Edmund Husserl und Martin Heidegger haben nicht nur die Denkungsart der Philosophie im 20. Jahrhundert verändert, sonder
495 48 23MB
German Pages 257 Year 2025
Table of contents :
Cover
Einleitung
Raivis Bičevskis, Klaus Neugebauer: „Ich habe sehr viel Freude daran“. Kurt Stavenhagens Brief an Martin Heidegger
1. Stavenhagen und der Heidegger-Leserkreis in Riga
2. Transkript des Briefes
I. Natur – Geschichte – Metaphysik
Manuela Massa: Jenseits des Eurozentrismus. Husserl, Heidegger und die Suche nach einem neuen Welt-Ethos
1. Eurozentrismus bei Heidegger und Husserl: Eine kritische Bestandsaufnahme
2. Die Suche nach einer neuen Ordnung: Husserl, Heidegger und der Eurozentrismus in der Krise
3. Ethos und Weltgesellschaft: Wege zu einer post-eurozentrischen Ethik bei Heidegger und Husserl
Fazit
Lutz Ellrich: Krieg, Frieden und der Eigensinn der Natur
Elvīra Šimfa: „Leaving philosophy“. Heidegger's critique on Kant
II. Wahrheit – Dasein – Geltung
Harald Seubert: Genesis und Geltung im Spannungsfeld zwischen Edmund Husserl und Martin Heidegger
1. Charakteristik
2. Husserls Anfänge
3. Psychologismuskritik und 'Logische Untersuchungen'
4. Das Projekt der 'Ideen'
5. Philosophie als „strenge Wissenschaft“ und Selbstbesinnung
6. Leiblichkeit und inneres Zeitbewusstsein
7. Das Ich als „Residuum in der Weltvernichtung“ und das Ideal einer geeinten Menschheit
8. Phänomenologie als Haltung und als Erfüllung der Philosophie
Klaus Neugebauer: Die Frage nach dem Wahrsein zwischen Dasein (Heidegger) und Bewusstsein (Husserl)
1. Die Unzulänglichkeit der überlieferten Wahrheitsbestimmung
2. Entdeckendsein als Vollzugsmodus der Wahrheit
3. Erschlossenheit als ursprüngliches Phänomen der Wahrheit
4. Zwei systematische Orte der Bestimmungen von Wahrheit
5. Die erneute Problematisierung des Phänomens der Wahrheit bei Husserl und Heidegger
6. Das doppelte Übersehen des Seins
7. „Vgl.“ bedeutet Annahme und Abstoß
III. Lebenswelt – Atem – Verantwortung
Lenart Škof: Von der Seinsvergessenheit zur Atemsvergessenheit. Ein Versuch des respiratorischen Denkens bei Heidegger
Zur Einführung
Die Atemsvergessenheit in westlicher Philosophie
Das Geviert, die Luft und der Mesokosmos bei Heidegger
Mit Hölderlin denken: die Möglichkeit des Windes bei Heidegger
Bibliographie
Rihards Kūlis: Kant and the Problem of Life-world
1.
2.
Kimiyo Murata-Soraci: Aporie aporetisch denken
Bibliographie
IV. Angst – Tod – Zeit
Günther Neumann: Zum Phänomen der Zeit und der Zeitlichkeit bei Edmund Husserl und Martin Heidegger, dargelegt am Problem des Todes
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
Hans Herlof Grelland: Heidegger und Kierkegaard über das Man, Verzweiflung und Angst
Referenzen
V. Kunst – Blick – Stimme
Ineta Kivle: Zwischen Husserls phänomenologischer Formel und Heideggers ontologischer Frage. Ein Beispiel für Klang und Stimme
Husserls Formel
Heideggers Befragung
Formel und Befragung
Wie kommt man zu Husserls „Formeln“?
Zwischen Stimme (Sprache) und Klang
Von Klang und Stimme zum „Hören“
Xiao Xiao im Zwiegespräch mit Eva Koethen: Theorie und Praxis. „Der kunstwissenschaftliche Blick aus interkultureller und phänomenologischer Perspektive“
Die Autorinnen und Autoren
Schriftenreihe Martin-Heidegger-Gesellschaft
| 16
Raivis Bičevskis | Klaus Neugebauer [Hrsg.]
Die Dinge sein lassen Husserl und Heidegger
Schriftenreihe Martin-Heidegger-Gesellschaft Herausgegeben von Harald Seubert Klaus Neugebauer Wissenschaftlicher Beirat Damir Barbarić (Zagreb) Thomas Buchheim (München) Michael Großheim (Rostock) John Sallis (Boston) Band 16
Raivis Bičevskis | Klaus Neugebauer [Hrsg.]
Die Dinge sein lassen Husserl und Heidegger
© Titelbild: U niversität Lettlands in Riga Die Untersuchungen wurden von der Latvian Council of Science im Rahmen des Programms „Fundamental and Applied Research“ gefördert.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99123-7 (Print) ISBN 978-3-495-99124-4 (ePDF)
Onlineversion Nomos eLibrary
1. Auflage 2025 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2025. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Raivis Bičevskis, Klaus Neugebauer „Ich habe sehr viel Freude daran“ Kurt Stavenhagens Brief an Martin Heidegger
. . . . . . . . . .
11
Husserl, Heidegger und die Suche nach einem neuen Welt-Ethos . .
19
Lutz Ellrich Krieg, Frieden und der Eigensinn der Natur . . . . . . . .
39
I.
Natur – Geschichte – Metaphysik
Manuela Massa Jenseits des Eurozentrismus
Elvīra Šimfa “Leaving philosophy” Heidegger’s critique on Kant
. . . . . . . . . . . . . . . . .
51
II. Wahrheit – Dasein – Geltung Harald Seubert Genesis und Geltung im Spannungsfeld zwischen Edmund Husserl und Martin Heidegger . . . . . . . . . .
67
Klaus Neugebauer Die Frage nach dem Wahrsein zwischen Dasein (Heidegger) und Bewusstsein (Husserl) . . . . . . . . . .
99
III. Lebenswelt – Atem – Verantwortung Lenart Škof Von der Seinsvergessenheit zur Atemsvergessenheit Ein Versuch des respiratorischen Denkens bei Heidegger . . . . .
107
5
Inhaltsverzeichnis
Rihards Kūlis Kant and the Problem of Life-world . . . . . . . . . . . .
129
Kimiyo Murata-Soraci Aporie aporetisch denken
. . . . . . . . . . . . . . . .
147
Günther Neumann Zum Phänomen der Zeit und der Zeitlichkeit bei Edmund Husserl und Martin Heidegger, dargelegt am Problem des Todes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
187
Hans Herlof Grelland Heidegger und Kierkegaard über das Man, Verzweiflung und Angst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
209
IV. Angst – Tod – Zeit
V. Kunst – Blick – Stimme Ineta Kivle Zwischen Husserls phänomenologischer Formel und Heideggers ontologischer Frage Ein Beispiel für Klang und Stimme . . . . . . . . . . . . . . .
219
Xiao Xiao im Zwiegespräch mit Eva Koethen Theorie und Praxis „Der kunstwissenschaftliche Blick aus interkultureller und phänomenologischer Perspektive“ . . . . . . . . . . . . . . .
231
Die Autorinnen und Autoren
253
6
. . . . . . . . . . . . . . .
Einleitung
Edmund Husserl und Martin Heidegger sind Denker, die nicht nur die philosophische Landschaft des 20. Jahrhunderts insgesamt ver‐ ändert und tiefgehenden Einfluss auf verschiedene Wissenschaften und Künste ausgeübt haben. Sie haben auch das intellektuelle Le‐ ben bestimmter Regionen Europas und der Welt in einzigartiger Weise beeinflusst. Anlässlich der Jubiläen wird in diesen Regionen an beide erinnert: Man versucht, die damalige Bedeutung dieser Philosophen und das weiterwirkende Schicksal ihres Einflusses zu verstehen. Wenn man auf die Philosophiegeschichte im Kulturzeitraum Nordosteuropa – Baltikum bzw. Lettland – um die Jahrhundert‐ wende zwischen 19. und 20. Jahrhundert blickt, dann zeichnet sich die folgende Konstellation ab: Die führenden Philosophen des Neu‐ kantianismus, die nach dem Zusammenbruch von Hegels Idealis‐ mus-System „Zurück zu Kant!“ riefen, haben die Entstehung der modernen lettischen und deutschbaltischen Philosophie in Riga stark beeinflusst – direkt (Studien in Deutschland) oder auf Umwe‐ gen (Universität Tartu / Dorpat). Die begrifflichen und methodolo‐ gischen Grundlagen der Wissenschaft, eine Theorie der Subjektivi‐ tät und das Wertproblem waren die neukantianischen Themen, die zur Entstehung der lettischen akademischen Philosophie beigetra‐ gen haben. Die in Riga gehaltenen Vorträge, die der schulbildende Philosoph des Marburger Neukantianismus Hermann Cohen 1914, oder der Neukantianer Alois Riehl 1918 gehalten haben, sind nur Zeichen auf dem Wege, auf dem sich die deutschbaltischen Philo‐ sophen – so der in Kandau geborene Oswald Külpe (1862–1915), in Riga geborene Nicolai Hartmann (1882–1950), oder der Riga tätige Walter Frost (1874–1936) – mit ihren lettischen Kollegen nun trafen. Die Tätigkeit der Universität Lettlands (1919 gegründet) und des Herder-Instituts zu Riga (1921 gegründet) brachte diesen neukan‐ tianischen Einfluss auf eine systematische Spur. Die lettischen und deutschbaltischen Philosophen, Theologen, Literaturwissenschaft‐ ler studierten bei Neukantianern – so Woldemar Maldonis (1870– 1941) bei Paul Natorp, Eduard Wolter (1856–1941) bei Wilhelm Win‐
7
Einleitung
delband, Milda Liepiņa (1889–1979) bei Ernst Cassirer. Aber auch in Lettlands Kulturraum der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhun‐ derts begann wieder der Kampf um Kants philosophisches Erbe. Der Neukantianismus wird gelehrt, aber nun auch stark kritisiert. Neue Strömungen treten auf den Plan. Der in Goldingen geborene Philosoph Kurt Stavenhagen (1884–1951) ist da ein sehr bezeichnen‐ des Beispiel. Stavenhagen beginnt mit Kant, wird dann sehr stark von Max Scheler und Martin Heidegger beeinflusst, seine Assis‐ tentin Erika Sehl (1902–1982), wohl damals die begabteste Philoso‐ phin im Baltikum, studierte bei Edmund Husserl und Martin Hei‐ degger, Oskar Becker und Heinz Heimsoeth. Aber auch die letti‐ schen Philosophen, die wir heute als wichtig auch in den weiteren Kontexten der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts bezeich‐ nen, stehen da an der Wegscheide. 1924 wird in Riga die „KantGesellschaft“ gegründet, wurde aber nach einigen Jahren in Philo‐ sophische Gesellschaft umbenannt. Der Philosoph Theodor Celms (1893–1989) beginnt seinen philosophischen Weg mit einer Disser‐ tation über Kants Logik und das Wesen des Begriffs, wird dann aber ein Schüler des Phänomenologen Edmund Husserl, wenn auch mit Seitenblicken. Der Philosoph Pauls Dāle, der die Kant-Gesellschaft leitete, ging am Ende mehr in Richtung Psychologismus und Vi‐ talismus. Jakob Osis (1860–1919) neigte zum Personalismus seines Lehrers Gustav Teichmüller, Pauls Jurevičs (1891–1981) entwickelte eine Kulturkritik mit Motiven des Vitalismus und des Existentia‐ lismus. Eine frühe Nietzsche-Rezeption in Lettland von Jānis Jo‐ hannes Poruks (1971-1911), Vilis Plūdons (1874–1940) und Rūdolfs Blaumanis (1863–1908) führte wohl dazu, dass die Lebensphiloso‐ phie gerade in ihrer vitalistischen Version ein paar Jahrzehnte spä‐ ter in Lettland sehr verbreitet war. Der lettische Schriftsteller und Existenzphilosoph Konstantin Raudive (1909–1974) bemerkte sei‐ nerseits damals, wenn man einen Philosophen aus der Reihe der gegenwärtigen Denker „einen Philosophen der Zukunft“ nennen dürfe, dann eben den Lebensphilosophen Ludwig Klages. Sie alle haben sehr offen und intensiv in dieser Übergangszeit zwischen Neukantianismus und Lebensphilosophie, Phänomenolo‐ gie, Fundamentalontologie und Kulturkritik gearbeitet. Husserl und Heidegger haben aber – jeder auf seine Weise – den Einfluss aus‐ geübt, der dann nach der Sowjetokkupation und Wiedererlangung der Unabhängigkeit Lettlands aufgegriffen wurde und die philoso‐
8
Einleitung
phische Landschaft im Lettland der neunziger Jahre schon in neuen Kontexten weiterbildete. Dieser nicht nur geschichtlich relevanten Entwicklung von damals kritisch nachzugehen und systematisch weiterzuverfolgen, fördert heute eben nicht nur regional fokussierte Forschung, sondern auch und gerade eine internationale Zusam‐ menarbeit. Unter Hinweis auf die große historische Rolle, die die Phäno‐ menologie Edmund Husserls und die Fundamentalontologie Mar‐ tin Heideggers für die akademische Philosophie in Lettland in den zwanziger und den dreißiger Jahren spielte, fand im Oktober 2018 in Riga die internationale Tagung „Martin Heideggers Umbruch‐ zeit 1928–1932“ statt, wo die Referenten aus Deutschland, Schwe‐ den, Österreich, Estland, Lettland, Italien und Spanien, die Über‐ gangszeit zwischen „Sein und Zeit“ und seinsgeschichtlichem Den‐ ken auslotend, referierten. Ein Jahr später – im Dezember 2019 – fand in Riga auch die zweite internationale Tagung „To Let Things Be! Edmund Husserl 160 – Martin Heidegger 130“ statt. Daran nahmen Vortragende aus Lettland, Indien, Belgien, Polen, Österreich, der Schweiz, Georgien, Hongkong, den USA, Slowenien, Deutschland, Norwegen und Est‐ land teil, die Arbeit der Tagung wurde von den Schweizer und Ös‐ terreichischen Botschaften in Lettland, sowie von der Universität Lettlands in Riga und von dem Forschungsprogramm der LZP (Lat‐ vian Council of Sciences) unterstützt. Die Tagungsberichte dieser Tagung bilden (in Form aktualisierter Artikel) den Hauptteil dieses Buches. Diese Aufsätze wurden durch eine Reihe von Texten der Heidegger-Leser und -Forscher ergänzt, die sich mit Husserls und Heideggers Denken in der Kontexten der Philosophie-, Literatur-, Kunst- entwicklung im Rahmen der Entstehung und Problemen der Moderne befassen. Schon damals 2019 lautete das Thema der Tagung „Lass die Dinge sein!“. Das konnte nicht nur im Rahmen von Husserls Programm der strengen Wissenschaft („Zu den Din‐ gen selbst!“) und nicht nur im Horizont von Heideggers spätem Denkweg („Gelassenheit zu den Dingen“) gelesen werden. Schon damals ging es um das Schicksal der Moderne und die Sehnsucht der Moderne, der Wirklichkeit, der Realität, den Dingen selbst zu begegnen. In diesem Sinne wurden Husserls Diagnose der Krise der europäischen Wissenschaften und Heideggers Gedanke der Seins‐ vergessenheit im Kontext der Entwicklung der Moderne und ih‐
9
Einleitung
rer inneren Probleme gesehen, aber auch im Kontext der weiteren Versuche, eine Zeitdiagnose und auch ein philosophisches Konzept, das unsere Beziehungen mit der Welt umschreibt, zusammen zu entwickeln. Unter diesem Gesichtspunkt schien es, dass die Texte, die sich direkt auf Heideggers Denken konzentrieren, sehr gut mit anderen Beiträgen zu vereinbaren und zu ergänzen sind, wo die an‐ deren Figuren der Moderne und das Spektrum ihres Denkens und Schaffens zum Vorschein kommen. So findet man in diesem Band auch Vorträge, in denen Heidegger in vergleichenden, aber auch analytisch gefeilten Texten zusammen mit Munch, Kafka, Arendt erscheint. Die Tatsache, dass dieses Zeitalter Fragen aufwirft, auf die man nur schwer Antworten finden kann, ohne sich mit dem Verlauf der Epoche seit der Französischen Revolution und den Ideen der Aufklärung auseinanderzusetzen, hat uns dazu ermutigt, uns auch mit dem Jubilar des Jahres 2024, Immanuel Kant, und seiner Dia‐ gnose des Zeitalters zu befassen, dessen weiteres Schicksal es wert ist, ihn immer mehr und mehr zu lesen. Die weiteren internationalen Tagungen in Riga, die verschiedene Fazetten der für die kontinentale Philosophie entscheidenden und auch ideengeschichtlich ambivalenten Jahre zwischen Jahrhundert‐ wende und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts regional und in‐ ternational thematisierten (zum Natur-Begriff aus der Perspektive der ideengeschichtlichen Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert und heute 2021, zu Ernst Jünger als Denker und Schriftsteller in der Moderne 2022, zur Tätigkeit des Herder-Instituts zu Riga 2023, zu Ludwig Klages im Baltikum, zu Immanuel Kant und seinen vielfälti‐ gen Bezügen zum Kulturraum Lettlands und besonders Riga 2024), haben – zusammen mit früheren Veranstaltungen zu Walter Ben‐ jamin, zur Medienpraktiken der Aufklärung, zur Psychoanalyse im Baltikum und zu den Baltisch-Deutschen Kulturbeziehungen – dazu beigetragen, dass das Baltikum und Lettland eben als Teil der dama‐ ligen philosophischen Auseinandersetzungen sichtbar wurde. Bei diesen Veranstaltungen und Untersuchungen ging und geht es je‐ doch nicht nur darum, eine Schuldentilgung an der Vergangenheit zu meistern. Sowohl das geschichtliche Gedächtnis als auch das For‐ schungsprogramm sind hier so markiert, dass sie in die Zukunft weisen. Raivis Bičevskis, Klaus Neugebauer
10
Raivis Bičevskis, Klaus Neugebauer
„Ich habe sehr viel Freude daran“ Kurt Stavenhagens Brief an Martin Heidegger
Kurt Stavenhagen (1884–1951) war ein in Tukkum (Kurland) gebo‐ rener deutschbaltischer Philosoph, dessen Werk in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nämlich in den 20er und 30er Jahren, ein breites Spektrum (im Sinne der philosophischen aber auch politi‐ schen Orientierung) von Studenten am Herder-Institut in Riga be‐ einflusste. Das kann auch für die Studenten und Kollegen an der Universität Königsberg und Posen in den 1940er Jahren und an den Universitäten Hamburg und Göttingen nach dem Zweiten Welt‐ krieg gelten, wo er nach dem Verlassen Lettlands im Jahre 1939 ar‐ beitete. Sein Einfluss und seine Geltung sind bis heute ein unge‐ schriebenes Kapitel der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts. Stavenhagen gehörte zu den Mitgliedern der Herder-Gesellschaft, die 1921 das Herder-Institut als private Hochschule in Riga grün‐ dete, aus der eines Tages eine vollwertige Universität werden sollte. Die historische Konstellation war aber für dieses Vorhaben nicht günstig: dem Institut fehlten die Mittel, die deutschbaltische Ge‐ meinschaft war nicht so geeint und hat die Traumata der harten Jahre des Unabhängigkeitskrieges Lettlands nicht ganz überwun‐ den, 1939 kam die Auswanderung und damit auch das Ende der mühsam nach 1920 wiederaufgebauten Welt der Deutschbalten in Lettland und Estland.
1. Stavenhagen und der Heidegger-Leserkreis in Riga Stavenhagen gehört zu denen, die die Verbindungen des geistigen Lebens des 20. Jahrhunderts zu Johann Gottfried Herder beson‐ ders hervorhoben. Im Aufsatz „Herder in Riga“ schreibt er nicht nur darüber, dass „das Herdersche in Herder in Riga“ entstanden
11
Raivis Bičevskis, Klaus Neugebauer
war, 1 sondern auch darüber, dass diese begonnene herdersche Tra‐ dition fortgeführt werden sollte. Doch seine Werke über Heimat, Nation, Gemeinschaft, Persönlichkeit und Geschichte 2 wurden in einer Art und Weise verfasst, die nicht nur Herders Anliegen aktuell auslegte, sondern auch zu dieser Zeit für diejenigen, die bei Husserl und Heidegger studierten, verständlich war. Lettische Schüler von Husserl und Heidegger (Teodors Celms, Erika Sehl) und teils kriti‐ sche, teils hermeneutisch auslegende Leser (Stavenhagen, Pauls Ju‐ revics, Woldemar Maldonis, Zenta Maurina, Konstantins Raudive) haben das Umfeld geschafft und gepflegt, in dem Heideggers erster Leserkreis in Riga entstanden ist. Seine Anfänge werden in Staven‐ hagens Brief an Heidegger nach seinem Besuch in Riga im Septem‐ ber 1928 erzählt. Stavenhagens damals innovativer Aufsatz in der „Rigaschen Rundschau“ über Heidegger vor dem Besuch Heideg‐ gers 3 und die von ihm am Herder-Institut geleiteten Seminare zu Husserls „Ideen“ und Heideggers „Sein und Zeit“ 4 sind anschauli‐ che Zeugnisse der Epoche und auch Beispiele für das Niveau philo‐ sophischer Reflexionen dieser Zeit in Riga. Im Mittelpunkt von Heideggers Leserkreis in Riga steht Erika Sehl – eine Frau, die zu dieser Zeit eine der philosophisch gebildets‐ ten Frauen in Riga und im gesamten Baltikum war, ihre Dissertation über John Lockes Erkenntnistheorie bei Heinz Heimsoeth in Kö‐ nigsberg verteidigte 5 und bei Husserl, Heidegger, Pfänder, O. Becker 1 Kurt Stavenhagen, Herder in Riga. Riga, 1925, (Schriftenreihe des Herder-Insti‐ tuts zu Riga, Bd. 1.), S. 4. 2 Kurt Stavenhagen, Achtung als Solidaritätsgefühl und Grundlage von Gemein‐ schaften. Riga 1931; Das Wesen der Nation. Berlin 1934; Kritische Gänge in die Volkstheorie. Riga 1936; Heimat als Grundlage menschlicher Existenz. Vanden‐ hoeck & Ruprecht, Göttingen 1939 (Neuausgabe: 1948); Person und Persönlich‐ keit: Untersuchungen zur Anthropologie und Ethik. Aus dem Nachlass heraus‐ gegeben von Harald Delius. Göttingen 1957. 3 Vgl. dazu: Raivis Bičevskis, „Wunder von ferne oder traum / Bracht ich an mei‐ nes landes saum“. Heideggers Beziehungen zu Riga und seine Herder-Ausle‐ gung im Seminar des Sommersemesters 1939 „Zur Wesung des Wortes“. In: Heidegger Studies=Heidegger Studien=Études Heideggeriennes, Vol. 34 (2018), S. 24–27. 4 Vgl. die Materialien zur Tätigkeit des Herder-Instituts zu Riga in der Natio‐ nalbibliothek Lettlands, darunter die Vorlesungsverzeichnisse des Instituts 1928 und 1929. 5 Erika Sehl, Kritische Studien zu Locke’s Erkenntnistheorie. 1931.
12
„Ich habe sehr viel Freude daran“
u. a. in Freiburg und München studierte. Ihre Habilitationsschrift „Historisch-kritische Studien zur Entstehung des Empfindungspro‐ blems“ (die ergänzt 1936 als „Erkenntnisontik in der griechischen Philosophie: kritische Studien zur Geschichte der Lehre von einer Subjektivität der Sinnesqualitäten“ mit Widmung „Meinem verehr‐ ten Lehrer Kurt Stavenhagen“ erschienen ist) 6 wird von Heidegger und Pfänder rezensiert. 7 Diese Kontakte und Verbindungen wur‐ den von Stavenhagen bereits früher initiiert. Im Brief an Heideg‐ ger taucht der Zeitkontext Lettlands auf, aber auch ein Hinweis auf Sehl, deren Schicksal sie 1939 nach Berlin führen wird. Die melan‐ cholischen und teilweise hochwertigen Nachkriegsgedichte in sie‐ ben kleinen Bänden sind ein Rückblick auf das Baltikum und ein Versuch, die Elemente des Lebens und das Spiel der Lebenskräfte festzuhalten, in denen „Einsam ist jede Hand, / Jeder Gedanke frost‐ bereift, / jede Rede verarmt“. 8 Auch das Leben und die philosophi‐ schen und poetischen Texte von Erika Sehl warten noch immer auf eine zeitgemäße Auslegung. 9 Der zu Beginn dieses Bandes wiedergegebene Brief von Kurt Sta‐ venhagen an Martin Heidegger 10 ist ein Zeugnis der Zeit, in der Heideggers Rezeption in Riga stattfindet und deren Existenz einen 6 Erika Sehl, Erkenntnisontik in der griechischen Philosophie: kritische Studien zur Geschichte der Lehre von einer Subjektivität der Sinnesqualitäten. Riga, 1936. (Abhandlungen der Herder-Gesellschaft und des Herder-Instituts zu Riga. Bd. V / 1). 7 Raivis Bičevskis, „Wunder von ferne oder traum / Bracht ich an meines lan‐ des saum“. Heideggers Beziehungen zu Riga und seine Herder-Auslegung im Seminar des Sommersemesters 1939 „Zur Wesung des Wortes“. In: Heidegger Studies=Heidegger Studien=Études Heideggeriennes, Vol. 34 (2018), S. 27–28. Heideggers Rezension ist im Band 14 der Schriftenreihe der Martin-HeideggerGesellschaft mit Kommentar abgedruckt: Raivis Bičevskis, Klaus Neugebauer, Heideggers Gutachten von Erika Sehls Habilitationsschrift zur Entstehung des Empfindungsproblems. In: Heideggers Zeit des Umbruchs. 90 Jahre Rigaer Vor‐ träge. Hrsg. von Raivis Bičevskis und Harald Seubert. Baden-Baden, 2023. 5–8. 8 Erika Sehl-Kusmin, Veträumte Heimat Baltenland. Berlin, 1964. S. 24. 9 Ein vom Lettischen Wissenschaftsrat finanziertes Projekt „The Forgotten Phi‐ losophers“ (2024–2026) an der Universität Lettlands in Riga wird der Lebensund Werkgeschichte von Stavenhagen und Sehl nachgehen. Ein Interesse an Sta‐ venhagens politischer Philosophie regt sich heute im Rahmen der Johan SkytteInstituts für politische Studien an der Universitat Tartu (Estland). 10 Für die Hilfsbereitschaft während der Arbeit mit Archivalien – Dank an Herrn Arnulf Heidegger, Frau Heidrun Fink und Herrn Ulrich von Bülow.
13
Raivis Bičevskis, Klaus Neugebauer
Bezugs- und Rückkehrpunkt bei der Rückbesinnung auf die Vor‐ kriegs- und Vorbesatzungszeit in Lettland in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts dargestellt hat. Die Heidegger und Husserl gewid‐ meten Tagungen 2018 und 2019 in Riga sowie die seitdem regelmä‐ ßig veranstalteten Tagungen zu deutschbaltischen Themen, die aber auch thematisch in die Kontexte der modernen Philosophie gestellt werden, sind eine Fortsetzung dessen, was Stavenhagen und seine deutschbaltische und lettische Gesprächspartner einmal begonnen haben.
2. Transkript des Briefes 11 Etwa einen Monat nach Heideggers Reise nach Riga schrieb Kurt Stavenhagen an ihn nach Marburg. Die Parlamentwahlen in Lett‐ land, deutschbaltische Gemeinschaft, Gelehrtendisskussion (Sta‐ venhagen-Pfänder) und Heideggers Leserkreis in Riga bilden den Inhalt des Briefes. Eckige Klammern in der Transkription – [ ] – kennzeichen die Zusätze oder Vermerke von Herausgebern. [recto] Zentrale deutsch=baltischer Arbeit in Lettland Telephon 20973 Sprechzeit: 11-1
Riga, Pferdestraße 21 26. Okt. 28
Lieber Herr Heidegger Als Sie hier waren, hatten Sie die Liebenswürdigkeit, mich nach der Pfänderschen Rezension meines Buches zu fragen. Sie ist unterdessen in der „Zukunft“ erschienen. Ich will Sie damit durchaus nicht behelligen, schicke Ihnen aber auf alle Fälle eine Abschrift zu. Sie sind ja schliesslich nicht dazu verpflichtet, [s]ie durch zu lesen. Für Ihre freundliche Karte aus Berlin danke ich Ihnen vielmals. Wir freuten uns sehr, dass Sie die Reise gut u[e]berstanden haben. Sehr bedauert habe ich, dass Sie die Wahlen hier nicht mehr miterlebt haben. In der Trübsal dieser Zeit waren sie trotz einer Unsumme von Arbeit ein wirkliche Erfrischung. Das sich sonst gelegentlich intern bekämpfende Deutschtum Lettlands war wie eine Familie.
11 K. Stavenhagen an M. Heidegger. Fundstelle: Deutsches Literaturarchiv Mar‐ bach, Bestand / Zugangsnummer: A: Heidegger 1 75.6900.
14
„Ich habe sehr viel Freude daran“
Der schliessliche Wahlerfolg (ein neues Plus von ca. 2000 nichtdeutschen Stim[m]en, 6 Abgeord. bei einem Anspruch auf 4) und die in muster hafter Ordnung verlaufenen Wählerdislokationen haben unser Prestige gewaltig erhöht. Das an sich schon nicht kleine Selbstbewusstsein meiner Landsleute ist natürlich noch gestiegen. In den U[e]bungen für Vorgeschrittene [!] kämpfen wir um das Verständnis Ihres Buches [„Sein und Zeit“], und nicht ohne Erfolg. [verso] Ich habe sehr viel Freude daran. Denn es geht sehr lebhaft dabei her. Auch ich lebe mich in das Buch jetzt ernstlich hinein. Freilich kennen zwei sehr begabte Schu[e]lerinnen von mir es bisher besser als ich. Dazu kom[m]en Fr[äu]l[ein] Sehl und ein Schu[e]ler, die sich bemu[e]hen [?] zu machen Ihrer Frau Gemahlin bitte ich mich bestens zu empfehlen. Ein angenehmes und ertragreiches Anfangssemester in Freiburg wünscht Ihnen mit herzlichem Gruss Ihr K[urt] Stavenhagen 12
12 Transkript ist von Bastian Brombach und Raivis Bičevskis verfertigt.
15
.
I. Natur – Geschichte – Metaphysik
.
Manuela Massa
Jenseits des Eurozentrismus Husserl, Heidegger und die Suche nach einem neuen Welt-Ethos
Kann die Philosophie Europas, geprägt von einer Geschichte des Kolonialismus und der Dominanz westlicher Denktraditionen, einen Beitrag zu einer gerechten und friedlichen Weltgesellschaft leisten? Können wir überhaupt von einem universellen Ethos sprechen, ohne in einen neuen Kulturimperialismus zu verfallen? Diese Fragen stellen sich mit Dringlichkeit angesichts der globalen Herausforderungen unserer Zeit, die nach Lösungen verlangen, die über nationale und kulturelle Grenzen hinausreichen. Edmund Husserl (1859–1938) und Martin Heidegger (1889– 1976) sind zentrale Philosophen des 20. Jahrhunderts, deren Werke grundlegende Fragen zur menschlichen Existenz aufwerfen. Beide Philosophen sehen sich jedoch der Kritik gegenüber, dass ihre Denkansätze Eurozentrismus fördern und die Perspektiven anderer Kulturen vernachlässigen. Kritiker argumentieren, dass Husserls Konzept einer „universa‐ len ethischen Menschheit“, das auf einer gemeinsamen Vernunft basiert, die Vielfalt nicht-europäischer Denktraditionen nicht aus‐ reichend berücksichtigt. Obwohl Husserl durch die Methode der „Einklammerung“ (Epoché) einen Zugang zur Sache selbst anstrebt, bleibt die Frage, ob dieser Ansatz wirklich unabhängig von kultu‐ rellen Kontexten ist. Heideggers Analyse des Daseins und der Frage nach dem Sein wird ebenfalls hinterfragt. Seine Auseinandersetzung mit der Existenz des westlichen Menschen in einer technisierten Welt könnte als eine Einengung der Betrachtung anderer kultureller Erfahrungen angesehen werden. Dennoch zeigen sich in den Werken beider Philosophen Anzei‐ chen dafür, dass sie die Begrenzungen des europäischen Denkens
19
Manuela Massa
erkennen und sich für den Austausch mit anderen Kulturen interes‐ sieren. Husserls späte Schriften, insbesondere seine Kaizo-Artikel, spiegeln sein Bestreben wider, die Phänomenologie für den Dialog mit nicht-westlichen Philosophien zu öffnen. Heideggers Ausein‐ andersetzung mit dem „Osten“ zeigt deutlich, dass er die Grenzen des abendländischen Denkens erkennt und sich für eine breitere Perspektive öffnet. Wie gehen Husserl und Heidegger mit diesem Spannungsfeld zwischen Universalismus und Partikularität um? Welche Rolle spielt der Dialog mit dem Osten in ihrer Suche nach einem neuen WeltEthos? Diese Fragen stehen im Zentrum dieses Beitrags.
1. Eurozentrismus bei Heidegger und Husserl: Eine kritische Bestandsaufnahme Der Erste Weltkrieg markierte einen tiefen Einschnitt in der eu‐ ropäischen Geschichte und erschütterte das Selbstverständnis des Kontinents als Hortes der Zivilisation und des Fortschritts. Die Er‐ fahrung des Krieges, der mit ungeahnter Brutalität die vermeintli‐ che Einheit Europas zerstörte und die Schattenseiten der Moderne schonungslos offenbarte, zwang zu einer radikalen Neubestimmung der europäischen Identität. Inmitten dieser Krise, die nicht nur po‐ litisch und sozial, sondern auch philosophisch und geistig tiefgrei‐ fende Veränderungen hervorrief, setzten sich die Philosophen Mar‐ tin Heidegger und Edmund Husserl mit der Frage nach dem Wesen Europas und seinen Grenzen auseinander. Ihre Analysen, obwohl aus unterschiedlichen philosophischen Perspektiven entwickelt – Heideggers existenzial-ontologischer Ansatz im Gegensatz zu Hus‐ serls transzendentaler Phänomenologie –, bieten wertvolle Ansatz‐ punkte für eine Dekonstruktion des Eurozentrismus. Gleichzeitig bleiben sie jedoch in ihrer historischen Bedingtheit verhaftet und weisen blinde Flecken auf, insbesondere in Bezug auf die koloniale Dimension und die Beziehung Europas zum Osten. Paul Ricoeur diagnostiziert in seiner Analyse der europäischen Identität die Ge‐ fahr eines „perversen Rückgriff[s] auf die erzählerische Identität, der sich der beschriebenen wichtigen Korrektive, nämlich des Über‐ denkens der eigenen Schilderungen und der Verflechtung mit den
20
Jenseits des Eurozentrismus
Schilderungen des Anderen, beraubt hat“. 1 Diese „Verweigerung des Anderen“, die sich in Abgrenzung, Ausgrenzung und letztlich Ge‐ walt manifestiert, charakterisiert den Eurozentrismus als eine Form der Selbstabschließung, die den Dialog und die Anerkennung ande‐ rer Perspektiven verhindert. Heidegger und Husserl teilen diese Kri‐ tik, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten und unterschiedli‐ chen Konsequenzen. Heidegger sieht die Wurzel der Krise in der „Seinsvergessenheit“, die durch die Dominanz der Technik, des „Ge-Stells“, verstärkt wird. Das Ge-Stell, „das Versammelnde jenes Stellens, das den Menschen stellt, d. h. herausfordert, das Wirkliche in der Weise des Bestellens als Bestand zu entbergen“, 2 reduziert den Menschen selbst zum „Be‐ stand“, zum bloßen Rohstoff im Dienst des technischen Systems. Die instrumentelle Vernunft der Moderne führt zu einer Entfrem‐ dung vom Sein, die nicht nur das Verhältnis des Menschen zur Na‐ tur, sondern auch sein Verhältnis zu sich selbst und zu anderen Kul‐ turen prägt. Heideggers späteres Interesse an östlichen Denktradi‐ tionen, insbesondere dem Zen-Buddhismus, bleibt jedoch ambiva‐ lent und steht im Verdacht einer exotistischen Aneignung, die dem eigenen philosophischen Projekt dient, ohne eine wirkliche Ausein‐ andersetzung mit dem „Anderen“ zu leisten. 3 Husserl, in seiner Kri‐ sis der europäischen Wissenschaften, kritisiert die Einseitigkeit der mathematisch-naturwissenschaftlichen Methode, die zur „Verges‐ senheit der Lebenswelt“ geführt habe: So versteht sich, dass im Gefolge des wachgewordenen Strebens nach einer „philosophischen“, einer das „wahre“, das objektive Sein der Welt bestimmenden Erkenntnis, die empirische Meßkunst und ihre empi‐ risch-praktisch objektivierende Funktion, unter Umstellung des prak‐
1 Paul Ricœur, „Welches neue Ethos für Europa?“ In: Peter Koslowski (Hg.), Eu‐ ropa imaginieren: Der europäische Binnenmarkt als kulturelle und wirtschaftli‐ che Aufgabe. Berlin, Heidelberg: Springer, 1992, 108–120. 2 Martin Heidegger, „Die Frage nach der Technik“. In: Ders., Vorträge und Auf‐ sätze. Gesamtausgabe Band 7. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, 2000, 9–36, hier 20. 3 Reinhard Mai, Heidegger’s hidden sources: East-Asian influences on his work. London: Routledge, 1996.
21
Manuela Massa
tischen in ein rein theoretisches Interesse, idealisiert wurde und so in das rein geometrische Denkverfahren überging. 4
Die Wissenschaft, losgelöst von ihrem ursprünglichen Sinnzusam‐ menhang in der Lebenswelt, verkommt zum bloßen Instrument der Naturbeherrschung und verliert ihre Bedeutung für die menschli‐ che Existenz. Husserls Vision einer „Über-Nation“, basierend auf den „Quellen der objektiven Vernunft“, die er in der griechischen Philosophie und der „rationalen Internationalität des Römischen Reiches“ verortet, 5 enthält eurozentrische Züge. Diese universelle Vernunft droht die kulturelle Vielfalt der Welt zu nivellieren. Der „Osten“ und der „Süden“ bleiben bei Husserl weitgehend ausgeblen‐ det, was die Grenzen seiner Perspektive aufzeigt und den Vorwurf einer eurozentrischen Rationalität begründet. Kritiker werfen ihm vor, die eigene, europäisch geprägte Rationalität zum Maßstab aller Dinge zu erheben. Die koloniale Dimension, zentraler Aspekt des Eurozentrismus, wird von beiden Philosophen kaum thematisiert. Die instrumen‐ telle Vernunft und der Universalitätsanspruch europäischer Werte, die sie kritisieren, sind jedoch eng mit der kolonialen Expansion und der Ausbeutung nicht-europäischer Kulturen verknüpft. Eine postkoloniale Lesart ihrer Werke ist daher unerlässlich, um die ver‐ borgenen Zusammenhänge aufzudecken. 6 So bietet z. B. Heideggers Kritik des „Ge-Stells“ Ansatzpunkte für eine Analyse der technolo‐ gischen Dimension des Kolonialismus. Husserls Konzept der „Le‐ benswelt“ kann dazu dienen, die Eigenständigkeit und den Wert nicht-europäischer Wissensformen und Lebensweisen hervorzuhe‐ ben. Folgende Worte Heideggers und das darauffolgende Zitat Hus‐ serls, welches die Aussage Heideggers ergänzt, belegen diese An‐ merkung: 4 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzen‐ dentale Phänomenologie. Hrsg. von Walter Biemel. 2. Aufl. Husserliana Band VI. Haag: Martinus Nijhoff, 1976, 25. 5 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzen‐ dentale Phänomenologie. Ergänzungsband: Texte aus dem Nachlass 1934–1937. Husserliana Band XXIX. Hrsg. von Reinhold Smid. Dordrecht, Boston, London: Kluwer Academic Publishers, 1993, 16. 6 Emmanuel Chukwudi Eze, Postcolonial african philosophy: a critical reader. Cambridge (Mass.): Blackwell, 1997.
22
Jenseits des Eurozentrismus
Der Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der techni‐ schen Erfindungen gehört zur Gesetzlichkeit des Stellens. Es ist keines‐ wegs nur ein erst vom Menschen gesetztes Ziel. Zufolge der Herrschaft dieser Macht des Stellens verschwinden (zunächst oder für immer?) die landschaftlich-volkhaft gewachsenen Nationalkulturen zugunsten des Bestellens und Aufbereitens einer Weltzivilisation. 7 Auch ich bin dessen gewiß, daß die europäische Krise in einem sich verirrenden Rationalismus wurzelt. Aber nicht das darf die Meinung sein, als ob die Rationalität als solche von Übel oder im Ganzen der menschheitlichen Existenz nur von untergeordneter Bedeutung sei. Rationalität, in jenem hohen und echten Sinne, von dem wir allein sprechen, als dem urtümlich griechischen, der in der klassischen Pe‐ riode der griechischen Philosophie zum Ideal geworden war, bedurfte freilich noch vieler selbstbesinnlicher Klärungen, ist aber berufen, in reifer Weise die Entwicklung zu leiten. 8
Die kontroverse Rezeption von Heidegger und Husserl im Kon‐ text der Postkolonialismus-Debatte, die von der Kritik an eurozen‐ trischen Denkstrukturen bis zur Anerkennung ihres dekonstruk‐ tiven Potentials reicht, unterstreicht die Notwendigkeit einer kri‐ tischen Auseinandersetzung mit ihrem Werk im Hinblick auf die Frage nach einer neuen globalen Ordnung. Gerade die Suche nach einer solchen Ordnung, die im frühen 20. Jahrhundert im Angesicht der Krise Europas dringlich wurde, ist eng mit der Überwindung eurozentrischer Denkmuster verbunden. Heidegger und Husserl, in ihrer historischen Bedingtheit denkend, liefern zwar wertvolle Impulse für eine kritische Reflexion des Eurozentrismus, bleiben aber gleichzeitig in europäischen Denktraditionen verhaftet. Ihre Analysen, die uns herausfordern, die eigene kulturelle Prägung zu hinterfragen, müssen daher selbst kritisch hinterfragt werden, um einen wahrhaft gleichberechtigten Dialog mit anderen Kulturen zu ermöglichen, der die Erfahrungen und Perspektiven des „globalen Südens“ und des „Ostens“ ernst nimmt. Nur so kann die Überwin‐ dung des Eurozentrismus gelingen, die nicht nur eine moralische, sondern auch eine epistemologische und politische Notwendigkeit
7 Martin Heidegger, „Brief an Takehiko Kojima“. In: Ders., Identität und Dif‐ ferenz. Gesamtausgabe Band 11. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, 2006, 156 f. 8 HuA XXIX, 337.
23
Manuela Massa
für eine gerechtere und nachhaltigere Zukunft darstellt. Der fol‐ gende Abschnitt widmet sich der Frage, wie sich angesichts der glo‐ balen Herausforderungen und der Notwendigkeit einer post-euro‐ zentrischen Perspektive eine neue Weltordnung denken lässt. Dabei werden die in der vorherigen Diskussion herausgearbeiteten Am‐ bivalenzen und Grenzen der europäischen Philosophie, insbeson‐ dere am Beispiel von Heidegger und Husserl, zum Ausgangspunkt einer kritischen Reflexion genommen. Im Zentrum stehen dabei die Möglichkeiten und Herausforderungen eines interkulturellen Dia‐ logs, der die Vielfalt der Wissensformen und Lebensweisen aner‐ kennt und eine wirklich globale Gerechtigkeit anstrebt.
2. Die Suche nach einer neuen Ordnung: Husserl, Heidegger und der Eurozentrismus in der Krise In einem Brief an Karl Löwith vom 22. November 1922 äußert Hei‐ degger beißenden Spott über Husserls Artikel „Erneuerung“, der 1923 in der japanischen Zeitschrift Kaizo erschien. Heidegger kom‐ mentiert: Der Alte schreibt Aufsätze für eine japanische Zeitschrift. Rickert hat das im Sommer ausgemacht. Titel „Erneuerung“! Es sei, sagt er, ganz „geisteswissenschaftlich und sozialethisch“. Er wollte es auch in Deutschland im Jahrbuch publizieren. Es ist so verheerend, daß Sie sich es in der freiesten Phantasie nicht ausdenken können. Um das Schlimmste zu verhindern, habe ich der Frau gesagt, so etwas könnte in Deutschland nicht gedruckt werden – es sei zu elementar. 9
Hinter Heideggers Ironie verbirgt sich jedoch mehr als ein akade‐ mischer Disput; seine Worte offenbaren die tiefe Verunsicherung, die das europäische Denken nach dem Ersten Weltkrieg erfasste. So‐ wohl Husserl als auch Heidegger ringen mit der Frage, wie Europa sich angesichts der Katastrophe des Krieges und der fortschreiten‐ den Globalisierung neu definieren kann. Husserls „Erneuerung“ – „der allgemeine Ruf unserer leidensvollen Gegenwart [. . . ] im Ge‐ samtbereich der europäischen Kultur“ – erscheint Heidegger als ein 9 Martin Heidegger / Karl Löwith, Briefwechsel 1919–1973. Hrsg. von Alfred Den‐ ker. Freiburg, München: Karl Alber, 2017, 75.
24
Jenseits des Eurozentrismus
naives Festhalten an überholten Denkmustern. Dennoch eint beide Philosophen die Suche nach einem neuen Anfang, einer „Erneue‐ rung“ des Denkens, die die Zukunft Europas in einer sich wandeln‐ den Welt sichern soll. 10 Husserl sieht in der Rückkehr zur Vernunft und zur Ethik den Ausweg aus der Krise. Er strebt die Bildung einer Gemeinschaft an, die sich an der normativen Idee des wahren Selbst orientiert – einer Gemeinschaft, die über eurozentrische Beschränkungen hinausgeht und die Werte und Erkenntnisse anderer Kulturen integriert. Diese Vision einer „universalen ethischen Menschheit“, die aus vernünf‐ tigen und verantwortungsbewussten Individuen besteht, wird von Husserl-Experte Dermot Moran hervorgehoben, der die praktische Dimension von Husserls Philosophie betont: Husserl himself, looking to a universal moral community beyond any narrow national self-interest, cites Fichte’s hope for a „total rebirth of humanity“. Later, in the twenties, his Kaizo articles would emphasise the necessity of cultural renewal through a surpassing of narrow natio‐ nalisms in order to found true community in shared interests. 11
Husserl zitiert, wie Moran in Erinnerung bringt, Fichtes Hoffnung auf eine „totale Wiedergeburt der Menschheit“ und bekräftigt in seinen Kaizo-Artikeln die Notwendigkeit einer „kulturellen Erneue‐ rung“ durch die Überwindung engstirniger Nationalismen, um eine wahre Gemeinschaft auf der Grundlage gemeinsamer Interessen zu gründen. Doch diese universelle Ausrichtung von Husserls Ethik, die auf der gemeinsamen Vernunft aller Menschen basiert, stößt auf Kritik – und nicht nur von Heidegger. Emmanuel Levinas, bei‐ spielsweise, warnt in seinem Werk Totalité et Infini vor der Gefahr, dass der Andere auf eine bloße Essenz oder Allgemeinheit reduziert wird. Er betont: „L’ éthique est déjà par elle-même une ‚optique‘. Elle ne se borne pas à préparer l’ exercice théorique de la pensée qui monopoliserait la transcendance.“ 12 Für Levinas muss Ethik als eine lebendige Beziehung zum Anderen verstanden werden, die sich 10 Robert Sokolowski, Moral action: a phenomenological study. Bloomington: In‐ diana University Press, 1985. 11 Dermot Moran, Introduction to phenomenology. London: Routledge, 2000, 81. 12 Emmanuel Levinas, Totalité et Infini. Essai sur l´extériorité. Quatrième edition. Dordrecht, Boston, London: Kluwer Academic Publishers, 1993, 15.
25
Manuela Massa
nicht in theoretischen Konstrukten oder universellen Prinzipien er‐ schöpft. Er betont die Unreduzierbarkeit des Anderen und die Not‐ wendigkeit einer Ethik, die der radikalen Herausforderung der An‐ dersheit gerecht wird. Levinas kritisiert die westliche Philosophie, die häufig dazu tendiert, den Anderen dem Gleichen anzupassen und ihn durch allgemeine Kategorien zu erfassen. Der Fokus auf „autonome Vernunft“, wie er in der europäischen Tradition vor‐ herrscht, steht für Levinas symptomatisch für diese Tendenz, die Andersheit des Anderen zu negieren. Obwohl Husserls Vision einer universalen ethischen Menschheit von Levinas kritisiert wird, kann sie dennoch als ein Ideal verstan‐ den werden, das über die Grenzen der europäischen Kultur hin‐ ausweist. Philosophen wie Henning Peucker betonen die praktische Relevanz von Husserls Ethik für die Schaffung einer gerechten und verantwortungsbewussten Gemeinschaft. 13 Husserls „Erneuerung“ ist demnach kein Rückzug auf eine enge europäische Identität, son‐ dern ein Aufruf zur Verwirklichung eines universellen ethischen Ideals, das zwar seine Wurzeln in der europäischen Tradition hat, aber darüber hinausweist. So argumentiert Anthony Steinbock, dass Husserls Streben nach einer „neuen Grundlegung der Philosophie“ eine Reaktion auf die ethischen und kulturellen Herausforderungen seiner Zeit darstellt. In Steinbocks Worten: Given this configuration, namely, that the homeworld is undergoing constant normative transformation through active (but not necessarily reasonable repeating), and the fact that „homecomrades“ have an ethi‐ cal responsibility for the historically generative force of the homeworld, the ethical becoming of a homeworld requires a persistent attentiven‐ ess to its normative generation, a „continual renewal“ which Husserl clarifies under the process of „critique“. 14
Diese Sichtweise Steinbocks findet sich auch in der Arbeit von Tho‐ mas J. Pugh, der Husserls Ansätze zur Ethik und zur Philosophie der Erneuerung eingehend analysiert. Pugh argumentiert, dass Husserl 13 Henning Peucker, „From Logic to the Person: An Introduction to Edmund Hus‐ serl’s Ethics“. In: The Review of Metaphysics 62, 2008, 307–325. 14 Anthony J. Steinbock, „The Project of Ethical Renewal and Critique: Edmund Husserl’s Early Phenomenology of Culture“. In: The Southern journal of philo‐ sophy [Online] 32 (4), 1994, 449–464.
26
Jenseits des Eurozentrismus
eine Philosophie entwickelt hat, die nicht nur theoretische Einsich‐ ten bietet, sondern auch praktische Implikationen für das ethische Handeln in der Gesellschaft hat. 15 Heidegger hingegen verfolgt einen anderen Ansatz, der sich stär‐ ker auf die individuelle Existenz und die damit verbundenen Fragen konzentriert. In Sein und Zeit beschäftigt er sich intensiv mit dem Konzept des Daseins und der Frage, wie das Individuum in einer zunehmend fragmentierten Welt authentisch leben kann. Schon da‐ mals betrachtet Heidegger die Krise, in der er lebt, nicht nur als eine kulturelle oder politische Herausforderung, sondern auch als eine existenzielle Frage, die das Wesen des Menschseins selbst betrifft. Aus diesem Grund untersucht Heidegger im Jahr 1924 die Bedeu‐ tung von Gemeinschaft und sozialem Mitsein in der Struktur des Daseins. Er argumentiert, dass der Mensch als ζῷον πολιτικόν, also als politisches Wesen, in einer Gemeinschaft existiert: Im Sein des Menschen selbst liegt die Grundmöglichkeit des Seins-in‐ der-πόλις. Im Sein-in-der-πόλις sieht Aristoteles das eigentliche Leben der Menschen. [. . . ] In dieser Bestimmung liegt beschlossen eine ganz eigentümliche, fundamentale Weise des Seins des Menschen, charak‐ terisiert als „Miteinandersein“, κοινωνία. Dieses Seiende, das mit der Welt spricht, ist ein solches, das im Sein-mit-anderen ist. 16
Die Gemeinschaft, die Heidegger durch seine Aristoteles-Interpre‐ tation vor Augen hat, ist nicht immer harmonisch, sondern kann von Konflikten und Spannungen geprägt sein, in denen die Balance zwischen individueller Freiheit und sozialer Verantwortung gefun‐ den werden muss. Heideggers Auseinandersetzung mit Luis de Mo‐ lina verdeutlicht diese Spannung: „Molina schreibt in De Concor‐ dia: Illud agens liberum dicitur, quod positis omnibus requisitis ad agendum, potest agere et non agere.“ 17 Dies bedeutet, dass das Wir‐ kende, auch wenn alle Voraussetzungen für das Handeln gegeben 15 Thomas J. Pugh, „Husserl’s Ethics: A Critical Analysis.“ In: European Journal of Philosophy, 23 (2), 2015, 230–248. 16 Martin Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie. Gesamtaus‐ gabe Band 18. Hrsg. von Mark Michalski. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, 2002, 46. 17 Martin Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung. Gesamt‐ ausgabe Band 17. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, 1994, 155.
27
Manuela Massa
sind, dennoch die Möglichkeit hat, nicht zu handeln oder eine an‐ dere Richtung zu wählen. In seiner Kritik an traditionellen Frei‐ heitskonzeptionen greift Heidegger diese Ambivalenz auf. Sowohl Leibniz’ strenge Verknüpfung von Freiheit mit göttlicher Vorherbe‐ stimmung als auch Molinas Betonung der Indifferenz als Kern der Freiheit verfehlen für ihn die existenzielle Dimension des Freiseins. Wie Neumann aufzeigt, lässt Leibniz’ System letztlich keinen Raum für eine wirkliche menschliche Freiheit, die nicht schon im göttli‐ chen Plan angelegt wäre. 18 Und auch Molinas Freiheitsbegriff, der in der indifferentia pura gründet, verkennt die geworfene Natur des Daseins, das immer schon in ein konkretes Worumwillen geworfen ist und sich zu diesem verhalten muss. Heideggers existenziale In‐ terpretation der Freiheit als „Freisein für das eigenste Seinkönnen“ hingegen versucht, diese Spannung zwischen individueller Autono‐ mie und Gemeinschaft zu überwinden. Das Dasein ist zwar in sei‐ nem Sein geworfen, kann sich aber durch die eigentliche Entschei‐ dung zu seinen eigensten Möglichkeiten verhalten und somit eine Form von Autonomie erlangen, die zugleich im konkreten Mitsein mit Anderen verwurzelt ist. Dieser Ansatz bietet einen fruchtbaren Boden für die Diskussion über einen inklusiven Eurozentrismus, der die Balance zwischen der Anerkennung kultureller Vielfalt und der eigenen Verantwortung im globalen Kontext sucht. Heidegger betont, insbesondere in seinen späteren Schriften, die Notwendig‐ keit einer „Kehre“ des Denkens, einer Abkehr vom traditionellen, metaphysisch geprägten Eurozentrismus, der das westliche Denken zum alleinigen Maßstab erhebt. Stattdessen plädiert er für eine Of‐ fenheit für das Andere, für ein Gelassenes-sich-einlassen auf die Vielfalt der Kulturen und Lebenswelten. Diese Offenheit bedeutet jedoch nicht, die eigene Tradition auf‐ zugeben. Es geht für Heidegger vielmehr darum, die geschichtliche Gewordenheit des europäischen Denkens kritisch zu reflektieren und seine Grenzen zu erkennen. Nur durch diese kritische Selbstbe‐ sinnung, durch das Anerkennen der Endlichkeit des eigenen Hori‐ zonts, kann sich Europa für andere Kulturen öffnen, ohne in einen neuen Kulturimperialismus zu verfallen. Schon Heideggers Fokus auf das eigenste Seinkönnen des Daseins in seinen frühen Werken 18 Günther Neumann, Der Freiheitsbegriff bei Gottfried Wilhelm Leibniz und Mar‐ tin Heidegger. Berlin: Duncker & Humblot, 2019, 121 ff.
28
Jenseits des Eurozentrismus
kann als Grundlage für eine solche Offenheit verstanden werden. Wie Heidegger in Sein und Zeit schreibt: das Dasein ist ihm selbst überantwortetes Möglichsein, durch und durch geworfene Möglichkeit. Das Dasein ist die Möglichkeit des Frei‐ seins für das eigenste Seinkönnen. Das Möglichsein ist ihm selbst in verschiedenen möglichen Weisen und Graden durchsichtig. 19
Damit deutet Heidegger an, dass der Mensch, geworfen in seine je‐ weilige Welt, dazu aufgerufen ist, sich seinen Möglichkeiten zuzu‐ wenden und seine Freiheit im konkreten Zusammenleben mit ande‐ ren zu verwirklichen. Diese Perspektive ermöglicht eine Anerken‐ nung kultureller Vielfalt, ohne dabei die eigene Verantwortung im globalen Kontext aus den Augen zu verlieren. Denn für Heidegger umfasst das Dasein nicht nur das individuelle Leben, sondern auch, wie er in Sein und Zeit schreibt, die „Mitwelt“, die Gemeinschaft, in der wir uns befinden. In diesem Sinne kann Heideggers Konzept der „Erneuerung“ nicht als bloßer Rückzug auf eine enge europäische Identität ver‐ standen werden, sondern als ein Versuch, die Grundlagen mensch‐ lichen Daseins in einer technologisch geprägten Welt neu zu den‐ ken – einer Welt, die durch Globalisierung und interkulturelle Kom‐ munikation zunehmend komplexer und verflochtener wird. Dabei betont Heidegger die entscheidende Rolle der Sprache. In Das We‐ sen der Sprache schreibt er: „Die Sprache ist das Haus des Seins.“ 20 Dieser Satz unterstreicht die Bedeutung von Kommunikation und Dialog als essenziellen Bestandteilen menschlicher Existenz – ge‐ rade angesichts der Herausforderungen einer globalisierten Welt, die durch Unsicherheit und Krisen geprägt ist und die Frage nach moralischem Handeln dringlicher denn je macht. Für Heidegger liegt die Grundlage einer solchen Ethik im „Mit‐ einandersein“, der Verbundenheit des Menschen mit anderen. Das Dasein existiert, wie er in Sein und Zeit herausarbeitet, wesenhaft im
19 Martin Heidegger, Sein und Zeit. Gesamtausgabe Band 2. Hrsg. von FriedrichWilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, 1977, 191. 20 Martin Heidegger, „Das Wesen der Sprache“. In: Ders., Unterwegs zur Sprache. Gesamtausgabe Band 12. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frank‐ furt a. M.: Vittorio Klostermann, 1985, 147–204, hier 156.
29
Manuela Massa
Mitsein mit Anderen. Daraus folgt, dass das Geschehen des Daseins immer auch ein Mitgeschehen ist, ein Geschick: Wenn aber das schicksalhafte Dasein als In-der-Welt-sein wesenhaft im Mitsein mit Anderen existiert, ist sein Geschehen ein Mitgesche‐ hen und bestimmt als Geschick. Damit bezeichnen wir das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes. Das Geschick setzt sich nicht aus ein‐ zelnen Schicksalen zusammen, sowenig als das Miteinandersein als ein Zusammenvorkommen mehrerer Subjekte begriffen werden kann [. . . ] Das schicksalhafte Geschick des Daseins in und mit seiner „Genera‐ tion“ macht das volle, eigentliche Geschehen des Daseins aus. 21
Heidegger rückt somit die Gemeinschaft, das „Volk“, in den Mittel‐ punkt seiner Daseinsanalyse. Und auch für Husserl steht die Frage nach der Gemeinschaft im Zentrum seiner späten Philosophie. Für beide Philosophen geht es um die Fähigkeit, eine Gemeinschaft zu schaffen, die ihre Mitglieder zusammenhalten kann. Das kann nur gelingen, wenn die Menschen einander als ethische Wesen verste‐ hen können.
3. Ethos und Weltgesellschaft: Wege zu einer posteurozentrischen Ethik bei Heidegger und Husserl Die vorangegangenen Kapitel haben gezeigt, wie Heidegger und Husserl im Kontext der europäischen Krise des 20. Jahrhunderts nach einer neuen Grundlage für das Zusammenleben suchten. Ihre philosophischen Antworten, geprägt von der Suche nach einer „Er‐ neuerung“ des europäischen Denkens, werfen auch die Frage nach einem adäquaten ethischen Fundament auf. Dieses Kapitel unter‐ sucht die ethischen Konzeptionen von Husserl und Heidegger, ins‐ besondere im Hinblick auf die Frage nach Kultur und Weltgesell‐ schaft, und lotet die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Philosophien für die Entwicklung einer post-eurozentrischen Ethik aus. Dabei wird auch ihre Auseinandersetzung mit dem „Osten“ kritisch be‐ leuchtet. Husserl verknüpft in seinen späten Texten, insbesondere in den sogenannten Kaizō-Artikeln, die Frage nach Kultur und Intersub‐ 21 GA 2, 384.
30
Jenseits des Eurozentrismus
jektivität eng mit der Frage nach Wahrheit und einem humanen Ethos. Kultur definiert er als „Inbegriff der Leistungen, die in den fortlaufenden Tätigkeiten vergemeinschafter Menschen zustande kommen.“ 22 Kultur ist demnach kein statisches Gebilde, sondern ein dynamischer, intersubjektiv konstituierter Prozess der Sinnstif‐ tung. Die „Einheit des Gemeinschaftsbewusstseins“ und die „forter‐ haltende Tradition“ bilden den Rahmen, innerhalb dessen individu‐ elle Sinnstiftung stattfindet. Husserl betont die Verkörperung von Kultur in „physischen Verleiblichungen“, die den „geistigen Sinn“ durch „Nachverstehen“ zugänglich machen. Dies eröffnet prinzipi‐ ell die Möglichkeit eines interkulturellen Verständnisses, da „geisti‐ ger Sinn“ nicht an eine bestimmte kulturelle Herkunft gebunden ist. In den Kaizō-Artikeln tritt diese intersubjektive und potenziell in‐ terkulturelle Dimension von Kultur besonders deutlich hervor. Hus‐ serl ergänzt seine allgemeine Kulturbestimmung um die Momente der Freiheit, verstanden als „Vermögen kritischer Stellungnahme“ 23 und die Ausrichtung auf Wahrheit. 24 Beide sind konstitutiv für menschliches Dasein und bilden die Grundlage für ein humanes Ethos, das er mit seiner Ersten Philo‐ sophie auf eine universelle, phänomenologisch begründete Ontolo‐ gie zurückführt. Gleichzeitig bleibt Husserls Denken durch seinen eurozentrischen Ausgangspunkt geprägt. Die „Quellen der objekti‐ ven Vernunft“ verortet er primär in der europäischen Tradition, wo‐ durch die Beiträge anderer Kulturen zur Entwicklung menschlichen Denkens unterschätzt werden. 25 Die Kaizō-Artikel selbst, verfasst für ein japanisches Publikum, dokumentieren Husserls wachsendes Interesse an einem Dialog mit nicht-europäischen Denktraditionen. Er erkannte die Grenzen eines rein europäisch zentrierten Den‐ kens und sah in der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen die Chance für eine „Erneuerung“ der Philosophie. Die Frage nach der 22 Edmund Husserl, „Erneuerung als individualethisches Problem“. In: Ders., Auf‐ sätze und Vorträge (1922–1937). Mit ergänzenden Texten hrsg. von Thomas Nenon und Hans Reiner Sepp. Husserliana Band XXVII. Dordrecht, Boston, London: Kluwer Academic Publishers, 1989, 21. 23 Hua XXVII, 63. 24 Vgl. Hua XXVII, 77. 25 Edmund Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil: Theorie der phänomenologi‐ schen Reduktion. Hrsg. von Rudolf Boehm. Husserliana Band VIII. Dordrecht, Boston, London: Kluwer Academic Publishers, 1996, bes. 193 passim.
31
Manuela Massa
Universalität seiner phänomenologischen Methode und deren An‐ wendbarkeit auf andere kulturelle Kontexte steht dabei im Zentrum. Ob Husserl jedoch tatsächlich über seinen eurozentrischen Hori‐ zont hinausgelangt, ist fragwürdig. Kritiker*innen werfen ihm vor, andere Kulturen eher als Spiegel für die eigenen philosophischen Anliegen zu benutzen. Heideggers Zugang zur Ethik unterscheidet sich grundlegend von Husserls universalistischer Ausrichtung. Ausgehend von der Exis‐ tenzialanalyse des Daseins in Sein und Zeit stellt Heidegger die Frage nach dem Sinn des menschlichen Existierens in den Mit‐ telpunkt. „Das alltägliche Dasein versteht sich aber zunächst und zumeist aus dem her, was es zu besorgen pflegt.“ 26 Dieses „Be‐ sorgen“ ist geprägt von der jeweiligen „Geworfenheit“ in eine be‐ stimmte Welt. Diese Geworfenheit bedeutet, dass der Mensch sich nicht selbst wählt, sondern in eine konkrete historische und kultu‐ relle Situation hineingeboren wird. Diese Prämisse ist entscheidend, um Heideggers Ansatz zur Ethik zu verstehen. Wie Heidegger selbst sagt, das Dasein ist sein Möglichsein als geworfenes Entwerfen. 27 Diese Aussage bringt zum Ausdruck, dass das Dasein nicht nur in einer Welt existiert, sondern auch die Verantwortung hat, diese Welt zu gestalten und zu verstehen. In diesem Kontext fragt sich das Dasein, wie es seiner eigenen Existenz Bedeutung verleihen kann. Diese Fragen sind nicht nur theoretisch, sondern sie betreffen die tägliche Lebenspraxis des Individuums. Das Dasein ist aufgerufen, sich seiner eigenen Endlichkeit und Geworfenheit bewusst zu werden und die Verantwortung für sein eigenes Sein zu übernehmen. Dieser Ruf ergeht an das Dasein durch das Gewissen, die „Stimme des Seins“. Heidegger argumentiert, dass das Gewissen nicht einfach ein moralisches Gebot darstellt, son‐ dern ein tiefes ontologisches Bewusstsein des Daseins von seiner eigenen Existenz und seinen Verpflichtungen gegenüber der Welt. 28 Die Entscheidung für ein eigentliches Existieren bedeutet, sich der Angst vor dem Nichts zu stellen. Dieses eigentliche Existieren ist zugleich ein ethisches Existieren, da es die Verantwortung für das eigene Sein und den Umgang mit der Welt impliziert. Sein und Zeit 26 GA 2, 319. 27 Vgl. GA 2, 144. 28 Vgl. GA 2, 382 f.
32
Jenseits des Eurozentrismus
versteht sich, so wie Figal zum Denken anregt, dennoch als eine praktische Philosophie im Sinne der Nikomachischen Ethik. 29 Die Sorge, die Heidegger als ontologische Struktur des Daseins beschreibt, bildet den Grund für den Ruf des Gewissens. Er stellt fest: „Der Ruf des Gewissens [. . . ] hat seine ontologische Möglich‐ keit darin, daß das Dasein im Grunde seines Seins Sorge ist.“ 30 Die Sorge drängt das Dasein, über sich selbst und seine Beziehung zur Welt nachzudenken. Es ist diese Sorge, die das Dasein dazu auffor‐ dert, aus seiner Verfallenheit an das „Man“, das anonyme Gerede der Öffentlichkeit, auszubrechen und sich auf die Suche nach seiner ei‐ genen Eigentlichkeit zu begeben. Die Eigentlichkeit prägt auch Hei‐ deggers ethische Analyse. Wie Heidegger in seinen späteren Schrif‐ ten betont, gewinnt die Ethik als Ethos ihre ursprüngliche Bedeu‐ tung, wenn die „die Wahrheit des Seins als das anfängliche Element des Menschen als eines eksistierenden“ 31 interpretiert wird. Dieser Zusammenhang von Sein und Ethos manifestiert sich in der „Hal‐ tung“ des Menschen zur Welt: „dieses ‚Sichhalten‘ in der Welt, diese ‚Haltung‘ ist τὸ ἦθος. Also die Politik als die Auskenntnis über das Sein des Menschen in seiner Eigentlichkeit [. . . ] ist Ethik.“ 32 Die Ethik als Ethos kümmert sich um das eigentliche Sein des mensch‐ lichen Daseins. 33 Daraus folgt, dass Eigentlichkeit zu sein im heideggerschen Sinne auch bedeutet, sich des Ethos bewusst zu werden und die darauffol‐ gende Verantwortung für das eigene Sein zu übernehmen. Dennoch bedeutet ἦθος für Heidegger, wie Trawny in Erinnerung bringt, Aufenthalt, Ort des Wohnens. 34 Die Frage nach dem „eigentlichen Wohnen“, so Heidegger, ist die Frage nach der Verantwortung des Menschen für sein Dasein und die Gestaltung seiner Welt. In diesem Kontext stellt die Auseinandersetzung mit dem „Osten“ für Heideg‐
29 Vgl. Günter Figal, Introduzione a Heidegger. Milano: ETS, 2006, 90. 30 GA 2, 369. 31 Martin Heidegger, „Brief über den Humanismus“. In: Ders., Wegmarken. Ge‐ samtausgabe Band 9. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, 1976, 313–364, hier 356. 32 GA 18, 68. 33 Diana Aurenque, Ethosdenken. Freiburg, München: Karl Alber, 2014. 34 Peter Trawny, Heidegger und Hölderlin oder Der europäische Morgen. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004, 237.
33
Manuela Massa
ger einen wichtigen Schritt dar, um die Grenzen des abendländi‐ schen Denkens zu überschreiten und neue Wege des Denkens und Lebens zu erschließen, die zu einem eigentlichen ethischen Wohnen führen. Dies spiegelt auch seine Kritik am „Wertdenken“ der Mo‐ derne wider. Diese zeigt die Herausforderung auf, die sich aus der „Verfallenheit“ an die „Werte“ der Öffentlichkeit und den „Kulturbe‐ trieb“ ergibt. In diesem Kontext soll das „Gespräch von der Sprache. Zwischen einem Japaner und einem Fragenden“ interpretiert wer‐ den. Diese Gespräche bieten einen Einblick in Heideggers Versuch, seine eigene Philosophie, die tief in der abendländischen Tradition verwurzelt ist, mit einer anderen kulturellen Tradition in Dialog zu bringen. Im Zentrum des Gesprächs steht die Frage nach dem We‐ sen von Sprache und Sein. Der japanische Gesprächspartner, Tomio Tezuka, dient Heidegger dabei als Spiegel, um die eigenen, westlich geprägten Vorstellungen von Sprache zu hinterfragen. Die Diskussion um den japanischen Begriff „Iki“ verdeutlicht die Schwierigkeiten der interkulturellen Verständigung, aber auch das Potenzial für eine wechselseitige Bereicherung. Heidegger zeigt sich beeindruckt von der japanischen Fähigkeit, mit knappen Gesten und Worten Tiefsinniges auszudrücken. Gleichzeitig wird deutlich, dass Heideggers eigene Philosophie stark durch seine Verwurzelung in der europäischen Tradition geprägt ist. „Was dieses Wort sagt, konnte ich in den Gesprächen mit Kuki stets nur aus der Feme ah‐ nen.“ 35 Mit diesem Worte klärt Heideggers die kulturellen Unter‐ schiede und die Schwierigkeiten, das japanische Konzept in einen europäischen Kontext zu übersetzen. Das bedeutet nicht, den „Os‐ ten“ durch die Brille seiner eigenen Denkweise zu betrachten. Diese eurozentrische Perspektive besteht darin, den „Osten“ eher als Be‐ stätigung der eigenen philosophischen Annahmen zu sehen, als ihn in seiner Eigenständigkeit zu würdigen. Im Gegensatz zu Husserls Suche nach universellen Prinzipien be‐ tont Heidegger die Situativität und Geschichtlichkeit des mensch‐ lichen Daseins. „Das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer irgendwie verhält, nennen wir Exis‐ tenz“, 36 und diese Beziehung ist immer schon kulturell geprägt. Dar‐ 35 Martin Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache. Zwischen einem Japa‐ ner und einem Fragenden. In: GA 12, 79–146, hier 81. 36 GA 2, 16.
34
Jenseits des Eurozentrismus
aus folge, dass auch das „In-der-Welt-sein“ des Dasein immer schon durch eine konkrete kulturelle Prägung bestimmt ist, die den Zu‐ gang zur Welt und zum eigenen Sein ermöglicht. Das spiegelt sich auch in Heideggers Sprachanalyse aus dem 50 Jahren. Er bemerkt: „das Wesen der Sprache [ist] die Sage“, 37 und diese Sage ist immer schon in einer bestimmten Sprache und Tradition verankert. Dar‐ aus folgt, dass es keine universellen, kulturunabhängigen ethischen Prinzipien geben kann. Die Frage nach dem „Wesen“ von Sprache und Sein stellt sich für Heidegger also immer im Kontext einer be‐ stimmten kulturellen „Behausung“. Um die Möglichkeiten eines in‐ terkulturellen Dialogs zu erkunden, müssen wir uns mit den Fra‐ gen befassen, wie sich dieser Kontext im Dialog mit anderen Kultu‐ ren erweitern und hinterfragen lässt. Die Auseinandersetzung mit dem „Osten“ bleibt für Heidegger ein Weg, um die eigenen philo‐ sophischen Voraussetzungen zu hinterfragen und die Grenzen des abendländischen Denkens auszuloten. Gleichzeitig besteht die Ge‐ fahr, dass dieser Dialog in einer einseitigen Aneignung endet, die den „Osten“ zum bloßen Spiegel des „Westens“ macht. Dieser Ansatz Heideggers über die Sprache spiegelt sich auch in‐ nerhalb des Ethischen. Das Ethische ist immer im Kontext spezifi‐ scher kultureller Narrative und historischer Gegebenheiten zu be‐ trachten. Dies führt zu einer Wertschätzung der Vielfalt mensch‐ licher Erfahrungen und eröffnet die Möglichkeit eines echten in‐ terkulturellen Dialogs, der über oberflächliche Begegnungen hin‐ ausgeht. In dieser Hinsicht ist es wichtig, die Herausforderung zu erkennen, die sich aus der eurozentrischen Perspektive ergibt. Hei‐ deggers Philosophie könnte, obwohl sie den interkulturellen Dialog anstrebt, in der Gefahr stehen, die spezifischen Merkmale und die Autonomie anderer Kulturen zu übersehen. Die ethischen und politischen Implikationen dieser Überlegun‐ gen sind weitreichend. Wenn wir die Verantwortung für unser Da‐ sein ernst nehmen und uns der kulturellen Prägung unseres Den‐ kens bewusst sind, eröffnen sich neue Wege für den Dialog zwischen verschiedenen Traditionen und Kulturen. Heideggers Philosophie bietet nicht nur einen Rahmen für die Reflexion über unser eigenes Dasein, sondern auch einen Anstoß, die Stimmen anderer zu hören
37 GA 12, 195.
35
Manuela Massa
und ihre Perspektiven zu integrieren. In einer globalisierten Welt, in der verschiedene Kulturen miteinander in Kontakt treten und interagieren, ist es entscheidend, einen philosophischen Rahmen zu schaffen, der die kulturellen und historischen Kontexte berücksich‐ tigt. Durch die Auseinandersetzung mit Heideggers Denken und des‐ sen ethischen Dimensionen wird deutlich, dass Philosophie nicht nur eine abstrakte Disziplin ist, sondern auch eine praktische Re‐ levanz für das tägliche Leben und die gesellschaftlichen Herausfor‐ derungen hat. Indem wir Heideggers Auffassung von Dasein und Ethik in den Kontext interkultureller Dialoge einbetten, können wir neue Wege finden, um eine post-eurozentrische Ethik zu ent‐ wickeln, die die Vielfalt menschlicher Erfahrungen und die Kom‐ plexität unserer kulturellen Prägungen anerkennt und wertschätzt.
Fazit Die kritische Auseinandersetzung mit den Philosophien von Hus‐ serl und Heidegger im Kontext des Eurozentrismus zeigt die Dring‐ lichkeit, eine post-eurozentrische Ethik zu entwickeln, die die Viel‐ falt menschlicher Erfahrungen und kultureller Kontexte anerkennt. Während beide Philosophen wertvolle Impulse für die Reflexion über ethische Fragen geben, bleiben sie ihren eurozentrischen Per‐ spektiven verhaftet, die die Stimmen und Beiträge anderer Kulturen oft marginalisieren. Husserls Ansatz zur intersubjektiven Sinnstiftung eröffnet zwar den Raum für einen interkulturellen Dialog, doch seine universelle Ethik ist anfällig für Kritiken, die darauf hinweisen, dass sie die Ein‐ zigartigkeit nicht-europäischer Denktraditionen nicht ausreichend berücksichtigt. Heideggers Konzept des Daseins und die damit ver‐ bundene Geworfenheit fordern den Einzelnen auf, Verantwortung für sein Sein und seine Beziehung zur Welt zu übernehmen. Dies birgt die Möglichkeit einer ethischen Reflexion, die nicht nur die individuelle Existenz, sondern auch die Gemeinschaft und deren Vielfalt umfasst. In einer Zeit, in der globale Herausforderungen einen respekt‐ vollen und konstruktiven Austausch zwischen Kulturen erfordern, ist es entscheidend, philosophische Rahmenbedingungen zu schaf‐
36
Jenseits des Eurozentrismus
fen, die die kulturellen und historischen Kontexte einbeziehen. Nur durch eine solche kritische Selbstbesinnung kann ein wahrhaft gleichberechtigter Dialog mit anderen Kulturen ermöglicht werden, der die Erfahrungen des „globalen Südens“ und des „Ostens“ ernst nimmt. Insgesamt zeigt die Auseinandersetzung mit Heideggers und Husserls Denken, dass Philosophie nicht nur eine abstrakte Diszi‐ plin ist, sondern auch eine praktische Relevanz für die gesellschaft‐ lichen Herausforderungen unserer Zeit hat. Die Suche nach einem neuen Welt-Ethos erfordert ein Umdenken, das über die Grenzen des Eurozentrismus hinausgeht und die komplexe Verflechtung un‐ serer Kulturen anerkennt.
37
.
Lutz Ellrich
Krieg, Frieden und der Eigensinn der Natur 1
Welche Rolle vermag die Philosophie Kants noch in den aktuellen Beschreibungen und Bewertungen der heutigen Lage zu spielen? Können wir von ihm noch etwas lernen? Lassen Sie mich bei meinem Versuch, diese Frage zu beantworten, kurz auf drei neuere Bestandsaufnahmen Bezug nehmen: In einer soziologischen Diagnose der Gegenwart, die vor ein paar Monaten erschien, ist Folgendes zu lesen: „Das kantische Projekt des kollektiven Auszugs aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit und der Glaube an die vernunftbestimmte Welt freier Subjekte er‐ scheint heute als illusionär.“ Es wird „als untragbare Belastung“ empfunden. Die „ökologischen Imperative, demokratischen Zumu‐ tungen und sozialen Verpflichtungen“ werden als „inakzeptable Be‐ schränkungen“ wahrgenommen – Beschränkungen, die nicht zu den derzeit kursierenden „Vorstellungen von Freiheit und Selbstver‐ wirklichung“ passen. 2 „Die Gestaltungsfähigkeit der Politik bricht ein.“ 3 Was auf der Agenda steht, sind nun Konzepte „der Schließung, Kontrolle, Un‐ gleichheit, Polarisierung und Exklusion.“ 4 Die Mehrheit der Bevöl‐ kerung entlastet sich von der Verantwortlichkeit. Sie delegiert die „Entscheidungskompetenz“ an „populistische Führer, Expertenräte, technokratische Eliten und, ganz wesentlich, an künstliche Intelli‐
1 Der Text wurde am 26. 9. 2024 in Riga bei der Tagung „Vernunft in Riga. Internationales Forum anlässlich des 300. Geburtstags von Immanuel Kant“ (25.–27. 9. 2024) vorgetragen. Für Anregungen danke ich Lisa Wolfson und Klaus Neugebauer. 2 Ingolfur Blühdorn: Unhaltbarkeit. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Berlin 2024, S, 247. 3 Ebd., S. 246. 4 Ebd., S. 247.
39
Lutz Ellrich
genz.“ Man sagt sich los, ja, man emanzipiert sich vom „hergebrach‐ ten Verständnis des autonomen Subjekts“ 5. Mit anderen Worten: Kants Theorie des Subjekts ist anscheinend passé. Wie aber steht es um Kants politische Theorie, die die Formen des menschlichen Umgangs mit ernsthaften Konflikten in Betracht zieht? Liegen auch hier ernüchternde Diagnosen vor? In ihrem Buch über den „Krieg“ 6 von 2020 beschreibt die Histori‐ kerin Margaret Macmillan eine Reihe bis heute aktiver „Antikriegs‐ bewegungen“ 7, von denen viele aus religiösen Motiven handeln. Wie zu erwarten ist, erwähnt sie auch Gruppen, die ihre „Hoffnun‐ gen“ nicht „in die Religion“, sondern „in die Vernunft setzen“. 8 Als philosophische Leitfigur dieser pazifistischen Szene gilt Immanuel Kant, der – wie Macmillan notiert – hoffte, dass das ‚krumme Holz‘, aus dem der Mensch gemacht ist 9, „in Richtung auf einen ‚ewigen Frieden‘ begradigt werden könne.“ 10 Solch bewundernswerte NeoKantianer ignorieren aber das, was Macmillan die „trostlose Wahr‐ heit über den Krieg“ nennt. Und diese Wahrheit lautet: „alle Ver‐ suche [den Krieg] zu kontrollieren und zu rechtfertigen, [sind] so vergeblich wie sinnlos.“ 11 Hierzu passt die These, welche Bernd Hüppauf in seinem Buch Was ist Krieg? (von 2013) aufgestellt hat: „Die Geschichte des Krie‐ ges im 19. und 20. Jahrhundert legt nahe, den Weg, den Kant vor‐ zeichnet, zu verlassen. Die Vernunftmoral hat sich gegenüber dem Krieg bisher als machtlos erwiesen.“ 12
5 6 7 8 9
Ebd., S. 252. Margaret Macmillan: Krieg. Wie Konflikte die Menschheit prägten, Berlin 2020. Ebd., S. 283. Ebd., S. 284. Siehe Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht [künftig: IaG], Werkausgabe Bd. IX, S. 31–61, hier: S. 41. 10 Macmillan: Krieg, S. 284. 11 Ebd., S. 258 (im Original: „The bleak view of war is that all attempts to control and justify it are futile and pointless.“). 12 Bernd Hüppauf: Was ist Krieg? Zur Grundlegung einer Kulturgeschichte des Krieges, Bielefeld 2013, S. 505. – Siehe auch Münklers Statement: „Der Traum, militärische Macht durch wirtschaftliche Macht zu ersetzen und international Politik mit Gratifikationen, Sanktionen und internationalen Schiedsgerichten zu steuern, ist ausgeträumt.“ (Herfried Münkler: „Wie bedroht sind wir? H. M. im Gespräch mit Rainer Schmidt“, in: FAZ, 29. 02. 2024).
40
Krieg, Frieden und der Eigensinn der Natur
Ein erstes Fazit könnte also lauten: Wir stehen mit Kant auf ver‐ lorenem Posten. Seine Konzeption des aufgeklärten vernünftigen Subjekts wirkt ebenso brüchig wie seine Annahme, dass Kriege als Mittel zur Konfliktlösung im Zuge eines stetigen gesellschaftlichen Fortschritts obsolet werden. Dürfen wir dennoch hoffen, dass unter bestimmten Bedingungen, deren Herstellung den Menschen viel‐ leicht doch möglich ist, friedliche Formen der Beilegung von Kon‐ flikten zu einer Selbstverständlichkeit werden? Wird es irgendwann einen Völkerbund geben, der genügend moralische Macht besitzt, um souveräne Einzelstaaten, die Kriege anzetteln, zur Raison zu bringen? Kant weckt diese Hoffnung mit Verweis auf verborgene – also nicht auf den ersten Blick erkennbare – Absichten der Natur. Sehen wir uns seinen Begriff der hier beschworenen Natur etwas genauer an: Auffällig ist, dass Kant den Begriff „Natur“ in unterschiedlicher Bedeutung verwendet. 1. Ähnlich wie Thomas Hobbes spricht er von einem Naturzustand, der „ein Stand des Unrechts und der Gewalttätigkeit“ 13 ist. Hier stehen sich nicht allein Gruppen (Stämme, Ethnien, Völker), son‐ dern auch einzelne Menschen potentiell feindlich gegenüber: „je‐ der [will] Richter über das sein [. . . ], was ihm gegen andere recht“ ist. Zugleich gibt es aber keine Sicherheit. Jeder kann sich nur auf „seine eigene Gewalt“ verlassen. Es handelt sich mithin um einen „Kriegszustand [. . . ], in dem jedermann wider jedermann bestän‐ dig gerüstet sein muß.“ 14 Folglich ist der Naturzustand zu verlassen und durch einen Rechtszustand zu ersetzen. Der soziale Wandel, der vom Naturzustand zum Rechtszustand führt, heißt Fortschritt. Kants Begriff des Naturzustandes ist mit dem Verständnis von außereuropäischen Ethnien verbunden, die als „Wilde“ gelten (weil sie sich in einem „gesetzlosen“ oder „zwecklosen Zustande“ 15 befin‐ den) und von ihm verglichen werden mit den schon leidlich Zivi‐ 13 Kant: Kritik der reinen Vernunft, Werkausgabe, Bd. IV, S. 640. 14 Kant: Die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft, Werkausgabe, Bd. VIII, S. 756. 15 IaG, S. 42. – Es ist auch die Rede vom „zwecklosen Zustand der Wilden“, der „alle Naturanlagen in unserer Gattung zurück hielt“ (ebd., S. 44).
41
Lutz Ellrich
lisierten Europas, also mit eben den Mitgliedern einer Gesellschaft, in der zu Hobbes’ Zeiten ein grausamer konfessioneller Bürgerkrieg (zwischen katholischen und protestantischen Christen) tobt. Man darf vermuten, dass Kant – wäre er in seiner Jugend Anton Wilhelm Amo 16, dem ersten schwarzen Philosophen des deutsch‐ sprachigen Raumes, begegnet – seine Einschätzung der Wildheit ge‐ ändert hätte. 17 2. Dem genannten Natur-Begriff, der die Natur als etwas bestimmt, das Kriege verursacht 18, steht ein Natur-Begriff gegenüber 19, der die Natur als eine Kraft definiert, deren Wirkung gerade darin liegt, einen substantiellen Frieden zu stiften, der weit mehr wäre als das vorübergehende Schweigen der Waffen. Der Natur selbst wird eine Absicht zugeschrieben und ihre ei‐ gentümliche Prozesshaftigkeit mit den Vokabeln „Vorsehung“ und „Bestimmung“ expliziert. Die Natur agiert hinter dem Rücken der Menschengattung und bedient sich einer „List“, um ihr Ziel zu er‐ reichen. Sie schürt gewaltsame Kämpfe zwischen Individuen und Kollektiven, um am Ende (d. h. nach einem langen, schmerzhaf‐ ten Erfahrungsprozess 20) einen Zustand zu schaffen, in dem Kon‐ flikte und Konkurrenzsituationen zwar nicht verschwunden sind, sich aber nun durch kommunikative Akte, mit denen vernünftige
16 Siehe Ottmar Ette: Anton Wilhelm Amo. Philosophieren ohne festen Wohnsitz, Berlin 2022; ferner ders.: Mein Name sei Amo, Berlin 2024. 17 Man stelle sich vor, Kant hätte Claude Levi-Strauß’ Buch Das wilde Denken lesen und dessen Thesen auf sich wirken lassen können. 18 „Kriege sind [. . . ] Versuche ([. . . ] in der Absicht der Natur), neue Verhältnisse der Staaten zustande zu bringen.“ (IaG, S. 42). Krieg sorgt dafür, dass „die Kräfte der Menschen nicht einschlafen“ (ebd., S. 44). 19 Vgl. die Formulierung bei Manfred Baum, der schreibt, dass im Text über den ewigen Frieden von 1795/96 „die Natur eine Rolle spielt, die ihrer kriegsverursa‐ chenden Funktion geradezu entgegengesetzt ist, die nämlich einer (indirekten) Friedenstifterin.“ (Manfred Baum: Kleine Schriften 2. Arbeiten zu Kants prakti‐ scher Philosophie, Berlin / Boston 2020, S. 138). 20 „Die Natur hat die Unvertragsamkeit der Menschen [. . . ] zu einem Mittel ge‐ braucht, [um letztlich] einen Zustand der Ruhe und Sicherheit auszufinden“ (IaG, S. 42) – Die Natur „treibt, durch die Kriege [. . . ] zu anfänglich unvoll‐ kommenen Versuchen [. . . ] zu dem . . . was die Vernunft hätte sagen können: nämlich . . . in einen Völkerbund zu treten.“ (IaG, S. 42).
42
Krieg, Frieden und der Eigensinn der Natur
Argumente und Vorschläge ausgetauscht werden, einer Lösung zu‐ führen lassen. Auch wenn man diesen Redeweisen (von einer Natur, die Absich‐ ten verfolgt oder einen Willen 21 besitzt) nur einen ‚schwachen‘ epis‐ temologischen Status (als regulative Idee) zubilligt, so bleibt doch die Frage nach den (ggf. unverzichtbaren) Funktionen, die solche rhetorischen Manöver besitzen. Vermutlich ist Kant von der Nutzlosigkeit aller philosophischen Friedensappelle, die sich auf die Moral berufen, überzeugt. Die These, dass die „Natur als Garantin des Rechtszustandes unter Men‐ schen und Staaten und damit des ewigen Friedens“ 22 zu betrachten ist, ermöglicht den Verzicht auf eine moralische Begründung. Dass der „ewige Friede“ zur Absicht der Natur erklärt wird, liefert (bei den Lesern) offenbar stärkere Motive für die Herstellung des Frie‐ dens als der Hinweis, dass es sich um eine moralische Pflicht han‐ delt, die uns gebietet, Voraussetzungen für die Etablierung friedli‐ cher Verhältnisse unter Menschen und Staaten zu schaffen. Die Natur wird hier nicht mehr als „Zustand“ verstanden, son‐ dern als Kraft, welche die Menschen aus dem „Natur-Zustand“ her‐ austreibt. 3. Es gibt aber noch einen weiteren Naturbegriff, der im Unter‐ schied zu dem soeben explizierten Begriff, keine dynamische Kom‐ ponente besitzt, sondern eine statische, wesenhafte, also unverän‐ derliche Grundstruktur einer Sache oder einer Person bzw. Perso‐ nengruppe bezeichnet. Als Beispiele für diese Verwendung können Kants Aussagen über Frauen herangezogen werden. Denn bei Frauen scheint es sich um Wesen zu handeln, die den Naturzustand entweder überhaupt nicht verlassen können oder nur dann, wenn sie – wiederum auf Ver‐ anlassung der Natur – ihre natürliche Funktion (die Reproduktion der Gattung) nicht mehr auszuüben in der Lage sind. Generell lässt 21 Z. B.: „Die Natur hat gewollt: daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe und keiner anderen Glückseligkeit oder Vollkommenheit teilhaftig werde, als die er selbst frei von Instinkt, durch eigene Vernunft verschafft hat.“ (IaG, S, 36). 22 Manfred Baum: Kleine Schriften 2, S. 139.
43
Lutz Ellrich
sich sagen, dass Kant von der „Invarianz der weiblichen Natur“ 23 überzeugt ist. Die Frau „ist schön und nimmt ein und das ist ge‐ nug.“ 24 Entwicklungen oder Veränderungen sind nicht vorgesehen. Die aus menschlicher Freiheit durchaus möglichen Versuche, „aus dem Frauenzimmer“ zum Beispiel „eine Pedantin oder Amazone“ oder gar eine Gelehrte zu machen, müssen letztlich scheitern; denn „die Natur suchet doch jederzeit zu ihrer Ordnung zurückzufüh‐ ren“. 25 Auch bei der Einteilung, Differenzierung und Bewertung von Völkern oder Rassen bedient sich Kant der Idee, dass es unveränder‐ liche, von der Natur geschaffene Eigentümlichkeiten und Merkmale gibt, die z. B. für Juden 26, Neger oder Wilde charakteristisch sind. 27 Es ist daher auch nur konsequent, wenn Kant zu der These gelangt, dass „die Vermischung der Stämme [. . . ] dem Menschengeschlecht [. . . ] nicht zuträglich sei.“ 28 Aber wie nötig sind Instanzen wie Gott oder die Natur, um Men‐ schen zu veranlassen, moralisch zu handeln? 29 Wie stark sind Kants Argumente für die Abschaffung des Krieges als Mittel der Kon‐ fliktlösung, wenn man auf Denkfiguren wie Endzweck oder Absicht der Natur völlig verzichtet bzw. die Rede von der „List der Natur“ durch die folgende Frage ersetzt: Kann man den Krieg – wie einige moderne Soziologen vorschlagen – als „Lehrmeister“ 30 bezeichnen? Ferner wäre zu fragen, ob Kants Konzept des Fortschritts bzw. eines 23 Siehe Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit, Frankfurt a. M. 1997, S. 225. 24 Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, Werkausgabe II, S. 821–884, hier: S. 866. 25 Ebd. 26 Siehe dazu Marcus Willaschek: Kant. Die Revolution des Denkens, München 2023, S. 57. 27 Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, S. 868 ff. 28 Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Werkausgabe Bd. XII, S. 671. 29 Omri Boehm scheint von der Unumgänglichkeit solcher Instanzen auszugehen, wenn er mit „Hans Vaihinger von Kants Philosophie des Als-ob“ spricht: „Wir müssen nicht nur voller Hoffnung handeln, ‚als ob‘ Gott existiert, sondern wir müssen handeln, ‚als ob‘ wir menschlich sind.“ (Omri Boehm / Daniel Kehl‐ mann: der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant, Berlin 2024, S. 58). 30 Siehe etwa Karl Otto Hondrich: Lehrmeister Krieg, Reinbek bei Hamburg 1992; Wolfgang Schievelbusch: Die Kultur der Niederlage, Berlin 2001.
44
Krieg, Frieden und der Eigensinn der Natur
Weges zur Verbesserung der Lage des Menschengeschlechtes sich auch ohne Angabe eines geschichtlichen Ziels halten lässt? Rahel Jaeggi hat einen solchen nicht-teleologischen Begriff des Fortschritts entwickelt. Fortschritt wird als Bewegung von etwas weg, nicht als Bewegung auf etwas zu verstanden. 31 Es geht dabei um Problemlösungen und nicht um die Annäherung an ein vordefinier‐ tes Ziel. Wir schreiten fort, ohne dass das Bessere „von vornherein schon klar bestimmt wäre und ohne dass der Prozess an ein vor‐ hersehbares Ende kommen könnte.“ 32 Fortschritt ist – laut Jaeggi – nichts anderes als „ein sich anreichernder Erfahrungsprozess“ 33. Aber benötigt man nicht, um einen schlechten von einem besseren Zustand zu unterscheiden, ein Kriterium? Wie lassen sich Zustände beurteilen, ohne eine noch so vage Vorstellung von einem Ziel, auf das man zusteuern will? So könnte man im Geiste von Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft 34 fragen. Aber – so würde Jaeggi antworten – hat Kant nicht selbst ein ‚ne‐ gativistisches‘, also nicht-teleologisches Verständnis von Fortschritt vorbereitet, wenn er schreibt: „Schmerz ist der Stachel der Tätigkeit und in dieser fühlen wir allererst unser Leben.“ 35 „Die Natur hat den Schmerz zum Stachel der Tätigkeit in [den Menschen] gelegt, dem er nicht entgehen kann: um immer zum Bessern fortzuschreiten.“ 36 Und muss Kant bei seiner Angabe jener ‚rationalen‘ Gründe, die Menschen letztlich dazu bewegen, friedlichen Konfliktlösun‐ gen gegenüber kriegerischen den Vorzug zu geben, primär negati‐ vistisch 37 argumentieren? Denn das zentrale Argument gegen den Krieg lautet: Der Krieg stiftet mehr Schaden als Nutzen, insbe‐ sondere mehr ökonomische Verluste als Gewinne. Und die Men‐ schen würden, wenn sie frei und unbeeinflusst von bellizistischer Propaganda entscheiden könnten, für friedliche Formen der Aus‐
31 32 33 34 35 36 37
Rahel Jaeggi: Fortschritt und Regression, Berlin 2024, S. 55. Ebd. Ebd., S. 212. Siehe Kritik der Urteilskraft, Zweiter Teil, Werkausgabe Bd. X, S. 469–620. Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 551. Ebd., S. 556 f. Habermas hält Kant vor, dass er nur einen negativistischen Begriff des Friedens zu bieten hat (Jürgen Habermas: Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a. M. 1996, S 193).
45
Lutz Ellrich
einandersetzung und des Wettbewerbs votieren. Republikanische bzw. demokratische Entscheidungsverfahren in Kombination mit einem hochentwickelten „Handelsgeist“ bzw. der Wertschätzung der „Geldmacht“ 38 hätten unweigerlich zur Folge, dass man „sich sehr bedenken [würde], ein so schlimmes Spiel [wie den Krieg] an‐ zufangen.“ Die Bildung von Republiken (ggf. auch durch Revolu‐ tionen) und die Forcierung kapitalistischer Mentalitäten in der Be‐ völkerung seien Schritte zum Frieden, die sich auf stärkere Motive berufen können als kampflustige und ruhmsüchtige Gattungsexem‐ plare, denen Kosten-Nutzen-Analysen völlig gleichgültig sind. Sprengt Kant mit solchen Überlegungen aber nicht die Logik sei‐ ner Kritik an der Nützlichkeit als lebensbestimmendes Handlungs‐ kriterium? Am vehementesten hat er sich gegen den Utilitarismus im Kon‐ text seines Plädoyers für die Todesstrafe gewandt: Die Todesstrafe muss – unabhängig davon, ob sie nützlich ist und abschreckend wirkt oder (im Gegenteil) völlig unnütz ist – „als Würde und Ehre des Menschen aufrecht erhalten und geachtet werden.“ 39 Hier die Frage der Nützlichkeit aufzuwerfen, sei geradezu der Ausdruck ei‐ ner pharisäerhaften Gesinnung. Doch selbst die Einsicht, dass Krieg mehr Schaden als Nutzen stif‐ tet, macht ihn als Handlungsalternative nicht hinfällig. Gerade der Rekurs auf Werte wie Ehre und Würde sichert dem Krieg als Mittel, die eigenen Werte (ohne Rücksicht auf Verluste) zu vertreten, eine bleibende Attraktivität. Die Französische Revolution liefert selbst für Kant ein schlagen‐ des Beispiel für die Kombination von hohen Werten und niederer, unverhältnismäßiger Gewalt – eine Kombination, die ihren Nieder‐ schlag darin findet, dass Kant (wie Hannah Arendt 40 gezeigt hat) die Beurteilung der Revolution in eine affirmative Zuschauer- und eine pejorative Akteurs-Rolle aufspaltet. Wenn der Einsatz von Gewalt durch den Rekurs auf Ehre und Würde legitimierbar ist, 41 so verlieren Kants rationale Argumente 38 Siehe hierzu ebd., S. 201. 39 Jacques Derrida: Die Todesstrafe II (Seminar 200–2001) [Paris 2015], Wien 2020, S. 65. 40 Hannah Arendt: Das Urteilen, München / Zürich 1985, S. 67 ff. 41 Vgl. die Argumente von Frantz Fanon (Die Verdammten dieser Erde, 1961), auf die sich auch die Hamas berufen hat.
46
Krieg, Frieden und der Eigensinn der Natur
für die Abschaffung des Krieges (1. durch die Bildung von Repu‐ bliken, die die Beteiligung aller Gesellschaftsmitglieder an politi‐ schen Entscheidungen vorsehen, und 2. durch die Ausweitung der Handelsbeziehungen und des Güterverkehrs zwischen den Völkern) entschieden an Kraft. Der Prozess der Schaffung friedlicher Verhältnisse zwischen den Menschen ist also weitaus komplexer, als es die Betrachtung der zwei genannten Entwicklungsschritte suggeriert. Kehren wir noch einmal zu den unbefriedigenden Begriffen „Na‐ tur“ und „Fortschritt“ zurück. In seinem späten Text Über Pädagogik 42 schreibt Kant: „Es liegen viele Keime in der Menschheit, und nun ist es unsere Sache, die Naturanlagen proportionierlich zu entwickeln, und die Menschheit aus ihrem Keime 43 zu entfalten und zu machen, daß der Mensch seine Bestimmung erreiche.“ 44 Aber: „weil die Entwicklung der Na‐ turanlagen bei dem Menschen nicht von selbst geschieht“, ist Erzie‐ hung nötig. Doch „alle Erziehung [ist] eine Kunst. – Die Natur hat dazu keinen Instinkt in ihn gelegt.“ 45 Was muss diese Kunst, die sich keinem Instinkt verdankt, leis‐ ten? Sie muss bestimmte Naturanlagen unterdrücken! Das heißt: Der Fortschritt zum Besseren ist nicht nur mit der strengen päd‐ agogischen Entwöhnung von Selbstsucht, Habsucht, Feigheit und Faulheit verbunden. Auch vermindert die pädagogische Arbeit die sogenannte Lebensfreude. Kant macht gar keinen Hehl daraus: Die Erziehung der Kinder muss dafür sorgen, dass der Mensch, „einen geringen Wert setze in den Genuß der Ergötzlichkeiten des Lebens.“ Diese anti-hedonistische Kur hat freilich einen erheblichen Nutzen: Denn mit der Entwertung des Vergnügens wird dann – so lautet Kants Versprechen – „die kindische Furcht vor dem Tode [. . . ] weg‐ fallen.“ 46 Ist diese Leistung aber der Herstellung des Friedens för‐ 42 Kant: Über Pädagogik (hg. von F. T. Rink, 1803), Werkausgabe Bd. XII, S. 693– 761. 43 Aber immerhin – so heißt es kurz danach im Text – „liegen [. . . ] im Men‐ schen [. . . ] nur Keime zum Guten.“ Ebd., S. 705. – Passt dazu aber Kants Lehre vom „radikal Bösen“ (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, S. 679–694? 44 Kant: Über Pädagogik, S. 701. 45 Ebd., S. 703. 46 Ebd., S. 761.
47
Lutz Ellrich
derlich? Oder dient sie paradoxerweise nur der Erzeugung der Be‐ reitschaft, sein Leben in kriegerischen Aktionen auf ein gar nicht mehr so ‚schlimmes Spiel‘ zu setzen? Das Problem der politischen Erziehung war Ende des achtzehn‐ ten Jahrhunderts hochgradig virulent. Noch zu Lebzeiten Kants, nämlich in den Jahren 1797 bis 1800, schreibt Hölderlin an seinem Theaterstück „Der Tod des Empedokles“, das die Möglichkeiten ei‐ ner im Sinne der Aufklärung erforderlichen und erfolgversprechen‐ den politischen Erziehung behandelt. Hölderlins Drama bestätigt Kants These: dass man „zwei Erfindungen des Menschen [. . . ] wohl als die schwersten ansehen [kann]: die der Regierungs- und die der Erziehungskunst.“ 47 Was letztere zu leisten hat, nennt Hölderlin – mit dem Ehrgeiz, Kant zu überbieten – „höhere Aufklärung“ 48. Und diese besteht darin, die Menschen vom Wert republikanischer Ver‐ hältnisse zu überzeugen und ihnen zugleich – weit entfernt von Kants funktionalistischer Verteidigung der Geldmacht – den gerade aufkommenden Geist des Kapitalismus auszutreiben. Durch eine spektakuläre Tat wird der philosophische Zuschauer Empedokles zum Handelnden. Er lehnt die ihm angebotene Königskrone ab. (Das hätte auch Kant empfohlen, weil das Ergreifen der Macht die zur Bildung vernünftiger und freier Urteile nötige Distanz zu Macht und Gewalt zerstören würde. 49) Stattdessen wählt Empedokles das Selbstopfer, um dem Volk zu zeigen, dass es einen höheren Wert gibt als das individuelle Leben, nämlich die Idee einer republikanischen Verfassung, die den Frie‐ den zu erlangen sucht, ohne durch ökonomische Kalküle zu einer pazifistischen Gesinnung quasi genötigt zu werden. Meint aber Kant die Vorschläge, die er in seinem Aufsatz Zum ewigen Frieden macht, wirklich ernst? Glaubt er an die friedensstif‐ tenden Kräfte von Industrie und Handel? Er ist doch bereits über die Methoden des Kolonialismus informiert und hat seiner Empörung darüber sehr deutlich Ausdruck verliehen. 50
47 Ebd., S. 703. 48 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe, 2 Bde., Berlin / Weimar und München 1970, Bd. I, S. 861. 49 Kant: Zum ewigen Frieden, Werkausgabe Bd. IX, S. 228. 50 Ebd., S. 214–16.
48
Krieg, Frieden und der Eigensinn der Natur
Hält er wirklich den Rückgriff auf einen metaphysischen Natur‐ begriff für eine überzeugende und unverzichtbare Denkfigur? Will er seinen Lesern wahrhaftig Hoffnung machen auf einen „ewigen Frieden“? Oder ist eine ironische Lektüre des so übertrieben ireni‐ schen Textes angebracht? Denn den „ewigen Frieden“ gibt es wohl nur auf dem „Kirchhof“ 51. Was aber heißt das für eine heute angemessene Kantlektüre? Zu‐ nächst einmal wird man eine berühmte Kantsche Annahme preis‐ geben; nämlich die Annahme, dass das „moralisch Böse [. . . ] die von seiner Natur unabtrennliche Eigenschaft“ besitzt, „in seinen Absichten [. . . ] sich selbst zuwider“ zu sein, und sich deshalb letzt‐ endlich auch selbst „zerstör[en]“ muss, um so „dem (moralischen) Prinzip des Guten [. . . ] Platz“ 52 zu machen. Man wird stattdessen künftig davon ausgehen, dass das moralisch Böse unempfindlich gegen Selbstwidersprüche ist. 53 Ferner wird man jetzt Kants Vergleich zwischen zwei Typen des Verhältnisses von Moral und Politik gegen den Strich lesen: Kants Plädoyer für den „‚moralischen Politiker‘ [. . . ], der die Prinzipien der Staatsklugheit so nimmt, daß sie mit der Moral zusammen be‐ stehen können“ 54, wird man wohl als philosophische Träumerei be‐ trachten und stattdessen einsehen müssen, dass es realistischer ist, den Standpunkt eines „politischen Moralisten“ 55 einzunehmen, der zynisch davon ausgeht, dass Gruppen mit extrem unterschiedlichen Interessen, „einander gewalttätig oder hinterlistig befehden“, und dass ihnen „ganz recht . . . geschieht“, „wenn sie sich untereinander aufreiben.“ 56 Das sind – wie Kant sagt – „verzweifelte Folgerun‐ gen“ 57. Aber hat er nicht selbst genügend Argumente (das Lernen durch Not und die Orientierung an der Geldmacht) aufgeboten, um die eigene Position preiszugeben?
51 Ebd., S. 195. 52 Ebd., S. 242. 53 Zum aktuellen Stand der Debatten über die verschiedenen ‚Sorten‘ des Bösen bei Kant siehe Martin Welsch: „Kant über das Satanisch-Böse“, in: DZPhil 2023, 71 (3), S. 315–336. 54 Kant: Zum ewigen Frieden, S. 233. 55 Ebd. u. S. 242. 56 Ebd., S. 242 f. 57 Ebd., S. 243.
49
Lutz Ellrich
Man könne, so schreibt er, im Streit zwischen Politik und Moral „nicht halbieren und [sich] das Mittelding eine[r] pragmatisch-be‐ dingten“ 58 politischen Praxis entwerfen und umsetzen. Man kann dies sehr wohl. Und mehr noch: man wird es müssen, wenn die Natur keine „Gewähr“ oder „Garantie“ leistet und aus ih‐ rem „Laufe“ keine „Zweckmäßigkeit“ mehr „hervorleuchtet“. 59
58 Ebd., S. 244. 59 Ebd., S. 217.
50
Elvīra Šimfa
“Leaving philosophy” Heidegger’s critique on Kant
Even though discussions of Martin Heidegger’s infamous “Black Notebooks” by now are somewhat outdated, one cannot deny that it was the last Auseinandersetzung with Heidegger’s philosophy of this intensity and significance for both – philosophers and non-philoso‐ phers. In the face of the revelation of Heidegger’s antisemitism, well-wishing commentators and those who understand Heidegger’s philosophical significance and magnitude, tried to clarify his philo‐ sophical position to determine the level of “contamination” of his philosophy, knowing that his philosophy, paradoxically enough, is timeless and therefore cannot be refuted by timely and worldly mat‐ ters. Others – more critical and skeptical commentators – under‐ took the same to prove the opposite point, namely, that whatever is timeless and unworldly can easily be adopted to and used for political purposes. Both groups of commentators and researchers among other aspects of Heidegger’s thought analyzed his percep‐ tion of other philosophers and poets – Husserl, Nietzsche, Hegel, Hölderlin, George et.al. Heidegger’s fascination with Nietzsche and critics of his teacher Edmund Husserl has been often regarded as supporting the very radical criticism of Heidegger. No matter the intention or conclusion of the research, the re‐ searchers have often missed the specific character of Heidegger’s perception of other important figures in Ideengeschichte. Rüdiger Safranski describes this specific character in the following way: “Mit Heraklit, Platon, Kant ging er um, als seien es seine Zeitgenossen.” 1 One must agree with Safranski especially if we consider Heideg‐ ger’s relationship with Kant. It seems that this relationship has not 1 Safranski, R. Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit. Fischer Taschenbuch Verlag, 1998. S. 13.
51
Elvīra Šimfa
been considered particularly important in the context of the “Black Notebooks”, even though Kant had an enormous role in Heidegger’s philosophical development in general and particularly during the 1920ties. Kant follows Heidegger through “Being and time” pub‐ lished in 1927; in the winter semester of 1927/28 Heidegger gives a course entitled “Phenomenological Interpretation of Kant’s Cri‐ tique of Pure Reason”; in 1929 in Davos Heidegger and Ernst Cas‐ sirer engage in the famous philosophical discussion on the inter‐ pretation of Kant’s theoretical philosophy and based on this discus‐ sion in this same year Heidegger’s “Kant and the Problem of Meta‐ physics” was published. Considering Heidegger’s involvement with Kant’s philosophy during this crucial period for him, one can as‐ sume that Heidegger’s Kant perception can shed some light on Hei‐ degger’s philosophical position and the changes it undergoes during the 1920ties and 1930ties. In this article I will argue that Heidegger’s perception of Kant during the 1920ties and the 1930ties to some extend expresses Hei‐ degger’s movement away from philosophy (1) by distinguishing dif‐ ferent approaches within philosophy – the approach of the histo‐ rian of the philosophy and the much more original and therefore fruitful and significant approach through one’s own philosophical problems. And then (2) by distinguishing between philosophy and thinking and holding that the important question regarding himself is not whether or not he is a good philosopher but whether he is a thinker. In the published volumes of “Black Notebooks” Heidegger dedi‐ cates few but rather important passages to Kant and their meaning is best understood when we consider Heidegger’s work on interpret‐ ing Kant in the second half of the 1920ties. Shortly after the Davosdiscussion and at the time of publishing “Kant and the Problem of Metaphysics” Heidegger writes to Heinrich Rickert complaining that the shorthand report of the discussion was released without his notice and that it misrepresents Heidegger’s position in the Davos discussion. Heidegger writes: “I did neither, as it says in the report, talk about “the Neo-Kantianism”, nor did I even approached an overall position towards Kant, [I only approached] the question of the interpretation of the transcendental Aesthetics and Analytics. No one would argue that these two pieces
52
“Leaving philosophy”
were and still are interpreted “epistemologically”. I think that the hid‐ den ground problem of the whole Kantian philosophy is far too com‐ plicated for me to hold that it is possible to say something essential about it in a superficial manner.” 2
In “Kant and the Problem of Metaphysics” we read that Heideg‐ ger’s main concern indeed is an ontological interpretation of Kant’s first critique, as opposed to the epistemological interpretation of the neo-Kantians. His “investigation is devoted to the task of interpret‐ ing Kant’s Critique of Pure Reason as a laying off the ground for metaphysics and thus of placing the problem of metaphysics before us as a fundamental ontology” 3. We can interpret Heidegger (1) not wanting to “take an overall position towards Kant” and (2) admitting that the hidden ground problem of the whole Kantian philosophy is complicated and not to be addressed superficially together with (3) Heidegger’s explicit Kant interpretation in the perspective of his own fundamental on‐ tology, as him not considering that it is necessary to address “the hidden ground problem of the whole Kantian philosophy”. Namely, we can assume that what mainly characterizes Heidegger’s Kant per‐ ception of the time of the Davos discussion is understanding Kant’s philosophy within his own philosophical project, id.est., (a) discov‐ ering the problems of his philosophy in Kant, as opposed to (b) trying to discover what Kant himself could have determined as the ground problems of his philosophy. At this point, we can assume that for Heidegger the first one is the truly philosophical way to approach ideas of other philosophers, while the second is merely the work of the historian of philosophy. Heidegger himself thought the first one to be also the respectful approach to another great philosopher. In the “Black Notebooks” from the 1940ties, Heidegger writes:
2 Heidegger, M. Brief an Heinrich Rickert // Briefe 1912 bis 1933 und andere Doku‐ mente. Aus den Nachlässen herausgegeben von Alfred Denker. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2002, S. 62–63. 3 Heidegger, M. Kant and the Problem of Metaphysics. Translated by Richard Taft. Indiana University Press, 1990, pg.1.
53
Elvīra Šimfa
“To honour Kant means to get involved with the thing that concerned him and that he opened himself up to. Who fails to do this, has nothing to do with Kant. He is not for and not against Kant. He positions Kant as an object. (Kant verehren heißt: sich auf die Sache, die ihn anging und der er sich stellte einlassen. Wer das vermag, hat mit Kant dann nichts mehr zu tun. Er ist weder für noch gegen Kant. Er läßt ihn bestehen als einen Ständigen.).” 4
We can read this quote in the following way: to “position [Kant] as an object” means to approach him as the object of your research, while to approach him within your own philosophy means to en‐ gage with his thing (the thing that he opened himself up to). Some‐ how Heidegger seems to suggest that the quite traditional history of philosophy approach to philosopher in making him (his philos‐ ophy) the object of the research fails to actually research or engage in the problem this philosopher was concerned with. But this leaves open the question whether the other way suggested by Heidegger – engaging with a philosopher within your own philosophy – allows one to engage with the problem he was concerned with? Here we should look at the thing Heidegger claims Kant to be concerned with, namely, the finitude of the human being and the fundamental limitedness of his sensible and rational faculties. This is something that is very significant to Heidegger’s philosophy as well. Indeed, we can say that the finitude and limitedness of the man was Kant’s philosophical concern, but more importantly – Kant was concerned about the philosophical consequences of this finitude and limitedness. This concern arose as early as in 1764. In his “Re‐ marks in the Observations on the Feeling of the Beautiful and the Sublime” Kant confesses a revolution in his thinking that led him to this awareness: “I am myself by inclination an investigator. I feel a complete thirst for knowledge and an eager unrest to go further in it as well as satisfaction at every acquisition. There was a time when I believed that this alone 4 Heidegger, M. Schwarzen Hefte (1942–1948). Anmerkungen I-V. Bd. 97. Gesam‐ tausgabe. Hrsg. von Peter Trawny. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2015, S. 202–203.
54
“Leaving philosophy”
could constitute the honour of mankind, and I had contempt for the rabble who know nothing. Rousseau brought me around. This blind‐ ing superiority disappeared, I learned to honour human beings, and I would find myself far more useless than the common labourer if I did not believe that this consideration could impart to all others a value in establishing the rights of humanity.” 5
The change that reading Rousseau brings about in Kant is personal as well as professional. Kant re-evaluates his personal inclination to‐ wards speculations and his vanity. Professionally Kant experiences fundamental change in the sense of seeing that even if his previ‐ ous efforts have been in accordance with what he believed did con‐ stitute the honour of the mankind, he was wrong in thinking that this honour was constituted by the achievements of rationality. For the rational capacities of a human being are in fact limited but the ambitions and climes are not which bring about a distorted illusion of what rationality has accomplished. Through Rousseau Kant be‐ came aware that the source of the honour of the mankind lies in the morality and that his proper work as a philosopher would be to help humanity to achieve its proper moral vacation. Therefore Kant stresses the necessity to rethink and reorganize the way philosophy and science in general is practiced and understood, for in its current form it is only one of the evils of civilization. 6 What is needed is a new kind of science: “If there is any science that the human being needs, it is that which teaches him properly to fulfil the position that has been assigned to him in the creation” 7. According to Kant’s interpreter Karl Ameriks, Kant designed his critical philosophy to fit the criteria’s of this new needed science and it turned out to be a philosophy of the human limitedness and the limits of this science itself, Kant had to admit that: “there are very severe limitations to what can ever be expected of philosophy and intellectual life in general, and hence even from an ideal version of his own work.” 8 The changes Rousseau brings about in Kant’s thinking are radical in the sense that Kant almost completely renounces his previous 5 6 7 8
Bem 20: 44. See: Bem 20: 29. Bem 20: 45. Ameriks, K. Kant’s Elliptical path. Oxford University Press, 2012, p. 34.
55
Elvīra Šimfa
philosophical interests and efforts and turns towards a new philo‐ sophical project. And this philosophical project concerns human finitude and limitedness and more importantly it concerns the lim‐ its of philosophy itself. In his interpretation of Kant’s first critique in the Kant-book Hei‐ degger picks up on the idea of the human finitude and the limi‐ tations of his capacities; Heidegger clearly understands the signif‐ icance of this idea for Kant’s theoretical philosophy but he under‐ stands it in the context of his ontological Kant reading, Heidegger writes: “the finitude of the human beings is the basis for the problem of lying the grounds for ontology in the Critique of Pure Reason”, therefore “the “critique” of this difference between finite and infinite knowledge must carry a special weight” 9. While admitting that Hei‐ degger concentrates his attention on the finite knowledge, he writes: “laying out the ground for metaphysics must push ahead into the essential ground of finite knowledge” 10. As somewhat latter Heideg‐ ger explains, this essential ground is nothing else than the “essence of human Dasein”, for the way of laying ground for metaphysics is “analytic”, “it concerns finite pure reason with a view to how, on the grounds of its essence, it makes something like ontological synthesis possible” 11. In other words – Heidegger requires a radical inquiry into the subjectivity of the finite being in question. However, such inquiry is not Kant’s purpose, moreover Kant does not think that it is possible and Heidegger mentions this when analysing what Kant has to say about the two sources of knowl‐ edge – sensibility and understanding. Kant carefully suggests that these sources might steam from a common root which we cannot know. Heidegger comments that Kant only alludes to this root, he “not only fails to pursue it further, but even declares that it is “un‐ known to us”” 12. Heidegger goes on in investigating this root, he sug‐ gests that this root could be the transcendental power of imagina‐ tion 13, and from that follows that the transcendental power of imagi‐ nation is at the core of the subjectivity. And Kant failed to recognize 9 10 11 12 13
56
Heidegger, M. Kant and the Problem of Metaphysics, p. 22. Ibid., p. 25. Ibid., p. 29. Ibid., p. 26. See: Ibid., p. 96.
“Leaving philosophy”
that because he admitted this to be out of scope of knowledge. Hei‐ degger writes: “[..] Kant did not carry through with the more original interpretation of the transcendental power of imagination; indeed, he did not even make the attempt in spite of the clear, initial sketching out of such an analytic which he himself recognized for the first time. On the contrary: Kant shrank back from this unknown root.” 14
Transcendental Aesthetics to Heidegger mind suffers from the same problem – insufficient investigation of the subjectivity of the sub‐ ject – Heidegger admits that in the lecture course of 1926/1927 on the history of philosophy from Thomas Aquinas to Kant. 15 From this Heidegger’s Kant interpretation during the 1920ties fol‐ lows that by not recognizing the limits of what can be philosophi‐ cally investigated, Heidegger failed to engage in what quite safely can be assumed as Kant’s main philosophical concern – namely the limitations of philosophy itself. Here one should mention that Kant himself was very concerned about other philosophers engaging in his critical project and expanding the borders of critical philoso‐ phy and Kant criticised Fichte for doing so in his declaration con‐ cerning Fichte’s Wissenschaftslehre 16. Despite what Kant would have thought about it, Heidegger does not seem to significantly change his approach to Kant – critical philosophy remains on the discus‐ sion table. In one of the passages from the “Black Notebooks” (years 1938/39) devoted to Kant, Heidegger poses a question – why do we still need Kant (wozu noch Kant)? One of the answers he gives refers to what he recognized previously (already in “Kant and the Prob‐ lem of Metaphysics”) as Kant’s great accomplishment in initiating
14 Ibid., p. 112. 15 See: Heidegger, M. Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant. II. Abteilung: Vorlesungen 1919–1944. Bd. 23. Gesamtausgabe. Hrsg. von H. Vet‐ ter. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2006, S. 204. 16 See: Kant, I. Public Declaration concerning Fichte’s Wissenschafthslehre, Au‐ gust 7, 1799. Correspondence. Transl. and ed. by A. Zwieg. Cambridge Univer‐ sity Press, 1999, p. 560. (Br 12: 371)
57
Elvīra Šimfa
and grounding the inquiry into the subjectivity but he also refers to Kant’s failure to actually perform this inquiry. 17 If here we do not see anything new in Heidegger’s Kant percep‐ tion, his other reflexions on the question “Why do we need Kant?” might reveal something more about Heidegger’s approach to Kant and to Heidegger himself. First time Heidegger poses the question, he asks further: (A) “[Do we need Kant] to exercise our thinking on his work? To historically show that once the Germans had someone like that among them and that he left an influence on the following cen‐ turies? [..] or in spite of everything in his work still happens some‐ thing that is appropriate for the future (was zukünftig ist), some‐ thing that is so “current (gegenwärtig)” that it refers to the present in its secret essence?” 18
And the last answer Heidegger gives to the question on the need for Kant is: (B) “Because in our history he is an impetus (ein Anstoβ), one of those that gains it’s strength in an impact – the less it is this or the other way either used or refused for some short-sighted present by mak‐ ing it “relevant for this present (gegenwartsbezogen)” the richer it is and the more it returns to its historical unicity.” 19
These are two important quotes one should pay attention to. First quote (A) in which Heidegger asks weather Kant’s works are only good for exercising one’s thoughts or they are relevant for the present and for the future reminds of a self-questioning episode that occurs in Heidegger’s letter to Jaspers in December 1931. Heidegger writes: “[..] for a long time now [..] I am shocked over my dubious success, and I have known ever since that I have dared to go too far beyond my own existential power and without clearly seeing the confines of what is materially in question for me. Since then, I exist in the role of an 17 See: Heidegger, M. Schwarzen Hefte (1938–1939). Überlegungen VII–XI. Bd. 95. Gesamtausgabe. Hrsg. von Peter Trawny. Frankfurt am Main: Vittorio Kloster‐ mann, 2014, S. 32–33. 18 Ibid., S. 32. 19 Ibid., S. 33.
58
“Leaving philosophy”
overseer in a gallery, who, among other things, has to see to it that the curtains in the windows are correctly opened and closed so that the few great works of the tradition are more or less properly illuminated for the randomly gathering spectators. Without the picture – I only read and work on the history of philosophy.” 20
In the level of deep personal self-examination Heidegger seams to face two options he thinks to be open for a philosopher, the options I mentioned earlier (a) to be a historian of philosophy or (b) to be a true philosopher, one that matters for the present and for the future, an original philosopher who can think the present. According to these two options the obvious reading of the Kant quotation would be that we can either (a1) exercise our thinking on Kant or (b1) see what in Kant is relevant for the present and future this way being ourselves relevant for the present and for the future. But this does not seem to fit with what Heidegger says in the second Kant quota‐ tion, namely – that while Kant still serves as an impetus, one should not try to make Kant relevant for the present but rather leave him be in his historical unicity. And we must consider another difficulty in this seemingly simple choice between two options for a philosopher – it seems surprising that Heidegger should doubt whether he is a true philosopher when he has clearly never taken the path of the historian of the philoso‐ phy in interpreting other great philosopher and when he has already written the book that established him as one of the great philosopher four years before he poses this question. Considering these difficulties in proposed rather obvious inter‐ pretation of the two options for a philosopher, we can ask whether it is not the case that only one of those options is available for a philosopher and the other one in fact presupposes resignation from philosophy? By asking this I assume that what Heidegger is con‐ cerned about here is the fact that no matter how much of an original philosopher he has bean, how decisively he has refused the path of a historian of philosophy he still remains what he calls an “overseer in a gallery” because he is a philosopher and that living up to the time,
20 Martin Heidegger to Karl Jaspers. Freiburg i. Br., December 20, 1931. The Hei‐ degger – Jaspers Correspondence (1920–1963). Ed. By Walter Biemel and Hans Saner. Translated by Gary E. Aylesworth. Humanity Books, 2003, p. 305.
59
Elvīra Šimfa
that is, being a thinker who is concerned with matter beyond his‐ tory of philosophy is something that a philosopher remaining only a philosopher cannot do. It is as if Heidegger, wanting to be a true thinker like the great philosophers before him (e.g. Kant), became a philosopher only to realise that the position of a philosopher pre‐ supposes nothing more than being able to talk and think about these philosophers and nothing in this position allows him to assume that he could be like them. In other words, he experiences his position as a philosopher as a trap. In a short essay “Heidegger the Fox” Hannah Arendt seems to grasp this Heideggerian problem of being trapped between the position of thinker and philosopher which he saw as being at odds with one another. Arendt writes: “Once upon a time there was a fox who was so lacking in slyness that he not only kept getting caught in traps but couldn’t even tell the dif‐ ference between a trap and a non-trap. [..] In his shocking ignorance of the difference between traps and non-traps, despite his incredibly extensive experience with traps, he hit on an idea completely new and unheard of among foxes: He built a trap as his burrow.” 21
In other words – Heidegger needs to reinvent the position of philosopher while understanding all along that this position is a trap even if one can make it ones home. Assumption that Heidegger experiences being a philosopher as problematic is encouraged by his talk in the “Black Notebooks” about leaving philosophy. Even though one cannot be sure about the precise meaning (or meanings) of the idea of leaving philosophy, it is quite clear, that it arises out of distinction between philosophy and thinking, and when Heidegger talks about leaving philosophy, it is for the sake of thinking in the truly authentic sense. Especially this theme of leaving philosophy for the sake of thinking is elaborated in the “Black Notebooks” from the years 1942 to1948. Heidegger claims: “Truly thinking, speaking from the perspective of philoso‐ phy, means to leave philosophy (Eigentlich denken heißt, – von der Philosophie hier gesprochen – die Philosophie verlassen).” 22
21 Arendt, H. Heidegger the Fox // Essays in Understanding 1930–1954. New York: Shocken Books, 1994, S. 361. 22 Heidegger, M. Schwarzen Hefte (1942–1948) Bd. 97, S. 128.
60
“Leaving philosophy”
That the “truly thinking” refers to authentic thinking, t.i., think‐ ing that is more thinking, reveals the following passage: “But when philosophy in its history of the essence (Wesensgeschichte) is completed and therefore it announces to itself the indigence of think‐ ing (die Not des Denkens) insofar it experiences the to-be-thought (das zu Denkende) as the not-thought (das Ungedachte) [..], it is then when thinking has to leave “philosophy”. That means: thinking has to become more thinking (das Denken muβ denkender werden).” 23
Heidegger goes on in explaining what “thinking that is more think‐ ing” means in the following way: Thinking “becomes more thinking in making the step backwards of the “Transcendence” – but where and how [does it make this step]? However, it is done in such a way that it cannot be compared to the form and the claim of the “Philosophy” [..].” 24 Elsewhere Heidegger reveals where his own step backwards is to be found: “The step backwards is made in “Being and time”: [it is a step] out of the representation of the beings as beings back to saying the truth of the be‐ ing (aus dem Vorstellen des Seienden als des Seienden zurück in die Sage der Wahrheit des Seins); this saying is the saying of the oblivion of the difference (diese Sage ist die Sage der Vergessenheit des Unterschieds). The step out of the representation of beings in itself and as such into thinking of the being is the only thought of my thinking (Der Schritt aus dem Vorstellen des Seienden an sich und als solchen in das Denken des Seins ist der einzige Gedanke meines Denkens). If there is a step forward in it, than it is only in the step backwards: [it is] the only saying of that what has already bean said with “Being and Time” (Wenn es darin einen Fort-schritt gibt, dann ist es nur das Innebleiben im Schritt zurück: die einfache Sage dessen, was mit “Sein und Zeit” schon gesagt ist.)” 25
Trying to interpret this passage one should not easily assume that Heidegger is being modest here about the only thought he has ever had or quite the opposite – praising himself about the greatness of this thought, it is rather the preoccupation about his further think‐
23 Ibid., S. 163. 24 Ibid. 25 Ibid., S. 318–319.
61
Elvīra Šimfa
ing that we should see here. He admits that the thinking in the au‐ thentic sense as stepping backwards is performed in the “Being and Time” but the problem that Heidegger seems to indicate here is that this path is no longer open for him in the sense that he cannot stay in this step backwards. He indicates it with words that the important Saying “has already bean said with “Being and Time”” and that this movement of the thought in “Being and Time” is already somehow concluded which is why he refers to is a “thought (ein Gedanke)”, i.e., something that has already bean thought. In addition to this, earlier in this same passage that I already quoted Heidegger states that: “Who is trying to make the step backwards in thinking, is in the danger to stay too long in the regions he has actually already left.” 26 Therefore Heidegger seems to hold that his thinking cannot be caught up in something that is in at least some sense completed like “Being and Time”. What does it mean for Heidegger to continue thinking and not to be caught up in the movement he made in “Being and Time”, he seems to suggest latter on in the Vol. 97 of the BN and from that follows that the possibility of the continuation of thinking is opened up right there in “Being and Time”. Heidegger writes: “The encounter with Hölderlin comes from “Being and Time” and stays there. Who has not repeatedly thought through every word of the in many ways clumsy text “Being and Time” will never understand something about this poet passing by the borderline of the domain of thinking (Vorbeigang dieses Dichters an der Grenzmark der Zone des Denkens).” 27
I suggest that we understand this passage not as Heidegger admit‐ ting the influence of Hölderlin in the “Being and Time” but rather as Heidegger describing his thinking in the “Being and Time” as thinking that reaches till the very borders of thinking, explores the thinking in its full depth. But this does not mean that there is no further way to go in thinking since few lines before this passage Heidegger states that “much more difficult than experiencing the
26 Ibid., S. 318. 27 Heidegger, M. Schwarzen Hefte (1942–1948) Bd. 97, S. 319.
62
“Leaving philosophy”
deeply thought is to get to the calmly thought (viel schwehrer al sein tief Gedachtes zu erfahren, ist, in das ruhige Denken zu gelangen)” 28. This does not mean though that Hölderlin does not have an enor‐ mous impact on Heidegger, because he does, as the editor of the BN Peter Trawny states in the epilogue of the Vol. 97. – “Often Heidegger writing takes a form that imitates Hölderlin’s language and tone.” 29 Heidegger might think that the continuation of his thinking is related to Hölderlin but not in the sense of following Hölderlin but rather thinking with him. It seems that from Heideg‐ ger’s perspective – they share thinking. At some point Heidegger writes that Hölderlin’s poem “In lieblicher Bläue blühet..” in its first 17 verses contains Heidegger’s childhood in his “Schwabian home” which “shelters an early thinking that did not know its direction” but which “inevitably increased to the turmoil of the abys which slowly came together in one sole question that had to enquire into the most questionable (the truth of the being)” 30. Coming back to Heidegger’s perception of Kant’s philosophy we have to admit that its actual significance lies not within the relation of Heidegger to Kant but within the relation of Heidegger to his own work. In his own work Heidegger places the importance on thinking on himself and this does ensure that there is in fact no rupture in his thinking; as he admits in the comment about Hölder‐ lin’s poem, even his possibly most important influence Hölderlin does not offer him something fundamentally new. Heidegger’s quite radical distinction between philosophy and thinking (he states that the distance between them is “big enough [..] when there is a brake between them” 31) presupposes that philosophy requires some dis‐ tance from ones thinking in this or the other form and in this way it ruptures the thinking. Which is visible through the revolution Rousseau caused in Kant’s thinking. This does not mean that phi‐ losophy is therefore insignificant, quite the opposite (and Heidegger admits Kant’s significance several times) but the problem is rather that philosophy being this way remains an activity of an overseer of a gallery of historical portraits, it cannot live up to the time in the 28 29 30 31
Ibid., S. 318. Ibid., S. 522. Heidegger, M. Schwarzen Hefte (1938–1939), Bd. 95, S. 27. Heidegger, M. Schwarzen Hefte (1942–1948) Bd. 97, S. 241.
63
Elvīra Šimfa
sense of not being able to keep up with time, this is only possible through continuous active process of thinking. This can be a way to explain why Heidegger experiencing the particular times that he did and feeling the necessity to keep up with these times, took a distance to philosophy.
64
II. Wahrheit – Dasein – Geltung
.
Harald Seubert
Genesis und Geltung im Spannungsfeld zwischen Edmund Husserl und Martin Heidegger 1
Dr. Manuela Massa in Verbundenheit zugeeignet
1. Charakteristik Die Beziehung zwischen Heidegger und Husserl ist keineswegs durch die Notizen aus den ‚Schwarzen Heften‘ auch nur elementar hinreichend charakterisiert. Zu dieser Verkürzung hat der Heraus‐ geber der ‚Schwarzen Hefte‘ im Rahmen der Heidegger-Gesamtaus‐ gabe, auch durch seine begleitende, in sich widersprüchliche Publi‐ zistik, Irritierendes, vielleicht aus eigener Irritation, beigetragen. Ähnlich wie bei Dilthey ist auch bei Husserl die Biographie äu‐ ßerlich unspektakulär, eine klassische Gelehrtenexistenz, in die erst in den letzten Lebensjahren das barbarische Dunkel der Nazifizie‐ rung der Universität einbricht. Geboren 1859 in Mähren, absolviert Husserl in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein Studium der Mathematik und Philosophie in Leipzig, dann in Berlin. Er pro‐ moviert im Winter 1882/83 in Wien, weitere Studien bei Franz Bren‐ tano schließen sich an. Brentano wird vor allem durch den Begriff der Intentionalität ein wichtiger Anreger. Husserl habilitiert sich in Halle an der Saale mit einer Studie ‚Über den Begriff der Zahl‘ im Jahr 1887. Seit der Habilitation lehrte Husserl über eine lange Privatdo‐ zentenzeit von vierzehn Jahren in Halle / Saale. Es ist die Zeit ei‐ ner beeindruckenden philosophischen Arbeit, die Phase, in der das Hauptwerk, die ‚Logischen Untersuchungen‘, entsteht und 1900 er‐ scheint. 1901 wird Husserl dann zum außerordentlichen Professor in Göttingen berufen, 1906 mit 47 Jahren, damals sehr spät!, wird er 1 Vgl. dazu H. Seubert, Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts, Baden-Baden 2021.
67
Harald Seubert
Ordinarius. Seit 1916 bis zu seiner Emeritierung 1928, mit 69 Jahren, lehrt Husserl in Freiburg im Breisgau. Die späten Jahre des Emeritus machen ihn nicht nur in Deutsch‐ land, sondern auch an seiner Heimatuniversität zunehmend zum Fremden. Paris, und dann vor allem Prag, werden Orte, an denen der als Jude Verfemte noch lehren kann. Husserls spätes Denken ist ein Zeichen der Vernunft in vernunftwidriger Zeit. Sein Schüler und Freiburger Nachfolger, im Jahr 1933 Rektor der Freiburger Universität, Martin Heidegger, ist vielfach bezichtigt worden, Husserl so fundamentale Rechte, wie den Zugang zur Uni‐ versität, verweigert zu haben. Dies ist in dieser Form nicht in jedem Fall haltbar. 2 Doch Heidegger stellte sich auch nicht hinter Husserl, und dem Begräbnis des am 27. April 1938 in Isolation gestorbenen Lehrers blieb Heidegger fern. Die Widmung an Husserl aus ‚Sein und Zeit‘ strich er in einer Nachauflage, nahm sie aber später wie‐ der auf. Husserl sah in Heidegger zeitweise den „Antipoden“. Das Verhältnis in den späten Jahren war zumindest ambivalent. Husserls spätere Jahre waren auch durch Heideggers fulminante Lehrerfolge überschattet: vertraute Briefwechsel sprechen davon, dass nur noch fremdsprachige Ausländer zu ihm kamen, die philo‐ sophische jeunesse dorée aber zu Heidegger ging. 3 Der Alte werde aus seinen Analysen nicht mehr zur systematischen Fundierung der Grundwissenschaft kommen, lauteten Urteile des Hörerkreises Husserls. Wie bedeutsam gerade die verschiedenen Anläufe und ihr relatives Scheitern sind, erschließt sich der Nachwelt leichter als der Mitwelt. Husserl muss Gerechtigkeit erfahren, was schon im Gange ist. Er löst sich heute neu aus dem Schatten Heideggers, was keines‐ wegs nur mit Heideggers politischem Sündenfall zu tun hat. Husserl ist mit seiner Konzeption der Philosophie als strenger Wissenshaft in einer Phase der einander befehdenden Weltanschauungen auch
2 Dass Edmund Husserl aber gegen Ende seines Lebens weitgehend im eigenen Land exiliert war und dass Rektor Heidegger dazu schwieg, ist unverkennbar. Eine tieflotende und zugleich literarisch angemessene Husserl-Biographie fehlt bislang, vgl. aber die gute Übersicht in S. Luft, M. Wehrle (Hg.), Husserl-Hand‐ buch, Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart 2017, S. 8–39 mit weiterer Literatur. 3 In Husserls späten Briefen sind Ungenügen und Enttäuschung über die zuneh‐ mende Isolierung unverkennbar. Vgl. dazu auch R. Ingarden, Schriften zur Phä‐ nomenologie Edmund Husserls, hg. von W.Galewicz, Tübingen 1998, S. 7 ff.
68
Genesis und Geltung im Spannungsfeld
aufgrund seiner strengen Sachlichkeit angesiedelt, ähnlich wie Kant, dank einer Wirkung, die weit über orthodoxe phänomenologische Rezeptionsmuster hinausreicht. Husserl strahlte allerdings, nüchtern betrachtet, schon zu seinen Lebzeiten weit in einen vielfältigen und gesamteuropäischen Schü‐ lerkreis aus. Zu seinen Schülern gehören Phänomenologen wie Lud‐ wig Landgrebe 4 und Eugen Fink, aber auch Edith Stein und Roman Ingarden, Oskar Becker (der die Mathematikphilosophie neu be‐ gründen sollte), Jan Patočka, der philosophische Mentor der Charta 77, der Soziologe Alfred Schütz, der Geistesgeschichtler Aron Gur‐ witsch, die Editoren seines Œuvres werden sollten. Alexandre Ko‐ jève und Alexandre Koyré gehörten zumindest zeitweise zu Hus‐ serls Hörern. Und damit sind nur Namen der späteren Freiburger Schule benannt, die von der früheren Phänomenologengeneration in Göttingen mit Alexander Pfänder, Moritz Geiger, Adolf Reinach zu unterscheiden ist. Als eigene hochkarätige Gestalt ist Max Sche‐ ler, in seinem produktiven, spekulativ explosiven Umgang mit den Schultraditionen, besonders hervorzuheben. Die ‚Logischen Untersuchungen‘ waren für den frühen HusserlKreis normativ. Sprichwörtlich wurde das Votum: „Zu den Sachen selbst“. Die transzendentale Wendung der Phänomenologie in Hus‐ serls ‚Ideen I‘ (Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phä‐ nomenologischen Philosophie) vollzieht sich dreizehn Jahre später. Wahrgenommen wurde sie als Bruch, der in Husserls eigener For‐ schung indes lange vorbereitet war und in der Freiburger Zeit zur transzendentalen Phänomenologie führte. 5 An Husserls Werkstruktur ist charakteristisch, dass nach den ‚Ideen I‘ im Grunde alle publizierten Schriften eher einen in die Phänomenologie einführenden Charakter haben, was zugleich be‐ deutet, dass es um je verschiedene Annäherungen an den Ur‐ 4 P. Trawny, Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, Frank‐ furt / Main 2015, ders., Heidegger-Fragmente. Eine philosophische Biographie, Frankfurt / Main 2018. 5 Vgl. ibid., hoch interessant ist die gemeinsame Arbeit am Encyclopedia Britan‐ nica-Artikel über Phänomenologie, vgl. dazu W. Biemel, Husserls Encyclopedia Britannica-Artikel und Heideggers Anmerkungen dazu, in: W. Biemel, Gesam‐ melte Schriften, Band 1. Schriften zur Philosophie, Stuttgart 1996, S. 173–209; sowie S. G. Crowell, Normativity and Phenomenology in Husserl and Heideg‐ ger, Cambridge 2013, S. 48 ff.
69
Harald Seubert
sprungspunkt, das Origo der sich zeigenden Phänomene, geht. Phä‐ nomenologie ist für Husserl gerade nicht eine Denkrichtung neben anderen, sondern eine Haltung und innerphilosophisch eine Ein‐ stellung, die die Sachen sehen lasse. Fichtesche Wissenschaftslehren weisen eine ähnliche Verfasstheit auf, 6 auch Paul Natorps ‚Philoso‐ phische Systematik‘ folgt dieser Fragestellung der Suche nach dem Ursprungspunkt. Husserls phänomenologische Analysen gehen ins Unendliche der Detaillierung, allerdings ständig um das Grundlegungsproblem bekümmert, aber auch mit ständigem begleitendem Selbstzweifel durchsetzt, der Tag für Tag sein Forscherleben durchzieht. Überlie‐ fert sind 45.000 Seiten in Gabelsberger Stenographie engbeschrie‐ bener Nachlassnotizen. Seine Schülerinnen und Schüler waren mit diesem „Nachlass zu Lebzeiten“, den Manuskripten, intensiv be‐ schäftigt. Edith Stein etwa klagte über diese weitgehende Absorp‐ tion, die für mehrere Generationen gereicht hätte. 7 Die ‚Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusst‐ seins‘ (edierte Heidegger), ‚Formale und transzendentale Logik‘, ‚Cartesianische Meditationen‘, ‚Krisis‘, ‚Erfahrung und Urteil‘ (Edi‐ tion durch Landgrebe) 8 bilden nur das publizierte Œuvre zur Zeit der transzendentalen Phänomenologie zu Lebzeiten Husserls ab. Husserls Ausarbeitungen sind von einem insistierenden for‐ schenden Fragen angetrieben, einer Klärung der Sache und ihrer Begründung, die von einer „Arbeitsphilosophie“ sprechen lassen. Die Beben der eigenen Zeit und der Erfahrung der Moderne blie‐ ben bei Husserl, anders als bei Heidegger, im Hintergrund. Doch in der Wahrnehmung der Zeitgenossen ging die Phänomenologie aufs engste mit den Innovationen neuer Kunst, ihrem illusionslo‐ sen Draußen (au dehors) einher. Eine deutlichere Absage an alle Weltanschauungsphilosophie als bei Husserl lässt sich kaum den‐ ken. Welche Unerschütterlichkeit aus dem Denken gewonnen wer‐ den kann, ist bei ihm paradigmatisch zu erkennen. Schon die An‐ 6 Dazu G. Zöller, Fichte lesen, Stuttgart 2013. 7 Vgl. dazu E. Stein, Selbstbildnis in Briefen Band III. Briefe an Roman Ingarden, Freiburg / Br., München 2001, S. 87 ff. u.ö. Diese Briefe sind ein ausgezeichneter Spiegel der konkreten Zusammenarbeit im Husserl-Umkreis. 8 Für Gespräche über die späten Jahre seines Großvaters danke ich Dr. Dr. Jobst Landgrebe herzlich.
70
Genesis und Geltung im Spannungsfeld
lage seiner Ausarbeitungen und Schriften gibt überdeutlich zu ver‐ stehen, dass Husserl kein literarischer Philosoph ist, kein „Dichter‐ philosoph“, sondern, dass er in immer neuen Bemühungen alleine auf die Apodiktizität und Wahrheitssuche zielt. Der ungeheure Bestand dieser Manuskripte konnte nur auf aben‐ teuerlichsten Wegen durch den Jesuitenpater Van Breda nach Bel‐ gien gelangen: Eine große Kulturleistung gegen die Zeit. In Leuwen wurde das Husserl-Archiv eingerichtet, wo seit 1950 die HUSSER‐ LIANA zu erscheinen beginnen, die den Nachlass umfassend do‐ kumentierende Gesamtausgabe. Manche der wichtigsten HusserlSchüler gerieten zugleich in die Nähe Heideggers: Eugen Fink oder Walter Biemel wären zu nennen.
2. Husserls Anfänge Um die transzendentale Phänomenologie zu verstehen, scheint es sinnvoll, auf Husserls Anfänge zurückzugehen. Begonnen hatte er mit seiner ‚Philosophie der Arithmetik‘, die auf der Halleschen Ha‐ bilitationsschrift ‚Über den Begriff der Zahl‘ (1887) basierte. Hier wird die Unterscheidung zwischen dem psychologischen und dem logischen Ausgangspunkt erstmals klar umrissen. Zahlbe‐ griff und Zählen werden zunächst als elementare psychische Denk‐ vorgänge exponiert. Den Begriff der Zahl kann man als eine „Viel‐ heit von Einheiten“ definieren. Damit muss schon auf den Begriff der Vielheit Bezug genommen werden. Entscheidend ist weder die für sich isolierte Einheit noch sind es die Vielheiten. Es ist vielmehr das Verbinden. Der Relationsbegriff als Handlung nimmt also be‐ reits im Versuch einer Rekonstruktion der Mathematik im Licht ihrer Vollzugsweise die erste Position ein. „Geistige Schöpfungen sind die Zahlen, sofern sie Resultate von Tätigkeiten bilden, die wir an konkreten Inhalten üben; aber was diese Tätigkeiten schaffen, das sind nicht neue absolute Inhalte, die wir dann irgendwo im Raume oder in der ‚Außenwelt‘ wiederfinden könnten; sondern es sind eigentümliche Relationsbegriffe, die immer wieder nur erzeugt aber keineswegs irgendwo fertig vorgefunden werden können“. 9 Ur‐ 9 Husserliana (Hua) XII, 280 ff. Dazu M. Hartimo, ‚Philosophie der Arithmetik‘, in: Husserl-Handbuch, a. a. O., S. 48 ff.
71
Harald Seubert
sprung des Zahlbegriffes als eines Inbegriffs ist es daher, dass „ein einheitliches Interesse“ vollzogen wird und dass „mit ihm zugleich ein einheitliches Bemerken verschiedene Inhalte für sich heraushebt und umfasst“ (Hua XII, S. 330 f.). 10 Daran schließt der Begriff der Reflexion an, welche die Summierung von einer Vielheit auf eine Einheit aller erst bemerkbar macht und heraushebt. Von dieser zeichenhaften Lesart der Zahl her ergibt sich der Über‐ gang in ein genuin logisches Interesse, zur Auffassung der Logik als elementarer Wissenschaftslehre. Dabei üben die ‚Logischen Unter‐ suchungen‘ grundlegend Kritik an der psychologistischen, genealo‐ gischen Lesart der Logik. Husserl gibt Jahrzehnte später in der Vorlesung aus dem Som‐ mersemester 1924 (Phänomenologische Psychologie: Psychologie der Eidetik) einen Rückblick auf die ‚Logischen Untersuchungen‘, um den durchlaufenen Weg transparent zu machen. „Es handelte sich in den einzelnen Untersuchungen des zweiten Bandes um eine Rückwendung der Intuition auf die logischen Erlebnisse, die sich in uns, wenn wir denken, abspielen, die wir aber gerade dann nicht sehen, nicht im aufmerkenden Blick haben, wenn wir die Denktä‐ tigkeit in natürlich ursprünglicher Weise vollziehen [. . . ]. Es galt, dies verborgen sich abspielende Denkleben durch nachkommende Reflexion in den Griff zu bringen und sie in getreuen deskriptiven Begriffen zu fixieren; es galt ferner, das neu sich ergebende Problem zu lösen, nämlich verständlich zu machen, wie sich in der Leistung dieses inneren logischen Erlebens die Gestaltung all jener geistigen Gebilde vollzieht, die im aussagend urteilenden Denken hervortre‐ ten“ 11 Hervortreten sollten damit Urteil und Schluss, als objektiv geistige Prägemuster.
10 Husserl, Briefwechsel, hg. von K. Schuhmann, Dordrecht 1994 Band 1, S. 158; siehe auch Husserl, Studien zur Arithmetik und Geometrie. Texte aus dem Nachlass (1886–1901), hg. von I. Strohmeyer, Husserliana XXI, Den Haag 1983, S. 244 ff. 11 Husserl, Phänomenologische Psychologie, Vorlesungen Sommersemester 1925, hg. von W. Biemel, Husserliana IX, Den Haag 1962, S. 18 und 20 f.
72
Genesis und Geltung im Spannungsfeld
3. Psychologismuskritik und ‚Logische Untersuchungen‘ Husserls Phänomenologie wird durch die Auseinandersetzung mit dem in der philosophischen Szenerie seiner Zeit dominanten Psy‐ chologismus auf den Weg gebracht. Es ist Husserls zentrales Anliegen, eine ‚reine Logik‘ als Wissen‐ schaftslehre, also: als Lehre von den Bedingungen wahrer Aussagen strictu sensu, von der Genesis zu unterscheiden; ob diese nun Denk‐ gesetze ermittelt, oder ob sie, wie zeitweise bei Dilthey, das Unter‐ fangen einer deskriptiven Psychologie verfolgt. Husserl zeigt, dass die logischen Formen nicht aus der faktischen Natur der innerpsy‐ chischen Denkvollzüge, auch nicht aus Lebensbedürfnissen, herzu‐ leiten sind. Dabei trifft Husserl im Blick auf die Logik selbst eine Unterscheidung zwischen ‚normativer‘ Logik: sie ist die präskrip‐ tive, vorschreibende Kunstlehre wissenschaftlichen Erkennens und enthält Grundsätze wie: „Ein Urteil soll nur bei voller Einsicht in den beurteilten Sachverhalt gefällt werden!“, und ‚reiner Logik‘. Die normativen Sätze der Kunstlehre beruhen auf theoretischen Voraus‐ setzungen, die in dem Feld der reinen Logik im Ganzen erforscht und begründet werden. 12 In den ‚Prolegomena‘ seines Werkes geht es Husserl darum, psy‐ chologistische Fehlschlüsse, die in gewissem Sinn auch naturalis‐ tische Fehlschlüsse sind, zu widerlegen. Das entscheidende Argu‐ ment besagt, dass psychologische Denkgesetze immer nur zur Ver‐ allgemeinerung von Tatsachenbehauptungen gelangen, die auf Er‐ fahrungswerten basieren. 13 Sie führen nicht weiter als zu „Wahr‐ scheinlichkeiten höchster Dignität“, wohingegen logische Sätze wie der Satz vom Widerspruch unter allen Umständen, schlechterdings situationsinvariant (im Rang mathematischer Grundsätze oder pla‐ tonischer Ideen) Geltung beanspruchen können. Daraus ergibt sich
12 Vgl. Logische Untersuchungen, Hua XXII, S. 166 ff., dazu D. Zahavi, Intentio‐ nalität und Konstitution. Eine Einführung in Husserls Logische Untersuchun‐ gen, Kopenhagen 1992, S. 53 ff., siehe auch U. Melle, Objektivierende und nichtobjektivierende Akte, in: S. Ijseling (Hg.), Husserl-Ausgabe und Husserl-For‐ schung, Dordrecht 1889, S. 35 ff. 13 Dazu Bernet, Kern, a. a. O., S. 28 ff., sowie H. Peucker, ‚Logische Untersuchun‐ gen‘, in: Husserl-Handbuch, a. a. O., S. 55 ff.
73
Harald Seubert
eine ständige Verwechslung durch den ‚psychologistischen Logiker‘, der Idealgesetz, logischen Grund einerseits und Realgesetz, Real‐ grund andrerseits miteinander vermischt. In Auseinandersetzung mit Benno Erdmann, dem Kommentator der Kantischen ‚Kritik der reinen Vernunft‘, hält Husserl fest, lo‐ gische Gesetze ließen sich nur im Blick auf die Menschengattung behaupten, darüber hinaus zu springen sei eine Vermessenheit. Da‐ mit wird einerseits ein nicht hintergehbares skeptisches Motiv ein‐ geführt. Denn es wird geleugnet, dass allgemeinste Bedingungen der Möglichkeit unserer Erkenntnis überhaupt der Erkenntnis gegeben seien. Eine rein-logische Wahrheit „an sich“ ist, wie Husserl festhält, gleichwohl „was sie ist“, sie behält, in welchem Zusammenhang auch immer, ihr ideales Sein, ihre uneingeschränkte Geltung. In diesem Sinn spricht er von einem Reich der Ideen, das als axiomatisch hier‐ archisches System aufgebaut sein soll. Man kann mit Husserl auch sagen (LU § 35), die „rein logischen Einheiten (bildeten) einen ideal geschlossenen Inbegriff von generellen Gegenständen, denen das Gedacht- und Ausgedrücktwerden (nur) zufällig“ ist. 14 Damit ist zu fragen, wie diese reine Logik nun in realen Erkennt‐ nissen und ihren Vollzügen begegnet, ohne dass sie ihre ideale Rein‐ heit aufgeben muss. Husserl spricht in diesem Zusammenhang von der Vereinzelung einer idealen Spezies, ihrer Spezifikation in indivi‐ duellen Einzelfällen. Dass ein ideal-wahrer Satz auch normativ bzw. in einem jeweiligen Urteilsvollzug real werden kann, beruht also darauf, dass er die ideale Bedingung für real vollzogene Urteile ist. Husserl spricht hier von der ‚idealen Möglichkeit‘. In keiner Weise sind aber die logischen Allgemeinheiten von sich aus auf ‚subjektive Erlebnisse‘ beziehbar. 15 Es zeigt sich aber, dass Husserl in der ersten Auflage der ‚Logi‐ schen Untersuchungen‘ diese reine Scheidung so nicht durchhalten kann. Dies hängt wesentlich damit zusammen, dass das ideale Sein als ein letzter Punkt (wie in der platonischen ‚Anhairesis‘ der Hypo‐ thesen 16) nur in einer Phänomenologie des Denkaktes aufgewiesen 14 Dazu näher H. Peucker, Von der Psychologie zur Phänomenologie. Husserls Weg zur Phänomenologie der Logischen Untersuchungen, Hamburg 2002. 15 Dazu G. Heffernan, Bedeutung und Evidenz bei Edmund Husserl. Das Verhält‐ nis zwischen der Bedeutungs- und Evidenztheorie der ‚Logischen Untersuchun‐ gen‘ und der formalen und Transzendentalen Logik, Bonn 1993. 16 Platon, Politeia 532 d 2 ff.
74
Genesis und Geltung im Spannungsfeld
werden kann. Ist Husserl also in seinen ‚Logischen Untersuchungen‘ in den bekämpften Psychologismus zurückgefallen? Ihn selbst hielt diese Frage nachhaltig in Atem. Letzten Endes versuchte er, diesem Problem in der 2. Auflage zu entkommen. Ein Schlüsseltext ist hier der ‚Entwurf einer Vorrede‘, der erst nach seinem Tod publiziert wurde und in dem er darauf hinweist, dass ‚de facto‘ die Analysen als „Wesensanalysen“ durchgeführt worden seien, aber nicht überall in einem gleichmäßig klaren reflektiven Bewusstsein. Wesensana‐ lysen sind, im Sinn der VI. Logischen Untersuchung, „apodiktisch evidente Ideenanalysen“. 17 Damit wäre die Erste Wissenschaft der Phänomenologie noch immer in einer eidetisch-deskriptiven Psy‐ chologie verortet. Husserl zielte freilich auf eine konsequente Zu‐ rückweisung des Psychologismus, um zu den Sachen selbst zu ge‐ langen und den Infiltrationen von Weltanschauungen zu entgehen. Der frühe Heidegger schon wählt diesen Weg nicht. Er bahnt sich seine Position zwischen Wissenschaft und Weltanschauung, als eine aitiologische Archäologie. Die Phänomenologie sollte auf eine reine eidetische Logik, eine Art ‚mathesis universalis‘, gegründet werden. Sie sollte die Formwis‐ senschaft für alle mögliche einzelwissenschaftliche Erkenntnis sein, die aber stufenweise gewonnen wird, nicht von einem Prinzip aus, sondern in einer methodisch kontrollierten, umsichtigen Deskrip‐ tion, bei der keine einzige Stufe übersprungen werden darf. Dabei hat Husserl die Stufen im Groben so vorgezeichnet: 1. Formenlehre der Bedeutungen, 2. Konsequenzlogik (Schlusslogik) 3. Theorie der (überhaupt nur) möglichen Theorieformen. Der Nachvollzug dieser Stufen kann zur Klärung des Gedankenganges beitragen: Ad 1.: Die Formenlehre erschließt sich als eine philosophische Grammatik von Bedeutungen, die nicht auf faktische Sprachen be‐ zogen wird, sondern auf die Idee des Grammatischen selbst. Es geht um Begriffe, „welche die Idee der theoretischen Einheit konstitu‐ ieren“ und beispielsweise um die Frage kreisen, wie selbständige und unselbständige Bedeutungen miteinander synthetisiert werden können. Unter den sehr komplexen Satz- und Schlussformen ist nun freilich zu unterscheiden. Es sind diejenigen hervorzuheben, die über das Schließen als ‚generelle Wahrheiten‘ anerkannt werden können. 17 Dazu Heffernan, a. a. O., S. 158 ff.
75
Harald Seubert
Ad 2: In ‚Formale und transzendentale Logik‘, also in einer Fort‐ setzung der ‚Logischen Untersuchungen‘, kommt die Unterschei‐ dung zwischen Konsequenzlogik und formaler Wahrheitslogik zum Tragen, die nach Husserl in der bisherigen Geschichte logischer For‐ men völlig übersehen wurde. In der Konsequenzlogik würde der Satz vom Widerspruch besagen: „Von zwei kontradiktorischen Ur‐ teilen sind nicht beide als eigentliche Urteile möglich, nicht beide zur Evidenz der Deutlichkeit zu bringen“ – dies ist auf der Grund‐ lage der Wahrheitslogik so zu fassen: „Von zwei kontradiktorischen Urteilen ist notwendig eines wahr, das andere falsch.“ Ad 3.: Die reine Logik muss auf ihrer höchsten Stufe eine Theorie der überhaupt möglichen Theorieformen sein. Die Skizze ist hier besonders grobflächig, was auch damit zusammenhängt, dass Hus‐ serl keine Vorbilder für dieses Unterfangen erkennt und weiß, dass er sich weitgehend in Terra incognita bewegt. Auch hier ist es einfacher, der Ausarbeitung in der ‚Formalen und transzendentalen Logik‘ zu folgen: Hier trifft Husserl die Un‐ terscheidung zwischen ‚formaler Apophantik‘: eben reiner Logik und ‚formaler Ontologie‘, die auf den formalen Gegenstand Bezug nimmt. Beide stehen in einer engen Entsprechung zueinander, sind aber nicht miteinander identisch. Der Grammatik entspricht die Morphologie von möglichen Gegenstandskategorien (Einheit, Viel‐ heit, etc.), der Konsequenzenlogik entspricht das Verhältnis von Sein und Nichtsein von Gegenständen (‚immer‘; ‚überhaupt‘). Dar‐ auf beruht auch die Unterscheidung zwischen Urteilen über Urteile und Urteilen über Gegenstände, wobei beides nicht in ein und der‐ selben ‚Einstellung‘ gewusst werden kann. 18 Phänomenologie ist für Husserl zu diesem Zeitpunkt nahezu gleichbedeutend mit einer Erkenntnistheorie für die reine Logik. Sie „erschließt die ‚Quellen‘, aus denen die Grundbegriffe und die idealen Gesetze der reinen Logik ‚entspringen‘, und bis zu wel‐ chen sie wieder zurückverfolgt werden müssen, um ihnen die für ein erkenntnistheoretisches Verständnis der reinen Logik erforder‐ liche ‚Klarheit und Deutlichkeit‘ zu verschaffen“. Nicht Platonisches ‚sozein ta phainomena‘, die akribeia, die auf die Konkretion zielt,
18 LU § 52, vgl. dazu auch E. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 21970, S. 163 ff.
76
Genesis und Geltung im Spannungsfeld
sondern die Aufsuchung der logischen Ideen in ihrer idealen, evi‐ denten Gegebenheit, ist zunächst die Aufgabe. 19 Es wird aber schon in dieser frühen Zeit die Husserl bewegende Frage gestellt, wie es möglich ist, „dass menschliches Denken, wenn es nach logischer Methode verfährt, eine an sich seiende Dinglich‐ keit, Natur, oder ein an sich Seiendes der Mathematik trifft?“ (Hua XXIV, S. 401). Damit verbindet sich das seinerzeit viel diskutierte Problem der ‚Transzendenz‘: Wie kommt das phänomenologische Bewusstsein zu der Realität der Außenwelt, eine Frage, die sich für Diltheys Lebensbegriff durch die Einfühlung in andere Lebenszu‐ sammenhänge erübrigt hatte. Dabei muss man sich allerdings fra‐ gen, ob sie nicht eher ignoriert als gelöst worden war. Denn „was kümmern sich die Sachen an sich um unsere Denkbewegungen und um die sie regelnden logischen Gesetze?“ (Hua II, S. 3). Tran‐ szendenz im strengen Sinn bedeutet die Beziehung der Erkenntnis auf Gegenstände, also auf nicht Erkenntnisförmiges. Wo und wie könnte man, so fragt sich Husserl, davon sprechen, dass ein dem Bewusstsein gegenüber Transzendentes getroffen wird? Und er ant‐ wortet: „[W]enn die Beziehung eben selbst zu geben wäre, als etwas zu Schauendes“ (Hua II, S. 37). Erst mit den ‚Ideen‘, der Durchführung seiner Untersuchungen seit 1905, dringt Husserl zu der Einsicht hindurch, dass auch das intentionale Korrelat eines Aktes, also der Gegenstand, so, wie er eben in diesem Akt intendiert wird, als evident gegeben erscheint. Husserl spricht an prominenter Stelle vom ‚Korrelationsapriori‘. 20 In der Fluchtlinie dieser Fragestellung liegt es, dass Husserl in den Jahren während der Ausarbeitung seiner ‚Ideen‘ von einer ‚tran‐ szendental-phänomenologischen Aufgabe‘ spricht, davon, dass die Korrelationen zwischen Akt, Bedeutung und Gegenstand zu erfor‐ schen seien. Deshalb richtet sich der Fokus nun auf das Bewusstsein als Evidenzhorizont der Phänomenologie. Das Bewusstsein ist im Sinn der Phänomenologie niemals als punktuelle Identität verfasst, sondern als punktuelle Evidenz. Es ist vielmehr ein Strom der punk‐ tuellen Evidenz. Eine etwas längere Passage sei zitiert, in der Husserl 19 Vgl. dazu L. Embree und Th. Nenon (Hg.), Husserls Ideen, Dordrecht 2013, sowie A. Staiti (Hg.), Commentary on Husserl’s Ideas I, Berlin 2015. 20 Vgl. hierzu auch die ‚Phänomenologische Fundamentalbetrachtung. Ideen zu einer reinen Phänomenologie‘, Hua II, S. 56 ff.
77
Harald Seubert
dieses Thema anreißt: „Und die Aufgabe ist nun doch die, inner‐ halb des Rahmens reiner Evidenz oder Selbstgegebenheit allen Ge‐ gebenheitsformen und allen Korrelationen nachzugehen [. . . ]. Und natürlich kommen da nicht nur die einzelnen Akte in Betracht, son‐ dern auch ihre Komplexionen, ihre Zusammenhänge der Einstim‐ migkeit und Unstimmigkeit und die darin zutage tretenden Teleolo‐ gien. Diese Zusammenhänge sind Einheiten der Erkenntnis, die als Erkenntniseinheiten auch ihre einheitlichen gegenständlichen Kor‐ relate haben. Auf diesem Wege gelangen wir schließlich auch zum Verständnis, wie das transzendente reale Objekt im Erkenntnisakt getroffen werden kann, als was es zunächst gemeint ist, und wie der Sinn dieser Meinung sich im fortlaufenden Erkenntniszusammen‐ hang schrittweise erfüllt. Wir verstehen dann, wie das Erfahrungs‐ objekt kontinuierlich sich konstituiert“ (Hua II, S. 13, 75). 21
4. Das Projekt der ‚Ideen‘ Wenn man auf die Fortschreibung des phänomenologischen Kon‐ zeptes in Husserls ‚Ideen‘ blickt, so muss man sich vor Augen füh‐ ren, dass Bewusstsein für Husserl immer intentional ist: es ist Be‐ wusstsein von etwas. Präfiguriert ist dies nicht erst bei Brentano. Schon bei Platon ist jedes ‚legein‘ immer ein ‚legein ti‘. 22 Die Phä‐ nomenologie begreift sich als Wesenslehre im Vorgriff auf die Ein‐ lösbarkeit des eidetisch erscheinenden Wesenskerns intentionalen Bewusstseins. Das Wesen ist im Bewusstseinsakt originär gegeben. Dies ist bei Akten des Fühlens und Wollens naheliegend. Komplexer sind alle Akte theoretischen Erkennens, in denen das Bewusstsein eine Art „Verheißung“ ist, angewiesen auf Bewährung. Husserl weist damit den intentionalen Akten eine innere Teleolo‐ gie zu. Sie zielen auf eine Erfüllung des theoretischen Vorgriffs ab. 23 21 Dazu N. de Warren, ‚Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomeno‐ logischen Philosophie‘, in: Husserl-Handbuch, a. a. O., S. 65 ff., insbes. S. 71 f. 22 Diese Referenz des Sagens hat bereits in Platons Abgrenzung von den ScheinErzeugungen der Sophistik einen prominenten Ort. Vgl. Seubert, Platon-An‐ fang, Mitte und Ziel der Philosophie, Freiburg / Br., München 2017, S. 150 ff. 23 Vgl. den klassisch gewordenen Aufsatz von E. Lévinas, Sur les ‚Ideen‘ de M. E. Husserl, in: Revue philosophique de la France et de l’Etranger, mars-avril 1929, S. 230–265.
78
Genesis und Geltung im Spannungsfeld
Die genuine Intentionalität jedweden Aktes hat eminente Implika‐ tionen. Sie macht den Psychologismus aus immanenten Gründen obsolet: Erlebnisse sind nicht in psychologische Reaktionen aufzu‐ lösen. Im Sinne der höchst naiven Aussagen, dieses Phänomen sei doch ‚eigentlich‘ nur auf eine psychische Realisierung aufzulösen. Ebenso wenig lässt sich mit Husserl das Cartesische „Fundamen‐ tum“ des ‚Ego cogito‘ als des Punktes einer eigentlichen Gewissheit festhalten, dem eine opake Außenwelt entgegensteht. Auch Dilthey hatte die cartesianische Unterscheidung von res extensa und res co‐ gitans unterlaufen, freilich in der Totalität des erlebt-erlebenden Le‐ bens, wohingegen es Husserl gerade darum geht, ‚Intentio‘ und ‚In‐ tentum‘ zu unterscheiden und korrelativ aufeinander zu beziehen. Apriorisch und vor aller Erfahrung ist deren Korrelation gegeben. Heideggers Konzept des in-der-Welt-Seins steht im Folgezusam‐ menhang Husserlschen Denkens. Aus dem Korrelationsapriori von Noesis und Noema wird im Bewusstseinsstrom ein noetisch-noematischer Kosmos des Seien‐ den gegeben, in dem sich zuallererst die verschiedenen Seinsregio‐ nen profilieren lassen. Wenn man mit grobem Pinsel diese Über‐ legungen nachzeichnet, so ergibt sich eine merkwürdige Ambiva‐ lenz. Methodisch folgt Husserl einem Grundzug der Ersten Philo‐ sophie, wiederum seit Platon, nämlich der Tendenz, sich aus der Doxa zu lösen und zu einem apodiktisch schlechthin gewissen Wis‐ sen zu kommen. In der Sache werden aber differenzierend jeweils einzelne intentionale Akte und Aktarten zur Abhebung gebracht. Der Phänomenologe kommt auf dieser Stufe noch nicht zu einem Begriff des Bewusstseins transzendierenden Seienden im Ganzen, oder auch nur des Ganzen der Erfahrung, wie man es im Rahmen Erster Philosophie und Metaphysik erwarten könnte. Die Eidetik findet die Phänomenologie der äußeren Welt im Bewusstsein. Dies hat freilich gute Gründe und ist keineswegs als Rückfall in den Psy‐ chologismus zu verkennen: Husserl erkennt, dass der eidetisch ver‐ fahrende Phänomenologe von Anfang an auf einer anderen Basis steht als der empirisch arbeitende Wissenschaftler. Dieser operiert im Sinne von ‚trial and error‘: ‚Versuch und Irrtum‘. Er ist an die Induktion gebunden. Die Phänomenologie dagegen greift immer auf das Wesen, das vollkommene Erscheinen des Eidos voraus. Es ist die auf Sachlich‐ keit gerichtete Phantasie des Phänomenologen, es sind Variabilitä‐
79
Harald Seubert
ten seiner Vorstellung, die ihn jeweils sichtbar Gegebenes fingieren und „umfingieren“ lassen. Das Wesen ist ja immer nur in „Abschat‐ tungen“ gegeben. Husserls berühmtes Beispiel ist der Tisch, der von verschiedenen Seiten in seinem raumzeitlichen Erscheinen sichtbar zu machen ist. Hier kristallisiert sich eine vielleicht überraschende Nähe Husserls zu Nietzsches Perspektivismus heraus, bei aller of‐ fensichtlichen Divergenz der philosophischen Grundhaltungen. Dem Verhältnis zwischen dem einzelnen Aktbewusstsein und dem Ganzen von Erfahrung wendet sich Husserl in jener Zeit immer wieder zu, unter anderem in seinem Text ‚Erfahrung und Urteil‘, den sein Schüler Ludwig Landgrebe erst aus dem Nachlass ediert hatte. 24 Darin wird verdeutlicht: Es gibt zwei Formen von Allgemeinheit, eine komparative Allgemeinheit, die jeweils entweder aktuiert wird oder nicht, und eine eidetische Allgemeinheit, die von vornherein alle denkbaren nur möglichen Fälle mit umfasst. Offenbleiben muss in alledem noch, wie jener Fußpunkt selbst in die Erkenntnis einzuholen ist, an dem die Variabilitäten ins In‐ variante umschlagen. Dies ist der systematische Ort, der bei Pla‐ ton als Anhairesis tes hypotheseis gilt, ein höchster Punkt der Be‐ trachtung. Jeweilige einzelne Seinsgeltungen werden durch andere, höherstufige eidetische Ansichten ‚durchstrichen‘, sie werden, wie Husserl auch sagt, ‚ent-täuscht‘. Eine Täuschung wird jeweils ab‐ gelegt. 25 Ein Horizontbewusstsein, das „Vermöglichkeiten“ schafft, bezeichnet diese Variierungen. In den ‚Ideen‘ spricht Husserl da‐ von, dass die Variierungsmöglichkeit selber tendenziell unendlich ist und auf den Begriff der Welt als des Inbegriffs des Seienden im Ganzen führt. Epoché und transzendentale Reduktion führen auf dieses erscheinende Eidos. Husserl war sich der Dignität der platonischen Tradition eher in‐ direkt bewusst. 26 Die Geschichte der Philosophie und deren große
24 E. Husserl. Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, hg. von L. Landgrebe, Hamburg 1999. 25 Dass Philosophie dort, wo sie den Weg von den Abbildern zum Urbild, von der Meinung (doxa) zum Wissen beschreitet, immer auch der Täuschungen sich entledigt, ließe sich auch bei Fichte und Hegel zeigen. 26 Dies hat schlicht damit zu tun, dass sein ideenhistorisches Interesse nicht be‐ sonders ausgeprägt war, vgl. dazu Husserl-Handbuch S. 135 ff. ‚Phänomenologie als Erste Philosophie‘ (Verf. F. Fabbinelli), S. 135 ff; Eidetik (J. Jansen), S. 142 ff.
80
Genesis und Geltung im Spannungsfeld
Texte spielen bei ihm keine zentrale Rolle. Er machte gleichwohl von jenem Begriff der ‚Theorie‘ Gebrauch, eng verbunden mit dem Begriff der Reflexion (re-flexio): Rückwendung, woraus / aus der er den Phänotyp des Phänomenologen gewinnt. Dieser ist „unbeteilig‐ ter Beobachter“. Er hält Abstand zum allgemein menschlichen Da‐ hinleben. Er befragt das Gegebensein der Phänomene, das Wesen für ein Bewusstsein. 27 Nicht dagegen ist er an Überzeugungen, an Normen, also an epochalen Begrenzungen der Geltungsdauer inter‐ essiert. Hier tut sich etwa der grundsätzliche Hiat auf: Philosophie ist nicht Weltanschauung. Der Epoché-Begriff selbst ist eher in der stoi‐ schen Ethik verankert. 28 Er bedeutet bei Husserl so viel wie ‚Innehal‐ ten‘: ein Inhibieren und Außer-Kraft-setzen. Aus dieser Inhibierung ist indes der Weltbegriff, der sich in den eigenen Konstitutionsleis‐ tungen einstellt, ausgenommen. Welt bleibt in einer Generalthesis der Phänomene in Geltung. In den ‚Ideen I‘, namentlich ihrer für diesen Zusammenhang entscheidenden ‚phänomenologischen Fundamen‐ talbetrachtung‘, hat der an ideengeschichtlichen Genealogien wenig interessierte Husserl seine Phänomenologie in die Spuren der Kanti‐ schen Transzendentalphilosophie gestellt. Transzendentale Erkennt‐ nisse sind nach Kant solche, „die sich nicht sowohl mit Gegenstän‐ den, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt“ (KrV B 25). Diesen Ansatz universalisiert die Epoché, und erst damit tritt die Phänomenologie strictu sensu in den Status der Ersten Philoso‐ phie ein. Alles Erscheinen ist Erscheinen für das Bewusstsein, auch das Ansichsein der Außenwelt. Es ist unstrittig, dass Husserl da‐ mit in die Linienführung des Idealismus eintritt, nicht aber einer Bewusstseins- oder Selbstbewusstseinsphilosophie (zeitgenössische Kritiken wie jene von Wolfgang Cramer zeigen das contre cœur). 29 Der Bewusstseinsstrom beschäftigt ihn insofern, als er das Medium oder Organon ist, in dem die phänomenale Welt erscheint. Auf‐
27 Vgl. dazu Bernet, Kern, Edmund Husserl, a. a. O., S. 56 ff. mit einer übersichtli‐ chen Darstellung der verschiedenen, von Husserl beschrittenen Wege. 28 Hua II, S. 65 f., Hua XXIV, S. 216. Siehe zu den existenziellen Dimensionen jetzt K. Schippling und H. Seubert, Bewusstseinssprung. Im Raum von Selbst und Welt. Ein Dialog über Wahrnehmung und Gegenwärtigkeit, Basel 2021. 29 W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, Frankfurt / Main 21959, siehe auch schon ders., Das Problem der reinen Anschauung, Tübingen 1937, S. 7 ff.
81
Harald Seubert
grund von Korrelationen 30 führt der Rückgang in das Bewusstsein zugleich in die Transparenz der Außenwelt in ihren Grundformen. Damit wird es allerdings erforderlich zu zeigen, dass das Bewusst‐ sein nicht-welthaft ist. Man wird sich fragen müssen, wie Heideg‐ gers Auffassung des Daseins, das immer schon in-der-Welt-sein ist, sich dazu verhält! Die phänomenologische Korrelation kann gerade nicht auf eine Cartesische Anlage res cogitans versus / res extensa zulaufen, weil damit die Welt- und Phänomenrepräsentanz im Be‐ wusstsein unterlaufen wäre. Husserl sucht vielmehr zu zeigen, dass der Unterschied darin liegt, dass dem unthematisch auf Weltdinge bezogenen Bewusst‐ sein seine Gegenstände immer nur ‚in Abschattungen‘ gegeben sind; während sich das Bewusstsein abschattungsfrei, in einem ab‐ soluten Sein selbst gegeben ist. Eben als die Selbstauffassung des Bewusstseinsstroms, der sich in einer Verlängerung der Gegen‐ wart erschließt. Man vergleiche damit die „stream of conscious‐ ness“-Struktur im modernen Roman bei Joyce oder Proust, wobei in der Romankunst das Unbewusste in den Bewusstseinsstrom ein‐ dringt und ihn durchkreuzt. 31 Im Erlebnisstrom bin ich, nach Hus‐ serl, immer Vollzugs-Ich. Wenn ich Erlebnisse als meine Erlebnisse beschreibe, so treten sie ‚rein‘ in den Blick. Wie aber kommt es zu dieser Wendung ins Transzendentale? In den ‚Logischen Untersuchungen‘ behandelte Husserl die Kon‐ stitution ‚idealer Gegenstände‘, wie der Zahlen und logischen For‐ men. Dies ist der Ausgangspunkt des Mathematikers und Logikers. Es geht aber darum, die Akte transparent zu machen, die jener eidetischen Erkenntnis zugrundeliegen. Entscheidend ist hier die Vorlesung aus dem Jahr 1905, die die 1928 von Heidegger heraus‐ gegebenen ‚Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbe‐ wusstseins‘ als integralen Bestandteil enthält. Hier vollzieht sich der Durchbruch von konstituierten einzelnen Entitäten zu dem sie kon‐ stituierenden Fluss, und um den Aufweis der Spezifität des Bewusst‐ seinsstromes aus dem Zeitbewusstsein (namentlich ist hier auf die §§ 35 und 36 jenes Kollegs zu verweisen). Eine parallele Anlage zeigt die Ding-Vorlesung von 1907. Hier fragt Husserl nach der Konstitu‐ 30 Bernet, Kern, Edmund Husserl, a. a. O., S. 66 ff. 31 Kristina Schippling und Harald Seubert, Denken-Dichten-Denken. Ein Ge‐ spräch, Basel 2022.
82
Genesis und Geltung im Spannungsfeld
tion „der Welt und der Einheit der Bewusstseinssubjektivität“ (Hua, IX, S. 43). Hier skizziert Husserl in einer frühen Phase auch sein Programm der transzendentalen Phänomenologie: „Es handelt sich um die grundlegenden Partien einer künftigen Phänomenologie der Erfahrung, um eine von den nächstliegenden und ersten Anfängen ausgehende und von da aus möglichst tief und weit geführte Aufklä‐ rung des Wesens der Erfahrungsgegebenheit, mindestens in ihren niederen Formen und Stufen.“ 32 Die Wahrnehmungsanalysen führen dazu, dass die Phänomeno‐ logie auf ‚Fundierungsverhältnisse‘ zurückgreift. Intentionale Er‐ lebnisse sind ineinander fundiert; wobei als Urbeispiel aller sol‐ cher Fundierungen die elementare Wahrnehmung der Dinge im Raum dient. Der Ausgangspunkt von den Einzeldingen unterschei‐ det sich deutlich von Diltheys oder Heideggers umgangshaftem, auf die ‚pragmata‘ bezogenen Zugang. Für Husserl ist ein Vollzug, wie etwa eine Liebesempfindung zurückgebunden an das raum-zeitli‐ che Gegebensein der Person, der die Empfindung gilt, und daher in ihr fundiert. Ohne sie und ihre leib-geistige Präsenz wäre der gesamte Vollzug nicht möglich. Gegenüber seinem Freund Albrecht (Brief vom 1. Juli 1908) sagt er es noch ausdrücklicher: er sei auf dem Weg zu großen Publikatio‐ nen „mit dem letzten Ziel einer völlig neuen Kritik der Vernunft, zu der schon meine ‚Logischen Untersuchungen‘ Fundamente enthal‐ ten“ (Briefwechsel IX, S. 40 f.). Dem Freund gesteht er freilich auch die großen Schwierigkeiten dieser Arbeiten ein. „Ich sehe goldene Früchte, die keiner sieht und greifbar nahe habe ich sie vor Augen. Aber ich bin Sisyphus, dem sie wieder entschwinden, wenn er nach ihnen greift. Und dieses Greifen ist harte und härteste Arbeit“ (ibid). Husserl geht, so kann man leicht vereinfachend sagen, von der Eidetik der ‚Logischen Untersuchungen‘ zurück auf die Elementa‐ rität der raum-zeitlich ausgedehnten Dinge: um sich von hier aus dem Ganzen einer eidetisch-phänomenologischen Weltrepräsenta‐ tion anzunähern. 32 E. Husserl, Ding und Raum, a. a. O., S. 3, dazu: M. Sommer, Abschattung, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 50 (1996), S. 271 ff., sowie U. Claesges, Edmund Husserl: Theorie der Raumkonstitution, Den Haag 1964, S. 9 ff. Siehe auch M. Merleau-Ponty, Der Philosoph und sein Schatten, in: ders., Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 1967, S. 45 ff.
83
Harald Seubert
5. Philosophie als „strenge Wissenschaft“ und Selbstbesinnung ‚Philosophie als strenge Wissenschaft‘ ist jener Artikel in der Zeit‐ schrift LOGOS (1910/11) überschrieben, der den Briefwechsel mit Dilthey initiierte. 33 Walter Biemel bezeichnete jene Abhandlung mit guten Gründen als „den Block“, auf dem Husserls weiteres Den‐ ken aufruhe. Philosophie bleibt ‚erste Wissenschaft‘ (prote philoso‐ phia). Sie würde die ihr und nur ihr eigene dezidierte Schärfe ver‐ lieren, wenn sie sich auf natur-, aber auch auf geisteswissenschaft‐ liche Methodik begründen würde. Naturwissenschaften haben „die Wirklichkeit, in der wir leben“ zur Grundlage. Später wird Husserl mit großer Resonanz in den Sozialwissenschaften von „Lebenswelt“ sprechen (ein Begriff, der sich Hugo von Hofmannsthal verdankt. Eine Rolle mag gespielt haben, dass Husserls Ehefrau Malwine Hus‐ serl mit ihm entfernt verwandt war). Es ist die Lebenswelt, die sich aller Theoriebildung entzieht und sie voraussetzt. Man wird die le‐ bensweltliche Orientierung nicht an einem einzigen Punkt enträt‐ seln können, hat Husserl festgehalten. Philosophie ist, negativ charakterisiert, radikale Befragung: nichts Vorgegebenes, auch die größte Autorität eines Kant, eines Aristoteles entbindet nicht jener Frageradikalität. „Vor allem darf sie nicht ruhen, bis sie ihre absolut klaren Anfänge, d. h. ihre absolut klaren Probleme, die im eigenen Sinn dieser Probleme vorgezeichneten Methoden und das unterste Arbeitsfeld absolut klar gegebener Sachen gewonnen hat“. 34 In seinen Korrespondenzen, insbesondere mit Dilthey, besteht Husserl dann darauf, dass der Anfang als Prinzip metaphysisch sei. Das Cartesische Methodenideal einer unbedingten Transparenz der einzelnen Schritte ist allerdings für die Phänomenologie verpflich‐ tend, obwohl sie in die tiefsten Schichten der Selbstgegebenheit der Phänomene hineinreicht. „Echte Wissenschaft kennt, soweit ihre wirkliche Lehre reicht, keinen Tiefsinn. Jedes Stück fertiger Wis‐ 33 E. Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, hg. von E. Marbach, Hamburg 2009, S. 88 ff. als kritische Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten der geis‐ tigen Situation und Unsituation der Zeit. 34 HuA XXV, S. 60.
84
Genesis und Geltung im Spannungsfeld
senschaft ist ein Ganzes von den Denkschritten, deren jeder un‐ mittelbar einsichtig, also gar nicht tiefsinnig ist. Tiefsinn ist Sache der Weisheit, begriffliche Deutlichkeit und Klarheit Sache der stren‐ gen Theorie“ (S. 339). Nicht Weisheit (sophia) ist die Bestimmung der Philosophie. Sie hat vielmehr scientia prima, Prote Episteme, Erste Wissenschaft zu sein. Dies ist Husserls streng-wissenschaftli‐ ches Methodenideal. In dem Briefwechsel mit Dilthey wird deshalb die sublime Pointe dieses Ansatzes verdeutlicht: dass hinter jener Ersten Philosophie nicht noch weitere Schichten verborgen bleiben dürften, also keine Zugänglichkeit durch eine vorausliegende Me‐ tawissenschaft, etwa eine ‚Phänomenologie der Metaphysik‘. 35 Mit der Bestimmung als Erste Philosophie erreicht die Phänomenologie ihre Sinnklarheit und Selbstgenügsamkeit. Die phänomenologische Fundamentalbetrachtung der ‚Ideen I‘ weckte in Husserls ehemaligem Göttinger Schülerkreis (bei Pfänder, Conrad-Martius, die dann nach München gingen, bis heute ein al‐ lerdings verblassender Schweif phänomenologischer Traditionsbil‐ dung mit Scheler als Enfant terrible) den Verdacht einer Re-kan‐ tianisierung, eines Rückfalls in den Neukantianismus, der bei nä‐ herer Betrachtung (auch neukantianischer Theoriebildung) absurd erscheint. Ganz anders fiel die Reaktion von Jean-Paul Sartre aus, der in den frühen dreißiger Jahren, im unmittelbaren Umkreis der Hitlerschen Machtergreifung in Berlin die ‚Ideen‘ auf Deutsch studierte: „Hus‐ serl hat das Entsetzen und den Reiz wieder in die Dinge hineinver‐ setzt“, so Sartre unmittelbar im Jahr 1933! „Er hat uns die Welt der Künstler und Propheten zurückgegeben: fürchterlich, feindselig, ge‐ fährlich, mit Häfen der Armut und der Liebe. Er hat für eine neue Abhandlung der Leidenschaften Platz gemacht, die sich von dieser so simplen und so grundlegend von unseren Kennern verkannten Wahrheit leiten lassen würde: wenn wir eine Frau lieben, dann, weil sie liebenswert ist. So sind wir von Proust befreit. Befreit gleichzeitig vom ‚Innenleben‘: vergeblich würden wir die Verhätschlungen un‐ serer Intimität suchen, weil doch schließlich alles draußen ist (tout 35 Vgl. dazu G. Berger, The Cogito in Husserl’s Philosophy, Evanston 1972; siehe auch die in jüdischem Denken weitergeführte Perspektive bei E. Lévinas, Tota‐ lité et l’infini. Essai sur L’extériorité, Den Haag 1961 und ders., Ethique et infin. Essai sur l’extériorité, Den Haag 1961, S. 7 ff.
85
Harald Seubert
au dehors!) alles, sogar noch wir selbst: draußen, in der Welt, mitten unter den Anderen. Nicht in irgendeinem Schlupfwinkel werden wir uns entdecken: sondern auf der Straße, in der Stadt, mitten in der Menge, Ding unter Dingen, Mensch unter Menschen“ 36 – Diese Einsicht wird für das Verständnis der verschiedenen, teils sehr weit auseinandertreibenden Fortschreibungen des Husserlschen Denk‐ ansatzes elementar sein. Mit der Selbstgegebenheit der Phänomenologie und ihrem Cha‐ rakter als Erste Philosophie verbindet sich die schrittweise und umwegige Genese der ‚Ideen‘. 1913 erscheint der erste Band der Ideen mit seiner Phänomenologischen Fundamentalbetrachtung; der zweite Band sollte die Konstitution der, geschichtet vorliegen‐ den, Welt transparent machen: Schichten der animalischen Natur, der seelischen und der geistigen Welt. An jenem zweiten Band, dessen Grundrisse wir jetzt in Husser‐ liana Band IV im Einzelnen studieren können, arbeitete Husserl mit allen Nebenbemühungen bis 1928. Ich neige der etwa von Bie‐ mel und Held, Philosophen mit einer eigenständigen phänomeno‐ logischen Zugangsweise, nahegelegten Auffassung zu, dass sich bei Husserl eine große durchgehende Linienführung erkennen lasse, die dahin führt, dass der 3. Band der ‚Ideen‘ der Begründung einer ‚Ersten Philosophie‘ gewidmet sein sollte, die dann in einer Vorle‐ sung 1924/25 entfaltet wurde. Die ‚Cartesianischen Meditationen‘, ursprünglich Pariser Vorträge, könnte man als die Ausarbeitung je‐ ner Ersten Philosophie verstehen. In einem Brief an den polnischen Freund und Schüler Roman In‐ garden positioniert sich Husserl 1930: „Überhaupt ist es ein wahres Unglück, dass ich mit der Ausgestaltung meiner transzendentalen Phänomenologie im systematischen Entwurf so spät zustande ge‐ kommen bin“. 37
36 J.-P. Sartre, Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Inten‐ tionalität, in: ders., Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1933– 1939, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 36 f. Siehe dazu auch Chr. Bermes, ‚Welt‘ als Thema der Philosophie. Vom metaphysischen zum natürlichen Weltbegriff, Hamburg 1994, S. 19 ff., siehe auch unter Rezeptionsgesichtspunkten B. Walden‐ fels, In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt / Main 1985 u.ö., S. 35 ff. 37 Siehe zu der Genealogie im Hintergrund auch T. Horsten, Der Pater und der Philosoph. Die abenteuerliche Rettung von Husserls Vermächtnis, a. a. O.,
86
Genesis und Geltung im Spannungsfeld
6. Leiblichkeit und inneres Zeitbewusstsein Husserl folgt in den ‚Ideen‘ zunächst einem sensualistisch-empi‐ ristischen Grundmotiv: das Bewusstsein ist aufgrund von Empfin‐ dungsdaten auf die Noemata, die erscheinende Welt, bezogen. Jede Apperzeption geht von einem Empfindungsgehalt aus, weist aber über ihn hinaus, so dass die jeweilige begrenzte Perspektive auf den Zusammenhang mit anderen solcher Perspektiven („Mitgegenwär‐ tighaben“) verweist. Diesen Akt beschreibt Husserl als „Appräsen‐ tation“. Der phänomenologisch präsent gemachte Gegenstand wird im Umkreis seiner bis ins Unendliche reichenden Horizonte er‐ schlossen. Dazu kam Husserl durch Vorarbeiten, in denen er sich seit 1900 intensiv mit den Voraussetzungen von Wahrnehmung befasst. Es ist sein Verdienst, jenen Elementarbereich des Erlebens, einschließlich der Leiblichkeit, nicht mehr wie in der Transzendentalphilosophie gängig ausschließlich als Stoff zu verstehen, der kategorial geordnet und strukturiert wird. Vielmehr konstituiert sich wahrzunehmende Einheit schon auf dieser Ebene. Dies macht es erforderlich, den Blick auch auf die Leiblichkeit zu konzentrieren. Mein Eigenleib muss bestimmte Bewegungen voll‐ ziehen, damit ich wahrnehmen kann: etwa Farbe, Gewicht und Dichte erschließen sich in Kinästhesen. Auf diese Weise entstehen immer schon Konfigurationen, Zusammenhänge, niemals nur ein‐ zelne punktuelle Perzeptionen der sinnlichen Wahrnehmung. Und es entstehen Assoziationen, etwa die Paarung, die auftritt, wo ein Phänomen ein anderes mit sich führt oder nach sich zieht. Offensichtlich verdanken diese Erwägungen wesentliche Einsich‐ ten der beschreibenden Assoziationspsychologie der Zeit. Sie bilden diese Befunde aber eigenständig in die erste Philosophie hinein um. Es ist ersichtlich, dass dem inneren Zeitbewusstsein in diesem Zusammenhang eine exponierte Position zukommt. Bewusstsein bildet sich zeitlich als Strom aus. Der Erlebnis- oder Bewusstseinsstrom wird von Husserl von der Mitte der Gegenwart her konzipiert, ein Zug, der Husserl mit Augustins Zeitabhandlung verbindet. Von Heidegger wird dies S. 171 ff., sowie ferner R. Ingarden, Über die gegenwärtigen Aufgaben der Phä‐ nomenologie, in: Archivio di Filosofia 1 (1957), S. 229 ff.
87
Harald Seubert
dem ‚vulgären‘ Zeitbegriff zugewiesen. 38 Vergangenes lässt sich nur fassen als ‚verflossenes Heute‘; Zukunft als ein „bevorstehendes Jetzt“. 39 Wir gehen in unserem Zeitbewusstsein immer von einer Insel des Gegenwärtigen, gleichsam einer Urimpression aus, um die herum sich ein Hof des Kommenden und Gewesenen lagert. Reten‐ tionen, Rückgriffe und Protentionen, Vorgriffe. Diese sind freilich nicht wie die räumlichen Perspektiven als Abschattungen verfasst, sondern jeweils mit vorgestellt, appräsentiert: Voraussetzung für Wiedererinnerung, jene Weckung von abgesunkenen Gegenwarten, die im Erinnerungsstrom ihren Horizont präsent haben, und anti‐ zipatorische Vorgriffe auf das Künftige. Später wird Husserl ausdrücklich sagen können, dass „alle Kon‐ stitution jeder Art und Stufe von Seiendem meine Zeitigung ist“. Das heißt auch, jede Synthesisleistung wandelt in ihrer Weise die Ursynthesis des Zeitbewusstseins ab. Daraus ergeben sich nun zwei fundamentale Folgerungen: (1) Auch ideale Gegenstände sind nicht einfach zeitfrei; sie sind jederzeit im Zeitstrom zu erzeugen, zugleich sind sie ‚nirgends‘, nicht an einer spezifischen Stelle darin fixiert. (2) Husserl hat deutlicher als jeder Denker vor ihm gesehen, dass Zeit und Bewusstseinsstrom aufs Engste ineinander verschränkt sind. Das Ich lässt sich reflektierend, erörternd, selbst als phänomeno‐ logischer Gegenstand thematisch machen. Es muss aber vor aller Vergegenständlichung ein originäres Michselbstwissen sein: Instan‐ tan, vorreflexiv (strukturell ähnlich wie D. Henrich die Anfänge des deutschen Idealismus bestimmte). 40 Dieses Ich konstituiert den Zeitstrom und es sinkt zurück in den Fluss der Retentionen, der seinerseits von der Art des unmittelbar Bewussten bleibt und sich als eine „Lebendige Gegenwart“ mitteilt. 41 38 Vgl. zu Hintergründen und weiterführenden Gedanken auch P. Ricœur, Zeit und Erfahrung, Band 1: Zeit und historische Erzählung, München 1991, S. 7 ff., sowie De Warren, Husserl and the Promise of Time. Subjectivity in Transcen‐ dental Phenomenology, Cambridge 2009 ff. 39 Vgl. E. Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusst‐ seins, hg. von M. Heidegger, Tübingen 1980, S. 367 ff. 40 Vgl. D. Henrich, Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität, Mün‐ chen 2007. Henrich kommt freilich in seinem Gesamtwerk fast ohne Verweise auf Husserl aus. 41 K. Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzenden‐ talen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, Phaenomenologica Band 23, Den Haag 1966.
88
Genesis und Geltung im Spannungsfeld
Die zeitlich parallel datierende belletristische Literatur des Fin de siècle bestimmte diesen Strom eher als ein Sich-Verlieren. Man denke an das ‚Entgleiten‘ bei Loris, dem jungen Hofmannsthal: „aus meinem eigenen Ich durch nichts gehemmt, mir wie ein Hund un‐ heimlich stumm und fremd“. 42 Die Phänomenologie der Leiblichkeit führt beim späteren Hus‐ serl zu einer sehr tief reichenden Explikation der Fremderfahrung. Eigenleib und der Leib des anderen sind gleichsam monadisch in‐ einander gespiegelt. Wiederum muss dabei eine Epoché vollzogen werden (Klaus Held spricht treffend von Robinsonsituation!). Von der gemeinsamen Sphäre, die ich mit dem Anderen teile, sehe ich zunächst ab, um überhaupt zur Konstitution der Intersubjektivität zu kommen. Die Phänomenologie der Intersubjektivität fragt, wie das Alter Ego in der Eigenheitssphäre des Ego schon erscheint. Die deiktische Verortungen „Hier“ und „Dort“ setzen eine Trenn‐ linie: Eigen- und Fremdleib sind durch sie geschieden. Dennoch be‐ gegnet der andere Leib, dessen biophysische Raumstelle ich niemals einnehmen kann, nicht wie ein beliebiger raum-zeitlich gegebener, ausgedehnter Körper, sondern als ‚meinesgleichen geschieht‘ 43 (Ro‐ bert Musil, Parallelaktion, Meinesgleichen geschieht). Geschichte griff in Husserls späten Jahren unmittelbar in das ei‐ gene Leben ein: in der Erfahrung eines Verlustes von Rechten und einer gewaltsamen Vereinsamung durch die ideologische Anfeindung der NS-Zeit. In der philosophischen Konzeption wird Geschichte spät erst thematisch. Bahnbrechend ist hier der 1935 entwickelte Wie‐ ner und Prager Vortrag, ‚Die Krisis der europäischen Wissenschaf‐ ten und die transzendentale Phänomenologie‘. 44 Es ist Husserls Dia‐ gnose, dass mit der neuzeitlichen Wissenschaft, die ihren Anfang bei Descartes oder Bacon erfährt, sich der Weltbegriff fundamental 42 H. von Hofmannsthal, Terzinen über Vergänglichkeit, in: ders., Gesammelte Werke. Gedichte, Dramen I, Frankfurt / Main 1979, S. 21. 43 Vgl. die gute Übersicht I. Kern, Phänomenologie und Intersubjektivität, in: Husserl-Handbuch, a. a. O., S. 222 ff., mit weiteren Belegstellen aufschlussreich: D. Zahavi, Husserl und die transzendentale Intersubjektivität, Dordrecht 1996, S. 50 ff. Für Hinweise danke ich Rebecca Mitzner, Jaffa, herzlich. 44 Dieses Momentum zeichnet sich schon in dem Roman von F. Theodor Vischer, Auch Einer (1879), ab, Frankfurt / Main, Leipzig 1987, hg. von Otto Borst. Musil stellte seinen ‚Mann ohne Eigenschaften‘ wesentlich unter die Perspektive der „Parallelaktion“, Band I, Reinbek 1979, S. 10 ff.
89
Harald Seubert
verschoben habe. Welt wird ‚Inbegriff der Gegenstände‘, die durch Methoden zur Kenntlichkeit gebracht werden. Die alltägliche, nicht epistemisch und technisch zugerichtete Lebenswelt hingegen bleibt meistens im Unthematischen. Allenfalls durch Klugheit, die vortheo‐ retische Weltorientierung, wird sie doch zum Thema. 45 Husserl mar‐ kiert hier eine tiefreichende Demarkationslinie. Die Differenz liegt Husserl zufolge darin, dass die Wissenschaften sich in Antike und Mittelalter immer nur endliche, im Lebenshori‐ zont verankerte Aufgaben stellen konnten. Anders steht es seit der Mathematisierung, die neuzeitlicher Wissenschaft zugrunde liegt. Sie beruht auf einer apriorischen Axiomatik, nach der die Erfah‐ rung kategorisiert wird. Symptomatisch ist für Husserl die Kanti‐ sche Charakterisierung der Art, wie sich der Forscher von der Natur belehren lässt, „nicht wie ein Schüler, der dem Lehrer folgt, sondern als Richter (Vernunft-Vernehmen), der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt“. 46 Sprichwörtlich wurde seit Kant in Metaphysik und Metaphysikkritik die Metapher von dem „großen Verhör“, der Vernehmung. Der Topos von der Welt als Gestell, wie Heidegger sie in seiner Technik-Philosophie auffasst, die ohne Husserls Antizipationen gar nicht denkbar wäre, oder Max Webers Rede von dem „stählernen Gehäuse“, setzen an dieser Stelle an. Husserl betont die Tendenz einer unabgeschlossenen Idealisie‐ rung und Mathematisierung der Welt, die den natürlichen Weltbe‐ zug zurückdrängt. Drei Passagen aus der Krisis-Schrift sollten dies verdeutlichen: „Mit der ersten Konzeption von Ideen wird der Mensch allmählich zu einem neuen Menschen. Sein geistiges Sein tritt in die Bewegung einer fortschreitenden Neubildung [. . . ]. Es verbreitet sich in ihr zunächst [. . . ] ein besonderes Menschentum, das, in der Endlich‐ keit lebend, auf Pole der Unendlichkeit hinlebt“ (Hua VI, S. 322). 47 Damit ergibt sich die Überformung der Praxis durch die Theo‐ rie, die dadurch wiederum durch die angewandten Wissenschaften und die Technik die Praxis bestimmt. Der Cartesische und der Ba‐ 45 Dazu ausgehend von Michael Polanyi, R. Enskat, Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft, Velbrück Wissenschaft, 2008, S. 133 ff. 46 Kant, K.r.V., B. XIII. 47 Die Kürzel beziehen sich jeweils auf den Band der Husserliana-Ausgabe mit der jeweiligen Seitenzahl.
90
Genesis und Geltung im Spannungsfeld
consche Anfang neuzeitlicher Naturwissenschaften bilden ein Syn‐ drom, „die im Übergang von theoretischer zur praktischer Ein‐ stellung sich vollziehende Synthesis der beiderseitigen Interessen, derart, dass die in geschlossener Einheitlichkeit und unter Epoché von aller Praxis erwachsende Theoria (die universale Wissenschaft) dazu berufen wird [. . . ] in einer neuen Weise der Menschheit, der in konkretem Dasein zunächst und immer auch natürlich lebenden, zu dienen“ (HuA VI, S. 329). Husserl geht es um die Krisis dieses Wissenschaftsverständnis‐ ses. Er hält, anders als Heidegger, bis zu seinem Tod immer an der Konzeption von Philosophie, als auf Klarheit und Methodizi‐ tät verpflichteter strenger Wissenschaft, fest. Er versteht also das Krisis-Symptom im medizinischen Sinn als Indizierung des Wen‐ depunktes einer Krankheit, an dem es sich zeigen müsste, ob sie zum Tode oder zum Leben ausschlägt. Die mögliche Heilung kann im Sinne Husserls nur von einer tieferen Grundlegung der Wissen‐ schaft selbst ausgehen, die die Wunde schlug. Die Philosophie als Erste Wissenschaft muss die Zwecke bestimmen, während die Ein‐ zelwissenschaften auf der Ebene der Effizienz den Zusammenhang nur Funktionen und Mittel kennen. Eine Flucht in vorrationale Weltanschaulichkeit, wie sie in der Zeit vielfach diskutiert wurde, zog Husserl nie in Erwägung. Der Erste Weltkrieg, die mit ihm einsetzende Desorientierung und aufziehende Barbarei in einer Welt der höchsten wissenschaftli‐ chen Erfolge, warfen das Problem nach einer höheren wissenschaft‐ lichen Rationalität auf, die den Pathologien jener Krise gewachsen ist. Sigmund Freud schreibt etwa in dieser Epoche sein ‚Unbehagen in der Kultur‘. 48 Husserl erinnert vor diesem Epochenhintergrund daran, dass die Lebenswelt der unhintergehbare, wenn auch verdeckte Anschau‐ ungsboden der Wissenschaft bleibt: „Aber der Naturforscher macht sich nicht klar, dass das ständige Fundament seiner doch subjekti‐ ven Denkarbeit die Lebensumwelt ist, sie ist ständig vorausgesetzt als Boden, als Arbeitsfeld, auf dem seine Fragen, seine Denkmetho‐ den allein Sinn haben. Wo wird nun das gewaltige Stück Methode, 48 S. Freud, Unbehagen in der Kultur (1929/30), in: ders., Studienausgabe Band IX, hg. A. Mitscherlich u. a., Frankfurt / Main 1982, S. 191 ff., vgl. auch ibid. S. 33 ff.: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, a. a. O., S. 33 ff.
91
Harald Seubert
das von der anschaulichen Umwelt zu den Idealisierungen der Ma‐ thematik und zu ihrer Interpretation als objektives Sein führt, der Kritik und Klärung unterworfen?“ (HuA IV, S. 342 f.) Nun tritt aber in der habituell gewordenen wissenschaftlich tech‐ nischen Welt ein zweiter Knoten, gleichsam eine Reintroduzierung der Wissenschaft in die Lebenswelt, ein: Die Menschheit bedient sich nämlich gleichsam natürlich der technischen Errungenschaften. Husserl spricht vom ‚Einströmen‘ der wissenschaftlichen in die natürliche Welt. Der Husserlsche Le‐ bensweltbegriff erweckt zu Anfang den Eindruck, Kontrastbegriff zu dem immer undurchdringlicher werdenden epistemischen Ge‐ häuse zu sein. Bei näherer Betrachtung erweist er sich aber als kon‐ kreter Universalhorizont der Wissenschaft. Sie ist in diesen Hori‐ zont einbegriffen, auch wenn sie darum nicht weiß oder dies ver‐ drängt. Husserl spricht selbst davon, dass sich das Problem nun verschoben habe; Lebenswelt tritt als „das eigentliche und univer‐ salste Problem“ (Hua VI, S. 137) ans Licht, während es zuerst nur darum gegangen war, die Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis zu definieren. Letztlich führt diese Frage auf eine Diagnostik der spätzeitlichen wissenschaftlichen Zivilisation, die aber (dies bleibt das Spezifikum bei Husserl) entgegen der weltanschaulichen Kulturkritik, niemals in eine Wissenschafts- oder gar Vernunftskepsis umschlägt. Neu zu tarieren ist allerdings das Verhältnis von Anschauung und Denken (Theorie). „Der leere und vage Titel Anschauung statt ein Geringes und Unterwertiges gegenüber dem höchstwer‐ tigen Logischen“ zu sein, „in dem man vermeintlich schon die echte Wahrheit hat“, führt auf die philosophische Grundproblema‐ tik der originären Gegebenheit der Phänomene. Die Gegebenheit der Lebenswelt in natürlicher Einstellung ist zu unterscheiden von der letzten Sinnbildung des transzendentalen Ego, die die Lebens‐ welt phänomenologisch zugänglich macht. Dennoch macht sich die Prote Philosophia zur Sachwalterin der Lebenswelt gegenüber de‐ ren Verdrängung durch die Einzelwissenschaften. Walter Biemel hat jenen späten Vorstoß auf die Lebenswelt triftig als „Kreuzungs‐ punkt“ der Husserlschen Forschungen verstanden. 49 Zum einen 49 W. Biemel, Die Idee der Phänomenologie bei Husserl, in: ders., Gesammelte Schriften, Band I, S. 147 ff.
92
Genesis und Geltung im Spannungsfeld
kann die Lebenswelt-Problematik nur „für eine transzendental‐ philosophische Phänomenologie zugänglich werden“ (ibid., S. 129). Zum anderen eröffnet sich mit ihr der Horizont der Geschichte. „Man könnte noch weitergehen und sagen, Husserls Bestreben, der Anschauung einen Vorrang zu geben“ – und diese „Rettung der Phänomene“ muss die Crux jeder authentischen Phänomeno‐ logie bleiben, die am Ende bei den Sachen selber ist – nur noch ‚zeigen‘, nicht mehr ‚begründen‘ muss; jene Überlegung, „die sich bis zu Beginn seines Philosophierens zurückverfolgen lässt, ist in der Lebensweltproblematik bewahrt, vertieft und eigens begründet“ (ibid., S. 129). Die transzendentale Phänomenologie muss vorausge‐ setzt sein, um den Lebensweltbegriff bewahren und fassen zu kön‐ nen. Man muss sich nun freilich fragen, wie der Zusammenhang von Meinung und Episteme im Umkreis der Krisis-Schrift gelagert ist. Ist die epistemische Rationalität einer Lebenswelt gegenüberzustel‐ len, die in die Lage der bloßen Meinung gerät? Es muss vielmehr darum gehen, die Lebenswelt durch die phänomenologische Epis‐ teme selbst mit zu durchdringen. „Dieser Rückweg auf die ur‐ sprüngliche Lebenswelt ist kein solcher, der einfach die Welt un‐ serer Erfahrung, so wie sie uns gegeben ist, hinnimmt, sondern er verfolgt die in ihr bereits niedergeschlagene Geschichtlichkeit auf ihren Ursprung zurück – eine Geschichtlichkeit, in der der Welt erst der Sinn einer ‚an sich‘ seienden Welt objektiver Bestimmbarkeit zugewachsen ist. [. . . ] Damit erweist sich auch, dass dieser Bereich der Doxa nicht ein solcher von Evidenzen minderen Ranges ist als der der Episteme, des urteilenden Erkennens und seiner Nieder‐ schläge, sondern eben der Bereich der letzten Ursprünglichkeit, auf den sinngemäß die exakte Erkenntnis zurückgeht, deren Charakter als einer bloßen Methode und nicht als eines An-sich vermittelnden Erkenntnisweges durchschaut werden muss.“ Die Forderung des Logos-Aufsatzes, Philosophie habe strenge Wissenschaft zu sein, hat Husserl aus guten Gründen niemals aufgegeben. Es gibt zwar Aus‐ sagen wie die folgende: „Philosophie als Wissenschaft, als ernstliche, strenge, ja apodiktisch strenge Wissenschaft – der Traum ist ausge‐ träumt“ (Hua VI, S. 508). Damit wird jedoch eher die Situation der eigenen Zeit charakterisiert, die ins Weltanschauliche taumelt, als dass sich Husserl jenem Befund anschließen und eine defaitistische Konsequenz daraus ziehen würde.
93
Harald Seubert
Im Zusammenhang seiner ‚Cartesianischen Meditationen‘ und des vorausgehenden Pariser Vortrags hatte Husserl die radikale Selbst-Besinnung als den Anfangsgrund begriffen, auf den jedes Philosophieren einmal zurückgehen müsse. Im Umkreis der Kri‐ sis-Schrift ist sehr deutlich, dass diese Besinnung, dieser sinnhafte Ursprungspunkt, in die Geschichtlichkeit vorausgehender philoso‐ phischer Sinnbildungen eintreten muss, stärker als Husserl dies bis‐ lang getan hatte. „Radikale Besinnung des Philosophen wird dar‐ auf abgestellt sein müssen, den Sinn seiner Berufung aus ihrer Ge‐ schichtlichkeit zu rechtfertigen, indem er die großen und wesentli‐ chen Sinnbildungen verfolgt, in denen Philosophie aus ihrer ersten vagen Urstiftung übergeht in immer differenziertere Aufgabensys‐ teme, die sich als evidente Explikate des ursprünglichen vagen Sin‐ nes darstellen und sich in Systemen Erfüllungsgestalten verschaf‐ fen.“ (HuA VI, S. 489 f.)
7. Das Ich als „Residuum in der Weltvernichtung“ und das Ideal einer geeinten Menschheit Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass erst beim späten Hus‐ serl die ethische Problematik explizit thematisch, dann aber zum „nervus probandi“ von ethisch verantwortbarer Rationalität und des Ideals einer geeinten Menschheit wird. Ähnlich wie Kant nach der Französischen Revolution erst auf die ethisch-politischen Fra‐ gen stieß, ist es bei Husserl der Erste Weltkrieg, der die Epochenzä‐ sur setzt. Husserl zielt, besonders eindrücklich in seinen Kaizô-Arti‐ keln (benannt nach einer seinerzeit prominenten japanischen Zeit‐ schrift), die erst 1989 im Rahmen der Husserliana zugänglich ge‐ macht wurden, mit dem Krisis-Befund auf eine ‚Erneuerung‘ des Menschen, im Zusammenhang des universalen Lebensideals prak‐ tischer Vernunft, als der Idee einer geeinten Menschheit. Er entwi‐ ckelt hier prima facie eine normative Phänomenologie zwischenmenschlicher Mitteilung. Sein Lebensweltbegriff weitet sich aber auf das interkulturelle Gespräch aus, nicht im Sinne platter Kon‐ sensualität, die es zwischen geschiedenen Lebenswelten nicht geben kann, sondern eines Sich-Vertiefens des Eigenen, in der Begegnung mit dem Anderen, worin beide Pole zugleich in eine höhere Form
94
Genesis und Geltung im Spannungsfeld
von Selbsteinsicht gehoben werden. 50 Diese Sympathetik impliziert eine Transparenz auf Mystik, die aber nicht Gegenpol zur strengen phänomenologischen Philosophie ist, sondern aus ihr erwachsen muss. Husserl versteht die Ethik als genuinen Bestandteil der Philoso‐ phie mit Zügen zu einer Kulturmedizin in der Krisenepoche. Hier‐ her gehören auch seine bedeutsamen Äußerungen über das europäi‐ sche Ethos. In den frühen dreißiger Jahren, als jene Dimensionen tief gefährdet waren, zeigt Husserl, Europa sei Einsicht. Das kleine, Asien vorgelagerte Kap ist nur ethischer Raum, als Kulturbegriff, nicht als geographischer, aber auch nicht machtstaatlich oder öko‐ nomisch zu begründen. Eugen Fink berichtet über die vermächtnishaften späten Worte Husserls: „Ich habe als Philosoph gelebt. Ich werde als Philosoph sterben.“ 51 Philosophie ist zwar nicht Weltanschauung, aber sie dul‐ det nach Husserls Auffassung auch keine weltanschauliche Konver‐ sion. Sie muss bezeugt werden und der einzige Trost des Philoso‐ phen bleiben. Daher hatte Husserl größte Schwierigkeiten mit Edith Steins Übertritt zum Katholizismus und schließlich ihrem Orden‐ seintritt: Philosoph und homo religiosus, femina religiosa, in einem zu sein, schien ihm unmöglich. Auch den Tendenzen seiner jüdischen Schüler, vertieft zur Re‐ ligion ihrer Väter zurückzukehren, stand Husserl mit Skepsis und letztlich mit Ablehnung gegenüber. Einige Äußerungen, vor allem des späten Husserl, charakteri‐ sieren, welche Leuchtkraft in dieser ausschließlichen Berufung auf den philosophischen Grund aufschien. An den Weltanschauungs‐ dichter Rudolf Pannwitz: „Nicht dem ‚Welträtsel‘, dem ‚Absoluten‘ schwächlich auszuweichen, in gefühlsselige Mystik versinken oder trotzig großtun – sondern ihm stehen u. die Sphinx in den Abgrund jagen: Das ist der Wille der Neuen. Ihre Geheimnisse sind die des Ich, u. sie sind voll zu enthüllen in unendlicher Arbeit.“ (28. und 50 Hua XXVII, S. 9, 20 ff., 59 ff., siehe ferner J. Hart, The Person and the Common Life. Studies in a Husserlian Social Ethics, Dordrecht 1991, und Chr. Spahn, Phä‐ nomenologische Handlungstheorie: Husserls Untersuchungen zur Ethik, Würz‐ burg 1997. 51 Husserliana, Dokumente I, S. 488.
95
Harald Seubert
29. 11. 1934) An den Freund Albrecht zu Weihnachten 1931: „Von meiner Lebensarbeit werde ich nicht mehr die Freude haben kön‐ nen, zu beobachten, wie sie den philosophischen Geist der neuen Zeit umwandelt, dass sie eine im wahrsten Sinn neue Zeit erweckt. Die jetzige Generation wird nicht verstehen können und verstehen wollen. Aber der Zukunft bin ich absolut sicher.“ 52
8. Phänomenologie als Haltung und als Erfüllung der Philosophie Für Husserls Idee der Phänomenologie ist entscheidend, dass sie weniger eine Methode bezeichnet und schon gar nicht einen Schul‐ zusammenhang, sondern selbst eine Haltung ist. Von entscheidender Bedeutung bei einem Philosophen ist immer, in welchen Gesprächszusammenhängen er steht. Bei Husserl ist es offen‐ sichtlich nicht der Weg von der Antike über die Transzendentalphi‐ losophie zum deutschen Idealismus. Selbst seine Kant-Kenntnisse waren wohl sporadisch. Es sind Descartes, Locke, Hume, unter den Zeitgenossen die großen Logiker und Dilthey. Die antike Philoso‐ phie spielt, ungeachtet des erkennbaren Platonismus in den Begrif‐ fen von Origo und Eidos in Husserls Denken, keine explizite Rolle. Wenn er Phänomenologie als Urwissenschaft und als Grundle‐ gungswissenschaft der Ersten Philosophie verstanden sehen wollte, so bedeutet dies zu‐ gleich, dass Phänomenologie zumindest ebenso wie Urwissenschaft „eine Methode und Denkhaltung“ ist, ja, „die spezifisch philosophi‐ sche Denkhaltung, die spezifisch philosophische Methode.“ 53 Die Erste Wissenschaft ist zugleich Erkenntniskritik, Unterscheidung
52 Vgl. zur Rekonstruktion und zugleich Fortsetzung dieses lebenslangen Impetus bei Husserl H. Blumenberg, Die Verführbarkeit des Philosophen, Frankfurt / Main 2000, S. 7 ff. Diese Nachlassedition ist die wohl konsequenteste und lang‐ jährige Durchführung von Husserls phänomenologischem Programm. Dazu auch Zilk, Der absolute Leser, a. a. O., S. 54 ff. 53 Hua VIII, S 196, ibid. V, S. 140 ff. und SSV, S. 78 ff. Vgl. auch den frühen Aufsatz D. Henrich, Über die Grundlagen von Husserls Kritik der philosophischen Tra‐ dition, in: Philosophische Rundschau 6 (1958), S. 1 ff.
96
Genesis und Geltung im Spannungsfeld
der grundlegenden Erkenntnis von weiteren, peripheren Erkennt‐ nisformen. Husserl pointiert dies in der Erzählung von dem ge‐ schliffenen Messer, die er seinem Schüler Emanuel Lévinas mitteilt: am Ende ist die Klinge abgeschliffen. Erkenntniskritik sei aber, so Husserls Einsicht, aufs engste verschlungen in die Erste Wissen‐ schaft, die Metaphysik. Es geht um den eidetischen Aufweis des Erkenntnisaktes: in dem nur die absolute, gewisse Gegebenheit der Wesenserkenntnis, nicht Tatsachener‐ kenntnisse aufscheinen. Alle ontologischen Gegenstände und alle Weltdinge können der‐ art in der Phänomenologie konstituiert werden, aber eben aufgrund der genuinen Einstel‐ lungsänderung des Phänomenologen, eine gleichsam Platonische Metabole von der Meinung zum Wissen. Der Husserlsche Phänomenbegriff hat durch Heidegger eine ele‐ mentare Kritik erfahren: Heidegger verweist in seiner Marburger Vorlesung vom Sommersemester 1925 darauf, dass der Sinn der phänomenologischen Reduktion gerade darin bestehe, „von dem realen Erlebnis“ abzusehen, die Realität der Intentionalität aus‐ zuschalten. 54 Diese erste Reduktion von der natürlichen Einstel‐ lung zum reinen Bewusstsein verhindere, dass das Sein des welthaft begegnenden Seienden überhaupt eidetisch herausgesehen werden könne. In der eidetischen Reduktion werde lediglich die essentia: das be‐ stimmte Wassein, nicht aber die existentia zur Abhebung gebracht. Dass-Gehalt und Modifikationen im Wie eines Seins treten bei Hus‐ serl, so Heideggers Einwand, gar nicht ans Licht. 55 Es gibt für die‐ sen phänomenologischen Widerstreit, an dem Husserl und Heideg‐ ger gleichermaßen zur Kenntlichkeit kommen, ein bemerkenswer‐ tes Zeugnis, an dem sich die Wege, und indirekt auch die Klingen, kreuzen: Es ist Husserls Entwurf eines Encyclopedia Britannica54 Heidegger GA Band 20: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, a. a. O., S. 150. 55 Eine Übersicht über das philosophische Verhältnis zwischen Heidegger und Husserl, das von den politischen und menschlich-ethischen Verwerfungen nochmals zu unterscheiden ist, vgl. Th. Nenon, Martin Heidegger, in: HusserlHandbuch, a. a. O., S. 257 ff.
97
Harald Seubert
Artikels über Phänomenologie mit Heideggers Annotationen und Umformulierungen. Husserl hält dort die Konzeption zur Idee einer ‚reinen Phänomenologie‘ aufrecht und beschreibt die ‚universale Epoché‘ so, dass sie die Gegebenheit der seienden Welt ausscheide; „aber an ihre Stelle tritt die so und so bewusste Welt ‚als solche‘, die Welt in Klammern, oder, was dasselbe [ist], es tritt an die Stelle der Welt des einzelnen Weltlichen schlechthin“.
98
Klaus Neugebauer
Die Frage nach dem Wahrsein zwischen Dasein (Heidegger) und Bewusstsein (Husserl)
1. Die Unzulänglichkeit der überlieferten Wahrheitsbestimmung Die überlieferte Bestimmung des Wesens der Wahrheit, also nicht seine eigene, gibt Heidegger zu Beginn seiner Analyse in Sein und Zeit § 44a in Form von drei Thesen wieder: „1. Der ‚Ort‘ der Wahrheit ist die Aussage (das Urteil). 2. Das Wesen der Wahrheit liegt in der ‚Übereinstimmung‘ des Urteils mit seinem Gegenstand. 3. Aristoteles, der Vater der Logik, hat sowohl die Wahrheit dem Urteil als ihrem ursprünglichen Ort zugewiesen, er hat auch die Definition der Wahrheit als ‚Übereinstimmung‘ in Gang gebracht.“ 1
Heidegger fragt in diesem § 44 in Absetzung gegen die traditio‐ nelle Übereinstimmungsbeziehung nach ihrem seinsmäßigen Fun‐ dament, nach dem, was in ihr „unausdrücklich mitgesetzt“ 2 ist. Die Frage nach dem Sinn dieser Übereinstimmungsbeziehung ist von der traditionellen Philosophie nur unklar beantwortet worden. So lässt sich ihm zufolge ‚Übereinstimmung‘ nicht durch ‚Beziehung‘ ersetzen. Beide Ausdrücke meinen Unterschiedliches. Was in ei‐ ner Beziehung zueinander steht, muss nicht miteinander überein‐ stimmen. Offenbar hilft auch die Erklärung der Übereinstimmung als gleichbedeutend mit ‚convenientia‘, ‚Übereinkunft‘, nicht weiter. Denn Übereinstimmung und Übereinkunft sind nicht einerlei. Die Übereinkunft ist eine Übereinstimmung mit Hinsicht auf etwas. So 1 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Gesamtausgabe Band 2, Frankfurt am Main 1977, 284 (214). Die Seitenangabe in Klammern bezieht sich auf die Einzelaus‐ gabe des Max Niemeyer Verlags, 11. Auflage, Tübingen 1967. 2 GA 2, 285 (215).
99
Klaus Neugebauer
kommen etwa zwei Vertragspartner überein in Hinsicht auf ihren gemeinsamen Vertrag. Aber wer wollte behaupten, dass sie überein‐ stimmten? Es zeigt sich, dass die Seinsart der Übereinstimmung und da‐ mit die Seinsart der Wahrheit ungedacht bleiben. Dass aber eine fundamentalontologische Analyse das Wesen der Wahrheit in ange‐ messenerer Weise fassen kann, ist bisher nichts als eine Behauptung. Die Unzulänglichkeit der traditionellen Wahrheitsdefinition haben wir kennengelernt; aber warum eine ontologische Analyse das We‐ sen der Wahrheit aufklären kann, bleibt dunkel. Heidegger fragt vielmehr ontologisch nach der Berechtigung der überlieferten Wahrheitstheorie. Die Frage nach dem Wesen der Wahrheit fällt bei ihm mit der Frage nach ihrer Seinsart zusammen.
2. Entdeckendsein als Vollzugsmodus der Wahrheit Und hier findet Heidegger einen ursprünglichen Charakter in der Vollzugsweise des entdeckenden Daseins, und zwar das Aufdecken dessen, was wesensmäßig nicht verdeckt, sondern aufgedeckt ist. Diese Vollzugsweise des Entdeckend-seins verweist uns auf eine der Haupt- und Grundphänomene der Heideggerschen Philoso‐ phie, auf die Erschlossenheit. Erst im grundsätzlichen Zusammen‐ hang mit dem Phänomen Erschlossenheit kann das Entdeckendsein einer Entdecktheit angemessen verstanden werden. Das heißt zugleich, dass das Entdeckend-sein und die Erschlossenheit im Ge‐ samtzusammenhang der ontologisch-existenzialen Analyse gesehen werden müssen.
3. Erschlossenheit als ursprüngliches Phänomen der Wahrheit Die Erschlossenheit ist die Grundverfassung des Daseins, die die Entdecktheit des innerweltlichen Seienden begründet. Das zu ent‐ deckende Seiende hat von sich her nicht den Charakter der Ent‐ decktheit. Die Entdecktheit gründet nicht im Seienden selbst, son‐ dern in der Erschlossenheit des Daseins. Die Erschlossenheit und gleichursprünglich die Entdecktheit, in denen das Dasein existiert,
100
Die Frage nach dem Wahrsein zwischen Dasein und Bewusstsein
sind für es in seiner Existenz aufgeschlossen. Mit der Erschlossen‐ heit, die ihrerseits die Entdecktheit begründet, ist „das ursprüng‐ lichste Phänomen der Wahrheit erreicht.“ (292 (220 f.))
4. Zwei systematische Orte der Bestimmungen von Wahrheit Das Phänomen Wahrheit wird zwar in beiden Werken (in Heideg‐ gers Sein und Zeit und Husserls Logischen Untersuchungen) eigens thematisiert 3 und hat dort einen bestimmten Ort. Die Analysen der Wahrheit stehen in beiden Schriften jeweils am Ende eines größe‐ ren Abschnitts; in Sein und Zeit am Ende der vorbereitenden Fun‐ damentalanalyse, in den Logischen Untersuchungen an deren Ende. Dies kann jedoch nicht bedeuten, dass die Analyse der Wahrheit jeweils als eine Art Anhang gedacht wäre und nur noch in einem lo‐ ckeren Verbund mit dem Werk selbst stünde. Vielmehr hat sie nicht nur formal äußerlich einen bestimmten Ort, sondern auch syste‐ matisch steht sie in beiden Schriften gesichert im Gefüge eines sie umgreifenden Ganzen. Dieses fest gefügte Ganze ist in dem einen Fall der 1. Abschnitt von Sein und Zeit, der die existenzial-ontolo‐ gische Daseinsanalyse mit dem phänomenologischen Aufweis der das Dasein konstituierenden Existenzialien enthält, die wiederum Weisen der selbsthaften Erschlossenheit sind und das Phänomen der Wahrheit als Entdecktheit des Entdeckend-seins begründen. Die phänomenologische Sichtung und Hebung der Existenzialien erhal‐ ten ihre ursprüngliche Einheit im Strukturganzen der Sorge. Die Analyse der Wahrheit nimmt in Sein und Zeit nach dem Aufweis der Strukturmomente des Daseins nun, in § 44, gleichsam einen neuen Anlauf und kann auch ohne die Einbeziehung der existenzialen Ge‐ samtstruktur zu einem vorläufigen Verständnis führen. In Husserls Logischen Untersuchungen, und das ist der andere Fall, entwickelt sich die Analyse der Wahrheit (in der VI. Logischen Untersuchung) erst schrittweise aus den vorangehenden Untersu‐ chungen, insbesondere aus der I. und der V. Logischen Untersu‐ 3 Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen. Mit einer Einführung und einem Namen- und Sachregister von Elisabeth Ströker, Hamburg 2009, darin: VI. Lo‐ gische Untersuchung §§ 36–39; Martin Heidegger: Sein und Zeit, § 44.
101
Klaus Neugebauer
chung. Ohne die Einbeziehung dieser beiden Logischen Untersu‐ chungen bleibt Husserls Begriff der Wahrheit unverständlich. Der VI. Logischen Untersuchung „Elemente einer phänomenolo‐ gischen Aufklärung der Erkenntnis“ hat Husserl eine kurze Einlei‐ tung vorangestellt 4, die in formal anzeigender Weise das in den vor‐ angegangenen fünf Untersuchungen Erarbeitete knapp resümiert und einen Aufriss der noch in Frage stehenden Problematik gibt. Dabei werden die Ergebnisse der noch ausstehenden Untersuchung bereits vorweggenommen. Die Einleitung bietet also in kürzester Form die Ergebnisse der gesamten Untersuchungen zur Wahrheits‐ problematik und öffnet uns zugleich die Möglichkeit eines Ein‐ stiegs. In der VI. Logischen Untersuchung definiert Husserl dann, was Wahrheit ist. Der Wahrheit, in dieser Weise erlebt, eignen die vier Wesensmerkmale der Gegenständlichkeit, Idealität, Fülle und Rich‐ tigkeit.
5. Die erneute Problematisierung des Phänomens der Wahrheit bei Husserl und Heidegger Dazu kann Heideggers Hinweis, den er in Sein und Zeit gibt, auf den ersten Blick befremden. Er lautet: „Zur Idee der Ausweisung als ‚Identifizierung‘ vgl. Husserl, Log. Unters.² Bd. II, 2. Teil, VI. Unter‐ suchung. Über ‚Evidenz und Wahrheit‘ ebd. § 36–39, S. 115 ff.“ 5 Was soll dieser Hinweis? Zeigt sich in Husserls Aufweis der Wahr‐ heit als dem Ideal der vollkommensten Identifizierung in der Vier‐ faltigkeit seiner Erscheinung nicht gerade die größtmögliche Kluft zu dem, was Heidegger das Entdeckend-sein der Entdecktheit nennt? Was gibt es da zu ‚vergleichen‘? Denn zu einem Vergleich, der ein wie auch immer geartetes ‚Gleiches‘ vermuten lässt, scheint uns Heideg‐ gers Anmerkung herauszufordern. Anders gefragt: Sperrt sich nicht die Verschiedenheit der Analysen, von denen die eine Wahrheit als endgültige Adäquation bestimmt, die andere hingegen ein Konzept von Erschlossenheit ins Feld führt, geradezu gegen jede Art der Ver‐ gleichung? Sind das nicht Kraut und / oder Rüben? 4 Bd. II, 2, 1–7. 5 GA 2, 289 Fußnote (218 Fußnote).
102
Die Frage nach dem Wahrsein zwischen Dasein und Bewusstsein
6. Das doppelte Übersehen des Seins Der phänomenologische Aufweis der subjektiven Erkenntnis von Gegenständen erfasst diese immer nur als Seiende in ihrer Seiend‐ heit. Die ontologische Differenz von Sein und Seiendem, in welcher erst der fundamentale, ursprüngliche Unterschied quillt, geht ihr notwendig verloren. Dies aber kann nicht bedeuten, dass die seins‐ mäßigen Fundamente des Gegenstandsbewusstseins als ‚verlorene‘ jederzeit bei Husserl wieder auffindbar wären. Sie sind vielmehr in zweifacher Hinsicht notwendig übersehen. Erstens hinsichtlich der Entdecktheit des Seienden. Die Weise, wie das Dasein sich zu Seiendem verhält, genauer, wie es sich im bewäh‐ renden Erkennen zum Seienden verhält, nennt Heidegger das Ent‐ decken des Seienden in seinem Sein. 6 Das Seiende als der Gegen‐ stand des daseinsmäßigen Entdeckend-seins ist das Entdecktsein, die Entdecktheit. 7 Die entdeckende Ausweisung von Seiendem ist nur dadurch möglich, dass sich das zu entdeckende Seiende bereits zeigt. So bedeutet Entdecken nicht etwa die Adäquation von vorge‐ meintem und selbst gegebenem Gegenstand des Bewusstseins, son‐ dern die Ausweisung der Entdecktheit des sich zeigenden Seienden im Entdeckend-sein des Daseins. In der Bewährung zeigt sich das Seiende gerade so, wie es an ihm selbst ist. 8 Zweitens sind die Fundamente des Gegenstandsbewusstseins hin‐ sichtlich der Erschlossenheit übersehen, in der das Sein des Daseins für es selbst aufgeschlossen ist und darüber hinaus das Sein des Sei‐ enden im Ganzen. Dasjenige, worin Bewusstsein und Gegenstand „spielen“, nämlich die Lichtung oder (in der Begrifflichkeit von Sein und Zeit) die Erschlossenheit, in der Anwesendes begegnet, wird „unterschlagen“. 9
6 7 8 9
a. a. O., 289 (218). Heidegger, Martin: Sein und Zeit, GA 2, 292 (220). a. a. O., 288 f. (218). Heidegger, Martin – Fink, Eugen: Heraklit, Frankfurt am Main 1970, 204 (202 f.).
103
Klaus Neugebauer
7. „Vgl.“ bedeutet Annahme und Abstoß Die Frage nach dem Sein kann nur im denkenden Abstoß von der Husserlschen Phänomenologie weitergetrieben werden. In dieser Weise, das heißt, unter dem Anspruch der Seinsfrage, ist Heideggers kritischer Abstoß zu verstehen. In seiner Anmerkung auf 289 (218) in Sein und Zeit dürfen wir keine Aufforderung zum vergleichenden Gegenüberstellen sehen, die Gleiches und Ungleiches, Entsprechen‐ des und Nichtentsprechendes herausstellen soll. Diese Art Vergleich würde sich im Rahmen einer formalen Untersuchung bewegen und dem Wesentlichen in beiden Aufweisen der Wahrheit nicht gerecht werden. Wir sehen vielmehr in dieser Abkürzung „vgl.“ (mit impe‐ rativischer Bedeutung) den Hinweis auf die kritische Aufnahme und den Abstoß des bewusstseinsphänomenologischen Wahrseins. Das „vgl.“ gibt dem Leser den Wink, diese kritische Rezeption denkend nachzuvollziehen. Was Heidegger die Ausweisung des Seienden im Entdeckendsein des Daseins nennt, ist in formaler Entsprechung nichts an‐ deres als das, was bei Husserl die bewusstseinsmäßige Identifizie‐ rung von Gemeintem und Selbstgegebenem ist. In gewisser Weise nimmt Heidegger also formal Husserls Modell der Identifizierung auf. Allerdings spricht er nicht mehr im Sinne einer Phänomeno‐ logie der Bewusstseinserlebnisse vom aktuell erlebten Wahrsein in der Erfüllungssynthesis des wahrgenommenen Gegenstands. Das Wahrsein ist primär gar nicht die bewusst erlebte Übereinstimmung von Vermeintem und Selbstgegebenem. Als Wahrsein gilt vielmehr, und darin liegt der kritische Abstoß von Husserl, das Entdeckendsein des Daseins und letztlich die Erschlossenheit des Daseins selbst. Hier leuchtet Heideggers Begriff des Wahrseins.
104
III. Lebenswelt – Atem – Verantwortung
.
Lenart Škof
Von der Seinsvergessenheit zur Atemsvergessenheit Ein Versuch des respiratorischen Denkens bei Heidegger
Tief in der Zeitenschrunde, beim Wabeneis wartet, ein Atemkristall, dein unumstössliches Zeugnis. Paul Celan 1 Schritte ohne Stapfen, mit voller Lunge des Raumes atmet die göttliche Transzendenz. Niko Grafenauer 2
Zur Einführung 3 In seiner Vorlesung über pneuma bei Hölderlin sagte Professor Te‐ ruaki Takahashi Folgendes: Den Geist für Atem und Hauch zu halten und nicht so, wie wir es heute als moderne Menschen tun, ausschließlich in seiner Idealität, sondern auch als Luftzug oder Wind in seiner Materialität aufzufassen – dieses Geist-Verständnis hat in Europa eine lange Tradition. Auf Griechisch heißt der Geist in diesem Sinne eben Pneuma. Die ursprüngliche Be‐
1 Paul Celan, Werke, Historisch-kritische Ausgabe, I. Abteilung, Lyrik und Prosa, 7. Band, Atemwende (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990), S. 31. Das Gedicht beendet den Schlusszyklus der Atemwende (1963). 2 Niko Grafenauer, Odtisi (Ljubljana: Mladinska knjiga, 2000), S. 125. Der Dichter Niko Grafenauer gilt als slowenischer Paul Celan. 3 Teile dieses Aufsatzes erschienen als ein Kapitel in Ethik des Atems: Versuch über die Intersubjektivität (übers. von Primož Debenjak, Freiburg / München:
107
Lenart Škof
deutung des griechischen Wortes Pneuma entspricht die Interpretation des Begriffs Geist bei Hölderlin. Nein, es wäre eher so zu verstehen, daß auch Hölderlins Begriff Geist zur Tradition der Pneuma-Lehre der griechischen Antike gehört. 4
Wenn wir über so eine Aussage nachdenken, folgt für uns eine un‐ vermeidliche Frage: Warum haben wir in Europa diese uralte Tradi‐ tion des kosmischen Windes und des Atems für eine so lange Zeit vergessen? Und weiter noch: Warum ist es nötig, in unserem Zeital‐ ter über den Atem und atmen zu reden? Die Geschichte der abend‐ ländischen Philosophie ist auch eine Geschichte der Atemsverges‐ senheit, und der Weg zum neuen respiratorischen Denken kann nur vor dem Hintergrund einer radikaleren Kritik der Geschichte des europäischen Denkens erscheinen. Dieser Aufsatz ist der Versuch eines Denkens des Atems und Windes bei Heidegger. Die Frage ist, ob dieser abendländische Philosoph etwas Wichtiges auch über den Wind und den Atem wusste? Wir möchten in diesem Aufsatz dafür plädieren.
Karl Alber, 2017). Wir bringen hier eine überarbeitete und erweiterte Version. Hier können wir leider nicht auf alle Epochen der respiratorischen Philoso‐ phie verweisen. Für Schellings Philosophie der Konspiration (verstanden im originellen Sinne als Mit-Atmen) siehe Kap. 2 unseres Buches. Mit Schellings Worten: „Denn weil Gott in seiner Existenz doch nicht gestört, noch weniger aufgehoben werden kann: so wird nach der notwendigen Korrespondenz, die zwischen Gott und seiner Basis stattfindet, eben jener in der Tiefe des Dunkels auch in jedem einzelnen Menschen leuchtende Lebensblick dem Sünder zum verzehrenden Feuer entflammt, so wie im lebendigen Organismus das einzelne Glied oder System, sobald es aus dem Ganzen gewichen ist, die Einheit und Konspiration selbst, der es sich entgegensetzt, als Feuer ( = Fieber) empfindet und von innerer Glut entzündet wird.“ (F. W. J. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Hamburg: Meiner, 1997, S. 63). 4 „Pneuma bei Hölderlin“ ist ein nicht veröffentlichter Aufsatz von Professor Ta‐ kahashi aus der „Atem / Atmen (pneuma, prāṇa, qi , ki )“ Tagung an der Universität Hildesheim (2.–5. Juli 2015).
108
Von der Seinsvergessenheit zur Atemsvergessenheit
Die Atemsvergessenheit in westlicher Philosophie Wie würde eine Geschichte der westlichen Philosophie aussehen, wenn wir statt Seinsvergessenheit über Atemsvergessenheit rede‐ ten? Schon Karl Marx war es in seinen Jugendschriften klar, dass der alle Naturkräfte aus- und einatmende Mensch ein Aspekt des Menschseins ist, der im Laufe der Geschichte bereits radikal verges‐ sen wurde. 5 Aber es ist in Ludwig Feuerbachs Philosophie der Sinn‐ lichkeit, dass wir zum ersten Mal über eine neue elementare Philoso‐ phie reden können. Der Gedanke der Elemente ist deshalb wichtig, weil bei Feuerbach – zum ersten Mal nach dem Ausgang des vorso‐ kratischen Denkens – die Elemente jetzt wieder einen neuen Anfang der Philosophie der Sinnlichkeit ermöglichen und dann auch eine aus ihr verstandene neue Möglichkeit der Intersubjektivität andeu‐ ten. Von allen Elementen stehen bei Feuerbach das Wasser und die Luft an herausragender Stelle. Feuerbach benannte in Das Wesen des Christentums seine gesamte Lehre mit dem etwas esoterischen Ausdruck „pneumatische Wasserheilkunde“ 6, und er versteht diese Lehre als Therapie für den modernen Menschen. Für Feuerbach ist das Wasser ebenjenes Element, das den Menschen am unmittel‐ barsten berührt: „Das Wasser ist das nächste und erste Mittel, sich mit der Natur zu befreunden“. 7 Gewissermaßen ist es für unseren Philosoph sogar primärer als der Atem, denn es ist jenes Element, das den Menschen schon in der Gebärmutter umgibt und ihm so‐ mit sein Dasein erteilt. Marx Wartofsky zitiert daran anknüpfend diesen Passus von Feuerbach: „Dasein ist das erste Sein, das erste Bestimmtsein. Hier bin ich – das ist das erste Zeichen eines wirkli‐ chen, lebendigen Wesens“. 8 Was aber können wir über das Element Luft, oder Atem, bei Feuerbach sagen? Feuerbach beschreibt in Das 5 Siehe Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: K. Marx und F. Engels, Werke, Ergänzungsband, 1. Teil (Berlin: Dietz Verlag, 1968), S. 577. 6 Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Werke in Sechs Bänden, hrsg. von Erich Thies (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976), S. 14. 7 Feuerbach, Das Wesen des Christentums, S. 324. 8 Ludwig Feuerbachs Sämtliche Werke, hrsg. von W. Bolin und F. Jodl, Zweiter Band: Philosophische Kritiken und Grundsätze (Stuttgart: Fr. Frommans Ver‐ lag, 1904), S. 306. Wartofsky fügt hier hinzu: „Heideggers Schuld gegenüber Feuerbach ist hier offensichtlich“ (Marx W. Wartofsky, Feuerbach, Cambridge / London: Cambridge University Press, 1977, S. 377). Für mehr über Feuerbachs
109
Lenart Škof
Wesen der Religion die Bedeutung der vorsokratischen Elemente wie folgt: Die Religion in diesem Sinne liegt dem Menschen so nahe wie das Licht dem Auge, die Luft der Lunge, die Speise dem Magen. Die Religion ist die Beherzigung und Bekennung dessen, was ich bin. Vor allem bin ich aber ein nicht ohne Licht, ohne Luft, ohne Wasser, ohne Erde, ohne Speise existierendes, ein von der Natur abhängiges Wesen. 9
Letztlich, in seinem Werk Pragmatismus und radikaler Empirismus von 1904, erteilt William James, indem er seine philosophischen Vorgänger verlässt und dem Aufstieg der Phänomenologie in Eu‐ ropa ebnet, dem universalen und antimetaphysischen Phänomen des Atems die höchste epistemologische Bedeutung: „‚Ich denke‘, das Kant zufolge alle meine Vorstellungen muss begleiten können, ist das ‚Ich atme‘, das sie wirklich begleitet.“ 10 Wir halten die Be‐ hauptung von James für einen der wesentlichen Punkte des langen Philosophie der Sinnlichkeit siehe Ethik des Atems, Kap. 4: „Feuerbachs Pneu‐ matische Wasserheilkunde“. 9 Ludwig Feuerbach, Werke in sechs Bänden, Bd. 4 (Kritiken und Abhandlungen III, 1844−1866), Theorie Werkausgabe (Frankfurt / M: Suhrkamp, 1975), S. 82. 10 William James, Pragmatismus und Radikaler Empirismus, übers. von Klaus Langbehn (Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2006), S. 27. Das gesamte Zitat lautet so: „Was auch immer bei anderen der Fall sein mag – wie ich mir über an‐ deres gewiß bin, so auch darüber, daß der Strom der Gedanken in mir (den ich nachdrücklich als ein Phänomen anerkenne) nur ein ungenauer Name für etwas ist, das sich bei eingehender Prüfung als vornehmlich aus dem Strom meines Atems bestehend erweisen wird. Das ‚Ich denke‘, das Kant zufolge alle meine Vorstellungen muss begleiten können, ist das ‚Ich atme‘, das sie wirk‐ lich begleitet. Neben dem Atmen gibt es andere innere Tatsachen (zerebrale muskuläre Anpassungen usw., worüber ich das eine oder andere in meinem Principles of Psychology gesagt habe), die die Aktivposten des ‚Bewußtseins‘ vermehren, soweit letzteres der Gegenstand unmittelbarer Wahrnehmung ist; aber der Atem, der stets das Ursprüngliche des ‚Geistes‘ [spirit] war und der zwischen Stimmritze und Nasenlöchern nach außen strömt, ist – so meine feste Überzeugung – die Essenz, aus der Philosophen jene Entität konstruiert haben, die sie als Bewußtsein bezeichnen. Diese Entität ist fiktiv, während konkrete Gedanken vollkommen real sind. Aber konkrete Gedanken sind aus demselben Stoff gemacht wie Gegenstände.“ Hier ist es nötig, die folgende respiratorische Aussage von Paul-Henry Th. d’Holbach über die „Seele“ und „Spiritualität“ zu erwähnen: „In der Tat erhalten wir durch das Wort Geist keine andere Idee als die des Hauches, des Atems, des Windes; wenn man uns also sagt, die Seele sei ein Geist, dann bedeutet das, daß
110
Von der Seinsvergessenheit zur Atemsvergessenheit
Prozesses der Enteignung von Kants und verwandten Argumenten aus der Vergangenheit. 11 Aber hier interessiert uns, wieso wir in der Philosophie auch wei‐ terhin den Atem vergessen. Luce Irigaray schrieb: „Ich atme, also bin ich“ 12, und der Vorteil, den in unserem Leben der Atem hat, ist mehr als offensichtlich. Wieso weichen wir diesem (Ur-)Phänomen aus, vielleicht dem einzigen, das uns in unmittelbare Nähe unse‐ res Werdens als ethische Wesen, neuen Formen der Gegenseitig‐ keit entgegenbringt, vielleicht zu einer neuen, ethisch-politischen gewaltfreien Konversation der Menschheit, als Teil dieses Werdens? ihre Wirkungsart derjenigen des Hauches gleichkommt, der, selbst unsichtbar, doch sichtbare Wirkungen erzeugt oder der wirkt, ohne gesehen zu werden. Aber der Hauch ist eine materielle Ursache, er ist modifizierte Luft; er ist keine einfache Substanz von der Art derjenigen, die die heutigen Philosophen mit dem Namen Geist bezeichnen.“ (Paul-Henry Th. d’Holbach, System der Natur, übers. von Fritz-Georg Voigt (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978, S. 86). 11 Bezüglich einer früheren Rehabilitation des respiratorischen Denkens im 20. Jahrhundert sind die folgenden Werke zu erwähnen: Gaston Bachelard, Air and Dreams: An Essay on the Imagination of Movement (Dallas: DIHC, 2011; Franz. Original: L’Air et les songes, 1944); Hubert Tellenbach, Geschmack und Atmosphäre: Medien menschlichen Elementarkontaktes (Salzburg: O. Mül‐ ler, 1968); Hermann Schmitz, System der Philosophie, Bde. I-III (Bonn: Bou‐ vier, 1969−1977). Andere westliche respiratorische Denker sind: Jacques Der‐ rida (Vom Geist: Heidegger und die Frage, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992; Franz. Original: De l’esprit, 1987), David Abram, The Spell of the Sen‐ suous: Perception and Language in a More-Than-Human World (New York: Vintage Books, 1997); Luce Irigaray (Die Zeit des Atems, Rüsselsheim: Christel Göttert Verlag, 1999; Between East and West: From Singularity to Community, Delhi: New Age Books, 2005) und Peter Sloterdijk (Sphären I: Blasen, Frank‐ furt am Main: Suhrkamp, 1998). Für weitere Werke aus der Tradition der re‐ spiratorischen Philosophie siehe: Ichiro Yamaguchi, Ki als leibhaftige Vernunft (München: Fink, 1997); Yuho Hisayama, Erfahrungen des Ki: Leibessphäre, At‐ mosphäre, Pansphäre (Freiburg: Karl Alber, 2014); John Durham Peters, The Marvelous Clouds: Towards a Philosophy of Elemental Media (Chicago: Chi‐ cago University Press, 2015); Lenart Škof, Breath of Proximity: Intersubjecti‐ vity, Ethics and Peace (Dordrecht: Springer, 2015); Magdalena Górska, Breathing Matters: Feminist Intersectional Politics of Vulnerability (PhD diss., Linköpings University, 2016); Stefanie Heine, Poetics of Breathing (New York: SUNY Press, 2021); Petri Berndtson, Phenomenological Ontology of Breathing: The Respira‐ tory Primacy of Being (London and New York, Routledge 2023). 12 Luce Irigaray, The forgetting of air in Martin Heidegger, prev. Mary Beth Made (Austin, TX, The University of Texas Press, 1999), S. 163. Franz. Original: L’oubli de l’air chez Martin Heidegger (Paris: Editions de Minuit, 1983).
111
Lenart Škof
Irigaray sagt Folgendes in ihrer Monographie über Heidegger – als sie über Wahrheit, Klarheit, das Denken der Offenheit, das heißt über eine neue, vielleicht nichtparmenideische Logik der Offenheit nachdenkt, die den Fallstricken der westlichen Ontologie auswei‐ chen könnte: Doch in welchen vorsokratischen Worten kann eine Erwähnung der Offenheit gesucht werden? In Parmenides’ Gedicht. Ist es denn nicht bereits zu spät, das Siegel seines Geheimnisses wieder zu öffnen? Die Offenheit ist darin als vollkommene Rundheit oder als grundlos kon‐ stituiert. Der Kreis ist bereits geschlossen: an beiden Enden fallen der Anfang und das Ende zusammen, doch um den Preis eines Abgrunds. Was für eines Abgrunds? Und wozu das nicht zitternde Herz be‐ werten, um sich so von der Bodenlosigkeit zu überzeugen? Und wieso soll die Unverborgenheit Angst machen, wenn nicht deshalb, weil sie den Abgrund aufdeckt, auf dem die Wahrheit begründet ist? Wozu eine solche Wahrheit und mit ihr die Grausamkeit wählen, die ihr Bund mit der Angst wahrscheinlich mit sich bringen wird? [. . . ] Das Metaphysische ist weder auf / in dem Wasser noch auf / in der Luft noch auf / in dem Feuer geschrieben. Seine Ex-sistenz basiert auf festem Grund. Und ihre Abgründe, sei es in die Höhe oder in die Tiefe, finden ihre Erklärung zweifellos im Vergessen der Elemente, die nicht die gleiche Dichte haben. [. . . ] Solange Heidegger die Erde nicht ver‐ lässt, verlässt er die Metaphysik nicht. 13
Irigaray stellt in ihrer Analyse der Topologie des Seins bei Heideg‐ ger luzide fest, dass es den Philosophen gerade die Gebundenheit an die Festigkeit der Kruste – oder an einen Grund, „Boden“ und somit das Element Erde (und auch bei Heidegger bleibt noch diese starke Gebundenheit an die griechische und auch an seine deutsche, heimische Erde) – ermöglichte, das Sein abzubilden, sodass es all‐ mählich versteinern konnte und – wenn wir das hinzufügen dür‐ fen – dass Philosophen wie Bildhauer waren, Künstler, die nur mit einem Element arbeiten konnten, mit Erde und Stein, dem Element, zu dem sich manchmal noch ein anderes gesellt, und das ist das Heraklitische Element des Feuers als Prinzip der Entstehung und Vernichtung. Obwohl die Philosophen von diesem Bild abrücken wollten, schufen sie nur seine Repliken: „Mögen sich Philosophen 13 Vgl. Irigaray, The forgetting of air in Martin Heidegger, S. 2. (hier aus dem Eng‐ lischen übers. von Primož Debenjak).
112
Von der Seinsvergessenheit zur Atemsvergessenheit
von ihm entfernen oder ihn verändern, der Boden ist immer da“. 14 Heidegger wusste, dass er die Welt vor diesem Sein als sphärische Kugel, dem Sein als Schale des Daseins, aber auch vor dem Schmerz (aus) der Erde und, letztendlich, vor der Rückkehr in die Erde, dem Tod, retten musste. Trotzdem erhält sich auch bei ihm (etwa in der Einführung in die Metaphysik, in seinen Vorlesungen aus den Jah‐ ren 1934 und 1935) der Gedanke der Begründung oder Gedanke des Ur-sprungs und der Verwirklichung des Grundes. Später wird dieser Gedanke von der vierfachen Hölderlinschen Konstellation der Welt ersetzt: Himmel und Erde, Götter und Sterbliche – und, wie unser Versuch zeigen will – eine Möglichkeit des Windes oder Atems bei Heidegger.
Das Geviert, die Luft und der Mesokosmos 15 bei Heidegger Der Gedanke des Ur-sprungs – oder der Gründung des Grundes, wie Heidegger in der Einführung in die Metaphysik sagt – fokus‐ siert alle unsere Gedanken in die tiefgründigste Frage: nämlich, aus welchem Grund kommt das Seiende. Die Frage, die, wie Heideg‐ ger sagt, in das Tiefste und Ursprünglichste hineinreicht. Doch war 14 Ebd. 15 Der Erste, der diese Bezeichnung verwendete, ist Robert I. Levy, der in Zusam‐ menarbeit mit Kedar Rāj Rājopādhyāy im Werk Mesocosm: Hinduism and the organization of a traditional Newar city of Nepal (Berkeley: Univesity of Califor‐ nia Press, 1990) die Rituale bei den nepalesischen Newars analysierte und den Mesokosmos als Raum verstand, wo sich durch die alltäglichen Rituale die sog. „Religion auf dem Boden“ ereignet. Aber im Sinne von einem kosmisch-atmo‐ sphärischen Raum (wie das Geviert) versteht sich der Mesokosmos zum ersten Mal bei Michael Witzel, und nämlich in seinem Werk Kaṭha Āraṇyaka (Cam‐ bridge, Mass.: Harvard University Press, 2004), §§ 3 und 4. Witzel ist in diesem Werk der Erste überhaupt, der den Ausdruck Mesokosmos in der Bedeutung verwendete, die uns für unsere respiratorische Philosophie dient. Wo wir uns auf die dreiteilige Struktur bzw. Verbindung Mikrokosmos-Mesokosmos-Makro‐ kosmos stützen, war uns dabei der Indologe und hervorragende Übersetzer der Upanischaden Patrick Olivelle mit seiner Interpretation der vedischen kosmi‐ schen Verbindungen eine große Inspiration. Siehe S. Patrick Olivelle, Upaniṣads (Oxford: Oxford University Press, 1996). Olivelle versteht nämlich die vedische Kosmologie im Sinne der dreifachen Sphäre „des Ritual, der kosmischen Reali‐ täten und des menschlichen Körpers / der Person“ (ebd.), die die Gesamtheit des Daseins in seiner Verbundenheit bilden.
113
Lenart Škof
denn nicht in uns, wie eine Art Vorempfindung (Irigaray), schon die ganze Zeit ein anderer Gedanke, der Funke eines Gedankens präsent? Haben wir denn auf dem Weg in die Tiefe des Fragens nicht etwas Kostbares hinter uns gelassen, das Sein verlassen und ausgesetzt und uns auf den Weg gemacht, auf dem wir nichts mehr sagen können? Auf welchem Horizont wird man sich wieder die Frage der Liebe stellen können, wie auch Heidegger beim Lesen von Schelling sagen wird (zu dem wir im Sinne des Fragens noch spä‐ ter zurückkommen werden)? Heidegger verbindet bei der Deutung von Schellings berühmter Abhandlung Über das Wesen der mensch‐ lichen Freiheit wesentlich die Sehnsucht und die Liebe – beides zeigt sich als Anfangsimpuls in Gott – mit der Weise des Sammelns als le‐ gein und logos. Gleichzeitig kann Heidegger den Geist bei Schelling schon im respiratorischen Sinne von pneuma oder Hauch der Liebe verstehen. 16 Wie einer der wichtigeren Interpreten von Heideggers (politischem) Denken, Fred Dallmayr, beobachtet, neigt sich Hei‐ degger hier jedenfalls der Interpretation zu, die in seinen Gedanken der Seynsfuge als selbstsammelndes Erkennen der Weisen des Seins des Daseins führt. Dabei ist die Liebe die Variable dieser Doppel‐ bewegung im Dasein. Die Liebe versteht Heidegger zwar als Einheit oder Anfangszusammenhang der Elemente, doch auch im Sinne des Zulassens des anderen als Disjunktion, des Zwists oder des Bösen, was ansonsten aus Schelling hervorgeht. 17 Dieser bezeichnet näm‐ lich, genauso wie Feuerbach, die Liebe als das Höchste und sagt so: Denn auch der Geist ist noch nicht das Höchste; er ist nur der Geist, oder der Hauch der Liebe. Die Liebe ist aber das Höchste. Sie ist das, was da war, ehe denn der Grund und ehe das Existierende (als ge‐ trennte) waren, aber noch nicht war als Liebe, sondern – wie sollen wir es bezeichnen?
Heidegger bemerkt in seinem Kommentar zu Schellings Freiheits‐ schrift die Bedeutung dieses Hauchs und stellt ihn über den Namen der Liebe dem heiligen Geist gleich. Doch interessiert denn Heideg‐ 16 Martin Heidegger, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809) (Frankfurt am Main: Klostermann, 1988) S. 219 (légein) und S. 222 (für den Atem). 17 Fred Dallmayr, „An End to Evil? Philosophical and political reflections“, Inter‐ national Journal for Philosophy of Religion (2006), Vol. 60, S. 179 ff.
114
Von der Seinsvergessenheit zur Atemsvergessenheit
ger dieser Name der Liebe, Vorempfindung und Sehnsucht, verbun‐ den mit dem ursprünglichen Atem des Lebens, als Name und nicht nur als Variante des Seins? Jedenfalls sprechen wir hier nicht (mehr) über den körperlichen (empirischen) und geistigen (transzenden‐ talen) Urquell, sondern – mit ursprünglicheren Worten von Schel‐ ling gesagt – über die Möglichkeit des ersten Körperlichen, das den künftigen Namen des Menschen enthüllt – den ersten und zarten (durchsichtigen) Körper-Atem / Geist als Prototyp des Seins, und der Liebe, indem: die erste zarteste Leiblichkeit [entsteht] [. . . ] denn der eigentliche Leib ist der Gegensatz, mit dem sich der Geist unmittelbar mit einer durch‐ sichtigen Hülle überkleidet [. . . ] und so früh finden sich Geistiges und Leibliches als die zwei Seiten einer und derselben Existenz. 18
Heidegger gegen Heidegger wenden, wie Jack Caputo sagte; doch zugleich ist diese Umkehr, die nicht leicht ist, ein Weg zum Bereich der Gebürtlichkeit, ein Weg, der für Heidegger schwer ist, der an die Zugehörigkeit zur Erde und Sterblichkeit sowie an die Sterblichen gebunden ist. Gott braucht nämlich, laut Schelling (und Heideg‐ ger – Der letzte Gott), die Menschen, um sich ihnen zu offenbaren und zu wirken. Das Geheimnis der Liebe wächst aber im Grund, dem Ort, den wir Menschen uns als Einzige mit Gott teilen. In den alten Kosmologien, die noch der natürlichen Topographie der Welt des Seienden zugehören konnten, war die Stelle dieser Mit-wirkung im Ritual (Mesokosmos) als Mittler zwischen der Welt der Natur und der Götter (Makrokosmos) und der Welt der Menschen (Mi‐ krokosmos). Heidegger hat schon im Werk Vom Wesen der Wahrheit, als er erstmals den Modus Seinlassen erwähnt, den Übergang zu einer anderen Weise der Gabe des Seins angekündigt. In den Texten aus der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre (Vorlesungen über Nietzsche und auch Schelling, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Besin‐ nung, Geschichte des Seyns) rückt er die Thematisierung unseres In‐ -der-Welt-seins in Richtung der Modi der Wahrheit als Unverbor‐ genheit sowie des Ethos der Gewaltfreiheit, die die davor vorherr‐ schende Entschlossenheit des Daseins ersetzen. Der erwähnte Über‐ 18 F. W. J. Schelling, Die Weltalter: Fragmente (München: Beck, 1993), S. 148 f.
115
Lenart Škof
gang konnte dann zu Schlüsseltexten führen, die nach dem Zweiten Weltkrieg folgten (Brief über den Humanismus, Holzwege, Unter‐ wegs zur Sprache sowie Zeit und Sein). Wir wissen, dass die Ent‐ schlossenheit – als Schlüsselmodalität von Heideggers Philosophie in der Zeit, die in seiner unmittelbaren Umgebung mit Kriegsideo‐ logie geladen war – zur Affirmation des Daseins führt (primär durch die Sorge um sein Sein zum Tode) als wesentlich verbunden mit den heraklitischen Weisen polemos und logos. Deshalb kann in dieser Zeit Heideggers Hand die Geste des Grußes an eine Ideologie voll‐ führen, die dieses heraklitische Erbe in inkarnierter und grob vulga‐ risierter Form im Rahmen des unmittelbaren Verlaufs der Weltge‐ schichte umzusetzen versuchte. Dallmayr unterstreicht deshalb im Kontext der Thematisierung von Heideggers politischem Denken eine gewisse intersubjektive Bedeutung der Entschlossenheit in Sein und Zeit: in § 60 wird von Heidegger dieser „ausgezeichnete Modus der Entschlossenheit des Daseins“ folgendermaßen mit dem Mitsei‐ enden verknüpft: Die Entschlossenheit bringt das Selbst gerade in das jeweilige besor‐ gende Sein bei Zuhandenem und stößt es in das fürsorgende Mitsein mit dem Andern [. . . ] Aus dem eigentlichen Selbstsein der Entschlos‐ senheit entspringt allererst das eigentliche Miteinander [. . . ]. 19
Die Bedeutung einer solchen Festlegung der Entschlossenheit liegt nicht nur darin, dass das Dasein in seiner existenziellen Fürsorge gewissermaßen die Möglichkeit des Seins der anderen zu erschlie‐ ßen ermöglicht, sondern vielmehr in der Bedeutung, die der Passus gewinnt, wenn wir ihn mit der Betonung auf der befreienden Für‐ sorge ihres Mitseins mit anderen lesen. Heidegger rechnet in den Beiträgen zur Philosophie nun mit der Machenschaft und ihren Avataren – Stärke, Macht, Gewalt usw. – als Grundlage der vorherrschenden Weltanschauung und zugleich auch der grundlegenden Wirkung der westlichen Metaphysik ab. Er rechnet auch mit der totalen Mobilmachung ab (Ernst Jünger). Der Domination der Machenschaft stellt nun Heidegger einen neuen Terminus gegenüber – das heißt die (neue) „Herrschaft“ als cháris 19 Heidegger, Sein und Zeit (Tübingen: Niemeyer, 1979), S. 298. Für Dallmayr s. „Ontology of Freedom: Heidegger and Political Philosophy“, Political Theory, Vol. 12, No. 2 (May 1984), S. 215.
116
Von der Seinsvergessenheit zur Atemsvergessenheit
des Seins: doch auch in der Herrschaft kommt noch eine Gegen‐ tendenz der Sammlung oder Begründung zum Ausdruck, denn die Herrschaft ist ein Modus, der (zunächst noch) immer in einem Ver‐ hältnis zur Macht oder zum Vermögen steht: Herr ist, wer über die Macht herrscht. Das bloße Ja zur Macht als Wesen der Wirklichkeit ist die niedrigste Knechtschaft. Herr der Macht ist, wer ihr Wesen wandelt. Solche Wandlung ent‐ springt nur dem Seyn. Und einmal kommt das Seiende vor das Seyn und muß in ihm den Anfang seiner Wahrheit ergründen und – in den Ab-grund reichen. Ereignis und die Milde der höchsten Herrschaft, die nicht der Macht und nicht des „Kampfes“ bedarf, sondern ursprünglicher Auseinandersetzung. Das Gewalt-lose walten. 20
Die Herrschaft, die aus dem Sein (Seyn) kommt und die die Macht wandeln kann – doch worin kann sich die Macht wandeln? Hei‐ degger sieht also schon ein, dass die Herrschaft doch zu nahe an der Macht und deren schrecklichen Verbrechen der „planetarischen Hauptverbrecher“ 21 ist und rückt in dieser Zeit bereits davon ab. Hier hallt und kommt wieder Schellings Philosophie des Grundes (und des Bösen) zurück, die Heidegger, nicht ohne Grund, gerade in dieser für ihn schwierigen Zeit der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre intensiv erforschte, und zugleich deutet sich der Gedanke des Ge‐ vierts an (Geschichte des Seyns, § 27), innerhalb dessen sich nun dieser zweite Anfang – d. h. das Ereignis – verwirklicht. Heidegger betont nun in einem außerordentlich wichtigen Paragraphen der Geschichte des Seyns (§ 48), dass man das Sein weder aus der Immanenz noch aus der Transzendenz denken könne: wir finden das Sein nicht irgendwo „in uns“ oder „um uns“, sagt Heidegger, sondern sind immer darin als Ereignis. Schon Feuerbach deutete das Verhältnis des Menschen zur „Natur“ oder zum „Geist“, „Naturalismus“ oder „Spiritualismus“ an. Heideggers Gedanke des Gevierts (als Atmosphäre oder Mesokosmos verstanden) wird man deshalb auch über den Umweg von Feuerbachs und Schellings Gedanken denken müssen, die beide innerhalb des 20 Martin Heidegger, Die Geschichte des Seyns (Frankfurt am Main: Klostermann, 1998), S. 21 und 8. 21 Die Geschichte des Seyns, § 61, „Macht und Verbrechen“ S. 78.
117
Lenart Škof
Grundes / Geheimnisses des Seins der Liebe ermöglichen, aus sich den Sinn einer subtilen, aus der Stille des Grundes atmenden / spirituellen Körperlichkeit zu gebären. In Analogie zu Feuerbach, der das Elemen‐ tedenken hervorbrachte, steht der Mensch als Wesen der Sinnlichkeit (die Haut als System, das den Menschen in das Gefühl von Abhän‐ gigkeit lässt) 22 immer schon in einer fundamentalen Beziehung zur Natur (physis), deren Teil er ist. Für Feuerbach, den Heidegger freilich nicht in Ehren hielt (denn er stand, wie auch Schopenhauer, nicht in der Reihe der wesentlichen Denker, die stets das Selbe bezeugen), ist das Gefühl der Gebundenheit an die Natur dasjenige, aus dem sich in mir in der Weise radikaler Subjektivität der andere gebiert. Der kosmologische Name dieser Gebundenheit / Abhängigkeit ist das Ritual als reiner Raum zwischen Körperlichkeit und Liebe, wo mein endliches Sein der Unendlichkeit der Grenze begegnet (die Feuerbach über die „Haut“ und, als Grundmodus des Seins des Menschen, des Geschlechtsunterschieds konstituiert). Dachte denn Heidegger nicht ähnlich, als er das Ereignis als Zwischen des Zeit-Raums herstellte, in dem das Sein nicht unser oder menschliches Sein ist, sondern das Ereignis selbst? Sein und Atem . . . – doch wie werden wir dieses Geheimnis des Aufkeimens des respiratorischen Denkens bei Heidegger nennen? Lässt denn Heidegger in seinem Gedanken zumindest einen infini‐ tesimalen Unterschied zu, der im Denken des Seins es ermöglichte, Körperlichkeit und Sinnlichkeit zu denken? 23 Ist denn die Geste der Hand, die schreibt, keine körperliche Geste, die in ihrer Bereitschaft und Freizügigkeit immer dem Denken voraus ist? Wird denn nicht die Sprache, die spricht, mithilfe der Luft und des Atems ausgetra‐
22 So äußert sich Feuerbach in einem hervorragenden Passus seines Werkes von 1841 (Einige Bemerkungen über den Anfang der Philosophie): „Durch den Leib ist Ich nicht ich, sondern Objekt. Im-Leib-Sein heißt In-der-Welt-Sein. Soviel Sinne – soviel Poren, soviel Blößen. Der Leib ist nichts als das poröse Ich.“ (Ludwig Feuerbach, Werke in sechs Bänden, hrsg. v. E. Thies, Bd. 3, Kritiken und Abhandlungen II, 1839−1843, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1975, S. 138). 23 Wir spielen auf den Gedanken von William James an, der in seinem Das plura‐ listische Universum sagt, dass der Gottbegriff einen mindestens infinitesimalen Unterschied enthalten müsse, durch den er zu dem anderen (dem Menschen) heruntersteigt, und umgekehrt, über den sich der Mensch Gott in diesem Akt spirituellen Austausches nähern kann (vgl. William James, Writings 1902–1910, New York: The Library of America, 1994, S. 772).
118
Von der Seinsvergessenheit zur Atemsvergessenheit
gen und dem anderen zugetragen? Und letztendlich, ist denn der Mensch nicht zur Gänze dem Sein ausgeliefert schon mit seiner Ge‐ burt als Zeichen des leicht atmenden Pulsierens des Seins, der Ver‐ heißung der Liebe? Heidegger grenzt im Brief über den Humanismus die Ethik als Ethik klar von der Ontologie ab, doch deutet er zugleich die Not‐ wendigkeit ihrer engen Nähe zum Denken des Seins an: nur aus der Zugehörigkeit zum Sein kann etwas kommen, das uns ein Handeln auferlegt und uns verpflichtet (nemein und nomos). Also doch – eine ethische Verweisung und Verpflichtung? Heidegger sagt, nun im ech‐ ten upaniṣadischen Stil, in seinem Bauen Wohnen Denken (1951): Doch „auf der Erde“ heißt schon „unter dem Himmel“. Beides meint mit „Bleiben vor den Göttlichen“ und schließt ein „gehörend in das Miteinander der Menschen“. Aus einer ursprünglichen Einheit gehören die Vier: Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen in eins. Die Erde ist die dienend Tragende, die blühend Fruchtende, hingebrei‐ tet in Gestein und Gewässer, aufgehend zu Gewächs und Getier. [. . . ] Der Himmel ist der wölbende Sonnengang, der gestaltwechselnde Mondlauf, der wandernde Glanz der Gestirne, die Zeiten des Jahres und ihre Wende, Licht und Dämmer des Tages [. . . ] Wolkenzug und blauende Tiefe des Äthers. [. . . ] Die Sterblichen sind im Geviert, indem sie wohnen. 24
Hier finden wir uns erstmals in einer elementaren Welt wieder, in die Heidegger auch das Wasser als Lebensquelle und die Luft / den Äther als Medium unseres Wohnens hinzuzieht; den Äther als Tiefe des Himmels, Ankunft des Himmels zum Menschen, der jetzt im Geviert / Sein mit Nachgiebigkeit seine / ihre Gabe zurückgibt. Wie Trakl sagt: „Golden blüht der Baum der Gnaden / aus der Erde kühlem Saft“. Sowie das Element der Nahrung: Brot und Wein als „Früchte des Himmels und der Erde“. 25 Das ist für Heidegger jetzt der Sinn des Wohnens. Später im Text, und erstmals auf diese Weise, zieht Heidegger in den Sinn des Wohnens, neben dem Totenbaum /
24 Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze (Frankfurt am Main: Klostermann, 2000), S. 151–152. 25 Für Trakl siehe Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache (Frankfurt am Main: Klostermann 1985), S. 25.
119
Lenart Škof
der Welt der Ahnen noch die „geheiligten Plätze fürs Kindbett“ hinzu als im Rahmen des Hauses des Seins angedeutetes Pulsieren einer neuen und immer künftigen Gebürtlichkeit. Diese wichtige Wende zur Gebürtlichkeit deutet er auch in der Interpretation von Hölderlins „Gesang des Deutschen“ an, wo man die „heilige Nacht“ als Gebärmutter verstehen kann (Heidegger nennt sie „Mutter des Tages“), aus der neues Leben aufblüht. 26 Somit keimte im Geviert als Ort unseres Wohnens das Heilige auf – und das Zwischen, das Heidegger in der „Sprache“ mit dem lateinischen Wort inter ver‐ knüpft, sowie mit dem deutschen Unter als Grenze / Unterschied / Unterscheidung, die auf uns im Kern des Wohnens wartet. Das Aus‐ tragen der Welt, das sich im Geviert ereignet, ist mit dem Gebärender Geburt-der ersten (ethischen) Geste (bären − gebären − Gebärde) verbunden, was nicht ohne Schmerz, aber auch nicht ohne Freude geschieht. Damit eröffnet sich uns das Geviert als Raum des Meso‐ kosmos oder des heiligen Raums des Zwischen, der aber nicht nur ein Ereignis der Durchkreuzung des Seins ist, sondern das Ereignen ihrer ewigen Emanation aus dem Raum (der Stille), den wir uns mit anderen teilen; die rituelle oder ethische Geste unseres Wohnens als Mitwohnen. In dieser Überlegung müssen wir jedoch zurückreichen: Heideg‐ ger überholt hier Heidegger selbst. Als Leser würden wir vielleicht lieber in der Welt bleiben, die der Schwarzwälder Mystiker gerade beschrieben hat. Doch die Notwendigkeit des Fragens erfordert die Rückkehr zur Frage des Grundes / Seins und Heideggers Geste ih‐ rer Begründung; letztendlich zur Frage, ob wir dem Sein die Liebe entziehen können. Die Antwort auf diese Frage kann nämlich nur eine erneute Überlegung über das Geviert / Sein als Grund oder, wie bereits in der Besinnung angedeutet, über das Sein (Seyn) aus sei‐ ner Wahrheit begründet, oder das Sein wie aus dem Abgrund oder chaos („klaffende Kluft“) herausreichenden Ort „der möglichen Ge‐ schichte des Menschen [. . . ]“ bringen. 27 26 Zum „Gesang des Deutschen“: „−−− und wenn in heiliger Nacht / Der Zukunft einer gedenkt und Sorge für / Die sorglosschlafenden trägt / Die frischaufblü‐ henden Kinder [. . . ]“ Eine hervorragende Strophe, die Heidegger also in seine Deutung der Hymne „Andenken“ einbezieht. Siehe Martin Heidegger, Erläute‐ rungen zu Hölderlins Dichtung (Frankfurt am Main: Klostermann, 1981), S. 110. 27 Vgl. Martin Heidegger, Besinnung (Frankfurt am Main: Klostermann, 1997), S. 46. Zum Abgrund vgl. auch § 16.
120
Von der Seinsvergessenheit zur Atemsvergessenheit
Mit Hölderlin denken: die Möglichkeit des Windes bei Heidegger Heidegger weist im Brief über den Humanismus beim Nachdenken über Hölderlins Dichtung geheimnisvoll auf eine der künftigen Auf‐ gaben der westlichen Menschheit hin: Wir haben noch kaum begonnen, die geheimnisvollen Bezüge zum Os‐ ten zu denken, die in Hölderlins Dichtung Wort geworden sind. 28
Das Geheimnisvolle knüpft hier nicht mehr an irgendeine Unkennt‐ nis des „Ostens“ oder „Orients“ durch den „Westen“, „Okzident“ sowie dessen Dichter und Philosophen an, sondern bedeutet, um Heideggers Begrifflichkeiten zu gebrauchen, eine schicksalhaftere Sache. Es scheint sogar, als ob wir sie heute zur Gänze noch nicht denken könnten. Wir meinen, dass das Schlüsselelement dieser Su‐ che oder des Vordringens in die Wahrheit der Beziehung zwischen zwei Zivilisationskreisen gerade das Verhältnis zum Atem ist. Hei‐ degger hat sich, wie wir gesehen haben, der Sinn des Atems immer entzogen (Vergessen des Atems), da der Philosoph allzu sehr an der Autochthonie des Griechentums und dem Weg der Rückkehr zu ihm hing. Der Vater Feuer (als polemos und logos) und die Mutter Erde sind bei Heidegger das Maß des Seienden in seinem vierfäl‐ tigen Wohnen. Jedoch deutet sich durch das Lesen von Hölderlins Dichtung bei Heidegger die Möglichkeit einer Verschiebung oder zumindest Sensibilisierung für den Atem und damit der Öffnung eines Fensters oder Spalts an, wodurch in seine Philosophie eine sanfte „Brise aus dem Osten“ weht, wie er das vielleicht selber nen‐ nen würde. Könnten wir Heidegger als einen respiratorischen Phi‐ losophen ansehen? Hölderlin, dessen Schaffenszeit in die Umbruchszeit der deut‐ schen Romantik fällt, hauchte seiner Dichtung auch eine Verschie‐ bung in der Beziehung Europas zu Asien ein, in der es zur Wende seines Jahrhunderts kommt. Gleichzeitig mit der Entwicklung der Philologie beziehungsweise der vergleichenden indoeuropäischen Sprachforschung und anderen wissenschaftlichen Entdeckungen 28 Martin Heidegger, Wegmarken (Frankfurt am Main: Klostermann, 1976), S. 338.
121
Lenart Škof
bewegt sich der Angelpunkt der Fragestellung vom „Wesen des Wes‐ tens“ gegen Asien. Vom Antagonismus zwischen der Autochtho‐ nie der griechischen Kultur gehen Denker und Dichter jener Zeit zum Gedanken der Verbindung „zu den enigmatischen Kulturen des Orients“ über. 29 Freilich ist in dieser Bewegung der „Orient“ bloß der Anfangs- oder Nullpunkt (oder Negativ) der Herstellung des so genannten neuen Hellenismus (oder breiter, der Bewegung des Geistes und des Verlaufs der Weltgeschichte gegen Europa, wie bei Herder und Hegel). Bei Hölderlin ist somit der „Orient“ der Ur‐ sprung des Feuers (als Land der gleißenden Sonne, der Nahe Osten auch als Geburtsort des Dionysos), aber in seinen Hymnen können auch der Gedanke der Elemente, des Äthers, sowie Hinweise zur Bedeutung des Denkens von Wind / Atem wahrgenommen werden. Natürlich bedeutet Asien unserem Dichter nur den Ort des Neu‐ anfangs und somit der Rückkehr nach Griechenland und ins neue Griechenland – Germanien; doch es kann auch das bedeuten, was Irigaray die Möglichkeit einer neuen spirituellen (d. h. durch den Atem gedachten) Kultur des Westens nennt. 30 In der Hymne An‐ denken lesen wir also: An Feiertagen gehn Die braunen Frauen daselbst Auf seidnen Boden, Zur Märzenzeit, Wenn gleich ist Nacht und Tag, Und über langsamen Stegen, Von goldenen Träumen schwer, Einwiegende Lüfte ziehen. 31
Im Schlussteil dieses Gedichts, das mit dem Feiern des Windes (oder besser gesagt, der Brise, der Luft) beginnt, werden Dichter 29 Eva Kocziszky, Hölderlins Orient (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009), S. 10. Wir folgen der Autorin auch später bei ihrer Interpretation des Verses „Auf seidnen Boden“ aus dem Gedicht „Andenken“. 30 Vgl. Luce Irigaray, Entre Orient et Occident (Paris: Grasset, 1999) sowie Una nuova cultura dell’energia. (Torino: Bolati Boringheri, 2011). Heidegger sagt also in den Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung „Der Stromgeist des Indus hat die Urheimat der Eltern heimisch gemacht und das erste Wohnen gegründet.“ (Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, S. 140.) 31 Zitiert nach Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, S. 77.
122
Von der Seinsvergessenheit zur Atemsvergessenheit
nach Indien gewiesen als – laut der romantischen Vorstellung – Ort des Ursprungs, von wo allein der Weg ihres Rückkehrens mög‐ lich ist. Die im Gedicht hergestellte Nord-Süd-Beziehung (Germa‐ nien–Südfrankreich als Symbol für das antike Griechenland) wird somit durch die Synchronität der West-Ost-Beziehung (Indien) er‐ gänzt. Heidegger versteht bei der Deutung des Gedichts in den Er‐ läuterungen die Bedeutung der Luft / des Windes, denn er deutet sie / ihn als das, in dem alles atmet, was lebt, mehr noch, in Anknüpfung an Hyperion heiligt diese Luft für ihn „die heilige Luft, die Schwester des Geistes, der feuermächtig in uns waltet und lebt“. 32 Obwohl mit der Mythologie des Feuers eng verbunden, die auch bei Hölderlin vorherrscht, ist sich Heidegger bei der Deutung der obigen Strophe dessen intuitiv bewusst, dass die Luft die Atmosphäre des Wohnens und der Gebürtlichkeit bildet. Über die Stege, über die Frauen ge‐ hen, sagt also Heidegger: Sie selbst sind kein leerer Ort ohne „Atmosphäre“. Sie sind beschenkt und überzogen von ziehenden Lüften, die einwiegen. [. . . ] Und den‐ noch – das Einwiegen verwahrt in der Wiege. Sie gehört zur Geburt. 33
Tod und Geburt, Geburt und Tod. Heidegger öffnet hier doch nicht die ganze Bedeutung der Strophe. Er stellt zwar den Vers „Auf seid‐ nen Boden“ in Beziehung zum Atem der Gebürtlichkeit – denn für Heidegger ist dieser Weg „die Erde selbst, aus der und über die hin in die zurück gehaucht ist jenes unbestimmte Zarte des ersten spros‐ senden Sichregens im Vorfrühling [. . . ]“. 34 Allerdings sind diese „braunen Frauen“ nicht nur Heideggers Hüterinnen der Geburt des Wesens des neuen deutschen Dichters (und später der deutschen Frau), sondern sind das (dunkelhäutige) Frauen, die nun, durch die vorher angedeutete synchronistische Lesung des Gedichts, reich umstrahlt von der Sonne des Ostens dem Dichter entgegenkom‐ men, indem die auf seidenen Wegen (Seidenstraße) gehen und dem Westen eine Fülle der kostbarsten Güter bringen. Welche denn? Die Frauen bringen das heilige Geschenk des Hauchs oder das Geschenk des heiligen Atems als Zeichen der Gebürtlichkeit (oder besser ge‐ sagt, sie deuten drauf hin). Doch wie? 32 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, S. 84. 33 Ebd., S. 111. 34 Ebd., S. 109.
123
Lenart Škof
Dieter Henrich macht in seiner Deutung des Gedichts auf eine bedeutende Dimension der erwähnten Verse aufmerksam: darin stellt uns der Dichter vor eine Fülle sinnlicher Eindrücke – son‐ nenumstrahlte Frauen, umgebende Wärme, Seide, Gold und einwie‐ gende Lüfte. Wir können all das nur annehmen, wenn wir sensibili‐ siert und somit in diese Daseinswelt inkorporiert sind. Nun ist also auch das nicht nur der kühle und die Reinheit der Gedanken brin‐ gende Nordostwind, sondern das mit Sinnlichkeit durchdrungene „einwiegende Gehen der Lüfte des Südens“. 35 Und diese Lüfte stel‐ len in der Zeit der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche das fundamentale Gleichgewicht, einen Ausgleich der Andacht, des Friedens her. Sind denn die Frauen auf irgendeine Weise mit diesen Lüften verbunden? Die Frauen gehen auf Wegen und unter diesen einwiegenden Lüften (die Heidegger mit Atmosphäre und Geburt verbindet), doch mehr noch: sie sind mit ihnen körperlich-geistig in die Gesamtheit ihres Wesens einbezogen, sie wohnen als Bringerinnen einer neuen Ge‐ bürtlichkeit in diesem feierlichen Zeit-Raum oder der Atmosphäre, in der sie Zeuge des grundlegenden kosmischen Ausgleichs sind – Tag und Nacht, Vergangenes und Zukünftiges, und doch . . . Kann das bedeuten, dass sie in der Fülle des Feurigen in sich auch das Paradigma oder die Erinnerung an eine andere Kultur des Atmens (Ein- und Ausatmen als Ausgleich, Einwiegen und Beruhigung des Atems) erhalten, wie der Gedanke des indischen prāṇayama bezeugt? Den Griechen ist nämlich der Sinn dieser Winde / Lüfte fremd. Lassen sie gleichzeitig in Heideggers Philoso‐ phie auch einen Sinn des Geschlechtsunterschieds zu? Das Atmen als Konzentration (oder „geistiges Joch“: yoga), die keine Konzen‐ tration von logos / polemos ist, sondern eine Sammlung den Körper belebender Elemente mit dem sie verbindenden warmen inneren Atem als prāṇa? 36 Das Atmen als Kunst des Atems und des Aufkom‐ mens des Zwischenraumes, mesokosmisches Ritual der Verbindung 35 Dieter Henrich, Der Gang des Andenkens: Beobachtungen und Gedanken zu Höl‐ derlins Gedicht (Stuttgart: Klett-Cotta, 1986), S. 94. 36 Wir wissen, dass sich die erwähnte Kultur des Atmens schon in der vorvedi‐ schen nichtindoeuropäischen Zeit (die Figur des proto-Śiva in Mohenjo-daro in der Jogi-Stellung) oder spätestens in der vedischen (indoeuropäischen) Zeit unter den damaligen Militärgruppen (Vratya) entwickelte, die erstmals das in‐ nere Feuer (Glut, Wärme oder tapas als „Eifer“) durch eine neue Kultur des Atems / Atmens kultivierten. Und sowohl Buddha als auch Mahāvīra, die diesen
124
Von der Seinsvergessenheit zur Atemsvergessenheit
als unsichtbarem Faden, der Menschen und Himmelsbewohner ver‐ bindet – sowie Menschen und Menschen (und auch alle atmen‐ den Wesen). Ahnte denn Hölderlin, der auch durch Empedokles’ Grundstoffe / Elemente dichtete (s. das Gedicht „Griechenland“), diese Möglichkeit eines Neuanfangs: die alte Kunst des Hauchs der Kultur, zu der in unserem Gedicht die Dichter des Westens gewiesen werden („Nun aber sind zu Indiern / Die Männer gegangen“)? 37 Wir werden das nie erfahren. Auch Heidegger weiß, dass „[d]er Strom‐ geist des Indus die Urheimat der Eltern heimisch gemacht und das erste Wohnen gegründet [hat]. Im Bereich dieses Stromes sollen die fahrenden Männer Elterliches erfahren, damit sie, heimkommend, erfahrener sind [. . . ]“. 38 Indien ist also der Anfang – und die Andeu‐ tung des Anfangs. In seinem Gedicht „Griechenland“ deutet Höl‐ derlin doch auf diese Möglichkeit hin, wenn er sagt: Gott an hat ein Gewand. Und Erkenntnissen verberget sich sein Angesicht Und decket die Lüfte mit Kunst. 39
Uns bleiben nur die Andeutungen von Hölderlin und Heidegger. Heiliger Atem . . . – als Atmosphäre (Zwischenraum, Mesokos‐ mos . . . ) der Ethik und Weg der Rückkehr zu einem künftigen auf dem Geschlechtsunterschied basierten Zeitalter des Atems, wie in ihren Werken auch Luce Irigaray suggeriert? Einem Zeitalter, das alles achten wird, was lebt, und diese größte Gabe der Natur wird empfangen können, den durch unsere Sinnlichkeit pulsierenden Atem der Liebe? Heidegger – und damit möchten wir diese Me‐ ditation abschließen – verweist auf unsere Sehnsucht, den Gedan‐ ken nämlich, dass der Mensch zwischen Sterblichen und Göttern einen Raum (Zwischenraum, Mesokosmos) für das bereiten wird, was er selbst „das Dritte, Haus der Gäste“ nennt, als Ort der Gast‐ freundschaft, der sich in der Frühlingszeit der Tag-und-Nacht-Glei‐ inneren Eifer später zur Askese (oder zum asketischen Eifer) kultivierten, ge‐ hörten militärischen Kasten an (kśatriya), die diese Überlieferung traditionell pflegten. 37 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, S. 139. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 155.
125
Lenart Škof
che oder des kosmischen Ausgleichs gründet. Voraussetzung dafür ist aber, dass alles, „das heimische Land und die Luft, das Herz der Sterblichen und die Himmlischen offen“ sein müsse. 40 Dieses Dritte ist die Atmosphäre der Ethik, der Raum der Ethik und des Atems, der Raum, den – mit dem Gedanken an die Zugehörigkeit zu den Lüften und den Göttern – wir Menschen besiedeln.
Bibliographie Celan, Paul, Werke, Historisch-kritische Ausgabe, I. Abteilung, Lyrik und Prosa, 7. Band, Atemwende (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990). Dallmayr, Fred, „Ontology of Freedom: Heidegger and Political Philosophy“, Political Theory, Vol. 12, No. 2 (May 1984), 204–234. Dallmayr, Fred, „An End to Evil? Philosophical and political reflections“, In‐ ternational Journal for Philosophy of Religion (2006), Vol. 60, 169–186. Ludwig Feuerbachs Sämtliche Werke, Zweiter Band: Philosophische Kritiken und Grundsätze (Stuttgart: Fr. Frommans Verlag, 1904). Feuerbach, Ludwig, Werke in sechs Bänden, Bd. 3, Kritiken und Abhandlun‐ gen II, 1839−1843 (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1975). Feuerbach, Ludwig, Werke in sechs Bänden, Bd. 4 (Kritiken und Abhandlun‐ gen III, 1844−1866) (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1975). Feuerbach, Ludwig, Das Wesen des Christentums (Frankfurt am Main: Suhr‐ kamp, 1976). Grafenauer, Niko, Odtisi (Ljubljana: Mladinska knjiga, 2000). Heidegger, Martin, Wegmarken (Frankfurt am Main: Klostermann, 1976). Heidegger, Martin, Sein und Zeit (Tübingen: Niemeyer, 1979). Heidegger, Martin, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (Frankfurt am Main: Klostermann, 1981). Heidegger, Martin, Unterwegs zur Sprache (Frankfurt am Main: Kloster‐ mann 1985). Heidegger, Martin, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809) (Frankfurt am Main: Klostermann, 1988). Heidegger, Martin, Besinnung (Frankfurt am Main: Klostermann, 1997). Heidegger, Martin, Die Geschichte des Seyns (Frankfurt am Main: Kloster‐ mann, 1998). Heidegger, Martin, Vorträge und Aufsätze (Frankfurt am Main: Kloster‐ mann, 2000). Henrich, Dieter, Der Gang des Andenkens: Beobachtungen und Gedanken zu Hölderlins Gedicht (Stuttgart: Klett-Cotta, 1986).
40 Ebd., S. 111.
126
Von der Seinsvergessenheit zur Atemsvergessenheit
D’Holbach, Paul-Henry Th., System der Natur, übers. von Fritz-Georg Voigt (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978). Irigaray, Luce, The forgetting of air in Martin Heidegger, tr. by Mary Beth Made (Austin, TX, The University of Texas Press, 1999). James, William, Writings 1902–1910 (New York: The Library of America, 1994). James, William, Pragmatismus und Radikaler Empirismus, übers. von Klaus Langbehn (Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2006). Kocziszky, Eva, Hölderlins Orient (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009). Marx, Karl und Engels, Friedrich, Werke, Ergänzungsband, 1. Teil (Berlin: Dietz Verlag, 1968). Olivelle, Patrick, Upaniṣads (Oxford: Oxford University Press, 1996). Rājopādhyāy, Kedar Rāj, Mesocosm: Hinduism and the organization of a traditional Newar city of Nepal (Berkeley: University of California Press, 1990). Schelling, F. W. J., Die Weltalter: Fragmente (München: Beck, 1993). Schelling, F. W. J., Über das Wesen der menschlichen Freiheit (Hamburg: Mei‐ ner, 1997). Škof, Lenart, Ethik des Atems: Versuch über die Intersubjektivität, übers. von Primož Debenjak, (Freiburg / München: Karl Alber, 2017). Wartofsky, Marx W., Feuerbach (Cambridge / London: Cambridge University Press, 1977).
127
.
Rihards Kūlis
Kant and the Problem of Life-world
The aim of the text is to accentuate the presence and universality of life-world (Lebenswelt) problems even in those cases when it is seemingly – as in Kant’s philosophy – excluded by the basic philo‐ sophical disposition and orientation to a strictly scientific world outlook and the formation of corresponding theoretical constructs. My intention is not to depict adequately the understanding of lifeworld in Edmund Husserl’s philosophy or to trace the evolution of life-world problems in the works of Alfred Schütz, Pierre Burdieu, Hans Blumenberg or in the works of any other thinker. In the current review I would like to speak about life-world as a primary, theoretically non-reflected structure of the world outlook that itself is the basis for scientific theoretical constructions. There is no doubt that life-world can consist only of a body of historically changing (albeit within a certain period relatively stable) phenom‐ ena, a kind of “historical a priori”.
1. Is it possible to speak about Kant’s heritage in this, namely, lifeworld, context? Immanuel Kant’s critical philosophy represents a seminal departure from the tradition of speculative rationalism, a school of thought he refers to as metaphysics, which posits that knowledge can be attained and expanded upon independently of empirical experience. Kant’s refutation of this doctrine is as un‐ equivocal as his rejection of its antithesis, namely one-sided em‐ piricism. Through his rigorous critique and quest for innovative epistemological pathways, Kant synthesizes the insights of rational‐ ism and empiricism, thereby engendering a novel form of rational‐ ity that signifies a paradigmatic transition in Western philosophi‐ cal discourse. In Kantian philosophy, the object is reconceived as
129
Rihards Kūlis
a construct of subjective agency, while subjectivity itself is imbued with objective properties. Consequently, the world – encompassing both the physical and the mental – transforms into a ‘world picture’, a construct shaped by the cognitive, practical, and aesthetic faculties of the mind. This transformation underpins the establishment of coherence and sig‐ nificance within a reality that is, fundamentally, a product of human subjectivity. Kant’s philosophy can be regarded as an unrealized form of phe‐ nomenology, a view that is corroborated by Kant’s own declara‐ tions. 1 If we entertain, if only for the sake of a thought experiment, such a perspective, it becomes permissible to speculate on the po‐ tential presence of the lifeworld theme within Kant’s philosophy – a theme that holds significant currency across various strands of phenomenological philosophy. In my assessment, the connection to the lifeworld issue, which appears neither explicitly delineated nor theorized in Kant’s work, is paradoxically manifested in certain key components of his critical philosophy. 1 In his letter to Lambert, Kant reveals his intention to develop a ‘general phe‐ nomenology’ (phaenomenologia generalis), though he conceives of it as a nega‐ tive science aimed at establishing “the principles of sensuality, their validity, and their limits.” In correspondence with Herz, Kant addresses phenomenology in the context of the a priori principle, emphasizing the necessity to distinguish between theoretical and practical apriorism. Notably, Kant envisions not a tra‐ ditional ontology but an analysis of the understanding, which he refers to as “phänomenologia generalis.” The phenomenological directions of Kant’s philosophy in relation to Husserl’s phenomenology are discussed by Neo-Kantians. Reviewing the first volume of E. Husserl’s “Ideas Pertaining to a Pure Phenomenology and to a Phe‐ nomenological Philosophy,” Paul Natorp suggested that the Marburg School’s Neo-Kantianism (Cohen, Natorp) had little to learn from Husserl, since the cen‐ tral problem of constitution in phenomenology had already been encountered in the context of interpreting Kant’s philosophy. (See: Paul Natorp. Husserls Ideen zu einer reinen Phänomenologie. In: Die Geisteswissenschaften 1 (1914).) This point is also highlighted by H.-G. Gadamer in characterizing the relation‐ ship between Husserl’s phenomenology and Natorp’s Neo-Kantianism. (HansGeorg Gadamer. Philosophische Lehrjahre. Frankfurt a. M.: 1977, S. 60–68.) For more on the relationship between phenomenology and Neo-Kantianism, see also Kern’s “Husserl und Kant”; see: Iso Kern. Husserl und Kant. Eine Unter‐ suchung über Husserls Verhältnis zu Kant und neokantianismus. Den Haag: 1964.
130
Kant and the Problem of Life-world
These include the theory of apriorism (particularly the insights into a priori practical and aesthetic reason) and the doctrine of ideas. When seeking potential links between Kant’s rationalist theory and the expansive, diverse conception of the lifeworld in contempo‐ rary philosophy, one should pay particular attention to his concept of sensus communis – but more on that later. In the modern time philosophy – especially in contemporary postmodernism – there is a tendency to quite categorically deny apriorism in all its manifestations, and particularly the universal ideas created by the human mind (universal narratives, ideological constructions, concepts lacking a corresponding object in empirical experience etc.). Very often even in literature devoted to Kant that does not uphold a specifically postmodern view, the realm of ideas is characterized as a domain of illusions that falls to pieces as soon as it is exposed as such. However, a priori and the ideas could be conceded in case they become a historical a priori, forming a com‐ mon horizon enabling human mutual understanding and assert a common social world. Man as a lonely planet beyond this world is a fiction, an ideological construction. It is confirmed by Kant’s citation from Heraclitus: “When we are awake, we have a common world, but when we dream, everybody has his own” (Kant thinks this to be one of Aristotle’s verities). Kant words it differently: “If, among different human beings, every one has his own world, it may be supposed that they dream.” 2 Thus Kant is sure about the existence of a world common to all the people. One could ask: what could be the role of ideas in the existence of this world common to all? And – what is no less im‐ portant – would it be theoretically correct to try and discern in the ideas the elements that would draw them closer to the sphere of lifeworld problems? As is well known, in his “Critique of Pure Reason” Kant speaks about transcendentally-logical or mind ideas which the philosopher 2 Immanuel Kant, Träume eines Geistersehers, Akademieausgabe (Walter de Gruyter&Co) II, 342. Here and further on I. Kant’s works are quoted according to the pagination of the academic edition Walter de Gruyter&Co. Here cited from Kant, I. Dreams of Spirit –Seeker. London: Swan sonenschein & Co, 1900, p. 74.
131
Rihards Kūlis
in the first place regards positively, that is, as necessary structural elements of the mind. According to Kant, there are only three ideas and there can be no more: the unity of the world, the soul and God as the highest precondition of all one can think of. In Kant’s philos‐ ophy the ideas are an organic result of the theoretical construction as a whole, they are inseparably linked to the transcendental subject. It is interesting to note that the connection with the transcen‐ dental subject makes E. Husserl’s life-world category problematic, that allows the contemporary German philosopher H. Blumenberg to interpret it as a “thorough miscomprehension.” 3 However, it is essential to acknowledge that the transcendental subject, as a philosophical abstraction, finds its realization in the 3 Hans Blumenberg. Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986: see “Erster Teil”, “Das Lebensweltmissverständnis”. Blumenberg writes about E Husserl’s category of life-world: “Some sooner helpless and altogether a hapless concept former managed in 1924 to create a concept that could be compared to effectiveness itself – easily and problemlessly effective life-world” (ibid, p. 10). Blumenberg invokes the concept of Lebenswelt in connection with Kant, too (see ibid, p. 63). It could seem strange that Blumenberg compares the concept with Kant’s “thing in itself” as a borderline concept of theoretical cognition. It certainly contradicts Husserl’s intention to interpret Lebenswelt as a pre-reflective, pre-scientific reality wherein scientific reflection forms are also rooted and from where they gain their specific features. It seems though that Blumenberg makes use of the comparison mainly to show the concept of Lebenswelt as defying concreteness of content, that is, actually as contentless and senseless. There is no doubt that Husserl’s life-world theory really is rather problematic. Husserl’s followers also outline an extremely wide range of views in their interpretation of life-world. The main contradiction is formed between attempts to historically explicate the category from the point of view of content and the transcendental method (it is transcendentalism in Kant’s philosophy that allows only rather a conditional reference to the presence of life-world elements), that actually excludes historical or culturological interpretation of human experience or else tempts to turn transcendentalism into a historical transcendentalism (such an experiment is to be found in Husserl’s later phi‐ losophy). The pure structures of the transcendental subject are hardly compat‐ ible with the analysis of the historical world. In point of fact the philosopher is either to reject transcendental phenomenology (in its initial understanding) or the concept of life-world. It is noticeable that in his philosophical experiments Husserl vaccilates between transcendental phenomenology and phenomenolog‐ ically orientated hermeneutics that is most visible in his work “Constituation of Spiritual World” in solving the problems “surrounding the world”. It seems that in this work in particular Husserl manages to move closest to the cultural reality and fix the deeper structures forming the picture of the world.
132
Kant and the Problem of Life-world
diverse array of concrete human subjects. Similarly, transcendental logical ideas can be viewed as philosophical abstractions, yet they are grounded in human nature and thus deemed necessary. “Hu‐ man reason has a peculiar fate in one kind of its cognitions: it is troubled by questions that it cannot dismiss, because they are posed to it by the nature of reason itself, but that it also cannot answer, because they surpass human reason’s every ability,” Kant writes. 4 In grappling with these inherently human – and thus existential – compelling questions, the mind inevitably generates ideas. In Kant’s philosophy the ideas are pre-given (aufgegeben). They are the concepts of the mind. “They are not arbitrarily invented; rather, they are imposed by the nature of reason itself and hence refer necessarily to the entire use of understanding,” writes Kant. 5 Very often in philosophical literature when speaking about Kant’s ideas their heuristic function is accentuated, that they are “only” ideas and are only given, as well as that they cannot have constitutive usage. 6 The ideas assign wholeness to the activity of understanding and thus to the process of cognition as a whole. So it surely is, and Kant himself keeps stressing it. However, one should come to an understanding why the functional aspects are so strongly accen‐ tuated. One could think that in the first place it is determined by the philosopher’s attempts to fix the inviolable borders of scientific activity, to elucidate the specific character of the activity of under‐ standing and reason and the objects of the elucidating activity. Kant wishes to unmistakably state that ideas are “only” ideas (this “only” has been many a time, yet slightly one-sidedly, contemplated in western literature), namely, they do not belong to objective material reality. The philosopher accomplishes a grandiose in scope decon‐ struction of the existing proofs of God’s existence by convincingly demonstrating that the proofs allow of inadmissible speculative ma‐ nipulations as a result of which specific spiritual reality acquires ob‐
4 Kant, Critique of Pure Reason: A VII. (Cited from: Kant, I. Critique of Pure Reason. Translated by W. S. Pluhar. Indianapolis, Cambridge: Hackett Publish‐ ing Company, 1996.) 5 Kant, Critique of Pure Reason: B384 6 See Hermann Krings. Funktion und grenzen der “transzendentalen Dialektik” in Kant’s “Kritik der reinen Vernunft”, in: Kant in der Diskussion der Moderne. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1223, S. 238–239.
133
Rihards Kūlis
jective characteristic features. It is against this kind of objectifying that Kant’s “only” is addressed. The same is true of the philosopher’s warning not to use the idea in a constitutive sense. “But if we deviate from this restriction of the idea (the idea of a higher being: R. Kūlis) to the merely regulative use of reason, then reason is misled in a variety of ways. For it then leaves the ground of experience – the ground which must, after all, contain the signs marking reason’s course – and ventures beyond this ground to [the realm of] the incomprehensible and inscrutable. At the altitude of this [realm] reason necessarily gets dizzy; for from the standpoint of this [realm] reason sees itself cut off entirely from any use that harmonizes with experience,” writes Kant. 7 As is generally known, speculative meta‐ physics is characterized exactly by groundless attempts basing on unverified basic principles to constitute such objects or worlds of objects that lose any connection with the criteria of scientific cog‐ nition. Thus constituted worlds can be nothing else, but worlds of unbridled fantasy and dreams. Kant subjects the appearance of ideas and their use to a maximally detailed analysis. As an end result they are revealed in his philosophy in an ultimately explicated form. As an explicated element of theoretical mind the idea naturally cannot be an element of life-world, if we wish in the first place to discern life-world in the basic structures of the pre-reflective and pre-scien‐ tific view of the world. However, the presence of life-world in Kant’s theory of the ideas of the mind could be conceded viewing it from a different standpoint: even if the ideas are “only given” (Kant, to be sure, thinks them to be beyond time, space and history) they still exist, they are as they are and in their definiteness they invite us in a special way to look at the world, to cognize it; and as such they possess features forming the understanding of the world, that is lifeworld features. The transcendental ideas of pure reason are essentially linked with the ideas of practical reason that are a necessary condition for any use of practical reason. Although the metaphysical ideas of God, immortality and freedom are unverifiable and no action can be adequate to them, they form a real and stable background for the realization of human morality. “Here these ideas become imma‐
7 Kant, Critique of Pure Reason: B717
134
Kant and the Problem of Life-world
nent and constitutive inasmuch as they are bases for the possibility of making actual the necessary object of pure practical reason (the highest good), while otherwise they are transcendent and are merely regulative principles of speculative reason, which do not enjoin it to assume a new object beyond experience but enjoin it only to bring its use in experience closer to completeness,” Kant writes. 8 The ideas of theoretical and practical reason are grasped by intel‐ lect. Contrary to that in his “Critique of Judgment” Kant records a new, different form of a priori which he himself cannot grasp and in‐ terpret in full. On December 28, 1787 Kant writes to K. Reinhold that while dealing with the “critique of taste” he has discovered “a form of a priori principle that differs from the previous ones”, namely a third form that corresponds to the third faculty of the soul – that of feelings of pleasure and displeasure (the first two – the cognitive fac‐ ulty and desire). It is a new turning point not only in Kant’s theoret‐ ical quest, but in all the western philosophical thought. In Cassirer’s words, Kant’s aesthetical and teleological investigations “discover a new type of claim for signification in general” 9 – the signification rooted not in pure rationality, understanding, but rather in the feel‐ ings of pleasure or displeasure, a favourable disposition to things and phenomena as in a universal a priori. According to Kant, it is “nothing else than the faculty of presenting aesthetic ideas. But by an aesthetic idea I mean that representation of the imagination which evokes much thought, yet without the possibility of any definite thought whatever, i.e. concept, being adequate to it, and which lan‐ guage, consequently, can never quite fully capture or render com‐ pletely intelligible. – It is easily seen that an aesthetic idea is the counterpart (pendant) of a rational idea, which, conversely, is a con‐ cept, to which no intuition (representation of the imagination) can be adequate”. 10 In the system formation aspect the turn is marked in grounding the systemic interconnections on the subjective faculty (reasoning) that just like understanding and reason realizes the act of lawmaking that expresses specific rationality that cannot be re‐ 8 Kant, The Critique of Practical Reason. 135. (Cited from: I. Kant. The Critique of Practical Reason. Translated by Werner S. Pluhar. Hackett Publishing, 2002.) 9 Ernst Cassirer. Kants Leben und Lehre. Berlin, 1921, S. 306. 10 Kant, Critique of Judgement: 313–314 (Cited from: Kant, I. Critique of Judge‐ ment. (transl. by J.C. Meredith). Oxford: Oxford University Press, 2007.)
135
Rihards Kūlis
duced to either objective cognition or morality. Thus philosophy is enriched by a principle of apriority rooted in creative spontaneity. That opens up new a priori interpretation possibilities in the further philosophy development process, including also “historical a priori”. The solution of the theme of historical a priori, retaining Kant’s orientation towards the universal, could attest theoretical activity retaining links with the western rationalistic tradition and at the same time outlining the realm of life-world problems. The regulative ideas on the horizon of which the aesthetic and teleological thought is realized, and which form the views on the framework and life of nature, just like the ideas of practical rea‐ son, reveal the part of the theory of ideas that Kant himself has quite clearly outlined, however which, while accentuating the as‐ pects of philosopher’s critique of reason, has not always been ade‐ quately appraised by his commentators, namely, that notwithstand‐ ing the functional characteristics of ideas, they are a spiritual reality in which man exists. “Ideas can be grasped only by living in them”, stresses K. Jaspers when speaking about Kant. 11 Kant keeps pointing out the connection of ideas with human existence, with the practi‐ cal sphere. Even speaking about Plato’s philosophical heritage Kant stresses the aspect: “Plato found his ideas primarily in whatever is practical, i.e., whatever rests on freedom – freedom in turn being subject to cognitions that are a product peculiar to reason. Anyone seeking (as many have actually done) to draw the concepts of virtue from experience, i.e., to make what at most can serve only as an example for an imperfect elucidation into a source of cognition by treating it as a model, would turn virtue into an ambiguous nonen‐ tity mutable according to time and circumstances and unusable for any rule. Everyone becomes aware, on the contrary, that if someone is presented to him as a model of virtue, yet the original to which he compares this alleged model, and by which alone he assesses it, he always has solely in his own mind. This original, however, is the idea of virtue, in regard to which all possible objects of experience do indeed serve as examples . . . , but not as archetypes”. 12
11 Karl Jaspers. Psychologie der Weltanschauungen. Verlag von Julius Springer, Berlin 1925, S. 477. 12 Kant, Critique of Pure Reason: B371
136
Kant and the Problem of Life-world
Besides, the idea of practical reason is “an indispensable condition of any practical use of reason”. 13 The ideal that, according to Kant, is an “idea not merely in concreto but also in individuo” 14, serves as an example for man’s action. “Even if one were not to grant objective reality (existence) to these ideals, yet they are not therefore to be regarded as chimeras. They provide us, rather, with an indispens‐ able standard of reason”, Kant stresses. 15 The ideal, according to the philosopher, “serves in a case as the archetype for the thoroughgoing determination of the copy” 16, besides, the ideal “must always rest on determinate concepts and serve as a rule or archetype, whether to be complied with or to judge by”. 17 The specific vocabulary is an evi‐ dent witness to the rationally analytical orientation of Kant’s critical thought: the ideal must be based on concepts, the imitation must be completely determined and etc. However, such a completeness and purity of forms based on rules and concepts is at best – besides rarely – to be found in the head of a theoretician. As a critic of reason Kant views the everyday world from the height of transcendental consciousness. According to the philosopher, the transcendental ‘I’ structures, along with ideas, are inherently present in an absolute form; one simply needs to uncover them. He is not particularly in‐ terested in the ideas or ideals as a rough notion, as embodied in imaginative structures concretely historical existential orientation which a contemporary philosopher could view as a pre-reflective universal reality from which one can get at the purified and reflected forms of consciousness. The sphere of ideas supports man’s morality helping to form em‐ piric reality. “The world insofar as it would be in accordance with all moral laws (as, indeed, according to the freedom of rational be‐ ings it can be, and as according to the necessary laws of morality it ought to be) I call a moral world. The moral world is thought merely as an intelligible world, inasmuch as we abstract in it from all conditions (purposes) and even from all obstacles for morality (weakness or impurity of human nature). Therefore, to this extent 13 14 15 16 17
Kant, Critique of Pure Reason: B385 Kant, Critique of Pure Reason: B596 Kant, Critique of Pure Reason: B598 Kant, Critique of Pure Reason: B597 Kant, Critique of Pure Reason: B598
137
Rihards Kūlis
the moral world is a mere idea: yet it is a practical idea that actually can and ought to have its influence on the world of sense, in order to bring this world as much as possible into accordance with the moral world. Hence the idea of a moral world has objective reality (my underscoring: R. Kūlis) 18. But it has such reality not as dealing with an object of an intelligible intuition (such [a way for this idea to have objective reality] we cannot even think), but as dealing with the world of sense. However, the world of sense must here be taken as an object of pure reason in its practical use and as a corpus mys‐ ticum of the rational beings in it insofar as their free power of choice is, under moral laws, in thoroughgoing systematic unity both with itself and with the freedom of every other such being”, writes the philosopher. 19 Objective reality (specifically in the Kantian understanding) is not only related to the idea of the moral world or moral laws. Unde‐ niable reality encompasses not only the world produced by human cognitive and practical actions – as a picture of the world – but also the spiritual world as a whole, which, according to Kant, is char‐ acterized by certain a priori forms and the functional regularity of phenomena. Essentially, Kant’s lifelong analytical endeavour is ded‐ icated to the exploration of these objectively given forms. Kant does not deny the role of creative imagination or fantasy (also subjective) in the process of understanding and mastering the world. These abilities mark an important element of human freedom. However, in order for them not to become a subjective phantasm, as is the case with the famous Swedish visionary Emanuel Swedenborg (accord‐ ing to Kant’s assessment), they must remain within the framework of objectively existing structures of subjectivity. Attempts to ignore these structures could indicate either incompetence, irresponsibil‐ ity, or defects in consciousness. The world of fantasy is also an indisputable reality, it has its own characteristic a priori forms, and, according to Kant, it has its own 18 In comparison with the previously quoted Kant’s statement (B371) Kant speaks about the reality of ideas very cautiously and sometimes, reading his statements out of context, they appear to be contradictory. The idea undoubtedly is an ob‐ jective reality, however it dwells only in man’s head, that is, it does not exist in the form of an object. 19 Kant, Critique of Pure Reason: B836
138
Kant and the Problem of Life-world
inalienable place in philosophy, it marks an important element of human freedom. Man’s mind is characterized by an irresistible tendency to form ideals, regulative ideas. As such they certainly could not be taken as an element of life-world. There is no reason why we should ascribe normativeness to life-world structures. However the question is not only about theoretical reason. In analysing Kant’s teaching on ideas H. M. Baumgartner notes: “Kant writes here about a kind of metaphysics as a natural ability that is not yet metaphysics as a science. Metaphysics as a natural ability means: any man, whenever he lived or will live, as a reasonable being is guided by the fact that reality is entirely conditioned, originally directed towards the transcendental ideal. . . ”. 20 As we have clarified above, in Kant’s philosophy ideas as a result of critical research re‐ veal themselves as reflected a priori structures of pure reason, that is, as such that have been purified from the historical situation and cultural concreteness. However, for the greater part ideas live in their concreteness, in a particular stage of historical development, non-reflected or partially reflected, and if we could speak of “meta‐ physics”, then, as has been aptly marked by Baumgartner, only in the form of natural ability and orientation. Ideas regarded in this sense could certainly be connected with the theme of life-world – in the original unreflected form they might have the role of a regulating factor. One of the most transcendental ideas forming human empirical reality as well, in Kant’s interpretation, is the idea of God. Although Kant has understood that in principle it is impossible to prove God’s existence, in his opinion, the idea of God next to the moral law marks one of the landmarks of humanity. Kant is firmly convinced: “Est Deus in nobis” (God is within us). 21 Losing faith in God, much like waning moral sentiments, diminishes one’s humanity. However, it does not give anyone the right to speculatively consti‐ tute God or any supernatural reality. Just as unacceptable, according to the philosopher, is the practice of “emotional dreamers” – one of 20 Baumgartner, H. M. Gott und das ethische gemeine Wesen in Kants Religionss‐ chrift. In: Kant in der Diskussion der Moderne. Suhrkamp Taschenbuch Wis‐ senschaft 1223, Frankfurt am Main, 1997, S. 411. 21 I. Kant. Opus postumum. 22: 130.
139
Rihards Kūlis
them being Kant’s contemporary E. Swedenborg – to yield to unbri‐ dled fantasy and theosophical visions. The theologian Schultz, wishing to test Kant’s devoutness, asks the philosopher: “Do you in your heart feel veneration for God?”, as one could think – he knows what the philosopher’s answer to the question: “Does God exist?” would be; the philosopher would plainly say – I do not know, there are no rational means that could prove or disprove God’s existence. However, I venerate God, God lives in my heart and as such God is to me an indisputable reality. Kant has broken with the emotional and mind dreamers and be‐ lieves that a necessary precondition for scientific cognition is con‐ nection with sensual experience and God could never be an element of that. Kant has delineated a borderline in his theoretical activity that he as a scientist – in Kant’s understanding – cannot cross. The philosopher’s attitude to atheism is plainly negative. In his “Critique of Pure Reason” he states as the task of his theoretical activity the necessity “to take into account the inestimable advan‐ tage of putting an end, for all future time, to all objections against morality and religion”. 22 And further on, speaking about the critical work to be done Kant writes: “Solely by means of critique can we cut off, at the very root, materialism, fatalism, atheism, freethinking lack of faith, fanaticism, and superstition, which can become harm‐ ful universally. . . ”. 23 Thus, Kant places atheism next to fanaticism and superstition. That certainly does not exclude rationalistically rooted tolerance against atheistically minded people. Besides, the philosopher’s sceptical attitude towards the existing religious prac‐ tice and forms of prayers is widely known, and that has frequently excited rebuke on the part of conservatively thinking representa‐ tives of religious institutions. The philosopher would like to find the basis for religion in the framework of pure reason, actually to form a new philosophical theology, the basic principles of which would be indubitable and which could put an end to the wrangle among different religions and confessions. It is easily noticeable that the philosopher as a result of his the‐ oretical analysis, while refuting the existing proofs of God’s exis‐
22 Kant, Critique of Pure Reason: B XXXI 23 Kant, Critique of Pure Reason: B XXXIV
140
Kant and the Problem of Life-world
tence, has made God (in the cognitively theoretical aspect) into a purely practical idea. However it is not God one could venerate, who confronts the philosopher as the infinity’s mystical invitation and simultaneously as an invitation to delve into the finitude of the inexhaustible multitude of things. One might ask: is a reflected idea the sole means by which Kant encounters God? Not necessarily. God can manifest to humanity as the mystery of the universe, as a silent speaker, or as the authoritative voice of morality. Kant’s connection with God is marked by profound personal intimacy; the philosopher harbours God within his soul. God as call of the heart is mostly a pre-reflexive – never in prin‐ ciple subject to complete reflection – existential reality. And exactly as such it marks one of the most important structural elements of life-world. Let me note that as such it is seen by the prominent re‐ ligion researcher of the beginning of the XX century Max Weber, who searching the deepest structures of human existence is sure that they are to be found in the first place in the sphere of religious experience.
2. The ideal of reason is always based on definite concepts. It is quite different, in Kant’s opinion, with the products of imagination, “which no one can offer an explication and give an understandable concept: the monograms, as it were. These are only characteristics that, although [likewise] individual, are not determined according to any rule that one can indicate”. 24 Kant calls them “sensuous ide‐ als”. They should serve as an unattainable model of sensuous obser‐ vation. However even in this case it is important that they possess features of universality, they are given and thus form something very similar to the realm of life-world. As already mentioned at the beginning of the paper, while look‐ ing for the possible connections between Kant’s philosophy and the contemporary life-world theories, of especial interest could be his sensus communis concept that receives especial attention in his
24 Kant, Critique of Pure Reason: B598
141
Rihards Kūlis
“Critique of Judgment” in connection with the aesthetical a priori and nature’s teleology. Sensus communis is not a new concept, we come across it already in the antique philosophy, as well as later: for the 18th century Swabian pietists as “a common feel for truth” it served for the formation of a peculiar “life-world philosophy”; in the philosophy of the 18th century it in the first place denotes man’s common sense. Kant offers a different understanding of sensus communis in which next to the dominating transcendental stand one can discern motives of the genesis of society and individual characteristic of the Enlightenment philosophy. “By the name sensus communis is to be understood the idea of a public sense, i.e., a faculty of judging which in its reflective act takes account (a priori) of the mode of represen‐ tation of everyone else, in order, as it were, to weigh its judgement with the collective reason of mankind”, Kant writes. 25 Thus, sensus communis is an idea (my underscoring: R. Kūlis), but as distinct from the ideas of theoretical reason it is essentially linked with such structures of human being that cannot be reduced to conceptual‐ ism – sense, feelings, tastes, views, imagination products and etc. According to Kant: “We might even define taste as the faculty of judging what makes our feeling in a given representation universally communicable without the mediation of a concept”. 26 Evidently, in Kant’s philosophy next to the pure forms of cognition and rea‐ son a different reality unmistakably announces itself; a reality that may even be deeper and more mysterious in comparison with the clear and surveyable realm of pure rationality. It would certainly be groundless to directly link it with the life-world problems, however while looking at it from the standpoint of contemporary philosophy, it makes one think about the presence of such philosophical motives that make Kant’s philosophy open to the call of life-world. Speaking about contemporary situation one could surmise that for a great part of contemporary human ideas mean nothing at all, or maybe they are completely excluded from human practical life and remain unknown. Nobody asks about them, because they are non-existent. And consequently a certain culturally historical un‐
25 Kant 2007: 293 26 Kant 2007: 295
142
Kant and the Problem of Life-world
derstanding of human rooted in western rationalistic tradition has died. God is dead and so is human as a being orientated to the un‐ conditioned and absolute. Accepting such a situation as reality we must ask what does, or what could, the human world inhabited by “man freed from ideas” look like. Kant links the appearance of ideas with the attempts of reason to explicate the inexplicable. Going beyond the framework of experience reason is entangled in insoluble contradictions and as a result produces phantoms of consciousness having no corre‐ sponding objects in the sensually perceptible world. Very often in literature stress is laid on this particular aspect – ideas as human illusions – forgetting that Kant himself ascribed to them an impor‐ tant regulative meaning both in the sphere of cognition and in the world of practical reason. What possibilities of mutual understanding could be sought after the collapse of faith in apriorism in its classically rationalistic sense and the world of ideas. As is seen from contemporary literature, from sociological re‐ search (and culture in general), man lacking the world of theoretical, practical and aesthetical ideas is a reality that as often as not mani‐ fests itself as the disintegration of the picture of the world, fragmen‐ tary consciousness and many a time as keenly heartfelt lack of the awareness of the unity of the world that is soothed in contemporary religious sectarianism, quests for enjoyment and etc. However most often Kant’s rationalistic ideas have been replaced by a different reality that unmistakably keeps within it the marks of universality. Imperceptibly a new world has appeared with other human values and orientations. We can assume that ideas are a seeming solution to human problems, but still more important is to notice that they simply exist. As stated by Kant: “Thus all human cognition begins with intuitions, proceeds from there to concepts, and ends with ideas”. 27 However, one might think that producing a higher rational idea, reason already dwells in some “idea” as in a human being. Often man does not even notice that some world of ideas has already appeared. It appears as a real historical existence in which man lives, the so-called scientific or world of experience is being transformed in it, too. 27 Kant, Critique of Pure Reason: B730
143
Rihards Kūlis
Kant connects ideas as man’s construed regulative form, adding nothing to knowledge, in the first place with theoretical activity. However, the place of ideas may also be taken by primarily given forms of understanding which are not a result of specific cognitive activity. In contemporary world one can rarely meet a united world out‐ look. Sooner the primarily given forms of understanding (and the ensuing ideological constructions, as for example, “communism”, “terrorism”, “democracy” and etc.) form something like a net, out‐ lining the basis for historical world poly-centrism and enabling the formation of concrete universal narratives – they are not dead at all. “The ideas of pure reason can never in themselves be dialectical; rather, their mere misuse alone must bring it about that there arises from them a deceptive illusion for us” 28, writes Kant and stresses that the inevitable illusion can hardly be rejected “even by means of the most rigorous critique”. 29 Similarly, one could speak about any historically materialized life-world. It is an inevitable human reality, it can be named a world of pre-phenomena, however the understanding of this world is only possible as a result of critique and deconstruction. Following the rationalistic tradition of western philosophy, the contemporary philosopher could perform the work which was done by Kant in reference to the world of ideas construed by reason, that is to the claims of theology. Although the emergence of pri‐ mary forms of understanding and vision of the world in the histor‐ ical world does not depend on an individual (philosopher), he or she can perform the deconstruction of the forms (often illusionary) and make a rationalistic analysis, thus to a certain extent realizing control over the “world of ideas”. To perform the role of a cultural archaeologist would not mean the rejection of the existence of the “world of ideas” (life-world), but rather its interpretation; not de‐ ducing a priori forms, but finding and describing them as a histori‐ cal a priori. That is the way chosen by contemporary culture philosophy, fix‐ ing the main crossroads and the turning points. The concept of
28 Kant, Critique of Pure Reason: B697 29 Kant, Critique of Pure Reason: B670
144
Kant and the Problem of Life-world
“life-world” is topical in contemporary philosophy, too; however, one must realize that in theoretical sense this world is not simply a world of empirical things in which we live, but a message pointing to some deeper structure that is at the basis of our world. From the very origins of societal development in every nation, in every group of people there develop characteristic to it forms of existence that include both the attitude to the world and the ways of cognizing and understanding the world. Man acts in conformity with these forms – he knows that that is the only way to do it. Besides, it is of no importance whether he is conscious or not that he acts in con‐ formity with some regulative form. The essence of the forms is not in man’s understanding them. What is most important, that these forms help, enable one to understand the world in which he lives (the world created by man himself) and act accordingly. The forms mentioned as pre-phenomena of a certain culture ensure the unity of the vision of the world without which apparently man’s orienta‐ tion in a concrete historical world is impossible. Communication is impossible as every thing, every phenomenon, every moment of one’s life and action acquires sense and justification only as a part of some wholeness. A certain tradition for the research of this deeper structure, that is, life-world has taken shape. To a great extent following Kant (and also Husserl) contemporary philosophers are trying to delve into the space and time experience forms characteristic of a concrete age and society that evidently charge all the elements of human practice imparting to the culture unique features and making it into a “col‐ lective personality”. Certainly, while doing such research one must in principle decline all claims to transcendence or else must turn it into “historical transcendence” that would mean in the first place a marked attempt to fix phenomena and relationships that are char‐ acterized by a certain regularity, general signification and stability. Characteristic of contemporary philosophy in the research of man is the orientation on the research of forms of pre-reflective experience (beginning with Wilhelm Dilthey, Martin Heidegger up to Günter Abel, Hans Lenk, Bernhard Waldenfels a. o.). Particular importance is attributed to the analysis of language, which contin‐ ues to explore M. Heidegger’s assertion “on the way to language” and affirms his conclusion that “language is the abode of being” (Christoph von Wolzogen). Günter Abel draws attention to lan‐
145
Rihards Kūlis
guage as a form of conduct that can comprise both the pronounced word and a gesture, both glance and silence. Abel in contempo‐ rary philosophy has again drawn paramount attention to formerly slightly forgotten concept of the picture of the world. In his opinion, the forms of space, time and also language conduct occupy a signif‐ icant place in the picture of the world (Abel makes use also of the expression life-world). Similarly, one could view a number of deeper structures that reveal themselves when one does the work of the “archaeologist of culture”: existential archetypes, stable emotional forms, dominating ideas, the basic values of the period and etc. A noteworthy attitude to the interpretation of life-world is taken by life phenomenology in which the concept of life-world is being developed not in a narrow, classically Husserlian style, but interpret‐ ing it as a component part of human situation that is reflected both in the creative act and in man’s self-individualization processes in life. An essential aspect is the connection of the creative act with cultural processes, the embodiment and depiction of the basic pas‐ sions in art, literature, symbols that appear in such, for instance, cultural manifestations as a meaningful place (home, desert, road, landscape and etc.), relationship with water (the sea, ocean, stream and etc.). Thus the range of problems involved in the life-world con‐ cept acquires a wide range of vision that is connected with the above mentioned cultural archaeology and the conception of historical a priori.
146
Kimiyo Murata-Soraci
Aporie aporetisch denken
Dieser Beitrag greift die Fragen des Rufs des Anderen und der Ver‐ antwortung, der Endlichkeit, der Freiheit und der Wahrheit im Den‐ ken von Heidegger und Derrida auf. Indem ich die Ausführung der De(kon)struktion beherzige, zeige ich ihren unschätzbaren Beitrag zur Philosophie in Bezug auf ihre Darstellung des ekstatischen Den‐ kens und der Freiheit und die Relevanz ihres Diskurses der Diffe‐ renz auch für die Transformation unseres Ethos auf. In seiner „Antwort auf die Frage: ‚Was ist Aufklärung?‘“ (1784), antwortete Kant (1724–1804): „Aufklärung ist die Befreiung des Menschen von seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unreife ist die Unfähigkeit, seinen Intellekt ohne die Anleitung eines ande‐ ren zu gebrauchen. Diese Unmündigkeit ist selbstverschuldet, wenn ihre Ursache nicht in einem Mangel an Verstand liegt, sondern in einem Mangel an Entschlossenheit und Mut, seinen Verstand ohne die Leitung eines anderen zu gebrauchen. „Sapere aude! Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, lautet daher die Devise der Aufklärung.“ 1 „Wenn man uns also fragt, ob wir in einem aufgeklärten Zeitalter leben, dann lautet die Antwort: nein, aber wir leben in einem Zeitalter der Aufklärung.“ 2 Wenn wir am äußersten Rand der Epoche der Aufklärung leben, was geschieht heute in unserem gemeinsamen Wohnort (Ethos)? In einer weltweiten Perspektive (Ausblick) umhüllt die Überdeckung von Kriegen, Terrorismus, Flüchtlingen, Armut, Epidemien, Ein‐ wanderung, Rassismus, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit usw., um nur einige zu nennen, einen Horizont der Existenz, trotz der beispiellosen Realisierung techno-wissenschaftlicher Erkennt‐ 1 Immanuel Kant, Towards Perpetual Peace and Other Writings on Politics, Peace, and History, Hrsg. Pauline Kleingeld, übersetzt von David L. Colclasure (New Haven: Yale University Press, 2006), S. 17. 2 Ebd., 1, 22.
147
Kimiyo Murata-Soraci
nisse für das Leben. Die Komplexität der gegenwärtigen Probleme breitet virulente Kräfte auf Orte (lieux) der Ko-Zugehörigkeit auf jeder Ebene privater, lokaler, nationaler und internationaler Inter‐ aktionen miteinander aus und erodiert stillschweigend den leben‐ digen Körper der Sozialität und des öffentlichen Diskurses. Von meinem Standpunkt aus scheint die Kraft des Leidens immer schon aus den allgemeinen Gesetzen (nomoi) der Willensfreiheit hervor‐ gegangen zu sein, damit der normierte Anspruch auf die Rechte des Menschen, die von der Gegenwart beherrschte Zeitlichkeit und die Wahrheit als Exaktheit, die unsere gewöhnliche tägliche Bewertung des Lebens diktieren. Die unauffällige und stille Provokation der Regeln neigt dazu, uns zu dem zu formen, was Heidegger „das Man“ nennt, das sein Leben unkritisch in Übereinstimmung mit den vor‐ gefertigten Normen, moralischen Überzeugungen und Werten auf‐ baut. Im heutigen Horizont der Globalisierung sind auch wir gefan‐ gen in der mechanistischen Praxis des Berechnens, Verhandelns, Qualifizierens und Platzierens, wer aufgrund von Ähnlichkeit die Anderen von uns oder für uns sein sollen. Wir leiden schwer un‐ ter unserer Vergessenheit gegenüber einer universellen Quelle der Freiheit und des freien Denkens, jenes Erbes der Aufklärung, ihres Lichtes und rufen nach freiem Denken, Glauben und Hoffnung auf den Fortschritt der Menschheit und nach einer heilsamen Welt, die jedes lebenswerte Leben in Würde ermöglicht. 3 Wohin steuert Europa, das heute mit außereuropäischen Natio‐ nen und Kulturen koexistiert, in einer gefährlichen Normalisierung des Nicht-Nachdenkens und des Vergessens? Die gegenwärtige He‐ gemonie der Globalisierung enthüllt eine Tatsache des ineinander‐ greifenden Schicksals von allem, was auf der Erde ist. Um die Erin‐ nerung an den Geist der Aufklärung zu bewahren, scheint der Ein‐ satz der Intervention in die aktuellen Probleme des Ethos für Phi‐
3 Ebd., 1, 23. „Wenn die Natur den Samen, der in dieser harten Hülle verborgen ist, voll entwickelt hat, dem sie ihre zärtlichste Pflege widmet, nämlich die Neigung und Berufung zum freien Denken, dann wird dieser Same allmählich seine Wir‐ kung auf die Gesinnung des Volkes (durch die das Volk allmählich freiheits- und handlungsfähiger wird) und endlich sogar auf die Grundsätze der Regierung ausdehnen, die es für sich selbst als nützlich empfindet, den Menschen, der ja mehr ist als eine Maschine, seiner Würde entsprechend zu behandeln.“
148
Aporie aporetisch denken
losophen, insbesondere für die Geisteswissenschaftler, unter vielen professionellen Wissensträgern am höchsten und schwerwiegends‐ ten zu sein; denn unser vorberufliches Versprechen, das wir der Phi‐ losophie und ihrer Tradition gegeben haben, während wir in Wirk‐ lichkeit unter der stillen Provokation der Regeln der Normalität und der Öffentlichkeit leben, fordert uns auf, uns zu entscheiden, was eine Daseinsberechtigung der Philosophen heute wäre. Es handelt sich also darum, die richtigen Denk- und Handlungsweisen zu fin‐ den, die ein allgemeines Feuer der Freiheit und ein wahrhaft freies Denken aus der gegenwärtigen Sackgasse retten können, indem sie die Kraft der Vernunft außerhalb (Ekstase) der Verstrickung in den drückenden Schleier der allgemeinen Wahrheit und eines leeren Nachplapperns des Humanismus stehen lassen. In Erinnerung an die Verbindung des Wortes ethos mit der Sanskrit-Wurzel swedh-, was „das Eigene“ bedeutet, 4 sollten uns Interventionsmöglichkei‐ ten helfen, zu klären, wer wir sind und warum und wie wir richtig zueinander gehören können, und uns dazu führen, einen Schritt aus der gegenwärtigen Sackgasse zu machen. An der Schwelle zur Verfolgung („je suis“