Die deutsche und die italienische Rechtskultur im »Zeitalter der Vergleichung« [1 ed.] 9783428482733, 9783428082735

Die politische Einigung Europas öffnet den Blick für gemeinsame Traditionen, die selbst zur Blütezeit des Nationalstaats

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Die deutsche und die italienische Rechtskultur im »Zeitalter der Vergleichung« [1 ed.]
 9783428482733, 9783428082735

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Die deutsche und die italienische Rechtskultur im "Zeitalter der Vergleichung"

Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungs geschichte Herausgegeben von Prof. Dr. Reiner Schulze, Münster, Prof. Dr. Elmar Wadle, Saarbrücken, Prof. Dr. Reinhard Zimmermann, Regensburg

Band 15

Die deutsche und die italienische Rechtskultur im "Zeitalter der Vergleichung"

lIerausgegeben von

Aldo Mazzacane und Reiner Schulze

Duncker & Humblot · Berlin

Die Tagung wurde unterstützt von der W emer-Reimers-Stiftung

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die deutsche und die italienische Rechtskultur im "Zeitalter der Vergleichung" I hrsg. von Aldo Mazzacane und Reiner Schulze. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte ; Bd. 15) ISBN 3-428-08273-7 NE: Mazzacane, Aldo [Hrsg.]; GT

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-3365 ISBN 3-428-08273-7

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Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Vorwort Der vorliegende Band ist aus einem Symposion, das im November 1991 deutsche und italienische Rechtswissenschaftler, Historiker und Politologen in Bad Homburg zusammenführte, hervorgegangen. Er schließt mit der Frage nach den Beziehungen zwischen der deutschen und der italienischen Rechtskultur im 19. Jahrhundert an eine Thematik an, der bereits der erste Band dieser Schriftenreihe gewidmet war (Deutsche Rechtswissenschaft und Staatslehre im Spiegel der italienischen Rechtskultur während des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Reiner Schulze, 1990). Eine weitere Tagung, die in der Zwischenzeit stattfand und deren Ergebnisse ebenfalls in einem Tagungsband vorgelegt werden sollen, hat die Zusammenarbeit in diesem deutsch-italienischen Kreis inzwischen fortgesetzt und gefestigt. Das Anliegen aller dieser Tagungen war es, nicht nur die vielfältigen, aber bislang besonders von der deutschen Forschung zu wenig beachteten Beziehungen zwischen der deutschen und der italienischen Rechtskultur im Prozeß der Herausbildung des modemen Rechts in beiden Ländern näher zu untersuchen. Das Interesse galt darüber hinaus vielmehr auch den allgemeineren Fragen des Austauschs und der wechselseitigen Bezugnahme zwischen den Rechtssystemen verschiedener Nationen in Europa. In diesem Rahmen verlangt die Rolle der Vergleichung für die Herausbildung des modemen Rechts während des 19. Jahrhunderts besondere Aufmerksamkeit. Die Beiträge des vorliegenden Bandes wenden sich ihr für verschiedene Rechtsgebiete und einzelne Formen der Vermittlung juristischen Wissens in den Beziehungen zwischen Deutschland und Italien zu. Für die Förderung der Tagung, die dem Band zugrunde liegt, ist wiederum der Werner Reimers-Stiftung besonderer Dank zu sagen. Erneut zu danken - wie schon bei dem ersten Band der Schriftenreihe - ist ebenfalls Frau Sigrid Jacoby, die die redaktionelle Bearbeitung des Bandes mit großem Einsatz unterstützt hat. Dank gilt schließlich dem Verlagshaus Duncker & Humblot für die verlegerische Betreuung. Im August 1994

Aldo Mazzacane, Neapel Reiner Schulze, Münster

Inhaltsverzeichnis Eint"ührung Reiner Schulze

Die Vergleichung in der deutschen und italienischen Rechtskultur während des späten 19. Jahrhunderts ...........................................

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Teil A

Aufgaben und Entwicklung der Vergleichung zwischen der deutschen und der italienischen Rechtskultur Erik Jayme

Das Zeitalter der Vergleichung - Emerico Amari (1810 - 1870) und Friedrich Nietzsehe (1844 - 1900) ..........................................

21

Heinz Mohnhaupt

Historische Vergleichung im Bereich von Staat und Recht vom späten 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Beobachtungen zur deutschen Bezugnahme auf Italien ..........................................................

31

Hans Boldt

Probleme des verfassungsgeschichtlichen Vergleichs: Das Beispiel Italiens und Deutschlands im 19. Jahrhundert ..................................

63

Otto Weiß

Das deutsche Modell. Zu Grundlagen und Grenzen der Bezugnahme auf die deutsche Wissenschaft in Italien in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ...............................................................

77

Teil B

Medien und Materien der wechselseitigen Bezugnahme Aldo Mazzacane

Die italienische und die deutsche Rechtskultur im 19. Jahrhundert: Wege des Austausches ..................................................... 139

Inhaltsverzeichnis

8 Raffaella Gherardi

Wissenschaft und Politik: Zirkulation der Modelle zwischen Italien und Deutschland ......................................................... 153 Cristina Vano

Von der Nachahmung zur Konfrontation. Rechtskulturvergleich und Publikationspolitik des Pasquale Stanislao Mancini ............................. 163 Carlo Bersani

"Personificazione" und ,,riconoscimento" zwischen öffentlichem und privatem Recht in Italien vom späten 19. Jahrhundert bis zu den dreißiger Jahren - die Bezüge zur deutschen Rechtswissenschaft ......................... 181 Gustavo Gozzi

Verfassungsfrage und Sozialpolitik zu Bismarcks Zeit in Deutschland und Italien .............................................................. 197 Lorenzo Gaeta

Der deutsche Einfluß auf die Entwicklung des italienischen Wohlfahrtssystems ............................................................ . 215 Erk Volkmar Heyen

Zur Wahrnehmung italienischer Staats- und Rechtswissenschaft bei Robert von Mohl und Lorenz von Stein ....................................... 233 Autorenverzeichnis ................................................... . 245

Einführung: Die Vergleichung in der deutschen und italienischen Rechtskultur während des späten 19. Jahrhunderts Von Reiner Schulze

I. Deutschland und Italien: Originalität und Imitation? In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten sich in Deutschland und in Italien bis heute maßgebliche Grundlagen des jeweiligen nationalen Rechts aus. Dazu gehörten die Vereinheitlichung des Zivilrechts, des Strafrechts und des Verfahrensrechts durch nationale Kodifikationen, die einheitliche Organisation der Gerichtsverfassung und der Juristenausbildung im Nationalstaat, das Entstehen nationaler Juristenverbände, die Entwicklung neuer Teildisziplinen (wie die des Verwaltungsrechts) und vieles andere mehr. Bei dieser Herausbildung des jeweiligen nationalen Rechts kam dem vergleichenden Bezug auf das Recht anderer europäischer Länder nach verbreiteter Auffassung in beiden Ländern jeweils eine ganz unterschiedliche, geradezu gegensätzliche Rolle zu: Für die deutsche Rechtsgeschichte neigt man dazu, die eigenständige nationale Rechtsentwicklung während des 19. Jahrhunderts zu betonen. Das Musterbeispiel bietet das Bürgerliche Gesetzbuch von 1896. Indem es vornehmlich auf die Entwicklung der Pandektenwissenschaft seit Savigny zurückgeführt wird, ordnet es sich einer deutschen rechtswissenschaftlichen Tradition zu, die ihrerseits einen Bestandteil einer Nationalkultur schon aus der Zeit vor dem Entstehen des Nationalstaates bildet. Daneben pflegt man für das einheitliche Recht aus der Zeit nach der Reichsgründung - insbesondere beispielsweise für das Reichsstrafgesetzbuch, für die Juristenausbildung und die Gerichtsverfassung - auf Vorbilder und Anregungen aus dem Recht Preußens und anderer einzelner deutscher Staaten zu verweisen. In Italien hingegen ist es eine gängige Vorstellung, daß die Rechtsentwicklung des eigenen Landes während und nach der nationalen Einigung in großem Umfang von der Übernahme, der "Rezeption" oder "Imitation" ausländischen Rechts geprägt worden sei 1: Die unmittelbar nach der Einigung 1 Vgl. dazu den Beitrag von Aldo Mazzacane, Die Rechtskultur in Italien und Deutschland nach der nationalen Einigung - Anmerkungen zu einem Forschungsprojekt, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Deutsche Rechtswissenschaft und Staatslehre im

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geschaffene Kodifikation des Bürgerlichen Rechts, der Codice civile von 1865, scheint dies durch ihre weitgehende Anlehnung an den französischen Code civil von 1804 deutlich zu belegen. Darüber hinaus bezog sich die rechtswissenschaftliche Literatur Italiens in jener Zeit weithin auf die französische Rechtswissenschaft und Judikatur und "übernahm" nach verbreiteter Auffassung deren Ergebnisse für Italien. Später scheint es mit dem "germanesimo" der achtziger Jahre von der Zivilrechtswissenschaft bis zur Verwaltungsrechtslehre2 in einer Art Gegenbewegung zu einer entsprechenden Ausrichtung auf Deutschland gekommen zu sein. Schon bei etwas näherer Betrachtung muß eine derartige Gegenüberstellung von eigenständiger Rechtsentwicklung in Deutschland einerseits und rezeptivem Verhalten in Italien andererseits zweifelhaft, für jedes der beiden Länder zumindest zu einseitig erscheinen. Für die Forschung ergibt sich die Notwendigkeit, die Frage nach dem Verhältnis verschiedener nationaler Rechte in Europa während der Blütezeit des Nationalstaates eingehender zu untersuchen und sie nicht etwa allein aus dem Blickwinkel der zeitgenössischen oder gar der später entstandenen Mythen über das Wesen und das Werden des jeweiligen nationalen Rechts und der "eigenen" (Rechts-) Kultur zu beantworten. So ist die Präsenz ursprünglich "fremden" Rechts in Deutschland in der Entstehungszeit des BGB selbst auf dem Gebiet des Bürgerlichen Rechts durch die Fortgeltung des Code civil im Westen des Reiches offensichtlich. Unbestritten war zwar in dieser Phase - wie schon zuvor im Großteil des 19. Jahrhunderts - für die Entwicklung des Zivilrechts in Deutschland in erster Linie die Pandektenwissenschaft maßgeblich. Ihre Dogmatik und Methodik leiteten häufig auch die Interpretation kodifizierter Rechte in Deutschland (wie des preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 und des Code civil); und sie wirkten - vermittelt über Strömungen wie den "germanisme" in Frankreich3 , den "germanesimo" in Italien oder (in anderer Weise) den "Krausismo" in Spanien - auch auf das Recht anderer europäischer Länder ein. Aber bei aller Betonung der nationalen Eigenart und aller Vorliebe für die römischen Rechtsquellen gehörten doch in der Entstehungszeit der historischen Schule und ihrer neuen Art der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Pandekten die Kenntnis und konkrete Kritik des französischen Rechts zu den Ausgangspunkten, von denen aus in Deutschland die Rechtswissenschaft erneuert wurde. Savignys ProSpiegel der italienischen Rechtskultur während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1990, S. 55 ff., sowie mehrere Beiträge in diesem Band. 2 Vgl. dazu den Beitrag von Pasquale Beneduce, Germanisme, la terrible accusation, in: Reiner Schulze (Fn. 1), S. 105ff. m.w.N. sowie Gustavo Gozzi, Verwaltungslehre und Sozialpolitik: L. v. Stein und C. F. Ferraris, in: Reiner Schulze (Fn. 1), S. 177ff. m. w.N. 3 Jüngst umfassend Alfons Bürge, Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1991.

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grammschrift etwa entwickelt ihre Konzeption in Auseinandersetzung nicht nur mit dem preußischen Allgemeinen Landrecht, sondern auch mit dem Code civil (einschließlich der Gesetzgebungsmaterialien)4. Die Standards, die dieses Recht eines anderen europäischen Landes für den Rechtsverkehr in einer "bürgerlichen Gesellschaft" gesetzt hatte, konnten in der Folge in Hinblick auf die autonome Gestaltung der Rechtsverhältnisse, den Schutz der Rechtsgüter, die Differenziertheit (und zuweilen Kompliziertheit) der Regelungen und vieles andere mehr überboten, aber kaum mehr grundsätzlich in Frage gestellt oder zurückgenommen werden. Der Vergleich mit dem französischen Recht findet sich so in Deutschland im Laufe des 19. Jahrhunderts immer wieder nicht nur mit Blick auf das gemeine Recht, sondern auch auf das Recht der einzelnen Staaten (namentlich in den Lehrbüchern zum preußischen Allgemeinen Landrecht5 ); und im späten 19. Jahrhundert konnte etwa den Mitgliedern der Kommissionen, die das BGB erarbeiteten, diese vergleichende Tradition kaum unbekannt sein. Selbst das Reichsgericht faßte - um nur einen weiteren Gesichtspunkt anzuführen - im späten 19. Jahrhundert Entscheidungen aufgrund des Code civil noch im französischen Urteilsstil ab 6 . Die weit verbreitete gedruckte Sammlung der Entscheidungen des Reichsgerichts führte auf diese Weise jedem deutschen Juristen das Fortwirken der französischen Rechtstradition in der eigenen Rechtsordnung vor Augen. Wie sehr im Verlauf des 19. Jahrhunderts gerade das französische Recht die Rechtsentwicklung und schließlich die Gesetzgebung in Deutschland beeinflußt hat, hat jüngst Elmar Wadle an einer Reihe von Beispielen im Überblick dargestellt7 • Ohne daß dies hier näher ausgeführt werden kann, sei lediglich darauf hingewiesen, daß das, was für das Zivilrecht gilt, sich erst recht für andere juristische Teildisziplinen zeigen ließe. Namentlich neu entstehende Teildisziplinen wie das Verwaltungsrecht und später auch das Arbeitsrecht bildeten sich in der Blütezeit nationalstaatlichen Denkens auch in Deutschland keineswegs in schöpferischer Einsamkeit des nationalen Genius heraus. Es ist vielmehr kennzeichnend, daß sich ihre Begründer und hervorragenden Vertreter - wie Otto MayerS in dem einen Falle, 4 Vgl. Friedrich earl von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, S. 54ff. 5 Vgl. Heinrich Dernburg, Lehrbuch des Preußischen Privatrechts und der Privatrechtsnormen des Reichs, 3 Bände, 4. Aufl. (Bd. 3), 5. Aufl. (Bd. 1 und 2), Halle a.S.1894/1897. 6 Vgl. hierzu statt vieler: RGZ 8, S. 293ff. und RGZ 7, S. 288ff. 7 Vgl. dazu den Beitrag von Elmar Wadle, Französisches Recht und deutsche Gesetzgebung im 19. Jahrhundert, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Europäische Rechtsund Verfassungsgeschichte, Berlin 1991, S. 201 ff. 8 Vgl. hierzu Erk Volkmar Heyen, Otto Mayer: Frankreich und das Deutsche Reich, in: Der Staat 19 (1980), S. 444; ders., Otto Mayer: Studium zu den geistigen

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Philipp Lotmar9 in dem anderen - auf die Erfahrungen und Anregungen mehrerer Länder und Rechtstraditionen stützten. Für das Verwaltungsrecht ist hier wiederum in erster Linie das französische Recht zu nennen; Otto Mayer schickte die "Theorie des französischen Verwaltungsrechts"IO seinem Hauptwerk "Deutsches Verwaltungsrecht" 11 voraus. Doch reicht das Spektrum des internationalen Vergleichs und des Bezuges auf ausländisches Recht in Deutschland während des 19. Jahrhunderts viel weiter: Zu den bekanntesten Beispielen gehört schon für die Zeit des Vormärz das lebhafte Interesse an der angloamerikanischen Jury in der Diskussion um die Geschworenengerichte l2 (neben dem französischen Vorbild, das als eine der "rheinischen Institutionen" im eigenen Land vorzufinden war); ähnliches gilt für verfahrensrechtliche Prinzipien wie die Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens. Und bald nach der Gründung des Deutschen Reiches und dem Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches lenkte - um wiederum nur ein Beispiel anzuführen - kein geringerer als Franz von Liszt, einer der bedeutendsten Strafrechtslehrer Deutschlands, die Aufmerksamkeit auf Italien, nämlich auf die Beiträge, die in dieser Zeit Lombroso und die scuola positiva zu den modernen Kriminalwissenschaften leisteten 13. Gerade derartige Bezugnahmen auf Italien sind freilich für die deutsche Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des späten 19. Jahrhunderts von der neueren Forschung noch weniger beachtet worden als die (ebenfalls weiterer Untersuchungen bedürfenden) Bezüge zum französischen Recht. Dies verwundert um so mehr, als ansonsten das "Italienbild der Deutschen,,14 Grundlagen seiner Verwaltungsrechtswissenschaft, Berlin 1981; Alfons Hueber, Otto Mayer: Die ,juristische Methode" im Verwaltungsrecht, Berlin 1982. 9 Vgl. hierzu Joachim Rückert, Philipp Lotmar, in: NDB 15 (1987), S. 241 ff. 10 Otto Mayer, Theorie des französischen Verwaltungsrechts, Straßburg 1886. 11 Ders., Deutsches Verwaltungsrecht, 3 Bände, 1. Aufl. Leipzig 1895 (Bd. 1), 1917 (Bd. 2). 12 Vgl. hierzu Dieter Blasius, Der Kampf um die Geschworenengerichte im Vormärz, in: Hans U. Wehler (Hrsg.), Sozialgeschichte heute. Festschrift für Hans Rosenberg, Göttingen 1974, S. 148ff.; Peter Landau, Schwur- und Schöffengerichte in Deutschland im 19. Jahrhundert bis 1870, in: Antonio P. Schioppa (Hrsg.), The Trial Jury in England, France, Gerrnany 1700 - 1900, Berlin 1987, S. 241 ff. m. w.N. 13 Vgl. Franz von Liszt, Der italienische Strafgesetzentwurf von 1887, in: Abhandlungen des kriminalistischen Seminars in Marburg, 111, 1888; hierzu Reiner Schulze, Il contributo italiano al diritto penale nel tardo Ottocento, in: Problemi e riforrne nel' eta Crispina (LV Congresso di Storia deI Risorgimento in Sorrento 1990), Rom 1992, S. 113 ff. 14 Vgl. Angelo Ara/Rudolf Lill (Hrsg.), Imagini a confronto Italia e Gerrnania dal 1830 alt' unificazione nazionale/Deutsche Italienbilder und italienische Deutschlandbilder in der Zeit der nationalen Bewegungen (1830 - 1870), ISIG, Beiträge 4, BolognalBerlin 1991. Hinsichtlich der Tradition der Italienreise und deren Einfluß auf das Italienbild der Deutschen vgl. Atanasio Mozzillo, La frontiera deI Grand tour, Neapel 1993.

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als Ausdruck des Interesses an einem anderen Land und zugleich als Bestandteil der nationalen Kultur - in Deutschland vermehrte Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden hat. Bemühungen der rechtshistorischen Forschung, diese Lücken zu schließen, erfordern allerdings auch ein Überdenken herkömmlicher Vorstellungen über die "Rezeption" von Recht und den Transfer juristischer Begriffe und Kenntnisse zwischen verschiedenen Rechtsordnungen. Wie in anderem Zusammenhang näher ausgeführt 15 , ist für die vielfältigen Bezugnahmen auf das Recht anderer Länder im 19. Jahrhundert regelmäßig nicht davon auszugehen, das eine Land habe Elemente des Rechtes eines anderen Landes etwa dergestalt übernommen, daß in der Folge eine Identität des Rechtszustandes in beiden Ländern bestanden habe. Gesetze französischen Ursprungs, Institutionen nach französischem oder englischem Vorbild und auch Theorien aufgrund italienischer Anregungen sind vielmehr für das Deutschland des späten 19. Jahrhunderts in der Regel zuvörderst als Bestandteile einer bestehenden oder sich herausbildenden nationalen Rechtskultur zu verstehen. Sie erhalten durch die eigene Rechtstradition und sonstige spezifische Gegebenheiten des "rezipierenden" Landes theoretisch wie praktisch Bedeutungsgehalte, die ihnen in ihrem (tatsächlichen oder gar nur vermeintlichen) Ursprungsland keineswegs zukommen mußten; und sie verlieren in ihrer neuen Gestalt und ihrem neuen Wirkungsfeld möglicherweise Bedeutungen, die dem Rechtswissenschaftler und Rechtsanwender im Bezugsland selbstverständlich sind. Eben dies gilt es freilich auch für die Aufnahme ausländischen Rechts in Italien zu überdenken. Angesichts der erwähnten Vorstellung über die "Rezeption" und "Imitation" ausländischen Rechts während des 19. Jahrhunderts in Italien deuten einige neuere Beiträge (insbesondere von Aldo Mazzacane)16 auf die Notwendigkeit hin, die Integration ausländischer Vorbilder und "Modelle" in die entstehende nationale Rechtskultur Italiens genauer zu beschreiben. Am Beispiel einiger Rechtsfragen und -gebiete, für die sich die italienische Rechtswissenschaft auf deutsches Recht bezogen hat, einen Beitrag hierzu zu leisten, war eines der Anliegen der Tagung, aus der der vorliegende Band hervorgegangen ist. Die Auseinandersetzung mit dieser Frage verband sich mit dem Bemühen, wenigstens für einzelne Bereiche zu überprüfen, ob nicht in entsprechender Weise die Rechtsentwicklung in Italien die deutsche Rechtswissenschaft des späten 19. Jahrhunderts mehr befaßt hat als die bisherigen Forschungen erkennen lassen. 15 Vgl. hierzu Reiner Schulze, Französisches Recht und Europäische Rechtsgeschichte im 19. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Französisches Zivilrecht in Europa während des 19. Jahrhunderts, Berlin 1994, S. 9ff. (S. 25 ff.). 16 Vgl. Mazzacane (Fn. 1).

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11. Nationales Recht und Rechtsvergleichung Die wechselseitige Bezugnahme der deutschen und der italienischen Rechtswissenschaft aufeinander nach der politischen Einigung beider Länder (ebenso wie die Auseinandersetzung mit dem Recht weiterer Länder bei der Herausbildung des nationalen Rechts Deutschlands und Italiens) führen zu der allgemeinen Frage, welche Rolle der Vergleichung l7 in dieser Zeit in beiden Rechtskulturen zukam. Es mag zunächst verwundern, daß das 19. Jahrhundert nicht nur den Nationalstaat, sondern eben auch die Vergleichung und namentlich die Rechtsvergleichung aufblühen ließ. Die Auflösung der Gemeinsamkeiten des älteren Ius commune und des universalistischen Naturrechtsdenkens zugunsten der Ausrichtung auf das jeweilige nationale Recht, die Suche nach einem "eigenen" Recht der Nation und die frühen Kodifikationen dieses nationalen Rechts führten aber offenbar keineswegs - weder auf Grundlage der "eigenen" Gesetzbücher in Frankreich noch unter dem Einfluß von historischer Schule und "Volksgeistlehre" in Deutschland - zu einer völligen Abschottung nach außen, durchgängiger nationaler Introvertiertheit der Rechtswissenschaft und damit zu einer "splendid isolation" der Rechtsentwicklung. Beschäftigung mit Literatur und Gesetzgebung anderer Länder, Übersetzungen ausländischer Werke und Auslandsberichte in juristischen Zeitschriften sowie vielerlei weitere Formen und Vermittlungswege der Vergleichung scheinen vielmehr einer Reihe von Juristen in jedem Land Europas einen gewissen Ersatz für die verlorene Gemeinsamkeit des Ius commune geboten zu haben. Erleichtert wurden das Verständnis des Rechtes anderer Länder, die Berücksichtigung der im Ausland gesammelten Erfahrungen und der argumentative Bezug auf ausländisches Recht in Rechtswissenschaft und Gesetzgebung auf dem Kontinent eben durch die Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten von juristischen Denkweisen und zum Teil Lösungsansätzen, wie sie aus der Tradition des älteren Ius commune in den nationalen Rechten fortwirkten. Überdies wurde ein derartiges Eingehen auf die Rechtsentwicklung anderer Länder - auch über die herkömmlichen Materien des Ius 17 Konrad Zweigert/Hans-Jürgen Puttfarken, Zum Nationalismus der Rechtsvergleichung - Ein Essay, in: Norbert Horn (Hrsg.), Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Helmut Coing zum 70. Geburtstag, Bd. 2, München 1982, S. 593 ff.; vgl. aus der neueren Diskussion über heutige und historische Aufgaben der Rechtsvergleichung für andere mehr Bernhard Großfeld, Vom Beitrag der Rechtsvergleichung zum deutschen Recht, in: AcP 184 (1984), S. 282ff.; Gert Reinhart, Rechtsvergleichung und richterliche Rechtsfortbildung auf dem Gebiet des Privatrechts, in: Richterliche Rechtsfortbildung, Heidelberg 1986, S. 599ff. Nicht mehr berücksichtigt werden konnte in diesem Band die nach Abschluß der Manuskripte erschienene Studie von Elmar Wadle, Einhundert Jahre Rechtsvergleichende Gesellschaften in Deutschland, Baden-Baden 1994.

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commune und über dessen räumlichen Wirkungsbereich auf dem europäischen Kontinent hinaus - durch vergleichbare Problemlagen, die sich durch den Übergang von ständisch-feudalen Verhältnissen zur "bürgerlichen Gesellschaft", durch die Industrialisierung und durch die daraus erwachsenden neuen sozialen Herausforderungen mehrten, nahegelegt und gefördert. Was bei der rechtlichen Bewältigung derartiger Probleme das eine Land an Erfahrungen sammelte und an Lösungen entwickelte, mußte sich das andere nach Möglichkeit schon deshalb zunutze machen, weil es seine Stellung in der "Konkurrenz der Nationen" behaupten wollte. Und der argumentative Bezug auf das Recht eines Landes, das (tatsächlich oder scheinbar) in dem betreffenden Bereich überlegen war, konnte in dieser Konkurrenz das Gewicht einer juristischen Position im eigenen Land vergrößern, gerade weil das Interesse der Fortentwicklung des "eigenen", nationalen Rechtes galt (selbst wenn zuweilen bei näherem Hinsehen das vermeintliche Vorbild aus dem Ausland eher der Vorstellung des "Rezepienten" als der tatsächlichen Rechtslage in dem anderen Land entsprach). Die Blütezeit des Nationalstaates erweist sich so zugleich als ein "Zeitalter der Vergleichung,,18 - eine Formulierung Friedrich Nietzsches, nach deren möglichen Bezügen zur Entwicklung der Rechtsvergleichung besonders in Italien Erik Jayme in diesem Band fragt 19. Der Entwicklung der Vergleichung in Deutschland und Italien während des 19. Jahrhunderts muß mithin in zweifacher Hinsicht besonderes Interesse gelten. Zum einen stellt sich die Frage nach der Rolle der Auseinandersetzung mit ausländischem Recht für das Entstehen und die Fortgestaltung des nationalen Rechts beider Länder. Zugespitzt gefragt: Was hat die Vergleichung zur Entwicklung der nationalen Rechtskulturen in Deutschland und in Italien beigetragen? Insofern steht die Auseinandersetzung mit den internationalen Aspekten der Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts entsprechend der zeitgenössisch vorherrschenden Ausrichtung auf das nationale Recht - unter der Frage nach den Entwicklungselementen der jeweiligen nationalen Rechtskultur oder der jeweiligen "Landesjurisprudenz,,2o (wie zeitgenössisch Rudolf von Ihering kritisch aus seiner eher universalistischen Sicht formulierte). 18 Vgl. Friedrich Nietzsehe, Menschliches, Allzumenschliches, Bd. 1 (1878), in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), Nietzsche. Werke. Kritische Gesamtausgabe, 4. Abteilung, Bd. 2, Berlin 1967, S. 40ff. 19 Vgl. hierzu in diesem Band den Beitrag von Erik Jayme, Das Zeitalter der Vergleichung - Emerico Amari (1810 - 1870) und Friedrich Nietzsche (18441900). 20 Vgl. Rudolf von [hering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Bd. 1 (1. Auf!. Leipzig 1852), hier zitiert nach der 6. Auf!. Leipzig 1907 (Neudruck Darmstadt 1968), S. 15; Reinhard Zimmermann, Das römisch-holländische Recht und seine Bedeutung für Europa, in: JZ 1990, S. 825 ff.

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Zum anderen stellt sich aber auch die Frage, inwieweit das Aufblühen der Vergleichung daneben nicht Ausdruck einer fortbestehenden europäischen, die nationalen Rechte umgreifenden Rechtskultur ist. Wäre Vergleichung in dem Maße möglich und für die nationalen Rechte nutzbar gewesen, wenn nicht ältere gemeinsame Traditionen, gleichartige Problemlagen und eben ständiger wechselseitiger Bezug aufeinander verwandte Denkweisen der Juristen, ähnliche Grundstrukturen vieler Rechtsgebiete und zuweilen übereinstimmende Problemlösungen in verschiedenen Ländern Europas erhalten und neu hervorgebracht hätten? Das Bewußtsein einer gemeinsamen Wissensgrundlage, wie es in der Zeit des älteren Ius commune die Juristen über die politischen Grenzen hinweg verband, war zwar durch die nationalen Rechtsvorstellungen und die nationalen Organisationsformen der Rechtswissenschaft zurückgedrängt worden. Aber dies mußte nicht notwendig das Ende jeder Art europäischer Rechtsgeschichte bedeuten. Vielmehr stellt sich die Frage, ob nicht gerade unter dem Gedanken der Vergleichung neue Formen der internationalen Kommunikation und eines gewandelten, eines vielleicht lockereren, aber durchaus fortbestehenden Zusammenhangs der Rechtsentwicklung in Europa (und den von der europäischen Rechtskultur geprägten überseeischen Gebieten) geschaffen wurden - auch wenn oft zeitgenössisch und erst recht retrospektiv das nationale Rechtsdenken diese Zusammenhänge aus dem Bewußtsein der Juristen zu verdrängen geneigt war.

111. Untersuchungsgegenstände dieses Bandes Für die ganze Breite der vergleichenden Arbeit italienischer und deutscher Juristen während des 19. Jahrhunderts lassen sich die angeschnittenen Fragen freilich in dem hier gesteckten Rahmen nicht behandeln. Die Untersuchung muß sich vielmehr für Italien auf die Vergleichung mit Deutschland und für Deutschland entsprechend auf die Vergleichung mit Italien in der Entstehungs- und Blütezeit des Nationalstaates konzentrieren. Mit dieser unvermeidlichen Beschränkung muß in Kauf genommen werden, daß aus einer möglicherweise viel weiter ausgreifenden ,'zirkulation,,21 von Rechtsbegriffen und juristischen Argumenten in Europa nur ein Ausschnitt zu erfassen ist. Weitere Untersuchungen müßten so dem Verhältnis beider Länder zu Frankreich gelten - nicht nur, weil das französische Recht seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts für Italien und für Deutschland in vielerlei Hinsicht eingestanden oder uneingestanden Maßstab war, sondern auch weil es im Laufe des Jahrhunderts wiederholt eine Vermittlerrolle zwischen 21 Vgl. hierzu den Beitrag von Cristina Vano, Hypoihesen zur Interpretation der "vergleichenden Meihoden" im Arbeitsrecht an der Wende zum 20. Jahrhundert, in: Reiner Schulze (Fn. 1), S. 225 ff. (S. 242).

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der Rechtsentwicklung dieser beiden Länder einnehmen konnte: Die deutsche Bearbeitungsweise des französischen Zivilrechts· gelangt beispielsweise dadurch nach Italien, daß die (von Aubry und Rau 22 erstellte) französische Übersetzung des deutschen Kommentars zum Code civil von Zachariae 23 mehrfach ins Italienische übertragen wurde24 • Auch bei dieser Eingrenzung und zudem bei zeitlicher Ausrichtung vornehmlich auf das späte 19. Jahrhundert wäre es vermessen, eine vollständige Übersicht zu erstreben. Es lassen sich nur Einzelaspekte und einzelne Formen der Bezugnahme zwischen Deutschland und Italien für einige Rechtsgebiete herausgreifen. Sie können immerhin andeuten, in welcher Breite die beiden nationalen Rechtskulturen voneinander Kenntnis nahmen, und zu weiteren Untersuchungen anregen, Erst derartige weitere Arbeiten werden aber genaueren Aufschluß darüber geben können, inwieweit die hier vorgestellten Ansätze und Sachgebiete tatsächlich repräsentativ für weit verbreitete Vorgehensweisen und allgemeinere Entwicklungen im späten 19. Jahrhundert sind. Auf längere Sicht läßt sich vielleicht im Zusammenwirken deutscher und italienischer Rechtshistoriker ein differenziertes Bild gewinnen, das die eingangs angesprochenen Einseitigkeiten zu überwinden hilft, ohne vorschnell - etwa ausgehend gerade von Thesen, die die Einseitigkeit herkömmlicher Sichtweisen aufzeigen sollen - zu neuem Schematismus zu gelangen. Mit Verallgemeinerungen jedenfalls wird schon deshalb behutsam umzugehen sein, weil viele verschiedenartige Faktoren die Schwerpunkte und die Intensitität der Bezugnahme beider Rechtskulturen aufeinander beeinflussen und auch einem kurzfristigen Wechsel unterwerfen konnten. Erinnert sei hier nur an die Auswirkungen der außenpolitischen "Konjunkturen", die etwa in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts das Interesse der italienischen Rechtswissenschaft an Deutschland erheblich steigerten25 und umgekehrt am Vorabend und Beginn des Ersten 22 Vgl. Charles Aubry/Charles Rau, Cours de Droit Civil Franyais d'apres la Methode de Zachariae, zunächst 1838 in 2 Bänden erschienen, zahlreiche weitere Auflagen. 23 Karl Salomo Zachariä von Lingenthal, Handbuch des französischen Civilrechts, 2 Bände 1808; insgesamt 8 Aufl., die letzte 1894, 4 Bände, besorgt von Carl Crome. 24 Vgl. hierzu Pasquale Beneduce, "Traduttore - traditore", Das französische Zivilrecht in Italien in den Handbüchern der Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, in: Reiner Schulze (Fn. 15), S. 205 ff. 25 Vgl. dazu im vorliegenden Band Cristina Vano, Von der Nachahmung zur Konfrontation. Das Verhältnis der ausländischen Wissenschaft am Beispiel der Verlegerinitiativen von Pasquale Stanislao Mancini sowie Gustavo Gozzi, Verfassungsfrage und Sozialpolitik zu Bismarcks Zeit in Deutschland und Italien. 2 Mazzacane/Schulze

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Weltkriegs in Deutschland die Ablehnung des "fremden" Gedenfalls des französischen) Rechts förderten 26 . In die Untersuchung einzubeziehen sind dabei nicht nur die Entwicklung der Vergleichung als Begriff für ein Arbeitsfeld und eine Arbeitsweise der Juristen und schließlich als eigene rechtswissenschaftliehe Teildisziplin in beiden Ländern (Teil A dieses Bandes). Besondere Aufmerksamkeit verlangen vielmehr auch die einzelnen Vermittlungsformen, die Medien und konkreten Materien der wechselseitigen Bezugnahme (Teil B). Erst sie geben Aufschluß über die Intensität und thematische Breite, über die wissenschaftlichen Protagonisten und die praktischen Konsequenzen der Begegnung beider Rechtskulturen. Vor allem ist hier zu überprüfen, inwieweit die Beschäftigung mit dem Recht des anderen Landes Angelegenheit von "Spezialisten" in der Rechtswissenschaft (oder gar nur in einzelnen rechtswissenschaftlichen Schulen) blieb oder inwieweit sie - beispielsweise über juristische Nachschlagwerke und Zeitschriften - an einen weiteren Kreis von Juristen und in die juristische Praxis vermittelt wurde. Gerade durch die Analyse der einzelnen Medien und Materien der Bezugnahme läßt sich zudem schärfer erfassen, welche Funktion Leitbegriffen wie "Rezeption", "Vorbild" und "Modell" im zeitgenössischen Rechtsdenken zukam und welche Rolle sie heute als historiographische Begriffe bei der Darstellung der internationalen Zusammenhänge der Rechtsentwicklung im 19. Jahrhundert spielen können.

26 Vgl. beispielsweise das 1917 erschienene Nachwort von Landsberg zu einem von ihm vor dem ersten Weltkrieg verfaßten Aufsatz mit dem Titel "Das rheinische Recht und die rheinische Gerichtsverfassung", in: Joseph Hansen (Hrsg.), Die rheinische Provinz 1815 - 1915, Bd. 1, Berlin 1917, S. 149ff. (S. 195); Landsberg bittet dort, ergänzend eine zwischenzeitlich von ihm gehaltene Rede heranzuziehen: "Die Verdrängung des rheinischen Fremdrechts" (ebd. - Hervorhebung R. S.).

Teil A

Aufgaben und Entwicklung der Vergleichung zwischen der deutschen und der italienischen RechtskuItur

Das Zeitalter der Vergleichung Emerico Amari (1810 . 1870) und Friedrich Nietzsehe (1844 . 1900) Von Erik Jayme

I. Einflihrung Ein Beitrag, der die Namen Amari und Nietzsehe gleichsam in einem Atem nennt und unter der Bezeichnung ,,zeitalter der Vergleichung" zusammenfaßt, muß sich rechtfertigen. 1 Das "Zeitalter der Vergleichung" ist der Titel des 23. Aphorismus aus "Menschliches, Allzumenschliches" ? In engem Zusammenhang mit dem "Zeitalter der Vergleichung" erscheint dann der nächste Aphorismus über die "Möglichkeit des Fortschritts". Nach einer Bemerkung über "Privatund Welt-Moral" folgt eine gleichsam dialektische Betrachtung über "Die Reaktion als Fortschritt". Vergleichung und Fortschrittsidee werden hier bei Nietzsehe in engstem Zusammenhang gesehen. Das aber war der Grundgedanke des 1857 in Genua erschienenen Werks von Emerico Amari "Critica di una scienza delle legislazioni comparate"? Dieses Buch erhob zugleich die Rechtsvergleichung zur Wissenschaft, indem es sie in ein geschichtsphilosophisches System einband, nämlich des von der Vorsehung (provvidenza) gesteuerten Fortschritts. 4 1 Vgl. hierzu Erik Jayme, Rechtsvergleichung und Fortschrittsidee, in: Fritz Schwind, Österreichs Stellung heute in Europarecht, IPR und Rechtsvergleichung, Wien 1989, S. 175ff., 186ff. 2 Friedrich Nietzsehe, Menschliches, Allzumenschliches, Erster Band, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), Kritische Gesamtausgabe, Vierte Abteilung Bd. 2 (1967), S. 40ff. 3 Dieses Werk wird hier in der zweibändigen Ausgabe der Edizioni della Regione siciliana, Palermo 1969 zitiert. 4 Vgl. hierzu Erik Jayme, Diritto comparato e teoria deI progresso, Rivista di diritto civile 1989 I, S. 103ff. Das Werk von Amari war wohl die erste wissenschaftliche Darstellung des Fachs. In Frankreich setzte die Entwicklung früher ein; ein Lehrstuhl für die "philosophie des legislations comparees" wurde 1831 am College de France geschaffen, vgl. Norbert Rouland, L'anthropologie juridique, 1990, S. 9, N. 1.

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earl Mittermaier rezensierte das Werk von Amari in einem Aufsatz mit dem Titel "Die Wissenschaft der vergleichenden Gesetzgebung", der 1858 in den Heidelberger Jahrbüchern für Literatur erschien. 5 "Unsere Leser werden sich überzeugen" - so schreibt Mittermaier - "daß das vorliegende Buch wegen des Reichtums der Ideen, der Fülle geistreicher Forschungen und geschichtlicher Entwickelungen zu den bedeutendsten Werken der Neuzeit gehört". Mittermaier hatte allerdings manche Vorbehalte. Sie betrafen das Vieldeutige und Unbestimmte der Lehre von Amari, darunter auch die Fortschrittsidee selbst: "Alles kömmt nur darauf an, was man unter Fortschritt versteht. ,,6 Nietzsehe schrieb "Menschliches und Allzumenschliches" 1878 wahrscheinlich in Sorrent. 7 Auf der anderen Seite liebte er Genua wie kaum eine andere italienische Stadt. 8

Die Frage drängt sich auf, ob Nietzsehe das Werk Amaris kannte. In einem Seminar, das vor einigen Jahren in Genua mit den dortigen Rechtsphilosophen stattfand, wurde diese Frage berührt. Vergleicht man etwa die italienische Übersetzung der Thesen von Nietzsehe mit Sätzen aus dem Werk von Amari, so ergibt sich manche verblüffende Übereinstimmung. Auf der anderen Seite hat man in Deutschland nachgewiesen, daß Nietzsehe Exzerpte aus den rechtsethnologischen Werken von Post herstellte. 9 "Nietzsche als Ethnologe" ist ein Aufsatz von Hans-Jürgen Hildebrandt überschrieben, der 1988 in der Zeitschrift "Anthropos" erschien. 1O Er befaßt sich allerdings nur mit den Fragmenten, nicht mit den Aphorismen zum "Zeitalter der Vergleichung" und zur "Möglichkeit des Fortschritts". Italien wird von dem Autor ganz ausgespart. Immerhin ist der Hinweis auf das 5 (earl) Mittermaier, Die Wissenschaft der vergleichenden Gesetzgebung, Heidelberger Jahrbücher für Literatur 1858, S. 31 ff. 6 Vorige Fn., S. 37. 7 Vgl. Peter Gast, Nachbericht, in: Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Bd. I, Leipzig 1903, S. 421 ff., 422f. 8 Vgl. hierzu Wolfgang Prosinger, Das Meer als philosophisches Argument Friedrich Nietzsche in Ligurien: ein Hotel, ein Ort, eine Idee, in: Süddeutsche Zeitung 14.7.1989 (Nr. 159), S. 45; Joachim Köhler, Zarathustras Geheimnis, 1989, S. 277ff. 9 Vgl. Annemarie Lindig, Albert Hermann Post (1839 - 1895): Begründer der Rechtsethnologie, in: Meo - Altherrenzeitschrift der Burschenschaft Frankonia zu Heidelberg Nr. 244 (Dezember 1989), S. 17 ff. Nietzsehe bestellte bei seinem Verleger Ernst Schmeitzner in Bautzen das Werk von Post, Bausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft, Brief aus Recoaro v. 21.6.1881, in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe, Kritische Studienausgabe Bd. 6, 1986, S. 94. Zur historischen Einordnung von Post vgl. Norbert Rouland (Fn. 4), S. 10. \0 Hans-Jürgen Hildebrandt, Nietzsche als Ethnologe - Ein Beitrag zur Klärung der Quellenfrage, in: Anthropos 83 (1988), S. 565ff.; vgl. auch W. W Schuhmacher, Ad fontes: Nietzsehe als "Ethnologe", in: Anthropos 82 (1987), S. 629ff.

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Werk von Post "Bausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend ethnologischer Basis", aus dem Nietzsehe nachweislich exzerpierte, II wichtig. Das zweibändige Werk von Post erschien zwar erst 1880 und 1881. Es ist aber nicht auszuschließen, daß Nietzsehe frühere Werke von Post kannte, etwa seine "Einleitung in die Naturwissenschaft des Rechts" von 1872. Der Zusammenhang von Nietzsehe und Amari ist also zunächst einmal eine mehr assoziative Hypothese, welche ihren Grund in der Verbindung von Vergleichung und Fortschritt hat. Hinzu tritt die konkrete, noch nicht bewiesene Möglichkeit, daß Nietzsehe das zu seiner Zeit berühmte Werk von Amari kannte. Daß zudem der Zeitgeist manche Gemeinsamkeiten mit sich brachte, soll noch aufgezeigt werden.

11. Emerico Amari (1810 - 1870) Wenden wir uns zunächst Emerico Amari zu. 12 Er wurde am 10. Mai 1810 in Palermo geboren. Die Familie gehörte der Aristokratie Siziliens an. Man darf Emerico Amari nicht mit dem berühmten Historiker Micheie Amari verwechseln, wie es gelegentlich geschieht, zumal beide für eine kurze Zeit gemeinsam in Florenz unterrichteten. Nach dem Studium der Rechtswissenschaft widmete sich Emerico Amari vor allem dem Strafrecht; er übernahm 1841 den Lehrstuhl für dieses Fach an der Universität Palermo. Er schrieb aber auch über Wirtschaft und Handel. Außerdem nahm er sich der sozialen Frage an und wandte sich in einem literarischen Streitgespräch, an dem auch der junge Mancini teilnahm, gegen die "privilegi industriali".13 Solche und ähnliche Ideen machten ihn der bourbonischen Regierung verdächtig, er wurde am 10. Januar 1848 verhaftet. Wenige Tage später brach jedoch die Revolution aus; Amari übernahm für kurze Zeit politische Aufgaben im neuen sizilianischen Parlament, wo er rasch zur Schlüsselfigur wurde. Er gab der Revolution ein theoretisches Fundament, indem er sich einerseits formell an die sizilianische Verfassung von 1812 anlehnte, andererseits aber aus der Geschichte die Rechte des Volkes entwickelte. 14 Vgl. Hans-Jürgen Hildebrandt (Fn. 10). Vgl. zum folgenden Eugenio di Ca rIo, Emerico Amari, Palermo 1937; Erik Jayme, Emerico Amari: Il diritto comparato come scienza, in: Annali della Facolta di giurisprudenza di Genova XXII (1988 - 1989), S. 557ff. 13 Emerico Amari, Sui privilegj industriali e sopra due memorie estemporanee scritte su tale argomento da'Signori Placido De-Luca e Prof. Salvatore Marchese pel concorso alla Cattedra di Economia e Commercio nella Regia Universita di Catania, Palermo 1841; vgl. hierzu Robert Mohl, Uebersicht über die neueren Leistungen der Neapolitaner und Sizilianer im Gebiete der politischen Oekonomie, Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft 1844, S. 223 ff., 237 f. 14 Vgl. Vittorio Frosini, Un "moderato" Siciliano: Emerico Amari, in: ders., Intellettuali e politici dei Risorgimento, Studi risorgimentali 10, Bonanno Editore, Catania 1971, S. 123ff., 128ff., 133. II

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Die "relazione", welche die Einberufung der beiden Kammern des Parlaments begleitete, ist nicht nur eines der vergessenen Meisterwerke der Literatur zum Verfassungsrecht; sie ist auch in unserem Zusammenhang interessant, weil sie rechtsvergleichend argumentierte, indem sie das Beispiel der ungeschriebenen englischen Verfassung heranzog. 15 Amari wurde zur Schlüsselfigur der kurzen Verfassungsentwicklung in Sizilien. Dies hing vor allem auch damit zusammen, daß er als liberaler Aristokrat in sich die verschiedenen Zeitströmungen vereinigte und tragfähige Kompromisse ausarbeitete: "La moderazione e forza, giustizia, liberta" - so später 1857 formuliert in einem offenen Brief16 -, das war sein Credo, dem er sein ganzes Leben über treu blieb. So war er Föderalist, Sizilianer und Italiener zugleich. Amari übernahm die heikle und - wie sich bald herausstellen sollte erfolglose Aufgabe, auf Reisen die Anerkennung Siziliens durch andere Staaten zu erreichen. Ende April 1848 reiste er mit zwei anderen Sizilianern nach Turin und bot dem Herzog von Genua die Krone Siziliens an. Als die Revolution in Sizilien zusammenbrach, ging er nach Genua ins Exil, übernahm dort einen Lehrstuhl für Verfassungsrecht. Im Jahre 1860 wurde er nach Florenz an das dortige Istituto Superiore auf einen Lehrstuhl für Philosophie der Geschichte berufen. 17 Er kehrte aber nach der Einigung Italiens gleich nach Sizilien zurück. Dort wollte man ihn mit Ehrungen überhäufen. Er lehnte alles ab, zog sich zurück, war nur für einige Zeit Abgeordneter Palermos in der Deputiertenkammer. Der Grund lag darin, daß die Einheit Italiens das Königreich Sizilien beseitigt hatte. Seine Vorstellungen waren andere gewesen. Er starb im Jahre 1870. Auf seinem Grabmonument in der Kirche San Domenico, dem Pantheon Palermos, wird er als "felice autore di una scienza delle legislazioni comparate" gefeiert.

Was nun die Rechtsvergleichung angeht, so hatte Emerico Amari seine Grundideen bereits in einer Prolusione von 1845 vorgetragen, die den Titel "Della necessita e delle uttilita dello studio della legislazione comparata" trägt. 18 Diese grundlegende Rede ist in einem unveröffentlichten Manuskript erhalten, das ich in der Biblioteca Comunale di Palermo einsehen 15 Vgl. Giuseppe Lumia, Emerico Amari nel 1848, in: Eugenio di Carlo/Gaetano Falzone (Hrsg.), Atti deI Congresso di Studi Storici sul '48 Siciliano (12 - 15 aprile 1948), Palermo 1950,B. 309ff., 311. 16 Zit. nach Giuseppe Lumia, vorige Fn., S. 310. 17 Die Antrittsvorlesung "DeI concetto generale e dei sommi principii della filosofia della storia - Prolusione al primo corso di questa scienza letta il 24 marzo 1860" erschien 1860 in Genua. 18 Emerico Amari, Della necessita e delle uttilita dello studio della legislazione comparata, Prolusione letta 10.11.1845 dell'anno VI, Corso IV, Manuskript, Biblioteca Comunale di Palermo Man. 5 Qq. (1 d).

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konnte. Die "Critica" von 1857 ist eine detaillierte Ausarbeitung jener Gedanken, die Amari schon früher fonnuliert hatte. 19

III. Darwinismus und "feststellende" Rechtsvergleichung Amari schrieb: " ... la legislazione comparata diventa una biologia universale delle leggi,,;20 hierfür stellt er einige hochinteressante Grundsätze auf, indem er vor allem auf die Bedeutung der Rechtsprechung hinweist, welche den "costumi" zum Durchbruch verhilft. Es ist dabei ein höchst modemes Problem der Rechtsvergleichung angesprochen, nämlich die Frage, wie Rechtsregeln in den verschiedenen Systemen entstehen. Amari erkennt, daß der Gesetzgeber hierbei nicht alleinsteht, "i costumi, portato spontaneo delle cause naturali, sono i legislatori continui ed invisibili, che alterano, abrogano e mantengono le leggi decretate".21 Schon früher hatte er in seiner "prolusione" von 1845 den "giurisconsulto" als "Iegisiatore in anticipo, legislatore in piccolo, ma vero legislatore" bezeichnet. 22 Oder: "La Iegge parIa una volta, la giurisprudenza ad ogni istante".23 Wichtigstes Prinzip der Rechtsentwicklung ist dabei der Fortschritt. Die Rechtsvergleichung hat die Aufgabe, Parallelen zu suchen und die Gesetze der Völker zu betrachten, "onde ricavame le generalita piu comprensive dei progressi del diri tto" .z4 Man könnte dies "feststellende" Rechtsvergleichung nennen, nämlich die Untersuchung und Beschreibung, welche Rechtsregeln sich als fortschrittliche durchsetzen. Manches klingt hier nach Darwin, dessen Werk "On the Origin of Species by Means of Natural Selection" aber erst 1859 erschien.

Bei Nietzsehe meint man dagegen, den Einfluß Darwins deutlich zu spüren. 25 Er schreibt: ,Jetzt wird eine Vermehrung des ästhetischen Gefühls endgültig unter so vielen der Vergleichung sich bietenden Formen entscheiden: sie wird die meisten - näm19 Vgl. Erik Jayme, Emerico Amari (1810 - 1870) und die Begründung der Rechtsvergleichung als Wissenschaft, in: Festschrift Firsching, 1985, S. 143ff., 15Of. 20 Emerico Amari, Critica (Fn. 3), Bd. 2, S. 161. 21 Emerico Amari, Critica (Fn. 3), Bd. 2, S. 161. 22 Emerico Amari, Manuskript (Fn. 18), S. 25 unten. 23 Emerico Amari, Manuskript (Fn. 18), S. 25 unten. 24 Emerico Amari, Critica (Fn. 3), Bd. 2, S. 176. 25 Nietzsehe wurde immer wieder mit dem Darwinismus in Verbindung gebracht. Am 21.2.1873 schreibt er an Erwin Rhode: ,,Neulich habe ich in einem "evangelischen Anzeiger" über mich Einiges gelesen, was mir auf Wochen hinaus Heiterkeit verschafft, ich wurde "der ins Musikalische übersetzte Darwinismus" genannt ... ", zit. nach Friedrich Nietzsehe, Sämtliche Briefe, Kritische Studienausgabe Bd. 4 (Mai 1872 - Dezember 1874), 1986, S. 125.

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lich alle, welche durch dasselbe abgewiesen werden - absterben lassen. Ebenso findet jetzt ein Auswählen in den Formen und Gewohnheiten der höheren Sittlichkeit statt, deren Ziel kein anderes als der Untergang der niedrigeren Sittlichkeiten sein kann. Es ist das Zeitalter der Vergleichung.,,26

Der Vergleich stellt also auch hier nur fest, was auf natürliche Weise geschieht. Solche Gedanken beherrschten in jener Zeit das Geistesleben. Ein kleiner Exkurs sei gestattet, er betrifft die Schaffensästhetik von Johannnes Brahms. 27 Der berühmte Komponist verbrachte ab 1862 viele Sommer in Lichtenthai bei Baden-Baden, wo viele seiner Werke entstanden. Er äußerte immer wieder die gleichsam "darwinistische" Auffassung, daß durch die Spaziergänge in der freien Natur, durch das ständig arbeitende Unterbewußtsein - wie der Musikwissenschaftler Ludwig Finscher schreibt - "die untüchtigen Einfälle absterben, die tüchtigen überleben".28 Christiane Jacobsen schreibt in einer Studie zu den Liedern von Brahms: "Es zeigt sich hier aber eine Art künstlerischer Darwinismus (kommt die Melodie nicht wieder, war sie nichts wert; d.h. nur die starke Melodie setzt sich durch)".29

Eine solche Vergleichung kommt fast ohne vergleichendes Subjekt aus. Die Rechtsregeln vergleichen sich gleichsam selbst. Dem "Absterben" bei Nietzsehe entspricht eine Stelle bei Amari in seiner frühen Schrift "Degli elementi che costituiscono la Scienza deI diritto penale - Tentativo di una teoria deI progresso", die 1843 in Palermo erschien. Dort liest man: 26 Friedrich Nietzsehe (Fn. 2). Vgl. auch ders., Zur Naturgeschichte von Recht und Pflicht, in: Morgenröte, hier zitiert nach Karl Schlechta (Hrsg.), Werke 11, Ullstein 1972, S. 1084f.: "Verschieben sich die Machtverhältnisse wesentlich, so vergehen Rechte und es bilden sich neue - dies zeigt das Völkerrecht in seinem fortwährenden Vergehen und Entstehen." Vgl. ferner Domenico Corradini, La "straziante" giustizia. Quando Nietzsche lesse il "Don Chisciotte" e l' "Amleto", in: Materiali per una Storia della Cultura giuridica XVII (1987), S. 9ff. 27 Aus dem Brief des Heidelberger Musikwissenschaftlers Ludwig Finscher an den Verfasser vom 1.10.1991: "Die Zeugnisse über die "darwinistische" Haltung von Brahms sind leider nur indirekt, aber sie stammen von insgesamt vertrauenswürdigen Zeitgenossen." Vgl. zum ganzen Ludwig Finscher, Brahms's Early Songs: Poetry Versus Music, in: George S. Bozarth (Hrsg.), Brahms Studies - Analytical and Historical Perspectives - Papers de1ivered at the International Brahms Conference Washington, DC 5 - 8 May 1983, Oxford 1990, S. 331ff. 28 Ludwig Finscher, Johannes Brahms, in: Badische Landesbibliothek Karlsruhe (Hrsg.), Johannes Brahms in Baden-Baden und Karlsruhe 1983, S. 5ff., 6. 29 Christiane Jacobsen, Das Verhältnis von Sprache und Musik in ausgewählten Liedern von Johannes Brahms, dargestellt an Parallelvertonungen, Hamburg 1975, S. 63; vgl. auch Max Kahlbeck, Johannes Brahms, Bd. 11, Erster Halbband 1862 1868, Berlin 1908, S. 179 (,,Es geht aber nichts verloren. Komme ich vielleicht nach langer Zeit wieder darauf, dann hat es unversehens schon Gestalt angenommen, ich kann nun anfangen, daran zu arbeiten") u. S. 180 ("Naturnotwendigkeit").

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"Le specialita spariscono dalla terra. Da Calcutta a Washington, da Londra alle Piramidi, da Parigi a Sydney e forse fra breve sino a Peckin voi non troverete, che una forrna d'idee, di costumi, di leggi, la forrna dell'uomo europeo; fra poco le differenze che restano ancora spariranno. ,,30

Hauptziel der Rechtsvergleichung wird es, den von selbst eingetretenen Fortschritt darzulegen und zu beschreiben. Man kann also von "feststellender" Rechtsvergleichung sprechen.

IV. "Wertende" Rechtsvergleichung Nietzsehe allerdings ging über eine solche Feststellung hinaus. Im folgenden Aphorismus über die "Möglichkeit des Fortschritts" schreibt er: "Aber die Menschen können mit Bewußtsein beschließen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln. ,,31

Eine solche Überlegung eröffnet die Möglichkeit einer bewußt wertenden Rechtsvergleichung. Bei Amari gibt es ähnliche Ansätze?2 Er verbindet die Rechtsvergleichung mit der Fortschrittsidee und erkennt das Hauptproblern einer wertenden Rechtsvergleichung, nämlich einen Maßstab für den Vergleich zu finden. Amari siedelt diesen Maßstab außerhalb des Rechts an, indem er als Bezugspunkt ein "modello ideale dei perfetto civile,,33

oder den "archetipo dell'ottimo sociale,,34

postuliert. Einige Grundwerte stehen jedoch fest: Freiheit, Gleichheit, Universalität des Rechts und die "giustizia degli ordini divini,,?5 So gelangt Amari zu seiner Definition der Rechtsvergleichung als Wissenschaft, in der sich feststellende und wertende Elemente mischen: 36

,,La scienza della legislazione comparata adunque e quella che raccoglie e paragona metodicamente le leggi dei popoli, per ricavarne la dottrina giuridica della civilta universale, e provvedere mediante studiati confronti ai bisogni politici eco-

30 Emerico Amari, Degli elementi che costituiscono la Scienza dei diritto penale Tentativo di una teoria deI progresso, Palermo 1843, S. 23. 31 Friedrich Nietzsehe (Fn. 2), S. 41: "Die neue bewusste Kultur tödtet die alte, welche, als Ganzes angeschaut, ein unbewusstes Thier- und Pflanzenleben geführt hat; sie tödtet auch das Misstrauen gegen den Fortschritt, - er ist möglich." 32 Vgl. hierzu Erik Jayme (Fn. 1), S. 178ff. 33 Emerico Amari, Critica (Fn. 3), Bd. 11, S. 202. 34 Emerico Amari, Critica (Fn. 3), Bd. 11, S. 207. 35 Emerico Amari, Critica (Fn. 3), Bd. 11, S. 208. 36 Emerico Amari, Critica (Fn. 3), Bd. 11, S. 213.

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nomici e storici delle nazioni: alla imitazione delle leggi da farsi, ed alla interpretazione di quelle gia imitate: alla esperienza dei legislatori colla notizia delle vicende della fortuna delle leggi: alla dimostrazione d'un diritto universale della ragione, edel progresso provvidenziale del genere umano sulla idea di una natura comune delle genti, e per mezzo della trasmissione preordinata della civilta, e tuttocio ragiona sopra un modello ideale dell'ottimo civile, il quale serve a lei di norma alla scelta, all'ordinamento ed ai paragoni delle leggi, e di criterio a tutta la filosofia civile; onde ella riesce una storia, una filosofia, ed una teodicea universale delle leggi deI genere umano, una dottrina dell'archetipo edel progresso delle umane societa."

Amari verband in einer solchen Definition Vico und Romagnosi. Von Vico stammt die Grundüberzeugung der Ähnlichkeit der von den Menschen geschaffenen und befolgten Rechtsregeln?7 Amari wendet sich aber gegen die gleichsam fatalistische Geschichtsbetrachtung von den "corsi" und ,,ricorsi"; er glaubt an den Fortschritt. Von Romagnosi übernahm er die Idee der Rechtswerte, 38 die er am Maßstab des sozial Besten ausrichtete.

In seinem Hauptwerk von 1857 hielt sich Amari mit konkreten Wertungen zurück. In seiner "prolusione" von 1845 dagegen führte er aus: ,,11 diritto Inglese 0 Americano ha piii guarentiglie dell'ltaliano, l'ltaliano deI Tedesco, il Tedesco del Turco ... ,,39

Das deutsche Recht stand ihm also relativ fern, wenn man von der Hymne auf earl Mittermaier absieht, die am Ende einer historischen Betrachtung über die großen Komparatisten steht und die Mittermaier als Schlußpunkt einer Entwicklung ansieht, welche bei Vico und Montesquieu begann. 4o Bei Amari stehen "bisogni" als Maßstab der Vergleichung im Vordergrund. Dieser Gedanke wurde vom Positivismus erschüttert, welcher die Rechtsvergleichung als "Seinswissenschaft" verstand. 41 Selbst Rabel meinte: "Die Wertung gehört nicht mehr zur Rechtsvergleichung, aber zu der durch sie ermöglichten Rechtskritik. ,,42 37 Giambattista Vico, La scienza nuova, in: Paolo Rossi (Hrsg.), BUR 1977, S. 173ff., 179 ("degnita" XIII): "Idee uniformi nate appo intieri popoli tra essoloro non conosciuti debbon avere un motivo comune di vero." 38 Vgl. das Kapitel IV "DeI valore dei diritti" bei Giandomenico Romagnosi, Introduzione allo studio deI diritto pubblico universale, Bd. 1, 5. Aufl., Mailand 1836, S. 338ff. 39 Emerico Amari, Manuskript (Fn. 18), S. 51. 40 Emerico Amari, Critica, (Fn. 3), Bd. 11, S. 179. 41 Vgl. Wilhelm Wengier, Gedanken zur Soziologie und zur Philosophie der Rechtsvergleichung, in: Mario Rotondi, Inchieste di diritto comparato, Bd. 11 (1975), S. 725 ff., 732. 42 Ernst Rabel, Aufgabe und Notwendigkeit der Rechtsvergleichung, in: Gesammelte Aufsätze, Bd. III (1967), S. 1 ff., 3.

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Die heute herrschende funktionale Methode der Rechtsvergleichung betont dagegen wieder die Ordnungsaufgabe oder das soziale Bedürfnis als Maßstab der Vergleichung. 43

V. Praktische Rechtsvergleichung So sehr bei Amari die Theorie überwog, so hat die Rechtsvergleichung doch bei ihm ein Doppelgesicht. Außer der geschichtsphilosophischen Verankerung in der Fortschrittsidee wird eine Bestandsaufnahme des positiven Rechts und seines Umfelds gefordert, welche zugleich den Weg zur praktischen Rechtsvergleichung eröffnet. Die Nützlichkeit der Kenntnis von den ausländischen Rechten wird sogar bereits zu Beginn der "Critica" beschrieben; es wird dort sogar eine induktive Methode befürwortet: 44 " ... spesso accade, che dalle osservazioni dei cultori meramente pratici venga fuori la scoverta, 0 l'impulso alla scoverta di grandi principii universali".

Hinzu kommt der Einsatz von Hilfswissenschaften, vor allem auch der Statistik. 45 So empfahl sich das Buch von Amari auch dem beginnenden Positivismus, etwa Giuseppe Saredo, der 1886 schrieb: 46 ,,La lettura di questo libro, mirabile per dottrina, sagacia e profondit!l, Iente preparazione allo studio deI diritto positivo."

e un eccel-

Heute ist das Werk von Amari nahezu vergessen, aber nicht überwunden. Die Bedeutung Nietzsches für die Vergleichung harrt noch der Darstellung.

43 Vgl. Konrad Zweigert/Hein Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, Bd. I: Grundlagen, 2. Aufl. 1984, S. 34ff. 44 Emerico Amari, Critica (Fn. 3), Bd. I, S. 69. 45 Emerico Amari, Critica (Fn. 3), Bd. 11, S. 186. Vgl. auch earl Miuermaier, Italienische Zustände (1844, Nachdruck 1988, eingeleitet von Erik Jayme), S. 134f.: "Wie vorsichtig man seyn muss, wenn man von den mitgetheilten Nachrichten Schlüsse auf den moralischen Zustand Siciliens ziehen und Vergleichungen mit den statistischen Notizen anderer Länder anstellen will, hat mit Recht neuerlich der geistreiche Amari in Palermo nachgewiesen." 46 Giuseppe Saredo, Trattato delle leggi, dei loro conflitti di luogo e di tempo e della loro applicazione, Firenze 1886, S. 51 N. 1. Vgl. hierzu Erik Jayme (Fn. 4), S. 558; Ferdinando Treggiari, Enciclopedia e ,,ricerca positiva", in: Aldo Mazzacane/Pierangelo Schiera (Hrsg.), Enciclopedia e sapere scientifico - Il diritto e le scienze sociali nell'Enciclopedia giuridica italiana, Bologna 1990, S. 163ff., 181ff.

Historische Vergleichung im Bereich von Staat und Recht vom späten 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Beobachtungen zur deutschen Bezugnahme auf Italien Von Heinz Mohnhaupt

J. Vergleichende Wahrnehmung kulturell und staatlich definierter Nationalität Vergleichung in der "deutschen" und "italienischen" Rechtskultur und somit auch zwischen Deutschland und Italien während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedeutet im Ergebnis - mathematisch gesprochen - weitgehend noch eine Gleichung bzw. Ungleichung mit mehreren Unbekannten. Diese betreffen sowohl die sachlichen Gegenstände des Vergleichens und dessen Methode wie auch den territorialen Rahmen, der als kulturelle oder staatlich-politische Einheit und Bezugsgröße die Vergleichsfelder absteckt: 1. Das 19. Jahrhundert entwickelt erst die Methode der Vergleichung bzw. Rechtsvergleichung zu einem wissenschaftlichen Prinzip; 2. Deutschland und Italien werden erst innerhalb dieser Epoche aus partikularen Staatsgebilden zum nationalen Einheitsstaat, der nationale Identitäten ennöglicht und herausfordert. Weder das "Heilige Römische Reich deutscher Nation" noch die Summe der italienischen Einzelstaaten des 18. Jahrhunderts waren ein "nationaler" Staat, was man jedoch mit Vorrang vom französischen Königreich sowie vom englischen und spanischen in entsprechender Zeitverschiebung durchaus mit einiger Berechtigung sagen kann 1. "Deutschland" und "Italien" befinden sich erst mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts auf dem Wege zum national definierten Staat und vor allem einem national definierten einheitlichen Recht. Kulturell definierte Nationalität und regionalisierte patriotische Identität2 gingen staatlicher Nationalität und Identität in beiden Ländern voraus. Das macht wiederum auch zu einem Teil Ähn1 Vgl. dazu Theodor Schieder, Nation und Nationalstaat in der deutschen Geschichte (1971), in: ders., Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modemen Europa, Göttingen 1991, S. 145 - 165 (145); speziell zur italienischen Entwicklung vgl. ebenfalls Theodor Schieder, Italien und die Probleme des europäischen Nationalstaats im 19. Jahrhundert (1963), in: ders., Nationalismus (1991), S. 329 - 346. 2 Zu den regional und territorial abgestuften Formen des Patriotismus im Alten Reich vgl. Michael Stolleis, Reichspublizistik und Reichspatriotismus vom 16. zum

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lichkeit und Vergleichbarkeit zwischen beiden Ländern aus. Unabhängig von der sich mit Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelnden nationalen Prägung der Staats- und Rechtswissenschaften behielt jedoch auch die aufklärerisch bestimmte prä- und transnationale Kulturtradition auf allen Feldern von Kunst und Wissenschaft zwischen und in diesen Ländern ihr unterschiedliches Eigengewiche. Austauschprozesse, Einflußwirkung und Vorbildfunktion zwischen den Ländern haben daher sowohl eine allgemein kulturelle als auch eine staatlich-national bestimmte Dimension. August Ludwig Schlözer nannte 1775 "alle diejenigen ein Volk, die in einem Staat verbunden sind ... ,,4. Danach konstituiert erst der Staat das Volk. Für den frühen Feuerbach stand 1809 noch fest, daß in Deutschland keine Chance bestand, "ein Nationalwerk der gesetzgebenden Kunst schaffend zu errichten."s Seine Begründung - noch ganz im Rahmen von Savignys Volksgeistlehre geschrieben - lautete: "Aber um eine Nationalgesezgebung zu erhalten, müsten wir erst eine Nation seyn, und um eine gute Nationalgesezgebung aus uns zu erzeugen, müste das öffentliche Leben nicht blos in den Geheirnrathscollegien und Büreau's zu finden seyn, sondern in der Nation selbst. ... ; da wir nicht selbst Originale hervorbringen können, müssen wir große Muster studiren.,,6

Hier liegt Feuerbachs früher rechts vergleichender Ansatz, der sich jedoch deutlich von Savignys Auffassungen unterschied7 . Feuerbachs Wort läßt sich aber auch als frühe Variante zu Massimo d'Azeglios bekanntem 18. Jahrhundert, in: Günter Birtsch (Hrsg.), Patriotismus (Aufklärung 4, Heft 2), Hamburg 1991, S. 7 - 23. 3 Zu den oft irrational zu nennenden Einflüssen und Austauschmechanismen zwischen Staaten und (Rechts-) Kulturen siehe Bemhard Großfeld, Macht und Ohnmacht der Rechtsvergleichung, Tübingen 1984, S. 74 - 85; vgl. auch Erk Volkmar Heyen, Diskussionsbeitrag: Zur Einflußfrage in der Staats- und Rechtswissenschaftsgeschichte, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Deutsche Rechtswissenschaft und Staatslehre im Spiegel der italienischen Rechtskultur während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte I, Berlin 1990, S. 75 - 79 (76). 4 August Ludwig Schlözer, Vorstellung der Universal-Historie, 2. Aufl., Göttingen 1775, S. 296 (hier zitiert nach Wolf-Dieter Könenkarnp, Volkskunde und Statistik, in: Zeitschrift für Volkskunde 84 (1988), S. 1 - 25 (15). 5 Brief Paul Johann Anselrn Feuerbachs an Savigny vom 13.1. 1809, in: H. Kadel (Hrsg.), Paul Johann Anselm Feuerbach - Friedrich earl von Savigny. Zwölf Stücke aus dem Briefwechsel - omnia quae exstant, Lauterbach 1990, S. 34. 6 Feuerbach (Fn. 5), S. 35. 7 Vgl. dazu Heinz Mohnhaupt, Universalgeschichte, Universal-Jurisprudenz und rechtsvergleichende Methode im Werk P. J. A. Feuerbachs, in: Heinz Mohnhaupt (Hrsg.), Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten (1988 - 1990). Beispiele, Parallelen, Positionen, in: lus commune (Sonderhefte 53), Frankfurt a.M. 1991, S. 97 - 123 (119 - 121).

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Satz von 1861 lesen: "Fatta l'Italia bisogna fare gli ltaliani".8 Das meinte auch die Schaffung eines einheitlichen Rechts durcQ Ablösung der extrem partikularen Rechtsordnung in Italien, die sich darin von der in Deutschland herrschenden Rechtsquellensituation in nichts unterschied. Mittermaier erläuterte 1842 diesen Tatbestand mit seiner Beobachtung: "Bei juristischen Werken tritt noch der Uebelstand ein, dass bei der grossen Zerstückelung Italiens und der Verschiedenheit der Gesetzgebung der italienischen Staaten die juristische Literatur zu leicht einen nur partikularrechtlichen Charakter an sich trägt, welcher bewirkt, dass das in einem Staat geschriebene juristische Werk keine Käufer in den übrigen Staaten findet.,,9 Er hob aber zugleich auch "das Gefühl der Nationalität", und den "Stolz, Italiener zu seyn" hervor, die er in dem oft gehörten Wunsch dokumentiert sah, "daß so viele Hindernisse des freien Verkehrs der Bewohner der verschiedenen italienischen Staaten, und zugleich Hindernisse der Entwicklung der Wohlfahrt Italiens wegfallen möchten ... ".10 So werde auch "der Wunsch immer lauter, daß durch Conföderation der italienischen Staaten, wie der Zollverein in Deutschland besteht, materielle Vortheile durch das Verschwinden der Zollgrenzen bewirkt, nicht weniger gleiche Münzen, Maasse und Gewichte eingeführt werden."ll Mittermaier verweist dafür auf einen "interessanten Artikel über die Vortheile des deutschen Zollvereins", der kurz zuvor im August 1841 in dem in Florenz erscheinenden "Giornale agrario toscano" publiziert worden war 12 • Er identifizierte sich zugleich mit der "Klage eines geistreichen Italieners" - nämlich mit der Carlo Viduas _13, "die als eine Hauptursache der Unzulänglichkeit der Fortschritte Italiens 8 Vgl. dazu auch Christo! Dipper, Italien 1861 bis 1915 - Nationalstaat ohne Nation, in: R. Schulze, Deutsche Rechtswissenschaft (Fn. 3), S. 335 - 345 (336), der damit treffend Italien als "Nationalstaat auf der Suche nach seiner Nation" charakterisiert, was auch die Suche nach einem national definierbaren einheitlichen Recht mitumfaßt. 9 Carl Joseph Anton Mittermaier, Ueber die Fortschritte der juristischen Literatur und den Zustand des Rechtsstudiums in Italien, in: Mittermaier/Zachariae (Hrsg.), Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes (im folgenden abgekürzt: Krit. Zs.), Band 14, Heide1berg 1842, S. 136 - 169 (143). 10 Mittermaier, Ueber Fortschritte, 1842 (Fn. 9), S. 140. 11 Mittermaier, Ueber Fortschritte, 1842 (Fn. 9), S. 141 (Anm. 5). 12 Giornale agrario toscano, Firenze 1841, Nr. 60, S. 338. Mittermaier hat 1844 die gesamte Debatte in Italien über die Gründung eines Zollvereins nach dem Vorbild des deutschen Zollvereins ausführlich dargestellt; vgl. Mittermaier, Italienische Zustände, Heide1berg 1844, S. 66 - 79 (neu im Reprint Erik Jayme (Hrsg.), Heidelberg 1988); vgl. dazu auch die Bewertung bei Wolfgang Altgeld, Das politische Italienbild der Deutschen zwischen Aufklärung und europäischer Revolution von 1848, Tübingen 1984, S. 246 - 248. 13 Carlo Vidua, Dello stato delle cognizioni in Italia, Discorso, edizione seconda, Torino 1834, S. 60, 120; so Mittermaier, Ueber Fortschritte, 1842 (Fn. 9), S. 156 mit 142, Anm. 8. 3 Mazzacane/Schulze

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den Mangel der Einheit, insbesondere der unita letteraria" angab. l4 Was den Mangel der Einheit betraf, wird sich Mittermaier hier wohl auch aus dem Wunsch nach Verbesserung der deutschen Verhältnisse geäußert haben. Beide Länder repräsentierten - um es mit einem mittlerweile geläufigen Begriff Helmut Plessners zu sagen - eine "verspätete Nation"l5. Das Einheitsstreben und der rational durchformter Staatlichkeit entgegenstehende Partikularismus waren somit in Italien und Deutschland parallele Erfahrungen. Die bestehende Rechtsquellenordnung ließ sich somit in diese zwei Richtungen hin darstellen und bilanzieren. In einer kritischen Würdigung zu Sclopis' "Storia della legislazione italiana"l6 forderte Mittermaier in diesem Sinne: "Wir wünschen nur, daß der Verfasser in den folgenden Theilen die Darstellung derjenigen Verhältnisse und Einrichtungen, welche in allen italiänischen Staaten vorkommen, von der Entwicklung des Rechts in den einzelnen Staaten trenne."l7 Was einheitliches Recht war und was partikulares Recht bedeutete, war nur in einem vergleichend beobachtenden Verfahren darzustellen, das man bis zur Differentienliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts in Europa zurückverfolgen kann, die ihrerseits die Unterschiede zwischen den partikularen heimischen Rechten und dem römischkanonischen ius commune feststellte. Globale Rechtseinheit benötigt kein solches Verfahren. Erst Unterschiede - gleich welcher Qualität und Gattung - sowie die Suche danach diese zu überwinden, zwingen zur Bestandsaufnahme der Unterschiede oder Ungleichartigkeiten und zur Ergründung ihres Entstehens - und damit zu einem komparatistischen Prinzip. Diese Methode der differenzierenden und unifizierenden Wahrnehmung und Erkenntnis ermöglicht es, die - von entsprechendem Interesse geleitete - Einheit oder Gleichheit zu erzielen, indem sie deren Bedingungen aufzeigt. Der Prozeß der nationalstaatlichen Rechtseinheit des 19. Jahrhunderts ist somit von der Entwicklung der Rechtsvergleichung begleitet. Beide bedingen einander. Zugleich besitzt Rechtsvergleichung aber eine zweifache Dimension, nämlich einen Innenaspekt nationalstaatlicher Rechtsentwicklung und einen Außenaspekt l8 inter-nationaler Rechts- und Kulturbeobachtung. Jede Mittermaier, Ueber Fortschritte, 1842 (Fn. 9), S. 155 f. Helmut Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes (als 2. erweiterte Auflage von "Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche", Zürich 1935), 1959. 16 Federigo Sclopis, Storia della legislazione italiana, vol. I: Origini, Torino 1840. 17 Mittermaier, Rechtsgeschichte Italiens, in: Krit. Zs. 13 (1841), S. 90 - 107 (107). 18 Vgl. z.B. Christian Meier, Die Welt der Geschichte und die Provinz des Historikers, in: Hans-Ulrich Wehler, Politische Sozialgeschichte 1867 - 1945 (Geschichte und Gesellschaft 15, Heft 2), Göttingen 1989, S. 147 - 163 (156). Zum Forschungsbedarf bezüglich historischer Rechtsvergleichung angesichts sich herausbildender nationaler Rechtsordnungen vgl. R. Schulze, Deutsche Rechtswissenschaft (Fn. 3), Einführung, S. 22. 14

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Außenbeobachtung wird automatisch von einem vergleichenden Interesse angeleitet, das nach Analogien, Gemeinsamkeiten und Besonderheiten fragt. Erst in dem Moment, in dem die Beobachtungstechnik zum bewußten Prinzip gezielter Reflexion wird, kann man von einer wissenschaftlichen Methode sprechen. Diese wird im Bereich von Staat und Recht entscheidend durch das Frage- und Vergleichsziel mitbestimmt. Untersuchungen zur Geschichte der Vergleichung und Rechtsvergleichung werden also auch immer danach zu fragen haben, auf welche Materien bezogen und zwischen welchen Kulturen und Ländern - und sodann auch Staaten - Vergleichungen auftreten. Ein solcher Befund ermöglicht Aussagen über das Verhältnis der verglichenen Bezugsgrößen und Länder. Das gilt besonders für Länder und Staaten des europäischen Kulturkreises. Die Wurzeln dieser komparatistischen Betrachtungsweise sind in der Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts zu finden 19 . Sie bezeichnen einen enzyklopädischen Wissenszusammenhang 20 und ein aufklärerisches Erkenntnisziel zugleich. Darauf möchte ich im folgenden kurz eingehen und untersuchen, inwieweit diese Anfänge vergleichender Beobachtung auch für das Verhältnis zwischen Deutschland und Italien wirksam wurden. Dafür ist zuvor der Blick auf die Begriffseinheiten "Deutschland" und "Italien" während der späten Aufklärungsepoche zu richten.

11. Die Begriffe "Deutschland" und "Italien" Ende des 18. Jahrhunderts 1. Geographische Sicht

Ende des 18. Jahrhunderts war der Begriff "Italien" vor allem eine geographische Bezeichnung21 - ein Sammelbegriff für die Vielzahl der einzelnen Stadtstaaten und Territorien. Bezeichnend ist die von v. Bielfeld 1773 in seinem "Lehrbegriff der Staatskunst" entsprechend den aristotelischen Ordnungskriterien nach Regierungsformen gegebene Gliederung "Italiens" in vier Teile mit sieben Herzogtümern, zehn kleinen Herzogtümern, drei Republiken, dem Großherzogturn Toskana und dem Kirchenstaat, acht Fürstentümern, dem Königreich Neapel und den drei Insel-Königreichen SiziVgl. Heinz Mohnhaupt, Rechtsvergleichung, in: HRG 4 (1986), Sp. 403 - 410. In diesem Sinne benutzt auch noch Cristina Vano zu Recht den "Gesamtzusammenhang" angewandter "Verfahren ... der Gegenüberstellung" als ein Kriterium zur Aufdeckung elementarer vergleichender Methoden im Arbeitsrecht um die Wende zum 20. Jahrhundert; vgl. Cr. Vano, Hypothesen zur Interpretation der "vergleichenden Methoden" im Arbeitsrecht an der Wende zum 20. Jahrhundert, in: R. Schulze (Hrsg.), Deutsche Rechtswissenschaft (Fn. 3), S. 225 - 242 (228). 21 Vgl. Altgeld, Das politische Italienbild (Fn. 12), S. 25. 19

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lien, Sardinien und Korsika neben weiteren kleinen Inseln 22 . Die über fast zwei Seiten verlaufende Aufzählung schließt lapidar: "Das ist mit wenig Worten ltalien.'.23 Im Kapitel "Von Deutschland oder dem heiligen römischen Reiche,,24 bemüht sich v. Eielfeld gar nicht erst um eine solche Aufzählung. Er erklärt: "Wenn wir jedes Land, oder jede Provinz, aus welchen Deutschland besteht, ... besonders abhandeln wollten, so würde diese Untersuchung des heiligen römischen Reiches allein ein ganzes Buch einnehmen und die Gränzen dieses Werkes überschreiten.,,25 Es ist bezeichnend, wie unsicher und alternativ v. Eielfeld die Begriffe "Reich" und "Deutschland" gebraucht, obwohl sie doch als staatsrechtliche Größen keineswegs deckungsgleich waren. Theodor Schieder hat darauf hingewiesen, daß der Begriff "Italien" als ein politischer Begriff erstmals durch die Französische Revolution eingeführt worden ise6 • Es ist dies die Zeit der Entstehung und auch der Konstruktion nationaler Identitäten27 , in der ethnisch-kultureller und politischer NationenBegriff verschmelzen. Beide begleiten und bedingen den Prozeß der modernen Staatsbildung28 , nachdem bereits durch Rousseau Volk und Nation zur Deckung gebracht worden waren29 und Vattel die "nation" zum alleinigen Schöpfer der "constitution" erhoben hatte3o. Das Anwendungsfeld dieser Theorien war Frankreich während der Revolutionszeit. Die deutschen und italienischen Einzelstaaten blieben von solchen gesamtstaatlichen Umformungen unberührt, wenn auch die Idee einer gesamtitalienischen Nation gerade aus der Sicht deutscher Publizistik31 - und eine neue Form des Reichspatriotismus in "Deutschland,,32 erkennbar wurden. In den deutschen Kompendien zur europäischen Staatenkunde spielte Italien eine untergeord22 Des Freyherrn von Bielfeld Lehrbegriff der Staatskunst. Dritter Theil. Aus dem Französischen übersetzt, Breßlau/Leipzig 1773, S. 314 - 316. 23 v. Bielfeld, Lehrbegriff (Fn. 22), S. 316 (§ 9). 24 v. Bielfeld, Lehrbegriff (Fn. 22), S. 425 - 534. 25 v. Bielfeld, Lehrbegriff (Fn. 22), S. 425 f. 26 Th. Schieder, Italien (Fn. 1), S. 334f. 27 Shmuel Noah Eisenstedt, Die Konstruktion nationaler Identitäten in vergleichender Perspektive, in: Bemhard Giesen (Hrsg.), Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1991, S. 21 - 38. 28 Otto Dann, Begriffe und Typen des Nationalen in der frühen Neuzeit, in: Giesen, Identität (Fn. 27), S. 56 - 73 (56 - 60). 29 Dann, Begriffe (Fn. 28), S. 63. 30 Emer de Vattel, Le droit des gens ou principes de la loi naturelle (1758), I, 3 (§ 27); vgl. dazu Heinz Mohnhaupt, Verfassung I, in: Reinhart Koselleck u.a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexik~n zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. VI, Stuttgart 1990, S. 859. 31 Vgl. dazu umfassend Altgeld, Das politische Italienbild (Fn. 12), S. 22 - 25. 32 Vgl. Stol/eis, Reichspublizistik und Reichspatriotismus (Fn. 2).

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nete oder gar keine Rolle. In Tozens "Staatskunde" von 1779 wird Italien in der Länderübersicht überhaupt nicht aufgeführt. Traditionsgemäß - wenn auch völlig anachronistisch - stehen hier Spanien, Portugal und Frankreich an erster Stelle 33 . Lediglich im gesamteuropäischen Einleitungsteil werden die italienischen Territorien im Zusammenhang mit den Regierungsformen und den europäischen Sprachfamilien erwähne 4 . Die fehlende Behandlung Italiens entsprach dem Gliederungsmodell Gott/ried Achenwalls, des "Vaters" der Göttinger Statistik35 . Das änderte sich um die Jahrhundertwende. 1792 kritisiert Johann Georg Meusel in seiner "Statistik" ausdrücklich an dieser Literaturgattung, daß "die vergleichungsweise unbedeutende Staatsverfassung Portugals sehr gelehrt und weitschweifig dargestellt" werde, "hingegen die" weit interessanteren Staaten Oestreich, Preussen ... Italien ... mit tiefstem Stillschweigen übergangen sind. ,,36 Er selber behandelte ausschnittsweise Neapel und Sizilien, Venedig, den Kirchenstaat und Sardinien in Bezug auf Territorium, Staatsverfassung, Grundgesetze, Gesetze, Gerichte und anderes 37 . Er hob hervor: "Die neuen Gesetze sprechen italienisch, und die Werke der besten Schriftsteller werden in dieser Sprache geschrieben und dienen zur Aufklärung der Nation.,,38 In die Ausgabe von 1817 nahm er ausdrücklich entsprechend dem veränderten und bedeutungsvolleren Gewicht "neue Hauptstücke" auf, "nämlich die Statistiken der Italienischen und der Nordamerikanischen Republik.,,39 In Bisingers "vergleichender" Darstellung der "Staatsverfassung" der europäischen Länder von 1818 nehmen die "italienischen Staaten" schließlich einen gleichberechtigten Platz ein4o . Die 33 M. Eobald Toze(n), Einleitung zur allgemeinen und besondern Europäischen Staatskunde. Erster Theil: Von Europa überhaupt, Spanien, Portugal, Großbritannien. Zweeter Theil: von den Vereinigten Niederlanden, Dänemark, Schweden, Polen, Rußland, Bützow und Wismar 1779, S. 103ff. 34 Tozen, Staatskunde (Fn. 33), S. 62 - 79. 35 Gott/ried Achenwall, Staatsverfassung der heutigen vornehmsten Reiche und Völker im Grundrisse I - 11, Göttingen 1785 - 1790; ähnlich gering sind auch Nachrichten aus Italien bei August Ludwig Schlözer, Staatsanzeigen I, Göttingen 1782. Zur Entwicklung der "Statistik" und "notitia rerum publicarum" seit Bartholomaeus Keckennann, Johann Andreas Bose, Hennann Conring bis zu Gottfried Achenwall vgl. Amo Seifert, Staatenkunde. Eine neue Disziplin und ihr wissenschaftstheoretischer Ort, in: Mohammed Rassem/Justin Stagl (Hrsg.), Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit, vornehmlich im 16. - 18. Jahrhundert, Paderborn/München/ Wien/Zürich 1980, S. 217 - 244. 36 Johann Georg Meusel, Lehrbuch der Statistik, Leipzig 1792, S. IVf. (Vorerinnerung). 37 Meusel, Statistik, 1792 (Fn. 36), S. 582 ff. 38 Meusel, Statistik, 1792 (Fn. 36), S. 596. 39 Johann Georg Meusel, Lehrbuch der Statistik. Vierte, größten Theils umgearbeitete Ausgabe, Leipzig 1817, Vorerinnerungen zur 3. und 4. Ausgabe, S. VIII. 40 Joseph Constantin Bisinger, Vergleichende Darstellung der Staatsverfassung der europäischen Monarchieen und Republiken, Wien 1818, S. XLf., 40ff., 513 - 515.

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Sichtweise hatte sich verändert und erlaubte somit neue und andere Wahrnehmungsmöglichkeiten als zuvor. Die statistische Literatur kann hier als Indikator gelten. Die bis dahin dominierende Reflexion italienischer Kunst und Kultur schlechthin in der deutschen Literatur und ihren Bewußtseinsträgern 41 bekommt ein näher gerücktes, neues und auf italienische Staatlichkeit bezogenes Anschauungsfeld. Staatlicher Utilitarismus stellt die Kultur und Kulturtradition der europäischen Staaten in ein neues Verhältnis. Bei Crome heißt das: "Italien" ist das "fruchtbarste ... auch volkreichste" Land "in Europa", denn es "gibt Beweis vom genauen Verhältnis zwischen Kultur und Bevölkerung", das allein als Maßstab seiner "Stärke" dient42 . 2. Historische Bedingungen und Bindungen Es besteht ein gewisses Paradoxon darin, daß Italien zu dem Zeitpunkt, in dem das Reich seinem Ende zuneigt und damit auch verfassungsrechtliche Bindungen zum Alten Reich erlöschen, in seiner staatsrechtlichen Eigenart neue beschreibende Konturierung erfährt. Dafür sind einmal die universalistische aufklärerische Betrachtung und Erfassung der real erfahrbaren Welt im späten 18. Jahrhundert ausschlaggebend, zum anderen aber auch traditionelle lehnsrechtliche Verknüpfungen der italienischen Territorien mit dem Reich 43 sowie deren Verbindung zur "Casa d' Austria". Ein Reichsgutachten von 1722 sowie die Wahlkapitulationen im 18. Jahrhundert - zuletzt die Leopolds /l. und Franz' /l. - hatten ausdrücklich die kaiserliche Verpflichtung ausgesprochen, "alle dem römischen Reich angehörige Lehen und Gerechtigkeiten, in- und ausserhalb Deutschlands, und sonderlich in Italien ... aufrecht zu erhalten und derentwegen zu verfügen, daß sie ... gebührlich empfangen und renovirt ... werden; hingegen ... nicht geschehen lassen, daß ... ohne des Reichs Wissen, Zuthun und Genehmigung ... etwas entzogen werde, sondern deshalb die Gerechtsame des Reichs allewege beobachten und wahrnehmen. ,,44 41 Wolfgang Altgeld, Deutsche Romantik und Geschichte Italiens im Mittelalter, in: Reinhard Elze/Pierangelo Schiera (Hrsg.), Italia e Germania. Immagini, modelli, fra due popoli nell'Ottocento: il Medioevo. - Das Mittelalter, in: Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento ... , Contributi I, Bologna/Berlin 1988, S. 193 - 220. Zum umgekehrten Befund italienischer Vision von deutscher Geschichte vgl. Otto Weiss, Die "Deutschen" in der Sicht der italienischen Mediävistik des 19. Jahrhunderts, in: R. Elze/P. Schiera (Hrsg.), Italia, S. 269 - 282. 42 August Friedrieh Wilhelm Crome, Ueber die Kulturverhältnisse der Europäischen Staaten, ein Versuch mitte1st Größe und Bevölkerung den Grad der Kultur der Länder Europas zu bestimmen ... , Theil 1, Leipzig 1792, S. 342ff. , mit S. XVI (Vorrede). 43 Vgl. die Artikel ,,Reichsitalien, Mittelalter/Frühe Neuzeit" von Gerhard Dileher/Kar! Otmar von Aretin, in: HRG IV, Berlin 1990, Sp. 642 - 651.

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Der Reichshofrat hat noch 1794 Konfirmationstermine für Privilegien italienischer Lehnsträger anberaumt4s . Im Laufe des 18. Jahrhunderts sind noch 540 Prozesse italienischer Vasallen vor dem Reichshofrat geführt worden46 . Die Zahl der Lehen in "Italien" - so lautete die Bezeichnung in der kaiserlichen Kanzleisprache 47 - wird auf 300 geschätzt48 . Die exakten Zahlen sind nicht bekannt. Das genaueste Verzeichnis wurde unter Joseph lI. erstellt, der versucht hatte, die Reichslehen in Italien wieder zu reaktivieren49 . Weiterhin waren mehrere italienische Territorien mit dem Haus Habsburg verbunden, unter denen das Großherzogtum Toskana unter Peter Leopold publizistisch besonders behandelt wurde. Es galt als der Modellstaat der Aufklärung schlechthin, dessen leicht verklärende und verklärte Wirkung SO bis weit in das 19. Jahrhundert reicht. Cromes deutsche Übersetzung des "Govemo della Toscana"Sl unter Peter Leopold, 1795 erschienen und Kaiser Franz lI. gewidmetS2 , ist dafür ein beredetes Beispiel, zumal Crome selber auch von dem "verklärten Monarchen" sprichtS3 . Auch diese besonderen dynastischen und staatsrechtlichen Beziehungen italienischer Territorien zum österreichischen Haus Habsburg erlauben es aber 44 Artikel X, § 10, der Wahlkapitulation Franz'II., hier zitiert nach der Ausgabe: Mainz 1792, S. 53 f.; vgl. auch zu dem Reichsgutachten von 1722 und zu den früheren Wahlkapitulationen Johann Jakob Moser, Teutsches Auswärtiges Staats-Recht (Neues teutsches Staatsrecht 20), Franckfurt/Leipzig 1772, S. 404ff. 45 Der Reichshofrath in Justiz-, Gnaden- und andem Sachen, mit Fällen, Präjudicien und Rechtsbemerkungen, 3. Theil, Augsburg 1794, S. 408 f. 46 Vgl. Karl Otmar von Aretin, Lehnsordnungen in Italien im 16. und 17. Jahrhundert und ihre Auswirkungen auf die europäische Politik. Ein Beitrag zur Geschichte des europäischen Spätfeudalismus, in: Hermann Weber (Hrsg.), Politische Ordnungen und soziale Kräfte im Alten Reich (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte, Beiheft 8; Beiträge zur Sozial- und Verfassungs geschichte des Alten Reiches 2), Wiesbaden 1980, S. 53 - 84 (63 f.). 47 So Moser, Teutsches Auswärtiges Staatsrecht (Fn. 44), S. 402 (§ 2). 48 v. Aretin, Lehensordnungen (Fn. 46), S. 58; die bei Moser, Teutsches Auswärtiges Staats-Recht (Fn. 44), S. 404, genannten Zahlen sind unvollständig; ebenso bei Johann Jakob Moser, Compendium juris publici modemi regni Germanici. Oder Grund-Riß ... , Tübingen 1742, S. 769f. (im 2. Anhang unter dem bezeichnenden Titel: "Compendium juris publici modemi Regni Italici sive Langobardici"). 49 v. Aretin, Reichsitalien (Fn. 43), Sp. 651. 50 Zur Relativierung des Modellcharakters vgl. Altgeld, Das politische Italienbild (Fn. 12), S. 183 f. 51 Govemo della Toscana sotto il Regno di sua Maesta il Re Leopoldo 11., Firenze 1790; 1791 erschien bereits die 4. Auflage. 52 Die Staatsverwaltung von Toskana unter der Regierung seiner königlichen Majestät Leopold 11., aus dem Italiänischen übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von August Friedrich Wilhelm Crome, Bd. I, Gotha 1795. Zur Übersetzung und den frühen Rezensionen vgl. auch Bisinger, Vergleichende Darstellung (Fn. 40), S. XLf. 53 Crome, Staatsverwaltung (Fn. 52), Vorrede, S. I, 10.

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nicht, von Verbindungen zwischen "Italien" und "Österreich" im Sinne moderner Staatlichkeit zu sprechen54 . Das schließt jedoch nicht aus, daß natürlich auch viele administrative und rechtliche Einflüsse und Prägungen Österreichs auf die italienischen Territorien nachweisbar sind55 .

111. Aufklärung und Vergleichung als Erkenntnismittel im 18. Jahrhundert Vor dem Hintergrund dieser besonderen historischen Bedingungen sind die Möglichkeiten und praktischen Bemühungen vergleichender Beobachtung zwischen "Italien und Deutschland" bzw. italienischer und deutscher Rechtskultur aus der deutschen Beobachterposition zu sehen. Die vergleichenden Beobachtungs- und Erkenntnisstrategien wurden im 18. Jahrhundert entwickelt. Von Rechtsvergleichung im heutigen Sinne kann in dieser Zeit natürlich noch nicht gesprochen werden, sondern nur von den Anfangen und Methoden der Vergleichung im öffentlichen und privaten Recht des 18. Jahrhunderts und - was wohl noch wichtiger ist - von der Karriere des vergleichenden Elements in den anderen sich emanzipierenden Wissenschaften innerhalb dieser Epoche. Die Wissenschaften in der Aufklärung setzten zunehmend das Vergleichen und vergleichende Beobachten als ein allgemeines und umfassend verwendbares Erkenntnismittel ein - auch im Bereich des Rechts. Typisch ist die unterschiedlich gewichtete Verbindung von Vernunft und Erfahrung, Idee und Wirklichkeit. Die Welt des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wird durch literarische Kommunikationsmittel, namentlich das Zeitschriftenwesen, durch die Erforschung der Natur und die Naturwissenschaften erfahrbarer, sowohl in ihrer Größe als auch in ihrer Komplexität. Gerade das Reisen ist nicht nur - in Bezug auf Italien als ein an der römischen Klassik orientiertes Bildungserlebnis zu sehen, wie 54 Zur Problematik solcher Bezeichnung vgl. Fritz Fellner, Die österreichische Geschichtsforschung über Italien seit 1918, in: Annali dell'istituto storico italo-germanico in Trento XI (1985), Bologna 1986, S. 261 - 290 (267). 55 Franco Valsecchil Adam Wandruszka (Hrsg.), Austria e province italiane 1815 - 1918. Potere centrale e amrninistrazioni locali, in: Annali dell'Istituto storico italo-germanico, Quaderno 6, Bologna 1981; Pierangelo Schiera (Hrsg.), La dinarnica statale austriaca nel XVIII e XIX secolo. Strutture e tendenze di storia costituzio- _ nale prima e dopo Maria Teresa, in: Annali dell'Istituto storico italo-germanico, Quaderno 7, Bologna 1981; Franeo Valsecchi, Lombardo-Venetien und die Probleme der österreichischen Politik in Italien, in: Ralph Melville u. a. (Hrsg.), Deutschland und Europa in der Neuzeit. Festschrift für K. O. Freiherr von Aretin, Stuttgart 1988, S. 697 - 708; Umberto Corsini, Die Italiener, in: Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848 - 1918, Band III: Die Völker des Reiches, 2. Teilband, Wien 1980, S. 839 - 879; Altgeld, Das politische Italienbild (Fn. 12), S. 142ff.; vgl. auch die ausführlichen Literaturnachweise bei Fellner, Die österreichische Geschichtsforschung (Fn. 54), S. 278 - 284.

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es vor allem seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Deutsche, Franzosen und Engländer suchten, sondern ein aufklärerischer Lernprozeß, der neue Welt-Erfahrung zur Welt-Erkenntnis produktiv verarbeitete. Die zahlreichen Reisebeschreibungen des 18. und 19. Jahrhunderts waren das Mittel der Information zur Erschließung der femen Regionen und Ländeii 6 • Erkenntnisabsicht und Erkenntnismittel waren zunehmend auf die politischen und sozialen Zustände, die gesellschaftlichen Strukturen und, besonders in dem politisch partikularisierten Italien, auf das Nebeneinander der zahlreichen Regierungsformen und ihrer statistischen Daten gerichtet, was Duclos' zwischen 1791 - 1793 in fünf Auflagen erschienene "Voyage en Italie ou Considerations sur l'Italie" (1766/67) besonders anschaulich belegt57 . Der empirische Befund bzw. die Reise-Beschreibungen gehen unausgesprochen oder gezielt vom Vergleich aus 58 , wie er dem universalistisch operierenden Diskurs der Aufklärung zueigen ist. Die Reisebeschreibungen erläutern und offenbaren Zusammenhänge zwischen staatlichen Zuständen - zumeist als "Verfassung" bezeichnet - und den sozialen Bedingungen der Gesellschaften verschiedener Länder und Regionen 59 • Hier wurde auch das Material gefunden, das von der statistischen Wissenschaft - wie auch von Montesquieu 60 - zu einer vergleichenden politischen Wissenschaft verarbeitet wurde. In diesem Zusammenhang ist die - seit 1814/15 neu einsetzende61 - deutsche Reisewelle nach Italien zu sehen62 . 56 Vgl. von der reichen Literatur zu diesem Thema Z.B. Jürgen Osterhammel, Distanzerfahrung. Darstellungsweisen des Fremden im 18. Jahrhundert, in: HansJoachim König/Wolfgang Reinhard/Reinhard Wendt (Hrsg.), Der europäische Beobachter außereuropäischer Kulturen. Zur Problematik der Wirklichkeitswahrnehmung (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 7), Berlin 1989, S. 9 - 42. 57 Erich Laos, Ein ungewöhnlicher Italienreise-Bericht der französischen Aufklärung: "Voyage en Italie ou Considerations sur l'Italie" von Charles P. Duclos, in: Wido Hempel (Hrsg.), Französische Literatur im Zeitalter der Aufklärung. Gedächtnisschrift für Fritz Schalk (Analecta Romanica 48), Frankfurt a.M. 1983, S. 184207. 58 Vgl. z.B. Ernst Moritz Arndt, Versuch in vergleichender Völkergeschichte, Leipzig 1843, der seine "Belege aus den verschiedenen Geschichtsschreibern, Reiseschreibern, Statistikern usw." entnahm (S. VII) und sodann "Stämme gegen einander gehalten, Welttheile gegen einander gehalten" hat (S. 11) und so die "Vergleiche" (S. 24) vornahm. 59 Zur Verarbeitung von Reiseliteratur durch Montesquieu vgl. David Young, Montesquieu's View of Despotism and his Use of Travel Literature, in: Review of Politics 40 (1978), S. 392 - 405. 60 Vgl. Hans Erich Bödeker, Reisen: Bedeutung und Funktion für die deutsche Aufklärungsgesellschaft, in: Wolfgang Griep/Hans-Wolf Jäger (Hrsg.), Reisen im 18. Jahrhundert. Neue Untersuchungen (Neue Bremer Beiträge 3), Heidelberg 1986, S. 91 - 110 (l08f.). 61 Vgl. Altgeld, Deutsche Romantik (Fn. 41), S. 213. 62 Als ein Beispiel für die auf Italien bezogene Reiseliteratur vgl. Johann Bernoulli, Zusätze zu den neuesten Reisebeschreibungen von Italien, nach der in

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Das aufklärerische, universalistische Erkenntnispostulat hatte der Weltreisende, Naturforscher und politische Denker Georg Forster 1792 auf die Fonnel gebracht63 : "Das Gesetz der Vernunft kann nur eines sein: ihre Anwendung auf alles, was ist, auf alles, was durch die Sinne unmittelbar wahrgenommen oder mit Hülfe der Reflexion als existierend gedacht werden kann." Dieser gleichsam wissenschaftliche kategorische Imperativ war freilich nicht nur zweckfrei gedacht, sondern auch gesellschaftlichem und staatlichem Utilitarismus verpflichtet64 : "Aufklärung ist nichts anders, als Kenntniß seines wahren Vortheils. Allerdings", fährt Crome hier fort, "klingt diese Definition etwas egoistisch." Aber der Philosoph erstrebe auch "Erkenntnis", um glücklich und nützlich zu sein, und das sei schließlich ein ähnliches Zie1 65 . Die vergleichende Betrachtungsweise der Staaten, Länder und Regionen zeigt deutlich die Anknüpfung an das Vorbild des Aristoteles und seine Staatsfonnenlehre. Unter diesem Gesichtspunkt wurden Gesetze, Staaten und vor allem Staatsfonnen verglichen. Der Zweck der Vergleichung war die Erkenntnis über das "bonum commune" und die Möglichkeiten, dieses für Staat und Gesellschaft zu verwirklichen. Mit dieser Zielrichtung wurden Staat, Gesellschaft und Gesetz im wechselseitigen Bedingungszusarnrnenhang beobachtet, der im Vergleich aufzuhellen und zur Erkenntnis zu bringen war. Der Vergleich sollte für die Gesetzgebung nutzbar gemacht werden. "Comparatio" und "similitudo" sind die Leitbegriffe der vergleichenden Betrachtung und Ennittlung. Als eine neue und besondere Literaturgattung bildete sich im 18. Jahrhundert die Statistik als eine vergleichend angelegte Staatenkunde heraus. Achenwall ist in Göttingen der Begründer dieser Wissenschaft, die sich ihrerseits auf Hermann Conring als Vorläufer und Wegbereiter beruft66 . Alle Staaten wurden unter einern gleiD. J. J. Volksmann's historisch kritischen Nachrichten angenommenen Ordnung zusammengetragen, I - 11, Leipzig 1777 - 1782. 63 Georg Forster, Über den gelehrten Zunftzwang. Vorrede zur Übersetzung von C. F. de Chassebreuf Graf von Volneys Schrift "Les Ruines ou Meditations sur les revolutions des empires", (deutsche Ubersetzung) Berlin 1792, in: Georg Forster, Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit und andere Schriften, hrsg. v. Wolfgang Rödel, Frankfurt a.M. 1966, S. 69. In diesem Sinne formuliert auch Christian Meier heute die Verpflichtung des Wissenschaftlers, alle erreichbaren Erkenntnismöglichkeiten zu nutzen; vgl. Chr. Meier, Welt der Geschichte (Fn. 18), S. 157. 64 Crome, Ueber die Culturverhältnisse (Fn. 42), S. 75. 65 Crome (Fn. 42). 66 Vgl. oben Fn. 35 und die dort gegebenen Literaturhinweise sowie Heinz Mohnhaupt, Potestas legislatoria und Gesetzesbegriff im Ancien Regime, in: lus commune 4 (1972), S. 188 - 239 (237f.); Dietmar Willoweit, Probleme und Aufgaben einer europäischen Verfassungsgeschichte, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung

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chen Kriterienkatalog untersucht: Ennittlung der "physikalischen Bestimmungen" der verschiedenen Staaten (Lage, Klima, Flüsse, Verkehr, Handel); Ermittlung der "moralischen Bestimmungen" (Verträge, Staatsform, Recht)67; Ennittlung der Gründe für diese Tatbestände und die Erfüllung des auf Grund dieser Daten bestimmbaren Staatsinteresses. "Dieses" so heißt es 1749 bei Achenwall - "erfordert eine Vergleichung des einen Staates mit den übrigen und kann folglich ohne vorgängige Kenntnis der übrigen Staaten nicht begriffen werden.,,68 Den Erkenntniswert veranschlagt Achenwall sehr hoch, weshalb er "die Staatswissenschaft (als) allen Gelehrten nützlich, und allen Juristen nöthig" erklärt69 . Für Darjes war das ein "nützliches Geschäfft" der "Politik" mit dem Ziel, im Staat ein Kollegium zu bilden, "dessen Mitglieder sich einen vollständigen Begriff von der Verfassung anderer Staaten bilden, diese Bestimmungen mit dem Zustande ihres Staats vergleichen, und aus dieser Vergleichung das, was dem Staate nützlich oder nachtheilig ist, festsetzen." 70 Überblickt man den gesamten Bereich vergleichender Darstellung, Beobachtung, Anschauung und Analyse in Kunst und Wissenschaft, so ist man versucht, von einer Strategie der "Vergleichung" als einem Mittel zum Erkenntnisgewinn im 18. Jahrhundert zu sprechen. Das Recht hat Anteil an dieser Entwicklung, ist aber auch nur ein Anwendungsfall dieser Methode und in dieser Entwicklung nicht autonom. Der naturphilosophische Organis(Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 3), Berlin 1991, S. 141 - 151 (141 f.). 67 Vgl. Joachim Georg Darjes, Einleitung in des Freyherrn von Bielefeld Lehrbegriff der Staatsklugheit zum Gebrauch seiner Zuhörer verfertiget, Jena 1764, S. 308 f. 68 Gottfried Achenwall, Staatsverfassung der heutigen vornehmsten europäischen Reiche und Völker, Göttingen 1749, S. 35; ähnlich Gottfried Achenwall, Abriß der neuesten Staatswissenschaft der vornehmsten Europäischen Reiche und Republicken zum Gebrauch in seinen Academischen Vorlesungen, Göttingen 1749, S. 32. Auch die Darstellung nur eines "Staates" erfolgte häufig in der Manier der "Statistik" mit dem Ziel, vergleichende Betrachtung "im Staatssysteme von Europa" zu ermöglichen. Typisch dafür ist die Geschichte Venedigs durch Johann Friedrich Le Bret, Staatsgeschichte der Republik Venedig von ihrem Ursprung bis auf unsere Zeiten, in weIcher zwar der Text des Herrn Abtes L' Augier zum Grunde geleget, 1. Theil, Leipzig/Riga 1769, S. XXIXf.: "Dieses ist der Grundstoff, den ich mir nach Anleitung des L' Augier zu bearbeiten vorgenommen habe. Daraus kann das Verhältniß dieses Staates mit andern, weIches nach Beschaffenheit der Zeiten sehr verschieden ist, desto sicherer beurtheilet werden, wenn ich den Staat durch alle Zeiten seiner innern Verbesserungen und seiner äußern Verhandlungen, bis auf die jetzigen Zeiten führe, da er in dem Staatssysteme von Europa eine sehr untergeordnete Stelle einnimmt. Die Geschichte der Sitten, des Geistes, der Gesetze, der Gewohnheiten einer Nation giebt ihr die wahre Stellung, nach weIcher man sie betrachten solL" 69 Achenwall, Abriß (Fn. 68), S. 32 (§ 60). 70 Darjes, Einleitung (Fn. 67), S. 310.

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musvergleich bei Herder, der Religionsvergleich bei Lessing - unter Bezug auf Cardanus - und bei Joseph White 71 , der Sprachenvergleich bei Court de Gebelin (1775), Adelung (1782) und Thurot (1797), der Kulturvergleich bei Vico, die vergleichende Kunstgeschichte bei Winckelmann (1764), die vergleichende Anatomie bei Grew (1675), Cuvier (1800)72 und Blumenbach (1805) in Göttingen 73 , Wilhelm von Humboldts "neue Wissenschaft eine(r) vergleichenden Anthropologie" aus komparatistischer Literaturbeobachtung 74 sind dafür nur einige Beispiele. Namentlich die Göttinger Aufklärungs-Universität hat an der Verwirklichung eines solchen empirisch orientierten enzyklopädischen Wissenschaftsmodells großen Anteil. Der Göttinger Staatsrechtslehrer Johann Stephan Pütter75 sowie der Genueser Appellationsgerichtspräsident und Handelsrechtler Domenico Alberto AzunP6 forderten unabhängig voneinander die Vergleichung im Bereich des Handelsrechts. Im Vordergrund standen das Wechselrecht vor See- und Handelsrecht. Azuni suchte 1786, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in seinem "Dizionario" vergleichend zu ermitteln. Es ging ihm darum, "tutte le leggi, usi, costumi, ordinanze, e decisioni di tutte le piazze commercianti dell'Europa" zu erfassen77 • Das Ziel war, " ... che si reducano questi oggetti ad un vero sistema ... ,,78. Der Gleichheitsgedanke des aufklärerisch universalistischen Weltbildes zielte noch in ungebrochenem Optimismus auf die Einheit des Rechts der menschlichen Gesellschaft:

71 J. White, Vergleichung der christlichen Religion mit der mohamedanischen. Aus dem Englischen übersetzt von Johann Gottfried Burkhard, Halle 1786. 72 Vgl. auch Mohnhaupt, Rechtsvergleichung (Fn. 19), Sp. 407; Mohnhaupt, Universalgeschichte (Fn. 7), S. 101. 73 Johann Friedrich Blumenbach, Handbuch der vergleichenden Anatomie, Göttingen 1805. 74 Günter Oesterle, Kulturelle Identität und Klassizismus. Wilhelm von Humboldts Entwurf einer allgemeinen und vergleichenden Literaturerkenntnis als Teil einer vergleichenden Anthropologie, in: B. Giesen (Hrsg.), Identität (Fn. 27), S. 304 - 349 (306 - 322). 75 Zu Pütters Bedeutung und seinen weit über das Reichsstaatsrecht in Privatrecht, Privatfürstenrecht, Kameralistik, Urheberrecht ausgreifenden Wissenschaftsrichtungen vgl. Wilhelm Ebel, Der Göttinger Professor Johann Stephan Pütter aus Iserlohn (Göttinger rechtswissenschaftliche Studien 95), Göttingen 1975; Christo! Link, Johann Stephan Pütter, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik, Politik, Naturrecht, 2. Auf!. Frankfurt a.M. 1987, S. 310 - 331. 76 Vgl. z.B. Pasquale Tola, Vita di Domenico Azuni, Genova 1862. 77 Domenico Alberto Azuni, Dizionario universale ragionato della giurisprudenza mercantile, Tome I, in Nizza 1786, Discorso prelirninare, S. XIX. 78 Azuni, Dizionario (Fn. 77), S. XVIII; vgl. auch Karl Otto Schemer, Allgemeine Rechtsgrundsätze und Rechtsvergleichung im europäischen Handelsrecht des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Ius commune 7 (1978), S. 118f.

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"L'uniforrnim de'rapporti di tutti gli uomini colla natura ha stabilita la necessita assoluta d'una societa particolari, che trovansi sparse sulla superficie deI nostro globo.,,79

In der Kodifikationsbewegung und ihrer Diskussion waren demgemäß der einzelne Gesetzesvergleich und der allgemeine Gesetzgebungsvergleich bevorzugte Anwendungsfelder dieser aufklärerischen - d.h. aufklärenden Erkenntnismethode8o • Johann Friedrich Reitemeier - Schüler Pütters und von 1783 - 1785 Privatdozent in Göttingen - hat diesen Aspekt in seiner "Encyclopädie" nachdrücklich betont81 : "Eine solche allgemeine Historie, die uns bis jetzt noch ganz und gar fehlt, könnte durch den höhern Gesichtspunkt, den sie verschafte, und durch die Vergleichungen, die sie unter mehrern Gesetzgebungen anzustellen Gelegenheit gäbe, unsere Einsichten in das Feld der Gesetzgebung ungemein erweitern und vervollkommnen, und den Einfluß, welchen die Gesetze des einen Volks auf die des anderen bald unmittelbar bald mittelbar gehabt haben, selbst zu mehrerer Aufklärung der in Deutschland gültigen Rechte, vor Augen legen."

Diese Haltung ging maßgeblich auf Pütter zurück, der 1767 in der 2. Auflage seiner "Encyclopädie" gefordert hatte, die Kenntnis des Staatsrechts umfassend zu nutzen, und "mehr andere Staaten mit dem seinigen in Vergleichung" zu stellen82 . Das sollte ausdrücklich auch für das Privatrecht gelten. Seit Pütter hat diese Sichtweise die Enzyklopädien bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts unterschiedlich stark geprägt83 . Das Göttinger Wissenschaftsmodell betonte den empirischen Aspekt. Das galt ganz besonders 79 D. A. Azuni, Sistema universale dei principi deI diritto marittimo dell'Europa, Tomo I, Trieste 1796, S. 5. 80 Vgl. Mohnhaupt, Potestas legislatoria (Fn. 66), S. 233 - 239. 81 Johann Friedrich Reitemeier, Encyclopädie und Geschichte der Rechte in Deutschland. Zum Gebrauch akademischer Vorlesungen, Göttingen 1785, S. XXIII (Vorrede); ähnlich Johann Friedrich Reitemeier, Das Bürgerrecht in den Deutschen Reichslanden aus den unveränderten brauchbaren Materialien des gemeinen Rechts in Deutschland, 1. Band, Frankfurt a.d.O. 1801, S. XXXVI (Vorrede), der hier "das wechselseitige Interesse" an den Gesetzgebungen im "gebildeten Europa" betont; vgl. auch Mohnhaupt, Universalgeschichte (Fn. 7), S. 104 - 106. 82 Johann Stephan Pütter, Neuer Versuch einer juristischen Encyclopädie und Methodologie, Göttingen 1767, S. 29. 83 Zur Charakterisierung der Rechtsenzyklopädien der Aufklärungszeit in Deutschland vgl. Gabriella Valera, Dalla scienza generale alla enciclopedia: l'enciclopedia giuridica tedesca nella seconda meta deI Settecento, in: Aldo Mazzacane/Pierangelo Schiera (Hrsg.), Enciclopedia e sapere scientifico. Il diritto e le scienze sociali nell'Enciclopedia giuridica italiana (Annali dell'Istituto storico italogerrnanico, Quaderno 29), Bologna 1990, S. 67 - 118; Amo Buschmann, Rechtsenzyklopädie, in: Adalbert Erler u.a. (Hrsg.), HRG 4 (1986), Sp. 284 - 288; Amo Buschmann, Geschichte und System. Vorbilder von Savignys Marburger Methodenlehre im 18. Jahrhundert, in: Gerhard Lingelbach/Heiner Lück (Hrsg.), Deutsches Recht zwischen Sachsenspiegel und Aufklärung. Rolf Lieberwirth zum 70. Geburtstag (Rechtshistorische Reihe 80), Frankfurt a.M. u.a. 1990, S. 193 - 221

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auch für die Rechtswissenschaft in ihrer Gesamtheit, die aus ihren einzelnen Teilen als ein in sich geschlossenes wissenschaftlich-systematisches Ganzes darzustellen und im Unterricht zu vermitteln war. "Unser Studium ist kein bloßes Bücherstudium, sondern zugleich ein Studium der Natur und Erfahrung. ,,84 Dieses universal gedachte Wissenschaftsbild tangierte die Vorstellung von der Autonomie der Rechtswissenschaft85 gerade gegenüber den nichtjuristischen Wissenschaften, denn - so erklärte Mühlenbruch 86 1807 - "nur sehr wenige Wissenschaften werden durch sich selbst begründet, und stehen, abgesondert von allen andern da, ohne aus einer etwas entleihen zu dürfen. Der größte Theil des menschlichen Wissens greift genau in einander; eine glückliche Idee ... wirkt ... vortheilhaft auf eine andere ... , und die Erfahrung zeigt es, daß die verschiedenartigsten Gelehrten zu ihrer wechselseitigen Ausbildung bey tragen können und müssen ... Vollends für den ausübenden Rechtsgelehrten dürfte wohl schwerlich die Kenntniß irgend einer Wissenschaft gänzlich unbrauchbar genannt werden können." Damit war der Kreis der für den Juristen und seine Rechtswissenschaft erforderlichen Kenntnisse aus allen Wissenschaftsbereichen und Disziplinen weiter gezogen und nahm eine enzyklopädische Dimension an. Die Enzyklopädien spiegeln diesen Anspruch deutlich wider, indem sie seit Pütter diese für den Juristen wichtigen Wissensbereiche unter den Stichworten "Hilfswissenschaften", "Nebenwissenschaften" oder "Hilfskenntnisse" behandeln, wobei die Gewichtung als Haupt- oder Nebenwissenschaft durchaus variieren kann 87 • Fast alle Naturwissenschaften, Statistik und (208 - 220). Zu dem im Vergleich zu Deutschland national orientierten Typ der Enzyklopädie in Italien während des 19. Jahrhunderts vgl. Cristina Vano, "Edifizio della scienza nazionale". La nascita dell'Enciclopedia giuridia, in: Mazzacane/ Schiera, Enciclopedia e sapere, S. 15 - 66. 84 So z.B. Johann Nepomuk Wening, Lehrbuch der Encyklopädie und Methodologie der Rechtswissenschaft, Landshut 1821, S. 408. 85 Vgl. zu diesem Problemkreis auch Joachim Rückert, Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive (Schriftenreihe der Juristischen Studiengesellschaft Hannover 19), Hannover 1988, der jedoch im wesentlichen nur die konkrete Autonomie der praktischen Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts gegenüber Gesetzgebung und Politik beobachtet. 86 Christian Friedrich Mühlenbruch, Lehrbuch der Encyclopädie und Methodologie des positiven in Deutschland geltenden Rechts. Zum Gebrauch academischer Vorlesungen, Rostock/Leipzig 1807, S. 482f. 87 Pütter, Encyclopädie (Fn. 82), S. 58 ff.; August Friedrich Schott, Entwurf einer juristischen Encyclopädie und Methodologie, zum Gebrauch akademischer V orlesungen, Leipzig 1772, S. 214f.; Christoph Christian Dabelow, Handbuch des heutigen gemeinen Römisch-Deutschen Privat-Rechts, 1. Theil, Halle 1803, S. 38 - 65; Anton Friedrich Justus Thibaut, Juristische Encyclopädie und Methodologie zum eignen Studio für Anfänger, und zum Gebrauch academischer Vorlesungen entworfen, Altona 1797, S. 302ff.; Mühlenbruch, Lehrbuch (Fn. 86), S. 482ff.; Wening,

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Sprachen - sogar Reisen - gehören zum Bildungsprogramm für den Juristen. Pütter schlägt vor, "sich durch Reisen zu qualifizieren; ... auch ausser Teutschland nach Frankreich, Engelland, Holland, Italien ... ,,88. Im Vordergrund stehen jedoch Recht und Rechtsentwicklung sowie die sie bedingenden Kräfte: ,,Jene eigenthümliche juristische Bildung aber finden wir in der juristischen Anschauung und Auffassung der Beziehungen des Lebens und seiner Erscheinungen nach positiven Gesetzen im weitesten Sinne. Wie kein Gesetz ohne solche besteht, muß natürlich auch das Studium des Rechtes darauf zurückgehen, die Wechselwirkung der Gesetze und der durch sie bestimmten Umstände und Verhältnisse zu begreifen. ,,89

Für die Rechtswissenschaft, d.h. in ihrem enzyklopädischen Anspruch "die wissenschaftliche Darstellung des Rechts in seinem ganzen Umfange,,90, bedeutete dies besonders die "wesentliche Aufklärung" ihrer Geschichte. Demzufolge war die "Geschichte der politischen Verhältnisse, der Verfassung, der Gesetzgebung und der Cultur aller Zeiten und Völker (Universalgeschichte), und besonders der Europäischen Hauptnationen (Europäische Staatengeschichte) .. .'.9l als Erklärungs-, Erkenntnis- und GestaltungsmiUel zu erforschen. Mühlenbruch betont ausdrücklich den praktischen Wert dieser Methode für den "gründlichen Gesetzforscher" und Gesetzgeber, "durch die Kenntniß der Umstände, die irgend ein wichtiges Rechtsinstitut veranlaßten, sich Regeln für künftige Fälle derselben Art (zu) erwerben, und einen helleren, tieferen Blick in den Geist einer Gesetzgebung thun zu können, als er es ohne diese Kenntniß im Stande wäre ... Von ganz besonderem Nutzen ist es, sich mit der Verfassung, den Sitten, den politischen Verhältnissen, der Lage, dem Charakter und der Größe und Macht eines Volks ... bekannt zu machen.,,92 Genannt waren sowohl die historischen Bedingungen von Recht und Staat der alten Völker i.S. der "Alterthumskunde" als auch die der "neueren Nationen" i. S. der "Statistik oder Staatenkunde". Diese Betrachtungsweise umfaßte somit sowohl den diachron als auch synchron anzustellenden Vergleich. Folgerichtig subsumierte Falck die "Kenntniß fremder Rechte" als "vergleichende JurispruLehrbuch (Fn. 84), S. 9f., 408ff.; Nikolaus Falck, Juristische Encyclopädie, auch zum Gebrauche bei academischen Vorlesungen, Kiel 1821, S. 272ff.; ebenso noch N. Falck, Juristische Encyklopädie, 5. Aufl., R. Ihring (Hrsg.), Leipzig 1851, S. 275 ff.; mit geringer Betonung der "nicht eigentlich juristischen ... Fächer ... , desgleichen Hilfswissenschaften", vgl. Ludwig Arndts, Grundriß der juristischen Encyclopaedie und Methodologie, München 1843, S. 76. 88 Pütter, Encyclopädie (Fn. 82), S. 111. 89 Wening, Lehrbuch (Fn. 84), S. 402. 90 Mühlenbruch, Lehrbuch (Fn. 86), S. 3. 91 Mühlenbruch, Lehrbuch (Fn. 86), S. 485. 92 Mühlenbruch, Lehrbuch (Fn. 86), S. 485 f.

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denz" unter die "Hülfskenntnisse der Rechtswissenschaft,m. Diese "vergleichende Jurisprudenz" - so erklärte Falck sowohl 1821 wie auch noch in der von Ihering besorgten 5. Auflage von 1851 - "wird allerdings theils als Hülfsmittel zur Auffindung der rationellen Rechtsnonnen, theils zur Bestätigung der allgemeinen Theorie dienen können. ,,94 Auch verstehe es sich von selbst, daß es bei den anzustellenden Untersuchungen nur auf die eigentlichen Rechtsideen, nicht aber auf bloß sprachliche Entsprechungen in den Rechtssätzen ankommen könne. Gleichsam zur Rechtsvergleichung in diesem bezeichneten Sinne ennuntemd fügt Falck hinzu: "Für die Kenntniß fremder Rechte sind übrigens manche Materialien gesammelt. ,,95 Überprüft man die in der Fußnote von Falck (1821) und von Ihering (1851) gegebenen Hinweise, so finden sich als Beispiele Schriften über die französische, schweizerische, dänische, englische und schwedische Rechtsgeschichte, nicht aber über die italienische96 . An erster Stelle ist jedoch dort die "Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes" (1828 ff.) genannt; an anderer Stelle sind lediglich Feuerbach und Thibaut als Vertreter "vergleichender Jurisprudenz" kurz erwähnt97 . Die theoretische, wissenschaftliche und politische Aufgabe war fonnuliert. Kar! Salomon Zachariae hatte bereits 1806 die Gesetzgebung, Politik und Rechtsvergleichung in einen engen Zusammenhang gestellt: " ... die Aufgabe der Gesetzgebungswissenschaft mit Hülfe der Politik zu lösen, ist dieses, daß der Gesetzgeber die einzelnen Gesetze unter sich vergleicht, und sie in eine vollkommene Uebereinstimmung untereinander zu setzen sucht.,,98

Das war die theoretische Vorbereitung der Rechtsvergleichung, deren methodische Präzisierung und praktische Ausfüllung eine Arbeit des 19. Jahrhunderts wurde.

93 Falck, Encyclopädie (Fn. 87), S. 302f.; Emerico Amari, Critica di una scienza delle legislazione comparate 11 (1857), Introduzione di Vittorio Frosini, Ristarnpa, Palermo 1969, S. 232ff., behandelt in einem speziellen Kapitel die "scienze ausiliarie" der Rechtsvergleichung, die zum größeren Teil identisch sind mit den seit der Aufklärung für den Juristen als notwendig bezeichneten "Hilfswissenschaften" und "Hilfskenntnissen" (vgl. oben bei Fn. 87). 94 Falck, Encyclopädie, 1821 (Fn. 87), S. 304; Falck, Encyclopädie, 1851 (Fn. 87), S. 308. 95 Falck, Encyclopädie, 1821 (Fn. 87), S. 304; Falck, Encyclopädie, 1851 (Fn. 87), S. 308. 96 Wie Fn. 95: S. 304, dort Fn. 31; S. 308, dort Fn. 49. 97 Falck, Encyclopädie, 1851 (Fn. 87), S. 306, Fn. 46; zu Feuerbach vgl. Mohnhaupt, Universalgeschichte (Fn. 7). 98 Karl Salomon Zachariae, Die Wissensc~aft der Gesetzgebung. Als Einleitung zu einem allgemeinen Gesetzbuche, Leipzig 1806, S. 240.

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IV. Die "Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes" (1829 - 1852) und ihr europäisch-vergleichender Ansatz In der Wissenschaftslehre bzw. den allgemeinen Enzyklopädien des späten 18. Jahrhunderts ist die Einteilung in die "Erfahrungswissenschaft" und die "Vernunftwissenschaft" gebräuchlich. Erstere umfaßt "alle unsere Kenntnisse ... theils aus eigener oder fremder Wahrnehmung und Beobachtung, theils aus bloßer Wiederholung und Nachbildung der erhaltenen Eindrücke, oder aus der Abziehung von dem mehreren Besondem, und dessen Vereinigung zu einem Ganzen. ,,99 Die ältere und die neuere Geschichte waren damit gemeint, welch letztere auch den zeitgenössischen Erfahrungsrahmen von den neuen Sprachen, der Staatsgeschichte bis zur Statistik absteckte 1OO • "Wahrnehmung und Beobachtung" bilden das empirische Material, das im Wege der Vergleichung gewonnen wird. Die Überprüfung solcher vergleichender Sichtweisen, Wahrnehmungen und gezielten Beobachtungen italienischen Rechts soll anhand der "Kritischen Zeitschrift für Rechtswissensphaft und Gesetzgebung des Auslandes" erfolgen, die erstmalig und einmalig in dieser Zeit ein aktuelles, vollständiges und auf Vergleichung abzielendes Bild des Rechts in Europa und den USA zeichnete 101. Sie erschien in 28 Bänden zwischen 1829 und 1852. Ihre Herausgeber waren C. J. A. Mittermaier und K. S. Zachariae. Ab 1842 trat Rohert von Mahl an die Stelle von Zachariae; ab 1847 trat noch L. A. Wamkönig in das Herausgeberkollegium ein. Im 1. Band von 1829 hat Zachariae in einem längeren Einleitungsaufsatz den "Zweck dieser Zeitschrift" ausführlich erläutert 102. Er sieht die Rechtsentwicklung Europas begründet im Spannungsverhältnis zwischen dem Verlust der Einheit von Wissenschaft, Recht sowie Gelehrtenstand und der neuen Vielfalt der Entwicklungen der Völker in Verfassung, Gesetzgebung und Literatur. Die mit der Reformation neu einsetzende "Begründung der Einheit des Staates" habe der "Einheit der Europäischen Literatur, der Einheit der Europäischen Gelehrtenrepublik" geschadet 103. Diese wissenschaft99 Johann Georg Sulzer, Kurzer Inbegrif aller Wissenschaften, völlig umgearbeitet von Erduin Julius Koch, 1. Abtheilung, Berlin 1793, S. 4. 100 Sulzer, Inbegrif (Fn. 99), S. 6. 101 Im folgenden abgekürzt: Krit. Zs. (Fn. 9). Zur Bewertung dieser "ersten rechtsvergleichenden Zeitschrift der Welt" vgl. Konrad Zweigert/Hein Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, Bd. I: Grundlagen, 2. Aufl., Tübingen 1984, S. 61; Untin-Jean Constantinesco, Rechtsvergleichung, Bd. I: Einführung in die Rechtsvergleichung, Köln/Berlin/Bonn/München 1971, S. 113. 102 Karl Salomon Zachariae, Ueber den Zweck dieser Zeitschrift. Statt einer Vorrede, in: Krit. Zs. 1 (1829), S. 1 - 27. 103 Wie Fn. 102, S. 2. 4 Mazzacane/Schulze

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liehe Einheit solle auch durch diese Zeitschrift neu belebt werden. Wo

Zachariae in seiner Zeit einheitliche Entwicklungen in Europa sieht,

bezeichnet er diese als die "Idee eines Europäischen Vereines für Literatur und Wissenschaft." Er erklärt dazu 104: " ... ohngeHihr seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts, hat sich die Lage der Dinge wesentlich verändert. Schon ist die Idee eines unter den Europäischen Völkern für die gemeinschaftliche Bearbeitung des gesarnrnten Feldes der Literatur und der Wissenschaften zu stiftenden Vereines, wenigstens in einern gewissen Grade, ins Leben getreten. Schon giebt es in Europa kein Volk, das die Fortschritte, welche die Wissenschaften, besonders die strengen Wissenschaften, bei den übrigen Europäischen Völkern machen, gänzlich unberücksichtigt lies se. Unter der Mehrzahl dieser Völker ist der literarische Verkehr eben so lebhaft als vielseitig. "

Wenn es auch in Europa nicht mehr eine "allgemeine Sprache der Gelehrten" gäbe, so würden doch in mehreren Ländern fremde Sprachen immer mehr erlernt und die literarische Kommunikation durch Übersetzungen und Zeitschriften gefördert. Italienische Zeitschriften benennt er nicht, jedoch die französische "Revue encyclopedique" und den englischen "Edinburgh Review". Angesichts der einheitlichen Grundlage der europäischen Kultur gelte es, "die Literatur der Europäischen Völker ... wieder zu einem lebendigen Ganzen (zu) gestalten,,105. Alle "Europäischen Nationen"l06 hätten dieselben Aufgaben und "Erkenntnisquellen", so daß eine "jede Entdeckung, wo sie auch gemacht werde, ... ein Gemeingut aller Europäischen Nationen" sei 107. Unter Betonung der Empirie, des Übergewichts der Naturwissenschaften und des wachsenden Einflusses der "Staatswissenschaften" stellt er für die Arbeit der Zeitschrift folgende Fragen und Aufgaben 108: "Was soll in den Staaten, was soll unter den Völkern Rechtens seyn? wie sind die inneren, wie sind die auswärtigen Angelegenheiten der Staaten, gemäß den Grundsätzen des Rechts und den Maximen der Klugheit, zu leiten und zu verwalten? Schon wegen der so genauen und so vielseitigen Verbindungen, welche unter den Europäischen Staaten und Völkern überhaupt bestehen und seit JahrhunWie Fn. 102, S. 3. Wie Fn. 102, S. 4. 106 Unter den ,,Europäischen Staaten" begreift Zachariae immer "nur" die "Deutschen Ursprungs" (S. 1). In seinem Aufsatz "Ueber Europa's Zukunft", in: Krit. Zs. 4 (1832), S. 305, hat er das präzisiert: ". .. Europäischen Staaten Deutschen Ursprungs, (unter welcher Benennung ich alle Europäische Staaten, mit Ausschluß Russlands, der Türkei und Griechenlands begreife) ... "; vgl. auch K. S. Zachariä's, Vierzig Bücher vorn Staate, 4. Bd., Heidelberg 1840, S. 173 - 234: "Der Europäische Völkerstaat", der gleichfalls auch als "der germanische Völkerstaat" gesehen wird. 107 Wie Fn. 102, S. 5. 108 Wie Fn. 102, S. 6 f. 104 105

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derten bestanden haben, können und müssen die Arbeiten, durch welche die Schriftsteller der einen oder der andem dieser Nationen zur Bereicherung oder Vervollkommnung jener Wissenschaften beitragen, als ein Ganzes betrachtet werden ... Es giebt daher mermalen gewisse staats wissenschaftliche Fragen und Aufgaben, welche für so viele Europäische Staaten ein hochwichtiges Zeitinteresse haben, daß man sie Europäische Fragen und Aufgaben nennen kann."

Er benennt dafür vorrangig Probleme des öffentlichen Rechts: Repräsentativverfassung lO9 , Verhältnis zwischen Staat und Kirche, Unabhängigkeit der Justiz, Gerichtsorganisation, Kommunalverfassuhg und - erst an fünfter Stelle - die "Verbesserung der Civil- und Strafgesetzgebung". Damit war die Kodifikationsfrage i.S. Savignys gemeint: "Wann ist für einen Staat die Abfassung und Einführung eines bürgerlichen Gesetzbuches Bedürfnis? Wie ist es abzufassen, auf daß nicht mit der Einführung desselben die Wissenschaft des bürgerlichen Rechts in dem Volke absterbe?" 110 Schließlich nennt er noch Untersuchungen zur "National- und Staatswirtschaft" und über deren Auswirkung "auf die auswärtigen Verhältnisse der Europäischen Staaten" sowie auf die Zivilgesetzgebung Jll . Die geforderte vergleichende Beobachtung bedeutet für ihn, "daß ... die öffentliche Aufmerksamkeit zugleich auf die positiven Rechte aller andem Europäischen Staaten gerichtet seyn sollte, auf die Vorschläge und Maßregeln zur Verbesserung dieser Rechte, ... auf die verschiedenen Methoden des Unterrichts in der positiven Rechtswissenschaft"Y2 Seine nachdrücklichen Empfehlungen gelten dem "Studium der Europäischen Rechte überhaupt", wobei er diese stets auch zur "Beantwortung der staatswissenschaftlichen Fragen" als unerläßlich ansieht ll3 . Zum Beleg fügt er in statistischer Manier eine Übersicht über den Rechtszustand der einzelnen europäischen Staaten an, in der Reihenfolge beginnend mit Spanien und Portugal, Frankreich, Niederlande, England, den skandinavischen und deutschen Staaten, der Schweiz und schließlich Italien, gefolgt nur noch von Rußland und Polen. Über Italien lautet sein Befund 1l4 : ,,zu Anfang des laufenden Jahrhunderts stand fast ganz Italien unter der Herrschaft der Französischen Gesetze, wenn auch diese Gesetze nicht in allen Theilen Italiens unbedingt oder ohne Modifikationen eingeführt worden waren. Das Studium und die Erläuterung der Französischen Gesetze beschäftigte damals fast aus109 Den Staat der "verschiedenen Systeme des Verfassungsrechts, welche sich in dem heutigen Europa bekämpfen", hat Zachariae ausführlich unter dem Titel "Deber Europa's Zukunft", in: Krit. Zs. 4 (1832), S. 305 - 326, 329 - 377 (307f.), vergleichend behandelt. 110 Wie Fn. 102, S. 9. III Wie Fn. 102, S. 10. 112 Wie Fn. 102, S. 1l. 113 Wie Fn. 112. 114 Wie Fn. 102, S. 38f.

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schließlich die Italienischen Rechtsgelehrten. Andere Zeiten sind mit dem Jahre 1814 eingetreten. Doch hatte das Französische Recht so lange seine Herrschaft behauptet und so tief ins Leben eingegriffen, daß man es, mit wenigen Ausnahmen, nicht rathsam fand, zu dem alten Rechte zurückzukehren. In dem Lombardo-Venetianischen Königreiche ist die Oesterreichische Civil- und Kriminalgesetzgebung eingeführt worden. In Toskana ist der Code de commerce noch jetzt in Kraft. Auch andere Erscheinungen, z.B. die Publicität des gerichtlichen Verfahrens in Toskana, erinnern an die Vergangenheit."

Das letzte Wort ist bezeichnend. Italien gilt ihm nicht als eigenständige innovative Kraft. Die "Vergangenheit" prägt das Bild. Zachariae beschließt seinen 27seitigen 1l5 Bilanz- und Programmaufsatz mit den Worten 1l6 : "Die Naturforscher Deutschlands und der benachbarten Länder halten alljährlich eine Versammlung, um sich über die Interessen ihrer Wissenschaft zu besprechen. Die Rechtsgelehrten sollten billig dasselbe thun. Sie sind auch Naturforscher; sie erforschen die Naturgesetze der bürgerlichen Gesellschaft."

Emerico Amari nannte diese "Naturgesetze" 1857 in seiner "Critica di una scienza delle legislazioni comparate" die "leggi costanti della fisica sociale" und "la biologia delle leggi"ll7.

v. "Italien" und "italienisches Recht" als Beobachtungs- und Vergleichungsgegenstand in der "Kritischen Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes" (1829 - 1852) Die Darstellung Italiens und italienischer Rechtskultur als Beobachtungsgegenstand in der "Kritischen Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes" durch italienische und deutsche Autoren verdeutlicht die nach ausgesuchten Schwerpunkten gegebene folgende Übersicht 1l8 . 115 Die Paginierung ist fehlerhaft und führt bis zur Seitenzahl 43; für die Fundstellennachweise in den Fußnoten ist aber hier an dieser (fehlerhaften) Zählung festgehalten worden. 116 Wie Fn. 102, S. 43. 117 Amari, Critica I (Fn. 93), S. 258 (Capitolo VIII, nr. XCV). Zu Emerico Amari vgl. auch Erik Jayme. Emerico Amari/Friedrich Nietzsche - Das Zeitalter der Vergleichung, in diesem Band, und die dort nachgewiesene Literatur. 118 Eine umfassende Beschreibung der Zeitschrift als ein international wirksames Kommunikationsmittel sowie des Mitarbeiterstabes und eine Auswertung der bearbeiteten Gegenstände sind hier nicht beabsichtigt und im Rahmen dieses Aufsatzes - auch nur für Italien - nicht möglich. Wegen des europäischen Gesamtzusarnrnenhanges wäre eine an den einzelnen Ländern orientierte vergleichende Analyse unter Einbeziehung aller Autoren, Länder und diskutierten Rechtsprobleme sehr nützlich und wünschenswert. Zu den vorliegenden Beispielen und Ansätzen umfassender Zeitschriftenanalysen vgl. z.B. Erk Volkmar Beyen. Die Anfangsjahre des "Archiv für öffentliches Recht". Programmatischer Anspruch und redaktioneller Alltag im

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Italienische Mitarbeiter an der Zeitschrift und in Italien tätige Ausländer, die über italienische Rechtsverhältnisse schreiben, sind in den Jahren zwischen 1829 - 1856 119 : Pietro Luigi Albini, Novara/Turin (1844 - 1856)120; Relli, Rom (1845 - 1856)121; Rosetini, Modena (1855 - 1856); Pietro Capei, Florenz/Siena/Pisa (1829 - 1856)122; Giovanni Carmignani, Pisa (1829 - 1846)123; Giovanetti, Novara (1845 - 1852)124; Giuliani, Macerata (1842 - 1856); Mori, Pisa/Florenz (1845 - 1856); Pasquale Stanislao Maneini, Neapel/Turin (1844 - 1856)125; Nicotini, Neapel (1839 - 1856); H. Pfyffer von Heydeck, Neapel (1839 - 1853)126; Rezzonico, Mailand/Turin (1844 - 1856)127; Roestel, Rom/Berlin (1829 - 1835); Pellegrino Rossi, Wettbewerb, in: ders. (Hrsg.), Wissenschaft und Recht der Verwaltung seit dem Ancien Regime. Europäische Ansichten (lus commune, Sonderhefte 21), Frankfurt a.M. 1984, S. 347 - 373; Michael Stolleis/lnga Schmitt, Zur Entstehung der Zeitschriften des öffentlichen Rechts seit 1848, in: Quaderni Fiorentini 13 (1984), S. 747 - 761; Erk Volkmar Heyen, Profile der deutschen und französischen Verwaltungsrechtswissenschaften 1880 - 1914 (Ius commune, Sonderhefte 44), Frankfurt a.M. 1989; Goetz Landwehr, Die ZHR als Organ der Handelsrechtswissenschaft. Die wissenschaftlichen Abhandlungen Band 1 - 123 (1858 - 1960), in: ZHR 150 (1986), S. 39 - 89. 119 Nicht zu allen genannten Mitarbeitern der Zeitschrift konnten biographische Hinweise gefunden werden. Auf Angaben in der "Enciclopedia Italiana di Scienze, Lettere ed Arti", Milano/Roma 1929ff., wird hier in den Fußnoten hingewiesen. Die in Klammem gesetzten Jahreszahlen zeigen den Zeitraum der Mitarbeit an, soweit er aus den Titelblättern ersichtlich ist. Diese führen jedoch manchmal den Mitarbeiter noch 2 bis 3 Jahre nach dessen Tod auf. 120 Enciclopedia 11, 1929 (Fn. 118), S. 205. 121 Wahrscheinlich Bartholomeo Belli, Herausgeber des "Giornale deI Foro", Roma 1839 - 1854. 122 Enciclopedia VIII, 1930 (wie Fn. 119), S. 831 f. 123 Enciclopedia IX, 1931 (Fn. 119), S. 84. 124 Enciclopedia XVII, 1933 (Fn. 119), S. 219, weist einen Giacomo Giovanetti Advokat in Novara und Reformer der Gesetzgebung in Piemont - nach, der 1849 in Novara verstarb, aber noch bis 1852 als Mitarbeiter geführt wurde. 125 Enciclopedia XVII, 1933 (Fn. 119), S. 86; zu Mancini vgl. zuletzt Erik Jayme, Pasquale Stanislao Mancini. Internationales Privatrecht zwischen Risorgimento und praktischer Jurisprudenz, Ebelsbach 1980; ders., Roberto von Mohl und Pasquale Stanislao Mancini - Eine Begegnung in Neapel, in: Michael Stolleis u.a. (Hrsg.), Die Bedeutung der Wörter. Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Festschrift für Sten Gagner zum 70. Geburtstag, München 1991, S. 93 - 103, mit weiterführenden Literaturnachweisen (S. 950. 126 Pfyffer von Heydeck, - offensichtlich ein Schweizer - war "Großrichter bei dem Schweizerregimente in Neapel" und veröffentlichte unter dieser Berufsbezeichnung einen Aufsatz "Ueber die Gerechtigkeitspflege bei den capitulirten Schweizerregimenten im ausländischen Kriegsdienste", in: Krit. Zs. 9 (1837), S. 250 - 283, besonders zur "Rechtspflege im neapolitanischen Schweizerdienst". 127 Wahrscheinlich Francesco Rezzonico, Mailand (publizierte: "DeI catasto della Francia edel suo avvenire", Milano 1847).

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Genf/Paris/Rom (1829 - 1849)128; Antonio Salvotti, Verona/Wien (1829 1856)129; Federico Paolo Sclopis, Turin (1834 - 1856)130; Zambelli, Pavia (1842 - 1856) 131. Nicht alle in den Titelblättern angegebenen Mitarbeiter sind auch als Autoren in Erscheinung getreten. Insgesamt zählt man 23 Aufsätze und Rezensionen von 14 italienischen Autoren, darunter am meisten von Capei (5) und von Sclopis (4). Alle sind in deutscher Sprache veröffentlicht. Von den 12 deutschen Autoren über italienisches Recht sind insgesamt 62 Aufsätze - z. T. in Fortsetzungen - und Rezensionen veröffentlicht worden, von denen allein 42 aus der Feder Mittermaiers stammen. Dagegen nehmen sich die einschlägigen Beiträge von Robert von Mohl! Heidelberg (3), Röder/Heidelberg (3), Buss/Freiburg (3), Rosshirt/Heidelberg (2), Wamkönig/Freiburg, Tübingen (1) und Zachariae von Lingenthal (1) - neben einigen anderen - sehr unbedeutend aus. Mittermaiers bekannte Produktivität und europäische Impulse setzende Kommunikationskraft erhalten hier zusätzliche Belege - besonders für den praktischen Ansatz seiner rechtsvergleichenden Arbeit und Zielsetzung 132. Seine Literatur- und Personenkenntnis war enorm: " ... e Mittermaier e una biblioteca vivente di leggi comparate.,,133 Unermüdlich treibt er auch seine deutschen Kollegen an - fast alle aus seiner Heidelberger Fakultät oder süddeutschen Universitäten -, sich mit Beiträgen über Italien zu beteiligen. Unabhängig von aller ihm eigenen europäischen Dimension des Schaffens, Beobachtens und Vergleichens gehört doch Italien seine bevorzugte Aufmerksamkeit und Liebe. In den Anfangsjahren der "Kritischen Zeitschrift" hat er 6 Italiener für die Mitarbeit gewonnen; in den Jahren 1845 und 1846 sind es sogar 15 italieni128 Enciclopedia XXX, 1936 (Fn. 119), S. 144f.; vgl. auch Laszio Ledermann, Pellegrino Rossi. L'homme et l' economiste 1787 - 1848, Paris 1929; zuletzt Alfred Du/our, Histoire et Constitution. Pellegrino Rossi et Alexis de Tocqueville face aux institutions politiques de la Suisse, in: Presence et actualite de la constitution dans I'ordre juridique. Melanges offerts, (Collections Genevoise), Bäle/Francfort sur le Main 1991, S. 431 - 475. 129 Enciclopedia XXX, 1936 (Fn. 119), S. 589; studierte bei Savigny in Landshut. 130 Enciclopedia XXXI, 1936 (Fn. 119), S. 190. 131 Wahrscheinlich Barnaba Vincenzo Zambelli (publizierte: Proposta analitica di un insegnamento sul diritto commerciale e intemazionale degli stati, vol. I - 11, Milano 1845 - 1846). 132 Zur zahlreichen Literatur mit weiterführenden Nachweisen über Mittermaier vgl. Götz Landwehr, Carl Joseph Anton Mittermaier (1787 - 1867). Ein Professorenleben in Heidelberg, in: Heidelberger Jahrbücher 12 (1968), S. 29ff.; Wilfried Küper (Hrsg.), Carl Joseph Anton Mittermaier. Symposion 1987 in Heidelberg, Heidelberg 1988; Paola Balestreri, Mittermaier e I'Italia, in: lus commune 10 (1983), S. 97 - 140; Michael Hettinger, earl Joseph Anton Mittermaier (1787 - 1867) - Jurist zwischen zwei deutschen Reichen oder auf der Suche nach einem neuen gemeinen Recht, in: SZ Germ 107 (1990), S. 433 - 461. 133 Vgl. Emerico Amari, Critica (ed. Vittorio Frosini), vol. I (Fn. 93), S. 237 (Anm.3).

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sche Mitarbeiter 134. Capei, Salvotti und Sclopis waren während der gesamten Lebenszeit der Zeitschrift ständige Mitarbeiter. In den Anfangsjahren 1829 - 1836 sind in jedem Band 2 - 5 Beiträge zu italienischen Rechtsverhältnissen veröffentlicht. Ab 1837 erhöht sich die Zahl zeitweise auf 7 und 9 (1844). Von 1845 - 1851 fallen die Zahlen italienischer Beiträge auf 1 bis O. Sie sind ein Spiegel der politischen Verhältnisse. Mittermaier nannte diese Zeit 1851 die Jahre, die "nicht geeignet" waren, "auf einen großen, die Wissenschaft fördernden geistigen Aufschwung rechnen zu lassen ... ; die Politik hatte den Sinn auf andere Gegenstände gelenkt ... ,,135 Mittermaier selber bevorzugte die allgemeine faktenreiche Beschreibung der "Zustände" des italienischen Rechts; die Aufsatzüberschrift entspricht somit seinen 1844 veröffentlichten "Italienischen Zuständen,,136. Sieht man auf die Themenbereiche und speziellen Rechtsgegenstände, so dominieren Gesetzgebung (35) und Rechtswissenschaft (20) bei weitem meist in engem Zusammenhang behandelt. Auffallig ist der hohe Anteil öffentlichrechtlicher Themen (21), die neben Polizei- und Wasserrecht vor allem das Gemeinderecht betreffen, das oft in Verbindung mit rechtshistorischen Editionen alter italienischer Stadt-Statuten - diese gleichsam aktualisierend - behandelt wird. Demgegenüber fällt der Anteil des Privatrechts (12), Strafrechts (16), Prozeßrechts (6), Handelsrechts (3), Völkerrechts (1) und der Rechtsphilosophie (1) deutlich ab. Kirchenrecht erfährt keine eigenständige Bearbeitung und ist hier unter der Kategorie des öffentlichen Rechts miterfaßt. Rechtsgeschichte (14) und Rechtsvergleichung (3) stehen oft in engem Zusammenhang mit den zuvor genannten Sachbereichen, lassen sich aber zahlenmäßig so konkretisieren. Rezensionen (10) und Aufsätze sind typologisch kaum zu trennen, da es sich zumeist - namentlich bei Mittermaier - um Rezensionsaufsätze handelt. Im Rahmen dieser Rezensionen und vor allem der umfangreichen Berichte über den "Zustand" der vielgestaltigen italienischen Rechtssituation wird auch die Rechtsprechung in zunehmendem Maße nachgewiesen 137 . Rechtsprechungssammlungen und Zeitschriften werden ausführlich vermerkt 138. Analysen des Spruchmaterials sind jedoch selten, werden aber oft in Vergleich zur französischen Spruchpraxis gestellt und gehen auf die Entscheidungsgrundlagen aus dem römischen Recht ein 139. Den größten The134 Vgl. dazu die auf den Titelblättern jedes Jahrgangs aufgeführten Mitarbeiter aus ganz Europa. 135 Mittermaier, Ueber den gegenwärtigen Stand der Rechtswissenschaft in italien, mit Prüfung der bedeutendsten seit drei Jahren in Italien erschienenen rechtswissenschaftlichen Werke und Zeitschriften, in: Krit. Zs. 23 (1851), S. 298. 136 Wie Fn. 12. 137 Z.B. Mittermaier, Ueber die Fortschritte, 1842 (Fn. 9), S. 163f. 138 So z.B. Mittermaier, Ueber den gegenwärtigen Stand, 1851 (Fn. 135), S. 478f. 139 Mittermaier, Ueber die Fortschritte, 1842 (Fn. 9), S. 163f., 573f.

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menbereich bildet die Gesetzgebung für alle Rechtszweige, jeweils entsprechend dem Gegenstand eines neu erlassenen Gesetzes. Die einzelnen Gesetze der jeweiligen italienischen Einzelstaaten werden dabei in der Regel vor dem Hintergrund der vorgefundenen historischen Situation - also mit einem rechtshistorischen Überblick - analysiert. Umgekehrt wird auch die rechtshistorische Literatur im Lichte der aktuellen Probleme gesehen und in Rezensionen aus dieser Sicht interpretiert. Mittermaier sieht die "gründliche Rechtsgeschichte" als Teil einer Kulturgeschichte. So bewertet er z.B. Sclopis' Geschichte der alten Gesetzgebung von Piemont 140 entsprechend den zeitgenössischen politischen Problemen des sich wandelnden Staats- und Verfassungsverständnisses, der neuen Auffassungen über "bürgerliche Freiheit", des Verhältnisses der Bürger zur Staatsgewalt und des "wahren Staatsbürgerverhältnisses", des Eigentums- und Familienrechts sowie der Rechtspflege. Das waren die wichtigen Themen in der deutschen Diskussion wie auch in Italien und anderen europäischen Staaten. Mittermaiers Urteil lautet: "Der Verfasser ... hat den richtigen Standpunkt einer solchen (Rechts-)Geschichte würdig erfasst.,,141 Der vergleichende Aspekt in der italienischen Literatur betrifft und zielt in der Regel auf Frankreich. Deutsche Literatur wird von den italienischen Autoren kaum berücksichtigt und ist in Italien weitgehend unbekannt. Mittermaier hat den Mangel an deutschen Sprach- und Literaturkenntnissen unter den italienischen Rechtswissenschaftlern wiederholt beklagt 142 : "Man muss bedauern, dass so viel italiänische Juristen von der Bedeutung des germanischen Rechts für die Rechtsgeschichte ihres Vaterlandes keine rechte Vorstellung haben, verhältnissmässig wenig für die Erforschung dieses nationalen Rechts leisten, und um die Forschungen der deutschen Juristen in dieser Hinsicht sich nicht kümmern. Wir glauben, dass es eine der würdigsten Aufgaben eines italiänischen Juristen sein würde, eine mit vorzüglicher Beziehung auf die allmälige Fortbildung und Durchdringung des römischen und des deutschen Elements bearbeitete Rechtsgeschichte Italiens zu liefern. An Vorarbeiten fehlt es nicht ... Vorzüglich verdienstlich müsste eine Mittheilung des Ergebnisses der Forschungen in Deutschland über die Geschichte des Rechts in Italien in italiänischer Sprache sein."

Andererseits kritisierte Mittermaier aber auch, "daß ungeachtet mannigfaltiger Hindernisse viele und bedeutende juristische Schriften in Italien erscheinen, die bisher in Deutschland fast nicht bekannt zu seyn scheinen.,,143 Hierzu rechnete er besonders das italienische Strafrecht. 140

1833.

Federico Paolo Sclopis, Storia della antica legislazione dei Piemonte, Torino

141 Mittermaier, Geschichte der alten Gesetzgebung von Piemont, in: Krit. Zs. 6 (1834), S. 26lf. 142 Mittermaier, Ueber den gegenwärtigen Stand (Fn. 135), S. 481; ders., Rechtsgeschichte in Italien, in: Krit. Zs. 9 (1837), S. 357. 143 Mittermaier, Ueber die Fortschritte, 1842 (Fn. 9), S. 145.

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Nach dem Verlust des Latein als Wissenschaftssprache, was man in Italien sehr beklagte l44 , erlangten Übersetzungen eine neue besondere Bedeutung im Kommunikationszusammenhang der Länder und Wissenschaften. Mittermaier betonte immer wieder ihren Nutzen und Wert und kritisierte die Mängel der Übersetzungen - wo solche überhaupt vorlagen - ausdrücklich. 1851 konstatierte er, daß "in neuester Zeit das Interesse der italiänisehen Juristen an rechtswissenschaftlichen Arbeiten vermehrt ist, und insbesondere Übersetzungen deutscher Werke oder Bearbeitungen derselben veranlasst hat.,,145 Beachtung und Übersetzung fand jedoch - neben Mittermaier selber 146 - fast nur Savigny, dessen "Geschichte des römischen Rechts ... " Capei übersetzte 147 - aber nur in einer Auswahl, von der Mittermaier kritisch sagte: "Aus 6 Bänden ist ein mässiger Band aus 345 Seiten in der Form eines Lehrbuchs geworden ... ,,148 Dennoch ging gerade auch von dieser Übersetzung Capeis eine bedeutsame Wirkung zur "Wiederaufnahme der geschichtlichen Studien über das vaterländische Recht" in Italien aus l49 . Capeis Verdienst wird aber auch von Mittermaier unterstrichen I50 .

So Mittermaier, Ueber die Fortschritte, 1842 (Fn. 9), S. 145 f. Mittermaier, Ueber den gegenwärtigen Stand der Rechtswissenschaft in italien, 1851 (Fn. 135), S. 301. 146 Vgl. z.B. Balestreri, Mittermaier e l'ltalia (Fn. 132), S. 109 - 111. 147 Istoria deI gius Romano nel medio evo deI signor De Savigny. Ridotta in compendio, Siena 1849; zur Übersetzungstätigkeit im 19. Jahrhundert und zu den Wirkungen Savignys vgl. auch Filippo Ranieri, Le traduzioni e le annotazioni di opere giuridiche straniere nel sec. XIX come mezzo di penetrazione e di influenza delle dottrine, in: La formazione storica de1 diritto moderno in europa (Atti deI terzo congresso internazionale, vol. III, Firenze 1977, S. 1487 - 1504 (1497); einen umfassenden Überblick über die Übersetzungen ins Italienische während des 19. Jahrhunderts gibt Maria Teresa Napoli, La cultura giuridica europea in ltalia. Repertorio delle opere tradotte nel secolo XIX, vol. I - III, Napoli 1987. 148 Mittermaier, Ueber den gegenwärtigen Stand, 1851 (Fn. 135), S. 482. 149 Leopold August Wamkönig, Juristische Encyclopädie oder die organische Darstellung der Rechtswissenschaft mit vorherrschender Rücksicht auf Deutschland, Erlangen 1853, S. 367. 150 Mittermaier, Ueber den gegenwärtigen Stand, 1851 (Fn. 135), S. 481 - 483; zum Verhältnis Savignys zu Capei und insbesondere Savignys Einfluß vgl. Domenico MaffeilKnut Wolfgang Nörr, Lettere di Savigny a Capei e Conticini, in: SZ Rom 97 (1980), S. 181 - 212; Domenico Maffei, Quattro lettere deI Capei al Savigny e l'insegnamento deI diritto romano a Siena nel 1834, in: Norbert Horn u.a. (Hrsg.), Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Helmut Coing zum 70. Geburtstag, Bd. 1, München 1982, S. 203 - 224; Filippo Ranieri, Savignys Einfluß auf die zeitgenössische italienische Rechtswissenschaft, in: lus commune 8 (1979), S. 192 - 219; Laura Moscati, Le fonti giuridiche dell'altomedioevo tra Italia e Germania: due esperienze a confronto, in: Reinhard Elze/Pierangelo Schiera, ltalia e Germania (Fn. 41), S. 243 - 267 (244 - 246). 144

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Insgesamt ist in der "Kritischen Zeitschrift" am häufigsten französisches Recht behandelt l51 , das durch die napoleonische Gesetzgebung und Studienordnung auch eine "totale Umgestaltung ltaliens,,152 bewirkt hatte. Diese bezog sich vor allem auf das Privatrecht, weniger auf das Strafrecht, dessen - aus der Sicht Warnkönigs - "philosophische Behandlungsweise" andauerte: " ... in Carmignani lebte ein noch vom Geiste Beccarias beseelter Criminalist." 153 In den ersten Bänden der "Kritischen Zeitschrift" dominierten die Berichte über das Großherzogturn Toskana. Die oben 154 bereits beleuchtete historische Verknüpfung mit Österreich wird bereits im ersten Band deutlich. Der erste auf Italien bezogene Beitrag ist der Gesetzgebung und Rechtswissenschaft des Großherzogturns gewidmet und stammt von Capei. Von der aufklärerischen Euphorie ist in dieser kritischen Bilanz nichts mehr zu spüren i55 : "Wer nach dem bisher Aufgeführten die Ueberzeugung gewinnen würde, daß man in Toscana ein buntes, unelegantes Chaos vaterländischer Gesetze hat, und daß, so sehr man auch in Toscana Criminalrecht mit Vorliebe betreibt, das Civilrecht dagegen sehr verwahrlost ist, würde nach meiner Meinung eine völlig richtige Schlußfolgerung über den gegenwärtigen Stand der Legislation und der Rechtswissenschaft in Toscana sich bilden."

Die Berichte von Carmignani über Strafprozeßgesetzgebung und gesetzliche Todesstrafe 156 sowie die Rezension Mittermaiers über Zobis toskanisehe Geschichte 157 zeigen diese bittere, kritische Ironie nicht. Das Bild, das 151 Am zweithäufigsten sind Berichte über die englische Rechtsentwicklung, die am Beispiel der Gerichtsbarkeit, des Urheberrechts und einzelner "statutes" analysiert wird. 152 Vgl. Warnkönig, Encyclopädie (Fn. 149), S. 365. 153 Warnkönig, Encycl~pädie (Fn. 149), S. 365; zur starken Verbreitung Beccarias in Deutschland durch Ubersetzungen und Korrespondenzensarnrnlungen vgl. Madeleine van Bellen-Finster, Die Rezeption Cesare Beccarias im deutschsprachigen Raum um 1800, in: Annali dell'istituto storico italo-germanico in Trento, vol. XI (1985), S. 193 - 219 (198, 215). 154 Vgl. Fn. 43 ff. 155 Pietro Capei, Ueber den gegenwärtigen Zustand der Gesetzgebung und Rechtswissenschaft im Großherzogthume Toscana, in: Krit. Zs. 1 (1829), S. 73 - 86 (86). 156 Giovanni Carmignani, Historisch juristische Darsstellung der Criminalprocessgesetzgebung Peter Leopolds 11, Großherzogs von Toscana, in: Krit. Zs. 1 (1829), S. 345 - 384; ders., Ueber die Schicksale der Todesstrafe in der Gesetzgebung von Toscana. Nach brieflichen Mittheilungen des Herrn Ritter Carmignani, in: Krit. Zs. 2 (1830), S. 385 - 414. 157 A. Zobi, Storia civile della Toscana dal 1737 al 1848, vol. 1- 11, Firenze 1850 - 1851, in: Krit. Zs. 24 (1852); Mittermaier, Ueber den gegenwärtigen Stand der Rechtswissenschaft in Italien (Fn. 135), S. 153f.

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Mittermaier in der Zeitschrift über die italienischen Rechtsverhältnisse entwirft, ist bis zum letzten Band im Jahre 1856 von großem Wohlwollen und Verständnis geprägt. Die "Behandlungsweise der Rechtswissenschaft" ist für ihn bei jedem Volk mit dessen "Charaktereigenthümlichkeiten" untrennbar verknüpft, so daß es seiner Auffassung nach "schwierig seyn (würde), über den Rechtszustand Italiens zu urtheilen, ohne bei einigen Eigenthümlichkeiten des italienischen Charakters zu verweilen.,,158 Über diesen hat er 1851 geschrieben: 159 "Der Ideenreichthum, die geistreiche Auffassung, die Gewandtheit, mit Klarheit leitende Grundsätze aufzustellen, eine feine Zergliederungskunst, ein praktischer Sinn, der in vorgelegten Fällen schnell das Rechte zu treffen weiss, ein richtiger Takt, sind Eigenthümlichkeiten, die der italiänische Gelehrte mit dem italiänischen Volke überhaupt theilt, und zeichnen auch die neuen wissenschaftlichen Arbeiten der Italiäner aus, während die Schattenseiten der italiänischen Bildung, die Sitte, durch die lebendige Phantasie sich beherrschen zu lassen, an schönen Bildern, unbestimmten Phrasen und einer Fülle der Worte sich zu erfreuen, statt mit ruhig prüfendem Verstande die Grundsätze zu erforschen, leicht einen nachtheiligen Einfluss auf wissenschaftliche Forschungen übten."

Wesentlich kritischer fallen die Betrachtungen über die italienische Rechtsphilosophie aus. Räder - auf Bitten Mittermaiers hatte er einen solchen Beitrag übernommen - bescheinigte ihr unter anderem überflüssige Beweisführungen, Unterscheidungen "Begriffsspaltereien ... nach der alten scholastischen Unart" und "einen stark miuelaltrig gefärbten Geist römischkatholischer Spekulation."l60 Räder schließt seinen langen Beitrag, jedoch nicht ohne einen selbstkritischen Blick auf die deutsche Wahrnehmungsbereitschaft l61 : " ... zumal da bisher unter uns, wie überhaupt ausserhalb Italiens, darüber so gut wie Nichts bekannt geworden ist und eben darum der Wahn vorherrschend war, als ob wir in diesen Dingen jenseits der Alpen auch Nichts, oder doch ungleich weniger zu holen fänden als jenseits des Rheins ... "

Das Bemühen war sichtbar - und das war auch ein oft bei Mittermaier verfolgbarer Ansatz -, das Wissenschaftsbild Italiens aus der beherrschenden Macht der römischrechtlichen Tradition zu lösen und Rechtswissenschaft an die modemen Rechtsaufgaben von Staat und Gesellschaft in italien heranzuführen und der Öffentlichkeit transparent zu machen. Es sollte Mittermaier, Ueber die Fortschritte, 1842 (Fn. 9), S. 136 und 398. Mittermaier, Ueber den gegenwärtigen Stand (Fn. 135), S. 300f. 160 earl David August Räder, Ueber die neueren Leistungen der Italiener auf dem Felde der Rechtsfilosophie überhaupt und zunächst über Giampaolo Tolomei's (Professor der Rechtsfilosofie, Encyklopädie und des Strafrechts zu Padua) corso elementare di diritto naturale 0 razionale. III Vol., Padova 1849, in: Krit. Zs. 25 (1853), S. 62 - 102,229 - 259, 333 - 371 (363 - 365). 161 Räder (Fn. 160), S. 370. 158

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gezeigt werden, "daß es der Mühe werth ist den Rechtsforschungen der Nachkommen (sc. des römischen Rechts) wenigstens einen Theil der Aufmerksamkeit zu schenken, die wir den Leistungen ihrer Vorfahren bis zum Uebermass zuzuwenden gewöhnt sind.,,162 Wo in der italienischen Literatur die vergleichende Methode in Erscheinung trat, wurde sie mit Nachdruck hervorgehoben. Namentlich Mittermaier tat dies unter Bezug auf Lomonacos Gesetzgebungsgeschichte 163, dessen historische und aktuell bezogene Rechtsvergleichung er herausstellte 164: "Sein Werk beschäftigt sich mit der Erforschung der Hauptsätze des römischen Rechts in jeder Lehre, mit der Vergleichung, wie im Mittelalter die römischen Rechtsideen durch das germanische und das canonische Recht umgestaltet wurden und daraus ein neues europäisches Rechtssystem entstand, wie in die neuen Gesetzgebungen, z. B. die französische, die Ansichten des römischen oder des germanischen Rechts übergingen und wie vielfach sie irrig aufgefasst oder angewendet wurden. In dieser Beziehung enthält das Werk eine auf ähnliche Weise nirgend vorkommende vergleichende Darstellung der verschiedenen Rechte und eine oft sehr scharfsinnige Kritik römischer Bestimmungen oder Vorschriften neuer Gesetzgebungen. "

Die Prinzipien der "vergleichenden Staats- und Rechtsgeschichte" hatte Wamkönig 1856 in der "Kritischen Zeitschrift" als "eine gemeinsame comparative Beschauung aller" Völker der Erde im Sinne einer "synchronistischen" und zugleich "genetischen" Methode charakterisiert 165. Die "praktische Idee der Gerechtigkeit", ihre Verwirklichungsformen und die materiellen Gründe des Rechts i. S. ihrer rationellen, historischen und ethnologischen Bedingungen seien von dem vergleichend arbeitenden Juristen und Rechtshistoriker zu ermitteln l66 . Das war auch im Blick auf die Aufgaben und Möglichkeiten der zwischen Volks- und Juristenrecht "ausgleichenden Codification,d67 gesagt. Drei Quellenbereiche bezeichnete Bosselini 1855 als unerläßliche Arbeitsgrundlage l68 : Röder (Fn. 160), S. 371. V. Lomonaco, Storia dei principii della legislazione, Napoli 1844. 164 Mittermaier, Ueber den gegenwärtigen Stand der Rechtswissenschaft in Italien mit Prüfung der bedeutendsten seit drei Jahren in Italien erschienenen rechtswissenschaftlichen Werke und Zeitschriften, insbesondere in Bezug auf bürgerliches Recht, bürgerlichen Prozess und Handelsrecht, in: Krit. Zs. 24 (1852), S. 466f. 165 Leopold August Warnkönig, Ueber vergleichende Staats- und Rechtsgeschichte, in: Krit. Zs. 28 (1856), S. 386 - 409 (398). 166 Warnkönig (Fn. 165), S. 400; ders., Encyclopädie (Fn. 149), S. 108, wo er von der "vergleichenden Weltrechtsgeschichte" spricht. 167 Warnkönig (Fn. 165), S. 400. 168 Lodovico Bosselini, Ueber die Entwickelung der Gesetzgebung und der Rechtswissenschaft in Italien, in: Krit. Zs. 27 (1855), S. 113 - 149 (116f.). 162 163

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"Der Jurist muss darnach, wenn er wahrhaft zum Wachsthum der Wissenschaft beitragen will, drei Quellen benützen; nämlich das was die Wissenschaft sein soll (Philosophie des Rechts), das was sie war (historische Rechtswissenschaft), das was sie ist (vergleichende Rechtswissenschaft) ... Die zwei oben genannten Quellen werden von Vielen auf tüchtige Weise benützt, vorzüglich wohl von Italiänern und Deutschen, dagegen findet sich die dritte Quelle, die vergleichende Jurisprudenz, noch ziemlich in der Kindheit, obwohl immer mehr die Nothwendigkeit erkannt wird, das Studium auch darauf zu richten; vorzüglich sollte der Ausbildung dieses Theils der Rechtswissenschaft die juristischen Zeitschriften sich widmen."

Rechtsvergleichung wird hier zum Indikator für den Wettbewerb national gedachter und zu etablierender Rechtsordnungen - unabhängig von dem gemeinsamen Band europäischer Rechtstradition. Bosselini bekennt: " ... so ist doch der Boden ... ein höchst verschiedener, daher das Civilrecht kein kosmopolitischer sein kann, und die Nationen einander kennen lernen, einander nacheifern, aber nicht blind das aufnehmen, was eine andere besitzt. ... wegen Verschiedenheit der ... Sitten, der Traditionen ... und der Bedürfnisse das jedem Staate eigenthümliche Civilrecht sich ausbildet ... Das Civilrecht muß daher national und fortschreitend ... sein ..... 169

Übernationales, gemeinsames europäisches Recht in der Gestalt des römischen Rechts und nationale Rechtsentwicklung namentlich durch die Gesetzgebung standen nebeneinander - verbunden durch die Methode der Rechtsvergleichung, die beiden Stoffmassen und Ordnungsprinzipien in Europa zuarbeitete. Mittermaier hat in diesem Sinne auch für die nationale Behandlung des Rechts in Italien plädiert: " ... es ist gewiß ein großer Nachtheil für unser Rechtsstudium und die Gesetzgebung, dass wir beide von der nationalen Bedeutung entfernten; kein Land hat solchen Reichthum der Drelemente der Rechtsbildung als Italien; die Mischung und Fortbildung dieser Elemente darzustellen, und so das Recht national aufzufassen, wäre eine der würdigsten Aufgaben ... 170

Aber das war nur die Projektion einer allgemeinen und als allgemeingültig angesehenen Auffassung, die für Mittermaier natürlich auch ihre Richtigkeit für "Deutschland" besaß. Für das "Italien" des 19. Jahrhunderts als Geburtsland des römischen Rechts besaß sie jedoch noch eine zusätzliche Bosselini (Fn. 168), S. 1I5f. Mittermaier, Deber den gegenwärtigen Stand, 1851 (Fn. 135), S. 304; ähnlich Mittermaier, Deber den gegenwärtigen Stand, 1852 (Fn. 164), S. 142: "Es ist aber nicht schwierig, nachzuweisen, dass in Italien selbst das römische Recht nicht als ein für sich, und kraft seiner Natur als römisches Recht verbindliches, sondern als ein Theil des nationalen, und durch die Rechtsübung in ein nationales verwandeltes Recht angewendet wurde." 169 170

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nationale Bedeutung, die Mittennaier bereits 1841 mit dem Satz umschrieben hatte: "Das Studium des Rechts in Europa kann nicht leicht wichtigere Aufschlüsse erhalten, als durch eine gründliche Behandlung der Rechtsgeschichte Italiens."I?1

171 Mittennaier, Rechtsgeschichte Italiens, in: Krit. Zs. 13 (1841), S. 90.

Probleme des verfassungsgeschichtlichen Vergleichs: Das Beispiel Italiens und Deutschlands im 19. Jahrhundert Von Hans Boldt

I. Europäische Verfassungsgeschichte und Verfassungsvergleich Die Gedanken, die ich hier zur Diskussion stellen möchte, gehören in den weiteren Rahmen von Überlegungen zur Konzeption einer europäischen Verfassungsgeschichte. Dabei verstehe ich unter "europäischer Verfassungsgeschichte" nicht einfach die Verfassungsgeschichte der geographisch in Europa gelegenen Staaten, sondern eine Einheit, die sich in diesen Staaten zwar in unterschiedlicher Weise präsentiert, dennoch, unbeschadet aller Unterschiede, eine allgemeine Entwicklung darstelle. Bis zu einem gewissen Grade zeichnet sie alle eine gleiche Verfassungsentwicklung aus. Sie alle machen vom Feudalsystem bis zum modernen demokratischen Verfassungsstaat eine entsprechende Entwicklung durch. Eine in dieser Weise inhaltlich bestimmte, allgemein - europäische Verfassungsgeschichte kann man freilich nur dann konzipieren, wenn sie sich von einer nicht-europäischen Verfassungsgeschichte unterscheiden läßt (wobei sich die Frage erhebt, ob man diese nicht-europäische Geschichte noch "Verfassungsgeschichte" nennen kann, was vom zugrundegelegten Verfassungsbegriff abhängt). Was könnte als ein solches Gegenstück zur europäischen Verfassungsgeschichte gelten? Die spätestens seit dem 18. Jahrhundert in dieser Funktion auftauchende "orientalische Despotie"? Etwa so, wie sie Karl Wittfogel als ein von Altägypten bis zum Stalinismus 1 Vgl. die entsprechende Konzeption einer "europäischen Rechtsgeschichte" bei Reiner Schulze, Vom Ius commune bis zum Gemeinschaftsrecht - das Forschungsfeld der Europäischen Rechtsgeschichte, in: ders. (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, Berlin 1991, S. 3 ff. Zur europäischen Verfassungsgeschichte s. ders., ebd., S. 14ff. sowie im gleichen Band Dietmar Willoweit, Probleme und Aufgaben einer europäischen Verfassungsgeschichte, S. 14lff. und Christo! Dipper, Sozialgeschichte und Verfassungsgeschichte. Zur europäischen Verfassungsgeschichte aus der Sicht der Geschichtswissenschaft, S. 173 ff.

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der Sowjetunion sich entfaltendes Phänomen geschildert hat?2 Das wäre einmal grundsätzlich zu diskutieren. An einer solchen europäischen Verfassungsgeschichte besteht im übrigen nicht nur ein historisches, sondern auch ein erhebliches politologisches Interesse, da es die Gemeinsamkeit in der Verfassungsentwicklung der europäischen Staaten ist, die deren geplanten Zusammenschluß zur Politischen Union in der Europäischen Gemeinschaft möglich macht3 . Das aber führt zur Frage, was den betreffenden Staaten wirklich gemeinsam ist und nicht nur dem ersten Anschein nach als solches erscheint und wie weit trotz aller Gemeinsamkeiten die Unterschiede gehen, wo mithin mögliche Grenzen für ein Vereinheitlichungsstreben liegen. Grundsätzliche Überlegungen zu einer europäischen Verfassungsgeschichte sind bisher weniger von Verfassungshistorikern angestellt worden, wenn man von Ausnahmen wie Otto Hintze absieht4 , sondern von Sozialwissenschaftlern, näherhin von Soziologen, nämlich im breiteren Rahmen der dort gepflogenen Modernisierungstheorien, die global gemeint sind, denen aber allesamt das europäische Paradigma, genauer: ein europäischnordamerikanisches Paradigma zugrunde liegt5 . Die hier vorzufindende Annahme von einer Globalisierbarkeit der europäischen Entwicklung ist durch die Europäisierung der Welt seit dem Kolonialzeitalter möglich geworden. In diesem breiteren Rahmen einer Gesellschaftsentwicklungstheorie am Leitseil der Modernisierungsvorstellung finden verfassungsgeschichtliche Überlegungen - verstanden als Überlegungen zur Entwicklung von Staatsverfassungen oder politischen Systemen 6 - als Untersuchungen 2 Karl A. Wittfogel, Die orientalische Despotie. Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1977. 3 Siehe in dem Zusammenhang z.B. die neueren politologischen Untersuchungen von Winfried Steffani (Hrsg.), Regierungsmehrheit und Opposition in den Staaten der EG, Opladen 1991; Oscar W. Gabriel, Die EG-Staaten im Vergleich. Strukturen, Prozesse, Politikinhalte, Opladen/Wiesbaden 1992; von juristischer Seite etwa: Eberhard Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und USA, Bd. 1, Kehl u.a. 1986. 4 Zu erinnern ist an seine Aufsätze: Wesen und Verbreitung des Feudalismus, Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes, Weltgeschichtliche Bedingungen des Repräsentativsystems, in: Otto Hintze, Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hrsg. v. Gerhard Oestreich, 3. Aufl., Göttingen 1970. s. auch Heinrich Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters, 11. Aufl., Darmstadt 1986 sowie die Angaben bei Dipper (Fn. 1), S. 176f. und Willoweit (Fn. 1), S. 145f., 148f. 5 Dies wird besonders deutlich bei Gabriel Almond/James S. Coleman (Hrsg.), The Politics of the Developing Areas, Princeton/New York 1960 und Daniel Lerner, The passing of Traditional Society. Modernizing the Middle East, New York 1964. Eine Auseinandersetzung damit bietet Samuel P. Huntington, Political Modernization: America vs. Europe, in: World Politics 18, 1966, S. 378ff. 6 Dies entsprechend meinem Vorschlag zur Konzeptualisierung der Verfassungsgeschichte in meiner ,,Einführung in die Verfassungsgeschichte", Düsseldorf 1984

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zum "state-and-nation-building,,7 ihren Platz, womit ich nicht nur die Ansätze Karl Deutschs meine8 , sondern vor allem solche, die mehr einer "comparative history" verpflichtet sind9 • Die allgemeinen modernisierungstheoretischen Ansätze sind, geschichtswissenschaftlich betrachtet, problematisch. Ihr Problem liegt in einer zu stark an modernen Vorstellungen und moderner Begrifflichkeit orientierten Globalsicht. Sie waren zu wenig ,,historisch", was spätestens Anfang der 70er Jahre bemerkt wurde und zu einer stärker fachlich historischen Ausrichtung führte, etwa durch Anlehnung an die Arbeiten von Charles TillylO. Nicht nur die Behandlung historischer Phänomene mit einer modernen Begrifflichkeit wurde gerügt, sondern auch die Selbstverständlichkeit, mit der eine westliche Sichtweise auf nichteuropäische Länder angewandt wurde sowie die stark generalisierende Methode, die die allgemeine Staatsund Gesellschaftsentwicklung zu einem Einheitsweg nach dem Vorbild westlicher Demokratien, insbesondere der USA, zu machen drohtelI. Selbst sowie in Bd. 1 meiner "Deutschen Verfassungsgeschichte", 2. Aufl., München 1991, S. 1Of. Kritisiert hat diesen Vorschlag Dietmar Willoweit im Artikel "Verfassungsgeschichte" im Staatslexikon, Bd. 5, Freiburg 1989, S. 648f. Um Mißverständnissen vorzubeugen, möchte ich betonen, daß meine auf die Verfassung als "politische Ordnung" oder "die Struktur (und Entwicklung) von Regierungssystemen" zielende Gegenstandsbestimmung der Verfassungsgeschichte nicht die Regeln des Verfassungsrechts ausschließt, wohl aber über eine bloß rechtliche Betrachtungsweise hinausgeht. Die "Verfassung" in diesem Sinne ist mehr als nur der jeweilige Bestand rechtlicher Regelungen. 7 Samuel N. EisenstadtlStein Rokkan (Hrsg.), Building States and Nations, I, Beverly Hills 1973. 8 Karl W. Deutsch/William J. Foltz (Hrsg.), Nation-Building, New York 1966; Karl W. Deutsch, Nationenbildung - Nationalstaat - Integration, Düsseldorf 1972. 9 Vertreter dieses Ansatzes sind z.B. Reinhard Bendix, Nation-Building and Citizenship. Studies of aChanging Social Order, New York 1964; Cyrill E. Black, The Dynamies of Modernization. A Study in Comparative History, New York 1967; Barrington Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie. Die Rolle der Grundbesitzer und Bauern bei der Entstehung der modernen Welt, Frankfurt 1969. Generell dazu Stein Rokkan, Eine Familie von Modellen für die vergleichende Geschichte Europas, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 32, 1980, S. 118ff. sowie Lester M. Salomon, Comparative History and the Theory of Modernization, in: World Politics 23, 197011, S. 83ff. und William 1. Coleman/ Alwin Boskoff (Hrsg.), Sociology and History, New York 1964. Den "state-and-nation-building" Ansatz wendet, vor allem unter Rückgriff auf Leonbard Binder, Crisis and Sequences in Political Development, Princeton 1971, auf die italienische Geschichte Hartmut Ullrich an, s. ders., Bürgertum und nationale Bewegung im Italien des Risorgimento, in: Otto Dann (Hrsg.), Nationalismus und sozialer Wandel, Hamburg 1978, S. 129ff. 10 Vgl. z.B. Charles Tilly (Hrsg.), The Formation of National States in Western Europe, Princeton/New York 1975. 11 s. dazu Samuel P. Huntington, Political Development and Political Decay, in: World Politics 17, 1964/65, S. 386ff. sowie Samuel M. Eisenstadt, The Disintegra5 Mazzacane/Schulze

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europäische Staaten ließen sich in dieser Weise nicht ohne weiteres traktieren und ihre Systeme und Entwicklungen verstehen, wie La Palombara gerade an Italien als einem signifikant abweichenden Fall aufgewiesen hat 12 . Mit dieser Wendung zur Geschichte, "wie sie wirklich ist", kam es wieder zu einer stärkeren Berücksichtigung historischer Besonderheiten und Individualitäten sowie zu einer Ergänzung der in generalisierender Absicht bemühten vergleichenden Methode durch eine Besinnung auf ihre Funktion, auch individualisierende Erkenntnisse zu ermöglichen 13.

11. Deutsche und italienische Verfassungsgeschichte: Ähnlichkeiten und Unterschiede In dieser Situation, in der einerseits vorschnelle Generalisierungen wieder aus der Mode gekommen sind, andererseits aber doch gerade im Hinblick auf eine intendierte europäische Verfassungsgeschichte mehr als Individualisierungen und der Aufweis nationaler Besonderheiten von Interesse ist und auch möglich zu sein scheint, sollte man überlegen, ob nicht Ansätze "mittlerer Reichweite", zu denen man in einer solchen Verlegenheit zu greifen pflegt, weiter führen 14. Zum Beispiel der möglichst konkrete Vergleich zunächst nur zweier europäischer Staaten wie Italien und Deutschland. Dieser Vergleich liegt insofern nahe, als beide Staaten spezifische Ähnlichkeiten in ihrer Entwicklung gerade im 19. und 20. Jahrhundert aufweisen: 15 - bei beiden handelt es sich um "verspätete Nationen", besser: um Nationalstaatsgründungen der "zweiten Generation,,16, tion of the initial Paradigm of Studies of Modemization, in: ders., Tradition, Change and Modemity, New York et al, 1973, S. 98ff., und ders., Breakdowns of Modemization, ebd., S. 42 ff. 12 The Utility and Limitations of Interest Groups Theory in Non-American Field Situations", in: Harry Eckstein/David E. Apter (Hrsg.), Comparative Politics, New York/London 1963, S. 412ff. 13 Zu den Funktionen des Vergleichs s. etwa Dieter Nohlen, Artikel "Vergleichende Methode", in: Dieter Nohlen/Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.), Politikwissenschaft. Theorien-Methoden-Begriffe, 2. Hdb., München 1985, S. 1079ff. sowie Klaus von Beyme, Der Vergleich in der Politikwissenschaft, München 1988, bes. S. SOff. Auf historischer Seite s. auch Reinhard Wittram, Vergleich, Analogie, Typus, in: ders., Das Interesse an der Geschichte, Göttingen 1958, S. 46ff. 14 Dazu grundlegend Robert K. Merton, Socia! Theory and Socia! Structure, New York/London 1968. 15 s. dazu Rudolf Litl, Geschichte Italiens in der Neuzeit, 4. Aufl., Darmstadt 1988, S. X, 92 u. passim (mit Hinweis auf die vergleichenden Arbeiten des Deutschen Historischen Instituts in Rom). Stärker auf Unterschiede hebt ab Otto Weiß, Das deutsche Modell - Zu Grundlagen und Grenzen der Bezugnahme auf die deutschen Wissenschaft in Italien, in diesem Band. 16 Modemisierungstheoretisch könnte man eher von "verfrühten" Nationen sprechen, weil die Staatsbildung in ihnen - im Gegensatz zu den älteren westeuropäi-

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- beide besitzen eine lange, im Gehäuse des Heiligen Römischen Reichs verlaufende Geschichte, - beide standen und stehen durch ihre mittlere europäische Lage in einer ähnlichen internationalen Konstellation, in enger Berührung und Auseinandersetzung mit Frankreich und der Habsburgennonarchie, wobei dies auch ihre verfassungs geschichtliche Entwicklung und nicht nur ihre allgemeine politische Situation mitbestimmt hat, - beide treten in das 19. Jahrhundert mit staatlichen und gesellschaftlichen Reformansätzen, die hervorgerufen sind durch die Französische Revolution und die napoleonische Besetzung 17 • Sie sind insofern beide in spezifischer Weise von außen beeinflußt und sehen sich im Anschluß daran restaurativen Tendenzen ausgesetzt, wie sie theoretisch besonders signifikant der in beiden Ländern rezipierte Schweizer Kar! von Haller vertreten hat 18 , - in beiden gibt es progressive Kräfte, die sich zum Teil in Geheimbünden fonnieren, - in beiden gibt es die Spaltung von moderaten Liberalen und radikalen Demokraten, - in beiden gibt es eine dominante nationale Strömung, die auf nationale Einigung, teils in staatenbündisch-föderativer, teils in einheits staatlichrepublikanischer Fonn zielt 19 , sehen Nationalstaaten - der Bildung eines Nationalbewußtseins nicht voranging, sondern erst unter dessen Einfluß erfolgte. Diese Umkehrung der Reihenfolge scheint das Charakteristikum der Nationalstaatsbildungen des 19. und 20. Jahrhunderts zu sein, in denen das Nationalbewußtsein zunächst keine staatsintegrierende, sondern eine die überkommenen staatlichen Hüllen (z. B. Neapel-Sizilien, die Habsburgermonarchie oder heute Jugoslawien und die Sowjetunion) sprengende Kraft bewies. Zur "verspäteten Nation" vgl. Helmuth Pleßners gleichnamiges Buch, Stuttgart 1959. 17 Für Italien s. Lill (Fn. 15), S. 78ff.; für Deutschland s. etwa Kurt von Raumer/Manfred Botzenhart (Hrsg.), Deutschland um 1800: Krise und Neugestaltung 1789 - 1815, Wiesbaden 1980; Eberhard Weiß (Hrsg.), Reformen im rheinbündischen Deutschland, München 1984. Auf die dominante Rolle der Bürokratie bei der Modemisierung Deutschlands und Italiens macht Christo! Dipper (Fn. 3), S. 192 aufmerksam. 18 s. Lill (Fn. 15), S. 105. 19 Zu den einheits staatlich-demokratischen Vorstellungen (Mazzini) einerseits, den föderativen Ideen des Neoguelfismo (Gioberti) andererseits sowie dem republikanischen Föderalismus von Cattaneo und Ferrari s. Lill (Fn. 15), S. 112, 122, 129 sowie Ullrich (Fn. 9), S. 135 ff. Zur deutschen Entwicklung siehe die Hinweise bei Ernst Rudolj Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 - 1850, Stuttgart 1960 sowie Hans Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, München 1990, S. 124ff. und Michael Dreyer, Föderalismus als ordnungspolitisches Prinzip. Das föderative Denken der Deutschen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u.a. 1987. 5*

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- in beiden gibt es ähnliche Probleme der Wirtschaftsentwicklung und der Herausbildung eines auch politisch dominant werdenden, sich mit liberalen Kräften des Adels verbindenden Bürgertums 20, - in beiden gibt es nach französischem Vorbild verwaltungstechnisch relativ modernisierte Staaten, die die Führung übernehmen, Piemont bzw. Preußen, wobei beide Staaten infolge der 48er Revolution zu Verfassungsstaaten mit ähnlichen Verfassungen werden, was nicht zuletzt dazu beiträgt, ihre politische Führungsrolle zu legitimieren21 , - beide Staaten, Piemont und Preußen, setzen das, was man ihre "nationalen" Ziele nennen kann, im Wege einer auch den Krieg nicht scheuenden Realpolitik, repräsentiert durch die beiden großen Staatsmänner Cavour und Bismarck, durch, - beider Politik, wie die nationale Einigung von Italien und Deutschland überhaupt, wird konterkariert durch die restaurative Großmacht Österreich, - für beide Staaten spielt dabei die teils fördernde, teils hemmende Intervention Frankreichs, genauer: Napoleons III., eine wichtige Rolle, - sowohl in Italien als auch in Deutschland geschieht die nationale Einigung durch Krieg unter Führung der jeweiligen Vormacht Piemont bzw. Preußen, was zu einer Vormachtstellung dieser Staaten bzw. ihrer Dynastien und ihrer Verwaltungselite führt und aus den neuen Nationalstaaten relativ modeme Monarchien macht. Beide politischen Systeme geraten anfangs des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg in Schwierigkeiten und produzieren signifikante temporäre Abweichungen von der allgemeinen europäischverfassungs staatlich-demokratischen Entwicklung im Faschismus bzw. Nationalsozialismus. Die Aufzählung der Ähnlichkeiten läßt sich möglicherweise noch fortset zen und macht sie für das, was man in den Sozialwissenschaften einen "most similar systems approach,,22 zur Vergleichung nennt, geeignet. Man20 Ullrich (Fn. 9), S. 135 f. sowie Rosario Romeo, Breve storia della grande industria in Italia, 2. Aufl., Rocca San Casciano 1963; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, bislang 2 Bände, München 1987. Zu beachten sind allerdings die langsamere Industrialisierungsentwicklung in Italien und das Ausbleiben der Agrarrefonnen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. 21 Zum Statuto siehe Vieter Schidor, Entwicklung und Bedeutung des Statuto AIbertino in der italienischen Verfassungsgeschichte. Jur. Diss., München 1977; allgemein zur italienischen Verfassungsgeschichte s. Carlo Ghisalberti, Storia costituzionale d'ltalia 1849 - 1948, Bari 1974; zur preußischen Verfassung Hans Boldt, Die preußische Verfassung vom 31. Januar 1850. Probleme ihrer Interpretation, in: Hans-Jürgen Puhle/Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Preußen im Rückblick, Göttingen 1980, S. 224 ff. 22 Adam PrzeworskilHenry Teune, The Logic of Comparative Social Inquiry, New York et al. 1970, S. 31 ff.

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ches von dem Aufgezählten mag nicht nur typisch für Italien und Deutschland sein, ist auch anderswo anzutreffen in Ansätzen oder weiter entwickelt als dort. Aber eine solche Fülle von Ähnlichkeiten, wie hier skizziert, ist nicht überall in Europa vorhanden. Das läßt die Frage aufwerfen: Gab es innerhalb der europäischen Entwicklung, wenigstens zeitweise, so etwas wie einen besonderen "mitteleuropäischen Entwicklungspfad"? Und worin liegen dessen Ursachen 23 ? Sowie: Worin liegen Unterschiede in der Entwicklung der beiden Länder, ungeachtet der genannten Gemeinsamkeiten, und was bedeuten sie, nicht nur für die jeweilige nationale Entwicklung in Italien bzw. in Deutschland, sondern auch im Hinblick auf die intendierte Konzeption einer europäischen Verfassungsgeschichte? Das heißt: Handelt es sich bei den noch aufzuweisenden Unterschieden um spezielle nationale Eigenheiten oder um Entwicklungsmomente, die Italien und Deutschland zwar nicht miteinander besitzen, aber dafür jeweils mit anderen europäischen Staaten gemeinsam haben, so daß man eigentümlich verschränkte Gemeinsamkeiten konstatieren muß, die einen europäischen Staat teils mit diesem, teils mit jenem Nachbar verbinden? Und welche Bedeutung könnte eine solche eigentümliche Verschränkung für den Verlauf der europäischen Verfassungsgeschichte besitzen, die eben nicht einfach als ein Nebeneinander selbständiger nationaler Entwicklungen zu verstehen ist, aber auch keine unterschiedslose Einheitlichkeit bietet, sondern eigentümliche Ähnlichkeiten und Beziehungen angedeuteter Art24 ? Wenn dies so ist, dann dürfen nicht nur die genannten spezifischen Ähnlichkeiten ein Untersuchungsinteresse beanspruchen, sondern auch das, was unbeschadet obwaltender Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten an Unterschieden sichtbar wird, und auch dies müßte im Rahmen einer europäischen Verfassungsgeschichte erklärt und auf seine Bedeutung hin analysiert werden. Hierfür zwei nicht ganz unbekannte Beispiele im Rahmen einer vergleichenden Untersuchung der italienischen und deutschen Verfassungsgeschichte: Wieso kommt es, daß trotz aller Entwicklungsähnlichkeit die 23 Das ist eine Frage, die sich insbesondere im Hinblick auf das in beiden Ländern beobachtbare Phänomen des "Faschismus" gestellt hat; s. dazu die - problematische - Ursachenanalyse von Barrington Moore (Fn. 9) sowie Wolfgang Schieder, Das Deutschland Hitlers und das Italien Mussolinis. Zum Problem faschistischer Regimebildung, in: Gerhard Schulz (Hrsg.), Die Große Krise der dreißiger Jahre, Göttingen 1985, S. 44ff. sowie Wolfgang Schieder (Hrsg.), Faschismus als soziale Bewegung. Deutschland und Italien im Vergleich, 2. Aufl., Göttingen 1983. 24 Von einer "internationalen Verbreitung und Zirkulation von Begriffen und Theorien" spricht in ähnlichem Zusammenhang Cristina Vano, Hypothesen zur Interpretation der "vergleichenden Methoden" im Arbeitsrecht an der Wende zum 20. Jahrhundert, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Deutsche Rechtswissenschaft und Staatslehre im Spiegel der italienischen Rechtskultur während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1990, S. 225ff., 242.

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nationale Einigung auf der einen Seite - in Deutschland - ein föderatives Gebilde, auf der anderen Seite - in Italien - einen monarchischen Einheitsstaat hervorbringt? Und: Wieso setzt sich in den neuen Nationalstaaten eine sog. konstitutionelle Regierungsweise durch - im Deutschen Reich -, bzw. eine parlamentarische in Italien? Es handelt sich dabei offenbar um zwei signifikante Unterschiede in der Verfassungs struktur, die es zum Beispiel Italien leichter als Deutschland machten, sich nach Westeuropa hin zu orientieren und an die westeuropäischen Staaten anzulehnen. Die Erklärung, wie es zu diesen Unterschieden kam, scheint aber nicht ganz einfach zu sein, zumal im Kontext der sonst feststellbaren Ähnlichkeiten es durchaus nicht von vornherein ausgemacht war, daß Deutschland föderalistisch wurde, aber nicht einheitsstaatlich, und Italien einheits staatlich, aber nicht föderalistisch, und daß Deutschland in einer konstitutionellen Regierungsweise verharren und sich nicht rasch parlamentarisieren würde, Italien sich aber parlamentarisiert hat anstatt eine konstitutionelle Regierungsweise zu pflegen. Es stellt sich mithin die Frage, welche unterschiedlichen Bedingungslagen, Ereignisse oder etwa Anlehnungen an ausländische Mächte diese verschiedenen Entwicklungen hervorgerufen haben. Anders formuliert: Wie kommt es bei vergleichbaren verfassungsgeschichtlichen Entwicklungen zu solchen nicht unerheblichen Besonderheiten? Die Beantwortung derartiger Fragen könnte zum einen in Form eines individualisierenden Vergleichs die spezifische Entwicklung eines einzelnen europäischen Staatswesens verständlicher machen, und zwar gerade dann, wenn der zum Vergleich herangezogene Staat in Struktur und Entwicklung im allgemeinen große Ähnlichkeiten aufweist. Das ist ja der eigentliche Sinn eines "most similar systems"-Vergleich. Es vermag aber eine hierauf zielende Analyse auch für eine europäische Verfassungsgeschichte generell von Nutzen zu sein, insofern wir durch sie die Ursachen genauer kennenlernen können, durch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in ihr produziert wurden.

III. "Föderalismus" und "Parlamentarismus" als Problem deutscher und italienischer Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert "Föderalismus" und "Parlamentarismus" sind zwei Beispiele, in denen sich die deutsche und die italienische Verfassungsgeschichte seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts signifikant unterscheiden. Dies trotz einer durchaus ähnlichen Entwicklung, die in beiden Ländern beides möglich erscheinen ließ, trotzdem aber zu offenbar nicht nur nebensächlichen, sondern verfassungsstrukturellen Unterschieden mit erheblichen Auswirkungen geführt hat. Woran liegt das? Sind es gleichsam nur "zufällige"

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Gründe, die die Verfassungsgeschichte beider Länder haben gabeln lassen 25 ? Auch das wäre ja eine verfassungsgeschichtlich interessante Feststellung, und es muß ja nicht alles gleich tiefer angelegte "sozio-ökonomische" Ursachen haben. Oder darf man sich mit einer Reihe schnell aufgezählter "Ursachen" nicht zufrieden geben, die etwa lauten: In Italien kam es nicht zu einer föderativen Ordnung, - weil ein großer und wichtiger Teil des Landes, Mailand und Venetien, von Österreich besetzt war, und keinen eigenen Staat mit eigenem politischen Gewicht bildete, - weil die Einigung durch einen im weiteren gleichsam internen Krieg innerhalb Italiens in spannungsreicher Auseinandersetzung zwischen Garibaldis Freischärlern und der königlich-piemontesischen Armee zustande kam, - weil der Papst als denkbares föderatives Oberhaupt "ausfiel,,26, - weil mit Piemont sich eine modeme, zentralistisch orientierte Bürokratie durchsetzte 27 . - weil es etwa eine, einen süditalienischen Staat tragende politische Schicht nicht gab, dagegen aber eine Art Klassenbündnis zwischen norditalienischem Bürgertum und süditalienischem Großgrundbesitz 28 . In Deutschland dagegen ging es (mit Ausnahme Holsteins) nicht darum, daß Preußen Österreich größere deutsche Gebiete abzunehmen hatte. Zwar gab es nicht nur eine piemontesische, sondern auch eine preußische Annexionspolitik - 1866 - mit interessanten Unterschieden, nämlich ohne "ple25 Unter "zufalligen" Gründen verstehe ich solche, die aus disparaten Entwicklungssträngen zusammenlaufen und auf diese Weise ein höchst singuläres Syndrom ergeben - im Gegensatz zu einfachen, klaren und dementsprechend vorhersehbaren Entwicklungen. ,,zufalligkeit" in diesem Sinne spielt auch dort eine Rolle, wo sich gegenläufige Tendenzen in ihrer Wirkung aufzuheben drohen, wie z. B. die konservativ-autoritären und liberal-demokratischen im Preußen der Neuen Ära. Dort bestimmte ein singuläres Ereignis, die Ernennung Bismarcks zum Ministerpräsidenten, die weitere Entwicklung. Vgl. dazu die Ausführungen in meiner Verfassungsgeschichte (Fn. 19), S. 112. Allgemein dazu Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, BasellStuttgart 1977, bes. S. 35 ff., 54 ff. 26 Zur gescheiterten "neoguelfischen" Politik Napoleons III. noch nach 1859 vgl. Lill (Fn. 15), S. 168, 171. 27 Zur Verbreitung des französisch-piemontesischen Präfekturwesens über ganz Italien vgl. Ullrich (Fn. 9), S. 149 und die dort in Anm. 60 erwähnte Literatur. Bemerkenswerter Weise ist der dies System durchsetzende Nachfolger Cavours, Ricasoli, ursprünglich föderalistisch eingestellt gewesen, s. Lill (Fn. 15), S. 183. 28 Zu dieser, sich schon in der Politik Garibaldis abzeichnenden, dann aber in Frontstellung zu ihm erfolgenden Entwicklung s. Lill (Fn. 15), S. 176ff.

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biszitäre Legitimation,,29, aber Österreich und Frankreich waren stark genug, Preußen zur Rücksichtnahme wenigstens auf die süddeutschen Staaten zu nötigen. Es fand im weiteren ein gemeinsamer Kampf der deutschen Staaten gegen Frankreich statt. Kein interner Krieg besiegelte 1870/71 die nationale Einigung. Und schließlich: Preußens Vormachtinteresse war auch ohne weitere Annexionen gerade über die deutsche Art des Föderalismus, wie wir sie im Kaiserreich finden, zu befriedigen 3o . Das mag manches erklären. Immerhin müßte man dann wohl auch noch etwas weiter fragen, nämlich: Warum sich in dem einen Staat der Föderalismus bzw. der Einheitsstaat hielt und es über eine, möglicherweise nur situationell begründete Gabelung der Verfassungsentwicklung nicht doch wieder zu einer größeren Gemeinsamkeit kam. Vielleicht hatte die deutsche Entwicklung - das mag überraschend klingen - stärker retardierende Momente als die italienische. Auf den Föderalismus angewandt: Auch er schwächt sich in Deutschland sukzessive ab. Das läßt sich schon im Kaiserreich beobachten, spielt dann vor allem in der Weimarer Republik eine Rolle und führt 1933/34 zu seinem völligen Abbau 31 . Der Trend zum Einheitsstaat scheint vorgegeben. Das ändert sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht nur für Deutschland, sondern in Ansätzen wohl auch für ltalien 32 • Die Vorstellung, daß es in Deutschland besondere retardierende Momente in der Verfassungsgeschichte gegeben hat, wird dadurch erhärtet, 29 Zur "plebiszitären Legitimation" der piemontesischen Annexionspolitik s. Lill (Fn. 15), S. 178f. Zu den preußischen Annexionen 1867 und den weitergehenden liberaldemokratischen Forderungen Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3: Bismarck und das Reich, Stuttgart 1963, S. 577 ff., 655 f. 30 s. dazu Oswald Hauser (Hrsg.), Zur Problematik "Preußen und das Reich", Köln/Wien 1984. 31 Vgl. dazu die Hinweise in meiner "Deutschen Verfassungsgeschichte" (Fn. 19), S. 192f., 230ff., 26lf., 285. An einer zufriedenstelIenden monographischen Untersuchung der Entwicklung des Föderalismus in Deutschland fehlt es ebenso wie an einer zusammenfassenden Darstellung der föderativen Strömungen in Italien. 32 Für Deutschland vgl. Boldt (Frr. 19), S. 315 ff. u. passim; s. auch Konrad Hesse, Der unitarische Bundesstaat, Karlsruhe 1962. Für Italien mit Bezug auf Art. 114ff. der Verfassung von 1948 Carmine Chiellino, Italien. Geschichte, Staat und Verwaltung, Bd. 1, München 1987, S. 165ff. Siehe auch Valerio Onida, Föderalismus und Regionalismus in Europa. Landesbericht Italien, in: Fritz Ossenbühl (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa, Baden-Baden 1990, S. 239 261. Ein in seiner antiparlamentarischen Stoßrichtung funktionales Äquivalent zum deutschen Föderalismus im Kaiserreich (vgl. noch 1917 Erich Kaufmann, Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung, jetzt in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1., Göttingen 1960, S. 143 - 223) stellte in Italien seit den 80er Jahren die Idee einer dem deutschen Verwaltungsrecht, insbesondere den Vorstellungen Rudolf von Gneists, entlehnten "Selbstverwaltung" dar: vgl. dazu insbesondere Marco Minghetti, I partiti e la loro ingerenza nella giustizia e nelle amministrazione, Bologna 1881.

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daß wir beim Phänomen der Parlamentarisierung ähnliche Beobachtungen machen können. Sowohl für Italien als auch für Deutschland muß man dabei bekanntlich vor die nationale Einigung zurückgehen und die Situation in Piemont bzw. in Preußen betrachten. Hier haben wir nach 1848 in Piemont die besondere Situation eines "Ministerparlamentarismus" im Rahmen des Statuto Albertino, der gemanagt wird durch Cavours "Connubio" der linken und rechten Mitte33 . Im Gegensatz dazu Bismarcks Situation im Preußischen Verfassungskonflikt, in der eine solche parteipolitische an sich nahe liegende Einigung der linken und rechten Kräfte der Mitte nicht möglich war. Aber warum eigentlich nicht? Bismarck mußte im Verfassungskonflikt ohne diese Verbindung auskommen, doch war er wohl nicht eigentlich "schuld" daran, daß sie nicht zustande kam. War es die Intransingenz des Königs? Oder waren es Gründe, die in der politischen und sozialen Struktur Preußens zu suchen sind und daher auf einen signifikanten Unterschied zwischen den beiden Führungsstaaten Piemont und Preußen hinweisen? Muß man hier die preußischen Konservativen, den ostelbischen Adel, ins Spiel bringen, um die andersartige Situation zu erklären, die schließlich auch im Deutschen Reich eine theoretisch denkbare Parlamentarisierung verhindert hae 4 ? Und auch hier stellt sich nicht nur die Frage: Wie kommt es zur Parlamentarisierung bzw. nicht? Sondern: Wieso hält sich die Parlamentarisierung in Italien bzw. der Konstitutionalismus in Deutschland so lange Zeit? Das Andauern des parlamentarischen Systems in Italien ist ja keine Selbstverständlichkeit. Es gibt bekanntlich große Schwierigkeiten. Es gibt ein Regieren mit wechselnden Mehrheiten, aber eben doch offensichtlich trotz aller zum Teil vehementen Kritik, trotz des Rufs: "Torniamo allo Statuto,,35 - innerhalb eines parlamentarischen und nicht eines konstitutionellen Systemarrangements wie in Deutschland. Italien besaß kein parlamentarisches "Westminstersystem", besitzt es bis heute nicht. Es bleibt aber "parlamens. dazu Ullrich (Fn. 9), S. 144. Vgl. dazu die weiterführenden, grundSätzlichen Überlegungen von Wolfgang J. Mommsen. Das deutsche Kaiserreich als System umgangener Entscheidungen sowie ders., Die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 als dilatorischer Formelkompromiß, in: ders., Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur im deutschen Kaiserreich, Frankfurt am Main 1990, S. 19ff., 39ff. 35 So der Titel des anonym mit "Un Deputato" unterzeichneten Artikels von Sonnino in der Nuova Antologia 151, 1897. S. 9ff. Zur politischen Situation im Italien des "trasformismo" und zur Rezeption deutscher konstitutioneller Vorstellungen in jener Zeit vgl. Otto Weiß. Staat, Regierung und Parlament im Norddeutschen Bund und im Kaiserreich im Urteil der Italiener (1866 - 1914), in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, hrsg. vom Deutschen Historischen Institut in Rom, Bd. 66, 1986, S. 311 ff., sowie Hartmut Ullrich, Die italienischen Liberalen und die Probleme der Demokratisierung, in: Geschichte und Gesellschaft 4, 1978, S. 49 ff. 33

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tarisch", obwohl es über eine starke, national geachtete Monarchie verfügt wie die deutsche und dies im Gegensatz zu Frankreich, wo die Einführung und Durchsetzung eines ähnlichen parlamentarischen Systems in der III. Republik offenbar gerade mit dem Ausfall der Monarchie und der Republikanisierung des Staates zusammenhängt36 . Als Erklärung bietet sich natürli