochten daraus in Wasser, ohne weitere Zuthat, einen Brey, oder Suppe. Bey solcher Kost und unter dem Kummer wurden schon im Sommer Erwachsene und Kinder bleich, erdfahl und so entkräftet, daß sie auf den Straßen nicht mehr fortkommen konnten, vom Grimmen und Schmerzen in Gedärmen gepeinigt, geschwollen an Füßen, aufgedunsen im Gesicht und am ganzen Leibe.« Miscellanea Saxonicae, 1772, 74. 282 In einem bäuerlichen Tagebuch heißte es: »von Erdbirn haben die Leuthe Brot gebacken, und die meiste Nahrung gehabt, die Zwechßgen haben die Leuthe getorth und gerieben unters Brot in Kleyen und getorte Weiße Ruben etc. und Broth davon gebacken. Welches ich selbst versuchet habe, habe aber keines zum Halß ab bringen können«. Bärnthol, Reben, 134. 283 Korn, Briefe, 57; Opfermann, Geschichte, 390; Vogt, Massnahmen, 66; Jahn, Roboter, 167. 284 Spreckel, Hauschronik, 120. 285 Arand, Abhandlung, 33; Opfermann, Geschichte, 384; Abel, Massenarmut, 256; Sebastian, Entstehung, 198 f. Ulrich Bräker berichtete: »Die Noth stieg um diese Zeit so hoch, daß viele eigentlich blutarme Leuthe kaum den Frühling erwarten mochten, wo sie Wurzeln und Kräuter finden konnten. Auch ich kochte allerhand dergleichen, und hätte meine jungen Vögel noch immer lieber mit frischem Laub genährt, als es einem meiner erbarmungswürdigen Landsmänner nachgemacht, dem ich mit eignen Augen zusah, wie er mit seinen Kindern von einem verreckten Pferd einen ganzen Sack voll Fleisch abgehackt, woran sich schon mehrere Tage Hunde und Vögel satt gefressen«. Bräker, Schriften, Bd. 2, 490. 286 Schubert, Arme, 16; Wagner, Beschreibung, 12 f. In den Zeitungen meldete man, dass die Hungernden »auf den Gassen und in den Winkeln der Häuser die unflätigsten, gefrornen und halb verfaulten Schaalen von Kraut, Rüben und Erdäpfeln suchten, und solche heiß in sich schluckten, ingleichen Brod, das sonst für die Hunde gebacken wird, aus Kleyen, unausgebacken

Überlebensökonomie

209

Zudem war der Verzehr dieser Stoffe in normalen Zeiten dem Vieh vorbehalten, ebenso wie Kleie und teilweise die Kartoffeln.287 Ihr Konsum drohte, die MenschTier-Schranke zu verwischen und die Betroffenen dauerhaft aus der Sozialgemeinschaft auszuschließen. In diesem Umfeld verbreiteten sich schließlich auch Berichte zu Kannibalismus. Sie gehörten seit jeher zum Repertoire europäischer Hungererzählungen.288 Besonders große Aufmerksamkeit fand der öffentlich geführte Prozess gegen einen »Menschenfresser« aus dem thüringischen Eichelborn. Der in der Krise arbeitslos gewordene Kuhhirte Johann Nicolaus Goldschmidt gestand auf dem Höhepunkt der Not, im April 1772 ein elfjähriges Mädchen ermordet und teilweise verspeist zu haben. Zur Begründung gab er an, er habe sich auf diese Weise »in Proviant setzen« wollen. Die Frage, ob es sich dabei um die erschreckende Wahrheit oder um eine Schutzbehauptung handelte, wurde überregional in Flugblättern verbreitet und debattiert. Angesichts der verheerenden Not erschien seine Argumentation aber nicht bloß dem Angeklagten, sondern auch vielen Zeitgenossen plausibel.289 Die vielleicht eindringlichste Beschreibung tatsächlicher Notnahrung liefern die späteren Aufzeichnungen des damals fünfjährigen Hanso Nepila aus der Lausitz. Seine in wendischem Dialekt notierte und nah am mündlichen verfasste Autobiographie berichtet nicht nur von der weitverbreiteten Praxis der Wildsammlung von Kräutern. Sie dokumentiert auch das Vorkommen von ›Geophagie‹. Dieser hungerstillende Verzehr von Erde lässt sich in Notzeiten transkulturell als allerletzter Ausweg beobachten.290 Auf den mageren Sandböden der Lausitz hatte die und so verdorben, daß es der Hund stehen läßt, dem Gesinde aus den Händen rissen, und froh wären es ungestraft vor dessen Augen einschlucken zu dürfen«. Miscellanea Saxonicae, 1772, 74. 287 Schmahling, Nachruff, 78; Leitner, Bittrede, 17. 288 Daniel Fulda, »Wann wir die Menschenfresser nicht in Africa oder sonsten/sondern vor unserer Hausthür suchen müssen.« Hungeranthropophagie im Dreißigjährigen Krieg und der europäische Kannibalismusdiskurs, in: Hedwig Röckelein (Hrsg.), Kannibalismus und europäische Kultur. Tübingen, 1996, 143–175. 289 Laut den Gerichtsakten hatte Goldschmidt das Kind getötet, um auf den Nachtwachen, mit denen er nun sein Unterhalt zu verdienen suchte, etwas »Zukost zum Brodte« zu haben. Daher habe er nach dem Mord »ein Stückchen gekochtes und gebratenes Fleisch aus Neugierde« probiert und auch seiner Frau vorgesetzt. Skeptiker verwiesen darauf, dass er noch am Tag zuvor verbilligtes Brot aus einer Armenspeisung der Herzogin Anna Amalia erhalten habe und daher nicht aus direkter Not gehandelt haben könne. Zudem sei er als jähzornig bekannt. Die Vollstreckung des demonstrativ grausamen Todesurteils gegen Goldschmidt wurde von mehreren tausend Schaulustigen verfolgt. Thüringisches Staatsarchiv Weimar, B 2720a, o. P.; Anon., Ausführlich wahrhafte Beschreibung eines grausamen Mörders und Menschenfresser! Dergleichen Uebelthaten und schreckliches Beginnen noch nie erhöret, Namens Johann Nicolaus Goldschmidt, von Herrnschwedel bey Craisen gebürtig, ein Küh-Hirt aus dem Amts-Dorfe Eichelborn, 56 Jahr alt, und nach vollbrachter Execution der Körper auf das Rad geflochten worden. O. O. 1772. Aus zeitlicher Distanz deutlich kritischer berichtet: Anon., Johann Nikolaus Goldschmidt. Ein Menschenfresser, in Olla Potrida 4, 1781, 145–151, hier 148. 290 Andrea S. Wiley, Geophagy, in: Solomon H. Katz, Encyclopedia of Food and Culture. New York 2003, 120 f.

210

Handeln

Wetteranomalie einen katastrophalen Misswuchs der lokal angebauten Getreide Roggen, Buchweizen und Hirse verursacht. Wie Nepila berichtet, behalfen sich die Landbewohner daher zunächst mit einem Notbrot. Es wurde aus der gemahlenen Spreu von Roggen, Flachs und Hafer hergestellt, geriet aber so »trocken und krümelig, dass die Laibe nicht zusammen hielten« und kaum genießbar waren.291 Nachdem auch diese Nahrungsquelle erschöpft war, zogen die erwerbsfähigen Männer zum Betteln ins Umland, während die verbliebene Dorfgemeinschaft das ökologische Notwissen aktivierte und versuchte, sich durch das Sammeln von Gräsern und Kräutern zu erhalten. Jeden Tag ging Nepilas Mutter nun in die Felder »grüne Blättchen rupfen«, um daraus ein ungewürztes und weitgehend kalorienloses »Grünes Mus« zu kochen. Über Wochen bildete es die einzige Speise des Jungen, nur selten unterbrochen von einigen trockenen Brotkanten, die der Vater alle paar Wochen von seinen Steifzügen mitbrachte. Die Sammlung und Zubereitung dieser mühsamen Notnahrung nahm den ganzen Tag der Mutter und der Nachbarn bis spät in den Abend in Anspruch. Zuweilen gelang es dem Kind, das Mus dadurch zu ergänzen, dass er die Blätter von Löwenzahn und Pfennigkraut sammelte. Diese habe er »zusammengepresst und in den Händen gequirlt. Und solche Knöllchen habe ich gegessen.« Schon bald war im Umkreis des Dorfes aber »alles ausgesucht und ausgerupft und ausgelesen«. Die Mutter war körperlich jedoch nicht mehr in der Lage, gemeinsam mit den anderen Dorfbewohnern auf die umliegenden Hügel zu steigen und (vermutlich illegal) auf den Wiesen des Grundherrn weiterzusuchen.292 In dieser Situation begann der Junge, gemeinsam mit anderen Kindern Lehm zu essen, um seinen Hunger zu stillen: So bin ich dann zu dem Lehm gegangen und habe mich bei ihm niedergesetzt und habe versucht, davon zu essen. Und ich habe daraus solche kleinen Plinsen geformt und immerzu abgebissen und gegessen […]. So ist meine Mutter wieder die Kräuter suchen und sammeln gegangen. Es war schon nichts mehr da gewesen, als dass sie hätte schnell einsammeln können […] und ich war noch hungrig. So habe ich mir dann so ein kleines Töpfchen genommen und ein bisschen Wasser geschöpft. Und habe einen Löffel genommen und bin wieder zu dem Lehm gegangen […] und hatte so einen Mehlbrei; und habe ihn auch aufgegessen und habe mich hingelegt und habe von ihm gesund geschlafen. Mein Gott und allmächtiger Herr hat mich lebendig erhalten und ließ mich nicht Hungers sterben. […] So sind dann andere Kinder zu mir gekommen und wir haben aus dem Lehm Kartöffelchen und Semmeln und Kuchen und Kringel und Plinsen und Lebkuchen ausgearbeitet. Und ein großes Festessen haben wir gemacht. […] So haben wir dann wieder aus dem Lehm Semmeln und Kartoffeln und Kringel gearbeitet, und Ähren, wie sie der Roggen hat; und haben Kuchen geformt, und Plinsen und Lebkuchen. Und 291 Jahn, Roboter, 647. 292 Ebd., 653. Solche Kräutersammlungen waren weitverbreitet. Vgl. etwa Schmahling, Nachruff, 78 oder Schmitt, Chronik, 155.

211

Überlebensökonomie

in die große Scherbe haben wir den Lehm getan und Wasser dazu geschüttet und das zusammen mit Holzspänen zerstampft; und wir hatten weißen Mehlbrei mit Milch. Und das haben wir uns alles aufgeteilt, auf die Scherbchen und auf die Hölzchen, was jeder gerade hatte, und haben große Kindtaufe gemacht. So haben wir dann unsere Anteile gegessen. Ich habe meine Anteile gut aufgegessen. Ich war doch noch hungrig […].293

Bis zum Ende der Hungersnot trafen sich die Kinder regelmäßig, zu diesen gemeinsamen ›Mahlzeiten‹. Dabei spielten sie all jene Speisen und Feste nach, die sie in den Notzeiten entbehren mussten. Nepila war sich wohl schon als Kind bewusst, dass der Verzehr solcher Notnahrung soziale Disqualifizierung bedeutete. Er notierte zugleich, dass selbst in der absoluten Not noch Unterschiede bestanden. Mehrfach beobachtete er, »dass die Kinder in anderen Häusern doch besseres Essen hatten als ich, weil sie nicht so viel Lehm essen wollten, wie ich gegessen habe.« Er war sich zudem darüber im Klaren, dass seine extremen Schilderungen einer Beglaubigung bedurften und betonte immer wieder: »Mein Gott und allmächtiger Herr, aller Dinge Schöpfer und Besorger und Erhalter, er war bei alldem zugegen, er weiß, dass ich nicht lüge, dass ich den Lehm gegessen habe.« Selbst nach Jahren erschienen ihm diese Erlebnisse noch als so bedeutend, dass er sie an den Anfang seiner Lebensbeschreibung stellte.294

2.2. Nachbarschaftshilfe Sobald auch die Notnahrung die Teuerung nicht mehr zu kompensieren half, war man auf den Beistand Dritter angewiesen. Das Ausmaß informeller Nachbarschafts- oder Familienhilfen lässt sich nur schätzen. Immer wieder gibt es in den Berichten der Zeitzeugen Hinweise auf ihre enorme Bedeutung. So beschrieb der Hutmacher Fichtner eindringlich, wie ihn ein Nachbar bei seinen verzweifelten Versuchen, seine Waren zu verkaufen, »wirklich vom Todt erettet« habe. Nachdem er sich bei einem Hausbesuch vor Hunger zitternd und »in großer Schwachheit« kaum noch auf den Beinen halten konnte, habe man ihn und seine Familie dort mit Brot und Fleisch versorgt. Der elfjährige Appenzeller Schuljunge Johann Georg Merz wiederum notierte sich, dass er in der Not öfters einem »Schul Cameraden ein Stücklein brodts aushändigte, der nicht so viel als ich hatte« und dafür von seinen Eltern viel Lob erhielt. Von informellen Hilfen berichten auch die Leipziger Armen in ihren Verhören. Die 68-jährige Johanna Sophia Schmidt gab an, »sie habe einige gute Freunde, so ihr Gutes täten und hätte sich bei einer guten Freundin aufm Land etwas holen wollen.« Der 75-jährige Christian Tyberius berichtete bei seiner Vernehmung, er sei auf dem Weg zu Freunden, die »ihm alle Sonntage ein 293 Jahn, Roboter, 650–657. 294 Ebd., 645–661.

212

Handeln

Stück Brot zu geben pflegten«.295 Mal teilten die Vermögenderen mit den lokalen Bedürftigen, mal stellte man den kranken Nachbarn Essen vor die Tür oder nahm sogar sterbende Fremde ins eigene Haus auf.296 Auch in religiösen Sozialverbänden, etwa den jüdischen Gemeinschaften, praktizierte man in den Hungerjahren solche informellen Hilfen unter Glaubensbrüdern.297 Hanso Nepila schilderte diese Unterstützung im Rahmen der dörflichen Gesellung so: Und ich bin auf den Höfen herumgegangen, überall herum nach dem Essen. Und die Leute wussten wohl auch, dass wir wieder nichts zu essen haben. So haben sie mir etwas gegeben. Auf manchen Höfen habe ich eine ehrenwerte Schnitte, und in einigen anderen einen redlichen Kanten Brot erhalten. Auch habe ich auf manchen Höfen ein bisschen abgekochtes Essen bekommen, wenn es übrig geblieben war vom Frühstück oder auch vom Mittagessen. Und auf ein paar Höfen habe ich sogar ein bisschen Milch oder auch Buttermilch bekommen, wenn sie daran gearbeitet haben, und ein Stück Brot hereingebrockt; und sie gaben mir das zu essen. Und so bin ich jeden Tag auf den Höfen herumgegangen, wie der Bettler.

Nothilfen gehörten fest in den dörflichen oder nachbarschaftlichen Lebenszusammenhang. Sie setzten über lange Zeit gewachsene Teilhabe voraus und verlangten von Hilfsempfängern im Gegenzug ein erhebliches Maß sozialer Anpassung und Unterordnung.298 Dadurch erreichte sie keineswegs alle Bedürftigen. Zudem zeigten sich in der Krise auch gegenteilige Entwicklungen. Immer wieder berichten die Zeitgenossen von Familien-, Ehe- und Sozialverbänden, die unter dem Druck der Krise zerbrachen.299 Bei vielen Hilfsausgaben prügelten sich die Bedürftigen um das Brot. Immer wieder kam es zu Gewaltausbrüchen an den dörflichen Backöfen.300 Auf den Höfen schlugen sich verzweifelte Eltern zuweilen um Schlachtabfälle für ihre hungernden Kinder. Regelmäßig entstanden blutige Prügeleien der

295 Fichtner, Beschreibung, o. P.; Johann Georg Merz, Selbstzeugnis (StAAR, Ms. 75), S. 5; Militzer, Klima, Tab. 42, Nr. 89, 94. 296 Eichhorn, Hungersnot, 9 f. (Chronik Johann Martin Steiners); Jäger, Dorfchronik, 236; Khevenmüller-Metsch, Tagebuch, 385. 297 Stefan Pfeifer, Kulturgeschichtliche Bilder aus dem jüdischen Gemeindeleben zu Reckendorf. Bamberg 1897, 73 f. 298 Brüggemeier, Schranken der Natur, 27; Renate Blickle, Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns, in: Günter Birsch (Hrsg.), Grund- und Fundamentalrechte von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft. Göttingen 1987, 42–64. 299 Zu zerbrochenen Familien in den Leipziger Armenverhören vgl. Militzer, Klima, Tab. 42, Nr. 32, 68, 83, 96, 97. Zu Beschwerden gegen die »nächsten Nachbarn«, die den hungernden Hilfen verweigern vgl. Derflinger, Hungersnot, 13. Zu Anzeichen sozialer Auflösung vgl. Kap. II.3.3. und IV.5.2. 300 Anon., Sammlung der […] Mandate, Teil 6, Verordnung vom 18.1.1771; Hazzi, Betrachtungen, 41; Renate Bärnthol, Reben, 134; Schmitt, Chronik, 155.

213

Überlebensökonomie

Verzweifelten um die wenigen Almosen.301 Zeitgenossen beklagten zudem die ungewohnte Hartherzigkeit in den Hungerjahren. Sie hatten das Gefühl, dass in dieser extremen Not der Eigensinn jeden Gemeinsinn übervorteilte.302 Zuweilen sind die Leerstellen in der Überlieferung sogar noch eindringlicher als die wortreichen Klagen. In den meisten Augenzeugenberichten der Not findet sich kein einziges Wort zu Hilfen aus dem sozialen Nahfeld. Die stille Gewalt der Notjahre wirkte offenbar gleichermaßen gemeinschaftsstiftend wie -zerstörend.303

2.3. Glaubenspraxis Neben den physischen Hilfsmaßnahmen existierte auch bei den Untertanen ein breites Arsenal symbolischer Praktiken. Dazu zählte vor allem religiös motiviertes Handeln. Hunger spielte im gelebten Volksglauben seit jeher eine zentrale Rolle.304 In der Not kamen überall Menschen zusammen, um über Vorzeichen und Prodigien und damit zugleich über ihre Zukunft zu beraten.305 Tröstende Wunderberichte über helfende Engel oder göttlichen Kornregen machten die Runde.306 Auch volksmagische Praktiken lebten auf, etwa das rituelle Vergraben von Brot.307 Gemeinsame Gebete, Kollekten und Prozessionen gehörten ebenfalls in dieses kollektive Repertoire der Bewältigung. Aber auch mit den vermeintlich geistlichen Praktiken verbanden sich weltliche Ansprüche. Die Forderung nach Prozessionen, Wetterschießen und Wallfahrten besaß häufig nicht nur geistlichen und gemeinschaftsstiftenden, sondern auch politischen Charakter. In Bonn oder 301 Spreckel, Hauschronik, 118. So etwa bei der Spendenausgabe eines Fabrikanten im Erzgebirge: »Zu Schatten gewordene Menschen fielen vor Begierde des Hungers übereinander weg und hatten sich noch blutig geschlagen, so daß nach Weggehen von meiner Thür das Pflaster mit Blut besprengt war.« Sebastian, Entstehung, 201. 302 Zu den typischen Aussagen gehörte die Klage: »Kein Mensch, kein Freund dem andern hat mögen aus der Not helfen«. Aufzeichnungen der Familie Hechler, in: Anon., Hagelwetter, Überschwemmungen, Nasse Jahre 1770/71, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Naturwissenschaft von Sangerhausen und Umgegend 14, 1920, 75 f. Obwohl solche Klagen fest zu frühneuzeitlichen Krisenbeschreibungen gehörten, reagierten sie um 1770 womöglich auch auf die tatsächlichen Veränderungen im Gemeindeleben. Vgl. Gray, Ökologie. 303 Zur heftigen Debatte der Anthropologie um die sozialen Konsequenzen von Hungers­ nöten vom Zusammenbruch familialer und sozialer Beziehungen bis zur kulturellen Auslöschung ganzer Ethnien vgl. Russell, Hunger, 137–156. 304 Jakubowski-Tiessen, Lehrmann, Um Himmels Willen sowie Art. »Hunger« und »Teuerung« in: Eduard Hoffmann-Krayer (Hrsg.), Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 4 und 8. Berlin, Leipzig. 1931, 1936, 502–505, 734–741. 305 Vgl. Kap. III.1. Ulrich Bräker charakterisierte seine Gesprächspartner als »wundergierig auf die zukunfft«. Bräker, Schriften, Bd. 1, 268. 372. 306 Vgl. etwa Anon, Abbildung; Anon, Sonderbahre Begebenheit. 307 Anon., Ein Aberglaube vom Verscharren des Brodtes, in: Wittenbergisches Wochenblatt 4, 1771, 170–172.

214

Handeln

Prag handelte man an solchen Kollektivereignissen auch aus, wer in der Krise die Definitions- und Handlungsmacht besaß.308 Der Unwillen der weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten entzündete sich daher nicht nur am vermeintlichen Aberglauben dieser Praktiken, sondern auch daran, dass ihre Normsetzung ganz offensichtlich hinterfragt und zur Not umgangen wurde. Dies galt zumal angesichts der kurz zuvor erlassenen und im Volk äußerst umstrittenen Feiertagsreduktion im katholischen Bereich. Sie vertrug sich nicht nur schlecht mit dem erhöhten Trostbedarf in Notzeiten, sie wurde auch als von den Obrigkeiten auferlegte Mehrarbeit in ohnehin extrem harten Zeiten interpretiert.309 Das flächendeckende Wiederaufleben der ebenfalls in diesen Jahren eingeschränkten Wallfahrten verstanden die Obrigkeiten daher als politische Demonstration.310 Religiöse Praktiken stifteten und bestärkten nicht nur die überlebenswichtige Schicksalsgemeinschaft, sie artikulierten auch Handlungs- und Gestaltungsansprüche.

2.4.  Kriminalität und Devianz Wenn die Betroffenen nicht oder nicht mehr auf soziale, religiöse oder familiäre Netzwerke zurückgreifen konnten, blieb als letzter Ausweg die Nutzung legaler Grauzonen oder die offene Devianz. Der Zusammenhang zwischen Hunger und Kriminalität erschien bereits den Zeitgenossen als so eindeutig, dass die Korrelation von Brotpreis und Verbrechen bald regelrecht mathematisiert wurde. Die ersten Statistiker nutzten die Teuerungen, um den prozentualen Anstieg der Eigentumsdelikte pro Groschen Brotpreiserhöhung zu kalkulieren.311 Hinter den bloßen

308 Zu der zwischen Geistlichkeit und Bürgerschaft umstrittenen Prozession zum Kölner Dreikönigschrein vgl. Schlöder, Bonn, 116. Zum Konflikt um die Verlegung eines Heiligengrabs in Prag, die von der Stadtbevölkerung als Ursache der Not beklagt und als Einladung zum demons­trativen Rekurs auf den Kaiser verstanden wurde vgl. Khevenmüller-Metsch, Tagebuch, 382. Zum umstrittenen ›Wetterschießen‹ auf Wolken in Salzburg, um die Niederschläge zu vertreiben vgl. Reith, Umweltgeschichte, 15. 309 Zum Streit um die 1770 vom Vatikan erlassene Feiertagsreduktion vgl. Härter, Stolleis, Repertorium, Bd. 10, 183 sowie Haus- oder Schreibbüchlein Johannes Christmann, in: Franz, Weinerträgnisse, 1: »Es war eine ganze ›Verstörung‹ im Volk und es gefiel die Aenderung den Leuten gar nicht.« In Bayern wurden die Reformen daher erst nach der Krise eingeführt, aber auch 1801 noch nicht eingehalten. HStA München GR 1209.71 (Verordnung vom 4.12.1801). Zum überkonfessionellen Konfliktfeld vgl. Manfred Jakubowski-Tiessen, Feiertagsreduktionen. Aufklärung und religiöse Praxis in Deutschland und Dänemark, in: Hans Erich Bödeker, Martin Gierl (Hrsg.), Jenseits der Diskurse. Aufklärungspraxis und Institutionenwelt in europäisch komparatistischer Perspektive. Göttingen 2007, 395–415. 310 Schmidt, Libertas, 258; Rebekka Habermas, Wallfahrt und Aufruhr. Zur Geschichte des Wunderglaubens in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M 1991. 311 Vgl. Douglas Hay, War, Dearth and Theft in the Eighteenth Century. The Records of the English Courts, in: Past&Present 95, 1982, 117–160, hier 25. Zu den frühen mechanistischen

Überlebensökonomie

215

Verfahrenszahlen verbargen sich jedoch weit dynamischere Wechselwirkungen von Verfolgten und Verfolgern. Der Schritt in die Illegalität war rasch vollzogen. Im Vorfeld der Hungerjahre waren übliche Notpraktiken zunehmend eingeschränkt worden. Die traditionelle Nachlese auf den abgeernteten Feldern bewegte sich nun ebenso wie die bisher geduldete Wildsammlung von Kräutern und Beeren an der Grenze zum Diebstahl.312 Vor allem der Zugang zu den Wäldern, die traditionell als Nahrungspuffer dienten, erlebte in den Jahren um 1770 deutliche Einschränkungen. Mit dem Wandel der agro-forestalen Systeme vom ›Nährwald‹ zum Schlagwald reduzierte sich auch der Zugriff auf dessen sekundäre Nahrungsressourcen wie Viehfutter, Totholz, Kleinwild oder Früchte. Dies geschah oftmals gegen heftigen Widerstand.313 Entsprechend rasch drohte man in den Notjahren dem Gesetz nach kriminell zu werden. Vom Gang in den Wald über das Betteln bis zur Migration stand nun ein großer Teil der üblichen Notpraktiken nominell unter Strafe. Unter dem Druck der Krise entwickelten die Verbote jedoch nur geringe Wirkung. Wilderei und Holzfrevel gehörten vielerorts zur Tagesordnung. Sie nahmen ein solches Ausmaß an, dass ein bayrischer Beamter konstatierte, sie würden »einem Aufstand gleichgesehen«.314 Gefasste Delinquenten gaben oft vor, sich damit bloß gegen das Wild zu verteidigen, dass hungrig über die Felder herfiel. Dabei konnten sie regelmäßig auf breite Unterstützung in der Bevölkerung zählen, die unter dem massiven Wildverbiss litt.315 Auch vor Menschen waren die Felder in der Hungersnot nicht mehr sicher. Überall mussten nun Feldwachen aufgestellt werden, um das Getreide vor der heimlichen oder vorzeitigen Ernte zu schützen. Dennoch »gingen ganze Rotten zu 12 bis 20 Personen des Nachts aus und stahlen Feld- und Gartenfrüchte, die Wächter waren des Lebens nicht mehr sicher und mußten oft den Räubern alles preisgeben«.316 Immer wieder ertappte man hungrige Kinder dabei, wie sie Saatkartoffeln wieder ausgruben und verspeisten.317 Ulrich Bräker musste nicht nur miterleben, wie ihm die Erdäpfel aus dem Garten gestohlen wurden. Er beobachtete sogar, wie die Hungernden in ihrer extremen Not die ausgebrachten Getreidesamen illegal von den Feldern lasen.318 Korrelationen Georg von Mayrs vgl. ebd., 128–135. Hay selbst berechnete, dass sich 1772 angeblich 70 % der Diebstähle über den Preisaufschlag erklären ließen. Ebd., 134. 312 Mahlerwein, Herren, 160; Walter, Subsistence, 64. 313 Hölzl, Umkämpfte Wälder. 314 Rankl, Politik, 762. Vgl. auch Erfurthisches Intelligenzblatt 36, 7.9.1771; Spreckel, Hauschronik, 121 sowie Norbert Schindler, Ländliche Schacherwirtschaft am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Stagl, Reinhard, Menschen, 291–318, hier 307. 315 Hazzi, Betrachtungen, 37–39, 62. 316 Sebastian, Entstehung, 197. Vgl. auch Schneider, Mangel, 281; Vogt, Massnahmen, 83; Erfurthisches Intelligenzblatt 30, 27.7.1771, 233 f. und ebd. 31, 3.8.1771, 241 f.; Härter, Stolleis, Repertorium, Bd. 11, 178, 864, 868. 317 Schubert, Arme, 18; Miscellanea Saxonicae, 1772, 74. 318 Bräker, Schriften, Bd. 1, 261, Bd. 2, 489. Zu ähnlichen Verhältnissen im Erzgebirge vgl. HStA Dresden, Loc. 34127, Nr. 164a o. P. und Sebastian, Entstehung, 197.

216

Handeln

Überall mehrten sich in den Krisenjahren laut Zeitzeugen Diebstahlsdelikte und Kleinkriminalität. Einbrüche in die Vorratskammern vermögenderer Nachbarn »geschahen beständig«, der Raub von Lebensmitteln aus den Gärten »fast täglich«, der Notdiebstahl wurde »fast allgemein« und »unaufhörlich getrieben«.319 Oft genug war es die manifeste Ungleichheit der Not auf kleinstem Raum, welche die Betroffenen zu Tätern werden ließ – etwa einen armen Weber, der einem Musketier, der bei ihm einquartiert war, sein Kommissbrot stahl.320 Wenn die Beschuldigten gestellt wurden, verteidigten sie sich damit, dass sie aus purer Not gehandelt hätten. Ein Kleinbauer in Lippe stahl auf dem Nachbarfeld unreife Früchte und trocknete sie im heimischen Backofen für den vorzeitigen Verzehr. Bei seiner Festnahme gab er zu Protokoll, er habe die vorwurfsvollen Blicke seiner hungrigen Kinder nicht mehr ertragen können. Ein anderer begründete den Diebstahl bei seinem Schwager damit, er selbst habe seit zwei Wochen kein Brot mehr im Haus gehabt. Sein reicher Verwandter habe ihm jedoch trotz der Familienbande jede Hilfe ausgeschlagen.321 Solche Straftäter konnten häufig auf richterliche Milde zählen. Der lippische Bauer verwies in seinem Verhör selbst auf den Grundsatz, »die Not aber habe kein Gesetz«.322 Diese Ansicht teilten nicht nur viele seiner Mitmenschen, sie bildete auch einen oft diskutierten und teilweise bereits kanonisierten Rechtsgrundsatz.323 Der Einbruch in einen Getreidespeicher oder der Notdiebstahl von Getreide wurde daher oft nur mit der Landesverweisung statt mit dem Zuchthaus bestraft, die Entwendung von herrschaftlichem Korn mit einer bloßen Geldstrafe belegt.324 Die milden Strafen wurden von einzelnen harten Verurteilungen begleitet, die der Abschreckung dienen sollten.325 Ihre Wirkung blieb aber begrenzt. Die Untertanen waren sich offenbar völlig im Klaren darüber, dass diese symbolische Strafpraxis auch darauf reagierte, dass der überhandnehmende »Not- und Brotdiebstahl« von der überforderten Justiz gar »nicht mehr nach den Gesetzen geahndet werden konnte«.326 Neben dieser individuellen Notkriminalität entwickelten sich bald auch kollektive Formen von Devianz. Dazu gehörte vor allem der breit betriebene Getreide 319 Spreckel, Hauschronik, 120; Freitag, Krisen, 119; Bräker, Schriften, Bd. 1, 259; Anon., Beschreibung des Theurungszustandes, 4; Sebastian, Entstehung, 198. 320 Stadtarchiv Chemnitz, Ratsarchiv III VIIb 74 (Ratsprotokolle 1881), Nr. 60. 321 Freitag, Krisen 118 f. Mit ihrer Notlage argumentierten auch ertappte Geldfälscher oder Getreideschmuggler. Spreckel, Hauschronik, 121; Huhn, Ernstfall, 239. 322 Freitag, Krisen, 118. 323 Dorn, Not; Schmahling, Nachruff, 85; Anon., Beschreibung des Theurungszustandes, 4. Zur gelehrten Diskussion des Themas bei Hobbes vgl. Bohstedt, Politics, 10. 324 HStA Darmstadt F 24 C Nr. 502/4; Mahlerwein, Herren, 331. 325 Freitag, Krisen, 119 oder Küther, Menschen, 97 zu einer Hinrichtung für den Diebstahl eines einzigen Schweines. 326 Will, Teuerung, 370.

Überlebensökonomie

217

schmuggel.327 Auch Räuber- und Wildererbanden profitierten opportunistisch von der Krise. Teilweise genossen sie den Rückhalt der Bevölkerung, weil sie entweder vermeintlichen Profiteuren schadeten oder den Druck des Wildes auf die Felder reduzierten.328 In den Städten wehrten die Unterschichten sich kollektiv gegen das Regiment der Armenvögte. Durch »Zusammenlauf« und heimliche Beherbergung verhinderten sie Festnahme und Abschiebung der Ärmsten.329 Viele Beobachter klagten daher, das Strafregiment habe in der Krise jede Autorität verloren. Statt effektiv abzuschrecken, ziele es bloß noch auf eine kollektive Kriminalisierung der Unterschichten, in der Hoffnung, damit die ausbleibenden Hilfen zu kaschieren.330 Tatsächlich eigneten sich zuweilen ganze Gruppen obrigkeitliche Vorgaben kreativ an und erweiterten die Grenzbereiche des Erlaubten zu ihren Gunsten. Die bayerische Regierung etwa hatte unter großem Druck den Abschuss streunenden Wilds zugunsten der Armen erlaubt. Schon bald musste sie aber feststellen, dass sich »dadurch fast ein jeder der Jagdbarkeit berechtigt zu seyn glaubet«. Bewaffnete Bauern bildeten nun »zusammenrottierte ganze Banden, worunter sich viele mit vermuhmten Gesicht- und Kleidungen befinden«, die jeglichen Gegenmaßnahmen der Beamten »mit bewaffneter Hand offen­bar[en] und ungescheute[n] Widerstand« entgegensetzten.331 Dieses kollektive extralegale Handeln bewegte sich bereits nah an einer der prominentesten Praktiken der Überlebensökonomie, dem Hungerprotest.

327 Vgl. Kap. IV.1.4. 328 Rankl, Politik, 761; Vasold, Hungerkrise 128. Zu Diebesbanden im Thüringer Wald und im Erzgebirge vgl. Löffler, Geschichte, 198; Schmidt, Vor 200 Jahren, 35 f. Zur Harnisch-Bande 1771 im Erzgebirge vgl. Sebastian, Entstehung, 191 f. Zu ihrem Diebesgut gehörten ein Fuder Korn, 10 Kannen Butter, 4 ½ Scheffel Malzgerste und eine geschlachtete Kuh. Unter den Mitgliedern befanden sich ein Strumpfwirker, ein Müller, ein Glaser und ein Goldschmied – Handwerker, die vermutlich mit der Krise erwerbslos geworden waren. 329 Brügmann, Armenpflege, 108; Kröger, Armenfürsorge, 138–144. Auch in Dresden waren die Aufseher mit der »Colludirung« von Armen und den Gastwirten der Winkelschenken konfrontiert. Rat Dresden, Armen-Ordnung, 43. 330 Vgl. etwa Bräuer, Capitalisten, 71, 92. Der anonyme Autor vermutete dahinter eine Art ›biopolitisches‹ Ausrottungsprogramm: Die Herren »setzten den grössesten Theil der elendsten Unterthanen in Verzweiflung und eine solche Nothwendigkeit, daß sie sich aus Rauben, Stehlen, Betrügen und vielen anderen Lastern« der Hungerkrise erwehren müssten, damit »der Staat endlich so lange von Verbrechern gereiniget werden müsse, als er noch, ausser Denenselben, Unterthanen« hat. Ebd., 118. 331 HStA München, Kurbayerische Mandatensammlung, Mandat vom 27.5.1771. Auch in Österreich sollte Hochwild ab dem Dezember 1770 nur noch in geschlossenen Parks gehalten werden dürfen. Hazzi, Betrachtungen, 44. Die Lage empfand man als so ernst, dass die Vermummung anschließend sogar mit der Todesstrafe bedroht wurde. Von ähnlichen Gruppen im Gothaer Land berichtet u. a. Löffler, Langenhain, 198.

218

Handeln

2.5. Protest Bei anhaltender Not trat neben die Aktivierung horizontaler auch die Nutzung vertikaler Netzwerke. Der Appell an Souverän und Obrigkeit ergänzte die Hilfen im Familien-, Nachbarschafts- oder im kirchlichen Umfeld. Die dramatischste Form dieser Interaktion bildete der Nahrungstumult. Er hat traditionell große Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden. Zum einen verband er Teuerungen mit anderen Formen des Widerstands, zum anderen verstand man ihn als Ursache größerer politischer Kämpfe. Für das Reich existieren zwei Forschungstraditionen. Die eine Seite deutete Teuerungen als wirkmächtige »Sturmvögel der Revolutionen«. Sie suchte und fand immer wieder Parallelen zur Französischen Revolution, die ebenfalls nach Missernten ausgebrochen war.332 Die andere Seite verwies darauf, dass Proteste im Reich weit seltener gewesen seien als in Frankreich und England. Dies deute auf eine erfolgreiche Pazifizierung sozialer Konflikte hin.333 Die kleinteilige, polyzentrische Herrschaft habe auch auf diesem Feld einen deutschen ›Sonderweg‹ initiiert. Die fehlenden Hungerrevolten munitionierten auf diese Weise Thesen, die von der Kommunalismus-Debatte, der Verrechtlichung sozialer Konflikte (W. Schulze), dem vorparlamentarischen Charakter von Ständevertretungen und Reichsverfassung bis hin zur »Spurensicherung des Wohlfahrtsstaates« (P. Blickle) reichten.334 Der englischen moral economy stellte man im Reich eine »moralische Ökonomie von Oben« gegenüber.335 Beide Argumentationsgänge beruhen jedoch auf falschen Annahmen. Einerseits ist die Engführung von Missernten und Revolution zunehmend hinterfragt worden. Andererseits lässt sich auch die Zahl der Proteste im Reich deutlich nach oben korrigieren.336 Frühere Studien folgten einem sehr engen, auf direkte körperliche Gewalt ausgerichteten Verständnis von Protest. Nimmt man wie in Frankreich und England das weite Feld symbolischer Handlungen hinzu, ver-

332 Wilhelm Naudé, Deutsche städtische Getreidehandelspolitik mit besonderer Berücksichtigung der Stettiner und Hamburger Getreidehandelspolitik. Leipzig 1889, 1. Zum Konnex von Teuerung und Revolution: Ernest Labrousse, 1848, 1830, 1789. Wie Revolutionen entstehen, in: Irmgard A. Hartig, (Hrsg.), Geburt der bürgerlichen Gesellschaft. 1789, Frankfurt a. M. 1979, 67–87 und zuletzt auch Le Roy Ladurie, Disette, 55. Für einen Überblick über die Protestforschung vgl. Bouton, Flour War, 1–37. 333 Schmidt, Hungerrevolten; Löwe, Teuerungsrevolten. 334 Kaspar von Greyerz, Die englischen und französischen Brotaufstände des 18. Jahrhunderts und die Anfänge der Französischen Revolution, in: Monika Gagenmeier, Sabine Holtz (Hrsg.), Krisenbewußtsein und Krisenbewältigung in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. u. a. 1992, 99–111; Odenwälder, Nahrungsproteste, 10–14, 112. 335 Medick, Teuerung. 336 In der dezentralisierten Überlieferung des Reichs bedarf es mehr Mühe, sie aufzuspüren. Da zudem die Zeitungen weitgehend der Zensur unterlagen, erfährt man von einigen Protesten im Reich nur aus der ausländischen Presse (s. u.).

Überlebensökonomie

219

schwimmen die Unterschiede.337 In den meisten Hungerprotesten manifestierten sich keine vorrevolutionären Konfliktverläufe, die sich durch Paternalismus einfach abstellen ließen. Sie bildeten vielmehr ein bewährtes, alltägliches Instrument wechselseitiger, abgestufter und vor allem kommunikativ ausgetragener Aushandlungsprozesse. Dies zeigt sich bis hin zu den aktuellen Hungerprotesten. Von den food riots im Rahmen der globalen Nahrungskrise 2008 führt kein gerader Weg zu den späteren Regierungsstürzen und Bürgerkriegen des Arabischen Frühlings.338 Für die Jahre 1770–1772 erwähnt bereits die Überblicksstudie von Nina Odenwälder 15 größere Nahrungsproteste im Reich.339 Die Tumulte trafen katholische und protestantische, kleine und große, städtische und landesherrliche Territorien. Geographisch erstrecken sie sich quer durch das Reichsgebiet, von Württemberg über Bayern bis nach Sachsen und Böhmen. Ihr Verlauf gleicht den Auseinandersetzungen in den europäischen Nachbarländern Frankreich, Niederlande, Dänemark, England, Irland und Schottland.340 Auch im Reich waren die Proteste gekennzeichnet von Blockaden, Zwangsverkäufen, der Festsetzung von Höchstpreisen in Form einer taxation populaire und der herausgehobenen Rolle von Frauen. Die Liste der betroffenen Orte lässt sich noch ergänzen. In Minden, Erfurt, Freiberg, in Franken, an der Werra und in Oberösterreich sind ähnliche Konflikte dokumentiert. Ein quantitativer oder qualitativer Unterschied beispielsweise zu England bestand daher kaum.341 Ein Blick auf die Einzelfälle illustriert, wie sehr diese Tumulte auch im Reich integraler Teil von umfassenderen Aushandlungsprozessen zwischen Obrigkeiten und Untertanen waren. Bedeutende Differenzen lassen sich am ehesten in der jeweiligen Auswahl der Sündenböcke beobachten.

337 Die deutsche Rezeption des moral economy Konzepts unterschlägt etwa die von Scott neben Tumulten ebenfalls angeführten Praktiken von »foot-dragging, dissimulation, desertion, false compliance, pilfering, feigned ignorance, slander, arson, sabotage«. James C. Scott, Weapons of the Weak. Everyday Forms of Peasant Resistance. New Haven (CT) 1985, XVI. 338 Ray Bush, Food Riots. Poverty, Power and Protest, in: Journal of Agrarian Change 10, 2010, 119–129. 339 Odenwälder, Nahrungsproteste, 116 f. 340 Vgl. Kap. II.3.4. 341 Huhn, Ernstfall, 243; Beyer, Chronik, 162f; National Archive, State Papers, 88/103 (Bericht aus Dresden vom 12.6. und vom 28.8.1771 zu Tumulten im Erzgebirge) sowie Derby Mercury vom 28.6.1771; HStA Marburg Best. 5 Nr. 2520 (Nötigung der Werraschiffer zum Getreideverkauf); Gemeindechronik Jenbach, http://www.jenbach.at/gemeindeamt/html/04_1770–1838. pdf [7.11.2016] (»ausgelassene Weiber« verweigern die Zahlung von Abgaben). Auch Justus von Soden berichtet, er habe in der Krise »mit dem Degen in der Faust den drängenden Dürftigen das für Reichere bestimmte Brot bei den Bäckern« verschafft. Soden, Gesetzgebung, 3. Soden war damals Student in Erlangen. Zu den dortigen Protesten und seiner späteren Flucht vgl. Schubert, Arme, 19; Hanke, Bürger, 46. Zur vergleichbaren Zahl von Protesten in Großbritannien vgl. Charlesworth, Atlas, 92 f.

220

Handeln

Ein antijüdischer Hungertumult in Gotha Die Region um Gotha war von der Klimaanomalie bereits im ersten Regenjahr schwer getroffen worden. Das Ausmaß der Missernten dokumentieren die Ernte­ berichte an die herzogliche Regierung.342 1770 meldeten die Ämter Rückgänge von 50 Prozent bis hin zu Totalausfällen. Großflächige Rückgänge des Roggenertrags von über 80 Prozent wurden durch Gutachter bestätigt, die auf ihre Bitten in die Dörfer kamen, um den Schaden zu verifizieren. Die Ernte sei »durch die übermäßige Winternässe und den im Monath Mertz gefallenen außerordentlichen großen Schnee, theils ersoffen und […] von denen hernach entstandenen kalten Winden vom Lande weggewehet« worden. Obwohl die Äcker in verzweifelten Rettungsversuchen bis zu fünf Mal umgeackert und mehrfach neu eingesät wurden, reichten die Erträge in einigen Ämtern nur noch für 10 Prozent der Einwohner.343 In der Folge stiegen die Preise auf dem Gothaer Markt rapide an. Die Regierung reagierte jedoch zunächst verhalten. Auf dem Reichstag unterstützte sie die Position der Freihändler.344 Die nominell erlassenen Exportverbote für Getreide wurden entsprechend nachlässig durchgesetzt und kontrolliert. Die Etablierung von Sperren erwies sich zudem selbst gegenüber befreundeten und dynastisch eng verbundenen Territorien als extrem aufwändig. Zugleich erreichten die Regierung immer wieder verlockende Exportanfragen, etwa der Stadt Nürnberg.345 Als im Sommer 1771 die zweite Missernte absehbar wurde, bildeten sich in Reaktion auf diese Haltung erste Räuberbanden auf dem Land, die nachts mit geschwärzten Gesichtern Getreide stahlen. In den Dörfern des Thüringer Waldes kam es mehrfach zu gewaltsamen Plünderungen herrschaftlicher Speicher.346 Auf dem städtischen Markt erreichten die Preise derweil Woche für Woche neue Höchststände bis zum Siebenfachen der Vorjahre.347 In dieser Situation reichten schon kleinere Konfrontationen im alltäglichen Marktgeschehen, um zu Turbulenzen zu führen. Am Samstag, den 13. Juli 1771, eskalierten sie in gewaltsamen Unruhen. 342 ThStA Gotha, Kammer Gotha Immediate, Nr. 1990 343 Ebd., 7, 18, 49. 344 StA Wolfenbüttel, 2 Alt Nr. 1286, p. 10r., 48r-50r (Gesandtenrelation und Reichsfürstenrats-Protokoll). 345 TStA Gotha, GA, KK, Nr. 22 (Getreidesperre), hier p. 1. 346 Kalendereinträge des Wagnermeisters Caspar Heinrich Nonn, in: Löffler, Geschichte, 198. 347 Die offiziellen Marktpreise im Erfurtischen Intelligenzblatt weisen zwischen dem Herbst 1769 und 1771 eine Versiebenfachung der Kornpreise aus (von 13 gr. auf 3 thl., 20 gr). Ab Oktober 1771 wurde die Notierung für die Stadt, wie später für die ganze Region, eingestellt. Vgl. Kap. II, FN 237. Die amtlichen Gothaer Preise für den Sommer 1771 (ohne Roggen) notiert: Wolfgang Steguweit, Thüringer Teuerungsmedaillen des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Abhandlungen und Berichte zur Regionalgeschichte Gotha, 1974, 57–69, 63. Auch die Aufstellung in Beherzigung der Zeit, 1772, 355 dokumentiert einen Anstieg um 700 %.

Überlebensökonomie

221

Der Bürgermeister vermutete die Ursache der »Fermentation« darin, dass einige Bauern auf dem Markt »die Säcke nicht aufmachen und die Früchte verkaufen wollen, weilen sie solche vermuthlich den [auswärtigen, D.C.] Aufkäufern bereits verhandelt gehabt«. Obwohl diese Form des Fürkaufs nominell streng verboten war, sah er darin offenbar kein Handlungsgebot. Für die Konsumenten materialisierten die verschlossenen Säcke jedoch die dramatischen sozialen und regionalen Kaufkraftunterschiede. Der Policey-Kommissar der Stadt beobachtete, dass sich in der Folge »wohl bey 100 Personen« versammelten, Getreidekarren umstießen und die Festsetzung von Höchstpreisen forderten, um solche Transaktionen uninteressant zu machen. Da der Kommissar eine Ad-hoc-Taxe jedoch verweigerte, wurde er beschimpft und von der Menge eingeschlossen. Als er den Streit schlichten wollte, habe man ihn »mit der äusersten Wuth gefraget ob er vor die bürger oder bauern auf dem Markte sey«. Offenbar begriff die Menge die Marktverhältnisse mittlerweile als offenen Kampf zwischen Konsumenten und Produzenten. Erst nachdem die Stadtwache eintraf, gelang es dem Polizisten, den Streit zunächst zu entschärfen. Jedoch beobachtete die Menge kurz darauf einen hessischen Soldaten, der im Haus der gefreiten Adelsfamilie von Kutzleben entgegen der Marktregulationen Getreide ankaufte. Daraufhin stürzte sich die Menge auf den Fremden. Der Kommissar vermochte Schlimmeres nur noch dadurch zu verhindern, dass er den uneinsichtigen Hessen vorübergehend in Schutzhaft nehmen ließ. Anschließend zog er sich in der Hoffnung zurück, für Ruhe gesorgt zu haben, und begann wie jeden Mittag die offiziellen Fruchtpreise zu notieren – trotz der Proteste und fehlenden Verkäufe. In der Stadt kam es jedoch zu weiteren Tumulten, als die Menge einen weiteren Aufkäufer ausfindig machte, der seine Geschäfte wieder abseits des öffentlichen Marktes tätigte, diesmal in einem Gasthaus.348 Dieses Opfer wurde so lange »mit Schlägen sehr übel tractiert«, bis es der Wache gelang, auch ihn in Sicherheit zu bringen. Anschließend mangelte es den aufgebrachten Protestierern offenbar an konkreten Profiteuren. Daher entschloss sich die Menschenmenge in einer Übersprungshandlung vor die Wohnungen der örtlichen Juden zu ziehen. Am Haus des Hofjuden Levi Israel erlebte der Protest seinen Höhepunkt. Vor dem Gebäude wurde randaliert und die Scheiben eingeworfen, während die Bewohner in Panik durch die Hintertür fliehen konnten. Die Steinewerfer identifizierte der Stadtkommandant als »mehrentheils Kinder und Weiber«. Nach dieser Tat zog man lärmend zum städtischen Kornspeicher und kehrte dann demonstrativ auf den Markt zurück, um den Getreidekarren die Räder abzuspannen und den Abtransport der Ware zu verhindern. Die eintreffende Stadtwache hinderte man

348 Der betreffende Kaufmann war zwar Einheimischer, stand aber im begründeten Verdacht, als Strohmann für hessische Konsumenten zu agieren. Mit dem Herkunftstort »Dambach« war vermutlich das direkt an der hessischen Grenze gelegene heutige Tambach-Dietharz gemeint. ThStA Gotha, GA ZZ Va Nr. 7, p. 8v.

222

Handeln

gewaltsam am Eingreifen. Erst die berittene Leibgarde des Herzogs war schließlich in der Lage, die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen.349 Der Tumult wirft ein Schlaglicht auf die umkämpfte Praxis des Nahrungshandels in den Hungerjahren. Abseits des offiziellen Marktes existierten zahlreiche Möglichkeiten, unter Umgehung der Regularien Absprachen zu treffen und Getreide zu erhandeln. Gasthäuser oder die Logis der privilegierten, adeligen Großproduzenten dienten als alternative Transaktionsräume. In der Folge standen die lokalen Konsumenten häufig vor vollendeten Tatsachen und – trotz der offiziell mäßigen Preisnotierungen – vor verschlossenen Getreidesäcken. In dieser Situation bot der Tumult eine Möglichkeit, nun ebenfalls nicht-marktförmige Zugangsrechte zu aktivieren. Bei genauerem Hinsehen liefen die Aktionen weit weniger chaotisch ab, als der Policeykommisar zu seiner Entschuldigung glauben machen wollte. Sorgfältig inszeniert wurden die erwarteten Hilfsmaßnahmen im Stadtraum demonstrativ aufgerufen. Am Markt Regulation, bei den Händlern Konfiskation und am Kornboden Hilfsausgaben. Der Zug durch die Stadt materialisierte eine Geographie der Fürsorge. Die eigene Inklusion in diese Schutzmaßnahmen ließ sich dabei am einfachsten über die Exklusion anderer inszenieren. Sie traf die räumlich fremden Hessen ebenso wie die als sozial fremd gekennzeichneten Juden. Die Aktion erwies sich als voller Erfolg. Der Tumult bildete dabei nur einen Teil von viel weitergehenden Interaktionen, über die Fürsorge im Folgenden wieder kommunikativ, statt konfrontativ aktiviert wurde. Nach den Ausschreitungen gab der Herzog sofort eine umfangreiche Untersuchung in Auftrag. Seine Beamten wies er an, umgehend Lösungen zu präsentieren.350 Die ersten, die ihre Sicht vorbrachten, waren aber die »getreuesten Unterthanen« selbst. Unmittelbar nach dem Protest verfassten sie eine direkt an den Herzog gerichtete Supplikation.351 Um ihrem Anliegen den nötigen Nachdruck zu verleihen, wurde der Text nicht seinen Beamten, sondern Friedrich III. persönlich übergeben. 200 Personen zogen dazu zwei Tage nach dem Tumult von der Stadt zu dessen Sommerresidenz nach Ichtershausen.352 Das Schreiben prägt eine eigenartige Mischung von Drohungen und Devotionsfloskeln. Der zuweilen ungelenke Satzbau und die ungewöhnlich direkten Forderungen spiegeln möglicherweise die Abfassung unter Zeitdruck wider. In dem Text beklagen die Untertanen das dramatische Ausmaß von Hunger und Armut in der Stadt. Die Situation sei so gravierend, dass viele »schon keine Betten und Kleidungen mehr haben so schult versatzt oder verkauft«. Die Händler verfügten zwar über Vorräte, gäben diese aber nicht mehr auf den Markt, da 349 Bericht des Stadtkommandanten August von Berbisdorf vom 13.7. sowie des Bürgermeisters Johann Wilhelm Wadelung vom 21.7.1771, in: ThStA Gotha, GA ZZ Va Nr. 7, p. 8–10, 15–18. 350 ThStA Gotha, GA ZZ Va Nr. 7, p. 12. 351 Die »unterthänigste, gehorsamste, getreue bürgerschaft« an Herzog Friedrich III. vom 15.7.1771, in: ThStA Gotha, GA ZZ Va Nr. 7, p. 1–4. 352 August Beck, Geschichte des gothaischen Landes, Bd. 1, Gotha 1868, 410.

Überlebensökonomie

223

die Bürger die geforderten Preise nicht zahlen könnten. Stattdessen habe man sie höhnisch auf den Gebrauch entwürdigender Notnahrung verwiesen.353 Tatsächlich sei deren Verzehr bereits weit verbreitet. Die eigentlich als Viehfutter genutzte Kleie werde deswegen bereits stetig teurer. Viele Arme, auf deren Gesichtern sich schon die »elende bleiche des Todtes« ausbreite, verzehrten sogar Aas vom Schindanger. Das von der Regierung subventioniert ausgegebene Getreide sei ebenfalls von fremden Aufkäufern illegal erworben worden. »3–400 Heßen sind [ins Land] eingefallen« und hätten ihnen das Korn »vor dem Maule weg« gekauft. In dieser verzweifelten Situation habe man sich gezwungen gesehen, »die äußersten Mittel zu gebrauchen um nicht hungers zu sterben«. Die beklagenswerte Gewalt sei allein durch die Untätigkeit der Beamten provoziert oder durch ihr unverhältnismäßig hartes Vorgehen ausgelöst worden. Daher sei nun das Eingreifen des Herrschers selbst erforderlich. Man verlangte unter anderem, dass der Polizeikommissar für die Missstände bei der Marktregulation zur Verantwortung gezogen werde. Der Stadtkommandant habe zudem eine Frau niedergeritten und unbescholtene Personen verletzt, die in den Tumult lediglich schlichtend eingreifen wollten. Die Festgenommenen sollten dementsprechend freigelassen werden. Noch drastischere Forderungen ergaben sich aus der Hungersnot selbst und ihren vermeintlichen Verursachern. Der Herzog solle die gesamte Judenschaft ausweisen und unverzügliche, direkte Hilfen anweisen. Sollte dies ausbleiben, drohte man mit der Auswanderung. Man sei dann gezwungen »den Wanderstab zu ergreifen und Ew. Hertzogl. Durchl. werden ein Land voller Bettler haben«. Man schloss mit kaum verhohlenen Drohungen: »Nein durchl. Landes Vater wir erwarten auf daß schleunigste hülffe und errettung daß die hungers noth nicht andere masregeln ergreiffen muß und zu äußersten mitteln aus höchst dringender noth zu schreiten.« Man beließ es auch nicht bei dem üblichen Versprechen ewiger Dankbarkeit, sondern verwies auf die geleistete Erbhuldigung. Dieses Ritual beschrieb man nicht als Geste der Unterwerfung, sondern als Zeichen der Wechselseitigkeit von Herrschaft. Man gewähre dem Herzog Treue, erwarte aber im Gegenzug die gewissenhafte Umsetzung der Landesordnung mitsamt ihren Marktregulationen.354 Im Gothaer Fall ist es vor allem die offen antijüdische Stoßrichtung des Protestes, die heraussticht. Sie hatte in der Stadt bereits Tradition. Schon in der Hungersnot 1694/95 waren hier mehrere ›Kornjuden‹-Medaillen mit antijüdischem Bild 353 »[D]ie unchristl. Korn Juden hohneten uns noch es were die Noth nicht so groß es weren noch Schaalen und Blätter genug auf den bäumen. Die Castanien weren bald reif ja liebe gott erbarm es, gras kreüter vom felde und Saudisteln werden den meisten ihr Zugemüse«. ThStA Gotha, GA ZZ Va Nr. 7, p. 1v.-2r. 354 ThStA Gotha, GA ZZ Va Nr. 7, p. 2v. Die Klagen waren durchaus begründet. Im benachbarten Ohrdruff notierte der Stadtarzt einen Anstieg der Mortalität 1771 um mehr als das Vierfache (von 91 auf 385), wodurch die Bevölkerung um mehr als 10 % zurückging (von 3415 auf 3030). Beherzigung der Zeit, 1772, 358 f. Die drastisch erhöhte Todesrate in der Residenzstadt dokumentiert eine Gothaer Teuerungsmedaille. Steguweit, Teuerungsmedaillen, 65.

224

Handeln

programm erschienen.355 Auch 1771 beschränkte diese Haltung sich nicht auf den physischen Sturm der von Juden bewohnten Häuser. Sie prägte die gesamte Supplikation, in der die Gewalt sogar noch gerechtfertigt wurde. Der Text ist durchsetzt mit antijüdischen Motiven: Es sei die »Landverderbliche Judenschaft«, die gleich wie »Blutigel« den Bürgern »die Nahrung durch ihren freyen und fleischhandel Landes Ordnung widrig wegnehmen, und uns das Brodt von dem Maule weg schlaggen«. Statt wie noch der biblische Joseph Vorräte anzulegen, verursachten sie die Not durch gezielte Spekulation. Die »von Gott verworffenen Juden kaufen alles weg« und hielten heimlich angelegte große Vorräte zurück. Die »Land und Leute verderb[ende] Judenschaft, feinde und lästerer Christum und seiner Christen, schinden sich offenbahr und frevelhaft reich und wir müsten vornemen den bettelstab zu ergreifen und hungers sterben«. Diese vermeintliche Alterität von Juden und Christen unterfütterte man noch durch Verweise auf christliche Nächstenliebe und Fürsorge. Zudem seien die heimlichen Netzwerke der Juden allgemein bekannt: »ein Jude hilft dem anderen«. Lediglich ihre Ausweisung aus der Stadt könne daher Linderung verschaffen.356 Die Passagen reihen sich in die verbreitete Judenfeindschaft in der Krise ein. Überall nutzten Herrscher und Untertanen Juden als Sündenböcke. Über ihren demonstrativen Ausschluss ließ sich die eigene Teilhabe und Fürsorge besonders effektiv inszenieren. Direkte Gewalt wie in Gotha blieb aber noch die Ausnahme.357 Sie weist bereits auf die weitere Entwicklung voraus und unterstreicht, wie rasch sich das Bild des ›Kornjuden‹, das sich zunächst gegen christliche Händler richtete, unter dem Druck der Krise gegen Juden als Religions- und Volksgruppe radikalisieren und biologisieren ließ.358 In Gotha erzielten die Protestierer mit ihrer Strategie der kommunikativen und konfrontativen Exklusion einen großen Erfolg. Die Behörden wiesen zwar 355 Hubert Emmerig, Die Kornjudenmedaillen in der Sammlung Brettauer, in: Geldgeschichtliche Nachrichten 269, 2013, 258–270, 262; Robert Jütte, Das Bild vom ›Kornjuden‹ als Antifigur zum frühneuzeitlichen Prinzip der ›guten Nahrung‹ und der ›moral economy‹, in: Aschkenas 23, 2013, 27–52, hier 31. 356 ThStA Gotha, GA ZZ Va Nr. 7, p. 1v-2r. Der Regierung erschienen die Vorwürfe unglaubwürdig. Juden war der Getreidehandel verboten. Dies gibt auch der Text implizit zu, der stattdessen auf »Viktualien« abstellt und den Begriff Brot eher metaphorisch gebraucht. Der beklagte Wucher mit Schweinespeck ist sowohl aus religiösen als auch aus ökonomischen Gründen nicht plausibel. Ebd., 12v. Im Umland scheint die antijüdische Stoßrichtung in Gotha bekannt gewesen zu sein. Vgl. etwa die Darstellung in: Lausitzisches Magazin, 1772, 150. 357 Vgl. unten Kap. 3.3. Von durch die Hungerkrise motivierten Hausplünderungen und Ausweisungen in Kitzingen berichtet auch Naphtalie Bamberger, Geschichte der Juden in Kitzingen. Kitzingen 1908, 16. Archivalisch lässt sich dies jedoch nicht nachweisen. Vgl. Harald Knob­ ling, Die Synagoge in Kitzingen, Geschichte, Gestalt, Bedeutung, in: Schriften des Stadtarchivs Kitzingen, Bd. 6. Kitzingen 2003, 33 f. Ich danke Doris Badel vom Stadtarchiv Kitzingen für den Hinweis. Zur Tradition antijüdischer Strömungen in Hungertumulten insgesamt: Odenwälder, Nahrungsproteste, 51–56. 358 Gailus, Erfindung.

225

Überlebensökonomie

die Anschuldigungen gegen ihre Beamten und die »impertinente art zu tadeln« zurück. Sie betonten zudem, dass die Bürger immerhin mit »hammer und steinen« angetroffen worden seien. Als Lösung aber wüssten auch sie »kein andere Vorschläge zu thun« als die geplante Ausgabe von subventioniertem Brot um das Dreifache zu erhöhen.359 Die Verteilung aus den herzoglichen Magazinen begann bereits in der Folgewoche. Sofort im Anschluss erwarb die Regierung auf eigene Kosten Getreide im Ausland und ließ es stark verbilligt in der Stadt und auf dem Land verteilen.360 Daraufhin sanken die Preise schlagartig um fast die Hälfte.361 Daneben stellte die Regierung Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur Verfügung, unter anderem im Straßenbau und bei der Ausbesserung der Schlossmauern. Die Hilfsmaßnahmen wurden bis in den Sommer 1772 hinein fortgesetzt.362 Die festgenommenen Aufrührer, darunter ein Tuchmacher, ein Leinenweber, ein Glaser und ein Schuhmacher, waren bereits nach kurzer Zeit wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Nachdem ihre Frauen Bittschreiben einreichten, setzte der Herzog ihre Strafen wegen aufrührerischer Reden und »wider die hiesige Policeyanstalten ausgestoßene unfertige Schmäh-Worte« sowie Gefangenenbefreiung aus.363 Mit der erfolgreich mobilisierten Hilfe verlor auch die geforderte Ausweisung der Juden wieder ihre Bedeutung. Kurz darauf spielten die Hofjuden Levi und Hertz Israel sogar eine wichtige Rolle bei den Plänen für ein neues Großmagazin.364 Die Arrangements des Protests Ähnliche Interaktionsformen von oben und unten lassen sich auch an anderen Orten beobachten – mit jeweils spezifischen Konstellationen: So dienten im benachbarten Erfurt anstelle der Juden die Nürnberger Aufkäufer als Sünden­böcke. Die Proteste zielten jedoch auch hier auf die lokale Obrigkeit. Sie begannen, als der eigene Bürgermeister trotz der Exportsperre Getreide aus seinem Stadtpalais nach Nürnberg transportieren ließ, um von den noch höheren Preisen dort zu profitieren. Daraufhin versammelten sich auch hier »Schaaren von Weibern«, die sein Haus mit Steinen bewarfen. Nachdem die Menge weiter anschwoll, musste der Bürgermeister auf einem Strohwagen versteckt fliehen. Erst ein Bataillon der

359 Schreiben der Regierung an Herzog Friedrich III. vom 17.7.1771, in: ThStA Gotha, GA ZZ Va Nr. 7, p. 12 f. 360 ThStA Gotha, GA OO VI, Nr. 46, p. 1, 28, 51; Löffler, Geschichte, 198; Beck, Geschichte, Bd. 1, 410. 361 Beherzigung der Zeit, 1772, 356. 362 Ein zunächst geplantes Großmagazin scheitert jedoch. ThStA Gotha, GA OO VI, Nr. 46, bes. p. 6, 14, 43. 363 ThStA Gotha, GA ZZ Va Nr. 7, p. 21–32. 364 ThStA Gotha, GA U I, Nr. 77b, p. 12.

226

Handeln

Reichsarmee konnte die Ordnung wieder herstellen.365 Auch hier zeigte der Protest Wirkung. Der ferne und bisher wenig engagierte Mainzer Kurfürst, dem die Stadt unterstand, wählte nun einen neuen Statthalter, der umgehend paternalistische Hilfsmaßnahmen einleitete und einen demonstrativ bescheidenen Lebensstil zu inszenieren verstand.366 Hingegen hielten es die in der Erfurter Akademie der Wissenschaften organisierten Befürworter des Freihandels nun für »das Beste, daß die Akademie in vornehmer Zurückhaltung sich still verhielt«. Ihre Sitzungen wurden in der Folge eingestellt.367 Als außergewöhnlich können hier vor allem eine Reihe gedruckter, anonymer Polemiken gelten, in denen die extrem asymmetrischen Marktbedingungen kritisiert wurden, die ärmere Erfurter zugunsten wohlhabender Nürnberger ohne Nahrung ließen.368 Die Texte bilanzierten den ungleichen Handel teilweise mit sozialrevolutionären Anklängen. In Form einer Tabelle kontrastierten sie die wenigen Gewinner und die vielen Verlierer (»ein zu hundert«) dieser Krisenökonomie. Kaufleuten und »einigen wenige[n] Bauern« stellten sie Fabrikanten, Handwerker, Tagelöhner, Arme und die »meisten Bauern« gegenüber. Sie artikulierten den Handlungskontext der Proteste auch als Programm für den abwesenden Souverän.369 In der Residenzstadt München wählte man hingegen den Umweg über den Kurfürsten, um die Regierung zu aktivieren – mit drastischen Konsequenzen. Bereits im Dezember 1770 war es in der Stadt zu ersten Krawallen gekommen. 365 Der Bürgermeister Siegmund Leberecht Hadelich betonte wenig glaubwürdig, es handele sich um auswärtiges Getreide eines Verwandten, das der Sperre nicht unterliege. Beyer, Chronik, 162 f. 366 Antje Freyh, Karl Theodor von Dalberg. Ein Beitrag zum Verhältnis von politischer Theorie und Regierungspraxis in der Endphase des Aufgeklärten Absolutismus. Frankfurt a. M., Bern 1978, 46, 282–287. Zur Lage in der Stadt Erfurt, in der sich der Getreidepreis verzehnfachte und die Sterberate verdoppelte, Moritz, Teure Zeiten, 25 f. Der abwesende Mainzer Kurfürst Josef Emmerich engagierte sich zuvor lediglich in seiner Residenzstadt als tatkräftiger Landesvater, vernachlässigte Erfurt und seine Besitzungen im Eichsfeld, in einer der schlimmsten Hungerregionen, aber weitgehend. Weber, Kurmainz. 367 Richard Thiele, Die Gründung der Akademie nützlicher (gemeinnütziger) Wissenschaften zu Erfurt und die Schicksale derselben bis zu ihrer Wiederbelebung durch Dalberg (1754– 1776), in: Jahrbücher der Königlichen Akademie gemeinnütziger Wissenschafen zu Erfurt NF 30, 1904, 1–138, hier 97 f. 368 W. A. O. Zinngiesser, Ohnmaßgeblicher Vorschlag zum Besten des Armuths, wie dem gegenwärtigen Brodmangel in hiesiger Stadt abzuhelfen seye aus Menschenliebe eröffnet. [Erfurt] 1771; Adam Riese [eigentlich: Friedrich Just Riedel], Widerlegung des Zinngiesserischen Vorschlags, wie dem Brodmangel in hiesiger Stadt abzuhelfen sey. [Erfurt 1771]. Beide Schriften stammen möglicherweise von demselben Autor. Sie sind in bewusst naivem Ton gehalten und zielten mit ihrem geringen Verkaufspreis auf ein allgemeines Publikum, dass auch die Bevölkerung der Vorstädte einschloss. Zinngiesser, Vorschlag, 14; Riese, Widerlegung, 31. 369 Die zynische Haltung, dass der Hunger des gemeinen Mannes bloß seine »Industria vermehr[e]« konterte man mit dem Hinweis an die Herren, »daß gerade der gemeine arbeitsame Mann ein wichtigeres Corpus im Staate ausmacht, als sie«. Riese, Widerlegung, 22 f. Die asymmetrischen Austauschbedingungen werden auch dadurch persifliert, dass man vorschlug, Getreide statt gegen Geld gegen Nürnberger Pfefferkuchen zu tauschen. Zinngießer, Vorschlag, 9–13.

Überlebensökonomie

227

Zuvor hatte die Regierung zwar Handelsbeschränkungen verhängt, in einem Versuch des Interessensausgleichs die Ständeprivilegien aber unangetastet gelassen, wodurch die Belieferung der Münchener Schranne zusammengebrochen war.370 Da die Regierung diese Ausnahmen auch in den Folgemonaten beibehielt und die Zirkulation von Protestschriften keine Veränderung bewirkte, wandten sich die Bürger direkt an die nächsthöhere Ebene. In einem nur in der unzensierten englischen Presse überlieferten Zwischenfall stoppte ein Mob die Kutsche des Herzogs auf dem Weg zu seiner Nymphenburger Sommerresidenz. Die Menge betonte ihre friedlichen Absichten, verlangte aber zugleich die umgehende Demission von vier Staatsministern, denen man die Misswirtschaft anlastete. Der überrumpelte Kurfürst habe zunächst befohlen, die Menge durch seine Leibgarde gewaltsam zerstreuen zu lassen. Als die Soldaten sich jedoch weigerten dem nachzukommen, sei ihm seine prekäre Situation schlagartig klar geworden. In der Folge versprach er sofortige Abhilfe und die Erfüllung der Forderungen.371 Anders als die ausländischen Zeitungen vermuteten, sorgte die gewaltfreie, aber eindrucksvolle Machtdemonstration tatsächlich für einen Kurswechsel. Der Staatsminister und Kammerpräsident von Berchem, ein enger Vertrauter des Herzogs, wurde seiner Ämter enthoben. Die übrigen drei Minister blieben zwar im Amt, als ›Kompensation‹ ließ man aber angeblich zwei mittlere Beamte hinrichten.372 Die umstrittenen Handelsbeschränkungen wurden umgehend zurückgenommen und die Regierung begann mit ihren Ankäufen im Ausland und den extrem teuren Hilfsprogrammen für die Hauptstadt.373 Anschließend blieben beide Seiten über schriftliche Eingaben in Kontakt. Als die Sonderregelungen für Landadel und Kaufleute im Herbst 1772 trotz zahlreicher Supplikationen erneut bestätigt werden sollten, kam es zu einem weiteren Tumult. Er richtete sich gegen den »durch Privilegien, Berechtigte und Geschworene« betriebenen Sonderhandel. Diesmal konnte nur mit Mühe die Erstürmung des Polizeikollegiums verhindert werden. Daraufhin erklärte der Kurfürst die Bevorzugung der Getreidehändler endgültig für aufgehoben. Auch in diesem Fall stand hinter dem vermeintlich spontanen Protest eine sorgfältig verfolgte Agenda. Sie nutzte die populären Ressentiments gegen den Getreide 370 Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 93. 371 Annual Register 1771, [History of Europe] 89 f. sowie Scots Magazine vom 1.12.1772, 629. Die Berichte basierten weitgehend auf den Geheimberichten des großbritannischen Reichstagsgesandten aus München: Bericht Lewis de Vismes an Lord Halifax vom 15.9.1771 in: NA, State Papers 81/109. Anschließend wurde die Verbreitung von weiteren »Pasquillen« und politischen Schriften verboten. Härter, Stolleis, Repertorium, Bd. 3.1., 889 (Mandat vom 18.12.1770). Rankl (Politik, 758), der diese englischen Berichte nicht kennt, macht hingegen (in Anlehnung an Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 93) das Unwissen des Fürsten, nicht dessen Ignoranz (vgl. FN 244) für sein zögerliches Handeln verantwortlich. 372 Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 93. Maximilian Franz Josef von Berchem wurde später wieder in seine Ämter eingesetzt und sogar in den Reichsgrafenstand erhoben, stand aber zeitlebens im Ruf der Korruption. Neue Deutsche Biographie, Bd. 2. Berlin 1955, 64 f. 373 Vgl. Kap. IV.1.5.

228

Handeln

handel als Vorwand, um konkrete Einzelpersonen zu attackieren, die innerhalb des Regierungslagers eine ständefreundliche Politik verfolgten.374 Die Proteste verliefen kontrolliert und ereigneten sich gezielt an demonstrativen Orten. Wie in Gotha und Erfurt bildeten sie nur Höhepunkte innerhalb einer längerfristigen Kette kommunikativer Interaktionen. Die Proteste richteten sich also nach den lokalen Verhältnissen. Sie waren mal über die Regierung an den Fürsten oder über die Verwaltung an den Souverän adressiert. Mit Exklusion bedrohte man wahlweise Juden, Fremde oder die eigenen Beamten. Dennoch lassen sich gemeinsame Arrangements beobachten. Dem physischen Protest ging fast immer eine längere Phase wechselseitiger Bedrohungskommunikation voraus. In Freiberg, Stuttgart oder München kursierten neben den üblichen Supplikationen auch gedruckte Aufrufe und Handzettel. In der bayerischen Residenzstadt produzierte man in einer vormodernen Form der Kommunikationsguerilla Schmähschriften in der Form kurfürstlicher Mandate, um die eigenen Anliegen bekannt zu machen. In Stuttgart formulierten die Bürger ihr Begehren etwas direkter und taten auf einem anonymen Anschlag am Landschaftshaus kund: »Ihr Herrn. Thut das Geld herauß und schaffet Brod und Früchte an, oder wir zünden zuletzt die Stadt an«.375 In München nahmen die öffentlichen Schmähungen ein solches Ausmaß an, dass sie bald »Niemand mehr, wes Standes und Wesens er auch immer sey« verschonten. Wie in Erfurt kritisierten sie die halbherzigen Verordnungen der Regierung »auf das allerfreyund frecheste«.376 Wurden dennoch physische Proteste nötig, verliefen sie nach ungeschriebenen Regeln. Die Gewalt blieb zumeist symbolisch und richtete sich in aller Regel gegen Dinge nicht gegen Personen. Wie in ganz Europa gehörten die Blockade der Getreideausfuhr, das Umstürzen von Kornwagen und -säcken, die Preisfestsetzung in Form der taxation populaire und der Zwangsverkauf zum Ensemble des Protests.377 Träger waren nicht die hungrigsten Teile der Bevölkerung, sondern die städtischen Mittel- und Unterschichten.378 Zu den Tumultanten gehörten regelmäßig Frauen und oft auch Kinder. In den Quellen tauchen sie, den Geschlechterstereotypen entsprechend, als »ausgelassene Weiber, welche zum Theil 374 Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 99. 375 Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 93 und Zimmermann, Noth, 125. In Pfullingen erklärten die lokalen Behörden die Proteste mit der Tatsache, dass die an die Grundherren gerichteten »unterthänigst flehendtlichen Suppliquen gäntzlich fehl geschlagen auch die sonsten auf das Frucht Negotium verschickte Deputati nirgends Gehör gefunden«. Stadtarchiv Pfullingen, A 262 (Frucht-Vorraths-Rechnung, 1771), 1v.-2r. Ähnliche Formen der appellativen Bedrohungskommunikation finden sich in ganz Europa. Vgl. Kaplan, Famine Plot, 32; Zimmermann, Krisenkommunikation. 376 Hazzi, Betrachtungen, 46. Kursierende Traktate gegen die Privilegien der Mönche ließ die Obrigkeit öffentlich verbrennen. Ebd., 34. 377 Vgl. Schubert, Arme, 19; Vogt, Maßnahmen, 39; Zimmermann, Noth, 110–112; Militzer, Klima, Kap. 5.12.2.3. 378 Odenwälder, Nahrungsproteste, 9.

Überlebensökonomie

229

auch von ihren Männern nicht gebändigt werden konnten«, auf oder als Schwarm von Furien, die »reicher an Bosheit als an Baarschaft waren«.379 Wie im Gothaer Fall wurden sie oft dort aktiv, wo Männer eine härtere Strafe zu erwarten gehabt hätten. Zuweilen nahmen sie dadurch eine führende Rolle ein, wie in Durlach oder in Altorf, wo 200 Frauen die Proteste anführten.380 Zu den Sündenböcken gehörten wie in Gotha häufig die als ›Kornjuden‹ beschimpften Getreidehändler, auch wenn die Zuspitzung auf Angehörige der jüdischen Religion noch eine Ausnahme blieb.381 Ebenso oft traf es die Bäcker, deren Läden – genau wie das Rathaus, die Mühle oder das Magazin – klassische Orte sozialer Verdichtung bildeten, an denen die Bruchzonen städtischer Nahrungsregimes sichtbar wurden. In den Hungerjahren mussten sie ständig mit symbolischer oder tatsächlicher Gewalt rechnen. Der Brotverkauf erfolgte daher oft nur noch durch die Fenster und unter dem Schutz der Stadtwache.382 Überall suchten die Protestierenden gezielt die Öffentlichkeit. Deren Einverständnis konnte offenbar vorausgesetzt werden und verlieh Schutz sowie Legitimität. Tumulte fanden daher nicht in der Nacht oder abseits öffentlicher Plätze statt. Angesichts ihrer breiten Unterstützung in der Bevölkerung wurden die Protestierenden zumeist nur vereinzelt und durchweg milde bestraft.383 Fast überall erwies sich der Protest zudem als weitgehend effektiv. Nach den Tumulten kamen die Obrigkeiten den Forderungen der Menge oft umgehend nach, zuweilen trotz erheblicher Kosten für die Staatskasse. In einigen Fällen exekutierten sie im Anschluss die Regulationen mit drakonischen Beschlagnahmen und Kontrollen.384 Die weitreichendsten Zugeständnisse machte der Wiener Kaiserhof. Um die erwarteten Proteste im hungernden Böhmen abwenden zu können, ließ die Kanzlei für den Notfall eilig ein Patent 379 Schriften der Familie Griessenböck, Jenbach (AU), in: Gemeindechronik Jenbach, http:// www.jenbach.at/gemeindeamt/html/04_1770–1838.pdf [7.11.2016]; David Hünlein, Neue und vollständige Staats- und Erdbeschreibung des Schwäbischen Kreises und der in und um denselben gelegenen Österreichischen Land- und Herrschaften, insgemein Vorder- oder Schwäbisch Österreich genannt. O. O. 1780, 335. 380 Zimmermann, Noth, 109–111; Michael Grimm, Versuch einer Geschichte des ehemaligen Reichsfleckens und des jetzt noch so berühmten Wallfahrtsortes Altdorf, gen. Weingarten, nebst seiner Umgebung, Ravensburg 1864, 356 f. Ebenso in Ludwigsburg und Pfullingen: Zimmermann, Noth, 126–128. Den Protestforschern erschien die Rolle der Frauen in Hungertumulten außergewöhnlich. Odenwälder, Nahrungsproteste, 23 f. Aus der Perspektive der Überlebensökonomie erscheint ihre Präsenz jedoch als logische Fortsetzung ihres Engagements in Praktiken wie der Nachbarschaftshilfe oder der Notnahrung. Ulbrich, Resignation, 177–179. 381 Gailus, Erfindung. 382 Anon., Lesenswürdige Beschreibung, o. P.; Zimmermann, Noth, 107; Schubert, Arme, 17; Abel, Massenarmut, 412; Schultz, Roggenpreis, 95. 383 Odenwälder, Nahrungsproteste, 68; Zimmermann, Noth, 127. Dies entsprach ebenfalls dem Vorgehen in den Nachbarstaaten. Vgl. etwa Donnelly, Hearts, 66–68. 384 Zimmermann, Krisenkommunikation, 397; Grimm, Geschichte, 357. Lediglich im weniger stark betroffenen Minden verhinderte eine Koalition von Adel und Grundbesitzern die vom Rat nach den Protesten bereits beschlossenen Hilfen. Huhn, Ernstfall, 243.

230

Handeln

vorbereiten, dass die Bauernbefreiung im ganzen Land dekretierte – gegen den expliziten Widerstand der Grundherren.385 In den geschwächten Krisenstaaten erwies sich das kollektive bargaining by riot zumindest für die Stadtbevölkerung als wirksame Maßnahme.386 Noch wichtiger als die Marktregulation dürfte aber die gesteigerte gesellschaftliche Teilhabe gewesen sein, der in jeder Hungerökonomie ein enormer Stellenwert zukam. Sie half auch dann, wenn die Tumulte keine dauerhaft moralischere Ökonomie begründeten.387 Genau diese Kollusion von Untertanen und Obrigkeiten stieß bei bürgerlichen Unterstützern des Freihandels auf scharfe Kritik, nicht zuletzt weil sie ihre eigene Machtposition zu untergraben drohte.388 In den Hungerjahren formulierten manche Beobachter aber auch Verständnis und Unterstützung. Der gemeine Mann sei schließlich verpflichtet, sein von Gott geschenktes Leben zu erhalten. Dies berechtige ihn auch, die »hierzu nöthigen Mittel zu erzwingen, wo er sie in Güte nicht erlangen kann.« Nötigenfalls auch mit Gewalt gegen »Adel und die Beamten«.389 Die Forschung hat hingegen meist die Kritik der späteren Gewinner übernommen. Sie hat die Tumulte im Rückblick als Manifestation eines verlorenen Abwehrkampfes und einer überkommenen Subsistenzethik interpretiert.390 Sobald man jedoch den symbolischen und kommunikativen Kontext der Krawalle mitberücksichtigt, zeigt sich ein anderes Bild. Hinter dem punktuellen Spektakel des Protests verbargen sich folgenreiche, längerfristige Interaktionen. Beide Seiten legitimierten einander als autoritative Partner. Zumeist geschah dies auf Kosten exkludierter Dritter, wie der Juden oder der Grundherren. Diese Autorisierung hatte Folgen, die über die Krise hinaus wiesen. Sie reichten von der Delegitimierung intermediärer Instanzen bis zur Beschränkung ständischer Privilegien.391 385 Da die Aufstände in dem völlig zerrütteten Land zunächst ausblieben, behielt man das Patent jedoch unter Verschluss. Es wurde erst nach den Bauernaufständen 1775 in Kraft gesetzt. Goldman, Hatzfeld, 83. 386 Ihre erzwungene Versorgung musste nicht notwendig auf Kosten anderer Bevölkerungsgruppen erfolgen, wie es Kritiker des Konzepts der Moralischen Ökonomie behauptet haben (etwa: John Stevenson, The Moral Economy of the English Crowd. Myth and Reality, in: Ders., Anthony Fletcher (Hrsg.), Order and Disorder in Early Modern England. Cambridge 1987, 218– 238). Zumeist waren es die fürstlichen Haushalte, die den Großteil der Lasten zu tragen hatten (Kap. IV.1.5.). Die Tumulte aktivierten damit zusätzliche Hilfen, die sonst wohl nicht geflossen wären. In kleineren Territorien wie in Gotha kamen die neuen Maßnahmen zudem auch der Bevölkerung auf dem Land zugute (Löffler, Geschichte, 198). Die zuweilen geäußerte Vermutung, dass weniger Markteingriffe eine insgesamt bessere Versorgung gewährleistet hätten, verkennt hingegen die extremen ökonomischen Asymmetrien in der Krise. Vgl. etwa Schmidt, Hungerrevolten 276. 387 Sen, Poverty. 388 Vgl. unten Kap. 4.1. 389 Schrader, Kunst, 42 f. Entsprechende Überlegungen wurden europaweit diskutiert. Vgl. etwa den Leeds Intelligencer vom 18.12.1770, Kap. »From a friend«. 390 Odenwälder, Nahrungsproteste, 10–17. 391 Vgl. unten Kap. 3.2.

231

Überlebensökonomie

Damit trugen die Proteste zu Veränderungen bei, obwohl die Vorstellungen der Tumultanten selbst konservativ blieben.392 Im Ensemble der Überlebensökonomie bildeten die Proteste damit nur das sichtbarste Element der dahinter liegenden vielfältigen, vertikalen Aushandlungsprozesse.

2.6. Migration Wo die lokale Aktivierung horizontaler und vertikaler Netzwerke scheiterte, bildete die Migration den zentralen Baustein im Repertoire der Überlebensökonomie.393 Ein geschichtlicher Zusammenhang zwischen Klima und Migration wird häufig vermutet. Unterschwellig prägt er auch die Debatten um die Folgen des aktuellen Klimawandels. Für die Vormoderne lassen sich entsprechende Verflechtungen an kaum einem Beispiel so detailliert prüfen, wie an den außerordentlich gut dokumentierten Jahren 1770–1772. Während der Hungerjahre sind für ganz Zentraleuropa umfassende Wanderungsbewegungen nachweisbar. Sie reichten von der temporären Nahmigration in die Städte bis zur dauer- und massenhaften Emigration nach Ungarn und Amerika. Überall begaben sich weite Teile der Bevölkerung auf die Suche nach Nahrung, Lohn oder medizinischer Versorgung. Im vielfach untergliederten Reichsgebiet verlief der Unterschied von Binnen- und Fernmigration fließend. Die Grenzen der Territorien fielen nur selten mit den Wirtschaftsräumen oder den mental maps der Notleidenden zusammen.394 Oft genügte eine Tagesreise oder das Betreten der nächsten Stadt, um das Herrschaftsgebiet zu wechseln. Ein Großteil der Schutzsuchenden wurde so gezwungenermaßen zu Migranten. Im vormodernen Europa führte diese Krisenmobilität fast unweigerlich zu Konfliktsituationen. Frühneuzeitliche Obrigkeiten verstanden Wanderungsbewegungen generell als Bedrohung. Dauerhafte Emigration verwies im Staatsverständnis der Zeitgenossen auf die schlechte Policey der Verantwortlichen. Sie schmälerte nicht zuletzt die Zahl möglicher Steuerzahler. Erste Konzepte von ›Überbevölkerung‹ und wünschenswerter Auswanderung entstanden erst infolge der Hungers 392 Anders als die neuen Ökonomen, die ein zunehmend dynamisches Verständnis von Wirtschaft entwickelten, verstanden die Tumultanten ihre Aktionen als Teil eines Nullsummenspiels, bei dem jeder nur so viel zu wenig hat, wie der andere zu viel besitzt. Odenwälder, Nahrungsproteste, 30. 393 Ó Gráda, Famine, 81–89. Zur ›adapted-to-flee‹-Hypothese menschlicher Gesellschaften in der Anthropologie vgl. Russell, Hunger, 164. Zur Bedeutung im Rahmen des Livelihood-­ Ansatzes vgl. David Wrathall, Differentiated Migration as Community Disassembly. Resilience Perspectives on Catastrophic Disturbances in Livelihood Systems. United Nations University Institute of Environment and Human Security Working Paper Series 10. Bonn 2015. 394 Dorothee Rippmann, Ira Spieker, Grenzgänge. Kleinräumige Mobilität in der ländlichen Gesellschaft, in: Volkskunde in Sachsen 24, 2012, 97–109, hier 101.

232

Handeln

not 1770–1772.395 Die Emigration war den Untertanen daher fast überall untersagt oder durch hohe Hürden erschwert. Selbst temporäre und lokale Wanderungsbewegungen stießen auf Argwohn. Sie widersprachen dem traditionellen Heimatprinzip des europäischen Armenwesens, das eine lokale Versorgung Bedürftiger verlangte. Zudem unterliefen sie die weitgehend ortsgebundenen Kontrollmechanismen frühneuzeitlicher Verwaltungen. Aus der Perspektive der Obrigkeiten rückten Hungermigranten damit in gefährliche Nähe anderer mobiler Gruppen, die seit jeher mit Misstrauen betrachtet wurden. Hierzu zählten etwa Handwerksgesellen, Studenten, Bettler oder Hausierer. »Emigration, Zusammenrottierung, Raubereyen« erschienen den Regierungen eng verwandt.396 In der extremen Not der Jahre 1770–1772 bewirkten die üblichen Gegenmaßnahmen der Obrigkeiten allerdings wenig. Im Zweifelsfall brachen die Untertanen auch ohne Zustimmung ihrer Herrschaft auf. Krisenzeiten entlarvten die sorgfältig gezogenen territorialen Grenzen als soziale Artefakte.397 Die daraus resultierenden Konflikte führten jedoch zu einer außergewöhnlich guten Dokumentation einer ansonsten gezwungenermaßen flüchtigen Überlebenspraxis. Die Versuche, Migration durch Pässe und Abgaben zu steuern oder zumindest zu erfassen, gewähren einen seltenen Einblick in das Ausmaß, die Motivation und die Erfahrungen sowohl der Migranten als auch der Zurückbleibenden. Für die ältere Migrationsforschung spielte die Auswanderung in Hunger- und Wirtschaftskrisen eine formative Rolle. Schlüsselereignisse wie die irische Hungersnot von 1845–48 sorgten dafür, dass der Fokus lange auf der dauerhaften Fernmigration lag. In den letzten Jahren sind hingegen vermehrt die alltäglichen, lokalen und temporären Wanderungsbewegungen untersucht worden. An die Seite der prosopographischen Auswandererstudien treten seither Forschungen zur Migrationskultur, zur Remigration und zu den Zurückbleibenden.398 Sie illustrieren die Dynamik einer auch in normalen Jahren keineswegs statischen Gesellschaft, in der regelmäßig um die 10 Prozent der Bevölkerung unterwegs waren.399 Dieser Perspektivwechsel hat das Verständnis dafür geschärft, aufgrund welchen Vorwissens Migranten in Hungerkrisen ihre Ziele und Wege auswählten. Er hat zudem die überragende Bedeutung kurzfristiger Nahmigrationen aufgezeigt, die zwar weniger spektakulär verliefen als die Auswanderung, sie aber im Umfang weit 395 Georg Fertig, »Man müßte es sich schier fremd vorkommen lassen«. Auswanderungspolitik am Oberrhein im 18. Jahrhunderts, in: Mathias Beer, Dittmar Dahlmann (Hrsg.), Migration nach Ost-und Südeuropa vom 18. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1999, 71–89. 396 Bericht des Staatsrats von Kressel an die Wiener Hofkammer, in: Kumpfmüller, Hungersnot, 79. 397 François, Seifahrt, Struck, Grenze. 398 Einen Überblick bieten: Ulrich Niggemann, Migration in der Frühen Neuzeit. Ein Literaturbericht, in: Zeitschrift für Historische Forschung 43, 2016, 293–321 sowie Rippmann, Spieker, Grenzgänge. 399 Blackbourn, Eroberung, 70.

233

Überlebensökonomie

überstiegen. Die Neuorientierung hat aber auch zu Defiziten geführt, da die Erforschung ›klassischer‹ Migrationswellen seither weniger intensiv betrieben wird.400 Nahmigration In den Krisenjahren 1770–1772 konzentrierte sich der überwiegende Teil der Wanderungsbewegungen auf das Nahfeld. Überall machten sich Notleidende in ihrer Umgebung auf die Suche nach Nahrung und Einkommen oder nach medizinischer und geistlicher Betreuung. Ulrich Bräker bemerkte zum Ausmaß dieser Notstrategie, »das herum laufen, u[nd] bettlen gehen ist vast algemein«. Wie ein Hannoveraner Pastor klagte, prägten die Hungernden das Bild auf den Landstraßen: »Ganze Scharen […] hoffen an fremden Orten sich besser vor dem Hunger zu schützen. Die Heerstrassen wimmeln von solchen unglücklichen Flüchtlingen. Die wohlhabenden Häuser hieselbst sind davon belagert.« Ähnliche Schilderungen einer allgemeinen Suche nach Nahrung und Hilfe existieren in allen betroffenen Gebieten.401 Das Ziel der meisten Migranten bildeten die Städte. Anders als teilweise noch im Mittelalter, zogen sie nicht mehr auf das Land und in die Getreideregionen, sondern in urbane Zentren.402 Was zunächst kontraintuitiv erscheint, spiegelt die Arrangements der Agrar- und Wirtschaftsverfassung. Die Hungernden folgten lediglich den Getreidewagen.403 In der Krise floss das Korn aus den Anbaugegenden in die Städte. Dies geschah entweder in Form von Steuern und Abgaben oder aufgrund der größeren Kaufkraft, welche die Händler höhere Preise erzielen ließ. Alternative Nahrungsquellen standen auch auf dem Land nur begrenzt zur Verfügung. Der Regen hatte viele Getreidesubstitute geschädigt, während Agrarverfassung, geringes Vermögen und rigide Landrechte die Wildsammlung sowie den Eigen- und Gartenbau beschränkten. Wer in dieser Situation nicht auf familiäre 400 So liegt etwa zu den Jahren 1770–1772 keine Synthese vor, obwohl sie als absoluter Höhepunkt der Aus- und Binnenwanderungen des 18. Jahrhunderts im Reich identifiziert werden: Werner Hacker, Auswanderung aus Baden und dem Breisgau. Obere und mittlere rechtsseitige Oberrheinlande im 18. Jahrhundert archivalisch dokumentiert. Stuttgart, Aalen 1980, 38; Ders., Auswanderer vom Oberen Neckar nach Südosteuropa im 18. Jahrhundert. München 1970, 11; Kumpfmüller, Hungersnot, 81. 401 Bräker, Schriften, Bd. 1, S. 259. In Braunschweig notierte der Soldat Grotehenn (Briefe, 190): »alle straßen sind mit betlers belebt, so viele Landes Herrliche Vorkehrungen dieserhalb auch bereits gemacht sind«. Aus dem Erzgebirge berichtete man von »Straßen, mit Heeren von halbnackenden Armen bedeckt, die weit von ihrer Heymath, Speise suchend herumirrten«. Monatschrift aus Mitleid 6, 1773, 365. Zu Hannover: Gerhard Philip Scholvin, Die Dankbarkeit der Armen in der Theurung welche im Winter 1772 zur Zeit der viele Wochen lang anhaltenden täglichen Speisung etlicher hundert Armen auf hiesigem Waysenhause in einer Predigt daselbst vorgestellet worden. Hannover 1773, 7. 402 Montanari, Hunger, 87. 403 Krämer, Menschen, 345.

234

Handeln

und nachbarschaftliche Unterstützung oder Kredite zurückgreifen konnte, musste anderswo nach Hilfe suchen. Dies traf insbesondere die besonders vulnerablen unterbäuerlichen Schichten sowie all jene, die im ländlichen Gewerbe oder der Protoindustrie tätig waren. Für diese Landarmen bestand die Alternative nicht in den teuren Märkten der Städte, sondern in deren Armen-, Fürsorge- und Gesundheitswesen. Vergleichbare Angebote existierten auf dem Land kaum und waren einer großen Krise nicht gewachsen. Zudem waren sie oft eng an lokale Patronagebeziehungen geknüpft. Dass die Wanderungsbewegungen 1770–1772 vor allem auf den urbanen Raum zielten, illustriert zugleich, dass die Hungersnot trotz des starken Klimaimpulses keine reine Angebotskrise, sondern auch eine Zugangskrise darstellte. Im Marsch auf die Städte manifestierten sich die ungleiche Verteilung und der verbreitete Verlust von entitlements auf Nahrung. Das Ausmaß der Landflucht während der Klimakrise war enorm. In Kassel kamen über das Jahr 1771 zu den 10–12.000 Einwohnern mehr als 4.500 auswärtige Hilfesuchende hinzu. In Regensburg (mit etwa 20.000 Einwohnern) hielten sich auf dem Höhepunkt der Krise sogar 6.000 Notleidende auf. Ein Augenzeuge aus Schwäbisch Hall notierte: »Dieser Ort ist alle Tag mit armen Schwaben so überlaufen worden, daß man geglaubet die Häuser müßten in Schwaben ganz leer stehen, es sind des tages oft mehr dann über 100 Persohnen vor die Thüren gekommen«. Im Böhmischen Maffersdorff zählte man an einem einzigen Haus 800 Bettler an einem Tag. Zum Pfarrhaus in Auernheim in Franken kamen im Sommer 1772 11.707 Menschen, um Almosen zu erbitten.404 Aus dem preußischen Breslau meldete man, dass nicht nur sonderlich vor den Thoren fast von 10 zu 10 Schritt ordentliche Postierungen von Bettlern, sondern auch öfters auf einmahl ganze Heerden, derselben sowohl von erwachsenen Leuten, als besonders von Kindern angetroffen werden, und die Bettler so gar bis in die oberste Etagen der Häuser ohne Scheu eindringen, und ihre Betteley bis zum Ungestüm treiben.405

Angesichts der leergefegten Landmärkte wuchs der Einzugskreis der Städte an. Aus dem Münchener Umland nahmen die Menschen bis zu 20-stündige Fußmärsche auf sich, um an der täglichen Brotausteilung zu partizipieren.406 404 Jochen Ebert, Auf der Suche nach Lohn und Brot. Fremde in der Stadt und auf dem Land in der Landgrafschaft Hessen-Kassel im 17. und 18. Jahrhundert, in: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung. N.F. 43, 2009, 56–74, hier 65; Christian Gottlieb Gumpelzhaimer, Regensburgs Geschichte, Sagen und Merkwürdigkeiten von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten, in einem Abriß aus den besten Chroniken, Geschichtsbüchern und Urkunden-Sammlungen, dargestellt, Bd. 3. Regensburg 1838, 1667; Anon., Lesenswürdige Beschreibung, o. P.; Jäger, Dorfchronik, 235; Ernst Schubert, Arme Leute. Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts. Neustadt/Aisch 1990, 5. 405 GStAPK, II. HA, Abt. 14, Tit. CCII, Nr. 4, p. 204–218. 406 Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 112.

Überlebensökonomie

235

Dieser Ansturm von Migrant/innen stellte die Städte vor gewaltige Herausforderungen. Kleinere Orte wie Erding versuchten zuweilen, den Zustrom durch das Schließen der Tore einzudämmen.407 In größeren Zentren war dies kaum möglich. Dort suchte man die Zuwanderung mit Erlassen und Wachtposten zu regeln – zumeist mit geringem Erfolg. Die sonst übliche Unterscheidung in ›starke und schwache Arme‹, die arbeitsfähige von echten hilfsbedürftigen separierte, verlor in der Krise ihre Trennschärfe, da auch »viele, ja sehr viele Handtwercker zu Bettel-­Leuthen« wurden.408 Umso mehr hoffte man die Exklusion der auswärtigen Armen durchzusetzen. Fast alle Städte versuchten, fremde Arme kategorisch auszuweisen. Aber schon die Spannweite der exkludierten Personengruppen verweist auf die Herausforderung, solche Personen in der heterogenen Stadtgesellschaft eindeutig zu identifizieren. In Dresden traf es neben auswärtigen Armen auch alle »Wetterbeschädigten, […] invalide Soldaten, Mühlknappen, Exulanten und Conversis« sowie »Comoedianten, Seiltänzer, Taschenspieler, und diejenigen so mit Bären, Affen und andern fremden und seltenen Thieren, Marionetten- und Puppenspielern, Raritaetenkasten und Music umhergehenden.« In Basel kamen noch »fremde Raritäten-Männer und Murmeltierli-Buben« hinzu.409 Viele Städte versuchten sich mit der Ausgabe von Armenzeichen zu helfen.410 Andere verschärften die Strafen für die illegale Unterbringung von Hungerflüchtlingen. In Dresden ordnete man Razzien und unangekündigte Visitationen der Herbergen an.411 Aber schon in den hastig erlassenen Armenordnungen wird deutlich, wie wenig solche Maßnahmen inmitten der Krise verfingen. Die Armenzeichen wurden von den Migranten gefälscht, verändert, verliehen, verkauft oder verdeckt getragen.412 Die schlecht bezahlten Wachen und Bettelvögte tendierten dazu, »mit denen Bettlern, auf die eine oder die andere Art [zu] colludiren«.413 Die geringe Zahl der Plätze in den teuren Zucht- und Arbeitshäusern verhinderte, dass Gefängnisstrafen gegen Migranten exekutiert wurden. Vereinzelt gab es Versuche, Flüchtlinge mit den regelmäßigen Bettlerschüben und speziellen »Krüppelfuhren« in ihre Heimatorte

407 Press, Hungerjahre, 206. 408 Bräuer, Leipziger Rat, 81. 409 Rat der Stadt Dresden, Armen-Ordnung bey der Chur-Fürstl. Sächß. Residenz-Stadt Dreßden, Neustadt, Friedrichstadt und denen Vorstädten. Dresden 1773, 35–39; Bieler, Schatten, 186. 410 Vgl. Kap. IV.1.6. 411 Bräuer, Leipziger Rat, 156; Rat Dresden, Armen-Ordnung, 42 f. 412 StAR, Dekrete 1454 (Verordnung vom 9.10. 1775 in Reaktion auf die Armenordnung von 1770). Zu Armenzeichen und Korruption vgl. auch Hochedlinger, Tantner, Berichte, 80. 413 Rat Dresden, Armen-Ordnung, 34. Ähnlich für Niedersachsen: Ingeborg Titz-Matuszak, Mobilität der Armut. Das Almosenwesen im 17. und 18. Jahrhundert im südniedersächsischen Raum, in: Plesse-Archiv 24, 1988, 9–338, hier 42–50. In Nürnberg stellte man den Torwächtern daher »einige von den Bürgern« zur Seite. Abel, Hungerkrisen, 249. In Leipzig gehörten sie oft selbst zu den Bedürftigen. Vgl. Kap. IV.1.6.

236

Handeln

abzuschieben.414 Zumeist beschränkte man sich jedoch darauf, die Migranten vor den Toren der Stadt auszusetzen. Aufgrund der Aus- und Abweisungen zogen die Betroffenen oft von Ort zu Ort durchs Land. Justus von Hazzi berichtete, in diesen Notjahren sei »am Lande Alles in Bewegung«. Er sah »öfters ganze Familien, oder aber liederliche Schaaren« auf der Suche nach Hilfe »von einem Gerichte zum andern, und so durch daß Land streiffen.«415 Angesichts solcher Kettenwanderungen bemühten sich neben den Stadt- auch die Landesobrigkeiten um die Eindämmung der Migration. Die Fürsten erneuerten Gesetze gegen Vaganten, fahrendes Volk und Armutsflüchtlinge.416 In der Not schien es kaum möglich, diese Gruppen voneinander zu trennen. An den Außengrenzen ließ man »Gränz- oder Wahrnungstafeln« anbringen, die bildliche und schriftliche Verbote der Einwanderung enthielten und Immigranten schwere Körperstrafen androhten.417 Schlesien befahl seinen Grenzposten, das »Eindringen armer Leute aus den benachbarten Landen, und der darunter mit befindlichen Vagabonds und Diebs-Gesindels« strengstens zu unterbinden. Pfalz-Zweibrücken erließ sogar einen Schießbefehl »auf Zigeuner und Vagabunden«.418 Dennoch überwanden Migranten die langen Landesgrenzen weitaus einfacher als die Stadtmauern. In katholischen Gebieten machten Hungernde sich etwa die Wallfahrten für den Grenzübertritt zunutze. Die Behörden vermuteten hier, die Bittgänger seien unter einem »deck-mantel […] unterwegs ihre bösen gelüste auszuüben oder hier und da zu stehlen«.419 In den meisten Landesteilen wurden die Sperren gegen Menschen genauso regelmäßig unterlaufen wie die gegen Getreide. Die Obrigkeiten fürchteten die Migranten aber nicht nur wegen möglicher Kosten und Kontrollverlusten, sondern auch wegen der Verbreitung von Seuchen. Ihre Bedenken waren durchaus begründet. Der Ausbruch von Epidemien ging zumeist nicht auf den Hunger selbst, sondern auf die gesteigerte Migration zurück.420 Oft genug infizierten sich genau jene Menschen, die eigentlich auf der 414 Militzer, Kap. 5.9.; Weinzierl-Fischer, Hungersnot, 492. Um keine epidemischen Krankheiten zu verbreiten, stellte man die Bettelfuhren teilweise ein. Stadtarchiv Zwickau, Ratsarchiv, Mandate Ic 12, p. 21. Zur frühneuzeitlichen Abschiebepraxis in Normalzeiten vgl. Stephan Steiner, Rückkehr unerwünscht. Deportationen in der Habsburgermonarchie der Frühen Neuzeit und ihr europäischer Kontext. Wien 2014. 415 Hazzi, Betrachtungen, 32, 39. 416 Härter, Stolleis, Repertorium, Bd. 1, 774 f., 777, Bd. 3.2., 1763, 1774, Bd. 4, 912, Bd. 7.1, 654. 417 Churbaierisches Intelligenzblatt 23, 1770, 285. Härter, Stolleis, Repertorium, Bd. 1, 306, 308, Bd. 3.2, 1777, Bd. 11, 585. 418 Sammlung aller in dem souverainen Herzogthum Schlesien […] publicirten und ergangenen Ordnungen, Edicten, Mandaten, Rescripten […], Bd. 13. Breslau 1784, Nr. CCV; Härter, Stolleis, Repertorium, Bd. 3.2., 1766. 419 Schmidt, Libertas, 258. 420 Vgl. Kap. IV.4.2.; Härter, Stolleis, Repertorium, Bd. 1, 777, Bd. 3.1, 471; Bräuer, Leipziger Rat, 156.

Überlebensökonomie

237

Suche nach medizinischer Unterstützung waren.421 Dies galt auch im Bereich der Fernwanderung. In Ungarn breiteten sich in den Zielgebieten der Migranten verheerende Seuchen aus. Da das Banat von Teuerung und extremer Witterung kaum betroffen war, erreichte sie »das große Sterben« vermutlich über die Einwanderer, die man aufgrund ihrer enormen Zahl zunächst bei Ansässigen einquartiert hatte.422 Auch medizinischen Laien war dieser Zusammenhang bewusst. Ein Erzgebirgischer Pastor beobachtete: »Es kann aber auch das häufige Herumwandern unserer Armen an auswärtige Orte, wo auch Kranke waren, mit Ursach daran gewesen seyn, daß das Anstecken durch solche Krankheiten häufiger im Gebürge gewesen ist.«423 Dieser Erkenntnis folgten aber kaum Konsequenzen. Lediglich in Sachsen erließ man zumindest einen Appell, Bettler zukünftig dort zu versorgen, wo sie angetroffen wurden, da »wenn man dergleichen elende, wie bisher geschehen, auf Schubkarren von einem Orte zum andern gebracht, dadurch theils ihr Tod wahrscheinlicherweise befördert, theils Krankheiten verbreitet worden«.424 Eine lokale Versorgung der vielen Hungernden hätte jedoch erhebliche Veränderungen der traditionellen Armenfürsorge nötig gemacht, zunächst zusätzliche Kosten verursacht und dem Kontrollbedürfnis der Finanziers widersprochen. Angesichts dieser Herausforderungen vermischte die Obrigkeit in den offiziellen Migrationsverboten die Seuchenprävention lieber mit populären antijüdischen Ressentiments.425 Derweil drängten sich in den wenigen zentralen Brotausgaben weiterhin täglich hunderte Hilfesuchende. Vermutlich kostete die durch die Konzentration der Fürsorge erzwungene Migration mehr Menschen das Leben als der Hunger selbst.426 421 So klagte der Arzt Jacob Arand, dass während der Notzeit eine Vielzahl Erkrankter quer durch das Eichsfeld wanderten, um bei weisen Frauen und Kurpfuschern Heilung zu suchen. Im Kloster Zella steckten solche Hilfesuchenden zunächst das Gesinde und dann die Nonnen selbst an – für Arand ein Beweis, dass die Krankheiten nicht auf die »naßkalte Witterung«, sondern auf soziale Ursachen wie vermehrte Migration zurückzuführen seien. Arand, Abhandlung, 172, 114. Vgl. auch Kap. IV.4.2. 422 Konrad Schünemann, Die Einstellung der theresianischen Impopulation (1770/71), in: Jahrbuch des Wiener Ungarischen Historischen Instituts 1, 1931, 167–213, hier 194. Im Ort Jahrmarkt im Banat starben 1770/71 711 von 2.000 Personen, nachdem dort 1.000 Einwanderer aus der Pfalz, Trier, Mainz, Siegen und Luxemburg angekommen waren. Franz Junginger, Wie Ritter von Kempelen im Jahre 1767 Jahrmarkt sah, http://www.jahrmarkt-banat.de/Jahrmarkt_Geschichte_Chronik.html [16.11.2015]. 423 Oesfeld, Theurung, 217 424 Johann Christian Lüning (Hrsg.), Codex Augusteus, oder Neuvermehrtes Corpus Juris Saxonici. Worinnen Die in dem Churfürstenthum Sachsen und darzu gehörigen Landen, Auch denen Marggrafthümern Ober- und Nieder-Lausitz, publicirte und ergangene Constitutiones, Decisiones, bis zum Jahre 1772 enthalten. 2. Fortsetzung, 1 Theil. Leipzig 1805, 637 f. 425 Da im Reich keine der englischen poor rate entsprechende, lokal erhobene Abgabe existierte, wären etwa umfangreiche Veränderungen des Steuersystems nötig gewesen. Zur Verknüpfung der Sorge vor der in Osteuropa wütenden »Pest« mit Vorurteilen gegenüber den grenzüberschreitenden Juden siehe etwa die Erlasse Kurhannovers und Kurbayerns gegen »pohlnische Juden«. Churbaierisches Intelligenzblatt 23, 1770, 281, 285. 426 So hielten sich in den zwei Räumen des Marienberger Pfarrers Wagner im Zentrum der Fleckfieber-Epidemie täglich bis zu 700 Personen auf. Vgl. Wagner, Beschreibung, 47. Zur Abkehr

238

Handeln

Die Folgen dieser Wanderungsbewegungen waren nicht nur medizinisch, sondern auch sozial verheerend. Lehrer berichteten von leeren Klassenzimmern, weil sich Schulkinder in der Umgebung auf Nahrungssuche begaben.427 Im Erzgebirge liefen Kinder zuweilen »ohne Zucht, ohne Aufsicht, auch fast nackend, Heerdenweise umher, und schrien nach Brodt; und es haben sich viele dieser Hülflosen gar verirret, oder sind in ganz entlegene Gegenden gewandert«.428 Für die Zurückbleibenden war die Situation angesichts von Gefahren und Krankheit von zermürbender Unsicherheit geprägt. Ähnlich wie die Familie Hanso Nepilas beklagten sich viele Augenzeugen über die Ungewissheit: »Viele giengen betteln aus, und ihre Zurückgelassene haben nicht erfahren, wo sie hingekommen, und ob sie nicht verschmachtet sind.«429 Vielerorts lässt sich im Umfeld der Migranten auch der Zusammenbruch sozialer Beziehungen beobachten. Ehen zerbrachen oft unter dem Druck der Krise und der forcierten Trennung. Ulrich Bräker beobachtete in seiner eigenen Familie: »[Es sind] ville die dieses band [die Ehe, D.C.] selbst auflösen, davon lauffen weib und kind im stich lasen sonderlich in der jetzigen hungersnoth machen es ville so. auch mein bruder Jacob, hat sich diese wochen auß dem staub gemacht, sein weib sammt 4. Kinder am stich gelasen.«430 Aus der Perspektive der Hungernden spielte diese Extremerfahrung eine zentrale Rolle. Ein Hutmacher schilderte seine verzweifelte, einsame Reise über dutzende Stationen daher in einer Art ›Hungergedicht‹. Seine Odyssee begann im erzgebirgischen Eibenstock: Ich, da ich dacht ich müst verderben / Und mit den Meinigen Hunger sterben / Gab mir Gott klugen Rath in Sinn: / Geh mit den Deinen ins Voigtland hin / Nach Schöneck, such dir dort Quartier / Dort ist Nahrung genug für dir […] / Eh ich ins Voigtland gangen bin / Da waren schon viel Meublen hin / Die ich verkaufft hab bloß für Brod / bey dieser großen Hungersnoth […] / Ich ging nach Dresden an die Herrn / Mich nur der modernen Hungerbekämpfung von zentralen feeding centers, die über Migration Krankheiten Vorschub leisten, produktive Feldarbeit verhindern und Lebensmittelmärkte verzerren vgl. Russell, Hunger, 194. 427 »Die Schule sahe ich täglich von Kindern leer, daß von 60 kaum 8 bis 12 dieselbe besuchten. Hiervon war ebenfalls die Ursache, weil viele ihr Brod vor den Thüren suchen mußten«. Christa Lippert, Der Lehrer Wolffgang Nicol Eberhardt in Altenfeld, in: Ekkehard. Familienund regionalgeschichtliche Forschungen N.F. 9, 2002, 80. Das Ausmaß dokumentiert etwa eine Züricher Schulumfrage, die mitten in die Zeit der Hungersnot fiel. Andrea De Vincenti, Educationalizing Hunger. Dealing with the Famine of 1770/71 in Zurich, in: Collet, Schuh, Famines, 195–210. Vgl. auch Anon., Pflichten, XV. 428 Oesfeld, Theurung, 199. Ähnlich Bräker, Schriften, Bd. 1, 389: »mir begegnete eine schaar halbnackter bettel kinder, die ihre nahrung vor allen thüren suchen musten.« 429 Anon., Einige Nachrichten von den gegenwärtigen elenden Umständen der Erzgebirgischen Einwohner, und den Anstalten mitleidiger Armenfreunde, ihnen zur Hülfe zu kommen, in: Miscellanea Saxonicae 6, 1772, 73–80, hier 75. 430 Bräker, Schriften, Bd. 1, 308. Vgl. auch Militzer, Kap. 5.11.2.7. und Bräuer, Capitalisten, 71.

Überlebensökonomie

239

des Hungers zu erwehrn / auch zu entgehen da den Tod / Und klagte vielen meine Noth […] / Ich tat darum nach Pirna reisen / Von da nach Grossenhain und Meissen / Nach Oschatz, Belgern, Torgau, Wurzten / Eulenburg, Delitzsch, Leipzig, Lützen.431

Die mit solchen monatelangen Wanderungen verbundenen Entbehrungen trafen nicht nur die Migranten, sondern auch die zurückgebliebenen Familien hart. Dennoch blieb der Gang über die Grenze oft die einzige, wenn auch gefährliche und erniedrigende Option. Besonders detailliert berichtet darüber Hanso Nepila in seiner Lebensbeschreibung. Während der damals Fünfjährige mit der Mutter zurückblieb, zog der Vater mit den Männern des Dorfes auf Nahrungssuche ins benachbarte Preußen. Ihre Migration reagierte auf die künstliche Grenze, welche die preußische Getreidesperre gegen Sachsen durch den gemeinsamen Natur-, Kultur- und Wirtschaftsraum gezogen hatte. Im Preußischen beantwortete man die unerwünschte Zuwanderung mit Verboten, der Aufstellung von Grenz­wachen, Beschlagnahmungen und immer wieder mit körperlicher Gewalt.432 Trotzdem blieb der Vater oft wochenlang »am Brandenburger Rand um zu überleben«. Derweil lagen die Äcker des Dorfes brach. In den Monaten der Not kam er nur noch tageweise nach Hause. Aus der Perspektive des vernachlässigten Kindes vermischten sich daher körperliche und emotionale Gewalt.433 Die kreisförmige, oft über Monate andauernde Nahmigration der Ernährer entsprach einem überregional und transkulturell verbreiteten Muster. Sie setzte die zurückbleibenden Familien extremen Belastungen aus, verminderte die bebaute Ackerfläche und drohte Seu 431 Fichtner, Beschreibung, o. P. Fichtner gab auf dem späteren Teil der Reise an, Spenden für seine Heimatstadt zu sammeln. Die ungewöhnliche Gedichtform sollte das Andenken der erschütternden Erfahrung eingängig bewahren helfen. 432 »Und ist sehr viel Volk herumgegangen in dem Cottbuser Land. Dorthin [nach Brandenburg, D.C.] sind das Bautzener und das Muskauer Volk gegangen, und das waren ihrer sehr viele. […] Das haben mir die Alten so erzählt. Aber die Bettelei dauerte nicht sehr lange, sie wurde verboten und es waren Wachen aufgestellt worden. Die sahen danach und ließen niemanden mehr ins Dorf, und wen sie angetroffen haben, den […] haben sie gestoßen und gehauen und herausgetrieben […]. Und wen sie (mit Roggen) angetroffen haben, dem haben sie alles weggenommen. Das waren welche! Und es hat niemand nichts zurückbekommen.« Jahn, Roboter, 646–651. 433 »Einen Tag war er hier zu Hause gewesen und ist wieder weggegangen und blieb 3 Wochen dort. Und meine Mutter fing an, sich an ihn zu erinnern, dass der Vater gar lange dort ist: ›3 Wochen sind verflogen, und noch immer kommt er nirgendwo nach Hause.‹ Und sie sagte: ›Tja, wie viel Brot er uns dieses Mal bloß mitbringen wird, wenn er so lange dort ist?!‹ Und es dauerte nicht lange. Er ist zwei Tage danach nach Hause gekommen und wir haben uns gefreut, dass er uns viel Brot geben wird, dass wir uns doch auch Mal wieder sattessen werden, wo wir doch so lange Zeit keins gegessen haben. So hat der Vater dann das erbettelte Brot aus dem Sack auf den Tisch geschüttet, und es war nichts weiter darin, als nur 5 Brotrinden; und noch waren sie angeknabbert. Das sollte nun unser beider Freude sein! Und unsere Mutter hat uns die Rinden im Wasser eingeweicht und wir haben sie gegessen; sie waren sehr klein. Und meine Mutter hat geweint, dass sie hier nichts zu Essen hat, als nur das Grüne Mus, unabgemacht und ungesalzen.« Jahn, Roboter, 650.

240

Handeln

chen zu verbreiten.434 Bereits das ›Sicherheitsventil‹ der lokalen Migration forderte einen hohen sozialen, gesundheitlichen und ökonomischen Preis. Dies galt umso mehr für die dauerhafte Auswanderung. Fernmigration Die Klimaanomalie und die nachfolgende Hungerkrise der Jahre 1770–1772 initiierten im Reich die wohl größte Auswanderungswelle des 18. Jahrhunderts. Anders als in den früheren Notzeiten emigrierten die Betroffenen in größerem Umfang auch dauerhaft aus den Mangelgebieten. Tausende wanderten allein, in Familiengruppen oder in ganzen Dorfverbänden aus. Sie legten gewaltige Distanzen zurück und reisten bis nach Ungarn und Amerika. Damit etablierte diese Krise ein Muster, das sich in den großen Emigrationswellen der Hungerkrisen 1816/17 und 1845– 48 durch- und fortsetzte. Die Konfrontation mit der akuten Auswanderungswelle bewirkte bei den regierenden Eliten zudem einen Prozess des Umdenkens. Emigration wurde nicht mehr ausschließlich als Verlust begriffen, sondern zunehmend auch als Folge der ›Überbevölkerung‹ – ein Perspektivwechsel, der wenig später im Umfeld von Thomas Malthus in Überlegungen zur demographischen Tragfähigkeit einer Region und den begrenzten ökologischen und ökonomischen Ressourcen kulminierte. Die Bewertung dauerhafter Hungermigration ist seither umstritten geblieben. Vor dem Hintergrund der irischen Hungersnot 1845–48 wird sie zumeist als Folge politischen und ökonomischen Versagens gedeutet und es wird auf die Belastungen für die Reisenden, die Zurückbleibenden und die aufnehmenden Gesellschaften verwiesen. Zuweilen charakterisiert man Emigration aber auch als effektiven Schutz, der schlimmere Not verhindern kann.435 Die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts traf das Ausmaß der Auswanderung weitgehend unvorbereitet. In früheren Krisen hatte die Fernmigration eine weit geringere Rolle gespielt. In den Hungersnöten der 1690er Jahre ging sie vor allem auf die gezielte Aktivität von Werbern zurück.436 Selbst im ›großen Winter‹ 1740 finden sich nur vereinzelt Hinweise auf Emigrationsbewegungen.437 Ein Vorläufer lässt sich während des Kälteextrems 1709/10 beobachten. Damals machten sich tausende (pseudo-)protestantische Pfälzer auf den Weg nach Amerika und strandeten spektakulär in London. Ihre monatelange Unterbringung in Zeltla 434 Wrathall, Migration; Russel, Hunger, 192–291. Zu Nepilas Schilderung der durch die Abwesenheit des Vaters erzwungenen Notnahrung und Vernachlässigung vgl. Kap. IV.2.1. 435 Cormac Ó Gráda, Kevin H. O’Rourke, Mass Migration as Disaster Relief. Lessons from the Great Irish Famine, in: European Review of Economic History 1, 1997, 3–25. 436 Kurt Diemer, Ursachen und Verlauf der Auswanderung aus Oberschwaben im 18. Jahrhundert, in: Márta Fata (Hrsg.), »Die Schiff stehn schon bereit«. Ulm und die Auswanderung nach Ungarn im 18. Jahrhundert. Stuttgart 2009, 37–58, hier 34–39. 437 Insbesondere aus Schottland und Irland nach Amerika. Die Belege bleiben trotz intensiver Forschung kursorisch. Vgl. etwa Engler, Processes.

Überlebensökonomie

241

gern sorgte europaweit für Schlagzeilen. Geflohen waren sie gleichermaßen vor den Missernten wie vor den Auswirkungen des Spanischen Erbfolgekrieges. Die Kombination religiöser, klimatischer und politischer Faktoren motivierte einen Auswanderungsschub, der für die meisten Migranten entweder verhängnisvoll oder in der verzweifelten Rückwanderung endete.438 1770–1772 herrschte in Europa jedoch weitgehend Frieden. Auch religiöse Auseinandersetzungen spielten keine maßgebliche Rolle mehr. Den akuten Anlass zur Auswanderung lieferte diesmal allein der Hunger. Dass die Emigration 1770–1772 eine weit größere Rolle spielte, ging nicht allein auf das natürliche, sondern auch auf das politische ›Klima‹ zurück. In den Jahren zuvor waren Migrationswege etabliert worden, auf die man in der Krise zurückgreifen konnte. Preußen, Russland, Spanien und vor allem Ungarn warben und konkurrierten seit den 1760er Jahren um Kolonisten. Die im Verlauf des 18. Jahrhunderts deutlich gewachsene Bevölkerung im Zentrum Europas sollte im Rahmen von Impopulation und Melioration in dünner besiedelte oder neu gewonnene Siedlungsgebiete gelockt werden. Die zahlenmäßig größte Bedeutung kam dabei der durch den Wiener Kaiserhof initiierten Kolonisation des Banats und Siebenbürgens zu. Der hohe Organisations- und Bekanntheitsgrad dieses Unternehmens gab den Ausschlag dafür, dass die Migranten 1770–1772 vor allem die ›trockene Auswanderung‹ nach Ungarn wählten und die später präferierte ›nasse‹ Route nach Amerika noch weniger Bedeutung besaß. Aus dieser Perspektive erscheint die Auswanderung in der Hungerkrise weniger als akute Klimamigration, sondern vielmehr als End- und Höhepunkt des »zweiten Schwabenzugs«.439 Die Ungarnwanderung hatte bereits 1763 mit einem Kolonisationspatent Maria Theresias wieder eingesetzt. Im gleichen Jahr begann Katharina II., im Reich Neusiedler für Russland zu werben. 1767 stieß Spanien mit der Kolonisation der Sierra Morena hinzu.440 1769, ein Jahr vor der Hungerkrise, erneuerte Friedrich II. die Werbung für seine Projekte in Südpreußen, Pommern und der Kurmark.441 Alle 438 Margrit Schulte Beerbühl, Frühneuzeitliche Flüchtlingshilfe in Großbritannien und das Schicksal der Pfälzer Auswanderer von 1709, in: Mathias Beer, Dittmar Dahlmann (Hrsg.), Über die trockene Grenze, über das offene Meer. Binneneuropäische und transatlantische Migrationen im 18. und 19. Jahrhundert. Essen 2004, 303–328; Frauke Geyken, Pfälzische Auswanderung nach England, Irland und Amerika im Jahre 1709 und ihre Rezeption in Hannover, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 81, 2009, 251–269. 439 Zur langen Vorgeschichte vgl. Wolfgang von Hippel, Auswanderung aus Südwestdeutschland. Studien zur württembergischen Auswanderung und Auswanderungspolitik im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 1984, 27–45. 440 Weber, Migration, 311, Alois Schmid, Johann Kaspar von Thürriegel (1722–1795) und seine Kolonie in der Sierra Morena, in: Ders. (Hrsg.), Bayern mitten in Europa. Vom Frühmittelalter bis ins 20. Jahrhundert. München 2005, 228–241. 441 Preußen betrieb besonders intensive Werbung und suchte noch auf dem Höhepunkt der Krise 1771 in Zeitschriften und im schwer getroffenen Eichsfeld nach Kolonisten. In Mühlheim am Main unterhielten seine Werber einen Sammelplatz. Karl Beck, Regensburg. Sammel-

242

Handeln

diese Unternehmungen arbeiteten mit einem Netz von professionellen Werbern. Gemeinsam mit der Werbung für Nordamerika erreichten sie ein solches Ausmaß, dass Kaiser Joseph II. im Juli 1768 ein allgemeines Auswanderungsverbot erließ. Es untersagte den Untertanen die Emigration in Länder außerhalb des Reiches (mit Ausnahme Ungarns) und richtete sich gegen die »heimlichen Werber« der Konkurrenten Habsburgs.442 Auch wenn die absoluten Zahlen der Emigranten in den Jahren vor der Hungerkrise noch überschaubar blieben, strukturierten diese Werbekampagnen Vorwissen und Migrationsrouten der späteren Auswanderer. Aus den drei großen Zielgebieten Ungarn, Nordamerika und Preußen, wählten die Migranten anhand geographischer und konfessioneller Präferenzen. In Westdeutschland und der Schweiz orientierten sich die Menschen eher entlang des Rheins nach Norden und Übersee. Die Donauanrainer bevorzugten – soweit sie katholisch waren – den Weg nach Osten. Aus Sachsen wanderte man vor allem ins benachbarte Preußen aus. Geographie und Gelegenheit kam oft eine größere Rolle zu als der konfessionellen Identität. Von der sächsisch-böhmischen Grenze meldeten Beamte etwa, das einige chursächsische Unterthannen von männlichen und weiblichen Geschlechts in diesseitiges, hingegen aber fast ebensoviell aus hießigen in jenseitiges Gebiet entwichen sind und wie die erstere hier also auch die letztere dort die Religion veränderet haben.443

Ein großer Teil der Emigranten verfügten zudem über persönliche Kontakte zu bereits ausgewanderten Verwandten oder Bekannten, die klassische Kettenwanderungen initiierten. Das Oberamt Tauberbischofsheim meldete, die Bürger hätten sich, »durch ein und andere aus Hungarn von ihren darinnen bereits wohnenden freunden herausgekommene Brieff sich bethören und nicht mehr ausreden laßen daß sothanes Land das allegeseegnetste darinnen im Überfluss wohlfeyl zu leben und kein Nahrungsabgang zu besorgen sey«.444 Zuweilen waren es auch populäre Reiseberichte, welche in der Not Emigrationsphantasien bei den Betroffenen auslösten. Ulrich Bräker etwa notierte im Juli 1771 in sein Tagebuch: stelle der Auswanderer nach Südosteuropa und Rußland im 18. und frühen 19. Jahrhundert, 2 Bd. Regensburg 1996/2000, hier Bd. 1, 123 f., 133 f. und Helmut Schmahl, Innerlicher Mangel und äußerliche Nahrungshoffnung. Aspekte der Auswanderung aus Kurmainz im 18. Jahrhundert, in: Peter Claus Hartmann (Hrsg.), Reichskirche. Mainzer Kurstaat. Reichserzkanzler. Frankfurt a. M. u. a. 2001, 121–143, hier 139. 442 F. W. Wiesand, Sammlung derer von einem Wohledlen Hoch- und Wohlweisen Herrn Stadt-kammerer und Rath der des Heil. Röm. Reichs Freyen Stadt Regensburg vom Jahr 1754 bis 1802 im Drucke erlassenen Decrete. Regensburg 1802, 43. 443 Hochedlinger, Tantner, Berichte, 53. 444 Zit. nach: Schmahl, Mangel, 130. Der ganze Bericht bei Alfons Pfrenzinger, Die Mainfränkische Auswanderung nach Ungarn und den Österr. Erbländern im 18. Jahrhundert. Wien 1941, 34.

Überlebensökonomie

243

wan mich die schulden engstigen, und die nahrungs sorgen quellen […] kommen wol tausernerley wünschende gedanken u quelen mich […] bald bin ich auf reißen in lustigen stetten und felderen, bald wohl ennert dem meer in dem gelobten land […] die geograhfischen bücher erweken auch noch solche begirden in mir.445

Als die Not der Hungerjahre anbrach, verfügten die Auswanderer zwar selten über detaillierte Informationen. Sie konnten aber auf Vorwissen über Migrationsformen, -praktiken, und -ziele zurückgreifen. Die extreme Witterung bildete den Katalysator, der diese mentalen Landkarten aktivierte. Das Ausmaß der Auswanderung in den Hungerjahren lässt sich nur schätzen. Die offizielle Registrierung brach angesichts der gewaltigen Zahlen an Auswanderungswilligen vielerorts zusammen. In Wien erklärte man angesichts des Ansturms der Emigranten die Auswanderung nach Ungarn für beendet und versuchte, die Donau für arme Migranten zu sperren. Auch Preußen schränkte die Zuwanderung im Frühjahr 1772 wieder ein.446 Seither lief die Emigration in diese Gebiete im legalen Graubereich ohne amtliche Aufzeichnungen weiter. Vor Ort kapitulierten die Verwaltungen oft vor dem Ansturm. Die bayerischen Passämter klagten, dass kein Tag verginge, ohne dass »sieben, zehn oder mehr Personen um Pässe einkommen.« Ein Vogt im Schwarzwald konnte sich der Gesuche nur noch erwehren, indem er es bei 20 Talern Strafe verbat, überhaupt noch Ausreiseanträge zu stellen. Aus Günzburg, einem zentralen Sammelpunkt an der Donau, meldete ein Rentmeister nach Wien, dass etwa »300 Auswanderer durchpassiert seien«, ohne dass er sie habe registrieren können.447 Zudem blieb neben der Einwanderung auch die Auswanderung in den meisten Territorien während der Notjahre offiziell verboten. Sie geschah daher oft illegal ohne die sonst übliche Ausfertigung von Manumissions-Akten. Oft genug werden die Migranten erst dann greifbar, wenn sie tot aufgefunden wurden und die Gemeinden sich um die Kosten für die Bestattung stritten.448 Die offiziellen Zahlen für die Auswanderung nach Ungarn verzeichnen in den Jahren 1770–1772 17.822 Emigranten.449 Tatsächlich lag sie vermutlich weit höher. In Preußen sprach Friedrich II. von 20–40.000 Bauern, die in den Hungerjahren dauerhaft aus Böhmen und Sachsen in sein Land gekommen seien. 445 Bräker, Schriften, Bd. 1, 342. Angesichts der vielen schweizerischen Auswanderer nach Pennsylvania und einer erheblichen Zahl an Rückkehrern (Mattmüller, Hungersnot, 282) bestanden möglicherweise auch persönliche Kontakte. 446 Schünemann, Einstellung; Militzer Kap. 5.9. 447 Wolfgang Petz, Auswanderung aus Bayern ins Königreich Ungarn im 18. Jahrhundert, in: Ungarn Jahrbuch 26, 2002/2003, 33–72, hier 63; Hacker, Auswanderungen aus dem südöstlichen Schwarzwald, 84; Werner Hacker, Südwestdeutsche Auswanderer nach Ungarn als Durchwanderer in den Kirchenbüchern von Ulm und Günzburg im 18. Jahrhundert, in: Südostdeutsches Archiv 12, 1969, 118–199, hier 122. 448 Löffler, Langenhain, 200. 449 Schünemann, Einstellung, 170.

244

Handeln

Auch hier liegen keine genauen Zahlen vor.450 In lokalen Untersuchungen wird zumindest die regionale Breite der Migration deutlich. Mainfranken registrierte 420 offizielle Auswanderer, Kurmainz 500, das Hochstift Passau 172, der Kanton Basel 1.000. Bayern erfasste 1.241 Personen allein im ersten Halbjahr 1772.451 In Südwestdeutschland und Franken verfünffachte sich die Zahl der Auswanderer zwischen 1769 und 1771.452 Aus einigen Schweizer Weberdörfern wanderten in der Krise mehr als zehn Prozent der Bevölkerung aus, vor allem mit dem Ziel Pennsylvania.453 In der Folge meldete der britische Gesandte aus Bayern, »the desertion of a great number of farmers and on vast tracts of Land which for wont of hands lie uncultivated«.454 Die prosopographischen Regionalstudien Werner Hackers dokumentieren für die Jahre 1770–1772 die höchsten jemals gemessenen Auswanderungszahlen nach Ungarn.455 Die Migrationswelle ergriff zudem auch reichsfremde Gebiete. In Irland brachen im Gefolge von Teuerung und Rebellion ganze Dörfer nach Amerika auf.456 In Zentraleuropa formierten sich an den Sammelstellen entlang der Flüsse und in den Reichsstädten regelrechte Auswanderertrecks. In Regensburg an der Donau passierten im Oktober 1770 drei Schiffskonvois mit 400, 600 und 400 Kolonisten die Stadt. Zur gleichen Zeit notierte der Pfarrer des hessischen Lichtenau, dass »alle Tage 50 bis 100« Auswanderer durch die Stadt zogen.457 In Mainz machten 1771 regelmäßig unterschiedliche Auswanderergruppen Station. Hier kreuzten sich die Routen der nach Amerika ziehenden Schweizer, der nach Preußen reisenden Rheinländer und der nach Ungarn abziehenden Kurtrierer.458 Dass solche Züge eine erhebliche Sogwirkung auf die Zuschauer ausübten, ist gut dokumentiert.459 Im Bericht zu den Auswanderern aus Tauberbischofsheim heißt es etwa:

450 Blaschke, Bevölkerungsgeschichte 116; Kumpfmüller, Hungersnot, 11, 81. 451 Pfrenzinger, Auswanderung, Anhang; Schmahl, Mangel, 140; Petz, Auswanderung, 63; Mattmüller, Hungersnot, 282; Rankl, Politik, 771. Detaillierte Listen bieten die vielen Lokalstudien von Werner Hacker. 452 Pfrenzinger, Auswanderung, Anhang sowie die Datenbank des Landesarchiv Baden-­ Württemberg http://www.auswanderer-bw.de/ [5.11.2015]. 453 Mattmüller, Hungersnot, 282. In der Hälfte der Auswanderungsbegehren ist das Ziel vermerkt und lautet zumeist Pennsylvania. StABS Basel, A 5 Auswanderung, Nr. 142. Trotz der weiten Reise gab es einige Rückkehrer. Ebd., Nr. 42. 454 Lewis de Visme an den Earl of Halifax vom 21.3.1771, in: NA, State Papers 81/109. De Visme ging von 4.000 bayrischen Emigranten nach Ungarn aus. Ebd. vom 13.12.1772. 455 Hacker, Auswanderer vom Oberen Neckar, 11. Vgl. auch Ders., Auswanderung aus Baden, 38. 456 Donnelly, Hearts, 64, 71. 457 Beck, Regensburg, Bd. 1, 132 f.; Uibel, Hungerkrisen, 405. 458 Schmahl, Mangel, 135 f. 459 Weber, Migration, 310. Einem 1770 abgehenden Auswandererzug von 300 Personen nach Preußisch-Schlesien schlossen sich unterwegs 100 weitere Migranten an. Blackbourn, Eroberung, 67.

Überlebensökonomie

245

Und da sie noch durch die von unten [den Rhein, D.C.] herauf in großer Menge passierte derlei Emigranten sowohl als durch jene, so aus denen würzburgischen Landen mit obrigkeitlicher Erlaubnis hinweg gezogen, in diesem Vorurteil mehr bestärket worden, so fruchtet keine vernünftige Vorstellung.460

Als Grund gaben fast alle Auswanderer in ihren Entlassungsgesuchen die Hungerkrise an. Ein bayerischer Häusler formulierte, er müsse auswandern, da »ich hier zu Landt mit meinem Weib und Kündt vor Hunger nicht lengers mehr mich zu erretten vermag«. Eine 69-jährige gab zu Protokoll, »daß, wann sie in Ungerland nur 3 tage erleben würde, um sich nochmahlen Recht satt Brod Eßen zu können, sie alsdann gern sterben« wolle. In einer Eingabe an den bayerischen Kurfürsten heißt es als Begründung: »Verhungern aber können wür auch nicht«.461 Diese Formulierungen mussten vorsichtig zwischen dem Hunger als der einzigen legitimen Argumentationslinie und der damit implizierten Kritik am Herrscher lavieren. Über die tatsächlichen Lebensverhältnisse geben sie nur eingeschränkt Auskunft. Auch die ausstellenden Ämter waren bemüht, die Auswanderer als bitterarme und zuweilen kriminelle Unterschicht darzustellen. Ihre Charakterisierungen als »schlechte Leuthe«, »völliger Lunaticus« oder »mit Kindern überhäuft« sollte helfen, die Bedenken der Fürsten auszuräumen und teure Fürsorgeempfänger loszuwerden.462 Der größte Teil stammte wohl tatsächlich aus der Schicht der Landarmen, die für ihren Unterhalt zusätzlich auf Erwerbsarbeit angewiesen waren. Es gab aber auch Fälle, in denen angeblich bettelarme Auswanderer die Reise mit erheblichen Geldmitteln antraten.463 Die Obrigkeiten reagierten auf die Abwanderungswelle ausgesprochen nervös. Bis zur Hungerkrise 1770–1772 dominierte im Reich zumeist die Meinung, dass die Bevölkerung unbedingt zu halten, wenn nicht zu vergrößern sei. Johann Heinrich Gottlob von Justi mahnte seine österreichischen und preußischen Dienstherren noch 1769: »Lernet die Menschen vermehren!«.464 Viele Beobachter glaubten zudem, dass es nicht die Ärmsten waren, die gingen. Es seien vielmehr jene, die »noch Lust zu arbeiten gehabt, auswärts gegangen, um ihr Brod in der Ferne« zu suchen.465 Neben der Erneuerung der Auswanderungsverbote versuchten die Obrigkeiten daher, die Abwanderung auch mit verschärften Sanktionen zu stoppen. Sie drohten mit dem Entzug des Erbrechts, blockierten den Verkauf von Häusern und Gut, konfiszierten Vermögen, drohten Zwangsarbeit und Schläge an, verbo-

460 Pfrenzinger, Auswanderung, 34. 461 Zit. nach Petz, Auswanderung, 63, 65 und Schmahl, Mangel, 131. 462 Schmahl, Mangel, 132, 134; Petz, Auwanderung, 64. 463 Pfrenzinger, Auswanderung, 46. 464 Zit. nach: Márta Fata (Hrsg.), »Die Schiff stehn schon bereit«. Ulm und die Auswanderung nach Ungarn im 18. Jahrhundert. Stuttgart 2009, 22. 465 Anon., Pflichten, 8.

246

Handeln

ten sogar präemptiv ihnen verdächtig erscheinende Familienbesuche und ließen die Flüchtenden von Husaren verfolgen.466 Mit der zunehmenden Not entwickelten sich auf den verschiedenen Ebenen der Verwaltung aber sehr unterschiedliche und teils konträre Sichtweisen auf die Migranten. Während die Zentralbehörden weiterhin die kameralistisch motivierte Durchsetzung der Verbote einforderten, vertraten die lokalen Amtsleute bald eine pragmatischere Haltung. Sie verwiesen auf die reale Not vieler Migranten. Zugleich betonten sie, dass diese Armen eine erhebliche Belastung der Gemeinden darstellten.467 Dies galt umso mehr, als die Fürsten Maßnahmen wie Arbeitsprojekte oder Brotausgaben zwar anordneten, die Kosten dafür aber den lokalen Verwaltungen aufbürdeten.468 Der Interessenskonflikt zwischen den an Steuerzahlern interessierten Landesherren und den für die Fürsorge einstehenden Gemeinden führte vielerorts zu Steuerungskonflikten. In der Praxis entschieden sich die Amtsleute vor Ort vielfach zur Kollusion mit den Migranten, statt die Verbote zu exekutieren.469 Die Auswanderer erwiesen sich ihrerseits als aktive Agenten ihrer Überlebensstrategien. Sie waren sich der Differenzen zwischen den verschiedenen Ebenen der Obrigkeiten durchaus bewusst.470 Daher hatten die verbreiteten Versuche der Fürsten, die kaiserlichen Emigrationsdekrete als allgemeines Auswanderungsverbot darzustellen, nur begrenzten Erfolg. Im Schwarzwald etwa wandten sich zwölf Auswanderer in einem gezielten Instanzensprung direkt an die Regierung Vorderösterreichs, nachdem ihnen das Fürstentum Fürstenberg die Auswanderung verweigern wollte.471 In Straubing an der Donau stellte eine Gruppe von 60 Personen die Lokalobrigkeit einfach vor vollendete Tatsachen. Sie erschien reisefertig und mitsamt der Schiffspapiere vor dem Rathaus und setzte die umgehende Ausstellung von Pässen durch. Die Behörde rechtfertigte sich gegenüber dem Kurfürsten damit, es befänden sich nun »um soviele Bettler, oder Diebe weniger in 466 StABS Basel A5/12; Schmahl, Mangel 132–134; Pfrenzinger, Auswanderung, 35; Hacker, Auswanderung nach Südosteuropa, 139. 467 Schmahl, Mangel 134 f. sowie in Bayern: Justus Nipperdey, Die Erfindung der Bevölkerungspolitik. Staat, politische Theorie und Population in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2012, 601 f. 468 Schmahl, Mangel, 136 f. 469 Petz, Auswanderung, 65; Schmahl, Mangel, 134 f.; Hacker, Auswanderungen aus dem südöstlichen Schwarzwald, 30; Hacker, Auswanderung nach Südosteuropa, 136–138; Kumpfmüller, Hungersnot, 80. 470 Zum häufigen Verweis auf die unterschiedliche Handhabung in den Nachbargemeinden in den Gesuchen vgl. etwa Schmahl, Mangel, 131. 471 Weber, Migration, 320 und Hacker, Auswanderungen aus dem südöstlichen Schwarzwald, 84 f. Zum komplexen Instanzenzug eines Auswanderungsgesuchs in Normaljahren vgl. Robert Selig, Räudige Schafe und geistliche Hirten. Studien zur Auswanderung aus dem Hochstift Würzburg im 18. Jh. und ihre Ursachen. Würzburg 1988, 24. Zur Rolle von Landes-, Grund- und Dominialherrschaften im Auswanderungsfall und zu Streitigkeiten innerhalb Vorderösterreichs vgl. Hacker, Auswanderung nach Südosteuropa, 125 f., 132 f.

Überlebensökonomie

247

Bajrn«.472 Wo solche Taktiken nicht halfen, ließen sich die Auswanderungswilligen von den Pfarrern alternative Papiere ausstellen. Andere versorgten sich bei russischen Werbern mit Pässen, die zunächst falsche Auswanderungsziele angaben. Sie führten die Behörden mit fiktiven Geschäftsreisen in die Irre, um der Konfiskation ihrer Pferde zu entgehen oder bestellten bis zuletzt ihre Äcker, um keinen Verdacht zu erregen.473 Der Gemeindevorsteher des Kurmainzischen Bürstadt konnte nur noch feststellen: »Es hat Jacob Schühler […] seine Tabackpflantzen dahier ordentlich ausgesäet umb allen Verdacht der emigration auszuwiegen, dannoch in selbiger Nacht vom 21 ten bis 22 ten hujus mit Sack und Pack heimlich fortgangen«.474 Die heimliche Emigration nahm in der Not erstaunliche Ausmaße an. Aufgrund ihrer hohen Schulden schreckte die Konfiskation ihrer Häuser viele Auswanderer kaum noch ab. Immer wieder finden sich Berichte, dass ganze Dorfgemeinschaften heimlich loszogen. So emigrierten in den besonders betroffenen Weinbauregionen des Rheingaus im Frühjahr 1771 bei Nacht und Nebel zehn Familien aus Külsheim, elf aus Bensheim und 23 Familien mit 114 Personen aus Königsheim. Im Herbst des Jahres folgten trotz »schärfesten Verbotten und Aufsicht« noch mal zwölf Familien aus Heppenheim und zwölf aus Starkenburg.475 Auch die sächsischen Zollbeamten konnten oft nur noch zur Kenntnis nehmen, dass ihre Untertanen in ganzen Gruppen mit »einigen Habseligkeiten über die Grenze nächtlicherweise« nach Böhmen entwichen.476 Zu diesen Personenverbänden kamen viele unverheiratete Paare. Sie sahen in der Auswanderung die Chance auf ein gemeinsames Leben, da ihnen die Hochzeit zuhause mangels Vermögens verwehrt blieb. Entsprechend hoch liegt die Zahl der Heiraten (und Geburten) in den Durchreiseorten.477 Rückblickend konstatierten die Obrigkeiten die weitgehende Wirkungslosigkeit ihrer Sanktionen.478 Angesichts dieser Ohnmacht nutzten Untertanen die Androhung von Migration auch in appellativ-symbolischer Funktion. An der Grenze zu Böhmen bediente die vermeintlich migrationswillige sächsische Bevölkerung geschickt die konfessionelle Konkurrenzsituation, um Hilfen zu akquirieren. Sie betonten, dass sie ohne Unterstützung »die Orte verlassen müssten, um im Böhmischen katholisch zu werden«. Die böhmischen Untertanen drohten wiederum mit Emigration nach 472 Wolfgang Petz, Verzeichnis von Auswanderern aus Niederbayern nach Ungarn, in: Ders. u. a. (Hrsg.), Bayern – Ungarn. Tausend Jahre. Katalog zur Bayerischen Landesausstellung 2001. Augsburg 2001, 304 f. 473 Schmahl, Mangel, 133 f., 139; Weber, Migration, 319. 474 Zit. nach Schmahl, Mangel, 134. 475 Ebd., 138; Pfrenzinger, Auswanderung, 33. 476 HStA Dresden, Loc. 5358, p. 203. 477 Zu unverheirateten Paaren vgl. Petz, Auswanderung, 55, 66; Hacker, Auswanderungen aus dem südöstlichen Schwarzwald, 84; Ders., Südostdeutschland, 137; Ders., Südwestdeutsche Auswanderer, 121, 130 f., 163 f. mit Listen von Heiraten und Taufen von Durchwanderern in Ulm. 478 »Der Unterthan wird, wie es der Erfolg gezeigt hat, dadurch nicht abgehalten.« Schmahl, Mangel, 140.

248

Handeln

Preußen, falls sie keine Hilfen erhielten.479 Der Landeshauptmann des Erzgebirges klagte, dass Beamte wegen verweigerter Unterstützung regelmäßig »von Untertanen ernstlich damit, daß sie außer Landes gehen würden, wie nur heute von vier Rittersgrüner Einwohner geschehen, bedroht« würden.480 Aber selbst wenn Ämter den Wünschen entsprachen, stellte dies keine Erfolgsgarantie dar. So befand sich eine Familie aus dem physiokratischen Vorzeigeort Dietlingen, die nach Emigrationsdrohungen mit Getreide beliefert worden war, schon 1771 in Pennsylvania.481 Aufgrund der fehlenden Kontrollmöglichkeiten und der verheerenden Notlage gingen die Obrigkeiten zuletzt dazu über, Emigrationen doch wieder zuzulassen. Kurmainz erlaubte die Auswanderung dort, wo keine »hinlängliche Nahrung« mehr zu haben sei. Ähnlich verfuhr man in Baden-Durlach. In Wien stoppte man im Winter 1771 den Plan, böhmische Bettler in die Hungergebiete zurückzuschicken, und erlaubte ihre Abreise nach Ungarn. Das Kurfürstentum Bayern gab sich zuletzt damit zufrieden, dass wenigsten die großgewachsenen wehrfähigen Männer zurückblieben. Das noch im März 1771 drastisch verschärfte Verbot wurde bereits im April weitgehend aufgehoben. Seither war die Emigration für »dem Land und anderen Unterthanen nur zu Last« fallende Personen erlaubt.482 Die Folgen der Emigration beschäftigten die Regierungen noch über Jahre hinweg. Viele Territorien suchten zumindest einige Effekte abzumildern. Entgegen der Rechtslage erlaubte man Rückwanderern, auf ihre Höfe zurückzukehren. In Hessen-Kassel wurde 1773 die Einwanderung erleichtert, um die entstandenen Bevölkerungslücken rasch zu füllen.483 In Preußen verzichtete man angesichts der zahllosen Nah- und Fernmigranten auf Pläne, den Zustand vor der Krise wiederherzustellen. Stattdessen entschied man sich, die Bevölkerungsverschiebungen als neuen status quo zu akzeptieren, und dekretierte, »daß sich die zu denen Domainen- und anderen, auch adelichen Güthern gehörige Untertanen […] nunmehro an dem Orte wo sie den 1 ten Januar [1774] sich befunden, ruhig gelassen werden sollen.« Im Gegenzug sollten weitere Binnenwanderungen verboten sein.484 Die Emigration ins Ausland ebbte mit der ersten guten Ernte 1773 wieder ab. Die Erfahrung von 1770–1772 hatte aber einen Präzedenzfall geschaffen. In jeder nachfolgenden Hungerkrise gehörte nun neben der Nahmigration auch die dauerhafte Auswanderung zum Repertoire der Überlebensökonomie. 1816, im Jahr ohne Sommer, zogen regelrechte »Karawannen« von Württembergern die Donau hinunter. Baden verlor fast 20 Prozent seiner Einwohner. Entsprechend der neuen 479 Bräuer, Reflexionen, 228, 235; Brázdil, Hungerjahre, 150. 480 HStA Dresden Loc. 34127, Nr. 164a. unpag. (Bericht des Grafen zu Solms an das Kammerkollegium Dresden, 26.7.1771). 481 Fertig, Auswanderungspolitik, 86. 482 Weber, Migration, 321; Hacker, Auswanderung nach Südosteuropa, 139 f.; Weinzierl-Fischer, Hungersnot, 492; Petz, Auswanderung, 64. 483 Mattmüller, Hungersnot, 282–285; Ebert, Suche, 63. 484 Härter, Stolleis, Repertorium, Bd. 2.1, 544.

Überlebensökonomie

249

Gesellschaftsformen organisierten sich viele Migranten in dezidierten Auswandervereinen. Auch zielten die Reisenden nun stärker auf Russland und Amerika. An der Argumentation und an der Praxis vor Ort änderte sich aber nur wenig. Wieder waren viele »unerlaupt Ausgewandert« oder hatten sich mit Druck auf die überforderten Grenzposten die Ausgabe von Sammelpässen erzwungen.485 Ihre Zahl war so gewaltig, dass sie das Redemptioner-System zum Zusammenbruch brachten, mit dem Amerikafahrer ihre Reisekosten im Austausch gegen mehrjährige Arbeitsverpflichtungen bezahlen konnten. 1845–1848 brachten dann Missernten und Kartoffelfäule nicht nur in Irland, sondern auch im Reich und der Schweiz eine weitere große Auswanderungswelle.486 Die in den 1770er Jahren etablierte Verflechtung von Hunger und Emigration blieb über Jahrzehnte hinweg handlungsleitend. Die Krise besaß aber nicht nur eine praktische Vorbildfunktion, sie initiierte auch konzeptuelle Neuorientierungen. Am Ende der Hungerjahre lässt sich in einigen Territorien ein fundamentaler Sinneswandel beobachten, der sich nicht länger darauf beschränkte, die Emigration bloß stillschweigend zuzulassen. Im Hochstift Würzburg fand die Regierung nun zu der Meinung, es sei überhaupt nicht bewiesen, dass »diese emigration, wann auch solche in etlich 100 Familien bestehen sollte, schaden könne, da die nachmahls zurück bleibenden Unterthanen sich reichlicher zu nähren im Stande seyn werden.« Man vermutete, angesichts der begrenzten Verdienstmöglichkeiten und Naturressourcen könne eine reduzierte und mit weniger Abgaben belastete Bevölkerung sogar effektiver tätig werden.487 Auch in Basel stellte der Aufklärer Isaak Iselin die gängigen Annahmen radikal auf den Kopf. Er fragte: »Wollen wir die Leute zwingen, in dem Lande zu hungern […]? Der Wohlstand zeuget immer eine Menge von Menschen, nicht die Menge den Wohlstand.« Bisher habe man »geglaubet, es brauche nur viele Leute in einem Lande zu seyn, damit es glücklich sey. Allein ich glaube, man habe sich darin nur betrogen«.488 Die Krise schien ihm viel eher ein Wechselspiel von (begrenztem) Nahrungsspielraum und Bevölkerungszahl zu illustrieren, das sich nun durch Migration und den Rückgang der Geburten wieder ausbalanciere. Ähnliche Überlegungen formulierten in den Krisenjahren Joseph von Sonnenfels oder Justus Möser.489 Befördert von der akuten Noterfahrung formulierten sie grundle 485 Krämer, Hungerkrise, 47, 52, 69; Behringer, Tambora, 172–177. Zitate nach Beck, Regensburg, Bd. 2, 243–248. 486 Hippel, Auswanderung, 149; Heiner Ritzmann-Blickenstorfer, Alternative Neue Welt. Die Ursachen der schweizerischen Überseeauswanderung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Zürich 1997, 556–569. 487 Selig, Schafe, 43. 488 Zit. nach Mattmüller, Hungersnot, 285. 489 Zu Überlegungen, die im Umfeld der Hungerkrise mit kameralistischen Traditionen brechen und stattdessen die »Überladung an Einwohnern« bei gleichzeitiger »Amerika[nischer] Zügellosigkeit« in der Vermehrung konstatieren, vgl. Joseph von Sonnenfels, Von der Theurung in großen Städten und dem Mittel derselben abzuhelfen. Wien 1770, hier 22, 85 oder Justus Möser, Vorschlag wie die gar zu starke Bevölkerung im Stifte einzuschränken, in: Osnabrückische

250

Handeln

gende Neubewertungen, die von möglichen Vorteilen der Auswanderung bis zur Konzeption begrenzter Umweltressourcen reichten. Sie weisen bereits auf jene Überlegungen voraus, die Thomas Malthus kurz darauf mit seinem Essay on the Principles of Population radikalisierte und systematisierte.490 Klimaflüchtlinge? In der Diskussion um den aktuellen Klimawandel spielt die Überzeugung eine zentrale Rolle, dass Umwelteinflüsse Migrationswellen produzieren. Mit der Figur des ›environmental refugees‹ oder des ›Klimamigranten‹ verbindet sich einerseits die Hoffnung, Länder der ersten Welt zu ökologischen Veränderungen und finanziellen Hilfen bewegen zu können. Andererseits dient sie auch der Aufforderung zur verstärkten Grenzsicherung. Empirische Studien zum Nexus von Klimaextremen und Migration existieren jedoch kaum. Die Vorstellungen speisen sich vielmehr aus dem vagen Verweis auf die Geschichte, der so selbstverständlich erscheint, dass er keiner weiteren Überprüfung mehr bedarf.491 Die Vorstellung, dass der Klimawandel globale Migrationswellen auslösen kann, ist so zu einem silent referent der Klimafolgenforschung geworden. Die Annahme ist mittlerweile so stabil, dass selbst spektakuläre Fehler in den Prognosen keine Korrekturen nach sich ziehen.492 Anzeigen, 1771, Beylagen, 169–172. Während diese Gleichgewichtsideologie ihre Wurzeln noch im physiokratischen Gedankengut hat, geht Iselins Vorstellung von begrenzten Nahrungsressourcen und naturgegebenen Grenzen der regionalen Tragfähigkeit deutlich darüber hinaus. 490 Mattmüller, Hungersnot, 285. Zu ähnlichen frühen Überlegungen im englischen Raum vgl. Brüggemeier, Schranken der Natur, 30. 491 Vgl. etwa: Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), Sicherheitsrisiko Klimawandel. Heidelberg 2008, 27, wo pauschal auf historische Klimamigration verweisen wird, ohne dass die Geschichtswissenschaften im Gremium repräsentiert gewesen wären. Zur fragilen Empirie der populären Korrelation von Klima und Migration vgl. Uwe Lübken, Chasing a Ghost? Environmental Change and Migration in Historical Perspective, in: Global Environment 9/10, 2012, 1–17; Anthony Oliver-Smith, Environmental Migration. Nature, Society and Population Movement, in: Stewart Lockie, David A. Sonnenfeld, Dana R. Fisher (Hrsg.), Routledge International Handbook of Social and Environmental Change. London 2014, 142–153; Etienne Piquet, Antoine Pécoud, Paul De Guchteneire, Introduction. Migration and Climate Change, in: Dies. (Hrsg.), Migration and Climate Change. Cambridge 2011, 1–34, 4. Die historischen Konjunkturen des Klima-Migration-Nexus und seine aktuelle Renaissance diskutiert: Etienne Piguet, From »Primitive Migration« to »Climate Refugees«: The Curious Fate of the Natural Environment in Migration Studies, in: Annals of the Association of American Geographers 103.1, 2013, 148–162. 492 Hulme, Future, 248. Zum Verständis von silent referents als Narrative, die unser Wissen weiterhin strukturieren, obwohl sie mit der Zeit der individuellen Verfügungsmacht entschwunden sind, vgl. Dipesh Chakrabarty, Postcoloniality and the Artifice of History. Who Speaks for Indian Pasts, in: Representations 37, 1992, 1–26. Zur unzutreffenden Prognose der UNO von 50 Millionen »Klimaflüchtlingen« bis 2010 vgl. Gavin Atkins, What Happened to the Climate Refugees? Asian Correspondent vom 11.4.2011, http://asiancorrespondent.com/52189/what-happened-to-the-climate-refugees/ [23.10.2015].

Überlebensökonomie

251

Der Blick auf konkrete historische Ereignisse zeigt jedoch einerseits, wie gering der aktuelle Wissensstand tatsächlich ist.493 Andererseits unterstreicht er, dass das Konzept des Klimaflüchtlings die tatsächlichen Auslöser unzulässig naturalisiert und Umwelteinflüsse überbewertet. Denn aus der Nähe zeigt sich, dass bereits die Emigranten der Krisenjahre 1770–1772 nicht allein auf einen externen Umweltimpuls reagierten. Für die Betroffenen bildete das Klimaextrem eher einen Katalysator, der bestehendes Vorwissen aktualisierte. Wie es Zeitgenossen formulierten, handelte es sich bei den Auswanderern durchaus um »victims of the climate«.494 Sie waren aber zugleich Flüchtlinge gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, die Nahrungsressourcen extrem ungleich verteilten. Dies wird bereits in der (damals wie heute) weit überwiegenden Nahmigration deutlich, die statt in die Anbauregionen in die Städte führte. Dort und nicht auf dem Land wurde der Zugang zu Nahrungsressourcen kontrolliert und reglementiert. Es war diese gesellschaftliche und machtpolitische Rahmung, die dazu führte, dass die Migrationsbewegungen überall Konflikte auslösten. In der Krise wurde die Kluft zwischen den politischen, persönlichen und ökologischen Geographien der Zeitgenossen sichtbar. Wie die flankierenden Exportsperren besaßen auch die Migrationsverbote nicht nur materielle, sondern auch symbolische Funktionen im Bereich der gesellschaftlichen Inklusion und Exklusion. Daher beschränkte sich das Handeln der Migranten auch nicht auf die bloße Überwältigung der Obrigkeiten. Es richtete sich nicht nur auf physische, sondern auch auf soziale Teilhabe und bediente sich dazu der gezielten Kollusion mit den Obrigkeiten. Ähnliche sozionaturale Hintergründe von Wanderungsbewegungen lassen sich auf den außereuropäischen Schauplätzen der Krise beobachten. Sie unterstreichen, dass die Migranten auch in unterschiedlichen ökologischen Settings keineswegs ausschließlich oder primär auf naturale Impulse reagierten.495 In der Migration artikulierte sich eine komplexe Überlebenspraxis, die sowohl auf ökologische als auch auf ökonomische und soziale Stressoren reagierte. Es war nicht ›die Natur‹ oder die erschöpfte Tragfähigkeit der zentraleuropäischen Ökozonen, die Menschen 1770–1772 zur Migration zwang. Die Betroffenen reagierten auch auf die spezifische Verflechtung von Herrschaft und Nahrung in ihren Lebenswelten. Aus der Nähe erweist sich Migration bereits in vorindustriellen 493 Vgl. etwa die komplizierten Versuche, Migrationsmuster oder auch nur -zahlen für weniger gut dokumentierten Klimakrisen zu etablieren, in: Engler, Processes. 494 Lewis de Visme an den Earl of Halifax vom 13.12.1772, in: NA, State Papers 81/109. 495 So gehörte Migration auch im hungernden Bengalen zum Kern der Überlebensökonomie. Dort kamen ihr ebenso häufig appellative oder strategische Funktionen zu. Das Verschwinden ganzer Dörfer über Nacht lässt sich statt als Klimafolge auch als gezielte Aktivierung und Aneignung lokaler Fürsorge-Konkurrenzen verstehen, die mit dem Auftreten der East India Company im traditionellen Gefüge zwischen den lokalen Verwaltern (den Zamindars), den einheimischen Fürsten und Nawabs sowie den externen Machthabern entstanden waren. Chowdury-Zilly, Vagrant peasant, 8, 48–62, 162.

252

Handeln

Gesellschaften als eine Praxis zwischen Wetter und Wirtschaft. Das mag den Blick dafür schärfen, wie sehr die moderne Konzeption des ›Klimaflüchtlings‹ sozio-politische Faktoren verdeckt und die Not naturalisiert.496

2.7.  Praktiken des Notbehelfs Im Angesicht der Not fand die Bevölkerung unterschiedliche Antworten auf ihre Verwundbarkeit in der Hungerkrise. Substitution, Supplikation und Migration gehörten ebenso dazu wie Borgen und Betteln. Die Berichte der Augenzeugen illustrieren, dass diese Praktiken nicht konkurrierten, sondern vielfach ineinander griffen. Auch die Suche nach weltlicher Nahrung und nach geistlichem Trost ließ sich für sie noch immer weitgehend bruchlos vereinen. Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, von einer spezifischen Überlebensökonomie zu sprechen. Dieses Repertoire von Handlungen weist einerseits Parallelen zum Verhalten in anderen Krisen auf. Viele Praktiken finden sich noch in den Notzeiten des 20. Jahrhunderts oder außerhalb Europas wieder. Aus dieser Perspektive artikuliert sich in den Notbehelfen eine übergreifende, vermutlich sogar transkulturelle Ethik der Subsistenz.497 Andererseits spiegelt die Überlebensökonomie die konkreten Konstellationen ihrer sozioökologischen Umwelt wider. Um 1770 war es die Getreidegesellschaft mit ihren ständisch gegliederten Zugangsrechten, welche die spezifische Mischung von Konfrontation und Kollusion motivierte. In der Konjunktur von Protest und Migration manifestierte sich die Reaktion auf jene ›langsame Gewalt‹ der allmählichen Veränderungen in den Marktgepflogenheiten und des Zugangs zu ökologischen Puffern wie Wald und Weiden.498 Dabei illustriert der Blick auf die vielfältigen Praktiken der Zeitgenossen die dramatische Reduktion von Komplexität, die den marktbasierten Theorien der Eliten zugrunde lag. Die Narrative der Kameralisten und der Freihändler (und vieler späterer Ökonomen) verdecken die eingebettete, vielfach gebundene Wirtschaft, mit ihrem Panorama immaterieller Ressourcen und ihrem spezifischen Körperwissen.499 Neben und unter dem marktförmigen Tausch existierte eine breite Ökonomie des Notbehelfs. Sie fordert dazu auf, die Grenzen dessen zu prüfen, was damals wie heute unter dem Begriff ›Markt‹ verstanden wird. Auf den Druck der Klimakrise reagierten die Betroffenen weder passiv noch eindimensional. Trotz der vielfältigen Möglichkeiten, ihr Schicksal aktiv mit 496 Vgl. Oliver-Smith, Environmental migration, 150 f. Zu ähnlichen Beobachtungen bereits für mittelalterliche Migrationsbewegungen vgl. Andreas Rüther, The Role of Climate and Famine in the Medieval Eastern Expansion, in: Collet, Schuh, Famines, 133–148. 497 Tatjana Tönsmeyer, Hungerökonomien. Vom Umgang mit der Mangelversorgung im besetzten Europa des Zweiten Weltkrieges, in: Historische Zeitschrift 301, 2015, 662–704; Bohstedt, Politics; Walter, Subsistence Strategies, 62–69. 498 Nixon, Slow Violence, 128–159. 499 Polanyi, Transformation; Michael Polanyi, The Tacit Dimension. New York 1966.

253

Empowering Interactions

zubestimmen, begegneten sie den Zumutungen der Hungerjahre aber nicht als ›Sozialrebellen‹. An vielen Punkten prägte ihr Handeln nicht die Konfrontation, sondern die strategische Allianz. Dies galt sowohl für die horizontalen Netzwerke innerhalb der Familien und Dorfverbände als auch für vertikale Verbindungen zu den Obrigkeiten. Diese enge Einhegung in Abhängigkeiten hat man als Ursache für ein vermeintlich auf Stabilität, Beharrung und Herkommen ausgerichtetes Handeln ausgemacht. Tatsächlich gingen aus diesen empowering interactions mit den Obrigkeiten im Gefolge der Krise jedoch wesentliche Veränderungen hervor.

3.   Empowering Interactions Fasst man die Ergebnisse der beiden vorigen Kapitel zusammen, dann lassen sich in der Praxis zwischen Krisenstaat und Überlebensökonomie, zwischen Obrigkeiten und Untertanen zahlreiche Verflechtungen beobachten. Das Handeln in der Hungernot beschränkte sich trotz der konstitutiven sozioökologischen Asymmetrien und der ungleichen Verteilung von Verwundbarkeit nicht auf ein starres Gegeneinander von ›oben‹ und ›unten‹. Die Krise bot vielmehr den Rahmen für einen intensivierten und folgenreichen Austausch. Wie sehr es sich um wechselseitige Arrangements handelte, wird erst deutlich, wenn man nicht allein die obrigkeitliche Normsetzung in den Blick nimmt, sondern die Praxis beider Seiten. In vielen Fällen stützten sich die Interaktionen nicht auf etablierte Kommunikationskanäle und verbriefte Rechte, sondern auf informelle, situative Formen der Zusammenarbeit. Mit der Krise eröffneten sich den Betroffenen neue Partizipationsräume. Sie reichten vom Instanzensprung und der Umgehung intermediärer Ebenen bis zur ›Triangulation‹, dem Ausspielen von verschiedenen Akteuren und Machtebenen gegeneinander. Aus einer handlungsorientierten Perspektive erweist sich die Hungerkrise nicht länger als Gelegenheit zur paternalistischen Vereinnahmung der Untertanen, die man je nach Standpunkt positiv (als effiziente Pazifizierung) oder negativ (als Keimzelle des deutschen Obrigkeitsstaats) deuten kann. Sie lässt sich auch nicht umgekehrt auf einen »Kampf um das tägliche Brot« reduzieren, den die Bevölkerung gegen die Regierungen ausfocht.500 Das Ausmaß und die Qualität der Verflechtungen belegen vielmehr wechselseitige Formen von Krisen- und Bewältigungshandeln. Sie lassen sich als Form jener empowering interactions fassen, die man nach der Entmythologisierung des ›Absolutismus‹ als Charakteristikum frühneuzeitlicher Herrschaft insgesamt vorgeschlagen hat. Solche relationalen, für beide Seiten nützlichen Aushandlungsprozesse treten unter dem zeitlichen und sozialen Druck der Krise deutlicher hervor. Sie prägten aber auch die alltägliche Gestaltung von Herrschaft als kommunikativ vermittelter, sozialer Praxis.501 500 Schmidt, Hungerrevolten; Medick, Teuerung; Gailus, Volkmann, Kampf. 501 Blockmans, Holenstein, Mathieu, Empowering Interactions, 404.

254

Handeln

Die Krise bot deutlich mehr Gelegenheit für solche Begegnungen. Grenzen und Lücken obrigkeitlicher Herrschaftsansprüche traten nun deutlicher vor Augen. In der Folge entwickelten sich einzelne Maßnahmen und Infrastrukturen zu regelrechten Kontakträumen. Im Umfeld von Speichern und Sperren, von Migration und Visitation ergaben sich permanent neue Gelegenheiten für Interaktionen. Da diese Kontakte oft außerhalb der üblichen Verfahren verliefen, ließen sie sich nicht nur für die Reproduktion, sondern auch für die Subversion von Herrschaftsstrukturen nutzen. Während der Hungersnot lässt sich dementsprechend beobachten, wie das Zusammenspiel von Regierenden und Regierten Veränderungen initiierte, die zumeist auf Kosten Dritter erfolgten. Beide Seiten erkannten einander dabei als Sicherheitsgeber und Sicherheitsnehmer an. In diesem Austausch aktivierten die Untertanen kurzfristige Versorgungsrechte und stärkten im Gegenzug langfristig die Autorität der zentralen Obrigkeiten. Ihre Autorisierung bereitete den Weg für die Delegitimation intermediärer Ebenen von Herrschaft und Verwaltung oder für die Beschneidung ständischer Privilegien. Diese Veränderungen des Machtgefüges waren von den Untertanen keineswegs intendiert, aber gleichwohl wirksam. Die Interaktionen organisierten hier eine Verdichtung von Herrschaft, die weniger auf Institutionen als auf Kommunikationen beruhte.502 Dieses Phänomen lässt sich auch anderswo im Zuge von Katastrophen beobachten. Im englischen Kontext hat man diese Begegnungen daher zuletzt als »capillaries of state formation« gedeutet, anstatt als Klassenkonflikte im Rahmen einer moralischen Ökonomie.503 Die Veränderungen weisen aber über die akute »Staatsbildung durch Katastrophen« hinaus auf die eingebetteten, gebundenen Formen von Gouvernementalität und Verherrschaftlichung überhaupt.504 Für diesen Prozess der spannungsvollen Begegnung bieten sich verschiedene Begrifflichkeiten an. Foucault bezeichnete ihn als Transgression, die Ökonomie als Kollusion, die Umweltgeschichte als Koevolution. In Ethnologie und Geschichtswissenschaft dominiert hingegen die Terminologie des ›Aushandelns‹, die jedoch zuweilen Gefahr läuft, agonale Machtbeziehungen eher zu verschleiern, als ihre feinen Unterschiede herauszuarbeiten.505 Bei allem ›empowerment‹ waren auch in diesen wechselseitigen Kommunikationen die zeitgenössischen Hierarchien und Asymmetrien bereits eingeschrieben.

502 Zur Verdichtung von Herrschaft durch zirkuläre Kommunikation vgl. Stolberg-Rilinger, Impact of Communication, 315 f. sowie Brakensiek, Herrschaft, 405. 503 Bohstedt, Politics, 266–276, hier 266. 504 Zu Überschneidungen etwa mit der Debatte um das ›commoning‹ vgl. Schläppi, Ökonomie. 505 Füssel, Praktiken.

Empowering Interactions

255

3.1.  Supplikationen und Kommunikationen Die Katastrophenforschung hat den Stellenwert von Kommunikation in Notlagen in den letzten Jahren radikal neu bewertet. Statt als technisches Hilfsmittel begreift man sie nun als integralen Teil eines Desasters. Gerade in ›langsamen Katastrophen‹ misst man der Kommunikation eine formative Rolle zu, die Katastrophen nicht nur begleitet, sondern überhaupt erst konstituiert. Sie gilt daher nicht länger als ein neutrales Instrument. Die Teilhabe an Risiko-, Alarm-, Appell- oder Vorrangskommunikation bestimmt, welche (Umwelt-)Ereignisse zu welchem Zeitpunkt als Katastrophe eingeschätzt werden können, wer zum Handeln berechtigt ist und welche Betroffenen überhaupt als verwundbare ›Opfer‹ wahrgenommen werden. Auch die Mittel der Kommunikation sind in ihrer unterschiedlichen Reichweite, Leistungsfähigkeit und Präzision in den Blick genommen worden.506 In der Hungerkrise der 1770er Jahre vollzogen sich die kommunikativen Begegnungen vor dem Hintergrund des epochalen Wandels von der An- zur Abwesenheitsgesellschaft.507 Selbst die auf Präsenz ausgerichteten Tumulte oder die Fürstenreisen wurden nun von Zeitschriftenbeiträgen und Traktaten flankiert. Einige Supplikationen nahmen den Charakter von ›offenen Briefen‹ an.508 Diese neuen Kommunikationskanäle schufen zugleich den Raum für neue Allianzen jenseits der Lokalobrigkeiten. Charakteristisch sind die häufigen Berichte über gezielte Instanzensprünge. Die Eingaben an die Regierungen nahmen in der Krise enorme Ausmaße an. Vielerorts befanden sich die Behörden in einem regelrechten Belagerungszustand, der die eigens dafür geschaffenen Kommissionen an den Rand des Zusammenbruchs brachte.509 Dabei setzten sich die Untertanen immer wieder über den Behördenzug hinweg und wandten sich unter Umgehung der Lokalobrigkeiten direkt an den Souverän oder die obersten Ämter. Als Anlass dienten ihnen regelmäßig die herrschaftlichen Magazine oder die Sperren. Kurbayern sah sich daher gezwungen, ein eigenes Mandat gegen den ständigen Missbrauch des »Recursus ad Serenissimum« in Sperrfällen zu erlassen. Auch anderenorts versuchten die Regierungen vergeblich, die Untertanen auf die üblichen Kommunikationskanäle zu beschränken. Genau wie der dichtende Hutmacher Fichtner gaben viele ihre Eingaben nicht mehr vor Ort, sondern direkt am fürstlichen Hof ab.510 506 Voss, Vulnerable; Heike Egner, Marén Schorch, Sarah Hitzler, Jörg R. Bergmann, Volker Wulf, Communicating Disaster. A Case for Qualitative Approaches to Disaster Research. Report of a Research Group at the Center for Interdisciplinary Research (ZiF), Bielefeld University, in: Zeitschrift für Soziologie 41, 2012, 247–255. 507 Schlögl, Anwesende. 508 Vgl. etwa Fichtner, Beschreibung, Anmerkung. 509 Hazzi, Betrachtungen, 52; Vogt, Massnahmen, 72; Derflinger, Getreideteuerung, 5–15. 510 StAR Dekrete 2141 (vom 26.3.1771); Fichtner, Beschreibung, Anmerkung. Weitere Mandate zum umkämpften Behördenzug in Pfalz-Sulzbach, Württemberg, Augsburg, Speyer,

256

Handeln

Die Supplikanten hatten gute Gründe für ein solches Vorgehen. Die Interessen von Lokal- und Zentralbehörden verliefen keineswegs kongruent. Ortsfremde taten sich schwer damit, lokale Beamte von ihrer Bedürftigkeit zu überzeugen. Den Zentralen hingegen lag vor allem daran, dass die Betroffenen nicht weiter umherzogen – zumal die Kosten für ihre Versorgung lokal anfielen. Sie urteilten daher eher im Interesse der Migranten.511 Ähnliche Konfliktlagen trafen die Einheimischen. Die lokalen Eliten waren häufig selbst Grundherren und profitierten von den hohen Preisen. Sperren und Regulationen setzten sie entsprechend unwillig oder gar nicht um. In Preußen wandte man sich daher direkt an den König, der die persönliche Beantwortung der Anfragen wiederum in seine Inszenierung als »Brotvater« aufnahm.512 Auch in Böhmen adressierten die Bauern ihre Eingaben direkt an den Wiener Staatsrat, weil die eigenen Grundherren teure Hilfen verweigerten.513 Alle diese Supplikanten waren offenbar gut über die Interessensdivergenzen innerhalb der Verwaltungen informiert und wussten den direkten Kontakt zum Souverän und seiner Regierung zu nutzen.

3.2.  Verdichtung von Herrschaft Zu den Profiteuren gehörten aber nicht nur die Untertanen, sondern auch die Regierungszentralen. Die Krise bot ihnen die Gelegenheit zur Selbstdarstellung, obwohl die weitaus größten Lasten durch die lokale Ebene von Verwaltung, Policey und Kirche geschultert werden mussten. Immer wieder nutzten die Zentralen die Hungerkrise auch als Vorwand, um unliebsame oder widerspenstige Beamte zu entlassen oder zu entmachten. In Österreich traf es etwa den Präses der böhmischen Landstände sowie den Direktor der böhmischen Hofkanzlei. Beide hatten sich bereits seit längerem gegen kaiserliche Eingriffe in die Rechte der böhmischen Stände und die in: Härter, Stolleis, Repertorium, Bd. 3.2, 1148; Bd. 4; 910; Bd. 11, 175, 580 f. In Kurhannover beschied man betreffs der Magazine wiederholt, man sei »schlechterdings nicht anders mit Bittschriften um Verwilligung des erforderlichen Korn zu behelligen, vielweniger sich desfals, mit Anwendung ohnnöthiger Kosten, anhero zu begeben habe, als wenn ihm vom Amte die benöthigte Vorsprache verweigert wird, oder keine Antwort erhalten kann«. HStA Hannover, Hann 74. Harburg 2904 (vom 4.2.1772). Ausführlich zum umkämpften Instanzenweg: Ebd., Göttingen 1510 (vom 8.5.1771). Neben der externen Kommunikation musste man auch die Verfasser behördeninterner Korrespondenz in der Krise ständig an die Einhaltung des Instanzenzugs erinnern. Vgl. etwa HStA Stuttgart L6 Bü 1345, Verordnung vom 2.1.1771. 511 Bei Auswanderungswilligen verkehrten sich diese Interessen entsprechend. Vgl. Kap. IV.2.6. 512 Collet, Storage; Frevert, Gefühlspolitik, 101 f. 513 Goldmann, Hatzfeld, 81. In Böhmen nutzte man auch die Volkszählung in der Krise als Gelegenheit, sich an die Zentralregierung zu wenden, da man vor Ort »nirgends Gehör fände und das Klagen schärfest verboten wäre.« Hochedlinger, Tantner, Berichte, 69. Direkte Supplikationen spielten auch in späteren Krisen eine wichtige Rolle. Behringer, Tambora, 92.

Empowering Interactions

257

Reformpläne Josephs II. gewehrt. Sie wurden auf dem Höhepunkt der Krise durch willfährige Stellvertreter ersetzt, indem man ihnen die Schuld an der Hungersnot anlastete.514 Ähnliche Krisennutzungen finden sich auch in anderen Territorien. Sie führten zuweilen dazu, dass sich Bürgertum und Lokalobrigkeiten völlig entgegen der ökonomischen Realität als die waren Verlierer der Notjahre empfanden.515 Vielerorts resultierte aus der Interaktion von Untertanen und Obrigkeiten zumindest zeitweise die deutliche Einschränkung ständischer Privilegien. Exportsperren und Handelsregulationen beschnitten die ökonomischen Sonderregelungen für Landadel, Kirchen und Grundherren massiv. Die Eingriffe wurden zuweilen mit einem Ausmaß militärischer Gewalt durchgesetzt, das in normalen Zeiten undenkbar gewesen wäre.516 Auch die Marktbeschränkungen trafen die Einkommen der Stände, zumal die Regierungen immer wieder versuchten, ihnen auch die Kosten der Hilfen aufzuerlegen.517 Die Hungerjahre schufen eine Ausnahmesituation, in der es möglich wurde, dass eine einfache Klostermagd ihre Herrinnen wegen versteckter Vorräte denunzieren konnte, und die Obrigkeiten daraufhin tatsächlich einschritten.518 Noch schwerwiegender als die ökonomischen Wirkungen erwiesen sich die politischen Folgen. Ein umfassender Zugriff auf die Profite der Stände war den meisten Fürsten weder möglich noch war er gewünscht. Viele wirtschaftliche Eingriffe verloren zudem mit dem Ende der Hungersnot ihre Wirkung. In der politischen Sphäre zeitigte die Krise jedoch auch langfristige Folgen. Der Blick auf die Praxis der zentralen Regierungsstellen hat gezeigt, dass sie überall in ihrem Handlungsanspruch gestärkt wurden. Die von den Untertanen eingeforderten Fruchtsperren dienten den Fürsten dazu, Territorium zu arrondieren und Sonderrechte im Inneren aufzuheben. Vielerorts bereiteten die herrschaftlichen Hilfen auch der Kontrolle und Vereinnahmung der breiten kirchlichen Fürsorge den Weg. In diesem Kontext flossen auch die Mittel, die 1772 mit der Aufhebung des Jesuitenordens frei wurden, in vielen Territorien an Hilfsprojekte der weltlichen Obrigkeiten.519 514 Zu den politischen Demissionen von Philipp Graf von Kolovrat und dem früheren böhmischen Statthalter Rudolf Chotek von Chotkow vgl. Khevenmüller-Metsch, Tagebuch, 82; Goldman, Hatzfeld, 77. 515 Zu Arrondierungen in den Verwaltungen Bayerns und des preußischen Militärs vgl. auch Weishaupt, Getreideteuerung, 92 f. und Skalweit, Getreidehandelspolitik, 79 f. Zur typischen Klage, der »Mittelsmann war am übelsten dran«, vgl. Anon., Die Teuerung von 1770 bis 1772. Nach dem Bericht des Pfarrers Eggel in der Schaftersheimer Dorfchronik, in: Württembergisch Franken. Jahrbuch 4, 1892, 51–54, hier 52. 516 Vgl. etwa zur Exekution gegen das Kloster Ochsenfurt, Anon., Lesenswürdige Beschreibung, o. P. 517 Zum Effekt des Branntweinverbots auf die ständischen Einnahmen vgl. etwa Kumpfmüller, Hungersnot, 50. Zu der überproportionalen Besteuerung der reicheren Häuser für die Hilfen vgl. ebd., 120–124. 518 Vogt, Massnahmen, 61. 519 Erhard, Erfurth, 105. Zur Zentralisierung des Pass- und Meldewesens durch die Krise vgl. Vogt, Massnahmen, 40; Nipperdey, Bevölkerungspolitik, 602.

258

Handeln

In der Habsburgermonarchie initiierten die Notjahre sogar eine grundlegende Reform der Herrschaftsstrukturen. Um die Beschneidung der Ständeprivilegien politisch zu legitimieren, nutzte man immer wieder die von den Untertanen gemeldeten Skandale der Krisenzeit.520 Dadurch entwickelte sich der Hunger in Böhmen zum Katalysator für Kaiser Josephs »großen Plan«. Die auf seiner Reise in die Notstandsgebiete formulierten Überlegungen setzte er in den Folgejahren gegen erhebliche Widerstände um. Seine Auslegung des ›aufgeklärten Absolutismus‹ zielte darauf, lokale Sonderrechte abzubauen und die Krone auf Kosten der Stände zu stärken. Für Böhmen, dessen Not er aus der Nähe erlebt hatte, veranlasste der Kaiser mit der Bauernbefreiung und der Abschaffung der Robotpflichten eine radikale Neuordnung des sozioökologischen Systems zulasten der Grundherren.521 Im habsburgischen Teil Schlesiens und in Niederösterreich setzte man die lange zurückgehaltene Reform der Frondienste 1771 und 1772 auf dem Höhepunkt der Hungerkrise um.522 Weniger Wirkung entfaltete die Krise in Preußen. Dort verringerte die in der Krise erlangte Kontrolle über polnisches Getreide den Anpassungsdruck im Inneren (Kap. IV.5.3.). In Sachsen begrenzten wiederum die drückenden Schulden die Durchsetzungskraft des Hofes und schufen stattdessen Raum für bürgerschaftliches Engagement (Kap. IV.5.2.). In kleineren Territorien im weniger betroffenen Nordwesten konnten die Stände ihre Position verteidigen oder sogar ausbauen.523 Insgesamt betrachtet verschob sich durch die wechselseitige, kommunikative Autorisierung in der Krise das relative Gewicht der Ebenen zueinander jedoch deutlich. In den Jahren nach 1772 entwickelten sich die zentralen Regierungsbehörden dauerhaft auf Kosten der Kirchen und Lokalbehörden zu der zentralen Anlaufstelle nicht nur in Krisenzeiten.524 Auf diese Weise entwickelte sich die Hungerkrise vielerorts zum Treiber für die Konjunktur eines ›Reformabsolutismus‹, obwohl dieser die Grundordnung der Getreidegesellschaften gar nicht antastete. Diese ›Herrschaftsverdichtung durch Katastrophen‹ entspricht weitgehend den Entwicklungen in den Nachbarstaaten. Auch in Frankreich, England oder Schweden traten Regierungen und Bevölkerungen in einen verstärkten Austausch, der sie auf Kosten Dritter stärkte. In Schweden gewährte der neue König populäre Hilfen und sicherte sich damit die Unterstützung bei der Entmachtung der Stände. In England setzte die Regierung mit der Krise die Teilverstaatlichung der East India Company durch. In Frankreich entmachtete der König im Gegenzug zur populären Wiedereinführung

520 Khevenmüller-Metsch, Tagebuch, 88; Szabo, Kaunitz, 166. 521 Khevenmüller-Metsch, Tagebuch, 375–77. Der erste Entwurf für die später umgesetzte Bauernemanzipation entstand am 6.7.1771, auf dem Höhepunkt der Hungerkrise. Goldman, Hatzfeld, 83 f. 522 Szabo, Kaunitz, 166–168. 523 Freitag, Krisen, 127 f.; Huhn, Ernstfall, 243. 524 Vgl. etwa Medick, Teuerung; Behringer, Tambora, 98–102; Hecht, Nahrungsmangel, 109–134.

Empowering Interactions

259

von Marktkontrollen die lokalen Parlamente.525 Auch in diesen Fällen war die faktische Stärkung der Zentralen von den Untertanen keineswegs intendiert. Sie erwies sich als langfristiges Resultat kurzfristiger Hilfen. Von den empowering interactions in der Krise profitierten daher zwar beide Seiten, aber nicht in gleichem Maße. In der Hungerkrise zeigt sich besonders eindrücklich die zentrale Bedeutung kommunikativer Fähigkeiten und Codes, mit denen klimatische und materielle Impulse in kulturellen Wandel umgesetzt wurden. Kirchen und Landadel mobilisierten vermutlich mindestens ebenso viele Ressourcen und Kapital wie die Landesherrschaften. Sie verfügten aber nicht über das Repertoire an öffentlichen und demonstrativen Handlungen, das den weltlichen Herrschern und ihren Regierungen nunmehr zur Verfügung stand. Mit Predigten konnte man nicht länger gegen Mandate und Magazine, Sperren und Supplikationen, Tumulte und Traktate, Visitationen und Fürstenreisen bestehen. Akteure, die wie der Landadel weniger darin geübt waren, ihr Handeln überregional zu kommunizieren oder die nicht über die nötigen Medien und Codes verfügten, schieden in der Krise als Ansprechpartner aus.526 Insgesamt lässt sich daher ein kontraintuitiver Verlauf beobachten. Der weitgehende Kontrollverlust der Regierungen während der Katastrophe beförderte Interaktionen, die kurzfristig zwar den Untertanen nutzten, mittelfristig aber die Landesherrschaften stärkten. Mit der Krise offenbart sich ein weiteres Mal das »Paradox des scheiternd-erfolgreichen Staates«. Er konstituierte sich weder durch effektive Normdurchsetzung noch durch Opposition zu den Interessen der Untertanen, sondern vor allem dadurch, dass er sich im kommunikativen Ringen konkurrierender Akteure schließlich als zentraler Adressat der Bevölkerung etablierte.527

3.3.  Inklusion durch Exklusion – ›Kornjuden‹ und Antijudaismus Empowering interactions lassen sich je nach Standpunkt positiv oder negativ interpretieren. Man kann sie als vorparlamentarische Ausweitung von Partizipation deuten oder als schädliche Kollusion, die vormoderne, extralegale Abhängigkeiten perpetuierte. In beiden Fällen bleibt jedoch gültig, dass sie nahezu zwangsläufig auf Kosten Dritter verliefen. Die eigene Inklusion beruhte jeweils auf der demonstrativen Exklusion Anderer. Im Reich traf die Ausgrenzung in besonderer Weise die Juden. Anders als in England oder Frankreich existierte hier um 1770 weder eine eindeutige Machtzentrale noch eine gemeinsame parlamentarische Vertretung der Grundbesitzer. Die demonstrative Exklusion musste sich daher gegen 525 Vgl. Kap. II.3.4. 526 Zur Bedeutung kommunikativer Teilhabe und den Auswirkungen eines medialen Ausschlusses vgl. Voss, Vulnerable. 527 Achim Landwehr, ›Normdurchsetzung‹ in der Frühen Neuzeit? Kritik eines Begriffes, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48, 2000, 146–162, hier 150.

260

Handeln

andere Gruppen richten. Als Sündenböcke identifizierte man auch Migranten, Bäcker oder Lokalobrigkeiten.528 Zum bestimmenden Kampfbegriff entwickelte sich im Verlauf der Hungerkrise aber der ›Kornjude‹. Mit dem Schmähwort denunzierte man Spekulanten, die aus der Not Gewinne zogen. Es richtete sich zunächst nicht gegen Juden als religiöse Gruppe. Es zielte vielmehr auf christliche Wucherer, die »unbeschnittenen Kornjuden«, denen man Wucherpraktiken und grenzüberschreitende Netzwerke unterstellte, die man sonst den Juden zuschrieb.529 Seine Schlagkraft bezog der Begriff aus genau dieser semantischen Offenheit. Statt auf eine fest definierte Standes- oder Berufsgruppe ließ er sich auf ein breites Spektrum von Praktiken und Personen anwenden. Er überließ es jeweils den Rezipienten, die Grenze zwischen gerechtem Handel und ungerechtem Wucher zu ziehen. Diese Opazität erlaubte es, auch dort einen Gegner zu konstruieren, wo gar keine konkreten Schuldigen auszumachen waren. Zugleich aktivierte der Begriff populäre antijüdische Ressentiments und externalisierte Wucherpraktiken zugleich als fremd und unchristlich. Im Verlauf der Krise lässt sich beobachten, wie dieses Konzept zunehmend radikalisiert und biologisiert wurde. In der Folge zielte es immer stärker auf Juden als ethnische Gruppe und bildete damit eine Brücke vom traditionellen Antijudaismus zum Antisemitismus.530 Visualisiert wurden die Anfeindungen etwa in einer Reihe von Kornjuden-­ Medaillen (Abb. 23, 24). Sie zeigen zumeist eine mit jüdischen Attributen versehene Person, die Korn in einem Sack aus dem Lande führt. Auf dem Sack sitzend wird ein Teufel dargestellt, der diesen aufreißt und den grenzüberschreitenden Spekulanten so ins Verderben stürzt. Auf der Rückseite findet sich häufig der Spruch Salomos über einem Scheffelmaß: »Wer Korn innehält dem fluchen die Leute, aber Segen kommt über den, der es verkauft.« Die Illustrationen werden von Sprüchen begleitet, die populäre Rachephantasien bedienen, wie »Kornjud verzweifel und geh zur Hölle« (verdeutlicht durch den Höllenschlund). Andere konstruieren klare Oppositionen, wie »Die Armuth weind, der Kornjud lacht« und visualisieren Mordgedanken mit der Illustration eines erhängten Kornjuden. Auch in die 528 Zu Bäcker als Sündenböcken, die in der Krise mit Entmachtung und Schandstrafen wie dem Pranger oder dem Einsperren in die Kohlenkammer aus der Gemeinschaft ausgegrenzt wurden, vgl. etwa Press, Hungerjahre; Spreckel, Hauschronik, 117 f.; Vogt, Massnahmen, 67, 81 oder HStA Darmstadt, Best. C 4 Nr. 230/2. In Zeitungen wurden sie wie die Juden zum Ziel von Rachephantasien, wie etwa dem Annageln der Zunge an einen Pfahl. Hazzi, Betrachtungen, 55. 529 Lausitzisches Magazin, 1772, 149. Der Verweis dieser Passage auf die Gothaer Tumulte zeigt jedoch, dass sich dieses Konzept jederzeit auch auf ethnische Juden erweitern ließ. Zu Kornjuden als »getaufte Getreidejuden«, die wie die »Israeliten« dem Mammon dienten, sowie zu »beschnittenen und unbeschnittenen Korn-Juden, ja nicht selten Geistlichen«, die spekulierten, vgl. Zesch, Kanzelrede, 5, 22 sowie Johan Georg Krünitz, Oekonomisch-technologische Enzyklopädie […]. Bd. 61. Berlin 1802, 420 [Art. Land-Polizei]. Den christlichen Kornjuden stand zuweilen ein ähnlich ambivalentes Judenbild in der Person des biblischen Joseph gegenüber, der wahlweise der klugen Vorratshaltung wie des Wuchers verdächtigt wurde. Jütte, Bild, 48. 530 Gailus, Erfndung, bes. 604.

Empowering Interactions

261

ser Bildtradition zeigt sich, dass in der Krise 1770–1772 der eher metaphorische Gebrauch des Kornjuden-Begriffs zunehmend zurücktrat und stattdessen konkrete antijüdische Züge stärker profiliert wurden. Statt gegen Wucherer richteten sich die Medaillen nun gegen Juden.531 Antijüdische Rhetorik, Gewalt und Exklusion begleiteten bereits die mittelalterlichen Hungerkrisen.532 Die rasante Konjunktur antijüdischer Stimmungen im 18. Jahrhundert verlief allerdings kontrafaktisch. Jüdischen Kaufleuten war der Handel mit Getreide und Lebensmitteln weitestgehend verboten.533 Nur in Ausnahmefällen nahmen sie überhaupt an diesem Geschäftszweig teil. Wo dies doch der Fall war, ging ihr Engagement in der Krise auf den expliziten Wunsch und den direkten Auftrag der Regierungen zurück. So betrauten Österreich, Preußen, Sachsen und Bayern in einigen Fällen jüdische Kaufleute damit, über ihre internationalen Kontakte Hilfslieferungen aus Ungarn oder Polen zu organisieren.534 Dennoch wurden Juden regelmäßig zum Ziel von Ausgrenzung, Gewalt und Verdächtigungen. In Prag ließ man das Judenviertel umstellen und (ergebnislos) nach versteckten Vorräten durchsuchen.535 In Preußen wetterte Friedrich II. immer wieder gegen ihre vermeintliche Vorteilsnahme in der Not. Seine Tiraden wandten sich nicht mehr bloß gegen die »jüdischen Schelmereien« christlicher Händler, sondern gegen ethnische Juden. Scheinheilig ließ er ihr Handeln im Inland demonstrativ verurteilen, obwohl er ihre Dienste in Polen selbst regelmäßig in Anspruch nahm.536 Auch in Österreich, Böhmen, Hessen-Darmstadt oder Lippe überzog man jüdische Händler mit Korruptionsprozessen und verfügte ihre symbolische Ausgrenzung aus dem Gewerbe.537 Die Biologisierung wucherischen Verhaltens in der Person des Juden erlaubte es den Obrigkeiten, die regulatorischen Forderungen der Untertanen symbolisch 531 Jütte, Bild, 42. 532 Christian Jörg, Unter dem Druck der Versorgungskrisen. Christen und Juden während der Hungersnöte des ausgehenden Mittelalters. Ein Überblick in westmitteleuropäischer Perspektive, in: Aschkenas 23, 2013, 101–110. 533 Gailus, Erfindung, 613 f. 534 Zu Jakob Mandel, Moises Österreicher, Adam Oppenheimer und Amigo Meyer in Bayern: Kumpfmüller, Hungersnot, 43, 55, 58 f. Zu einem Stuttgarter ›Kleiderjuden‹ in bayerischen Diensten: Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 110. Zu Jakob Kaskele und Christoph Goßlar in Sachsen und Preußen: Militzer, Klima, Kap. 5.12.1.7. Zuvor waren jüdische Kaufleute fast ausschließlich im Bereich der grenzüberschreitenden Militärproviantierung tätig. Gustav Strakosch-Grassmann, Juden als Getreidehändler im 17. und 18. Jahrhundert, in: Jüdisches Archiv 1, 1927, 9–14. 535 Weinzierl-Fischer, Bekämpfung, 493 f.; Blaich, Tätigkeit, 323. 536 Skalweit, Getreidehandelspolitik, 285f, 291, 308 f. und Richard Dietrich (Hrsg.), Die politischen Testamente der Hohenzollern. Köln, Wien 1986, 507; Militzer, Klima, Kap. 5.12.1.7. 537 Kumpfmüller, Hungersnot, 65 f.; Militzer, Klima, Kap. 5.12.1.7; HstA Darmstadt Judaica R 1 B Nr. 25/119; Freitag, Krisen, 122. Zu antijüdischen Policey-Mandaten in der Krise in Mainz, Köln, Trier, Jülich-Berg, Pfalz-Zweibrücken, Frankfurt, Worms, Limburg, Würzburg vgl. Härter, Stolleis, Repertorium, Bd. 1, 307, 554, 556, 776 f., Bd. 3.2, 1146, 1763, 1779, 1784, Bd. 5, 535, 541, Bd. 10, 671, Bd. 11, 578, 861, 866.

262

Handeln

zu erfüllen, ohne deshalb die Asymmetrien der Getreidegesellschaft grundlegend antasten zu müssen. Die Projektion von Gewinnsucht und Fehlverhalten auf den auswärtigen Juden nutzten die Fürsten, um sich im Gegenzug als heimische Schutzherren zu empfehlen. Das Lausitzische Magazin fasste diesen Anspruch in ein Gedicht »wider die Kornjuden«: Hat je die List ein Ungeheuer Das ewig werth der Höllen Feuer An ihrer tückschen Brust gesäugt So ists mit Recht der Wuchrer Haufen Die Blut, mit Blut der Armen kaufen Das sich, durch sie, zur Fäulniß neigt. […] Geh Armer! flieh in jene Plätze Such Mitleid unter dem Gesetze Vielleicht ist nicht die Hülfe da? Vielleicht ist nicht in Janus Tempel Dem Bösewichte zum Exempel Schon Strick und Brand zur Strafe nah. Der Richter, dessen menschlich Herze Bey deinem stark gefühlten Schmerze O Armer! gern die Hand dir reicht: Der wird bey deinen Winseln, Klagen Dir, seine Hilfe nicht versagen, Sein Arm macht deine Noth dir leicht

Texte wie dieser verwischten gezielt jede Unterscheidung zwischen dem göttlichen Richter und der Landesobrigkeit. Zugleich bedienten sie mit dem Verweis auf »Strick und Brand« populäre Gewaltphantasien bis zum Pogrom. Als Lösung der Krise suggerierten sie, wie im Gothaer Hungertumult, die Zusammenarbeit von Hungernden und Herrschern. Nur in Einzelfällen bieten sich Einblicke, wie die jüdische Bevölkerung selbst Hetze und antisemitische Kollusion wahrgenommen haben. Sie blieben aus der Interaktion von Oben und Unten nicht nur praktisch, sondern auch kommunikativ weitgehend ausgeschlossen. Der fränkische Kaufmann Parness Hirsch notierte lediglich: »[M]an hat sich täglich gefürchtet, man wird überfallen«. Tatsächlich landet er wenig später mit zwei Glaubensbrüdern im Baunacher Gefängnis, weil sie ihre Gemeinde in der Not mit Mehl versorgt hatten. In der Praxis beantwortete ihre Heimatgemeinde in Reckendorf die Repressionen mit stillschweigender Selbsthilfe. Die Hilfen für durchreisende Juden setzte man sogar trotz der scharfen Reise- und Beherbergungsverbote fort.538 538 Pfeifer, Bilder, 65, 73 f., 117. Daneben unterstützten Juden auch christliche Hungernde mit Spenden. Huber, Kronik, 406.

Empowering Interactions

263

Allerdings entzündete sich an der Nutzung antijüdischer Feindbilder unter den Aufklärern auch Kritik. Freihändlerische Schriften wie »Der vertheidigte Korn-Jude« wandten sich scharf gegen deren Instrumentalisierung für Markteingriffe. Der Autor geißelte die Kornjuden-Medaillen als billige Aneignung populärer Feindbilder und spottete: »Man ließ zwey Medaillen prägen, auf jeder stand ein Korn-Jude […]. So wurde das Volk besänftigt, und die Korn-Juden mußten die Fehler decken, die von den Vorstehern« begangen worden waren.539 Die wahren Spekulanten, die Adelsherrschaften, gerieten so absichtlich aus dem Blickfeld. Stattdessen nutzen die Regenten diese »Schminke« dazu, sich immer neue »Gesetze bestätigen zu lassen«.540 Die Deutung einer gezielten Vereinnahmung von Erwartungen der Untertanen hat auch die Forschung weitgehend übernommen. Manfred Gailus wertete die Kornjuden-Metaphorik als »obrigkeitlichen Kampfbegriff«. Ihr sei eine wesentliche »Kontrollfunktion« gegenüber den Untertanen zugekommen. Tatsächlich artikulierten sich auch in der Exklusion der Kornjuden wechselseitige Prozesse der Inklusion. Die entsprechende Rhetorik lässt sich in den Veröffentlichungen der Obrigkeiten lediglich einfacher nachweisen. Die Zeitgenossen sprachen hingegen davon, dass sie um 1770 »in aller Munde« gewesen. Sie wurde in Mandaten ebenso wie in Zeitschriften, an Stammtischen und in Supplikationen gebraucht. Auch die Kornjuden-Medaillen wurden nicht etwa auf Befehl der Obrigkeit angefertigt. Sie entstanden in kommerziellen Fabriken und wurden einem breiten Publikum auf Messen und Märkten angeboten.541 Wie in Gotha gingen Proteste gegen (Korn-)Juden auch von der Bevölkerung selbst aus. Sie machten die Fürsten aber nicht »zu Gefangenen ihrer eigenen ideologischen Erfindung.«542 Die kommunikative und zum Teil gewaltförmige Exklusion autorisierte beide Seiten zum Handeln auf Kosten Dritter. Damit war ein Muster entwickelt, das sich in den folgenden Krisen wiederholte. Seit 1770–1772 schlug die Kornjuden-Rhetorik immer öfter in offenen Antisemitismus um. In den Hungerjahren 1816/17 motivierte sie Pogrome und die folgenden Hep-Hep-Krawalle. Sie richteten sich nun nicht mehr gegen Juden als Religions- oder Berufsgruppe, sondern als Ethnie. Dabei spielte es keine Rolle mehr, dass die Opfer auch diesmal keinen besonderen Anteil an Spekulation und Teue-

539 Johann Albrecht Philippi, Der verteidigte Korn-Jude. Berlin 1765, 150 f. Angesichts der antijüdischen Haltung seines Dienstherren, Friedrichs II., bezog Philippi sich vorsichtshalber auf die Vergangenheit. Während der Krise diente er als Berliner Stadt- und Polizeipräsident und setzte dort genau jene paternalistische Politik um, die er in der Schrift beklagte. 540 Ebd., 4. Ähnlich argumentiert die »Abhandlung Von dem wahren und falschen Begriffe eines Korn-Juden, und in wie ferne derselbige einem Staate nützlich oder schädlich seye«, in: Anon., Vergleichung, 133–164. 541 Gailus, Erfindung, 618; Jütte, Bild, 45. 542 Gailus, Erfindung, 616.

264

Handeln

rung hatten.543 Selbst nachdem der Begriff des Kornjuden aus der Mode gekommen war, weil die Assoziation von Juden und Kornwucher mit dem strukturellen Wandel des Getreidehandels hinfällig wurde, blieb der Judenhass in Hungerzeiten bestehen. Jüdinnen und Juden wurden auch in den Krisenjahren 1846–1848 und während der Teuerungen des Ersten Weltkriegs zum Opfer von Hetze und Gewalt. Ihre Stigmatisierung diente nun vor allem der Bestätigung und Verbreitung antisemitischer Ideologien.544 Vor diesem Hintergrund gewinnt die Konjunktur antijüdischer Ressentiments um 1770 eine besondere Brisanz. Sie reagierte auf die spezifischen Konstellationen im Reich. Dass der Nexus von Hunger und Judenfeindschaft hier stärker ausgeprägt war als in den Nachbarstaaten, reflektierte auch das Fehlen von König oder Parlament als externen Zielen der Empörung. In den Reichsterritorien ließ sich die eigene Teilhabe oft effektiver über die Ausgrenzung lokaler Sündenböcke durchsetzen. Die Juden wurden dabei zum Spielball der Kollusion von Untertanen und Obrigkeiten. Diese Form der ›Inklusion durch Exklusion‹ bildete die folgenschwere Kehrseite der empowering interactions.

4.  Wissensgeschichten des Hungers Mit der Klimaanomalie und Hungersnot der 1770er Jahre etablierten sich in vielen Feldern ›Experten‹ als dritte Gruppe neben Obrigkeiten und Untertanen. Sie traten in dieser Krise – bei allen Überschneidungen mit weltlichen und kirchlichen Eliten – zunehmend selbstbewusst und eigenständig auf. In vielen Fällen lässt sich beobachten, dass dies nicht nur mit, sondern durch die Krise geschah. Viele nutzten die Hungersnot gezielt, um ihre Wissensfelder zu festigen oder überhaupt erst zu etablieren. Die Forschung hat die Entstehung solcher Expertenkulturen historisch immer weiter zurückverfolgt.545 Um 1770 lässt sich jedoch eine regelrechte Explosion dieser Funktionseliten und der von ihnen beanspruchten Wissensbereiche beobachten. ›Ökonomen‹, Meteorologen, Mediziner, Statistiker, Demographen oder Agronomen schärften mithilfe der Krise ihr soziales, berufliches und wissenschaftliches Profil. Die Laboratoriums-Situation der Krisenjahre bot den Experten eine ideale Umgebung für ihre konstitutiven Status- und Deutungskämpfe.546 In der Folge 543 Behringer, Tambora, 65–68, 226–235. 544 Manfred Gailus, Contentious Food Politics. Sozialer Protest, Märkte und Zivilgesellschaft. 18.-20. Jahrhundert (Discussion Papers / Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.). Berlin, 2004, 33 f., 48 (nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-118314) [12.10.2016]; Tönsmeyer, Hungerökonomien, 674 f. 545 Frank Rexroth, Matthias Roick, Björn Reich (Hrsg.), Wissen maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. München 2012. 546 Grundlegend dazu: Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Re-

Wissensgeschichten des Hungers

265

wirkte die Krise als Katalysator für die Verfestigung zahlreicher neuer Disziplinen, von der Demographie bis zur Meteorologie. Mit der Wende von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte steht das Instrumentarium für eine umfassendere Einordnung und Analyse dieser Entwicklung zur Verfügung. Die Kulturgeschichte des Wissens betont sowohl die materielle als auch die soziale Gebundenheit des Forschungsprozesses. Statt einer engen Geschichte der Naturwissenschaften lassen sich aus dieser Perspektive komplexe soziokulturelle Prozesse beobachten. Sie reichen von der Neubewertung der gesellschaftlichen Rolle des Wissensexperten bis zur Pluralität der Naturwahrnehmungen im 18. Jahrhundert, aus deren Vielfalt schließlich ein neues und für die Moderne prägendes Naturverständnis entsteht.547 Den Experten der Zeit stand klar vor Augen, dass der Hunger für sie eine einzigartige Chance bedeutete. Der Entrepreneur Benjamin Reyher schwärmte angesichts der Krise: »Wir Ökonomen haben jetzt unsre Epoque!« Zeitungen sahen mit der Not ein »ökonomisches Zeitalter« heraufziehen. Gelehrte schwärmten davon, dass die allumfassende Hungererfahrung viele »verständige Leute« nötig mache, um »Betrachtungen anzustellen, und eine Anwendung davon zur Besserung der Welt zu machen.«548 Der Pädagoge und Naturforscher Johann Bernhard Basedow notierte zufrieden, die »Noth des Hungers« stelle ein einzigartiges »Triebwerk da, auf den Lauf der Natur zu achten, uns nach demselben zu richten, den Verstand zu schärfen und die Kräfte zu brauchen«. Auch der Reformer Otto von Münchhausen beobachtete, wenngleich etwas skeptischer, eine ungeheure Vermehrung von »Projecten­machern und Neuerlingen«, die sich in der Not »zu Aerzten aufwerfen, und die Mittel erfunden haben wollen, um das Uebel zu heben«.549 All diese Spezialisten und Berater beseelte der Glaube an die prinzipielle Lösbarkeit des Hungerproblems. Die völlige Überwindung der naturalen und sozialen Verwerfungen erschien ihnen nicht länger als vermessen, sondern als machbar. Voller Selbstbewusstsein folgten sie der Vorgabe des eminenten Staatswissenschaftlers Justi: »Es liegt bloß an unserm Willen«.550 Im Rückblick erscheinen viele der neuen Vorschläge als zukunftsweisend. Die Experten gingen mittelfristig als Gewinner aus der Krise hervor. Ihre Ansätze und präsentation und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006. 547 Reith, Umweltgeschichte, 93; Marian Füssel, Auf dem Weg zur Wissensgesellschaft. Neue Forschungen zur Kultur des Wissens in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für historische Forschung 34/2, 2007, 273–289. Zu den 1770er Jahren als Gelenkstelle des self-fashionings von Umweltexperten vgl. auch Hölzl, Sustainability, 439. 548 Benjamin Gottfried Reyher, Die zweymahlige und zweymahl-reichere Korn- und BrodAernte eine wöchentliche Unterredung welche bis zur Jubilate Meß-Zahlwoche fortgesetzt, und zur Hälfte zum Besten der Haus-Armen verkauft wird. Leipzig 1772, 25; Anon., Einige Anmerkungen, 322; Schmahling, Nachruff, 21. 549 Johann Bernhard Basedow, Des Elementarbuchs für die Jugend drittes Stück. O. O. 1770, 14; Münchhausen, Kornhandel, 100. 550 Justi, Abhandlung, 105.

266

Handeln

Ideen dominierten in den folgenden Jahrzehnten die Deutung des Geschehens und prägten das Handeln der Verantwortlichen. Es wäre aber falsch, aus den anschließenden Erfolgen bereits auf die Situation in den 1770er Jahren zu schließen. Wissensgeschichtlich bemerkenswert ist vielmehr, in welchem Ausmaß die empirischen Grundlagen der neuen Wissensfelder erst nach dem Siegeszug der entsprechenden Ideen gelegt wurden. Dass die Mediziner die Kontagions- gegenüber der Säftelehre favorisierten, folgte zunächst vor allem strategischen Überlegungen. Wie Hungerkrankheiten wirklich übertragen wurden, verstand man erst viel später. Auch Ökonomen und Meteorologen verfügten um 1771 kaum über belastbare Daten für ihre ambitionierten Theorien. Sie wurden erst im Zuge ihres nachfolgenden Durchbruchs erhoben. Viele der neuen Wissensfelder entwickelten sich zunächst aufgrund von Spekulation, Ideologie und Statuskämpfen anstatt auf der Basis von Evidenz. Aus diesem Grund versuchten die ökonomischen und naturkundlichen Experten ihre prekären Wissensfelder zunächst mithilfe gut dokumentierter Medienkampagnen zu etablieren. In der Rückschau verleitet dies leicht dazu, ihren Anteil am Geschehen zu überschätzen. Tatsächlich mussten auch sie ihr Handeln eng mit dem ihrer Konkurrenten abstimmen. Auch andere Gruppen, von Fürsten bis zu Pfarrern, versuchten die »vortheilhaften Folgen dieser Noth« für sich zu nutzen.551 Die Extremsituation der Hungerkrise bot daher neben Chancen auch Gefahren. Wer die hohen Erwartungen von Auftraggebern und Leidenden nicht erfüllen konnte, dem drohten Ausweisung, Degradierung oder Strafen.552 Dass nachteilige Konsequenzen trotz der häufigen Misserfolge nur selten eintraten, ist eine Besonderheit, der im Folgenden nachgegangen wird. In der Praxis offenbarte sich während der Krise regelmäßig eine tiefe Kluft zwischen dem theoretischen Anspruch der Experten und ihrer tatsächlichen Relevanz. Auch die fortschrittlichsten Mediziner waren gegenüber den Hungerkrankheiten machtlos. Die prominenten Freihandelsexperimente scheiterten spektakulär. Neue Agrartechniken versagten oder verschärften die Lage sogar noch. Trotz dieses Scheiterns erzielten die Experten zumeist einen spürbaren Reputationsgewinn. Teilweise profitierten sie davon, dass ihre Reformkonzepte nur sporadisch zur Anwendung kamen. Gegenüber den weit offensichtlicheren Fehlschlägen des alten Krisenregimes fielen sie kaum ins Gewicht. Den Großteil ihrer gefühlten Überlegenheit im öffentlichen Diskurs verdankten die Reformer aber weniger ihrer praktischen, als vielmehr ihrer kommunikativen Dominanz. In Reaktion auf die Krise entstand eine enorme Flut gelehrter Schriften. Stärker als je zuvor nutzte man die erstarkende bürgerliche Öffentlichkeit, um Lösungen 551 A. F. T. [Albrecht Friedrich Thilo], Betrachtungen über die Noth der Zeiten in freien aber blos algemeinen moralisch-politischen Anmerkungen über die Beschaffenheit, die Quellen, Hülfsmittel und Abzwekkungen derselben, durch ein paar voranstehende vorhin schon gedruckte Predigten veranlaßt und dem Publikum zur Prüfung vorgelegt. Nördlingen 1771, Vorbericht. 552 Zum abrupten Karriereende durch die Hungerkrise vgl. etwa Goldman, Hatzfeld, 86 oder Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 93.

Wissensgeschichten des Hungers

267

überregional zu kommunizieren und die eigene Position zu festigen. Für die mit der Aufklärung entstandenen Milieus der Zeitschriften, Akademien und Ökonomischen Gesellschaften bot die Not einen willkommenen Anlass der Selbstvergewisserung. Die Zeitungen konstatierten bald, dass die Hungersnot alle anderen Themen überlagere. Sie sei der Anlass, worüber man »überall in allen Ständen, alles weit mehr, als über irgend eine andere Sache, studirt, raffinirt, Projekte über Projekte macht.«553 Hunderte Zeitschriftenartikel widmeten sich der Krise. Zugleich florierte die »annonarische« Literatur, in der die Nahrungsversorgung thematisiert wurde.554 Mit den dezidierten Hungerzeitschriften entstand während der Not sogar ein eigenes, neues Medienformat. Predigten, Dissertationen, Intelligenzblätter und die Texte der sogenannten Volksaufklärung befassten sich mit dem Thema. Die Akademien lobten Preisfragen aus, deren Aufgaben und Antworten in Zeitschriften breit diskutiert wurden.555 Diese gelehrte Diskussion wurde zudem auf europäischer Ebene geführt. Die Preisfragen der Akademien im Reich erschienen in englischen Zeitungen, während man sich in deutschen Blättern über Schweizer Dörrmaschinen und französische Armensuppen informieren konnte.556 In ihrer Fülle reflektierte die Vielzahl von Texten gleichermaßen das enorme, europaweite Bedürfnis nach Rat und Orientierung sowie die selbstbewusste Bereitschaft der Autoren, Antworten zu liefern. In einigen wenigen Fällen wurden die Schriften direkt praktisch wirksam. Die Hungerzeitschriften dienten der Einwerbung von Spenden und ermöglichten die Umsetzung von Reformen jenseits obrigkeitlicher Maßgaben.557 Zumeist stand im Zentrum der Texte aber die Information. Neben den Inhalten wurden dabei auch Haltungen transportiert. Sie reichten von einer weitverbreiteten Misogynie der durchweg männlichen Schreiber bis zur Pose des Experten, der weniger mit als zu seinem Publikum spricht.558 Viele Schreiber verwendeten ebenso viel Mühe darauf, sich selbst und ihr Feld zu etablieren, wie auf die Themen selbst. 553 Lausitzisches Magazin, 1771, 194. 554 Eine Übersicht bieten: Soden, Gesetzgebung; Müller, Bücherkunde, 109–118 sowie Böning, Siegert, Volksaufklärung, 383–530. 555 Holger Böning, Das Intelligenzblatt als Medium praktischer Aufklärung. Ein Beitrag zur Geschichte der gemeinnützig-ökonomischen Presse in Deutschland von 1768 bis 1780, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 12, 1987, 107–133; Christiane Herges, Aufklärung durch Preisausschreiben? Die ökonomischen Preisfragen der Königlichen Societät der Wissenschaften zu Göttingen 1752–1852. Bielefeld 2007, 234; Kumpfmüller, Hungersnot 12; Anon., Woher kommen schlechte Zeiten? Hamburg 1770. 556 Zu Rezeption von Duhamels Genfer Dörrmaschine vgl. J. G. R. Andreae: Fortsetzung der Briefe, so aus der Schweitz nach Hannover geschrieben sind, in: Hannoverisches Magazin 3, 1765, 113–142 zur Soupe dauphinoise: Ebd., 19, 1772, 109–112. 557 Unten Kap. 5.2. 558 Zum negativen Frauenbild der Autoren vgl. etwa Bräuer, Capitalisten, 97, 125; Anon., Schlechte Zeiten, 11, 32–35. Zur selbstreferenziellen Haltung der Texte vgl. Böning, Intelligenzblatt.

268

Handeln

Diese Haltung blieb nicht ohne Kritik. Immer wieder beklagten Zeitgenossen das offenbare Missverhältnis zwischen der Menge der Vorschläge und ihrem Ergebnis, zwischen einer Rhetorik der Anwendbarkeit und den unpraktikablen Vorschlägen. Einige formulierten angesichts des Ausmaßes der Katastrophe auch grundlegende Bedenken. Sie erinnern an die Reaktion auf das Erdbeben von Lissabon und die europaweite Diskussion um das Ende des Optimismus.559 Diese Beobachter zweifelten angesichts des massenhaften Leids generell am aufklärerischen Glauben an Machbarkeit und menschliche Schaffenskraft. Schließlich ereigne sich die Not in einer Zeit, »da man ganze ökonomische Akademien und Gesellschaften errichtet, und die Welt mit einer Menge sogenannter ökonom. Schriften überschwemmet hat«. Man habe leichtsinnig den »eigenen Kräften und dem menschlichen Fleiß« alles zugetraut und sei daher umso nachdrücklicher an die eigenen Grenzen erinnert worden.560 Daneben monierte man konkrete Missstände im Rahmen der Gelehrtenkritik. Joseph von Hazzi geißelte die um sich greifende »Vielschreiberei« für ihren durchweg fehlenden Anwendungsbezug als regelrechte »Pestseuche«.561 Man stieß sich an der Vielzahl elitärer und wirklichkeitsferner Hilfsmaßnahmen, die »philosophisch-ökonomische Köpfe« in ihren Studierstuben entwarfen.562 Auch die ersten Meteorologen sahen sich angesichts ihrer pedantischen und provozierend abstrakten Wetteraufzeichnungen mit dem Spott ihrer skeptischen Zeitgenossen konfrontiert.563 Ein dritter Bereich der Kritik zielte auf die Dominanz technischer Lösungen, die soziale Verwerfungen ignoriere. Man warf den Experten vor, statt der gesellschaftlichen Ursachen nur die Symptome zu bekämpfen. Als vielfach privilegierte Gruppe verstünden sie die Not des gemeinen Mannes nicht und hätten allein den eigenen Vorteil im Blick.564 Auch aus heutiger Perspektive manifestiert sich in vielen Expertenvorschlägen der Beginn einer »thin description«. Sie setzte zunehmend auf Modellierung 559 Zur Debatte um den Einfluss der Lissabonner Katastrophe auf Naturvorstellungen, Theodizee und Machbarkeitsglauben vgl., Lauer, Unger, Erdbeben. Die entsprechenden Diskussionen hatten sich um 1770 lediglich verschärft, nicht aber geklärt. Vgl. Kap. III. 560 Anon., Beschluß der Erinnerungen an die traurigen Merkwürdigkeiten des 1771sten Jahres, in: Lausitzisches Magazin, 1772, 144–151, hier 147 f. 561 Es gebe eine Menge an »Actenfabrikanten, aber wenig Geschäftsmänner«. Hazzi, Betrachtungen, 160. 562 Korn, Briefe, 54–58; Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 156. Zu einem Spottgedicht auf Spinat und Artischocken, die von weltfremden Experten als Brotsubstitute propagiert wurden, vgl. Münchener Wochenblat in Versen 13, 1771, Num. 6, o. P. 563 Miscellanea Saxonicae, 1772, 34. 564 Vgl. etwa Bräuer, Kapitalisten, 122 f. oder Schrader, Kunst. Letzterer persifliert bereits durch seinen Titel (Die Kunst ohne Miswachs theuere Zeiten zu machen) die weitverbreiteten Hand- und Hilfsbücher der Lehnstuhlexperten (etwa Reyher, Die Kunst in allen möglichen sowohl leiblich als geistlichen Nöthen vergnügt zu sein) oder den in Notzeiten immer wieder aufgelegten Titel Haushaltungskunst im Krieg und in der Theuerung, der 1771/72 unter anderem in Augsburg, Stuttgart und München erschien. Böning, Siegert, Volksaufklärung, Nr. 795, 850, 852, 853, 832, 858, 872, 895).

Wissensgeschichten des Hungers

269

anstatt auf dichte, komplexe Beschreibungen. Die sorgfältige Einbettung in lokale Gegebenheiten tauschte sie gegen Abstraktion – etwa in den neuen ökonomischen oder medizinischen Großtheorien. Diese Reduktion von Kontingenz erlaubte es, die Reichweite der Aussagen zu erhöhen und das Publikum dementsprechend zu vergrößern. In der Folge blieben sie zwar oft ohne praktische, nicht aber ohne gesellschaftliche Resonanz.565

4.1. Ökonomisierungen Ein zentrales Wissensfeld bildete in der Krise die neue ›Ökonomie‹. Dieser Bereich erlebte im Umfeld der Hungersnot eine grundlegende Transformation. Befördert von den Krisenjahren mündete die zentrale Debatte um den Freihandel in der Etablierung der klassischen Nationalökonomie. Bereits seit den 1750er Jahren hatte sich ausgehend von Frankreich eine immer selbstbewusstere Kritik an den überkommenen Arrangements der Wirtschaft entwickelt. Der für den Merkantilismus typischen, engen Verflechtung von Staat und Wirtschaft stellte man nun Modelle entgegen, in denen die Ökonomie nicht mehr als verflochten oder embedded gedacht wurde, sondern als eigenständiges, selbstregulierendes System. Es sollte weitgehend frei von obrigkeitlichen Eingriffen funktionieren und als entsprechend separates Wissensfeld untersucht werden. Die Anhänger dieser Ideen bezeichneten sich selbstbewusst als économistes, im deutschsprachigen Raum auch als Physiokraten. In ihrem Umfeld florierten radikale Umwertungen. Eigennutz galt nicht länger als verwerflich, sondern als förderlich. Als Taktgeber der Wirtschaft betrachteten sie den produktiven Bauernstand anstatt der ›sterilen Klassen‹ von Grundbesitz und Handel. Die Ökonomie wurde dabei nicht mehr als statisches System betrachtet, das sich auf den Austausch einer unveränderlichen Gütermenge beschränkte. Stattdessen entwickelte man zunächst dynamische Kreislaufmodelle, die schon bald auf progressive Vermehrung zielten.566 Im Zentrum dieser Debatten stand der größte zeitgenössische Wirtschaftssektor: die Nahrungsproduktion. Im Bereich der Hungerbekämpfung traten die Umwertungen der Ökonomen daher besonders prägnant hervor. Hier galt nun als nützlich, was man zuvor bekämpft hatte. Die Förderung von Handel, Spekulation und offenen Grenzen trat an die Stelle von Regulation, Export- und Wucherverboten. Der Hang der Ökonomen zu grundstürzenden Neuerungen speiste sich aus zweierlei Quellen. Zum einen reagierte er darauf, dass mit der gedanklichen Trennung der Wirtschaft vom Fürstenstaat ganz neue Bewertungen möglich wurden. 565 Theodore M. Porter, Thin Description. Surface and Depth in Science and Science Studies, in: Osiris 27, 2012, 209–226. 566 Rolf Peter Sieferle, Bevölkerungswachstum und Naturhaushalt. Studien zur Naturtheorie der klassischen Ökonomie. Frankfurt a. M. 1990, 113–140; Graber, Marktsteuerung, 132.

270

Handeln

Zum anderen reflektierte der Wille zur Opposition die typische Dynamik eines entstehenden Wissensfeldes. Seine Themen und sein Personal benötigten die Reibung an Gegenpositionen, um sich zu etablieren. Um den Bruch mit früheren Ideen noch zu betonen, brachten deutschsprachige Protagonisten daher auch zahlreiche neue Begriffe in die Diskussion. Lehnwörter wie Kapitalist, Konkurrenz, Kredit oder Spekulation untermauerten in den Krisenjahren den Anspruch der Experten auf ihr eigenes Wissensfeld.567 Sie dienten als Identitätsmarker für Vordenker wie Johann August Schlettwein, Isaak Iselin oder Johann Albert Heinrich Reimarus und ihre Anhänger in den florierenden ökonomischen Gesellschaften. Der Hungerkrise kam in diesem Prozess der Vergewisserung und Gruppenbildung eine zentrale Rolle zu.568 Zum zentralen Debattenfeld in der Notzeit avancierte der Freihandel. Er spielte seit jeher eine große Rolle in den von Naturströmen inspirierten Überlegungen der Physiokraten. Unmittelbar vor der Krise erschien mit François Quesnays Tableau économique von 1767 eine heftig diskutierte Blaupause, in der diese Flussmetaphorik knapp und eindrucksvoll modelliert und visualisiert wurde. Mit den Hungerjahren scheinen diese abstrakten Überlegungen zunehmend materielle Evidenz zu gewinnen. In Form der Fruchtsperren wurden die Eingriffe in die Getreideströme für jedermann sichtbar. Sie standen sinnbildlich für die fehlgeleitete Politik der Regulation. Aus der Perspektive der Freihändler behinderten die Sperren den ›natürlichen‹ Ausgleich von Angebot und Nachfrage, reduzierten das dringend benötigte Steueraufkommen, verstärkten Spannungen mit den Nachbarterritorien und förderten stattdessen Schmuggel, Kriminalität und Wucher. Entsprechend Quesnays Motto laissez faire, laissez passer sei es vielmehr geboten, »Handel und Wandel seinen freyen Lauf« zu lassen.569 In radikalen Schriften aus den Hungerjahren tauchen daher bereits die Konzepte der ›unsichtbaren Hand‹ des Marktes und des Weltmarktpreises auf, bevor Adam Smith sie 1776 in seinem Wealth of Nations berühmt machte.570 Allerdings verfügten die physiokratischen Wortführer über keine empirischen Daten. Belastbare Angaben zu Erntemengen, Handelsvolumen oder Konsumbe 567 Bräuer, Capitalisten, 68, 112, 119. 568 Die Zeitgenossen beobachteten »in diesen dürftigen Zeiten, daß ein jeder, er mochte seyn von welcher Profession er wollte, über die Wirtschaft dachte und davon sprach.« Die Vorschläge dieser noch offenen Expertengruppe verglichen sie mit der ›Medizin‹ der bereits etablierten Ärzteschaft: »Denn dieselbe [die Ökonomie, D.C.] wurde fuer die Arzeney dieser Krankheit gehalten und der Mangel, welcher alle Künste erfunden hat, hat uns gelehret Haushalter zu werden, und auf neue Mittel zu sinnen«. Schmahling, Nachruff, 93. 569 [Christian Hiskias Heinrich von Fischer], Anmerkungen über die dermalige Fruchtsperre. Deutschland [sic] 1771. Einen Überblick über die zentralen Argumente und Texte bietet: Münchhausen, Kornhandel, 102–107 sowie Joachim Diedrich Lichtenstein, Zweifel und Bedenken bey der wichtigen Frage von der freyen Aus- und Einfuhr des Getraides. Braunschweig 1772. 570 Vgl. Fischer, Anmerkungen, 8, 15.

Wissensgeschichten des Hungers

271

darf standen ihnen während der Krisenjahre noch nicht zur Verfügung. Stattdessen argumentierten sie mit Analogien, Ideen oder vermeintlichen europäischen Vorbildern.571 In weiten Teilen beruhte ihre Haltung jedoch nicht auf Fakten, sondern auf Interessen. So kam die ständige Beobachtung, dass Ängste eine wesentliche Motivation für die Sperren darstellten, ihrem Selbstverständnis als rationale, furchtlose Aufklärer entgegen.572 Bestätigung bezogen sie auch aus vermeintlichen Naturparallelen. Getreide erschien ihnen als das zirkulierende Blut eines metaphorischen Volkskörpers. Sperren entsprachen aus dieser medizinisch-naturalistischen Perspektive einer »Krankheit«, einer »Hemmung« des Naturkreislaufes, einer »Seuche« oder bestenfalls einem bloßen »Palliativ«.573 Vor allem artikulierte sich im Unbehagen gegenüber den Sperren aber die Ablehnung der Kollusion von Herrschern und Untertanen, die sie beförderten. Sie drohte die Position der Experten als Stichwortgeber insgesamt zu unterminieren. Alarmiert beobachteten die Ökonomen, dass die Fürsten statt der eigenen Ratschläge dem Geschrei des Pöbels folgten und so eine »ökonomische Anarchie« auslösten. Aus ihrer Sicht dienten die Sperren den Herren als »Ruhebett«, das Beratungen durch Experten unnötig erscheinen ließ.574 Auch der Untertan sei dadurch so »träge geworden, daß er gänzlich glaubet, aufs höchste berechtigt zu seyn; nur lediglich auf gemein Kosten und anderer Wohltaten leben zu können«. Die durch die Grenzsperren erzwungene »Austheilung von Brod […]« werde nicht mehr als Wohltat wahrgenommen, sondern als »Pflicht von der Obrigkeit gefordert« und veranlasse so »immer weitere Ausschweiffungen« auf Kosten der Bürger.575 571 Vgl. Kap. IV.1. Da in den Krisenjahren aber selbst England und die Niederlande die Ausfuhr sperrten, avancierte das Großherzogtum Toskana zum leuchtenden Vorbild, obwohl auch dies keineswegs den tatsächlichen Verhältnissen entsprach. Hazzi, Betrachtungen, 56–58; Münchhausen, Kornhandel, 53; Huhn, Teuerungspolitik, 250; Kumpfmüller, Hungersnot 19. Zur Krise der Freihandelspolitik, nachdem auch in der Toskana ab 1772 schlechtere Jahre eingesetzt hatten, vgl. Alexander Israel Grab, The Politics of Subsistence. Reforms in the Grain Trade and Bread Production in Austrian Lombardy in the Age of Enlightened Absolutism (1748–1790). Diss. University of California, Los Angeles 1980, 306–347. 572 Vgl. etwa: Münchhausen, Kornhandel, Vorbericht, 14 f., 21; Fischer, Anmerkungen 7 f., Clavell, Fruchtsperre, 36. 573 Münchhausen, Kornhandel, 21 f., 35; Georg Christian Albrecht Rückert, Gedanken bey dem Getreidemangel in Deutschland von 1770 bis 1771 über dessen Quellen und den Mitteln wieder denselben auf künftige Zeiten, in: Ders., Der Feldbau chemisch untersucht um ihn zu seiner letzten Vollkommenheit zu erheben, Bd. 2. Erlangen 1789, 175–188, 185. Johann Friedrich von Pfeiffer, Grundriß der Staatswirtschaft […]. Frankfurt a. M. 1782, 216. 574 Anon., Physisch-Ökonomische Bemerkungen des Jahres 1772, in: Abhandlungen und Beobachtungen durch die Ökonomische Gesellschaft zu Bern 13, 1772, 221–239, 221; Anon., Wahrheit ohne Schmincke über den freyen Getraidehandel. Von einem unpartheyischen, sachverständigen Manne zur Beherzigung für jede Classe von Lesern besonders für Minister, Cameralisten etc. herausgegeben. Leipzig 1804, X. Der Text reagierte auf die 1770er Jahre. Vgl. ebd., XI, 29–31. 575 Anon., Pflichten, VI sowie, basierend auf den Erlebnissen von 1771: Reimarus, Freiheit, 131.

272

Handeln

In der Ablehnung dieser stillen Übereinkünfte manifestiert sich ihr herablassender Blick auf die Untertanen. Für die Identitätsbildung der Experten spielte deren Exklusion – bei aller rhetorischen Verneigung vor der pragmatischen Vernunft des Bauern – eine prägende Rolle. Das Handeln des gemeinen Mannes deuteten die Reformer daher nicht als rationale Reaktion, sondern als moralischen Verfall. Aus ihrer Perspektive legitimierten die Sperren wilde Blockaden, Übergriffe und Schmuggel, die Ordnung und Eigentum der ehrlichen Bürger bedrohten. Ihnen erschien die »Wirkung der Fruchtsperre auf die Moralität der Unterthanen schrecklicher […], als die Theurung selbst.« Sie öffne beim gemeinen Mann »allen verderblichen Leidenschaften Thür und Thor«.576 Statt als Anlass für Regulation solle die Krise besser als Chance zur Disziplinierung der Massen gebraucht werden. Dem systemischen Ansatz der Ökonomen entsprechend sollten dabei nicht die Bedürfnisse des Individuums im Vordergrund stehen, sondern der Nutzen für den Staat. Man müsse den gemeinen Mann »mit Hunger und Zwang, [sich] selbst und der Welt nützlich machen«. Statt um soziale Veränderung gehe es um ökonomische Aktivierung. Otto von Münchhausen erwartete, dass bei den Armen durch die Zumutungen des Freihandels »ihr Fleiß aufgemuntert, die Industrie erweckt« werde. Deutlicher formulierte es in den Krisenjahren der englische Agrarreformer Arthur Young: »Every one but an idiot knows that the lower classes must be kept poor, or they will never be industrious«.577 Die Ökonomen blickten trotz aller Reformemphase von oben auf den gemeinen Mann. Dessen moralische und diskursive Ausgrenzung blieb die Voraussetzung für ihre Expertenrolle. Die Lösung der Probleme wollten sie exklusiv formulieren. Bei genauerer Betrachtung zeigen auch die Reformvorschläge selbst, dass die Parteinahme eher strategisch als empirisch bestimmt war. Zumeist brachen sie weit weniger radikal mit den Vorläufern als behauptet. Kaum ein Physiokrat zielte auf die völlige Freigabe des Handels. Stattdessen forderten sie, die Grenzen einfach auf einer höheren Ebene zu ziehen – der des »deutschen Vaterlands«. Statt der kleinteiligen Territorien sollte ein größerer Kultur-, Sprach- und Wirtschaftsraum die Grenzen vorgeben. In ihren Augen zeigte die Notwendigkeit grenzüberschreitender Nahrungstransporte, wie sehr die dynastische Ordnung mittlerweile von den realen wirtschaftlichen Verflechtungen in Deutschland abwich. Mithilfe der Nationalsperre sollten der ökonomische und der politische Raum wieder zur Deckung gebracht werden.578 Dies entsprach nicht nur der Lebenswelt der hochmobilen Experten. Es reflektierte auch den Frühnationalismus im Umfeld der Ökonomischen Gesellschaften, der sich in der Hungerkrise formierte und durch 576 Anon., Wahrheit, 135; Clavell, Beweis, 41. 577 Münchhausen, Kornhandel, 49; Arthur Young, The Farmer’s Tour through the East of England. Being the register of a journey through various counties of this Kingdom, to enquire into the state of agriculture. London 1771, 361. 578 Sandl, Ökonomie. Zur physiokratischen Dialektik von politischem Territorium und Naturraum vgl. Schlögl, Anwesende, 127 f.

Wissensgeschichten des Hungers

273

sie wesentlich befördert wurde. Die Leser der Traktate wurden daher durchweg unter der Chiffre des »Patrioten« adressiert und als Publikationsort zuweilen programmatisch »Deutschland« angegeben.579 Wenn die Ökonomen daher klagten, es wäre »keine allgemeine Sperr im ganzen deutschen Reich entstanden, sondern es ist nur bey vielen einzelnen geblieben,« so spiegelt sich in dieser Perspektive auch die (bis heute bestehende) Hoffnung wider, über ökonomische Integration eine gemeinsame politische Identität zu etablieren.580 Aus dieser Sichtweise folgte, dass Konflikte vor allem in den Außenbeziehungen verortet wurden. Dass die Not auch aus den sozialen Verwerfungen der ständischen Gesellschaft im Inneren resultierte, interessierte die Ökonomen ebenso wenig wie die Gegenmaßnahmen der Betroffenen. Ihr lakonischer Verweis, »[e]s sei noch kein Land verhungert«, illustriert diese Perspektive, die nicht länger auf das leidende Individuum zielte, sondern auf die Staats- und Wirtschaftsgemeinschaft.581 Die diskursive Umwertung vom Volk hin zur Bevölkerung in den 1770er Jahren, ist daher als Beginn des modernen Sicherheitsdispositivs schlechthin gedeutet worden.582 Sie beförderte neue, nationale Ideen, in denen der polymorphe Territorialverband schrittweise einem imaginierten Deutschland Platz machte. Daher bot die Debatte um die Aufhebung der Fruchtsperren innerhalb Deutschlands auch dem Regensburger Reichstag noch eine späte Bühne. Über die Freihandelsdebatte wurden Hungerkrise und deutscher Frühnationalismus eng miteinander verzahnt.583 In Frankreich erschütterten die Debatten um den Nahrungsmarkt die Staatsverfassung und mündeten in innenpolitischen Reorganisationen. Die regionalen Parlamente wurden entmachtet und Kritiker wie Ferdinando Galiani spekulierten offen über den Zusammenhang von Freihandel und Revolution. Er prognostizierte: »Wer es wagt, von Grund auf die Einrichtung des Getreideverkehrs in Frankreich zu ändern, der wird zur selben Zeit auch die Regierungsform geändert haben.« Monarchien könnten keinen Freihandel haben, »wenn sie sich nicht in Republi 579 Etwa bei Fischer, Anmerkungen, der als Publikationsort Deutschland angibt, dessen zwei Auflagen aber tatsächlich in Regensburg und Frankfurt gedruckt wurden, oder in Anon., Der beschämte und gehemmte Kornwucherer, mit einem satyrischen Kupfer. Deutschland [sic] 1771. 580 Fischer, Anmerkungen, 3. 581 Anon., Wahrheit, 132. Ähnlich Münchhausen, Kornhandel, 99: »Wenn einer oder anderer zu Zeiten Noth leidet oder verhungert, so sterben nicht gleich alle Menschen Hungers«. 582 Foucault, Sicherheit, 52–79. 583 Zum Umschlag im Umfeld der Krisenjahre vgl. Jörg Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus: (1770–1840). Frankfurt a. M. 1998, 83–140. Bisher hat die Forschung statt dem Beitrag der neuen Ökonomen vor allem die Sprach- und Kulturgesellschaften in den Blick genommen (ebd., 91–132). Zu dem beide Lager verbindenden Einfluss der Naturmetaphorik vgl. Henrik Schwanitz, Von der Natur zu einer Nation bestimmt. Die Idee der »natürlichen Grenzen« im deutschen Frühnationalismus, in: Jan-Erik Steinkrüger, Winfried Schenk (Hrsg.), Zwischen Geschichte und Geographie, zwischen Raum und Zeit. Berlin 2015, 55–64.

274

Handeln

ken verwandeln wollen.« Damit lieferte die französische Diskussion bereits die zentralen Stichworte für den folgenden Mehlkrieg (1775) und die beginnende Revolutionszeit.584 Im Reichsgebiet bewegte sich die Debatte hingegen im sozialen Rahmen des Ständestaates und verblieb weitgehend im Feld der Gelehrten. Die Abhängigkeit der Ökonomen von der Landesherrschaft war größer und die personellen Überschneidungen von Intellektuellen und Regierungen im ›aufgeklärten Absolutismus‹ besonders eng. In diesem Umfeld erwies sich bereits die Idee eines transterritorialen Wirtschafts- und Schicksalsraumes als radikal und folgenschwer. Zur experimentellen Praxis wurden diese Überlegungen zunächst nur in Ausnahmefällen. Freihandel als Krisenlösung bedeutete einen Bruch mit jahrhundertealten Traditionen und Erfahrungshorizonten. Im Laboratorium der 1770er Jahre lassen sich dennoch erste, lokale Experimente mit diesem Instrument beobachten. Um trotz der zu erwartenden Sperren der Nachbarn überhaupt eine Chance auf Erfolg zu haben, benötigten die Physiokraten günstige Rahmenbedingungen: eine aufgeschlossene und kreditwürdige Obrigkeit, einen oder mehrere hoch­ motivierte Experten und die verkehrsgünstige Lage des Territoriums. Alle Versuche beschränkten sich daher auf den Raum entlang des Rheins.585 Das prominenteste Freihandels-Experiment unternahm man in Neuwied. Hier hatte der Physiokrat Christian Hiskias Heinrich von Fischer den Grafen von Wied-Neuwied von seinen Ideen überzeugen können. Das kleine, reichsunmittelbare Territorium hatte Zugang zur Rheinschifffahrt und sein Regent, Johann Friedrich Alexander, gehörte zu den engagiertesten Vertretern des Reformabsolutismus, der seine Residenz zur Musterstadt auszubauen gedachte. Die Grafschaft wurde regelmäßig zum Ziel von Fruchtsperren durch die umliegenden, größeren Territorien. Schon damals hatte man die Erfahrung gemacht, dass die Zufuhr sich über den Rhein dennoch aufrechterhalten ließ. In der Krise entschied sich der Fürst auf Anraten seines Kanzleidirektors Fischer dazu, aus der Not eine Tugend zu machen, und vermarktete Neuwied als steuerfreien Umschlagsplatz für Getreide. Er ließ entsprechende Schriften veröffentlichen und informierte die Kaufleute persönlich. Enge Handelsbeziehungen nach Köln sorgten für die stetige Zufuhr von Getreide, das anschließend bis nach Franken und Schwaben verkauft wurde.586 Tatsächlich handelte es sich um kaum mehr als eine glorifizierte Freihandelszone. Die Außenwirkung blieb minimal. Keines der umliegenden Gebiete übernahm das neue Modell. Sein Funktionieren war auf die geringe Binnenbevöl 584 Galiani, der Verfasser des einflussreichen Dialogues sur le commerce des blés [London 1770], betonte während der Krise auch den notwendigen Zusammenhang von Freihandel und Demokratie. Weigand (Hrsg.), Briefe, 248 (Brief an Jean-Baptiste-Antoine Suard vom 8.9.1770); 183 (Brief an den Grafen Schomberg, vom 19.5.1770) und 217 (Brief an Baron von Holbach vom 21.7.1770). Zur französischen Krisenkonstellation vgl. Kap. II.3.4. 585 Zuvor hatten in Krisenjahren nur dezidierte Handelsstädte wie Hamburg oder Bremen am Freihandel mit vielen Einschränkungen festgehalten. Vgl. Sasse, Kornteuerungspolitik. 586 Fischer, Genuine Nachricht, 490 f.

Wissensgeschichten des Hungers

275

kerung und den Rheinhandel angewiesen. Die Sperren der Nachbarn bildeten kein Hindernis, sondern sogar die Voraussetzung für das Gelingen dieses Geschäftsmodells. Hätten die Anrainer sie aufgehoben, wäre die kleine Grafschaft direkt der höheren Kaufkraft von Städten wie Trier ausgesetzt gewesen. Die intensive publizistische Begleitung des Experiments zeichnete jedoch ein ganz anderes Bild. Fischer rühmte den Vorbildcharakter Neuwieds mit aufklärerischer Rhetorik. Der irrationalen Furcht vor dem Hunger und dem territorialen Kleingeist hätte das Experiment ein »Licht« entgegengesetzt. Allein mithilfe kluger Ideen habe man der Not abgeholfen. Damit habe letztlich der Geist über die rohe Materie gesiegt. Die Bemühungen der Nachbarn, »ganz Neuwied für Kornjuden« zu erklären, die bloß auf Kosten der Nachbarn lebten, konterte er mit dem selbstbewussten Verweis auf die »göttlichen und weltlichen, natürlichen und positiven Gesetze« des Freihandels.587 Erst über diese Schriften erzielte das Neuwieder Experiment die Breitenwirkung, die ihm in der Praxis verwehrt geblieben war. Durch Vermittlung verschiedener Mittelsmänner zirkulierten sie im ganzen Reich und beeinflussten schließlich auch die Debatten am Reichstag, die 1772 im nominellen Verbot reichsinterner Fruchtsperren gipfelten. Das Beispiel Neuwied diente in diesen Diskussionen weniger als empirisches denn als psychologisches Beispiel für die Bekämpfung von Furcht durch Vernunft.588 Ein zweites Experiment folgte einem weit umfassenderen Reformplan. 1770 hatte Johann August Schlettwein, einer der Vordenker der neuen Ökonomie im Reich, den Markgrafen von Baden-Durlach dazu bewegen können, drei seiner Dörfer zu Modellgemeinden nach physiokratischen Prinzipien umzubauen. Die Veränderungen bezogen sich nicht allein auf den Freihandel, sondern auch auf Agrarverfassung und -technik sowie die Steuerstruktur. Alle Handelsbeschränkungen wurden aufgehoben, die Dreifelderwirtschaft abgeschafft, neue Fruchtsorten eingeführt und Frondienste sowie Naturalabgaben in Geldzahlungen umgewandelt. Das Konzept der Modelldörfer reagierte auf die ständigen Rückschläge, die es in den zehn zurückliegenden Jahren mit einer nur schrittweisen Umsetzung von Reformen gegeben hatte. Am Beginn der Krisenjahre gewann hingegen eine radikale Umgestaltung an Attraktivität.589 Vor allem der Ort Dietlingen hatte immer wieder für Probleme gesorgt. Die Einwohner waren nicht in der Lage, ihren Nahrungsbedarf zu decken. Wiederholt 587 Ebd., 485, 493, 496. Vgl. auch Ders., Anmerkungen sowie Ders., Gedanken über das Reichsgutachten vom 7ten Febr. 1772 die Getreid-Sperre betreffend. Frankfurt a. M. 1772. Die ersten beiden Schriften erschienen anonym, wurden vermutlich aber wohl ebenfalls von Christian Hiskias Heinrich von Fischer verfasst. 588 Vgl. unten Kap. 5.1. 589 Helen P. Liebel, Enlightened Bureaucracy Versus Enlightened Despotism in Baden, 1750–1792 (Transactions of the American Philosophical Society 55). Philadelphia 1965, 40–48. Liebel erwähnt die flankierende Hungerkrise ebenso wenig wie die meisten Studien zum physiokratischen Experiment in Baden.

276

Handeln

hatten sie herrschaftliches Getreide erhalten, ohne die Kosten zurückzuerstatten. Ein Freihandelsregime wie in Neuwied bot sich daher schon aus Kostengründen an. Zu Beginn der Krise baten zudem mehrere Familien um die Erlaubnis zur Auswanderung, da ihre Felder, »durch die waßergüße so verderbt worden wären«, dass sie kaum Aussicht auf eine Ernte hatten. Sie wollten mehreren Nachbarn folgen, die das Dorf bereits in Richtung Amerika verlassen hatten.590 In diesem Umfeld ernannte der Markgraf Schlettwein zum Kammerrat und erteilte die Erlaubnis zur Umsetzung seiner radikalen Pläne. In der Praxis stieß das Projekt jedoch umgehend auf Widerstand. Die Umsetzung der vielen Neuerungen ließ sich, zumal inmitten der schweren Missernten, nicht kurzfristig umsetzen. Zudem fehlte es dem begeisterten Physiokraten Schlettwein zwar nicht an Ideen, wohl aber an jedweden belastbaren Informationen. Bereits die Berechnung der geplanten Einheitssteuer drohte daran zu scheitern, dass sich nicht einmal das Nettoprodukt der Haushalte ermitteln ließ.591 Im Sommer 1771 brachen Schlettwein und der Markgraf daher nach Frankreich auf, um sich in einem letzten Versuch Rat bei den Erfindern der neuen Ökonomie zu holen.592 Als sie Paris erreichten, war die Freihandelspolitik dort jedoch bereits unter dem Druck der Missernten zusammengebrochen. Mit der Rückkehr zur Regulation unter der Regierung Terray verloren auch die Ideen ihrer Gesprächspartner Victor Riquetti de Mirabeau und Pierre Samuel du Pont erheblich an Ansehen. Zudem scheiterten alle Versuche des Markgrafen, den französischen économistes außer großen Theorien auch pragmatische Konzepte zu entlocken. Mirabeau lobte ihm gegenüber zwar ausführlich die physiokratischen Generalprinzipien als neue »Wissenschaft«, die endlich auf »Naturgesetzen« gründe. Er rühmte die Freiheit des Menschen und des Eigentums und forderte den Fürsten wiederholt auf, die neue Lehre in allen Schulen lehren zu lassen. Eine konkrete Antwort darauf, wie seine Neuerungen im extrem zerstückelten, kleinbäuerlichen Umfeld Badens umzusetzen seien, blieb er jedoch auch nach mehrfachen Nachfragen schuldig.593 Vor Ort in den Experimentaldörfern wurde rasch deutlich, dass die eingeleiteten Umstellungen erfolglos blieben und die Krise eher noch verschärften. Die kurzfristigen Verbesserungen gingen nicht auf die Gewerbefreiheit, sondern allein auf die Anschubinvestitionen des Markgrafen zurück. Gleichzeitig hatte sich die drückende Verschuldung der Dietlinger unter dem neuen Modell rapide erhöht. Die beiden anderen Dörfer, in denen die Umstellung erst auf dem Höhepunkt der Krise im Dezember 1771 begonnen hatte, produzierten sogar noch weit schlechtere Resultate. Als Schlettwein und der Markgraf von ihrer Informationsreise zurück 590 Fertig, Auswanderungspolitik, 85 f. 591 Schlettwein verwies selbst auf den katastrophalen Informationsstand. Es brauchte fast 20 Jahre bis die von ihm angeregte Erhebung von »Data« per Generalvisitation zumindest zur Hälfte abgeschlossen war. Schlettwein, Nachricht, 484 f.; Liebel, Bureaucracy, 52. 592 Ebd., 48. 593 Liebel, Bureaucracy, 49.

Wissensgeschichten des Hungers

277

kehrten, befanden sich einige der auswanderungswilligen Dietlinger daher längst in Amerika.594 In der Folge wurden alle Neuerungen schrittweise wieder aufgehoben. Nach gewaltsamen Hungerprotesten führte ganz Baden-Durlach wieder Fruchtsperren und Regulationen ein. Schlettwein selbst musste Baden 1773 verlassen. Statt mit bürgerlichen Experten bestückte der Markgraf seine Verwaltung nun wieder mit adeligen Beamten.595 Auch in diesem Fall stellten die Schriften der Reformer die Verhältnisse jedoch ganz anders dar. Sie bahnten einer positiven Rezeption der Reformen den Weg, die ähnlich wie in Neuwied nur vage Bezüge zu den Geschehnissen vor Ort aufwiesen.596 In der Praxis waren die physiokratischen Reformen vor allem daran gescheitert, dass sie sich allein für die Produktion und nicht für die Verteilung der Güter interessierten. Letzteres hätte Änderungen der Staatsverfassung erfordert, die auch der Fürst bei aller Reformfreude vehement ablehnte.597 Der unauflösbare Widerspruch von ständischer Herrschaft und liberaler Ökonomie, von Idee und Erfahrung trübte das Selbstbewusstsein der Experten jedoch kaum. Schlettwein schwärmte in seinen Texten weiterhin von den angeblich durch die Reformen freigesetzten Kräften.598 Anderswo machte man ähnliche Erfahrungen. In Basel leitete man in den Krisenjahren freihändlerische Reformen ein, die von Beginn an als Experiment geplant waren. So sollten Nachsteuerungen möglich bleiben und grundlegende Änderungen der Herrschaftsverhältnisse ausgeschlossen werden.599 Nach wiederholten Kehrtwenden wurden sie 1771 aufgrund ausbleibender Erfolge und dem Druck der Bevölkerung ganz abgeschafft. Auch hier hinderte dies den führenden Kopf, Isaak Iselin, nicht daran, in seinem europaweiten Korrespondentennetzwerk die Erfolge des Freihandels zu rühmen.600 In der Logik der Experten ließen sich selbst große Rückschläge, wie das Ende der Liberalisierung in Frankreich, mit schlechter Planung statt mit sozialen Widersprüchen erklären.601 594 Hacker, Auswanderung aus Baden, Nr. 10744; Liebel, Bureaucracy, 50–52. 595 Zimmermann, Noth, 108; Liebel, Bureaucracy, 48. 596 Vgl. Johann August Schlettwein, Les moyens d’arreter la misere publique et d’acquitter les dettes des etats. Karlsruhe 1772 und seine Zusammenfassung in: Ders., Nachricht. Zur anschließenden Wirkung Schlettweins etwa in Basel vgl. Mattmüller, Hungersnot, 271. 597 Zimmermann, Noth, 118; Liebel, Bureaucracy, 51. 598 »la liberté la plus étendue du commerce; l’agriculture la plus florissante & la plus riche; l’industrie la plus active« Schlettwein, Moyens, 93. Zur Debatte um Physiokratie und Revolution vgl. Graber, Marktsteuerung, 133. 599 Graber, Marktsteuerung, 138. 600 Mattmüller, Hungersnot, 283–289. Ähnlich verfuhr Albrecht von Haller in seiner Korrespondenz, der sich in Bern mit entsprechenden Ideen nicht durchsetzen konnte. Martin Stuber, Stefan Hächler, Ancien Régime vernetzt. Albrecht von Hallers bernische Korrespondenz in: Bernische Zeitschrift für Geschichte und Heimtakunde 62, 2000, 125–190; Graber, Marktsteuerung, 135. 601 Fischer, Gedanken, 9.

278

Handeln

Im Rückblick erschienen die Hungerjahre den Ökonomen daher als Wendepunkt und Beginn ihres Erfolges. Diese Krise blieb über Jahrzehnte Referenzpunkt der Debatte.602 Adam Smith nutzte die Hungerjahre in seinem 1776 veröffentlichten Wealth of Nations als zentrales Argument für den Freihandel und bereitete so der Etablierung der Nationalökonomie als eigenem Wissensfeld den Weg.603 Dabei fiel kaum ins Gewicht, dass die praktischen Fehlschläge während der Krise harsche Kritik auch von Aufklärern auf sich gezogen hatte. Friedrich Nicolai verspottete den Freihandel in seinem Nothanker als Ideologie und unterstützte die Sperr- und Magazinpolitik Friedrichs II.604 Andere gestanden sich ein, dass der Freihandel zwar im Allgemeinen nützlich sei, in akuten Witterungskrisen jedoch an seine Grenzen stieß. Angesichts der fortbestehenden ständischen Verfassung seien Regulationen zugunsten der Ärmsten unvermeidlich.605 Besondere Verachtung rief dabei der Hang der Physiokraten zu selbstverliebter Abstraktion und zur Argumentation mit Autoritäten statt mit Fakten hervor. Der bayerische Regierungsrat von Stubenrauch resümierte: »Eine blosse Erfahrung ist mir lieber, als eine schön geschminkte Theorie, bei der ein ganzes Volk verhungern kann«.606 Aus dem gleichen Grund stoppte die Göttinger Akademie der Wissenschaften schließlich sogar ihr europaweites Preisausschreiben zu diesem Thema. Sie beobachtete, dass die Debatte auf beiden Seiten vorwiegend ideologisch statt empirisch geführt werde. Die eingesandten Theorien seien zwar »schön und reizend« zu lesen, ignorierten aber konkrete Praxiserfahrungen, wie die lokalen Kaufkraftunterschiede zugunsten »allgemeine[r] Raisonnements«. Zudem werde der »Begriff der Freyheit, der 602 Günther Heinrich von Berg, Handbuch des Teutschen Policeyrechts, Bd. 3. Hannover 1803, 143 f.; Anon.: Wahrheit, IV–XI; Hazzi, Betrachtungen, 23–76; Anon., Unterthänigst-gehorsamster Bericht an Se. Churfürstliche Durchleucht etc. etc. zu Pfalzbaiern vom Magistrate der Churfl. Haupt- und Residenzstadt München d. d. 6 ten Jul. 1792 in Betreff der Geitreidsperren und des freyen Getreidhandels etc. München 1795, 9, 55. 603 Laut Smith seien die Hungersnöte in Bengalen und Polen nicht durch das Klima, sondern durch staatliche Interventionen ausgelöst worden. Adam Smith, An Inquiry into the Nature and the Causes of the Wealth of Nations. London 1776, Bd. 2, 109f, 249. In der Ausgabe von 1847 (S. 215) wurden diese Beobachtungen nach offenbar eingehender Beschäftigung noch ausgebaut. Zur Verbreitung und Institutionalisierung seiner Hunger-Thesen sowie der Rezeption durch Robert Malthus vgl. Davis, Holocausts, 31. 604 »Seitdem die ökonomischen Principien aus Frankreich bey uns Mode worden sind, und alles ruft: fahrt nur viel Korn weg, so werdet ihr viel haben, ist in meinem Vaterlande und in den benachbarten Gegenden so oft Kornmangel, daß es sich der Mühe belohnt, ein Kornhändler zu seyn«. Friedrich Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker, Bd. 1. Berlin 1773, 120. Zur Begeisterung für Friedrichs interventionistische Politik vgl. FN. 989. 605 In Baden konstatierte der Physiokrat Joseph Friedrich Enderlein: »Wann die Theuerung […] von Misswachs und Zerstöhrung herrüret, da hat die Staats-Wirthschaft kein Pflaster vor die Wunde«. Zit nach Zimmermann, Noth, 118, FN 74. Ähnliche Positionen vertraten Justi, Abhandlung; Sonnenfels, Abhandlungen oder Bergius, Abhandlung. 606 Zit. nach Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 156.

Wissensgeschichten des Hungers

279

dem zu Grunde liegt, […] so unbestimmt gebraucht«, dass er für das Handeln vor Ort nutzlos bleibe. Eine Preisvergabe sei daher nicht möglich.607 Tatsächlich profitierten letztlich aber beide Seiten – traditionelle Kameralisten wie Physiokraten – von der Debatte. Ihr Streit in der Notzeit etablierte die Ökonomie dauerhaft als eigenes Wissens- und zunehmend auch als Berufsfeld. In den Folgejahren dominierten wirtschaftliche Ansätze trotz der mageren Erfolge. In allen späteren Krisen genossen ökonomische Deutungen bei den Obrigkeiten Priorität gegenüber sozialen, religiösen oder naturwissenschaftlichen Ansätzen.608 Bis heute besteht das Missverhältnis zwischen der Rezeption dieser Debatte in der Forschung und ihrer praktischen Relevanz fort. Dabei tritt oft zurück, dass die ambitionierte Theoriebildung der Ökonomen Krisenkonjunkturen folgte, weitgehend auf Spekulation fußte und in der Umsetzung zumeist scheiterte.609 Der Siegeszug der Ökonomen beruhte zu diesem Zeitpunkt nicht auf Fakten, sondern auf geschickter Kommunikation in eigener Sache und wurde wesentlich durch den Impuls der Hungerjahre befördert. Ihren Aufschwung verdankten sie nicht praktischen, sondern publizistischen Erfolgen. Statt in einem revolutionären Konflikt von Ökonomie und Ständestaat mündeten sie daher auch in der weitgehend reibungslosen Integration der neuen »Expertokraten« in die Verwaltungen – ein Vorgang den man auch als Paradox der »gleichzeitigen Stärkung von Markt und Staat« bezeichnet hat.610 Die Debatte um den Freihandel illustriert, wie Ökonomen die Hungerkrise nutzten, um ihr Wissensfeld zu etablieren und zu professionalisieren. Damit verweist sie zum einen auf die eigenwillige Sozialisierung klimatischer Impulse. Zum anderen verdeutlicht sie die soziale Gebundenheit von Prozessen der Ideen-, Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte.

4.2. Medikalisierungen Die Ärzteschaft bildete die zweite große Expertengruppe, die den Hunger für sich zu nutzen versuchte. Auch ihre Vertreter bewegten sich Ende des 18. Jahrhunderts 607 Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen unter Aufsicht der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften 86, 1773, 729–738. Auf die Frage, »[i]st die Theorie, daß niemals die Ausfuhr der Kornfrüchte zu verbieten [sey], auch auf die Churbraunschweigischen Lande anzuwenden«, waren sechs Preisschriften eingegangen, von denen zwei für Sperren und vier für den Freihandeln plädiert hatten. 608 Vgl. Behringer, Tambora, 62–64; Ó Gráda, Famine, 137–142; Davis, Holocausts, 25–59. 609 Reinhold Reith, Abschied vom ›Prinzip der Nahrung‹? Wissenschaftliche Reflexionen zur Anthropologie des Marktes, in: Thomas Brandt, Norbert Buchner (Hrsg.), Nahrung, Markt oder Gemeinnutz? Werner Sombart und das vorindustrielle Handwerk. Bielefeld 2004, 37–66; Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 155. 610 Birger P. Priddat, Kameralismus als paradoxe Konzeption der gleichzeitigen Stärkung von Markt und Staat. Komplexe Theorielagen im deutschen 18. Jahrhundert, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 31, 2008, 249–263, hier 257.

280

Handeln

zunächst in einem prekären Berufsumfeld. Der wachsenden Zahl akademisch ausgebildeter Mediziner stand in der Heilpraxis ein breites Panorama konkurrierender Heilberufe gegenüber – vom Chirurgen über Apotheker bis zum Wundarzt. Die vehemente Delegitimierung der Konkurrenten als »Pfuscher«, »Scharlatane« oder »Quacksalber« reflektierte die heftigen Bemühungen der Ärzteschaft um professionelle Dominanz.611 Dies galt umso mehr, als die Ärzte den meisten Krankheiten ebenso hilflos gegenüber standen wie ihre Konkurrenten. Da die Erreger und die Ätiologie innerer Erkrankungen beiden Seiten gleichermaßen unbekannt waren, konnten die Ärzte nicht einfach mit besseren Heilerfolgen aufwarten. Stattdessen suchten sie den fehlenden therapeutischen Vorsprung über die enge Anlehnung an den Staat zu kompensieren. In dem Bewusstsein, dass nur die Obrigkeiten in der Lage waren, ihre sozialen Ambitionen auch finanziell abzusichern, empfahlen sich die Ärzte als sozialdisziplinierende Ordnungsstifter und »Weltspezialisten«.612 Als Türöffner dienten ihnen zwischen 1750 und 1800 Seuchenprävention und -bekämpfung. Nur angesichts der verheerenden sozioökonomischen Folgen von Epidemien waren die Obrigkeiten bereit, von ihrer Ablehnung einer teuren, verbeamteten Medizinerschaft abzurücken.613 Den Hungerjahren um 1771 kam in diesem Professionalisierungsprozess der Ärzteschaft eine Schlüsselfunktion zu. Durch die Seuchenzüge der Krisenjahre beschleunigte sich die Zusammenarbeit von Ärzten und Landesherrschaften erheblich. Im Rahmen einer intensivierten Medizinalpolizey entstanden nun professionelle Sanitätskollegien und Amtsärzteschaften. Dabei lässt sich exemplarisch beobachten, wie der Prozess der ärztlichen Selbstermächtigung und Kooptation mit der Medikalisierung weiter Teile des Krisengeschehens verflochten war. Aus gesellschaftlichen Konflikten wurden nun medizinische Fälle. Statt der Armut behandelte man jetzt Krankheiten. Davon profitierten beide Seiten gleichermaßen. Die Obrigkeiten befreite die Umwertung des Geschehens vom sozialen zum medizinischen Problem von ihrer Verantwortung für die Krise. Die Ärzte wiederum weiteten auf diese Weise ihren Zuständigkeitsbereich aus, erschlossen sich neue Einkommensmöglichkeiten und festigten ihren Status gegenüber der medizinischen Konkurrenz. In der Folge wurden statt der gesellschaftlichen Ursachen immer häufiger die medizinischen Symptome der Not bekämpft. Damit beginnt ein Prozess, der die staatliche Hungerpolitik teilweise bis heute prägt. Die Anthropologin Nancy Sheper-Hughes hat diese Medikalisierung des Hungers mit den Worten umrißen: »Ein hungernder Körper kritisiert die Herrschenden, ein kranker Körper beschuldigt niemanden.«614 611 Christian Barthel, Medizinische Polizey und medizinische Aufklärung. Aspekte des öffentlichen Gesundheitsdiskurses im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1989, 40–53. 612 Ebd., 25. Die Selbststilisierung als Experte spielte in diesem Umfeld eine überragende Rolle und hat den Arzt geradezu zum Idealbild dieses Soziotyps werden lassen. Vgl. Eliot Freidson, Die Dominanz der Experten. Zur sozialen Struktur medizinischer Versorgung. München 1975. 613 Barthel, Polizey, 102 f. 614 Russell, Hunger, 137–157, hier 156.

Wissensgeschichten des Hungers

281

Möglich wurde diese Instrumentalisierung der mit dem Hunger assoziierten Epidemien dadurch, dass sie ›soziale Krankheiten‹ bilden. Ihre Inzidenz und ihr Verlauf folgen weniger klimatischen oder biologischen als vielmehr gesellschaftlichen Faktoren. Es ist nicht die Nässe oder die Mangelernährung, die sie zum beständigen Begleiter historischer Hungerkrisen macht. Die Seuchen verbreiten sich in Krisenzeiten deshalb, weil mehr Menschen auf der Suche nach Nahrung unterwegs sind, in unhygienischen Umständen leben und auf diese Weise Infektionen und Ausbreitung begünstigen. Migration und Armut bilden die entscheidenden Auslöser. Erst dieser gesellschaftliche Umweg verknüpfte Klima und Krankheit. Die Hungerkrankheiten bilden damit nicht nur ein eindringliches Beispiel für die intensiven, aber oftmals indirekten sozionaturalen Verflechtungen der Krisenjahre. Die gesellschaftliche Komponente machte es den Zeitgenossen auch besonders einfach, die Hungerkrankheiten für disziplinierende und moralisierende Zwecke zu vereinnahmen. Die Biologie des Hungers umfasst ein breites Wissensfeld. Krankheiten und Seuchen gehörten zu den verheerendsten Begleiterscheinungen von Hungerkrisen. Auf sie ging der weitaus größte Teil der Todesopfer und der sozialen Verwerfungen zurück. Dennoch ist das Wissen über historische Epidemien begrenzt. Synthetische Forschungen von Geschichts- und Medizinwissenschaft existieren kaum.615 Seit sich Fleckfieber, Typhus und Ruhr mit Antibiotika behandeln lassen, werden sie nur noch selten zum Gegenstand medizinischer Forschung. Viele Erkenntnisse beruhen heute noch auf Studien, die unter fragwürdigen Umständen während des Zweiten Weltkriegs entstanden sind.616 Eine Historische Epidemiologie, wie sie einst nicht zuletzt in Reaktion auf die Krise der 1770er Jahre entstand, wird heute kaum noch betrieben. Komplementäre oder interdisziplinäre Forschungsfelder, wie die medical humanities, sind weiterhin kaum institutionalisiert.617 In vielen Fällen stellt daher bereits die retrospektive Identifikation historischer Krankheiten eine große Herausforderung dar. Aus den 1770er Jahren existieren 615 Die entsprechende Forderungen bereits bei Pfister, Demographie, 99; Massimo Livi-­ Bacci, Population and Nutrition. An Essay on European Demographic History. Cambridge 1991, bes. 34–47 sowie Folke Henschen, Grundzüge einer historischen und geographischen Pathologie. Berlin 1966, 9. 616 Zum Minnesota-Experiment, bei dem an Kriegsdienstverweigerern wesentliche Daten zu den Gesundheitsfolgen langfristiger Unterernährung und dem Refeeding-Prozess gewonnen wurden, vgl. Russell, Hunger, 113–136. Zu den wegweisenden Hungerstudien jüdischer Ärzte im Warschauer Ghetto vgl. Charles G. Roland, Courage under Siege. Starvations, Disease and Death in the Warsaw Ghetto. New York 1992 sowie: Myron Winick (Hrsg.), Hunger Disease. Studies by Jewish Physicians at the Warsaw Ghetto. New York 1979. Auch der erste Fleckfieber-Impfstoff beruhte auf KZ-Studien: Vgl. Arthur Allen, The Fantastic Laboratory of Dr. Weigl. How Two Brave Scientists Battled Typhus and Sabotaged the Nazis. Norton 2014. 617 Vgl. Hecker, Heilkunde, Bd. 1. Hecker war der Begründer der Historischen Epidemiologie und einer der ersten Professoren für die Geschichte der Medizin. Zur aktuellen Entwicklung vgl. Monica Greco, Logics of Interdisciplinarity. The Case of Medical Humanities, in: Andrew Barry, Georgina Born (Hrsg.), Interdisciplinarity. Reconfiguration of the Social and Natural Sciences. London 2013, 226–246.

282

Handeln

zwar erstmals präzise Fallbeschreibungen, da sie den Ärzten als wichtiger Ausweis ihrer Professionalität dienten.618 Dennoch bleiben große Unsicherheiten. Zum einen können sich schnelllebige bakterielle Erreger über die Jahrhunderte hinweg deutlich verändern. Zum anderen benötigt die Beschreibung von Krankheiten detailliertes Vorwissen und ist ebenso wie die Wahrnehmung der Symptome stark kulturell geprägt.619 Hinzu traten oftmals auch politische Interessen, etwa bei der Diagnose der Epidemie im umkämpften Polen als der (Beulen-)Pest. Die Vielfalt der Beschreibungen sowie die Analyse der Verteilung nach Jahreszeit, Alter und Geschlecht ermöglichen dennoch belastbare Vermutungen zu den zentralen Krankheiten.620 In den akuten Krisengebieten litt die Bevölkerung offenbar direkt an den Folgen extremen Hungers. Der menschliche Körper verfügt zwar über einen belastbaren und ausgefeilten Hungerstoffwechsel. Er fängt die häufigen Versorgungsengpässe auf und erlaubt über verschiedene Mechanismen die Substitution fehlender Energiezufuhr – etwa durch Stoffwechselreduktion und Ketose. Sie machen es erstaunlich schwer, allein an Unterernährung zu sterben.621 Mehrjährige Mangelphasen, wie sie während einer double-back-famine auftreten, können diese Anpassungsleistungen aber nicht kompensieren. In den Hungerzonen des Erzgebirges oder des Eichsfelds starben Menschen daher wohl auch unmittelbar an Auszehrung in der Folge von Mangelerkrankungen wie Marasmus und Kwashiorkor.622 Moderne Studien zeigen, dass ein solches Ausmaß an Unterernährung neben akuten auch langfristige Folgen zeitigt, sowohl für die körperliche als auch für die geistige Entwicklung der Betroffenen und ihrer Nachkommen.623 Der Großteil der Toten starb aber an infektiösen Krankheiten, die sich epidemisch ausbreiteten. Dazu gehörten: 1. Die Pest. Die Jahre 1770–1772 werden zumeist als letzter Ausbruch der Beulenpest in Europa angesehen. Die Seuche erreichte aus der Türkei kommend Russland und weite Teile Osteuropas. Sie blieb in der Virulenz zwar hinter früheren 618 Jutta Dornheim, Wolfgang Alber, Ärztliche Fallberichte des 18. Jahrhunderts als volkskundliche Quelle, in: Zeitschrift für Volkskunde 78, 1982, 28–43. 619 In Lippe beschwerte sich etwa der Hofstatistiker über die unsicheren Angaben in Sterbebüchern: »Und sobald einer in der Hitze des Fiebers, es sey von welcher Gattung es wolle, nur ein wenig phantasiert, so hat der die Hauptseuche? Ein Abradabra«. Zit. nach Freitag, Krisen, 114. Zur religiösen und konfessionellen Rahmung dieser Hauptkrankheit bzw. des Fleckfiebers vgl. Andreas Bähr, Die Semantik der Ungarischen Krankheit. Imaginationen von Gewalt als Krankheitsursache zwischen Reformation und Aufklärung, in: Claudia Ulbrich u. a. (Hrsg.), Gewalt in der Frühen Neuzeit. Berlin 2005, 359–371. 620 Post, Nutritional Status; Ders., Crises. 621 Russell, Hunger, 17–94. 622 Vgl. Kap. II.3.3. 623 Baten, Ernährung; Susanne R. de Rooij u. a., Prenatal Undernutrition and Cognitive Function in Late Adulthood, in: Proceedings of National Academy of Sciences of the United States 107, 2010, 16881–16886; Sven Neelsen, Thomas Stratmann, Effects of Prenatal and ­Early Life Malnutrition. Evidence from the Greek Famine (CESifo working paper 2994). München 2010.

Wissensgeschichten des Hungers

283

Ausbrüchen zurück und drang vermutlich auch nicht bis ins Zentrum Europas vor. Dennoch gehörte ihr flankierendes Auftreten zu den spektakulärsten Aspekten des zeitgenössischen Krankheitsgeschehens. Ihre zuverlässige Identifizierung machte jedoch bereits den Zeitgenossen Mühe, da ihre Symptome anderen Hungerkrankheiten ähnelten, in der Ausprägung oft uneindeutig blieben und zudem das charakteristische Rattensterben fehlte.624 Die Begriffe Pest und Fieber wurden daher oft synonym benutzt und projizierten so tiefsitzende Ängste auf andere, weniger bedrohliche Krankheiten.625 Informierten Beobachtern stand zudem klar vor Augen, dass die Identifizierung der Seuchen als Pest auch politisch instrumentalisiert wurde. Dies galt vor allem für Polen, wo sie den externen Konfliktparteien als Vorwand für die Errichtung militärischer Sanitätskordons diente. Sie legitimierte die Vorverlegung der Grenze auf polnisches Gebiet und nahm so die spätere Teilung bereits vorweg.626 Die Vereinnahmung besaß aber einen plausiblen Hintergrund, da die Pest historisch mehrfach im Zusammenhang mit Missernten und Hungerjahren aufgetreten war. Eine Kausalbeziehung zwischen Klima und Krankheit konnte bisher aber nicht plausibel gemacht werden. So ist der alleinige Übertragungsweg über den Rattenfloh zuletzt in Frage gestellt worden. Überlegungen zu einem Zusammenhang mit Umweltimpulsen bleiben dennoch umstritten und sind bestenfalls indirekt denkbar. Auch der Ernährungszustand der Opfer hat keine Auswirkungen auf die Infektion mit dem Bakterium Yersinia pestis.627 Möglicherweise begünstigten stattdessen Truppenbewegungen und Migrationen im Zuge des Fünften Russisch-Türkischen Kriegs (1768–1774) und des Konflikts um Polen ihre Verbreitung. In den zentraleuropäischen Hungergebieten spielte die Pest vor allem eine Rolle als Folie für populäre Ängste und als Legitimation ärztlicher Kontrolle. Hier vertraten Experten die Meinung, die Krankheit könne gleichermaßen auch eine »Pest des Staats genennet werden, wenn man darin faule Mitglieder, schlechte Schulen, schlechte Erziehung [versteht].«628 2. ›Fieber‹. Das Fleckfieber bildete die klassische Hungerkrankheit der Frühen Neuzeit und war 1771/72 vermutlich für einen Großteil der Opfer in Europa verantwortlich. Zeitgenossen bezeichneten die Erkrankung als Faulfieber, Haupt 624 John T. Alexander, Bubonic Plague in Early Modern Russia. Public Health and Urban Disaster. Baltimore, London 1980, 101–111, 292 sowie Vasold, Hungerkrise, 130–134, der – ebenso wie einige Zeitgenossen – eine atypische Form des Fleckfiebers für möglich hält. 625 Wöchentliche Nachrichten von Gelehrten Sachen [Regensburg] 20, 1771, 155. 626 Vgl. unten Kap. 5.3. 627 Alexander (Bubonic Plague, 102, 107, 239, 299) vermutete eine enge Verbindung von Seuche und Todesfällen mit der Klimaanomalie und der Hungersnot. Eine ausführliche Diskussion möglicher Vektoren und klimatisch induzierter Mutationen bietet Campbell, Transition. Einen verzögerten Zusammenhang mit Klimaimpulsen in Zentralasien, wo Nagetiere dem Pestbakterium als Reservoir dienten, behaupten: Boris V. Schmid u. a., Climate-Driven Introduction of the Black Death and Successive Plague Reintroductions into Europe, in: Proceedings of National Academy of Sciences of the United States 112, 2015, 3020–3025. 628 Churbaierisches Intelligenz Extra Blatt vom 28.10.1770, o. P.

284

Handeln

krankheit oder, aufgrund der engen Verbindung mit Nahrungskrisen, als Hungerfieber. Betroffene entwickelten Kopfschmerzen und einen Ausschlag, der mit hohem Fieber und Bewusstseinsstörungen einherging. In Ermangelung wirksamer Antibiotika endete sie bei 15–40 Prozent der Infizierten mit dem Tod.629 Die Krankheit trat weltweit auf und verbreitete sich in den Krisenjahren in fast ganz Europa. In Polen, Böhmen, Skandinavien, dem Alpenraum sowie den östlichen und südlichen Teilen des Reiches erreichte sie epidemische Ausmaße mit zahlreichen Todesopfern.630 Das verursachende Rickettsien-Bakterium wurde erst Anfang des 20. Jahrhunderts als Erreger identifiziert. Es nutzt Kleiderläuse als Wirt und wird durch ihren Biss oder Kot auf den Menschen übertragen. Für seine Verbreitung und Infektion sind weder die Witterung noch der Ernährungsstatus des Opfers relevant. Zur Seuche entwickelt Fleckfieber sich aufgrund von sozialen Faktoren. Um 1770 begünstigten etwa beengte Wohnverhältnisse, verminderte Hygiene und die erhöhte Migration die Übertragung.631 Auch das weitverbreitete Verpfänden von Kleidern oder das durchgehende Tragen der letzten verbliebenen Garnitur förderte die Infektionsgefahr.632 Weitere fiebrige Erkrankungen wie Typhus oder das Rückfallfieber wurden erst im 19. Jahrhundert als eigene Krankheiten erkannt. Auch ihre Erreger, Salmonellen und Borrelien in Läusen, profitierten von verändertem Sozialverhalten, nicht von Unterernährung oder Klima.633 3. Die Pocken/Blattern. Im 18. Jahrhundert, dem »Zeitalter der Pocken«, war diese Viruserkrankung ebenso wie Masern und Röteln dauerhaft präsent.634 Sie wurde direkt von Mensch zu Mensch übertragen, tötete unbehandelt etwa 30 Prozent der Infizierten und hinterließ bei den Überlebenden zumeist lebenslange Immunität. Dass auch sie in den Hungerjahren 1740 und 1770–1772 epidemische Ausmaße annahm, kann daher auf Zufall beruhen. Vermutlich sorgten aber auch hier Nahrungsmigration und Wanderbettelei dafür, dass sie sich rascher unter der noch nicht immunisierten, jüngeren Population verbreiten konnte.635 Ihre herausgehobene Rolle im epidemiologischen Diskurs der Zeit verdankte sie der 629 Anthony Fauci (Hrsg.), Harrison’s Internal Medicine. New York 1998, 1049; Henschen, Grundzüge, 78. Die ermittelten case fatality rates entsprechen ungefähr den historischen Angaben. Vgl. Arand, Abhandlung, 3; Militzer, Klima, Kap. 5.11.1.1. und Tab. 38. 630 Eine ausführliche Quellen- und Verlaufsanalyse bietet: Hecker, Heilkunde, 153–200. Zur retrospektiven Identifizierung der Krankheit und ihrer europäischen Dimension vgl. Vasold, Hungerkrise, 121–123; Imhof, Bevölkerungsentwicklung, 409 f., 498; Post, Mortality, 42–48 sowie Wenzel Johann Nepomuk Langsvert, Historia Medica Morbi Epidemici Sive Febris Putridae Anni 1771 & 1772. Prag 1775. 631 Zur Verbreitung der Seuche entlang der Migrationsrouten bis nach Ungarn vgl. Kap. IV.2.6. 632 Basedow, Anschläge, 30. 633 Post, Mortality, 45 f. 634 Reith, Umweltgeschichte, 24. 635 Vgl. Lausitzisches Magazin, 1771, 308 f.; Post, Mortality, 46; Behringer, Kulturgeschichte, 153.

Wissensgeschichten des Hungers

285

Tatsache, dass allein gegen sie eine effektive Impfung existierte. Damit bot sie ein seltenes Beispiel, an dem Ärzte ihre Fähigkeiten gegenüber Wundärzten und der impfskeptischen Bevölkerung herausstellen konnten. 4. Dysenterien. Durchfallerkrankungen wie die Ruhr traten in den Hungerjahren in zahlreichen, kaum zu unterscheidenden Formen auf. Die Bevölkerung führte ihr Auftreten zumeist auf den Verzehr ungewohnter und minderwertiger Notnahrung zurück. Die Infektionen konnten durch Bakterien, Viren oder Parasiten versursacht und bei bereits geschwächten Opfern bis zum Tod führen. Damit bilden sie die eine Krankheitsgruppe, für die tatsächlich der Ernährungszustand der Betroffenen eine Rolle spielte. Ihre Ausbreitung folgte aber ebenfalls primär sozialen Faktoren. Sie ging weniger auf die Witterung als vielmehr auf schlechte Hygiene in Armenhäusern oder bei den Reisenden zurück.636 Im Diskurs der Ärzte entwickelten sie sich daher zu einem zentralen Feld, auf dem die traditionelle Säftelehre und Contagions-Theorie miteinander konkurrierten. 5. Ergotismus. Die Vergiftung mit dem Mutter- oder Hungerkorn-Pilz (Claviceps purpurea) war die einzige Erkrankung, die wesentlich auf klimatische Impulse zurückging. Der Pilz befiel das Getreide verstärkt in feuchten Jahren und gehörte in der regensensitiven Agrarkultur Mitteleuropas zu den regelmäßigen Begleiterscheinungen von Hungerkrisen. Der Verzehr von befallenem Getreide führte zu Halluzinationen und Durchblutungsstörungen bis zum Herzstillstand und wurde als Antoniusfeuer oder Kribbelkrankheit bezeichnet. Allerdings war die Gefahr einer Infektion über befallenes Getreide um 1770 durchweg bekannt. Teilweise wurde der Pilz sogar medizinisch oder rekreativ gebraucht.637 Dass es trotz zahlreicher Warnungen und Mandate dennoch verbreitet zu Erkrankungen kam, ist daher weniger auf die Witterung als vielmehr auf die Armut der Betroffenen oder die Gewinnsucht der Bäcker zurückzuführen, die ungeachtet der Gefahr befallenes Korn verwendeten.638 Da in diesem seltenen Fall der Übertragungsweg eindeutig identifiziert war, bot die Einrichtung spezieller Hospitäler den Ärzten die seltene Möglichkeit, die Effektivität ihres Fachwissens zu demonstrieren.639 636 Beyer, Chronik, 164; Post, Nutritional Status, 259 f. 637 Camporesi, Brot, 159–163. Der Antoniter-Orden widmete sich bereits seit dem Mittelalter speziell dieser Krankheit, und das Erfurter Intelligenzblatt (1770, 381) konstatierte: »Es wird nicht leicht jemand seyn, der das Mutterkorn nicht kennen sollte«. 638 Zu den Mutterkorndepidemien der Krisenjahre mit ihren Todesfällen vgl. Karl Böning, Die Auswirkungen der Hungerjahre 1770–1772 auf die letzte Großepidemie der Mutterkornseuche und die damals und in der Folgezeit veranlaßten Gegenmaßnahmen, in: Nachrichtenblatt des Deutschen Pflanzenschutzdienstes 24, 1972, 122–127; Horst Hecker, Die Ergotismus-Epidemie im Kreis Frankberg 1879/80, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte 106, 2001, 209–228, hier 215; Georg Junker, Rund um den alten Kirchturm. Ortschronik Cassdorf. Dorf und Gemarkung in Vergangenheit und Gegenwart. Homberg 1986, 101; Hecker, Heilkunde, 311–349. Zu obrigkeitlichen Regulationsversuchen vgl. HStA Darmstadt E 3 N Nr. 1/6 sowie E 3 Nr. 59/24; Huhn, Teuerungspolitik, 69; Schneider, Mangel, 280. 639 Zu zwei Mutterkorn-Hospitälern in Celle, die 1771 600 Patienten versorgten: Oberschelp,

286

Handeln

Zusammenfassend erweisen sich ältere Vermutungen einer direkten Verbindung von Teuerung und Krankheit als unzutreffend. Die meisten ›Hungerkrankheiten‹ reagieren gar nicht auf den Hunger selbst.640 Auch gegenüber dem Klima zeigen sie nur minimale Sensitivität, wie bereits einzelne Zeitgenossen beobachteten.641 Dass sie beständig im Umfeld von Hungersnöten auftauchen, geht vielmehr auf soziale Begleitfaktoren zurück. Diese gesellschaftlichen Verflechtungen erlauben es jedoch nicht, Rückschlüsse in umgekehrter Richtung zu ziehen. So vermutete etwa John D. Post, dass Gebiete, die wie England in den Krisenjahren von Epidemien verschont blieben, bessere Fürsorgesysteme aufgewiesen haben müssten.642 Ob hier tatsächlich die bessere Ernährung die Krankheiten in Schach hielt, oder umgekehrt das Ausbleiben von Seuchen erst die gute Versorgung ermöglichte, lässt sich aufgrund der fragmentierten Forschungs- und Quellenlage jedoch kaum beurteilen. Möglicherweise gelangten die Epidemien bloß an ihre natürlichen Grenzen, weil sich die infektionsanfällige Population erschöpfte oder schneller befallen wurde, als sie den Erreger weiterbefördern konnte.643 Gegen Posts These spricht auch, dass gerade die ›modernen‹ geschlossenen Fürsorgeformen von Arbeits- und Armenhäusern Seuchenzüge wohl eher begünstigten.644 Eine Beurteilung fällt angesichts der vielen Faktoren schwer. Den Ärzten der Krisenjahre diente jedoch gerade dieser offene, soziale Charakter der Krankheiten als willkommene Legitimation des eigenen Eingreifens. Die Zeitgenossen erschütterte das massenhafte plötzliche Sterben zutiefst. In den Selbstzeugnissen der Überlebenden wird der Tod von Angehörigen und Nachbarn als bestürzend und verstörend geschildert, trotz der steten Gefahr des unzeitigen Todes in vormodernen Gesellschaften und den verfügbaren religiösen Rahmungen.645 Die Schriften der Aufklärer forderten vor diesem Hintergrund, dass Niedersachsen, Bd. 1, 67; Böning, Auswirkungen, 124. Zur Bedeutung der Seuche als Professionalisierungsinstrument der Ärzteschaft vgl. ebd. sowie Hecker, Heilkunde, 316–349. 640 Unterernährung scheint vielen Erkrankungen sogar vorzubeugen, da auch die Erreger in ihrem Stoffwechsel gebremst werden. Post, Nutritional Status, 125. 641 Zu zeitnahen Beobachtungen, dass Krankheiten wie das Fleckfieber während der Hungerkrisen parallel im feuchten Europa und im trockenen Bengalen kursierten und daher nicht klimasensitiv sein können, vgl. Hecker, Heilkunde, 125. 642 Post, Crisis, 60. Er folgt damit den auch politisch motivierten Annahmen Fogels, nach denen den Verbesserungen des Gesundheitswesens eine größere Rolle in der Produktivitätsentwicklung als etwa der Industrialisierung zukam. Fogel, Escape. 643 Da eine Fleckfieberinfektion ebenfalls lebenslange Immunität bei Überlebenden hinterlässt, können durch frühere Ausbrüche natürliche Behinderungen des Seuchenverlaufs entstehen. Vasold, Hungerkrise, 121. 644 Aufgrund der Ansteckungsgefahr setzt man heute zumeist auf dezentrale Versorgung. Dagegen könnte auch die Begeisterung der lokalen Reformer für Arbeitshäuser ein wesentlicher Grund für die weit höheren Todesraten in den geschlossenen Einrichtungen des Erzgebirges im Vergleich zu den offenen Brotausgaben in Frankreich gewesen sein. Vgl. unten Kap. 5.2. und Post, Mortality Crisis, 56. 645 Vgl. etwa: Bräker, Schriften, Bd. 4, 492 f. zum Hungertod seiner Kinder oder die »Niederschrift von Caroline von Hammerstein geb. von Schrader über den Tod ihres Mannes Hans

Wissensgeschichten des Hungers

287

die Sorge für die Gesundheit der Untertanen eine zentrale Aufgabe des Staates werden müsse. Der Kampf gegen die Krankheiten sei nicht nur eine Aufgabe der Menschlichkeit, sondern auch eine »Pflicht der Regierung«.646 Für die berufliche Aufwärtsmobilität der Ärzte boten die Hungerepidemien damit eine willkommene Chance. Das Interesse der Mediziner am Staat folgte noch einer zweiten Erfahrung. In der Notzeit waren die vielen verarmten Kranken kaum mehr in der Lage, die nötige Bezahlung aufzubringen. Das Modell eines freien Stadt- oder Landarztes, der sich allein durch die Gebühren seiner Patienten finanzieren konnte, geriet damit unter Druck. Wollte man das Feld nicht der günstigeren Konkurrenz überlassen, musste man zusätzliche Einkommensquellen erschließen. Allein die Regierungen konnten die sozialen Ambitionen der Ärzte mit ihrer teuren universitären Ausbildung auch finanziell absichern.647 Exemplarisch zeigt sich das Ringen um Anerkennung von oben und Abgrenzung nach unten im Schicksal des Eichsfelder Arztes Franz Jacob Arand. Er hatte sich nach dem Medizinstudium in Straßburg und Göttingen in seiner Heimatstadt Heiligenstadt niedergelassen. Mit dem Seuchenzug 1771 wurde er vom Mainzer Landesherrn zum Medizinalrat des Eichsfelds ernannt. Bereits diese Beförderung verdankte er dem wohlinszenierten Konflikt mit der nicht-akademischen Konkurrenz.648 Von heftigem Streit war auch sein Wirken in den Krisenjahren geprägt. Die Konkurrenten warfen ihm vor, in seinen wöchentlichen Berichten an die Regierung das Ausmaß der Epidemien zu übertreiben. Die Untertanen ignorierten seine Empfehlungen und suchten weiterhin Hilfe bei traditionellen Heilern. Zum Eklat kam es, als sich die Regierung entschloss, angesichts der eskalierenden Epidemie die Kosten für medizinische Versorgung und Verpflegung eines Teils der Kranken zu übernehmen. Als Arand die Verantwortung dafür an sich ziehen wollte, rebellierten die Großbauern und denunzierten ihn bei der Regierung, da sie selbst von den Einquartierungsgeldern profitieren wollten. Aus dieser Situation heraus verfasste Arand eine Rechtfertigungsschrift, die einen guten Einblick Christian von Hammerstein. Beschreibung der traurigen Blattern-Krankheit (Pocken) meines lieben Mannes und meiner lieben Kinder im Frühjahr 1771«, in: Wilhelm von Hammerstein-Loxten, Aus dem Nachlaß des Staatsministers Freiherrn Wilhelm v. Hammerstein-Loxten. Metz 1899, 25–33. Ich danke Guido Levin Weinberger für diesen Hinweis. In einigen Fällen diente der Schock der Epidemie sogar als Auslöser für die Niederschrift der Lebensgeschichte. Vgl. etwa das Schreibebuch der Familie Caließ, das mit der langen Liste der 1772 an Fleckfieber verstorbenen Verwandten und Bekannten beginnt. Hartmut Harnisch, Das Schreibebuch Caließ, in: Ders., Jan Peters, Lieselotte Ender (Hrsg.), Märkische Bauerntagebücher des 18. und 19. Jahrhunderts. Selbstzeugnisse von Milchviehbauern aus Neuholland. Weimar 1989, 81–132, hier 96, 147. 646 Churbaierisches Intelligenz-Extra-Blatt, 28.10.1770, o. P. Zugleich sei es die Pflicht der Untertanen, den Anweisungen der Ärzte gewissenhaft Folge zu leisten. Anon., Patriotische Vorstellungen an die Menschen, ihre Krankheiten betreffend, in: Erfurter Intelligenzblatt, 1771, 350 f. 647 Barthel, Polizey, 49. 648 1769 hatte Arand eine Schrift gegen die verbreitete Praxis des Aderlassens insbesondere durch Hebammen veröffentlicht. Hecker, Heilkunde, 523.

288

Handeln

in das Konfliktfeld und das Krankheitsgeschehen gibt. Sie reiht sich in eine ganze Reihe weiterer Schriften ein, die aus Streitfällen heraus entstanden und diese zur Festigung des ärztlichen Status nutzten.649 Laut Arand verbreitete sich das »Faulfieber« von Böhmen über Sachsen, Preußen, Bayern und Braunschweig. Wie er bemerkte, betraf es im Eichsfeld ab dem Februar 1771 zunächst vor allem die Armen. Bis zum Juni breitete es sich unter allen Bevölkerungskreisen aus. Im Dezember versorgte allein Arand bereits 370 Infizierte in drei Dörfern, bis die Seuche im Juni 1772 wieder abklang. Seine präzisen Fall­beschreibungen von Ausschlag, Fieber, Bewegungsschmerz und Bewusstseinstrübung machen eine Fleckfieberinfektion wahrscheinlich.650 Arand selbst orientierte sich an den Koryphäen seines Faches, wie De Haen, Sydenham und Tissot. Als Auslöser diskutierte er drei mögliche Ursachen: ein allgemeines Strafgericht Gottes, das extrem nasskalte Wetter oder die Mangelernährung der Opfer. Angesichts der von ihm beobachteten eklatanten sozialen Unterschiede, bei dem zunächst »500 Arme gegen 14 von mittelmäßigem Vermögen« kamen, entschied Arand sich aber sowohl gegen eine theologische als auch gegen eine klimatische Herleitung. Die soziale Ungleichheit der Opfer spreche klar gegen eine »Strafruthe Gottes« und für »natürliche Ursachen«. Dieselbe Tatsache widerlege auch eine Herleitung aus der allgemeinen Witterung, die ebenfalls alle gleichermaßen hätte treffen müssen. Damit wandte er sich energisch sowohl gegen die traditionelle Humoralpathologie als auch die neuere Miasmen-Lehre, die Schwankungen der Körpersäfte oder Dämpfe im Gefolge der Regenanomalie als Auslöser betrachteten. Es handele sich vielmehr um eine »Plage der Armuth«, die durch soziale Not gefördert werde und sich später auf dem Wege der Ansteckung über eine »subtile Materie« in der Luft auf die Vermögenden ausbreite. Damit bezog er deutlich Stellung zugunsten der Kontagions-Theorie, positionierte sich als Vertreter des »gegenwärtigen so erleuchteten Weltalters« und setzte sich klar von den Konkurrenten ab.651 Dieser demonstrative Bruch mit der Tradition folgte mindestens ebenso sehr Arands Bedürfnis nach Distinktion wie seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen. In seiner Therapiepraxis spielten humoralpathologische Überlegungen daher auch weiterhin eine große Rolle.652 Die demonstrative Betonung der sozialen Ursa 649 Arand, Abhandlung. Zur verklausulierten Schilderung dieses Konflikts, ebd., 143–153. Das Manuskript beendete er noch mitten in der Krise, am 5.6.1772. Ebd., Widmung. Aus ähnlichem Anlass erschien etwa: Christian Theophilus Mayer, Abriß der Epidemie zu Jena und auf den umliegenden Dörfern am Ende des 1771 und bey dem Anfange des 1772 Jahres. Jena 1772. 650 Arand gehörte nach einem Gefängnisbesuch auch selbst zu den Erkrankten. Arand, Abhandlung 9, 116. 651 Ebd., 32–36, 48, 107. Ähnlich argumentierten verschiedene Kollegen. Vgl. etwa: Carl Ludewig Schmaltz, Practische Untersuchung und Cur der jetzt um Pirna herum grassirenden faulen Fiebern denen Armen zum Besten entworfen. Pirna 1770, 12 f. 652 So spricht er von »bösen Säften«, die durch ungewohnte Nahrung in den Körper gelangten. Arand, Abhandlung, 40–43.

Wissensgeschichten des Hungers

289

chen erlaubte es ihm aber, in der Krise weitergehende, politische Vorschläge zu machen, die seiner neuen Rolle als staatlichem Medizinalrat entsprachen. Statt wie das bloße Heilpersonal auf den Patienten zielte er auf das »gemeine Beste«. Als Lösung schlug er daher nicht nur die medikamentöse Behandlung vor. Zugleich forderte er die Absonderung der Erkrankten und ihre von den Obrigkeiten überwachte Versorgung mit Nahrung, auch und gerade wenn sie bereits wieder genesen waren. Ausführlich lobte er die Ankaufspolitik der Fürsten und machte Vorschläge zur wirtschaftlichen Unterstützung der besonders verwundbaren Gewerberegionen. Eine nachhaltige Bekämpfung der Krankheit sei nur durch eine gleichzeitige Reduzierung der Armut denkbar.653 Diese Haltung führte zwangsläufig zu Konflikten. Die Bevölkerung wehrte sich gegen Quarantäne und Kontrolle ebenso wie gegen die Pockenimpfung oder die ungewohnten und teuren Rezepte, die Arand verschrieb. Sie suchten weiterhin jene Barbiere und Wundärzte auf, die ihnen traditionelle Medikamente verkauften. Deren Präparate waren gegen Fleckfieber zwar genauso wirkungslos wie die des Arztes, aber erheblich billiger.654 Die geschäftstüchtigen Konkurrenten Arands wussten diesen Markt zu nutzen. Eine populäre Heilerin diagnostizierte die Erkrankungen der Leute aus ihrem Urin und bot dem »zu Hauffe gelauffenen Pöbel« eine »Macrocosmos« genannte Gegentinktur an. Mit Verabscheuung, aber auch mit Ohnmacht konstatierte Arand: »Die Landstrasse nach Hohengandern floß damals vom vielfältigen Harn, den die Mitbürger zu dem dortigen lastervollen Weibe brachten.«655 Unterstützt wurden diese Wunderheiler von einem »schwärmenden Bauern«, der mit seinem Anhang öffentlich zum Widerstand gegen Arand und seine Neuerungen aufrief.656 Dessen Reaktion fiel entsprechend heftig aus. In seiner Schrift beschimpfte Arand die Konkurrenten als »Pfuscher«, »Quacksalber«, »Afterärzte« oder »Frevler«, die an der Bevölkerung »Mordthaten« begingen. Sie seien gemeinsam mit den dilettierenden Hebammen, Scharfrichtern und Barbieren die wahren »Würge­ engel« und »Feinde des Staates«. Daher müsse »die ganze Bande der Afterärzte, als 653 Arand, Abhandlung, 90–94, 136–163. 654 Arand (Ebd., 134) spottete über Ingredienzien wie »Austerschalen, Corallen, Bimsstein, Kinnbacken von Hechtköpfen und Fischen, Hiacinthen, Smaragden, gesiegelte Erde, Zähne von verschiedenen Thieren« und andere Stoffe. Tatsächlich beschränkten sich die medizinisch wirksamen Stoffe in seinem eigenen, ebenso umfangreichen Arsenal aber vor allem auf Chinarinde, die zwar die Fiebersymptome bekämpfte, die Krankheit aber ebenfalls nicht heilen konnte. Eine Auflistung der zeitgenössischen Arzneien und ihrer (sehr begrenzten) Wirkungen bietet Militzer, Klima, Tab. 40. Dabei ersetzten Ärzte die pflanzlichen Ingredienzien zunehmend durch teurere chemisch hergestellte Stoffe. Zum bäuerlichen Widerstand dagegen vgl. Arand, Abhandlung, 87, 211. 655 Den auf seinen Werdegang stolzen Arand störte an dieser »Dirne« bereits, dass ihr »Herkommen und Geburt ein Geheimnis ist«. Ebd., 172. Zu solchen »Harnpropheten« vgl. auch Barthel, Polizey, 179. 656 Arand, Abhandlung, 90.

290

Handeln

gemeinschädliche Glieder ausgerottet, oder wenigstens durch exemplarische Strafen in den Schranken ihrer Profession zu bleiben« gezwungen werden.657 Ausführlich berichtete er über die Todesfälle, die ein von vielen Betroffenen konsumiertes »Wunderwasser« verursacht habe. Er schilderte eindringlich, wie sich ein unwissender Barbier infizierte und ums Leben kam, der meinte, durch den Rauch seiner Tabakspfeife hinreichend geschützt zu sein.658 Dem setzte er mit Vehemenz seine Ansteckungstheorie entgegen. Er verwies auf die beengten Wohnverhältnisse und die häufig geteilten Betten als Ursache der Infektion.659 Detailliert berichtete er, wie die unkontrolliert umherziehenden Bettler die Seuche in die Klöster Zella und Annerode getragen hätten, die Hilfen an Arme austeilten.660 Den sympathetischen Analogien der Heiler begegnete er mit einem akademischen System von Evidenz. Stolz verwies er auf Erfahrung, Augenzeugenschaft, Autopsien, die präzisen Aufzeichnungen seines Tagebuches sowie auf die Autorität von Naturgeschichte und Universität.661 Seine Schrift beschloss er mit einer ausführlichen Würdigung der verantwortungsvollen Aufgaben eines öffentlichen Arztes. Während er dem Fürsten arbeitsfähige Untertanen verschaffe, hinterließen die Afterärzte nur »umherkriechende Krippel« und erwiesen sich so als »Pest des Staates«.662 Für Arand war diese aggressive Kommunikationsstrategie von Erfolg gekrönt. Er wurde nach einigen Diskussionen von allen Vorwürfen entlastet und in seinem Amt bestätigt, obwohl seine praktischen Heilerfolge kaum über denen der vermeintlichen Kurpfuscher lagen. Diese Statusbekräftigung nutzte Arand umgehend zur Absicherung seiner Position. Den Hersteller des »Wunderwassers« ließ er vom Heilberuf suspendieren. Andere Wundärzte wurden auf seine Initiative hin mit Geldbußen belegt. Der »makrokosmischen« Heilerin drohten nun Zuchthaus und Staupenschlagen. Zufrieden merkte Arand an, die harten Strafen »benehmen den Afterärzten alles Ansehen, und der Pöbel erkennet alsdenn, daß er sich denselben nicht vertrauen müsse, die für Würgeengel öffentlich erkläret und als solche verbannet werden«. Zustimmend berichtete er von noch härteren Maßnahmen im benachbarten Ausland und konstatierte mit einiger Befriedigung, dass sich die Polizey von nun an nicht mehr auf die bloße Nahrungssicherung beschränken könne, sondern immer auch die medizinische Versorgung umfassen werde.663 657 Ebd., 13, 79, 171 f. 658 Ebd., 112, 133. Er selbst versuchte sich allerdings ebenfalls durch das Kauen von Nelken und Wacholder zu schützen, was genauso scheiterte. 60f, 116. 659 »[…] hierzu gab Anlaß eines Theils die alzuenge Wohnung, die ganze Familien einschliessen musste. Es war mir Anfangs ein Schreckenvoller Anblick, wenn ich sieben und mehrere Personen in einer Hütte, die kaum einen Schritt breit und 2. lang war, beisammen liegen sahe«. Ebd., 90. 660 Ebd., 112–115. 661 Ebd., 3, 39, 102–104, 224, 246. 662 Ebd., 185. 663 Ebd., 124, 172 f.

Wissensgeschichten des Hungers

291

Im Alltagshandeln mündeten Arands radikal und zuweilen modern anmutende Umwertungen allerdings nicht in eine entsprechende neuartige Praxis. Dem emphatischen Hinweis auf die soziale Ungleichheit als Auslöser der Epidemie folgte kein dramatischer Kurswechsel in der Therapie. Arand praktizierte weiterhin eine nach Stand differenzierte Behandlungsmethodik, bei der das Leiden vermögender Kunden mit teurer Chinarinde gelindert wurde, während die Armen gute Ratschläge zur Lüftung ihrer Zimmer erhielten.664 Das energische Verlangen des »Pöbels« ebenfalls mit Kaffee und anderen Statusgütern versorgt zu werden, wies er entschieden zurück: »Im bürgerlichen Leben ist auch eine Ordnung nötig«. Die soziale Natur der Krankheiten diente ihm statt zur Nivellierung der Standesgrenzen zur Legitimation der studierten Ärzteschaft.665 Die von Arand beschriebenen Konflikte, Strategien und Oppositionen lassen sich überall in den Hungergebieten beobachten. Vor Ort praktizierten Betroffene und Obrigkeiten meist ein heterogenes und teilweise widersprüchliches Bündel von Gegenmaßnahmen. Rudimentäre Maßnahmen zur Quarantäne wurden kaum befolgt. Sie widersprachen der traditionellen Notmigration ebenso wie den neuen zentralisierten Fürsorgeanstalten. Dies galt zumal, da die Bevölkerung Ansteckung oft ebenso sehr als seelischen wie als materiellen Prozess verstand.666 Den Ärzten bot diese unklare Gemengelage beste Bedingungen, ihr Ensemble medizinischer Maßnahmen als eine in sich geschlossene Alternative zu präsentieren. Ihnen erschloss die Enttheologisierung des Krankheitsgeschehens neue Handlungsräume. Mit der Loslösung des Fleckfiebers von den früheren, religiösen Konnotationen der ›Hauptkrankheit‹, die durch spirituelle Drangsaal ausgelöst wurde, öffneten sie die Seuche dem medizinischen Zugriff.667 Gezielt wandten sie sich nun gegen ältere Pflegepraktiken wie das Schröpfen, Aderlassen und Purgieren. Stattdessen praktizierten sie demonstrativ Autopsien, verschrieben neuartige Arzneien und verhängten drakonische Verhaltens- und Speisevorschriften.668 Die weiterhin verheerenden Opferzahlen schmälerten ihr aufklärerisches Sendungsbewusstsein nicht. Sie priesen selbstbewusst die moderne Medizin, in der: keine übernatürlichen Ursachen, kein Einfluß der Gestirne, kein Aberglaube, keine Arcana mehr geduldet werden, sondern schon längst aus den Grenzen dieser Wissenschaft verbannt sind, da man bloß in denen Schrancken der Natur bleibet, und nicht 664 Ebd., 56, 89, 88, 99, 206. 665 »Eine gute Polizey, dessen Endzweck dahin gehet, im bürgerlichen Leben Ordnung, Ruhe und gute Sitte zu unterhalten, duldet keine Pfuscher […]. Das Gute, so durch den geprüften Arzt dem gemeinen Wesen zufliesset, zu beweisen, halte ich für überflüssig, und das Böse, welches die Barbiere […] veranlassen, bezeuget leider die tägliche Erfahrung.« Ebd., 165. 666 Vgl. etwa den Bericht des Müller Peukert zur Ansteckung durch Furcht in: Jäger, Dorfchronik, 236 f. 667 Bär, Semantik. 668 Vgl. etwa, Mayer, Abriß, 42.

292

Handeln

mehr von den Waffen redet, die ein ergrimmter Gott dem Tode dargereichet, um eine solche Zerstörung anzurichten, da man nicht mehr vor Cometen und Lufterscheinungen, als von schreckensvollen Vorboten solcher herrschender Uebel zittert.669

Wie bei Arand richteten sich diese Umwertungen vor allem gegen das nicht-akademisch ausgebildete Heilpersonal. Der immer wieder konstatierte Widerstand der unwissenden Bevölkerung diente den Ärzten geradezu als Bestätigung des eigenen Handelns.670 Die Offensive dagegen führten sie vor allem auch kommunikativ. In der Krise publizierten die Ärzte eine Vielzahl entsprechender Schriften in unterschiedlichen Formaten.671 Dazu konnten sie auf weitreichende Korrespondenznetzwerke zurückgreifen, die auch in der Lage waren, offizielle Nachrichtensperren zu umgehen.672 In diesen Schriften formulierten die Ärzte mit demonstrativer Fachsprache und offensiver Misogynie ihren Alleinvertretungsanspruch und forderten etwa, »rathgebende alte Weiber, beyderlei Geschlechts aus den Krankenstuben« zu werfen.673 Diese Strategie erwies sich als äußerst erfolgreich. Überall kooptierten die Obrigkeiten nun verstärkt Mediziner in die Gremien der Verwaltung oder beriefen sie zu offiziellen Amtsärzten. Bereits mit der verbreiteten Übernahme der Behandlungskosten unterstützten sie deren Reichweite und Status erheblich.674 669 Ebd., 5. 670 Ebd., 37; Schmalz, Untersuchung, 22. 671 Aus den Krisenjahren sind mindestens 31 selbstständige medizinische Schriften überliefert. Hinzu kommen zahlreiche Zeitungsartikel. Vgl. die Bibliographien in: Mayer, Abriß, 6–9; Johann Nepomuk Leuthner, Beobachtungen und general sowohl als special Kurmethode hitziger Gall und Faulfieber über deren wesentlichen Karakter, verschiedenen Symptomen, zufälligen Nebenerscheinungen, voll- oder unvollkommene kritische Abfälle kränkliche Versetzungen oder Metastases in dem epidemischen Jahrgängen im Churfürstl. Hofkrankenhaus zu Giesing gesammlet, Nürnberg 1776, Vorbericht sowie Böning, Siegert, Volksaufklärung, Nr. 950, 959, 980, 987, 997. Hinzu kommen Keßler, Beobachtungen sowie Schmaltz, Untersuchung. Vasold, Hungerkrise, 120 nennt zwei weitere Dissertationen. Die Schriften illustrieren zudem die reichsweite Verbreitung der Faulfieber und decken den gesamten Raum von Flensburg bis Wien und von Württemberg bis Königsberg mit Ausnahme des Nordwestens ab. Zum Genre vgl. Holger Böning, Medizinische Volksaufklärung und Öffentlichkeit, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 15, 1990, 41–69. 672 Zu Albrecht von Hallers vertraulichen Informationen zur Pest vgl. Stuber, Hächler, Ancien Régime, 177. 673 Anon., Auszug eines Briefes eines Arztes an einen Liebhaber und Layen der Medizin, in: Osnabrückische Anzeigen, 1771, Beylagen 345–348. 674 Thomas Broman, The Transformation of German Academic Medicine 1750–1820. Cambridge 1996, 73–101. Zum Entschluss in Kurmainz »unter der Aufsicht der Aerzte, Arzeneien aus den Apotheken herauszugeben, wie auch Chirurgos, Krankenwärter etc. zu bestellen; welches alles aus der Churfürstl. Schatzkammer bezahlt wurde«, vgl. Imhof, Bilder-Saal, 48. Zur Ausgabe kostenloser Medizin auch in Bayern vgl. Conrad Andräas, Beiträge zur Geschichte des Seuchen-, Gesundheits- und Medizinalwesens der oberen Pfalz, in: Verhandlungen des historischen Vereins von Oberpfalz und Regensburg 52, 1900, 79–286, 111.

Wissensgeschichten des Hungers

293

Selbst kleinere reformgesinnte Gutsbesitzer wie Friedrich Eberhard von Rochow stellten nun eigene Ärzte gegen ein festes Gehalt an und experimentierten in der Krise mit einer allgemeinen, präventiven und kostenfreien Medizinfürsorge.675 Die von Arand gemachten Erfahrungen wiederholten sich dabei auf der Ebene ganzer Territorien. So übernahm das junge Sanitätskollegium in Sachsen eine zentrale Rolle in der Krisenbekämpfung. Auch dessen lokale Doktoren, die zuvor noch keinen »vollkommenen Beruf« innehatten, bekamen nun »durch gnädigsten Special Befehl, die Aufsicht über sämtliche Krancken, gnädigst anvertrauet«.676 Statt Brot schickte die Herrschaft nun Ärzte ins Erzgebirge. Anstelle von Pfarrern und Verwaltern führten jetzt die Mediziner Visitationen durch. In ihren Erfassungen der Krisengebiete wandelten sich hungernde Menschen zu kranken Patienten. Die soziale Komponente der Krankheiten erlaubte ihnen die Schlussfolgerung, dass viele Bewohner aufgrund ihrer »unmäßige[n] Lebensart« selbst Schuld an ihrer Lage seien. Die Ärzte diagnostizierten in ihren Berichten statt Hunger mangelnde Hygiene, übermäßigen Alkohol- und Nikotinkonsum und falsche Ernährungsgewohnheiten als Kern des Problems. Dies gelte zumal, da die Bevölkerung die 1768 angeordneten Pockenimpfungen trotz aller Ermahnungen boykottiert habe. Zudem verschweige der »Pöbel« Erkrankungen und wehre sich weiterhin gegen Hilfe – darunter die ungewohnte, invasive und angesichts der fehlenden Sterilisierung durchaus zweifelhafte Behandlung der Ruhr mit den Klistieren der Ärzte.677 Demgegenüber festigten die sächsischen Ärztekollegien ihre neugewonnene Autorität mit breit angelegten Medienkampagnen. Ihre »Anweisungen« wurden in gedruckter Form an alle sächsischen Städte geschickt, an die Bevölkerung verteilt und in mehreren Zeitungen nachgedruckt.678 Wie in den anderen Territorien fand ihre Kampagne der Diskreditierung konkurrierender Praktikanten Eingang in die fürstliche Gesetzgebung. Schließlich benutzten auch diese Ärzte ihre neugewonnene Definitionsmacht, um alternative »Medikaster« rechtlich zu verfolgen.679 In 675 »Als in den Jahren 1771 und 1772 sehr nasse Sommer einfielen […] tat ich nach meiner Obrigkeitspflicht mein mögliches, den Landleuten auf alle Weise beizustehen. Ich nahm einen ordentlichen Arzt für die Einwohner auf meinen Gütern an, der unentgeltlich von ihrer Seite sie gegen ein jährliches Gehalt von mir mit freier Medizin versehen und heilen sollte. Zit. nach: Böning, Medizinische Volksaufklärung, 48. 676 HStA Dresden, Loc. 11611 (Nr. 116, 21.9.1770). 677 HStA Dresden, Loc. 11611, p. 42–48. Zum Widerstand und der missglückten Impfkampagne vgl. Militzer, Klima, 5.12.1.9. 678 »Anweisung, die epidemische Dysenterie auf das einfachste und sicherste zu behandeln«, sowie »Anweisung des Churfürstlich Sächsischen Sanitaets-Collegii wie die sich gegenwärtig äußernden Krankheiten zu behandeln sind; nebst einigen Nachrichten von denen darinnen angeführten Nahrungs-Mitteln«, in: HStA Dresden, Loc. 11611, p. 19–34, 55–60. Letztere wurde an 29 Städte geschickt und in den Dresdner Gelehrten Anzeigen, 1770, 509–512 sowie dem Leipziger Intelligenz Blatt 44, 6.10.1770 veröffentlicht. 679 Lüning, Codex Augusteus, 669–670; Vogt, Massnahmen, 97–100; Härter, Stolleis, Repertorium, Bd. 3.2, 1148, Bd. 11, 176, 589, 871. Eine Liste denunzierter Quacksalber findet sich in: HStA Dresden, Loc. 11611, 122 f. In der Folge mussten Ärzte immer wieder ermahnt wer-

294

Handeln

Sachsen oder im Eichsfeld mit ihren schwachen und entlegenen Obrigkeiten ist der Prozess der ärztlichen Autorisierung besonders sichtbar. Ähnliche Durchsetzungs- und Professionalisierungseffekte lassen sich in der Krise jedoch auch in anderen Territorien beobachten.680 Die allgemeine Aufwertung des Ärztestandes blieb bei allem Erfolg nicht ohne Widerstand. Einige Kritiker geißelten die Übertragung herrschaftlicher Aufgaben an die Ärzte als billige Verschleierungstaktik, mit der die Verantwortung der Obrigkeiten entweder auf die Hungernden selbst oder auf die Witterung übertragen werden sollte.681 Auch Teile der Bevölkerung verweigerten sich der ärztlichen Deutungshoheit. So notierte etwa von Rochow frustriert, dass sein Projekt einer öffentlichen Medizinversorgung an den Untertanen scheiterte, die trotz der Kostenfreiheit weiterhin ihr traditionelles Heilpersonal frequentierten.682 In vielen Fällen lässt sich jedoch feststellen, dass die Hungernden sich dem Ärztediskurs zunehmend anpassten und ihn sich für eigene Zwecke aneigneten. In obrigkeitlichen Verhören kennzeichneten sie sich nun oft selbst als krank statt als hungrig, und stützten die Medikalisierung des Geschehens, um Sanktionen zu entgehen und ihre Versorgung zu aktivieren. Am Ende der Krisenjahre erwies sich das neue Narrativ der Ärzte häufig als so dominant, dass es im eigenen Interesse der Betroffenen lag, nicht mehr als Hungernder, sondern als Patient zu gelten.683 Wie im Fall der Ökonomen beruhte dieser Erfolg der Ärzteschaft nicht auf medizinischen Errungenschaften, sondern auf Kommunikation und Exklusion. Mit deren Hilfe gelang es, die beträchtlichen inneren und äußeren Widersprüche nahezu vollständig zu verdecken. Weder erzielten die Ärzte signifikant bessere Behandlungserfolge als ihre externen Konkurrenten, noch verfügte man intern über eine kohärente Theorie. In der Praxis gingen Diagnose und Behandlung der Ärzte oft weit auseinander. Man konnte sich zwar auf ein Ensemble universitär geprägter Praktiken und Begrifflichkeiten einigen, die nach außen Distinktion suggerierten. Die meisten Mediziner favorisierten nun die neuere Kontagionstheorie, den, dass die Chirurgen und Wundärzte ihnen zwar unterstellt seien, aber dennoch nicht wie ein untergebener »Subaltern« zu behandeln wären, sondern ihnen »mit Modestie zu begegnen« sei und sie sich aller »disreputirlichen Ausdrücke enthalten« sollten. Ebd., 138v. 680 Vgl. etwa Rankl, Politik, 772. 681 »Denn der Tod will ja allemal eine Ursache haben. Manchmal liegt sie in der ungesunden Luft, zuweilen in einer übeln Disposition des Körpers und seiner Säfte […] welche Ursachen denn, weil sie theils von dem Himmel und dessen Schickung herrühren, theils von den Sterbenden selbst, [den Herren] unmöglich zur Last geleget werden können. Wenn nun über dieses auch gleich alle unsere Aerzte und Naturkündiger« dies behaupteten. Bräuer, Capitalisten, 121 f. 682 »[A]ber böse Vorurteile, Verwöhnung und Aberglauben […] machten fast alle meine guten Absichten fruchtlos. Sie empfingen zwar die Mittel, die ich bezahlte, nahmen sie aber nicht ein […]. Dagegen brauchten sie oft heimlich die verkehrtesten Mittel, liefen zu Quacksalbern, Wunderdoktors, sogenannten klugen Frauen, Schäfern und Abdeckern, bezahlten dort reichlich und starben häufig dahin.« Zit. nach: Böning, Medizinische Volksaufklärung, 48. 683 Bräuer, Rat, 80 f., 197, 204; Militzer, Klima, Tab. 42, Nr. 7, 42, 77.

Wissensgeschichten des Hungers

295

mit der sich ebenfalls Differenz inszenieren ließ. Viele hielten aber auch an der Miasmenlehre und den entsprechenden Behandlungsmethoden fest. Sie vermuteten weiterhin, dass die Krankheiten durch die ungesund feuchte Witterung verursacht würden, die den Säftehaushalt des Körpers aus dem Gleichgewicht brachte. Als der bayerische Krankenhausdirektor Leuthner bei sich selbst Fleckfieber diagnostizierte, behandelte er sich deshalb mit Brech- und Abführmitteln, wiederholtem Aderlass und mit Blutegeln.684 Auch diese Mediziner partizipierten aber an der aggressiven Rhetorik der Exklusion gegen »Afterärzte und Quacksalber« oder den »Pöbel« und profitierten so ebenfalls vom Prestigegewinn in der Notzeit.685 Die Hungernutzung der Ärzte folgte daher weniger empirischen als vielmehr strategischen Überlegungen. Die Mediziner setzten sich nicht durch, weil sie über effektivere Lösungen verfügten. Sie erweisen sich als die kompetenteren Kommunikatoren und nahmen den Obrigkeiten Verantwortung ab. Im Rückblick mögen einige ihrer Behauptungen zukunftsweisend anmuten, etwa das Beharren auf natürlichen Ursachen, sozialen Komponenten und der Übertragung durch Ansteckung – entweder durch »subtile Materie« oder die »in der Luft hängenden faulen Partikulchen«.686 Dies verdeckt leicht, dass ihre spekulativen Äußerungen vor allem professionspolitisch motiviert waren und sich zudem als falsch erwiesen. Sie vermuteten bei allem modernen Anklang weder den korrekten Erreger der Faulfieber (Bakterien) noch den tatsächlichen Übertragungsweg über die Kleiderlaus. Auf die Praxis der Ärzte gewannen sie daher kaum Einfluss. Im medizinischen Alltag bildeten die Krisenjahre keine Bruchzone, sondern einen Kontaktraum, in dem hybride Erklärungsmodelle kursierten. So attestierten Ärzte aller Lager der Angst weiterhin eine zentrale Rolle bei der Übertragung von Krankheiten – eine Überlegung, in der sich vormodern-sympathetische Vorstellungen mit jüngeren Konzepten zur sozialen Verbreitung von Krankheiten verbanden.687 Ebenso wie bei den Ökonomen dürfen auch bei den Medizinern spekulative Rhetorik und empirische Praxis nicht miteinander verwechselt werden. Als 684 Leuthner, Vorbericht. 685 Mayer, Abriß, 37. Zwar galten ihnen Hunger und Teuerung nur als »Nebenumstände«. Auch sie ermächtigten sich aber über die Beobachtung, dass neben der Witterung soziale Faktoren auf die Krankheiten einwirkten, und bezichtigten die Leidenden, ihre Umstände durch ihre ungesunde Lebensweise teilweise selbst verantwortet zu haben. Ebd., 12. 686 Arand, Abhandlung, 107; Schmaltz, Untersuchung, 6. 687 Zur Angst als Vektor vgl., Arand, Abhandlung, 62, 112, 117, 186; Mayer, Abriß, 11, 38 f.; Schmaltz, Untersuchung, 7, 14 oder Johann Georg von Zimmermann, Von der Windepidemie in der Stadt Hannover, und der sogenannten Neuen Krankheit, in: Hannoverisches Magazin 10, 1772, 65–90, hier 84. Zur langen Vorgeschichte dieses Konzeptes vgl. Bähr, Semantik und Yasmin Haskell (Hrsg.), Diseases of the Imagination and Imaginary Disease in the Early Modern Period. Turnhout 2011. Auch Miasmen ließen sich sowohl als meteorologisches Witterungsphänomen als auch als kosmologisches Medium begreifen. Zu den breiten Schnittstellen zwischen Miasmen- und Kontagionslehre vgl. den Überblick bei Rita Gundemann, Art. »Miasmen«, in: Friedrich Jäger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 8. Darmstadt 2008, 474–481.

296

Handeln

Innovatoren erwiesen sich die Ärzte im Bereich der Standespolitik, nicht auf dem Feld der Therapie. In diesem Unterfangen profitierten sie erheblich vom akuten Krisengeschehen. Der Kontingenzdruck der Notzeit erlaubte es den Regierenden nicht mehr, belastbare Fakten abzuwarten. Angesichts der Klagen ihrer Untertanen zählte die plausible Suggestion einer Lösung mehr als überprüfbare Resultate. Diese Chance wussten die Ärzte zu nutzen. Der angestoßene Professionalisierungsprozess setzte sich in den Jahren nach der Krise fort. Dabei bezog ihr sozialreformerisches Engagement seine Dynamik auch weiterhin primär aus den »professionspolitischen Ambitionen« der Ärzte.688 Die Medikalisierung des Hungers mündete daher nicht in einer verbesserten Behandlung der Patienten. Sie resultierte vielmehr in der engen Verquickung von Staat und Ärzteschaft und der Etablierung der öffentlichen Gesundheitsvorsorge als eigenständigem Wissensfeld.689

4.3.  Scheitern als Chance – Agronomie, Meteorologie, Statistik Ähnliche Prozesse der Instrumentalisierung des Hungers lassen sich in zahlreichen benachbarten Wissensfeldern beobachten. Die Krise erwies sich regelmäßig als Katalysator, der die Etablierungsprozesse legitimierte und deutlich beschleunigte. Ein solches Feld bildete etwa die Agrarwissenschaft. Im Umfeld der Hungerjahre eskalierte die Leidenschaft der Aufklärer für landwirtschaftliche Reformen in einer regelrechten ›Agromanie‹. In Landwirtschafts- oder ›Bienengesellschaften‹ diskutierten Gleichgesinnte über Verbesserungen und tauschten sich europaweit aus. Die Agrarbegeisterung beschränkte sich dabei nicht auf bürgerliche Vordenker wie Philipp Ernst Lüders oder Arthur Young, sondern erfasste auch viele Fürsten.690 Die Hungerjahre dienten daher auch den Agrarreformern zunächst als willkommener Anlass für eine Publikationsoffensive. Dabei verknüpften sie die Diskussion konkreter Hilfsmaßnahmen regelmäßig mit jenen Anliegen, die ihnen dauerhaft am Herzen lagen, etwa der Förderung von Obstkulturen, Baumschulen und ›Pomologie‹.691 Zuweilen wuchs mit der Krise auch die Bereitschaft, 688 Barthel, Polizey, 47. 689 Bettina Wahrig, Werner Sohn (Hrsg.), Zwischen Aufklärung, Policey und Verwaltung. Zur Genese des Medizinalwesens 1750–1850. Wiesbaden 2003; Caren Möller, Medizinalpolizei. Die Theorie des staatlichen Gesundheitswesens im 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2005, 156–162. 690 Prass, Grundzüge, 79–86; Richter, Pflug. 691 Etwa Schmahling, Nachruff, 104 oder Schrader, Kunst, 37, der in seinen Kommentar zur Hungerkrise grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von subsistenz- versus marktorientierter Landwirtschaft einbaut. Zu den Agrarschriften der Krisenjahre vgl. Böning, Siegert, Volksaufklärung, bes. Nr. 768, 886, 912, 1029. Zu den Schriften, die direkt in Reaktion auf die Hungerkrise erscheinen, gehörte mit Johann Friedrich Mayers, Lehrbuch für die Land- und Haußwirthe. Nürnberg 1773 auch ein einflussreiches Handbuch der Agrarwissenschaft. Ähnlich wie die Ärzte wandten sich auch die Agrargesellschaften während der Krise mit eigenen semi-­

Wissensgeschichten des Hungers

297

nicht bloß technische Vorschläge zu machen, sondern auch offen Kritik an der bestehenden Agrarverfassung zu üben.692 Der Handlungsdruck der Notzeit trug wesentlich dazu bei, dass die Debatten nicht länger auf theoretische Überlegungen beschränkt blieben, sondern experimentell umgesetzt wurden. So entschloss sich die Celler Landwirtschaftsgesellschaft vor dem Hintergrund der Missernten, den Weg vom losen Gelehrtenverbund zur Institution zu gehen und mietete 1770 erstmals selbst einen eigenen Versuchsgarten an.693 Auch die Kurpfälzische Physikalisch-Ökonomische Gesellschaft folgte diesem Schritt. Sie gründete 1772 ihr erstes Mustergut in Siegelbach und ein eigenes Manufakturhaus mit einer Pflanzschule, um den darbenden Bauern Beschäftigung zu verschaffen und die eigenen Theorien in die Praxis zu übersetzen. Aus diesen Unternehmungen entwickelte sich 1774 die Hohe Kameralschule in Kaiserslautern, in der auf universitärem Niveau Kurse zu Landwirtschaft, Ökonomie und Tiermedizin für die Landesbeamten angeboten wurden.694 In Göttingen entstand 1771 das Samenkorninstitut, das den Bauern vor dem Hintergrund der Missernten neues und verbessertes Saatgut liefern sollte.695 In Sachsen legte im selben Jahr der Agrarreformer Johann Christian Schubart sein berühmtes Mustergut auf dem Rittergut Würchitz an.696 In Brandenburg entstand 1773 in Reaktion auf die Krise das Versuchsgut offiziellen Anweisungen an die Bevölkerung. Martin Stuber, „dass gemeinnützige wahrheiten gemein gemacht werden. Zur Publikationstätigkeit der Oekonomischen Gesellschaft Bern 1759– 1798, in: Marcus Popplow (Hrsg.), Landschaften Agrarisch-Ökonomischen Wissens. Strategien innovativer Ressourcennutzung in Zeitschriften und Sozietäten des 18. Jahrhunderts. Münster u. a. 2010, 121–153, hier 148. 692 So rügte etwa die kurbayerische Landwirtschaftsgesellschaft: »Unser Adelsstand und die hohe Geistlichkeit […] sind die ärgsten Wucherer«. Zit nach Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 92. Zu den entsprechenden Schriften des radikalen Bauernbefreiers Johann Friedrich Mayer, der die Gutsherren in der Krise als Tyrannen geißelte, vgl. Böning, Siegert, Volksaufklärung, XLVIf. und Nr. 886. 693 Vgl. den Bericht dazu in: Hannoverisches Magazin 9, 1771, 824 f. und 10, 1772, 865 f. sowie Kai Hünemörder, Die Celler Landwirtschaftsgesellschaft und das Hannoverische Magazin. Schnittstellen der ökonomischen Aufklärung in Kurhannover (1750–1789), in: Popplow, Landschaften, 237–275, hier 246. 694 Ihre Einrichtung nimmt in mancher Hinsicht die Entstehung der Universität Hohenheim vorweg, die 1816/17 ebenfalls in Reaktion auf eine Hungerkrise als landwirtschaftliche Unterrichts-, Versuchs- und Musteranstalt gegründet worden war. Das Kaiserslauterner Institut ging aber 1805 in der Universität Heidelberg auf. Vgl. zum Beginn: Bemerkungen der Kuhrpfälzischen Physikalisch-Ökonomischen Gesellschaft 3, 1773, I–XXXI sowie für die weitere Entwicklung: Marcus Popplow, Von Bienen, Ochsenklauen und Beamten. Die ökonomische Aufklärung in der Kurpfalz, in: Ders., Landschaften, 175–235, bes. 184. 695 Oberschelp, Niedersachsen, 67 sowie Erfurtisches Intelligenzblatt, 1771, 313; Leipziger Intelligenzblatt, 1771, 435 f.; Hannoverisches Magazin 13, 1775, 356. Träger war die Calenbergische Landschaft. 696 Dort experimentierte er in den Hungerjahren mit cash-crops wie Tabak und Krapp, der Stallfütterung, der Gipsdüngung nach englischem Vorbild und mit einer Baumschule. Günther Franz, Heinz Haushofer, Große Landwirte. Frankfurt a. M. 1970, 50–58.

298

Handeln

Reckahn mit seiner Pflanzschule, das später auch die agrarwissenschaftliche Lehranstalt der Märkisch Ökonomischen Gesellschaft in Potsdam inspirierte.697 In der Schweiz begann der Agrarreformer Jakob Gujer, bekannt als Kleinjogg, während der Notjahre mit seinem Musterbetrieb auf dem Katzenrütihof. Dort experimentierte er mit dem Kartoffelanbau und den »Bauerngesprächen«, die das Gut später zum Wallfahrtsort für Johann Wolfgang von Goethe und andere Reformbegeisterte machte.698 Diese Musterhöfe und -einrichtungen prägten auch in den Folgejahren die Debatten um Agrarreformen im Rahmen der industrious revolution. Zunächst blieben sie aber im Stadium eines Experiments, da größere Veränderungen Eingriffe in die Agrarverfassung erfordert hätten. Exemplarisch zeigte sich dies, an der leidenschaftlich geführten Debatte um die Kartoffel. Der Kartoffelanbau besaß für die Agrarreformer einen ähnlich symbolischen Stellenwert wie der Freihandel für die Ökonomen oder die Kontagionstheorie für die Ärzte. Die Debatte half Differenz zu markieren, die Gegner als altmodisch und fortschrittsfeindlich zu entlarven und den Obrigkeiten eine einfache, materielle Lösung komplexer sozialer Probleme anzubieten. Entsprechend intensiv verlief die begleitende Medienkampagne.699 Sie war so erfolgreich, dass der Siegeszug der Kartoffel und der »revolutionäre«700 Umschwung der Ernährung vom Getreidezum Kartoffelstandard häufig bis heute mit der Hungerkrise 1770–1772 assoziiert wird.701 Tatsächlich lassen sich Versuche der praktischen Umsetzung nachweisen. 697 Zur Motivation durch die Hungerkrise vgl. Wolfgang Neugebauer, Die Schulreform des Junkers Marwitz. Reformbestrebungen im brandenburgisch-preußischen Landadel vor 1806, in: Peter Albrecht, Ernst Hinrichs (Hrsg.), Kultur und Gesellschaft in Nordwestdeutschland zur Zeit der Aufklärung, Bd. 2: Das niedere Schulwesen im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Tübingen 1995, 259–288, hier 274. Zur Wirkung: Frank Tosch, Der Aufklärertypus Friedrich Eberhard von Rochow (1734–1805) und die Märkische Ökonomische Gesellschaft zu Potsdam, in: Popplow, Landschaften, 155–173. 698 Max Brütsch, Kleinjogg und die Landwirtschaftsreform im 18. Jahrhundert. Oberwenningen 2012. 699 Vgl. etwa: Böning, Siegert, Volksaufklärung, Nr. 800, 818, 893, 921a, 928, 949, 964 sowie Holger Böning, »Und weiß wie Alabaster«. Die Kartoffel in der volksaufklärerischen Literatur, in: Helmut Otterjahn, Karl-Heinz Ziesow, Die Kartoffel. Geschichte und Zukunft einer Kulturpflanze. Cloppenburg 1992, 65–78. Die Debatte wurde europaweit geführt. Vgl. etwa zu Frankreich die in der Hungerkrise entstandene Preisschrift des französischen Popularisierers der Kartoffel: Antoine Augustin Parmentier, Examen chymique des pommes de terre, dans lequel on traite des parties constituantes du bled. Paris 1773. Einen Überblick über Wissensstand und Praxis im Reich bietet: Philipp Ernst Lüders, Kurze Anleitung zum Potatos- oder Kartoffel-Bau. Flensburg 1772. 700 Hans J. Teuteberg, Günter Wiegelmann, Unsere tägliche Kost. Geschichte und regionale Prägung. Münster 1986, 134. 701 Zur Hungerkrise als »Beginn des Kartoffelzeitalters«: André Holenstein, Kartoffel oder Seide? Kulturelle Implikationen agrarischer Interventionen in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft, in: Susanne Hilger, Achim Landwehr (Hrsg.), Wirtschaft Kultur Geschichte. Positionen und Perspektiven. Stuttgart 2011, 157–173, hier 160; Montanari, Hunger, 164 f. Zur ihrer Bedeutung für epochale soziodemographische Transformationen vgl. Hans J. Teuteberg, Zur sozialgeschichtlichen Bedeutung der Kartoffel und ihrer Eingliederung in die deutsche Volkskost,

Wissensgeschichten des Hungers

299

Zahlreiche Agrarreformer experimentierten in Reaktion auf die Missernten privat oder auf den Versuchsgütern mit verschiedenen Kartoffelsorten.702 In Lippe ließ die Obrigkeit Saatkartoffeln verteilen und die Erträge vom Zehnt befreien. Die Regierungen in Württemberg, Kurhannover und Böhmen publizierten ähnliche Apelle und Regulationen. Auch Friedrich der Große nahm in der Krise seine Kampagne für den Kartoffelanbau wieder auf und ließ Modellversuche durchführen.703 Abseits der Vorzeigeprojekte blieb der Erfolg jedoch bescheiden. Die Niederschlagsanomalie traf auch die Kartoffelernte hart. Die dauernde Bodenfeuchte ließ sie verrotten und förderte Krankheiten sowie Pilzbefall.704 Hinzu kamen kulturelle Vorbehalte, da die Kartoffel als Tierfutter und Armenspeise galt, was Konsumenten aus dem Kreis der Bürger auszuschließen drohte. Das entscheidende Hindernis bildete jedoch die Agrarverfassung. Die Kartoffel ließ sich nicht bruchlos in das feste dörfliche Korsett aus Abgaben, kommunalen Fruchtfolgen und herrschaftlichen Anbauzwängen einfügen. Da sie sich mit den Mitteln der Zeit nur begrenzt lagern und transportieren ließ, kam sie auch für Naturalsteuern kaum in Frage. Die Zurückhaltung der Bauern folgte daher vielfach weniger mentalen als vielmehr rechtlichen Barrieren.705 Der kurzfristige Effekt der Hungerkrise blieb dementsprechend begrenzt. In der Fläche konnte sie sich daher erst im Zuge von Bauernbefreiung und Bodenreform im 19. Jahrhundert durchsetzen. Auch in diesem Fall erfolgten die Thematisierung durch die Experten und die empirische Umsetzung um Jahrzehnte versetzt. In der Krise diente die Kartoffel nicht als praktische, sondern als publizistische Maßnahme, die eher den Reformern als den Hungernden half. Den neuen Experten lieferte sie ein symbolisch wichtiges Identifikations­ in: Niilo Valonen, Juhani U. E. Lehtonen (Hrsg.), Ethnologische Nahrungsforschung. Helsinki 1975, 237–265, hier 246. 702 Hannoverisches Magazin 9, 1771, 820 f.; Anon., Anweisung und Nachricht über den Erdäpfel-Bau sonderlich von denen in den Jahren 1771 und 1772 deshalb angestellten Versuchen und Erfahrungen. Zum Besten des Landmanns herausgegeben, in: Abhandlungen und Beobachtungen durch die Ökonomische Gesellschaft zu Bern gesammelt 13, 1772, 1–93. 703 Stadtarchiv Detmold, L 92 A Titel 61, Nr. 9; HStA Hannover, Hann. 74 Münden 6684 (Verordnungen vom 16.8., 1.10. und vom 8.10.1771); HStA Stuttgart L6 Bü 1345 (Verordnung vom 20.10.1770); Brázdil, Hungerjahre, 76. Walter Achilles, Die Intensivierung der Landwirtschaft durch den Kartoffelbau von 1750 bis 1914. Die Bedeutung des Prozesses für Erzeuger und Verbraucher, in: Otterjahn, Ziesow, Kartoffel, 205–235. 704 Vgl. Kap. II.3.1. 705 In größerem Umfang wurde sie daher bis zur Verbreitung der Eisenbahn vielerorts nur im Gartenbau (Mahlerwein, Herren, 204–210), in klimasensiblen Bergregionen oder »im Untergrund« (Mattmüller, Hungersnot, 278 f.) gepflanzt. Zum innerdörflichen Machtkampf um die Kartoffel in der Schweiz und ihrer Funktion als unterbäuerlicher »Waffe« vgl. Holenstein, Kartoffel, 162. Zu typischen Konflikten um die Eingliederung der Kartoffel in das getreidezentrierte Abgabensystem vgl. Hubert Steinke, Die Einführung der Kartoffel in der Waadt 1740–1790. Agrarmodernisierung aus bäuerlicher Sicht, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 45, 1997, 15–39, 17 sowie Roger Peter, Wie die Kartoffel im Kanton Zürich zum »Heiland der Armen« wurde. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Kartoffel in der Schweiz. Zürich 1996.

300

Handeln

objekt, das es ihnen ermöglichte, ihr junges Wissensfeld experimentell zu materialisieren. Wie im Feld der Ökonomie und der Medizin lässt sich auch in den sich konstituierenden Agrarwissenschaften eine eher kommunikativ als pragmatisch hergestellte Hungernutzung beobachten. Dem erheblichen Impuls der Notjahre für die Agrarwissenschaft steht wiederum ein begrenzter Einfluss auf die Agrarpraxis gegenüber. Im Feld materialisierten sich die neuen agrarischen Wissensregimes erst mit erheblicher Verzögerung.706 Auch die Entwicklung von Demographie und Statistik erhielt in den Krisenjahren einen spürbaren Professionalisierungsschub. In den 1760er Jahren waren überall in Europa Ansätze entstanden, die Landesverhältnisse nicht länger in Form qualitativer, punktueller Beschreibungen, sondern systematisch, seriell und mathematisiert zu erfassen. Im Zuge der Ökonomie- und Agrarmode forderten die ersten Vertreter einer eigenständigen politischen Arithmetik und Statistik, die beträchtlichen Wissenslücken der Verwaltungen mit Zahlen zu füllen.707 Die Hungerkrise bildete das Sprungbrett für die Umsetzung dieser Ideen. Sie diente den Befürwortern als Argument und Legitimation. Überall benötigten die Verwaltungen nun kurzfristig und gebündelt Rückmeldungen über die Zustände in den Territorien. Dabei beschränkte sich ihr Informationsbedarf nicht mehr auf die Erfassung der Bevölkerungszahl, wie sie Johann Peter Süßmilch populär gemacht hatte. Er blieb auch nicht länger auf die großen Populationszentren begrenzt. Das gewaltige Ausmaß der Katastrophe erforderte rasche, flächendeckende Angaben, die alle Lebensbereiche abdeckten. Der Bedarf reichte von Erntemengen, Steuereinkommen, Getreideverbrauch und Nahrungsvorräten bis zu Auswanderung, Armut, Vermögen sowie Geburten-, Todes- und Krankenfällen. Die überregionale Ausdehnung der Not machte es zudem unmöglich, all diese Informationen weiterhin in Form qualitativer Berichte zu verarbeiten. Um unter dem Kontingenzdruck der Krise handlungsfähig zu bleiben, mussten die Daten so erhoben werden, dass sie aggregiert und rasch miteinander verglichen werden konnten. Einige größere Projekte der Hungerjahre, wie die Schweizer Schulumfragen, die Habsburgische Seelenkonskription oder die Dachsenbergische Volkszählung in Bayern, wurden bereits vor der Krise geplant und teilweise begonnen. Sie gerieten nun in den Strudel der Notzeit und sagten in der Folge oft mehr über die Krise aus 706 Teuteberg, Wiegelmann, Kost, 134. Umstellungen wie Gemeinheitsteilungen und Fruchtfolgenwechsel erforderten jahrelange Konsultationen und Vorarbeiten. Daher scheiterten die ambitionierten Innovationen der Agrarexperten in der Praxis zunächst. Die Noterfahrung motivierte und legitimierte aber über Jahre hinweg das größere Engagement der Experten. Grüne, Dorfgesellschaft; Achilles, Georg III. Vgl. Esther Berner, Im Zeichen von Vernunft und Christentum. Die Zürcher Landschulreform im ausgehenden 18. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2010, 127–129 zu Bestrebungen der Reformer in der Schweiz im Windschatten der Krisenzeit umfangreiche Veränderungen von der Stallfütterung bis zur Verkoppelung gegen die Dorfaristokratie durchzusetzen. 707 Zur Genese des Begriffs und des Wissensfeldes vgl. Behrisch, Berechnung, 24–32, hier 51; Gehrmann, Bevölkerungsgeschichte, 34–41.

Wissensgeschichten des Hungers

301

als über den eigentlich geplanten Inhalt.708 Mit der Krise kamen unzählige weitere Erhebungen hinzu. Nahezu jedes Territorium bemühte sich nun, über Visitationen, Fragebögen oder amtliche Tabellenwerke einen Eindruck vom Vorrat an Lebensmitteln zu erhalten.709 In Bayern initiierte die Krise die erste statistische Generalerfassung überhaupt. Über die persönliche Visitation aller Haushaltsvorstände erhob man einen »tabellierten Universalkonspekt«, in dem synoptisch Angaben zur Bevölkerungszahl, dem Nahrungsverbrauch und dem Getreidevorrat aufgeführt wurden.710 Auch in Lippe motivierte die Not die erste breite Landesbeschreibung überhaupt, die angesichts der Krise von einer reinen Volkszählung auf die Erfassung agrarischer Daten ausgeweitet wurde.711 Ähnliche Initialprojekte zur Landeserfassung entstanden während der Krisenjahre in Wolfenbüttel und Kurhannover, Schleswig-Holstein, der Kurpfalz, Württemberg, Österreichisch-Ungarn und in Teilen Sachsens. Sie markieren oftmals den Beginn einer konsequenten statistischen Erhebung.712 Viele dieser Erfassungen waren bereits projektiert, profitierten nun aber von der argumentativen Autorisierung durch die Hungerkrise. So konstatierte man etwa in Osnabrück: anjetzo ist die beste Zeit [die geplante Volkszählung] im Stande zu bringen, weilen man den Eingesessenen vorwenden könne, daß [man] nach Anzahl der Menschen den 708 De Vincenti, Educationalizing Hunger; Hochedlinger, Tantner, Berichte, LXVII– LXXIVXXX. In letzterem Fall diente die Anweisung, dass die ursprünglich vorgesehene Militärkonskription nicht auf Kosten der Landwirtschaft gehen sollte, als Einfallstor für Anmerkungen zur Hungersnot und dadurch motivierte Reformvorschläge. 709 Zu diesen Getreidebeschreibungen vgl. FN 15. 710 Behrisch, Berechnung, 219–228. Da die 1770 begonnene ausführliche Volkszählung durch Johann Nepomuk von Dachsberg zu detailliert vorging, um noch in der Krise Ergebnisse zu liefern, entschloss sich die kurbayerische Regierung im Dezember 1770 zu einer separaten Erhebung durch Johann Georg Lori. Sie sollte weniger ausführliche Bevölkerungsangaben erheben, dafür aber auch Konsum und Vorrat verzeichnen. Da diese im März 1771 fertiggestellte Getreidetabelle verloren ist, wird sie häufig mit dem Unternehmen Dachsbergs verwechselt. Im Bemühen beide scharf zu trennen, verneint Behrisch jeden Einfluss der Hungerkrise auf die Dachsenbergische Zählung. Auch sie war aber durch Debatten um Auswanderung (vgl. Kap. IV.2.6.), möglichen Freihandel und territoriale Arrondierung der Inkolate (vgl. Kap. IV, 5.1.) motiviert, die in der Hungerkrise kulminierten und dem aufwendigen Unterfangen so einen deutlichen Legitimationsgewinn beschert haben dürften. Möglicherweise wurden die beiden Zählungen auch zum Spielball in der Auseinandersetzung von Hofkammer und Hofkommission um die Fruchtsperren in der Krise. Behrisch, Berechnung, 213–215, hier 226 f. 711 Behrisch, Berechnung, 113–122. 712 Achilles, Georg III., 364; Gehrmann, Bevölkerungsgeschichte, 52, 59; Popplow, Bienen, 192; Mahlerwein, Herren, 161; Friedrich Nicolai, Einige Anmerkungen über die Auswanderungen aus Wirtemberg, in: Ders., Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, Bd. 9. Berlin 1795, 195–225, hier 198–200; Schünemann, Einstellung, 208–211; Militzer, Klima, Kap. 5.11.2. Zur eigenen Erfassung der Armen in Salzburg und der Kranken in Braunschweig vgl. Weiss, Providum, 50 und Gehrmann, Bevölkerungsgeschichte, 55.

302

Handeln

Korn-Mangel erproben wollte, sonsten befürchte [ich], daß viele, aus Forcht einer bevorstehenden Werbung [zum Militär, D.C.], entweichen mögen.713

Solche Bedenken waren durchaus begründet. Überall trafen die Erhebungen auf Widerstand: Städte und Landstände verteidigten ihre Privilegien, Bauern und Bevölkerung fürchteten Beschlagnahmungen und Besteuerung, die Behörden selbst scheuten den Aufwand und suchten ihre lokalen Wissensbestände zu schützen. Zudem musste die Praxis des tabellarischen Berichts erst aufwendig mit den Lokalbeamten eingeübt werden, die an den personalen Berichtsformen der Anwesenheitsgesellschaft hingen.714 In der Praxis blieben die Tabellenwerke daher oft fragmentarisch und ihr administrativer Nutzen gering. Die anspruchsvolle Auswertung unterblieb zudem oft, nachdem die akute Notlage überwunden war.715 Wie bei Ökonomen und Ärzten bestand das größte Hindernis jedoch darin, dass eine Nutzung der neuen Erkenntnisse, die bestehenden sozioökologischen Arrangements in Frage gestellt hätte. So mussten eine Umverteilung der aufwendig ermittelten Vorräte an den Privilegien der Stände und eine Deckung von Fehlbeständen am agrarzentrierten Steuersystem scheitern. Gleichwohl fungierten die Krisenjahre als Katalysator für die Etablierung statistischer Methoden. Dies galt nicht nur im Reich, sondern auch in den Nachbarstaaten.716 Viele der in den Notjahren angestoßenen Projekte wurden über Jahre fortgesetzt und periodisch weitergeführt. In der Folge hielt die Argumentation mit Zahlen breiten Einzug in die Verwaltungen.717 Immer wieder motivierten die Erfahrungen der Hungerjahre auch demographische Schriften, die zeigten, wie rasch die erheblichen Bevölkerungsverluste wieder ausgeglichen wurden.718 Auf diese Weise bezeugten sie zugleich, wie sich das ungeheure Ausmaß und die Folgen der Krise über Statistiken fassen und bewältigen ließen. Dieser entemotionalisierende und scheinbar neutrale Zugang erwies sich in den krisengeschüttel 713 Zit nach Behrisch, Berechnung, 214, FN 108. 714 Vgl. Kap. IV.1. sowie die Verordnung gegen das persönliche »Anherreisen« der Beamten und die Ermahnung zur schriftlichen Kommunikation, in: Härter, Stolleis, Repertorium, Bd. 11, 589. 715 Berner, Zeichen, 312; Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 162. In Würzburg scheinen die mühsam gegen erheblichen Widerstand zusammengetragenen Daten jedoch tatsächlich als belastbare Grundlage für die Einführung von Magazinen gedient zu haben. Vogt, Massnahmen, 104–107. 716 Auch in Frankreich wirkten die Debatten der Krisenzeit und insbesondere der Konflikt um das Ende des Freihandels 1770 als Schrittmacher statistischer Erfassungsprojekte. Über die Suche nach entsprechenden Daten und die umstrittene Umstellung der Ernteregister auf absolute Zahlen entwickelte sich der neue Finanzminister Terray zum Begründer der französischen Statistik. Behrisch, Berechnung, 340–369, hier 380; Bosher, Crisis, 20. 717 Behrisch, Berechnung, 150–159. 718 Etwa A. F. E. Jacobi, Verhältniß zwischen der Vermehrung und Abnahme der Menschen in einer gewissen Gegend in den Jahren 1770, 1771 u. 1772, in: Hannoverisches Magazin 12, 1774, 47–48; Schlöder, Bonn, 118; Behrisch, Berechnung, 176–187.

Wissensgeschichten des Hungers

303

ten Verwaltungen als zunehmend populär. Er sorgte dafür, dass die Verfestigung der Statistik als Wissensfeld ihrer systematischen Anwendung weit voraus ging.719 Schließlich profitierte auch die Meteorologie von den Krisenjahren. Schon frühere Witterungsextreme hatten vereinzelte serielle Messungen angeregt.720 Im Vorfeld der Regenanomalie war aus einzelnen Wetteraufzeichnungen in bäuerlichen Schreibbüchern und den ersten Messreihen der Akademien jedoch ein rasch expandierender Fundus von Beobachtungen entstanden. Mit der Konjunktur gelehrter Gesellschaften und den verbesserten Messtechniken stand jetzt ein breites Reservoir von Stationen, Instrumenten und motivierten Individuen bereit.721 Für ihre Vernetzung und Institutionalisierung sowie für die Legitimierung gegenüber religiös oder praktisch motivierten Kritikern dienten die Krisenjahre als wichtige Triebfeder.722 Überall regten der Dauerregen und die Verschiebung der Jahreszeiten die Zeitgenossen dazu an, das extreme Wetter zu dokumentieren. Ab dem Jahr 1771 stieg der Benediktinerpater Coelestin Steiglehner im hungernden Regensburg mehrmals täglich auf den Kirchturm, um Temperatur, Luftdruck und Luftfeuchtigkeit zu bestimmen. Seine Arbeiten begründeten eine Messreihe, die über mehr als 50 Jahre fortgeführt wurde. In Ansbach, wo ebenfalls katastrophale Not herrschte, dokumentierte der Gymnasialprofessor Johann Georg Rabe das Extremwetter nun in drei täglichen Instrumentenmessungen.723 Ähnliche Unternehmungen begannen zu dieser Zeit in Nürnberg, Leipzig, Dresden, Meissen, in Schlesien, im Wallis und an anderen Orten und wurden teilweise ebenfalls jahrzehntelang fortgesetzt.724 719 Zur indirekten Wirkung des statistisch-funktionalistischen Diskurses auf die Herrschaftspraxis vgl. Behrisch, Berechnung, 71–73. 720 Etwa Anon., Observationes Meteorologicae, oder Historisch-Physikalische Nachrichten Von dem Strengen Winter An. 1740. Nach seiner eigentlichen Beschaffenheit, wahren Ursachen, besorglichen Folgen, und einigen merckwürdigen Umständen und Vorfälligkeiten, In einem ordentlichen Parallelismo, oder Vergleich Mit dem durch gleiche Kälte bekandten Winter An. 1709. Nach den neuesten Philosophischen Principiis zum Angedencken vorgestellet. Frankfurt a. M., Leipzig 1740. 721 Gustav Hellmann, Die Entwicklung der meteorologischen Beobachtungen in Deutschland von den ersten Anfängen bis zur Einrichtung staatlicher Beobachtungsnetze. Berlin 1926. 722 Vgl. etwa die Diskussion in: Lausitzisches Magazin, 1771, 236 f. ob man wegen Gottes Wirken generell »aufs Zukünftige nichts schlüssen« könne, oder die nun angesichts der Not angestellten aufwendigen »Witterungsgeschichte [doch] nicht umsonst sind«. Zur Beförderung der Entwicklung der Meteorologie durch extreme Wetterlagen im und nach dem 18. Jhd. vgl. Lucian Boia, Weather and the Imagination. London 2005; Jan Golinski, British Weather and the Climate of Enlightenment. Chicago 2007. 723 Zu Steiglehner vgl. FN 831. Rabe, Beobachtungen; Abel, Massenarmut, 242–246. 724 Anon., Witterungsbeobachtungen über einen jeden Tag; Anon., Witterungsbeobachtungen; Pötzsch, Krahl, Auszüge; Johann Ignaz von Felbiger, Anleitung, jede Art der Witterung genau zu beobachten, in Karten zu verzeichnen, zu vergleichen, und daraus besonders für die Landwirthschaft nützliche Folgen zu ziehen. Sagan 1773 [bis ca. 1785 fortgesetzt]; Burri, Zenhäusern, Sommertemperaturen, 192 f. [bis 1802 bzw. 1812 fortgesetzt]; Anon., Meteorologische Beobachtungen. Die neue abstrakte Art der tabellarischen Naturvermessung musste dabei erst noch eingeübt und begründet werden. Das Lausitzische Magazin entschied sich daher für eine

304

Handeln

Die meteorologische Praxis bot ihnen ein neues Mittel, um die Kontingenz des Klimas zu reduzieren – eine Funktion, die sie bis heute innehat.725 Unter dem Druck der Krise ging man aber schon bald über individuelle Beobachtungen hinaus. Stattdessen plante man miteinander verknüpfte Messnetzwerke. Die enorme Reichweite der Klimaanomalie erforderte anstelle lokaler Beobachtungen eine überregionale, institutionalisierte Zusammenarbeit. Aufgrund der Krise hatte Steiglehner in Regensburg das erste Mal überhaupt zeigen können, dass die Messungen der Barometer überregional korrespondierten. Seine Beobachtungen vermittelten erstmals einen Eindruck von der Großräumigkeit meteorologischer Phänomene und ließen die prinzipielle Möglichkeit deutlich werden, ihre Bewegung im Raum instrumentell sichtbar zu machen.726 Der europaweite Regen motivierte überall ähnliche Überlegungen. In Bern entschloss sich die Ökonomische Gesellschaft in der Krise erstmals eigene regionale Beobachter anzuwerben und deren Messungen ab 1770 in ihren Abhandlungen zu veröffentlichen. 1772 stattete man sie zudem mit geeichten Messinstrumenten auf Kosten der Gesellschaft aus, um die Angaben überregional zu standardisieren.727 In Österreich plante der Jesuit Anton Pilgram ein alle Ordensprovinzen umspannendes Netz von Messpunkten, was nur an der Aufhebung des Ordens 1773 scheiterte.728 Zur gleichen Zeit überlegte man in Bayern, die durch die Krise angeregte Landeserfassung um lokale meteorologische Messungen zu ergänzen und zur Koordination ein zentrales Observatorium auf dem Hohenpeißenberg anzulegen. 1781 wurde der Plan umgesetzt und so die älteste Bergwetterstation der Welt gegründet, die seither eine einzigartige, durchgehende Messreihe erhebt.729 Auch in England begann die Royal Society aufgrund der extremen Niederschläge damit, meteorologische Aufzeichnungen anzufordern und zu veröffentlichen.730 Den ambitioniertesten Plan entwarf der führende deutsche Meteorologe Johann Heinrich Lambert 1771 in Berlin. Er forderte die Einrichtung eines weltweiten, standardisierten Netzes von Messstationen, das von europäischen Akademien unter Vorsitz der Londoner Royal Society koordiniert werden sollte (Abb. 9). 1772 publizierte die Berliner Akademie Lamberts Überlegungen gemeinsam mit ihren eigenen Messungen der Regentägliche, gleichwohl aber erzählende Form der Witterungsbeschreibung, da die Leser ja nicht »völlig maschinenmäßig leben.« Lausitzisches Magazin, 1769, 382. 725 Hulme, Future, 249. 726 Winkler, Wetterbeobachtung, 111 zu Vergleichen von London, Regensburg und St. Petersburg. 727 Anon., Meteorologische Tabellen, 1771, 75–122; Burri, Zenhäusern, Sommertemperaturen, 192 f.; Wolf, Sprüngli, 30 f. 728 Marianne Klemun, Aufbau und Organisation des meteorologischen Meßnetzes in Kärnten (19. Jhd.), in: Carinthia II 184, 1994, 97–114, hier 98. 729 Zu diesem aus der Krise geborenen Plan der Verkoppelung von Ernteregistern mit Witterungsinformationen vgl. Behrisch, Berechnung, 220; Rankl, Politik, 774. 730 Barker, Letter sowie seine Folgemessungen in Philosophical Transactions of the Royal Society 61, 1771, 227–229; 62, 1772, 42–45; 63, 1773 f., 221–223; 64, 1774, 202–204.

Wissensgeschichten des Hungers

305

Abb. 9: Johann Heinrich Lambert, Plan eines globalen meteorologischen Messnetzes 1771 (Lambert, Exposé, 65).

jahre. Lamberts Plan konzipierte die Meteorologie nun selbstbewusst als eigenes Wissensfeld und skizzierte den Weg zu ihrer internationalen Institutionalisierung über eigene Observatorien. Vor dem Hintergrund der europäischen Klimaanomalie wurde er breit rezipiert.731 Zu seinen Fürsprechern gehörte auch der einflussreiche Universalgelehrte Johann Heinrich Gatterer, der sich angesichts der Entwicklungen in den Krisenjahren sicher war, dass sich die Witterung mithilfe penibler Statistik ebenso würde vermessen lassen wie die Sterne oder die Geschichte.732 Die extreme Witterung machte nun auch konzeptionelle Überlegungen möglich, die vorher kaum denkbar erschienen. So zog der Jesuitenpater Joseph Wal 731 Johann Heinrich Lambert, Exposé de quelques Observations qu’on pourrait faire pour répandre du jour sur la Météorologie, in: Nouveaux Mémoirs de l’Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres 2, 1771, 60–73. Dem Text folgte im Heft: Beguelin, Extrait, 1771. Eine deutsche Version von Lamberts Plan erschien in Felbiger, Anleitung, der seinem Text in ähnlicher Absicht tabellarische Vorlagen für die Witterungsbeobachtung durch die interessierte Bevölkerung beigab. 732 Vor dem Hintergrund der Krisenjahre erhoffte Gatterer sich vor allem Erkenntnisse zum Zusammenhang von Klima und Krankheiten sowie dem Einfluss von Witterung und ihren Verläufen auf die Menschheitsgeschichte. Gatterer hatte ebenfalls im Wasserjahr 1770 mit eigenen Messungen begonnen und entwickelte daraus eine umfassende historische Klimatheorie. Martin Gierl, Geschichte als präzisierte Wissenschaft. Johann Christoph Gatterer und die Historiographie des 18. Jahrhunderts im ganzen Umfang. Stuttgart 2012, 11 f., 258–274.

306

Handeln

cher während einer Reise zu den rasch aufwachsenden Alpengletschern im Jahr 1771 erstmals eine Verbindung zwischen Klimaschwankungen und Gletschervorstößen.733 Bei den Meteorologen wuchs allgemein die Zuversicht, dass Wetter­ geschehen nun nicht mehr bloß beobachten, sondern auch erklären zu können. In den Braunschweigischen Anzeigen von 1771 stellte man angesichts der parallelen Anomalien in Indien und Europa mit ihrer klaren Aufteilung von Dürre und Nässe erste Überlegungen zu globalen Telekonnektionen und periodischen Klimaschwankungen an. Um deren Systematik zu erfassen, forderte man nicht nur den Aufbau eines Messnetzes mit standardisierten Daten, sondern ging noch einen Schritt weiter. Man schlug vor, die aktuellen Messungen durch historische Daten zu ergänzen, um die Bandbreite der Witterungsverläufe kompetent einordnen zu können. In der Folge skizzierte man nicht weniger als ein erstes Programm für eine Historische Klimatologie. Sie solle, die in mancherley Schriften enthaltenen Anmerkungen und Erzehlungen von ungewöhnlich harten Wintern, großen Überschwemmungen, viele Monathe lang angehaltenem Regenwetter und anderen dergleichen großen Abweichungen von der in jedem Land sonst gewöhnlichen Witterung sammeln, und so viel möglich unter einen Gesichtspunkt bringen.

Dadurch ließen sich historische und instrumentelle Informationen so »zusammen bringen, daß diese größeren Perioden [der Witterung], die gewiß in der Natur sind, genauer ausgerechnet, und in eine Art von System gebracht werden können«. Damit fokussierte man nun statt dem Wetter das Klima. Das selbstbewusste Ziel dieser Unternehmungen sei ebenso ein Ende der Hungersnöte wie eine »ins große gehende Witterungstheorie«.734 Entsprechende Vorschläge genossen vor dem Hintergrund der Regenanomalie großes Ansehen und Aufmerksamkeit. 733 Tobias Krüger, Die Entdeckung der Eiszeiten. Internationale Rezeption und Konsequenzen für das Verständnis der Klimageschichte. Basel 2008, 73 f., 112. Walcher war 1771 ins Ötztal gereist und beobachtete dort akute Gletschervorstöße von mehr als einhundert Metern im Jahr. Zuvor war man von periodischen Schwankungen ausgegangen – etwa im biblischen Rhythmus von sieben Jahren. Joseph Walcher, Nachrichten von den Eisbergen in Tyrol. Wien 1773, 5, 36. Zum Gletscherwachstum um 1771 vgl. Barriendos, Anomaly, 207. 734 Die Messungen sollten nicht nur dazu dienen, mit dem Mythos göttlicher Strafgerichte aufzuräumen und informierte Entscheidungen über Vorsorgemaßnahmen zu erlauben, auch die »Hungersnoth würd auf einmal von der Erde verschwinden«. Anon., Vermuthungen, 804 f. Als Inspiration nannte der Autor unter anderem die Erfolge der Statistik. Ebd., 795. Versuche mit Wettervorhersagen, die sich nun auf Statistik statt auf Astrologie gründeten, waren in der Krisenzeit äußerst populär. Vgl. für eine Jahresprognose samt ihrer retrospektiven empirischen Überprüfung vgl. P. M. Hahn, Muthmaßliche Witterungs-Anzeige aufs Jahr 1772 für Würtemberg, in: Oekonomische Beiträge und Bemerkungen zur Landwirthschaft 3, 1772, 66–70, und Ders., Erfolg der muthmaßlichen Witterungs-Anzeige von der Mitte des Septembers 1771, in: Ebd., 4, 1773, 63–70.

Wissensgeschichten des Hungers

307

1780 mündete Lamberts Plan aus den Hungerjahren schließlich in der Gründung der Mannheimer Societas Palatina Meteorologica, die mit der Verteilung kosten­ loser, standardisierter Instrumente das erste moderne Messnetz der Welt errichtete. Damit institutionalisierte sie die Meteorologie endgültig als eigenes Fach jenseits der bäuerlichen Wetterkunde – an der Erklärung der Klimaanomalie der 1770er Jahre arbeitet sie bis heute.735 Der Blick auf all diese Wissensfelder illustriert die intensive ›Hungernutzung‹ der Experten. Ökonomen und Ärzte, Agrarreformer und Statistiker begriffen die Notjahre als Chance. Sie dienten ihnen dazu, eine Gruppenidentität zu entwickeln, ihre Arbeitsgebiete als eigenständige Disziplinen zu etablieren und sich selbst erfolgreich für den Staatsdienst zu empfehlen. Aus der Perspektive der Wissensgeschichte ist auffällig, wie sehr dabei die Wissenschaft dem Wissen selbst voraus ging. Die Etablierung als Expertengruppe und die Arrondierung als Wissensfeld erfolgte oft lange bevor die ersten empirischen Erkenntnisse vorlagen. Der Kontingenzdruck der Krise dürfte diese Entwicklung erheblich befördert haben. Die akute Not erlaubte es nicht, erst auf konkrete Ergebnisse zu warten. Stattdessen zählten nun plausible Vorschläge. Der Erfolg der Experten hing daher in erster Linie von ihren kommunikativen Fähigkeiten ab. Er folgte der argumentativen, nicht der experimentellen Suggestion von Evidenz. Diese sozialen Rahmenbedingungen bilden hier nicht bloß einen Teil des wissenschaftlichen Prozesses, sondern seine Vorbedingung. Das Missverhältnis zwischen dem eigenen Anspruch und den Resultaten provozierte allerdings auch Selbstkritik. Mit den Hungerjahren geriet etwa die ›Volksaufklärung‹ in eine tiefe Krise. Die verheerende Not führte klar vor Augen, wie wenig die selbsternannten Aufklärer bewirkt hatten und wie gering der Erfolg der bisherigen Bemühungen gewesen war. Ernüchtert konstatierten die Volkspädagogen, dass man am Volk vorbei und stattdessen nur miteinander geredet hatte.736 In der Krisenzeit mit ihren begrenzten Spielräumen stieß der Ansatz an seine Grenzen, Wandel 735 Gierl, Geschichte, 272 sowie Cornelia Lüdecke, Von der Kanoldsammlung (1717–1726) zu den Ephemeriden der Societas Meteorologicae Palatina (1781–1792). Meteorologische Quellen zur Umweltgeschichte des 18. Jahrhunderts, in: Popplow, Landschaften, 97–119. Zur Dynamik von bäuerlicher Praxis und Expertentum in diesem Feld vgl. Erich Landsteiner, Bäuerliche Meteorologie. Zur Naturwahrnehmung bäuerlicher Weinproduzenten im niederösterreichisch-mährischen Grenzraum an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 1, 1993, 43–62. 736 Böning, Siegert, Volksaufklärung, XXXVII–XXXIX. Zur Selbstkritik der Reformer in der Hungerkrise vgl. ebd., Nr. 765, 768, 788, 805, 846, 905, 932, 1032 sowie S. 743. Einige konstatierten nach einem Blick in die Abonnentenverzeichnisse der eigenen Zeitschrift, dass »den meisten Theil gesittete Bürgersleute« statt der adressierten Bauern ausmachten. Philipp Ernst Lüders klagte rückblickend, dass die Agraraufklärung kaum Ergebnisse zeigte und setzte nach: »Der gute Erfolg will sich nicht so geschwinde zeigen, als ich wünsche. Ich werde alt«. Ebd., Nr. 827, 1024. Zum weitgehenden Scheitern der Bauernaufklärung vgl. Achilles, Agrargeschichte, 94–98.

308

Handeln

allein durch technologische Ideen und ohne soziale Reformen voranzubringen. Eine Alternative bot sich den ambitionierten Experten jedoch nicht. Ihr eigener sozialer Aufstieg nahm die soziale Abgrenzung nach unten nicht nur in Kauf. Für Ärzte, Ökonomen und Agronomen bildete die Exklusion der bloßen Praktiker sogar die Bedingung für ihren eigenen Erfolg. Die Teilhabe an der Funktionselite bedingte die ostentative Bewahrung der ständischen Ordnung – eine Haltung, die sich in Ratgeberartikeln niederschlug, in denen auf der einen Seite Wurzelsuppen (»etwas für Arme«) und auf der anderen Kakao (»etwas für Reiche«) vorgestellt wurden.737 Rückblickend formierte sich in und mit der Krise in vielen Wissensfeldern eine neue ›Expertokratie‹. Die Ausnahmesituation der Krise ermöglichte es, dass diese Entwicklung – ähnlich wie im Falle des ›scheiternd-erfolgreichen Staates‹ – nicht auf praktischen Erfolgen, sondern auf kommunikativer Dominanz beruhte.738 Das Labor der Notjahre erwies sich als Katalysator für neue Praktiken der Abstraktion, der Vermessung und der Naturalisierung sozialer Problemlagen, die später die Art prägten, wie der Staatsapparat Umwelt und Bevölkerung konzipierte.739 Edmund Burke, der sich während der Hungerkrise energisch gegen jede Veränderung des status quo gestemmt hatte, fasste diesen fundamentalen Umschwung in der Rückschau mit den Worten zusammen: »The age of chivalry is gone, that of the sophisters, economists, and calculators has succeeded«.740

5.  Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort 5.1.  Regensburg und der Reichstag – Mikropolitik des Hungers Die konkreten Verflechtungen von naturalen Impulsen und sozialem Handeln, von Strukturen und Ereignissen, von Deutungen und Praktiken lassen sich am besten aus der Nähe beobachten. Städte bildeten dabei einen eigenständigen Ökotypus. Historische Forschungen betonen oft die rechtliche, wirtschaftliche und kulturelle Sonderstellung der Stadt. Die Umweltgeschichte erinnert hingegen an die konstitutiven Verflechtungen mit der umgebenden naturalen Umwelt.741

737 Erfurter Intelligenzblatt, 1770, 355 f. 738 Vgl. Kap. IV.3.2. 739 Zur größeren Bedeutung von Wissenstechniken gegenüber Fakten für den Blick des Staates vgl. Behrisch, Berechnung 493–506; Scott, Seeing und Brendecke, Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft. Köln, Weimar, Wien 2009. Zur Katastrophenforschung als »citadel of expertise« vgl. Alessa Johns, Introduction, in: Dies., Visitations, XI–XXV, hier XX. 740 Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France. London 1790, 59. 741 Zur Umweltgeschichte der Stadt vgl. Dieter Schott, Europäische Urbanisierung (1000– 2000). Eine umwelthistorische Einführung. Köln 2014.

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

309

Die prekäre Ökologie des urbanen Metabolismus wird in Krisenjahren besonders sichtbar. Städte sind etwa auf den beständigen Fluss von Ressourcen angewiesen. Gegenüber Hungerkrisen waren sie daher doppelt verletzlich. Zum einen benötigten sie für ihre Versorgung stetige Nahrungszufuhr. Getreidesperren der Nachbarn trafen sie entsprechend hart. Zum anderen lebte ein großer Teil der Einwohner vom Handel mit dem Umland. Brach die Nachfrage aufgrund steigender Getreidepreise ein, blieben viele Bewohner ohne Verdienst. In Städten bündelten sich daher die Konfliktlagen der Krisenzeit 1770–1772 auf engstem Raum. In Regensburg kamen noch drei weitere Ebenen hinzu: 1. Die vollständige Sperre der Getreideeinfuhr durch das umgebende Kurfürstentum Bayern. Sie zielte mittelbar darauf, die freie Reichsstadt zu mediatisieren und in das bayerische Territorium einzugliedern. 2. Die Lage an der Donau. Sie machte die Stadt in der Notzeit zum Transitraum für zahlreiche Auswanderer und Hungerflüchtlinge. 3. Der in der Stadt tagende Immerwährende Reichstag. Er koordinierte vor dem lokalen Hintergrund der hungernden Stadt die reichsweiten Hilfsmaßnahmen. Überlebensökonomie, Reichspolitik und Migration stießen so im Stadtraum aufeinander. Der Blick auf den sozionaturalen Schauplatz Regensburg erlaubt nicht nur die Beobachtung von Inklusions- und Exklusionsmechanismen sowie die politische Instrumentalisierung von Hungerkrisen. Er bietet auch die Möglichkeit, die Gebundenheit von großen politischen Entscheidungen in lokalen Praktiken zu untersuchen. Regensburg zählte um 1770 knapp 20.000 Einwohner. Obwohl die ökonomische Bedeutung der Stadt seit dem Spätmittelalter zurückging, gehörte sie weiterhin zu den Großstädten im Reich. Die Einwohnerschaft war vielfach untergliedert, sowohl im Hinblick auf Konfession wie auf Stand und Rechtszugehörigkeit. Etwa 7–8.000 Einwohner waren Protestanten. Aus dieser Gruppe rekrutierte sich auch die schmale Elite der etwa 800 Familien mit Bürgerrecht sowie der Stadtrat. Die Unterschichten stammten hingegen weitgehend aus der Gruppe der Einwohner, die wie das Umland katholisch waren. Dazu zählte auch der Großteil der ca. 2.000 in der Stadt sesshaften Armen. Aufgrund des Immerwährenden Reichstags kamen über 100 Gesandtschaften mit ihrem Personal zur Stadtbevölkerung hinzu. Innerhalb der Mauern residierten neben der Verwaltung der Reichsstadt zahlreiche weitere institutionelle Akteure. Dazu zählte neben dem Reichstag das regionale Fürstenhaus Turn und Taxis, das Bistum und Hochstift Regensburg sowie die ebenfalls reichsunmittelbaren Klöster St. Emmeram, Obermünster und Niedermünster. Ihre oftmals konkurrierenden und sich überschneidenden Rechte schlugen sich in einer polyzentrischen Herrschaftsstruktur nieder. Das Hoheitsgebiet Regensburgs beschränkte sich jedoch ausschließlich auf die Reichsstadt selbst. Das Kurfürstentum Bayern rückte auf allen Seiten »bis auf Steinwurfweite« an die Mauern heran, kontrollierte sämtliche Zufahrtswege zur Stadt und konnte damit nachhaltig auf

310

Handeln

ihr Wirtschaftsleben Einfluss nehmen.742 Bereits die Ortschaft Stadtamhof am anderen Ende der Donaubrücke war bayerisch. Allerdings besaßen das Regensburger Hochstift oder die Klöster auswärtige Besitzungen und spielten damit für die Ressourcenzufuhr der Stadt in Krisenzeiten eine zentrale Rolle. Die wirtschaftliche und politische Lage in Regensburg war bereits vor den Krisenjahren angespannt. Der bayerische Kurfürst Maximilian III. Joseph versuchte beständig, die privilegierte Reichsstadt inmitten seines Territoriums unter Druck zu setzen. Bereits Anfang 1770 wandte sich der Kurfürst an Kaiser Joseph II. mit der Aufforderung, den Reichstag zu beenden oder zu verlegen. Mitte des Jahres beklagte er sich bei der Stadt erneut über Rechtsverletzungen im Zusammenhang mit dem Aufkauf von Getreide in seinen Territorien. Die entsprechenden Konflikte um die Privilegien von Reichstadt und Reichstag bei der zollreifen Einfuhr von Ressourcen gingen Jahrzehnte zurück.743 In der Folge gehörten Teuerungen, hohe Getreidepreise und bayerische Sperren zum Regensburger Alltag.744 Die Reichsstadt suchte ihren Schutz traditionell bei Kaiser und Reichstag. Auch die katholischen Hochstifte in der Stadt standen trotz der konfessionellen Nähe nicht an der Seite der Kurfürsten.745 Als im Sommer 1770 nach schweren Regenfällen und anhaltender Kälte deutlich wurde, dass eine verheerende Missernte drohte, nutzte der Kurfürst die Großwetterlage für seine Zwecke. Am 27. August 1770 verbot Bayern jeden Getreideexport in die Reichstadt.746 Rund um Regensburg errichteten bayerische Beamte einen Ring von Sperren und Mautstationen. Auf der bayerischen Seite der Donaubrücke ließ der Kurfürst einen eigenen Getreidemarkt anlegen. Um seiner Absicht Nachdruck zu verleihen, errichtete man hier, gut sichtbar für die Stadtbewohner, einen Galgen, 742 Peter Schmid, Regensburg. Freie Reichsstadt, Hochstift und Reichsklöster, in: Anton Schindling, Walter Ziegler (Hrsg.), Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, Bd. 6. Münster 1996, 36–57, hier 40. 743 Zum Konflikt um die Einfuhr von Holz vgl. Martin Knoll, Regensburg, der Reichstag und das Holz. Aspekte eines Ressourcenkonflikts um städtischen Bedarf, reichstädtische Repräsentation und territoriale Wirtschaftspolitik im späten 18. Jahrhundert, in: Wolfram Siemann, Nils Freytag, Wolfgang Piereth (Hrsg.), Städtische Holzversorgung. Machtpolitik, Armenfürsorge und Umweltkonflikte in Bayern und Österreich (1750–1850). München 2002, 3–54. Zur bayerischen Abschnürungspolitik vgl. Roland Schönfeld, Studien zur Wirtschaftsgeschichte der Reichsstadt Regensburg im achtzehnten Jahrhundert (Verhandlungen des historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg 100). Regensburg 1959, 32–41. 744 Vgl. zu den Teuerungskrisen 1622, 1696 und 1740 StAR, Dekrete 1467, 0272, 0196. Schon während der Missernten 1435, 1445, 1515 und 1696 antwortete Bayern mit Getreidesperren auf Engpässe (Carl Theodor Gemeiner, Regensburgische Chronik, Bd. 3. München 1971, 69, 143 und Bd. 4. München 1971, 61 f.) sowie auf Regensburger Spekulation, »Finantzerey« und Schmuggel. StAR, Dekrete, 0272. 745 Der Kurfürst versuchte in der Hungerkrise unter anderem, verpfändetes Gebiet des Bistums Regensburg um Donaustauf zu mediatisieren, und trieb den Fürstbischof damit auf Seiten des Kaisers. Erhard Meissner, Fürstbischof Anton Ignaz Fugger 1711–1787. Tübingen 1969, 165–181. 746 HStA München, Kurbayerische Mandatensammlung 27.8.1770.

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

311

an dem überführte Getreideschmuggler hingerichtet werden sollten.747 Zuletzt versuchte man sogar, den Fischfang auf der Donau zu unterbinden und damit auch die ›nasse Grenze‹ der Stadt zu schließen. Diese drastischen Maßnahmen begründete Bayern mit der eigenen Notlage und der durchaus berechtigten Befürchtung, dass die Regensburger ihre reichsstädtischen Privilegien zur »Getreide-­Kauderey« und für Spekulationsgeschäfte mit Nahrungsmitteln nutzten.748 Die Motivation zu diesem außergewöhnlichen Schritt wird zumeist im schwelenden Streit des Kurfürstentums mit dem Kaiserhaus und der Reichsstadt gesehen, der in bayerischen Mediationsversuchen der Enklave Regensburg resultierte.749 Allerdings waren die Notlage Bayerns und die Bedenken gegenüber dem Missbrauch der reichsstädtischen Handelsprivilegien nicht bloß vorgeschoben. Das Recht auf zollfreien Einkauf eröffnete den Stadtbürgern die Möglichkeit, hohe Spekulationsgewinne einzulösen. Regensburger Aufkäufer hielten sich überall in Bayern auf und sorgten mit ihren Sonderrechten für Unmut.750 Dies galt zumal angesichts der verheerenden Missernte, die das bayerische Umland zu verzeichnen hatte. In einem Bericht an die Regierung schilderten bayerische Beamte extreme Regenfälle. Sie hätten Bayern und die Oberpfalz durch beständige Nässe, Wassergüsse und die fast an allen Orten hervorgequellte unterirdische Hidl-Wässer, schon a[nn]o 1769 in etwas a[nn]o 1770 aber dermassen heftig betroffen, das an allen Feldfrüchten und anderer Erdgewächse ein solcher Mangel sich ergab, daß ein Universal-Getreideabgang und mangel an allen für Menschen und Vieh zum Lebensunterhalt benöthigten Victualien erschienen ist.751 747 Gumpelzhaimer, Geschichte, 1664–1666. Die in Bayern am 9.11.1771 dekretierte Todesstrafe für Getreideschmuggel scheint tatsächlich in Einzelfällen angewandt worden zu sein. Vgl. Rankl, Politik, 760; Reichs-Tags-Diarium 1771, 253. 748 Gumpelzhaimer, Geschichte, 1666–1668. 749 Vgl. etwa Claus Zernetschky, Die Regensburger Wirtschaft in der Zeit des Immerwährenden Reichstags, in: Martin Dallmeier (Hrsg.), Reichsstadt und immerwährender Reichstag (1663–1806). 250 Jahre Haus Thurn und Taxis in Regensburg. Kallmünz 2001, 53–62, hier 57; Schönfeld, Studien, 39; Eckehard J. Häberle, Zollpolitik und Integration im 18. Jahrhundert. Untersuchungen zur wirtschaftlichen und politischen Integration in Bayern von 1765 bis 1811. München 1974, 167. 750 Besonders auf der benachbarten Straubinger Schranne kam es zu »Exzessen«, »Vor- und Vielkauf« und »ungebührlichem Betragen« der Regensburger. Intern gestand die bayerische Regierung sich aber ein, dass dabei auch Straubinger »Traid-Kauderer« beteiligt waren. StA Wolfenbüttel, 2 Alt Nr. 1286, fol. 2,6, 8–9. Zu den Aufkäufern vgl. Anon., Rechtmäßigkeit derjenigen churbaierischen Landesverordnungen welche von einigen Comitialgesandtschaften zu Regensburg als reichssatzungswidrig und ihren Freyheiten zuwider beurtheilt, und angefochten worden […]. Mit Betrachtungen von neuem zum Druck gegeben. Regensburg 1770, 106. Zum hochprofitablen Weiterverkauf von bayerischem Getreide unter dem Deckmantel der Eigenversorgung durch die Inkolate Regensburg und Passau vgl. Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 75 f. sowie Zernetschky, Wirtschaft, 56. Zu Missbrauch und heimlicher Weitergabe der »Politen« genannten Siegel, die Regensburger Bürgern den zollfreien Einkauf ermöglichten, vgl. Wiesand, Sammlung, 44 f., 63 f. 751 Bericht des Hofkammerrats Schab, zit. nach Rankl, Politik, 745.

312

Handeln

Im oberpfälzischen Mitterteich war es im Frühjahr 1770 so kalt gewesen, dass man noch im Mai Schlitten fahren konnte und tausende Vögel verhungert auf den Straßen lagen.752 Schon lange vor der Ernte stiegen die Preise scharf an. Der bayrische Staatsbeamte und Ökonom Joseph von Hazzi schilderte im Rückblick: »Den ganzen Julius und August sah man kläglich zum Himmel, ob des Regens noch kein Ende werde, um die Aernte zu beginnen«.753 Als man im September begann, das Getreide einzufahren, konnte nur der regentolerantere Roggen überhaupt ausgedroschen werden. Die Erntemengen lagen aber nur bei einem Drittel des Üblichen. Augenzeugen beobachteten ein zunehmendes Klima der Gewalt. Weite Teile der Bevölkerung seien von der »Angst ergriffen, zu erhungern«. In der Münchener Markthalle kam es daraufhin zu chaotischen Zuständen. Die Käufer drängten sich »wie zu einer Brodspende hin. Man war des Lebens nicht sicher«. Um die Jahreswende 1770/71 sei Getreide auch in der Hauptstadt so knapp geworden, dass man Diener schon in der Nacht zum Bäcker um Brot schicken musste, »um an den künftigen Morgen es zu erhalten; die Dienstboten kamen nebenbey meist mit blutigen Köpfen zurück. Arme und Bettler durchzogen gründlich die Straßen. Manche blieben auch vor Hunger und Erschöpfung da liegen«. Auf dem Land wurden selbst die Einkäufer der Armee auf den angespannten Märkten verprügelt. Daraufhin zogen in der Oberpfalz unversorgte Truppen plündernd durch das Land.754 Räuberbanden wie der »bayerische Hiesl« fanden nun überall Unterstützung, da sie den Druck des hungrigen Wildes auf die Getreidefelder reduzierten. Anderswo taten sich bewaffnete Bauern zusammen, um selbst nachts auf die Jagd zu gehen. Bald klagte der Fürst von Thurn und Taxis in Regensburg, dass auch die reitende Post auf dem Land von »Raubgesindel« angegriffen werde. In weiten Bereichen drohte die öffentliche Ordnung zusammenzubrechen.755 Die bayerische Regierung beantwortete die rasch eskalierende Not mit einer Flut von Dekreten. Ein Großteil reagierte darauf, dass das wirtschaftlich schwache Bayern in der Krise sein Getreide an kaufkräftigere Nachbarn zu verlieren drohte.756 Schon am 9. Juli erließ das Kurfürstentum eines der ersten Exportverbote im 752 Joseph Bartholomäus Mayr, Geschichte des Marktes Mitterteich in der Oberpfalz nach Urkunden und anderen Quellen, in: Verhandlungen des historischen Vereins von Oberpfalz und Regensburg 35, 1880, 153–284, hier 267. 753 Hazzi, Betrachtungen, 39. 754 Ebd., 40, 66 f.;Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 145 f. 755 Rankl, Politik, 761; HStA München, Kurbayerische Mandatensammlung 27.5.1771; GStA PK I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 179, fol. 63–65. Einen Überblick über die Hungersnot und den Kontrollverlust in Bayern bieten: Rankl, Politik; Hazzi, Betrachtungen, 25–76 und Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 82–149. Zur desaströsen wirtschaftlichen Lage und den erheblichen Bevölkerungsverlusten während der Krise vgl. W. Robert Lee, Zur Bevölkerungsgeschichte Bayerns 1750–1850. Britische Forschungsergebnisse, in: Vierteljahresschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 62, 1975, 309–338. 756 Bis 1772 erschienen 53 Dekrete zur Hungersnot. Vgl. HStA München, Kurbayerische Mandatensammlung. Das Kurfürstentum war ein Nettoexporteur von Getreide. In Mangeljah-

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

313

Reich. Zahlreiche Mandate zielten anschließend darauf, die lokale Versorgung mit Getreide sicher zu stellen. Die Bemühungen unterstreichen, dass das Kurfürstentum trotz seines vergleichbar geschlossenen Territoriums im Inneren extrem heterogen verfasst war. Ähnlich wie die anderen Territorien des Reiches war Bayern mit privilegierten Indigenaten und Inkolaten durchsetzt. Auf dem zentralen Feld des Getreidehandels genossen zudem Adel, Geistlichkeit und Ritterorden zahlreiche Sonderrechte. Neben Regensburg verfügten auch die Enklaven Freising, Passau und Leuchtenberg sowie das benachbarte Erzbistum Salzburg über Privilegien zur Selbstversorgung mit bayerischem Getreide. In der mit einer eigenen Regierung versehenen Oberpfalz kamen Münchener Dekrete generell nur bedingt zur Geltung. Wie im Großteil des Reiches war auch die bayerische Getreidehandelspraxis durch lokale Sonderrechte sowie durch Eigensinn bis hin zu offenem Schleichhandel und Widerstand gekennzeichnet.757 Die bayerische Sperre gegen Regensburg muss auch vor diesem Bemühen verstanden werden, in und mithilfe einer Notsituation einen einheitlichen Handels- und Versorgungsraum zu etablieren. Der urbane Metabolismus In Regensburg verursachte die bayerische Sperre vom August 1770 unmittelbar große Not. Bis zum Jahresende stieg der Roggenpreis auf das Dreifache des Vorjahrespreises. Im Folgejahr erreichte er das Sechs- bis Achtfache. Für die vielen ärmeren Stadtbürger, die den weit überwiegenden Teil ihrer Einkünfte für Brot ausgaben, bedeutete diese Verteuerung eine Katastrophe.758 Entsprechend konfliktträchtig gestaltete sich die Durchsetzung der Sperren. Wie überall im Reich ren stiegen die Getreideabflüsse aus Bayern oft bedrohlich an. Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 18. 757 Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 40–89. 758 Die offiziellen Preise für Getreide wurden wöchentlich im Regensburgischen Diarium veröffentlicht. Sie stiegen von durchschnittlich 19 Gulden pro Schaff (= 586 Liter) im Winter 1769/70 auf 50 Gulden. Danach wurden während der Krise keine Preise mehr für diese großen Einheiten angegeben. Der Stadtarzt Schäffer nennt Spitzenpreise von 120 Gulden, das Sechsfache des früheren Preises. Jacob Christian Gottlieb Schäffer, Versuch einer medicinischen Ortbeschreibung der Stadt Regensburg, Nebst einer Uebersicht der Krankheiten, welche in den Jahren 1784/86 daselbst geherrscht haben, Regensburg 1787, 38. Ähnliche Steigerungen nennt unter Verweis auf heute nicht mehr vorhandene Getreidetafeln im Stadtmuseum: Schönfeld, Studien, 39. Im Diarium wurde daher seit Anfang 1771 nur noch das Kleinhandelsmaß Strich für gemahlenes Getreide gelistet. Es entsprach 27 Litern und stieg bis Ende 1770 zunächst von 40 auf 119, ein Jahr darauf sogar um das Achtfache auf 324 Kreuzer an. Die Brotpreise stiegen aufgrund von Subventionen weniger stark. Je nach Brotsorte schwankte entweder der Preis oder das Gewicht. Placidus Heinrich, Bestimmung der Maaße und Gewichte des Fürstenthums Regensburg. Regensburg 1808, 100. Der offizielle Brotpreis wurde im Oktober 1770 begrenzt und durch subventioniertes Getreide gestützt. Seither stieg er etwas langsamer als der Getreidepreis. Es war aber keineswegs garantiert, dass Brot zu diesem Preis auch erhältlich war. Reichs-TagsDiarium, 1771, 211 f.

314

Handeln

stritt man zunächst über die genauen Modalitäten der Exportverbote. Betraf sie nur kurbayerisches Getreide oder auch Korn, das von außerhalb durch bayerisches Territorium durchgeführt wurde? Wie verhielt es sich mit den Abgaben, die bayerische Besitzungen ihren Regensburgischen Herren sowie den Klöster und Stiften der Stadt schuldig waren? Durften die Reichstagsgesandten weiterhin Getreide einführen, wie es ihnen vertraglich zugesichert war? Galt dies auch für ihre Angestellten? Welche Mengen durften nach Regensburg einreisende Besucher mit sich führen? Nach zähen Verhandlungen stand Ende des Jahres fest, dass der Kurfürst nur noch Getreide von außerhalb Bayerns sowie die geistlichen Zehnten passieren ließ. Für die Gesandten bewilligte man eine eng begrenzte Quote.759 Wie bei allen zeitgenössischen Getreidesperren ist die Effektivität dieser Maßnahmen unsicher. Zwar ließ sich die Zufuhr in das kompakte Stadtgebiet gut überwachen, die Zöllner waren jedoch notorisch unterbezahlt und bestechlich. Zugleich war die Trennung von bayerischem, ausländischem und geistlichem Getreide mithilfe von Pässen anfällig für Betrügereien. Dies galt zumal, da die umliegenden Bauern ihr Getreide lieber auf dem großen Markt der kaufkräftigen Stadt verkaufen wollten und ihrerseits die neue bayerische Schranne vor den Toren der Stadt boykottierten.760 Der Regensburger Stadtrat bemühte sich in dieser angespannten Situation intensiv um Abhilfe. Man ergriff alle Maßnahmen des Kanons städtischer Nahrungspolitik. Zunächst nahm die Stadt Kontakt mit allen beteiligten Akteuren auf. An die Regierung in München sandte man angesichts der bedrohlichen Lage unterwürfige Bittschreiben.761 Um dem Kurfürsten dass Entgegenkommen auch symbolisch zu demonstrieren, ließ man in der Stadt unter Trommelwirbel eine Verordnung gegen den Getreideschmuggel verlesen. Als Strafe wurde der Verlust des Bürgerrechts angedroht.762 Stadtbeamte führten Visitationen durch, um wenigstens die schmalen städtischen Vorräte zu sichern. Zugleich wandte man sich, in einer mit Gesandten und Reichsdirektorien konzertierten Aktion mit der Bitte um Hilfslieferungen an Nachbarländer, Reichskreise und den Kaiserhof.763 Daneben bemühte man sich, trotz der hohen städtischen Verschuldung im Aus 759 Churbaierisches Intelligenzblatt, 1770, 245, 257, 259, 312; Schönfeldt, Studien, 39. In der Praxis war diese Einfuhr aber oft unmöglich. Reichs-Tags-Diarium, 1771, 235. Wie heftig in dieser Situation auch Gerüchte wirken können, zeigen die Turbulenzen, die ausbrachen, nachdem eine Hamburger Zeitung gemeldet hatte, dass der Verkauf an Stadtbürger freigegeben würde. Churbaierisches Intelligenzblatt, 1770, 284 f. 760 Gumpelzhaimer, Geschichte, 1666; Zernetschky, Wirtschaft, 56–58. Der Missbrauch von Pässen war ein Dauerthema der wechselseitigen Verhandlungen. Vgl. Reichs-Tags-Diarium, 1771, 162, 1772, 66–72. 761 HStA München, RbgRst 128. 762 Gumpelzhaimer, Geschichte, 1666. Auf bayerischer Seite stand auf Schmuggel allerdings die Todesstrafe. Rankl, Politik, 760. 763 Reichs-Tags-Diarium, 1771, 180–182; Gumpelzhaimer, Geschichte, 1666. Ein städtisches Großmagazin wie in anderen Reichsstädten bestand in Regensburg in dieser Zeit nicht. Wohl auch, weil Bayern spekulative Aufkäufe fürchtete und ein Magazin daher vertraglich behin­derte.

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

315

land Getreide anzukaufen. Innerhalb der Kommune wurde eine Getreide-Kommission eingesetzt, um diese Aufgaben zu koordinieren. Sie versuchte zunächst die Teuerung des Brotes mit Höchstpreisen und Zuschüssen zu deckeln. Soweit Ankäufe Erfolg hatten, verteilte der Rat Brot auch zu subventionierten Preisen. Der lag aber immer noch beim Dreifachen des Üblichen und war damit für Arme kaum erschwinglich. Im Einkauf kostete das Getreide die Stadt allerdings noch weit mehr und belastete den städtischen Haushalt schwer.764 Solche Maßnahmen gehörten in Krisenzeiten überall zu den Kernaufgaben städtischer Verwaltung.765 Das entschlossene Handeln Regensburgs war dennoch ungewöhnlich. In vielen Städten des Reiches rekrutierte sich die Elite auch aus Landbesitzern, die von hohen Preisen profitierten. Um den Rat zum Eingreifen zu bewegen, wandten sich die Bewohner oft an externe Fürsprecher. In Regensburg existierte hingegen eine seltene Interessenskonvergenz von Stadtobrigkeit und -bevölkerung, die durch den Konflikt mit dem auswärtigen Kurfürsten noch verfestigt wurde. Zudem blieb der Stadtrat in der komplizierten Gemengelage Regensburgs nicht der einzige Akteur. Die Versorgung der Stadt wurde seit jeher als so zentral angesehen, dass hier neben dem Rat auch Vertreter des Reichstags und des Kaiserhofs verpflichtend mit eingebunden waren.766 Alle in dieser Weise autorisierten Maßnahmen konnten aber nicht verhindern, dass weite Teile der Stadt hungerten. Die Getreidepreise stiegen bald so stark, dass der kommerzielle Handel mit Korn zeitweise vollständig zusammenbrach. Der britische Gesandte konstatierte resigniert, es bestehe nur noch »small hope of escaping a famine«.767 Vgl. Reichs-Tags-Diarium, 1771, 209 und 1772, 71. Zu früheren Stadtmagazinen vgl. Knoll, Natur, 281–283. 764 Genaue Angaben im Reichs-Tags-Diarium, 1771, 208–212. Die Rechnungen der Stadt für diese Zeit fehlen. Die Vorräte des Vorjahres waren bald erschöpft. Danach basierten die Hilfen weitgehend auf einer Lieferung von Getreide aus Sachsen-Gotha im Mai 1771. HStA Bayern, Kasten schwarz 5036. Diese Lieferung wurde statt mit den üblichen 20 mit 148 Gulden pro Schaff bezahlt und für 60 Gulden an die Bäcker abgegeben. Schäffer, Versuch, 38. Die Mittel dafür lieh sich die Stadt beim Reichstag. HStA München, Kasten blau 38/16. Zur angespannten Versorgungssituation in Gotha vgl. Kap. IV.2.5. Zu den durch den Reichstag unterstützten Subventionen und den damit verbundenen Problemen des Weiterverkaufs: Reichs-Tags-Diarium, 1771, 208–212, 229–231. 765 Vgl. Kap. IV.1.6. sowie zur Parallelentwicklung von städtischer Administration und Nahrungsfürsorge seit dem 14. Jhd.: Jörg, Teure. 766 Der Höchstpreis für Brot in Regensburg wurde von einer Policeycommission beschlossen, die aus Vertretern des Reichsmarschallamts, des Magistrats, der Kaiserlichen Commission am Reichstag und der Kursächsischen Gesandtschaft bestand. Albrecht Christoph Kayser, Versuch einer kurzen Beschreibung der Kaiserlichen freyen Reichsstadt Regensburg. Regensburg 1797, 55. Im Deputationszimmer wurden daher auch Brotproben genommen und kontrolliert. Reichs-Tags-Diarium, 1771, 237. 767 Kathrin Pindl, Subsistenz – Entscheidungen. Das Regensburger St. Katharinenspital und sein Getreidekasten in Krisenzeiten (in Vorbereitung); Bericht Lewis De Vismes vom 15.5.1771, in: NA State Papers, 81/109.

316

Handeln

Viele Stadtarme litten nun extreme Not. Regensburg verfügte als alte Reichstadt zwar über ein umfassendes und ausdifferenziertes Fürsorgewesen.768 Wie in den meisten Städten des Reiches war dies aber nicht auf akute Notlagen ausgerichtet, sondern auf die Versorgung der Sockelarmut. Die breite Pflegetopographie Regensburgs mit ihren Stiftungen, Spitälern und Waisenhäusern richtete sich zudem nicht primär an die Unterschicht. Sie reflektierte die ständische und konfessionelle Binnendifferenzierung der Stadt, mit feinen Unterschieden bis hin zur Versorgung mit dunklem oder mit hellem Brot und der getrennten Unterbringung je nach Bürgerstatus.769 Im bikonfessionellen Regensburg existierte neben der sozialen auch die religiöse Differenzierung. Die Protestanten präferierten eine geschlossene, institutionengebundene Fürsorgepraxis. In der Krise erwiesen sich aber gerade diese vermeintlich ›modernen‹ Einrichtungen als unflexibel und inadäquat. Sie waren kaum in der Lage, kurzfristig zusätzliche Personen aufzunehmen.770 Der protestantische Rat war dennoch nicht bereit, von diesem Ansatz abzuweichen. 1772 wurde deshalb ein neues Arbeitshaus eingerichtet. Hier sollten die Hungernden ihr Brot über die Herstellung von Leinwand selbst erwirtschaften. Das Projekt entsprach ganz den Vorstellungen einer ›Erziehung zur Arbeit‹, die überall im protestantischen Reich handlungsleitend wurden. Genau wie die vielen Schwesterprojekte ging aber auch das Regensburger Institut rasch Bankrott. Die Insassen konnten die Wirtschaftsdepression der Teuerungsphase nicht durch Mehrarbeit kompensieren.771 Die katholischen Fürsorgeträger setzten hingegen primär auf offene Fürsorgepraktiken mit Almosen- und Brotausgaben.772 Sie erreichten weit mehr Betroffene und versorgten bei den Austeilungen hunderte Arme. Allerdings strahlten diese Angebote auch auf das katholische Umland aus. Der protestantische Stadtarzt Schäffer empörte sich: Das Bettelvolk ist in diesen Jahren noch zahlreicher als es ehedem schon war; die größte Menge desselben aber macht das benachbarte Landvolk, die reisenden Handwerksburschen, der verarmte Beysitzer und die Schutzverwandte aus. Dieses ungestüme und zahl 768 Vgl. Kröger, Armenfürsorge; Thomas Barth, Alltag in einem Waisenhaus der Frühen Neuzeit. Das protestantische Waisenhaus von Regensburg im 17. und 18. Jahrhundert. Regensburg 2002; Gustav Lauser, Die öffentliche Armenpflege der Stadt Regensburg bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Diss. Erlangen 1924. 769 Barth, Alltag, 21, 119; Kröger, Armenfürsorge, 170, 389. 770 Lediglich im Krankenhaus des katholischen Domkapitels gab es eine Verdoppelung der Belegschaft, die aber nur 60 zusätzliche Personen versorgte. Kröger, Armenfürsorge, 722, 751, 1000. Auch das Bruderhaus stand fast leer, da man sich dort mit zehn Gulden und einem Bett einkaufen musste. Lauser, Armenpflege, 74. 771 Kayser, Versuch, 43; Kröger, Armenfürsorge, 554. Zu den Arbeitsprojekten vgl. Kap. IV.1.6. 772 Als Gründe für diese Kluft hat man die tiefe sozio-konfessionelle Spaltung Regensburgs sowie die schwierige wirtschaftliche Lage der Stadt ausgemacht, die größere Investitionen und Innovationen behinderte. Kröger, Armenfürsorge, 826 f.

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

317

reiche Bettelvolk […] scheint selbst durch das zu reichliche Almosen, das ihm täglich von Stiftern, Klöstern und anderen Partikuliers gereicht wird, aufgemuntert zu werden, durch belästigendes Betteln allein sein Brod zu verdienen.773

Der enorme Zustrom provozierte in der Krise einen heftigen Streit zwischen dem protestantischen Stadtrat und den Umlandgemeinden.774 Versuche, die Migranten zu stoppen, blieben jedoch weitgehend erfolglos. Die Tore zu schließen, war für die Stadt des Reichstages – anders als etwa für das bayerische Erding – keine Option.775 Stattdessen wandte sich der Stadtrat in mehreren Schreiben an die Nachbargemeinden und bat inständig, Bettler fernzuhalten und ihre »Schaaren zu hunderten abzuweisen«. Selbst war man dazu kaum in der Lage, da die Hungernden auch innerhalb der Stadt Fürsprecher besaßen. So unterstützten die Regensburger Stifte traditionell ihre Glaubensbrüder aus dem Umland. Sie beherbergten die Armen auch in ihren Stadtbezirken. Zuweilen statteten sie die Bettler sogar mit Verkleidungen aus, um Kontrollen zu umgehen.776 An den zahllosen Notleidenden störten sich aber die Reichstagsgesandten. Daher versuchten Reichstagspoliceykommission und Stadtrat gemeinsam, Visitationen in den geistlichen Häusern durchzusetzen, um dort beherbergte oder versteckte Migranten aufzugreifen und auszuweisen. Sie scheiterten aber am Widerstand des Klerus.777 Versuche, die Hungernden zumindest mit Bettelzeichen zu markieren und zu kontrollieren, blieben aufgrund der fehlenden Kooperation von katholischer Kirche und Armen umstritten.778 Die Stadt musste sich schließlich damit zufrieden geben, dass die kurbayerische Nachbargemeinde Stadtamhof versprach, zugereiste Bettler auf der anderen Donauseite durch einen Büttel abzuweisen. Angesichts des manifesten Eigeninteresses der bayerischen Seite im Konflikt um die Stadt und die Sperren, versprach dies aber kaum Erfolg.779 Konfrontiert mit einer wachsenden Zahl von Armen und Hungernden, ließ die Stadt daher die bürgerliche Kavallerie und Infanterie ausrücken. Nominell sollten sie als »Feldwache« die Früchte innerhalb der Stadtmauern vor Räubern schützen. Tatsächlich bestand die Aufgabe dieser Bürger-Corps aber vor allem in der Bekämpfung möglicher Tumulte.780 Deren Ausbruch war angesichts der Tat 773 Schäffer, Versuch, 36 ff. 774 StAR alm B 4, p. 252–261. 775 Press, Hungerjahre, 206. 776 Zu dieser Praxis in St. Emmeram vgl. Kröger, Armenfürsorge, 144. Die Verflechtung der »mannichfaltigen Concurrenz von Gerichtsbarkeiten« und dem »äußerst lästigen Betelwesen« konstatierte bereits: Kayser, Versuch, 73. 777 Kröger, Armenfürsorge, 138. 778 Ebd., 150–152. Auch die bayerische Bettelordnung von 1775 reagierte auf das verbreitete Fälschen, Abändern, Verleihen, Verkaufen und Verdecken der Bettelzeichen. StAR, Dekrete 1454. Vgl. auch Kap. IV.1.6. 779 Kröger, Armenfürsorge, 187. 780 Gumpelzhaimer, Geschichte, 1666; Kayser, Versuch, 31.

318

Handeln

sache, dass keineswegs die gesamte Stadt hungerte, durchaus real. In den Regensburger Zeitschriften konnte man auch auf dem Höhepunkt der Hungersnot noch von zahlreichen Vergnügungen und von einem regen Markt an Luxusgütern für die Wohlhabenden lesen.781 Dass es in Regensburg angesichts der vielen Notleidendenden, der fragilen Versorgung und der manifesten Ungleichheit nicht wie anderswo zu Aufständen oder massiver Übersterblichkeit kam, verdankte die Stadt aber weniger ihrer Notstandspolitik. Ihr Standhalten ging vielmehr auf den Reichstag und seine überregionale Vernetzung zurück. Lokale Reichspolitik Die Effektivität des Immerwährenden Reichstags war bereits unter den Zeitgenossen heftig umstritten. Viele Konflikte fügten sich Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr in den Rahmen des Reichstages und in seine komplizierte Praxis des Entscheidens ein. Die Hungerkrise 1770–1772 gehörte allerdings nicht dazu. Sie bildete eine Herausforderung, die in den Augen vieler Zeitgenossen tatsächlich vor allem durch reichsweite Koordination zu bewältigen war. Alle Reichsgebiete waren von dem Problem betroffen. Zudem litten große Territorialstaaten genauso wie geistliche und städtische Herrschaften jeder Konfession. Die gegenseitigen Getreidesperren erschienen vor allem als organisatorische Herausforderung, nicht als ein rechtliches oder gar ein militärisches Problem. Es brauchte eine Institution, die in der Lage war, die gleichzeitige Aufhebung der Blockaden kommunikativ zu koordinieren. Für den Reichstag bedeutete die Krise daher eine Chance, seine Vermittlerfunktion mit neuem Leben zu erfüllen.782 In der Hungersnot entwickelte sich der Reichstag unerwartet zu einem wichtigen politischen Akteur. Es gelang den Gesandten, nicht nur den Konflikt zwischen Regensburg und Bayern zu entschärfen, sondern auch einen Beschluss für das ganze Reich herbeizuführen. Das entsprechende Reichsgutachten erschien bereits im Februar 1772. Auch wenn die Not zu diesem Zeitpunkt bereits ihren Höhepunkt erreicht hatte, bedeutete die kurze Verhandlungszeit von knapp zwei Jahren ein erstaunlich rasches Ergebnis für die Verhältnisse des Reichstags. Von der For 781 In den Zeitungen behandelte man mitten in der Notzeit etwa Maskeraden für Bälle, französische Kupferstiche, diverse Konzert-Termine und den Markt für »viele Sorten rarer Conchylien«. Regensburgisches Diarium vom 18.12.1770 und vom 14.5.1771. 782 Einen Überblick über die Kritik bietet Johann Christian von Pfister, Geschichte der Teutschen, Bd. 5. Hamburg 1835, 430–432. Anstoß erregten die zähen, kostspieligen Verfahren und die Lähmung durch die Großmächte im Reichsverband. In der jüngeren Forschung hat das Interesse an Formen symbolischer Kommunikation zwar zu einer Neubewertung des Reichstags und seiner spezifischen Aushandlungspraxis geführt. Dennoch wird ihm gerade für die Zeit nach dem Siebenjährigen Krieg geringe Relevanz und Handlungsfähigkeit attestiert. Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers neue Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des alten Reiches. München 2008, 246–280; Susanne Friedrich, Drehscheibe Regensburg, Das Informations- und Kommunikationssystem des Immerwährenden Reichstags um 1700. Berlin 2007.

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

319

schung ist dieses entschlossene Handeln zuweilen als Hinweis auf die anhaltende Bedeutung von Reichstag und Reichskreisen in dieser Zeit interpretiert worden. Dabei blieb aber die lokale Gebundenheit dieser Entscheidungen weitgehend unberücksichtigt. Was im Rückblick leicht als der Beginn einer ›nationalen‹ Handelspolitik erscheint, verspotteten viele Zeitgenossen als bloße Reaktion darauf, dass nun auch die Regensburger Gesandten zu Opfern einer Sperre geworden seien.783 Der Reichstag beschäftigte sich erstmals im Dezember 1770 mit der Hungerkrise. Dies geschah zunächst im Rahmen der bayrischen Getreidesperre. In Circularschreiben wurden in den drei Kollegien die Inkolatsrechte von Stadt und Reichstag erörtert und den Interessen Bayerns gegenübergestellt. Dazu kursierten in der Stadt zahlreiche Flugschriften.784 Während die Gesandten vor allem rechtlich argumentierten, führte die bayerische Seite Beispiele aus der Praxis an. Sie betonten den »Selbstmangel«, die Fürsorgepflicht des Kurfürsten und die verbreiteten Regensburger »Schleichhändel, Kaudereyen, Aus- und Einschwärzungen«.785 Die Debatte wurde bald so scharf geführt, dass die Münchener Regierung sich gezwungen sah, eine Ausgabe des Münchener Intelligenzblattes zurückzuziehen und in der Neuausgabe »ungebührliche und anstößige Stellen« durch neutralere Formulierungen zu ersetzen.786 Erst im neuen Jahr weitete sich die Diskussion der Reichstagsgesandten dann auf die Zustände in ganz Deutschland aus. Im Januar ließ Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz überraschend vorschlagen, das Regensburger Problem zu lösen, indem sämtliche Sperren im Reich aufgehoben werden sollten. Damit scherte er aus der Front der großen Territorialfürsten aus. Zugleich stellte er ökonomische Ideen über dynastische Loyalitäten, welche die Pfalz eng mit Bayern verbanden. Ob es sich hierbei angesichts der absehbaren Schwierigkeiten einer reichsweiten Regelung bloß um ein Ablenkungsmanöver oder um ein aufrechtes Anliegen han 783 Pfister, Geschichte, 430. Zur Krisenpolitik der Reichskreise ohne Berücksichtigung der lokalen Regensburger Verhältnisse vgl. Magen, Reichsexekutive. 784 Vgl. Reichs-Tags-Diarium, 1770, 100; 1771, 145, 201, 241, 243, 260; 1772, 31, 46, 55 f. Einen unvollständigen Überblick über die Drucke gibt Joseph von Sartori, Auserlesene Beyträge in Reichstädtischen Sachen, Bd. 2. Frankfurt a. M., Leipzig 1778, 370 f. In den Regensburger Buchhandlungen waren zudem Titel wie »Der beschämte und gehemmte Kornwucherer, mit einem satyrischen Kupfer, Deutschland [sic] 1771«, ein »Schreiben eines Bayern an seinen Freund, über die Entstehung der Getreydtheure« oder »Alles umsonst, Brod zum Brey, oder Wiederlegung und Beurtheilung der bekannten Schrift: Anleitung, wie man bey diesen theuren Zeiten wohlfeil und gut leben könne« erhältlich. Regensburgisches Diarium vom 14.5.1771 und vom 26.11.1771. 785 Anon., Rechtmäßigkeit, 7, 106. Dagegen: Franz Ferdinand von Schroetter, Patriotische Bemerkungen gegen die an das Licht getretene Churbayrische Schrift unter dem Titel Rechtmäßigkeit derjenigen churbayerischen Landesordnungen, welche von einigen Comitial-Gesandtschaften zu Regensburg angefochten worden. Wien, Frankfurt a. M., Leipzig 1770. Beide Drucke erschienen in mehreren, Teils von der Gegenseite kommentierten Auflagen. 786 Reichs-Tags-Diarium, 1770, 145. Vermutlich behandelte die heute nicht mehr vorhandene unzensierte Ausgabe vermeintliche Regensburger Spekulanten.

320

Handeln

delte, das den aufgeklärten Ideen Karl Theodors entsprang, ist unklar. Der Vorstoß fand aber unerwarteten Widerhall bei den Vertretern Baden-Durlachs und Hessen-Darmstadts, die genuin physiokratische und freihändlerische Ideen vertraten.787 In der Folge debattierten die Gesandten die Getreidesperren nicht mehr nur lokal, sondern als Teil einer reichsweiten Wirtschaftspolitik.788 Der Reichstag entwickelte sich zu einer Plattform für die im Ausland bereits lebhaft geführte Debatte zu Freihandel und physiokratischen Ideen. Zahlreiche Schriften entstanden im Umfeld des Reichstags und zirkulierten darüber hinaus – oft mit dem programmatischen Erscheinungsort »Deutschland«.789 Im Februar 1771 beschloss eine Mehrheit der Gesandten, einen reichsweiten Entschluss anzustreben.790 Damit verlagerten sie nicht nur den Regensburger Konflikt auf eine höhere Ebene. Sie zogen auch Kompetenzen in Wirtschaftsfragen an sich, die bisher den Reichskreisen zustanden. Die Kurfürsten lehnten Beschränkungen ihrer Wirtschafts- und Nahrungspolitik allerdings vehement ab. Selbst Georg III., der in seiner Rolle als König Großbritanniens die freihändlerische Politik förderte, verwahrte sich in seinen kurhannoverschen Territorien gegen entsprechende Eingriffe und ließ die Sitzungen boykottieren.791 Die Debatte gewann aber an Dringlichkeit, als sich das Wetter auch im Verlauf des Frühjahrs nicht besserte. Rund um Regensburg fiel noch im April, in dem sonst die Bäume in Blüte standen, mehrfach Schnee.792 »Selbst am ersten May konnte man in den Gegenden der Donau weder an Bäumen noch am Grase den eingetretenen Frühling erkennen. Nicht Laub-, nicht Blüte sah man. Alles

787 Reichs-Tags-Diarium, 1771, 144; Magen, Reichsexekutive, 37, 48. Karl Theodor war als Wittelsbacher der bayerischen Sperre gegen Regensburg am 22.9.1770 beigetreten und gehörte mit seinen Oberpfälzer Territorien Pfalz-Sulzbach und Pfalz-Neustadt zu den direkten Nachbarn und Sperrgegnern Regensburgs. Die Maßnahmen führten in der Oberpfalz jedoch nicht zu fallenden Preisen, sondern zu hohen Kosten. Zuvor hatten seine vielen aufklärerischen Interessen die Nahrungspolitik nur am Rande berührt. Stefan Mörz, Aufgeklärter Absolutismus in der Kurpfalz während der Mannheimer Regierungszeit des Kurfürsten Karl Theodor (1742–1777). Stuttgart 1991, 279. In seinen Geheimdepeschen berichtete der britische Gesandte wiederholt von Spannungen zwischen Bayern und der Kurpfalz in der Sperrfrage. Bericht Lewis DeVismes vom 4.7. und vom 4.8.1771, in: NA, State Papers 81/109. 788 Zur umstrittenen Frage, ob der Reichstag überhaupt für diesen Politikbereich zuständig war, vgl. Fritz Blaich, Die Wirtschaftspolitik des Reichstages im Heiligen Römischen Reich. Ein Beitrag zur Problemgeschichte wirtschaftlichen Gestaltens. Stuttgart 1970, 204–208. 789 Etwa [Christian Hiskias Heinrich von Fischer], Anmerkungen über die dermalige Fruchtsperre. Deutschland [1Regensburg, 2Frankfurt] 1771. Die Schrift des Gesandten des fränkischen Grafenkollegiums erschien in mehreren Auflagen und findet sich auch in: GStA PK I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 179, fol. 73–76 und HStA Stuttgart, L6 Bü 1345. 790 Reichs-Tags-Diarium, 1771, 157. 791 Magen, Reichsexekutive, 49. 792 Gumpelzhaimer, Geschichte, 3. Anon., Witterungsbeobachtungen über einen jeden Tag, 6–9.

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

321

war noch todt.«793 Angesichts des anhaltenden Regens wurde absehbar, dass auch die kommende Ernte keine Verbesserung bringen würde. In der Stadt stiegen die Preise weiter, da die wenigen Lieferungen aus befreundeten Territorien die Versorgung nicht sicherstellen konnten. Auch der Kaiser musste seinen Getreidekonvoi für Regensburg wieder zurückbefehlen, nachdem in Prag Hungerrevolten ausgebrochen waren.794 Auf den Straßen lagerten nun überall verzweifelte Bettler. Im Juni organisierte die Stadt einen Buß- und Bettag mit einer Prozession der (protestantischen) Würdenträger durch die Stadt, wobei »für die Hausarmen die Sammelthrüheleins aufgestellet, um Brod und Mehl« zu kaufen.795 Bei den Hilfsausgaben kam es jedoch zu tumultartigen Zuständen. Bei der »Spendenaustheilung zu [St.] Emmeram [wurde] im heftigen Zudrang ein Weib ertreten«.796 Die Gesandten klagten über die Bedrängnis durch die Bettler und wandten sich in immer dringlicheren Schreiben an ihre Herren, um Zuschläge für die hohen Nahrungsmittelpreise zu erhalten.797 Der Vertreter Großbritanniens meldete alarmiert nach London: […] we have a great risk of starving, but though there is an appearance of plenty, we are not relieved from our fears for next winter, either from want of Police or honesty. As to the Climate it is the most variable I ever experienced. The cold extreme in our Season, and storms of haile, thunder, and rain in what is elsewhere called Summer.798

Im Umland breiteten sich aufgrund der Witterung Krankheiten und Viehseuchen aus. In den Städten der Region forderten verheerende Seuchenzüge hunderte Tote.799 In München wurde der Kurfürst von einem hungrigen Mob bedroht, wo­ raufhin die Regierung gewaltige Summen für Importe aus Italien ausgab. Getreidetransporte über Land waren vielfach nur noch unter militärischem Schutz 793 Hazzi, Betrachtungen, 53. 794 Gumpelzhaimer, Geschichte, 1666 sowie Derby Mercury vom 19.7.1771. Einzelne Lieferungen kamen aus Sachsen-Gotha und dem schwäbischen Kreis. Sie mussten aber teuer bezahlt werden, da beide Regionen selbst schwer litten. Vgl. Kap. IV.2.5. und 5.2. Ankommendes Getreide wurde im Reichs-Tags-Diarium veröffentlicht, um den Durchhaltewillen gegenüber Bayern zu verdeutlichen. Reichs-Tags-Diarium, 1771, 198 f. 795 Gumpelzhaimer, Geschichte, 1667. 796 Ebd., 1668. 797 Die Klagen des Hannoverschen Gesandten, in HStA Hannover Cal. Br. 11 Nr. 2523. Er reichte beim Ministerium als Anregung auch eine detaillierte Liste der erheblichen Zulagen ein, die nahezu alle Gesandtschaften während »hiesiger übergroßer Teuerung« erhielten. Ebd., fol. 4–6. Zu unerwünschten Bettlern vor den Gesandtschaften vgl. Kröger, Armenfürsorge, 679. 798 Bericht Lewis de Vismes vom 10.9.1771, in: NA, State Papers 81/109. 799 Leuthner, Beobachtungen; Bernhard Joseph Schleiß, Kurze und gründliche Anweisung, wie die dermalen an so vielen Orten Deutschlands graßierende bösartige Fieber am besten zu heilen. Nürnberg 1772; Andräas, Beiträge 110–112. Zur Seuchensterblichkeit in Erding und Landshut vgl. Rankl, Politik, 755. Zum Faulfieber in Regensburg selbst, Schäffer, Versuch, 53.

322

Handeln

möglich.800 Die Lage in Bayern war bald so verzweifelt, dass die Hungernden in »Schaaren zu hunderten« nach Regensburg drängten, um an den Almosen der katholischen Kirchen teilzuhaben oder bei den vermögenden Bürgern zu betteln.801 Die Situation in der Stadt wurde noch dadurch verschärft, dass zu den Migranten aus dem Umland nun gewaltige Zahlen von Auswanderern hinzukamen. Sie reisten in großen Zügen auf oder entlang der Donau ins fruchtbare Ungarn. Mit den Schiffen aus Ulm kamen regelmäßig mehrere hundert »Colonisten« pro Woche an, die sich in Regensburg versorgen mussten.802 Diese Auswanderer begaben sich auf die Reise, obwohl der Kaiserhof die offizielle Auswanderung nach Ungarn längst beendet und untersagt hatte. Zudem hatten viele ihre Heimat mittellos und undokumentiert verlassen.803 Diese prekären Migrant/innen machten der Stadt so stark zu schaffen, dass diese sich verzweifelt an den Kaiser wandte. Der Rat beklagte, dass man den Kolonisten den »Eintritt in hiesiger Stadt um so weniger gänzlich versagen kann, da diese leuthe meistentheils von LebensMitteln entblößt sind, auch oftmahls kranke und schwache Persohnen sich unter solchen befinden«. Dadurch würden mitten im Getraide Nothstand und Mangel und Theuerung von allen Gattungen der Consumb­ tibilien durch dergleichen frembden [den] hiesigen Inwohnern die bedürfnis entzogen und geschmälert [,wie] auch der tägliche Augenschein zeiget, dass dergleichen Leute Haufenweise wieder Zurückkommen und die Unsicherheit der Landstraßen vermehren, und durch betteln beschwerlich fallen.804

800 Zu den Münchener Krawallen vgl. Kap. IV.2.5. Zu den Importen und der Lage auf dem Land: Rankl, Politik, 764–770; Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 131. 801 Zu den Armen aus dem Umland und ihrer geschickten Nutzung der sich überlappenden konfessionellen Rechte in der Stadt zur Umgehung der Einlasskontrollen vgl. Kröger, Armenfürsorge, 128 f., 133, 144, 186 f. 802 Die offiziellen Angaben der Behörden verzeichnen für 1770/71 6.274 Auswanderer auf dem Weg nach Ungarn. Allein in den drei ersten Oktoberwochen 1770 kamen 400, 600 und 400 Personen in Regensburg an. Beck, Regensburg, Bd. 1, 129–142. Die tatsächliche Zahl lag angesichts der vielen undokumentierten und unregistrierten Gruppen vermutlich noch weit höher. Vgl. ebd., Bd. 1, 10 f. sowie Kap. IV.2.6. In Mainfranken vermerkten die Behörden etwa bei einem Drittel der Auswanderer, dass die Migration undokumentiert erfolgt sei. Pfrenzinger, Auswanderung, Tabellenteil sowie 33. Ähnlich bei Schmahl, Mangel, 132–136; Petz, Auswanderung, 62–69. Regionale Untersuchungen legen daher allein aus Südwestdeutschland eine Untergrenze von mehreren tausend Ungarn-Auswanderern entlang der Donau nur für das Jahr 1771 nahe. Hippel, Auswanderung, 37. 803 Vgl. Kap. IV.2.6. sowie Schünemann, Einstellung. Zu in Regensburg erkrankten und verstorbenen Auswanderern vgl. Beck, Regensburg, Bd. 1 129–142. 804 HHSTA Wien, Reichskanzlei. Schwäbische Kreisakten. Fruchtausfuhr und Sperre 20 (1770–1771) 2b, Pro Memoria vom 20.6.1771.

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

323

Von den überforderten Wiener Behörden kam aber weder organisatorische noch finanzielle Hilfe. In der Folge wurde Regensburg 1771 zum Transitraum für einen gewaltigen kontinentalen Flüchtlingsstrom. Auf dem Höhepunkt der Krise suchten 6.000 lokale und überregionale Armutsmigranten in der Stadt Schutz und Nahrung, während die Getreidepreise ihren Gipfel erreichten.805 Vor diesem Hintergrund entschloss sich der Reichstag zu einem entschiedenen Vorgehen sowohl auf lokaler als auch auf überregionaler Ebene. Ein erstes gemeinsames Reichsgutachten im August 1770 hatte die bayerischen Eingriffe nicht unterbinden können. Auch die finanziellen Hilfen von Reichstag und Gesandtschaften reichten nicht länger aus, um die städtischen Preise während der Blockade zu stabilisieren.806 Im Mai 1771 verabschiedete eine außerordentliche Reichsversammlung daher ein zweites Reichsgutachten, das die bayerischen Eingriffe scharf verurteilte, die Notlage als vorgeschoben beschrieb und eine Verlegung des Reichstags zurückwies.807 Der Kaiserhof übernahm diese Argumente und drohte Bayern militärische Maßnahmen an, falls die Sperre aufrechterhalten werde. Zu diesem Zweck sollte das Fürsterzbistum Salzburg eine Manutenenzkommission einrichten, um die Sperren nötigenfalls »manu militari« aufzulösen.808 Der berechtigte Verweis des Bayerischen Kurfürsten, dass er seinerseits durch Österreich gesperrt werde und in seinem Land tatsächlich schwere Not herrsche, vermochte das Blatt nicht mehr zu wenden. Der Reichstag lehnte auch den bayerischen Vorschlag ab, angesichts der Notlage einfach in eine vorzeitige Sommerpause zu gehen.809 Nachdem es in der Region mehrere Wochen lang durchgeregnet hatte, wurde stattdessen eine spezielle Deputation aller drei Reichstagskammern eingerichtet.810 Die Deputation erstellte ohne die übliche Anhörung des Beklagten und gegen den Widerstand einiger großer Territorien ein drittes Gutachten, das im Juli 1771 erschien. 805 Gumpelzhaimer, Geschichte, 1667. Ähnliche Zahlen sind auch anderswo zu beobachten. So wurden in Kassel 1771/1772 statt 100 nun 4.631 bzw. 3.980 Fremde mit Hilfen versorgt. Ebert, Suche, 65. 806 Zu den wenig erfolgreichen Bestrebungen des Reichstags von den Ständen einen halben Römermonat Kontribution als Nothilfe für die Stadt zu erhalten vgl. LHA Koblenz XXXVII. 35 2361 und StA Wiesbaden Abt. 172, Nr. 4614, 150/1738. 807 Reichs-Tags-Diarium, 1771, 202–204. 808 Ebd., 204–208. Mit der Benennung Salzburgs sollte eine direkte Konfrontation zwischen Habsburgern und Wittelsbachern vermieden werden. Der dortige Erzbischof konnte aber auf die Unterstützung des Österreichischen Reichskreises zählen. Die Drohung mit Militär war angesichts des umfassenden Engagements Österreichs in Polen und der Sedisvakanz in Salzburg jedoch nicht allzu wahrscheinlich. Vgl. den Bericht Lewis de Vismes vom 23.6.1771, in: NA, State Papers, 81/109 und zur Lage in Salzburg: Derflinger, Getreidteuerung, 6 f. 809 Promemoria vom 17.5.1771 an den Reichskonvent in: Reichs-Tags-Diarium, 1771, 181, 198 f. Zu den bayerischen Versuchen, wenigstens die Mehrheit der Kurfürsten auf ihre Seite zu ziehen, indem sie auf die schweren Folgen einer Machtverschiebung zugunsten von Reich und Kaiser verwiesen, vgl. HStA Bayern, Kasten Schwarz, Nr. 73.59 und GR 1645.84 sowie Bericht Lewis de Vismes vom 9.6.1771, in: NA, State Papers, 81/109. 810 Anon., Witterungsbeobachtungen über einen jeden Tag.

324

Handeln

Nachdem zu dessen militärischer Exekution am 3.10.1771 auch der Österreichische Kreis eingeschaltet wurde, gab der bayerische Kurfürst nach. Eine Woche später erlaubte er der Stadt Regensburg, schrittweise wieder Getreideimporte aus Bayern durchzuführen.811 Damit war auch die Richtung für eine reichsweite Regelung vorgegeben. Beharrlich wies man darauf hin, dass die Regensburger Problematik auch die »benachbarten Ständen und deren Unterthanen, dann d[as] Gewerbe in Deutschland überhaupt« betreffe.812 Zudem bedrohten die Sperren zunehmend den Reichsfrieden. An den Grenzen von Sachsen und Böhmen, Nürnberg und Ansbach oder Mainz und Würzburg kam es deswegen immer wieder zu militärischen Konflikten. Auf dem Bodensee kreuzten Militärschiffe und bedrängten die Reichsstädte.813 Dennoch standen viele Stände einer generellen Aufhebung der Beschränkungen zunächst skeptisch gegenüber. Eine reichsweite Regelung drohte ihre Hoheit in Wirtschaftsfragen zu beschneiden und ihnen ein beliebtes Politikinstrument aus der Hand zu nehmen. Überall dienten die Grenzsperren als Mittel der politischen Auseinandersetzung, als Möglichkeit zur territorialen Selbstvergewisserung und als Instrument der symbolischen Kommunikation zwischen Obrigkeiten und Untertanen. Mit ihrer Hilfe demonstrierten viele Fürsten auf günstige und gut sichtbare Weise ihre landesväterliche Fürsorge.814 Da Sperren in den extrem ungleichen Märkten der Ständegesellschaft oft die einzige kurzfristig wirksame Maßnahme darstellten, um die Versorgung von weniger kaufkräftigen Gebieten oder Gruppen zu verbessern, wurden sie auch von weiten Teilen der Bevölkerung unterstützt. Diese vermuteten zu Recht, dass eine Aufhebung für sie nur dann Sinn machte, wenn zugleich auch die Ungleichheiten der ständischen Verfassung angegangen würden. Die Argumente der neuen ›Ökonomen‹ für einen reichsweiten Freihandel blieben dagegen eine Mindermeinung. Dass der Reichstag sich trotz dieses antagonistischen Umfelds entgegen der Rechtstradition und jenseits seiner üblichen Kompetenzen für die Abschaffung der Sperren und damit für einen außergewöhnlichen Richtungswechsel einsetzte, geht wohl auf die persönlichen Erfahrungen der Gesandten vor Ort zurück. Nominell waren die Handlungsbefugnisse der Ständevertreter durch schriftliche Anweisungen eng eingehegt. Tatsächlich erlaubte es ihnen die face-to-face-Verhandlungspraxis des Reichstags aber, eigenständig Themen zu setzen und Informationsflüsse zu

811 Magen, Reichsexekutive, 54. Angesichts des allgemeinen Mangels erleichterte dies zwar die Versorgung, sorgte aber nicht für fallende Preise. Eine endgültige Regelung der Ressourcenflüsse nach Regensburg kam erst in den Jahren 1772/73 zustande. Ebd., 89 f. und StAR, Dekrete 1302. Über den bayerischen Kreis hinaus wurde der freie Export erst am 28.9.1773 wieder erlaubt. Derflinger, Getreideteuerung, 23. 812 Reichs-Tags-Diarium, 1771, 220. 813 Militzer, Klima Kap. 5.11.1.3.; Magen, Reichsexekutive, 33, 112; Göttmann, Kreuzschiffe. 814 Vgl. Kap. IV.1.3.

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

325

steuern.815 Aus diesem Grund entwickelten sich die Fruchtsperren, die sie selbst betrafen, zur privilegierten Frage der Reichspolitik. Andere Handlungsfelder wie Seuchenbekämpfung, Armenfürsorge oder Vorratshaltung fanden trotz vergleichbarer reichsweiter Bedeutung und Diskussion keinen entsprechenden Widerhall im Reichstag. Befördert wurde das Engagement der Gesandten gegen die Sperren durch die seltene Interessenskongruenz mit dem Wiener Kaiserhof. Er war für die Versorgung seiner südwestdeutschen Territorien ebenfalls auf freie Zufuhr angewiesen.816 Den Ausschlag für die akute Neuausrichtung der Politik gab aber wohl die für die Verwaltungselite ungewöhnliche, direkte Konfrontation mit den verheerenden lokalen Folgen der Getreidesperre.817 Der Reichstag entwickelte sich in der Folge mehrheitlich zum Unterstützer einer ›patriotischen‹ Lösung. Gemeinsam mit den Regierungen einiger Reichskreise und der Wiener Hofkanzlei verfolgte er das Ziel, einen reichsweiten Wirtschaftsraum herzustellen. Die Gesandten ließen nun zahlreiche Schriften zirkulieren, die sich gegen die Zerrüttung des »deutschen Staatscörpers« wandten. Gegen die Policeyrechte der Stände setzten sie das »allgemeine Beste«. Im November 1771, kurz nachdem die Getreideimporte aus Bayern wieder aufgenommen werden konnten, wurde auch ein entsprechender reichsweiter Vorschlag »von allen Gesandtschaften favorabiliter angesehen«.818 In intensiven Verhandlungen über die Jahreswende balancierten die Gesandten und das Erzkanzleramt die unterschiedlichen Interessen der Stände aus. Sperren sollten nur noch gegen das Ausland gelten. Innerhalb des Reiches sollten sie zukünftig unzulässig sein, um regionale Defizite bes 815 Die oft informellen Kommunikationsflüsse entlang persönlicher Bekanntschaften gaben auch kleineren Herrschaften Gelegenheit, ihren Ideen Aufmerksamkeit zu verschaffen. So verbreitete der Graf des kleinen Neuwied, der selbst kein Reichsfürst war, seine radikalen Freihandelspläne über Umwege. Sein Kanzleidirektor von Fischer, zugleich Reichstagsgesandter des fränkischen Grafenkollegiums, lancierte die Neuwieder Vorstellungen über das Reichsgrafenkolleg des Westfälischen Kreises. Mit dessen Direktor Pistorius erreichten sie den Kurmainzischen Gesandten Philipp Wilhelm Freiherr von Lincker, der als Vertreter des Erzkanzleramtes und Reichsdirektor die Reichsgutachten koordinierte und forcierte. Er veranlasste eine Druckversion der Vorschläge (Fischer, Anmerkungen), die er an alle Gesandten verteilte. Damit gelangten viele Ideen, die in Neuwied zu einem der seltenen Freihandelsexperimente geführt hatten (vgl. Kap. IV.4.1.), ins Zentrum der Regensburger Debatten und der späteren Kreisschlüsse. Fischer, Genuine Nachricht, 494–496. 816 Collet, Moral economy. 817 So sah es etwa der britische Gesandte De Visme: »There is no doubt, that this new species of [Bavarian, DC] provocations has quickened the resolutions of the Diet and urged it to a determination as yet unpublished«. Die Not sei so groß, dass die Gesandten sogar mehrere Kurfürsten umgestimmt hätten: »The principal view of this Negotiation is to represent the persistency and Passion with which the Diet has acted in all this affair, and particularly to turn the thoughts of the several Electoral Courts in the proceedings«. Bericht Lewis De Vismes vom 21.5.1771 und vom 9.7.1771, in: NA, State Papers, 81/109. 818 Schrötter, Bemerkungen, 36; Wöchentliche Nachrichten von gelehrten Sachen [Regensburg] 47, 1772, 372 f.; Magen, Reichsexekutive, 82.

326

Handeln

ser ausgleichen zu können. Ähnlich wie dies für den Reichstag selbst galt, sollten Zölle in Notzeiten reichsweit reduziert oder abgeschafft werden. Die regionale Umsetzung wurde den Reichskreisen anheimgestellt, womit dem Einflussbedürfnis der Kurfürsten Rechnung getragen werden sollte. Ausnahmen galten zudem für die handeltreibenden Städte und Territorien an der Küste.819 Fürstenrat und Reichsstädterat unterstützten die Regelung bereits im Dezember 1771 mehrheitlich. Nur das Kurkolleg blieb zunächst skeptisch. Nachdem weitere Ausnahmeregelungen für schwere Notlagen in den Text aufgenommen worden waren, stimmte auch diese Kammer zu.820 Am 7. Februar 1772 verabschiedete der Reichstag das gemeinsame Gutachten. Der Text war geprägt von dem Regensburger Konflikt und verwies auf die »leidige Erfahrung« mit »Particular-Sperren« und der illegalen Praxis, besonderen »Corporibus die Verabfolgung ihrer in Reichstädtischen Landen zu erheben habenden Früchte« zu verweigern. Der Kaiser ratifizierte das Gutachten mit Dank an den »patriotischen Eifer« der Stände am 29. Februar 1772. Es verbot erstmals eine Notstandsmaßnahme, die über Jahrhunderte im Zentrum obrigkeitlicher Nahrungs-, Fürsorge- und Wirtschaftspolitik gestanden hatte.821 Die praktischen Folgen dieses Richtungswechsels blieben, wie bei vielen Entscheidungen des Reichstags, begrenzt. Politischer und ökonomischer Raum konnten nicht einfach durch ein Gutachten zur Deckung gebracht werden. Die wirtschaftliche Divergenz im Reichsverband verhinderte eine rasche Umsetzung. Die beauftragten Reichskreise schoben die Maßnahmen immer wieder auf oder nutzten die aufwendigen internen Umlaufverfahren gezielt zur Verschleppung.822 Wo die Reichskreise von starken Territorialherren dominiert wurden, kam es zu gar keiner Änderung. Preußen etwa schrieb seinen Nachbarn lakonisch: Man ist hier der Maynung, daß der Inhalt dieses Keyßerlichen Schreibens bey dem Nieder-Sächsischen Kreyse von keiner Wirkung seyn könne, da derselbe nicht versamlet ist, durch Correspondetz schwerlich ein Einverständnis zu schaffen seyn würde, und die Beratschlagung sowohl als der Schluß der Reichs Versammlung mehr auf die Vorder-Kreyse als die an der Ost und Nord-See gelegenen landschafften des Teutschen Reichs gehen, überdem auch noch nichts verbindlich enthalte.823 819 Zur Taktik der Seestädte in den Verhandlungen vgl. Sasse, Kornteuerungspolitik, 31–34; Ernst Baasch, Die Handelskammer zu Hamburg 1665–1915. Hamburg 1915, 131. 820 Eine Aufschlüsselung bietet Magen, Reichsexekutive, 86. Die Protokolle und Voten der Abschlusssitzungen sind erhalten in: StA Wolfenbüttel 2 Alt. Nr. 1286 fol. 37–69. 821 Ediert in Magen, Reichsexekutive, 163–167. 822 Schneider, Mangel, 287. 823 Schreiben des Preußischen Staatsrats an die braunschweigisch-lüneburgische Regierung vom 2.4.1772, in: StA Wolfenbüttel 2 Alt. Nr. 1286 fol. 106. Als direkte Reaktion auf die Widerstände erschien Ende 1772: Fischer, Gedanken. Zur Durchsetzungskraft der Reichskreise: Wolfgang Wüst, Michael Müller (Hrsg.), Reichskreise und Regionen im frühmodernen Europa. Horizonte und Grenzen im spatial turn. Bern, Frankfurt a. M. 2011.

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

327

Auch der Reichstag selbst kehrte nach der Entspannung in Regensburg und der erfolgreichen Eigensicherung zu einem ruhigeren Tempo zurück.824 Dass sich die Versorgungslage auch im Reich bald wieder normalisierte, ging weniger auf die Regensburger Beschlüsse als vielmehr auf die Besserung der Wetterlage im Frühsommer 1772 zurück. In der Praxis endeten die Fruchtsperren erst, nachdem die Versorgung wieder funktionierte. Dennoch entfaltete das Gutachten Wirkung. Zu den Profiteuren gehörten vor allem die neuen Experten auf dem Feld der Ökonomie. Sie reklamierten die sinkenden Preise als ihren Erfolg. Nicht Wetter, Gebete oder Policey hätten die Lösung gebracht, sondern ihre ökonomischen Schriften. Diese seien es gewesen, die das Reichsgutachten inspiriert hätten. Ihr Erfolg sei umso bemerkenswerter, als die Wiederherstellung der Versorgung allein durch die Kraft von Ideen erfolgt sei.825 Tatsächlich waren durch Verhandlungen sämtliche Reichsstände für das Thema sensibilisiert worden. Ökonomie und ein patriotischer Blick auf ›Deutschland‹ gehörten in der Folge eng zusammen. Selbst in der nächsten großen Hungerkrise 1816 blieben die Diskussionen um den nationalen Freihandel zentral, obwohl das Reich nun keinen relevanten Handlungsrahmen mehr bot. Die Abschaffung der Sperren diente bürgerlichen Kreisen und den selbsternannten ›Nationalökonomen‹ nun dauerhaft als Chiffre für patriotische Themen.826 Das zugrundeliegende Witterungsextrem eigneten sich die Diplomaten je nach Ausgangslage sehr strategisch an. Oft verschwand es ganz hinter den politischen Konflikten, wenn etwa Bayern und der Reichstag nicht das Wetter, sondern Luxus und Prunk der jeweils anderen Seite als Ursache der Krise zu erkennen meinten.827 Auch im Reichsgutachten von 1771 stellte man das Wettergeschehen zunächst als wenig bedeutend dar. Es handele sich bloß um einen »angebliche[n] Mangel«, der primär durch Kurbayerns künstliche »Hemmung der Zufuhre« erzeugt worden sei. »In privatim« gestand man aber durchaus ein, dass die extreme Witterung und der »Misswachs« den »Mangel an Waitzen und Korn durch gantz Deutschland veranlaßten«.828 Vermutlich wusste man in der Stadt Regensburg mit ihren ausländi 824 »The Diet has been more inactive than usual at this season«. Bericht Lewis De Vismes an den Earl of Suffolk vom 13.12.1772 in: NA, State Papers 81/109. 825 Fischer, Genuine Nachricht, hier 496 sowie Fischer, Gedanken. Einige setzten auf den Reichstag als Initiator weiterer Reformen, etwa in der Vorratshaltung. Vgl. Rückert, Gedanken, 186. Es gab aber auch kritische Stimmen, die das Reichsgutachten vorrangig als Instrument zur Selbstversorgung der Gesandten interpretierten: Pfister, Geschichte, 430 f. 826 Zu den Sperrdebatten der deutschen Bundesversammlung vgl. Behringer, Tambora, 292 f. Zur rückblickenden Deutung der Debatte von 1771 als Wendepunkt vgl. etwa: Günther Heinrich von Berg, Handbuch des Teutschen Policeyrechts, Bd. 3. Hannover 1803, 143–167. 827 Dem Vorwurf, dass die Teuerung nicht durch das Wetter, sondern durch »die Herren Reichtagsverwandten selbsten mit ihrer anwachsenden Consumption« und ihrem »Luxus« verursacht worden sei, konterte Regensburg mit dem Verweis auf die »Pracht, welche bey den Hofhaltungen« des Kurfürsten zu sehen sei. Anon., Rechtmäßigkeit, 13, 67, 70. 828 Reichs-Tags-Diarium, 1771, 202 f. und 208.

328

Handeln

schen Gesandten und überregionalen Informationsnetzwerken sogar weit besser als anderswo, dass es sich um ein gesamteuropäisches Witterungsphänomen handelte. Auf dieser vierten, kulturell-politischen Ebene des Pfisterschen Wirkungsmodells ließ der Klimaimpuls damit große Spielräume zu, blieb aber nicht ohne Folgen. Regensburg selbst meisterte die Krise wie die meisten Städte weniger durch die eigene Notstandspolitik als vielmehr durch die Aktivierung von Netzwerken und Kredit. Zwar war die Donaustadt durch die Totalsperre Bayerns und die Lage an einer zentralen Migrationsroute besonders verwundbar, sie profitierte aber zugleich von den ökonomischen und politischen Außenbeziehungen des Reichstags und der Stände. Zu ähnlich dramatischen Sterbewellen wie in den Nachbarstädten kam es daher nicht.829 Dass Tumulte trotz der Notlage ausblieben, verdankte sich auch dem alles überlagernden Konflikt mit Bayern. Der Zorn konnte so nach außen gelenkt werden. In der Hungerkrise 1816/17, in der Regensburg bereits zu Bayern gehörte, galt dies nicht mehr. Heftige Unruhen waren die Folge.830 Die Krise von 1770 markierte in Regensburg daher keinen politischen Einschnitt wie in anderen urbanen Zentren. Statt wie anderenorts als Katalysator von Fürsorgereformen zu wirken, beförderte die Krise in Regensburg den Aufstieg der Meteorologie. Seit den Krisenjahren erhob das Kloster St. Emmeram tägliche Wetterdaten, die zu den ältesten durchgängigen Aufzeichnungen Europas gehören.831 Tiefgreifende soziale Veränderungen ergaben sich erst in der Folge zweier weiterer Nahrungskrisen und umfassender politischer Neuausrichtungen in den Jahren 1806 und 1816.832 Im Regensburg spiegeln sich damit zentrale Konfliktlagen der Zeit: Stadt versus Land, Arm gegen Reich, Katholiken gegen Protestanten, Konsumenten gegen Produzenten, das Reich gegen die Fürsten. Der Reichstag verknüpfte die lokalen Konflikte mit territorialen Konkurrenzen wie der von Bayern und Österreich. Die Gesandten verbanden die Debatten mit der europäisch geführten Diskussion 829 Eine zeitgenössische Auswertung der zentralen Stadtpfarren und Stifte verzeichnet für 1771/72 eine Halbierung der Hochzeiten und Geburten sowie eine Erhöhung der Sterberate um 40 % gegenüber 1769. Schäffer, Versuch, Anhang. Die absoluten Zahlen deuten aber auf eine unvollständige Erfassung der Stadtbevölkerung hin. In Bayern und den benachbarten Reichsstädten lag die Krisensterblichkeit weit höher. Rankl, Politik, 754–757; Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 80; Press, Hungerjahre. 830 Behringer, Tambora, 154; Müller, Hunger, 122–124. 831 In der Universitätsbibliothek Regensburg liegen die handschriftlichen Observationes meteorologicae heute nur noch ab 1774 vor. Wohl aufgrund der Krisenerfahrung von 1771 wurden die ersten Messungen noch mit Vitaldaten der Stadt Regensburg verknüpft. Der Autor Fürstabt Coelestin Steiglehner und sein Nachfolger Placidus Heinrich galten später als Mitbegründer der modernen Meteorologie. Ferdinand von Schmöger, Beyträge zur Witterungskunde, zunächst für Regensburg in Bayern. Regensburg 1826, 4. Die Messreihen sind teilweise veröffentlicht im Hochfürstlichen Regensburgischen Stifts-Kalender von St. Emmeram und ab 1774 als Karl König (Hrsg.), Observationes meteorologicae. Regensburg 1782–84. 832 Lauser, Armenpflege, 77–101.

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

329

der Gelehrten. Die hier gemachten Erfahrungen waren typisch. Überall gerieten die urbanen Zentren und vor allem die Reichsstädte in Not.833 Zugleich boten sie mit ihrem Armenwesen zentrale Anlaufpunkte für Hilfesuchende oder konnten aufgrund des Zugangs zu Krediten sogar profitieren.834 Das Witterungs­extrem verstärkte bestehende Konfliktlagen und motivierte je nach Konstellation unterschiedliche Handlungsoptionen, die sich nicht mehr ausschließlich auf vertraute Maßnahmen beschränkten. In Regensburg werden so nicht nur die lokale Gebundenheit großer Politik und die Bedeutung konkreter Konstellationen für die Praxis des Reichstags sichtbar.835 Das Entstehen einer neuen Reichspolitik aus dem Zusammenprall von extremer Witterung, Hungerflüchtlingen und ökonomischer Theorie illustriert auch die eigenwillige Verflechtung von Natur und Politik in Krisenzeiten.

5.2.  Das Erzgebirge – Pädagogisierung der Not Unter dem Druck der Krise brachen vielerorts die gewohnten Arrangements der Herrschaft zusammen. Damit öffneten sich Räume für neue Fürsorgepraktiken und -träger. Wo schwache oder abwesende Obrigkeiten Erwartungshaltungen nachhaltig enttäuschten, ergaben sich Gelegenheiten für selbsternannte ›Menschenfreunde‹. Ein Beispiel dafür bietet Sachsen. Dort lässt sich beobachten, wie bürgerliche Reformer über die mediale Mobilisierung von Mitleid ein europaweites Netzwerk der ›Fernstenliebe‹ etablierten. Mit seiner Hilfe gelang es Ihnen, die Not im Erzgebirge als Katalysator für lang ersehnte Veränderungen im Schulund Armenwesen zu nutzen. Berg- und Bergbauregionen waren seit jeher gegenüber Klimaanomalien besonders exponiert. Im sächsischen Erzgebirge trat zur ökologischen Verwundbarkeit die politische Schwäche des Territorialstaates hinzu. Der Siebenjährige Krieg hatte das Land in eine schwere Staats- und Finanzkrise gestürzt. Der Schuldendienst verschlang zeitweise bis zu zwei Drittel der Steuereinnahmen und schränkte den herrschaftlichen Handlungsspielraum dramatisch ein. Dies galt zumal, da der junge Kurfürst Friedrich August III. trotz Sympathien für den ›aufgeklärten Abso 833 Zur Situation in Nürnberg, das ebenfalls den Kaiser gegen die Sperren des Umlands anrief, vgl. Will, Theurung. Zur Sperre gegen die Reichstadt Lindau, in der oft monatelang kein Korn auf den Markt gelangte, vgl. Paffrath, Wetterverlauf, 178. Zur geopolitischen Instrumentalisierung des Hungers in weiteren Reichsstädten und der entsprechenden Konfliktkultur vgl. Zimmermann, Noth, 109; Thomas Lau, Unruhige Städte. Die Stadt, das Reich und die Reichsstadt 1648–1806. München 2012. 834 Vgl. etwa die Fruchtsperre der wohlhabenden Reichsstadt Rottweil gegen das Umland. Heinrich Ruckgaber, Geschichte der Frei- und Reichsstadt Rottweil. Rottweil 1838, Bd. 2, 110–123. 835 Zu den Mikropolitiken des Reichstags: Michael Rohrschneider, Österreich und der Immerwährende Reichstag. Studien zur Klientelpolitik und Parteibildung (1745–1763). Göttingen 2014.

330

Handeln

lutismus‹ an einem repräsentativen und teuren Hofzeremoniell festhielt.836 Die zentralen Reformen des sächsischen Rétablissements in den Bereichen Finanzen, Landwirtschaft, Agrarverfassung, Behördenzug und Finanzplan wurden daher erst nach oder in Reaktion auf die Hungerkrise umgesetzt.837 In den Notjahren wurde die innere Schwäche durch Pressionen von außen noch verschärft. Sachsen lag isoliert in der Mitte des Kontinents. Preußen und Österreich etablierten strenge Getreidesperren an den beiden wichtigsten Außengrenzen. Im Hinblick auf ihre geopolitischen Interessen in Sachsen und die polnischen Wirren verweigerten sie jede Zu- oder Durchfuhr. Die Betroffenen berichteten von harter militärischer Gewalt, mit der die Sperren exekutiert wurden.838 Für das Erzgebirge und die Lausitz, die dringend auf Zufuhr aus Böhmen und der Kurmark angewiesen waren, bedeutete das eine akute Notlage. Der einzige verbliebene Weg für Importe führte über Thüringen. Da die hohen Kosten des Landtransports den Kurfürsten abschreckten, beschränkten sich dessen Hilfen weitgehend auf die Residenzstadt Dresden. Überall sonst hielt die Landesverwaltung, geprägt von »pedantischer Wirtschaftlichkeit« und zerrütteten Finanzen, am strikten Sparprogramm fest und beschränkte die Hilfen auf ein Minimum.839 In diesem sozioökologischen Umfeld boten sich bürgerlichen Gruppen große Spielräume, ihre eigenen Vorstellungen durch privates Engagement umzusetzen. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Mobilisierung mithilfe spezieller ›Hungerzeitschriften‹. In ihnen wurde ein neues Emotionsregime etabliert, das über die Evokation von Mitleid Anteilnahme kanalisierte und Spenden akquirierte. Diese Mittel finanzierten zahlreiche neue Fürsorgeeinrichtungen, die später den Weg für umfassende Reformen im ganzen Reich ebneten. Ihr Beispiel illustriert, wie Fühlen und Handeln während der affective revolution des späten 18. Jahrhunderts verknüpft waren.840 Es zeigt zugleich, in welchen Konstellationen sich jenes bür-

836 Reiner Groß, Geschichte Sachsens. Berlin 2001, 160; Simone Lässig, Wie »aufgeklärt« war das Rétablissement? Religiöse Toleranz als Gradmesser, in: Uwe Schirmer (Hrsg.), Sachsen 1763–1832. Zwischen Rétablissement und bürgerlichen Reformen. Beucha 1996, 40–76, hier 48–50. 837 Groß, Geschichte, 161–164. Welche Wechselwirkungen zwischen Hungerkrise und Reformen (Beginn einer neuen Agrarverfassung 1771, Einführung der allgemeinen Schulpflicht 1772, Neuordnung der Finanzverwaltung 1773) bestanden, ist bisher nicht erforscht. 838 Friedrich II., Correspondenz, Bd. 30, 142; Bd. 31, 179, 529, 706, 770; Jahn, Roboter, 646–651; Spreckel, Hauschronik, 116. 839 Dorit Petschel, Die Persönlichkeit Friedrich Augusts des Gerechten, Kurfürsten und Königs von Sachsen, in: Schirmer, Sachsen, 77–100, hier 86. Zur miserablen Finanzlage und Einschnitten beim Militär in der Krise vgl. auch die britischen Geheimberichte, in: NA, State Papers, 88/103 und 81/109 (Bericht vom 23.3.1772) sowie Hofmann, Armee, 24–30. Einen Überblick über die beschränkten staatlichen Maßnahmen bietet Militzer, Klima, Kap. 5.12. 840 Lynn Hunt, Margret Jacob, The Affective Revolution in 1790s Britain, in: Eighteenth Century Studies 34, 2001, 491–521.

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

331

gerschaftlich-humanitäre Engagement durchsetzen konnte, das später nicht nur in Krisenzeiten zunehmend dominant wurde.841 ›Hungerzeitschriften‹ und die Mobilisierung des Mitleids In den Krisenjahren erschienen hunderte gelehrter, tröstender und volksaufklärerischer Schriften. Zu den Neuerungen innerhalb dieser Teuerungsliteratur gehörten spezifische ›Hungerzeitschriften‹. Sie erschienen wöchentlich oder monatlich und zielten darauf, mit ihrem Verkaufserlös sowie über Spenden Hilfsbedürftige zu unterstützen. Das neue Medienformat war zunächst von großer Varianz geprägt. Einige Blätter förderten Hilfsbedürftige direkt, andere investierten in institutionelle Fürsorgeprojekte wie Armenschulen. Auch die Zielgruppen unterschieden sich. Die meisten richteten sich an die etablierte bürgerliche Leserschicht dieser zeitungsbegeisterten Epoche. Manche Publikationen strebten jedoch an, den Hungernden selbst praktische Ratschläge für das tägliche Überleben zu geben, und lassen sich in der Volksaufklärung verorten. Sie erschienen zumeist im von der Not besonders betroffenen Sachsen. Subskribenten-Listen belegen aber, dass ihr Leserkreis weit darüber hinaus ging, oft mehrere tausend Abonnenten umfasste und bis in katholische Milieus hineinreichte.842 Gemeinsam war den Zeitschriften die gezielte Mobilisierung von ­Emotionen. Im Zentrum stand das Mitleid, dem nun ein neuer gesellschaftlicher Raum zugewiesen wurde. Mitgefühl, das sich vornehmlich aus Nahbeziehungen entwickelte und Anwesenheit benötigte, sollte mit ihrer Hilfe auch auf Distanz wirksam werden. Die Schriften zielten darauf, die christliche Nächstenliebe um eine neue, ­patr­i­­otisch motivierte ›Fernstenliebe‹ zu ergänzen.843 Die Evokation und Normierung von Mitleid spielte in allen Hungerzeitschriften eine zentrale Rolle. Es diente nicht nur als Kaufanlass, sondern auch als Triebfeder für neue Fürsorgepraktiken. 841 Zur steigenden Bedeutung von Vereinen und bürgerlicher Wohlfahrt vgl. etwa Behringer, Tambora, 99–102. Zur weiteren Entwicklung des Humanitarismus vgl. Didier Fassin, La raison humanitaire. Une histoire morale du temps présent. Paris 2010; Luc Boltanski, La souffrance à distance. Morale humanitaire, médias et politique. Paris 1993; Michael Barnett, Empire of Humanity. A History of Humanitarianism. Ithaca 2011. 842 Vgl. etwa: Beherzigung der Zeit, Wochenschrift zum Besten der Armen, 1772, 244–254. Die Zeitschriften zirkulierten zuweilen auch im Umfeld von Dienstboten oder wurden sonntags öffentlich verlesen. Vgl. Der Wohltäter [Hrsg. von Samuel Patzke] 7, 1772, 98–105, 110. Die Listen der Gönner mussten zwischen dem christlichen Gebot zur Bescheidenheit und dem Interesse der Spender an Renommee und Kontrolle vermitteln. Zumeist beschränkten sie sich auf Initialen, Wohnort und Titel und erlaubten so, den Erhalt der Gelder zu prüfen und sich Eingeweihten zu offenbaren, ohne sich unmäßiger Geltungssucht verdächtig zu machen. 843 Jahn, Roboter, 181. Zur Geschichte des Mitleids: Fassin, Raison und Boltanski, Souffrance. Zur zeitgenössischen Debatte um die Empfindung fremden Leids und die aufgeklärte Kritik an der sich rasant entwickelnden Mitleidskultur vgl. Käte Hamburger, Das Mitleid. Stuttgart 1985. Das biblische Gebot im Rahmen der Sieben Werke der Barmherzigkeit die Hungernden zu speisen, bezog sich hingegen auf Nahbeziehungen.

332

Handeln

In der Forschung hat man die emotionale Dynamik vormoderner Hunger­ katastrophen hingegen fast vollständig zugunsten demographischer, ökonomischer oder klimatischer Prozesse eliminiert. In kaum einem Feld treten die emotions­ geladene Sprache der Quellen und die neutrale Begrifflichkeit der Forschung so weit auseinander.844 Gerade das Umfeld der Hungerkrise 1770–1772 wird aber häufig als Phase beschleunigten Wandels oder als emotionskultureller Wendepunkt beschrieben. In dieser Zeit förderte das neue Authentizitätsideal der Aufklärer die Äußerung von Gefühlen und begann ältere Trostrituale zu überlagern. Zudem stellen Emotionen und materielle Interessen in frühneuzeitlichen Gesellschaften keine Gegensätze dar. Gefühle bildeten vielmehr einen integralen Bestandteil komplexer Handlungszusammenhänge.845 Die ostentative Emotionalität in den Quellen reflektiert daher nicht nur den Zeitgeist. Sie folgt auch dem gezielten Versuch, mit der Normierung und Zurichtung von Gefühlen neue Praktiken zu legitimieren. Dieser Zusammenhang von Fühlen und Handeln wird in den Hungerzeitschriften besonders sichtbar. Die vermutlich erste Veröffentlichung dieser Art publizierte Ende 1771 der Thüringer Arzt Johann Friedrich Krügelstein in 23 wöchentlichen Stücken. Ihren emotionsgebundenen Zugang verkündete die Schrift bereits im Titel: Die Beherzigung der Zeit. Im Vorwort betonte Krügelstein, dass die Schrift zusammen mit der Linderung des Hungers auch auf eine politische Neuordnung des Reichsverbands zielte. Seiner Ansicht nach seien die »Nöth[e] des Vaterlandes durch Gesinnungen der Redlichkeit, der gemeinschaftlichen Hülfe, und des Patriotismus« besser zu lindern, als durch »seelenleere Nachbarschaft […]. Mehr als der schaale kalte Trank der Ehre erhitzt die Noth des Nächsten ein mitleidiges Herz«. Krügelstein kleidete diese emotional begründete Neuorientierung von der kleinstaatlichen Ordnung hin zum Vaterland in eine Rückkehr zu alten deutschen Tugenden. In seiner Zeitschrift sah er die Möglichkeit, zugleich »dem Armen zu helfen, und in jedem das verloschene Feuer der Menschenliebe, und des Patriotismus […] anzuflammen«. Den vermeintlichen Universalismus der Gefühle verstand er als Appell überkommene soziale und regionale, aber auch religiöse und ökonomische Grenzen zu überschreiten. Seine Zeitschrift bediente sich einer dementsprechend emotional aufgeladenen Sprache. Er berichtete etwa von einem Vater, der »naß von den Thränen seiner 844 Zum Emotionsdefizit der Hungerforschung bereits Hans Medick, »Hungerkrisen« in der historischen Forschung. Beispiele aus Mitteleuropa vom 17.-19. Jahrhundert, in: SOWI 14, 1985, 95–103, hier 97, 100 f. 845 Jutta Stalfort, Die Erfindung der Gefühle. Eine Studie über den historischen Wandel menschlicher Emotionalität (1750–1850). Bielefeld 2013; Hans Medick, David Sabean, Emotionen und materielle Interessen in Familie und Verwandtschaft: Überlegungen zu neuen Wegen und Bereichen einer historischen und sozialanthropologischen Familienforschung, in: Dies. (Hrsg.), Emotionen und materielle Interessen. Göttingen 1985, 27–55, 37–39; Daniela Saxer, Mit Gefühlen handeln. Ansätze der Emotionsgeschichte, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte 2, 2007, 15–29, hier 24.

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

333

Gattin, und benagt von der heißen Begierde seiner Kinder« im kalten Heim ausharrte und schilderte »die rollende[n] Mutterthränen in dem Mund der Säuglinge«. Solche Ausführungen lehnten sich nicht nur an die Geschlechterkonzeption bürgerlicher Aufklärer an, indem in ihnen Familie als Zusammenspiel überbordender weiblich-mütterlicher Emotionalität und männlich-hausväterlicher Fürsorge dargestellt wurde.846 Sie übernahmen auch den Fokus der Aufklärer auf leidende Kinder sowie deren zentrale Projekte, insbesondere im Bildungsbereich. In deutlich normierenden Passagen beschrieb Krügelstein, der bürgerliche Beobachter könne »nie so viele ohne Aeltern herumwallende Kinder ohne Jammer und Schmerzen erblicken, und aus einer sorgsamen Zärtlichkeit das traurige Bild ihres künftigen Lebens nie aus seinen Augen wischen«. Er mahnte, die Waisenkinder seien »unseres Mitleidens werth«, da bei ihnen der »Mangel an stillen reinen Empfindungen auf ihre ganze Lebenszeit eine große Härte in ihren Herzen zurücklassen muss, welche sich durch Worte und Handlungen gegen künftige Unglückliche« wenden könne. Daher müsse die durch Spenden ermöglichte Einrichtung von »wohleingerichteten Schulanstalten« schon aus Selbstschutz und Eigennutz eine logische Folge sein.847 Dieses Endziel einer Verknüpfung von Mitgefühl und Taten führte er dem Leser am Ende jeder Ausgabe mithilfe langer Listen der Spenden vor Augen, die renommierte Subskribenten eingesandt hatten. Den Armen selbst legte Krügelstein allerdings andere, konservative Tugenden ans Herz. Ihnen empfahl er Leidensfähigkeit und die Akzeptanz der Verhältnisse – eine Akzentverschiebung, die ebenfalls emotional eingehegt wurde und zwar mit der Transformation des Mitleids in ein positives Selbstmitleid: »Wenn diese Empfindung nicht übel angewendet wird […] so liegt ein sehr großer Trost darinnen […] dann ist es ganz ohne Zweifel, daß ein großer Theil eures Schmerzes sich legen, und ihr immer mehr in Stand gesezt seyd, es bis zur Stunde der Hülfe, und des Trostes auszuhalten« oder aber »in [Eurem] Hause ruhig [zu] sterben«.848 Im anschließenden »Lied eines arbeitsamen Menschen« verknüpft Krügelstein diese akzeptierende Haltung noch mit Arbeitsmoral und der Bewahrung der sozialen Untergliederung in Reich und Arm.849 Angesichts der sozialen Sprengkraft der Hungererfahrung sah er es als geboten an, den sozialen Status quo nur für Bürger, nicht aber bei den Armen anzutasten. 846 Zum Topos der passiv-weinenden Mutter vgl. Beherzigung der Zeit, 1772, 373 sowie das »Gespräch eines Mannes mit seiner Frau« in: Der Wohltäter 11, 1772, 163–175. 847 Beherzigung der Zeit, 1772, 261. Zu den weiteren aufklärerischen Projekten, die behandelt wurden, gehörten die Förderung des Freihandels, die Abschaffung innerdeutscher Getreidesperren und Zölle sowie die Ablehnung der den Handel lähmenden Getreidemagazine. 848 Ebd., 98–102. 849 »[Die] Wohltat, die der Bettler schreyt / Ist nicht des Herzens Wille / Das schadet meiner Seeligkeit! / Wenn ich so Hunger stille / Und meine besten Kräfte nicht / Und nicht den Schweiß im Angesicht / Dem Reichen wieder gebe / [..] Gewiß nicht neidisch [will] ich seyn / Wie es dem Reichen mag ergehen / Denn ich hab Guts die Fülle. « Ebd., 143.

334

Handeln

Mit dem neuen Medienformat hatte Krügelstein einen Nerv getroffen. Dies zeigen die enorme Zahl an Spendern sowie die vielen Nachahmer. Die Verbindung von neuer Zeitungsöffentlichkeit mit praktischen Hilfsangeboten verbreitete sich rasch.850 Vergleichbare Zurichtungen von Emotionen für sozialkonservative Ziele und volksaufklärerische Projekte finden sich in dem ab Januar 1772 erscheinenden Wohltäter des Magdeburger Stadtpfarrers Johann Samuel Patzke. Auch er machte den dezidiert gefühlsbetonten Zugang explizit und stellte seine Hungerzeitschrift unter das Motto: »Wenn niemals andre Thränen flössen / Als welche Lust und Dank vergössen / Wie göttlich wäre dann die Welt!« In der ersten Ausgabe propagierte Patzke: »Es liegt eine unaussprechliche Wollust in der Vorstellung, einen Bekümmerten zu trösten, einem Elenden eine Thräne ab[zu]trocknen.« Den Wohltäter verstand er als ein Medium, um die direkte Beziehung von Gebern und Empfängern auch auf Distanz aufrechtzuerhalten. Sein Ziel war es, »unsern Lesern, die Gemälde der Elenden auf[zu]stellen, […] wenn wir sie in eine traurige Hütte führen, wo eine betrübte Witwe in Thränen zerfließt, und über ihr hülfloses Kind jammert […]. Wir trauen einem Theil unsrer Leser zu, sie werden solche Klagen empfinden, und fühlen, daß es die größte Wohltat sey, eine solche Mutter von ihren traurigen Ahndungen zu befreyen«.851

Als Gegenleistung versprach er den Spendern, Nachricht von den Hilfsempfängern zu geben und »ihre Freudenthränen ihnen zu erzählen, und das Jauchzen gesättigter Kinder, bekleideter Waisen, die sanfte Regung eines gottesfürchtigen Hausvaters«. Patzke versuchte gezielt, die im Vergleich zum Almosen wesentlich anonymere Spendenpraxis der Zeitschrift aufzufangen. Auf Wunsch vermittelte er direkte Patenschaften und betonte die Individualität der Hilfsempfänger in emotionalen Vollzugsberichten. Als Abschluss jeder Ausgabe sollten sie der Fürsorge auf Distanz den Weg bereiten.852 850 Die seltene Kritik entzündete sich an der ungewohnten Zurschaustellung von Emotion, die als heuchlerisch beargwöhnt wurde: »Was das Mitleiden gegen Nothleidende betrifft, so will man freylich den Schein haben, als seye man von ihrem Elende gerühret, wenn in solchen Gesellschaften einmal von ohngefehr eine das Herz durchdringende Erzehlung, von dem Elende einer dürftigen Familie, als eine neue Zeitung vorgebracht wird, so höret man wohl zuweilen sagen: Ey! das ist erschrecklich! ach! wie bedaure ich die guten Leute! aber dabey bleibet es […].« Korn, Briefe, 65. 851 Der Wohltäter 1, 1772, 13, 15. 852 »Der Mann war bestürzt aus Freude. Die Frau rief mit nassem Blick: So kommst du, o Gott! […] Ich habe Nachricht, daß beyde unmittelbar darauf, auf ihre Knie gefallen, und für den Geber gebetet haben.« Ebd., 47, auch 17–26. Mit der medialen und emotionalen Innovation verband daher auch Der Wohltäter einen sozialkonservativen Kurs gegenüber den Armen. Vgl. die Ausgabe zur »Rechterfertigung Gottes bey der ungleichen Austheilung der Glücksgüter«, Der Wohltäter 38, 1772, 177–192. Zum weiteren Konnex von Mitleid und Sozialkonservativismus vgl. Vanessa Pupavac, Between Compassion and Conservativism. A Genealogy of Humanitari-

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

335

Wie die anderen Hungerzeitschriften bezog sich der Wohltäter statt auf das Reich auf das Vaterland »Germanien«. Seine Leser verstand er als »Menschenfreunde« und »Patrioten«.853 Patzke teilte die Ansicht, dass Hilfe in der Hungersnot nicht über Staat oder Kirche, sondern als »Privatgesellschaft zur Versorgung der Armen« organisiert werden müsse.854 Das Mitleid mit den Hungernden erschien ihm nicht mehr in erster Linie spirituell motiviert. Er verstand es vielmehr als »natürliche[s] Gefühl«, das er gerade deshalb einzuhegen versuchte.855 Im Dialog »eines Mannes mit seiner Frau« schilderte er, wie der Mann das Mitleiden von seiner Frau erlernen, sich gleichzeitig aber gegen weiblichen Überschwang und die Gefahr der Ausnutzung durch unwürdige Arme sichern könne.856 Das Ziel der emotionalen Ansprache sah Patzke, ähnlich wie Krügelstein, in aufklärerischen Projekten wie privaten Spendensammlungen, Armenschulen und der Erziehung zur Arbeit.857 Die Ausrichtung auf die bürgerliche Öffentlichkeit wurde in den Spenderlisten dokumentiert, die zahlreiche Tischgesellschaften und Sozietäten verzeichnete. Patzke selbst verstand seine Aufrufe als »an alle Assembleen, Kränzchen, Gesellschaften und Tafeln gerichtet«.858 Der Wohltäter markierte damit eine Schnittstelle zwischen traditioneller religiöser und neuer bürgerlicher Öffentlichkeit, zwischen Almosen und Wohlfahrt. Die Verknüpfung und schrittweise Schwerpunktverlagerung erfolgte über die emotionale Ansprache und das neue Konzept des Mitleids.859 Die Strategie, über die Evokation von Mitleid neue Spendenpraktiken zu etablieren, verbreitete sich rasch. In Leipzig erschien die Zweymahlige Korn-Aernte […] die zum Besten der Haus-Armen verkauft wird.860 Im Erzgebirge selbst entstand unter an Sensibilities, in: Didier Fassin, Mariella Pandolfi (Hrsg.), Contemporary States of Emergency. The Politics of Military and Humanitarian Interventions. New York 2010, 129–152. 853 Der Wohltäter 1, 1772, 24, 28, 31. 854 Ebd., 42 855 Ebd., 38, 15. Zur offenbar notwendigen Normierung des Mitleids vgl. auch die Kapitel: »Das belohnte Mitleiden. Eine Geschichte«, »Wie man Kinder zum Mitleiden gewöhnen soll«, »Von der Nothwendigkeit die Menschen frühzeitig zum Mitleiden zu gewöhnen«. Ebd., 177, Teil 3, 65–80, Teil 4, 207–220, 269–284. 856 Ebd., 1772, 163–175. 857 Ebd., 10, 1772, 155 ff. 858 Ebd., 200. Zu mediengebundenen Formen der Öffentlichkeit in dieser Zeit vgl. Holger Böning, Aufklärung und Presse im 18. Jahrhundert, in: Hans-Wolf Jäger (Hrsg.), »Öffentlichkeit« im 18. Jahrhundert. Göttingen 1997, 151–164. 859 Die älteren Fürsorgeformen blieben zwar publizistisch weniger erfolgreich, finanziell aber oft effizienter. Während Der Wohltäter in den 52 Ausgaben des Jahres 1772 1.000 Taler an Spenden für die Hungernden einsammelte, brachte eine einzige Kollekte in den Magdeburger Kirchen 800 Taler ein. Vgl. Der Wohltäter 5, 1772, 75 und 51, 1772, 382. 860 Reyher, Aernte. Der Leipziger Publizist Benjamin Reyher war von Krügelsteins Projekt zum Format seiner Schrift inspiriert worden. Sie verbreitete in wöchentlichen Ausgaben neben Agrar- und Düngetechniken vor allem patriotische und erbauliche Gedanken. In Breslau erschien von 1772–73 eine Hungerzeitschrift Johann Friedrich Korns unter dem Titel »Zum Besten der

336

Handeln

anderem die Monatschrift aus Mitleid. Sie meldete, dass auch die etablierten sächsischen Zeitungen, Intelligenzblätter und Adresscomptoirs zunehmend vergleichbare Spendenprogramme auflegten.861 Bald führte man sogar eigene Theaterstücke oder Auktionen »zum Besten der Armen« auf.862 All diesen Projekten war gemeinsam, dass sie über die Betonung von Mitleid neue Fürsorgeformen zu etablieren suchten, die sich auf Freiwilligkeit und privaten Bürgersinn statt auf die überkommenen Systeme von Kirchen und Steuern stützten. Wie die Monatschrift aus Mitleid betonte, sollte sich an diesen Sammlungen »jeder nach seinem Vermögen« beteiligen – ein Anspruch, der nicht mehr nach Stand, sondern nach Wohlstand differenzierte.863 Die Normierung von Emotion gehörte zu den zentralen Mechanismen einer solchen Neuorientierung, auch wenn sie – wie die Monatschrift aus Mitleid vermutete – zunächst auf Widerstand treffen werde. Als Lösung propagierte ihr Herausgeber die »starke Reizung zu menschenfreundlichen Gesinnungen und Handlungen; und vornehmlich die beyden großen Stücke: die alle Erwartungen übertreffende Mildthätigkeit gegen fremde leidende Orte […] und die an so vielen Orten zur Versorgung und Unterweisung gemachten Anstalten.«864 Zum zentralen Anliegen der Mobilisierung von Mitleid über soziale und räumliche Distanz entwickelte sich nun deren Materialisierung in Schul- und Armenhäusern. Fühlen und Handeln Die Verknüpfung von Mitleid und privater Wohlfahrt blieb keine Theorie. Sie löste in ganz Europa eine der größten privaten Spendenwellen aus, die es jenseits Hausarmen. Eine Wochenschrift« (Böning, Siegert, Volksaufklärung, Bd. 1, 438). In Frankfurt am Main veröffentlichte Johann Michael Hoffmann das »Allgemeinnuetzliche Wochenblatt, besonders zur Erhaltung der unschaetzbaren Gesundheit und Heiterkeit des Gemueths zum Besten der Hausarmen, die zum Bettlen zu schamhaft sind, fuer Vornehme und Reiche, die Edelmuth genug besitzen sich nothleidender Menschen zu erbarmen«. Es wurde auch nach der Krise fortgeführt und erschien bis 1787. 861 Monatschrift aus Mitleid von vermischtem Inhalte [Hrsg. von Franz Gotthold Hartwig], 1772, 366. Diese Schrift wurde von einem erzgebirgischen Pfarrer zwischen Mai 1772 und Februar 1773 publiziert. Sie richtete sich in einer Auflage von 2.000 Stück an Subskribenten vor allem im sächsischen Raum. Nach Abzug der Druckkosten von 300 Reichstalern verblieben 450 Taler für Hilfsprojekte. Ebd., 376. Ähnliche Spendensammlungen initiierten auch die Dresdnischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen sowie weitere sächsische Blätter: Miscellanea Saxonicae, 1772, 103–112. Vergleichbare Spendenappelle formulieren: Anon., An das mitleidige Publicum, zum Besten der Nothleidenden in Sachsen. Leipzig 1772; David Albin Hunger, Das mitleidige Herz Jesu unsers Hohenpriesters gegen ein armes Land, in der theuren Zeit, wurde in einer Erndten-Predigt […] vorgestellet. Freiberg 1771. 862 [Christian Felix Weisse], Armut und Tugend, ein kleines Schauspiel in einem Aufzuge. Zum Besten der Armen. Leipzig 1772; Miscellanea Saxonicae, 1772, 104. 863 Monatschrift aus Mitleid, 1772, 24. Zu ähnlichen Unternehmungen angesichts der Überflutungen in Nordengland vgl. Berry, Flood. 864 Ebd., 327, 337 f.

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

337

konfessioneller Netzwerke je gegeben hatte.865 Sie etablierten mit einem Schlag eine neue karitative Praxis und stellten Mittel für zahlreiche Hilfseinrichtungen in Sachsen und dem Erzgebirge bereit. Dabei spielten den Reformern die immer häufiger verhängten totalen Almosen- und Bettelverbote in die Hände. In der Folge blieben oft nur noch die neuen Armenschulen als legitime Spendenempfänger und Fürsorgeträger übrig.866 Allein die Hungerzeitschriften akquirierten zusammen tausende Taler an Hilfsgeldern. Die Monatschrift aus Mitleid half damit eine neue Schul- und Armenanstalt in Großhartmannsdorf mitten im erzgebirgischen Notstandsgebiet zu finanzieren.867 Die Leipziger und Dresdener Zeitungen unterstützten zunächst den Ankauf von Brot, Betten und Decken. Ihre Suppenausgabe ernährte allein in Annaberg über 1.000 Menschen, die »großentheils dem Verschmachten nahe« waren. Später konzentrierten auch sie sich vor allem auf Schulanstalten.868 Rasch entstanden weitere Unternehmungen. In Marienberg baute der lokale Diakon Johann Ehrenfried Wagner gemeinsam mit seiner Frau ein europaweites Netzwerk von Spendern auf. Er begann mit Anzeigen in den sächsischen Zeitschriften, in denen das »tägliche Jammern, Heulen und Schreyen dieser Elenden« im Erzgebirge geschildert wurde.869 Über diese Blätter verbreitete sich der Marienberger Spendenaufruf international weiter.870 Daraufhin trafen Hilfen vermögender Einzelpersonen, bürgerlicher Gesellschaften, jüdischer Gemeinden, der Freimaurer sowie der Auslandsgemeinden deutscher Protestanten aus ganz Europa ein. Die Spender stammten aus London, Danzig, Warschau oder Wien sowie aus dem gesamten weiteren Reichsverband.871 Wagner nutzte sie für die Ernährung von bis zu 700 Armen und die Gründung einer »ökonomischen Schule sächsischer Patrioten« für 200 Kinder. Der Beitrag des verschuldeten Kurfürsten beschränkte sich derweil darauf, die Brotsteuer auf die gespendeten Nahrungsmittel zu erlassen.872 865 Jahn, Roboter, 180. 866 Vgl. Kap. IV.1.6. sowie Jahn, Roboter, 269. 867 Monatschrift aus Mitleid, 1772, 146. 868 Miscellanea Saxonicae, 1772, 103–112; Leipziger Intelligenzblatt, 1771, 431, 435, 448, 512, 522, 530, 538, 550, 566, 583; Sebastian, Entstehung, 201 f. 869 Wagner, Beschreibung, 37, 51 sowie die »Mahnung an das Mitleidige Publicum zum Besten der Nothleidenden« in: Dresdener Gelehrte Anzeigen, 1772, 1–16, 41–56. Als die Spendenaufrufe auch in den Miscellanea Saxonica (1772, 78 f.) erschienen, entschloss man sich angesichts der ungewohnt emotionalen Beschreibung noch einen Sachbericht eines »glaubwürdigen Mannes« beizugeben, der »weder durch Eigennutz, noch durch Mitleid« beeinflusst sei. Ebd., 72–77. Wagner selbst schrieb später, er habe »das mitleidige Publicum« in seinen Berichten geradezu um »Hülfe und Beystand angeschrien«. Wagner, Hunger, 3. 870 Vgl. etwa Scots Magazine vom 1.6.1772; Oxford Journal vom 20.6.1772; Ipswich Journal vom 27.6.1772; Leeds Intelligencer vom 23.6.1772. 871 Wagner, Beschreibung, 18–25, 39–46. 872 Ebd., 25, 47–49. Die 1771 begründete Waisenhausstiftung besteht bis heute. Wagners Frau scheint eine zentrale Rolle bei der Organisation des Zwei-Personen-Unternehmens gespielt zu haben. Vgl. ebd., 30.

338

Handeln

Innerhalb dieser Welle bürgerlichen Engagements bildeten die Freimaurer eine besonders aktive Gruppe.873 Im Januar 1772 gründeten mehrere sächsische Logen die »Deputation der Freymaurer in Chursachsen für das Armut«. Die Gründer appellierten eindringlich, man dürfe angesichts der Not sowie der konkurrierenden mildtätigen Projekte nicht »ungerührt, unempfindlich, unthätig bleiben«.874 Das Protokoll der Sitzung schilderte und normierte zugleich die emotionale Reaktion der Zuhörer auf die dramatischen Schilderungen der Hungersnot in der Gründungssitzung.875 Daraufhin wurden über das internationale Netzwerk der Freimaurer große Spendenbeträge gesammelt, mit denen man zunächst bereits bestehende Projekte unterstützte. Dazu zählten die Schulinitiativen in Marienberg und der Lausitz sowie die der Zwickauer Charitätsgesellschaft. Später bauten die Freimaurer an 16 Orten des Erzgebirges eigene, temporäre Armenanstalten auf. Auch hier konzentrierte man sich auf die Kinder und zielte neben der Ernährung zugleich auf Bildung und Arbeitsbeschaffung.876 Schließlich gründeten die Logen in Dresden-Friedrichstadt eine dauerhafte eigene »Lehr- und Erziehungsanstalt«. Das sogenannte Freimaurerinstitut wurde bis 1793 direkt von den Logenbrüdern geleitet und in Bildern und Texten intensiv für die Selbstdarstellung des Bundes genutzt.877 Insgesamt versorgten diese Hilfsprojekte 1772 mehr als 1.000 Kinder mit Nahrung, Kleidung und Bildung.878 Dem neuen Modell der Finanzierung über private Spenden und öffentliche Aufrufe folgten rasch auch Einrichtungen außerhalb des Erzgebirges. In der benachbarten Lausitz warben der Pfarrer Johann Georg Vogel und der Volksaufklärer Johann Heinrich Herwig nun ihrerseits über Zeitungsanzeigen um »Liebesbeiträge«, die »zärtliche Menschenfreunde« einsenden sollten. Ihre Aufrufe erschlossen sogar Hilfsgelder aus Kopenhagen, Lemberg, Hamburg oder Basel, die ebenfalls in einer langen Geberliste dokumentiert wurden.879 Gemäß seiner Agenda nutzte auch der 873 Zur Karitas der Logen allgemein vgl. Margaret C. Jacob, Living the Enlightenment. Freemasonry and Politics in Eighteenth-Century Europe. New York 1991, 201–212. 874 Anon., Gesammlete Nachrichten von den Armen-Einrichtungen der Freymäurer in Chur-Sachsen vom 17. Jenner 1772 bis zum Jahre 1775. [Dresden] 1775, 4. 875 »Eine allgemeine Stille herrschte hierauf in unserer Versammlung; die Gemüthe aller Brüder waren von fremder Noth gerührt, und fühlten solche als eigene.« Ebd., 35 f. Die aufwendige Publikation dokumentiert zugleich, welchen Aufwand die Empfindung fremden Leidens in der ständischen Gesellschaft erforderte. 876 Ebd., 51–66. Die Einrichtungen wurden teilweise von Freimaurern in öffentlichen Ämtern, wie dem Landeshauptmann des Erzgebirges Friedrich Ludwig Graf zu Solms, umgesetzt, teilweise von lokalen Pfarrern betreut. 877 Vgl. Kap. V.2. In dem Gebäude befindet sich heute die Dresdner Kreuzschule. Kurt Kranke, Freimaurerei in Dresden, in: Dresdner Geschichtsverein (Hrsg.), Die Verschwörung zum Guten. Freimaurerei in Sachsen. Dresden 2000, 9–40. 878 Mit 13.000 Talern überstiegen die Spenden der Freimaurer-Deputation deutlich die 4.500 Taler, die 1772 in Sachsen durch staatliche und kirchliche Sammlungen zusammen kamen. Vgl. Anon., Gesammlete Nachrichten, 130–135 sowie HStA Dresden, Loc. 34126, Nr. 103. 879 Leipziger Intelligenzblatt, 1772, 213, 223, 236–9, hier 483, 523; Neues Leipziger Allerley auf das Jahr, 1772, 320; Johann Heinrich Friedrich Herwig, Fortsetzung der Nachricht von

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

339

Bildungsreformer Herwig die Erlöse nur teilweise zum Ankauf von Nahrungsmitteln. Der Großteil floss in den Bau mehrerer Schulen.880 Auch in Eisleben finanzierte man über Spenden statt Brot lieber ein Armenhaus, das sich in eine Versorgungs-, eine Arbeits- und eine Erziehungsanstalt gliederte. In einem ambitionierten volksaufklärerischen Projekt sollte sich das Institut teilweise durch den Verkauf selbstproduzierter Leinwand an Aktieneinleger refinanzieren. Die Abrechnungen und die ausführlichen Spenderlisten wurden in der regelmäßig erscheinenden Reihe Früchte der Menschenliebe und Erbarmung veröffentlicht und gewürdigt.881 In der Krise finanzierte die neue, private Wohlfahrt eine Neuausrichtung der Fürsorge. Sie förderte die Abkehr von den offenen Brotausgaben zu geschlossenen Einrichtungen. Im Erzgebirge, wo die schwache Landesherrschaft außergewöhnlich viel Raum ließ, ging dieser Prozess besonders weit. Die neuen an Arbeit oder Ausbildung gebundenen Einrichtungen traten hier und anderswo in direkte Konkurrenz zu den älteren Fürsorgeformen von Obrigkeit und Kirchen.882 Zuweilen ersetzten sie sie sogar ganz.883 einigen in der Freyen Standes- und Erb-Herrschaft Muscau ganz neu angelegten Schulen […]. Löbau 1771, 32–43. Die Erzgebirgischen Armenanstalten wurden auch über Zeitschriften reichsweit bekannt gemacht und als vorbildlich gelobt. Vgl. etwa Braunschweigische Anzeigen vom 12.2.1772. 880 Jahn, Roboter, 265–277. Zu weiteren Projekten vgl. Anon., Nachrichtliche Anzeige, von den in der Sechsstadt Lauban errichteten Freyschul- und Versorgungs-Anstalten für arme Kinder, in: Lausitzisches Magazin, 1772, 193–195, 209–211. 881 Anon., Früchte der Menschenliebe und Erbarmung gegen die Armen und Waisen in Eisleben. 3. Stück. Nebst angeführter Berechnung derer […] eingegangenen Wohltaten und einer Anzeige von der am 21 ten Dec. ej. aj. erfolgten dritten Verloosung der Actienleinwande. Eisleben 1774. Die Spenden wurden über das Leipziger und das »Hamburgische Adreß- und Zeitungscomtoir« akquiriert. Ebd., 11. 882 Zum parallel zu den Brotausgaben über Subskriptionen finanzierten Werkhaus in Göttingen vgl. Rainer Rohrbach, Allerley unnützes Gesindel. Armut in Göttingen, in: Hans-Georg Schmeling (Hrsg.), Göttingen im 18. Jahrhundert. Eine Stadt verändert ihr Gesicht. Göttingen 1987, 183–215, hier 206. Zum Schul- und Armenhaus in Zwickau, das von einer »Gesellschaft redlicher Patrioten« getragen und ebenfalls über Spendenaufrufe und Handzettel an »empfindliche Menschen« und »Mitleidige Seelen« privat finanziert wurde, vgl. Stadtarchiv Zwickau, Ratsarchiv, Polizeisachen, V B1 4, fol. 62r-63v. sowie Johann Gottfried Weller, Predigt, von dem gnädigen Wohlgefallen Gottes, an der Sorgfalt für die Kinder, nebst einer kurzen Nachricht, von denen in Zwickau zur Versorgung der Armen besonders der Kranken und armen Kinder getroffenen Anstallten. Zwickau 1772, 4. Vgl. auch den programmatischen Text: Anon., Nachricht von denen in der, in dem Chursächßischen Erzgebürgischen Creyße gelegenen Stadt Zwickau getroffenen Veranstaltungen zur Verpflegung armer und kranker Personen, auch Versorgung Hülfsbedürfender Kinder, deren Unterweisung in Christenthum, Erziehung zu künftigen gesitteten und nützlichen Landeseinwohnern, Angewöhnung zur Arbeit und Abhaltung vom Bettelgehen auch dem daraus entstehendem Müßiggang und übrigen damit vors künftige und das Vaterland verbundenen üblen Folgen. Zwickau 1772. 883 So entstand in Hannover aus den Spenden der Gesellschaft wohltätiger Menschenfreunde ein Werk- und Arbeitshaus, das ein halbes Jahr parallel zu den offenen Brotausgaben der Stadt existierte und sie dann ganz ersetzte. Ursula Brügmann, Die öffentliche Armenpflege der Stadt

340

Handeln

Die Erziehung zur Nützlichkeit Mit ihren Hilfsprojekten gelang es bürgerlichen Reformern in der Krise lang gehegte Vorstellungen zu verwirklichen. Die Überführung der offenen in eine geschlossene Fürsorge war schon seit dem Mittelalter immer wieder gefordert worden. Im »pädagogischen« 18. Jahrhundert hatten sich die Rufe nach einer alternativen, erzieherischen Bekämpfung der Armut weiter verstärkt, wurden aber angesichts der hohen Kosten nur zögerlich umgesetzt.884 Die Hungerkrise diente hier als entscheidender Katalysator. Eine Vielzahl von Veröffentlichungen gab den Reformern Rückenwind. Johann Heinrich Basedow, ein Vordenker der Schulreformer, unterbrach während der Hungersnot die Arbeit an seinem wegweisenden Elementarwerk der Erziehung, um zunächst seine kürzeren Anschläge zu Armen-Anstalten zu veröffentlichen. Darin suchte er die Wucht der Hungersnot zu nutzen, um für dauerhafte Werkund Schulanstalten zu werben. Da sich die bisherigen Maßnahmen als unzureichend erwiesen hätten, müsse man mit der Erziehung der Kinder an die Wurzel des Übels gehen. Zucht- und Armenhäuser, die bisher oft gemeinsam betrieben wurden, seien daher zu trennen.885 Zahlreiche Autoren bestärkten seine Hoffnung auf die Allmacht der Pädagogik. Sie sekundierten: »Die Kinder sind wie das Wachs, ein weiche Masse, woraus so leicht ein Engel, als ein Teufel geformet werden kann.« Damit reagierten sie auch auf die Beobachtung, dass die Volksaufklärung bei Erwachsenen weitgehend gescheitert war – eine Befürchtung, die im Umfeld der Hungerkrise immer häufiger artikuliert wurde.886 In festen Anstalten könne bei Kindern der natürliche Wille zu nützlicher Arbeit geweckt werden – gegebenenfalls auch mithilfe der gewaltsamen Trennung von den Eltern.887 Diese Schriften verwischten gezielt die Unterschiede zwischen akuter Teuerung und grundständiger Armut. Auf diese Weise suchten sie den kurzfristigen Impuls der Hungersnot für den Aufbau dauerhafter, geschlossener Einrichtungen Hannover in den Jahren 1700–1824, in: Hannoversche Geschichtsblätter 24, 1970, 89–146, hier 109–111 und Johanna May, Vom obrigkeitlichen Stadtregiment zur bürgerlichen Kommunalpolitik. Hannover 2000, 143. 884 Ulrich Herrmann (Hrsg.), Das pädagogische Jahrhundert. Volksaufklärung und Erziehung zur Armut im 18. Jahrhundert in Deutschland. Weinheim, Basel 1981. Zur langen Debatte um geschlossene Fürsorgeinstitutionen vgl. Robert Jütte, Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgeschichte der Armut in der Frühen Neuzeit. Weimar 2000. Zur Situation in Sachsen vgl. Thomas Töpfer, Die »Freyheit« der Kinder. Territoriale Politik, Schule und Bildungsvermittlung in der vormodernen Stadtgesellschaft. Das Kurfürstentum und Königreich Sachsen 1600–1815. Stuttgart 2012, 95–107. 885 Basedow, Anschläge, Vorwort. Das »Schulbuch für Kinder« des Reformpädagogen Eberhard von Rochow erschien 1772 in einem ähnlichen Kontext. Jahn, Roboter, 275. 886 Churbaierisches Intelligenz-Extra-Blatt vom 28.10.1770, o. P. Zum subjektiven Scheitern der Volksaufklärung vgl. Kap. IV.4.3. 887 Anon., Gedanken, 27; Basedow, Anschläge, 24 f.

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

341

zu instrumentalisieren. Aus dieser Perspektive bezeichnete man die Hungerkrise nicht als Katastrophe, sondern als »bequeme Gelegenheit, der Armen Jugend einen hinreichenden Unterricht zu verschaffen und den Grund für eine öffentliche Armen-Schule zu legen.«888 Ähnliche Verhältnisse lassen sich in der Schweiz beobachten. Auch dort verstanden Reformer den Hunger als Chance für die Verschulung der Gesellschaft. Aus der sicheren Distanz des Gelehrten charakterisierten sie den Prozess als »pathematha mathemata« (Lernen durch Leiden).889 Solche europaweiten Überlegungen lieferten mit ihren Aufrufen zu geschlossenen Anstalten und privaten Spenden die Blaupause für die entstehenden Schul- und Armeneinrichtungen.890 Sie zielten statt auf strukturelle politische Lösungen auf die Pädagogisierung des Hungers. In der Praxis zog die Neuorientierung vom Almosen zur Ausbildung aber nicht nur erhebliche Veränderungen, sondern auch Probleme nach sich: Mitten in der größten Hungersnot wurden nun Mittel in Gebäude und Personal statt in den Ankauf von Nahrung investiert. Anstelle von Brot erhielten viele Notleidende Garn für die Spinnarbeit. Was die Reformer in ruhigeren Jahren erdacht hatten, erwies sich angesichts der in Notzeiten üblichen Absatzstockung und Gewerbedepression als gravierende Fehlkalkulation. Da Arbeit aber eine zentrale legitimatorische Funktion der neuen Fürsorgeeinrichtungen darstellte, wurden etwa die hungernden Kinder im Freimaurer-Institut in Berggrießhübel zuletzt sogar im Straßenbau eingesetzt.891 Auch in anderen Bereichen zog die Fokussierung auf Kinder Probleme nach sich. Sie stellte zumindest teilweise eine Folge der emotionalen Ansprache dar. Leidende Kinder zogen schon im 18. Jahrhundert weit mehr Spenden an als Erwachsene.892 Ihre privilegierte Unterstützung entsprach zudem der Überzeugung der Spender, dass nicht das Ständesystem, sondern fehlende Erziehung die Wurzel der Armut bildete. Sie ignorierte jedoch, dass Hilfen für die Ernährer der Familien für deren Subsistenz weit effektiver gewesen wären.893 888 Dresdener Gelehrte Anzeigen, 1772, 164. Auch der Leiter der Marienberger Armenschule freute sich, dass man durch die Hungersnot zahlreiche Kinder erstmals in die Schulen mit ihrer Verpflegung habe locken können. Wagner, Beschreibung, 52. 889 De Vincenti, Educationalizing Hunger. 890 Zur Anschubfinanzierung durch private Spenden von »zärtlichen Menschenfreunden« vgl. Basedow, Anstalten, 11, 21. Die weiteren Kosten sollten dann durch den Ertrag der vollbrachten Arbeit dauerhaft gedeckt werden. Andere schlugen private Lotterien oder die Säkularisierung kirchlicher Liegenschaften als mögliches Finanzinstrument vor. Anon., Gedanken, 27–31. 891 HStA Dresden, Loc. 14386, p. 56. Zu den fragilen Gewerbeprojekten vgl. Kap. IV.1.6. 892 Der Fokus auf Kinder stellt möglicherweise eine neue Entwicklung im Zusammenhang mit dem Bildungsideal und dem Kindheitsverständnis der Aufklärer dar. In früheren Hungersnöten ist keine vergleichbare Schwerpunktsetzung auf das spezifische Leid der Kinder zu beobachten. Vgl. etwa Behringer, Weather sowie Katie Barclay, Kimberley Reynolds, Ciara Rawnsley (Hrsg.), Death, Emotion and Childhood in Premodern Europe. London 2016. 893 Russell, Hunger, 192.

342

Handeln

Der forcierte Wechsel zu geschlossenen, zentralisierten Einrichtungen erwies sich ebenfalls als problematisch. Er war ein Herzensprojekt vieler zeitgenössischer Reformer und kam nicht zuletzt dem Kontrollinteresse der Spender entgegen, welche die Empfänger ihrer Spenden nun nicht mehr persönlich kannten. Angesichts der grassierenden Epidemien und der hohen Ansteckungsgefahr stellte die Konzentration zahlreicher Hungernder auf engstem Raum jedoch eine riskante und oft fatale Entscheidung dar.894 Schließlich ging mit den geschlossenen Einrichtungen auch eine schärfere Disziplinierung einher. Den anonymen Spendern versprach man, »Müßiggänger« streng von den »Unglücklichen« zu scheiden und durch Arbeit der »einreißenden Faulheit und Bettelei vorzubeugen«. Diese Maßnahmen reagierten auf das Arbeitsethos der bürgerlichen Spender und deren Furcht vor Ansammlungen arbeitsloser Hungernder. Der streng regulierte Alltag sollte daher die vermeintliche »Abscheuung der Arbeit« bekämpfen.895 Die Ausgabe von Brot war an die Teilnahme am Unterricht und eine streng normierte Lebensführung geknüpft. In den Schülerlisten finden sich Beispiele, dass Schüler bereits von der Versorgung ausgeschlossen wurden, weil sie »sehr unordentlich gewesen«, »dreimal die Schule versäum[t]« hatten, oder überführt worden waren, dass sie »betteln gegangen, gelogen, geflucht« oder »widerborstig gewesen« seien.896 Den anderen Schülern legte man nahe, die ökonomische Ordnung nicht nur zu akzeptieren, sondern zu internalisieren. So heißt es etwa im täglich auf Knien zu verrichtenden Abendgebet der Zwickauer Armenschüler über die Wohltäter: »Segne sie mit der ganzen Fülle […] und segne auch ihr Vermögen mit beständiger Vermehrung.«897 Die Hungererfahrung fungiert für die Reformer zugleich als Instrument der sittlichen wie der sozialen Disziplinierung. Auf der einen Seite diente die in den Hungerzeitschriften betriebene Beschwörung des Mitleids der Akquise erheblicher, zuvor kaum für möglich gehaltener Spendenmittel. Sie gewährleistete die Einrichtung zahlreicher Hilfsanstalten für hungernde Kinder sowie die Etablierung einer Fürsorgepraxis, die auch räumlich ferne Bedürftige versorgte. In der Präsenz- und Ständegesellschaft des 18. Jahrhunderts waren dies bedeutende Neuerungen, deren Durchsetzung mit erheblichem normativem und medialem Aufwand verbunden war. Auf der anderen Seite bereitete der Appell an das Mitleid neuen Exklusions- und Disziplinierungs­ mechanismen den Weg. Im Rückblick lässt sich diese Praxis der Reformer leicht als strategische Aneignung emotionalen Potentials der Hungersnot rationalisieren und vereindeutigen. Viele Spender verorteten ihr Handeln jedoch im Rahmen der Sündenökonomie. 894 Ebd., 194. 895 Wagner, Beschreibung, 34 f.; Weller, Predigt, 23. Zur karitativen Disziplinierung vgl. Christoph Sachße, Florian Tennstedt (Hrsg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik. Frankfurt a. M. 1986. 896 HStA Dresden, Loc. 14386, p. 20, 53. 897 Weller, Predigt, 32.

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

343

Aus dieser Perspektive erschien die moralische Besserung der Armen und Notleidenden als ein adäquates Mittel, der gesamten Gesellschaft zu helfen und ihr kollektives Sündenkonto zu verringern, ohne damit in Widerspruch zu eigenen Prestigeinteressen oder der sozialen Ordnung zu geraten.898 Dass Veränderungen der Lebensweise dabei nur von den Armen, nicht aber von den Bürgern selbst erwartet wurden, dürfte die Popularität dieser Maßnahmen in dieser Gruppe noch befördert haben. Im Feld der sittlich-erzieherischen Reform ergab sich deshalb ein breiter Konsens, der religiöse und weltliche Deutungen miteinander verband. Auf pädagogische Maßnahmen konnte man sich unabhängig davon einigen, ob man die Not als Strafgericht verstand, das moralische Bildung erforderte, oder als Wirtschaftskrise, die ökonomische Ausbildung nötig machte. Diese Offenheit sicherte den Maßnahmen breite bürgerliche Unterstützung. In Sachsen markieren die privaten Hilfsprojekte vor allem in der Bildungspolitik einen Einschnitt. Viele der in Eigeninitiative und über Spenden initiierten Anstalten blieben auch nach der Rückkehr besserer Ernten geöffnet. Sie trugen erheblich dazu bei, den Schulbesuch im öffentlichen Bewusstsein als Grundbedürfnis neben dem täglichen Brot zu etablieren. Der Druck der konkurrierenden privaten Initiativen war so groß, dass 1773 im ganzen albertinischen Sachsen die gesetzliche Schulpflicht eingeführt wurde. Das »atemberaubend« schnelle Tempo der Schulentwicklung, das die Bildungsforschung Sachsen in den 1770er Jahren attestiert, ging wesentlich auf den Impuls der Hungerjahre zurück.899 Ein regelrechter Gründungsboom lässt sich in den Krisenjahren auch in anderen Territorien beobachten. Dazu gehörten neben vielen kleinen Armenschulen auch mehrere prominente Einrichtungen. 1772 begann Johann Heinrich Pestalozzi mit seiner ersten Armenerziehungsanstalt in der Schweiz, um die vielen Hungernden mit Brot und Bildung zu versorgen. Sie entwickelte sich zum Vorbild für zahlreiche weitere Reformschulen nach diesem Muster.900 1773 eröffnete auch der Schul- und Agrarreformer Friedrich Eberhard von Rochow die Musterschule auf dem Vorzeigegut Reckahn. Damit nahm er Ideen zu »Acker-Schulen« auf, die bereits unmittelbar vor der Hungerkrise kursierten, aber erst in der Notzeit umgesetzt wurden. Rochows Idee, angesichts der Katastrophe das naturkundliche Wissen der Landbevölkerung zu vergrößern, wurde bald in mehr als 60 Einrichtungen weitergeführt. In Mannheim bekämpfte die Ökonomische Gesellschaft 1772 die Krise mit einer neuen »Pflanz-Schule« zur Ausbildung des Landvolks, die sich später zur Hohen Kameralschule in Kaiserslautern entwickelte.901 In Dessau gründete Johann Bernhard Basedow in den Krisenjahren mithilfe privater Spenden sein Philantropin. 898 Vgl. Jahn, Roboter, 272–275. 899 Ebd., 271–276. 900 Jakob Hunziker, Pestalozzis Armenschule zu Neuhof. Aarau 1896. 901 Tosch, Aufklärertypus; Herwig Blankertz, Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar 1982, 80. Bemerkungen der Kuhrpfälzischen Physikalisch-Ökonomischen Gesellschaft 3 (1773), XVII. Zu den Vorläufern vgl. Phlipp Ernst Lüders, Grundriß

344

Handeln

Auch er verstand die Pädagogik dieser ganz auf Naturerkenntnis ausgerichteten »Pflanz- und Experimentalschule« als »Gegenmittel wieder die Noth des Hungers«.902 In diesem neuen Klima gewährte Friedrich II. dem hungernden Schlesien nun lange zurückgehaltene, umfangreiche Mittel für Dorfschulen. Auch in Württemberg und anderswo entstanden 1771 zahlreiche Armenschulen in Reaktion auf die Krise. In Bayern und Mainz nutzte man die Mittel, die 1772 mit der Aufhebung des Jesuitenordens frei wurden, um in der Notzeit umfassende Schulreformen anzustoßen. In der Kurpfalz und dem Erzbistum Salzburg initiierte die Krise ebenfalls umfassende Reformen des Armenwesens mithilfe erzieherischer Maßnahmen.903 Die Reformideen beschränkten sich nicht allein auf das Reich. Auch in Kopenhagen gründete man für die hungernden Kinder eine neuartige »Realschule«.904 Besonders enge Rückkopplungen zwischen Hungerkrise und Schulreform ergaben sich in der Schweiz. Anders als in Sachsen reagierten sie nicht auf die Schwäche des Landesherrn, sondern auf die Stärke der Beziehungen zwischen Obrigkeiten, Reformern und Pfarrern, die über die florierenden Ökonomischen Gesellschaften hergestellt wurden. In diesem Umfeld bot eine durch die Krise motivierte und geprägte Schulumfrage der Reformer den Anlass für umfassende pädagogische Reformen des Landschulwesens in den 1770er Jahren.905 In der Bildungsforschung ist der Zusammenhang von Hungersnot und Schulentwicklung aufgrund der ideen- und biographiegeschichtlichen Ausrichtung bisher kaum berücksichtigt worden. Wie Forschungen zur Armut nahelegen, folgten die Entwicklungen einer reichsweiten und konfessionsübergreifenden Tendenz zur geschlossenen Betreuung und Versorgung. In beiden Fällen – Fürsorge und Schulwesen – leistete die Hungerkatastrophe einen entscheidenden Beitrag zur Veränderung.906 einer zu errichtenden Acker-Schule, in welcher die Landes-Jugend zu einer richtigen Erkenntniß und Uebung im Landbau eingeführet und zubereitet werden könnte. Flensburg 1769. 902 Mittelstädt, Wörlitz, 55–60. 903 Jahn, Roboter, 275; Wolfram Hauer, Lokale Schulentwicklung und städtische Lebenswelt. Stuttgart 2003, 292; Rankl, Politik, 775; Erhard, Erfurth, 105; Mörz, Absolutismus, 377–381; Weiss, Providum, 48–60. Zum »Unterhalts- und Erziehungs-Institut für Bettelkinder« in Ingolstadt vgl. Hazzi, Betrachtungen, 56. Zu einer Armenschule in Wien, die ab 1772 500 hungernde Kinder ausbildete, Imhof, Bilder-Saal, 49. Die Reformbegeisterung war so groß, dass einige Aufklärer bereits fürchteten, die viele Bildung könnte den Bauern zu Kopf steigen und sie der handwerklichen Arbeit entfremden: Justus Möser, Ueber die Erziehung der Landleute Kinder, in: Osnabrückische Anzeigen, 1771, Beylagen, 61–64. 904 Anon., Nachricht an das Publicum von einer neuen Verfassung der Armenpflege in Kopenhagen, und einer damit verbundenen königlichen Realschule, in: Leipziger Intelligenzblatt, 1771, 604–609. Die populäre Maßnahme wurde nach dem Sturz Struensees demonstrativ über eine Luxusteuer auf Pferde finanziert. In Stockholm gründete der König nach seinem Staatsstreich ebenfalls ein Arbeitshaus für die Armen. Imhof, Bilder-Saal, 462. 905 Esther Berner, Im Zeichen von Vernunft und Christentum. Die Zürcher Landschulreform im ausgehenden 18. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2010, bes. 312–322. 906 Jahn, Roboter, 271; Jütte, Arme; Falk Bretschneider, Gefangene Gesellschaft. Eine Geschichte der Einsperrung in Sachsen des 18. und 19. Jahrhundert. Konstanz 2008, 523–540. Zum

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

345

Betrachtet man frühneuzeitliche Hungersnöte solchermaßen vor Ort, dann tritt auch die emotionale Wucht dieser Ereignisse wieder zu Tage. Die Instrumentalisierung von Gefühlen der Angst oder des Mitleids lässt sich auch in anderen Zusammenhängen betrachten. Pfarrer bedienten sich ihrer ebenso wie Fürsten oder Ärzte.907 Sie konnten dazu auf ein breites emotionskulturelles Repertoire zurückgreifen, das von Trostritualen bis hin zur Bezeichnung von Kartoffeln als »Angst-Knötchen« reichte.908 Am Beispiel des Erzgebirges zeigt sich, dass sich die emotionale Gewalt des Hungers auch für Reformprojekte nutzen ließ. Die Hungerzeitschriften ließen Gefühle, die eigentlich auf Nahbeziehungen ausgerichtet waren, über große soziale und räumliche Distanzen wirksam werden und etablierten die Agenda der ›Menschenfreunde‹ gegenüber kirchlichen und staatlichen Fürsorgeträgern. Die propagierte Entgrenzung von Mitleid ging aber nicht mit einer allgemeinen Ausweitung von Teilhabe einher. Akteure, die weniger geübt oder nicht in der Lage waren, Gefühle entsprechend zu rahmen und zu kommunizieren, wurden marginalisiert. Dazu gehörten neben Herrschern wie dem sächsischen Kurfürsten zumeist auch die Hungernden selbst. Ähnlich wie in späteren Vereinnahmungen des Mitleids verdankten die Reformer den Erfolg ihrer Projekte der größeren Kompetenz im Spiel mit dem neuen Emotionsregime.909 Ein solcher Umgang mit Gefühlen war nicht einfach zweckrational motiviert, sondern in das Konzept der Sündenökonomie eingehegt. Er sperrt sich gegen die moderne Dichotomie von Kalkül und Gefühl und verdeutlicht vielmehr die zeitgenössische Verschränkung von Emotionen und Praktiken. In der Krisensituation von 1770–1772 beschleunigte diese Verflechtung fundamentale Veränderungen der Fürsorgepraxis. Selbst auf dieser kulturellen ›Wirkungsebene‹ lassen sich daher gefilterte Effekte der Klimaanomalie beobachten, derer sich einzelne Akteure bedienten, statt sie bloß zu erleiden. Im Erzgebirge folgte eine Welle humanitärer Spendenbereitschaft, die es in dieser Form noch nie gegeben hatte. Weil die schwache sächsische Landesobrigkeit zudem als Adressat von empowering interactions ausschied, etablierten sich in der Folge neue, private Formen der Wohlfahrt. Sie waren nicht mehr an Gesellung, Konfession und Nachbarschaft gebunden. Stattdessen bezogen sie sich auf ›patriotische‹ und bürgerliche Formen von Öffentlichkeit und Vergesellschaftung, die im 19. Jahrhundert dominant werden sollten. Die über Spenden finanzierten Schul- und Armenhäuser verankerten Arbeit und Erziehung langfristig als Hilfsmaßnahmen im öffentlichen

herrschaftlich-pädagogischen Kontext der sächsischen Schulreformen 1770–73 ohne Erwähnung der parallelen Hungersnot vgl. etwa: Töpfer, Freyheit der Kinder. 907 Collet, Mitleid, 56–58. 908 Lausitzisches Magazin, 1772, 358. 909 Zur Instrumentalisierung von Mitleid im 20. Jahrhundert vgl. Fassin, Raison sowie Boltanski, Souffrance. Zum kommunikativen Ausschluss in Katastrophenereignissen vgl. Voss, Vulnerable.

346

Handeln

Bewusstsein. In diesem konzeptionellen Sinne lässt sich die Hungerkrise sowohl als Geburtsstunde des Humanitarismus als auch der modernen Armut verstehen.910

5.3.  Polen-Litauen und die Erste Teilung – Hungern und Herrschen Hunger und Macht sind seit jeher miteinander verknüpft. Dies gilt für die stille Gewalt der Getreidegesellschaft. Es gilt aber auch für die direkte Gewalt im militärischen Konflikt. Die Hungerkrise 1770–1772 bietet ein besonders prägnantes Beispiel für diese Verflechtung: Die Erste Teilung Polen-Litauens erfolgte 1772 auf dem Höhepunkt der Krise und zog eine der größten territorialen Neuordnungen der Frühen Neuzeit nach sich. Dabei nutzten die Konfliktparteien die extreme Wetterlage opportunistisch aus, um ihre Interessen durchzusetzen. Das Zusammenspiel von innerer und äußerer Krise, von Missernten und Machtpolitik verlief dabei äußerst dynamisch. Statt starrer Wirkungsgefüge lässt sich beobachten, wie eigensinnig die Teilungsmächte mithilfe der Klimaanomalie lang geplante Vorhaben umsetzten. In der Forschung hat die ungewöhnliche Koinzidenz von politischer und klimatischer Krise bisher kaum Beachtung gefunden. In den Standardwerken zur Ersten Polnischen Teilung fehlt jeder Hinweis auf die flankierende europaweite Hungersnot. Sie zielen allein auf die politikgeschichtliche Einordnung der Ereignisse.911 Mögliche Verbindungen zwischen der allgemeinen Notlage und den politischen Ereignissen in Polen sind ebenso wenig erforscht worden wie der Einfluss der doppelten, sozionaturalen Katastrophe auf das Handeln der Akteure. Solche 910 Zur Debatte um die Entstehung von Humanitarismus und Fernstenliebe, die zumeist erst im 19. Jahrhundert verortet wird, vgl. Peter Stamatov, The Origins of Global Humanitarianism. Religion, Empires, Advocacy. Cambridge 2013. Einer engeren, materiellen Interpretation der Hungerkrise als Beginn des Pauperismus, folgen Kluge, Hunger, 66 und Abel, Massenarmut. Ein weitergehendes, kommunikativ praxeologisches Verständnis, das Armut nicht nur als Objekt, sondern auch als Folge des Humanitarismus versteht, skizzieren Vernon, Hunger sowie Davis, Holocausts. 911 Vgl. etwa Herbert Harold Kaplan, The First Partition of Poland. New York 1962; Michel G. Müller, Die Teilungen Polens 1772 1793 1795. München 1984; Tadeusz Cegielski, Das alte Reich und die erste Teilung Polens 1768–1774. Wiesbaden 1988; Jerzy Lukowski, The Partitions of Poland, 1772, 1793, 1795. London, New York 1999; Wladyslaw Konopczynski, Pierwszy rozbiór Polski. Krakau 2010. Auf einen möglichen Zusammenhang verweist lediglich Hans-Jürgen Bömelburg, Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat. Vom Königlichen Preußen zu Westpreußen (1756–1806). München 1995, 219. Forschungen zur Hungeroder Klimageschichte Polens liegen bisher nur in Ansätzen vor und sparen die Krisenjahre 1769– 1772 zumeist aus. Vgl. bereits Witold Kula, Teoria ekonomiczna ustroju feudalnego. Warschau 1983, hier 181 sowie Jan Szewczuk, Kronika klęsk elementarnych w Galicji w latach 1772–1848. Lwiw 1939; Rajmund Przybylak u. a. (Hrsg.), The Polish Climate in the European Context. An Historical Overview. Dordrecht 2010; Piotr Miodunka, Kryzysy żywnościowe a anomalie klimatyczne od XVII do połowy XIX wieku na przykładzie Małopolski, in: Historyka. Studia Metodologiczne 46, 2016, 209–227.

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

347

Leerstellen reflektieren die Trennung in Politik- und Umweltgeschichte, die dazu führt, dass selbst extreme Naturereignisse oft unverbunden neben dem begleitenden politischen Geschehen stehen. Zugleich resultieren diese Lücken aus einer auf den polnischen Schauplatz zentrierten Perspektive. Blickt man allein auf Polen-­ Litauen, verdeckt der politisch-militärische Konflikt die überregionalen klimatischen Impulse. Die leidende polnische Bevölkerung konnte inmitten der politischen Wirren kaum abschätzen, ob ihr Nahrungsmangel auf die Wetterlage oder eher auf Bürgerkrieg und Besatzung zurückging. Sie verstanden Hunger und Gewalt sowie die ebenfalls grassierenden Epidemien als eng miteinander verwobene ›Landplagen‹.912 Sobald man statt der territorialen eine ökologische Perspektive einnimmt, wird die Einbettung der lokalen Prozesse in die europaweite Krise jedoch deutlich. Polen wurde nicht nur zum Opfer derselben Klimaanomalie wie seine Nachbarn, die extreme Witterung erleichterte und motivierte auch das Eingreifen der Anrainer. Beobachtern aus dem europäischen Umland war daher völlig klar, wie rücksichtslos Polens Nachbarn die allgemeine Hungerkrise ausnutzten.913 Die Teilungsmächte instrumentalisierten die Hungerkrise aber nicht nur für ihre geopolitischen Interessen, sondern auch im Bereich der Innenpolitik. Friedrich II. von Preußen ließ in der Hungerkrise gezielt polnisches Getreide requirieren. Damit verschaffte er sich neben militärischen Vorteilen auch die Möglichkeit, sich in den eigenen Territorien als fürsorglicher Landesvater zu inszenieren – eine Taktik, die nicht unwesentlich zum Mythos des preußischen ›Magazinstaats‹ und des ›Brodvaters‹ Friedrich beigetragen hat.914 Überall diente den Herrschern die Exklusion der leidenden Polen dazu, in ihren eigenen Territorien soziale Inklusion zu suggerieren – oft genug auf der Basis von ebendort geraubtem Getreide. Solche Stoff- und Ressourcenströme verbanden den polnischen Schauplatz ebenso mit dem Rest Europas wie die Bewegungen der Armeen oder die politische Debatte. Das Bespiel Polens illustriert daher neben der engen Verflechtung von Hungern und Herrschen, von ›Korn und Krieg‹ auch das grenzüberschreitende Potential eines umweltgeschichtlichen Zugangs. In Polen nahm die Getreidewirtschaft eine besondere Rolle ein. Die Region gehörte in normalen Jahren zu den wenigen europäischen Überschussgebieten, die regelmäßig Getreide exportierten. Die Ausfuhr von Korn bildete den weitaus wichtigsten Sektor des Außenhandels und einen Grundpfeiler der polnischen 912 So heißt es in einem Brief aus Polen: „Within the distance of fourteen leagues there are no less than eight different armies; and the united horrors of fire, sword, pestilence, and famine combine to make it [Poland, D.C.] the most wretched spot on the inhabitable earth. Caledonian Mercury vom 19.8.1772. 913 So spotteten etwa britische Zeitungen über die Teilungsmächte: »It is a very justifiable cause of a war to invade a country after the people have been wasted by famine […]. Poor nations are hungry and rich nations are proud; and pride and hunger will ever be at variance.« Caledonian Mercury vom 7.12.1772. Ähnlich auch das Scots Magazine vom 1.12.1772, 649 f. 914 Frevert, Gefühlspolitik; Collet, Storage.

348

Handeln

Wirtschaft. Städte wie Danzig belieferten neben dem Reich auch England, Frankreich und die Niederlande mit großen Mengen Getreide – ein Handel, der nicht nur gewinnträchtig war, sondern auch Begehrlichkeiten weckte.915 Dies galt für Russland, das während der Auseinandersetzungen mit den Osmanen dringend auf polnisches Getreide für seine Armeen angewiesen war. Noch stärker war das Interesse in Preußen, das trotz aller Meliorations- und Selbstversorgungspropaganda zur Ernährung seiner vielen Soldaten und des dichtbevölkerten Schlesiens regelmäßig polnische Importe benötigte.916 Friedrich II. entwarf daher schon in seiner Jugend Pläne, wie er den polnischen Getreidehandel unter seine Kontrolle bringen könnte. Sein Interesse zielte vor allem auf die Kontrolle der Weichsel. Aufgrund der hohen Kosten des Straßentransports stellte sie den Haupthandelsweg für polnisches Getreide dar. Über die Wasserstraße der Netze ließ sie sich zudem direkt und kostengünstig mit dem brandenburgischen Kernterritorium verbinden. Friedrichs Gedanken, Polen den Export über die Weichsel durch Zölle, Sperren oder die Annexion von Territorium zu verwehren und so ganz Polen in »Abhängigkeit von Preußen« zu bringen, tauchen erstmals in Briefen aus dem Jahr 1731 auf und werden 1752 in seinen »Politischen Träumereien« konkretisiert.917 Seine Expansionspläne zielten nicht allein auf die Landverbindung nach Ostpreußen, sondern auch auf die Kontrolle eines kritischen Wirtschaftsgutes. 1768, kurz vor der Hungerkrise und dem polnischen Bürgerkrieg, fasste Friedrich II. diese Überlegungen in seinem politischen Testament zusammen.918 Bei Polens Nachbarn existierten also lange vor der Klimaanomalie Pläne, in denen politische Macht und polnisches Getreide zusammengedacht wurden. 1771, als in der Region Missernten, Hungersnot und politische Krise aufeinandertrafen, bot sich die Gelegenheit, diese Überlegungen umzusetzen.919 In Polen war die Situation durch die Überlagerung von naturalen und sozialen Faktoren besonders dramatisch. Dort hatten zahlreiche Adelige bereits 1768 915 Bömelburg, Ständegesellschaft, 216–221. Die Bauern profitierten jedoch kaum vom Export, der teilweise ausbeuterische Züge besaß. Joachim Schaier, Verwaltungshandeln in einer Hungerkrise. Die Hungersnot 1846/47 im badischen Odenwald. Wiesbaden 1991, 514. Der Einfluss von Landadel und König stellte sicher, dass Polen auch in schlechten Zeiten noch ausführte und oft die letzte Versorgungsmöglichkeit für die Anrainer bildete. Während andere europäische Territorien den Getreideexport in schlechten Jahren umgehend sperrten, hatte es in Polen seit 1532 kein Ausfuhrverbot mehr gegeben. Kumpfmüller, Hungersnot, 25. 916 Philipp Robinson Rössner, Das friderizianische Preußen (1740–1786) – eine moderne Ökonomie?, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 98, 2011, 143–172, hier 157. 917 Johann David Erdmann Preuß (Hrsg.), Œuvres de Frédéric le Grand, 30 Bd. Berlin 1846–57, hier Bd. 16, 3–6 sowie Dietrich, Testamente, 375. 918 Dietrich, Testamente, 509–513. 919 Zum Stand der Debatte, inwieweit die preußische Expansion in Polen geplant war, vgl. Bömelburg, Ständegesellschaft, 209–212; Ders., Friedrich II. zwischen Deutschland und Polen. Ereignis- und Erinnerungsgeschichte, Stuttgart 2011, 16 f. sowie Karin Friedrich, Brandenburg-Prussia, 1466–1806. The Rise of a Composite State. Basingstoke 2012, 93.

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

349

die Konföderation von Bar gegründet und begonnen, gegen den russischen Einfluss auf die Politik des Landes zu den Waffen zu greifen. Wenig später führte das Eindringen russischer Soldaten in den türkischen Rückzugsraum dieser Konföderierten zum Fünften Russisch-Türkischen Krieg (1768–1774), der die Region weiter destabilisierte. 1769 lieferten sich die russischen Truppen und polnische Konföderierte überall Gefechte, während der polnische König, Stanislaus II. August Pontiakowski, vergebliche Vermittlungsversuche unternahm. Die zahlenmäßig unterlegenen und wenig organisierten Konföderierten verlegten sich bald auf Einzel- und Sabotageaktionen und ernährten sich dabei von Zwangskontributionen. Die russischen Soldaten in Polen, die nach dem Ausbruch des Kriegs mit der Türkei kaum noch versorgt wurden, begannen ebenfalls mit gewaltsamen Requirierungen von Korn sowie mit Plünderungen.920 Aussaat und Hege des Getreides wurden dadurch in weiten Landesteilen unmöglich. Im Bericht eines Korrespondenten aus Danzig hieß es: The face of the country where the Russian and Confederates have been engaged, and traversed over in their marches and counter-marches after each other, is so much altered, that desolation itself cannot exhibit a spectacle more horrible. Nothing is so much dreaded by the inhabitants as the almost certainty of a famine the ensuing summer. The little that has been sown, with the vegetables and fruit-trees, are all destroyed.921

1770 trat zu den Bürgerkriegswirren die europaweite Klimaanomalie. Nach einem extrem strengen Winter führten die Niederschläge auch hier zu heftigen Überschwemmungen. Zur gleichen Zeit begannen die Konföderierten, sich auch direkt gegen den polnischen König zu wenden, den sie als russische Marionette wahrnahmen. Überall versorgten sich nun marodierende Truppen aus den kümmerlichen Getreidefeldern, requirierten Vorräte oder vernichteten Ernten, um dem Gegner zu schaden. Selbst in der europäischen Getreidehandelsmetropole Danzig verdoppelte sich der Kornpreis. In Breslau und Lemberg stieg er auf mehr als das Dreifache.922 In Berichten aus Polen wurde nun von einer »allgemeinen Hungersnoth« gesprochen. Aus der Nähe von Warschau meldete ein britischer Augenzeuge, dass nur mehr »ausgemergelte Wesen« zu sehen seien, die sogar zu schwach für die Flucht in umliegende Städte waren.923 1771, nach einer zweiten katastropha-

920 Für die politische Ereignisgeschichte der Ersten Teilung Polens vgl. Lukowski, The Partitions of Poland, 52–81, hier 44–48. 921 Ipswich Journal vom 7.4.1770. 922 Weikinn, Witterungsgeschichte, 149–151; Abel, Massenarmut und Hungerkrisen, 203. 923 Pirnaisches Gemeinnütziges Wochenblatt 16, 21.4.1770, 252; Reisebericht von John Marshall in: Georg W. Strobel, Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Polen am Ausgang des 18. Jahrhunderts, in: Friedhelm Berthold Kaiser, Bernhard Stasiewski (Hrsg.), Die Erste Polnische Teilung 1772. Köln, Wien 1972, 49–74, hier 67.

350

Handeln

len Missernte, realisierte man auch im Ausland, dass der Mangel an Getreide in Polen eine Hungersnot unvermeidbar machte.924 Zuletzt traten noch schwere Seuchen neben Missernten und Militärkonflikt. Sie wurden in einigen Fällen direkt durch die nasse Witterung begünstigt. Zumeist gingen sie auf die Migrationsbewegungen der Nahrungssuchenden sowie die umherstreifenden Soldaten zurück. Letzteres galt auch für eine Seuche, die sich von der türkischen Grenze durch ganz Russland und Polen ausbreitete. Sie wird üblicherweise als letzter Ausbruch der Beulenpest in Europa beschrieben. Aufgrund der unklaren Symptomatik blieb ihre Identifizierung unter den Zeitgenossen aber umstritten, zumal der demonstrative Verweis auf die ›Pest‹ auch strategisch angewandt wurde und Zwangsmaßnahmen rechtfertigte.925 Als die Nachbarstaaten 1771 begannen, Teile Polens zu besetzen, herrschte in weiten Teilen des Landes katastrophaler Hunger, der gemeinsam mit den Krankheiten und den Konflikten zehntausende Opfer forderte.926 Korn und Krieg Friedrich II. sprach angesichts des fatalen Zusammenspiels von Missernten, Krankheiten und Krieg im Jahr 1771 von einem veritablen »année calamiteuse«.927 Dies hielt ihn aber nicht davon ab, die Lage auszunutzen – im Gegenteil. Während die Situation in Polen auch den Zeitgenossen als äußerst unübersichtlich erschien, lässt sich die politische Instrumentalisierung der Katastrophe durch die Nachbarn sehr präzise nachvollziehen. Auf den Ausbruch der Hungerkrise 1770 war man in ganz Europa nach mehreren guten Jahren schlecht vorbereitet. Auch in Preußen, wo Friedrich II. seine teuren Magazine als gebaute Schutzversprechen bewarb, existierten 1770 kaum größere Vorräte. Die aufwändigen Tabellenwerke und regelmäßigen Berichte für den König erwiesen sich als reine Informationsfassade. Tatsächlich standen die Speicher halb leer, zum einen weil die zuständigen Militärs sich von deren mühsamer Verwaltung in Friedenszeiten wenig Prestige erwarteten, zum anderen weil Gutsbesitzer, Kaufleute und lokale Behörden die Regierung in guten Jahren gezielt mit Fehlinformationen täuschten.928 924 Bath Chronicle vom 1.8.1771. 925 Zum sozialen Nexus der Hungerkrankheiten und zur Identifizierung der Pest vgl. Kap. IV.4.2. Zu ihrer Instrumentalisierung, s. u. 926 Britische Zeitungen meldeten 1771 bereits 160.000 Tote durch Pest und Hungersnot in Polen. Allein im podolischen Kajanez seien 1.200 Bewohner umgekommen. Bath Chronicle vom 1.8.1771; Scots Magazine vom 1.1.1771. Ähnliche Todeszahlen nennt: Friedrich Samuel Bock, Versuch einer wirthschaftlichen Naturgeschichte von dem Königreich Ost- und Westpreussen, Bd. 1, Dessau 1782, 817. Genauere Daten sind aufgrund der politischen Wirren nicht verfügbar. 927 Friedrich II., Correspondenz, Bd. 31, 268, 307. 928 Collet, Hunger, 162–164.

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

351

Umso mehr war man nach den Missernten in Preußen auf Zufuhr aus Polen angewiesen. Im Oktober 1770 musste man angesichts der rapide steigenden Brotpreise mit der Ausgabe von Korn aus den staatlichen Großmagazinen beginnen. Aufgrund der geringen Vorräte konnten aber nur ausgewählte Kreise unterstützt werden.929 Gegenüber seinen Nachbarn inszenierte sich Friedrich II. mittels seiner Magazine aber weiterhin als weiser Landesvater: Auf das Ansuchen Sachsens um Getreide antwortete er spöttisch, dass man dort offenbar das zeitige Auffüllen der Magazine versäumt habe, womit die miserable sächsische (und vorbildliche preußische) Regierungsführung offenbar werde.930 Tatsächlich war Friedrich II. aufgrund der eigenen Engpässe aber schon bald zu militärischen Maßnahmen gezwungen. Ende 1770 verhängte Preußen scharfe Fruchtsperren, die den Kornexport aus preußischen Territorien bei Strafe untersagten.931 Angesichts der Notlage der Nachbarn ließen sich diese Verbote nur mit hartem Zwang und Militärpostierungen etablieren.932 Sie nahmen damit in vielerlei Hinsicht bereits den »Cordon Sanitaire« vorweg, den Friedrich kurz darauf auf polnischem Territorium errichten ließ. Die Parallelen zwischen diesem Pestkordon und den Fruchtsperren bestanden aber nicht nur in der auf Grenzsicherung zielenden Form, sondern auch in der Funktion: Beide dienten der militärischen Sicherung der Getreideversorgung. Nominell richtete sich der Kordon gegen die in Osteuropa grassierende Pest. Politisch reagierte er auf die Besetzung von Teilen Polens durch Österreich und bereitete eigene Annektionen vor.933 Praktisch diente er aber, genau wie die Fruchtsperren, der eigenen Versorgung mit Nahrungsmitteln. Dass die Pestprävention nur als Vorwand für die Besetzung polnischen Territoriums fungierte, wurde rasch offensichtlich. Unmittelbar nachdem der Kordon etabliert war, ordnete Friedrich an, auch hinter den Linien polnisches Getreide für die leeren Magazine der Kurmark zu akquirieren.934 Dieser Schritt verdeutlichte allen Beteiligten, dass der »Cordon sanitaire« nur vorgeschoben war. Schließlich besaßen gerade Getreidetransporte ein extrem hohes Risiko, Krankheiten wie die Pest einzuschleppen. In den russischen Epidemiegebieten galten daher strenge Quarantänevorschriften für den grenzüberschreitenden Transfer von Getreide.935 929 Zu den Begünstigten gehörten vor allem die Soldaten, die Oderkolonisten sowie die Bevölkerung Berlins. GStA PK, I. HA, Rep. 96b, Nr. 139, fol 305r, 315r. 930 Friedrich II. an den Legationsrat Borcke in Dresden vom 15.9.1770, in: Friedrich II. Correspondenz, Bd. 30, 142. Friedrich II. wiederholte diese Vorwürfe regelmäßig, die sein Bild sächsischer Dekadenz zu bestätigen schienen und seine Regierung umso glänzender leuchten ließen. Ebd., Bd. 31, 179, 529, 706, 770. 931 Die Maßnahmen betrafen zunächst die preußischen Kornkammern Magdeburg, Halberstadt sowie Ostpreußen. Später kamen auch Ostfriesland und andere Territorien hinzu. Vgl. Magen, Reichsexekutive, 21 f. 932 Vgl. bspw. zu den Konflikten mit Sachsen: GStA PK I., HA Rep. 41, Nr. 1316–1318. 933 Vgl. Lukowski, Partitions, 70 und Müller, Teilungen, 36. 934 Skalweit, Getreidehandelspolitik, 275 f. 935 Alexander, Plague, 103, 250.

352

Handeln

Auch in Österreich mutmaßte man, dass es die Getreidetransporte der russischen Truppen waren, mit denen die Epidemie nach Polen gelangt sei.936 Russlands strategischer Umgang mit der Epidemie im Inneren illustriert zugleich, dass die Möglichkeit, 1771 mit gezielten Informationen zur Pest Politik zu machen und medizinische Kordons als Disziplinierungsmaßnahme in Hungerzeiten zu nutzen, keine preußische Erfindung waren.937 Ab dem Dezember 1770 begann Preußen damit, immer mehr Soldaten für den Kordon abzustellen.938 Mit der Verlegung der Truppen auf polnisches Gebiet zielte man nicht nur auf die Demonstration militärischer Stärke, sondern auch auf deren »Natural-Verpflegung an Brod und Fourage« vor Ort, da das Militär zu Hause Anrecht auf das knappe Magazinkorn hatte.939 Obwohl aus Polen schon nach wenigen Wochen scharfe Protestschreiben kamen, sandte Friedrich II. beständig weitere Regimenter zur Verpflegung in die Region. Deren Getreidebedarf wuchs so stark, dass die Stadt Danzig im Mai 1771 drohte, die Niederlande, Frankreich und England um »Intercession« anzusuchen.940 Preußen ließ daraufhin erneut verbreiten, der Kordon diene allein dem Schutz vor der Pest.941 In der europäischen Öffentlichkeit wurde die Ausplünderung Polens unter dem Vorwand der Seuchenprävention jedoch scharf kritisiert.942 936 »[…] on account of the indespensable communication which the carrying of provisions occasions.« London Magazine vom September 1770 (zit. nach ebd., 109). Die Vermutung erwies sich als zutreffend. Der Übertragungsweg über die zwischen den Säcken verborgenen Vektoren Ratte bzw. Rattenfloh als Träger des Pestbakteriums war aber noch nicht bekannt. Ebd., 108. 937 Ebd., 251. So dienten etwa die Sicherheitskordons rund um Moskau während des Pestaufstands 1771 ebenso sehr der militärischen wie der medizinischen Kontrolle. Sie hingen eng mit der strategischen Hungerpolitik der Obrigkeiten zusammen, während nach außen die Existenz der Pest abgestritten wurde: Nicolai Kuhl, Der Pestaufstand von Moskau 1771, in: Heinz Dietrich Löwe (Hrsg.), Volksaufstände in Rußland. Von der Zeit der Wirren bis zur »Grünen Revolution« gegen die Sowjetherrschaft. Wiesbaden 2006, 325–396, hier 328; Stuber, Hächler, Ancien Régime, 177. Ähnliche Verknüpfungen von Pestkordon und Militärgrenze lassen sich bereits 1728 an der Österreichisch-Türkischen Grenze beobachten. Reith, Umweltgeschichte, 21. 938 Skalweit, Getreidehandelspolitik, 275 f. 939 Kabinettsorder an Generalmajore Alvensleben und Belling vom 9.12.1770, in: Skalweit, Getreidehandelspolitik, 275. Preussische Soldaten erhielten ab einem festgelegten Getreidepreis automatisch Magazinkorn zugeteilt, das auch ihre Familien ernährte. Generalmajor von Billerbeck bemerkte daher, »daß, wenn das Commißbrod aufhören sollte, das Elend unbeschreiblich werden dürfte«. Die Not sei so groß, dass Beurlaubte sich selbst einzögen, um »dieses Beneficium des Brotes mitzugenießen«. In vielen preußischen Orten machten Soldatenfamilien einen erheblichen Bevölkerungsanteil aus. Ebd., 107. 940 Skalweit, Getreidehandelspolitik, 276. 941 »The King of Prussia has notified in form to the States-General, that the reports propagated concerning his designs upon Dantzick and a part of Poland are void of all foundation; that the great force which he has spread along the confines of Poland was merely to prevent a communication of the plague.« Scots Magazine vom 1.3.1771. 942 »The Prussians, who first under the pretence of forming a line to prevent the spreading of infection […] had sent several considerable bodies of troops into Regal or Polish Prussia, was

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

353

Mit der zweiten Missernte im Herbst 1771 nahm die Abhängigkeit von polnischem Getreide noch zu. Bereits im Juni war das Berliner Stadtmagazin erschöpft, sodass der Brotpreis rapide anstieg und erst zehn Monate später mit polnischem Magazinkorn wieder gedrückt werden konnte. Aus den Regionen erreichten Friedrich II. Nachrichten, dass seine Untertanen begonnen hätten, Kleie zu verzehren. Er selbst befürchtete, dass man sich bald von Eicheln ernähren müsse.943 Dem Kaiser in Wien verweigerte der König Pässe für polnisches Getreide deshalb mit den klaren Worten: »[D]er Mangel an Korn ist in meinen Provinzen ebenso groß wie in Böhmen, und Polen ist die einzige Ressource, die mir bleibt um dem abzuhelfen.« Dem Legaten aus Sachsen, wo mittlerweile katastrophale Not herrschte, teilt er mit: »[…] wir sind darauf angewiesen auf Polen zurückzugreifen. Sie wissen selbst sehr gut, dass zu viele Käufer nur den Preis verteuern«.944 Polnisches Getreide bildete fortan das zentrale Instrument der preußischen Hungervorsorge. Obwohl Friedrich im März 1771 eingestand, dass auch in Teilen Polens eine echte Hungersnot herrschte, forderte er weiterhin große Lieferungen.945 Zu diesem Zweck regte der König nun auch den strategischen Gebrauch von Gerüchten, militärischem Druck und gezielter Desinformation an. Die Kammerpräsidenten in Schlesien und Ostpreußen, Hoym und Domhardt, beauftragte er, die drohende Gefahr durch Plünderungen der Bürgerkriegsparteien aufzubauschen, da »die Polen ihr Getreide, um solches dem Raube der Konföderierten zu entziehen, […] es um sehr billige Preise verkaufen würden«.946 Im September 1771 sollte Domhardt in den Grenzgebieten zusätzlich das Gerücht streuen, »daß die Operationes der russischen Truppen nach dasige Gegend gerichtet sind«.947 Wütende Aktionen der Konföderierten gegen die Besatzung nutzten die Preußen als Vorwand, noch tiefer in polnisches Territorium einzudringen.948 Durch das Vorrücken des Kordons bis an die Weichsel konnte Preußen zudem die wichtigste Exportroute blockieren. In Kwidzyn (Marienwerder) wurden nun hohe Strafzölle auf Getreide erhoben, um den Weitertransport zu stoppen. Die heftigen polnischen Beschweroppressive and arbitrary in the highest degree; excessive contributions [of grain, D.C.] were raised.« Annual Register, 1771, Kap. 8, 86. 943 Skalweit, Getreidehandelspolitik, 112 f.; Friedrich II., Correspondenz, Bd. 31, 50. 944 Ebd., Bd. 31, 461 und 396 [Übersetzungen aus Friedrichs französischer Korrespondenz durch den Autor]. 945 GStA PK II. HA, Gen. Dir. Ostpreußen II, Nr. 3522: Anordnungen an den Kammerpräsidenten Domhardt sowie Schreiben an den Legationsrat Benoit in Warschau vom 17.3.1771, in: Friedrich II., Correspondenz, Bd. 31, 28 f. Spätestens im Herbst erkannte Friedrich auch an, dass der Hunger in Polen nicht allein auf die Aktionen der Konföderierten, sondern auch auf witterungsbedingte Missernten zurückging. Ebd., 382. 946 GStA PK I. HA, Rep. 96B, Nr. 72 (1771), hier p. 146: Kabinettsordre an Johann Friedrich Domhardt vom 14.4.1771 sowie an Karl Heinrich Graf von Hoym vom 29.7.1771, in: Skalweit, Getreidehandelspolitik, 282. 947 GStA PK I. HA, Rep. 96B, Nr. 72 (1771), p. 342. 948 Berlinische Nachrichten vom 24.3.1772.

354

Handeln

den über diese Praxis wies Friedrich mit den Worten zurück: »Es fehlet zu sehr an Korn in Meinem Lande. Ich weiß es also vor der Hand nicht anders zu machen«.949 Auch anderswo suchte die Regierung den »[Getreide]transport auf der Weichsel nach Danzig in gewissem Maße zu hemmen oder zu erschweren«.950 Dies war angesichts der angespannten Lage in Polen und der brisanten außenpolitischen Situation im Vorfeld des Teilungsabkommens nicht ohne Risiken. Aufgrund der zugespitzten Versorgungslage in Preußen entschied sich der König aber dennoch dafür, »insoweit es ohne Aufsehen unter der Hand geschehen kann, keineswegs aber mittels der Anwendung ausdrücklicher Verbote und öffentlicher Gegenveranstaltungen«. Der Kordon sollte für diese Getreidetransporte »unter der Hand und ganz unvermerkt« geöffnet werden.951 Spätestens ab dem Herbst 1771 nutzten die preußischen Truppen auch militärische Gewalt, um die immer höheren Getreideforderungen des Königs erfüllen zu können. Für den von ihm festgesetzten Preis von 20 Groschen pro Scheffel ließ sich auch in Polen kein Getreide mehr erwerben. Stattdessen unternahm General Belling Expeditionen tief in polnisches Gebiet, um Getreide unter Zwang zu requirieren, »unter dem Vorwande, daß er auf die Subsistence der Truppen bedacht sein müsse.«952 Die Konföderierten opponierten heftig gegen diese Zwangsabgaben. Vereinzelt sind auch Versuche dokumentiert, in Polen eine Sperre gegen Preußen zu etablieren und Getreidetransporte anzugreifen. Sie blieben angesichts der ungleichen Kräfteverhältnisse jedoch weitgehend ergebnislos.953 Belling konnte in Posen, Gnesen und der Woiwodschaft Kujavien weiterhin Getreide requirieren, das er weit unter Marktwert vergütete. Wo Grundbesitzer die Abgabe verweigerten, beschlagnahmte er als Druckmittel ihr Vieh oder sperrte widerspenstige Personen ins Gefängnis. Den wütenden Protest gegen die Arretierung des Vorstehers eines Posener Jesuitenkollegs fertigte Friedrich II. mit den Worten ab: »Müssen liefern, kann nicht anders sein. Das Kürzeste ist, sie suchen das Quantum abzuführen, dann ist der Rektor los«. Zugleich nutzte er die Gelegenheit, um Belling für die »unausstehliche Langsamkeit« der dringend erwarteten Roggenlieferungen zu tadeln.954 Schließlich musste er in Preußen die teils verzweifelten Supplikationen um Getreide immer öfter abweisen und konstatieren: »Meine Magazine sind leer. Ist nichts vorhanden«.955 Erst als wegen der Abgaben im Frühjahr 1772 in Danzig ein Aufruhr entstand, ließ Friedrich II. General Belling ablösen und als 949 Zit. nach Skalweit, Getreidehandelspolitik, 302. 950 GStA PK I. HA, Rep. 96B, Nr. 72 (1771), p. 333. 951 Ebd., p. 61; Skalweit, Getreidehandelspolitik, 75. 952 Skalweit, Getreidehandelspolitik, 77. 953 Scots Magazine vom 1.1.1771, 42; Skalweit, Getreidehandelspolitik, 77 sowie GStA PK I. HA, Rep. 96B, Nr. 72 (1771), p. 324. 954 Skalweit, Getreidehandelspolitik, 78 f. Zu den russischen und polnischen Protesten gegen dieses Vorgehen vgl. Friedrich II., Correspondenz, Bd. 31, 733. 955 Skalweit, Getreidehandelspolitik, 299; Friedrich II., Correspondenz, Bd. 31, 268.

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

355

Sündenböcke einige jüdische Händler verhaften. Wie Domhardt ihm berichtete, hatten Bellings Truppen in Pomerellen jedoch bereits »dermaßen reinen Tisch gemacht«, dass den Einwohnern nicht einmal Brot und Saatkorn geblieben waren. Friedrich führte diese »Exzesse« aber nicht auf seine gewaltigen Getreideforderungen, sondern auf Bellings schlechte Führung zurück, weshalb die Soldaten durch »fleißig exerciren« diszipliniert werden sollten. An den Zwangslieferungen selbst hielt er bis zum Abzug seiner Truppen im Sommer 1773 fest, wenngleich sie »durch andere mehr schickliche Mittel« durchgesetzt werden sollten.956 Hartnäckigem Widerstand begegnete er weiterhin mit Härte.957 Gesuche, die Mengen zu verringern, kommentierte der König mit den lakonischen Worten: »Meine Truppen müssen leben.«958 Polens doppelte Katastrophe Für die polnische Bevölkerung bedeuteten diese Maßnahmen katastrophale Not. Sie wurde durch die ebenso gewaltsamen Aktionen der russischen Seite noch verstärkt. Auch die Ukraine und die angrenzenden russischen Gebiete litten 1770– 1772 unter Missernten, die Hungersnöte auslösten.959 Die russische Seite benötigte daher ebenfalls gewaltige Mengen polnischen Getreides nicht nur für ihre Besatzungssoldaten, sondern auch für den Krieg gegen die Osmanen. Das Ausmaß der Lieferungen war gewaltig: Johann Jacob Lerche, ein deutscher Arzt in russischen Diensten, berichtete 1770 aus dem Grenzgebiet, dass »etliche tausend polnische Wagen mit Mehl zur ersten Armee [gingen], auf jedem drey Säcke.« In einem Brief aus Elbing hieß es: »the Russian army, under Count Romanzow, is in full march. His magazines are immense. Poland is taxed to furnish him with 55.000 bushels of oats, 3084 lasts of wheat, the latter consist of sixty measures, and 25.000 carriages«.960 Dass solche enormen Zahlen keineswegs nur militärstrategische Propaganda darstellten, zeigt das Beispiel der dritten Teilungsmacht Österreich. Dort sandte die Kaiserin in einer dramatischen Hilfsaktion ebenfalls tausende Wagen mit Getreide nach Prag – eine Maßnahme, welche ihre Vorräte allerdings so erschöpfte, dass Österreich in den Konflikt um Polen kaum noch effektiv eingreifen konn 956 Skalweit, Getreidehandelspolitik, 79 f.; Max Bär, Westpreussen unter Friedrich dem Grossen, 2 Bd. Leipzig 1909, Bd. 2, 17 ff. 957 Vgl. Friedrich II., Correspondenz, Bd. 32, 233: »[Wie ich aus Eurem Bericht] ersehe, das viele Polen und besonders der Fürst Sulkowski dabei viel bösen Willen beweisen, so ist schon kein anderes Mittel, als die Widerspenstigen ohne Ausnahme mit Execution zu belegen.« Sowie ebd., 287. 958 Zitiert nach Skalweit, Getreidehandelspolitik, 82. 959 Alexander, Plague, 249. Berichte aus Petersburg und Warschau in: Leeds Intelligencer vom 30.6.1771 und 5.11.1771; Scots Magazine vom 1.1.1771, 42. 960 Johann Jacob Lerche, Lebens- und Reise-Geschichte von ihm selbst beschrieben, Halle 1791, 424; Scots Magazine vom 1.5.1771.

356

Handeln

te.961 Stattdessen musste sich die Wiener Administration mit der katastrophalen Lage vor allem in Böhmen und Mähren beschäftigen. Anders als die habsburgischen Erblande konnten sich diese Regionen nicht über die Donau aus Ungarn versorgen. Aus diesen Gegenden erreichten die Hofkanzlei grausame Berichte über Hungertote und verschmachtende Kinder, die Gras und Aas verzehrten.962 Augenzeugen berichteten, dass die Hungernden angesichts der Not geradezu »um die Pest gebettelt« hätten, um ihrem Leiden mithilfe der Epidemien ein Ende zu setzen, die trotz der Kordons auch in Böhmen grassierten. Der Hof befürchtete angesichts der Not jederzeit einen »Aufruhr des Pöwels«. Mit Sorge blickte man auf die wachsenden Ströme böhmischer Elendsflüchtlinge, die sich zu einer Art Hungermarsch auf die Hauptstadt entwickelten.963 Selbst die begrenzten Hilfen der Regierung verursachten angesichts des Ausmaßes der Katastrophe enorme Kosten. Sie mussten zudem aus Vorräten erfolgen, die eigentlich für die Kriegsführung gedacht waren. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen in Polen geriet daher die Armeeversorgung insgesamt ins Wanken.964 Angesichts des engen Handlungsspielraums verlegte man sich daher, wie in Preußen, auf die symbolische Darstellung landesväterlicher Besorgnis. Sie gipfelte in der Reise Joseph II. in die böhmischen Notgebiete, wo er sich als Beschützer und Fürsprecher des Volkes inszenierte.965 Auf die Entwicklungen in Polen konnte der Wiener Hof angesichts der prekären Lage im eigenen Land nur geringen Einfluss nehmen. Folgenschwer für Polen war allerdings, dass sich trotz der Not nun auch die österreichischen Besatzungssoldaten in Polen aus dem Land ernähren mussten. Mitte des Jahres 1772 hatte das hungernde Polen somit etwa 130.000 fremde Soldaten mitsamt ihrem Gefolge zu versorgen.966 Die Doppelbelastung von preußischen und russischen Requirierungen verbunden mit der Ernährung der auswärtigen Soldaten und der durch die Konföderierten erhobenen Kontributionen hätte Polen vermutlich auch in einem normalen Erntejahr in schwerste Bedrängnis gebracht. Während der europaweiten Klima­anomalie der frühen 1770er Jahre bedeutete sie eine Katastrophe. Dies galt zumal, da trotz der Sperren immer wieder beträchtliche Mengen polnischen Getreides legal und 961 Zu den einhundert Fuhren, die täglich aus Wien unter militärischem Schutz auf Pontonbrücken über die Hochwasser führende Donau aufbrachen: Weinzierl-Fischer, Hungersnot, 495 f. Eine Versorgung aus Polen war angesichts von Transport und Sperren impraktikabel. 962 Zur Situation in Böhmen vgl. Weinzierl-Fischer, Hungersnot sowie Brázdil, Hungerjahre. Zu den Österreichischen Erblanden vgl. Kumpfmüller, Hungersnot. 963 Weinzierl-Fischer, Hungersnot, 486, 492 f., 510. 964 Ebd., 491, 493, Kumpfmüller, Hungersnot 59, 69–71, 120–123. Nach gewaltsamen Protesten erfolgte etwa die Versorgung der Bevölkerung in Prag auf Anweisung Josephs II. aus den Militärmagazinen. Kurz darauf musste eine weitere Million Gulden aus der Kasse für die Kriegsmagazine abgezogen werden, um die Hungernden zu versorgen. Franz Xaver Huber, Neue Kronik von Böhmen vom Jahre 530 bis 1780 […]. Prag 1780, 406; Kumpfmüller, Hungersnot, 58. 965 Vgl. Kap. IV.1.7. 966 Derby Mercury vom 10.7.1772.

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

357

illegal ihren Weg ins Ausland fanden.967 In der Folge kursierten in den europäischen Zeitungen horrende Zahlen polnischer Todesopfer im zweiten Krisenjahr 1772, die sicher nicht nur politisch motiviert waren: »The mortality in Poland is dreadful, were it is computed that 84.000 persons have died […], a famine, the consequence of their civil dissensions, is the cause«.968 Andere Quellen sprachen von 150.000 bis 300.000 zusätzlichen Toten oder Verschollenen und schilderten Anzeichen eines sozialen Zusammenbruchs, wie die Einführung von Standgerichten gegen vermeintliche »Zauberer« oder die Aussetzung von Kranken und Sterbenden durch ihre Familien.969 Die Auswirkungen der preußischen Sperren und Requirierungen gingen zudem über Polen hinaus. Die Zeitgenossen vermuteten wohl zu Recht, dass Preußens Aktionen in Polen auch die Not im übrigen Europa deutlich verschlimmert habe.970 In einer solchen Situation an Zwangslieferungen festzuhalten, bedurfte auch Ende des 18. Jahrhunderts einer besonderen Begründung. Für den preußischen König lag sie darin, dass er Getreide als Waffe verstand und seine Magazine als militärisches Instrument. Im Frühjahr 1771, als die Auseinandersetzungen in Polen auch einen konventionellen Krieg Preußens und Russlands mit Österreich möglich erscheinen ließen, schrieb Friedrich II. seinem Wiener Botschafter Jakob Friedrich von Rhod: Auch wir haben hier so viel Schnee und die gleichen Befürchtungen für das Wintergetreide. All diese Umstände könnten den Getreidemangel, der sich überall bemerkbar macht, noch befördern und geben mir Anlaß zu der Vorstellung, daß der Hof an dem ihr Euch befindet, noch weit mehr Schwierigkeiten bekommen wird Magazine anzulegen, als sie bisher vermuten. Diese Hindernisse werden sich noch vergrößern, wenn sie versuchen Truppen aus Flandern und Italien nach Böhmen zu verlegen, denn sollte ihr Marsch stattfinden, hätten sie unendliche Schwierigkeiten deren Subsistenz zu sichern.971

Friedrich wusste aus seinen früheren Feldzügen um die zentrale Bedeutung der Getreideversorgung für die neue, mobilere Kriegsführung.972 Seine Diplomaten forderte er daher auf, ihn über die Füllstände der Magazine seiner Konkurrenten 967 Zu Exporten nach Schwaben und Würzburg vgl. Anon., Lesenswürdige Beschreibung, o. P. 968 Bath Chronicle vom 18.6.1772. 969 Alexander, Plague, 105–107; Bock, Abhandlungen, 817. 970 Annual Register, 1771, Kap. 8, 84: »[…] the king of Prussia in the beginning of the year, purchased prodigious quantities of corn to supply his magazines and had afterwards, upon the same account, prevented or impeded the conveyance of corn by the Vistula from Poland to Dantzick. Both these circumstances contributed much to the general distress of Germany.« Adam Smith vermutete ähnliche Effekte für ganz Europa: Smith, Inquiry, Bd. 1, 249. 971 Friedrich II., Correspondenz, Bd. 31, 63. Vgl. auch ebd., 98 und Lukowski, The Partitions of Poland, 74–77. 972 Atorf, König, 182, 214.

358

Handeln

zu unterrichten und zu eruieren, ob diese tatsächlich nur der Fürsorge und nicht etwa dem Krieg dienten.973 Aufgrund seiner polnischen Vorräte ließ er sich von den habsburgischen Kriegsdrohungen aber kaum beeindrucken. Ende September verkündete Friedrich zuversichtlich: »Sollte die Ernte in Böhmen nicht besser als in Sachsen ausgefallen sein, ist kaum anzunehmen, dass sich die Österreicher dieses Jahr träumen lassen Magazine in dieser Provinz anzulegen oder, dass sie im Stande wären einen Krieg zu beginnen, so sehr sie ihn auch wollen.«974 In britischen Geheimberichten teilte man diese Vermutungen.975 Als die österreichischen Truppenverlegungen aus Flandern endlich stattfanden, führten sie in den Transitzonen im Reich zu erheblicher Unruhe.976 Auch in Bezug auf die russischen Soldaten galt der Mangel an »hinlänglicher Fourage« im hungernden Polen als Haupthindernis für deren Marschbefehl.977 Zu Anfang des Jahres 1772 schätzte Friedrich II. in vertraulichen Briefen die jeweiligen Getreidevorräte als die entscheidende Variable im bevorstehenden Konflikt ein.978 Die internationalen Beobachter vertraten ähnliche Ansichten. Das Annual Register in London bewertete die ›Hungernutzung‹ Friedrichs II. als strategisch motiviert und sah die europäische Hungersnot als wichtigen Faktor im polnischen Konflikt: Things carried much the appearance of war both at Vienna and Berlin at the beginning of the year […]. Everything bespoke some great event at hand. It is not improbable that the great scarcity of corn, and the public calamities which afterwards took place, con 973 Meldungen über den österreichischen Ankauf von ungarischem Getreide rechnete Friedrich II. deshalb sofort in Truppenkontingente um und befahl seinem Legationsrat in Wien: »Ich kann diese enorme Anhäufung von Getreide nur auf geheime kriegerische Absichten zurückführen, die ihr vollständig zu enthüllen alles zu unternehmen habt.« Friedrich II., Correspondenz, Bd. 31, 584. 974 Friedrich II., Correspondenz, Bd. 31, 396. Zahlreiche vergleichbare Aussagen finden sich in: Ebd., Bd. 32, 242, 298, 400, 416 sowie Müller, Teilungen, 38. 975 »The [Austrian, D.C.] troops will probably march some weeks later, as there is a difficulty in forming the necessary Magazines in Hungary, since the large Exportation of corn from thence for the relief of Bohemia and Moravia.« (Chiffrierter) Bericht des britischen Botschafters in Wien, David Murray, Viscount Stormont vom 19.4.1771 in: National Archives London, State Papers 80/209, Nr. 19. 976 Zu den Transporten, deren Geheimhaltung angesichts der Versorgungsprobleme kaum zu gewährleisten war, vgl. NA, SP 81/109 Berichte vom 17.3.1771 und 31.3.1771 sowie NA, SP 80/209 Bericht vom 10.4.1771. Im Mai und Juni 1771 passierten 2.200 Soldaten das hungernde Regensburg. Beck, Regensburg, Bd. 1, 137 f. 977 Pirnaisches Gemeinnütziges Wochenblatt 16, 21.4.1770, 250. Auch die sächsischen Truppen waren wegen ihrer schlechten Versorgung kaum einsatzbereit. NA, SP 103/88, Bericht vom 7.7.1771. 978 »Sollte ein allgemeiner Krieg unausweichlich sein, erscheint es mir, dass das größte Hindernis die Anlage von Magazinen zum Unterhalt der Truppen bis zur nächsten Ernte wäre. Die Hungersnot ist schon jetzt in verschiedenen Ländern spürbar, und nach den Nachrichten aus Sachsen, ist sie auf den Punkt gestiegen, dass die Leute in der Umgebung von Pirna zur Nahrung tote Hunde ausgraben.« Friedrich II., Correspondenz, Bd. 31, 640.

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

359

tributed to the preservation of the general tranquillity. It was said that the king of Prussia was beforehand with the Emperor in filling his magazines, a measure which the later afterwards found impracticable.979

Friedrich selbst teilte diese Einschätzung und bemerkte mit einigem Zynismus: »Die Hungersnot, die sich nun überall bemerkbar macht, stellt ein nahezu unüberwindbares Hindernis für die Anlage von Getreidemagazinen [für die Armeen, D.C.] dar, und ist vielleicht der beste Unterhändler und Beförderer des Friedens«.980 Preußens starke Verhandlungsposition und die anschließenden, erheblichen Gebietsgewinne nach dem Teilungsbeschluss von 1772 ergaben sich ganz wesentlich aus seinem privilegierten Zugang zu polnischem Getreide. Die preußische Regierung bemühte sich früh, diesen Zustand zu verstetigen. Bereits Anfang des Jahres hatte Friedrich unter dem Deckmantel der Hilfe gegen Überschwemmungsschäden die Netze-Weichsel-Wasserstraße vermessen lassen. Wenig später machten die Annektion des entsprechenden Territoriums und der endgültige Ausbau mit einem Kanal diese lange geplante Verbindung zur Realität.981 Flankiert wurde der Kanalbau durch Zollstationen an der Weichsel, die den Export stromabwärts nach Danzig unterbanden. Die Einrichtung der Domänenkammer in Marienwerder mit ihrem neu erbauten Getreide-Großmagazin gehörte daher zu den ersten Aufgaben im 1772 annektierten »Westpreußen«. In der Folge kontrollierte Preußen den polnischen Getreidehandel und konnte die Preise diktieren. Die Vorräte für die preußischen Großmagazine stammten seither fast vollständig aus dem Nachbarland.982 Noch im Jahr ohne Sommer 1816 war Preußen daher weit besser mit Getreide versorgt als seine Nachbarn.983 In Polen hingegen blieb die Verknüpfung der doppelten Katastrophe von Hunger und Teilung über lange Zeit Teil der Erinnerungskultur. In einem um 1800 verfassten Gedicht des polnischen Schriftstellers und Memoirenschreibers Franciszek Karpiński heißt es rückblickend: »Die Erde, fett vom schönen Blut der Polen / Erquickt den wilden Reiter und sein Roß / Doch den Kindern, ihrem Hunger nur befohlen / Legt man der Herren Sprache 979 Annual Register, 1771, Kap. 8, 85. Der Newcastle Courant vom 14.12.1772 sah einen ähnlichen Zusammenhang zwischen den Vorräten und Preußens Landgewinn in Polen: »[…] the King of Prussia has filled his magazines with a sufficient quantitiy of forage and corn, for carrying on the war for two years. The Emperor, on the other hand, who has undoubtedly the finest army in Europe finds his magazines quite empty, and even his subjects in danger of perishing by famine at the critical moment he intended to enter upon action. This manoeuvre will probably secure to the King of Prussia his proportion of Poland without bloodshed.« 980 Brief vom 23.9.1771 an den Staatsminister von Rohd in Wien, in: Friedrich II., Correspondenz, Bd. 31, 472. Auch das französische Militär war laut Augenzeugen in der Krise kaum mehr einsatzfähig: Pleschinski, Tagebuch, 251. 981 Bär, Westpreußen, Bd. 1, 33 und Bd. 2, 60–63. Die letzten Abschnitte des verbindenden Bromberger-Kanals wurden 1774 fertig gestellt. 982 Ebd., Bd. 1, 86; Atorf, König, 226; Naudé, Getreidehandelspolitik, 387 f. 983 Stollenwerk, Koblenz, 119 f.

360

Handeln

in den Schoß! / Ein hartes Urteil wurde da gesprochen / Die einen feiern, Polen ist zerbrochen!«984 Politiken des Hungers Polen erlebte 1771 sowohl eine Natur- als auch eine ›Kulturkatastrophe‹. Zwischen wetterbedingten Missernten und politischem Konflikt bestanden verheerende Wechselwirkungen. Die Verflechtung von Korn und Krieg, von Getreide und Gewalt lässt sich aber nicht auf starre Abhängigkeiten reduzieren – die preußische Landnahme besaß ebenso wie die Auflehnung der Konföderierten eine lange Vorgeschichte. Die Hungerkrise bildete lediglich eine Triebfeder für das Geschehen. Für Polen bedeutete die Überschneidung von Hungersnot und Gewalt ein Desaster. Der preußischen Administration gelang es hingegen, den Zugang zu polnischem Getreide während der europäischen Witterungsanomalie sowohl für politisch-­militärische als auch für soziale Zwecke zu instrumentalisieren. Friedrich II. inszenierte in Preußen mithilfe des in Polen requirierten Getreides demonstrativ den direkten Kontakt zwischen Souverän und Untertanen. Er befasste sich persönlich mit den direkt an ihn gerichteten Bitten seiner Untertanen um Magazinkorn. Dem Fluss des (polnischen) Getreides vom König zum Untertan entsprach eine Flut von Supplikationen in entgegengesetzter Richtung. Die Magazine vermittelten beiden Seiten einen direkten Kommunikationskanal unter Umgehung des Instanzenzuges, der das Herrschaftsverhältnis in Krisenzeiten stabilisieren half.985 Auch Kaiser Joseph II. lud die Bevölkerung mit seiner Reise in die böhmischen Notstandsgebiete zu solchen empowering interactions von Herrscher und Untertanen auf Kosten der Lokalverwaltung ein. Er hatte aber in Ermangelung polnischen Getreides und der Strahlkraft preußischer Magazinbauten deutlich weniger Erfolg.986 Friedrich II. bediente sich zu diesem Zweck populärer asymmetrischer Gegenbegriffe, um in der Krise Orientierung zu stiften und Kontingenz zu begrenzen. Das ›tägliche Brot‹ eignete sich als tiefverwurzelte kulturelle Matrix besonders gut für solche Inszenierungen. Dabei reduzierte Friedrich II. etwa die multi-ethnische Bevölkerung Polen-Litauens auf das Gegenbild des ›Polen‹. Die demonstrative Abgrenzungen nach außen – gegen die sprichwörtliche ›polnische Wirtschaft‹, die auswärtigen ›Kornjuden‹ oder die nachlässigen ›Sachsen‹ – nutzte er, um gesellschaftliche Ungleichheiten im Inneren zu überdecken.987 Über die 984 Franciszek Karpiński, Klagelied eines Sarmaten am Grabe Zygmunt Augusts, in: Zdziław Libera (Hrsg.) Polnische Aufklärung. Ein literarisches Lesebuch. Frankfurt a. M. 1989, 104–106. 985 Collet, Kultur, 372–374. 986 Vgl. Kap. IV.1.6. 987 Zu jüdischen Getreidehändlern als Sündenböcken Friedrichs II. vgl. Kap. IV.3.3. Zu seinem Antijudaismus und zur Forcierung eines negativen Polenbildes in Preußen durch Friedrich II.: Gailus, Erfindung, 608; Bömelburg, Friedrich II., 78–89. Polnische Juden wurden gleich

Sozionaturale Schauplätze: Die Krise vor Ort

361

Fruchtsperren und den Cordon sanitaire ließen sich diese mentalen Grenzziehungen physisch materialisieren. Ihr doppelter, politischer Charakter spiegelt sich in den wiederkehrenden Klagen der polnischen Bevölkerung über demonstrativ rüde ausgeführte Durchsuchungen wieder und lässt sich in der Krise auch an anderen Grenzen beobachten.988 Diese Maßnahmen halfen, die eigene Not im Vergleich mit dem exkludierten Ausland als weniger gravierend zu empfinden, als sie tatsächlich war. Gerade die preußischen Magazine überdeckten viele Widersprüche.989 Sie verschleierten, dass auch die preußische Regierung kaum effektivere Vorsorge betrieb als die vermeintlich nachlässigen Nachbarn und sich für Hilfen genau bei denjenigen bedienen musste, die man offiziell verspottete – den verleumdeten jüdischen Händlern und den angeblich so ineffektiven polnischen Bauern.990 Die Exkludierungen verbargen, dass die Magazine statt der allgemeinen Fürsorge der Versorgung privilegierter Gruppen dienten und dass sie ohne polnische Zwangsabgaben nahezu leer gestanden hätten.991 Die begeisterten Reaktionen auf Friedrichs Politik in seinen Territorien sowie der lange tradierte Mythos des »Brodvaters« Friedrich und des preußischen Vorsorgestaats belegen auch in diesem Fall den Erfolg einer solchen ›Inklusion durch Exklusion‹.992 Wie sehr die preußische Fürsorge auf polnischen Zwangsabgaben beruhte, ist heute weitgehend vergessen. Auch dass Polen 1770–1772 nicht nur zum Schauplatz einer politischen, sondern auch einer ökologischen Katastrophe wurde, ist aus der Diskussion verschwunden. Diese Trennung von politischem Konflikt und Naturextrem verdeckt jedoch das Ausmaß der Notlage in Polen, die Instrumendoppelt ausgegrenzt. Als Juden galten sie als Wucherer und Gauner, als Polen verdächtigte man sie der Übertragung der Pest. Vgl. Churbaierisches Intelligenzblatt, 31.10.1770, 281, 285 sowie Härter, Stolleis, Repertorium, Bd. 1, 774; Bd. 4, 907. Zum Konzept der asymmetrischen Gegenbegriffe: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1989. 988 Vgl. bspw. John Lind, Letters concerning the present state of Poland. London 1773, 3; Jahn, Roboter, 163, 646 f. 989 Zur tatsächlichen Not in Preußen vgl. Kluge, Hunger. Dennoch gab etwa Friedrich Nicolai an, die Hungersnot von 1771/72 habe ihn vom Kritiker zum Bewunderer Friedrichs gemacht, da er aus seinen Speichern »bis in die kleinsten Städte Rath geschafft; so daß das Elend bey uns, obgleich sehr groß, dennoch bey weitem nicht so schrecklich war«. Friedrich Nicolai, Anekdoten von König Friedrich II. von Preußen, Bd. 1. Berlin, Stettin 1788, XII. 990 Vgl. Kap. IV.1.4. 991 In der Periode von 1764–1784 stammten fast ⅔ des Magazinkorns nicht aus preußischen Territorien, sondern aus Polen. Skalweit, Getreidehandelspolitik, 100–102. 992 Vgl. Frevert, Gefühlspolitik, 101 f. Zu einem »Lied des Volkes, Als der König den Armen Brod, und dem Landmann Saatgetreide reichen ließ. 1771«, vgl. Böning, Siegert, Volksaufklärung, Bd. 1, 442. Zur ähnlichen Nutzung antipolnischer Ressentiments in Österreich vgl. die Ausführungen von Ambrosius Zesch, der die Ausgrenzung Polens, als jenes »Eck von Europa, [an dem] höllische Zwietracht aus ihrem dampfenden Schlunde hervorsteig[t]« benutzt, um Maria Theresia als »Brodmutter« zu feiern. Zesch, Kanzelrede, 10, 19.

362

Handeln

talisierung des Konflikts in den Nachbarterritorien und die machtpolitische Nutzung von Missernten und Hunger durch die Konfliktparteien.

6.  Handeln in Hungerkrisen Sobald man die systemische Ebene von Klima, Demographie und Ökonomie zugunsten einer Perspektive aus der Nähe verlässt, entfaltet sich anstelle zivilisatorischer Schicksale ein breites Panorama individueller und kollektiver Handlungen. Die Annahme, dass die Betroffenen die Klimaanomalie und Hungersnot einfach erlitten hätten, erweist sich als falsch. Die Vielfalt der Praktiken entsprach dabei nicht nur der Pluralität der Deutungsmuster. Sie reflektierte auch die Heterogenität der Akteure. Die Gruppe der Handelnden beschränkte sich keineswegs auf Obrigkeiten und Administrationen, sondern umfasste die gesamte Gesellschaft, vom fünfjährigen Hanso Nepila in der Lausitz, über die bürgerlichen Menschenfreunde in Sachsen bis zum antijüdischen Mob in Gotha. Wie häufig in Katastrophenzeiten erwiesen sich Staat und Obrigkeiten auch in diesem Fall als nur begrenzt handlungsfähig. Obwohl die kameralistischen Verwaltungen in den 1770er Jahren weit größere Ansprüche an die Gestaltungsmacht des Territorialstaates formulierten, vermochten sie zumeist nicht, das Geschehen maßgeblich zu steuern. Weder bildeten sie den zentralen Akteur der Fürsorge noch besaß ihre Politik nachhaltigen Einfluss auf das Bündel von Agrar-, Wirtschafts-, und Sterblichkeitskrisen. Allein auf normativer Ebene wäre diese Fähigkeits­lücke jedoch nur schwer zu bestimmen. Einerseits beschönigten die Verwaltungsquellen die Effektivität des eigenen Handelns. Andererseits nutzten Regierungen damals wie heute den strategischen Verweis auf die übermächtige Gewalt von Natur, Gott oder menschlichem Geiz, um von eigenem Versagen abzulenken.993 Erst der Blick auf die Praxis illustriert, wie sehr die Verwaltungen auf Kooperation und Kollusion mit externen Partnern angewiesen waren, um der Krise zu begegnen. Die Schwächen, die sich im staatlichen Handeln offenbarten, wurden durch die Klima­ anomalie jedoch nur bestärkt, nicht aber verursacht. Unter dem Druck der Krise treten Vulnerabilität und Pfadabhängigkeiten der Getreidegesellschaft, die strukturellen Informationsdefizite oder die spezifischen Reibungsverluste polyzen­ trischer Herrschaft besonders klar hervor. Sie verweisen aber auf grundlegende Bruch­zonen vormoderner Staatlichkeit. Angesichts dieses Praxisbefundes erscheint die Annahme höchst zweifelhaft, dass die Obrigkeiten die Hungerjahre wirksam für eine ›moralische Ökonomie von 993 Vgl. etwa Kaplan, Famine Plot, 46. Aus diesem Grund kritisiert etwa Ó Gráda an Sens klassischer Hungerstudie zu Bengalen 1940–42 zu Recht, dass sie die Betonung von menschengemachten FED-Faktoren durch die zeitgenössischen Verwaltungen nicht auf ihre strategisch-­ exkulpierende Wirkung hin überprüft habe. Ó Gráda, Famine, 159–165.

Handeln in Hungerkrisen

363

oben‹ nutzen konnten. Die populäre Herleitung von deutschem Obrigkeitsstaat und Untertanenmentalität aus dem Krisengeschehen übersieht das beträchtliche Gefälle zwischen herrschaftlicher Normsetzung und Praxis. Blickt man auf das Handeln der Betroffenen, ist eine »untertänig verharrende Erwartung« der Bevölkerung nirgends zu beobachten, wohl aber die nachdrückliche Aufforderung zu Kooperation und regulativen Eingriffen.994 Ein handlungsorientierter Zugang lässt nicht nur die vielfältigen Praktiken der Überlebensökonomie der einfachen Bevölkerung hervortreten, er verweist auch auf deren Gebundenheit in den empowering interactions mit den Herrschern. Dabei konnten die Untertanen je nach Konstellation den üblichen Rahmen ihrer Teilhabe ausdehnen und neue Formen der Kooperation und Kollusion entwickeln. Solche stabilisierenden Interaktionsprozesse lassen sich nicht nur im Reich, sondern auch in Frankreich, Großbritannien, Schweden oder Dänemark beobachten.995 Umgekehrt nahm die Krise dort ein besonders großes Ausmaß an, wo schwache oder abwesende Herrscher für solche kommunikativen Interaktionen nicht zur Verfügung standen – etwa in Sachsen, dem Eichsfeld oder dem Erzbistum Salzburg.996 Diese pragmatischen Formen des Bewältigungshandels blieben nicht ohne Folgen. Zwar lässt sich auf vielen Gebieten ein kurzfristiges Scheitern von Hilfen und Reformen beobachten. Viele Maßnahmen wurden auch unmittelbar mit der Rückkehr guter Ernten beendet – etwa die Getreidekommissionen, in denen die Interaktionen und Supplikationen zusammenliefen.997 Der Blick auf die Praxis offenbart aber zugleich Felder, in denen nachhaltige Veränderungen angestoßen wurden, von der Armenfürsorge über Landwirtschaft und die Wissenschaften bis zur Verwaltung von Herrschaft. Viele dieser Prozesse werden überhaupt erst aus einer praxeologischen Perspektive sichtbar, da sie ihre Wirkung oft durch das Unterlaufen der offiziellen Maßregeln bezogen – etwa im Schul- und Armenwesen. Sie illustrieren ein Innovationspotential, das aus einer stärker institutionenoder normenzentrierten Perspektive leicht unterschätzt wird.998 Besonders deutlich wird dieser Verlauf im Bereich der Herrschaftspraxis, wo das obrigkeitliche Regiment trotz des temporären Kontrollverlusts langfristig von der Kollusion mit den Untertanen und der kommunikativen Autorisierung durch die Krise profitierte. Bürgerliche Wohlfahrt, Expertokratie und die Verdichtung von Herrschaft 994 Medick, Teuerung, 43. Obwohl dessen Interpretation auch auf der Laichinger Hungerchronik, einer später enttarnten Fälschung beruht (Hans Medick, Die sogenannte »Laichinger Hungerchronik«, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 44, 1994, 105–119) wurde das Konzept übernommen in: Rankl, Politik, 777. Ähnlich argumentiert Schmidt, Hungerrevolten, 280. 995 Vgl. Kap. II.3.4. 996 Zur folgenschweren Bischofsvakanz in Salzburg vgl. Derflinger, Getreideteuerung, 6 f. Zu Sachsen vgl. Kap. IV.5.2, zum Eichsfeld vgl. Weber, Kurmainz, 100. 997 Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 23, 100. 998 Vgl. etwa das zurückhaltende Fazit zum Impuls auf das Armenwesen bei Jütte, Teuerungen.

364

Handeln

etablieren sich oft unabsichtlich und unintendiert als Nebenfolge kommunikativ-symbolischer Vorgänge in den Krisenjahren. Diese Befunde lassen allzu lineare Modelle einer zunehmenden Verstaatlichung fraglich erscheinen. Stattdessen illustrieren sie die Pragmatik einer wechselseitigen und koevolutionären Entwicklung von Staat und Selbsthilfe.999 Zudem verweisen sie mit Nachdruck darauf, wie verkürzend viele populäre Narrative zu vermeintlichen Klimawirkungen ausfallen. Aus der Nähe entfaltet sich jenseits der Abstraktionen von zivilisatorischem Aufstieg und Untergang ein Panoptikum von eigensinnigen und dynamischen Aneignungen von Klimaimpulsen. Damit legen sie ein Verständnis nahe, das über die Trennung von Klima und Kultur hinausgeht. Das Handeln der Akteur/innen erschöpfte sich nicht in Abwehr und Reaktion. Es verweist mit seinem nuancierten Repertoire materiell-kommunikativer Praktiken vielmehr auf die vielfache Gebundenheit menschlichen Handelns, auf seine Sozionatur.

999 Vgl. etwa Martin Dinges, Aushandeln von Armut in der Frühen Neuzeit. Selbsthilfepotential, Bürgervorstellungen und Verwaltungslogiken, in: Werktstatt Geschichte 10, 1995, 7–15.

V. Bewältigen

Im Sommer 1772, als der Witterungsverlauf nach drei langen Jahren endlich wieder in die gewohnten Bahnen zurückkehrte, boten weite Teile Europas ein Bild der Verwüstung. Die Folgen der Klimaanomalie hatten das sozionaturale Gefüge erschüttert. In den Augen der Zeitgenossen glichen die Verheerungen der Hungerjahre den Zerstörungen eines Krieges.1 Mehrere hunderttausend Menschen waren an Mangel und Seuchen gestorben oder hatten ihre Heimat verlassen müssen. Vielerorts verödeten ganze Siedlungen, während die verfallenden Häuser zum Spielplatz streunender Kinder wurden. Die Überlebenden hatten in der Not oft ihren gesamten materiellen Besitz verloren und allein das nackte Leben gerettet. Die Zeitgenossen waren sich sicher, dass diese Verluste zeitlebens nicht mehr zu ersetzen seien.2 Sie mutmaßten, dass die Folgen der Not die globalen Entwicklungen noch »auf Jahrhunderte« beeinflussen würden. Dabei konstatierten sie nicht nur enorme soziale und ökonomische Kosten, sondern auch eine tiefgreifende geistige Erschütterung: Man stehe vor dem großen »Nichts«.3 Tatsächlich überdauerte die Krise in vielen Regionen die Rückkehr besserer Ernten. Soziale Zerrüttung, erschütterte Märkte und andauernde Furcht resultierten vielerorts in einer ›green famine‹. In Franken, Bayern oder Sachsen herrschten auch 1773 weiterhin Teuerung und Hunger. Weite Teile der völlig verarmten Bevölkerung konnten sich selbst die gesunkenen Preise nicht mehr leisten und blieben noch jahrelang auf Hilfen angewiesen.4 Für Jubelfeste zum Abschluss der 1 Rankl, Politik, 778, Petz, Auswanderung, 62. 2 Jäger, Dorfchronik, 238; Fichtner, Beschreibung, Anmerkung. 3 Monatschrift aus Mitleid, 1772, 323 »Was kann mehr ins Ganze gehen, als diese Theurung? Man denke sie sich einmahl in ihrer Entstehung, Ausbreitung, Dauer, Höhe, Würkungen, Gränzen, und Abnahme; wie viele weite fruchtbare Länder, sonst Kornkammern der andern, sie ausgenagt; wie viele Familien und Orte […] welche Myriaden von Menschen und Thieren sie aufgerieben; welche Verwandlungen in der natürlichen, sittlichen und politischen Verfassung der Welt sie angerichtet; welchen Einfluss auf Welttheile, auf Jahrhunderte sie noch haben müsste«. Ebd., 327–330. 4 Ein sächsischer Beobachter konstatierte 1773, es sei »schmerzlicher anzusehen: daß nun, nach weit über die Hälfte herunter gefallenen Preiße des Brodes und Getraides, als der fast einzigen Lebensmittel der Armen, dennoch die Noth und das Elend fast nicht minder, denn dazumal groß sind. Der größte Haufen des Volks ist dermaßen verarmet und ausgesogen, daß er auch, weder am nöthigsten Geräthe, noch nur seine Blöße zu deckenden Hülle, und nur das höchst erforderliche mehr übrig hat. Anon., Pflichten, IV. Viele Territorien hoben die Notmaßnahmen erst im fünften Krisenjahr 1774 schrittweise wieder auf. Vogt, Massnahmen, 93; Eichhorn, Hungersnot, 9; Derflinger, Getreideteuerung, 35; Beherzigung der Zeit, 1772, 382; Huhn, Teuerungspolitik, 75; Rankl, Politik, 776; Schlenkrich, Bräuer, Armut, 1082.

366

Bewältigen

ersten neuen Ernte fand man – anders als nach der kürzeren Hungersnot 1816/17 – kaum die nötige Kraft.5 Aus der Vogelperspektive der Demographie und Ökonomie ergibt sich hingegen ein anderes Bild. Sie suggeriert, dass die Lücken in den Bevölkerungskohorten bereits nach einer Dekade wieder ergänzt waren und die Wirtschaftsleistung wieder das frühere Niveau erreichte. Der gleiche Eindruck kann unabsichtlich auch dann entstehen, wenn man vor allem das Handeln der Betroffenen verfolgt. Der Blick auf die tatkräftigen Akteure resultiert zwangsläufig in einer Geschichte der Überlebenden. Ihre praktischen Erfolge verdecken leicht die enormen sozialen und emotionalen Kosten der Notjahre. Die Bewältigung der Krise erschöpfte sich aber nicht in erfolgreichen Aneignungen klimatischer Impulse. Sie umfasste auch das breitere Bemühen, angesichts von zehntausenden Toten, dem Schock der Entbehrungen und dem hohen Preis des eigenen Überlebens die ins Wanken geratene Ordnung wieder herzustellen. Um die Folgen der Krisenjahre einzuordnen, reicht es daher nicht aus, soziale Innovationen oder demo-ökonomische Kennziffern zu bilanzieren. Dazu gehören auch ein Blick auf die Brüche und sozialen Verwerfungen der Notjahre. Erst aus dieser breiteren Perspektive wird das typische Nebeneinander von Beharrung und Veränderung im Angesicht von Krisen verständlich. Ein zentrales Feld dieser sozialen Katastrophenbewältigung bildet die Dynamik von Erinnern und Vergessen. Ihr Wechselspiel erlaubt es, die kurz-, mittel- und langfristigen Folgen der Krise einzuordnen und abzuschätzen, in welchen Bereichen aus der Katastrophe gelernt wurde. Nur was in Erinnerung blieb, konnte zu Lerneffekten führen. Der komplementäre Blick auf das Vergessen und Beschweigen bietet hingegen eine Erklärung für die überraschende Kontinuität »am Tag danach«.6 Diese Grenzen des kollektiven Erinnerns untersucht nicht nur die Kulturgeschichte. Aus ökologischer Sicht werden sie auch im Konzept der ›shifting baselines‹ reflektiert, das die defizitäre Wahrnehmung naturalen Wandels durch den Menschen thematisiert. Untersucht man die Wechselseitigkeit von Erinnern und Vergessen, die beide Konzepte betonen, dann lässt sich nachvollziehen, warum die Hungerkrise zwar kaum strukturellen Wandel auslöste, in vielen anderen Feldern aber als Katalysator beschleunigter Veränderung fungierte.

1.  Erinnern und Vergessen Die sozialen Praktiken des Erinnerns von Katastrophen erscheinen vertraut. Das breite Repertoire der Memorialkultur von Denkmälern über Schriften bis zu Fei 5 Maren Schulz, Staging the Return to Normality. Socio-Cultural Coping Strategies with the Crisis of 1816/1817 in: Collet, Schuh, Famines, 213–254. 6 Christian Pfister (Hrsg.), Am Tag danach. Zur Bewältigung von Naturkatastrophen in der Schweiz 1500–2000. Bern 2002.

Erinnern und Vergessen

367

erlichkeiten wird bis heute genutzt, um die Verwerfungen von Notzeiten aufzufangen und einzuhegen. Die vielen Formen des Vergessens sind dagegen weniger präsent. Sie hinterlassen naturgemäß kaum Spuren und sind häufig überhaupt nur als Negativ des Erinnerten fassbar. Gleichwohl ist das Vergessen von Noterfahrungen nicht nur üblich, sondern oftmals geradezu notwendig, um Betroffenen das Weiterleben zu ermöglichen. Das gilt für die historischen Getreidegesellschaften mit ihrer ständigen Bedrohung durch den plötzlichen Hungertod ebenso wie für die Überlebenden der Gewaltereignisse des 20. Jahrhunderts.7 Jüngere Forschungen betonen in Anlehnung an Maurice Halbwachs und Pierre Nora, dass strukturelles Vergessen sowohl auf der kollektiven als auch auf der individuellen Ebene möglich ist.8 Welche Ereignisse von wem verdrängt oder beschwiegen werden und welche Aktionen gezielt in Erinnerung gerufen werden, verrät Grundsätzliches über Konflikte und Strukturen der Krisenbewältigung. Erinnern und Vergessen sind dabei weniger als Gegensätze, denn als eng miteinander verflochtene Prozesse zu denken.9 Die Obrigkeiten, die auf Dankfesten ihre Fürsorge kommemorieren ließen, verdeckten währenddessen die ständischen Profiteure der Not. Die Tagebuchschreiber, die in ihren Erzählungen ihre Rettung schildern, beschwiegen zugleich die entmündigende Erfahrung sozialer Hilf- und Machtlosigkeit. Beide Prozesse existieren jeweils eng aufeinander bezogen. Die Verschränkung von Erinnern und Vergessen manifestiert sich etwa in der Historisierung des Krisengeschehens. Sie erlaubte den Betroffenen die Not durch die selektive Einordnung in geschichtliche Zusammenhänge einzuhegen und zu bewältigen. Immer wieder verglichen die Zeitgenossen die eigene Notlage mit früheren Hungersnöten.10 Die Bewertungen schwankten je nach Standpunkt. Einige bewerteten die eigene Not als ähnlich gravierend wie frühere Katastrophen, vielen erschien sie als weit verheerender. Die eine Seite zog aus den Vergleichen die Lehre, dass Vorratshaltung und Landwirtschaft verbessert werden müssten, während andere die Hebung der Moral als zentrale Aufgabe ansah. Jenseits aller Unterschiede blieb die übereinstimmende Botschaft jedoch, dass das Leben schließlich weitergegangen sei. Diese Logik entfaltete sich völlig unabhängig davon, ob man die Katastrophe selbst als Strafgericht oder als Naturereignis verstand. Jeder Blick in die Vergangenheit rahmte die Not als Überlebensgeschichte, nicht als Untergang.11 7 David Rieff, In Praise of Forgetting. Historical Memory and its Ironies. London 2016. 8 Rieff, Forgetting, 23 f., 64. 9 Aleida Assmann, Formen des Vergessens. Göttingen 2016, 13. 10 Ulrich Bräker etwa schlug im dritten Hungerjahr in der Bibel nach, um seine Verzweiflung durch die Lektüre der Josephsgeschichte mit ihren sieben Missernten zu beruhigen. Bräker, Schriften, Bd. 1, 281. 11 Solche orientierenden und tröstenden ›Hungergeschichten‹ finden sich etwa in: Anon., Eine kurze Geschichte der seit einigen Seculis in verschiedenen Sächsischen Jahrbüchern angemerkten Theuerungen, in: Miscellanea Saxonicae, 1771, 290–304; Johann Gottlieb Frenzel, Das von Gott in einer Zeit von 600 Jahren verschiedentlich mit theurer Zeit- u. Hungersnoth ernstlich heimgesuchte jedoch gleichwohl gespeist, getränkt und nicht verlassene Marggraffthum

368

Bewältigen

Dies galt gleichermaßen für die Zukunft. Der Bauer Ulrich Bräker oder der Meteorologe Christian Gottlob Pötzsch verstanden ihre Aufzeichnungen als »Warnung« für Kinder und Nachgeborene.12 Johann Friedrich Krügelstein beendete seine Hungerzeitschrift mit einem »Gespräch eines Vaters mit seinen Kindern nach der Theuerung«, das er als Mahnung für die zukünftige Generationen verstand. Andere verfassten ganze Bücher über die zentralen Lehren der Not für die Nachkommen.13 Immer wieder diente die Hungererfahrung als Anlass für Schreibbücher, Familienchroniken und Kalender, in denen die Erfahrungen für die Erinnerung der Nachgeborenen festgehalten werden sollten.14 Auch in diesen Fällen galt, dass bei aller Betonung des erlebten Leids die erfolgreiche Bewältigung der Krise im Zentrum stand. Die Nachrationalisierung als sozioökologisches survival narrative ging oft mit einer optimistischeren Neuinterpretation des Erlebten einher.15 Ulrich Bräker hatte unter dem direkten Eindruck der Hungerkrise noch resigniert und beklagt, dass den einfachen Leuten selbst enormer Fleiß und doppelte Arbeit nicht mehr halfen. Nach dem Ende der Krise und dem eigenen Bestehen in der Not gab er sich wesentlich zuversichtlicher. Nun erschienen dem Pietisten Bräker Sparsamkeit und Betriebsamkeit wieder als die zentralen Lehren der Krise für die Zukunft.16 Der Fokus auf das Überleben und die partielle Amnesie der strukturellen Ungleichheiten prägten auch die spätere Erinnerung der Extremereignisse. Die extremen Hungerjahre blieben auf Jahrzehnte hinaus präsent. Bei jeder folgenden Krise bildeten sie nun den Maßstab und verdrängten frühere Ereignisse weitgehend. Dies galt zumal für die Generation der Mitlebenden. Die Hungererfahrung prägte die Zeitzeugen auch noch 30 oder 50 Jahre später. Viele rückblickende Lebensbeschreibungen wählten die Hungerjahre als Beginn der eigenen Biographie.17 In den Teuerungen von 1784 oder 1816/17 spielte der Vergleich mit 1770–1772 jeweils eine konstitutive und gleichermaßen aktivierende Rolle. Er ordnete die eigenen Nöte Oberlausitz. Auf vor Gutbefinden so einen kurzen Auszug zuhaben, zu Erweckung, Trost, guten Zutrauen und Gott zu Ehren gefertiget. Bautzen 1771 sowie in: Anon., Vergleichung; Anon., Beschreibung des Theurungszustandes; Beherzigung der Zeit, 1772, 145–185, 193–205, 273–314; Hazzi, Betrachtungen, 1–24; Lausitzisches Magazin, 1772, 38–39. 12 Bräker, Schriften, Bd. 1, 470; Pötzsch, Geschichte, 81. 13 Beherzigung der Zeit, 1772, 337–349; Schmahling, Nachruff, bes. 5–11. 14 Harnisch, Schreibebuch; Landsteiner, Meteorologie, 45. 15 Michal Peled Ginsburg, Narratives of Survival, in: Novel 42, 2009, 410–416; Janet Fiskio, Apocalypse and Ecotopia. Narratives in Global Climate Change Discourse, in: Race, Gender, and Class 19, 2012, 12–36. 16 Bräker, Schriften, Bd. 1, 258–265 (1770/1771) und 429 (August 1772). 17 Die Hungerjahre motivierten etwa Anon., Wahrheit (1804, XI) und Soden, Gesetzgebung (1828, 3). Vgl. auch die Lebensbeschreibungen von Hanso Nepila oder Johann Gottfried Burckhardt, dem die Tränen der Mutter am Essenstisch in der Notzeit auf »immer unvergeßlich« blieben. Jahn, Roboter, 645 und Heidrun Alzheimer-Haller, Handbuch zur narrativen Volksaufklärung. Moralische Geschichte 1780–1848. Berlin, New York 2004, 280.

Die materielle Kultur des Hungers

369

in ein vertrautes Panorama ein, ließ sie geringer erscheinen und verwies darauf, dass auch große Gefahren überstanden werden konnten.18 Für mehr als einhundert Jahre dienten die Hungerjahre als Referenzpunkt. Der Verweis auf die »16 guldige Zeit« wurde im Familienkreis oder über Chroniken tradiert und herangezogen, um das Bedrohungsgefühl durch aktuelle Krisen abzuschwächen.19 Dies gilt teilweise auch noch für die ersten modernen Historisierungen der Not, die häufig und nicht nur in Europa vor dem Hintergrund von Krieg und Mangel im 20. Jahrhunderts entstanden.20 All diese Geschichten kreisten um das Weiterleben. Dagegen bildeten die strukturelle Verwundbarkeit, die langsame Gewalt der sozioökologischen Arrangements oder die erlittenen Entbehrungen bestenfalls den dunklen Hintergrund, vor dem die Überwindung der Not umso strahlender erschien.21

2.  Die materielle Kultur des Hungers Konkret greifbar werden diese Dynamiken von Erinnern und Vergessen in der breiten Überlieferung materieller Kultur der Hungerjahre. Sie illustriert, dass die Hungerkrise zwar intensiv und vielfältig memoriert wurde, die strukturellen Asymmetrien der Getreidegesellschaft aber weitgehend unhinterfragt blieben. Zur Hungersnöten existiert eine jahrtausendealte Tradition bildlicher und figurativer Zeugnisse.22 In Katastrophenzeiten übernehmen visuelle Darstellungen eine zentrale gesellschaftliche Rolle und füllen die Lücken dessen, was mit sprachlichen 18 Vgl. etwa Dresdener Gelehrte Anzeigen, 1784, 131–136; Hazzi, Betrachtungen, 23–76; Johann Karl Kottmann, Denkschrift auf die Hungerjahre 1816 u. 1817. Solothurn o. J., 50; Anon., Witterungsbeobachtungen; Krais, Fortsetzung. 19 Jäger, Dorfchronik, 235; Beyer, Chronik, 164. Zur Hungersnot als tradiertem Teil der Familiengeschichte vgl. etwa: Friedrich Wilhelm Gubitz, Bilder aus Romantik und Biedermeier. Berlin 1922, 22. Zu 1771 als Projektionsfläche bei späteren Teuerungen vgl. etwa die Einleitung von 1892 zu Anon., Die Teuerung von 1770–1772. 20 So beziehen sich etwa die 1921 und 1927 entstanden Arbeiten von Spreckel und Vogt zur Krise der 1770er Jahre explizit auf die Not im Ersten Weltkrieg: Spreckel, Hauschronik, 115; Vogt, Massnahmen, 112. Zu den Hungerjahren dieser Zeit vgl. Daniel Krämer, Christian Pfister, Daniel Marc Segesser (Hrsg.), Woche für Woche neue Preisaufschläge. Nahrungsmittel-, Energie- und Ressourcenkonflikte in der Schweiz des Ersten Weltkrieges. Basel 2016. Zur Laichinger Hungerchronik, einer Fälschung, die während des Weltkriegs entstand, um den Durchhaltewillen der Zivilbevölkerung mit dem Verweis auf die Notjahre 1816/17 zu befördern, vgl. Medick, Hungerchronik. Auch in Bengalen motivierte die Hungersnot von 1943 die Erinnerung an 1770: Hemendra Prasad Ghose. The Famine of 1770. Kalkutta 1942; Kali Charan Ghosh, Famines in Bengal 1770–1943. Kalkutta 1944. 21 Vgl. dazu die typischen Lobgedichte auf die Überwindung der Not, etwa in: Beherzigung der Zeit, 1772, 365–384. 22 Sie beginnt spätestens mit der altägyptischen Hungersnot-Stele aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert: Paul Barguet, La stèle de la famine, à Sehel. Kairo 1953.

370

Bewältigen

Mitteln nicht mehr auszudrücken war.23 Als bewährtes Analyse­instrument kann die aus der Literatur übertragene framing-theory dienen. Sie untersucht anhand des gewählten Ausschnitts, des Zeitpunkts und der Rahmung des Dargestellten gezielt jene Bereiche, die ausgelassen oder verdeckt wurden.24 Studien solcher Sichtbarkeitsregime legen nahe, dass bildliche Darstellungen eine eng begrenzte Topik aufweisen. Dies geht auch auf die nötigen Medienwechsel zurück. Auf dem Weg vom Geschehen selbst über den mündlichen oder schriftlichen Bericht bis zum Bild, gingen wichtige Informationen verloren. Dennoch produzieren und reproduzieren visuelle Darstellungen nonverbales Wissen oft äußerst erfolgreich und vermögen kollektive Erinnerungen über lange Zeit hinweg zu prägen. Zwar können beispielsweise Gemälde nur einen zweidimensionalen und zeitlich begrenzten Ausschnitt des tatsächlichen Geschehens zeigen. Dafür besitzen sie aber die Fähigkeit, das flüchtige Geschehen dauerhaft festzuhalten, tendenziell zu entindividualisieren und es so einem um 1770 expandierenden Massenmarkt bereitzustellen. Gerade deshalb darf bei der Analyse des Inhalts die Untersuchung der ökonomischen und sozialen Kontexte nicht fehlen. Wer die Auftraggeber, Stifter, Produzenten und Käufer waren, sagt ebenso viel über die Objekte aus, wie die Darstellung selbst.25 Die Vielfalt der materiellen Kultur des Hungers wird bis heute nur selten in den klassischen Archiven überliefert. Oft ist sie in lokalen oder familiären Erinnerungskontexten bewahrt. Einige größere Denkmäler sind in späteren Zeiten Opfer von Stadtentwicklung oder politischen Umstürzen geworden. Einige mussten auch der Konkurrenz mit anderen Erinnerungsanlässen weichen, etwa dem 1870er Krieg mit Frankreich, der sich zum einhundertjährigen Jubiläum ereignete. Dennoch lässt sich auch heute noch eine breite Überlieferung identifizieren, die auf das hohe Bedürfnis der Zeitgenossen nach Visualisierung und Memorierung hinweist.26 Im Bereich der figurativen Zeugnisse zählen zu den prominentesten Objekten eine Reihe öffentlicher Monumente. In Hamburg entstand in Reaktion auf die Krisenjahre das erste dezidiert öffentliche Denkmal der Stadt überhaupt (Abb. 10). Es erinnerte an die verheerende Elbflut im Sommer 1771 mit ihren vielen Todesopfern und enormen Zerstörungen. Das Monument überführte die kurzfristigen, performativen Gedenkaktionen, wie einen städtischen Buß- und Bettag, in eine dauerhafte Form. Das Ausmaß der Flut wurde zunächst mit einer konventionellen Hochwassermarke dokumentiert. Der Bau eines Gedenksteins ging nachfolgend von den städtischen Behörden aus und wurde vom Rat finanziert, der damit 23 Vgl. etwa: Juneja, Schenk, Disaster. 24 Robert N. Entman, Framing. Towards Clarification of a Fractured Paradigm, in: Journal of Communication 43, 1993, 51–58. Zur Anwendung in den Bildwissenscaften: Susan Sontag, Regarding the Pain of Others. New York 2003. 25 Schulz, Normality. 26 Die vermutlich breiteste Dokumentation zu Zeugnissen aus Zentraleuropa besitzt das Ulmer Museum der Brotkultur.

Die materielle Kultur des Hungers

371

auch auf sein Engagement in der Folgenbeseitigung hinweisen wollte. 1774 wurde das »Denkmahl« in Form eines von einer Urne gekrönten Steinobelisken eingeweiht. Eine Inschrift verwies recht distanziert auf die »Regengüsse eines trüben Sommers« die der Stadt »ungewohnte Gefahren« gebracht habe und markierte die Höhe der Flut mit einem Strich. Zum einhundertjährigen Jubiläum 1871 entstand – nun durch einen Bürgerverein finanziert – ein zweites Denkmal am Ort des Deichbruchs. Anders als der obrigkeitliche Vorläufer bezog es sich explizit auf den göttlichen Beistand, verwies sonst aber ebenfalls nur auf die entstandenen »grossen Nöthe«. Der soziale Kontext der Katastrophe und die Opfer wurden in beiden Fällen ausgespart.27 In der Residenzstadt Bonn ­entwarf man im Gefolge der Hungersnot hingegen ein traditionelleres Ruhmesdenk­mal auf den Kurfürsten. Ein erster Phantasie­ entwurf erschien bereits auf einer Gedenkmedaille, die unmittelbar nach dem Ende der Teuerung die Hilfsmaßnahmen Maximilian Friedrichs feierte. 1777 errichtete die Bürgerschaft dann auf den ausdrücklichen Befehl des Kurfürsten einen zentralen Obelisken für den Bonner Marktplatzbrunnen. Die Inschrift huldigte dem Herrscher, der mit seiner vorausschauenden Getreidepolitik der extremen Witterung getrotzt habe. Diese Form selektiven obrigkeitlichen Gedenkens blieb aber nicht unwidersprochen. Die Bonner Bürger bedankten sich zunächst mit doppelsinnigen Inschriften. In der Revolutionszeit schlugen sie die Fürsteninsignien schließlich ganz ab.28 In Muskau feierte ein Denkmal stattdessen die bürgerlichen Menschenfreunde, die in der Not für das Armen- und Schulhaus gespendet hatten. Auf dem Steinquader mit Metallurne ließ sich aber in gleicher Größe auch der Finanzier Hermann Graf von Callenberg feiern (Abb. 11). Unter den veränderten Bedingungen von 1871 war dies möglicherweise der Grund, warum das Monument seinen Platz auf dem Markt einem Kriegerdenkmal überlassen musste. Dafür errichtete man zur gleichen Zeit in Marienberg dem bürgerlichen Initiator der dortigen Armenanstalten Johann Ehrenfried Wagner zum einhundertjährigen Jubiläum eine aufwendige Gedenksäule.29 Auch in diesen Fällen standen jeweils die Geehrten im Vordergrund. An die Opfer wurde, wenn überhaupt, nur in der abstrakten Form der Urne erinnert. 27 Das erste Denkmal wurde mehrfach versetzt und nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine bis heute bestehende Bronzetafel an der Oberhafenbrücke ersetzt. Plagemann, Denkmäler, 81–83. 28 Dem Lob »quod Annonae infelici tempestate feliciter prospexit« fügten sie einen mehrdeutigen Kommentar zur ungewöhnlich verordneten Entstehung hinzu: »Du grubst dein Denkmal selbst in unsre Herzen ein«. Josef Niesen, Bonner Denkmäler und ihre Erbauer. Königswinter 2013, 10–12. 29 Jahn, Roboter, 623. Anders als dort angegeben, hat sich das Denkmal bis heute auf dem Muskauer Kirchplatz erhalten. Muskauer Anzeiger 186, 20.2.2006, 14 sowie Abb. 11. Die Wagnersäule von 1871 befindet sich in der Herzog-Heinrich-Straße in Marienberg. Seyffarth, Krieg 45 f. Zu Wagners Hilfsprojekten vgl. Kap. IV.5.2.

372

Abb. 10: Flutdenkmal in Hamburg mit Marke des Wasserstands am 21.7.1771, Zustand um 1900.

Bewältigen

Abb. 11: Hungerdenkmal, Bad Muskau 1778.

Ein weiteres Format des Gedenkens bildeten kleinere ›Hungersteine‹ oder ›-tafeln‹. In der Kirchenmauer der Wallfahrtskirche Heilig Blut in Erding visualisierte ein solcher Stein die schrumpfende Größe der Brotlaibe vor und während der Teuerung. Ein ähnliches Objekt befindet sich am Eingang der Heilig-Geist-Kirche in Burghausen am Inn (Abb. 12).30 In Rachlau in der Oberlausitz oder im württembergischen Neulautern dokumentierten vermutlich selbst gefertigte Steintafeln an Bauernhäusern die enormen Lebensmittelpreise der Hungerjahre. Die abstrakteste Form findet sich im sächsischen Hochkirch, wo ein Hungerstein als Teil der Trockenmauer vor einem Wohnhaus allein die Jahreszahl 1772 vermerkt (Abb. 13 und 14).31 Wie im Fall der figurativen Denkmäler belegt die Ausführung in Stein den Willen zur Dauerhaftigkeit. Anders als die Hochwassermarken, die in den Hunger 30 Johann Nepomuk Kiblinger, Die Wallfahrt Hl. Blut in Erding. Altenerding o. J., 17; Birgit Angerer, u. a. (Hrsg.), Gutes Wetter, Schlechtes Wetter. Finsterau 2014, 13. Als ›Hungerstein‹ bezeichnet man sonst auch Markierungen in Flüssen, die nur in Phasen extremer Dürre zum Vorschein kommen. 31 In Rachlau mahnte die Inschrift den Passanten zusätzlich: »Bedenke du der du mir nach kommst das du auch einmal davon musst«: http://www.deutschefotothek.de/documents/ obj/90082138. Die Tafel in Neulautern wurde vermutlich retrospektiv angefertigt und führt auch

Die materielle Kultur des Hungers

373

Abb. 12: Gedenkstein an die geringe Größe des Kreuzerbrots, Heilig-Geist-Kirche Burghausen am Inn (Angerer, Brot, 13).

jahren überall angebracht wurden, motivierten sie aber keine konkreten Schutzmaßnahmen. Einen Kontext, der über die bloße Dokumentation und Ermahnung hinausging, lieferten diese Gedenkobjekte nicht.32

die Preise der Teuerungen 1784 und 1817/17 auf: https://de.wikipedia.org/wiki/Neulautern; http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/80139771/ (Hochkirch) [jeweils 20.3.2017]. 32 Zu Hochwassermarken vgl. Weikinn, Witterungsgeschichte, 201 f. Zur ihrer zentralen Funktion für Vorsorgemaßnahmen vgl. Pfister, Monster.

374

Bewältigen

Abb. 13 und 14: Hungersteine 1772, Hochkirch, Erzgebirge sowie Rachlau, Lausitz mit ­VanitasSpruch und Preisangaben.

Die materielle Kultur des Hungers

375

Eine Ausnahme macht allein der Lößnitzer Hungerstein aus dem Erzgebirge. Seine Inschrift feierte den bürgerlichen Wohltäter Michael Landgraf, der durch die Anlage eines Gartens den Hungernden während der Teuerung ein Einkommen verschafft hatte. Die Stele bildete einen Teil der Gartenmauer, die durch diese Arbeitsbeschaffungsmaßnahme entstandenen war, machte in ihrer Inschrift aber zugleich konkrete Angaben über die Zerstörungen der »Wasserfluth«. Sie verwies explizit auf die »600 Menschen«, die vor Ort »größtenteils am Hunger«, aber auch am Faulfieber verstorben waren, und bat: »Gott lasse uns und unsere Nachkommen diese Plagen nicht wieder erfahren!« Während die ungewöhnlich konkrete Erwähnung der Hungertoten unbeanstandet blieb, erregte der Verweis auf Gott und bürgerliche Wohlfahrt später den Unmut der DDR-Behörden. Dies führte zunächst zur Entfernung und im Gefolge der Wiedervereinigung zur demonstrativen Rekonstruktion des Denkmals.33 Neben solchen Memorialobjekten dienten auch physische Bauten als Erinnerungsträger. In Obersulm bei Heilbronn versah man den 1771 von der Stadt neuerrichteten Getreidespeicher demonstrativ mit den Höchstpreisen der Hungersnot, die das Gebäude zukünftig verhindern sollte.34 In Schneeberg vergegenwärtigte hingegen eine ›Pagode‹ die Notzeiten, die ebenfalls mitsamt einem Garten als Arbeitsmaßnahme für die Armen entstanden war (Abb. 15). Sie visualisierte neben dem sozialen Engagement des Finanziers stillschweigend auch die extreme Ungleichheit der Hungerjahre: Während die einen der Natur in luxuriösen Gartenanlagen huldigten, litten die anderen unter ihren Kapriolen extreme Not. Besonders intensiv wurde das in der Krise gegründete Dresdener Armeninstitut erinnerungspolitisch genutzt. Es diente über Jahrzehnte als öffentlichkeitswirksamer Ausweis des bürgerlichen Engagements der Freimaurer-Logen, die als Träger des Instituts fungierten.35 Auch in diesen Fällen bewahrten die Objekte regelmäßig mehr Informationen über die Spender als über die historischen Ereignisse selbst auf. Oftmals dürften informelle Gedenkorte das konkrete Geschehen daher viel plastischer memoriert haben. Dazu gehören etwa volkstümliche Orts- und Flurnahmen. Ein Feld, das während der Hungerkrise für einen Roggenlaib verkauft worden war, erhielt nun den Namen »Brotwiese«. Ein Gebäude, das in der Krise für zwei Brote den Besitzer gewechselt haben soll, bezeichnete man fortan als »Brotmännel-Haus«. Solche Assoziationen aktualisierten konkrete, nachvollziehbare Asymmetrien der Notzeit jenseits der öffentlichen Erinnerungspolitik.36 Gleiches 33 H. Göppert, Der Lößnitzer Hungerstein, in: Lößnitzer Heimatblatt 260, 30.5.2012, 14; ebd., 261, 27.6.2012, 12 und ebd., 262, 25.6.2012, 8. 34 Göppert, Hungerstein, 12; https://de.wikipedia.org/wiki/Obersulm [20.3.2017]. 35 Neben Gedenkmünzen zur Gründung und zum einhundertjährigen Bestehen mit der Silhouette des Armeninstituts zirkulierten zahlreiche Drucke (etwa ein Plan von Traugott Leberecht Tangermann; http://skd-online-collection.skd.museum/de/contents/show?id=1248877) und Illustrationen. Vgl. etwa: http://freimaurer-wiki.de/index.php/Freimaurerinstitut [jeweils 20.3.2017]. 36 Jäger, Dorfchronik, 286; Kurz, Klassiker, 273.

376

Bewältigen

Abb. 15: Pagode des Sieberschen Gartens in Schneeberg im Erzgebirge, 1771/1772 als Arbeitsmaßnahme für Erwerbslose erbaut.

Die materielle Kultur des Hungers

377

galt für viele private Memorialobjekte, wie ein Gedenkkästchen mit winzigem Hungerbrot (Abb. 16). Es nutzte zwar den konventionellen Topos der schwindenden Kaufkraft, bettete dies mit dem beigegebenen Begleitspruch jedoch in den Kontext persönlicher Not einer identifizierbaren Einzelperson im häuslichen Umfeld ein.37 In der kollektiven, öffentlichen Erinnerung finden sich keine vergleichbaren Präzisierungen des Leids. Hier dominierten das Stiftergedenken und die christliche Einbettung, während das konkrete Krisengeschehen in einer entindividualisierten Überlebensmetaphorik aufgehoben und entschärft wurde. In der Bildtradition der Hungersnot finden sich ähnliche Schwerpunktsetzungen. Obwohl Gemälde und Stiche eine facettenreichere Darstellung erlaubt hätten, dominierten auch hier abstrakte Rahmungen. So zeigt ein Augsburger Kupferstich den Ablauf der Hilfsmaßnahmen in der Stadt, vom Getreideimport bis zur Ausgabe von Brotpfenningen und Armenspeisen sowie der Verteilung von Arbeit. Tatsächlich Notleidende werden aber nicht gezeigt. Stattdessen wird das Geschehen durch einen Sinnspruch perspektiviert. Er lobt rückblickend Gott, die »liebe Obrigkeit« und sogar »des Kaufmanns Herz« für die Linderung des Hungers, obwohl die städtischen Hilfen in der Realität weit weniger effektiv verlaufen waren.38 Vergleichbare Hervorhebungen und Verdrängungen finden sich ausgesprochen häufig – selbst in lokalen Konstellationen. So wurde das Thema der Hungersnot auch in der Reihe der Augsburger ›Friedensgemälde‹ aufgegriffen, die seit dem Westfälischen Frieden alljährlich als Druck an die Familien der evangelischen Schulkinder der Stadt ausgegeben wurden. Hier entschied man sich für eine historische Rahmung, welche die aktuelle Notlage mit einem Schlüsselereignis der protestantischen Stadtgeschichte parallelisierte: der Hungersnot während der Belagerung durch kaiserliche Truppen im Winter 1634/35.39 Wie das beigegebene Gedicht erklärt, symbolisieren zwei Personengruppen in historischen und 37 Petz, Bayern – Ungarn, 302 f. Weitere Hungerbrote der Teuerungszeit dokumentiert Eichhorn, Hungersnot, 7. 38 Eine Abbildung bietet Kumpfmüller, Hungersnot, 131. Das Original im Museum der Brotkultur (Photoarchiv, Nr. 3054) ist heute nicht mehr auffindbar. Zur tatsächlichen Situation in Augsburg vgl. Kap. IV.1.6. Wer die Auftraggeber, Adressaten und Käufer solcher Illustrationen waren, lässt sich oft nur erahnen. Der Stecher und Verleger des Augsburger Drucks Johann Martin Will arbeitete weitgehend unabhängig für den populären Markt. Seine Abnehmer sind vermutlich in der städtischen Bürgerschicht zu suchen. Diese profitierte von den dargestellten Hilfsmaßnahmen oder finanzierte sie und suchte nach dem Ende der Not in solchen Darstellungen Orientierung und ›closure‹. Vgl. Helmut Gier, Johannes Janota, (Hrsg.), Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wiesbaden 1997, 1293 sowie Schulz, Normality. 39 Die Friedensgemälde wurden zwischen 1651 bis 1789 alljährlich als Einblattdrucke zum Augsburger Hohen Friedensfest zum Gedächtnis des Westfälischen Friedens veröffentlicht. Das Exemplar für das Folgejahr thematisiert angesichts der nötigen Brotausgaben die biblische Speisung der Fünftausend. Helmut Gier, Friedensgemälde, in: Ders. (Hrsg.), 350 Jahre Augsburger Hohes Friedensfest. Katalog der Ausstellung der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, 22. Juli bis 22. Oktober 2000. Augsburg 2000, 115.

378

Bewältigen

Abb. 16: Gedenkkästchen der Bäuerin Maria Spanner aus Dornwang mit kleinem Kreuzerwecken von 1772.

Die materielle Kultur des Hungers

379

in aktuellen Gewändern die Bevölkerung der jeweiligen Notjahre. Sie umringen die Stadtpatronin Augusta in der Mitte. Über den Gläubigen, die Gott für den Westfälischen Frieden und das Ende der Teuerung danken, schüttet ein Engel sein Füllhorn aus. Außergewöhnlich sind hier die konfessionelle Rahmung, die auf die Bildtradition der Friedensgemälde zurückgeht, sowie die Einbettung in die Lokalgeschichte. Auch in diesem Fall wird die konkrete Not aber völlig ausgespart. Die dargestellten ›Hungernden‹ zeigen keine Anzeichen von Auszehrung und tragen sorgfältig ausgearbeitete historische und zeitgenössische, aber keineswegs ärmliche Kleidung. Trotz des historisierenden Zugriffs liegt der Fokus nicht auf dem Geschehen selbst, sondern auf der religiösen Rahmung des Überlebens. Diese Tendenz zeigt sich auch in populären Bildwerken, die weniger stark durch den obrigkeitlich-didaktischen Einfluss normiert waren. Ein Flugblatt aus Nürnberg nutzte mit der »Accuraten Abbildung« der kleinen Brotgrößen der Teuerungszeit einen verbreiteten Bildtopos. Gleiches galt für eine handgeschriebene und -gemalte Preisliste, die den (vermutlich familiären) Betrachter vor Übermut und Sünden warnen wollte.40 In einigen Fällen wurde auch das Wetter thematisiert, obwohl die Regenanomalie mit bildlichen Mitteln nur schwer darstellbar war. Ein Stich aus Meissen dokumentierte sie anhand der Überschwemmungen des Stadtzentrums zum Jahrmarkt 1771 (Abb. 2). Eine zeremonielle Zielscheibe der Fürther Schützenbruderschaft von 1773 bebilderte den Witterungsverlauf in zwei Veduten (Abb. 17). Eine zeigte die leeren Felder und den wolkenverhangenen Himmel sowie die kargen oder vom Sturm geknickten Bäume des Jahres 1771. Die zweite kontrastierte dies mit den fruchtbaren Äckern und dem Sonnenschein des Folgejahres. Die in der unteren Bildhälfte in das Schießgelände einfliegende Taube mit dem Ölzweig situiert die Witterungsanomalie sogar im Rahmen der biblischen Sintflut.41 Auch hier wird das konkrete Geschehen retrospektiv weitgehend ausgeblendet und ins Allegorische gehoben. Die einzelne Figur auf der Schützenscheibe, die um besseres Wetter fleht, bildet die einzige Referenz an die Noterfahrung. Nur sehr wenige Illustrationen weichen von diesem Schema ab. Der Augsburger Kupferstecher Will vertrieb parallel zu seinem orthodoxen Dankesblatt auch noch einen Druck, der den Wucher mit Getreide thematisierte (Abb. 18).42 Möglicherweise sprach er damit diejenigen Käufer an, die sich im Lob der Stadtobrigkeit nicht wiederfanden. Es zeigte einen zentralen »Profit- und Schnittberg«, der von einem Altar mit dem Teufel bekrönt wurde. Ihm mussten die Schuldner in der Teuerung Feldfrüchte und Besitz ›opfern‹, während einige offenbar entkräftete Gestalten bereits in die Tiefe stürzten. Unterhalb und seitlich des Berges sind 40 Museum der Brotkultur Ulm, Signatur Gr-3.1310 und A-3.432. 41 Die von dem Kaufmann Gottfried Zapf gestiftete Schützenscheibe befindet sich im Besitz der Königlich Privilegierten Schützengesellschaft Fürth. Zu Bestand und Geschichte der Schützenscheiben vgl. http://kpsg-fuerth.de/g1.htm [20.3.2017]. 42 Ein Original befindet sich im Museum der Brotkultur Ulm, Signatur Gr-2.82.

380

Bewältigen

Abb. 17: Schützenscheibe der Schützengesellschaft Fürth auf die Jahre 1771/1772, gestiftet von Gottfried Zapf 1773.

Pfandleiher, Räuber und Wucherer dargestellt, die der Bevölkerung Geld und Besitz abnehmen und deren Tun durch Verweise auf entsprechende Bibelsprüche kommentiert wird. Der beigegebene Sinnspruch erläutert das Geschehen als ›doppelte Katastrophe‹. Er konzediert, dass es zwar einen natürlichen Mangel gegeben habe, dieser aber erst durch menschlichen Wucher zum Desaster gewachsen sei und in der Folge den Mittelsmann zum Bettler gemacht habe. Trotz seiner scharfen Kritik bewegt sich dieser Druck im Rahmen der abstrakten Allegorie und nutzt den traditionellen Wuchertopos angereichert mit den ökonomischen Modellen der Zeit.43 Aus einem privaten Kontext in Erlangen ist hingegen eine ungewöhnlich konkrete Illustration erhalten. Das Gemälde zeigt die Menschenmengen, die sich 43 Ein ähnliches Bildprogramm findet sich auf dem Titelkupfer der polemischen Schrift Anon., Capitalisten.

Die materielle Kultur des Hungers

381

Abb. 18: Johann Martin Will, Die im Jahr Ao. 1770 u. zu Ende des Ao. 1771 gehende Jahr noch immer inhaltende große Theurung und großen Nahrungs Mangel.

in den Hungerjahren vor einer Bäckerei drängen, aus der das Brot vom Bäcker und seiner Frau zur Sicherheit nur noch durch die Fenster ausgegeben wird (Abb. 19). Zwei Käuferinnen stehen traurig vor der verschlossenen Tür. Ein Kind versucht verzweifelt durch das Fenster zu klettern. Die wenig kunstvoll ausgeführten Figuren zeigen durchweg betrübte Mienen. Im Vordergrund verteilt ein Wohltäter Nahrung an einen Hungernden.44 Bei dem Gemälde handelt es sich nicht um ein Sinnbild, sondern um eine konkrete Szenerie. Sie zeigt das Haus der ehemaligen Erlanger Bäckerei von Jean Pierre Puy in der heutigen Goethestraße 32. Dass das Geschehen dennoch aufwendig und formell in Öl festgehalten wurde, möglicherweise im Auftrag des Bäckers, spricht für die Bedeutung, die dieser Situation beigemessen wurde. Die Dramatik entstand hier weniger durch die visuelle Prägnanz der Notdarstellung als durch die identifizierbare, konkrete Situation. Die breiteste Bildtradition der Notjahre findet sich jedoch in einem begrenzten Quellenkorpus, den Hungermedaillen. Solche Sonderprägungen zu Teuerungszeiten besitzen eine lange Tradition. Erste Exemplare stammen bereits aus dem Rom des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts. In verschiedenen Formen wurden sie bis weit ins 20. Jahrhundert angefertigt – etwa während der Inflationszeit 44 Das von Johann Simon Piehlmann 1771 angefertigte Bild im Format 99×83 cm befindet sich heute im Stadtmuseum Erlangen, Signatur N 822.

382

Bewältigen

Abb. 19: Johann Simon Piehlmann, Andrang der Hungrigen vor der Bäckerei Puy in Erlangen.

der zwanziger Jahre, in Erinnerung an die Brotpolitik des Nationalsozialismus oder aus Anlass der Hungerdemonstrationen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Den Höhepunkt ihrer Popularität erreichten diese Memorialobjekte aber im Umfeld der Hungerkrise 1770–1772, weshalb sich spätere Formen oft an diesen Vorbildern orientierten.45 Während die historischen Vorläufer zumeist auf obrig 45 Bereits die ersten Medaillen wurden auch erinnerungspolitisch eingesetzt. Ein römischer Denar von 134 v. Chr. erinnerte vor dem Hintergrund aktueller Krisen an das Vorgehen des legendären Annona-Präfekten Lucius Minucius Esquilinus Augurinus gegen Spekulanten in der Hungersnot 440–439 v. Chr.: www.khm.at/de/object/fb52f1d3fd/. Zur Vorgeschichte der Hungermünzen und weiteren römischen Vorbildern vgl. den Schulvortrag: Johann Gottlieb Bidermann, Mit einem kleinen Beytrage zur Münzgeschichte von Hunger-Münzen ladet zu Anhörung derer Reden, welche bey Antritt des Jahres 1772 sollen gehalten werden. Dresden 1772. Eine Hunger-

Die materielle Kultur des Hungers

383

keitlichen Auftrag von offiziellen Münzstätten in teurem Silber produziert wurden, setzten sich in den Hungerjahren um 1771 zunehmend günstigere Varianten aus Zinn durch. Sie wurden von privaten Medailleuren und Zinngießern fabrikmäßig auf eigenes unternehmerisches Risiko und für einen Massenmarkt der Erinnerung hergestellt. Solche Medaillen konnten nun von einem breiten Publikum in Gasthäusern, Messen oder lokalen Märkten erworben werden.46 Die Motivation für Anfertigung und Kauf bestand im dauerhaften Andenken, das durch das beständige Material gewährleistet wurde. Es orientierte sich zudem am Vorbild historischer Kursmünzen für den Zahlungsverkehr, die für das Geschichtsbewusstsein seit jeher eine zentrale Rolle spielten. Die memorative Funktion erfüllten die Gedenkmünzen über erstaunliche Zeiträume hinweg. Die Prägungen der Hungersnot 1694 wurden noch 1770 breit rezipiert und in den Neuanfertigungen explizit erwähnt, während die Medaillen der 1770er Jahre wiederum über viele Jahrzehnte hinweg und teilweise bis heute, das Bild der Hungerjahre mitgestalten.47 Das Bildprogramm der Gedenkmünzen erweist sich in dieser Blütezeit des Genres als außerordentlich vielfältig. Es entstanden weiterhin Münzen, die von den Obrigkeiten initiiert und programmatisch gestaltet wurden. Sie betonen erwartungsgemäß das Fürstenlob und die restaurative Affirmation einer durch die Krise ins Wanken geratenen religiös-ständischen Ordnung. Eine Gedenkmedaille auf die Getreidelieferungen der Kaiserin Maria Theresia an die Reichsabtei in Wettenhausen zeigt etwa ein Brustbild der Herrscherin umringt von dankbaren Menschen, darunter eine Mutter mit zwei Kindern. Im Hintergrund sind Schiffe beim Löschen ihrer Ladung vor dem Abteigebäude zu sehen (Abb. 20). In diesem Fall ist zusätzlich das gedruckte Programm des Dankgottesdienstes erhalten, bei dem diese Münzen an die Schulkinder ausgehändigt wurden. Auf diese Weise lässt sich das multimedial gerahmte Gedenken vom performativen Medium des Festes über den Druck bis zum Objekt nachvollziehen. Die Rede des Dechanten Zesch ergänzte viele Aspekte, die in der Medaille nicht zu sehen waren. Er rief auch das überregionale Hungergeschehen in Erinnerung, vom polnischen Schauplatz bis zum indischen Bengalen. Insbesondere ergänzte er die religiöse Dimension, die medaille aus der Inflationszeit der 1920er Jahre, die noch nach 150 Jahren das Sachsendenkmal der Jetons von 1770–1772 aufgreift, dokumentiert: http://www.nb-münzverein.de/index-Dateien/ Page4982.htm. Zu Exemplaren aus der NS und Nachkriegszeit vgl. http://baeckerinnung-miltenberg.de/Brot-und-Geschichte/Ohne-Brot/ [alle am 20.3.2017]. Einen Bestandsüberblick über die Exemplare von 1770–73 bieten Eduard Holzmaier, Medicina in Nummis. Sammlung Dr. Josef Brettauer, Wien 1989 sowie Pfeiffer, Ruland, Pestilentia, die für die Krisenjahre 61 verschiedene Prägungen erfassen. 46 Emmerig, Kornjudenmedaillen, 265; Jütte, Bild, 44 f.; Steguweit, Teuerungsmedaillen, 66. 47 Vgl. Anon., Vergleichung sowie Lausitzisches Magazin, 1772, 113–116 (jeweils mit Abbildungen einer Münze von 1694) oder Imhof, Bilder-Saal, 56–58 sowie Jütte, Bild, 42–45 zur Übernahme von Motiven und dem expliziten Vergleich von 1694 und 1772. Zur Bedeutung des Quellentyps heute vgl. Steguweit, Teuerungsmedaillen.

384

Bewältigen

in der Prägung auffallend fehlte, und versuchte die Konkurrenz von religiöser und weltlicher Fürsorge durch das Bild von Gott als »Brotvater« und Maria Theresia als »Brotmutter« aufzulösen.48 Die Gedenkmünzen selbst sollten seiner Hoffnung nach symbolisch den Platz des Mannas einnehmen, das auf der Arche in Erinnerung an den göttlichen Bund aufbewahrt werde. Die Ausgabe an die Kinder zielte wiederum darauf, den Respekt gegenüber den Obrigkeiten wiederherzustellen und in zukünftigen Generationen die Erinnerung an Not und Hilfe nicht verblassen zu lassen.49 Vergleichbare Medaillen weltlicher Obrigkeiten erschienen auch in Bonn oder Weimar, um der Hilfsmaßnahmen von Kurfürsten und Stadt zu gedenken.50 Dieses reduzierte, offizielle Programm der Bestätigung ständischer Ordnung wurde durch eine ganze Reihe privater und kommerzieller Hungermünzen ergänzt. Eine Vielzahl dieser Medaillen stellte die hohen Preise der Notjahre in den Mittelpunkt, was sich angesichts der Nähe zu Kursmünzen anbot. Auf der Kehrseite werden diese Angaben häufig von einem Landesdenkmal (Sachsensäule/-denkmal) begleitet und so angesichts der bescheidenen Hilfen der Fürstenhäuser eher geographisch als herrschaftlich gerahmt.51 Andere Ausführungen illustrieren das in den Memorialobjekten sonst kaum thematisierte Wetter. So zeigt eine Medaille Wolken, aus denen heftige Regengüsse fallen, samt einer leeren Scheune und hungernden Menschen, welche die Frage an den Himmel richten: »woher nehmen wir Brod« (Abb. 21). Neben ihnen zeigt die Münze das ausgesprochen seltene Bild eines liegenden, ausgemergelten und vielleicht bereits verstorbenen Mannes am Boden. Auf der Rückseite wird hingegen Sonnenschein mit wogenden Feldern dargestellt und Gott für die Wetterbesserung gedankt. Eine andere Medaille zeigt einen Engel mit Sense über einer überschwemmten Fläche mit Menschen und Booten.52 Weitere Gedenkmünzen behandelten das Thema sogar in seiner jahreszeitlichen Prozessualität. Die aufwendigste Form stammt aus der Werkstatt des 48 Zesch, Kanzelrede, 7–14. Zur Münze vgl. Pfeiffer, Ruland, Pestilentia, Nr. 110; Museum der Brotkultur, Ulm, Signatur O-702. 49 »Diese Denkmünze theile ich meinen anwesenden Hörern aus. Sie werden dieselbe ihren Kindern zeigen, erklären, und als einen Schatz aufbewahren. Die Kinder werden sie ihrer Nachkommenschaft ausweisen. So wird das dritte und vierte Geschlecht an die Wohltat denken, wofür wir heute danken.« Zesch, Kanzelrede, 26. Heute sind vor allem Exemplare aus Silber erhalten, vermutlich wurden für die Schulkinder aber günstigere Exemplare aus Zinn angefertigt. Anderswo wurden die Denkmünzen auch den Erinnerungskapseln neuerrichteter Kirchtürme beigegeben. Lausitzisches Magazin, 1774, 248. 50 Das Bonner Exemplar erschien auf Anordnung des Bürgermeisters und zeigte Engel, die das Monogramm des Kurfürsten halten. Darunter sind ein belebter Marktplatz, ein Bienenkorb als Symbol des Fleißes sowie ein Phantasiedenkmal auf den Herrscher zu sehen, das einige Jahre später umgesetzt wurde. Auf dem Weimarer Exemplar verkündet ein Engel »AUF VERORDNUNG EINER HOHEN K[ommission] DER STADT WEIMAR WIRD DEN ARMUTH GEHOLFEN. Pfeiffer, Ruland, Pestilentia, Nr. 108 sowie Museum für Brotkultur, Ulm, Signatur O-1298. 51 Pfeiffer, Ruland, Pestilentia, Nr. 111–120. 52 Ebd, Nr. 125, 164; Museum der Brotkultur, Ulm, Signatur O-3143.

Die materielle Kultur des Hungers

385

Fürthers Medailleurs Johann Christian Reich. Er schuf eine Serie von Jetons, die jeweils ein Quartal des Jahres 1772 thematisierten. Die erste zeigt eine Waage und weist in einem Begleitspruch auf die Hungertoten hin, die in offiziellen Memorialobjekten sonst kaum direkt erinnert wurden: »DIE THEURUNG SO GROSZ / DAS VIELE 1000. FÜR HUNGER / VERSCHMACHTETEN.« Die zweite zeigt den personifizierten Tod, der mit Sense in ein Hausfenster einsteigt, während auf dem Platz hinter ihm demonstrativ ein unbegrabener Leichnam liegt. Der Begleitspruch mahnt: »DER TOD IST IN UNSERE HAUSER KOMEN« und verweist auf eine Bibelgeschichte (Jer. 9.21). Die Rückseite konstatiert: »GROSE KRANKHEITEN / UND STERBEN / VIELE 1000. AN HUN / GER UND FAULENTEN / FIEBERN GESTORBEN« (Abb. 22). Die dritte und vierte Münze zeigen für Sommer und Herbst 1772 eine Sonne und einen Regenbogen sowie einen sitzenden Jüngling am reich gedeckten Tisch unter dem Auge Gottes. Sie verweisen auf gute Ernte, fallende Preise und göttlichen Segen. Für den kleineren Geldbeutel erschien auch eine Medaille, die alle vier Bilder zugleich zeigte. An dieser Serie ist nicht nur der chronologische Zugriff bemerkenswert, sondern auch die ungewöhnlich direkte Darstellung der Hungertoten. Obwohl sie wieder nur allegorisch erfolgt, lässt sie sich in dieser Drastik in keinem anderen Gedenkmedium nachweisen.53 Bezeichnenderweise spielt in diesen populären Prägungen die Fürsorge der Obrigkeiten überhaupt keine Rolle. Mehrere Denkmünzen artikulieren hingegen offene Kritik an der mangelnden Hilfe. Eine weitere Medaille aus Reichs Werkstatt zeigt etwa eine die Hoffnung personifizierende, sitzende Figur, die auf eine Schnecke deutet, während sich in weiter Ferne ein Schiff nähert. Der Sinnspruch formuliert: »DIE HOFFNUNG BESSRER ZEITEN / WENN KOMMT SIE / SIE FRAGT NACH GUTEN LEUTEN / WO SIND SIE.« Das Denkmal auf der Kehrseite antwortet: »HIER IST KEINER NICHT EINER«.54 Ein anderes Exemplar thematisiert die ambivalente Figur des biblischen Joseph und zeigt ihn vor der Schar seiner verzweifelten Brüder mit dem Spruch: »DIE THEURUNG IM LAND MACHT IOSEPH BEKANNT.« Ob hier mangelnde Vorsorge oder grassierender Wucher thematisiert wird, bleibt dem Betrachter überlassen.55 Damit stehen diese kommerziellen Denkmünzen nicht nur in markantem Kontrast zum offiziellen, obrigkeitlichen Gedenken. Sie widersetzen sich teilweise auch dem üblichen Modus, am Ende der Hungersnot versöhnliche Worte zu finden und die aus den Fugen geratene Ordnung demonstrativ wiederherzustellen. Eine besonders konfrontative Gattung der Gedenkmünzen stellen die sogenannten Kornjudenmedaillen dar. Einige Vorbilder erschienen bereits in der Hun 53 Pfeiffer, Ruland, Pestilentia, Nr. 138–144. Eine ausführliche, bebilderte Beschreibung bietet Roland Müller auf: http://odophil.ch/numismatik/medaillen/hunger/hunger.html [20.3.2017]. 54 Pfeiffer, Ruland, Pestilentia, Nr. 160; Museum der Brotkultur, Ulm, Signatur O-3146. 55 Pfeiffer, Ruland, Pestilentia, Nr. 154 (während die Nummern 152 und 153 Joseph eindeutig positiv konnotierten). Zur umstrittenen Deutung des Person Joseph vgl. Jütte, Bild, 47 f.

386

Bewältigen

Abb. 20: A. König, Gedenkmedaille für die Getreidezufuhr durch Maria Theresia, Wetten­ hausen 1771.

Abb. 21: J. L. Oexlein, Gedenkmedaille auf die Hungersnot 1770/71.

Abb. 22: Johann Christian Reich, Das zweite Vierteljahr, Gedenkmedaille an die Hungersnot, Fürth 1772.

Die materielle Kultur des Hungers

387

Abb. 23 und 24: Johann Christian Reich, Kornjudenmedaillen, Fürth 1772.

gersnot von 1694. In den 1770er Jahren erfuhren sie aber parallel zu den antijüdischen Strömungen der Hungerjahre ihre größte Verbreitung. Bereits die ersten Fassungen des Medailleurs Christian Wermuth aus Gotha bedienten sich antijüdischer Topoi, von der Anspielung auf den Ewigen Juden bis zur populären Assoziation von Jude und Teufel. In den Exemplaren um 1771 verstärkte sich diese Tendenz noch.56 Ihr Bildprogramm zeigt etwa einen korpulenten Kornjuden, der Getreide aus dem Land führt, aber durch einen Teufel ins Unglück gestürzt wird, der seinen Sack aufschlitzt (Abb. 23). Der Wucherer endet wahlweise im Höllenschlund oder am Galgen – ein Bild der Gewalt, das in der Hungerkrise 1816/17 aufgegriffen und mit weitreichenden Folgen antisemitisch aufgeladen wurde.57 In einer Variante wird der gesellschaftliche Konflikt nicht nur impliziert, sondern auch direkt visualisiert und vergeschlechtlicht. Sie stellt dem männlichen Kornjuden eine weibliche Person gegenüber, die für die Armut steht, ihre Fäuste gegen ihn erhebt und ihn stellvertretend für den Betrachter anklagt (Abb. 24). Diese Medaillen bedienten populäre Ressentiments, wie sie auch von den Obrigkeiten genutzt wurden. Sie entstanden aber nicht in herrschaftlichem Auftrag, sondern wurden in Eigeninitiative für den Massenmarkt produziert. Ein großer Teil stammt wieder aus der Werkstatt Johann Christian Reichs in Fürth, der diese »Gedächtnis«-Münzen kommerziell und in großem Stil über Messen und Zwischenhändler an Privatleute verbreitete.58 Der Bildtopos des Kornjuden folgte dem allgemeinen 56 Jütte, Bild, 31 f., 42. 57 Ebd. sowie Pfeiffer, Ruland, Pestilentia, Nr. 127–137 sowie Behringer, Tambora, 64–68, 226–235. Zum populären Motiv des erhängten Kornjuden vgl. bereits die fiktive Selbstbezichtigung eines reformierten Spekulanten in: Anon., Sendschreiben eines Kornhändlers. 58 Vgl. Kap. IV.3.3. sowie Jütte, Bild, 45. Reich war sich dabei der spezifischen Bedürfnisse seiner Zielmärkte offenbar klar bewusst. Während er für das Reich judenfeindliche Medaillen

388

Bewältigen

Bedürfnis, einen fassbaren Schuldigen für das komplexe sozionaturale Geschehen ausfindig zu machen. Implizit kritisierte er auch die Obrigkeiten, die den Wucherern nicht entschlossen genug entgegen getreten waren. Auch in diesem Fall trug das gewählte Sujet aber dazu bei, das konkrete Geschehen weitgehend zu externalisieren. Mit der Biologisierung in der Figur des Kornjuden wurde die Not zugleich nach außen projiziert und entindividualisiert. Zur materiellen Kultur des Hungers gehörten aber nicht nur diese dezidierten Erinnerungsobjekte. Im weiteren Sinne lässt sich dazu auch ein breites Ensemble an unintendierten Zeugnissen zählen. Es reichte von den im Arbeitseinsatz entstandenen Straßen über die ad-hoc angelegten Kornspeicher und die leeren Höfe der Ausgewanderten bis zu den Gräberfeldern, die bezeichnenderweise kaum überliefert und erhalten sind. Alltagsgegenstände vergegenwärtigen die Not mit ihren scharfen sozialen Trennungen oft viel unbarmherziger als die eigentlichen Gedenkstücke. So materialisieren die »Brotpfennige« (Abb. 7 und 8) und Armenmarken, die in den Städten für den Bezug von Armenspeisen ausgegeben wurden, existentielle Not, frappierende Ungleichheit und die tiefgreifende Stigmatisierung der Hungernden.59 In ihrer münzförmigen Gestalt illustrieren sie zugleich die Ökonomisierung von Fürsorge und die zunehmende Abkehr vom traditionellen, persönlichen Almosen. Damit bewahren sie jene Facetten der Not, die im offiziellen, versöhnenden Gedenken marginalisiert wurden. Schließlich trat zu der materiellen auch die immaterielle Erinnerungskultur. Sie artikulierte sich etwa in Dankgottesdiensten oder Prozessionen. Gerade in langsamen Katastrophen, deren Anfang und Ende offen waren, kam solchen Ritualen eine besondere Rolle zu. So wie zu Beginn der Übergang von der Teuerung zur Hungersnot erst kommunikativ markiert werden musste, erforderte auch ihr Ende einen performativen Bruch mit dem Vorhergegangenen. Daher gedachte man des Abklingens der akuten Not oder der ersten bessere Ernte 1772 mit Festgottesdiensten oder Wallfahrten. Eine besondere Rolle spielte häufig eine örtliche Prozession der Kinder, die in den neuen Armenanstalten untergebracht waren.60 Vermutlich fertigte, thematisierte er auf Jetons für den französischen Markt den Stadt-Land-Gegensatz: »LE PAIN PETIT, 1772 / LE GRENIER VUIDE / LE PAISAN TROMFE / LE BOURGEOIS T ­ IMIDE.« Pfeiffer, Ruland, Pestilentia, Nr. 150. Ehrbaren Besuchern zeigte er hingegen nur eine neutrale Auswahl seiner Gedenkmünzen. Vgl dazu und zu seiner Biographie: Johann Michael Füssel, Unser Tagbuch: oder, Erfahrungen und Bemerkungen eines Hofmeisters und seiner Zöglinge auf einer Reise durch einen grossen Theil des Fränkischen Kreises nach Carlsbad und durch Bayern und Passau nach Linz. Bd. 3. Erlangen 1791, 48–60. 59 Vgl. Kap. IV.1.6. sowie zu den erhaltenen Exemplaren Pfeiffer, Ruland, Pestilentia, 41; Museum der Brotkultur, Ulm, Signatur O-1113. Zu den Münchener Marken vgl. Churbaierisches Intelligenzblatt vom 18.1.1771 sowie http://ww2.smb.museum/ikmk/object_print. php?lang=de&id=18205795. Exemplare aus Schottland finden sich etwa im Hunterian Museum, Signatur GLAHM C.1962.4 und C.1962.10 sowie 16585. http://collections.gla.ac.uk [jeweils 20.3.2017]. 60 Miscellanea Saxonicae, 1772, 373–376; Zesch, Kanzelrede; Weller, Predigt.

Die materielle Kultur des Hungers

389

etablierte sich am Ende der Krise auch bereits ein neues Festformat. Statt wie sonst üblich, den Abschluss der Ernte festlich zu begehen, nutzte man nun den Einzug des ersten Erntewagens für einen Umzug durch den Ort – ein Ritual, dass sich in der Hungerkrise 1816/17 überregional verbreitete.61 Ähnlich wie in Gottesdiensten und Wallfahrten formierte sich in diesen Umzügen die örtliche Gesellschaft wieder neu. Geistige und weltliche Obrigkeiten, Honoratioren, Zünfte und Bürger nahmen im lokalen Raum demonstrativ wieder ihren angestammten Platz ein. Der Schwerpunkt lag in der performativen Wiederherstellung und Affirmation der ständischen und städtischen Ordnung, die in der Notzeit in Turbulenzen geraten war. Die armen Kinder wurden symbolisch in das gebührende Verhältnis zu ihren wohlhabenderen Rettern gesetzt, während Kirche und Fürsten erneut den strukturierenden Rahmen des Geschehens bildeten. Konflikte oder Umstellungen der Rangordnung sind in diesem Zusammenhang nicht überliefert. Die Veranstaltungen zielten vielmehr auf ›closure‹, auf die mentale und kollektive Beendigung der extremen Notsituation.62 Solche Rituale des Abschlusses erreichten nicht nur einen großen Teil der überlebenden Bevölkerung. Sie konnten trotz ihres flüchtigen Charakters auch dauerhafte Spuren hinterlassen. Zum einen wurden sie in Zeitungen und Drucken fixiert. Zum anderen wog die Noterfahrung so schwer, dass die Gedenkfeierlichkeiten vielerorts jährlich wiederholt und zum Teil bis heute fortgesetzt werden. Im böhmischen Maffersdorf erinnerte man 70 Jahre lang alljährlich im Rahmen eines feierlichen Gelöbnistages an die Hungerjahre, bis sie 1848 durch die Revolutionsereignisse überlagert wurden. Im hessischen Wilsbach entstand angesichts der verheerenden Unwetter in der Notzeit ein jährlicher »Hagelschlagtag«, eine Tradition, die noch heute im Rahmen eines Gottesdienstes fortlebt. Im oberbayerischen Heldenstein stiftete man im Gedenken an die Hungerjahre eine Votivkerze in der Wallfahrtskirche Kirchisen. Auch hier wird die zugehörige alljährliche Wallfahrt bis zum heutigen Tag durchgeführt.63 Damit gehören die immateriellen Traditionen zu den langlebigsten Memorialformen der Hungersnot überhaupt. Blickt man auf das gesamte Panorama der zeitgenössischen Erinnerungskultur, besticht einerseits deren große thematische und mediale Vielfalt. Sie reichte von Herrscherdenkmalen bis zu selbst gefertigten Memorabilien, von Hungermünzen bis zu Schulbildern, von Obelisken bis zu Wallfahrten. Die Erinnerungsobjekte thematisierten die Hilfen und den Wucher, die natürliche Witterung und das göttliche Strafgericht, die weltlichen und die geistlichen Maßnahmen von oben und unten. Damit reflektieren sie die charakteristische Pluralität des zeitge 61 Heinz Berger, Ortschronik Kahla: http://kahla.de/cms/index.php?page=fuersorge [20.3.2017] und Schulz, Normality. 62 Eine detaillierte Beschreibung einer solchen Prozession bietet etwa: Weller, Predigt. 63 Jäger, Dorfchronik, 238; Mark Vornhusen, Wetterchronik 1771: http://old.wetterzentrale.de; Franz Gangkofer, Geschichte Ranoldsbergs: http://www.ranoldsberg.de/chronik1.html [jeweils 20.3.2017].

390

Bewältigen

nössischen Deutens und Handelns im Angesicht extremer Umwelten. Andererseits überrascht in Anbetracht dieser Fülle von Erinnerungsformen und -medien, wie limitiert, abstrakt und topisch die Überlieferung blieb. Zahlreiche der spektakulärsten Ausformungen der Not fehlten nahezu völlig. Nicht nur die Hungertoten selbst blieben über die visuellen, figurativen und performativen Medien hinweg ein Tabu. Auch Auswanderung, Krankheiten oder Proteste fanden hier keinen Niederschlag. Gleiches galt weitgehend auch für die existentielle Armut. Das Vergessen traf auch jede Form von sozialer Ungleichheit, die nicht gefahrlos im Wucher-­Topos entindividualisiert werden konnte. Sogar die extreme Witterung wurde kaum thematisiert. Wenn überhaupt erschien sie nicht als periodisch wiederkehrendes Gefahrenphänomen, sondern als singuläres Strafgericht. Diese Lücken sind bedeutend und aufschlussreich zugleich: Diejenigen Erfahrungsfelder, welche bestehende sozionaturale Arrangements in Frage gestellt hätten, fielen dem Vergessen und Beschweigen anheim. Hungertumulte projizierte man ins Ausland (Abb. 3 und 4), die erratische Witterung führte man auf Gott zurück und für die Spekulation machte man den fremden Kornjuden verantwortlich. Mit dem Bedürfnis nach Abschluss und Ordnung reüssierte zudem eine religiöse Rahmung, die während der Not längst nicht mehr den individuellen Erfahrungen entsprach. Nach der langen Notzeit lag der Fokus in der kollektiven Erinnerungspolitik nicht auf Veränderung. Er zielte vielmehr auf die Wiederherstellung der gewohnten sozialen und naturalen Arrangements.

3.  Lernen aus Katastrophen? Klima als Katalysator Die beobachtete Dynamik von Erinnern und Vergessen besaß erheblichen strukturellen Einfluss darauf, welche Lehren aus der Hungersnot gezogen wurden und gezogen werden konnten. Daher wird das Lernen aus Katastrophen seit jeher ähnlich kontrovers diskutiert wie das weitere Feld des Lernens aus der Geschichte. Die eine Seite betont die strukturellen Effekte von Katastrophenerfahrungen und verweist auf angepasste Siedlungsformen, lokalisierte Agrartechniken und kollektive Erinnerungsspeicher wie die ubiquitären Hochwassermarken.64 Die andere Seite blickt skeptisch auf das didaktische Potential extremer Naturereignisse. Sie führt an, dass Überschwemmungen und Hungersnöte offenbar immer wieder vorkamen, ohne dass nachhaltige Lerneffekte und Veränderungen zu beobachten waren. Aus ihrer Sicht bildeten periodische Umweltgefahren einen weitgehend akzeptierten Teil des Alltags. Soziokulturelle Beharrungskräfte und infrastrukturelle Pfadab 64 Christian Pfister, »The monster swallows you«. Disaster Memory and Risk Culture in Western Europe, 1500–2000, in: RCC Perspectives 1, 2011, 1–23; Bankoff, Disaster; Michael Kempe, »Mind the Next Flood!« Memories of Natural Disasters in Northern Germany from the Sixteenth Century to the Present, in: The Medieval History Journal 10, 2007, 327–354.

Lernen aus Katastrophen? Klima als Katalysator

391

hängigkeiten erschwerten Veränderungen zusätzlich.65 Zudem betont die Risikoforschung, dass Fortschritt und Veränderung per se nicht notwendigerweise mit mehr Sicherheit einhergehen. Viele Anpassungen entpuppten sich bei näherer Betrachtung weniger als Lerneffekte, sondern vielmehr als soziale Umlagerung und Verdrängungen von Risiken und Verwundbarkeit.66 Aus dieser Perspektive sind nachhaltige Veränderungen dort am wahrscheinlichsten, wo stetige Bedrohungslagen die Gefahr vor dem Vergessen bewahrten und Adaptionen besonders lohnend erscheinen ließen, etwa im Deich- oder Siedlungsbau. Dagegen erscheint die Wirkung besonders extremer, aber viel seltenerer Einzelereignisse als zweifelhaft. Frühere paradigmatische Beispiele für tiefgreifende Erschütterungen, wie das Lissabonner Erdbeben von 1755, sind daher in ihrer Wirkung zunehmend hinterfragt worden.67 Ein Extremereignis von der Größenordnung der Hungerkrise 1770–1772, das nur alle fünfzig oder hundert Jahre eintrat, fiele demnach aus dem Erfahrungsrahmen heraus, der Adaptionen möglich gemacht haben könnte. Aus ökologischer und wissensgeschichtlicher Sicht werden diese Themen auch im Konzept des Shifting-Baseline-Syndroms gefasst. Es geht von der Beobachtung aus, dass Menschen generell große Probleme haben, Umweltveränderungen kognitiv adäquat zu erfassen. Sobald die naturale Referenzphase (environmental baseline) nicht mehr innerhalb der eigenen historischen Wahrnehmungsspanne liegt, werden Umweltinformationen häufig auf Grundlage des eigenen biografischen Erfahrungsrahmens extrapoliert. Veränderungen, die länger andauern oder seltener Eintreten (wie etwa extreme Nasskaltphasen und Hungerkrisen), werden dadurch verfälscht oder gar nicht wahrgenommen. Da jüngere Generationen jeweils die eigenen Erfahrungen als Normalzustand erleben, verschieben sich die vermeintlichen Basisperioden laufend (baseline shift). Aufgrund des beständigen generationalen Vergessens von Referenzpunkten werden langsame oder 65 Parker, Global Crisis, 690; Gerrit Jasper Schenk: ›Learning from History‹? Chances, Problems and Limits of Learning from Historical Natural Disasters, in: Fred Krüger, Greg Bankoff, Terry Cannon, Lisa Schipper (Hrsg.), Cultures and Disasters. Understanding Cultural Framings in Disaster Risk Reduction. London, New York 2015, Kap. 4; Guido Poliwoda, Aus Katastrophen lernen. Sachsen im Kampf gegen die Fluten der Elbe 1784 bis 1845. Köln 2007. 66 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 1986. Die fehlenden Lerneffekte nach Katastrophen werden daher bis heute kritisch diskutiert: Sheila Jasanoff (Hrsg.), Learning from Disaster. Risk Management after Bhopal. Pennsylvania 1994; Christine Wanner: Ein untragbares Risiko? Naturkatastrophen als Auslöser für Lernprozesse. Die Entstehung der Elementarschadenversicherung in der Schweiz, in: Traverse 10, 2003, 100–114. Einen systemtheoretischen Blick auf die Lernschwäche konkurrierender gesellschaftlicher Subsysteme verfolgt: Heike Egner, Marén Schorch, Martin Voss (Hrsg.), Learning and ­Calamities. Practices, Interpretations, Patterns. London, New York 2014. 67 Gerhard Lauer, Thorsten Unger, Angesichts der Katastrophe. Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert, in: Gerhard Lauer (Hrsg.), Das Erbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert. Göttingen 2008, 13–43.

392

Bewältigen

seltene Ereignisse strukturell übersehen oder in ihrer Periodizität verkannt und bleiben ohne die nötige Anpassungswirkung.68 Gerade im Bezug auf Umwelteffekte bis hin zum aktuellen Klimawandel spielen Dynamiken des Erinnerns und Vergessens daher eine konstitutive Rolle für Lern- und Adaptionsprozesse. Diese Ansätze machen etwa plausibel, warum die Abwesenheit von Hungersnöten schon nach kurzer Zeit wieder als normal begriffen wurde. Sie legen auch nahe, warum schwere Klimakrisen wie 1770–1772 nicht als jene periodisch wiederkehrenden Ereignisse berücksichtigt wurden, die sie vor der ›baseline‹ der Kleinen Eiszeit tatsächlich darstellten. Diese risiko-, wissens- und umweltsoziologischen Modelle bieten zweifellos Orientierung. Dem komplexen historischen Geschehen werden sie aber nicht immer gerecht. Der Blick auf die Hungerjahre zeigt, dass Erinnern und Vergessen, Lernen und Beharren gerade keine Gegenpole darstellen. In der Praxis lässt sich vielmehr beobachten, dass beides gleichzeitig möglich war. Nach der Katastrophe ging das Festhalten an den großen Strukturen mit dem beschleunigten Wandel in nahezu allen anderen Feldern einher. Dort wo keine Anpassungen erfolgten, lag die Ursache zudem nicht allein in kognitiven Defiziten begründet. Sie resultierte ebenso sehr aus handfesten materiellen Interessen. Auch in der Vormoderne existierte bereits ein ausgeprägtes Bewusstsein für die historische Wahrscheinlichkeit extremer Witterungslagen und die ungleiche Verteilung von Gefahren.69 Fehlende Adaptionen gingen daher weniger auf die Dissoziation von Kultur und Natur zurück, wie das in heutigen Gesellschaften häufig der Fall ist. Sie waren im Gegenteil die Folge einer besonders engen sozio-ökologischen Verkopplung. In dieser gebauten Umwelt hätte eine weitgehende Umverteilung von Nahrung das Ständesystem bedroht, die Diversifizierung der Landwirtschaft das Steuersystem erschüttert und die freie Zirkulation von Getreide das Territorialprinzip der Herrschaft durchbrochen. Die Zwänge, Konstellationen und Handlungsrahmen der Getreidegesellschaft limitierten das Anpassungshandeln nach der Krise ebenso sehr wie die kognitiven Faktoren des generationalen Vergessens oder eines verzerrten Risikobewusstseins. Dieses sozionaturale Gerüst hegte, wie oben beobachtet, auch die Erinnerungskultur ein. Es resultierte unter anderem im gezielten Vergessen und Beschweigen der strukturellen Aspekte der eigenen Verwundbarkeit. Wie nach jeder Katastrophe interessierten sich die akut Betroffenen weniger für langwierige, grundstürzende Veränderungen, als vielmehr dafür, ihr gewohntes Leben rasch wieder aufnehmen zu können. Die Obrigkeiten unterstützten diese Orientierung durch eine entspre 68 Als Ausgangsbasis der Beobachtungen dienten die sich verschiebenden Vermutungen ›normaler‹ Fischbestände bei Fischern und Meeresbiologien unterschiedlicher Alterskohorten. Vgl. Dietmar Rost, Wandel (v)erkennen. Shifting Baselines und die Wahrnehmung umweltrelevanter Veränderungen aus wissenssoziologischer Sicht. Wiesbaden 2014, 17–24. 69 Vgl. Kap. IV.4.3.

Lernen aus Katastrophen? Klima als Katalysator

393

chende restaurative Erinnerungspolitik. Diese Verschränkung individueller und herrschaftlicher Interessen beförderte eine selektive Erinnerung. Sie verdrängte die gesellschaftlichen Ursachen des Hungers aus dem kollektiven Gedächtnis. Stattdessen lag der Fokus nun auf dem Über- und Weiterleben. Die Folgen der Hungerjahre orientierten sich an diesen materiellen Begrenzungen und mentalen Rahmungen. Grundlegende sozioökologische Verhältnisse blieben weitgehend unverändert. Hier begrenzten die Pfadabhängigkeiten der einmal gewählten sozionaturalen Arrangements das Potential für Veränderungen. Die Vorratshaltung blieb auch weiterhin kursorisch, die Getreidepolitik verfuhr gewohnt restriktiv und die koordinierenden Fruchtkommissionen lösten sich wieder auf.70 Umso lebhafter ergriffen Veränderungen jene Bereiche, die diese grundlegenden Strukturen und Machtasymmetrien nicht unmittelbar tangierten. Die Hungersnot wirkte daher nicht grundstürzend-revolutionär, sondern katalytisch – im Sinne einer rapiden Beschleunigung bereits bestehender Wandlungsprozesse mitsamt der Autorisierung ihrer Verfechter und der stillschweigenden Delegitimierung ihrer Gegner. Wie gezeigt, führten die empowering interactions zwischen Fürsten und Untertanen auf der Ebene der Herrschaft zu einer deutlichen Stärkung des Territorialstaates auf Kosten von Ständen, Lokalobrigkeiten, Reichstädten und Kirchen. Die Begegnung mit den Untertanen und die damit verbundene Autorisierung der Herrscher bereitete den Weg dafür, dass die Zentralen trotz des temporären Kontrollverlustes in der Krise langfristig zu den Gewinnern gehörten. Diese weitgehend unintendierte, aber effektive ›Herrschaftsverdichtung durch Katastrophen‹ lässt sich in unterschiedlichen Konstellationen europaweit beobachten – vom absolutistischen Coup des schwedischen Königs, über den Staatsstreich in Dänemark bis zur britischen Verstaatlichung der East India Company. Wo diese Interaktionen verweigert wurden, mündeten sie häufig in gewaltsame Veränderungen vom französischen Mehlkrieg bis zum böhmischen Bauernaufstand (Kap. II.3.4.). Auf der Ebene der Politik beschleunigte die Hungerkrise wiederum den Niedergang der nunmehr hochverschuldeten Reichsstädte und den Konflikt um Polen (Kap. IV.5.1. und 5.3.). Die mittelfristig bedeutsamsten Folgen zeigten sich aber im Bereich der Wissensgeschichte. Hier fungierte die Krise als Sprungbrett oder in ökologischer Terminologie als ›tipping point‹.71 Die Krise schweißte einzelne Experten zu Gruppen zusammen. Sie half ihnen, eine gemeinsame Identität zu entwickeln, neue Wissensfelder zu legitimieren und diese als eigenständige Disziplinen zu etablieren. Dieser Prozess lässt sich in der Nationalökonomie ebenso beobachten wie in der Statistik, der Medizin, der Pädagogik, der Agrarwissenschaft oder Meteorologie. 70 Vgl. Kap. IV.1.4. Zur Resignation angesichts der Frage »Aber sind wir denn auch klüger geworden?« und der weiterhin mangelnden Vorratshaltung vgl. Will, Teuerung, 374. 71 Parker, Global Crisis, XXVI.

394

Bewältigen

Sie alle formierten sich mit und durch die Krise als anerkannte eigenständige Wissensbereiche (Kap. IV.4). Ihre Erklärungen dominierten in den Folgejahren nicht nur die Nahrungspolitik, sondern auch große Teile des Alltagslebens. Die Bildungsexperimente der Krisenzeit mündeten in umfassende Reformen des Schulwesens und der Armenfürsorge. Die großen Agrarreformer fanden nun immer weitere Förderer und Unterstützer, mit mittelfristig »revolutionären« Folgen für das Ernährungssystem.72 Derweil nährten die ersten meteorologischen Messnetze die Skepsis gegenüber straftheologischen Erklärungsmustern. Im Windschatten der großen Theorien der Ökonomen verbreitete sich auch ein neuer Nationalismus, der sich nach 1770 statt auf das Reich zunehmend auf ein noch zu schaffendes ›Deutschland‹ richtete. Die neue Herrschaft der Zahlen prägte zahlreiche gesellschaftliche Bereiche und mündete etwa in die Etablierung der ersten Sparkassen sowie der Gründung von Versicherungsanstalten.73 Zugleich legitimierte die zunehmende Ökonomisierung, dass die Profiteure von Agrarkrisen und -system immer deutlicher benannt wurden.74 Hier ergibt sich vielleicht am ehesten eine indirekte Verbindung zu den grundstürzenden Veränderungen der Französischen Revolution. Die Hungerjahre erweisen sich aber auch jenseits der gelehrten Sphäre als Inkubator von Praktiken und Ideen. Die Notjahre präfigurierten die großen Mi­ grationsströme des frühen 19. Jahrhunderts. In den späteren Krisen und Notjahren orientierten sich die Auswanderer an den Migrationspraktiken, -argumenten und -pfaden, die in der Krise flächendeckend etabliert worden waren (Kap. IV.2.6.). Zugleich dienten die Krisenjahre als Brutstätte rassistischer Ressentiments. Der Topos des Kornjuden, der in diesen Jahren ausformuliert und biologisiert wurde, verbreitete sich in der Folgezeit immer weiter, bevor er im Laufe der Hungerkrise 1816/17 endgültig vom Antijudaismus zum Antisemitismus umschlug (Kap. IV.3.3.). In den nächsten großen Krisen griffen die 1770 begonnen Umdeutungen weiter Raum. Im ›Jahr ohne Sommer‹ 1816 dominierten Ökonomen und Freihändler bereits die meisten Regierungen. Die nationalökonomischen Theorien wurden in den Amtstuben enthusiastisch rezipiert, obwohl ihre empirischen Annahmen sich auch weiterhin »täglich [als] falsch« erwiesen.75 Die mittlerweile blühende Meteorologie führte zu einer Sonnenflecken-Manie und Erfindungen wie der Wetterkarte. Die Naturerklärungen und -verklärungen dominierten den öffentlichen Diskurs nun so stark, dass es in Reaktion darauf zu einer Renaissance der kirchenfernen

72 Teuteberg, Kost, 134. 73 Freitag, Krisen, 127 f.; HStA Stuttgart L6 Bü 1325. 74 Vgl. Weishaupt, Getreidehandelspolitik, 160. 75 Ebd., 157; Behringer, Tambora, 63. Vgl. Huhn, Teuerungspolitik, 50 zur Kritik an der schwärmerischen Aufnahme des Adam »Smithschen Korans« in den Regierungsstuben. Tatsächlich ging der Wandel ebenso sehr auf materielle Zwänge zurück, da der allzu große Erfolg der Sperren die Anzahl an ›eingesperrten‹ Fürsorgeempfängern so weit erhöhte, dass er die finanziellen Möglichkeiten vieler Herrschaften zunehmend zu übersteigen begann. Vgl. Kap. IV.1.3.

Lernen aus Katastrophen? Klima als Katalysator

395

Volksfrömmigkeit und zu schwärmerischen Bewegungen kam.76 Zugleich setzten sich die 1770 erprobten Ansätze zu bürgerlicher Selbsthilfe auf breiter Front durch und manifestierten sich in Vereinen, Sparkassen und Versicherungen.77 Die letzte witterungsinduzierte Agrarkrise Zentraleuropas von 1846–48 stand dann bereits ganz unter den weltlichen Vorzeichen von freihändlerischen Nahrungsregimes, politischem Protest, Humanitarismus und Massenmigration.78 Wie die Untersuchung aus der Nähe gezeigt hat, bildeten Klimaanomalie und Hungerkrise nicht für all diese Entwicklungen den einen, zentralen Motivator. Viele dieser Prozesse hätten sich später möglicherweise auch ohne ihren Einfluss ereignet. Die polnische Teilung war bereits Jahrzehnte zuvor angedacht worden. Noch länger stritt man bereits über die Reform von Schulen und Fürsorge. Irgendwann wären diese Konflikte auch ohne die Krise kulminiert, wenngleich unter anderen gesellschaftlichen und ökologischen Vorzeichen. Dennoch existieren jeweils gute Gründe, für all diese Felder von ›sozionaturalen Verflechtungen‹ zu sprechen, die weit über bloße Koinzidenzen oder Korrelationen hinausgehen. Am eindeutigsten lassen sich die Folgewirkungen in jenen Bereichen beobachten, die relativ frei von den sozioökologischen Zwängen der Getreidegesellschaft waren. Dazu gehörten etwa die Bildung und die Armenfürsorge, die Medizin und die Wissenschaften. Hier erwies sich die Krise als Triebfeder, die Wandlungsprozesse initiierte, legitimierte, personell bündelte und beschleunigte. In anderen Bereichen, etwa der komplexen Auswirkungen auf Herrschaft und Politik, sind die Effekte weniger offensichtlich. Dort ist es der europäische Vergleich, der Beziehungen augenfällig macht. Die Entmachtung der Parlamente in Frankreich, die Coups in Dänemark und Schweden, die Aufstände in Irland und Böhmen oder die Turbulenzen in England folgen alle jeweils eigenen Konstellationen und Logiken. In ihrer Zusammenschau verdeutlichen sie aber, dass es mit der Klimaanomalie einen gemeinsamen Katalysator für diese europaweit intensivierten Interaktionen von Herrschern und Untertanen gab. Viele der durch die Krise autorisierten und vorangetriebenen Prozesse tangierten das gesellschaftliche Fundament erst mittelfristig. Nach einigen Jahren erwiesen sich viele Veränderungen als zunehmend inkompatibel mit dem status quo – etwa im Bereich der Ökonomie, der Wohlfahrt oder der Agrarverfassung. 76 Behringer, Tambora, 42, 269; Gestrich, Religion. 77 Behringer, Tambora, 99–102, 168 f.; 305–208. 78 Ó Gráda, Black ’47; Hecht, Nahrungsmangel. Obwohl sich die späteren Krisen in einer völlig veränderten politischen und technischen Umwelt ereigneten – von der Auflösung des Reichs bis zu der besseren Transportinfrastruktur und der Zollunion – blieben viele sozionaturale Strukturen erstaunlich konstant. Sowohl bei der demographischen Signatur der Krisen 1771 und 1816 als auch bei den kommunikativen, politischen und praktischen Maßnahmen gab es daher zahlreiche Übereinstimmungen. Krämer, Menschen, 243, 250. Auch unter dem Druck der Krise 1846/47 fiel man vielerorts noch auf das traditionelle Ensemble kommunikativer und regulativ-pragmatischer Hilfen von Exportverboten bis zu staatlichen Importen zurück. Schaier, Verwaltungshandeln, 504–512.

396

Bewältigen

Zwischen dem nationalen Wirtschaftsraum, den die Physiokraten skizzierten, und dem politischen Raum des Reichsverbands entwickelten sich bald folgenschwere Spannungen. Auch die durch die Krise legitimierten und beschleunigten Agrarreformen ließen sich nach einiger Zeit nicht mehr ins Korsett des Ständesystems einfügen. Selbst die Fürsorgereformen der Pädagogen stellten rasch die Autorität der etablierten Hilfsstrukturen in Frage (Kap. IV.4.1, 4.2. und 5.2.). In vielen Fällen waren diese Konflikte und Neuerungen weder intendiert noch absehbar. Den Tumultanten, die 1771 Hilfen erzwangen, war nicht klar, dass sie über ihre kurzfristige Autorisierung der Obrigkeiten langfristig die Verdichtung von Herrschaft befördern würden (Kap. IV.2.5.). Einmal angestoßen folgten die naturalen Impulse eigenen, gesellschaftlichen Logiken. Aus der Rückschau wird aber deutlich, dass es gerade nicht die spektakulären, unmittelbaren Impulse der Krisenjahre waren, welche die größten Effekte besaßen. Es waren vielmehr die unabsichtlichen und indirekten Verschiebungen, die zu wesentlichen Veränderungen beitrugen. Im Nachgang der Krise eröffnet sich so ein abgestuftes Panorama von ›Klimafolgen‹. Es erweist sich als wesentlich facettenreicher als die groben Reduktionen, die den Effekt von Klimaextremen in spektakulären Revolutionen,79 Kriegen80 oder dem Aufstieg und Untergang ganzer Zivilisationen81 vermuten. Weit typischer als der ›Kollaps‹ war wohl die hier beobachte Koevolution. Dabei erwiesen sich nicht starre Korrelationen, sondern lokale Konstellationen als auschlaggebend für Veränderungen. Aus der Nähe zeigt sich deutlich, dass Innovationen nicht einfach durch ›Schocks‹ entstehen. Potentielle Neuerungen müssen auch unter dem Druck extremer Notsituationen immer erst kommunikativ eingebettet werden, um strukturell wirksam zu werden. Materialität und Medialität von Katastrophen lassen sich daher nicht getrennt voneinander betrachten. Diese Befunde unterstreichen, welch ein eingeschränktes Bild die populäre Suche nach unmittelbaren und eindeutigen Gesellschaftseffekten von Klimaimpulsen liefert. Im Rahmen der Pfadabhängigkeiten, Infrastrukturen und komplex gebauten Umwelten menschlicher Gesellschaften verliefen gerade die bedeutendsten Veränderungen oft indirekt und zeitlich verzögert. Das Beispiel der Hungerkrise 1770–1772 unterstreicht diese bestehenden Beschränkungen der Klimafolgenforschung. Es zeigt, dass eine abgewogenere, sozionaturale Perspektive auf die Wirkungsgefüge von Klima und Kultur, von Ereignissen und Strukturen auch für vormoderne Gesellschaften ebenso notwendig wie praktikabel ist.

79 Fagan, Little Ice Age, 149–166; Le Roy Ladurie, Disette, 55, 70, 143–180. 80 Harald Welzer, Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird. Frankfurt a. M. 2008; Sam White, The Climate of Rebellion in the Early Modern Ottoman Empire. Cambridge 2001; Hsiang, Meng, Cane, Conflicts. 81 Diamond, Collapse; Ronnie Ellenblum, The Collapse of the Eastern Mediterranean. Climate Change and the Decline of the East, 950–1072 AD. Cambridge 2012.

VI.  Klimakulturen und Sozionaturen

Kaum eine Entwicklung trennt die heutigen Gesellschaften Europas so sehr von ihren historischen Vorläufern wie das Ende des Hungers. Der Druck, den die beständige Gefahr des Nahrungsmangels auf frühere Gesellschaften ausübte, ist in seiner sozialen, politischen und mentalen Reichweite kaum zu überschätzen. Entsprechend fundamental sind die Veränderungen nach dem – zumindest in der Ersten Welt gelungenen – »great escape«.1 Die Untersuchung der Hungersnot von 1770–1772 vermittelt aber nicht nur historisches Wissen. Migration, Bankenkrisen, Ressourcenkonflikte und nicht zuletzt die Bedrohung durch Klimaextreme beschäftigen die Europäer heute mehr denn je. Hunger erweist sich bei näherem Hinsehen als »great leveller«.2 Er wirft die Betroffenen auf das Wesentliche zurück und offenbart grundlegende, dauerhafte Konfliktlagen. Die 1770er Jahre lassen sich in diesem Sinne als gesellschaftliches ›Realexperiment‹ verstehen. Die Klimaanomalie setzte die sozialen Systeme von außen unter Druck. Sie veränderte die Ausgangsbedingungen auf einer Skala und in einer geographischen Breite, die sich im historischen Verlauf sonst nicht beobachten lassen. Zwar existieren bei diesem Experiment keine Kontrollgruppen, und es lässt sich auch nicht wiederholen. Es ermöglicht aber, die Effekte großflächiger Umweltveränderungen nicht bloß zu prognostizieren, sondern anhand eines realen Beispiels zu prüfen.3 Die kleinteilige Rekonstruktion hat es ermöglicht, sowohl die Klimaimpulse selbst als auch ihre ›Sozialisierung‹ detailliert nachzuzeichnen. Dies gilt für die abgestuften Effekte der Umweltimpulse auf Landwirtschaft, Ökonomie und Politik ebenso wie für ihre soziale Deutung, Bewältigung und Instrumentalisierung. In ganz Europa lassen sich dabei folgenschwere Wechselwirkungen zwischen Klimaanomalie und Gesellschaft beobachten. Bisher hat die Umweltblindheit der historischen Forschung dazu geführt, dass die heftige, europaweite Krise der 1770er Jahre meist nicht wahrgenommen worden ist. Dass die Proteste der irischen Steelboys, der Umsturz in Schweden, die britische Bankenkrise und die Hungertoten in Sachsen über das Klimaextrem miteinander verknüpft waren, hat keine Aufmerksamkeit gefunden. Die einzelnen Krisenphänomene betrachtete man jeweils im nationalen Rahmen und suchte dabei nach den besser vertrauten ideengeschichtlichen und machtpolitischen Erklärungs 1 Vgl. Fogel, Escape zur Koevolution von Nahrung, Industrialisierung, Wohlstand und Gesundheit. 2 Parker, Global Crisis, 695. 3 Mathias Groß, Holger Hoffmann-Riem, Wolfgang Krohn (Hrsg.), Realexperimente. Ökologische Gestaltungsprozesse in der Wissensgesellschaft. Bielefeld 2005.

398

Klimakulturen und Sozionaturen

mustern. In der Literatur zur Banken- und Finanzkrise, zum Polenkonflikt oder zu den rasanten Schulreformen dieser Jahre werden die Extremwetterlage und die verheerende Hungersnot kaum erwähnt. Das Gleiche gilt für die Reichstagspolitik, die Agrarreformen oder die Formierung der Nationalökonomie. Sie alle wurden allein internalistisch erklärt, obwohl Missernten und Hunger einen signifikanten Einfluss ausübten. Die europaweite (und teilweise globale) Dimension geht damit ebenso verloren, wie das Gespür für mögliche Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Ereignissen. Sie werden erst verständlich, wenn man den sozionaturalen Hintergrund mit einbezieht und das Geschehen dieser Jahre als Zusammenhang begreift.4 Dementsprechend plädiert die Arbeit nachdrücklich für eine umfassende umwelthistorische Erweiterung geschichtswissenschaftlicher Zugänge. Die Diskussion um solche Verschränkungen von Klima und Kultur wird seit jeher kontrovers geführt. So wie die Naturwissenschaften eher dazu neigen, den Einfluss des Klimas überzubewerten, wird er in den Geschichtswissenschaften häufig unterschätzt.5 Dahinter verbirgt sich auch das Bemühen von Historikern, stringente Entwicklungsgeschichten zu erzählen. Diese Narrativierung benötigt Menschen in ihrem Zentrum, die ihr Handeln selbstständig bestimmen. Sie verträgt sich schlecht mit willkürlich auftretenden, wirkmächtigen, von außen kommenden Krisen. Möglicherweise manifestiert sich im Unwillen, nicht-menschliche Akteure stärker zu berücksichtigen, auch ein verzerrtes Bild von Klimawirkungen. Wer entsprechend der populärwissenschaftlichen Diskussion nach dem Niedergang ganzer Zivilisationen sucht, wird in den 1770er Jahren nicht fündig werden. Beobachten lassen sich hier keine starren Reiz-Reaktions-Verläufe, sondern abgestufte, oft indirekt verlaufende Wechselwirkungen. Die naturalen Impulse wurden dabei je nach lokaler Konstellation durchaus eigensinnig instrumentalisiert und sozialisiert. In diesem Sinne nähert sich die Untersuchung wieder dem stärker auf den Menschen bezogenen Klimabegriff Alexander von Humboldts an, der aktuelle Problemlagen weit besser umreißt, als die moderne Definition.6 Berücksichtigt man den pluralen Verlauf dieser klimakulturellen Verflechtungen, lassen sich spürbare und europaweite Effekte der Witterungsanomalie beobachten, die weit über die vielen Hungertoten hinausgingen. Im Bereich der Landwirtschaft ließ der Dauerregen den sozionatural verkoppelten Getreidegesellschaften relativ wenig Spielraum. Auf den Ebenen der Wirtschaft, der Poli 4 Ähnliche Beobachtungen machen Behringer, Tambora; Parker, Crisis und Davis, Holocausts. 5 Hulme, Future, 246. 6 »Der Ausdruck Klima bezeichnet in seinem allgemeinsten Sinne alle Veränderungen in der Atmosphäre, die unsre Organe merklich afficiren [welche] nicht bloß wichtig ist für die vermehrte Wärmestrahlung des Bodens, die organische Entwicklung der Gewächse und die Reifung der Früchte, sondern auch für die Gefühle und ganze Seelenstimmung des Menschen.« Alexander von Humboldt, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Bd. 1. Stuttgart, Tübingen 1854, 340.

Klimakulturen und Sozionaturen

399

tik und der Wissenschaft ergaben sich größere Handlungsmöglichkeiten. Der Umweltimpuls wirkte hier nicht direkt. Er fungierte eher als Katalysator, der bereits bestehende Entwicklungen beschleunigte, den Wandel autorisierte und seine Gegner delegitimierte. Dem ›totalen‹ Charakter einer Hungersnot entsprechend, erstrecken sich die hier beobachteten Interaktionen auf nahezu alle Felder frühneuzeitlicher Lebenswelten und menschlicher ›Kultur‹. Sie reichten von der Mächtepolitik bis zum Ackerbau, von der Ökonomie bis zur Medizin, von der Agrarverfassung bis zur Landesherrschaft. Dabei lassen sich auf den verschiedenen Ebenen spezifische Konstellationen und Koevolutionen beobachten: 1. Klima: Für die äußere, physikalische Seite der Krise ließ sich das Geschehen durch die Kombination von Natur- und Gesellschaftsarchiven präzise rekonstruieren. Die Ergebnisse illustrieren, dass dies bei quellennahem Vorgehen auch für Gesellschaften der vorinstrumentellen und -industriellen Periode ›hochauflösend‹ möglich ist. Die Rekonstruktion dokumentiert die enorme Reichweite der Witterungsanomalien. Sie lassen sich auf mehreren Kontinenten beobachten und betrafen ganz Europa. Im nordalpinen Raum verschob sich in ihrer Folge von Mitte 1769 bis 1772 der übliche jahreszeitliche Witterungsverlauf mit dramatischen Folgen. Mithilfe der Paläoklimatologie ließ sich das Muster dieser Anomalie als typische Extremwetterlage im Rahmen des weiteren Klimaphänomens der Kleinen Eiszeit identifizieren. Ihre wahrscheinlichste Ursache lag in einer mehrjährigen Störung der atmosphärischen Zirkulation im Rahmen von NAO und ENSO. Die langen Winter und extremen Sommerniederschläge initiierten drei aufeinanderfolgende, überregionale Missernten, die in der Folge das gesamte Agrarsystem erschütterten. In der Analyse der sozioökologischen Arrangements dieser Gesellschaften zeigt sich zugleich, dass diese verheerenden Effekte nicht unvermittelt auftraten. Die Verwundbarkeit gegenüber genau diesem Klimamuster war schon lange vor den Regenfällen in die gebaute Umwelt eingeschrieben. Die ›Sensitivität‹ gegenüber dieser ›Exposition‹ verhielt sich nicht statisch-mathematisch, sie entwickelte sich historisch. Die europäischen Getreidegesellschaften gingen bewusst strukturelle Risiken ein. Sie reichten von der begrenzten Vorratshaltung über den limitierten überregionalen Austausch bis zur extrem asymmetrischen Verteilung von Entitlements oder Zugangsrechten auf Nahrung. Der Blick auf vergleichbare Speicherund Handelskulturen sowie auf das verfügbare Repertoire der Gegenmaßnahmen legt nahe, dass es auch unter vormodernen Bedingungen prinzipiell möglich gewesen wäre, sich gegen solche Umweltgefahren zu wappnen. Angesichts der Pfadabhängigkeiten einmal eingerichteter sozionaturaler Infrastrukturen und ihrer enormen Beharrungskräfte war ein solcher Wandel aber kurzfristig weder mach- noch denkbar. Eine entsprechend robuste Sicherheitskultur hätte nicht nur Entwicklungschancen begrenzt, sie hätte auch tiefgreifende Veränderungen der ständischen Gesellschaft erfordert. Stattdessen sorgte die strukturelle, aber menschengemachte »Tyrannei der Getreidedependenz« dafür, dass große gesellschaftliche Gruppen Umwelt- und Versorgungsrisiken in weit höherem Maße ausgesetzt

400

Klimakulturen und Sozionaturen

waren.7 Diese vulnerablen sozionaturalen Arrangements lassen sich als strukturelle Gewalt begreifen, als ›silent‹ oder ›slow violence‹.8 Sie wurden im direkten Umfeld der Hungerkrise durch die development aggression und den Fortschrittsdespotismus der Aufklärungszeit noch verschärft. Diese Rahmungen illustrieren, dass die Hungerjahre mehr als ein kurzfristiges Ereignis darstellen. Sie verweisen nicht nur auf soziale Kontingenzen und das Wetter, sondern auch auf Kulturen und das Klima. Sie entwickeln sich eingebettet in gesellschaftliche Traditionen und meteorologische Muster. Zudem entfalten sich ihre äußere und innere Seite gemeinsam. Daher handelt es sich bei vormodernen Hungersnöten weder um »Naturereignisse«9 noch um Sozialkrisen. Sie bilden sozionaturale, »doppelte Katastrophen«, in denen sich Ereignis und Struktur überkreuzen. 2. Markt. Im Gefolge von Missernten und Teuerung geriet die Wirtschaft europaweit in heftige Turbulenzen. Sie mündete in dutzenden Banken-Crashs und einer weitreichenden Finanzkrise mit globalen Auswirkungen. Dennoch etablierten sich mit den Notjahren die Nationalökonomie und der Freihandel als neue, eigenständige Wissens- und Handlungsfelder. Seither prägten sie das wirtschaftliche Denken nicht nur in Krisenzeiten. Die Untersuchung der Praxis hat allerdings gezeigt, dass diese Konjunktur weniger auf praktischen als vielmehr auf kommunikativen Erfolgen beruhte. Dies gilt in vielerlei Hinsicht bis heute, wo der ›Freihandel‹ nicht nur als empirisches Gerüst dient, sondern auch als politisierendes Muster, das Parteienbildung und soziale Identitätsstiftung ermöglicht. In den Krisenjahren zeigt sich nachdrücklich, wie umfassend wirtschaftliche Modellierungen in Extremsituationen versagen. In vielerlei Hinsicht verhielten sich die Märkte noch wechselhafter und unkalkulierbarer als das Wetter.10 In kaum einem Fall flossen die Ressourcen tatsächlich zu den Bedürftigen. Auch dies gilt im Angesicht existentieller Not nicht nur für historische, sondern auch für moderne Gesellschaften. Allein durch den Markt ließ und lässt sich eine Hungersnot, bei der es um Leben und Tod geht, nicht abwenden.11 Aus diesem Grund inspirieren Nahrungskrisen bis heute neben den bekannten (neo)malthusianischen Ansätzen auch grundlegende Forschungen zum ›commoning‹ und zur sozialen Gebundenheit ökonomischer Beziehungen.12 Die Hungerjahre um 1771 lassen diese breite kulturelle Rahmung ökonomischer Transaktionen wieder sichtbar werden. Sie beschränken sich aber nicht auf Krisenzeiten, sondern treten unter dem Brennglas der Hungersnot nur deutlicher hervor. Unter ihrem Druck wird offenbar, wie sehr es sich bei den zeitgenössischen Gesell 7 Vgl. Kap. II.1. sowie Kaplan, Bread; Parker, Global Crisis, 19. 8 Farmer, Suffering; Nixon, Slow Violence; Michael Watts, Silent Violence. Food, Famine and Peasantry in Northern Nigeria. Berkeley 1983. 9 Vasold, Hungerkrise, 142. 10 Krämer, Menschen, 86. 11 Behringer, Tambora, 322. 12 Krämer, Menschen, 65 f.

Klimakulturen und Sozionaturen

401

schaften im Kern um Nahrungsregimes handelte. Sie vermittelten den Zugang zu Ressourcen letztlich durch Herrschaft, weniger durch Leistung oder den Markt. Die Krise unterstreicht, dass sich in diesem gebundenen Umfeld viele wirtschaftliche Prozesse nicht allein ökonomisch erklären lassen. Die Entwicklung von Preisen, der Zugang zu Kredit oder der Ablauf von Tauschgeschäften waren vielfach sozial gefiltert und gebunden. In den Krisen offenbart sich vielmehr die Langlebigkeit der kulturellen embeddedness, die Karl Polanyi dem wirtschaftlichen Handeln attestiert.13 Was er weitgehend als graduelle Verlustgeschichte konzipiert, manifestiert sich hier eher als beständige Transformation kultureller Einhegungen des Ökonomischen. Unter dem dünnen Firnis der Marktförmigkeit lag dabei immer das breite Panorama der Subsistenz-, Tausch- und Mangelökonomie. Daher fordern die Befunde der Krisenzeit dazu auf, die überkommenen Dichotomien von Produktion und Konsumption nicht nur in der Hungerforschung, sondern auch darüber hinaus zu überprüfen. Die integrativen Ansätze von food- oder famine-studies verweisen auf das weiterhin große Potential einer historischen Anthropologie der Wirtschaft. Das Krisengeschehen schärft den Blick dafür, dass im Windschatten des vermeintlichen Siegeszugs der Marktwirtschaft immer auch eine schillernde und vielgestaltige ›Überlebensökonomie‹ bestand und besteht. 3. Herrschaft. Schließlich ruft eine Hungersnot auf drastische Weise in Erinnerung, dass der Zugriff auf Nahrung Macht bedeutet.14 Mit der Not wurden alltägliche Formen der Versorgung wieder als Materialisierung von Herrschaftsverhältnissen greifbar. Die Krise legt aber zugleich offen, dass sich dieses Regiment vielfach gebunden und geteilt gestaltete. Nahrungsregimes konnten auch in vormodernen Staaten nicht einfach von oben exekutiert werden. In der frühneuzeitlichen Konstellation führte die Not nicht etwa zur Stärkung der Obrigkeiten. Unter ihrem Druck kamen vielmehr ihre strukturellen Schwächen zum Vorschein. Vielerorts brach die Landesherrschaft zeitweise zusammen. Lokale Sperren, gezielte Desinformation, behördliche Nichtkooperation und einbrechende Steuereinnahmen limitierten das Handlungspotential der Regierungen dramatisch. Stattdessen vervielfältigten sich in der Krisenzeit die Möglichkeiten für empowering interactions zwischen Obrigkeiten und Untertanen. Diese Zusammenarbeit kompensierte fehlende oder ineffektive Institutionen. Sie lässt sich als kontingente, improvisierte Form von ›Politik ohne Staat‹ verstehen, die bis heute im Umfeld von Katastrophen zu beobachten ist.15 Wo die Administrationen diese Interaktionen verweigerten, bildeten Proteste ein alltägliches, effektives und transkulturell verbreitetes Mittel, den Verwaltungen die Grenzen ihrer Macht symbolisch vor Augen zu führen.16 Im Alltag bleibt oft verdeckt, dass vor 13 Polanyi, Economy. 14 Arnold, Famine, 3 f. 15 Bankoff, Disaster. 16 Zum Protest als transkulturellem Muster vgl. Behringer Tambora, 162 f.; Scott, Moral Economy.

402

Klimakulturen und Sozionaturen

moderne Herrschaft weder absolut und automatisiert noch autonom verlief. In der Extremsituation hingegen tritt zu Tage, wie sehr Herrschaft auf wechselseitigen kommunikativen Akten beruhte und dass sie stets als verschränkt gedacht werden muss. Die Krisenjahre illustrieren zugleich, dass die Obrigkeiten langfristig den größeren Vorteil aus den krisengebundenen Interaktionen zogen. Die Kollusion mit den Untertanen autorisierte beide Seiten kommunikativ. Die herrschaftlichen Zentralen wussten diese Konsensfiktionen mittelfristig erfolgreich für die Delegitimierung Dritter zu nutzen, bei denen es sich je nach lokaler Konstellation um die mittleren Verwaltungsebenen, die Stände oder die kirchliche Fürsorge handeln konnte. Die dadurch ermöglichte Verdichtung von Herrschaft hatten die Untertanen nicht beabsichtigt. Die beobachtete ›Staatsbildung durch Katastrophen‹ vollzog sich – in Anlehnung an Wolfgang Reinhard und Achim Landwehr – vielmehr als weitgehend unintendierte Nebenfolge krisengebundener, »polyektischer« und asymmetrischer Interaktionen. Im Umfeld der Krisenjahre offenbart sich der »disordered police state« letztlich als »scheiternd-erfolgreicher Staat«, der seine temporäre Schwäche über Formen kommunikativer Ermächtigung langfristig zu seinem Vorteil nutzten konnte.17 Somit beobachtet man in diesen drei Feldern in Folge der Klimaimpulse jeweils abgestufte, plurale und oft indirekte Effekte. Auf der einen Seite wird deutlich, dass es keines einzelnen, extremen Umwelt-›Triggers‹ bedurfte, um menschliche Gesellschaften in eine schwere Krise zu stürzen. Bereits eine saisonale Verschiebung der Niederschläge reichte aus, um jahrhundertelang angepasste agrosoziale Systeme nachhaltig zu erschüttern. Auf der anderen Seite lässt sich beobachten, dass der Mensch wesentlich zum Verlauf dieser Krisen beitrug. Seine Vulnerabilität war keine statische, sondern eine historisch gemachte Variable. Sie wurde durch die asymmetrischen Machtstrukturen der Getreidegesellschaft vorgeprägt, durch die Deutung des Geschehens beeinflusst und in ihren Effekten durch Handlungen und Interessen der Akteure sozialisiert. Daher bildet die Hungerkrise ebenso eine Natur- wie eine Sozialkatastrophe.18 In den Hungerjahren wird deutlich, wie dynamisch auch eine vormoderne, vielfältig verwundbare Gesellschaft auf äußeren Druck reagierte. Die Klimaanomalie wirkte nicht einfach auf die Menschen ein, sie resultierte vielmehr in einer ›Krise‹ – einer prinzipiell offenen Situation, in der unterschiedliche Ausgänge mög 17 Wolfgang Reinhard, No Statebuilding from Below. A Critical Commentary, in: Blockmans, Holenstein, Mathieu, Empowering Interactions, 209–304; Wakefield, Police State; Landwehr, Normdurchsetzung. Zu ähnlichen staatlichen Krisennutzungen in Japan und Indien vgl. Parker, Crisis, 484–506; Ravi Ahuja, State Formation and »Famine Policy« in Early Colonial South India, in: Indian Economic Social History Review 39, 2002, 351–380. 18 Aufgrund dieser strukturellen Verknüpfung von sozialer Marginalisierung und naturaler Umwelt führt die Berücksichtigung der Natur in historischen Studien auch keineswegs zwangsläufig in den Geodeterminismus. Sie besitzt im Gegenteil das Potential, den Blick für sonst exkludierte Randgruppen zu schärfen. Cronon, Uncommon Ground.

Klimakulturen und Sozionaturen

403

lich wurden. Diese komplexen Verflechtungen lassen einseitige Zuordnungen zu kurz greifen. Die Auswanderer wurden aufgrund der Witterungsanomalie nicht zu »Klimamigranten« und die polnischen Wirren nicht zu einem »Klimakrieg«.19 Beobachten lassen sich vielmehr eigensinnige Aneignungen von Umweltimpulsen, die durch Erfahrungen, Deutungen und Interessen gerahmt wurden. Die größten Folgewirkungen entwickelten die Krisenjahre daher auf Umwegen. Sie beförderten die Etablierung zentraler, neuer Wissensfelder von der Ökonomie bis zur Agronomie, obwohl deren aufgeklärte Protagonisten zunächst mit ihren Ideen scheiterten. Sie initiierten folgenschwere Migrationsmuster und Schulreformen, die eigentlich ganz anderen Interessen entsprungen waren. Sie stärkten mittelfristig den Territorialstaat, der in der Krise nahezu handlungsunfähig geworden war. Mit dem Lauf durch die gesellschaftlichen Ebenen entfalteten sich unintendierte und teilweise kontraintuitive Verbindungen zwischen Klima und Kultur. Die Krise fungierte daher weniger als direkte Ursache denn als Katalysator, als Triebfeder oder als Schrittmacher von Veränderung. Ihr beschleunigender Effekt lässt sich in vielen Bereichen von der Pädagogik bis zur Naturwahrnehmung, von der Entstehung des deutschen Nationalismus bis zum beginnenden Antisemitismus beobachten. Wenn die 1770er Jahre in vielen dieser Bereiche als »Wasserscheide«, als »Zäsur« oder als »Paradigmenwechsel« betrachtet werden, so geschieht dies nicht wegen, sondern mit der Klimakrise.20 Gleichzeitig sperren sich die Krisenjahre gegen viele Entwicklungsnarrative und retrospektive emplotments. Sie fügen sich etwa nicht in die Vorstellung einer zunehmenden Säkularisierung von Katastrophen ein. Zwar verlor die Kirche an Bedeutung gegenüber den weltlichen Autoritäten, nicht aber die Religion. Auch auf dem Höhepunkt der Aufklärung wurden straftheologische Deutungen nicht einfach durch wissenschaftliche Erklärungen abgelöst oder überlagert, sondern ergänzt. Die Notjahre bildeten einen Kontaktraum sozialer, religiöser und naturaler Deutungsmuster. Während der Hungerjahre von 1816/17 lässt sich sogar ein Wiedererstarken religiöser Rahmungen beobachten. In Katastrophenzeiten spielen sie bis heute eine wichtige Rolle.21 Die Hungerjahre widersetzen sich auch der populären Vermutung, die Europäer hätten in dieser Zeit einen fundamental kompetenteren Umgang mit Natur und Naturgefahren entwickelt. Entsprechende Vorstellungen prägen die Meistererzählungen des »European Miracle« oder der »Great Divergence«.22 Der Vergleich mit den außereuropäischen Schauplätzen der Hungersnot illustriert vielmehr bedeutende Konjunktionen. So lässt sich im hungernden Bengalen das gesamte Pano 19 Zu Konjunktur solcher Vereindeutigungen vgl. etwa: Hulme, Climate, 247; Welzer, Klima­kriege. 20 Etwa in: Vasold, Hungerkrise, 140; Odenwälder, Nahrungsproteste, 66; Echternkamp, Nationalismus, 90–108. 21 Gestrich, Religion; Walter, Katastrophen, 208–211. 22 Jones, Miracle, 3–44; Pomeranz, Divergence, 211–263.

404

Klimakulturen und Sozionaturen

rama europäischer Bewältigungsstrategien wiederfinden – vom Speichern und Sperren bis zur temporären Migration und der situativen Aktivierung von Partizipationsrechten durch die Untertanen unter Umgehung des Instanzenzugs.23 Der bedeutendste Unterschied lag darin, dass dort die East India Company als neue Landesherrin die sonst üblichen Interaktionen verweigerte. Zwar suchte sie ähnlich wie die europäischen Fürsten die Krise dafür zu nutzen, intermediäre Machthaber wie die lokalen Zamindars und Nawabs auszuschalten. Sie entledigte sich aber mit fatalen Folgen auch deren traditioneller paternalistischer Verpflichtungen. Die Not in Bengalen illustriert daher nicht etwa mangelnde Naturbeherrschung, sondern zunehmende europäische Ausbeutung.24 Der transkulturelle Vergleich unterstreicht Gemeinsamkeiten statt Oppositionen. Er erinnert daran, dass auch in Europa vielfach ›koloniale‹ Verhältnisse existierten. In Böhmen, Irland, dem Erzgebirge oder dem Eichsfeld waren es ebenfalls ferne Herrscher und tiefgreifende, sozioökonomische Machtasymmetrien, welche die Not begünstigten, nicht etwa die ökologische Inkompetenz der Hungernden. Der Blick auf China zeigt, dass die Katastrophenvorsorge andernorts sogar weit besser institutionalisiert, ausgebaut und finanziert war. Bereits die europäischen Zeitgenossen blickten mit Neid auf das weitgehend formalisierte und vom Klientelismus der Alten Welt freiere System von Vorräten, Steuererleichterungen und Saatguthilfen.25 Ein europäischer Vorsprung im Umgang mit Missernten und Klimaextremen erscheint für die 1770er Jahren ebenso fraglich, wie bereits für die globalen Krisen des 17. und des 19. Jahrhunderts.26 Offensichtlich lassen sich die Ungleichgewichte, die man im Rahmen der Ökonomie beobachtet hat, nicht einfach auf das Feld der Ökologie projizieren. Aus der Nähe offenbart der Vergleich einerseits die »little divergences« innerhalb Europas, andererseits die transkulturellen Muster und globalen Verflechtungen von Subsistenzpraktiken.27 Ähnlich verhält es sich mit dem diachronen Vergleich. Die Untersuchung hat gezeigt, dass vormoderne Katastrophen nicht einfach das religiöse Pendant zu 23 Nani Gopal Chaudhuri, Cartier, Governor of Bengal, 1769–1772. Kalkutta 1970, 53–73; Aditee Nag Chowdhury-Zilly, The Vagrant Peasant. Agrarian Distress and Desertion in Bengal 1770 to 1830. Wiesbaden 1982, 20–63; Ranjit Sen, Social Banditry in Bengal. A Study in Primary Resistance 1757–1793. Kalkutta 1988, 17–41. 24 Chaudhuri, Cartier, 74 f.; Damodaran, Famine. 25 Pierre-Ètienne Will, Bureaucracy and Famine in Eighteenth-Century China. Stanford 1990; Anders Karlsson, Famine, Finance and Political Power. Crop Failure and Land-Tax Exemptions in Late Eighteenth-Century Chosôn Korea, in: Journal of the Economic and Social History of the Orient 48, 2005, 552–592; Richter, Pflug, 211–385. 26 Behringer, Tambora, 310–312; Parker, Crisis, 642–667 sowie Davis, Holocausts, 117–210, 280–310 lokalisieren die Ursache für die ökonomische ›Great Divergence‹ daher eher in intellektuellen und machtpolitischen als in ökologischen Disparitäten. 27 Robert Allen, The Great Divergence in European Wages and Prices from the Middle Ages to the First World War, in: Explorations in Economic History 38, 2001, 411–447; Scott, Moral Economy.

Klimakulturen und Sozionaturen

405

den späteren technizistischen Verengungen der Hochmoderne bilden. Die Vorstellung der Gottesstrafe ging Hand in Hand mit sozialen und naturwissenschaftlichen Erklärungen. Die Lage im 18. Jahrhundert erinnert in ihrer Pluralität von Deutungen und Praktiken eher an die Konstellationen der Gegenwart. In diesem Sinne lässt sich aus den historischen Entwicklungen durchaus lernen. Dies ist nicht nur aufgrund der prognostizierten Zunahme solcher Extremereignisse von Bedeutung, sondern auch, weil in diesem Zusammenhang einseitige Lösungsansätze reüssieren. Zu den heute diskutierten Maßnahmen gegen Hunger und Klima­ wandel gehören etwa Geoengineering-Projekte oder die ›grüne Gentechnik‹.28 Das Realexperiment der Hungerkrise legt nahe, dass solche rein technischen Maßnahmen, die gesellschaftliche Ursachen und ökologische Verflechtungen weitgehend ignorieren, kaum Aussicht auf Erfolg haben. Ein neuer Umweltdeterminismus, der soziale Ungleichheiten, kommunikative Ausgrenzung und die langsame Gewalt sozioökologischer Infrastrukturen beiseiteschiebt und stattdessen auf technologische Insellösungen setzt, wird den komplexen sozionaturalen Herausforderungen nicht gerecht werden. Die Notjahre unterstreichen vielmehr, dass angesichts der tatsächlichen Gemengelagen vermeintliche Naturkatastrophen immer auch Kulturkatastrophen sind. Sie besitzen soziale Vorgeschichten und bilden daher keine Ausnahmesituationen, sondern spiegeln grundlegende Problemlagen wider. Die Tendenz, solche Ereignisse als singulär und naturhaft zu externalisieren, ist angesichts ihrer enormen, disruptiven Gewalt nachvollziehbar, führt aber in die Irre. Umweltextreme gehören zur Geschichte der Menschheit und ihrer Zukunft. Um ihnen zu begegnen, braucht es statt des bequemen ›Katastrophismus‹, der solche Begebenheiten als Naturereignis ins Außen verlagert, einen integrativen Zugang, der die etablierte Trennung von Mensch und Umwelt hinter sich lässt. Zusammenfassend legen die Ergebnisse der Studie nahe, die starre Opposition von Natur und Kultur zu überwinden, die aus historischer Perspektive sowieso recht jung ist. Mit Blick auf die Erfahrungen früherer Gesellschaften scheint es ratsamer, die zunehmenden Umweltveränderungen nicht mit einem neuen Geomaterialismus zu beantworten, sondern mit Verflechtungsmodellen, die das menschliche Handlungsspektrum erweitern, statt es zu begrenzen. Die historischen Klimakrisen unterstreichen, dass internalistische und externalistische Zugänge, die tatsächlichen sozionaturalen Verkopplungen weder auf dem Feld der Wissenschaft noch in anderen Bereichen adäquat widerspiegeln. Sie stellen sich als Form der »thin description« heraus, die konstitutive Interaktionen übersieht oder verdeckt. Als reduktionistisch erweisen sich dabei nicht bloß die Natur-, sondern auch die Geisteswissenschaften, vor allem, wenn sie die Umwelt aussparen.29 Auch die verbreitete Unterteilung in eine langfristig wirksame Natur 28 Walden Bello, The Food Wars. London 2009, 1–18. 29 Porter, Thin description.

406

Klimakulturen und Sozionaturen

und eine weit dynamischere Kultur, wie sie etwa die Annales-Schule vorgeschlagen hat, greift zu kurz. Im Umfeld der Hungerjahre lässt sich ebenso eine von sozialen Pfad­abhängigkeiten und Traditionen dauerhaft gefesselte Gesellschaft beobachten, die von einer sprunghaften Witterung unter Druck gesetzt wird. Statt der Opposition einer passiven Natur und einer aktiven Kultur offenbaren die Krisenjahre Formen wechselseitiger Durchdringung und eigensinniger Aneignung. In dieser geteilten Umwelt dient die Natur weniger als Beschränkung von Kultur denn als Anreger und Provokateur des Wandels. Bisher beschränkt sich das Studium solcher Sozionaturen auf Randbereiche der Wissenschaft. Die »environmental humanities« existieren vor allem in Form individueller Kooperationen oder experimenteller Netzwerke. Konzepte eines koevolutionären »becoming with« von Mensch und Umwelt, werden als theoretische Erweiterung oder als intellektuelles Spiel statt als praktische Herausforderung verstanden.30 Der Blick auf eine historische Gesellschaft unter Spannung verdeutlicht hingegen das Potential eines integrativen Zugriffs. Dieser Zugang stellt historische Zusammenhänge und aktuelle Wechselwirkungen von Klima und Kultur wieder in ihren ursprünglichen, breiten, ökologischen Kontext. Er regt dazu an, Umwelt und Natur nicht länger als Gegenteil, sondern als Teil der Geschichte zu begreifen.

30 Marcus Hall, Philippe Forêt, Christoph Kueffer, Alison Pouliot, Caroline Wiedmer, Seeing the Environment Through the Humanities. A New Window on Grand Societal Challenges, in: GAIA 24, 2015, 134–136; Donna Harraway, Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene. Durham, London 2016, 1–13.

Dank

Ein Buch an den Grenzen der Disziplinen ist auf die Unterstützung vieler Helfer angewiesen. Die ersten Anregungen zu einer Verflechtungsgeschichte von Klima und Kultur gehen auf meine Zeit am ehemaligen Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen zurück. Zahlreiche positive Erfahrungen mit Formen der ›großen Interdisziplinarität‹ verdanke ich dem Göttinger DFG-Kolleg Interdisziplinäre Umweltgeschichte und dem Zentrum für Interdisziplinäre Forschung in Bielefeld. Umgesetzt wurde die Arbeit schließlich im Rahmen meiner Forschernachwuchsgruppe Umwelt & Gesellschaft. Handeln in Hungerkrisen der Frühen Neuzeit in Heidelberg, in der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Geschichte und Klimatologie auf Augenhöhe miteinander arbeiten konnten. Sie wurde durch die DFG und das Heidelberg Center for the Environment gefördert, das sich in einzigartiger Weise solchen Kooperationsprojekten verschrieben hat. Gemeinsam mit dem Historischen Seminar der Universität Heidelberg bot es den perfekten akademischen Rahmen für ein solches Unterfangen. Sie legten die Grundlagen dafür, dass diese Arbeit 2017 als Habilitationsschrift an der Universität Heidelberg angenommen wurde. Mein Dank gilt meinem Heidelberger Team, Maximilian Schuh, Carolin Rethorn und Dario Kaidel, für die engagierte Zusammenarbeit über die Fächergrenzen hinweg sowie Thomas Maissen und Werner Aeschbach für die wissenschaftliche Starthilfe und Unterstützung in Heidelberg. Manfred Jakubowki-Tiessen hat mit seinem Rat für die soliden Grundlagen in Katastrophen- und Umweltgeschichte gesorgt. Claudia Steinkämper hat unermüdlich geholfen, meine Ideen in Sprache zu übersetzen. Für zahlreiche Hinweise zum historischen Umfeld der doppelten Katastrophe danke ich Bruce Campell, Gita Dharamphal-Frick, Sven Externbrink, Marian Füssel, Cormac Ó’Gráda, Peter Milan Jahn-Bresan, Daniel Krämer, Thomas Meier, Divya Narayanan, Christian Pfister, Gerrit Jasper Schenck, Marten Seppel sowie den Kolloquien von Wolfgang Behringer, Stefan Brakensiek, Manfred Jakubowski-Tiessen und Christian Rohr. Für Hilfe zum klimatologischen Umfeld der Krise danke ich Rudolf Brázdil, Ulf Büntgen, Rüdiger Glaser, Heli Huhtamaa, Jürg Luterbacher, Rajmund Przybylak, Alan Robock und Nicole Aeschbach. Tatkräftigen Beistand habe ich zudem von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der vielen beteiligten Archive erhalten. Besonderer Dank gebührt Andrea Fadani für seine Unterstützung des Projekts durch die einzigartigen Bestände des Museums für Brotkultur in Ulm sowie Christof Mauch und Helmuth Trischler für ihren kompetenten Rat und die Aufnahme der Arbeit in die Reihe des Rachel Carson Centers. Daniel Sander danke ich für die engagierte Betreuung der Veröffentlichung. Gewidmet ist das Buch Johan und Jacob, den Jüngsten im Bunde.

Bibliographie

Quellen Ungedruckte Quellen Basel, Staatsarchiv Basel-Stadt StABS Basel, A5/12. StABS Basel, A 5 Auswanderung, Nr. 142.

Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz GStA PK, I. HA, Rep. 10. GStA PK, I. HA, Rep. 41. GStA PK, I. HA, Rep. 96B. GStA PK, I. HA, Rep. 96B Nr. 72. GStA PK, I. HA, Rep. 96B Nr. 139. GStA PK, I. HA, Rep. 96B Nr. 140. GStA PK, II. HA, Abt. 7 II Nr. 6048. GStA PK, II. HA, Abt. 14 Tit. CCII, Nr. 4. GStA PK, II. HA, 15 CLXXVI Nr. 5. GStA PK, II. HA, Abt. 15 CLXXVI Nr. 6 GStA PK, II. HA, Gen. Dir. Ostpreußen II, Nr. 3522.

Chemnitz, Stadtarchiv StA Chemnitz, Ratsarchiv III VIIb 74. StA Chemnitz, Ratsarchiv, Polizeisachen, V XVIII, 4. StA Chemnitz, Weishaarsche Chronik, GC 5.

Darmstadt, Hessisches Staatsarchiv HStA Darmstadt, Best. C 4 Nr. 230/2. HStA Darmstadt, Best. F 24 C Nr. 230/3. HStA Darmstadt, Best. F 24 C Nr. 502/4. HStA Darmstadt, Best. F 27 A Nr. 23/32. HStA Darmstadt, E 3 N Nr. 1/6. HStA Darmstadt, E 3 Nr. 59/24. HStA Darmstadt, Judaica R 1 B Nr. 25/119.

Detmold, Stadtarchiv StA Detmold, L 92 A Titel 61, Nr. 9.

410 Dresden, Sächsisches Hauptstaatsarchiv HStA Dresden, Loc. 34127, Nr. 164a. HStA Dresden, Loc. 34126, Nr. 103. HStA Dresden, Loc. 14386. HStA Dresden, Loc. 34127. HStA Dresden, Loc. 5358. HStA Dresden, Loc. 34127, Nr. 164a. HStA Dresden, Loc. 11463, 2. HStA Dresden, Loc. 35048, Nr. 90. HStA Dresden, Loc. 34127, Nr. 118. HStA Dresden, Loc. 508, Vol. I. HStA Dresden, Loc. 11463, 3. HStA Dresden, Loc. 34126, Nr. 103. HStA Dresden, Loc. 2385, Vol. 1. HStA Dresden, Loc. 3622, A 24 A, Nr. 50. HStA Dresden, Loc. 34127, Nr. 118. HStA Dresden, Loc. 5744–5746. HStA Dresden, Loc. 11611.

Glarus, Landesbibliothek des Kantons Glarus Marti, Johannes, Selbstzeugnis, N 184.

Gotha, Thüringisches Staatsarchiv ThStA Gotha, Kammer Gotha Immediate Nr. 1990. ThStA Gotha, GA, KK, Nr. 2. ThStA Gotha, GA ZZ Va, Nr. 7. ThStA Gotha, GA OO VI, Nr. 46. ThStA Gotha, GA U I, Nr. 77b.

Hannover, Hauptstaatsarchiv HStA Hannover, BaCl Hann. 84a Nr. 05541 f. HStA Hannover, Cal. Br. 11 Nr. 2523. HStA Hannover, Dep7 B 1853/2. HStA Hannover, Deutsche Kanzlei in London. HStA Hannover, Hann. 74 Göttingen 1510. HStA Hannover, Hann. 74 Göttingen 3377. HStA Hannover, Hann. 74 Göttingen 3389. HStA Hannover, Hann. 74 Göttingen 3392. HStA Hannover, Hann. 74 Göttingen 6684. HStA Hannover, Hann. 74 Harburg 2904. HStA Hannover, Hann. 74 Münden 6684.

Herisau, Staatsarchiv Appenzell Ausserrhoden StAAR Ms. 75

Bibliographie

Quellen

Koblenz, Landeshauptarchiv LHA Koblenz XXXVII. 35 2361.

London, British Library British Library, IOR, Miss Eur G37/79/6. British Library, Burke Papers 6552.

London, National Archives NA, State Papers 80/209 Nr. 19. NA, State Papers 81/109. NA, State Papers 88/103. NA, T 1/502/29–31.

Truro, Cornwall Record Office Cornwall Record Office, T/874. Cornwall Record Office, T/878.

Leipzig, Stadtarchiv StA Leipzig, Stift VII, Nr. 5.

Marburg, Hessisches Staatsarchiv HStA Marburg, Best. 5, Nr. 13164. HStA Marburg, Best. 40a, Rubr. 48, Grebenstein. HStA Marburg, Best. 5, Nr. 2520.

München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv HStA München, GR 818.38–41. HStA München, GR 819.40–45. HStA München, GR 1209.71. HStA München, GR 1645.84. HStA München, Kasten schwarz 5036. HStA München, Kasten blau 38/16. HStA München, Kasten schwarz, Nr. 73.59. HStA München, Kurbayerische Mandatensammlung. HStA München, RbgRst 128.

Naumburg, Stadtarchiv StA Naumburg, Miscr. 24.

411

412

Bibliographie

Nürnberg, Stadtarchiv StA Nürnberg, Rep. F. 1. Nr. 62.

Pfullingen, Stadtarchiv StA Pfullingen, A 262.

Regensburg, Stadtarchiv StA Regensburg, Dekrete 0196. StA Regensburg, Dekrete 0272. StA Regensburg, Dekrete 1302. StA Regensburg, Dekrete 1454. StA Regensburg, Dekrete 1467. StA Regensburg, Dekrete 2141. StA Regensburg, alm B 4.

Speyer, Landesarchiv LA Speyer, Reichskammergericht XXV. E 6 114.

Stuttgart, Hauptstaatsarchiv HStA Stuttgart, A 419 Bü 358. HStA Stuttgart, L6 Bü 1327. HStA Stuttgart, L6 Bü 1328. HStA Stuttgart, L6 Bü 1345. HStA Stuttgart, L6 Bü 1346. HStA Stuttgart, L6 Bü 1347.

Weimar, Thüringisches Staatsarchiv B 2720a.

Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv HHStA, Hofreisen 4, Konv. 5, 2. Abt., p. 4v–5r. HHStA Wien, Reichskanzlei, Schwäbische Kreisakten, Fruchtausfuhr und Sperre 20 (1770– 1771) 2b. HHStA Wien, Reichskanzlei, Schwäbische Kreisakten 20 D (Teil 1, Exhibita).

Wiesbaden, Hessisches Hauptstaatsarchiv HStA Wiesbaden, Abt. 108, Nr. 2668. HStA Wiesbaden, Abt. 172, Nr. 4614, 150/1738. HStA Wiesbaden, Abt. 340, Nr. 4176.

413

Quellen

Wolfenbüttel, Staatsarchiv StA Wolfenbüttel, 2 Alt Nr. 1286. StA Wolfenbüttel, 33 Alt Nr. 500.

Zwickau, Stadtarchiv StA Zwickau, Ratsarchiv, Polizeisachen, V B1 4. StA Zwickau, Ratsarchiv Polizeisachen, Rep. V, V B1 4. StA Zwickau, Ratsarchiv, Mandate Ic 12.

Gedruckte Quellen [A Farmer], An Inquiry into the Connection Between the Present Price of Provisions and the Size of Farms, with Remarks on Population as Affected Thereby. To Which are Added Proposals for Preventing Future Scarcity. London 1773. Anon., Abbildung und Betrachtung außerordentlicher und bewundernswürdiger Kornähren, die in diesem 1771sten Jahre bey Dreßden vor dem schwarzen Thore auf dem sogenannten Sande auf einem unbesäeten Lande hervorgewachsen sind. O. O. o. J. [= StA Dresden, Bibliothek, Sign. B 70. 1540]. Anon., Anweisung und Nachricht über den Erdäpfel-Bau sonderlich von denen in den Jahren 1771 und 1772 deshalb angestellten Versuchen und Erfahrungen. Zum Besten des Landmanns herausgegeben, in: Abhandlungen und Beobachtungen durch die Ökonomische Gesellschaft zu Bern gesammelt 13, 1772, 1–93. Anon., Ausführlich wahrhafte Beschreibung eines grausamen Mörders und Menschenfresser! Dergleichen Uebelthaten und schreckliches Beginnen noch nie erhöret, Namens Johann Nicolaus Goldschmidt, von Herrnschwedel bey Craisen gebürtig, ein Küh-Hirt aus dem Amts-Dorfe Eichelborn, 56 Jahr alt, und nach vollbrachter Execution der Körper auf das Rad geflochten worden. O. O. 1772. Anon., Auszug eines Briefes eines Arztes an einen Liebhaber und Layen der Medizin, in: Osnabrückische Anzeigen, 1771, Beylagen, 345–348. Anon., Beschluß der Erinnerungen an die traurigen Merkwürdigkeiten des 1771sten Jahres, in: Lausitzisches Magazin, 30.5.1772, 144–151. Anon., Beschreibung des in vielen Orten des Teutschen Reiches annoch fortwährenden ganz außerordentlichen Theurungszustandes welcher nebst der Anno 1632. vorgewesenen Hungersnoth nach denen göttlichen Strafgerichten beurtheilt und mit theologischen Anmerkungen erläutert wird. O. O. 1771. Anon., Demüthiges Bittschreiben des Gemeinen Wesens an die Herren Capitalisten und Wucherer um die Verleihung besserer Zeiten. Frankfurt a. M., Leipzig 1772. [Ediert als: Helmut Bräuer (Hrsg.), Capitalisten und Wucherer, 1772. Eine Schrift aus dem 18. Jahrhundert. Leipzig 2011.] Anon., Der beschämte und gehemmte Kornwucherer, mit einem satyrischen Kupfer. Deutschland [sic] 1771. Anon., Die Feldbestellung betreffend, in: Anzeigen der Königl. Sächsischen Leipziger Öconomischen Societät in der Oster-Messe 17, 1772, 30–56. Anon., Die Teuerung von 1770 bis 1772. Nach dem Bericht des Pfarrers Eggel in der Schäftersheimer Pfarrchronik, in: Württembergisch-Franken N.F. 4, 1892, 51–54. Anon., Die Überschwemmung Schäßburgs im Jahre 1771, in: Sächsischer Hausfreund 14, 1852, 111–114.

414

Bibliographie

Anon., Ein Aberglaube vom Verscharren des Brodtes, in: Wittenbergisches Wochenblatt 4, 1771, 170–172. Anon., Eine kurze Geschichte der seit einigen Seculis in verschiedenen Sächsischen Jahrbüchern angemerkten Theuerungen, in: Miscellanea Saxonicae, 1771, 290–304. Anon., Einige Nachrichten von den gegenwärtigen elenden Umständen der Erzgebirgischen Einwohner, und den Anstalten mitleidiger Armenfreunde, ihnen zur Hülfe zu kommen, in: Miscellanea Saxonicae 6, 1772, 73–80. Anon., Feyerliches Bustagsgebeth in anhaltender Theuerung und kummervollen Zeitläuften am zweyten Sonntage nach trinitatis 1771, als am dermalen besonders angeordneten quatemberlichen Bus- und Bethtage für alle evangelischen Gemainen beym öffentlichen Gottesdienste mit vorgedruckter, acht Tage zuvor abgelesener Anzeige der gemeinschaftl. Predigttexte und Lieder. Augsburg 1771. Anon., Fortgesetzte Beschreibung der letzern großen Wasserfluthen, in: Miscellanea Saxonicae 5, 1771, 242–248. Anon., Fortsetzung der Abhandlung von der gegenwärtigen Noth der Zeiten, in: Lausitzisches Magazin, 1771, 193–195. Anon., Früchte der Menschenliebe und Erbarmung gegen die Armen und Waisen in Eisleben. 3. Stück. Nebst angeführter Berechnung derer […] eingegangenen Wohltaten und einer Anzeige von der am 21 ten Dec. ej. aj. erfolgten dritten Verloosung der Actienleinwande. Eisleben 1774. Anon., Gedanken von besserer Versorgung der Armen, zum Vortheil des gemeinen Wesens, in: Gemeinnützige Abhandlungen 4, 25.4.1772, 25–31. Anon., Gesammlete Nachrichten von den Armen-Einrichtungen der Freymäurer in Chur-Sachsen vom 17. Jenner 1772 bis zum Jahre 1775. [Dresden] 1775. Anon., Getreide Ausfur aus Rußland, in den resp. HungerJaren 1771, 1772, und 1773 blos an der OstSee, in: Stats-Anzeigen 16, 1791, 63. Stück, 288–289. Anon., Johann Jakob Sprüngli, und seine klimatologischen Beobachtungen in den Jahren 1759– 1802, in: Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern 334, 1855, 28–51. Anon., Johann Nikolaus Goldschmidt. Ein Menschenfresser, in Olla Potrida 4, 1781, 145–151. Anon., Kurzgefaßte Beschreibung der zu Ende des Monats Junii c. a. in den Gegenden der Elbe, Mulde, Pleisse, Saale und Elster gehabten großen Ueberschwemmung, in: Miscellanea Saxonicae 5, 1771, 231–234. Anon., Lesenswürdige Beschreibung von der Theurung. Die sich von anno 1770. bis 1772. fast ganz in Europa zugetragen dergleichen bey Mannsdenken nicht erlebt worden, welches man zu einem eigen Andenken dem geneigten Leser beysetzen wollen, mit dem Wunsche, daß unsere Nachkommen dergleichen Jammer und Elend nimmer mehr erleben, viel weniger erfahren dürften. Augsburg 1773, o. P. Anon., Meteorologische Beobachtungen für Mai 1771 bis Dezember 1775. O. O. ca. 1776, [http://www. mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10133367-8 [18.4.2017]. Anon., Meteorologische Tabellen, und landwirthschaftliche Beobachtungen von 1769, in: Abhandlungen und Beobachtungen durch die Ökonomische Gesellschaft zu Bern gesammelt 11, 1770, 177–221. Anon., Meteorologische Tabellen, und landwirthschaftliche Beobachtungen von 1770, in: Abhandlungen und Beobachtungen durch die Ökonomische Gesellschaft zu Bern gesammelt 12, 1771, 75–122. Anon., Nachricht an das Publikum von einer neuen Verfassung der Armenpflege in Kopenhagen, und einer damit verbundenen königlichen Realschule, in: Leipziger Intelligenzblatt, 1771, 604–609. Anon., Nachricht von denen in der, in dem Chursächßischen Erzgebürgischen Creyße gelegenen Stadt Zwickau getroffenen Veranstaltungen zur Verpflegung armer und kranker Personen, auch Versorgung Hülfsbedürfender Kinder, deren Unterweisung in Christenthum, Erziehung zu künftigen gesitteten und nützlichen Landeseinwohnern, Angewöhnung zur Arbeit

Quellen

415

und Abhaltung vom Bettelgehen auch dem daraus entstehendem Müßiggang und übrigen damit vors künftige und das Vaterland verbundenen üblen Folgen. Zwickau 1772. Anon., Neue Chronik von Böhmen vom Jahre 530 bis 1780. Prag 1780. Anon., Observationes Meteorologicae, oder Historisch-Physikalische Nachrichten Von dem Strengen Winter An. 1740. Nach seiner eigentlichen Beschaffenheit, wahren Ursachen, besorglichen Folgen, und einigen merckwürdigen Umständen und Vorfälligkeiten, In einem ordentlichen Parallelismo, oder Vergleich Mit dem durch gleiche Kälte bekandten Winter An. 1709. Nach den neuesten Philosophischen Principiis zum Angedencken vorgestellet. Frankfurt a. M., Leipzig 1740. Anon., Pflichten der Reichen und der Armen bey noch immerzu kümmerlichen Zeiten. Leipzig, Freyberg 1773. Anon., Physisch-Ökonomische Bemerkungen des Jahres 1772, in: Abhandlungen und Beobachtungen durch die Ökonomische Gesellschaft zu Bern 13, 1772, 221–239. Anon., Rechtmäßigkeit derjenigen churbaierischen Landesverordnungen welche von einigen Comitialgesandtschaften zu Regensburg als reichssatzungswidrig und ihren Freyheiten zuwider beurtheilt, und angefochten worden […]. Mit Betrachtungen von neuem zum Druck gegeben. Regensburg 1770. Anon., Rechtmäßigkeit derjenigen churbayerischen Landesordnungen, welche von einigen Comitial-Gesandtschaften zu Regensburg angefochten worden. Wien o. J. Anon., Rezension von: Johann Gottfried Sillig, Drey höchstwichtige Fragen, an die Christen seiner Zeit, und an Seine Gemeinde insonderheit, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 20, 1773, 522–525. Anon., Rezension von: Johann Heinrich Wolf, Gründliche Untersuchung und nöthige Wiederlegung der von Hrn. M. Joh. Gottfried Silligen Diakon zu Döbeln, unter denen im Druck erschienenen drey höchst wichtigen Fragen an die Christen seiner Zeit, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek, Anhang 13–24, 1777, 26–28. Anon., Sammlung der von Eurem Hochedlen Rathe der Stadt Hamburg […] ausgegangenen allgemeinen Mandate, Teil 6. Hamburg 1774. Anon., Sendschreiben an Tit. Herrn Stadtschreiber Wolff in Roßwein, worinne alle in der Silligschen Streitschrift bis anhero heraus gekommene Schriften unparteyisch beurtheilet werden von einem aufrichtigen Liebhaber der Wahrheit. Frankfurt a. M., Leipzig 1773. Anon., Sendschreiben eines Kornhändlers in S. an seinen Freund in L., in: Gelehrte Beyträge zu den Braunschweigischen Anzeigen 93, 27.11.1771, 737–742. Anon., Sonderbahre Begebenheit welche sich zu Fahrenreid, einem Dorfe, ohnweit Hof am 27. October 1771. in einer Scheune mit Vier Engeln welche in menschlicher Gestalt Getreyde gedroschen, zugetragen was sie vor Reden geführet, und wie sie plötzlich verschwunden, allen Schwachgläubigen und Verzagten zum Troste nebst einem erbaulichen Liede. [Hof] 1772. Anon., The Causes of the Present Scarcity and Dearth of Provisions Assigned. Edinburgh 1772. Anon., Thoughts on the Present Scarcity of Provisions. London 1773. Anon., Untersuchung: Ob es möglich und vortheilhaft ist, das ein Landesherr das Korn immer in erträglichem Preisse erhalte, und wie derselbe beschaffen seyn müsse? in: Physikalische Belustigungen 12, 1752, 131–137. Anon., Unterthänigst-gehorsamster Bericht an Se. Churfürstliche Durchleucht etc. etc. zu Pfalzbaiern vom Magistrate der Churfl. Haupt- und Residenzstadt München d. d. 6 ten Jul. 1792 in Betreff der Geitreidsperren und des freyen Getreidhandels etc. München 1795. Anon., Vergleichung der im Jahr 1736. das Herzogtum Schlesien betroffenen grossen Theuerung und Hungers-Not, mit derjenigen, womit Gott einen grossen Theil von Deutschland, in dem abgewichenen 1770. Jahre heimgesuchet. O. O. 1771. Anon., Verordnung wie es bey der überhandgenommenen Theurung und Hungersnoth in denen Reußischen Herrschaften Jüngerer Linie mit der wöchentlich verordneten Bethstunde gehalten werden soll. Gera 1772.

416

Bibliographie

Anon., Wahrheit ohne Schmincke über den freyen Getraidehandel. Von einem unpartheyischen, sachverständigen Manne zur Beherzigung für jede Classe von lesern besonders für Minister, Cameralisten etc. herausgegeben. Leipzig 1804. Anon., Wahrscheinliche Vermuthungen von einigen größern und allgemeinern Perioden in der Witterung, in: Gelehrte Beyträge zu den Braunschweigischen Anzeigen 100, 21.12.1771, 793–800 und 101, 25.12.1771, 800–808. Anon., Wetterbeobachtungen, in: Anzeigen der Königl. Sächsischen Leipziger Ökonomischen Societät in der Oster-Messe, 1771, 66–81. Anon., Witterungsbeobachtungen über einen jeden Tag der Jahre 1770, 1771 und 1772 als im Jahre vor, in und nach der letzten merkwürdigen Theurung. Aus einer zuverlässigen Quelle geschöpft und in einer bequemen Uebersicht zusammengestellt. Nürnberg 1817 [= Anon., Witterungsbeobachtungen über einen jeden Tag]. Anon., Woher kommen schlechte Zeiten? Hamburg 1770. Anon., Wohlgemeinte Nachricht an alle Mangelleidende, und die so Ihnen zu helffen begehren. Trogen 1771 [Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, App b 7521]. Anon., Wohlgemeynte Gedanken über die Frage: Ob es einem Lande nützlich sey, daß man die Ausfuhre des Getraides aus demselben verbiete, in: Erfurtisches Intelligenzblatt 7, 16.2.1771, 84–94. Anon., Wohlverdientes Todesurtheil nebst einer Moralrede des Jakoben Hubers welcher auf gnädigste Anbefehlung einer Churfürstl. Hochlöbl. Regierung zu Burghausen [Oberbayern] wegen unternommener Getreid außer Landesschwärzung heut den 16. Dezember 1771 in Neuötting an einem offenen Platz errichteten Galgen mit dem Strang vom Leben zum Tod hingerichtet worden. O. O. [1771]. Andreae, J. G. R, Fortsetzung der Briefe, so aus der Schweitz nach Hannover geschrieben sind, in: Hannoverisches Magazin 3, 1765, 113–142. Arand, Franz Jacob, Abhandlung von drei Krankheiten unter dem Volke im Jahre 1771 und 1772 nebst den mit denselben eingedrungenen Vorurteilen und den dabey angewendeten Heilungsarten. Göttingen 1773. Barker, Thomas, A Letter from Thomas Barker, Esq; of Lyndon in Rutlandshire, to James West, Esq; Pres. R. S. concerning Observations of the Quantities of Rain fallen at that Place for several Years, in: Philosophical Transactions of the Royal Society 61, 1771, 221–226. Basedow, Johann Bernhard, Des Elementarbuchs für die Jugend drittes Stück. O. O. 1770. Basedow, Johann Bernhard, Anschläge zu Armen-Anstalten wider die Betteley, besonders in mittelmäßig-großen Städten. Dessau 1772. Beguelin, Nikolaus von, Extrait des Observations métrologiques faites à Berlin, en l’année 1770, in: Nouveaux Mémoirs de l’Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres 1, 1770, 74–94. Berg, Günther Heinrich von, Handbuch des Teutschen Policeyrechts, Bd. 3. Hannover 1803. Bergius, Johann Heinrich, Abhandlung von Magazinanstalten, in: Anon. (Hrsg.), Von Getreydemagazinen, von Lebensmitteln und von dem Unterhalt des Volkes. Frankfurt a. M. 1771, 4–30. Bidermann, Johann Gottlieb, Mit einem kleinen Beytrage zur Münzgeschichte von Hunger-Münzen ladet zu Anhörung derer Reden, welche bey Antritt des Jahres 1772 sollen gehalten werden. Dresden 1772. Bieler, Johann Heinrich, Im Schatten unserer gnädigen Herren. Aufzeichnungen eines Basler Überreiters. Hrsg. von Paul Köhler. Basel 1930. Bock, Friedrich Samuel, Versuch einer wirthschaftlichen Naturgeschichte von dem Königreich Ost- und Westpreussen, Bd. 1. Dessau 1782. Bräker, Ulrich, Sämtliche Schriften. 5 Bd. Bearbeitet von Alfred Messerli u. a. München 1998–2010. Bräuer, Helmut (Hrsg.), Capitalisten und Wucherer, 1772. Eine Schrift aus dem 18. Jahrhundert. Leipzig 2011. Büschel, Johann Gabriel, Beytrag zur Silligschen Streitigkeit, aus welchem zu ersehen ist, was in derselben Lutheri Lehre gemäs sey. Leipzig 1774. Childs, Wendy R. (Hrsg.), Vita Edwardi Secundi, The Life of Edward the Second. Oxford 2005.

Quellen

417

Clavell, Franz Xaver, Überzeugender Beweis daß eine etwas länger fürdaurende Getraid- oder Frucht-Sperre gegen die Schweiz, den Hochlöbl. Schwäbischen Reichs-Kreis und die darinn gesessene Hoch- und Löbliche Stände in kurzer Zeit gänzlich zu Grunde richten müsse. O. O. 1772. Coccejus, Samuel von (Hrsg.), Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensium Praecipue Marchicarum, Oder Neue Sammlung Königl. Preußl. und Churfürstl. Brandenburgischer, sonderlich in der Chur- und Marck-Brandenburg, Wie auch andern Provintzien, publicirten und ergangenen Ordnungen, Edicten, Mandaten, Rescripten &c. &c, Bd. 5. Berlin 1776. Dinglinger, Georg Friedrich, Die beste Art, Korn-Magazine und Frucht-Boden anzulegen: auf welchen das Getrayde niemahls, weder vom weissen noch schwarzen Wurm, angestecket werden kan. Eine Preisschrift. Hannover 1768. Felbiger, Johann Ignaz von, Anleitung, jede Art der Witterung genau zu beobachten, in Karten zu verzeichnen, zu vergleichen, und daraus besonders für die Landwirthschaft nützliche Folgen zu ziehen. Sagan 1773. [Fischer, Christian Hiskias Heinrich von], Anmerkungen über die dermalige Fruchtsperre. Deutschland [sic] 1771. Fischer, Christian Hiskias Heinrich von, Gedanken über das Reichsgutachten vom 7 ten Febr. 1772 die Getreid-Sperre betreffend. Frankfurt a. M. 1772. [Fischer, Christian Hiskias Heinrich von], Genuine Nachricht von der Beendigung der zweyjährigen allgemeinen Getraidetheurung in Deutschland und an vielen Orten erlittenen Hungersnoth, durch den Reichsschluß vom 7. Febr. 1772, in: Neue Litteratur und Völkerkunde 1.2, 1787, 480–497. Fichtner, George Heinrich, Merkwürdige Beschreibung von der in denen Jahren 1770 bis 1773 gewesenen großen Theurung und Hungersnoth nebst seiner Lebensgeschichte und Wanderschaft damals in Reimweise seinen Kindern und Nachkommen zum unvergeßlichen Andenken beschrieben anjetzo aber auf Verlangen guter Freunde zum Druck befördert. Schneeberg 1791. Fischer, Hermann (Hrsg.), Briefwechsel zwischen Albrecht von Haller und Eberhard Friedrich von Gemmingen nebst dem Briefwechsel zwischen Gemmingen und Bodmer aus Ludwig Hirzels Nachlass. Tübingen 1899. Frenzel, Johann Gottlieb, Das von Gott in einer Zeit von 600 Jahren verschiedentlich mit theurer Zeit- u. Hungersnoth ernstlich heimgesuchte jedoch gleichwohl gespeîst, getränkt und nicht verlassene Marggraffthum Oberlausitz. Auf vor Gutbefinden so einen kurzen Auszug zuhaben, zu Erweckung, Trost, guten Zutrauen und Gott zu Ehren gefertiget. Bautzen 1771. Friedrich II., Die politische Correspondenz Friedrichs des Großen. Hrsg. von Gustav Berthold Volz u. a., 48 Bd. Berlin 1879–2015. Füssel, Johann Michael, Unser Tagbuch: oder, Erfahrungen und Bemerkungen eines Hofmeisters und seiner Zöglinge auf einer Reise durch einen grossen Theil des Fränkischen Kreises nach Carlsbad und durch Bayern und Passau nach Linz. Bd. 3. Erlangen 1791. Glaser, Rüdiger, Winfried Schenk, Antje Schröder, Die Hauschronik der Wiesenbronner Familie Hüßner. Würzburg 1991. Grimm, Jacob und Wilhelm, Deutsche Sagen. Bd. 1. Berlin 1816. Grotehenn, Johann Heinrich Ludewig, Briefe aus dem Siebenjährigen Krieg, Lebensbeschreibung und Tagebuch. Hrsg. von Sven Petersen, Marian Füssel. Potsdam 2012. Hahn, P. M., Muthmaßliche Witterungs-Anzeige aufs Jahr 1772 für Würtemberg, in: Oekonomische Beiträge und Bemerkungen zur Landwirthschaft 3, 1772, 66–70. Hahn, P. M., Erfolg der muthmaßlichen Witterungs-Anzeige von der Mitte des Septembers 1771, in: Oekonomische Beiträge und Bemerkungen zur Landwirthschaft 4, 1773, 63–70. Harnisch, Hartmut, Das Schreibebuch Caließ, in: Ders./Jan Peters/Lieselotte Ender (Hrsg.), Märkische Bauerntagebücher des 18. und 19. Jahrhunderts. Selbstzeugnisse von Milchviehbauern aus Neuholland. Weimar 1989, 81–132.

418

Bibliographie

[Hammerstein, Caroline von], Niederschrift von Caroline von Hammerstein geb. von Schrader über den Tod ihres Mannes Hans Christian von Hammerstein. Beschreibung der traurigen Blattern-Krankheit (Pocken) meines lieben Mannes und meiner lieben Kinder im Frühjahr 1771, in: Wilhelm von Hammerstein-Loxten, Aus dem Nachlaß des Staatsministers Freiherrn Wilhelm v. Hammerstein-Loxten. Metz 1899, 25–33. Härter, Karl/Stolleis, Michael, Repertorium der Policeyordnungen, 11 Bd. Frankfurt a. M. 1996– 2016. Hazzi, Joseph von, Betrachtungen über Theuerung und Noth der Vergangenheit und Gegenwart. München 1818. Heidendorf, Michael Conrad von, Eine Selbstbiographie, in: Archiv des Vereins für siebenbürgische Landeskunde N.F. 16, 1880, 158–203. Heinrich, Placidus, Bestimmung der Maaße und Gewichte des Fürstenthums Regensburg. Regensburg 1808. Hengst, Karl, Westfälisches Klosterbuch 1. Münster 1992. Herwig, Johann Heinrich Friedrich, Fortsetzung der Nachricht von einigen in der Freyen Standes- und Erb-Herrschaft Muscau ganz neu angelegten Schulen […]. Löbau 1771. Heyen, Franz-Josef (Hrsg.), Die Berichte der Kellner der Abtei Marienberg bei Boppard über die Merkwürdigkeiten und häuslichen Begebenheiten der Jahre 1724–1782. Boppard 1964. Hochedlinger, Michael/Tanter, Anton (Hrsg.), »… der größte Teil der Untertanen lebt elend und mühselig«. Die Berichte des Hofkriegsrates zur sozialen und wirtschaftlichen Lage der Habsburgermonarchie 1770–1771. Wien 2005. Huberti, Franz, Observationes Meteorologicae ad annum MDCCLXX. Cum Nonnullis Miscellaneis Philosophico-Litterariis. Würzburg 1771. Humboldt, Alexander von, Vue de Cordilleres. Monumens des Peuples indigènes de l’Amérique, Bd. 1. Paris 1816. Humboldt, Alexander von, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Bd. 1. Stuttgart, Tübingen 1854. Hünlein, David, Neue und vollständige Staats- und Erdbeschreibung des Schwäbischen Kreises und der in und um denselben gelegenen Österreichischen Land- und Herrschaften, insgemein Vorder- oder Schwäbisch Österreich genannt. O. O. 1780. Imhof, Andreas Lazarus von (Hrsg.), Des neueröffneten Historischen Bilder-Saals Sechzehender Theil. In welchen die allgemeine Welt-geschichte vom Jahr 1771 bis 1775 unter Kaiser Joseph II. und dessen glorreicher Regierung mit vielem Fleiß, aufrichtig und unpartheyisch beschrieben und die vornehmsten Begebenheiten in anmuthigen Kupfern vorgestellet sind. Nürnberg 1779. Jacobi, Adam Friedrich Ernst, Verhältniß zwischen der Vermehrung und Abnahme der Menschen in einer gewissen Gegend in den Jahren 1770, 1771 u. 1772, in: Hannoverisches Magazin 12, 1774, 47–48. [Jacobi, Adam Friedrich Ernst], Plan zu einem Societätsmagazin, in: Churbaierische Intelligenzblätter, 1773, 313–315. Jansen, Katherine Ludwig, Giovanni Villani on Food Shortages and Famine in Central Italy (1329–30, 1347–48), in: Dies., Joanna Drell, Frances Andrews (Hrsg.), Medieval Italy, Texts in Translation. Philadelphia 2009, 20–24. Junginger, Franz, Wie Ritter von Kempelen im Jahre 1767 Jahrmarkt sah, http://www.jahrmarkt-banat.de/Jahrmarkt_Geschichte_Chronik.html [16.11.2015]. Justi, Johann Heinrich Gottlob von, Herrn von Justis Abhandlung von dem Unterhalt des Volkes, in: Anon. (Hrsg.), Von Getreydemagazinen, von Lebensmitteln und von dem Unterhalt des Volkes. Frankfurt a. M. 1771, 67–112. Karl I., Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel, Serenissimi gnädigste Verordnung, den Korn Verkauf in der Stadt Braunschweig betreffend. Braunschweig 1771.

Quellen

419

Karpiński, Franciszek, Klagelied eines Sarmaten am Grabe Zygmunt Augusts, in: Zdziław, Libera (Hrsg.) Polnische Aufklärung. Ein literarisches Lesebuch. Frankfurt a. M. 1989, 104–106 Kayser, Albrecht Christoph, Versuch einer kurzen Beschreibung der Kaiserlichen freyen Reichsstadt Regensburg. Regensburg 1797. Keßler, Friedrich Ludwig, Beobachtungen über die epidemischen Faulfieber in den beiden Wintern 1770 bis 1772. Halle 1773. Khevenmüller-Metsch/Graf, Rudolf/Schlitter, Hanns (Hrsg.) Aus der Zeit Maria Theresias. Tagebuch des Fürsten Johann Josef Khevenmüller-Metsch, Kaiserlichen Oberhofmeisters 1742– 1776. 1770–1773. Wien 1925. König, Karl (Hrsg.), Observationes meteorologicae. Regensburg 1782–84. Korn, Christoph Heinrich, Briefe eines Land-Edelmanns im Reich, an seinen Freund bey Hofe, über die jetzige Theurung und den Mangel des Getreides. Frankfurt a. M. 1772. Krais, Johann Konrad, Fortsetzung des Tagebuchs über diejenigen Begebenheiten welche die vormalige Reichsstadt Biberach während des französischen Kriegs vom jahr 1802 an bis zum Jahr 1815 erfahren hat […]. Samt einem Anhang von der Theuerung im Jahre 1770–1771 und 1816–1817 […]. Buchau 1822. Krünitz, Johan Georg, Oeconomische Encyklopädie, oder Allgemeines System der Land-, Hausund Staats-Wirthschaft in alphabetischer Ordnung, Bd. 26. Berlin 1782. Krünitz, Johan Georg, Oekonomisch-technologische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirthschaft und der Kunstgeschichte, Bd. 61. Berlin 1802. Kottmann, Johann Karl, Denkschrift auf die Hungerjahre 1816 u. 1817. Solothurn o. J. Lambert, Johann Heinrich, Exposé de quelques Observations qu’on pourrait faire pour répandre du jour sur la Météorologie, in: Nouveaux Mémoirs de l’Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres 2, 1771, 60–73. Langsvert, Wenzel Johann Nepomuk, Historia Medica Morbi Epidemici Sive Febris Putridae Anni 1771 & 1772. Prag 1775. Leitner [Leuthner], Carl von, Bittrede zur Zeit der Theuerung bey Gelegenheit des gewöhnlichen Feld-Umrittes, an eine löbliche Stadt-Baumannschaft zu Ingolstadt. Ingolstadt 1771. Leuthner, Johann Nepomuk, Beobachtungen und general sowohl als special Kurmethode hitziger Gall und Faulfieber über deren wesentlichen Karakter, verschiedenen Symptomen, zufälligen Nebenerscheinungen, voll- oder unvollkommene kritische Abfälle kränkliche Versetzungen oder Metastases in dem epidemischen Jahrgängen im Churfürstl. Hofkrankenhaus zu Giesing gesammlet. Nürnberg 1776. Lerche, Johann Jacob, Lebens- und Reise-Geschichte von ihm selbst beschrieben. Halle 1791. Lichtenstein, Joachim Diedrich, Zweifel und Bedenken bey der wichtigen Frage von der freyen Aus- und Einfuhr des Getraides. Braunschweig 1772. Lind, John, Letters concerning the present state of Poland. London 1773. Lüders, Phlipp Ernst, Grundriß einer zu errichtenden Acker-Schule, in welcher die Landes-­ Jugend zu einer richtigen Erkenntniß und Uebung im Landbau eingeführet und zubereitet werden könnte. Flensburg 1769. Lüders, Philipp Ernst, Kurze Anleitung zum Potatos- oder Kartoffel-Bau. Flensburg 1772. Lüning, Johann Christian (Hrsg.), Codex Augusteus, oder Neuvermehrtes Corpus Juris Saxonici. Worinnen Die in dem Churfürstenthum Sachsen und darzu gehörigen Landen, Auch denen Marggrafthümern Ober- und Nieder-Lausitz, publicirte und ergangene Constitutiones, Decisiones, bis zum Jahre 1772 enthalten. 2. Fortsetzung, 1 Theil. Leipzig 1805. Mayer, Christian Theophilus, Abriß der Epidemie zu Jena und auf den umliegenden Dörfern am Ende des 1771 und bey dem Anfange des 1772 Jahres. Jena 1772. Mayer, Johann Friedrich, Gedanken bey dem Getraidemangel in Teutschland von 1770 bis 1771 über dessen Quellen und den Mitteln wider denselben auf künftige Zeiten, in: Ders., Zwote Fortsetzung der Beyträge und Abhandlungen zur Aufnahme der Land- und Hauswirtschaft nach den Grundsätzen der Naturlehre und der Erfahrung entworfen. Frankfurt a. M. 1771, 105–208.

420

Bibliographie

Mayer, Johann Friedrich Lehrbuch für die Land- und Haußwirthe. Nürnberg 1773. Mayer, Johann Friedrich, Ausführungen zur Vermeidung der Hungersnot 1771 durch die Kombination von Gebet und Meliorationen in: Georg Christian Albrecht Rückert, Der Feldbau chemisch untersucht um ihn zu seiner letzten Vollkommenheit zu erheben. Zweiter Theil. Erlangen 1789, 175–186. Marperger, Paul Jacob, Das in Theuerung und Mißwachs-Zeiten Neueröffnete Proviant-Hauß. Nach Veranlassung Der in denen Sieben Egyptischen fruchtbaren und auch so vielen mageren Jahren gebrauchten Josephinischen Vorsichtigkeit Auch Cammeralischen und politischen Staats-Klugheit beschrieben […]. Dresden 1722. Mehlig, Johann Michael, Die neuerlich aufgeworfene und unrichtig beantwortete Frage: Sind alle diejenigen, welchen bey der bisherigen Theurung und Hungersnoth die Angesichte verfallen und die Leiber verschmachtet, sehr groß Sünder gewesen aufs neue schrifftmäßig beantwortet. Chemnitz 1773. Moore, Francis, Considerations on the Exorbitant Price of Provisions. Setting Forth the Pernicious Effects which a Real Scarcity of the Neccesities of Life must Eventually have upon the Commerce, Population, and Power, of Great Britain […]. London 1773. Möser, Justus, Ueber die Erziehung der Landleute Kinder, in: Osnabrückische Anzeigen, 1771, Beylagen, 61–64. Möser, Justus, Gedanken über die Getraidesperre, in: Ders., Sämtliche Werke. Berlin 1842. Müller, Johann Traugott, Einleitung in die Oekonomische und Physikalische Bücherkunde und in die damit verbundenen Wissenschaften bis auf die neuesten Zeiten, Bd. 2. Leipzig 1782. Müller, Wilhelm Christian, Außerordentliche Wärme und Kälte in Sommern und Wintern seit fünfhundert Jahren, nach Bremischen, Hamburgischen und Oldenburgischen Chroniken und mehreren anderweitigen Thermometer-Beobachtungen seit 100 Jahren. Bremen 1823. Münchhausen, Otto von, Der freye Kornhandel als das beste Mittel um Mangel und Theurung zu verhüten; zur Warnung auf künftige Zeiten aus der Erfahrung und aus neuen Gründen erwiesen. Hannover 1772. Nicolai, Friedrich, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker, Bd. 1. Berlin 1773. Nicolai, Friedrich, Anekdoten von König Friedrich II. von Preußen, Bd. 1. Berlin, Stettin 1788. Nicolai, Friedrich, Einige Anmerkungen über die Auswanderungen aus Wirtemberg, in: Ders., Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, Bd. 9. Berlin 1795, 195–225. Oesfeld, Gotthelf Friedrich, Beweis der Wahrheit, daß die meisten im Hunger verschmachteten Menschen vor der Zeit ihrer Heimsuchung im Jahr 1772 unbekehrt gewesen sind. O. O. o. J. Oesfeld, Gotthelf Friedrich, Beweis der Wahrheit: Daß auch Fromme in der Theurung verschmachten können […]. Chemnitz 1773. Oesfeld, Gotthelf Friedrich, Vertheidigung seiner Meynung von dem Seelenzustande derer in der Theurung im Jahre 1772 verschmachteten Menschen. Chemnitz 1774. Oesfeld, Gotthelf Friedrich, Von der gebürgischen Theuerung und Hungers-Noth, welche in den Jahren 1771 und 1772 das Gebürg sehr gedrücket hat, in: Der Erzgebürgische Zuschauer 2/1, 1774, 198–252. Parmentier, Antoine Augustin, Examen chymique des pommes de terre, dans lequel on traite des parties constituantes du bled. Paris 1773. Pfeiffer, Johann Friedrich von, Grundriß der Staatswirtschaft […]. Frankfurt a. M. 1782. Pfister, Johann Christian von, Geschichte der Teutschen, Bd. 5. Hamburg 1835. Philippi, Johann Albrecht, Der verteidigte Korn-Jude. Berlin 1765. Pleschinski, Hans(Hrsg.), Nie war es herrlicher zu leben. Das geheime Tagebuch des Herzogs von Croÿ. München 2011. Pötzsch, Christian Gottlob/ Krahl, Carl Gottlieb, Auszüge mit kurzen Betrachtungen aus dessen und Hrn. C. G. Krahls tabellarisch aufgezeichneten gemeinschaftlichen Witterungs­

Quellen

421

beobachtungen zu Meissen auf die Jahre 1772 bis mit 1776, in: Schriften der Leipziger Ökonomischen Societät 4, 1777, 67–284. Pötzsch, Christian Gottlob, Chronologische Geschichte der großen Wasserfluthen des Elbstroms seit tausend und mehr Jahren. Dresden 1784 Preuß, Johann David Erdmann (Hrsg.), Œuvres de Frédéric le Grand, 30 Bd. Berlin 1846–57. Rabe, Johann Georg, Meteorologische Beobachtungen vor das Jahr 1770 worinnen sowohl die Barometer als Thermometerhöhen, ingleichen die Wind- und Wetterveränderungen, nebst der Höhe des gefallenen Regenwassers, täglich zu drey verschiedenen mahlen aufgezeichnet worden. Anspach [1771]. Rat der Stadt Dresden, Armen-Ordnung bey der Chur-Fürstl. Sächs. Residenz-Stadt Dreßden, Neustadt, Friedrichstadt und denen Vorstädten. Dresden 1773. Rat der Stadt Nürnberg, Mandat vom 9.3.1771, http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/ object/display/bsb10490003_00001.html [6.10.2016]. Reimarus, Johann Albert Heinrich, Preisschrift über die, von der K. Societät der Wissenschaften zu Göttingen aufgegebene Frage: In wie fern und unter welchen Umständen die Anlegung beträchtlicher öffentlicher Kornmagazine dem Kornhandel und dem Lande überhaupt nachtheilig oder nützlich oder gleichgültig sey? Wie diese Magazine mit den wenigsten Kosten anzulegen und zu erhalten, auch dergestalt zu verwalten seyn, daß dem Lande daraus der meiste Nutzen zuwachse? Welche Folgen aus den öffentlichen Kornmagazinen in den Ländern, wo dergleichen befindlich sind, entstanden? und welche Folgen deren Mangel veranlasset habe, in: Hannoversches Magazin 10, 1772, 1057–1070 und 1073–1082. Reimarus, Johann Albert Heinrich, Die Freiheit des Getraidehandels nach der Natur und Geschichte. Frankfurt a. M., Leipzig 1791. Reyher, Benjamin Gottfried, Die zweymahlige und zweymahl-reichere Korn- und BrodAernte eine wöchentliche Unterredung welche bis zur Jubilate Meß-Zahlwoche fortgesetzt, und zur Hälfte zum Besten der Haus-Armen verkauft wird. Leipzig 1772. Reyher, Benjamin Gottfried, Die Kunst in allen möglichen sowohl leiblich als geistlichen Nöthen vergnügt und glücklich zu sein. Leipzig 1772. Riese, Adam [eigentlich: Friedrich Just Riedel], Widerlegung des Zinngiesserischen Vorschlags, wie dem Brodmangel in hiesiger Stadt abzuhelfen sey. [Erfurt] 1771. Rimrod, [Karl Gottfried], Bericht von der ausserordentlichen Nässe seit der Erndte 1770. bis dahin 1771, in: Anzeige von der Leipziger oekonomischen Societät in der Michaelis-Messe, 1771, 15–46. [Rimrod, Karl Gottfried], Ein Vorschlag zu Anlegung eines öffentlichen Getreydemagazins, zu Jedermanns Vortheil und Niemandes Nachtheil. Leipzig 1772. Rückert, Georg Christian Albrecht, Gedanken bey dem Getreidemangel in Deutschland von 1770 bis 1771 über dessen Quellen und Mitteln wieder denselben auf künftige Zeiten, in: Ders., Der Feldbau chemisch untersucht um ihn zu seiner letzten Vollkommenheit zu erheben. Zweiter Theil. Erlangen 1789, 175–186. Rumford, Benjamin Thompson Graf von, Ueber Speiße und Beköstigung der Armen, in: Ders., Kleine Schriften politischen, ökonomischen und philosophischen Inhalts. Weimar 1797. Sammlung aller in dem souverainen Herzogthum Schlesien […] publicirten und ergangenen Ordnungen, Edicten, Mandaten, Rescripten […], Bd. 13. Breslau 1784. Sartori, Joseph von, Auserlesene Beyträge in Reichstädtischen Sachen, Bd. 2. Frankfurt a. M., Leipzig 1778. Schäffer, Jacob Christian Gottlieb, Versuch einer medicinischen Ortbeschreibung der Stadt Regensburg, Nebst einer Uebersicht der Krankheiten, welche in den Jahren 1784/86 daselbst geherrscht haben. Regensburg 1787. Schartau, J. E., Hemliga handlingar, hörande till Sveriges historia efter konung Gustaff IIIs anträde till regeringen. Bd. 3: Handlingar till historien om revolutionen i Sverige 1772. Stockholm 1825.

422

Bibliographie

Schleiß, Bernhard Joseph, Kurze und gründliche Anweisung, wie die dermalen an so vielen Orten Deutschlands graßierende bösartige Fieber am besten zu heilen. Nürnberg 1772. Schlettwein, Johann August, Les moyens d’arreter la misere publique et d’acquitter les dettes des etats. Karlsruhe 1772. Schirach, A. G., Nachricht von einigen physischen Wahrnehmungen das 1771ste sehr nasse Jahr betreffend. Einer überaus großen Menge so genannter Wasser-Pferde, und rostartigen verdorbenen Heu und Viehsterben, in: Dresdener Gelehrte Anzeigen, 1771, 440–446. Schlözer, August Ludwig, Briefwechsel, meist historischen und politischen Inhalts, 1. Teil, Heft I–IV (1776). Göttingen 1778. Schmahling, Ludwig Christoph, Nachruff an das Publicum, die vergangene Theurung betreffend. Leipzig 1772. Schmaling, Gottlieb Christoph, Sammlung vermischter Nachrichten zur Hohnsteinischen Geschichte, Erdbeschreibung und Statistik, nebst beygefügten Nützlichen Bemerkungen zur Aufnahme der Gesundheit, des Feld-, Garten- und Hausbaues, der Haushaltung und Viehzucht [….]. Halberstadt 1791. Schmaltz, Carl Ludewig, Practische Untersuchung und Cur der jetzt um Pirna herum grassirenden faulen Fiebern denen Armen zum Besten entworfen. Pirna 1770. Scharnweber, Johann Ludwig Friedrich, Fortgesetzte Untersuchung der wichtigen Fragen: Ob es besser sey, ganze Länder durch Anlegung und beständige Unterhaltung obrigkeitlicher Magazine zu versorgen oder ob es rathsamer sey, des Endes den freyen Kornhandel uneingeschränkt zu verstatten und zu begönstigen […]. Göttingen 1773. Schmöger, Ferdinand von, Beyträge zur Witterungskunde, zunächst für Regensburg in Bayern. Regensburg 1826. Scholvin, Gerhard Philip, Die Dankbarkeit der Armen in der Theurung welche im Winter 1772 zur Zeit der viele Wochen lang anhaltenden täglichen Speisung etlicher hundert Armen auf hiesigem Waysenhause in einer Predigt daselbst vorgestellet worden. Hannover 1773. Schrader, Paul August, Die Kunst ohne Miswachs theuere Zeiten zu machen, nebst den bewährtesten Mitteln darwider. In einem Sendschreiben. Frankfurt a. M., Leipzig 1771. Schroetter, Franz Ferdinand von, Patriotische Bemerkungen gegen die an das Licht getretene Churbayrische Schrift unter dem Titel Rechtmäßigkeit derjenigen churbayerischen Landesordnungen, welche von einigen Comitial-Gesandtschaften zu Regensburg angefochten worden. Wien, Frankfurt a. M., Leipzig 1770. Sillig, Johann Gottfried, Drey höchstwichtige Fragen, an die Christen seiner Zeit, und an Seine Gemeinde insonderheit. Leipzig 1772. Smith, Adam, An inquiry into the nature and causes of the wealth of nations, 2 Bd. London 1776. Soden, Julius von, Die annonarische Gesetzgebung. Versuch eines Systems über den Getraidhandel und die Gesetze, nach welchen die Staatsverwaltung in Absicht des Getraides zu handeln hat. Nebst einer annonarischen Bibliothek. Nürnberg 1828. Sonnenfels, Joseph von, Von der Theurung in großen Städten und dem Mittel derselben abzuhelfen. Wien 1770. Sonnenfels, Joseph von, Politische Abhandlungen. Wien 1777. Spreckel, Heinrich Harms zum (Hrsg.), Des Kupferschmiedemeisters Ludwig Kleinhempel Hauschronik. Im Anhang: Die große Teuerung zu Annaberg im Jahre 1771. Nach den Originalen des Annaberger Ratsarchivs herausgegeben. Annaberg 1927. Stetten, Paul von (d. J.), Selbstbiographie. Die Lebensbeschreibung des Patriziers und Stadtpflegers der Reichsstadt Augsburg (1731–1808), Bd. 1. Hrsg. von Helmut Gier. Augsburg 2009. [Thilo, Albrecht Friedrich], Betrachtungen über die Noth der Zeiten in freien aber blos algemeinen moralisch=politischen Anmerkungen über die Beschaffenheit, die Quellen, Hülfsmittel und Abzwekkungen derselben, durch ein paar voranstehende vorhin schon gedruckte Predigten veranlaßt und dem Publikum zur Prüfung vorgelegt. Nördlingen 1771.

Quellen

423

Volz, Gustav/von Oppeln-Bronikowski, Friedrich (Hrsg.), Die Werke Friedrichs des Großen, Bd. 5. Berlin 1913. Wagemann, A. H., Land Kornmagazin in der Hessischen Grafschaft Schaumburg, in: Göttingisches Magazin für Industrie und Armenpflege 5, 1802, 265–273. Wagner, Johann Ehrenfried, Mahnung an das Mitleidige Publicum zum Besten der Nothleidenden in: Dresdener Gelehrte Anzeigen, 1772, 1–16, 41–56. Wagner, Johann Ehrenfried, Beschreibung der Marienbergischen Theuerung in den Jahren 1771 und 1772 mit den von Gott dagegen angewiesenen Mitteln. Wobey zugleich die erste öffentliche Nachricht von daselbst errichteten ökonomischen Schule für arme verlassene Kinder ertheilet wird. Dresden 1772. Wagner, Johann Ehrenfried, Das bisher im Hunger schmachtende und zum Theil verschmachtete Erzgebirge von dem Verdammungsurtheile des Herrn M. Silligs in Döbeln in einem Sendschreiben an Ihro Hochehrwürdigen Herrn M. Johann Michael Mehligen, Hochverordneten Superintendenten zu Chemnitz gerettet. Chemnitz 1773. Walcher, Joseph, Nachrichten von den Eisbergen in Tyrol. Wien 1773. Wehrs, Georg Friedrich, Ökonomische Aufsätze. Schwerin, Wismar 1791. Weigand, Wilhelm (Hrsg.), Die Briefe des Abbé Galiani. Starnberg 1947. Weller, Johann Gottfried, Predigt, von dem gnädigen Wohlgefallen Gottes, an der Sorgfalt für die Kinder, nebst einer kurzen Nachricht, von denen in Zwickau zur Versorgung der Armen besonders der Kranken und armen Kinder getroffenen Anstallten. Zwickau 1772. Wiesand, F. W. Sammlung derer von einem Wohledlen Hoch- und Wohlweisen Herrn Stadt-kammerer und Rath der des Heil. Röm. Reichs Freyen Stadt Regensburg vom Jahr 1754 bis 1802 im Drucke erlassenen Decrete. Regensburg 1802. Wikh, Johann Jakob, Loco Replicarum[…]. Die widerrechtlich angelegte Fruchtsperre, und Reichs-Constitutionswidrige Abstrickung der freyen Getraidzufuhr in die Reichsstadt Nördlingen, und deren Schranne betreffend. Göttingen 1791. Will, Georg Andreas, Theuerung zu Nürnberg in den Jahren 1770, 1771 und 1772, in: Historisch-diplomatisches Magazin für das Vaterland und angrenzende Gegenden 2, 1782, 357– 375. Wolf, Johann Heinrich, Gründliche Untersuchung und nöthige Wiederlegung der von Hrn. M. Joh. Gottfried Silligen Diakon zu Döbeln, unter denen im Druck erschienenen drey höchst wichtigen Fragen an die Christen seiner Zeit […]. Leipzig 1773. Young, Arthur, The Farmer’s Tour through the East of England. Being the register of a journey through various counties of this Kingdom, to enquire into the state of agriculture. London 1771. Zedler, Johann Heinrich, Großes vollständiges Universal-Lexikon […], Bd. 21. Halle, Leipzig 1739. Zesch, Ambrosius, Kanzelrede […] an dem Dankfest gesprochen […] in der Stifft- Pfarr- und Mutterkirche für die von Ihrer Röm. Kaiserl. und Apost. König. Majest. Marien Theresien in der Zeit der Hungersnoth empfangenen Getraidhülf vor dem Altar Gottes am 14. August 1771 ist erstattet worden. Burggau 1771. Zimmermann, Johann Georg von, Von der Windepidemie in der Stadt Hannover, und der sogenannten Neuen Krankheit, in: Hannoverisches Magazin 10, 1772, 65–90. Zinngiesser, W. A. O., Ohnmaßgeblicher Vorschlag zum Besten des Armuths, wie dem gegenwärtigen Brodmangel in hiesiger Stadt abzuhelfen seye aus Menschenliebe eröffnet. [Erfurt] 1771.

424

Bibliographie

Zeitungen Allgemeinnuetzliches Wochenblatt, besonders zur Erhaltung der unschaetzbaren Gesundheit und Heiterkeit des Gemueths zum Besten der Hausarmen, die zum Bettlen zu schamhaft sind, fuer Vornehme und Reiche, die Edelmuth genug besitzen sich nothleidender Menschen zu erbarmen. Annual Register. Bath Chronicle. Bath and Bristol Chronicle. Beherzigung der Zeit. Eine Wochenschrift zum Besten der Armen geschrieben und verkauft. Bemerkungen der Kuhrpfälzischen Physikalisch-Ökonomischen Gesellschaft. Berlinische Nachrichten. Braunschweigische Anzeigen. Caledonian Mercury. Churbaierisches Intelligenzblatt. Churbaierisches Intelligenz Extra Blatt. Der Erzgebürgische Zuschauer. Der Wohltäter. Derby Mercury. Dresdener Gelehrte Anzeigen. Erfurthisches Intelligenzblatt. Gelehrte Beyträge zu den Braunschweigischen Anzeigen. Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen unter Aufsicht der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften. Hampshire Chronicle. Hannoverisches Magazin. Ipswich Journal. Kentish Gazette. Lausitzisches Magazin. Leeds Intelligencer. Leipziger Intelligenzblatt. London Magazine. Miscellanea Saxonicae. Monatschrift aus Mitleid von vermischtem Inhalte. Müncherisches Wochenblatt in Versen. Neues Leipziger Allerley. Newcastle Courant. Oxford Journal. Pirnaisches gemeinnütziges Wochenblatt. Reading Mercury. Regensburgisches Diarium. Regensburger Zeitung. Reichs-Tags-Diarium. Scots Magazine. Wittenbergisches Wochenblatt Wöchentliche Nachrichten von Gelehrten Sachen [Regensburg]. Wöchentliche Nachrichten von Gelehrten Sachen [Leipzig].

425

Literatur

Literatur Aaraas, Olav, Befolkningskrisa i Norge 1770–74. Sult eller sykdom? Bergen 1978. Abel, Wilhelm, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Versuch einer Synopsis. Hamburg, Berlin 1974. Achilles, Walter, Deutsche Agrargeschichte im Zeitalter der Reformen und der Industrialisierung. Stuttgart 1993. Achilles, Walter, Georg III. als Königlicher Landwirt. Eine Bestätigung als Beitrag zur Personalunion, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 73, 2001, 351–408. Achilles, Walter Die Intensivierung der Landwirtschaft durch den Kartoffelbau von 1750 bis 1914. Die Bedeutung des Prozesses für Erzeuger und Verbraucher, in: Helmut Otterjahn, KarlHeinz Ziesow (Hrsg.), Die Kartoffel. Geschichte und Zukunft einer Kulturpflanze. Cloppenburg 1992, 205–235. Adamson, George C. D./Hannaford, Matthew J./Rohland, Eleonora J., Re-thinking the Present. The Role of a Historical Focus in Climate Change Adaptation Research, in: Global Environmental Change 48, 2018, 195–205. Adger, Neil W., Vulnerability, in: Global Environmental Change 16.3, 2006, 268–281. Ahmed, Moinuddin u. a., Continental-Scale Temperature Variability During the Past Two Millennia, in: Nature Geoscience 6, 2013, 339–346. Ahuja, Ravi, State Formation and »Famine Policy« in Early Colonial South India, in: Indian Economic Social History Review 39, 2002, 351–380. Alexander, John T., Bubonic Plague in Early Modern Russia. Public Health and Urban Disaster. Baltimore. London 1980. Alfani, Guido, Calamities and Economy in Renaissance Italy. The Grand Tour of the Horsemen of the Apocalypse. Basingstoke 2013. Alfani, Guido/Mocarelli, Luca/Strangio, Donatella, Italy, in: Guido Alfani, Cormac Ó’Gráda, Famine in European History. Cambridge 2017, 25–47. Allemeyer, Marie Luisa, Kein Land ohne Deich. Lebenswelten einer Küstengesellschaft in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2006. Allen, Arthur, The Fantastic Laboratory of Dr. Weigl. How Two Brave Scientists Battled Typhus and Sabotaged the Nazis. Norton 2014. Allen, Robert, The Great Divergence in European Wages and Prices from the Middle Ages to the First World War, in: Explorations in Economic History 38, 2001, 411–447. Altorfer, Stefan (Hrsg.), History of Financial Disasters. 1763–1995, Bd. 1. London 2006. Alzheimer-Haller, Heidrun, Handbuch zur narrativen Volksaufklärung. Moralische Geschichte 1780–1848. Berlin, New York 2004. Åmark, Karl, Spannmålshandel och spannmålspolitik i Sverige 1719–1830. Stockholm 1915. Andräas, Conrad, Beiträge zur Geschichte des Seuchen-, Gesundheits- und Medizinalwesens der oberen Pfalz, in: Verhandlungen des historischen Vereins von Oberpfalz und Regensburg 52, 1900, 79–286. Anon., Kasseler Wetter, in: Hessenland 9, 1895, 94–95. Angerer, Birgit, u. a. (Hrsg.), Gutes Wetter, Schlechtes Wetter. Finsterau 2014. Arbeitskreis für Dorfchronik (Hrsg.), Heimatbuch der Gemeinde Erda. Erda 1971. Arnold, David, Famine. Social Crisis and Historical Change. Oxford 1988. Arnold, David, Hunger in the Garden of Plenty. The Bengal Famine of 1770, in: Alessa Johns (Hrsg.), Dreadful Visitations. Confronting Natural Catastrophe in the Age of Enlightenment. New York 1999, 81–112. Assmann, Aleida, Formen des Vergessens. Göttingen 2016. Atkins, Gavin, What Happened to the Climate Refugees? Asian Correspondent vom 11.4.2011, http://asiancorrespondent.com/52189/what-happened-to-the-climate-refugees/ [23.10.2015].

426

Bibliographie

Atorf, Lars, Der König und das Korn. Die Getreidehandelspolitik als Fundament des brandenburgisch-preußischen Aufstiegs zur europäischen Großmacht. Berlin 1999. Baasch, Ernst, Die Handelskammer zu Hamburg 1665–1915. Hamburg 1915. Bähr, Andreas, Die Semantik der Ungarischen Krankheit. Imaginationen von Gewalt als Krankheitsursache zwischen Reformation und Aufklärung, in: Claudia Ulbrich u. a. (Hrsg.), Gewalt in der Frühen Neuzeit. Berlin 2005, 359–371. Bähr, Andreas, Die Furcht der Frühen Neuzeit. Paradigmen, Hintergründe und Perspektiven einer Kontroverse, in: Historische Anthropologie 16/2, 2008, 291–309. Bär, Max, Westpreussen unter Friedrich dem Grossen, 2 Bd. Leipzig 1909. Bärnthol, Renate, Den Reben und der Geiß, den’ wird’s nie zu heiß. Witterung und Weinbau in historischen Aufzeichnungen aus Mainstockheim, in: Birgit Angerer u. a. (Hrsg.), Gutes Wetter, Schlechtes Wetter. Finsterau 2014, 121–148. Bahlcke, Joachim, Landesherrschaft, Territorien und Staat in der Frühen Neuzeit. München 2012. Bamberger, Naphtalie, Geschichte der Juden in Kitzingen. Kitzingen 1908. Bankoff, Greg, Cultures of Disaster. Society and Natural Hazards in the Philippines. London 2003. Bankoff, Greg, The Historical Geography of Disaster. ›Vulnerability‹ and ›Local Knowledge‹ in Western Discourse, in: Ders., Georg Frerks, Dorothea Hilhorst, Mapping Vulnerability. Disasters, Development and People. London 2004, 25–36. Bankoff, Greg, Time is of the Essence. Disasters, Vulnerability and History, in: International Journal of Mass Emergencies and Disasters 22, 2004, 23–42. Bankoff, Greg/Hillhorst, Dorothea, Introduction. Mapping Vulnerability, in: Dies., Georg Frerks, Mapping Vulnerability. Disasters, Development and People. London 2004, 1–9. Barclay, Katie/Reynolds, Kimberley/Rawnsley, Ciara (Hrsg.), Death, Emotion and Childhood in Premodern Europe. London 2016. Barguet, Paul, La stèle de la famine, à Sehel. Kairo 1953. Barnett, Michael, Empire of Humanity. A History of Humanitarianism. Ithaca 2011. Barriendos, Manuel/Llasat, M. Carmen, The case of the Maldá Anomaly in the Western Mediterranean Basin (AD 1760–1800). An example of a strong climatic variability, in: Climatic Change 61, 2003, 191–216. Barth, Joseph, Geschichte des Marktes Mitterteich in der Oberpfalz nach Urkunden und anderen Quellen, in: Verhandlungen des Historischen Vereins von Oberpfalz und Regensburg 35, 1880, 153–284. Barth, Thomas, Alltag in einem Waisenhaus der Frühen Neuzeit. Das protestantische Waisenhaus von Regensburg im 17. und 18. Jahrhundert. Regensburg 2002. Barthel, Christian, Medizinische Polizey und medizinische Aufklärung. Aspekte des öffentlichen Gesundheitsdiskurses im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1989. Basini, Gian Luigi, L’uomo e il pane. Mailand 1970. Bass, Hans Heinrich, Hungerkrisen in Preußen während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. St. Katharinen 1999. Baten, Jörg, Ernährung und wirtschaftliche Entwicklung in Bayern 1730–1880. Stuttgart 1999. Beck, August, Geschichte des gothaischen Landes. Bd. 1. Gotha 1868. Beck, Karl, Regensburg. Sammelstelle der Auswanderer nach Südosteuropa und Rußland im 18. und frühen 19. Jahrhundert, 2 Bd. Regensburg 1996/2000. Beck, Tyler Goodspeed, Legislating Instability, Adam Smith, Free Banking, and the Financial Crisis of 1772. Cambridge (MA) 2016. Beck, Ulrich, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 1986. Becker, Peter, Kulturgeschichte der Verwaltung, in: Jahrbuch für europäische Verwaltungs­ geschichte 15, 2003, 311–336. Behringer, Wolfgang, Weather, Hunger and Fear: Origins of the European Witch-Hunts in Climate, Society and Mentality, in: German History 13, 1995, 1–27.

Literatur

427

Behringer, Wolfgang, Die Krise von 1570. Ein Beitrag zur Krisengeschichte der Frühen Neuzeit, in: Manfred Jakubowski-Tiessen, Hartmut Lehmann (Hrsg.), Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten. Göttingen 2003, 51–156. Behringer, Wolfgang/Lehmann, Hartmut/Pfister, Christian (Hrsg.), Kulturelle Konsequenzen der »Kleinen Eiszeit«. Göttingen 2005. Behringer, Wolfgang, Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur Globalen Erwärmung. München 2007. Behringer, Wolfgang, Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte. München 2015. Behrisch, Lars, Die Berechnung der Glückseligkeit. Statistik und Politik in Deutschland und Frankreich im späten Ancien Régime. Ostfildern 2016. Bello, Walden, The Food Wars. London 2009. Berg, Bengt Åke, Volatility, Integration and Grain Banks. Studies in Harvests, Rye Prices and Institutional Development of the Parish Magasins in Sweden in the 18th and 19th century. Diss. Stockholm 2007. Benestad, Rasmus E., Solar Activity and Earth’s Climate. Chichester 2002. Berghoff, Hartmut/Vogel, Jacob (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels. Frankfurt a. M. 2004. Bergstresse, Michael/Möllenberg, Franz-Josef/Pohl, Gerd (Hrsg.), Globale Hungerkrise. Der Kampf um das Menschenrecht auf Nahrung. Hamburg 2009. Berner, Esther, Im Zeichen von Vernunft und Christentum. Die Zürcher Landschulreform im ausgehenden 18. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2010. Berry, Helen, The Great Tyne Flood of 1771. Community Responses to an Environmental Crisis in the Early Anthropocene, in: Jason Kelly, u. a. (Hrsg.), Rivers of the Anthropocene. Oakland 2018, 119–134, 126. Beyer, Constantin, Neue Chronik von Erfurt oder Erzählung alles dessen, was sich vom Jahre 1736 bis zum Jahr 1815 in Erfurt Denkwürdiges ereignete. Erfurt 1821. Bisle, Max, Die öffentliche Armenpflege der Reichsstadt Augsburg mit Berücksichtigung der einschlägigen Verhältnisse in anderen Reichsstädte Süddeutschlands – ein Beitrag zur christlichen Kulturgeschichte. Paderborn 1904. Blackbourn, David, Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft. München 2007. Blaich, Fritz, Die wirtschaftspolitische Tätigkeit der Kommission zur Bekämpfung der Hungersnot in Böhmen und Mähren 1771–1772, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 56, 1969, 299–331. Blaich, Fritz, Die Wirtschaftspolitik des Reichstages im Heiligen Römischen Reich. Ein Beitrag zur Problemgeschichte wirtschaftlichen Gestaltens. Stuttgart 1970. Blaikie, Piers/Wisner, Ben/Cannon, Terry/Davis, Ian, At Risk. Natural Hazards, People’s Vulnerability and Disasters. London, New York 2003. Blankertz, Herwig, Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar 1982. Blanning, Tim, Frederick the Great. King of Prussia. London 2015. Blaschke, Karlheinz, Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur industriellen Revolution. Weimar 1967. Blickle, Renate, Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns, in: Günter Birsch (Hrsg.), Grund- und Fundamentalrechte von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft. Göttingen 1987. Bloch, Ernst, Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt a. M. 1973. Blockmans, Wim/Holenstein, André /Matieu, Jon (Hrsg.), Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300–1900. Farnham 2009. Bode, Wilhelm, Das vorgoethesche Weimar. Berlin 1908.

428

Bibliographie

Bömelburg, Hans-Jürgen, Friedrich II. zwischen Deutschland und Polen. Ereignis- und Erinnerungsgeschichte. Stuttgart 2011. Bömelburg, Hans-Jürgen, Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat. Vom Königlichen Preußen zu Westpreußen (1756–1806). München 1995. Bömelburg, Hans-Jürgen/Gestrich, Andreas/Schnabel-Schüle, Helga (Hrsg.), Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusions- und Exklusionsmechanismen – Traditionsbildung – Vergleichsebenen. Osnabrück 2013. Bönig, Karl, Die Auswirkungen der Hungerjahre 1770–1772 auf die letzte Großepidemie der Mutterkornseuche und die damals und in der Folgezeit veranlaßten Gegenmaßnahmen, in: Nachrichtenblatt des deutschen Pflanzenschutzdienstes 24, 1972, 122–127. Böning, Holger, Das Intelligenzblatt als Medium praktischer Aufklärung. Ein Beitrag zur Geschichte der gemeinnützig-ökonomischen Presse in Deutschland von 1768 bis 1780, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 12, 1987, 107–133. Böning, Holger/Siegert, Reinhart, Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850, Bd. 1. Stuttgart 1990, 383–530. Böning, Holger, Medizinische Volksaufklärung und Öffentlichkeit, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 15, 1990, 41–69. Böning, Holger »Und weiß wie Alabaster«. Die Kartoffel in der volksaufklärerischen Literatur, in: Helmut Otterjahn, Karl-Heinz Ziesow (Hrsg.), Die Kartoffel. Geschichte und Zukunft einer Kulturpflanze. Cloppenburg 1992, 65–78. Böning, Holger, Aufklärung und Presse im 18. Jahrhundert, in: Hans-Wolf Jäger (Hrsg.), »Öffentlichkeit« im 18. Jahrhundert. Göttingen 1997, 151–164. Bohle, Hans-Georg/Watts, Michael (Hrsg.), Hunger, Famine and the Space of Vulnerability, in: GeoJournal 30, 1993, 117–125. Bohstedt, John, The Politics of Provisions. Food Riots, Moral Economy and Market Transition in England, c. 1550–1850. Farnham 2010. Boia, Lucian, Weather and the Imagination. London 2005. Boltanski, Luc, La souffrance à distance. Morale humanitaire, médias et politique. Paris 1993. Bosher, J. F., The French Crisis of 1770, in: History. Journal of the Historical Association 57, 1972, 17–31. Bouniatian, Mentor, Die Krise von 1772, in: Ders., Geschichte der Handelskrisen in England im Zusammenhang mit der Entwicklung des englischen Wirtschaftslebens 1640–1840. München 1908, 135–142. Bouton, Cynthia A., The Flour War. Gender, Class, and Community in Late Ancien Régime French Society. University Park (PA) 1993. Boyce, Charlotte, Representing the Hungry Forties in Image and Verse. The Politics of Hunger in Early-Victorian Illustrated Periodicals, in: Victorian Literature and Culture 40, 2012, 421–449. Bradley, Raymond S., Paleoclimatology: Reconstructing Climates of the Quaternary. Amsterdam 32015. Brakensiek, Stefan, Agrarreformen und Ländliche Gesellschaft. Die Privatisierung der Marken in Nordwestdeutschland 1750–1850. Paderborn 1991, 432–434. Brakensiek, Stefan, Akzeptanzorientierte Herrschaft. Überlegungen zur politischen Kultur der Frühen Neuzeit, in: Helmut Neuhaus (Hrsg.), Die Frühe Neuzeit als Epoche. München 2009, 395–406. Brandenberger, Anton, Ausbruch aus der »Malthusianischen Falle«. Versorgungslage und Wirtschaftsentwicklung im Staate Bern 1755–1797. Bern 2004. Bräuer, Helmut, Bettel- und Almosenzeichen zwischen Norm und Praxis, in: Gerhard Jaritz (Hrsg.), Norm und Praxis im Alltag des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Wien 1997, 75–93.

Literatur

429

Bräuer, Helmut, Der Leipziger Rat und die Bettler. Quellen und Analysen zu Bettlern und Bettelwesen in der Messestadt bis ins 18. Jahrhundert. Leipzig 1997. Bräuer, Helmut, Reflexionen über den Hunger im Erzgebirge um 1700, in: Manfred Hettling, Uwe Schirmer, Susanne Schötz, Christoph Volkmar (Hrsg.), Figuren und Strukturen. Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag. München 2002, 225–239. Bräuer, Helmut, Armut in Bergstädten des sächsischen Erzgebirges, in: Karl Heinrich Kaufhold/Wilfried Reinighaus (Hrsg.), Stadt und Bergbau. Köln, Weimar, Wien 2004, 199–238. Brázdil, Rudolf/Valásek, Hubert/Luterbacher, Jürg/Macková, Jarmila, Die Hungerjahre 1770– 1772 in den böhmischen Ländern. Verlauf, meteorologische Ursachen und Auswirkungen, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 12, 2001, 44–78. Brendecke, Arndt, Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft. Köln, Weimar, Wien 2009. Bretschneider, Falk, Gefangene Gesellschaft. Eine Geschichte der Einsperrung in Sachsen des 18. und 19. Jahrhundert. Konstanz 2008, 523–540. Brooke, John L., Climate Change and the Course of Global History. A Rough Journey. New York 2014. Broman, Thomas, The Transformation of German Academic Medicine 1750–1820. Cambridge 1996. Brüggemeier, Franz Josef, Schranken der Natur. Umwelt, Gesellschaft, Experimente 1750 bis heute. Essen 2014. Brügman, Ursula, Die Öffentliche Armenpflege der Stadt Hannover in den Jahren 1700 bis 1824, in: Hannoversche Geschichtsblätter NF 24, 1970, 89–146. Brütsch, Max, Kleinjogg und die Landwirtschaftsreform im 18. Jahrhundert. Oberwenningen 2012. Büchner, Thomas/Hoffmann-Rehnitz, Philip R., Introduction. Irregular Economic Practices as a Topic of Modern (Urban) History. Problems and Possibilities, in: Dies. (Hrsg.), Shadow Economies and and Irregular Work in Urban Europe, 16th to Early 20th Centuries. Wien, Berlin, Münster 2011, 3–36. Bundesministerium des Inneren, Konzeption Zivile Verteidigung. Berlin 2016, http://www.bmi. bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/2016/konzeption-zivile-verteidigung. pdf?__blob=publicationFile [1.9.2016]. Büntgen, Ulf u. a., Assessing the Spatial Signature of European Climate Reconstructions, in: Climate Research 41, 2010, 125–130 Büntgen, Ulf u. a., 2500 Years of European Climate Variability and Human Susceptibility, in: Science 331, 2011, 578–582. Burri, Max/Zenhäusern, Gregor, Sommertemperaturen im Spiegel von Ernte- und Schneebeobachtungen aus Bern und Wallis 1766–1912, in: Gabriel Imboden, Christian Pfister (Hrsg.), Klimageschichte in den Alpen. Methoden, Probleme, Ergebnisse. Brig 2009, 189–206. Bush, Ray, Food Riots. Poverty, Power and Protest, in: Journal of Agrarian Change 10, 2010, 119–129. Buszello, Horst, »… das solicher großer hunger und not was in dem lande allenthalb, das die welt nach verzaget worden …«. Ergebnisse einer Datenbank zu Mangeljahren und Hungersnöten am Ober- und Hochrhein in vorindustrieller Zeit (1350–1850), in: Alemannisches Jahrbuch 59/60, 2011/12, 113–145. Campbell, Bruce, Nature as Historical Protagonist. Environment and Society in Pre-Industrial England, in: Economic History Review 63.2, 2010, 281–314. Campbell, Bruce, The Great Transition. Climate, Disease and Society in the Late-Medieval World. Cambridge 2016. Campbell, Bruce, The European Mortality Crises of 1346–52 and Advent of the Little Ice Age, in: Dominik Collet, Maximilian Schuh (Hrsg.), Famines During the ›Little Ice Age‹ (1300–1800). Socionatural Entanglements in Premodern Societies. Cham 2018, 19–42.

430

Bibliographie

Camporesi, Piero, Das Brot der Träume. Hunger und Halluzinationen im vormodernen Europa. Frankfurt a. M. u. a. 1990. Caviedes, César, El Niño – Klima macht Geschichte. Darmstadt 2014. Cegielski, Tadeusz, Das alte Reich und die erste Teilung Polens 1768–1774. Wiesbaden 1988. Chakrabarty, Dipesh, Postcoloniality and the Artifice of History. Who Speaks for Indian Pasts, in: Representations 37, 1992, 1–26. Chakrabarty, Dipesh, The Climate of History. Four Theses, in: Critical Inquiry 35, 2009, 197–222. Chambers, Robert, Editorial Introduction. Vulnerability, Coping, and Policy, in: IDS Bulletin 20, 1989, 1–7. Chambers, Robert/Gordon Conway, Sustainable Rural Livelihoods. Practical Concepts for the 21st Century. IDS discussion paper 296, 1991, http://opendocs.ids.ac.uk/opendocs/bitstream/ handle/123456789/775/Dp296.pdf [24.5.2016]. Chamenisch, Chantal, Endlose Kälte. Witterungsverlauf und Getreidepreise in den Burgundischen Niederlanden im 15. Jahrhundert. Basel 2015. Chamenisch, Chantal, Two Decades of Crisis: Famine and Dearth during the 1480s and 1490s in Western and Central Europe, in: Dominik Collet, Maximilian Schuh (Hrsg.), Famines During the ›Little Ice Age‹ (1300–1800). Socionatural Entanglements in Premodern Societies. Cham 2018, 69–90. Casty, Carlo/Raible, Cristoph C./Stocker, Thomas F./Wanner, Herbert/Luterbacher, Jürg, A European Pattern Climatology 1766–2000, in: Climate Dynamics 29, 2007, 791–805. Charlesworth, Andrew, An Atlas of Rural Protest in Britain 1548–1900. London 1983. Chaudhuri, Nani Gopal, Cartier, Governor of Bengal, 1769–1772. Kalkutta 1970. Chowdhury-Zilly, Aditee Nag, The Vagrant Peasant. Agrarian Distress and Desertion in Bengal 1770 to 1830. Wiesbaden 1982. Collet, Dominik, Storage and Starvation. Public Granaries as Agents of ›Food Security‹ in Early Modern Europe, in: Historical Social Research/Historische Sozialforschung 35, 2010, 234–253. Collet, Dominik, ›Moral economy‹ von oben? Getreidesperren als territoriale und soziale Grenzen während der Hungerkrise 1770–72, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 29, 2011, 45–61. Collet, Dominik/Ansgar Schanbacher/Thore Lassen (Hrsg.), Handeln in Hungerkrisen. Neue Perspektiven auf soziale und klimatische Vulnerabilität. Göttingen 2012. Collet, Dominik, Vulnerabilität als Brückenkonzept der Hungerforschung, in: Ders./Ansgar Schanbacher/Thore Lassen (Hrsg.), Handeln in Hungerkrisen. Neue Perspektiven auf soziale und klimatische Vulnerabilität. Göttingen 2012, 13–26. Collet, Dominik, Eine Kultur der Unsicherheit? Empowering Interactions während der Hungerkrise 1770–72, in: Christoph Kampmann/Ulrich Niggemann (Hrsg.), Sicherheit in der Frühen Neuzeit. Norm. Praxis. Repräsentation. Köln, Weimar, Wien 2013, 367–380. Collet, Dominik, »Hunger ist der beste Unterhändler des Friedens«. Die Hungerkrise 1770–72 und die Erste Teilung Polen-Litauens, in: Hans-Jürgen Bömelburg, Andreas Gestrich, Helga Schnabel-Schüle (Hrsg.), Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusions- und Exklusionsmechanismen – Traditionsbildung – Vergleichsebenen. Osnabrück 2013, 155–170. Collet, Dominik, Hungern und Herrschen. Umweltgeschichtliche Verflechtungen der Ersten Teilung Polens und der europäischen Hungerkrise 1770–72, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 62.2, 2014, 237–254. Collet, Dominik, Waren alle Hungertoten Sünder? Eine frühneuzeitliche Debatte an der Schnittstelle von Religion und Umwelt, in: Sven Petersen, Dominik Collet, Marian Füssel (Hrsg.), Umwelten. Ereignisse, Räume und Erfahrungen der Frühen Neuzeit. Göttingen 2015, 129– 144. Collet, Dominik, Mitleid machen. Die Nutzung von Emotionen in der Hungersnot 1770–1772, in: Historische Anthropologie. Kultur – Gesellschaft – Alltag 23, 2015, 54–69. Collet, Dominik/Krämer, Daniel, Germany, Switzerland and Austria, in: Guido Alfani, Cormac Ó Gráda (Hrsg.), Famine in European History. Cambridge 2017, 101–118.

Literatur

431

Collet, Dominik/Schuh, Maximilian (Hrsg.), Famines During the ›Little Ice Age‹ (1300–1800). Socionatural Entanglements in Premodern Societies. Cham 2018. Cook, Edward R. u. a., Old World Megadroughts and Pluvials Dduring the Common Era, in: Science Advances 1, 2015, DOI: 10.1126/sciadv.1500561. Cronon, William, A Place for Stories. Nature, Histories and Narrative, Journal of American History 78, 1992, 1347–1376. Cronon, William, Uncommon Ground. Rethinking the Human Place in Nature. New York 1996. Cube, Felix von, Gefährliche Sicherheit. Die Verhaltensbiologie des Risikos. München 1990. Cullen, Karen J., Famine in Scotland. The »Ill Years« of the 1690s. Edinburgh 2010. Curschmann, Fritz, Hungersnöte im Mittelalter. Ein Beitrag zur deutschen Wirtschaftsgeschichte des 8. bis 13. Jahrhunderts. Leipzig 1900. D’Arcy, Wood Gillen, Tambora. The Eruption That Changed the World. Princeton 2013. Damodaran, Vinita, Famine in Bengal. A Comparison of the 1770 Famine in Bengal and the 1897 Famine in Chotanagpur, in: The Medieval History Journal 10, 2007, 143–181. Davis, Mike, Late Victorian Holocausts. El Niño Famines and the Making of the Third World. London, New York 2002. Delumeau, Jean, Die Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 4. bis 18. Jahrhunderts, 2 Bd. Hamburg 1985 (zuerst Paris 1978). Derflinger, Antonie [verh. Wartburg], Die große Getreideteuerung 1770–1774 in Salzburg. Diss. Salzburg [1945]. Descola, Philippe, Jenseits von Natur und Kultur. Berlin 2013. De Vincenti, Andrea, Educationalizing Hunger. Dealing with the Famine of 1770/71 in Zurich, in: Dominik Collet, Maximilian Schuh (Hrsg.), Famines During the ›Little Ice Age‹ (1300– 1800). Socionatural Entanglements in Premodern Societies. Cham 2018, 195–210. Diamond, Jared, Collapse. How Societies Chose to Fail or Succeed. New York 2005. Diemer, Kurt, Ursachen und Verlauf der Auswanderung aus Oberschwaben im 18. Jahrhundert, in: Márta Fata (Hg), »Die Schiff stehn schon bereit«. Ulm und die Auswanderung nach Ungarn im 18. Jahrhundert. Stuttgart 2009, 37–58. Dietrich, Richard (Hrsg.), Die politischen Testamente der Hohenzollern. Köln, Wien 1986. Dillen, Susanne van, Naturrisikoforschung und das Konzept der sozialen Verwundbarkeit. Zum Stand der Diskussion, in: Gerd Tetzlaff u. a. (Hrsg.), Zweites Forum Katastrophenvorsorge. Extreme Naturereignisse – Folgen, Vorsorge, Werkzeuge. Bonn, Leipzig 2002, 143–149. Dinges, Martin, Aushandeln von Armut in der Frühen Neuzeit. Selbsthilfepotential, Bürgervorstellungen und Verwaltungslogiken, in: Werktstatt Geschichte 10, 1995, 7–15. Dipper, Christof, Deutsche Geschichte 1648–1789 (Moderne Deutsche Geschichte 3). Frankfurt a. M. 1991. Dirks, Nicholas B., The Scandal of Empire. India and the Creation of Imperial Britain. Cambridge (MA) 2006. Dobrovolný, Petr/Brázdil, Rudolf/Trnka, Mirek/Kotyza, Oldřich/Valášek, Hubert, Precipitation Reconstruction for the Czech Lands, AD 1501–2010, in: International Journal of Climatology 35.1, 2015, 1–14. Donnelly, James S., Hearts of Oak, Hearts of Steel, in: Studia Hibernica 21, 1981, 7–73. Döring, Heinrich, Die deutschen Kanzelredner des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Neustadt/Orla 1830. Dorn, Franz, »Not kennt kein Gebot«. Der Notdiebstahl (›Stehlen in rechter Hungersnot‹) in der frühneuzeitlichen Strafrechtsdogmatik, in: Sebastian Schmidt (Hrsg.), Arme und ihre Lebensperspektiven in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. u. a. 2008, 207–236. Dornheim, Jutta/Wolfgang Alber, Ärztliche Fallberichte des 18. Jahrhunderts als volkskundliche Quelle, in: Zeitschrift für Volkskunde 78, 1982, 28–43. Dribe, Martin/Olsson, Mats /Svensson, Patrick, Nordic Europe, in: Guido Alfani, Cormac Ó’Gráda (Hrsg.), Famine in European History. Cambridge 2017, 185–211.

432

Bibliographie

Drury, Susan M., The Use of Wild Plants as Famine Foods in Eighteenth Century Scotland and Ireland, in: Plant Lore Studies 18, 1984, 43–60. Dülmen, Richard van, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der Frühen Neuzeit. München 1988. Ebeling, Dietrich/Irsigler, Franz, Getreideumsatz, Getreide- und Brotpreise in Köln 1368–1797, 2 Bde. Köln, Wien 1976/1977. Ebert, Jochen, Auf der Suche nach Lohn und Brot. Fremde in der Stadt und auf dem Land in der Landgrafschaft Hessen-Kassel im 17. und 18. Jahrhundert, in: Hessische Blätter für Volksund Kulturforschung, N.F. 43, 2009, 56–74. Ebert, Stephan, Starvation under Carolingian Rule. The Famine of 779 and the Annales Regni Francorum, in: Dominik Collet, Max Schuh (Hrsg.), Famines during the Little Ice Age. Socionatural Entanglements in Premodern Societies. Cham 2018, 211–230. Echternkamp, Jörg, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840). Frankfurt a. M. 1998. Edvinnson, Rodney, Swedish Harvests 1665–1820. Early Modern Growth in the Periphery of European Economy; in: Scandinavian Economic History Review 57, 2009, 2–25. Egner, Heike/Schorch Marén/Hitzler, Sarah/Bergmann, Jörg R./Wulf, Volker, Communicating Disaster. A Case for Qualitative Approaches to Disaster Research. Report of a Research Group at the Center for Interdisciplinary Research (ZiF), Bielefeld University, in: Zeitschrift für Soziologie 41, 2012, 247–255. Egner, Heike/Schorch, Marén/Voss, Martin (Hrsg.), Learning and Calamities. Practices, Interpretations, Patterns. London, New York 2014. Eichhorn, Karl, Die Hungersnot von 1770 bis 1773 im Sonneberger Oberamt, in: Veröffentlichungen des Museumsvereins Schieferbergbau Steinach/Thüringen e. V. 9, 1996, 1–12. Ellenblum, Ronnie, The Collapse of the Eastern Mediterranean. Climate Change and the Decline of the East. Cambridge 2012. Emmerig, Hubert, Die Kornjudenmedaillen in der Sammlung Brettauer, in: Geldgeschichtliche Nachrichten 269, 2013, 258–270. Endfield, Georgina H., Climate and Crisis in Eighteenth Century Mexico, in: Medieval History Journal 10, 2007, 99–125. Endreß, Martin/Maurer, Andrea (Hrsg.), Resilienz im Sozialen. Wiesbaden 2015. Engels, Jens Ivo/Nordmann, Alfred (Hrsg.), Was heißt Kritikalität? Zu einem Schlüsselbegriff der Debatte um Kritische Infrastrukturen. Bielefeld 2018. Engler, Steven/Werner, Johannes P., Processes Prior and During the Early 18th Century Irish Famines. Weather Extremes and Migration, in: Climate 3, 2015, 1035–1056. Ensor, Phil, The Functional Silo Syndrome, in: AME Target 16, 1988, 16. Entman, Robert N., Framing. Towards Clarification of a Fractured Paradigm, in: Journal of Communication 43, 1993, 51–58. Erhard, Heinrich August, Erfurth mit seinen Umgebungen; nach seiner Geschichte und seinen gegenwärtigen gesamten Verhältnissen dargestellt. Ein Handbuch für Einheimische und Fremde. Erfurt 1829. Evans, Richard J., Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte 1532– 1987. Berlin, Hamburg 2001. Fagan, Brian, Floods, Famines, and Emperors: El Nino and the Fate of Civilizations. New York 1999. Fagan, Brian, The Little Ice Age. How Climate made History 1300–1850. New York 2000. Farmer, Paul, On Suffering and Structural Violence. A View from Below, in: Daedalus 125, 1996, 261–283. Fassin, Didier, La raison humanitaire. Une histoire morale du temps présent. Paris 2010. Fata, Márta (Hrsg.), »Die Schiff stehn schon bereit«. Ulm und die Auswanderung nach Ungarn im 18. Jahrhundert. Stuttgart 2009. Fauci, Anthony (Hrsg.), Harrison’s Internal Medicine. New York 1998.

Literatur

433

Fenske, Kurt, Das Rinderpestjahr 1771 in Mecklenburg-Strelitz. Diss. Tierärtzliche Hochschule. Berlin 1934. Fernández-Armesto, Felipe/Smail, Daniel Lord, Food, in: Daniel Lord Smail, Andrew Shrylock (Hrsg.), Deep History. The Architecture of Past and Present. Berkeley (CA) 2011, 131–159. Fertig, Georg, »Man müßte es sich schier fremd vorkommen lassen«. Auswanderungspolitik am Oberrhein im 18. Jahrhunderts, in: Mathias Beer, Dittmar Dahlmann (Hrsg.), Migration nach Ost-und Südeuropa vom 18. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1999, 71–89. Festausschuß, Ernstthal 275 Jahre. Hohenstein-Ernstthal 1955. Findeisen, Jörg-Peter, Das Hungerjahr 1771 in Schwedisch-Pommern. Ein bisher unbekannter Briefbestand im Reichsarchiv Stockholm, in: Erich Donnert (Hrsg.), Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günther Mühlpfordt, Bd. 6. Weimar 2002, 775–785. Finzsch, Norbert, Obrigkeit und Unterschichten. Zur Geschichte der rheinischen Unterschichten gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1990. Fischer-Kowalski, Marina/Erb, Karlheinz, Epistemologische und konzeptionelle Grundlagen der Sozialen Ökologie, in: Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft 148, 2006, 33–56. Fiskio, Janet, Apocalypse and Ecotopia. Narratives in Global Climate Change Discourse, in: Race, Gender, and Class 19, 2012, 12–36. Flückinger, Simon, u. a., Simulating Crop Yield Losses in Switzerland for Historical and Present Tambora Climate Scenarios, in: Environmental Research Letters 12, 2017, 074026. Flückiger Strebel, Erika, Zwischen Wohlfahrt und Staatsökonomie. Armenfürsorge auf der bernischen Landschaft im 18. Jahrhundert. Zürich 2002. Fogel, Robert William, The Escape from Hunger and Premature Death. Cambridge 2004. Fontaine, Laurence, L’Économie morale. Pauvreté, crédit et confiance dans l’Europe préindustrielle. Paris 2008. Foucault, Michel, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernmentalität I. Frankfurt a. M. 2004. François, Etienne/Seifahrt, Jörg/Struck, Bernhard, Einleitung. Grenzen und Grenzräume. Erfahrungen und Konstruktionen, in: Dies. (Hrsg.), Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M., New York 2007, 7–32. Franks, Suzanne, Reporting Disasters. Famine, Aid, Politics and the Media. London 2013. Franz, Georg, Weinerträgnisse, Weinpreise, Witterung und ähnliches mehr in der Gemeinde St. Martin von 1767 bis zur Gegenwart. Nach alten und neueren Aufzeichnungen zusammengestellt. Ludwigshafen [1927]. Franz, Günther/Haushofer, Heinz, Große Landwirte. Frankfurt a. M. 1970. Fraser, Evan D. G./Rimas, Andrew, Empires of Food. Feast, Famine and the Rise and Fall of Civilizations. New York u. a. 2010. Freidson, Eliot, Die Dominanz der Experten. Zur sozialen Struktur medizinischer Versorgung. München 1975. Freitag, Werner, Krisen vom »type ancien«. Eine Fallstudie. Die Grafschaft Lippe 1770–1773, in: Lippische Mitteilungen 55, 1986, 97–139. Frevert, Ute, Gefühlspolitik. Friedrich II. als Herr über die Herzen? Göttingen 2012. Freyh, Antje, Karl Theodor von Dalberg. Ein Beitrag zum Verhältnis von politischer Theorie und Regierungspraxis in der Endphase des Aufgeklärten Absolutismus. Frankfurt a. M., Bern 1978. Friedrich, Karin, Brandenburg-Prussia, 1466–1806. The Rise of a Composite State. Basingstoke 2012. Friedrich, Susanne, Drehscheibe Regensburg, Das Informations- und Kommunikationssystem des Immerwährenden Reichstags um 1700. Berlin 2007.

434

Bibliographie

Frömming, Urte Undine, Naturkatastrophen. Kulturelle Deutung und Verarbeitung. Frankfurt a. M. 2006. Fulda, Daniel: »Wann wir die Menschenfresser nicht in Africa oder sonsten/sondern vor unserer Hausthür suchen müssen.« Hungeranthropophagie im Dreißigjährigen Krieg und der europäische Kannibalismusdiskurs, in: Hedwig Röckelein (Hrsg.), Kannibalismus und europäische Kultur. Tübingen, 1996, 143–175. Füssel, Marian, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Repräsentation und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006. Füssel, Marian, Auf dem Weg zur Wissensgesellschaft. Neue Forschungen zur Kultur des Wissens in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für historische Forschung 34/2, 2007, 273–289. Füssel, Marian, Der Siebenjährige Krieg. Ein Weltkrieg im 18. Jahrhundert. München 2010. Füssel, Marian, Die Materialität der Frühen Neuzeit. Neuere Forschungen zur Geschichte der materiellen Kultur, in: Zeitschrift für Historische Forschung 42/3, 2015, 433–463. Füssel, Marian, Die Praxis der Theorie. Soziologie und Geschichtswissenschaft im Dialog, in: Arndt Brendecke (Hrsg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure, Handlungen, Artefakte. Köln, Weimar, Wien 2015. Gailus, Manfred, Die Erfindung des »Korn-Juden«. Zur Erfindung eines antijüdischen Feindbildes des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 272, 2001, 597–622. Gailus, Manfred, Contentious Food Politics. Sozialer Protest, Märkte und Zivilgesellschaft. 18.–20. Jahrhundert (Discussion Papers, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung). Berlin 2004 http://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/11831 [24.04.2017]. Garnsey, Peter, Famine and Food Supply in the Graeco-Roman World. Responses to Risk and Crisis. Cambridge 1988. Gast, Marceau/Sigaut, François, Les techniques de conservation des grains à long terme. Leur rôle dans la dynamique des systèmes de cultures et des sociétés. 2 Bd. Paris 1974. Gebhardt, Hans, Das »Anthropozän«. Zur Konjunktur eines Begriffs, Heidelberger Jahrbücher Online 1, 2016, 28–40. Gehrmann, Rolf, Bevölkerungsgeschichte Norddeutschlands zwischen Aufklärung und Vormärz. Berlin 2000. Gemeiner, Carl Theodor, Regensburgische Chronik, Bd. 3–4. München 1971. Georgi, Matthias, Heuschrecken, Erdbeben und Kometen. Naturkatastrophen und Naturwissenschaft in der englischen Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts. München 2009. Gestrich, Andreas, Religion in der Hungerkrise von 1816/1817, in: Manfred Jakubowski-Tiessen, Hartmut Lehmann (Hrsg.), Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten. Göttingen 2003, 275–293. Geyken, Frauke, Pfälzische Auswanderung nach England, Irland und Amerika im Jahre 1709 und ihre Rezeption in Hannover, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 81, 2009, 251–269. Gier, Helmut, Friedensgemälde, in: Ders. (Hrsg.), 350 Jahre Augsburger Hohes Friedensfest. Katalog der Ausstellung der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, 22. Juli bis 22. Oktober 2000. Augsburg 2000. Gier, Helmut/Janota, Johannes, (Hrsg.), Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wiesbaden 1997. Gierl, Martin, Geschichte als präzisierte Wissenschaft. Johann Christoph Gatterer und die Historiographie des 18. Jahrhunderts im ganzen Umfang. Stuttgart 2012. Ginsburg, Michal Peled, Narratives of Survival, in: Novel 42, 2009, 410–416. Gimmi, Urs/Luterbacher, Jürg/Pfister, Christian/Wanner, Herbert, A Method to Reconstruct Long Precipitation Series Using Systematic Descriptive Observations in Weather Diaries. The Example of the Precipitation Series for Bern, Switzerland (1760–2003), in: Theoretical and Applied Climatolology 87, 2007, 185–197.

Literatur

435

Glatzel, Hans, Das Brot in der heutigen Ernährung. Ulm 1961. Glauben, Thomas u. a., Alarm oder Fehlalarm? Ergebnisse eines Literaturüberblicks über empirische Forschungsarbeiten zur Finanzspekulation mit Agrarrohstoffen, in: Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien Policy Brief 9, 2012, 1–4. Goldman, Joseph Richard, Count Karl Hatzfeld and the Bohemian Famine of 1771, in: Austrian History Yearbook 19, 1984, 73–87. Golinski, Jan, British Weather and the Climate of Enlightenment. Chicago 2007. Göppert, H., Der Lößnitzer Hungerstein, in: Lößnitzer Heimatblatt 260/261/262, 2012, 14/12/8. Göttmann, Frank, Kreuzschiffe auf dem Bodensee. Die grenzpolizeiliche Überwachung des Getreidehandels im 18. Jahrhundert, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 106, 1988, 145–182. Göttmann, Frank, Die Versorgungslage in Überlingen zur Zeit der Hungerkrise 1770/71, in: Ders. (Hrsg.), Vermischtes zur neueren Sozial-, Bevölkerungs- und Wirtschaftsgeschichte des Bodenseeraumes. Horst Rabe zum Sechzigsten. Konstanz 1990, 75–134. Göttmann, Frank, Getreidemarkt am Bodensee. Raum, Wirtschaft, Politik, Gesellschaft (1650– 1810). St. Katharinen 1991. Grab, Alexander Israel, The Politics of Subsistence. Reforms in the Grain Trade and Bread Production in Austrian Lombardy in the Age of Enlightened Absolutism (1748–1790). Diss. University of California, Los Angeles 1980, 306–347. Graber, Rolf, Protektionistische Marktsteuerung oder physiokratische Freihandelsdoktrin? Zum Verhalten städtischer Obrigkeiten der Alten Eidgenossenschaft während der Hungerkrise 1770/72, in: Michael Fischer u. a. (Hrsg.), Aufklärung, Freimaurerei und Demokratie im Diskurs der Moderne. Festschrift zum 60. Geburtstag von Helmut Reinalter. Frankfurt a. M. u. a. 2003, 123–142. Gray, Marion W., Ökologie, Gesellung und Herrschaft im königlichen Vorwerkdorf Schlalach in den 1760er Jahren, in: Silke Lesemann, Axel Lubinski (Hrsg.), Ländliche Ökonomien. Arbeit und Gesellung in der frühneuzeitlichen Agrargesellschaft. Berlin 2007, 125–148. Greco, Monica, Logics of Interdisciplinarity. The Case of Medical Humanities, in: Andrew Barry, Georgina Born (Hrsg.), Interdisciplinarity. Reconfiguration of the Social and Natural Sciences. London 2013, 226–246. Greyerz, Kaspar von, Die englischen und französischen Brotaufstände des 18. Jahrhunderts und die Anfänge der Französischen Revolution, in: Monika Gagenmeier, Sabine Holtz (Hrsg.), Krisenbewußtsein und Krisenbewältigung in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. u. a. 1992. Grimm, Michael, Versuch einer Geschichte des ehemaligen Reichsfleckens und des jetzt noch so berühmten Wallfahrtsortes Altdorf, gen. Weingarten, nebst seiner Umgebung. Ravensburg 1864. Groeber, Valentin, Ein Staubsauger namens Emotion. Geschichte und Gefühl als akademischer Komplex, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 7, 2013, 109–116. Groh, Dieter, Anthropologische Dimensionen der Geschichte. Frankfurt a. M. 1992. Groh, Dieter/Kempe, Michael/Mauelshagen, Franz (Hrsg.), Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Tübingen 2003. Groß, Mathias/Hoffmann-Riem, Holger/Krohn, Wolfgang (Hrsg.), Realexperimente. Ökologische Gestaltungsprozesse in der Wissensgesellschaft. Bielefeld 2005. Groß, Reiner, Geschichte Sachsens. Berlin 2001. Grüne, Niels, Dorfgesellschaft – Konflikterfahrung – Partizipationskultur. Sozialer Wandel und politische Kommunikation in Landgemeinden der badischen Rheinpfalz (1720–1850). Stuttgart 2011. Gubitz, Friedrich Wilhelm, Bilder aus Romantik und Biedermeier. Berlin 1922. Gundemann, Rita, Art.: Miasmen, in: Friedrich Jäger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 8. Darmstadt 2008, 474–481.

436

Bibliographie

Gumpelzhaimer, Christian Gottlieb, Regensburgs Geschichte, Sagen und Merkwürdigkeiten von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten in einem Abriß aus den besten Chroniken, Geschichtsbüchern, und Urkunden-Sammlungen dargestellt. Regensburg 1838. Habermas, Rebekka, Wallfahrt und Aufruhr. Zur Geschichte des Wunderglaubens in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 1991. Habermas, Rebekka, Recht- und Kriminalitätsgeschichte revisited – ein Plädoyer, in: Dies., Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Verbrechen im Blick. Perspektiven der neuzeitlichen Kriminalitätsgeschichte. Frankfurt a. M. 2009, 19–41. Hacker, Werner, Südwestdeutsche Auswanderer nach Ungarn als Durchwanderer in den Kirchenbüchern von Ulm und Günzburg im 18. Jahrhundert, in: Südostdeutsches Archiv 12, 1969, 118–199. Hacker, Werner, Auswanderer vom Oberen Neckar nach Südosteuropa im 18. Jahrhundert. München 1970. Hacker, Werner, Die Auswanderung nach Südosteuropa aus der Sicht Südwestdeutschlands im 18. Jahrhundert, in: Südostdeutsches Archiv 14, 1971, 122–143. Hacker, Werner, Auswanderung aus dem südöstlichen Schwarzwald zwischen Hochrhein, Bar und Kinzig, insbesondere nach Südosteuropa im 17. und 18. Jahrhundert. München 1975. Hacker, Werner, Auswanderung aus Baden und dem Breisgau. Obere und mittlere rechtsseitige Oberrheinlande im 18. Jahrhundert archivalisch dokumentiert. Stuttgart, Aalen 1980. Häberle, Eckehard J., Zollpolitik und Integration im 18. Jahrhundert. Untersuchungen zur wirtschaftlichen und politischen Integration in Bayern von 1765 bis 1811. München 1974. Häkkinen, Anti (Hrsg.), Just a Sack of Potatoes? Crisis Experiences in European Societies, Past and Present. Helsinki 1992. Hall, Marcus/Forêt, Philippe/Kueffer, Christoph/Pouliot, Alison/Wiedmer, Caroline, Seeing the Environment Through the Humanities. A New Window on Grand Societal Challenges, in: GAIA 24, 2015, 134–136. Hamacher, Bernd, Der Streit um die himmlische Herrschaft. Der erste deutsche Blitzableiter in Hamburg 1770, in: Johann Anselm Steiger, Sandra Richter (Hrsg.), Hamburg. Eine Metropolregion zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung. Berlin 2012, 337–348. Hamburger, Käte, Das Mitleid. Stuttgart 1985. Hanke, Peter, Ein Bürger von Adel. Leben und Werk des Julius von Soden 1754–1831. Würzburg 1988. Harraway, Donna, Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene. Durham, London 2016. Haskell, Yasmin (Hrsg.), Diseases of the Imagination and Imaginary Disease in the Early Modern Period. Turnhout 2011. Hasselmann, Franziska, Kritische Infrastrukturen: Vulnerabilität, Raum und sozio-technische Komplexität. Einführung zum Themenheft, in: Geographica Helvetica 66, 2012, 74–75. Hauer, Wolfram, Lokale Schulentwicklung und städtische Lebenswelt. Stuttgart 2003. Haug Gerald H./Günther, Detlef/Peterson, Larry C./Sigman, Daniel M./Hughen, Konrad A./ Aeschlimann, Beat, Climate and the Collapse of Maya civilization, in: Science 299, 2003, 1731–1735. Haus, Franz, Chronik von der Stadt Aschaffenburg. Aschaffenburg 1855. Hay, Douglas, War, Dearth and Theft in the Eighteenth Century. The Record of the English Courts, in: Past&Present 95, 1982, 117–160. Hecht, Michael, Nahrungsmangel und Protest. Teuerungsunruhen in Frankreich und Preußen in den Jahren 1846/47. Halle 2004. Hecker, Horst, Die Ergotismus-Epidemie im Kreis Frankberg 1879/80, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte 106, 2001, 209–228. Hecker, Justus Karl Friedrich, Geschichte der neueren Heilkunde, Bd. 1, Die Volkskrankheiten von 1770. Berlin 1839.

Literatur

437

Hellmann, Gustav, Die Entwicklung der meteorologischen Beobachtungen in Deutschland von den ersten Anfängen bis zur Einrichtung staatlicher Beobachtungsnetze. Berlin 1926. Helmer, Christine u. a. (Hrsg.), Encyclopedia of the Bible and its Reception, Bd. 8. Berlin 2014. Henningsen, Lars N., Misvækst og kornspekulation i Sønderjylland 1698–1847. En studie i dyrtids- og hungerår og krisenpolitik, in: Sønderjyske årbøger, 1981, 5–56. Henschen, Folke, Grundzüge einer historischen und geographischen Pathologie. Berlin 1966. Herges, Christiane, Aufklärung durch Preisausschreiben? Die ökonomischen Preisfragen der Königlichen Societät der Wissenschaften zu Göttingen 1752–1852. Bielefeld 2007. Herrmann, Bernd/Sieglerschmidt, Jörn, Umweltgeschichte und Kausalität. Entwurf einer Methodenlehre. Wiesbaden 2018. Herrmann, Ulrich (Hrsg.), Das pädagogische Jahrhundert. Volksaufklärung und Erziehung zur Armut im 18. Jahrhundert in Deutschland. Weinheim, Basel 1981. Hindle, Steve, Dependency, Shame and Belonging. Badging the Deserving Poor, c. 1550–1750, in: Cultural and Social History 1, 2004, 6–10. Hinrichs, Ernst, Rezension von: August Skalweit, Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung Preußens 1765–1806. Darstellung mit Aktenbeilagen und Preisstatistik, in: Historische Zeitschrift 148, 1933, 359. Hippel, Wolfgang von, Auswanderung aus Südwestdeutschland. Studien zur württembergischen Auswanderung und Auswanderungspolitik im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 1984. Hippel, Wolfgang von, Armut, Unterschichten und Randgruppen in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie der Geschichte 34). München 1995. Hitzer, Bettina, Emotionsgeschichte. Ein Anfang mit Folgen, in: HSozKult vom 23.11.2011, http:// hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2011–11 [1.8.2014]. Hölzl, Richard, Historicizing Sustainability. German Scientific Forestry in the 18th and 19th centuries, in: Science as Culture 19, 2010, 431–460. Hölzl, Richard. Umkämpfte Wälder. Die Geschichte einer ökologischen Reform in Deutschland 1760–1860. Frankfurt a. M. 2010. Hoffmann-Krayer, Eduard (Hrsg.), Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 4 und 8. Berlin, Leipzig. 1931, 1936. Hofmann, Johannes, Die Kursächsische Armee 1769 bis zum Beginn des Bayerischen Erbfolgekrieges. Leipzig 1914. Holenstein, André, Kartoffel oder Seide? Kulturelle Implikationen agrarischer Interventionen in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft, in: Susanne Hilger, Achim Landwehr (Hrsg.), Wirtschaft Kultur Geschichte. Positionen und Perspektiven. Stuttgart 2011, 157–173. Holling, Crawford Stanley, Resilience and Stability of Ecological Systems, in: Annual Review of Ecology and Systematics 4, 1973, 1–23. Holling, Crawford Stanley/Gunderson, Lance H., Panarchy, Understanding Transformations in Systems of Humans and Nature. Washington 2002. Holtmeier, Hans Jürgen, Überlebensernährung, München 1986. Horn, Karen, Staatliche Vorsorge. Deutschland auf der Erbse, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.5.2005. Hoyle, Robert W., Famine as Agricultural Catastrophe. The Crisis of 1622–4 in East Lancashire, in: Economic History Review 63, 2010, 974–1002. Hruschka, Rudolf, Die Hungersnot 1771–72 im Fladinger Raum, in: Zeitschrift des deutschen Vereins für die Geschichte Mährens und Schlesiens 42, 1940, 74–77. Hsiang, Solomon M./Meng, Kyle C./Cane, Mark A., Civil Conflicts are Associated with the Global Climate, in: Nature 476, 2011, 438–441. Huber, Franz Xaver, Neue Kronik von Böhmen vom Jahre 530 bis 1780 […]. Prag 1780. Hufton, Olwen, The Poor in Eighteenth Century France, 1750–1789. Oxford 1974. Huhn, Michael, Zwischen Teuerungspolitik und Freiheit des Getreidehandels. Staatliche und städtische Maßnahmen 1770–1847, in: Hans Jürgen Teuteberg (Hrsg.), Durchbruch zum

438

Bibliographie

modernen Massenkonsum. Lebensmittelmärkte und Lebensmittelqualität im Städtewachstum des Industriezeitalters. Münster 1987, 37–89. Huhn, Michael, Ein Ernstfall des Konsums. Obrigkeitliche Teuerungspolitik im Übergang zur Moderne, in: Michael Prinz (Hrsg.), Der lange Weg in den Überfluss. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne. Paderborn u. a. 2003, 231–254. Huhtamaa, Heli, Exploring Past Food Crises with Written and Tree-Ring Evidence: A Case Study from Finland, in: Dominik Collet, Maximilian Schuh (Hrsg.), Famines During the ›Little Ice Age‹ (1300–1800). Socionatural Entanglements in Premodern Societies. Cham 2018, 43–68. Hulme, Mike, Reducing the Future to Climate. A Story of Climate Determinism and Reductionism, in: Osiris 26, 2011, 245–266. Hünemörder, Kai, Die Celler Landwirtschaftsgesellschaft und das Hannoverische Magazin. Schnittstellen der ökonomischen Aufklärung in Kurhannover (1750–1789), in: Marcus Popplow (Hrsg.), Landschaften Agrarisch-Ökonomischen Wissens. Strategien innovativer Ressourcennutzung in Zeitschriften und Sozietäten des 18. Jahrhunderts. Münster u. a. 2010, 237–275. Hunt, Lynn/Jacob,Margret, The Affective Revolution in 1790s Britain, in: Eighteenth Century Studies, 34, 2001, 491–521. Hunziker, Jakob, Pestalozzis Armenschule zu Neuhof. Aarau 1896. Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), Fourth Assessment Report. Working group II. Impacts, Adaptation and Vulnerability. Cambridge 2007. Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), Managing the Risks of Extreme Events and Disasters to Advance Climate Change Adaptation. Cambride 2012. Imhof, Arthur Erwin, Aspekte der Bevölkerungsentwicklung in den nordischen Ländern. 1720– 1750. Bern 1976. Izdebski, Adam u. a., Realising Consilience. How Better Communication Between Archaeologists, Historians and Natural Scientists can Transform the Study of Past Climate Change in the Mediterranean, in: Quaternary Science Reviews 30, 2015, 1–18. Jacob, Margaret C., Living the Enlightenment. Freemasonry and Politics in Eighteenth-Century Europe. New York 1991 Jäger, Anton, Dorfchronik. Geschichte der Ortschaften Maffersdorf, Proschwitz und Neuwald, nebst einer übersichtlichen Geschichte der betreffenden Herrschaften und vielen Nachrichten aus der Umgegend. Gablonz 1925. Jahn, Peter Milan, Vom Roboter zum Schulpropheten. Hanso Nepila (1766–1856). Mikrohistorische Studien zu Leben und Werk eines wendischen Fronarbeiters und Schriftstellers aus Rohne in der Standesherrschaft Muskau. Bautzen 2010. Jakubowski-Tiessen, Manfred, Sturmflut 1717. Die Bewältigung einer Naturkatastrophe in der Frühen Neuzeit. München 1992. Jakubowski-Tiessen, Manfred, Kommentar zur Wahrnehmung und Deutung von Katastrophen, in: Paul Münch (Hrsg.), Erfahrung als Kategorie der Frühneuzeitforschung. München 2001, 261–267. Jakubowski-Tiessen, Manfred/Lehmann, Hartmut (Hrsg.), Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten. Göttingen 2003. Jakubowski-Tiessen, Manfred, Divine Judgement or Incalculable Risk? A Natural Disaster and its Consequences, in: François Walter (Hrsg.), Les cultures du risqué. Genf 2006, 87–98. Jakubowski-Tiessen, Manfred, Feiertagsreduktionen. Aufklärung und religiöse Praxis in Deutschland und Dänemark, in: Hans Erich Bödeker, Martin Gierl (Hrsg.), Jenseits der Diskurse. Aufklärungspraxis und Institutionenwelt in europäisch komparatistischer Perspektive. Göttingen 2007, 395–415. Jakubowski-Tiessen, Manfred, »Was sol ein frommer gutherziger Christ thun?« Religiöse Bewältigungsstrategien von Hungerkrisen in der Frühen Neuzeit, in: Andreas Holzem (Hrsg.), Wenn Hunger droht. Bewältigung und religiöse Deutung (1400–1980). Tübingen 2017, 55–70.

Literatur

439

Jansen, Stephan Alexander/Schröter, Eckhard/Stehr, Nico (Hrsg.), Fragile Stabilität – stabile Fragilität. Wiesbaden 2013. Jasanoff, Sheila (Hrsg.), Learning from Disaster. Risk Management After Bhopal. Pennsylvania 1994. Jenkins, David, A Network Analysis of Inka Roads, Administrative Centers, and Storage Facilities, in: Ethnohistory 48, 2001, 655–687. Jenssen-Tusch, Georg Friedrich, Die Verschwörung gegen die Königin Caroline Mathilde von Dänemark, geb. Prinzessin von Großbritannien und Irland und die Grafen Struensee und Brandt. Leipzig 1864. Johns, Alessa, Introduction, in: Dies. (Hrsg.), Dreadful Visitations. Confronting Natural Catastrophe in the Age of Enlightenment. New York 1999, XI–XXV. Johnson, Sherry, El Niño, Environmental Crisis, and the Emergence of Alternative Markets in the Hispanic Caribbean, 1760s-70s, in: William and Mary Quarterly 62, 2005, 365–410. Jörg, Christian, Teure, Hunger, Großes Sterben. Hungersnöte und Versorgungskrisen in den Städten des Reiches während des 15. Jahrhunderts. Stuttgart 2008. Jörg, Christian, Die Besänftigung göttlichen Zorns in karolingischer Zeit. Kaiserliche Vorgaben zu Fasten, Gebet und Buße im zeitlichen Umfeld der Hungersnot von 805/06, in: Das Mittelalter 15/1, 2010, 38–51. Jörg, Christian, Unter dem Druck der Versorgungskrisen. Christen und Juden während der Hungersnöte des ausgehenden Mittelalters. Ein Überblick in westmitteleuropäischer Perspektive, in: Aschkenas 23, 2013, 101–110. Jones, Eric L., The European Miracle. Environments, Economies and Geopolitics in the History of Europe and Asia. Cambridge 32003. Jordan, William Chester, The Great Famine. Northern Europe in the Early Fourteenth Century. Princeton 1996. Jütte, Robert, Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgeschichte der Armut in der Frühen Neuzeit. Weimar 2000. Jütte, Robert, Klimabedingte Teuerungen und Hungersnöte. Bettelverbote und Armenfürsorge als Krisenmanagement, in: Wolfgang Behringer, Hartmut Lehmann, Christian Pfister (Hrsg.), Kulturelle Konsequenzen der »Kleinen Eiszeit«. Göttingen 2005, 225–237. Jütte, Robert, Das Bild vom ›Kornjuden‹ als Antifigur zum frühneuzeitlichen Prinzip der ›guten Nahrung‹ und der ›moral economy‹, in: Aschkenas 23, 2013, 27–52. Junker, Georg, Rund um den alten Kirchturm. Ortschronik Cassdorf. Dorf und Gemarkung in Vergangenheit und Gegenwart. Homberg 1986. Kaplan, Herbert Harold, The First Partition of Poland. New York 1962. Kaplan, Steven, Bread, Politics, and Political Economy in the Reign of Louis XV, 2 Bd. Den Haag 1976. Kaplan, Steven, The Famine Plot Persuasion in Eighteenth-Century Paris, in: Transactions of the American Philosophical Society 72, 1982, 1–79. Karlsson, Anders, Famine, Finance and Political Power. Crop Failure and Land-Tax Exemptions in Late Eighteenth-Century Chosôn Korea, in: Journal of the Economic and Social History of the Orient 48, 2005, 552–592. Kästner, Christian Friedrich, Chronik der Stadt Crimmitschau. Crimmitschau 1853. Katajala, Kimmo, Suomalainen kapina. Talonpoikaislevottomuudet ja poliittisen kulttuurin muutos Ruotsin ajalla (n. 1150–1800). Helsinki 2002. Kempe, Michael, »Mind the Next Flood!« Memories of Natural Disasters in Northern Germany from the Sixteenth Century to the Present, in: The Medieval History Journal 10, 2007, 327–354. Kershaw, Ian, The Great Famine and Agrarian Crisis in England 1315–1322, in: Past and Present 59, 1973, 3–50. Kiblinger, Johann Nepomuk, Die Wallfahrt Hl. Blut in Erding. Altenerding o. J.

440

Bibliographie

Kiesewetter, Hubert, Die industrielle Entwicklung der Zwickauer Steinkohlenregion, in: Toni Pierenkemper (Hrsg.), Die Industrialisierung europäischer Montanregionen im 19. Jahrhundert. Stuttgart 2002, 103–150. Kindler, Robert, Stalins Nomaden. Herrschaft und Hunger in Kasachstan. Hamburg 2014. Klemun, Marianne, Aufbau und Organisation des meteorologischen Meßnetzes in Kärnten (19. Jhd.), in: Carinthia II 184, 1994, 97–114. Kluge, Ulrich, Hunger, Armut und soziale Devianz im 18. Jahrhundert. Hungerkrisen, Randgruppen und absolutistischer Staat in Preußen, in: Freiburger Universitätsblätter 26, 1987, 61–91. Kluge, Ulrich, Hunger, ein zeitloses Thema, in: Freiburger Universitätsblätter 26, 1987, 15–40. Knobling, Harald, Die Synagoge in Kitzingen, Geschichte, Gestalt, Bedeutung, in: Schriften des Stadtarchivs Kitzingen, Bd. 6. Kitzingen 2003. Knoll, Martin, Regensburg, der Reichstag und das Holz. Aspekte eines Ressourcenkonflikts um städtischen Bedarf, reichstädtische Repräsentation und territoriale Wirtschaftspolitik im späten 18. Jahrhundert, in: Wolfram Siemann, Nils Freytag, Wolfgang Piereth (Hrsg.), Städtische Holzversorgung. Machtpolitik, Armenfürsorge und Umweltkonflikte in Bayern und Österreich (1750–1850). München 2002, 3–54. Knoll, Martin, Die Natur der menschlichen Welt. Siedlung, Territorium und Umwelt in der historisch-topographischen Literatur der Frühen Neuzeit. Bielefeld 2013. Konopczynski, Wladyslaw, Pierwszy rozbiór Polski. Krakau 2010. Kopdsidis, Michael/Fertig, Georg, Agrarwachstum und bäuerliche Ökonomie 1640–1880. Neue Ansätze zwischen Entwicklungstheorie, Historischer Anthropologie und Demographie, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 52, 2004, 11–24. Kopsidis, Michael, Agrarentwicklung. Historische Agrarrevolutionen und Entwicklungsökonomie. Stuttgart 2006. Koselleck, Reinhart, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1989. Krämer, Daniel, Menschen grasten nun mit dem Vieh. Die letzte grosse Hungerkrise der Schweiz 1816/17. Mit einer theoretischen und methodischen Einführung in die historische Hungerforschung. Basel 2015. Krämer, Daniel/Pfister, Christian/Segesser, Daniel Marc (Hrsg.), Woche für Woche neue Preisaufschläge. Nahrungsmittel-, Energie- und Ressourcenkonflikte in der Schweiz des Ersten Weltkrieges. Basel 2016. Kranke, Kurt, Freimaurerei in Dresden, in: Dresdner Geschichtsverein (Hrsg.), Die Verschwörung zum Guten. Freimaurerei in Sachsen. Dresden 2000, 9–40. Kriedte, Peter, Taufgesinnte und großes Kapital. Die niederrheinisch-bergischen Mennoniten und der Aufstieg des Krefelder Seidengewerbes. Göttingen 2007. Kröger, Silke, Armenfürsorge und Wohlfahrtspflege im frühneuzeitlichen Regensburg. Regensburg 2006. Krüger, Fred u. a. (Hrsg.), Cultures and Disasters. Understanding Cultural Framings in Disaster Risk Reduction. London 2015. Krüger, Tobias, Die Entdeckung der Eiszeiten. Internationale Rezeption und Konsequenzen für das Verständnis der Klimageschichte. Basel 2008. Krusenstjern, Benigna von/Medick, Hans (Hrsg.), Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe. Göttingen 1999. Kuhl, Nicolai, Der Pestaufstand von Moskau 1771, in: Heinz Dietrich Löwe (Hrsg.), Volksaufstände in Rußland. Von der Zeit der Wirren bis zur »Grünen Revolution« gegen die Sowjetherrschaft. Wiesbaden 2006, 325–396. Kula, W., Teoria ekonomiczna ustroju feudalnego. Warschau 1983. Kumpfmüller, Josef, Die Hungersnot von 1770 in Österreich. Diss. Wien 1969. Kurz, Heinz Dieter, Klassiker des ökonomischen Denkens, Bd. 1. München 2008. Küster, Hansjörg, Am Anfang war das Korn. Eine andere Geschichte der Menschheit. München 2013.

Literatur

441

Kuther, Carsten, Menschen auf der Straße. Vagierende Unterschichten in Bayern, Franken und Schwaben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1983. Laak, Dirk van, Infrastruktur und Macht, in: François Duceppe-Lamarre, Jens Ivo Engels (Hrsg.): Umwelt und Herrschaft in der Geschichte. München 2008, 106–114. Labrousse, Ernest, La crise de l’économie française à la fin de l’Ancien régime et au début de la Révolution. Paris 1943. Labrousse, Ernest, 1848, 1830, 1789. Wie Revolutionen entstehen, in: Irmgard A. Hartig, (Hrsg.), Geburt der bürgerlichen Gesellschaft: 1789. Frankfurt a. M. 1979, 67–87. Lachiver, Marcel, Les années de misère. La famine au temps du Grand Roi 1680–1720. Paris 1991. Land, Alexander/Remmele, Sabine/Hofmann, Jutta/Reichle, Daniel/Janke, Magaret/Zang, Christian/Buras, Allan/Hein, Sebastian/Zimmermann Reiner, Do Trees from Southern Germany Reveal Insights into Multi-Millennia Central European Hydroclimate? in: Quaternary Science Reviews (under review). Landsteiner, Erich, Bäuerliche Meteorologie. Zur Naturwahrnehmung bäuerlicher Weinproduzenten im niederösterreichisch-mährischen Grenzraum an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 1, 1993, 43–62. Landsteiner, Erich, Landwirtschaft und wirtschaftliche Entwicklung 1500–1800. Eine Agrarrevolution in der Frühen Neuzeit?, in: Markus Cerman, Ilja Steffelbauer, Sven Trost (Hrsg.), Agrarrevolutionen. Verhältnisse in der Landwirtschaft vom Neolithikum zur Globalisierung. Innsbruck 2008. Landwehr, Achim, ›Normdurchsetzung‹ in der Frühen Neuzeit? Kritik eines Begriffes, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48, 2000, 146–162. Landwehr, Achim, Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg. Frankfurt a. M. 2000. Langer, Curt, Die Hungerjahre 1771 und 1772 nach zeitgenössischen Quellen, in: Sächsische Heimatblätter 9, 1963, 360–367. Lassen, Thore, Hungerkrisen. Genese und Bewältigung von Hunger in ausgewählten Territorien Nordwestdeutschlands 1690–1750. Göttingen 2016. Lässig, Simone, Wie »aufgeklärt« war das Rétablissement? Religiöse Toleranz als Gradmesser, in: Uwe Schirmer (Hrsg.), Sachsen 1763–1832. Zwischen Rétablissement und bürgerlichen Reformen. Beucha 1996. Lau, Thomas, Unruhige Städte. Die Stadt, das Reich und die Reichsstadt 1648–1806. München 2012. Lauer, Gerhard/Thorsten Unger, Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert. Göttingen 2008. Lauer, Gerhard/Unger, Thorsten, Angesichts der Katastrophe. Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert, in: Gerhard Lauer (Hrsg.), Das Erbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert. Göttingen 2008, 13–43. Lauser, Gustav, Die öffentliche Armenpflege der Stadt Regensburg bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Diss. Erlangen 1924. Le Roy Ladurie, Emmanuel, Histoire humaine et comparée du climat, Bd. 2, Disettes et révolutions 1740–1860. Paris 2006. Lebrun, François, Les Hommes et la mort en Anjou aux XVIIe et XVIIIe siècles. Essais de démographie et des psychologie historique. Paris, Den Haag 1971. Lee, Robert W., Zur Bevölkerungsgeschichte Bayerns 1750–1850. Britische Forschungsergebnisse, in: Vierteljahresschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 62.3, 1975, 309–338. Liebel, Helen P., Enlightened Bureaucracy Versus Enlightened Despotism in Baden, 1750–1792 (Transactions of the American Philosophical Society 55). Philadelphia 1965. Lippert, Christa, Der Lehrer Wolffgang Nicol Eberhardt in Altenfeld, in: Ekkehard. Familienund regionalgeschichtliche Forschungen N.F. 9, 2002, 80. Livi-Bacci, Massimo, Population and Nutrition. An Essay on European Demographic History. Cambridge 1991.

442

Bibliographie

Ljungqvist, Fredrik Charpentier/Krusic, Paul J./Sundqvist, Hanna S./Zorita, Eduardo/Brattström, Gudrun/Frank, David, Northern Hemisphere Hydroclimate Variability over the Past Twelve Centuries, in: Nature 532, 2016, 94–98 Löffler, Sigmar, Geschichte des Dorfes Langenhain von den Anfängen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Erfurt, Waltershausen 2002. Löffler, Ulrich, Lissabons Fall, Europas Schrecken. Die Deutung des Erdbebens von Lissabon im deutschsprachigen Protestantismus des 18. Jahrhunderts. Berlin 1999. Löwe, Heinz-Dietrich, Teuerungsrevolten, Teuerungspolitik und Marktregulierung im 18. Jahrhundert in England, Frankreich und Deutschland, in: Saeculum 37, 1986, 291–312. Lübken, Uwe, Chasing a Ghost? Environmental Change and Migration in Historical Perspective, in: Global Environment 9/10, 2012, 1–17. Lukowski, Jerzy, The Partitions of Poland, 1772, 1793, 1795. London, New York 1999. Lungwitz, Hermann, Die Hungersnot im sächsischen Erzgebirge in den Jahren 1771 und 1772, in: Sächsischer Pestalozzi Verein. Bunte Bilder aus dem Sachsenlande, Bd. 1. Leipzig 1895, 339–343. Lutz, Tom, Crying. The Natural and Cultural History of Tears. New York 2001. Mace, James E., Soviet Man-Made Famine in the Ukraine, in: Samuel Totten, William S. Parsons (Hg), Centuries of Genocide. Essays and Eyewitness Accounts. New York 20134, 157–190, 177. Magen, Ferdinand, Reichsexekutive und regionale Selbstverwaltung im späten 18. Jahrhundert. Zur Funktion und Bedeutung der süd- und westdeutschen Reichskreise bei der Handelsregulierung im Reich aus Anlass der Hungerkrise von 1770/72 (Historische Forschungen 48). Berlin 1992. Mahlerwein, Gunther, Die Herren im Dorf. Bäuerliche Oberschicht und ländliche Elitenbildung in Rheinhessen 1700–1850. Mainz 2001. Manning, Richard, Against the Grain. How Agriculture has Highjacked Civilization. New York 2004. Mattmüller, Markus, Die Hungersnot der Jahre 1770/71 in der Basler Landschaft, in: Nicolai Bernhard, Quirinus Reichen (Hrsg.), Gesellschaft und Gesellschaften. Festschrift zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Ulrich Im Hof. Bern 1982, 271–291. Mauch, Christof/Pfister, Christian (Hrsg.), Natural Disasters, Cultural Responses. Case Studies Toward a Global Environmental History. Plymouth 2009. Mauelshagen, Franz, Klimageschichte der Neuzeit. Darmstadt 2010. Mauelshagen, Franz, Ein neues Klima im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 10, 2016, 39–58. May, Johanna, Vom obrigkeitlichen Stadtregiment zur bürgerlichen Kommunalpolitik. Hannover 2000. Mayr, Joseph Bartholomäus, Geschichte des Marktes Mittereich in der Oberpfalz nach Urkunden und anderen Quellen, in: Verhandlungen des historischen Vereins von Oberpfalz und Regensburg 35, 1880, 153–284. McMichael, Philip, A Food Regime Genealogy, in: Journal of Peasant Studies 36, 2009, 139–169. Medick, Hans, Teuerung, Hunger und »moralische Ökonomie von oben«. Die Hungerkrise der Jahre 1816–17 in Württemberg, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 2, 1985, 39–44. Medick, Hans, »Hungerkrisen« in der historischen Forschung. Beispiele aus Mitteleuropa vom 17.-19. Jahrhundert, in: SOWI – Das Journal für Geschichte, Politik, Wirtschaft und Kultur 14, 1985, 95–103. Medick, Hans, Entlegene Geschichte? Sozialgeschichte und Mikro-Historie im Blickfeld der Kulturanthropologie, in: Joachim Matthies (Hrsg.), Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs. Göttingen 1992, 167–178. Medick, Hans/Sabean, David, Emotionen und materielle Interessen in Familie und Verwandtschaft: Überlegungen zu neuen Wegen und Bereichen einer historischen und sozialanthropologischen Familienforschung, in: Dies. (Hrsg.), Emotionen und materielle Interessen. Göttingen 1985. Meissner, Erhard, Fürstbischof Anton Ignaz Fugger 1711–1787. Tübingen 1969.

Literatur

443

Miedaner, Thomas, Kulturpflanzen. Botanik, Geschichte, Perspektiven. Heidelberg, Berlin 2014. Militzer, Stefan, Klima, Mensch, Umwelt (1500–1800). Studien und Quellen zur Bedeutung von Klima und Witterung in der vorindustriellen Gesellschaft. Unpubl. Abschlussbericht zum DFG-Projekt MI-493. Minckwitz, H. von, Steinkohlenbergwerke im Schneekopfgebiet, in: Der Museumskurier. Mitteilungen des Geschichts- und Museumsvereins Zella-Mehlis 7, 2001, 4–11. Miodunka, Piotr, Kryzysy demograficzne w Małopolsce w końcu XVII i pierwszej połowie XVIII wieku. Zarys problematyki, in: Przeszłość demograficzna Polski 37, 2015, 7–37. Miodunka, Piotr, Kryzysy żywnościowe a anomalie klimatyczne od XVII do połowy XIX wieku na przykładzie Małopolski, in: Historyka. Studia Metodologiczne 46, 2016, 209–227. Mittelstädt, Ina, Wörlitz, Weimar, Muskau. Der Landschaftsgarten als Medium des Hochadels (1760–1840). Köln, Weimar, Wien 2015. Moberg, Anders/Tuomenvirta, Heikki/Nordli, Per-Øyvind, Recent climatic trends in: Mattti Seppälä (Hrsg.), The Physical Geography of Fennoscandia. Oxford 2005, 113–133. Möller, Caren, Medizinalpolizei. Die Theorie des staatlichen Gesundheitswesens im 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2005. Monahan, Gregory W., Year of Sorrows. The Great Famine of 1709 in Lyon. Columbus (OH) 1993. Montanari, Massimo, Der Hunger und der Überfluss. Kulturgeschichte der Ernährung in Europa. München 1999. Moreno-Chamarro, Eduardo/Zanchettin, Davide/Lohmann, Katja/Luterbacher, Jürg/Jungclaus, Johann H., Winter Amplification of the European Little Ice Age Cooling by the Subpolar Gyre, in: Nature Scientific Reports, 7, 2017, 9881, DOI:10.1038/s41598-017-07969-0. Moritz, Horst, Teure Zeiten. Hunger und Hungersterben in Erfurt 1771/72, in: Stadt und Geschichte. Zeitschrift für Erfurt 6, 2005, 25–26. Mörz, Stefan, Aufgeklärter Absolutismus in der Kurpfalz während der Mannheimer Regierungszeit des Kurfürsten Karl Theodor (1742–1777). Stuttgart 1991. Mozer, Ubbo, Dorfmusik während des 18. Jahrhunderts im Kreis Hersfeld-Rotenburg, in: Heimatkalender Hersfeld-Rotenburg, 1974, 119–143. Muir Dickson, Peter George, Finance and Government under Maria Theresia 1740–1780, 2 Bd. Oxford 1987. Müller, Max, Die Getreidepolitik, der Getreideverkehr und die Getreidepreise in Schlesien während des 18. Jahrhunderts. Diss. Breslau 1897. Müller, Michel G., Die Teilungen Polens 1772 1793 1795. München 1984. Müller-Mahn, Detlef, Riskscapes. The Spatial Dimensions of Risk, in: Ders. (Hrsg.), The Spatial Dimension of Risk. How Geography Shapes the Emergence of Riskscapes. London, New York 2013, 22–36. Murton, Brian, Famine, in: Kenneth F. Kiple, Kriemhild Conée Ornelas (Hrsg.), The Cambridge World History of Food, Bd. 2. Cambridge 2000. Naudé, Wilhelm, Deutsche städtische Getreidehandelspolitik mit besonderer Berücksichtigung der Stettiner und Hamburger Getreidehandelspolitik. Leipzig 1889. Naudé, Wilhelm, Die Getreidehandelspolitik der Europäischen Staaten vom 13. bis zum 18. Jahrhundert. Als Einleitung in die Preußische Getreidehandelspolitik (Acta Borussica, Getreide­ handelspolitik 1). Berlin 1896. Neelsen, Sven/Stratmann, Thomas, Effects of Prenatal and Early Life Malnutrition. Evidence from the Greek Famine (CESifo working paper 2994). München 2010. Neue Deutsche Biographie. Hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 2. Berlin 1955. Neugebauer, Wolfgang, Die Schulreform des Junkers Marwitz. Reformbestrebungen im brandenburgisch-preußischen Landadel vor 1806, in: Peter Albrecht, Ernst Hinrichs (Hrsg.), Kultur und Gesellschaft in Nordwestdeutschland zur Zeit der Aufklärung, Bd. 2, Das niedere Schulwesen im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Tübingen 1995, 259–288.

444

Bibliographie

Niesen, Josef, Bonner Denkmäler und ihre Erbauer. Königswinter 2013. Niggemann, Ulrich, Migration in der Frühen Neuzeit. Ein Literaturbericht, in: Zeitschrift für Historische Forschung 43, 2016, 293–321. Nipperdey, Justus, Regulierung zur Sicherung der Nahrung. Zur Übereinstimmung von Menschenbild und Marktmodell bei Zünften und Kameralisten, in: Margrit Müller, Heinrich R. Schmidt, Laurent Tissot (Hrsg.), Regulierte Märkte. Zünfte und Kartelle. Zürich 2011, 165–182. Nipperdey, Justus, Die Erfindung der Bevölkerungspolitik. Staat, politische Theorie und Population in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2012. Ó Gráda, Cormac, Black '47 and Beyond. The Great Irish Famine in History, Economy, and Memory. Princeton 1999. Ó Gráda, Cormac. The Ripple that Drowns? Twentieth-Century Famines in China and India as Economic History, in: Economic History Review 61, 2008, 5–37. Ó Gráda, Cormac, Famine. A Short History. Princeton 2009. Ó Gráda, Cormac, The Waning of the Little Ice Age, in: Journal of Interdisciplinary History 44, 2014, 301–325. Ó Gráda, Cormac/O'Rourke, Kevin H., Mass Migration as Disaster Relief. Lessons from the Great Irish Famine, in: European Review of Economic History 1, 1997, 3–25. Oberschelp, Reinhard, Niedersachsen 1760–1820. Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur im Land Hannover und Nachbargebieten, Bd. 1. Hildesheim 1982. Odenwälder, Nina, Nahrungsproteste und moralische Ökonomie. Das Alte Reich von 1600 bis 1789. Saarbrücken 2008. Oliver-Smith, Anthony, Peru’s Five Hundred Year Earthquake. Vulnerability to Hazard in Historical Context, in: Ann Varley (Hrsg.), Disasters, Development and Environment. London 1995, 31–48. Oliver-Smith, Anthony, Theorizing Vulnerability in a Globalized World. A Political Ecological Perspective, in: Greg Bankoff, Georg Frerks/Dorothea Hillhorst (Hrsg.), Mapping Vulnerability. Disasters, Development and People. London 2004, 10–24. Oliver-Smith, Anthony, Environmental Migration. Nature, Society and Population Movement, in: Stewart Lockie, David A. Sonnenfeld, Dana R. Fisher (Hrsg.), Routledge International Handbook of Social and Environmental Change. London 2014, 142–153. Oliver-Smith, Anthony/Hoffman, Susanna (Hrsg.), Catastrophe and Culture. The Anthropology of Disaster. Oxford 2001. Opfermann, Bernhard, Die Geschichte des Heiligenstädter Jesuitenkollegs, Bd. 2. Duderstadt 1989. Ouweneel, Ari, Shadows over Anáhuac. An Ecological Interpretation of Crisis and Development in Central Mexico, 1730–1800. Albuquerque 1996. Paffrath, Josef, Zum Wetterverlauf am Bodensee, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 44, 1915, 163–179. Pallach, Ulrich-Christian, Hunger. Quellen zu einem Alltagsproblem in Europa und der Dritten Welt. 17. bis 20. Jahrhundert. München 1986. Parker, Geoffrey, Global Crisis. War, Climate Change and Catastrophe in the Seventeenth Century. New Haven (CT) 2013. Paulette, Tate Sewell, Grain Storage and the Moral Economy in Mesopotamia (3000–2000). Diss. University of Chicago 2015. Pauling, Andreas/Luterbacher, Jürg/Casty, Carlo/Wanner, Heinz, 500 Years of Gridded High-Resolution Precipitation Reconstructions over Europe and the Connection to Large-Scale Circulation, in: Climate Dynamics 26, 2006, 387–405. Persson, Karl Gunnar, Grain Markets in Europe, 1500–1900. Cambridge 1990. Peter, Roger, Wie die Kartoffel im Kanton Zürich zum »Heiland der Armen« wurde. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Kartoffel in der Schweiz. Zürich 1996.

Literatur

445

Petschel, Dorit, Die Persönlichkeit Friedrich Augusts des Gerechten, Kurfürsten und Königs von Sachsen, in: Uwe Schirmer (Hrsg.), Sachsen 1763–1832. Zwischen Rétablissement und bürgerlichen Reformen. Leipzig 1996. Petz, Wolfgang, Verzeichnis von Auswanderern aus Niederbayern nach Ungarn, in: Ders., u. a. (Hrsg.), Bayern – Ungarn. Tausend Jahre. Katalog zur Bayerischen Landesausstellung 2001. Augsburg 2001, 304–305. Petz, Wolfgang, Auswanderung aus Bayern ins Königreich Ungarn im 18. Jahrhundert, in: Ungarn Jahrbuch 26, 2002/2003, 33–72. Pfeifer, Stefan, Kulturgeschichtliche Bilder aus dem jüdischen Gemeindeleben zu Reckendorf. Bamberg 1897. Pfeiffer, Ludwig/Ruland, Carl, Pestilentia in nummis. Geschichte der grossen Volkskrankheiten in numismatischen Documenten. Ein Beitrag zur Geschichte der Medicin und der Cultur. Tübingen 1882. Pfister, Christian, Klimageschichte der Schweiz, 2 Bd. Bern 1984. Pfister, Christian, Hunger. Ein interdisziplinäres Problemfeld, in: Archiv für Sozialgeschichte 28, 1988, 382–390. Pfister, Christian, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1500–1800. München 1994. Pfister, Christian (Hrsg.), Am Tag danach. Zur Bewältigung von Naturkatastrophen in der Schweiz 1500–2000. Bern 2002. Pfister, Christian, »The monster swallows you«. Disaster Memory and Risk Culture in Western Europe, 1500–2000, in: Rachel Carson Center Perspectives 1, 2011, 1–23. Pfister, Christian/Brázdil, Rudolf, Social Vulnerability to Climate in the »Little Ice Age«. An Example from Central Europe in the Early 1770s, in: Climate of the Past 2, 2006, 115–129. Pfister, Ulrich/Fertig, Georg, The Population History of Germany. Strategy and Preliminary Results, in: Max Planck Institut for Democraphic Research, Working Paper, http://www. demogr.mpg.de/papers/working/wp-2010–035.pdf [13.05.2015]. Pfrenzinger, Alfons, Die Mainfränkische Auswanderung nach Ungarn und den Österr. Erbländern im 18. Jahrhundert. Wien 1941. Pindl, Kathrin, Subsistenz – Entscheidungen. Das Regensburger St. Katharinenspital und sein Getreidekasten in Krisenzeiten (in Vorbereitung). Piquet Etienne/Pécoud, Antoine/Guchteneire Paul De, Introduction. Migration and Climate Change, in: Dies. (Hrsg.), Migration and Climate Change. Cambridge 2011, 1–34, 4. Piguet, Etienne, From »Primitive Migration« to »Climate Refugees«: The Curious Fate of the Natural Environment in Migration Studies, in: Annals of the Association of American Geographers 103.1, 2013, 148–162. Plagemann, Volker, Denkmäler und Brunnen in Hamburg. Flut 1771 – Feldzug 1870/71, Unveröff. Habilitationsschrift, RWTH Aachen 1973. Polanyi, Karl, The Economy as Instituted Process, in: Ders., Conrad Maynadier Arensberg, Harry W. Pearson (Hrsg.), Trade and Market in the Early Empires. Economies in History and Theory. New York 1957, 243–270. Polanyi, Karl, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt a. M. 1978. Polanyi, Karl/Arensberg, Conrad Maynadier/Pearson, Harry W. (Hrsg.), Trade and Market in the Early Empires. Economies in History and Theory. New York 1957. Polanyi, Michael, The Tacit Dimension. New York 1966. Poliwoda, Guido, Aus Katastrophen lernen. Sachsen im Kampf gegen die Fluten der Elbe 1784 bis 1845. Köln 2007. Polster, Christian Oskar, Nachrichten über die Kirchgemeinde Reichenbach bei Königsbrück aus alter und neuer Zeit. Kamenz 1895.

446

Bibliographie

Pomeranz, Kenneth, The Great Divergence. Europe, China, and the Making of the Modern World Economy. Princeton (NJ) 2000. Popplow, Marcus, Von Bienen, Ochsenklauen und Beamten. Die ökonomische Aufklärung in der Kurpfalz, in: Ders., Landschaften agrarisch-ökonomischen Wissens. Strategien innovativer Ressourcennutzung in Zeitschriften und Sozietäten des 18. Jahrhunderts. Münster u. a. 2010, 175–235. Porter, Theodore M., Thin Description. Surface and Depth in Science and Science Studies, Robert E. Kohler, Kathryn M. Olesko (Hrsg.), Clio Meets Science. The Challenge of History, Osiris 27, 2012, 209–226. Post, John Dexter, Nutritional Status and Mortality in Eighteenth-Century Europe, in: Lucile F. Newman (Hrsg.), Hunger in History. Food Shortage, Poverty, and Deprivation. Cambridge (MA), Oxford 1990, 241–280. Post, John Dexter, The Mortality Crisis of the Early 1770s and European Demographic Trends, in: Journal of Interdisciplinary History 12, 1990, 29–62. Präger, Frank, Das Spital und die Armen. Almosenvergabe in der Stadt Langenzenn im 18. Jahrhundert. Regensburg 1997. Prass, Rainer, Grundzüge der Agrargeschichte. Vom dreißigjährigen Krieg bis zum Beginn der Moderne (1650–1880). Köln, Weimar, Wien 2016. Press, Volker, Die europäischen Hungerjahre, in: Organisationskomitee 750 Jahre Stadt Erding (Hrsg.) Stadt Erding. Altenerding 1908, 203–209. Priddat, Birger P., Kameralismus als paradoxe Konzeption der gleichzeitigen Stärkung von Markt und Staat. Komplexe Theorielagen im deutschen 18. Jahrhundert, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 31, 2008, 249–263. Priewer, Helmut/Göbler, Wilfired/Priewer, Mathias, Subsistenzkrisen im Kirchspiel Rückeroth/ Ww. vom 17. bis zum 19. Jahrhundert aus historisch-demographischer Sicht, in: Nassauische Annalen 113, 2002, 331–340. Przybylak, Rajmund u. a. (Hrsg.), The Polish Climate in the European Context. An Historical Overview. Dordrecht 2010. Pupavac, Vanessa, Between Compassion and Conservativism. A Genealogy of Humanitarian Sensibilities, in: Didier Fassin, Mariella Pandolfi (Hrsg.), Contemporary States of Emergency. The Politics of Military and Humanitarian Interventions. New York 2010, 129–152. Rachel, Hugo, Die Handels-, Zoll- und Akzisepolitik Preußens 1740–1786 (Acta Borussica Handels-, Zoll- und Akzisepolitik 3.2). Berlin 1928. Radkau, Joachim, Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2012. Rankl, Helmut, Die bayerische Politik in der europäischen Hungerkrise 1770–1773, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 68, 2005, 745–779. Rau, Karl Heinrich, Lehrbuch der politischen Ökonomie, Bd. 2. Leipzig 1862. Reinhard, Wolfgang, No Statebuilding from Below. A Critical Commentary, in: Wim Blockmans, André Holenstein, Jon Matieu (Hrsg.), Empowering interactions. Political cultures and the Emergence of the State in Europe 1300–1900. Farnham 2009, 209–304. Reinhard, Wolfgang/Stagl, Justin (Hrsg.), Menschen und Märkte. Studien zur historischen Wirtschaftsanthropologie. Wien, Köln, Weimar 2007. Reinhardt, Volker, Überleben in der frühneuzeitlichen Stadt. Annona und Getreideversorgung in Rom 1563–1797. Tübingen 1991. Reith, Reinhold, Abschied vom ›Prinzip der Nahrung‹? Wissenschaftliche Reflexionen zur Anthropologie des Marktes, in: Thomas Brandt, Norbert Buchner (Hrsg.), Nahrung, Markt oder Gemeinnutz? Werner Sombart und das vorindustrielle Handwerk. Bielefeld 2004, 37–66. Reith, Reinhold, Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit. München 2011. Revel, Jacques, Les privilèges d’une capitale. L’approvisionnement de Rome à l’époque moderne, in: Annales. Histoire, Sciences Sociales 30, 1975, 563–574.

Literatur

447

Rexroth, Frank/Roick, Matthias/Reich, Björn (Hrsg.), Wissen maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. München 2012. Richter, Susan, Pflug und Steuerruder. Zur Verflechtung von Herrschaft und Landwirtschaft in der Aufklärung. Köln, Weimar, Wien 2015. Rickman, Geoffrey, Roman Granaries and Store Buildings. London 1971. Ried, Karl, Neumarkt in der Oberpfalz. Eine quellenmäßige Geschichte der Stadt Neumarkt. Neumarkt 1960. Rieff, David, In Praise of Forgetting. Historical Memory and its Ironies. London 2016. Rippmann, Dorothee/Spieker, Ira, Grenzgänge. Kleinräumige Mobilität in der ländlichen Gesellschaft, in: Volkskunde in Sachsen 24, 2012, 97–109. Ritzmann-Blickenstorfer, Heiner, Alternative Neue Welt. Die Ursachen der schweizerischen Überseeauswanderung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Zürich 1997, 556–569. Robock, Alan, Climatic Impacts of Volcanic Eruptions, in: Haraldur Sigurdsson (Hrsg.), Encyclopedia of Volcanoes. Amsterdam 2015. Roeck, Bernd, Bäcker, Brot und Getreide in Augsburg. Zur Geschichte des Bäckerhandwerks und zur Versorgungspolitik der Reichsstadt im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Sigmaringen 1987. Rössner, Philipp Robinson, Das friderizianische Preußen (1740–1786) – eine moderne Ökonomie?, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 98, 2011, 143–172. Rost, Dietmar, Wandel (v)erkennen. Shifting Baselines und die Wahrnehmung umweltrelevanter Veränderungen aus wissenssoziologischer Sicht. Wiesbaden 2014, 17–24. Rohr, Christian, Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit. Köln, Weimar, Wien 2007. Rohrbach, Rainer, Allerley unnützes Gesindel. Armut in Göttingen, in: Hans-Georg Schmeling (Hrsg.), Göttingen im 18. Jahrhundert. Eine Stadt verändert ihr Gesicht. Göttingen 1987, 183–215. Rohrschneider, Michael, Österreich und der Immerwährende Reichstag. Studien zur Klientelpolitik und Parteibildung (1745–1763). Göttingen 2014. Roland, Charles G., Courage under Siege. Starvations, Disease and Death in the Warsaw Ghetto. New York 1992. Rooij, Susanne R. de/Wouters, Hans/Yonker, Julie E./Painter, Rebecca C./Roseboom, Tessa J., Prenatal Undernutrition and Cognitive Function in Late Adulthood, in: Proceedings of National Academy of Sciences 107, 2010, 16881–16886. Rozario, Kevin, The Culture of Calamity. Disaster and the Making of Modern America. Chicago 2007. Ruckgaber, Heinrich, Geschichte der Frei- und Reichsstadt Rottweil. Rottweil 1838. Russell, Sharman Apt, Hunger. An Unnatural History. Cambridge (MA) 2005. Rüther, Andreas, The Role of Climate and Famine in the Medieval Eastern Expansion, in: Dominik Collet, Maximilian Schuh (Hrsg.), Famines During the ›Little Ice Age‹ (1300–1800). Socionatural Entanglements in Premodern Societies. Cham 2018, 133–148. Sachße, Christoph/Tennstedt Florian (Hrsg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik. Frankfurt a. M. 1986. Sandl, Marcus, Ökonomie des Raumes. Der kameralwissenschaftliche Entwurf der Staatswirtschaft im 18. Jahrhundert. Köln u. a. 1999. Sasse, Heinrich, Die Kornteuerungspolitik Bremens im 18. und 19. Jahrhundert. Diss. Münster 1922. Saxer, Daniela, Mit Gefühlen handeln. Ansätze der Emotionsgeschichte, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte 2, 2007, 15–29. Schaier, Joachim, Verwaltungshandeln in einer Hungerkrise. Die Hungersnot 1846/47 im badischen Odenwald. Wiesbaden 1997. Schartau, J. E., Hemliga handlingar, hörande till Sveriges historia efter konung Gustaff IIIs anträde till regeringen. 3, handlingar till historien om revolutionen i Sverige 1772. Stockholm 1825.

448

Bibliographie

Schelle, Heinz, Tagebuch eines Bauernlebens. Rosenheim 2000. Schenck, Gerrit Jasper (Hrsg.), Katastrophen. Vom Untergang Pompejis bis zum Klimawandel. Stuttgart 2012. Schenck, Gerrit Jasper/Juneja, Monica (Hrsg.), Disaster as Image. Iconographies and Media Strategies Across Europe and Asia. Regensburg 2014. Schenk, Gerrit Jasper, ›Learning from History‹? Chances, Problems and Limits of Learning from Historical Natural Disasters, in: Fred Krüger, Greg Bankoff, Terry Cannon, Lisa Schipper (Hrsg.), Cultures and Disasters. Understanding Cultural Framings in Disaster Risk Reduction. London, New York 2015. Schirmer, Uwe, Der Bevölkerungsgang in Sachsen zwischen 1743 und 1815, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 83, 1996, 25–58. Schlöder, Christian, Bonn im 18. Jahrhundert. Die Bevölkerung einer geistlichen Residenzstadt. Köln, Weimar, Wien 2014. Schlögl, Rudolf, Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit. Konstanz 2014. Schlögl, Rudolf/Hoffmann-Rehnitz, Philip R./Wiebel, Eva (Hrsg.), Die Krise in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2016. Schlumbohm, Jürgen (Hrsg.), Soziale Praxis des Kredits. 16.-20. Jahrhundert. Hannover 2007. Schmahl, Helmut, Innerlicher Mangel und äußerliche Nahrungshoffnung. Aspekte der Auswanderung aus Kurmainz im 18. Jahrhundert, in: Peter Claus Hartmann (Hrsg.), Reichskirche. Mainzer Kurstaat. Reiserzkanzler. Frankfurt a. M. u. a. 2001, 121–143. Schmid, Alois, Johann Kaspar von Thürriegel (1722–1795) und seine Kolonie in der Sierra Morena, in: Ders. (Hrsg.), Bayern mitten in Europa. Vom Frühmittelalter bis ins 20. Jahrhundert. München 2005, 228–241. Schmid, Boris V. u. a., Climate-Driven Introduction of the Black Death and Successive Plague Reintroductions into Europe, in: Proceedings of National Academy of Sciences 112, 2015, 3020–3025. Schmid, Peter, Regensburg. Freie Reichsstadt, Hochstift und Reichsklöster. In: Anton Schindling/ Walter Ziegler (Hrsg.), Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, Bd. 6. Münster 1996, 36–57. Schmidt, Andreas, »Wolken krachen, Berge zittern, und die ganze Erde weint …«. Zur kulturellen Vermittlung von Naturkatastrophen in Deutschland. Münster 1999. Schmidt, Georg, Die frühneuzeitlichen Hungerrevolten. Soziale Konflikte und Wirtschaftspolitik im Alten Reich, in: Zeitschrift für historische Forschung 18, 1991, 257–280. Schmidt, Georg, »Libertas commerciorum« or »Moral Economy«? The Austrian Vorlande in the Famine of the 1770s, in: Charles W. Ingrao (Hrsg.), State and Society in Early Modern Austria. West Lafayette (IN) 1994, 252–272. Schmidt, Jürgen Michael, Gottes Zorn? Religiöse Bewältigungsstrategien von Hungerkrisen in der Frühen Neuzeit, in: Andreas Holzem (Hrsg.), Wenn Hunger droht. Bewältigung und religiöse Deutung (1400–1980). Tübingen 2017, 71–116. Schmitt, August, Chronik der Stadt Kitzingen. Mit möglichster Berücksichtigung der Umgebung Kitzingens. Kitzingen 1873. Schneider, Britta, Wo der getreidt-Mangel Tag für Tag grösser, und bedenklicher werden will. Die Teuerung der Jahre 1770 bis 1772 im Hochstift Bamberg, in: Mark Häberlein, Kerstin Kech, Johannes Staudenmaier (Hrsg.), Bamberg in der Frühen Neuzeit. Neue Beiträge zur Geschichte von Stadt und Hochstift. Bamberg 2008, 261–292. Schönfeld, Roland, Studien zur Wirtschaftsgeschichte der Reichsstadt Regensburg im achtzehnten Jahrhundert (=Verhandlungen des historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg 100). Regensburg 1959. Schott, Dieter, Europäische Urbanisierung (1000–2000). Eine umwelthistorische Einführung. Köln 2014.

Literatur

449

Schubert, Ernst, Arme Leute. Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts. Neustadt/ Aisch 1990. Schuhbauer, Albert, Getreidepreise im Raum München 1400–1820. Borsdorf 2011. Schulz, Maren, Staging the return to normality. Socio-cultural coping strategies with the crisis of 1816/1817 in: Dominik Collet, Maximilian Schuh (Hrsg.), Famines During the ›Little Ice Age‹ (1300–1800). Socionatural Entanglements in Premodern Societies. Cham 2018, 231–254. Schulze, Werner, Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 243, 1986, 591–626. Schulte Beerbühl, Margrit, Frühneuzeitliche Flüchtlingshilfe in Großbritannien und das Schicksal der Pfälzer Auswanderer von 1709, in: Mathias Beer, Dittmar Dahlmann (Hrsg.), Über die trockene Grenze, über das offene Meer. Binneneuropäische und transatlantische Migrationen im 18. und 19. Jahrhundert. Essen 2004, 303–328. Schultz, Helga (Hrsg.), Der Roggenpreis und die Kriege des großen Königs. Chronik und Rezeptsammlung des Berliner Bäckermeisters Johann Friedrich Heyde 1740 bis 1786. Berlin 1988. Schünemann, Konrad, Die Einstellung der theresianischen Impopulation 1770/71, in: Jahrbuch des Wiener Ungarischen Historischen Instituts 1, 1931, 167–213. Schwanitz, Henrik, Von der Natur zu einer Nation bestimmt. Die Idee der »natürlichen Grenzen« im deutschen Frühnationalismus, in: Jan-Erik Steinkrüger, Winfried Schenk (Hrsg.), Zwischen Geschichte und Geographie, zwischen Raum und Zeit. Berlin 2015, 55–64. Scott, James C., The Moral Economy of the Peasant. Rebellion and Subsistence in Southeast Asia. New Haven (CT) 1976. Scott, James C., Weapons of the Weak. Everyday Forms of Peasant Resistance. New Haven (CT) 1985. Scott, James C., Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed. New Haven (CT) 1998. Scott, James C., Against the Grain. A Deep History of the Earliest States. New Haven, London 2017. Sebastian, Otto, Entstehung und Entwicklung der Bergstadt Hohenstein. Hohenstein 1887. Seida und Landensberg, Franz Eugen Freiherr von, Augsburgs Geschichte von Erbauung der Stadt bis zum Tode Maximilian Josephs, ersten Königs von Bayern 1825, Bd. 2. Augsburg 1826. Selig, Robert, Räudige Schafe und geistliche Hirten. Studien zur Auswanderung aus dem Hochstift Würzburg im 18. Jh. und ihre Ursachen. Würzburg 1988, 24. Sen, Amartya, Poverty and Famines. An Essay on Entitlement and Deprivation. Oxford 1981. Sen, Ranjit, Social Banditry in Bengal. A Study in Primary Resistance 1757–1793. Kalkutta 1988. Seyffarth, Joachim/Seyffarth, Edith, Von Krieg und Not, vom »Schwarzen Tod«. Geschichten um vergessene Denkmale (Erzgebirgische Heimat 5). Marienberg 2001. Shapin, Steven, ›You Are What You Eat‹. Historical Changes in Ideas about Food and Identity, in: Historical Research 87, 2014, 377–392. Sheridan, Richard B., The British Credit Crisis of 1772 and the American Colonies, in: The Journal of Economic History 20, 1960, 161–186. Shiue, Carol H., Local Granaries and Central Government Disaster Relief. Moral Hazard and Intergovernmental Finance in Eighteenth and Nineteenth Century China, in: Journal of Economic History 64.1, 2004, 100–124. Sieferle, Rolf-Peter, Bevölkerungswachstum und Naturhaushalt. Studien zur Naturtheorie der klassischen Ökonomie. Frankfurt a. M. 1990. Sieferle, Rolf Peter/Krausmann, Fridolin/Schandl, Heinz/Winiwarter, Verena, Das Ende der Fläche. Zum gesellschaftlichen Stoffwechsel der Industrialisierung. Köln, Weimar, Wien 2006. Sigaut, François, A Method for Identifying Grain Storage Techniques and its Application for European Agricultural History, in Tools & Tillage 6, 1988, 3–32. Signori, Gabriela (Hrsg.), Prekäre Ökonomien. Schulden in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Konstanz, München 2014. Sirocko, Frank, Geschichte des Klimas. Stuttgart 2013.

450

Bibliographie

Skalweit, August, Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung Preußens 1756– 1806 (Acta Borussica, Getreidehandelspolitik 4). Berlin 1931. Sogner, Sølvi, Folkevekst og flytting. En historisk-demografisk studie i 1700-årenes Øst-Norge. Oslo 1976. Sontag, Susan, Regarding the Pain of Others. New York 2003. Spary, Emma C., Feeding France. New Sciences of Food 1760–1815. Cambridge 2014. Spittler, Gerd, Handeln in einer Hungerkrise. Tuaregnomaden und die große Dürre von 1984. Opladen 1989. Stalfort, Jutta, Die Erfindung der Gefühle. Eine Studie über den historischen Wandel menschlicher Emotionalität (1750–1850). Bielefeld 2013. Stamatov, Peter, The Origins of Global Humanitarianism. Religion, Empires, Advocacy. Cambridge 2013. Steffen, Will/Grinevald, Jacques/Crutzen, Paul/McNeill, John, The Anthropocene. Conceptual and Historical Perspectives, in: Philosophical Transactions of the Royal Society A 369, 2011, 842–867. Steguweit, Wolfgang, Thüringer Teuerungsmedaillen des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Abhandlungen und Berichte zur Regionalgeschichte Gotha, 1974, 57–69 Steiner, Stephan, Rückkehr unerwünscht. Deportationen in der Habsburgermonarchie der Frühen Neuzeit und ihr europäischer Kontext. Wien 2014. Steinke, Hubert, Die Einführung der Kartoffel in der Waadt 1740–1790. Agrarmodernisierung aus bäuerlicher Sicht, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 45, 1997, 15–39. Stellner, František, Zu den Ergebnissen des Siebenjährigen Kriegs in Europa, in: Prague Papers on History of International Relations 4, 2000, 85–98. Stevenson, John, The ›Moral Economy of the English Crowd. Myth and Reality‹, in: Ders., Anthony Fletcher (Hrsg.), Order and Disorder in Early Modern England. Cambridge 1987, 218–238. Stöger, Gerd, Sekundäre Märkte? Zum Wiener und Salzburger Gebrauchtwarenhandel im 17. und 18. Jahrhundert. München 2011. Stollberg-Rilinger, Barbara, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Forschungsperspektiven – Thesen, in: Zeitschrift für historische Forschung 31, 2004, 489–527. Stollberg-Rilinger, Barbara, Europa im Jahrhundert der Aufklärung. Stuttgart 2006. Stollberg-Rilinger, Barbara, Des Kaisers neue Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des alten Reiches. München 2008, 246–280. Stollberg-Rilinger, Barbara, The Impact of Communication Theory on the Analysis of the Early Modern Statebuilding Processes, in: Wim Blockmans, André Holenstein, Jon Matieu (Hrsg.), Empowering interactions. Political cultures and the Emergence of the State in Europe 1300– 1900. Farnham 2009, 313–318. Stollberg-Rilinger, Barbara/Krischer, André (Hrsg.), Herstellung und Darstellung verbindlicher Entscheidungen. Verhandeln, Verfahren und Verwalten in der Vormoderne. Berlin 2010. Stollenwerk, Alexander, Der Regierungsbezirk Koblenz während der großen Hungersnot 1816/17, in: Jahrbuch für Geschichte und Kunst des Mittelrheins und seiner Nachbargebiete 22/23, 1970/71, 109–149. Strakosch-Grassmann, Gustav, Juden als Getreidehändler im 17. und 18. Jahrhundert, in: Jüdisches Archiv 1, 1927, 9–14. Strobel, Georg W., Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Polen am Ausgang des 18. Jahrhunderts, in: Friedhelm Berthold Kaiser, Bernhard Stasiewski (Hrsg.), Die Erste Polnische Teilung 1772. Köln, Wien 1972, 49–74. Strömmer, Elisabeth, Klima-Geschichte. Methoden der Rekonstruktion und historische Perspektive. Ostösterreich 1700 bis 1830. Wien 2003. Stuber, Martin,»dass gemeinnützige wahrheiten gemein gemacht werden«. Zur Publikationstätigkeit der Oekonomischen Gesellschaft Bern 1759–1798, in: Marcus Popplow (Hrsg.), Land-

Literatur

451

schaften Agrarisch-Ökonomischen Wissens. Strategien innovativer Ressourcennutzung in Zeitschriften und Sozietäten des 18. Jahrhunderts. Münster u. a. 2010, 121–153. Stuber, Martin/Hächler, Stefan, Ancien Régime vernetzt. Albrecht von Hallers bernische Korrespondenz in: Bernische Zeitschrift für Geschichte und Heimtakunde 62, 2000, 125–190. Studer, Roman/Schüpli, Pascal, Deflating Swiss Prices over the Past Five Centuries, in: Historical Methods. A Journal of Quantitative and Interdisciplinary History 41, 2008, 131–153. Swingedouw Didier/Mignot, Juliette/Ortega, Pablo/Khodri, Myriam/Menegoz, Martin/Cassou, Christophe/Hanquiez Vincent, Impact of Explosive Volcanic Eruptions on the Main Climate Variability Modes, in: Global and Planetary Change 150, 2017, 24–45. Szabo, Franz A. J., Kaunitz and Enlightened Absolutism 1753–1780. Cambridge 1994. Szewczuk, Jan, Kronika klesk elementarnych w Galicji w latach 1772–1848. Lwiw 1939. Taylor, Peter J., Modernities. A Geohistorical Interpretation. Minneapolis 1999. Teuteberg, Hans J., Zur sozialgeschichtlichen Bedeutung der Kartoffel und ihrer Eingliederung in die deutsche Volkskost, in: Niilo Valonen, Juhani U.E. Lehtonen (Hrsg.) Ethnologische Nahrungsforschung. Ethnological Food Research. Helsinki 1975, 237–265. Teuteberg, Hans J./Wiegelmann, Günter, Unsere tägliche Kost. Geschichte und regionale Prägung. Münster 1986. Thompson, E. P., The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century, in: Dorothy Thompson (Hrsg.), The Essential E. P. Thompson. New York 2001, 316–377. Thywissen, Katharina, Core Terminology of Disaster Reduction. A Comperative Glossary, in: Jörn Birkmann (Hrsg.), Measuring Vulnerability to Natural Hazards. Towards Disaster Resilient Societies. Tokyo 2006, 448–496. Titz-Matuszak, Ingeborg, Mobilität der Armut. Das Almosenwesen im 17. und 18. Jahrhundert im südniedersächsischen Raum, in: Plesse-Archiv 24, 1988, 9–338. Tönsmeyer, Tatjana, Hungerökonomien. Vom Umgang mit der Mangelversorgung im besetzten Europa des Zweiten Weltkrieges, in: Historische Zeitschrift 301, 2015, 662–704. Töpfer, Thomas, Die »Freyheit« der Kinder. Territoriale Politik, Schule und Bildungsvermittlung in der vormodernen Stadtgesellschaft. Das Kurfürstentum und Königreich Sachsen 1600– 1815. Stuttgart 2012, 95–107. Tosch, Frank, Der Aufklärertypus Friedrich Eberhard von Rochow (1734–1805) und die Märkische Ökonomische Gesellschaft zu Potsdam, in: Marcus Popplow (Hrsg.), Landschaften Agrarisch-Ökonomischen Wissens. Strategien innovativer Ressourcennutzung in Zeitschriften und Sozietäten des 18. Jahrhunderts. Münster u. a. 2010, 155–173. Trouet, Valérie/Esper, Jan/Graham, Nicholas E./Baker, Andy/Scourse, James D./Frank, David C., Persistent positive North Atlantic Oscillation mode dominated the Medieval Climate Anomaly, in: Science 324, 2008, 78–80. Troßbach, Werner, Historische Anthropologie und frühneuzeitliche Agrargeschichte deutscher Territorien. Anmerkungen zu Gegenständen und Methoden, in: Historische Anthropologie 5, 1997, 187–211. Ulbrich, Claudia, Zwischen Resignation und Aufbegehren. Frauen, Armut und Hunger im vorindustriellen Europa, in: Gabriele Klein (Hrsg.), Begehren und Entbehren. Bochumer Beiträge zur Geschlechterforschung. Pfaffenweiler 1993, 167–183. Vasold, Manfred, Die Hunger- und Sterblichkeitskrise von 1770/73 und der Niedergang des Ancien Régime, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 59, 2008, 107–142. Veit, Patrice, Gerechter Gott, wo will es hin / Mit diesen kalten Zeiten? Witterung, Not und Frömmigkeit im evangelischen Kirchenlied, in: Wolfgang Behringer, Hartmut Lehmann, Christian Pfister, Kulturelle Konsequenzen der »Kleinen Eiszeit«. Göttingen 2005, 283–310. Vernon, James, Hunger. A Modern History. Cambridge (MA) 2007. Vincent-Buffault, Anne, Histoire des larmes, XVIIIe–XIXe siècles. Marseille 1986. Vogt, Elisabeth, Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der fürstbischöflichen Regierung in Würzburg gegen die Getreideteuerung der Jahre 1770–1772. Diss. Würzburg 1921.

452

Bibliographie

Voss, Martin, The Vulnerable can’t Speak. An Integrative Vulnerability Approach to Disaster and Climate Change Research, in: Behemoth. A Journal of Civilisation 1, 2008, 39–56. Wahrig, Bettina/Sohn, Werner (Hrsg.), Zwischen Aufklärung, Policey und Verwaltung. Zur Genese des Medizinalwesens 1750–1850. Wiesbaden 2003. Wakefield, Andrew, The Disordered Police State. German Cameralism as Science and Practice. Chicago 2009. Walter, François, Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert. Stuttgart 2010. Walter, John, Subsistence Strategies, Social Economy and the Politics of Subsistence in Early Modern England, in: Anti Häkkinen (Hrsg.), Just a Sack of Potatoes? Crisis Experiences in European Societies, Past and Present. Helsinki 1992, 53–86. Wanner, Christine, Ein untragbares Risiko? Naturkatastrophen als Auslöser für Lernprozesse. Die Entstehung der Elementarschadenversicherung in der Schweiz, in: Traverse 10, 2003, 100–114. Wanner, Heinz/Brönnimann, Stefan/Casty, Carlo/Gyalistras, Dimitrios/Luterbacher, Jürg/ Schmutz, Christoph/Stephenson, David/Xoplaki, Elena, North Atlantic Oscillation – Concepts and Studies, in: Surveys in Geophysics 22, 2001, 321–382. Warde, Paul, Global Crisis or Global Coincidence, in: Past & Present 228, 2015, 287–301. Watts, Michael, Silent Violence. Food, Famine and Peasantry in Northern Nigeria. Berkeley 1983. Weber, Sascha, Kurmainz und die Hungerkrise 1770–72. Ursachen, Umgang, Folgen, in: Dominik Collet, Ansgar Schanbacher, Thore Lassen (Hrsg.), Handeln in Hungerkrisen. Neue Perspektiven auf soziale und klimatische Vulnerabilität. Göttingen 2012, 87–110. Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1. München 1989. Weikinn, Curt, Quellentexte zur Witterungsgeschichte Europas von der Zeitwende bis zum Jahre 1850. Hydrographie: Teil 4 (1701–1750). Berlin 1963. Weingarten, Michael, Die Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Annäherung an die kulturell konstituierte Differenzierung von Natur und Kultur, in: Dirk Hartmann, Peter Janich (Hrsg.), Die Kulturalistische Wende. Frankfurt a. M. 1988, 371–414. Weinzierl-Fischer, Erika, Die Bekämpfung der Hungersnot in Böhmen 1770–1772 durch Maria Theresia und Joseph II., in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 7, 1954, 478–514. Weishaupt, Carl, Altbayerische Getreidehandelspolitik. Beiträge zur neueren bayerischen Wirtschaftsgeschichte. Diss. München 1922. Weiss, Alfred Stefan, »Providum Imperium Felix«. Glücklich ist eine voraussehende Regierung. Aspekte der Armen- und Gesundheitsfürsorge im Zeitalter der Aufklärung. Dargestellt anhand Salzburger Quellen ca. 1770–1803. Wien 1997. Welzer, Harald, Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird. Frankfurt am Main 2008. Wemheuer, Felix, Der große Hunger. Hungersnöte unter Stalin und Mao. Berlin 2012. Wheatcroft, Stephen/Davies, R.W., The Years of Hunger. Soviet Agriculture 1931–1933. Basingstoke 2004. White, Sam, The Climate of Rebellion in the Early Modern Ottoman Empire. Cambridge 2001. Wiedmer, Laurence, Un débat autour de stockage des grains à Genève. La construction du grenier à blé de Rive (1760–1775), in: Liliane Mottu-Weber (Hrsg.), Mèlanges d’histoire économique offerts au professeur Anne-Marie Piuz. Genf 1989, 281–298. Wiley, Andrea S., Geophagy, in: Solomon H. Katz, Encyclopedia of Food and Culture. New York 2003. Will, Pierre-Étienne, Bureaucracy and Famine in Eighteenth-Century China. Stanford 1990. Will, Pierre-Étienne/Wong, Bin, Nourish the People. The State Civilian Granary System in China, 1650–1850. Ann Arbor, MI 1991. Winick, Myron (Hrsg.), Hunger Disease. Studies by Jewish Physicians at the Warsaw Ghetto. New York 1979. Winkle, Stefan, Johann Friedrich Struensee. Arzt, Aufklärer, Staatsmann. Stuttgart 1989.

Literatur

453

Winkler, Peter, Historische Wetterbeobachtung und -aufzeichnung in Bayern. Wie wir die Atmosphäre heute verstehen, in: Birgit Angerer u. a. (Hrsg.), Gutes Wetter, Schlechtes Wetter. Finsterau 2014, 107–121. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), Sicherheitsrisiko Klimawandel. Heidelberg 2008. Wolf, Rudolf, Johann Jakob Sprüngli und seine klimatologischen Beobachtungen in den Jahren 1759–1802, in: Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern 334, 1855, 28–51. Wrathall, David, Differentiated Migration as Community Disassembly. Resilience Perspectives on Catastrophic Disturbances in Livelihood Systems. United Nations University Institute of Environment and Human Security Working Paper Series 10. Bonn 2015. Wrigley, Edward Anthony, Poverty, Progress, and Population. Cambridge 2004. Wüst, Wolfgang/Müller, Michael (Hrsg.), Reichskreise und Regionen im frühmodernen Europa. Horizonte und Grenzen im Spatial Turn. Bern, Frankfurt a. M. 2011. Zernetschky, Claus, Die Regensburger Wirtschaft in der Zeit des Immerwährenden Reichstags, in: Martin Dallmeier (Hrsg.), Reichsstadt und Immerwährender Reichstag (1663–1806). 250 Jahre Haus Thurn und Taxis in Regensburg. Kallmünz 2001, 53–62. Zhang, David D./Lee, Harry F. /Wang, Cong/Li, Baosheng/Pei, Qing/Zhang, Jane/Anc, Yulun, The Causality Analysis of Climate Change and Large-Scale Human Crisis, in: Proceedings of the National Academy of Science 108, 2011, 17296–17301. Zimmermann, Clemens, »Noth und Theuerung« im badischen Unterland. Reformkurs und Krisenmanagement unter dem aufgeklärten Absolutismus, in: Aufklärung 2, 1987, 95–119. Zimmermann, Clemens, Hunger als administrative Herausforderung. Das Beispiel Württembergs, 1770–1847, in: Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 7, 1995, 19–42. Zimmermann, Clemens, »Krisenkommunikation«. Modellbildung und das empirische Beispiel der Teuerungskrisen 1770/72, 1816/17, 1845/46 im südwestdeutschen Raum, in: Carla Meyer, Katja Patzel-Mattern, Gerrit Jasper Schenck (Hrsg.), Krisengeschichte(n). »Krise« als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Stuttgart 2013, 387–406. Zwierlein, Cornel, Der gezähmte Prometheus. Feuer und Sicherheit zwischen Früher Neuzeit und Moderne. Göttingen 2011. Zwierlein, Cornel, Return to Premodern Times? – Contemporary Security Studies, the Early Modern Holy Roman Empire, and Coping with Achronies, in: German Studies Review 38.2, 2015, 373–392

454

Bibliographie

Datenbanken und Internetressourcen Auswanderer-Datenbank des Landesarchiv Baden-Württemberg http://www.auswanderer-bw. de/ [05.11.2015]. Bäckerinnung Miltenberg, http://baeckerinnung-miltenberg.de/Brot-und-Geschichte/OhneBrot/ [20.3.2017]. Berger, Heinz, Ortschronik Kahla, http://kahla.de/cms/index.php?page=fuersorge [20.3.2017] Climate Explorer, https://climexp.knmi.nl/. Deutsche Fotothek, http://www.deutschefotothek.de. Euroclimhist, euroclimhist.unibe.ch. Freimaurer-Wiki, http://freimaurer-wiki.de/index.php/Freimaurerinstitut [20.3.2017]. Gangkofer, Franz, Geschichte Ranoldsberg, http://www.ranoldsberg.de/chronik1.html [20.3.2017]. Gemeindechronik Jenbach, http://www.jenbach.at/gemeindeamt/html/04_1770–1838.pdf [7.11.2016]. Hunterian Museum, http://collections.gla.ac.uk/ [20.3.2017]. Königlich Privilegierten Schützengesellschaft Fürth, http://kpsg-fuerth.de/g1.htm [20.3.2017]. Kunsthistorisches Museum Wien, www.khm.at/de/object/fb52f1d3fd/. Müller, Roland, http://odophil.ch/numismatik/medaillen/hunger/hunger.html [20.3.2017]. Neubrandenburger Münzverein e. V., http://www.nb-münzverein.de/index-Dateien/Page4982. htm [20.3.2017]. National Centers for Environmental Information, Volcano Database, https://www.ngdc.noaa. gov/hazard/volcano.shtml. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, http://skd-online-collection.skd.museum/de/contents/ show?id=1248877 [20.3.2017]. Staatliche Museen zu Berlin, http://ww2.smb.museum/ikmk/object_print.php?lang=de&id= 18205795 [20.3.2017]. Tambora.org, https://www.tambora.org/index.php/site/index. Old World Drought Atlas, http://kage.ldeo.columbia.edu/TRL/OWDA/. Royal Observatory of Belgium, http://www.sidc.be/silso/datafiles. Vornhusen, Mark, Wetterchronik 1771: http://old.wetterzentrale.de.

Bildnachweis

Abb. 1: GStAPK, Kartenabteilung, B 51.038. Abb. 2: SLUB Dresden/Deutsche Fotothek, http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/ 90065550/df_dk_0009090. Abb. 3: Universitätsbibliothek Heidelberg. Abb. 4: Universitätsbibliothek Heidelberg. Abb. 5: Oberösterreichisches Landesarchiv Linz, Stiftsarchiv Mondsee, Archivalien des Pfarramtes Mondsee Bd. 504. Abb. 6: AKG Images Abb. 7: Museum der Brotkultur, Ulm, Sign. O. 1113. Abb. 8: Hunterian Museum & Art Gallery, GLAM C. 1962.4. Abb. 9: Universitätsbibliothek Heidelberg. Abb. 10: Plagemann, Denkmäler, Anhang. Abb. 11: SLUB Dresden/Deutsche Fotothek, http://www.deutschefotothek.de/documents/ obj/33090531/. Abb. 12: Angerer, Brot, 13. Abb. 13: SLUB Dresden/Deutsche Fotothek, Hans Reinecke, http://www.deutschefotothek.de/ documents/obj/80139771/. Abb. 14: SLUB Dresden/Deutsche Fotothek, Oskar Kaubisch, http://www.deutschefotothek.de/ documents/obj/90082138. Abb. 15: SLUB Dresden/Deutsche Fotothek, Walter Möbius, http://www.deutschefotothek.de/ documents/obj/72019508/. Abb. 16: Museum Dingolfing, Inv. Nr. 37. Abb. 17: Königliche Privilegierte Schützengesellschaft Fürth e. V. Abb. 18: Museum der Brotkultur, Inv. Nr. Gr- 1.73. Abb. 19: Stadtmuseum Erlangen, Nur. N822, Foto: Erich Malter, Erlangen. Abb. 20: Museum der Brotkultur, Ulm, Signatur O-702. Abb. 21: Museum der Brotkultur, Ulm, Signatur O-3142. Abb. 22: Museum der Brotkultur, Ulm, Signatur O-1277. Abb. 23: Alex Ben-Arieh, historama.com. Abb. 24: Alex Ben-Arieh, historama.com.

Register

Ortsregister A Afrika  10, 14, 97, 184 Ägypten  70, 185 Alpen  49, 59–60, 70–71, 73, 75, 77–78, 82, 88, 90, 99, 183, 284, 306 Altenburg 66 Amerika  10, 70–71, 77, 95, 97, 106, 184, 185, 231, 240–242, 244, 248, 249, 276 Amsterdam  94, 183 Annaberg  96, 107 Ansbach  56, 59–60, 78, 144, 184, 324 Appenzell 211 Archangelsk 183 Asien 42 Auernheim 234 Augsburg  94, 108, 184, 187, 190–191, 195– 196 B Baden-Durlach  151, 248, 275–277 Baltikum  57, 83, 182–183 Bamberg  90, 154, 165, 190–191 Banat 241 Basel  64, 90, 108, 235, 244, 249, 277, 338 Baunach 262 Bautzen 239 Bayerischer Wald  189 Bayern (Kurbayern)  63, 83, 85, 90, 95, 100, 107–109, 144, 146, 148, 154, 161, 175, 178–179, 184–186, 188, 199, 202, 219, 237, 243–244, 246, 248, 257, 261, 288, 300–301, 304, 308–329, 344, 365 Belfast 110 Belgien 61 Bengalen  52, 95, 251, 278, 369, 403–404 Bensheim 247 Berggrießhübel (Erzg.)  341 Berlin  47, 59–60, 64, 90–91, 101, 197, 351, 358 Bern  56–57, 60, 74, 165, 175, 277 Besançon 110 Biberach 195

Bodensee  61, 108, 162, 164, 166, 324 Böhmen  10, 57, 61–62, 65, 78, 80, 90, 95, 103, 108–113, 116, 144, 150, 152, 155, 175, 185, 207, 219, 228, 243, 247, 256, 261, 284, 288, 299, 324, 330, 353, 356, 358, 393, 395, 404 Bonn  172, 213, 371, 384 Bozen 185 Brandenburg  81–82, 239, 241, 297, 330 Braunschweig  59, 64, 140, 233, 288, 301 Bregenz  61, 164 Breitenbrunn (Erzg.)  108 Bremen  175, 183, 274 Breslau  234, 349 Brüssel 110 Buchhorn 164 Burghausen am Inn  372–373 Bürstadt 247 C Cadiz 78 Celle  285, 297 Chemnitz  66, 78, 134, 184 Cherbourg 110 China  47, 175, 404 Cornwall 93 D Dänemark  10, 113, 159, 219, 363, 393, 395 Danzig  183–184, 337, 348, 349, 352, 357, 359 Demmin 61 Deutschland, Heiliges Römisches Reich  20, 30, 90, 93, 126, 200, 218, 249, 320, 337, 363 Dietlingen  248, 27–277 Dnjepr (Fluss)  66 Döbeln 131 Don (Fluss)  66 Donau (Fluss)  61, 63, 66–68, 183, 187, 243– 244, 246, 248, 309, 311, 320, 322, 356 Donaustauf 310 Dornwang 378

458 Dresden  56, 66, 103, 193, 217, 235, 238, 303, 330, 338 Dublin 110 Düna (Fluss)  60, 66 Durlach 229 E Eibenstock (Erzg.)  102, 238 Eichelborn (Thür.)  209 Eichsfeld  81, 84, 92, 103–104, 188, 226, 241, 287, 363, 404 Elbe  47, 57, 59, 60–62, 65–67, 90, 183 Elster (Fluss)  66–67 England  61, 69, 85, 93, 95, 111, 114–115, 159, 183, 185, 200, 218–219, 258, 259, 271, 336, 348, 352, 395 Erding  108, 235, 321 Erfurt  100, 108, 183, 219, 225–228 Erlangen  90, 219, 380–382 Ernstthal (Thür.)  106 Erzgebirge  57, 59, 64, 66, 68, 85–86, 90–91, 98, 100–105, 108, 109, 133, 136, 166, 184, 197, 205, 215, 217, 219, 233, 248, 286, 329–346, 404 Europa  47, 71, 76, 94, 151, 175, 228, 306, 365 F Finnland  70, 175 Florenz 189 Franken  62, 81, 83, 85, 90, 103, 148, 155, 159, 164, 168, 219, 244, 274, 365 Frankfurt  93, 183, 195, 261 Frankreich  10, 20, 57, 61, 68, 88, 93–94, 100, 108, 110–111, 116, 126, 159, 183, 198, 218–219, 258–259, 269, 273, 276–277, 302, 336, 348, 352, 363, 393, 395 Freiberg (Erzg.) 219, 228 Fürstenberg 246 Fürth  379, 385, 387 G Genf 172 Gnesen 354 Gotha  172, 220–225, 228, 260, 263, 362, 387 Göttingen  159, 187, 287, 297, 339 Greifswald 59 Großbritannien  57, 109, 219, 363, 393 Großhartmannsdorf (Erzg.)  337 Günzburg 243

Register H Habsburger Monarchie (siehe Österreich) Halberstadt  85, 124, 131, 351 Hamburg  47, 63, 67, 88, 94, 120, 183, 274, 338, 370 Hannover (und Kurhannover)  80, 100, 144, 157, 175, 180, 183, 195, 207, 233, 237, 256, 299, 301, 339 Harz  90, 92 Heiliges Römisches Reich (siehe Deutschland) Heldenstein 389 Heppenheim 247 Hessen (-Kassel, -Darmstadt)  59, 85, 248, 261 Hochkirch (Erzg.)  372, 374 Hohengandern 289 Hohenheim 297 Hohenpeißenberg 304 Hohenstein (Erzg.)  206 Holland, siehe Niederlande Honduras 71 Hunsrück 60 I Ichtershausen (Thür.)  222 Iglau (Mähren)  92 Indien  10, 30, 70–71, 76, 94–95, 306 Ingolstadt 119 Irland  14, 69, 93, 219, 232, 240, 249, 395, 404 Italien  20, 70, 110, 183, 185 J Johanngeorgenstadt (Erzg.)  103 Jülich-Berg 261 K Kaiserslautern  297, 343 Karibik 70 Kärnten 61 Kassel  60, 234 Kazan 184 Kirchhain 61 Kirchisen 389 Kitzingen 224 Köln  89, 91, 161, 188, 191, 195, 214, 261, 274 Königsheim 247 Konstanz 164 Kopenhagen  192, 338, 344 Krain 61 Krefeld 92

Ortsregister Kühlsheim 247 Kujavien 354 Kurhannover (siehe Hannover) Kurpfalz  188, 237, 301, 341 Kwidzyn (Marienwerder)  353 L Landshut 321 Lausitz  56, 61–62, 90, 209, 338, 362 Lech (Fluss)  66 Leipzig  56, 61, 65, 80, 93, 96, 132, 149, 190– 195, 197, 205, 212, 235, 303, 335 Lemberg  338, 349 Lettland 66 Lichtenau 244 Limburg 261 Lindau (Bodensee)  56–57, 61, 329 Lippe  85, 90, 92–93, 144, 215, 261, 282, 299, 301 Lissabon  119, 268, 391 London  59, 62, 93, 111, 240, 337 Lößnitz (Erzg.)  137, 149, 375 Luxemburg 237 M Maffersdorff (Böhmen)  60, 234, 389 Magdeburg  47, 85, 108, 183, 351 Mähren 356 Mainz (und Kurmainz)  152, 161, 188, 237, 244, 261, 324, 344 Mannheim  307, 343 Marienberg  237, 337, 338 Mecklenburg  59, 83 Meissen  56, 67, 69, 303, 379 Mexiko 70–71 Minden  219, 228 Moldau (Fluss)  65–66 Moskau 352 Mühlheim/Main 241 Mulde (Fluss)  66 München  154–158, 178, 185, 188, 226–228, 234, 312, 314, 321 Münster  154, 155, 172 Muskau  239, 371 N Nancy 110 Nantes 184 Naumburg 59 Neapel 61 Netze (Fluss)  47, 348, 359

459 Neulautern 372 Neuwied  151, 181, 274–277, 325 Niederlande  57, 61, 83, 88, 109, 159, 183– 185, 219, 271, 348, 352 Nürnberg  56, 60, 64, 90, 101, 108, 183, 190– 191, 195, 220, 225, 235, 303, 324, 329 O Oberpfalz  59, 146, 186, 311–313, 320 Obersulm 375 Ochsenfurt 257 Odenwald 90 Ohrdruff 223 Osnabrück 301 Österreich  44, 90, 109, 143, 146, 148, 152, 155, 177, 183–184, 187–188, 217, 219, 256, 258, 261, 300–301, 304, 330, 351–352, 357, 361 Ostfriesland 351 Ostpreußen  64, 82, 90, 351 P Paris  61, 207 Passau 244 Pennsylvania  244, 248 Peru 47 Pfalz, siehe Kurpfalz Pfalz-Neustadt 320 Pfalz-Sulzbach 320 Pfalz-Zweibrücken  152, 161, 236, 261 Pfullingen 228 Pirna 358 Pleiße (Fluss)  67 Polen-Litauen  10, 47, 57, 88, 90, 109, 183, 185, 187, 261, 278, 282–284, 346–362, 393 Pommern  83, 241 Posen 354 Prag  110, 198, 214, 261, 321, 355 Preußen  44, 47, 80, 90, 95, 99–100, 107, 146, 173, 182–184, 187–188, 239, 241–243, 248, 258, 261, 288, 326, 330, 346–362 R Rachlau (Lausitz)  372, 374 Reckahn 343 Regensburg  39, 59, 90, 185, 234, 244, 303, 304, 308–329 Reval 184 Rhein (Fluss)  57, 61, 66, 70, 104, 183, 245, 274 Rheinlande  82, 90, 108, 188, 242, 244

460 Riga 184 Rittersgrün (Erzg.)  248 Rohrschach 176 Rom  180, 381 Rouen 110 Rumänien 70 Russland  67, 97, 183–184, 241, 249, 282, 350, 355, 357 S Saale (Fluss)  66 Sachsen  60–61, 64, 65, 79–85, 99, 107, 165, 175, 183, 219, 237, 239, 242–243, 258, 261, 288, 297, 301, 324, 329–346, 351, 358, 363, 365, 397 Sachsen-Gotha 321 Salzburg  144, 152, 175, 184, 187, 191, 198, 214, 301, 313, 323, 344, 363 Schlesien  57, 95, 173, 236, 258, 303, 344 Schleswig-Holstein 301 Schneeberg (Erzg.)  137, 149, 375–376 Schottland  69, 93, 111, 219, 240 Schwaben 274 Schwäbisch-Hall  195, 234 Schwarzwald  80, 90, 243, 246 Schweden  10, 109, 113–114, 116, 159, 175, 258, 363, 393, 395, 397 Schweiz  57–58, 60, 80, 90, 93, 108, 162, 165, 185, 243–244, 249, 300, 344 Siebenbürgen  70, 241 Siegelbach 297 Siegen 237 Sierra Morena  241 Sizilien 184 Skandinavien  10, 57, 70, 73, 88, 109, 113, 284 Spanien  61, 70, 241 Speyer 144 Spree  61, 63 St. Gallen  59 St. Petersburg  59, 94 Stadtamhof  310, 317 Starkenburg 247 Stockholm  70, 94, 344 Straßburg 287 Straubing  246, 311 Stuttgart  78, 184, 228 Sunderland 111 T Tauberbischofsheim  242, 244 Thüringen  59, 90, 108, 217, 220, 330

Register Tirol  60, 175 Toskana  198, 271 Tours 110 Trier  237, 244, 261, 275 Triest 184 Türkei (und Osmanisches Reich)  282, 355 U Überlingen 164 Ukraine  10, 355 Ungarn  60–61, 90, 106, 183, 185, 187, 231, 237, 240–243, 244–245, 248, 261, 322, 356 V Valogne 110 Verona 185 Versailles 110 Vogtland 238 W Wales 69 Wallis 303 Warschau  337, 349 Weichsel (Fluss)  47, 348, 353–354, 357, 359 Weimar 121 Werra 219 Weser  62, 183 Westpreußen 359 Wettenhausen 383 Wien  56, 67, 78, 90, 162, 228, 243, 248, 337, 344, 358 Wilsbach 389 Wittenberg  56, 67 Wolfenbüttel 301 Wolga (Fluss)  184 Wörlitz 121 Worms  85, 261 Würchitz 297 Württemberg  108, 148, 152, 154–155, 162, 164, 188, 219, 248, 299, 301, 344 Würzburg  56, 144–145, 161, 165, 188, 245, 249, 261, 324 Y York 111 Z Zentraleuropa  30, 43, 57, 75 Zittau  108, 338 Zwickau  78, 338–339, 342

461

Personenregister

Personenregister A Abel, Wilhelm  16 Anna Amalia (Herzogin von SachsenWeimar-Eisenach) 209 Arand, Jacob  237, 287–294 Augustus (römischer Kaiser)  180 B Basedow, Johann Bernhard  194, 265, 340, 343 Belling, Wilhelm Sebastian von  354 Berbisdorf, August von  222 Berchem, Maximilian Franz Josef von  227 Blackbourn, David  120 Bräker, Ulrich  26, 59, 60, 82, 91, 104–105, 120, 204, 208, 213, 215, 233, 238, 242, 367, 368 Braudel, Fernand  9, 45, 97 Burckhardt, Johann Gottfried  368 Burke, Sir Edmund  115, 308 C Chambers, Robert  35 Charlotte (Königin von Großbritannien und Irland) 116 Christian VII. (König von Dänemark)  113 Clive, Sir Robert  115 Colloredo, Hieronymus von (Fürsterzbischof von Salzburg)  198 D Dachsberg, Johann Nepomuk von  301 Dalberg, Karl Theodor von  226 Domhardt, Johann Friedrich  353, 355 Du Pont, Pierre Samuel  276 E Emmerich Josef (Kurfürst von Mainz)  226 Enderlein, Joseph Friedrich  278 F Fichtner, George Heinrich  87, 238, 255 Fischer, Christian Hiskias Heinrich von  151, 273–275, 325 Fogel, Robert  12, 286 Foucault, Michel  126, 254 Friedrich August III. (Kurfürst von Sachsen)  86, 198, 329, 345

Friedrich Heinrich Ludwig (Prinz von Preußen) 197 Friedrich II. (Kurfürst von Brandenburg, König in/von Preußen)  24, 39, 172–174, 181, 197, 241, 243, 261, 263, 278, 344, 346–362 Friedrich III. (Herzog von Sachsen-GothaAltenburg)  222–223, 225 Friedrich Ludwig (Graf zu Solms, Landeshauptmann des Erzgebirges)  204, 248, 338 G Gailus, Manfred  263 Galiani, Ferdinando  44, 273, 274 Gatterer, Johann Heinrich  305 Georg III. (König von Großbritannien und Irland)  114, 116, 320 Georg Karl Heinrich (Graf von Hoym)  353 Giddens, Anthony  12 Ginzburg, Carlo  32 Goethe, Johann Wolfgang von  121, 298 Goldschmidt, Johann Nicolaus  209 Grotehenn, Heinrich Ludewig  26, 59, 62 Gujer, Jakob  298 Gustav III. (König von Schweden)  114, 258, 344 H Hacker, Werner  244 Hadelich, Siegmund Leberecht  226 Haen, Anton de  288 Halbwachs, Maurice  367 Haller, Albrecht von  164, 277 Hatzfeld, Karl von  152 Hazzi, Joseph von  60, 63, 236, 268, 312 Hecker, Karl Friedrich  78 Heinrich, Placidus  328 Herrmann (Graf von Callenberg)  371 Herwig, Johann Heinrich  338 Hirsch, Parness  262 Hobbes, Thomas  118 Hoffmann, Johann Michael  336 Humboldt, Alexander von  118, 398 I Imhof, Arthur Erwin  54 Iselin, Isaak  249, 270, 277

462 Israel, Hertz  225 Israel, Levi  221, 225 J Johan Friedrich Alexander (Graf von Wied-Neuwied)  274, 325 Jones, Eric  12 Joseph (bibl. Sohn Jakobs)  260, 385 Joseph II. (Kaiser des Heiligen Römischen Reichs)  112, 145, 197, 242, 257–258, 310, 321, 326, 356, 360 Justi, Johann Heinrich Gottlob von  245, 278 K Karl August (Prinz von Sachsen-Weimar)  198 Karl Friedrich (Markgraf von Baden-Durlach) 275–277 Karl Theodor (Kurfürst von der Pfalz)  98, 319–320 Karpiński, Franciszek  359 Kaskele, Jakob  187 Katharina II. (Kaiserin von Russland)  241 Kleinjogg, siehe Gujer, Jacob Korn, Johann Friedrich  335 Krämer, Daniel  32 Krügelstein, Johann Friedrich  332–335, 368 L Labrousse, Ernest  16 Lambert, Johann Heinrich  304, 307 Landgraf, Michael  375 Landwehr, Achim  402 Latour, Bruno  12 Leibniz, Gottfried Wilhelm  136 Leitner, Carl von  119 Leopold I. (Großherzog von Toskana)  198 Lerche, Johann Jacob  355 Leuthner, Johann Nepomuk  295 Livi-Bacci, Massimo  54 Löhr, Eberhard Heinrich  149 Lori, Johann Georg  301 Lucius Minucius Esquilinus Augurinus (röm. Präfekt)  382 Lüders, Philipp Ernst  296, 307 Ludwig XV. (König von Frankreich)  258 Ludwig XVI. August (Dauphin und König von Frankreich)  198

Register M Malthus, Thomas  240, 250, 278 Mandel, Jakob  261 Marburg, Christian Friedrich  205 Maria Theresia (Königin von Ungarn und Böhmen, Erzherzogin von Österreich)  181–182, 197, 241, 355, 383–384 Maximilian Friedrich (Kurfürst und Erz­ bischof von Köln)  371, 384 Maximilian III. Joseph (Kurfürst von ­Bayern)  198, 227, 310, 321–324 Mayer, Johann Friedrich  296 Mehlig, Johann Michael  134–135, 138 Merz, Johann Georg  211 Meyer, Amigo  261 Mirabeu, Victor Riquetti de  276 Möser, Justus  249 Münchhausen, Otto von  265, 272 N Nepila, Hanso  26, 209–212, 238, 239, 362, 368 Nicolai, Friedrich  138, 278 Nonn, Caspar Heinrich  220 Nora, Pierre  367 O Ó Gráda, Cormac  31, 55, 362 Oesfeld, Gotthelf Friedrich  136–138 Oppenheimer, Adam  187, 261 Österreicher, Moises  261 P Patzke, Johann Samuel  334, Pestalozzi, Johann Heinrich  343 Pfister, Christian  32, 74, 116, 328 Pflug, Georg Ludwig  155 Philipp (Graf von Kolovrat)  257 Philipp Wilhelm (Freiherr von Lincker)  325 Philippi, Johann Albrecht  263 Pilgram, Anton  304 Polanyi, Karl  12 Pomeranz, Kenneth  12 Post, John Dexter  286 Pötzsch, Christian Gottlob  368 Puy, Jean Pierre  381–382 Q Quesnay, François  121, 20

463

Sachregister R Rabe, Johan Georg  303 Reich, Johann Christian  385–387 Reimarus, Johann Albrecht Heinrich  181, 270 Reinhard, Wolfgang  402 Reyher, Benjamin  265, 335 Rhod, Jacob Friedrich von  357 Richter, Christian Heinrich  149 Rochow, Eberhard von  293–294, 343 Rousseau, Jean Jacques  118 Rudolf (Reichsgraf Chotek von Chotkow)  257 Rumford, Benjamin Thompson Graf von  207 S Salomo (bibl. König)  260 Schäffer, Jacob Christian Gottlieb  313, 316 Schlettwein, Johann August  151, 270, 275– 277 Schlözer, August Ludwig  116 Schmahling, Christoph  124, 131 Schmidt, Johann Sophia  211 Schubart, Johann Christian  297 Sen, Amartya  17, 362 Sheper-Hughes, Nancy  280 Sillig, Johann Gottfried  38, 131–139 Smith, Adam  270, 278, 394 Soden, Justus von  219 Sonnenfels, Joseph von  249, 278 Spanner, Maria  378 Spary, Emma  121 Sprüngli, Johann Jakob  60 Stanislaus II. August Pontiakowski (König von Polen)  349

Steiglehner, Coelestin  303–304, 328 Stetten d. J., Paul von  196 Struensee, Johann Friedrich  113–114, 344, Süßmilch, Johann Peter  300 Sydenham, Thomas  288 T Terray, Joseph Marie  302 Thompson, Edward Palmer  14, 24, 160 Tissot, Samuel Auguste  288 Tyberius, Christian  211 V Visme, Lewis de  325 Vogel, Johann Georg  338 W Wadelung, Johann Wilhelm  222 Wagner, Johann Ehrenfried  136–138, 237, 337, 371 Wakefield, Andrew  201 Walcher, Josef  305–306 Wermuth, Christian  387 Will, Johann Martin  377, 379 Wolf, Johan Heinrich  133, 134 X Xaver, Franz (Graf von Montfort)  164 Y Young, Arthur  272, 296 Z Zapf, Gottfried  379–380 Zesch, Ambrosius  383

Sachregister A Adaption  390–396, 403 affective revolution  28, 330 Agrarrevolution,-reform  12, 49–54, 296–300 Agromanie  50, 120, 296 Akademien der Wissenschaften  159, 267– 268, 303 – in Berlin  304 – in Göttingen  159, 171, 267, 278 – in Erfurt  226

Allmende, Gemeingüter  49–51, 215, 252 Anthropozän 8 Anthropozentrismus 8 Antijudaismus, Antisemitismus (siehe auch Kornjude) 27, 127, 154, 167, 220–225, 237, 259–264, 360, 362, 387, 394, 403 Arbeitshäuser  149–151, 153, 195–196, 207, 235, 286, 316, 336–346 Armenfürsorge  35, 52, 92–93, 143, 149–150, 189–197, 202, 280–281, 316–318, 329–346

464 Armenzeichen, Bettlermarken  235 asymmetrische Gegenbegriffe  361 Aufklärung  11, 138–140, 207, 296, 333 – Volksaufklärung  206, 267, 307–308, 331, 334, 338–340 B Bankenkrise, -crash  93–95, 397 Baumringe, Dendrochronologie  25, 72–79 Biopolitik  21, 42 Brotpreis  46, 88–92, 185, 214, 220–221, 313–315 C Celler Landwirthschaftsgesellschaft  297 cold/wet-complex  55, 75, 78 Cotopaxi, Vulkan in Ecuador  75 D Dachsenbergische Volkszählung  300–301 Demographie  18, 21–22, 27–28, 34, 48–49, 52, 107–109, 240, 300–303, 332, 366, 395 Determinismus (Klima-, Sozial-) 7, 15–16, 18–19, 31, 33–37, 79, 402, 405 E East India Company  52, 94–95, 115, 251, 258, 393, 404 Eisbohrkerne  25, 72, 75 El-Niño Southern Oscillation (ENSO)  76–77, 399 embedded economy  12, 42, 252, 269, 401 Emotionen  28, 104, 129, 136, 239, 302, 366 Mitleid, Fernstenliebe  39, 330–336 entitlements, Zugangsrechte  13, 17, 52, 96, 167, 234, 399 environmental humanities 406 Epidemien, siehe Hungerkrankheiten European Miracle  12, 403 Experten  11, 50, 129–130, 140, 264–307, 327, 393 F Fleckfieber  104, 237, 281, 283–289, 291 food availability decline, food entitlement decline 13–14 food-studies 12 Fragilität 34 framing-theory  370 Französische Revolution  15

Register Freihandel  23–24, 111–112, 126–127, 151, 159–160, 269–279, 320, 400 Freimaurer, Freimaurerinstitut Dresden  337–338, 375 Frühnationalismus, siehe Nationalismus Fünfter Russisch-Türkischer Krieg  283, 349 Fürsorge, siehe Armenfürsorge G gebaute Umwelt, built environments  9, 32, 34, 141, 399 Geophagie 209–211 Geschlechterrollen  21, 219, 225, 228–229, 267, 292, 333–335, 387 Getreide -gesellschaft  38, 41–54, 143, 158, 175, 200, 206, 252, 258, 262, 346, 362, 369, 395, 398–399, 402 -magazine  47, 89, 98, 114, 125, 156–158, 169–182, 225, 259, 314–315, 350–360 -schmuggel  157, 163, 166–168, 272, 310–314 Great Divergence  12, 403–404 Great Escape  12, 397 Green Famine  17, 365 H Herrschaft  197–202, 256–259, 401–402 – akzeptanzorientierte  11 – Verdichtung von  8, 11, 20, 38, 197, 201, 254, 256–259, 363, 393, 396, 402 Historische – Epidemiologie  281 – Katastrophenforschung  17–18, 28, 37–38, 118, 255 – Klimatologie  19, 28, 54, 71, 306, 399 Hochmoderne, high modernity  9, 22, 34, 119, 405 Hochwasser, Überschwemmung  57–61, 65–67, 70, 183, 185, 370 Humanitarismus  331–335, 345–346 Hunger -brunnen  65, 311 -geschichten (Historisierung)  367–369 -krankheiten  21, 279–296, -medaillen  167, 223–224, 260–263, 381–388 -proteste  23, 110–113, 155, 218–199 -steine 372–375 -tote  28–29, 70, 101–109, 1131–139, 196, 321, 350, 357, 366, 385, 390

Sachregister -zeitschriften  27, 39, 139, 267, 331–340, 342, 345, 368 Hungersnot – von 1437–1438  71 – von 1315–1318  9, 19, 55, 71, 121 – von 1570–75  9, 19 – von 1594–98  71 – von 1691–1695  71 – von 1815–17  19, 22, 31, 54, 70–73, 75, 90, 148, 240, 248, 263, 297, 327–328, 359, 366, 368, 387, 389, 394–395, 403 – von 1845–1848  14, 240 – als langsame Katastrophe  32, 119 – Beginn  87 I Infrastrukturen, sozionaturale-, kritische-  34, 46–48, 170, 182, 254, 390, 396, 399, 405 J jüdische Gemeinden  212, 262 K Kameralismus  142, 151, 166, 171, 201, 249, 279, 362 Kannibalismus  10, 209 Kartoffel  42, 82, 86, 88, 148, 153, 208–210, 215, 298–300, 345 Kinder  102–103, 105–106, 132–133, 210– 211, 333–345 Kirche (Institution)  45, 112, 122–125, 131– 140, 170, 202, 257–259, 335–336, 339, 389, 403 Kleine Eiszeit  9, 20, 53–55, 75–78, 392, 399 Klima -folgen, siehe Adaption -wandel  7–8, 14, 31, 35, 231, 250, 392, 405 -wirkungsmodelle  19, 32 Kliometrie  15, 38, Koevolution  8, 19, 42, 254, 396, 399, 406 Kollusion  11, 38, 147, 168, 181, 197, 200, 203, 230, 251–254, 259, 262, 264, 271, 362–363, 402 Kommunikation, Krisen-, Alarm-, Herrschafts-  21, 86, 141, 147, 228, 253–256 Konföderation von Bar  349, 353–354, 360 Kontagions-Theorie  266, 285, 288–289, 294

465 Kornjude (Figur)  23, 38, 101, 127, 165, 167, 223–224, 229, 259–264, 275, 360, 385– 388, 390, 394 Kornregen, -wunder  123, 213 Krise  17, 32, 200–203, 393–396, 402–403 – des Alten Typs  16, 22 – als Katalysator  10, 20, 39, 116, 126, 258, 265, 296, 302, 308, 340, 390–396, 399, 403 – als Laboratorium  9, 30, 120, 125, 139– 140, 264, 274 Kritikalität 34 Kurpfälzische Physikalisch-Ökonomische Gesellschaft  297, 343 Kwashiorkor 282 M Magazine, siehe Getreidemagazine Mangelgesellschaft  7, 18 Marasmus 282 Mehlkrieg, guerre des farines  10, 112, 274, 393 Menschenfreunde, siehe Patrioten Messnetzwerke, historische  304–307 Metabolismus, sozialer-, urbaner-  43, 189, 309, 313–318 Meteorologie  10, 130, 303–308 Miasmen-Theorie  288, 295 Migration  10, 20–21, 25, 29, 104, 108–109, 115, 167, 186, 192, 215, 231–252, 281– 284, 291, 322–323, 395, 403–404 Missernten  46, 53 – Ausmaß  84–86 – Frequenz  32 moral economy  24, 160, 165, 169, 200, 218– 219, 224, 230, 254, 362 Mutterkorn  81, 104, 285 N Nahrungsregime  21, 44, 46, 229, 395, 401, Nationalismus, deutscher  10, 126–127, 272– 273, 320, 327, 335, 394 Naturromantik  11, 118, 121, 149 new materialism 19 North Atlantic Oscillation (NAO)  74–79, 399 O Ökonometrie  14, 18, 36 Ökonomie des Notbehelfs, economy of makeshifts  12, 203–252 Ökonomie, Nationalökonomie  10, 269–279, 327, 394, 398, 400

466 Ökonomische Gesellschaften  126, 130, 267, 270–272, 297–298, 304, 343–344 P Panarchy 18 Patrioten  39, 126–127, 195, 270–273, 327, 335–339 Persistenz 34 Pest  282–283, 292, 350–352 Pfadabhängigkeiten  33, 41, 362, 390, 393, 396, 399, 406 Philantropin (Schule) 343 Physiokraten  24, 51, 111, 121, 126–127, 144, 149–151, 171, 181, 250, 269–279, 320, 396 Pocken  104, 284–285, 289, 293 Predigten  26, 66, 122, 131–134, 199, 259, 267 Preise, siehe Brotpreis Protest, siehe Hungerprotest Protoindustrie  52, 92, 109, 234 R Realexperiment, gesellschaftliches  397 Reformabsolutismus, aufgeklärter Absolutismus  11, 258, 274 Reichstag, Immerwährender  10–11, 160, 162, 185, 273–275, 308–329, 398 Reis  42, 88, 151, 207–208 Resilienz 33 Rinderpest, siehe Tierseuchen Risiko  18, 35, 46, 49, 100, 128, 177–178, 184, 321, 391–392 riskscape 53 Royal Society  304 S Säkularisierung  9, 26, 118–119, 139–140, 202, 403 Samenkorninstitut Göttingen  297 Schulpflicht, allgemeine  330, 343 Selbsthilfe  39, 96, 149–151, 364, 395 shifting baselines syndrome  366, 391–392 Sicherheit  8, 21, 124, 170, 177–178, 181–182, 201–202, 273, 391, 399 Siebenjähriger Krieg  94–95, 109, 172, 329 slow violence (Sozioökologie)  18, 44, 52, 99, 252, 346, 396, 400, 405

Register Societas Palatina Meteorologica  307 sozialer Zusammenbruch  106, 238, 357 Sozionatur, sozionatural  8, 10, 17, 34–35, 116, 141, 364, 395–406 Sozionaturale Schauplätze  18, 39 Spekulation  29, 31, 42, 46, 53, 87, 99–100, 115, 117, 119, 127–129, 153–155, 188, 224, 260–264, 269–270, 310–311, 379–380, 385–390 Speläotheme, Stalagmiten  25, 72 Statistik  10, 27, 300–303 Steelboys, Hearts of Steel  110, 113, 397 Subsistenz, Subsistenzethik  18, 36, 43, 50–52, 89, 230, 252, 296, 401, 404 Sündenökonomie  123, 151, 342, 345 Supplikationen  26, 173, 203, 222, 224, 227– 228, 252, 255–256, 259, 263, 354, 360, 363 sustainable-livelyhood-approach  21, 231 T Tambora, Vulkan  22, 73–76 thin description  268, 405 Tierseuchen 83 U Umweltgeschichte  8–9, 18, 30, 117, 308, 347, 398 Ungleichheit, soziale  13–14, 32–34, 38, 46, 51–53, 97–99, 115, 127–128, 135–137, 159, 182, 196, 205, 216, 226, 234, 253, 288, 291, 334, 360, 368, 375, 388, 390, 405 V Versicherungen  8, 53, 94, 137, 172, 201, 394–395 Vulkanausbruch  22, 72–76, 78–79, Vulnerabilität  22, 25, 30–38, 48, 54, 189, 203, 234, 309, 362, 400–402 W Wald, Waldnutzung  43, 49–50, 90, 96, 102, 215, 252 Wallfahrten  140, 167, 204, 213–214, 236, 298, 372, 388–389 Wucher, siehe Spekulation