Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150-1550: Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft 9783412218287, 9783412223588

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Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150-1550: Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft
 9783412218287, 9783412223588

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Eberhard Isenmann

DIE DEUTSCHE STADT IM MITTELALTER 1150–1550 Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft

2., durchgesehene Au age

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliogra sche Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliogra e; detaillierte bibliogra sche Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildungen: Ansichten der Städte Lübeck und Nürnberg. Holzschnitte. Aus: Hartmann Schedel, Liber chronicarum (Weltchronik), Nürnberg (Anton Koberger) 1493. Ansicht der Stadt Köln. Holzschnitt. Anton Woensam 1531. Bildnachweise: Lübeck: ©akg-images; Köln und Nürnberg: Archiv des Verlages.

1. Au age 2012 2. Au age 2014

©2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22358-8

Inhaltsübersicht

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Vorwort zur 2. Au age . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1 Die Stadt und ihre Bewohner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2 Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 3 Bischofsstädte, Freie Städte, Reichsstädte – Landstädte (Territorialstädte) – grundherrschaftliche Städte – Städtebünde . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 4 Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen Rat und Gemeinde – Organisation der Ratsregierung – Gefahrenabwehr und gute Ordnung – Gerichtsbarkeit – Finanzen – Bildungs- und Fürsorgeeinrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 5 Stadt und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 6 Die Stadt und ihr Umland – Städtelandschaften und Städtenetze . . . . . . 670 7 Sozialstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 690 8 Sozialformen und Sozialgruppen Familie, Verwandtschaft und Haus – Gilden, Gesellschaften und Zünfte . . 776 9 Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . 853 10 Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1004 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1101

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort zur 2. Au age . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Die Stadt und ihre Bewohner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Das Erscheinungsbild der mittelalterlichen Stadt . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Was ist eine Stadt? Kriterien einer Stadtde nition – Idealtypus und Modell der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Probleme einer Stadtde nition: Mauer und Markt . . . . . . . . . . 1.2.2 Verschiedene Stadtbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2.1 Wirtschaftlicher Stadtbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2.2 Modale De nitionen: Differenzierung, Steigerung und qualitativer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2.3 Sozialer Stadtbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2.4 Max Webers Idealtypus der Stadt und Städtetypologie: Wirtschaftlicher, politisch-administrativer und sozialer Stadtbegriff – Stadtgemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2.5 De nitionen und »Kriterienbündel« . . . . . . . . . . . . 1.2.2.6 Spätmittelalterliche De nitionen und Wesensbestimmungen der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Periodisierung des Städtewesens und Typen der Städtebildung . . . . . . . . 1.3.1 Epochen des europäischen Städtewesens . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Typenschichten der Städtebildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Wirtschaftlich-soziale Städtetypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Die Stadtbevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Größenordnungen der Stadt und ihrer Bevölkerung . . . . . . . . . . 1.4.2 Demogra e der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2.1 Natürliche Bedingungen: Geburtlichkeit und Sterbeziffern . 1.4.2.2 Hygiene und Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2.2.1 Lebensbedingungen und hygienische Verhältnisse . 1.4.2.2.2 Heilkunst und Krankheiten . . . . . . . . . . . . 1.4.2.3 Krieg, Hunger und Pest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2.4 Die Große Pest von 1348/50 und die periodischen Pestzüge . 1.4.2.4.1 Ausbreitung der Pest und demogra sche Verluste . 1.4.2.4.2 Ätiologie, Krankheitsbild und Krankheitsverlauf . 1.4.2.4.3 Maßnahmen gegen die Pest und zeitgenössische Erklärungen der Seuche . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2.4.4 Reaktionen der Menschen . . . . . . . . . . . . . 1.4.2.4.5 Demogra sch-wirtschaftliche Folgen der Pest . . . 1.4.2.5 Wanderungsbewegungen (Migration) . . . . . . . . . . . . 1.5 Stadtgestalt (Grundriss, Aufriss, Umriss) und Topogra e . . . . . . . . . . . 1.5.1 Das Modell der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.5.1.1 Siedlungskerne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1.2 Gründungsstädte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1.3 Siedlungsareal und Befestigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1.4 Vorstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1.5 Gemarkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1.6 Altstadt und Neustadt – Topogra e . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Grundriss und Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3 Kommunales Bauwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4 Stadtmauer, Häuser und einzelne Bauwerke . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.1 Die Stadtbefestigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.1.1 Mauern, Tore und Graben . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.1.2 Die Landwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.2 Die Behausungen des Städters . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.2.1 Typisierung des Hauses und Raumgefüge . . . . . . . 1.5.4.2.2 Holz- und Fachwerkbauten . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.2.3 Steinbauten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.2.4 Stockwerkseigen, Mietshäuser und Buden . . . . . . . 1.5.4.3 Das Rathaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.4 Kaufhaus und Marktbauten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.5 Das Spital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.6 Weitere Bauten von Kommune, Korporationen und Privatpersonen 1.5.4.6.1 Mühlen, Krane und Siedehäuser . . . . . . . . . . . 1.5.4.6.2 Brücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.6.3 Gilde- und Zunfthäuser . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.6.4 Badestuben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.6.5 Bäche, Brunnen und Abwasser . . . . . . . . . . . . 1.5.4.6.6 Gassen und Straßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.7 Kirchenbauten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.7.1 Kathedral-, Stifts- und Pfarrkirchen . . . . . . . . . . 1.5.4.7.2 Bettelordenskirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.7.3 Kirch- und Friedhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.7.4 Die profane Nutzung von Kirche und Kirchhof . . . . 1.5.5 Die Topogra e der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.5.1 Wirtschaftstopogra e . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.5.1.1 Gewerbliche Standorte – Gewerberechts- und Umweltprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.5.1.2 Der Markt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.5.1.3 Hafenanlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.5.2 Sozialtopogra e . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Stadtbürger und Stadtbewohner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Bürgerbegriff und Bürgerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.1 Der Begriff des Bürgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.2 Die ursprüngliche Bedeutung des Haus- und Grundbesitzes . . . 2.1.1.3 Voraussetzungen und Bedingungen für die Aufnahme in das Bürgerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.4 Formen eines geminderten Bürgerrechts und bürgerrechtliche Sondervereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

2.2 2.3

2.4

2.5

2.1.1.5 Bürgerrechtspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.6 Die Aufgabe des Bürgerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 P ichten des Bürgers – Rechte des Bürgers und Leistungen der Stadt . . . 2.1.2.1 Bürgereid und Bürgerp ichten . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2.2 Rechte des Bürgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2.3 Leistungen der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Einwohner und Beisassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Sondergruppen im Bürgerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4.1 Pfahlbürger und Ausbürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4.2 Geistliche Korporationen und Kleriker . . . . . . . . . . . . . 2.1.4.3 Die Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.5 Gäste und Fremde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der städtische Friede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Städtische Freiheit und Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Unfreiheit und Zensualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Personen- und güterrechtliche Freiheit – Privatrecht . . . . . . . . . . . . 2.3.3 »Stadtluft macht frei« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Rechtliche Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Stadtrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Stadtherrliche Privilegien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1.1 Städtepolitik und Privilegienerteilung . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1.2 Große Privilegien Friedrichs II. . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1.3 Einzelne Privilegieninhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1.4 Typen der Privilegienmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1.5 Verschiedene Privilegiengeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1.6 Die Geltungsdauer und Sicherung städtischer Privilegien . . . . 2.4.2 Kommunale Rechtsetzung: Willkür- und Satzungsrecht . . . . . . . . . . 2.4.3 Stadtrechtsfamilien und Oberhöfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.4 Justizgewährungs- und Burgrechtsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.5 Stadtrechtsaufzeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.6 Stadtrechtsreformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.7 Rechtsdenken und einzelne Rechtsmaterien . . . . . . . . . . . . . . . . Die Stadtverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Stadtgemeinde und Stadtverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1.1 Entstehungstheorien der Gemeindebildung . . . . . . . . . . . 2.5.1.2 Der Bürgerverband als Schwur- und Eidgenossenschaft (coniuratio) 2.5.1.3 Die Stadt als Körperschaft (universitas) . . . . . . . . . . . . . 2.5.1.4 Spätmittelalterliche Gemeindekonzeptionen . . . . . . . . . . . 2.5.2 Die Ausbreitung der Ratsverfassung (Konsulat) und des Bürgermeisteramtes 2.5.2.1 Stadtherrschaft und Ratsentstehung: consiliarii und consules . . . 2.5.2.2 Stadt und Ministerialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2.3 Die Entstehung bürgerschaftlicher Räte und ihrer Befugnisse . . 2.5.2.4 Ausbreitung der Ratsverfassung und stadtherrliche Widerstände . 2.5.2.5 Die Durchsetzung und Etablierung des bürgerschaftlichen Rats . 2.5.2.6 Das Bürgermeisteramt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3 Spätmittelalterliche Verfassungsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.5.3.1 Übergeordnete Wertvorstellungen und die politische Ordnung der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3.2 Ungeschriebene Verfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3.3 Städtische Verfassungsurkunden . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3.4 Die Verteilung und Bündelung der Gewalten . . . . . . . . . . 2.5.3.5 Auf dem Wege zur Konstitution: Der Kölner Verbundbrief von 1396 und der Trans xbrief von 1513 . . . . . . . . . . . . 2.5.3.5.1 Der Verbundbrief von 1396 . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3.5.2 Die Kölner Bürgerfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3.5.3 Die Verfassung mit Bürgerfreiheiten: Der Trans xbrief von 1513 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3.6 Die Bestandsdauer städtischer Verfassungen . . . . . . . . . . . 2.5.4 Herrschafts- und Regierungsformen: Aristokratie und Oligarchie – Politie und Demokratie – gemischte Verfassung . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Verfassungs- und Zunftkämpfe, Bürgeropposition und Unruhen . . . . . . . . . 2.6.1 »Zunftkämpfe« oder »Bürgerkämpfe«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.2 Zunft- und Verfassungskämpfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.3 Der »revolutionäre« Charakter der Zunftkämpfe . . . . . . . . . . . . . 2.6.4 Politische und ideologische Positionen von Zünften und Patriziat . . . . . 2.6.4.1 Die propagierten Vorzüge des Zunftregiments und der Zunftrepublikanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.4.2 Der patrizisch-aristokratische Herrschaftsanspruch . . . . . . . 2.6.5 Die Dynamik der Ereignisse und die bewirkten Veränderungen . . . . . . 2.6.6 Wirtschaftlich-soziale und politische Erklärungsmomente . . . . . . . . . 2.6.7 Stadtherrliche Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.8 Unruhen in Hansestädten – Hansische Verfassungssolidarität . . . . . . . 2.6.9 Ungleichheiten und politische Spannungen innerhalb der Zünfte . . . . . 3 Bischofsstädte, Freie Städte, Reichsstädte – Landstädte (Territorialstädte) – grundherrschaftliche Städte – Städtebünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Stadtherrschaft, Stadttypus und politische Autonomie . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Städtetypen und ihre Bezeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Autonomie und Autokephalie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Bischofsstädte und Freie Städte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Bischofsstädte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Freie Städte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Von der Bischofsstadt zur Freien Stadt . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.2 Der Begriff der ›Freien Stadt‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Städte geistlicher Korporationen: Abtei- oder Klosterstädte und Stiftsstädte . . . . 3.4 Reichsstädte – Freie- und Reichsstädte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Die Reichsstädte: Königliche Stadtherrschaft und Reichsunmittelbarkeit . 3.4.1.1 Königliche Vogtei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.2 Königliche Stadtherrschaft, Reichszugehörigkeit und Reichsunmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Verpfändung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Reichsstädtische Autonomie und Selbstregierung . . . . . . . . . . . . . 3.4.4 Beziehungen zwischen dem König und einzelnen Reichsstädten und Freien Städten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.5 Der Besuch von Hof- und Reichstagen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.5 Landstädte (Territorialstädte) und grundherrschaftliche Städte . . . . . . . . . . 3.6 Städtebünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.1 Gründe, Ziele und Formen städtischer Bündnisbeziehungen und Einungen 3.6.2 Die Anfänge der städtischen Bünde und Einungen . . . . . . . . . . . . 3.6.3 Der Rheinische Bund (1254–1256) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.4 Die Schwäbischen Städtebünde des 14. und 15. Jahrhunderts, der Rheinisch-Schwäbische Städtebund (1381–1389) und der Schwäbische Bund (1488–1534) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen Rat und Gemeinde – Organisation der Ratsregierung – Gefahrenabwehr und gute Ordnung – Gerichtsbarkeit – Finanzen – Bildungs- und Fürsorgeeinrichtungen . . 4.1 Rat und Ratsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Die herrschaftliche und obrigkeitliche Stellung des Rats . . . . . . . . . . 4.1.1.1 Die Begründung und Legitimation der Ratsgewalt . . . . . . . 4.1.1.2 Gebundene Herrschaft im Auftrag, Gemeinwohl und obrigkeitliche Ratsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.3 Ratssolidarität und Sonderstellung Einzelner . . . . . . . . . . 4.1.1.4 Ratsobrigkeit und ratsherrliches Gottesgnadentum . . . . . . . 4.1.1.5 Der Gehorsamsanspruch des Rats – Opposition und Widerstand 4.1.1.6 Bürgerschaftlicher Konsens und obrigkeitliche Autokratie . . . . 4.1.2 Die Struktur der Ratsgremien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2.1 Die Zahl der Ratssitze in Kleinen Räten und Großen Räten . . . 4.1.2.2 Politisch-soziale Zusammensetzung und Mehrheitsverhältnisse . 4.1.2.3 Mehrschichtige Ratsgremien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Ratswahlen und Amtsdauer der Ratsherren . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.1 Voraussetzungen der Wählbarkeit und Amtsverlust . . . . . . . 4.1.3.2 Wahlmodi und Wahlvorgänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.3 Bestätigungs- und Ergänzungswahlen . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.4 Der politische Charakter der Wahlen . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Etablierung und Organisation der Ratsherrschaft . . . . . . . . . . . . . 4.1.4.1 Die Ratsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4.2 Der Ratseid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4.3 Das Mehrheitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4.4 Geheime Räte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4.5 Informelle Ratskreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Rat und Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Bürgerschaftliche Partizipation: Großer Rat, Gemeinde- und- Bürgerversammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Bürgerschaftsausschüsse und Zunftkollegien . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Ratsverfassung und Organisation der Ratsregierung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Ratsämter und Ratskommissionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Tätigkeitsbereiche und Arbeitsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Arbeitsbelastung und Abkömmlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Aufwandsentschädigungen, Honorierungen und Amtsbesoldung . . . . . 4.3.5 Ratsordnungen, Ratsliteratur und politisch-rechtliche Ikonogra e . . . . 4.3.5.1 Ratsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5.2 Regierungslehren und Ratsspiegel . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5.3 Politisch-rechtliche Ikonogra e . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.3.6 Ratselite oder Ratsoligarchie? Der verfassungsrechtliche, soziale und politische Charakter von Ratsregimen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.6.1 Oppositionelle Bewegungen, Unruhen und Aufstände . . . . . . 4.3.7 Zwischenstädtische Kommunikation über Verfassung, Regierungspraxis, Recht und Polizeigesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.7.1 Einzelne Anfragen und informative Rundreisen . . . . . . . . . 4.3.7.2 Das Interesse an der Nürnberger Verfassung und Regierungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Städtische Dienstämter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Ratsschreiber (Stadtschreiber) und Kanzlei . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Ratsjuristen (Stadtjuristen), Syndici und Prokuratoren . . . . . . . . . . 4.4.3 Weitere Dienstämter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schriftwesen und Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Das Schriftwesen: Kanzlei und Schriftgut . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2 Städtische Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2.1 Gedenkbücher und Jahrbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2.2 Chroniken und Annalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgaben und Befugnisse des Stadtregiments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.1 Regiment und Policey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.2 Friedensschutz im Innern und nach außen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.2.1 Der innere Friede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.2.2 Stadtverteidigung und Kriegswesen . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.2.3 Fehde und Landfrieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.3 Öffentliche Ordnung und Policey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.3.1 Wirtschaftsverwaltung: Überwachung von Marktordnung und Handelsverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.3.2 Kommunales Baurecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.3.3 Gefahrenabwehr und Fürsorge – Sozialregulierung und Sozialdisziplinierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.3.3.1 Öffentliche Ordnung: Straße und Sauberkeit . . . . . 4.6.3.3.2 Lebensmittelpolizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.3.3.3 Aufwands- und Luxusgesetzgebung . . . . . . . . . . 4.6.3.3.4 Verhaltensnormen und Verbote . . . . . . . . . . . . 4.6.3.3.5 Prostitution und Frauenhaus . . . . . . . . . . . . . 4.6.3.3.6 Gesetzespublikation und Durchsetzung des Ordnungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Städtische Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.1 Die Exemtion der Bürger von fremden Gerichten . . . . . . . . . . . . . 4.7.2 Vielfalt der Instanzen – Stadtgericht und Ratsgerichtsbarkeit . . . . . . . 4.7.3 Rechtsp ege und Rechtshilfe des Rates . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.3.1 Ratsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.3.2 Freiwillige Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.3.3 Rechtshilfe des Rates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.4 Das Stadtgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.4.1 Gerichtsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.4.2 Urteiler, Verfahren und Rechtskultur . . . . . . . . . . . . . . 4.7.4.3 Niedergerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.4.4 Hoch- und Blutgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.7.5 Verbrechensbekämpfung und Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.5.1 Raubzüge, landschädliche Leute und Kriminalität . . . . . . . . 4.7.5.2 Handhafte Tat, Übersiebnungs- und Leumundsverfahren . . . . 4.7.5.3 Akkusations- und Inquisitionsprozess . . . . . . . . . . . . . . 4.7.6 Strafrecht und Strafrechtspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.6.1 Kompositionen und Sühne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.6.2 Peinliches Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.6.3 Strafrechtspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.7 Materielles Strafrecht und Strafvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.7.1 Strafen an Leib und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.7.2 Schandstrafen und Freiheitsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.7.3 Stadtverweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.7.4 Richten nach Gnade und Gnadenbitten – Rigorosität des Strafens 4.8 Die städtischen Finanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.1 Haushalts- und Rechnungswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.2 Einnahmen und Ausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.2.1 Die Einnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.2.2 Die Ausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.3 Steuern und Abgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.3.1 Die Entstehung der kommunalen Besteuerung und Abgabenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.3.1.1 Stadtherrliche Steuerforderungen, städtische Solidarabgaben und kommunale Finanzautonomie . . . . . . 4.8.3.1.2 Besteuerungsrecht, Steuertheorie und zwischenstädtische Kommunikation in Steuerfragen . . . . . . 4.8.3.1.3 Indirekte und direkte Steuern . . . . . . . . . . . . . 4.8.3.2 Steuerordnungen: Steuerarten, Steuerformen und Tarife . . . . . 4.8.3.3 Sondervereinbarungen über Abgaben . . . . . . . . . . . . . . 4.8.3.4 Spezielle Kriegssteuern, Steuern zur Entschuldung und für Baumaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.4 Veranlagung und Deklaration, Steuereid und Steuerstrafrecht . . . . . . . 4.8.4.1 Steuerp icht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.4.2 Veranlagung und Deklaration . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.4.3 Steuerstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.5 Das Schuldenwesen – Die öffentliche Schuld . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.5.1 Kreditbedürfnis, Kreditpolitik und Verschuldung . . . . . . . . 4.8.5.2 Kommunaler Rentenverkauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.5.2.1 Rententypen und Kreditumfang . . . . . . . . . . . 4.8.5.2.2 Rentengläubiger und Rentenmarkt . . . . . . . . . . 4.8.5.2.3 Umschuldung und Rentenkonversionen . . . . . . . 4.8.5.3 Kommunale Überschuldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.6 Finanzwirtschaft und Haushaltspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.7 Finanzverwaltung und Rechnungswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9 Schule und Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9.1 Das Schulwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9.1.1 Kirchliche Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9.1.2 Pfarrschulen – Schulstreitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9.1.3 Schulbetrieb und Unterrichtsreformen von Lateinschulen . . . .

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4.9.1.4 Deutsche Schreib- und Rechenschulen . . . . . . . . . . . . . 4.9.1.5 Alphabetisierung und Literalisierung . . . . . . . . . . . . . . 4.9.2 Kommunale Universitäten – Stadt und Universität . . . . . . . . . . . . 4.9.2.1 Kommunale Universitätsgründungen . . . . . . . . . . . . . . 4.9.2.2 Landesherrliche Universitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9.3 Papst, Landesherr und Stadtrat und die Universität . . . . . . . . . . . . 4.9.4 Motivationen und Erwartungen bei Universitätsgründungen . . . . . . . 4.9.5 Fakultäten, Dozenten und Studenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9.6 Stadt und Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9.7 Schulenstreit: Via antiqua und via moderna – Humanismus . . . . . . . . 4.10 Das Fürsorgewesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.10.1 Das Spital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.10.1.1 Spitalgründungen und die Kommunalisierung des Spitals . . . . 4.10.1.2 Die Belegung des Spitals und seine Ordnung: Arme und Pfründner 4.10.1.3 Der Eintritt in das Spital und die geistliche Betreuung . . . . . 4.10.1.4 Die geordnete Lebenswelt des Leprosenspitals . . . . . . . . . . 4.10.1.5 Grundbesitz und Kapitalvermögen des Spitals . . . . . . . . . . 4.10.1.6 Die P egschaft des Rats – Verwaltung und Bewirtschaftung des Spitals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.10.1.7 Kritik am Spitalbetrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.10.2 Almosen und Bettel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.10.2.1 Caritas und Sozialfürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.10.2.2 Städtische Bettelverbote und Bettelordnungen – Die Nürnberger Bettelordnungen von 1370 und 1478 und die Almosenordnung von 1522 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.10.2.3 Die Augsburger und Straßburger Bettel- und Almosenordnungen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . 4.10.2.4 Die Straßburger Armen- und Almosenenquête von 1531 . . . . 4.10.2.5 Grundzüge der Armenfürsorge im ausgehenden Mittelalter . . . 5 Stadt und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Sonderung, Ver echtung und Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Stadtregiment und Laien im kirchlichen Raum . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Christliche Obrigkeit, Kommunalisierung kirchlicher Zuständigkeiten und ratsherrliches Kirchenregiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Dienste von Klerikern für die Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.4 Einwirkungen des Klerus auf das Stadtregiment . . . . . . . . . . . . . . 5.1.5 Die Zuständigkeit der geistlichen Gerichte gegenüber Laien . . . . . . . . 5.1.6 Die Nutzung geistlicher Gerichte durch Laien . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.7 Geistliche Zwangsmittel gegen Laien: Kirchenbann und Interdikt . . . . . 5.2 Die Sonderstellung von Klerus und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Privilegium immunitatis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.1 Geistlicher Grundbesitz und Steuerfreiheit . . . . . . . . . . . 5.2.1.2 Städtische Amortisationsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.3 Einkünfte und Erwerbswirtschaft des Klerus . . . . . . . . . . . 5.2.2 Privilegium fori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Privilegium canonis und privilegium competentiae . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Kirchenasyl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5.3 Stadt, kirchliche Institutionen und Orden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Geistliche Korporationen und Klerus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Bürger und geistliche Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Pfarrei (Niederkirchenwesen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.1 Pfarrorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.2 Der Pfarrklerus und seine Einkünfte . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.3 Patronatsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.4 Pfarrerwahl und Kirchenp egschaft . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.5 Prädikaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.6 Klerikervereinigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Bettelorden (Mendikanten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4.1 Ansiedlung in der Stadt und Zuwendung durch Rat und Bürger 5.3.4.2 Einkünfte und Vermögensverwaltung . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4.3 Leistungen für die Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4.4 Konkurrierende Seelsorge und Kon ikte mit dem Weltklerus . . 5.3.4.5 Spaltungserscheinungen: Observanten und Konventualen . . . . 5.3.4.6 Kritik an den Orden – Spannungen zwischen Stadt und Orden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.5 Zweit- und Drittorden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Semireligiose: Beginen und Begarden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Lebensformen der Beginen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Zwischen Förderung und Verfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Kon ikte und Prozesse zwischen Geistlichkeit und Stadt . . . . . . . . . . . . . 5.5.1 Lübeck (1277–1317) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.2 Hamburg (Mitte 14. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.3 ›Pfaffenkriege‹ und andere Auseinandersetzungen im 15. Jahrhundert . . . 5.6 Kritik an Kirche und Klerus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.1 Grundzüge der Gravamina gegen Kirche und Klerus . . . . . . . . . . . 5.6.2 Kritik am Erscheinungsbild des Klerus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.3 Auswirkungen der Lage der Kirche: Päpstliche Universalherrschaft – Großes abendländisches Schisma (1378‒1417) – Reformkonzilien (1414‒1449) – Gravamina der deutschen Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Manifestationen stadtbürgerlicher Frömmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.1 Seelgeräte und Stiftungen für fromme Zwecke . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.2 Religiöse Bruderschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.3 Heilige und Reliquien – Wallfahrten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.4 Kirchliche Feste und Prozessionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.5 Visuelle und kontemplative Frömmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.6 Zusammenfassung: Erscheinungsformen praktizierter Frömmigkeit . . . . 5.8 Häretische und frühreformatorische Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.9 Grundzüge der Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.10 Erste Hexenverfolgungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Die Stadt und ihr Umland – Städtelandschaften und Städtenetze . . . . . . . . . . 6.1 Stadt-Land-Beziehungen und Zentralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Der politisch-administrative Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Der wirtschaftliche Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Der demogra sch-soziale Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6.1.4 Der kultisch-kirchliche und kulturelle Bereich . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.5 Städtelandschaften und Städtenetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Bürgerliche Grundherrschaft – Städtische Landgebietspolitik und Territorialherrschaft 6.2.1 Bürgerlicher und korporativer Grundbesitz . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Städtische Landgebietspolitik und Territorialherrschaft . . . . . . . . . . 6.2.3 Einzelne städtische Territorien und ihre Strukturmerkmale . . . . . . . . 7 Sozialstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 ›Reich‹ und ›Arm‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Kaufmann, Rentier und Handwerker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3 Bürger und Ritter – Ehrbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.4 Großhandel und handwerklicher Kleinhandel . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.5 Der Gesellschaftsaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.5.1 Mittelalterliche Gesellschaftskonzeptionen . . . . . . . . . . . . 7.1.5.2 Felix Fabris Soziologie der Stadt Ulm . . . . . . . . . . . . . . 7.1.5.3 Die Struktur der Nürnberger Gesellschaft . . . . . . . . . . . . 7.1.5.4 Die Stände und die Ordnung der Gesellschaft durch die Obrigkeit in Straßburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.5.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Schichten – Klassen – Stände – Sozialgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Soziale Schichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Sozialschichtung nach Steuervermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Vermögen und andere Lagemerkmale – soziale Mobilität . . . . . . . . . 7.2.4 Weitere Lagemerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Unterschichten und Arme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Die erwerbstätige Unterschicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Armut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2.1 Formen und Kategorien von Armut . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2.2 Die Almosenempfänger: Bettler und Hausarme . . . . . . . . . 7.4 Uneheliche, ›Unehrliche‹ und Randgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.1 Uneheliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.2 ›Unehrliche‹ Leute und Berufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.3 Die Sozialkategorie der Randgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Fluktuierende, unerwünschte, verdächtige und kriminelle Elemente . . . . . . . 7.6 Die jüdische Minderheit und Sondergemeinde – Judenfeindschaft und Pogrome . 7.6.1 Jüdische Gemeindebildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.2 Die prekäre Existenz der Juden zwischen Diskriminierung und Schutz . . 7.6.3 Die Kammerknechtschaft der Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.4 Verfolgungen und Pogrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.5 Die Beschuldigungen der Brunnenvergiftung und des Ritualmords . . . . 7.6.6 Vertreibungen und Ausweisungen der Juden im 15. Jahrhundert . . . . . 7.7 Das Patriziat – Die Ratsgeschlechter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7.1 Das Nürnberger Patriziat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7.1.1 Regierung und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7.1.2 Die Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7.1.3 Die Lebensgrundlage: Grundbesitz, Rentenbezug und Handel . 7.7.1.4 Zwischen Bürgertum und Adel . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7.7.2 7.7.3 7.7.4 7.7.5

Was heißt Patriziat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Selbstvergewisserung der Geschlechter: Familienbücher . . . . . . . . Besonderheiten einiger Patriziate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der soziale Aufstieg aus dem Zunftbürgertum in das Patriziat und die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7.6 Patriziat oder Führungsschicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Sozialformen und Sozialgruppen Familie, Verwandtschaft und Haus – Gilden, Gesellschaften und Zünfte . . . . . . 8.1 Familie, Verwandtschaft und Haus (Haushalt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.1 Formen der Familie und Verwandtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.2 Das ›ganze Haus‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.3 Ehe und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.3.1 Ehe, Eheschließung und Ehetrennung . . . . . . . . . . . . . . 8.1.3.2 Eheliches Güterrecht und Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.3.3 Hausherrliche Gewalt, Vormundschaft und rechtliche Stellung der Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.3.4 Hauswirtschaft und beru iche Erwerbstätigkeit der Frau . . . . 8.1.3.5 Kinder und Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.4 Die wirtschaftliche und politische Bedeutung von Familie und Verwandtschaft 8.1.5 Wanderung und zwischenstädtische Versippung . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Grundformen genossenschaftlicher Verbandsbildung: Eid, Einung, Bruderschaft, Gilde, Zunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Kaufmannsgilden, Fahrtgenossenschaften (Hansen), Geschlechter- und Trinkstubengesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1 Kaufmannsgilden und Fahrtgenossenschaften . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 Geschlechter- und Trinkstubengesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Handwerker- und Kleinhändlerzünfte – Politische Zünfte . . . . . . . . . . . . 8.4.1 Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.2 Zunftentstehungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.3 Die Herausbildung der Zunft und ihrer Organisationsform am Beispiel früher Basler Zünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.4 Gewerbliche Zünfte und politische Zünfte . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.5 Was ist eine Zunft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.6 Die Anzahl der gewerblichen und politischen Zünfte . . . . . . . . . . . 8.4.7 Die Bauform der Zunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.7.1 Die Bruderschaft der Zunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.7.2 Die Zunftstube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.7.3 Der Gewerbeverband und seine wirtschaftlichen Zwangsrechte . 8.4.8 Der Zugang zur Zunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.9 Frauen in der Zunft – Frauenzünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.10 Verfassung und Organisation der gewerblichen und politischen Zunft . . 8.4.10.1 Zunftversammlung, Zunftmeister und Zunftvorstand . . . . . . 8.4.10.2 Beschränkung der Autonomie und Unterordnung der Zunft . . 8.4.11 Stadt ohne Zünfte – Handwerk ohne Zunftbildung . . . . . . . . . . . . 8.4.11.1 Nürnberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.11.2 Die Zerschlagung der Zünfte in südwestdeutschen Städten 1548/50 8.4.12 Zwischenstädtische Zunftverbindungen und Handwerkerbünde . . . . .

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8.5 Handwerksgesellen und Gesellenverbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.1 Status und Lebensweise der Handwerksgesellen . . . . . . . . . . . . . . 8.5.2 Die Anzahl der Gesellen in Handwerksbetrieben und in der Stadt . . . . . 8.5.3 Mobilität und Migration von Handwerksgesellen und Handwerksmeistern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.4 Das Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.4.1 Verdingung und P ichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.4.2 Die Arbeitszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.4.3 Lohn und Lohnstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.5 Gesellenbewegungen und Gesellenvereinigungen . . . . . . . . . . . . . 8.5.5.1 Gründe für die Entstehung von Gesellenbewegungen . . . . . . 8.5.5.2 Formen von Gesellenvereinigungen . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.5.2.1 ›Geschenkte Handwerke‹ . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.5.2.2 Organisationsformen und Leistungen von Gesellenvereinigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.5.3 Lohn- und Arbeitskampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.5.3.1 Streik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.5.3.2 Boykott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.6 Disziplinierung und Reglementierung der Gesellen . . . . . . . . . . . . 8.5.6.1 Eingriffe von Meistern und Rat in die Gesellenvereinigungen . . 8.5.6.2 Knechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Das Handwerk unter den Bedingungen des Zunftwesens . . . . . . . . . . . . . 9.1.1 Die Produktionsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.2 Zünftige Produktionsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.2.1 Angleichung der Produktionsbedingungen . . . . . . . . . . . 9.1.2.2 Kartell- und Monopolfunktionen der Zünfte – handwerkliche Kartellbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.2.3 Waren die Zünfte innovationsfeindlich? . . . . . . . . . . . . . 9.2 Großgewerbliche Produktion und neue Produktionsbereiche . . . . . . . . . . . 9.2.1 Technische Innovationen und wirtschaftliche Strukturveränderungen . . . 9.2.1.1 Maschinenkraft – Technische Er ndungen und Innovationen . . 9.2.1.2 Energieversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.1.3 Buchdruck mit beweglichen Lettern und Buchverlag . . . . . . 9.2.1.4 Textilgewerbe: Barchent-, Leinen-, Tuch- und Seidenproduktion 9.2.1.5 Metallgewerbe und Montanwesen . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.1.6 Arbeitsteilung und Arbeitszerlegung – Dezentrale Produktion . . 9.2.2 Der Verlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Einzelhandel- und Kleinhandel (Krämer, Höker) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Groß- und Fernhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4.1 Der Kaufmann und seine Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4.2 Kaufmännisches Schriftwesen und Buchführung . . . . . . . . . . . . . 9.4.3 Handelstechniken und Geschäftspraktiken . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4.3.1 Information und Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4.3.2 Disposition in Einkauf und Verkauf . . . . . . . . . . . . . . . 9.4.4 Jahrmärkte und Messen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9.4.5 Hansen – Kommissionen – Gesellschaftshandel und Handelsgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4.5.1 Handelsformen und Handelspraktiken der Hanse – Hansischer Gesellschaftshandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4.5.2 Oberdeutsche Handelsgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . 9.4.5.2.1 Kapital und Arbeit, Niederlassungen . . . . . . . . . 9.4.5.2.2 Vertragsdauer, Personen, Kapital . . . . . . . . . . . 9.4.5.2.3 Inhaltliche Regelungen von Gesellschaftsverträgen . . 9.4.5.2.4 Die Große Ravensburger Handelsgesellschaft . . . . . 9.4.5.2.5 Die Familiengesellschaft der Fugger . . . . . . . . . . 9.4.5.2.6 Kapitalstärken und Gewinnraten von Handelsgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4.6 Der Aktionsradius des Fernhandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4.6.1 Kölner Handelsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4.6.2 Handelsbeziehungen und geschäftliche Aktivitäten oberdeutscher Kau eute, Gesellschaften und Firmen . . . . . . . . . . . . . . 9.5 Die Hanse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5.1 Der Begriff ›Hanse‹ und die Entstehung der hansischen Handelsgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5.2 Handelsrichtungen und Warensortimente . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5.3 Die Handelskontore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5.4 Hansische Niederlassungs- und Handelsprivilegien . . . . . . . . . . . . 9.5.5 Kaufmanns- und Städtehanse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5.6 Rechtsnatur und Organisationsformen der Hanse: Hansetage und Hansedrittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5.7 Angehörige der Hanse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5.8 Die Hanse als politische und militärische Macht . . . . . . . . . . . . . 9.5.9 Konkurrenten der Hanse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6 Kredit, Zahlungsverkehr und Rentengeschäft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6.1 Kreditnachfrage, Kreditformen und Zahlungsverkehr . . . . . . . . . . . 9.6.1.1 Die Kreditbedürftigkeit der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . 9.6.1.2 Kreditformen und Zahlungsverkehr . . . . . . . . . . . . . . . 9.6.1.2.1 Borgkauf und Lieferungsgeschäft . . . . . . . . . . . 9.6.1.2.2 Schuldschein, Wechselbrief und Kontokorrent . . . . 9.6.1.2.3 Kredite von Juden, Lombarden und Carwenzen . . . 9.6.1.2.4 Beziehungen zu italienischen Bank- und Handelshäusern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6.2 Formen und Bedeutung des Rentengeschäfts . . . . . . . . . . . . . . . 9.6.2.1 Die Rente und ihre Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6.2.2 Rententypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6.2.3 Rentenfuß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6.2.4 Rentenablösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6.2.5 Formen, Bedeutung und Funktionen des Rentengeschäfts . . . . 9.6.2.6 Der Rentenmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6.3 Gläubigerschutz und Vollstreckungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.7 Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.7.1 Kauf und Verkauf – Gerechter Preis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9.7.1.1 Vorkauf und Aufkauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.7.1.2 Unredlicher Kauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.7.1.3 Der gerechte Preis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.7.2 Wucher und Zinsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.7.2.1 Der Wucher und seine Sanktionierung . . . . . . . . . . . . . 9.7.2.2 Die Begründung des Zinsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . 9.7.2.3 Kirchliche Zinsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.7.2.4 Umgehung des Zinsverbots und Zinstitel . . . . . . . . . . . . 9.7.2.5 Kommunale Wucher- und Zinsverbote . . . . . . . . . . . . . 9.7.3 Wirtschaftsethische Kritik an Geschäftstypen und Geschäftspraktiken . . 9.7.4 Monopolgesetzgebung des Reichs und städtische Handelsgesellschaften 1512–1548 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.8 Kommunale Wirtschaftsordnung und obrigkeitliche Wirtschaftspolitik . . . . . . 9.8.1 Versorgungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.8.1.1 Bevorratungsverordnungen, kommunale Speicher und Maßnahmen der Marktsteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.8.1.2 Kommunale Kornkäufe auf fremden Märkten . . . . . . . . . . 9.8.2 Preis- und Lohntaxen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.8.2.1 Preis- und Qualitätstaxierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.8.2.2 Lohntaxen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.8.3 Stadtwirtschaft, Nahrungsprinzip und Gemeinwohl . . . . . . . . . . . . 9.8.3.1 Angebots- und Marktregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . 9.8.3.2 Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsförderung . . . . . . . . . . 9.9 Wirtschaftliche Strukturen, Trends und Konjunkturen . . . . . . . . . . . . . . 10 Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswahlbibliogra e und Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Die Stadt und ihre Bewohner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Bischofsstädte, Freie Städte, Reichsstädte – Landstädte (Territorialstädte) – grundherrschaftliche Städte – Städtebünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Stadt und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Die Stadt und ihr Umland – Städtelandschaften und Städtenetze . . . . . . . . . 7 Sozialstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Sozialformen und Sozialgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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957 958 959 960 960 961 962 963 966 968 972 978 978 978 981 982 982 985 986 988 992 995 1004 1004 1008 1021 1032 1037 1056 1063 1066 1075 1082 1101 1101 1128

Vorwort

Die hier vorgelegte »Deutsche Stadt im Mittelalter« beruht auf der vor 24 Jahren erschienenen »Deutschen Stadt im Spätmittelalter« des Verfassers, die jedoch völlig überarbeitet, hinsichtlich des zeitlichen Rahmens neu konzipiert, inhaltlich neu gegliedert, in einzelnen Kapiteln teilweise ganz erheblich erweitert und durch eine Reihe neuer Kapitel ergänzt wurde. Der Umfang ist durch die zeitliche und sachliche Erweiterung ganz erheblich angewachsen. Entstanden ist daher ein neues Buch mit einem neuen Titel. Der zeitliche Ansatzpunkt wurde noch stärker in das Hochmittelalter hinein auf die Zeit um 1150 vorverlagert, um – gegenüber der Struktur und Funktionsweise – der Entwicklungsgeschichte stärker Rechnung zu tragen. Ferner wurde die Perspektive deutlich bis zur Mitte des 16. Jahrhundert, in einzelnen Gesichtspunkten noch darüber hinaus, erweitert, wenn sich daraus weitere wichtige Entwicklungsmomente und zugleich Gesichtspunkte für eine bessere Erklärung von Vorausgegangenem ergaben. Neu hinzugekommen sind kleinere und größere Abschnitte, so etwa zur Stadtverfassung und städtischen Geschichtsschreibung, zu Stadt und Universität, zur Rolle der Ratsjuristen, zu Ratswahlen, Ratsliteratur, Ratsordnungen und politischer Ikonogra e oder zu neueren städtelandschaftlichen Raumkonzepten. Schließlich werden die Selbstdeutungen und die analytischen Einsichten der mittelalterlichen Zeitgenossen hinsichtlich dessen, was De nition und Wesensbestimmung der Stadt, deren Attraktivität, die Gesellschaftsstruktur, die Ratsherrschaft oder wirtschaftliche Sachverhalte und Vorgänge anlangt, stärker herausgestellt. Nach wie vor gilt, dass es kaum ein interdisziplinäres Forschungsgebiet gibt, das wie die Stadtgeschichte so produktiv bearbeitet wird, aber auch kaum noch zu übersehen ist. De zite und Lücken sind daher unvermeidbar. Für Hinweise danke ich Bernd Fuhrmann, der kenntnisreich das Manuskript durchgesehen hat, für anregende Diskussionen Peter Hesse, Mechthild Isenmann, Michael Rothmann und Petra Schulte, für Korrekturarbeiten Barbara Rosik, Johanna Franzmann, Christoph Heckl und Tobias Termaat sowie für die Realisierung der Register Julia Nieß. Frau Dorothee Rheker-Wunsch vom Böhlau-Verlag hat die Drucklegung verständnisvoll und engagiert gefördert, Frau Susanne Kummer wertvolle technische Hilfen geleistet. Das Buch sei Mechthild, Ann-Sophie und Leonard gewidmet. Brühl, im Juli 2012

Eberhard Isenmann

Vorwort zur 2. Au age Die nach kurzer Zeit erforderliche Neuau age des Buches wurde zum Anlass genommen, offensichtliche Versehen und kleinere sprachliche und sachliche Unebenheiten zu korrigieren. Brühl, im Februar 2014

Eberhard Isenmann

Einleitung

Der Begriff »Stadt«, einzelne städtische Erscheinungen, normative Vorstellungen und Einrichtungen sowie entwicklungsgeschichtliche Perioden der Stadt lassen sich kaum anders als durch das Mittel des Idealtypus fassbar machen und veranschaulichen. Gewonnen wird der Idealtypus, wie Max Weber dargetan hat, »durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde«. Dem Idealtypus eignet der Charakter einer »Utopie«, da er »bestimmte Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge« vereinigt.¹ Die Konstruktion von Idealtypen wie etwa »Markt«, »Handwerk«, »Stadtwirtschaft« oder »Stadtgesellschaft« ist ein unentbehrliches Instrument der Forschung und Mittel der Darstellung. Auch der realitätsgesättigte Idealtypus, an dem der Historiker interessiert ist, fällt nicht vollständig mit der empirischhistorischen Wirklichkeit zusammen. Die vorndliche historische Wirklichkeit kann, »zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes«, auf den Idealtypus nur bezogen und mit ihm verglichen werden. Stadtansichten des Spätmittelalters bieten bereits ikonographische Idealtypisierungen, indem sie die Zahl der Gebäude – insbesondere auf Bauwerke mit evidenter Funktion für das städtische Leben – stark beschränken, die horizontale Ebene verkürzen, die Senkrechte mit Türmen und Toren überbetonen oder die Be-

bauung innerhalb des Mauerringes topogra sch überhöhen. Diese knappen methodologischen Vorbemerkungen zielen vordergründig auf die unmittelbare praktische Bedeutung – vorsichtig gesprochen – idealtypisierender Verfahren für eine Darstellung der Geschichte der deutschen Stadt im Spätmittelalter, die ja nicht auf dem Durchschnitt der beobachteten Städte beruhen kann; sie lassen die umstrittenen erkenntnistheoretischen Implikationen und die Probleme des Idealtypus in dem von Max Weber festgelegten, vielfach nur angedeuteten Sinne außer Betracht. Um den verschieden ausgeprägten Erscheinungen in einer Vielzahl von Städten einigermaßen Herr zu werden, bedarf es der begrifflichen Abstraktion und der Generalisierung durch Typisierung, d. h. durch die Kombination konstanter oder wenigstens wiederholt anzutreffender Merkmale.² In vielen Fällen kommt angesichts einer sehr ungleichmäßigen Überlieferung disparater und isolierter Anhaltspunkte statt eines prägnanten Typenbegriffs nur eine Summierung von Merkmalen zustande, die immerhin einen Überblick über ermittelte, aber nicht überall und nicht gleichzeitig vor ndliche Tatbestände und Erscheinungen gewährt. Die in einer Stadt zutage tretende Lösung für eine Problemlage verweist immerhin auf die Möglichkeiten für andere Städte, und bemerkenswert ist der Informationsaustausch zwischen einer Vielzahl von Städten, doch nden Städte auch völlig andere Antworten. Obwohl sich die Stadtgeschichtsforschung seit längerem intensiv mit der Zeit des ausgehenden Mittelalters beschäftigt, lag eine monographische Darstellung der deutschen Stadt

1 M. W, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher Erkenntnis in: ., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 6. A., hg. von J. W, Tübingen 1968, S. 190, 191, 194. 2 Vgl. auch W. K (Hg.), Marxistische Typisierung und idealtypische Methode in der Geschichtswissenschaft, Berlin (Ost) 1986.

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Einleitung

im Spätmittelalter bis zur Darstellung des Verfassers von 1988 nicht vor. Die vornehmlich verfassungs- und rechtsgeschichtlich sowie rechtstopogra sch ausgerichtete Darstellung der deutschen Stadt im Mittelalter von Hans Planitz schließt das Spätmittelalter weitgehend aus. Hingegen bietet Edith Ennen in ihrer Geschichte der europäischen Stadt des Mittelalters ein eigenes Kapitel über die Stadt im ausgehenden Mittelalter. Gleichfalls in europäischem Rahmen und mit Schwerpunkt vom 14. bis zum frühen 16. Jahrhundert konzentriert sich der glänzende essayistische Abriss von Fritz Rörig auf die wirtschaftlich und kulturell progressive Rolle auch deutscher Städte und ihres Bürgertums, d. h. in erster Linie auf das wagende und von Rörig gewissermaßen heroisierte Handelsbürgertum, das in Dimensionen einer mittelalterlichen Weltwirtschaft vorstößt, als möglicher Träger eines nationalpolitischen deutschen Einheitsgedankens gegenüber den partikularistischen fürstlichen Gewalten jedoch versagt.³ Inzwischen gibt es unter Einschluss des Spätmittelalters eine monographische Darstellung der mittelalterlichen deutschen Stadt von Evamaria Engel, eine knappere und kompakte, speziell für Studierende und Interessierte von Felicitas Schmieder, eine gleichfalls knappe, aber mit reichem Bildmaterial ausgestattete Überblicksdarstellung von Bernd Fuhrmann und einen thematisch und inhaltlich äußerst reduzierten Abriss von Frank G. Hirschmann. Die hier gewählten Eckdaten 1150 und 1550 umfassen schwerpunktmäßig einen großen Teil des Hochmittelalters und das ganze Spätmittelalter und erlauben ein deutliches Überschreiten der konventionellen Epochen-

grenze um 1500. Da diese Grenze für die Periodisierung der Stadtgeschichte keinen gebündelten signi kanten Einschnitt bedeutet, sollte sie folgerichtig auch immer wieder überwunden werden. Die ungefähren Daten orientieren sich an der allmählichen Herausbildung einer Stadtgemeinde und der Kommunalisierung der zunächst stadtherrlich geprägten Stadt, andererseits an den wachsenden Autonomieverlusten der Territorialstädte seit der Wende zum 16. Jahrhundert sowie an den abrupten Verfassungs- und Regimentsänderungen einer Vielzahl südwestdeutscher Reichsstädte durch Kaiser Karl V. um 1550. Einzelne entwicklungsgeschichtliche Fragestellungen überschreiten den Rahmen nach beiden Seiten. Der vielschichtige Komplex »Stadt und Reformation«, der im Rahmen einer übergreifenden Stadtgeschichte nicht als Gesamtphänomen abgehandelt werden kann, wird im Kapitel über die Kirche in der Stadt gedrängt skizziert, ansonsten in wichtigen Teilaspekten thematisiert und an verschiedenen Stellen immer wieder knapp erörtert, um spätmittelalterliche Kontinuitäten und Entwicklungstendenzen sowie deren Verstärkung durch die Reformation, aber auch tiefergehende Umbrüche für die protestantischen Städte zumindest punktuell aufzuzeigen. Der mengenmäßige und qualitative Zuwachs an Quellen und daraus folgend an Erkenntnismöglichkeiten ergibt für die mittelalterliche Stadt ein natürliches Ungleichgewicht zugunsten des Spätmittelalters. Das Spätmittelalter ist stadtgeschichtlich keine klar de nierte, abgeschlossene Epoche und kein ganzheitliches, konsistentes Periodisierungs- und Deutungsschema.⁴ So begründet etwa der Einbruch der Pest 1348/50 einen markanten demogra sch-

3 Vgl. generell K. S, Die Stadt des Mittelalters als Faktor bürgerlicher Identitätsbildung (1.1); P. J, Mittelalterliche Stadt und bürgerliches Geschichtsbild im 19. Jahrhundert (1.1). 4 F. S, Zu einem neuen Begriff von der »Krise des Spätmittelalters«, in: F. S / W. E (Hg.), Europa 1400: Die Krise des Spätmittelalters, Stuttgart 1984, S. 7–23; F. G, Epochenbewußtsein im Spätmittelalter und Probleme der Periodisierung, in: R. H / R. K (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987, S. 153–166; E. M, Gab es ein spätes Mittelalter?, in: J. K (Hg.), Spätzeit. Studien zu den Problemen eines historischen Epochenbegriffs, Berlin 1990, S. 91–135; P. S, Die Krise des Spätmittelalters (9.9). Grundsätzlich und methodologisch zu den Epochenabgrenzungen: E. I, Kann das Mittelalter modern sein? Vormoderne und Moderne – Alterität und Modernität (1.1).

Einleitung 23

wirtschaftsgeschichtlichen Einschnitt, der zu Überlegungen geführt hat, hier wirtschaftsgeschichtlich die Neuzeit mit zukünftig instabileren Konjunkturlagen beginnen zu lassen. Einzelne Bereiche des städtischen Lebens weisen eigene Entwicklungszäsuren auf, die innerhalb größerer konventioneller Gesamtepochen einzelne Binnenperioden abstecken. Man kann jedoch sagen, dass im Spätmittelalter die Strukturen und Funktionen der mittelalterlichen Stadt vollständig ausgebildet wurden. Diese hatten in verschiedenen wesentlichen Zügen die gesamte vorindustriell-alteuropäische Zeit hindurch Bestand, sodass der Typus der mittelalterlichspätmittelalterlichen Stadt in der frühen Neuzeit trotz unverkennbarer Modi kationen, Ergänzungen durch weitere Species von Städten wie zentralen neuen Residenz-, Festungs- und Exulantenstädten, ferner trotz Stagnations-, Niedergangs- oder aber Übergangserscheinungen, Autonomieverlusten oder Ver echtungen in die Territorialwirtschaft nicht von einem klar umrissenen neuen Stadttypus abgelöst wurde.⁵ Das Spätmittelalter war freilich die Zeit der größten politischen und wirtschaftlichen Selbständigkeit des Stadtbürgertums, insbesondere der großen Hansestädte, der Freien Städte und der Reichsstädte. Der Raum ist mit dem ausgangs des 15. Jahrhunderts so genannten Heiligen römischen Reich deutscher Nation mit dem Schwerpunkt auf dem Gebiet der deutschen Nation ungefähr angegeben. Dabei nden der Südosten und Böhmen geringere Berücksichtigung, bleiben aber nicht ausgespart; zum Vergleich werden einige Städte und frühere Reichsstädte der Schweizer Eidgenossenschaft herangezogen. Der Nordwesten mit dem hochgradig urbanisierten andrisch-brabanter Raum, der allerdings in Wirtschaftsbeziehungen immer wieder auftaucht, ferner Holland und Friesland sowie die lothringische Städtelandschaft können nicht eigenständig erfasst werden, denn da-

zu wäre ein weiterer Darstellungsband erforderlich. Eine Geschichte der deutschen »Städte« ist trotz beachtlicher Ergebnisse einer vergleichenden Städtegeschichtsforschung nur bedingt möglich. Wenn für Beispiele häu ger in weiter räumlicher Streuung große und größere Städte wie Lübeck, Hamburg, Braunschweig, Köln, Straßburg, Basel, Frankfurt am Main, Nürnberg, Augsburg oder Ulm herangezogen werden, so geschieht dies deshalb, weil diese Städte aufgrund ihrer differenzierten inneren Verhältnisse, ihres hohen Maßes an Autonomie, ferner wegen der Quellenlage und der Forschungssituation für eine Vielzahl von Strukturfragen und kommunalen Handlungsfeldern verschiedenartige Auskünfte bereitstellen, die zudem Vergleiche ermöglichen. Daraus ergibt sich dann doch durch Einbeziehung auch kleinerer Städte so etwas wie eine vergleichende Städtegeschichte. Außerdem wird mit dem wiederholten Rückgriff auf ausgewählte Städte die Absicht verfolgt, wenigstens für einige Städte integrativ und vertiefend weitere Strukturzusammenhänge zu verdeutlichen. Dass auch eine kleine Mittelstadt mit lediglich lokalem Absatzmarkt eine umfassende wie differenzierte Strukturanalyse – wenn auch für eine eher spätere Zeit – erlauben kann, zeigt etwa das Beispiel der Stadt Höxter an der Weser.⁶ Wenn möglich, wird auf Kleinstädte, die allerdings weniger gut erforscht sind, Bezug genommen. Die Darstellung gliedert den Stoff systematisch durch; sie lässt sich daher als Nachschlagewerk und Handbuch benutzen, hinsichtlich der tiefgestaffelten inhaltlichen Gliederung auch als Lexikon zur mittelalterlichen Stadtgeschichte. Zielsetzung ist eine Verbindung von Typologie (unter Berücksichtigung lokaler Besonderheiten), Erklärung und, damit ein konkretes Bild entsteht und Funktionsweisen erkennbar werden, nachvollziehbarer Veranschaulichung durch Beispiele und durch das charakteristische Detail. Erst die Genauigkeit im Detail offenbart die vielfältige Nähe zwischen städ-

5 Vgl. K. G, Die deutschen Städte in der Frühen Neuzeit, S. 3. 6 H. R, Höxter um 1500. Analyse einer Stadtgesellschaft, Paderborn 1986.

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Einleitung

tischer Vergangenheit und Gegenwart. Außerdem sind Prinzipien und normative Ordnungen, die im Mittelalter häu g nur Ordnungsversuche darstellen, mit relativierenden oder irritierenden konkreten Befunden des Alltagslebens zu konfrontieren. Es sollen Kenntnisse über Stadtgestalt, Stadtherrschaft und kommunales Stadtregiment, Verfassung und Recht, Kirche, Gesellschaft und Wirtschaft, Einsichten in Probleme städtischer Daseinsbewältigung, ferner Positionen stadtgeschichtlicher Forschung vermittelt werden. Stadtgeschichte ist ein interdisziplinäres Unternehmen, da die größere mittelalterliche Stadt einen nahezu vollständigen Lebenskosmos darstellt. Deshalb wird versucht, in Verwendung wissenschaftlicher Terminologie und durch eingehendere Sachverhaltsdarstellung den Einstieg in die Forschungsliteratur von Nachbardisziplinen der Geschichtswissenschaft wie auch generell in die Spezialliteratur vorzubereiten. Außerdem werden wichtige Quellenbegriffe vorgestellt; einzelne Wendungen aus den Quellen sollen einen Eindruck von der Sprache und Ausdrucksweise der Zeit jenseits unserer transponierenden und abstrakten, der Bildlichkeit und Zielrichtung der Quellensprache entfremdeten Formulierungen vermitteln. Wegen ihres interdisziplinären Charakters liegt der Gedanke nahe, Stadtgeschichte sektoral auf mehrere sachverständige Autoren aufzuteilen. Hier wurde hingegen der Versuch unternommen, Stadtgeschichte in zeitlicher Beschränkung, obschon sachlich gegliedert, doch von einem einzigen personellen Zentrum her integrativ zu durchdenken und darzustellen. Eher am Rande bleiben die Kunst- und Literaturgeschichte, doch ist der städtischen Geschichtsschreibung ein ganzer Abschnitt gewidmet. Alltagsleben, Sachkultur und mentalitätsgeschichtliche Aspekte, die ein eigenes Buch rechtfertigten, sind als heterogene, wenig generalisierbare Einzelerscheinungen nicht in einem eigenen Kapitel vereinigt, sondern nden ihren Niederschlag in der phänomenologischen Einführung zum Erscheinungsbild der Stadt (1.1)

sowie immer wieder in einzelnen Kapiteln und Abschnitten, wo sie sachlich ihre unmittelbare Grundlage und Erklärung haben. Im Hinblick auf das breite emenspektrum ist mit überdurchschnittlichem Umfang die Wirtschaftsgeschichte berücksichtigt. Ökonomisches als Fundament des Sozialen und Bestandteil des Alltags ndet sich auch in den Kapiteln zu Sozialstruktur und Sozialformen. Wenn der Verfassungs- und Rechtsgeschichte ihren gebührenden Anteil eingeräumt wird, so mag dies einer älteren europäischen und teilweise noch fortdauernden deutschen historiographischen Tradition entsprechen; in erster Linie ergibt sich dies jedoch aus dem zwingenden Sachverhalt, dass komplexe Gesellschaften, damals wie heute, nicht herrschaftsfrei und trotz einer sicherlich wichtigen Kommunikation durch Zeichen, Symbole und rituelle Einübung nicht ohne grundlegende Rechtsgewohnheiten und positivierte rechtliche Regelungen des öffentlichen und privaten Bereichs existieren können. Das umfangreiche und zentrale Kapitel über das Stadtregiment ist der Ratsverfassung und dem Spannungsverhältnis zwischen dem sich zunehmend als abgehobene Obrigkeit verstehenden Rat und der Stadtgemeinde durchaus auch unter politologischen Gesichtspunkten gewidmet. Es zeigt die Organisation und Funktionsweise der Ratsregierung, die Herausforderungen, denen das Ratsregime ausgesetzt ist, und die vielfältigen Handlungsfelder, Aufgaben und Problemlösungen. Da Finanzen und Steuern zur Bewältigung der Gemeinschaftsaufgaben damals wie heute eine fundamentale Rolle spielen, können sie eine angemessene Darstellung beanspruchen. Wirtschaft und Finanzen, Verfassung, Recht und Ordnungspolitik sind Bereiche, in denen die mittelalterliche Stadt mit ihrer dadurch geformten frühen Zivilgesellschaft eine bestimmte Modernität ausbildet, sodass manche Verhältnisse der spätmittelalterlichen Stadt uns nahe stehen, sogar vertraut erscheinen können und in nicht Wenigem die Genese unserer urban geprägten Gegenwart er-

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klären helfen.⁷ Nicht zuletzt daraus, aber auch aus der gleichzeitigen Andersartigkeit und Befremdlichkeit, bezieht die Beschäftigung mit der mittelalterlichen Stadt ihre besondere Aktualität und Attraktivität. Da Bilder, Gra ken und Pläne den Band gesprengt hätten, wird als Ergänzung auf ausgezeichnete Bildmaterialien zur mittelalterlichen Stadt in anderen Publikationen, insbesondere auch auf Bilddateien im Internet hingewiesen. Bibliogra sche Hinweise und Anmerkungen könnten unschwer einen weiteren Band füllen. Es musste deshalb eine oft willkürliche Literaturauswahl getroffen werden. Vielfach wur-

den neuere Titel bevorzugt, über die sich leicht weitere Literatur erschließen lässt. Berücksichtigt wurden jedoch die forschungsgeschichtlich wegweisenden älteren Werke. Geschlossene Darstellungen zur Geschichte einzelner Städte oder deren Urkundenbücher wurden nur ausnahmsweise aufgenommen. Aus Raumgründen erfolgt der Nachweis der benutzten Literatur in erster Linie pauschal durch die Titel im kapitelweise angeordneten oder mehrere Kapitel zusammenfassende Quellen- und Literaturverzeichnis und nur in bestimmten notwendigen Fällen und eher zurückhaltend durch Anmerkungen.

7 Die mittelalterliche und die frühneuzeitliche Stadt werden zunehmend nicht mehr unter dem Begriff der »vorindustriellen« Stadt zusammengefasst, sondern rmieren als die »vormoderne« Stadt. Während mit »vorindustriell« und »industriell« noch unmittelbar konkrete und einschneidende wirtschaftliche, demogra sche und soziale Sachverhalte verbunden werden können, ist der pauschale und bequeme Ausdruck »vormodern« eher inhaltsleer oder aber wertend; oder er evoziert zum Schaden einer Wissensgesellschaft suggestiv alte Mittelaltervorstellungen. Bei der Erörterung einzelner Erscheinungen kann er sinnvoll sein, wenn hinsichtlich der Formulierung von Ergebnissen wirklich epochenübergreifend und vergleichend die mit der Sache wechselnden Bezugspunkte zu einer postulierten, aber jeweils zu verortenden Moderne aufgezeigt und die Differenzen zwischen vormodern und modern genau benannt werden. Wenn der Ausdruck »modern« fortschreitende größere Differenzierung und Komplexität bedeuten soll, ist zu beachten, dass die »moderne« Stadt gegenüber der mittelalterlichen oder »vormodernen« etwa in Hinblick auf die politische Selbstbestimmung, die politischen und gewissermaßen öffentlich-rechtlichen Funktionen des Handwerks im Rahmen des Zunftwesen anstelle der modernen Handwerkskammern, die umfassende Herrschafts- und Regierungsgewalt des Rats und die entsprechende Beanspruchung der Ratsherren, die wenigstens in der Verfassung vorgesehenen bürgerschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten, vielleicht auch teilweise auf die wirtschaftlich-soziale Bedeutung der Frau für Familie und Haushalt (bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts), eine Schwundstufe darstellt. Siehe dazu E. I, Die Modernität der mittelalterlichen Stadt; ., Zur Modernität der kommunalen Welt des Mittelalters; ., Kann das Mittelalter modern sein? (1.1)

1

Die Stadt und ihre Bewohner

1.1 Das Erscheinungsbild der mittelalterlichen Stadt ›Was für einen Anblick bietet diese Stadt! Welcher Glanz, welch liebliche Lage, welche Schönheiten, welche Kultur, welch vortreffliches Regiment! Was könnte man an ihr vermissen, was sie zu einer in jeder Beziehung vollkommenen Bürgergemeinde macht? Wenn man aus Unterfranken kommt und von Ferne die Stadt sieht, welche Großartigkeit, welche Schönheit bietet sich da schon dem Blick von außen! Und im Innern dann, welche Sauberkeit der Straßen, welche Eleganz der Häuser! Was gibt es Herrlicheres als die Kirche des hl. Sebaldus, was Prächtigeres als die Kirche des hl. Laurentius, was Stolzeres und Festeres als die Königsburg, was Bewunderungswerteres als den Graben und die Stadtmauern! Wie viele Bürgerhäuser kann man dort nden, die für Könige geeignet wären!‹ Mit diesen schmeichelhaften Worten und in der literarischen Tradition des Städtelobs rühmt Aeneas Silvius de Piccolominibus, italienischer Humanist und damaliger Kardinal von Siena, in seiner »Germania« (1457/58) die Reichsstadt Nürnberg. Ähnlich äußert er sich im Überblick über deutsche Städte zu Köln, das nach Agrippina, der Gemahlin des Claudius und der Mutter Neros, benannt und durch die Gebeine der drei Magier berühmt sei. In ganz Europa könne man nichts Großartigeres und Herrlicheres nden. Er staunt über die durch Kirchen, vornehme Häuser, eine große Bevölkerung, herrliche Kunstwerke, Dächer aus Bleiplatten und Paläste geschmückte und mit Türmen befestigte Stadt.⁸ Doch schon Bischof Otto von Freising, der Onkel Friedrich Barbarossas, preist in seiner Welt-

chronik von 1146/1157 Köln als die Stadt, die dafür bekannt sei, dass sie an Reichtum, Gebäuden, Größe und Schönheit alle Städte Galliens und Germaniens übertreffe.⁹ Michael Wohlgemut, der Lehrer Dürers, (oder Wilhelm Pleydenwurff) bildet – mit schematisch enger Bebauung, aber unverwechselbare Bauten und die ohnehin ansteigende Topogra e im Sinne einer Bedeutungsperspektive noch weiter überhöhend – die Stadt Nürnberg für den Holzschnitt in Hartmann Schedels Weltchronik (»Liber cronicarum«/»Das Buch der Chroniken«, 1493) ab. In dasselbe Werk ist neben anderen Städten eine hingegen unzuverlässige Ansicht Kölns aufgenommen. Früher schon ndet sich eine schlichte, in ihren Elementen stark reduzierte Vedute Kölns in Werner Rolevincks »Fasciculus temporum« (1474) und später – zusammen mit Teilansichten im historischen Geschehen – in der Koehlhoffschen Chronik (»Cronica van der hilligen Stat van Coellen«, 1499), bis in dem großen breitformatigen, prächtigen Panoramaholzschnitt des Anton Woensam (1531) der Prospekt Kölns mit Stadt, Hafenbetrieb, den im Rhein verankerten schwimmenden Mühlen und einer lebhaften Schifffahrt mit den verschiedenen Schiffstypen der ›Oberländer‹ und ›Niederländer‹ nunmehr äußerst detailgenau durchgebildet ist. Doch der erreichte Realismus wird dadurch machtvoll transzendiert, dass in einer eigenen Sphäre über der Stadt gürlich der legendäre antike Gründer Marcus Agrippa und als Restauratorin und Namensgeberin die Kaiserin Agrippina sowie über den Hauptkirchen die bewaffneten Kirchenpatrone mit Bannern schützend und Heilsgewissheit vermittelnd in den Wolken schweben. Ar-

8 Enea Silvio Piccolomini, Deutschland. Der Brieftraktat an Martin Mayer. Übersetzt und erläutert von A. S, Köln/Graz 1962, Zweites Buch, Kap. 15, S. 102 f. (Nürnberg), Kap. 7, S. 93 (Köln). 9 »Chronica sive de duabus civitatibus«/Chronik oder die Geschichte der zwei Staaten, übersetzt von A. S, hg. von W. L, Darmstadt 1960, VII, 12, S. 518.

Das Erscheinungsbild der mittelalterlichen Stadt 27

nold Mercator schuf dann 1570/71 mit seiner Ansicht Kölns aus der Vogelschau im Auftrag des Rats den ersten, außerordentlich präzise gestalteten Stadtplan.¹⁰ Eine andere Perspektive auf die Stadt und ihre Behausungen geht auf den Tafelbildern und Miniaturmalereien des 15. Jahrhunderts von biblischen Geschichten, dem Leben und der Passion Christi, vor allem vom Marienleben, von den Heiligenviten und Martyrien der Heiligen aus. Das Heilsgeschehen und das Personal werden vor oder in die dem Betrachter vertraute typisierte oder individualisierte reale Stadt verlegt und partiell mit architektonischen Versatzstücken und solchen aus der landschaftlichen Umgebung arrangiert. Auf Abbildungen Kölns sticht etwa als Merkmal damals gegenwärtiger, aber dann jahrhundertelang fortdauernder Realität bis 1868 der durch Treträder angetriebene Baukran aus dem 14. Jahrhundert auf dem unvollendeten südlichen Domturm heraus. Das uns überkommene und für die konkrete Anschauung teilweise noch erhaltene Bild der mittelalterlichen Stadt ist das der spätmittelalterlichen Stadt. Sie tritt uns entgegen als eine mit turmbesetzten Mauern befestigte, von Kirch-, Tor-, Mauer- und Burgtürmen überragte, in dichten Reihen kompakt mit spitzgiebeligen Häusern bebaute und von einem Gewirr enger, verwinkelter Gassen durchzogene Siedlung. Mauerring, Türme und turmbesetzte Tore, die der Stadt jene noch aus den späteren Stadtansichten Georg Braun-Franz Hogenbergs und der Topogra e Matthäus Merians ersichtliche kompakte, vorherrschend gotische – in Köln indessen baugeschichtlich verspätet stark romanische – Silhouette verleihen, zeugen von der Wehrfähigkeit und dem politischen Selbstbehauptungswillen ihrer Bewohner, bieten aber auch der üchtenden Landbevölkerung Schutz. Die Mauer grenzt zudem die Stadt als einen eigenen, räumlich de nierten Rechtsbereich von dem umgebenden Land und seinem Recht als

einen Sonderrechtsbereich ab. Für den Kompilator der Windsheimer Stadtrechtsreformation von 1521 gehören mit Rückgriff auf das römische Recht die Mauern und Tore der Stadt wie auch Märkte und Kirchen zur unverfügbaren, dem Wirtschaftsverkehr mit Kauf und Verpfändung entzogenen hailigen hab, den heiligen Sachen (res sacrae), und als solche zum öffentlichen Recht.¹¹ In der vorherrschenden theologischen Ausdeutung verwiesen die Mauern und Tore der Stadt auf die Mauern und zwölf – viermal drei – Tore des neuen oder himmlischen Jerusalem der Offenbarung des Johannes (21,11–15), der wohlbefestigten Stadt der Freude und der Auserwählten, die den Fluchtpunkt aller idealisierenden und symbolhaften Vorstellungen von einer vollkommenen christlichen Stadt, einer vollkommenen Gemeinde und Ordnung darstellte. Mit seinen zwölf Torburgen der Stadtmauer konnte Köln tatsächlich als bauliches Abbild des himmlischen Jerusalem gelten. Die mittelalterliche Stadt ist eine Insel stadtbürgerlicher Freiheit und Gleichheit inmitten einer herrschaftlich geordneten, auf Bindung und Ungleichheit ausgerichteten agrarischfeudalen Umwelt, die weithin unbefriedet bleibt und die Stadt zum Schutz gegen kriegerische Übergriffe, zur Sicherung des friedlichen bürgerlichen Erwerbslebens durch Mauerbau und ständigen Wachtdienst nötigt. Stets verwundbar bleiben jedoch die Handelswege als die Lebensadern der Stadt, die in die Stadt hineinführen und von ihr ausgehen; nur streckenweise und unvollkommen vermögen ein vorgelagerter städtischer Landwehr- oder Territorialbereich, städtischer Burgenbesitz oder städtische Geleitmannschaften diese zu sichern. Wer vom Lande herkommend durch das Stadttor das Innere der Stadt betritt, gelangt in einen Bereich erhöhten Friedens und erhöhter Sicherheit, stadtbürgerlicher Freiheit, Freizügigkeit und Gleichheit im Sinne von Rechts-

10 Eine Zusammenstellung der Abbildungen ndet sich in Y. L, Köln. Für eine Vielzahl von Städten siehe W. B/B. R, Das Bild der Stadt. 11 H. H (Bearb.), Die Rechtsreformation des Stadtschreibers Johann Greffinger (2.2–2.4), S. 92.

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Die Stadt und ihre Bewohner

gleichheit vor Gericht. So soll es sein und ist es grundsätzlich, doch herrschen wie in jeder Gesellschaft auch tägliche Gewalt, soziale Bedrückung, obrigkeitliche Bevormundung und Repression sowie Willkür in der Rechtsprechung. Die privilegierte Körperschaft Stadt ist im Innern in eine Vielzahl von Korporationen und sozialen Gemeinschaften mit besonderen Rechten gegliedert, in Kaufmannsgilden, Handwerkerzünfte, Gesellengilden, Schützengilden und zahlreiche laikal-religiöse Bruderschaften. Nachbarschaften, Gassen, Quartiere und Pfarrsprengel organisieren die Stadt in sozialem und administrativem Sinne. Altstadt, Neustadt und Vorstädte führen häu g noch ein wirtschaftliches und soziales Eigenleben, gelegentlich sind sie noch rechtlich unterschiedene Bezirke. Klöster und Stifte, in gewisser Hinsicht zunächst auch die kirchenrechtlich geordneten Spitäler, bilden geistliche Immunitäten. Die Stadt als Korporation verfügt über ein eigenes Vermögen an nutzbaren Liegenschaften und Einkünften, das gemeine Gut oder die res publica. Die Stadt ist ferner ein Bereich eines gesteigerten Erwerbsstrebens, von Leistungsstreben und Leistungserfolg, beru icher und sozialer Differenzierung und Mobilität, einer bestimmten Form nichtfeudaler Vergesellschaftung, überwiegend berufsständischer Schichtung. Es gibt Reichtum in der Stadt, vor allem auch solchen, der für die Zeitgenossen in irritierend und verdächtig kurzer Zeit im Handel durch Einsatz von Kapital erworben wurde. Trotz der Bindung an Familie und Geschlecht kann sich der Stadtbürger mehr als der Landbewohner als Individuum begreifen. In den alten Bischofsstädten nördlich der Alpen muss die personenrechtliche Freiheit der Stadtbewohner in einem oft zeitlich langgestreckten Prozess vom Stadtherrn erlangt, politische Freiheit mit oder ohne kommunale Aufstandsbewegung diesem abgenötigt und in Form des Privilegs verbrieft werden, während Neugründungen vielfach vom Stadtherrn sofort mit derartigen Freiheiten als Art privilegialer Ansiedlungsprämie ausgestattet werden. Eine gemilderte Form

der Unfreiheit im Rahmen grundherrschaftlicher Verhältnisse in der Stadt und des hofrechtlichen Verbands (familia) des Stadtherrn, eine wichtige Zwischenform auf dem Weg zur Freiheit, ist das Zensualenrecht. Jedenfalls sind die zur Gemeindebildung fortschreitenden Bürger darum bemüht, für alle Stadtbewohner durch königliche Privilegien und Beweisvergünstigungen im Sinne des Satzes »Stadtluft macht frei« die Freiheit von Herrenrechten an der Person und damit die Abgabenfreiheit für Besitz und Erbe zu erlangen, nicht zuletzt auch, um die Vermögen ungeschmälert der städtischen Wirtschaft zu erhalten. Diese individuelle Freiheit zur Disposition über Aufenthalt, Arbeitskraft und Güter, die durch ein einheitliches freies Bodenrecht zumindest in der Form des freien Erbzinsrechts im ganzen städtischen Areal ergänzt wird, ist rechtliche Voraussetzung für den wirtschaftlichen Aufschwung der Städte in Handel und Gewerbe. Der von herrschaftlichen Bindungen freie Grund und Boden wird in erhöhtem Maße verkehrsfähig und belastungsfähig, sodass städtischen Grundstücke eifrig zur Kreditschöpfung genutzt werden und neue Rechtsinstitute wie das Grundstückspfand und der Rentenkauf, ferner die Eigentumswohnung als Stockwerkseigen entstehen. Neben dem eigenständigen Haus erscheint zunehmend die Mietwohnung als Sitz der Haushaltsgemeinschaft. Der gegenüber dem Land rege Grundstücksverkehr und die Belastungsfähigkeit der Liegenschaften führen zur Verschriftlichung des Verkehrs, und die Notwendigkeit der »Verklarung« der nunmehr sehr komplizierten Besitzverhältnisse lässt die Kölner Schreinsbücher und im mittel- und niederdeutschen Bereich andere Formen des Grundbuchs entstehen, das in wenigen Fällen bereits das moderne Realfoliensystem kennt. Die Kölner Schreinsbücher können als das älteste Grundbuch gelten. Die städtische Wirtschaft beruht soziologisch betrachtet überwiegend auf den kaufmännischen und gewerblichen Hauswirtschaften der durch einfache Konsensehe begründeten Kleinfamilien, nicht auf den Boden bewirt-

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schaftenden patrilinearen Großfamilien. In der Stadt wird die Kleinfamilie vermögensrechtliche Verwaltungs- und Erwerbsgemeinschaft, während die Sippenbindungen zurücktreten und ältere so genannte Beispruchs-, Erlaubnis und Anwartschaftsrechte der erbberechtigten Blutsverwandtschaft bei der Veräußerung von Immobilien allmählich zurückgedrängt und zugunsten einer größeren Testierfreiheit des Erblassers abgeschafft werden. Die Frau ist nun am Erwerbsvermögen beteiligt und tritt in den Kreis der Erben ein, wie sie im Übrigen vor allem in der Gestalt der Kauffrau aus ökonomischen Gründen volle Geschäfts- und Haftungsfähigkeit erlangt. Auch in anderen Bereichen drängt die städtische Gemeinschaft den Blutsverband der Verwandtschaft zugunsten einer Individualisierung der Gesellschaft zurück. Indem die Stadt den Übergang von der formalen hin zur materiellen Rechtswahrheit vollzieht, wird der Sippengenosse als Eideshelfer im Zusammenhang mit der Entwicklung eines rationaleren Beweisrechts und der Individualisierung der Verantwortung für den Prozessverlauf unerwünscht, wie aus politischen Gründen des Gemeinwohls in der Amtsgenossenschaft des städtischen Rates eine zu große Präsenz einer Familie untersagt wird. Auch außerhalb des Prozessrechts wird in der Stadt der rituelle Formalismus zugunsten zunehmender Formfreiheit und von Beweiserleichterungen zurückgedrängt. Die Stadt ist Ort gesteigerter Lebensqualität, einer Laienkultur, einer eigenen Geschichtsschreibung und der Schriftlichkeit in Wirtschaftsleben und Verwaltung. In der Stadt verschiebt sich das traditionelle Wertverhältnis von Grundbesitz und meist geringwertiger Fahrhabe zugunsten des Mobiliarbesitzes an Bargeld und Geschäftsverbindlichkeiten. Geldbesitz übernimmt die ökonomisch führende Rolle, die auf dem Lande dem Grundbesitz zukommt. Der Bürger akkumuliert privates Kapital, die Stadt konzentriert privates und skalisch nutzbares Kapital in ihren Mauern; beide organisieren und erweitern die Geld- und Kreditwirtschaft. Daneben gibt es große Bevölkerungsteile, darunter viele alleinstehende Frauen und

Tagelöhner, die in harter Abhängigkeit stehend gering entlohnt, teilweise nur saisonal beschäftigt oder wegen körperlicher Gebrechen arbeitsunfähig in prekärer Armut und Bedürftigkeit, nach Almosen gehend in einem ständigen Überlebenskampf ihr Dasein fristen, ohne dass wir auch nur ungefähr wissen, wie das Überleben überhaupt gelingen konnte. Sie wohnen in einer typischen Topogra e der Armut in Randbereichen mit berüchtigten Gassen und Rotlichtmilieu, in überschwemmungsgefährdeten Flussniederungen und im vorstädtischen Bereich in primitiven Behausungen, im Stadtinneren zur Miete in feuchten Kellern und in Verschlägen oder in Behelfshütten in Hinterhöfen der Reichen. Wohl gibt es Straßenzüge mit gehäufter Vermögenslosigkeit, doch die räumliche Enge der Städte lässt kaum eine geplante geschlossene Segregation der Armen in Straßen und Quartieren zu. Arme und kleine Handwerker leben vielfach räumlich-topogra sch in Nachbarschaft von Reichen, doch nimmt im Spätmittelalter die Segregation von Menschen, die außerhalb der anerkannten Gesellschaft stehen, deutlich zu. Auf engem Raum wird in der Stadt eine größtmögliche Komplexität der Lebensvollzüge verwirklicht. Zugleich ist die Stadt ein Bereich gesteigerter Öffentlichkeit, ein öffentlicher, von obrigkeitlicher Repräsentation, Sozialgruppen, Korporationen und Klerus besetzter Raum mit zentralen Plätzen und Gebäuden. Es nden in diesem Raum offene Märkte, Feste, Tänze, Umzüge mit allegorischen Darstellungen, Fronleichnams-, Bitt- und politische Versöhnungsprozessionen, Gemeinschaft stiftende rituelle Bekundungen statt. Umstrittene oder teilweise verbotene Fastnachtsbräuche werden hier ausgelebt. Dem Publikum werden Passionsdarstellungen und eaterdarbietungen, Turniere unter Teilnahme auswärtiger Adliger, Schaustellungen vagierender Spielleute, Gaukler und Scharlatane geboten. Hin und wieder ereignen sich spektakuläre Bußpredigten fremder Prediger von Bettelorden mit anschließendem Autodafé inkriminierter Luxusgegenstände. Vereinzelte öffentliche Entehrun-

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gen prominenter Delinquenten erregen die Aufmerksamkeit der Menge, während die gewöhnlichen Übeltäter am Pranger stehen. Hohe Gäste wie Könige und Kaiser, Fürsten oder der zur Entgegennahme der Huldigung einreitende Stadtherr werden noch vor der Stadt mit repräsentativem Aufwand empfangen, mit oder ohne Baldachin in die Stadt geleitet, dort beherbergt und zu offiziellen Tanzveranstaltungen geladen. Von der Rathaustreppe herab werden aktuelle Gesetze des Rats sowie alljährlich oder halbjährlich ein Kernbestand wichtiger Satzungen verlesen. Schwörtage, auf denen sich die Bürgerschaft jährlich aufs Neue verbindet und dem Rat Gehorsam schwört, politische Versammlungen von Gemeinde und Bürgerschaft werden auf Plätzen abgehalten. Der Rat präsentiert sich demonstrativ mit entsprechenden, auch religiösen Attributen in der herausragenden Aura von Herrschaft, Obrigkeit und gutem Regiment. Die in soziale Gruppen und Korporationen gegliederte Bürger- und Einwohnerschaft zeigt bei rituell geprägten und festlichen Veranstaltungen ihr Einvernehmen mit dem Rat, wird in Situationen der kollektiven Emotionalität als

die vielfach beschworene in Liebe und Brüderlichkeit verbundene Gemeinschaft fassbar und bekennt sich in der Umgebung schöner und repräsentativer Gebäude, Kirchen und öffentlicher Brunnen, welche zur Ehre der Stadt gehören, vielleicht stolz zu ihrer Stadt.¹² Dann aber gehen alle wieder auseinander, und der nüchterne arbeitsreiche, sorgenvolle oder kon iktbeladene Alltag beginnt und dauert bis zum nächsten bemerkenswerten Festtag. Die befriedende und Gemeinschaft stiftende Wirkung demonstrativer öffentlicher Veranstaltungen ist keineswegs garantiert. In Inszenierung und Choreographie von Veranstaltungen und Prozessionen manifestieren sich auch soziale Distanzen und Hierarchien, wie dann gelegentlich die agonale und bisweilen gehässige und gewalttätige Konkurrenz zwischen Sozialgruppen und Familien aufbricht. Tiefgehende Feindseligkeiten entladen sich ferner gelegentlich, in Einzelfällen mit grundstürzenden verfassungspolitischen Auswirkungen wie in Straßburg 1332, bei gesellschaftlichen Festgelagen und Tanzveranstaltungen.

12 Inspirierend ist – mit der imponierenden Florentiner Prozession am St. Johannes-Fest im Mittelpunkt – die bedeutende Studie von R. C. T, Public Life in Renaissance Florence (1980), 2. A., Ithaca 1994. Einen Aufschwung hat auch die etwas nachhinkende deutsche Erforschung von Symbolhandlungen, Ritualen, Zeremonien und zeichenhaften, allegorischen oder, dieser schwierige Ausdruck wird bevorzugt, »symbolischen« Formen von Kommunikation erfahren, deren grundsätzliche Existenz und Bedeutung in durchgehender historischer Genealogie bis heute im Bewusstsein geblieben sind, nunmehr aber unter funktionalen Fragestellungen hinsichtlich der Widerspiegelung, Erzeugung oder vorübergehenden Aktualisierung von Ordnungen oder Ordnungszuständen eingehend untersucht werden. Siehe etwa B. SR, Symbolische Kommunikation; J. R, Stadtverfassung, städtische Gesetzgebung und ihre Darstellung in Zeremoniell und Ritual (2.5.3–2.5.4). Es handelt sich um performative Realitäten, doch ist es außerordentlich schwierig, empirisch nachzuweisen, wieweit und wie nachhaltig sie, wie von den Akteuren demonstrativ intendiert und von der Forschung angenommen, tatsächlich Sinn und Ordnung stifteten, Herrschaft legitimierten und als Integrationsleistung das Gemeinwesen festigten, was aber meist nur im Zusammenhang mit anderen, grundlegenden sozialen, rechtlichen und religiösen Tatbeständen als Voraussetzung ihrer Wirksamkeit gelingen konnte. Einer Erörterung auf empirischer Grundlage nicht mehr zugänglich ist die verschiedentlich geäußerte Annahme, dass die »symbolische Kommunikation« die »kollektive Identität« gestärkt habe, da es eine solche Identität im Sinne eines Substanzbegriffs oder einer ontologischen Wesenheit nicht gibt, wohl aber eine ähnlich gerichtete prozesshafte Identi zierung kleinerer oder größerer sozialer Kreise mit bestimmten Erscheinungen des Gemeinwesens, wenn es sich nicht ohnehin um die bloße Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder einem Gemeinwesen handelt. Es können Gemeinsamkeiten festgestellt werden, man kann an Gemeinsamkeiten glauben und daran, dass man eine mehr oder weniger große Gemeinschaft bilde. Ausdrücke wie »kollektive Identität«, »kollektives Gedächtnis« oder »kollektives Bewusstsein« sind Metaphern allenfalls für einen vorläu gen Gebrauch, imaginäre Konstrukte für diffus Gemeintes, die soziologisch eigentlich eine formierte Gesellschaft voraussetzten. Wenn sie aber darüber hinaus etwas bedeuten sollen, nimmt der Historiker oder Soziologe eine intellektuelle Deutungshoheit mit seinen gedachten Begriffen gegen die Realität einer fragmentierten und segregierten Gesellschaft in Anspruch und sondert sozialgeschichtlich größere Teile der Bevölkerung, insbesondere die Unterschichten und die Stadtarmut, aus seiner Betrachtung aus.

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Die Stadt ist ferner ein Raum, der von vielfältigen akustischen Signalen, den Glockenschlägen kirchlicher und obrigkeitlichbürgerlicher Zeitmessung, Rufen der Gewerbetreibenden und Markthelfer (Rufer) erfüllt ist. Der Rat unterhält Stadtpfeifer und eventuell auch repräsentative Trompeter und Posaunisten. Es ertönen aber auch von den Kirch- und Stadttürmen Meldungen von Kriegs- und Feuergefahr oder von innerem Aufruhr sowie Aufforderungen zur gelegentlich satzungsmäßig genau geregelten Verbrecherverfolgung durch Zetergeschrei von Tatzeugen und das Läuten der Sturmglocke durch dazu befugte Amtsträger. Neben den schönen Brunnen werden seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts mechanische Räderuhren mit ihrer exakten sichtbaren Zeitmessung zu Prestigeobjekten von Städten. Die Stadt ist ein früher Bereich von Staatlichkeit¹³ mit intensiver Gesetzgebung und administrativer Reglementierung, interner Gefahrenabwehr, Kontrolle von Verhalten und Bevormundung hinsichtlich der Lebensführung des Einzelnen, Mobilisierung von nanziellen Ressourcen durch Steuererhebung, Selbstbehauptung und militärischer Verteidigung nach außen. Sie entwickelt insbesondere eine vom Rat obrigkeitlich gesteuerte, an den Interessen der Handwerkerzünfte oder des Handels orientierte Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Es nden sich in den Städten neben aristokratischen und oligarchischen Formen der Herrschaft und Regierung durchaus Ansätze und Formen einer auf korporativer Grundlage beruhenden demokratisierenden Verbandsbildung. Die Normierung eines waffenlosen Gemeinschaftsfriedens, der keine eigenmächtige Gewaltanwendung außer in Notwehr oder in Form begrenzter aktueller Selbsthilfe erlaubt, in Verbindung mit einer präventiven Gesetzgebung, einer Vielzahl von Instanzen der Streitentscheidung und Kon iktregelung sowie mit Möglichkeiten einer erweiterten politischen Partizipation legen die Fundamente für eine ers-

te Zivilgesellschaft, die zugleich das Ideal des zur Verteidigung der Stadt bewaffneten Bürgers kennt. Die mittelalterliche Stadt propagiert erstmals für den politischen Verband und die bürgerliche Gesellschaft das Ideal der Trias von ›Freiheit‹, ›Gleichheit‹ und ›Brüderlichkeit‹. In der Stadt konzentriert sich ein von Rat und Zünften organisiertes, teilweise hochgradig spezialisiertes und differenziertes Handwerk. Hier haben sich – ursprünglich unter Königsschutz reisende – Groß- und Fernkaufleute mit weiträumigen Geschäftsverbindungen niedergelassen. Mittelpunkt des Wirtschaftsverkehrs ist der rechtlich geordnete und durch eine Vielzahl von städtischen Beamten und Gewerbetreibenden mit öffentlichen Funktionen regulierte und kontrollierte Markt, der einen besonders geschützten Friedensbereich darstellt. Hier setzt das örtliche Handwerk gewerbliche Erzeugnisse ab, bietet die einströmende Landbevölkerung ihre Agrarüberschüsse und in geringerem Umfang auch gewerbliche Produkte zum Verkauf und versorgt sich mit örtlichen Gewerbeerzeugnissen und fremden Handelswaren. Auf dem städtischen Markt und vor allem in der Messestadt tauschen sich verschiedenartige Produktionsgebiete aus und erscheinen die teuren Fernhandels- und exotischen Luxuswaren. Hier decken adlige und fürstliche Haushalte ihren gehobenen Bedarf. Die Ernährungsgrundlage wird nicht nur durch die Produktion des unmittelbaren Umlands gesichert. Getreide und Wein, Schlachtvieh und Salz, das konsumiert wird, der Konservierung von Lebensmitteln dient und das in größeren Mengen auch Gerber, Kürschner und Färber benötigen, werden aus entfernteren Regionen bezogen. Gleiches gilt für die Rohstoffe und Ausgangsprodukte für das städtische Gewerbe wie Holz, Eisen, Kupfer, Stahl, Leder oder Wolle, die vielfach vornehmlich von fremden Kau euten eingeführt werden, während heimische Kau eute vor allem für den Import von Tuchen, Leinwand und Spezereien sorgen und den Austausch

13 Zu dem, was man im Mittelalter zumindest funktional »staatlich« nennen kann, siehe E. I, Art. »Staat. A Westen«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. VII, München 1995, Sp. 2151–2156.

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Die Stadt und ihre Bewohner

mit anderen Städten betreiben. Das örtliche Gewerbe dient in erster Linie der Deckung des Bedarfs der Stadt an Gebrauchs- und Investitionsgütern sowie der Versorgung der umliegenden agrarwirtschaftlichen Umgebung. Einzelne Gewerbezweige wie die Textil- oder Metallwarenproduktion arbeiten auch für den Export nach weiter entfernten städtischen Absatzmärkten. Der Subsistenzerwerb der Bevölkerung gründet, von Grundrenten und Kapitalverwertung in der Oberschicht abgesehen, auf Arbeit, die in der Stadt keiner außerökonomischen herrschaftlichen Abschöpfung unterliegt. Direkte Abgaben an die Kommune werden als genossenschaftlicher Beitrag im Rahmen einer Solidargemeinschaft entsprechend individuellem Leistungsvermögen und nicht aufgrund von herrschaftlichen Traditionstiteln geleistet. Das Arbeitsverhältnis ist personenrechtlich frei und vertraglich begründet, durch Rat und Zunft jedoch eingehend normiert. Im Unterschied zum Land ist die Arbeit in der Stadt, abgesehen von ihrem agrarischen Einschlag und den agrarischen Berufen, weniger vom Naturstandort, der Arbeitsrhythmus weniger von jahreszeitlichen Bedingungen, jedoch von der sich jahreszeitlich verändernden Tageshelle abhängig. Die Existenzform der Landbevölkerung erscheint gegenüber dem beschleunigten politischen und wirtschaftlichen Lebensrhythmus in der Stadt, gegenüber der städtischen Mobilität und Vielseitigkeit stationär und einfach; die Erwerbsmöglichkeiten auf dem Lande sind dagegen vergleichsweise undifferenziert.¹⁴ Zwar hat die Stadt einen weltlichen oder geistlichen Stadtherrn, der sie privilegiert und der in der Stadt Herrschaftsrechte ausübt, aber die voll ausgebildete Stadt formt ihren eigenen Verband, strebt nach Selbstverantwortung, Selbstregierung und Unabhängigkeit. Sie drängt stadtherrliche Eingriffsrechte zurück und erwirbt stadtherrliche Ämter, Gerechtsame und Befugnisse durch Pfandnahme oder Kauf aufgrund ihrer überlegenen Finanzkraft. Sie erreicht die Pauschalierung des Arealzinses der

14 Vgl. I. B, eorie der Stadt.

Bürger und entrichtet ihn an deren Stelle, wie sie auch hinsichtlich der Steuerleistungen an den Stadtherrn anstelle einer individuellen Besteuerung der Bürger die pauschalierte Gesamtbesteuerung und eigenverantwortliche Umlage durchsetzt. Als Verband setzt die Stadt ihre eigenen politisch-administrativen Leitungsgremien ein und setzt weitgehend autonom Recht. Sie übernimmt das stadtherrliche Gericht, und der Rat übt eine eigene Ratsgerichtsbarkeit mit verschiedenen gerichtlichen Deputationen aus. Politische Berechtigung im Sinne eines aktiven und passiven Wahlrechts besitzen generell nur die Bürger, die durch den Erwerb des Bürgerrechts, das mit P ichten und Rechten geregelt und nach ordnungspolitischen und konjunkturellen Maßgaben erteilt wird, gegenüber den bloßen Einwohnern insoweit einen privilegierten Stand bilden. Der mittelalterliche Stadtbürger ist im Mittelalter grundsätzlich sowohl Homo oeconomicus als auch – wie der antike Polisbürger – Homo politicus. Der Rat sichert den städtischen Frieden, organisiert das Militärwesen, ordnet das Wirtschaftsleben und das Bildungswesen, und er verwaltet die kirchlichen und weltlichen Sozialstiftungen. Er bemüht sich um die Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Gütern zu möglichst billigen Preisen, um den Schutz von Konsumenten und Produzenten und um die Verteilung sowie die Sicherung von beru ichen Erwerbschancen. Ferner sorgt er für die Gefahrenabwehr im öffentlichen Verkehr, kümmert sich um den Lebenswandel und um das Seelenheil der Bürger und lässt es nicht tatenlos zu, dass sich diese durch unnötigen Aufwand wirtschaftlich ruinieren und der Stadt zur Last fallen. Die für das Regieren und Verwalten auf den verschiedenen Feldern erforderlichen Sachkenntnisse schöpfen Stadt und Rat aus sich selbst heraus, die spezi sch kanzleitechnischen und juristischen stellen zusätzlich die besoldeten Dienstämter des Stadtschreibers und eventuell des Ratsjuristen bereit. Es ist Politik im Nebenberuf von Honoratioren, doch zeichnet sich in

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größeren Städten durch die Belastung langjähriger oder lebenslanger Ratszugehörigkeit und spezieller Amtstätigkeit auch ein Leben für die Politik ab. Eidliche Bindungen, disziplinierende Ratsordnungen, rechtliche und ethische Maximen der überpersönlichen, unparteiischen, affektfreien und gerechten Amtsführung, die in der gelehrten Ratsliteratur, in Ratsordnungen und in der politischer Ikonogra e der Rathäuser propagiert werden, verp ichten das kollektive Herrschafts- und Regierungsgremium des Rats und ergeben auf dem Hintergrund universaler Problemstellungen ein breites Spektrum einer zeitgenössischen und zugleich überzeitlichen politischen Kultur. An Nutzungszuweisungen für Gebäude und spezi schen Baulichkeiten wie Rathaus, Gerichtslaube, Marktstände und -hallen, Hafen, Kaufhaus, Waage, Zollhaus, Münze, Schule, Stadtapotheke, Zeughaus, Pranger (am Markt), Galgen und Richtblock (vor der Stadt), Getreidespeicher, Wasserkanäle und Brunnen werden kommunale Funktionen augenfällig. Hinzu kommen Herbergen und Wirtshäuser (Tavernen), Badestuben, Frauenhaus (Bordell), Spital, Waisen- und Findelhaus, Pestlazarett, Blatternhaus für Syphilitiker und das ältere Leprosenhaus vor der Stadt. Die Stadt zeichnet sich durch eine Infrastruktur aus, die nirgendwo sonst so reichhaltig und vielgestaltig anzutreffen ist. Politisch ist die Stadt von den herrenständischen Gewalten der unteren Ebene unabhängig und erlangt vielfach wie die adligen Inhaber der Grundherrschaften und die geistlichen Prälaten Landsässigkeit und sogenannte Landstandschaft, d.h. Städte gehören zu den Landständen und werden zu den Landtagen berufen. Freie Städte und Reichsstädte werden vom König zu Hoftagen und zu den späteren Reichstagen geladen, erlangen dadurch die sogenannte Reichsstandschaft und bilden den ›dritten Stand‹ des Reichs. Auf Städtetagen versuchen die Frei- und Reichsstädte ihre Interessen und ihre Politik zu koordinieren und Belastungen durch das Reich gemeinsam abzuwehren oder zu mindern. Politische und militärische Bündnisse der Städte untereinander dienen dem friedlichen Strei-

taustrag, aber auch der wechselseitigen Stabilisierung der Ratsherrschaften, der allgemeinen Rechts- und Friedenswahrung, der Selbstbehauptung und der Wahrung politischer Unabhängigkeit gegen fürstliche Mediatisierungsversuche. Bündnisse zwischen Städten, Adel und Fürsten sollen größere Regionen befrieden. Politik und Wirtschaft sind für ihre rationale Gestaltung von einer Vielzahl von Informationen abhängig. Die Stadt wird daher zum Nachrichtenzentrum. Der Rat großer Städte unterhält Korrespondentennetze und organisiert sie nach aktuellen Bedürfnissen, tauscht mit ansässigen Kau euten, von denen nicht wenige dem Rat selbst angehören, und mit anderen, meist befreundeten oder verbündeten Städten Informationen und Nachrichten sowie mit Städten Gesetzestexte aus. Er kontrolliert Nachrichten und betreibt eine Nachrichtenpolitik zur Beeinussung der Meinung im Innern und hinsichtlich politischer Mächte außerhalb der Stadt. Städtische Gesandte berichten laufend vom Ort ihrer Missionen, und am Königshof unterhaltene ständige Prokuratoren für die Prozessführung versorgen Städte mit Neuigkeiten von dort. Der kostspielige Gesandten- und Botenverkehr wird in den Rechnungsbüchern genau festgehalten. Der Humanist Konrad Celtis (Pickel, Proticus) schreibt im siebten Kapitel seiner »Norimberga« von 1500, die Stadt sei begierig nach Informationen, schweige über nichts und wisse alles, was in Europa vorgehe; die Stadt ihrerseits sei darauf aus, dass man ihrer Bevölkerung, ihrem Reichtum, ihren Fähigkeiten, ihren Magistraten und Ämtern am Ort und bei Fremden höchste Beachtung schenke. Städte und Bürger nehmen zudem über die Beschäftigung internationaler Künstler und Baumeister und Auslandsaufenthalte heimischer Künstler, ferner durch die Berufung ausländischer Professoren an die kommunalen Universitäten, durch das Studium von Scholaren vor allem an italienischen und französischen Universitäten, bleibende Verbindungen zwischen Lehrern und Schülern, Korrespondenzen von Gelehrten untereinander sowie hinsichtlich der Produktion und Nachfrage über

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den Handschriften-, Bücher- und Kunstmarkt am europäischen Kulturtransfer teil. Für das Land besitzt die Stadt eine attraktive, raumbeherrschende Zentralität. Wie das Land Agrarüberschüsse, aber auch Bevölkerung an die Stadt abgibt, so besitzt die Stadt als wirtschaftliches, politisch-administratives, religiöses und kulturelles Zentrum einen sogenannten Bedeutungsüberschuss, d. h. sie kann nach Abzug der von der Stadtbevölkerung benötigten Güter und Dienste ihre zentralen Einrichtungen der Landbevölkerung zur Verfügung stellen. Auch vagierende Bettler und fahrendes Volk strömen als Fremde in die Stadt ein. Der umliegende Adel, der teilweise Haus und Hof in der Stadt unterhält, schätzt den Komfort und die Konsummöglichkeiten, die städtische Einrichtungen und Lebensverhältnisse bieten. Ihre Raumfunktion steigert die Stadt vielfach zur Herrschaft über das Land, die bis zur wirtschaftlichen Ausbeutung reichen kann. Schließlich erwerben die Bürger der Oberschicht und die Stadt auf dem Lande Grundrenten, Grundherrschaften, Dörfer und größere adelige Herrschaften und werden dadurch zu feudalen Gewalten. In verschiedenen Fällen bringen Stadt und Bürger ein beachtliches, in Einzelfällen ein großräumiges Territorium zusammen. Für den eologen omas von Aquin (1224/25–1274) ist die über die Familiengemeinschaft eines Hauses und eine bloße Ansammlung von Häusern hinausreichende civitas, wie nachfolgend für Marsilius von Pa-

dua († 1342) und andere stadtsässige Gelehrte, im Anschluss an die »Politik« des Aristoteles (384–322 v. Chr.) eine rechtlich geordnete, ›vollkommene Gemeinschaft‹ (perfecta communitas), die es dem Einzelnen ermöglicht, die Gemeinschaftsbezogenheit seiner Natur als ›geselliges‹ oder verbandsbildendes ›politisches‹ oder ›soziales‹ Wesen – zoon politikon; animal civile, a. sociale, a. politicum – zu verwirklichen. Das politische und soziale Gebilde civitas (Polis), bringt nicht nur die für ein menschliches Leben notwendigen Bedarfsgüter hervor, sondern fördert zugleich in aristotelisch-christlichem Sinne ein ›vollkommenes‹, tugendhaftes, sittlich ›gutes Leben‹.¹⁵ Die Stadt formt mit ihren politischen, erwerbswirtschaftlichen, sozialen, religiösen, kulturellen und baulichen Gegebenheiten, zusammengefasst der urbanitas, den Bürger zu einer bestimmten höheren Species Mensch, wie es diesem bewusst ist und wie es in Italien der Dichter Dante Alighieri (1265–1321) in seiner »Divina comedia« in emphatischer Schlichtheit ausgedrückt hat.¹⁶ Gebildete Zeitgenossen äußerten sich bereits im Spätmittelalter eingehend zur Bedeutung, zu den besonderen Kennzeichen und zur besonderen Attraktivität ihrer Stadt sowie zu den herausragenden Leistungen der Bürger. Eine Aufzeichnung von Stadtrecht und Bürgerfreiheiten Kölns aus der Mitte des 15. Jahrhunderts nennt Köln eine ›Krone über allen schönen Städten, die fünf Namen hat, die man den Leuten erläutern soll‹: 1. Köln ist eine heili-

15 Aristoteles, Politik, I 2, 1252b 27–29, 1253a; omas von Aquin, De regimine principum, 1. Buch, Kap. 1; Marsilius von Padua, Defensor pacis, Teil I, Kap. IV. 16 Er lässt die unglückliche Pia de‘ Tolomei aus Siena sagen: Son la Pia: Siena mi fe (Die Pia heiß ich: Siena schuf mich). Dante, Divina Comedia, Purgatorio V, Z. 133 f. Siehe auch Paradiso VIII, wo Dante den Jugendfreund Karl Martell fragen lässt: Or di: sarebbe il peggio/ Per l‘uomo in terra, se non fosse cive? (Nun sag, wär‘s für den Menschen nicht schlimmer noch auf Erden, wenn er nicht Bürger wäre?). Zur Wesensbestimmung der spätmittelalterlichen Stadt und des Bürgers im gelehrten europäischen Diskurs siehe U. M, Mensch und Bürger. Konrad Celtis schreibt in seiner »Norimberga«, die Charakterzüge (ingenia) der Nürnberger Bevölkerung beiderlei Geschlechts forme, wie die Gelehrten im Allgemeinen glaubten, der jeweilige Lebensraum (situs locorum). Dazu gehörten die Sternenkonstellation über der Stadt, das milde Klima, die sandige Beschaffenheit des Bodens ohne Sümpfe und stehende Gewässer, die gute Luft, die trockene Ausdünstung der Erde und die zentrale geogra sche Lage für Deutschland und Europa. Die Nürnberger seien von guter Gesundheit, körperlich leistungsfähig, von kräftigem Knochenbau, von schöner Gestalt, großzügig, heiteren Gemüts, gewitzten Verstandes, geschickt, stolz und angeberisch, leicht erregbar, doch auch schnell zu besänftigen, auf Gewinn aus, von gep egten Umgangsformen und bürgerlichen Tugenden, verschlagen, wenn es um wirtschaftlichen Gewinn gehe. »Norimberga«, cap. 7 und 6 (A. W, Conrad Celtis, S. 155, 151; vgl. die Übersetzung von G. F).

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ge Stadt wegen der Körper, Heiltümer und Gebeine der Heiligen, die in der Stadt aufbewahrt sind. Gemeint sind vor allem die Reliquien der Heiligen Drei Könige und der hl. Ursula. 2. Köln ist eine Reichsstadt, d. h. aber zunächst nur eine Stadt des Reichs, und keine bischöfliche Stadt. 3. Köln ist eine Stadt des Rechts (von rechten), weil man in ihr jedermann sein Recht widerfahren lassen soll. 4. Köln ist eine freie Stadt, weil man niemanden zwingen und beschweren soll außer mit Recht, d. h. auf rechtlichem, gerichtlichem Wege. 5. Köln ist eine Stadt guter Gewohnheiten, d.h. guter Rechtsgewohnheiten oder Gewohnheitsrechte, und diese sollen mit den (allgemeinen) geistlichen und weltlichen Rechten in Einklang sein.¹⁷ Wenn der im Auftrag seines Ordens und als Pilger nach Aachen, Colmar, Konstanz, Nürnberg, Venedig, Rom und in zwei Pilgerfahrten ins Heilige Land (1480 und 1483/84) nach Jerusalem, auf den Sinai, nach Kairo und Alexandria gelangte welterfahrene Dominikaner Felix Fabri (Schmid) (1438/3−1502) sich in seiner »Abhandlung über die Stadt Ulm« von 1488 – über das gattungsmäßige und topische »Städtelob« durch seine empirischen Beobachtungen und Re exionen weit hinausgehend – die Frage stellt, weshalb in Ulm gegenüber ächenmäßig etwa doppelt so großen Städten so viele und bedeutende Menschen leben, so führt er dies ausdrücklich nicht auf die fruchtbare Umgebung und die daraus resultierenden Ernährungsmöglichkeiten zurück, sondern nennt – sicherlich auch idealisierend – folgende fünf Sachverhalte für die Attraktivität seiner Stadt:¹⁸ 1. Stadt und Gemeinde sind überreich, und infolgedessen sind auch die einzelnen Bürger

reich; deshalb können hier auch mehr Menschen als andernorts ihr Auskommen nden. 2. Ulm ist für die Verwirklichung der Gerechtigkeit berühmt, denn hier erhält der Arme und Mittellose wie der Reiche und Vornehme sein Recht durch eine unparteiische Rechtsp ege. 3. Es herrscht Freiheit (libertas). Es gibt keine schweren Zwangsdienste und Lasten (angariae), sodass jeder Arme hier leicht bestehen kann. 4. Das umfassende Spektrum von Geschäftstätigkeiten (generalitas negotiorum), das nicht nur Erwachsene ihr Auskommen, sondern auch Kinder von Armen einen Pfennig oder zwei verdienen lässt. 5. Das reiche und vielfältige, täglich und in Vollständigkeit anzutreffende Angebot an Ergötzlichem und an Vergnügungen (delectatio et voluptas). Dazu gehören lange und kurze Gottesdienste, Andachten, Orgelspiel, der angenehme Gesang der Scholaren und melodiöse Weisen. Wer sich an Weltlichem erfreut, ndet es in jeder Art reichlich: Spiele, Schauspiele, gesellschaftliche Veranstaltungen, Weinrausch, schöne und elegante Frauen, ungezügelter Luxus, weltliche Vortrefflichkeit, Müßiggang und beharrliches Arbeiten sowie Tagesneuigkeiten aus Ost und West, die hier mehr als in einer anderen Stadt Schwabens zusammenlaufen. Blickt der Dominikaner aber in die Geschichte der Stadt Ulm zurück, so bewundert er in der Vergangenheit fünf, wie er sagt auch eines mächtigen, kühnen und hochgesinnten Königs würdige Großtaten der Ulmer Bürger, die diese innerhalb eines Zeitraums von etwas mehr als einem halben Jahrhundert vollbracht hätten:

17 W. S, Akten zur Verfassung und Verwaltung der Stadt Köln (2.2–2.4), Bd. 1, Nr. 335, S. 717 f. Zum Status Kölns als Freier Stadt und als Reichsstadt sowie zu den Kölner Bürgerrechten siehe 3.2.2/3.4 und 2.5.3.5. 18 Felix Fabri, Tractatus de civitate Ulmensi, Principale V, cap. 2, S. 146 f. Felix Fabri wurde in Zürich als Sohn des angesehenen Jos Schmid geboren. Im Jahre 1452 trat er in den Basler Predigerkonvent ein und gelangte über Pforzheim nach 1468 nach Ulm, möglicherweise wurde er von Basel aus zur Reform des Ulmer Dominikanerkonvents entsandt. Dort wirkte er, durch seine Reisen unterbrochen, bis zu seinem Tod als hochgeachteter Lehrer der eologie und Philosophie (Lesemeister) sowie Generalprediger und entfaltete mit seinen Pilger- und Reisebüchern, Predigten und theologischen Abhandlungen, ferner einer Geschichte Schwabens (»Descriptio Sueviae«) und der »Abhandlung über die Stadt Ulm« eine reiche literarische Tätigkeit, ohne dass seine Werke zu Lebzeiten im Druck erschienen. Er nannte sich selbst Fabri und nicht Faber.

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1. Die Erweiterung und Befestigung der Stadt seit 1316. 2. Die Gründung der Kirche der Heiligen Jungfrau (Münster) 1377 als einzige monumentale und ausgesprochen bürgerliche Pfarrkirche. 3. Das Bestehen von Schlachten und Belagerungen, unter anderem der erfolgreich ausgehaltenen Belagerung durch Kaiser Karl IV. (1376). 4. Die Schaffung eines städtischen Territoriums durch Kauf und Pfandnahme von adligen Herrschaften in der Umgebung. 5. Der Kauf des Patronatsrechts der einzigen Pfarrkirche von dem Benediktinerkloster Reichenau 1383; sodann nach Anfechtung des Vertrags durch den Abt der de nitive Kauf des gesamten Besitzes und aller weltlicher und kirchlicher Herrenrechte des Klosters in der Stadt im Jahre 1446 für 25 000 Gulden. Fabri nennt auch das hinter dem Kauf der fremden Besitzrechte und der Kirchenherrschaft stehende Ziel der Stadt. Nachdem die Stadt seit Ludwig dem Bayern (1314–1347) und Karl IV. (1346–1378) durch – teilweise bereits Ausgeübtes nur bestätigende – Privilegien das Recht der Bürgermeisterwahl, der Einsetzung der Richter und des Rates und der Einteilung der Gemeinde in Zünfte, bereits bis 1346 erlangt hatte, habe sie mit dem Vertrag mit dem Benediktinerkloster und der Loslösung von den weltlichen und kirchlichen Herrenrechten der Mönche durch Vermittlung König Friedrichs III. endgültig allen fremden Ein uss innerhalb der Mauern beseitigt und Ulm zu einer ›freien kaiserlichen Stadt‹ (libera civitas imperialis) gemacht.¹⁹ Derartige und in der mittelalterlichen europäischen Kommunebewegung seit dem 11. Jahrhundert zutage tretende, gewissermaßen heroische Züge des freien und wehrhaften mittel-

alterlichen Stadtbürgers zumal aus der Zeit der Städtebünde hielt Max Weber mit drastischen Worten dem wilhelminischen Bürgertum vor, in dem sich seiner Ansicht nach ein »Geist der ›Sekurität‹« ausbreitete, ein Geist »der Geborgenheit in obrigkeitlichem Schutz, der ängstlichen Sorge vor jeder Kühnheit der Neuerung: kurz: der feige Wille zur Ohnmacht«.²⁰ Das Bürgertum des 19. Jahrhunderts und seine liberalen Rechtshistoriker und Stadthistoriker haben in ihren Zukunftserwartungen die mittelalterliche Stadt idealisierend und ideologisierend, aber nicht völlig zu Unrecht als ein verheißungsvolles Erbe betrachtet, das durch den absoluten Fürstenstaat entfremdet worden war, das es jetzt aber einzulösen galt: Bürgerfreiheit, Demokratie, unternehmerischer Wagemut.²¹ Grundlegende Kulturleistungen der mittelalterlichen Stadt würdigten im 19. Jahrhundert neben bürgerlichen Historikern mit beträchtlichen Kenntnissen auch Karl Marx und Friedrich Engels; um die Wende zum 20. Jahrhundert war es vor allem mit imponierendem universalhistorischem Wissen der umfassend gebildete Nationalökonom, Wirtschaftsund Rechtshistoriker und Soziologe Max Weber. Einiges ist dabei sicherlich zu korrigieren, anderes zu relativieren. Andererseits wird jedoch wissenschaftsgeschichtlich der modernen Stadtgeschichtsschreibung ein beträchtlicher Standard an interdisziplinärer thematischer Breite vorgegeben.²² Im ersten Band des »Kapitals« von 1867 nennt Karl Marx (1818–1883) den »Bestand souveräner Städte«, die allerdings lediglich weitgehend autonom waren, den »Glanzpunkt des Mittelalters«.²³ Das »Kommunistische Manifest« hatte die Begründungen gegeben. Die mittelalterliche Stadt erscheint dort als die Geburtsstätte der modernen Bourgeoisie. In einer frühen Entwicklungsstufe wird der Leibeigene der

19 Ebd., Principale V, Einleitung. 20 M. W, Gesammelte politische Schriften (1921), hg. von J. W, 5. A., Tübingen 1988, S. 453. 21 Zum Folgenden siehe K. S, »Kommunebewegung« und »Zunftrevolution«; ., Die Stadt des Mittelalters als Faktor bürgerlicher Identitätsbildung; E. I, Die Modernität der mittelalterlichen Stadt, S. 65 f. 22 Vgl. G. D, Max Webers »Stadt«. 23 Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1 (MEW; 23), Berlin/Ost 1973, S. 743.

Das Erscheinungsbild der mittelalterlichen Stadt 37

Feudalwelt zum Mitglied der städtischen Kommune. Die Leibeigenen des Mittelalters befreien sich von der Herrschaft der feudalen Herren, konstituieren sich als bewaffnete und sich selbst verwaltende Assoziation der Kommune. Wo aber die Bourgeoisie zur Herrschaft kommt, zerstört sie alle feudalen, patriarchalen, aber auch alle idyllischen Verhältnisse. Alle Produktionsund Verkehrsmittel, auf deren Grundlage sich die Bourgeoisie heranbildet – Privateigentum, Manufaktur, Akkumulation des Kapitals, freie Lohnarbeiterschaft –, sind Hervorbringungen der mittelalterlichen Stadt und wurden ausnahmslos noch innerhalb der insgesamt feudal geprägten Gesellschaft des Mittelalters erzeugt.²⁴ Friedrich Engels (1820–1895) ist chronologisch präziser und sachlich konkreter, wenn er den revolutionären Kampf des Stadtbürgertums gegen den Feudalismus abhandelt und einige der zukunftsweisenden Leistungen des mittelalterlichen Bürgertums dem Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit zuordnet: die Umwandlung der alten Feudalbande in vertraglich geregelte Geld- und Tauschbeziehungen, den Aufschwung der Naturwissenschaften im Dienste der industriellen Produktion, die Wiederbelebung des Studiums der antiken Literatur, die ganze Kulturbewegung seit 1450, nicht zuletzt die Fortbildung des mit feudalen Beschränkungen versehenen Eigentums zum reinen Privateigentum durch Juristen bürgerlichen Standes mit Hilfe römischer Rechtsprinzipien.²⁵

So wie für Marx und Engels das mittelalterliche Stadtbürgertum, angefangen mit den Kommunebewegungen seit dem 11. Jahrhundert, eine fortschrittliche, revolutionäre Rolle spielt, so kommt der mittelalterlichen Stadt gleichfalls eine zentrale Bedeutung zu in der großen Konzeption der okzidentalen Moderne, die im Übergang zum 20. Jahrhundert Max Weber (1864–1920) als der bürgerliche Marx, beruhend auf dem modernen bürokratisch organisierten Staat, dem kapitalistischen Wirtschaftsbetrieb und der beides durchziehenden und sich auf weitere Lebensbereiche erstreckenden Rationalität gesellschaftlichen Handelns entwickelt hat.²⁶ Dank ihrer politischen Selbständigkeit war die Stadt in der Lage, wirtschaftliches Handeln durch Rechtsgarantien sicher und berechenbar zu machen. Dazu gehörten ein Prozessverfahren, das magische und irrationale Beweismittel ausschloss, und eine nunmehr rationale Art der Rechtsformalisierung durch die Rezeption des römischen Rechts vor allem seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert. Jenseits des Zusammenhangs zwischen wirtschaftlicher und rechtlicher Entwicklung bereitete die mittelalterliche Stadtverfassung mit bürgerlicher Rechtsgleichheit, Wahlrecht und politischer Mitsprache den Boden für den modernen Begriff des Staatsbürgers. Die städtische Behörden- und Ämterorganisation förderte, wie es bei Weber prägnant heißt, »die Verwaltung kraft amtlicher P icht«²⁷ gegenüber einem feudalen Verständnis, das das Amt als Familienbe-

24 Karl Marx, Frühschriften, hg. von S. L, Stuttgart 1964, S. 525 f. 25 Friedrich Engels, Die drei großen Entscheidungsschlachten des Bürgertums gegen den Feudalismus, in: Marx-EngelsLenin-Stalin, Zur deutschen Geschichte, Bd. 1, Berlin/Ost 1953, S. 179; ., Über den Verfall des Feudalismus und das Aufkommen der Bourgeoisie, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 21, Berlin/Ost 1969, S. 397, 400. 26 M. W, Die Stadt, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 47 (1902/21), S. 621–772; unter dem Titel »Die nichtlegitime Herrschaft (Typologie der Städte)« auch in: ., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hg. von J. W, 5. A., Tübingen 1972, S. 727–814; jetzt als historisch-kritische Ausgabe: ., Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass. Teilbd. 5: Die Stadt, hg. von W. N (Max Weber Gesamtausgabe, Abt. 1, Schriften und Reden; 22), Tübingen 1999; , Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, hg. von M W (1924), ND Tübingen 1988; ., Wirtschaftsgeschichte. Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 3. A., Berlin 1958; . Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter nach südeuropäischen Quellen, Stuttgart 1889, hg. von G. D und S. L, Tübingen 2008. Zum Folgenden siehe vor allem K. S, Die mittelalterliche Stadt in Webers Analyse, S. 131–136. 27 M. W, Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, S. 261.

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sitz und Nutzungsobjekt betrachtete. Im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Modernität der Stadt verweist Weber auf die anstelle feudaler rechtlicher Gebundenheit herrschende Freiheit der Arbeit, derzufolge das Wirtschaftssubjekt frei über seine Arbeitskraft und über seinen Arbeitsertrag verfügen konnte, also keinem, wie es die Marxisten nennen, außerökonomischen Zwang unterlag. Abgaben sind solidarische Abgaben an die Stadt, um Gemeinschaftszwecke zu nanzieren, allgemeine Steuern nach unseren Begriffen. Die freie Arbeit, organisiert und reglementiert durch die Planungssicherheit gewährende Zunft, hatte weitreichende betriebliche Konsequenzen, denn sie war Voraussetzung für die Arbeitsteilung und die daraus resultierende Ausweitung der gewerblichen Produktion und Markterweiterung, d. h. für den »Übergang von der lokalen Kundenproduktion zur interlokalen Marktproduktion«, der als geeignete Betriebsformen den Verlag und dann die Manufaktur entstehen ließ.²⁸ Das Kontor des hoch- und spätmittelalterlichen Kaufmanns wurde zum Hort der Schriftlichkeit. Rationale kaufmännische Buchführung ermöglichte die Planmäßigkeit ökonomischer Entscheidungen, eine Kapitalrechnung sowie die Ermittlung und Kontrolle der Rentabilität. Es bildete sich die »Trennung von Familienhaushalt und Werkstatt«, von Privat- und Geschäftsvermögen heraus, ein Vorgang, ohne den die »moderne rationale Organisation des kapitalistischen Betriebs« nicht möglich gewesen wäre.²⁹ Sämtliche für das Handelsrecht des Kapitalismus charakteristische Institute sind Weber zufolge Schöpfungen des mittelalterlichen Stadtbürgertums: der Rentenbrief, die Aktie (das allerdings noch nicht), die Hypothek mit Grundbuchsicherung und der Pfandbrief, auch die

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Handelsgesellschaft, welche die »geborene Teilnahme am wirtschaftlichen Gemeinschaftshandeln durch Haus und Familie« durch eine »rationale Vergesellschaftung«, die Familiengesellschaften durch nichtfamiliale, »voluntare Gesellschaften« ergänzte.³⁰ Die mittelalterliche Stadt ist nach der Auffassung Otto von Gierkes, des Verfassers eines monumentalen Werks über das Genossenschafts- und Körperschaftsrecht, das »älteste wahrhaft staatliche Gemeinwesen in Deutschland«.³¹ Wenn Gierke in Bezug auf die Stadt und ihre Handlungsfelder von »Staat« spricht, so ist es, darin liegt die Differenz zu einer noch moderneren Staatlichkeit, der korporationsrechtlich begründete Staat, nicht der durch den sogenannten Absolutismus vorbereitete, auf einem egalitären Staatsbürgerverständnis beruhende anstaltliche souveräne Staat, der eine von den Mitgliedern gesonderte Rechtssphäre konstituiert und mit dem Monopol der Rechtsetzung ausgestattet ist³², obwohl es auch dafür im späten 15. Jahrhundert bereits erste Anzeichen gibt. Der Rechtshistoriker Wilhelm Ebel nennt die mittelalterliche Stadt ein »Treibhaus des modernen Verwaltungsstaates«³³; die Stadt ist für ihn »eine Art kleiner bürgerlicher Rechtsstaat«³⁴, der die Rechtsgleichheit vor Gericht propagiert und mit der Strafverfolgung gegen Reich und Arm, d. h. gegen jedermann, ein frühes Legalitätsprinzip formuliert. Darüber hinaus wird in Köln ein umfangreicher Kanon von bürgerlichen Freiheitsrechten formuliert und zum Teil in die Stadtverfassung implementiert. Ein früher »Gesetzgebungsstaat« war die Stadt in ihrer autonomen Erscheinungsform hinsichtlich ihrer enormen Produktion von Satzungen allemal.³⁵ Gegenüber Ansprüchen fürstlicher Stadtherren formulierten Juristen des 15.

Ebd., S. 294. M. W, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1 (1947), Tübingen 1920, 6. A., 1976, S. 21. M. W, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 227. O. . G, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 2, 1873, S. 705. Siehe dazu W. M, Genossenschaft, S. 29 f. (mit Literatur). W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 382. W. E, Der Bürgereid (2.2–2.4), S. 1, 107. E. I, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht (2.2–2.4), S. 17–23.

Was ist eine Stadt? 39

Jahrhunderts zum ersten Mal für deutsche Städte ein kommunales Selbstverwaltungsrecht mit autonomer Satzungsbefugnis.³⁶ Die Stadt wird insofern noch vor dem Territorialstaat auch zu einem frühen »Steuer- und Finanzstaat«, als sie unter dem Begriff des Mitleidens bei Bedarf, dann regelmäßig Steuern und Abgaben als hoheitliche Zwangsabgaben zugunsten des Gemeinwohls erhebt, vielfältige und komplizierte Formen der Besteuerung, eine Steuerverwaltung und ein Steuerstrafrecht entwickelt sowie zur Deckung des Haushalts zu Formen der Kredit nanzierung greift, sich aber auch in die Gefahr der Überschuldung begibt. Ganz evident ist der Sachverhalt, dass die europäische Kommunebewegung im 12. und 13. Jahrhundert mit der städtischen Ratsverfassung das – funktionale – politische Modell einer kollektiven Regierung geschaffen hat, auch wenn es in seiner bis heute andauernden Existenz immer wieder technisch, ideell und sozial unterschiedlich ausgefüllt, in europäischen Schwundstufen mit unterschiedlichen Kompetenzen und unterschiedlicher Autonomie ausgestattet sowie in unterschiedliche übergeordnete Verfassungsstrukturen eingebunden wurde.³⁷ Auch wenn der moderne Staatsbürger nicht unmittelbar entwicklungsgeschichtlich aus dem mittelalterlichen Stadtbürger hervorgegangen, sondern dem Boden des obrigkeitlichen, früher absolutistisch genannten Fürstenstaates in Überwindung der Ständeordnung und des bloßen Untertanenstatus entwachsen ist, so nimmt die Figur des mittelalterlichen Stadtbürgers doch viele Züge des Staatsbürgers vorweg. Sie bleibt in den sich behauptenden autonomen Städten in oppositionellen und reichsgerichtlichen Auseinandersetzungen mit der nunmehr ratsherrlichen Obrigkeit bis zum Ende des Alten Reichs erhalten und lebt

in der kleinen Restgruppe der Städte Hamburg, Bremen, Lübeck und Frankfurt darüber hinaus im Deutschen Bund (1815–1866) unmittelbar fort, ferner im politischen Bewusstsein vor allem des Bildungsbürgertums und in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. Diese hier in Stichworten und unvollständig ausgebreiteten Merkmale, Formen, Aktivitäten und Qualitäten der Stadt und des städtischen Lebens treten freilich in der Vielzahl außerordentlich verschiedenartiger Städte nicht alle, nicht alle gleichzeitig und auch nicht in gleichem Umfang in Erscheinung, kennzeichnen aber in der Zusammenschau die vielfältigen Möglichkeiten des Urbanen.

1.2 Was ist eine Stadt? Kriterien einer Stadtde nition – Idealtypus und Modell der Stadt Am Ausgang des Mittelalters, etwa um die Mitte des 15. Jahrhunderts, war das Reich »in Abständen von durchschnittlich 4–5 Wegstunden im Süden und Westen, von 7–8 Stunden im Norden und Osten« mit Orten übersät, die Stadtrecht besaßen. Der Nationalökonom und Statistiker Karl Bücher, der diese Beschreibung gibt, rechnete mit einer Gesamtzahl von etwa 3 000 Städten.³⁸ Die stadtähnlichen bayerischen Märkte eingeschlossen, wird man nach neueren Schätzungen von etwa 4 000 Städten auszugehen haben. Auch die von Hans Planitz ermittelten Zahlenangaben zur Städteentwicklung seit der vorstau schen Zeit dürften erheblich zu niedrig gegriffen sein³⁹; eine zutreffendere Statistik für das Gebiet des Reichs liegt bislang allerdings noch nicht vor. Wohl aber hat Heinz Stoob genauere Zahlen für das mitteleuropäische Städtewesen erarbeitet.⁴⁰ Bezogen auf

36 Entgegen der gängigen Bezugnahme auf den Freiherrn vom Stein und die preußische Städteordnung von 1808, siehe E. I, Zur Modernität der kommunalen Welt des Mittelalters, S. 93–105; ., Kann das Mittelalter modern sein? S. 48 f. 37 E. I, Art. »Rat«, in: Enzyklopädie der Neuzeit, hg. von F. J, Bd. 10, Stuttgart 2009, Sp. 619–630. 38 K. B, Die Entstehung der Volkswirtschaft, S. 121. 39 H. P, Die deutsche Stadt im Mittelalter, S. 161 f. 40 H. S, Stadtformen und städtisches Leben, S. 151.

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Mitteleuropa, den Raum zwischen Brügge und Brest-Litowsk, Falsterbo und Genf, verdichtete sich das Städtenetz bis zum Ende der Staufer von 200 Städten auf 1 500 Städte und erreichte um 1450 die Zahl von 5 000 Städten. Dabei betrug der Zuwachs in den Jahren von 1240 bis 1300 pro Jahrzehnt über 300 neue Städte, bis 1330 noch etwa 200 Städte, bis 1370 noch etwa 150 Städte. Erst gegen 1400 el der Zuwachs unter 100 pro Jahrzehnt, und zwischen 1460 und 1470 erreichte er mit nur noch 25 Städten ein absolutes Minimum. Zwischen dem frühen 15. und dem späteren 18. Jahrhundert wurden nur über 400 Städte neu gebildet. Im Reich waren im Spätmittelalter etwa 20–30 Prozent der westlichen und oberdeutschen Bevölkerung stadtsässig, nach Osten und Norden hin waren es vermutlich noch 10–20 Prozent. 1.2.1 Probleme einer Stadtde nition: Mauer und Markt Die etwas weniger als 4 000 Städte des spätmittelalterlichen Reiches weisen ein breites Spektrum an vielfältigen Erscheinungsformen auf, das von der kümmerlichen Klein- und Zwergstadt mit ausgesprochen ackerbürgerlichem Charakter bis hin zur Großstadt nach mittelalterlichen Maßstäben mit hoch entwickeltem Exportgewerbe und Fernhandel reicht. Es ist deshalb zu fragen, welche Merkmale diesen Städten gemeinsam sind, sodass sie alle unter den Begriff der Stadt subsumiert und von nichtstädtischen Siedlungsformen wie Dörfern und Markt ecken abgegrenzt werden können.⁴¹ Wie lässt sich die Stadt nach Raum und Zeit oder gar als überzeitliche universale Erscheinung de nieren? Unsere gegenwärtige Verfassung, das Grundgesetz, kennt den Begriff »Stadt« über-

haupt nicht. Art. 28 Grundgesetz nennt als unterste Ebene, auf der das Volk eine Vertretung haben muss, und als unterste Planungsund Entscheidungsstufe die »Gemeinde«, worunter sowohl Dörfer als auch Städte begriffen sind. Auch das Bundesbaugesetz und die Gemeindeordnungen der Länder – mit Ausnahme Schleswig-Holsteins – bieten keine Legalde nition der Stadt. Erst die kreisfreie Stadt wird einer freilich rudimentären De nition zugänglich.⁴² Nehmen wir den städtischen Mauerring in seiner rechtlichen und militärischen Bedeutung oder den topogra schen Aspekt der kompakten Bebauung, so ergibt sich, dass der Festungscharakter der Stadt spätestens seit dem 18./19. Jahrhundert verlorengegangen ist und auch die Bebauung angesichts ausufernder Stadtsiedlungen unserer Tage kein Kriterium für die Stadt mehr sein kann. Der Rechtsbegriff der Stadt erlischt im Wesentlichen im 19. Jahrhundert. Die stadtbürgerliche Freiheit und Gleichheit sind längst von umfassenderen egalitären staatsbürgerlichen Rechtsprinzipien, deren Ansätze sie gebildet haben, abgelöst. Bauliche Erscheinungsform und Rechtsordnung sind jedoch zweifellos wesentliche Kriterien für die mittelalterliche Stadt. Die durch stadtherrliches Privileg erworbene Bezeichnung Stadt lässt im Spätmittelalter eindeutiger eine Zuordnung zum Stadtbegriff zu. In der Frühzeit jedoch vermittelt die lateinische Terminologie teilweise noch antike Bedeutungsinhalte oder ist, wie der Begriff der bischö ichen civitas, durch kirchliches Recht geprägt, während die übliche deutsche Bezeichnung Burg für Stadt noch bis ins hohe Mittelalter gebraucht wird und in der Ableitung Bürger in der Bedeutung von Stadtbewohner und Stadtbürger erhalten bleibt. Mit einigem Recht kann man sagen, dass im Spätmittelalter Stadt das ist, was im urkundlichen, d. h. rechtlichen Sprachgebrauch Stadt genannt wird, und

41 C. H, Die Entstehung der westfälischen Städte, S. 1–11, 251–269; H. A, esen; A. H, Die mittelalterlichen Städte als begriffliches und de nitorisches Problem (mit Hinweisen auf Gustav Schmoller und Paul Sander). 42 E. D, Stadt, Land, zentrale Orte, S. 8 f.

Was ist eine Stadt? 41

dass Stadterhebung und Stadtrechtsprivileg eine Siedlung zur Stadt machen, wenigstens rechtlich und nominell. Erhebungen von Siedlungen zur Stadt durch Privilegien geben trotz ihrer unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen Hinweise darauf, was die künftige Stadt an spezi schen Besonderheiten auszeichnet. Insbesondere sind dafür späte Erhebungen aufschlussreich, die ohne entwicklungsgeschichtliche Etappen gewissermaßen bereits teilweise modellhaft die Stadt ausgestalten. Als König Karl IV. 1352 dem Adligen Philipp von Münzenberg-Falkenstein gestattete, das Dorf (villa) Hofheim (Taunus) zur Stadt (oppidum) nach Wetzlaer Recht zu erheben, gewährte er folgende Einrichtungen: Nachdem sich Philipp bereits das Dorf mit Gräben, Planken und anderen Befestigungsbauten zu sichern bemüht habe, darf er, um das Dorf in eine Stadt umzuwandeln, die Siedlung mit Mauern, Türmen, Wällen, Brücken und anderen Befestigungen versehen. Er darf einen Stock, Galgen oder ein Blutgerüst errichten, Gerichtsstätten, Wirtschaftsgebäude, Handwerkerzünfte und andere denkbare öffentlichen Ämter nach Art der kaiserlichen Städte einführen, ferner einen Markt für die verschiedensten Güter an einem bestimmten Wochentag einrichten und verkünden, dass alle Kau eute und alle Personen gleich welchen Standes den Markt solange und sooft es ihnen gefällt, ohne Beschwerlichkeit und ohne Furcht vor Gewalttaten in aller Öffentlichkeit besuchen dürfen. Daran schließt sich dann die Bewidmung mit einem bestimmten Stadtrecht, mit den Rechten und Freiheiten Wetzlars an.⁴³ Bei der Erhebung der von einem Graben umfassten villa Düsseldorf 1288 hatte Graf Adolf von Berg die Ortsbewohner samt ihrer Güter vom Joch jeglicher Besteuerung befreit und sie in die Freiheit entlassen, ihnen das Recht der Schöffenwahl eingeräumt und zwei freie Jahrmärkte und einen montäglichen allgemeinen Wochenmarkt verliehen.⁴⁴

Wenn wir die Stadt jedoch de nieren, so handelt es sich um die voll entwickelte mittelalterliche Stadt. Insgesamt wird man sagen können, dass die Zahl der Bedingungen und Merkmale, die einen Ort zur Stadt machen, im Hochund vor allem Spätmittelalter größer war als in viel späterer Zeit, zumal auch die ländlichen Siedlungen, gegen die man die Stadt abgrenzt, einem tiefgehenden Gestaltwandel unterlagen, wie er vor allem in der Neuzeit im Aufbau eines starken, auch als protoindustriell bezeichneten ländlichen Gewerbes und noch später in modernen Industrieansiedlungen in Erscheinung tritt. In seiner Erörterung von De nitionsvorschlägen hat der Nationalökonom und Soziologe Werner Sombart ein bevölkerungsstatistisches Kriterium des Stadtbegriffs dem Statistischen Reichsamt folgend in der bündigen statistischen Aussage referiert, wonach gegenwärtig Städte Wohnplätze mit mehr als 2 000 Einwohnern seien. Selbst wenn dieser willkürliche Schwellenwert angesichts einer erdrückenden Mehrheit spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Städte unterhalb dieser Einwohnerzahl in eine Relation zu mittelalterlichen Größenordnungen gebracht würde, so erweist doch der Sachverhalt, dass es nicht wenige ländliche Siedlungen mit einer zahlenmäßig stärkeren Bevölkerung als ein nicht geringer Teil der Städte gegeben hat, dass eine rein bevölkerungsstatistische De nition unbrauchbar ist. Wohl aber hält Sombart am Merkmal »der größeren Ansiedlung von Menschen« als Voraussetzung für eine Stadt – im ökonomischen Sinne – fest und spricht davon, dass die Quantität an einer bestimmten Stelle in die Qualität (Stadt) umschlage.⁴⁵ Auch der Historiker Paul Sander scheidet die Voraussetzung der Bevölkerungsagglomeration nicht aus, präzisiert sie aber für die Stadt dadurch, dass er sie mit einer verdichteten Siedlungstopogra e und einem vielgestaltigen örtlichen Wirtschaftsverkehr in Beziehung setzt.

43 B.-U. H (Hg.), Quellen zur Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 55, S. 364. 44 Ebd., Nr. 47, S. 326, 328, 332. 45 W. S, Der Begriff der Stadt, S. 3 f.; ., Der moderne Kapitalismus, 1. Bd., S. 124 ff.

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Auch die Befestigung gemäß dem mittelalterlichen Sprichwort ›Bürger und Bauer scheidet nichts als die Mauer‹ ergibt kein zureichendes de nitorisches Kriterium, da es durchaus befestigte Markt ecken und Dörfer gegeben hat wie etwa in Südwestdeutschland, auch solche mit geschlossener Bebauung, während sich andererseits gelegentlich unbefestigte Städte nden lassen wie in Tirol. Die Stadtbefestigung ist eher eine »zeitbedingte Erscheinung«, denn manche Städte wurden erst spät befestigt. Die Befestigung selbst bedarf zu ihrem Bau gelegentlich einer stadtherrlichen Priviliegierung. Sie hängt von dem Schutzbedürfnis und dem politischen Selbstbehauptungswillen in einer unbefriedeten Umwelt sowie von der Art der Kriegführung ab, die auf die politische Nötigung des Gegners durch Schädigung und nicht auf die Schlachtenentscheidung auf freiem Felde abzielt; sie ist zudem militärisch wirkungsvoll, da im Mittelalter der Vorteil noch bei der Defensive liegt. 1.2.2 Verschiedene Stadtbegriffe 1.2.2.1 Wirtschaftlicher Stadtbegriff Werner Sombart verzichtet überhaupt auf einen einheitlichen und umfassenden Stadtbegriff. Für ihn kommt es auf die wissenschaftliche Zweckmäßigkeit des Begriffs an, darauf, welche Erkenntnismöglichkeiten er erschließen kann. Da die Geschichte unterschiedlichen, etwa kriegsgeschichtlichen, sozialgeschichtlichen, rechtsgeschichtlichen oder wirtschaftsgeschichtlichen Betrachtungsweisen unterliegt, sind entsprechend der jeweiligen Betrachtungsweise verschiedene, funktionale Stadtbegriffe zu konstituieren. Eine Siedlung kann dann im wirtschaftlichen Sinne Stadt sein, auch wenn sie es im rechtlichen oder administrativen Sinne nicht ist, und umgekehrt. Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Aspekten bleiben unerörtert. Stadt im ökonomischen Sinne ist für Sombart »eine größere Ansiedlung

von Menschen, die für ihren Unterhalt auf die Erzeugnisse fremder landwirtschaftlicher Arbeit angewiesen ist«. Sombart bezieht sich dabei auf die Lehre des Adam Smith, wonach die Subsistenz der Stadt auf der agrarischen Überschussproduktion des Landes beruhe, die Größe der Stadt von der Größe der Mehrproduktion ihres benachbarten oder weiteren Unterhaltsgebietes und dem Ausmaß abhänge, in dem die Stadt diesen Überschuss an sich zu ziehen vermöge.⁴⁶ Der bei Adam Smith vor ndliche Gedanke, dass das Land die Stadt mit Subsistenzmitteln und gewerblichen Rohstoffen versorge und im Austausch dafür einen Teil der städtischen Gewerbeproduktion erhalte, liegt auch dem Modell der geschlossenen Stadtwirtschaft zugrunde, das Karl Bücher, der wie Sombart der Jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie zuzurechnen ist, in seiner wirtschaftsgeschichtlichen Stufentheorie entwickelt hat.⁴⁷ Auf der Stufe der geschlossenen Hauswirtschaft, der reinen Eigenproduktion und der tauschlosen Wirtschaft, werden die Güter in derselben Wirtschaft verbraucht, in der sie entstanden sind. Sie geht über in die Stufe der Stadtwirtschaft, der Kundenproduktion oder des direkten Austauschs, der Produktion für einen bekannten Markt. Auf dieser Stufe gehen die Güter aus der produzierenden Wirtschaft, wie Bücher noch annimmt, unmittelbar, d. h. ohne jeglichen Zwischenhandel, in die konsumierende Wirtschaft über. Die in der geschlossenen Hauswirtschaft noch vereinigte Produktion wird auf der Stufe der Stadtwirtschaft in zwei Standorte, in einen gewerblichen der Stadt und einen agrarischen – mit Einschluss gewisser gewerblicher Rohstoffe – auseinandergelegt. Der Grund liegt darin, dass der notwendigerweise wachsende städtische Schutzverband die eigene Ernährung nicht mehr sichern kann, andererseits die ländliche Wirtschaft Produktionsvorteile ausnutzt und durch die Entwicklung einseitiger Sonderwirtschaften Überschüsse erzielt. Auf dem städtischen Markt tauschen sich beide

46 Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776), Book III, Chap. I. 47 K. B, Die Entstehung der Volkswirtschaft (1.1), S. 108, 135 ff.

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Wirtschaften jeweils als Produzenten und Konsumenten unmittelbar in einem gegenseitigen Kundenverhältnis aus. »Der Markt und der stehende Handel schließen einander aus. Wo es einen Berufsstand von Kau euten gibt, braucht man keine Märkte; wo es Märkte gibt, braucht man keine Kau eute.« Zufuhr und Absatzgebiet fallen im Wesentlichen zusammen, deshalb handelt es sich um eine geschlossene Wirtschaft, die von der Stadt mit ihrem Niederlags-, Stapelund Bannmeilenrecht beherrscht wird. Von der neueren Wirtschaftsgeschichte wurde dieses »System des direkten Austausches«, das auch für die auf den Jahrmärkten erscheinenden Fernhändler gilt, und die Auffassung, wonach die meisten Städte bis zum Ausgang des Mittelalters ansässige Kau eute, die den Großhandel ständig und ausschließlich ausübten, nicht gesehen hätten, zurückgewiesen. Namentlich die Forschungen Hektor Ammanns haben auch kleinere Städte als bedeutende Handelsmittelpunkte und Orte mit Exportgewerbe erwiesen, von denen dies bis dahin nicht vermutet worden war.⁴⁸ Die Vielzahl von Kleinund Kleinststädten dürfte schon von ihrer geringen Bevölkerung her kaum in der Lage gewesen sein, durch eine entsprechende Vielzahl von Handwerken eine genügende und vollständige Versorgung mit gewerblichen Gütern sicherzustellen. Ergänzt man nun Karl Büchers Modell der Stadtwirtschaft dahingehend, dass die Stadt als wirtschaftliche Erscheinung in erster Linie Sitz von Gewerbe sowie von Handel war, so stehen dieser Auffassung der ackerbürgerliche Charakter der Vielzahl von kleinen Städten und die ausgesprochenen Ackerbürger- oder Feldstädte mit ihren Feldmarken, den Acker uren der Bürger und dem Anbau von Getreide sowie agrarischer Sonderkulturen wie Wein und Flachs oder der Farbp anzen Krapp und Waid entgegen. Bü-

cher selbst hat jedoch auf die »durchaus ländliche Atmosphäre« hingewiesen, die selbst in den später zu den bedeutendsten Städten zählenden Ortschaften noch Jahrhunderte hindurch vorgeherrscht habe.⁴⁹ Dazu gehören große und größere Städte wie Nürnberg, Augsburg, Ulm, Frankfurt oder Basel. In vielen Städten gab es Wein-, Acker- und Gartenbau betreibende Bürger und Bewohner in den Gärtner-, Bauleuteund Rebleutezünften. Stadtrechte enthielten deshalb Satzungen, die das Markrecht auch als Recht der Grundherrschaft, die Flurordnung (Weide und Trift) mit Überfahrrechten, die Waldnutzung und die Aufgaben der Bannwarte, Feldhüter und Stadthirten, auch spezielle Feldgerichte (Feldeinung) betrafen. Der Ulmer Rat verhängte eine nächtliche Stallp icht, verbot und bestrafte nächtliches Viehtreiben aus der Stadt, Viehtreiben über fremde Wiesen und Äcker, den mutwilligen Überritt von Acker uren, die Schädigung von Acker uren, Gärten und Baumgärten, die Einfuhr von Futtergras in Säcken in die Stadt und beschränkte die nicht mit wöchentlichen Abgaben belastete Viehhaltung der Bürger auf drei Rinder und zwölf Schafe, wobei die Anzahl der Tiere nach Größe der landwirtschaftlichen Fläche differierte und danach, ob man ein Haus besaß oder nur Hausbewohner war. Verstöße hatten die städtischen Flur- und Viehhüter zu rügen.⁵⁰ Der städtische Rat verbot ferner auf dem Lande im Interesse der Viehwirtschaft, Wiesen zu Acker ächen zu machen und, wie in Ulm, ohne Antrag beim Rat und ohne dessen Erlaubnis Acker ächen in Gärten umzuwandeln.⁵¹ Der Rottweiler Rat regelte wie derjenige Schweizer Städte ausführlich die Viehverpachtung (Viehverstellung oder Halbviehvertrag) – in einer Art Gemeinderschaft (Gesamthandvermögen) – mit detaillierten Bestimmungen zu Gebrauch, Behandlung, Beaufsichtigung

48 Eine Bibliographie der Arbeiten H. Ammanns ndet sich bei E. M, Hektor Ammann, 23. Juli 1894–22. Juli 1967, in: Berichte zur Deutschen Landeskunde 43 (1969), S. 41–72. 49 K. B, Die Bevölkerung von Frankfurt am Main im 14. und 15. Jahrhundert, S. 259 ff. 50 C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm (2.2–2.4), Nrr. 63 f., S. 63 f.; Nr. 105,. S. 66; Nr. 108, S. 67; Nr. 462, S. 229 f. 51 Ebd., S. 101 f., Nrr. 185d, 185e.

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des Viehs und Viehschaden sowie die Rindmiete, d.h. die Geld- oder Naturalleistung für den Gebrauch des Viehs, an dem ein anderer teilhatte. Mit der Viehverpachtung von Pferden und Hornvieh wurde den Stadtbewohnern eine indirekte Möglichkeit gesichert, sich an der Landwirtschaft zu beteiligen.⁵² In der Messestadt Frankfurt waren Büchers Darstellung zufolge Ratsbeschlüsse, die sich mit der Regelung der Landwirtschaft beschäftigten, fast ebenso zahlreich wie diejenigen, die Gewerbe und Handel betrafen. Im Jahre 1440 waren etwa 18 Prozent aller Berufsausübenden im agrarischen Sektor beschäftigt. Drei Viertel der Steuerordnungen nehmen den eigenen Landwirtschaftsbetrieb, Gutshöfe, Scheunen, Ställe, Hofräume oder den Besitz landwirtschaftlich genutzten Grundeigentums zur Besteuerungsgrundlage. Der Besitz einer Kuh gehörte zum steuerfreien Existenzminimum; die Stadt selbst hat Kühe an ärmere Leute ausgeliehen. Rottweil erlaubte dem Bürger allerdings nur die Haltung von zwei Melkkühen, worauf die städtischen Hirtenmeister zu achten hatten. Innerhalb der Mauern, vor allem in den Vorstädten, gab es viele offene Grundstücke mit Acker ächen und ausgedehnte Gärten, Wein- oder Hopfenanbau. Die Stadt selbst besaß in der Regel Feldmarken und Allmenden oder hatte Nutzungsrechte zum Zwecke des Schiffsbaus, des Brennholzschlags und Ähnlichem an Gemarkungen, die sich in fremdem Eigentum befanden. Städte waren bestrebt, land- und forstwirtschaftliche Nutzungs ächen und die Allmende zu vergrößern. Die städtische Oberschicht verfügte über Liegenschaften, Bauernhöfe oder ganze Dörfer auf dem Lande, aus denen sie Natural- oder Geldzinse bezog. Die einfacheren Bürger versuchten, in der städtischen Feldmark oder in den umliegenden Landgemeinden etwas Acker- und Gartenbau zu betreiben. Sie bemühten sich auch um etwas Viehzucht, wenigstens mit einer Kuh, einer Ziege oder einem Schwein. Viehhaltung gehörte fast zu jedem Haus. Der Stadthirte trieb

die Tiere auf die städtische Allmende zur Weide oder in den Wald zur Eichel- und Bucheckernmast. In Ulm weideten die Gänse auf der Gänsewiese in der Gegend des Gänstors. Mancher Bürger deckte auf diese Weise einen Teil seines Lebensmittelbedarfs durch Eigenproduktion, sodass seine materielle Lage durch Bargeldeinkommen und Eigenerzeugung gekennzeichnet war. Im Anschluss an Sombart hat Horst Jecht geltend gemacht, »dass ein großer, wahrscheinlich sogar der größte Teil der mittelalterlichen Städte wirtschaftlich Dörfer gewesen« sei.⁵³ Jedenfalls bereitet es in vielen Fällen Schwierigkeiten, Dorf und Stadt in wirtschaftlicher Hinsicht voneinander abzugrenzen, gibt es doch Kleinund Zwergstädte, die nicht einmal Märkte hatten und in erster Linie, nicht selten in verkehrsungünstiger Spornlage angesiedelt, als Festungen, als Großburgen in einer territorialen Raumkonzeption fungierten. Außerdem gab es in den Städten wie auf dem Dorf Unfreie verschiedener Art. 1.2.2.2 Modale De nitionen: Differenzierung, Steigerung und qualitativer Wandel Im Gegensatz zu älteren De nitionsansätzen, die von leitenden Stadtentstehungstheorien bestimmt sind und die einzelne Merkmale wie den Markt, die Mauer oder die Verfassung oder auch Kombinationen als konstitutive Begriffsmerkmale namhaft machen, aber auch im Gegensatz zu dem funktionalen De nitionsprinzip seines Schülers Sombart hatte Gustav Schmoller einen umfassenden wie allgemeinen De nitionsversuch unternommen. Dabei zog Schmoller die Konsequenz aus dem für eine De nition kaum befriedigend aufzulösenden Sachverhalt, dass sich die Stadt hinsichtlich vieler Kriterien nur relativ, nicht aber absolut von anderen Siedlungsformen abgrenzen lässt. Schmoller geht von dem allgemeinen Begriff der »Siedlungsund Wohnweise der gesellschaftlichen Grup-

52 H. G (Hg.), Das ältere Recht der Reichsstadt Rottweil (2.2.–2.4), Nrr. 180–183, 391, 487, 489, 490. 53 H. J, Studien zur gesellschaftlichen Struktur der mittelalterlichen Städte, S. 226.

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pen« aus und unterscheidet die Siedlungsformen Höfe, Weiler, Dörfer und Städte.⁵⁴ Diese Formen bilden mit der Stadt an der Spitze eine Rangfolge nach dem jeweils höheren Grad ihrer »Differenzierung«, mit der sich ihr »technischwirtschaftlicher wie ihr institutioneller Charakter« steigert. Durch die größere Differenzierung und die Steigerung gegenüber anderen Siedlungsformen erlangt die Stadt gegenüber der ländlichen Umgebung eine Mittelpunktfunktion, sie ist – nach moderner Terminologie – zentraler Ort. Damit hat Schmoller ein neues, von der modernen Forschung zum wissenschaftlichen Programm erhobenes De nitionskriterium in den Stadtbegriff aufgenommen. Er deniert: »Die Stadt ist ein größerer Wohnplatz als das Dorf, aber zugleich ein solcher, wo Verkehr, Handel, Gewerbe und weitere Arbeitsteilung Platz gegriffen haben, ein Ort, der auf seiner Gemarkung nicht mehr genügende Lebensmittel für alle seine Bewohner baut, der den wirtschaftlichen, verwaltungsmäßigen und geistigen Mittelpunkt seiner ländlichen Umgebung bildet. Man denkt aber ebenso sehr daran, dass er mit Straßen und Brücken, mit Marktplatz, mit Rat- und Kaufhaus und anderen größeren Bauten versehen, dass er durch Wall, Graben und Mauer besser als das Dorf geschützt sei, wofern ein solcher Schutz überhaupt noch nötig ist; endlich daran, dass er eine höhere politische und Gemeindeverfassung, gewisse Rechtsvorzüge besitze.«⁵⁵ 1.2.2.3 Sozialer Stadtbegriff Mit der Modalität der Steigerung und dem durch sie bewirkten qualitativen Wandel arbeitet auch Paul Sander. Für ihn ist die Stadt mit ihrer relativ großen Bevölkerungszahl »die lokale Siedlungsform des großen sozialen Kreises«.⁵⁶ Je größer der soziale Kreis ist, umso mehr treten im Zusammenleben der Menschen die privaten und persönlichen Beziehungen hinter räumlichen und öffentlich-allgemeinen zurück. Die

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Stadtverfassung ist deshalb »die politische Organisation der örtlich Zusammenwohnenden im überwiegend öffentlichen Verbandsystem« mit korporativer Verfassung im Unterschied zu den kleinen sozialen Kreisen, den persönlichindividuellen Beziehungen und dem privaten Verbandsmoment der ländlich-feudalen Welt, daher ist die Stadt Vorläuferin des modernen öffentlichen Staates. Neben diesem sozial begründeten Öffentlichkeits- und Verfassungsbegriff entwickelt Sander einen sozial begründeten Stadtbegriff.⁵⁷ Von dem herkömmlichen Rechtsbegriff der Stadt unterscheidet er einen allgemeinen, das heißt für ihn zugleich »gesellschaftlichen« Stadtbegriff, indem er nach dem gesellschaftlichen Wesen der Stadt »als eines in sich eigenartigen gesellschaftlichen Gebildes« fragt. Er relativiert die »äußeren« Merkmale der Stadt wie Stadtrecht, Markt, Befestigung, große Bevölkerungszahl, nichtagrarische Wirtschaftsform, Handel und Gewerbe, indem er nachweist, dass einzelne Merkmale entweder auch in nichtstädtischen Siedlungsformen anzutreffen sind oder bei Städten gelegentlich fehlen. Das innere Wesen der Stadt indessen, das notwendigerweise die Eigenart der Stadt begründet, macht das städtische Leben aus, das sich auch nach herkömmlicher Auffassung in Gewerbe, Handel und Verkehr äußert. Entscheidend für den Unterschied zwischen dem Dorf, das auch Sitz von Gewerbe oder sogar Industriedorf sein kann, und der Stadt ist jedoch der Sachverhalt, dass sich für die Stadtbewohner der für sie notwendige Verkehr am Ort selbst abspielt, während die Dorfbewohner ihren Ort verlassen und als Marktbesucher oder Hausierer andere Ortschaften aufsuchen müssen, wenn sie am Wirtschaftsverkehr teilnehmen wollen. »Die Stadt ist also zwar nicht der Sitz von Gewerbe, Handel und Verkehr schlechthin, wohl aber ist sie eine Ansiedlung, die sich wirtschaftlich auf die am Orte selbst gegebene Verkehrsmöglichkeit gründet.« Anders als die Dorfbewoh-

G. S, Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Teil 1, S. 257. Ebd., S. 259. P. S, Feudalstaat und bürgerliche Verfassung, S. 129, 135, 169; 53 ff. P. S, Geschichte des deutschen Städtewesens, S. 10–18.

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ner mit ihrer weitgehend selbstgenügsamen und von anderen unabhängigen Hauswirtschaft sind die Stadtbewohner zur Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse aufeinander angewiesen. Durch die Intensität des täglichen und stündlichen Verkehrs, den das örtliche städtische Wirtschaftsleben für den Einzelnen mit sich bringt, wird die Stadt zum Sitz eines »gesteigerten Gesellschaftslebens«, werden die Stadtbewohner »in höherem Grade miteinander vergesellschaftet«. Der wirtschaftliche Selbstbehauptungswille nimmt »Wissenschaft und Kunst, kriegerische Tüchtigkeit, Er ndungsgeist und Entdeckermut« in seinen Dienst und fördert sie. Wirtschaftlicher Wettbewerb, vielfältiger und intensiver Ideenaustausch als Folgen des wirtschaftlichen Verkehrs und der dadurch bewirkten Vergesellschaftung führen zu einer breit gefächerten Kulturentwicklung. Sander nimmt hier ein Wort Johann Gottfried Herders aus dessen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« (1784−1791) auf, wonach die Städte in Europa gleichsam stehende Heerlager der Kultur, Werkstätten des Fleißes und der Anfang einer bessern Staatshaushaltung geworden seien.⁵⁸ Im Unterschied zur Stadt bringen die einseitigen Verkehrskreise der Klöster und der Fürstenhöfe nur einseitige kulturelle Leistungen hervor. Mit dem Wachstum der Stadt wächst und intensiviert sich der städtische Verkehr; je größer die Stadt ist, umso vollständiger prägt sich deshalb das spezi sch städtische Leben aus. Abstrakte, soziologische und auch psychologisch bestimmte Kategorien wie Verkehr, sozialer Kreis, Vergesellschaftung und Öffentlichkeit in Verbindung mit der Modalkategorie der Steigerung bieten für Sander die Möglichkeit, dem Dilemma zu entgehen, das die Summierung von äußerlichen, nicht eindeutig de nitorischen Merkmalen mit sich bringt, und zu ei-

ner einheitlichen Wesensbestimmung der Stadt zu gelangen. 1.2.2.4 Max Webers Idealtypus der Stadt und Städtetypologie: Wirtschaftlicher, politischadministrativer und sozialer Stadtbegriff – Stadtgemeinde Den erfolgreichsten, zum Idealtypus gesteigerten Stadtbegriff hat Max Weber in seinem 1921 posthum erschienenen Aufsatz »Die Stadt« konzipiert.⁵⁹ Verweise auf seine wissenschaftlichen Grundlagen fehlen fast vollständig, doch ist die Auseinandersetzung mit Grundgedanken der Historischen Schule der Nationalökonomie, insbesondere Sombarts, erkennbar, sowie er ferner bei der politisch-administrativen Seite des Stadtbegriffs auf die von Georg von Below zusammengestellten Elemente – Gerichtsbezirk, öffentliche Lasten, Gemeindeverfassung – Bezug nimmt.⁶⁰ Webers Abhandlung besticht durch die Vielfalt der Aspekte, die Breite der Einzelkenntnisse, das prägnante begrifflich-sprachliche Niveau, den zeitlich und räumlich universalen Ansatz und durch das methodische Vorgehen. Weber kombiniert eine Mehrzahl notwendiger, aber allein für eine De nition nicht hinreichender Merkmale zu einer idealtypischen Begriffsbestimmung der okzidentalen Stadt, die dadurch als prägnante Gesamterscheinung hervortritt, während sich durch die Hervorhebung einzelner relevanter Merkmale zugleich ein breit gefächertes Spektrum an weiteren speziellen Typisierungsmöglichkeiten ergibt. Wie Sombart unterscheidet auch Weber einen ökonomischen und einen politisch-administrativen Stadtbegriff. In politisch-administrativem Sinne kann deshalb dann auch eine Ortschaft als Stadt gelten, die in ökonomi-

58 Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Menschheit (1791), in: ., Sämtliche Werke, hg. von B. S, Bd. 14, Berlin 1909, S. 486. 59 Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 47 (1920/21), S. 621–772. Auch in: ., Wirtschaft und Gesellschaft, S. 727–814; ., Wirtschaft und Gesellschaft, Teilband 5: Die Stadt, hg. von W. N. 60 G. . B, Zur Entstehung der deutschen Stadtverfassung (2.5.1); ., Stadtgemeinde, Landgemeinde und Gilde (2.5.1). Aufgeschlüsselt sind die Arbeiten, auf die Weber Bezug nimmt, im Einzelnen nunmehr in der historischkritischen Ausgabe W. N im Rahmen der Gesamtausgabe der Werke Max Webers.

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schem Sinne diesen Namen nicht verdient. Der schließlich konstituierte idealtypische Stadtbegriff vereinigt beide Begriffe. Stadt in ökonomischem Sinne ist Marktort, »wo die ortsansässige Bevölkerung einen ökonomisch wesentlichen Teil ihres Alltagsbedarfs aus dem örtlichen Markt befriedigt, und zwar zu einem wesentlichen Teil durch Erzeugnisse, welche die ortsansässige und die Bevölkerung des nächsten Umlandes für den Absatz auf dem Markt erzeugt oder sonst erworben hat«. In diesem Sinne ist die Stadt Marktansiedlung, die Marktbetrieb und Marktsässigkeit vereinigt. Zu diesem »regelmäßigen Lokalmarkt« treten oft die »Fernmärkte«, die von anreisenden Händlern getragen werden.⁶¹ Die Frage nach der Abhängigkeit der wirtschaftlichen Grundlage der Stadtbevölkerung führt zu typologischen Unterscheidungen. (1) Beim Typus der Fürstenstadt hängen die Erwerbschancen der ansässigen Gewerbetreibenden und Händler vorwiegend direkt oder indirekt von der Kaufkraft des fürstlichen Haushalts oder anderer Großhaushalte ab. Der Fürstenstadt steht der Typus der Städte nahe, in denen andere Großkonsumenten wie Beamte, Grundherren und politische Machthaber ihre Einkünfte oder Grundrenten in der Stadt verausgaben und dadurch die Erwerbschancen der Stadtbevölkerung bestimmen. Die Stadt ist in diesen Fällen mehr oder weniger (2) Konsumentenstadt. Ihr steht die (3) Produzentenstadt gegenüber, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Größe der Bevölkerung und deren Kaufkraft darauf beruhen, dass – hinsichtlich ihres mittelalterlichen Typus – »in Form des Handwerks Gewerbe am Ort bestehen, deren Waren nach auswärts versandt werden«. Die Produzentenstadt lässt sich in die Gewerbestadt und in die Händlerstadt aufgliedern, in der die Kaufkraft ihrer Großkonsumenten darauf beruht, dass fremde Erzeugnisse in der Stadt detailliert, heimische Waren nach außen abgesetzt oder fremde Waren im Zwischenhandel erwor-

ben und wieder abgesetzt werden. Eine ausgeprägte Beziehung zur landwirtschaftlichen Produktion im Sinne der eigenwirtschaftlichen Bedarfsdeckung oder sogar der Produktion für den Absatz kann durchaus bestehen. Die Stadt bildet darüber hinaus einen Wirtschaftsverband mit einer ihm eigenen Wirtschaftspolitik, die – allerdings nicht universell gültig – wesentlich dadurch gekennzeichnet ist, »dass sie im Interesse der Sicherung der Stetigkeit und Billigkeit der Massenernährung und der Stabilität der Erwerbschancen der Gewerbetreibenden und Händler« die Bedingungen der stadtsässigen Wirtschaft durch Wirtschaftsregulierung zu normieren sucht.⁶² Die Stadt im politisch-administrativen Sinne mit einem besonderen Stadtgebiet und einer Sonderstellung des städtischen Grundbesitzes, die sich vor allem an den vom Umland abweichenden Besteuerungsgrundsätzen zeigt, wurzelt in ihrer Funktion als Festung und Garnisonsort. Burg und Mauer gehören deshalb zum normalen mittelalterlichen Stadtbegriff und – wie Weber meint – auch zu dem der orientalischen und antik-mittelmeerischen Stadt. Die Festungsstadt, die eine herrschaftliche Burg in sich enthält oder sich daran anlehnt, entwickelt sich zu einem politischen Sondergebilde mit einem Sonderrecht ihrer Bewohner. Als Angehörige des städtischen Wehrverbands ist der Bürger Angehöriger eines Standes, des Bürgerstandes, der sich von den auf dem Lande wohnenden Gruppen abhebt. Nicht jede Stadt im ökonomischen und nicht jede im politisch-administrativen Sinne ist indessen eine »Gemeinde«. Die Ausformung zur Gemeinde, die zum de nitorischen Kriterium der vollständigen Stadt wird, war im vollständigen Sinne und als Massenerscheinung nur der Stadt des Okzidents eigen. Zu einer Stadtgemeinde gehörte, »dass es sich um Siedlungen mindestens relativ stark gewerblichhändlerischen Charakters handelte, auf welche folgende Merkmale zutrafen: 1. die Befesti-

61 M. W, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 728, 728 f. [Ausgabe W. N, S. 61, 61 f.] 62 Ebd., S. 732 [S. 71].

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gung, – 2. der Markt, – 3. eigenes Gericht und mindestens teilweise eigenes Recht, – 4. Verbandscharakter und damit verbunden – 5. mindestens teilweise Autonomie und Autokephalie, also auch Verwaltung durch Behörden, an deren Bestellung die Bürger als solche irgendwie beteiligt waren. Solche Rechte p egen sich in der Vergangenheit durchweg in die Form von ständischen Privilegien zu kleiden. Ein gesonderter Bürgerstand als Träger war daher das Charakteristikum der Stadt im politischen Sinn«.⁶³ Mit Bezug auf die herrschenden Stände und Schichten kommt Weber sodann zu den Typen der (1) Geschlechterstadt und der (2) Plebejerstadt. Über diesen Idealtypus der okzidentalen Stadt mit seinen Elementen wird man kaum weit hinausgelangen, wenn es darum geht, einen möglichst allgemeinen und zugleich zweckmäßigen, als Arbeitsbegriff geeigneten Stadtbegriff festzulegen.⁶⁴ Im nordalpinen römischdeutschen Reich lässt sich ein solcher Idealtypus im Hinblick auf Gemeindecharakter und Selbstregierung jedoch erst etwa für die Zeit seit dem 13. Jahrhundert konstituieren, auch muss eine mehr oder minder in Erscheinung tretende Stadtherrschaft, die weiterhin auch weitgehend autonomen Städten bis etwa um 1500 Privilegien erteilt oder bestätigt, berücksichtigt werden. Ferner ist zu bedenken, dass entwickelte Dörfer gleichfalls Gemeindeversammlungen, Leitungsgremien und Ämter der Selbstverwaltung ausbilden, Rechtsfragen und Ansprüche des Grundherrn durch Weistümer klären und das Zusammenleben in relativer räumlicher En-

ge im Sinne des Dorffriedens und des gemeinen Nutzens durch verhaltensregulierende Satzungen im Sinne der Policey regeln⁶⁵, dass ferner kleine Städte in grundherrschaftlichen Verhältnissen verbleiben können. Gemeindebildungen nden auch im ländlichen Raum statt. Die städtische Bürgergemeinde ist eine Gemeinde unter anderen, doch in ihrer Existenzform von besonderer, gesteigerter Qualität, die fundamentale Unterschiede begründet. Als weiteres, von Weber nicht explizit in den Blick genommenes Merkmal erscheint die Raumfunktion der Stadt als Zentralort, die nunmehr gegenüber der älteren Betonung städtischer Isolation hervorgehoben wird. Aber auch dieses sehr konstante Merkmal trifft nicht ausschließlich auf die Stadt zu, da Herrensitze, Klöster, Fürstenhöfe oder die neuzeitlichen Industriedörfer, wenn auch in reduziertem Umfang, zentrale Funktionen erfüllten. 1.2.2.5 De nitionen und »Kriterienbündel« Das Dilemma, das für eine De nition der Stadt darin besteht, dass in anderen, nichtstädtischen Siedlungen gleiche oder ähnliche Grundformen und Funktionen existieren, lässt sich durch den nominalistischen Rekurs auf die Bezeichnung und den durch Stadtrechtsverleihung erlangten rechtlichen Status Stadt, vor allem durch die wichtige, von Schmoller und Sander eingeführten Modalitäten der Differenzierung und Steigerung und die Einbindungen in weitere, komplexe Strukturzusammenhänge, einigermaßen au ösen.

63 Ebd., S. 736 [S. 84 f.]. »Ständische Privilegien« bedeuten Sonderrechte, die in diesem Fall nur den zum Rechtskreis der Stadt gehörenden Personen zukamen. Der von Weber zur Abgrenzung von Rechtsetzung und Verwaltung gebrauchte, von griech. kephalos (Haupt) abgeleitete Ausdruck »Kephalie« ndet sich im Sinne von politischer Leitung und Herrschaft in der mittelalterlichen Rechtswissenschaft Italiens. E. I, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht (2.2–2.4), S. 55, Anm. 164. 64 K. Blaschke nennt als qualitative Kriterien die wirtschaftliche Sonderstellung der Städte innerhalb des feudal-agrarischen Bereichs, die soziale Stellung der Stadtbürger, die Verfassung, die Mauer und die bauliche Stadtanlage auf engem Raum und die Raumfunktion. K. B, Qualität, Quantität und Raumfunktion, S. 60, 66–68. 65 Derartige evidente, aber partielle Gemeinsamkeiten von Stadtgemeinden und ländlichen Gemeinden werden von P. Blickle unter dem übergreifenden Begriff des »Kommunalismus« erfasst. P. B, Kommunalismus. Auch auf das Dorf wird seit dem 13. und 14. Jahrhundert der Begriff der universitas und auf die Dorfbewohner derjenige der cives angewandt. W. T /C. Z, Die Geschichte des Dorfes, S. 27. Grundsätzlich aber hat sich der Bürger im Unterschied zum Bauern aus landrechtlichen Herrschaftsstrukturen und Bindungen befreit und ist zu einem politischen Subjekt im Rahmen besonderer Rechts- und Verfassungsverhältnisse und einer komplexen politischen Kultur geworden.

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Der Idealtypus Max Webers versucht abzugrenzen und ist insoweit de nitorisch, zielt aber vor allem auf gedankliche Kohärenz zur Ordnung komplexer Erscheinungen. Damit überschreitet er mit seiner eigenständigen Intention allerdings den Charakter einer bloßen Begriffsde nition, die, wie nach Aristoteles und Cicero bereits im Spätmittelalter Wilhelm von Ockham († 1338) lehrte, mit möglichst wenigen spezi schen Merkmalen auskommen sollte. Mehr noch entfernt sich von einer De ni-

tion⁶⁶ ein phänomenologisch-beschreibendes, fortschreitend durch Universalien und individualisierende Konkretionen und Spezi kationen angereichertes »Kriterienbündel« (Carl Haase)⁶⁷, das seinen eigenständigen Erkenntniswert hat und nützlich sein kann⁶⁸, aber gelegentlich missverständlich als De nition aufgefasst und sogar neoscholastisch in einen einzigen, sprachlich notwendigerweise wenig ansprechenden Satz zusammengepresst wird.⁶⁹ Stattdessen wird hier, weil vor der thematischen

66 Eine De nition hat Dinge unterscheidbar zu machen; nach klassischem Verständnis bezeichnet sie den Begriff (genus) und enthält die differentiae speci cae, d.h. die kennzeichnenden, artbildenden inneren (Wesens-) Merkmale und spezi schen Abgrenzungskriterien, jedoch keine akzidentiellen Merkmale, die im Unterschied zu den Wesensmerkmalen einer Sache nicht ständig innewohnen und deskriptiv sind. Die Art der De nition richtet sich nach dem mehr oder weniger komplexen Gegenstand und dem wissenschaftlichen Erkenntnis- und Demonstrationszweck, was bedeuten kann, dass eine eorie oder ein Idealtypus geeigneter sein können. 67 C. H, Die Entstehung der westfälischen Städte, (S. 6 ff.) spricht sich dem Sinn begrifflicher De nitionen entgegen für einen »kombinierten« und »variablen« Stadtbegriff aus und hält ein »Kriterienbündel« zur Erfassung der Stadt als »Gesamtheit« für erforderlich. Völlig unhaltbar ist sein Postulat: »Nur eine Summe [!] von Kriterien kann den Stadtbegriff ausmachen«. D., Stadtbegriff und Stadtentstehungsschichten in Westfalen (1958), in: . (Hg.), Die Stadt des Mittelalters, Bd. 1, S. 72. Solche Kriterienbündel können mit jeweils guten Gründen durch eine Vielzahl von Merkmalen für städtische Qualität wie etwa identitätssichernde Feste oder Schriftlichkeit und Bildung erweitert und konkretisiert werden, zeigen aber dadurch, dass sie keine de nitorische Funktion mehr haben. Es ist sicherlich kein spezi sches abgrenzendes Merkmal der Stadt, dass in ihr Feste statt nden. Ein Beispiel für derartige beliebige Erweiterungen gibt W. E, civile ius, S. 417 f. 68 Für die englischen Städte begnügt sich S. Reynolds, da De nitionen menschliche Hilfskonstrukte seien und unklare Grenzen aufwiesen, mit einem lockeren, funktionalen und sozialen Arbeitsbegriff und erinnert an den Unterschied zwischen De nition und Beschreibung: (1.) Die Stadt ist eine dauerhafte und verdichtete menschliche Siedlung, in der ein wesentlicher Teil der Bevölkerung (in Handel, gewerblicher Produktion oder Verwaltung und in einer Vielzahl von Berufen) einer nichtagrarischen Beschäftigung nachgeht. – Deshalb lebt eine Stadt, zumindest teilweise, von Nahrungsmitteln, die von Menschen, die außerhalb leben, hergestellt werden, während die Stadt hinsichtlich ihres Marktes und möglicherweise der Verwaltung eine Art Zentrum für das Umland fungiert. (2.) Die Bewohner von Städten betrachten sich in der Regel als eine verschiedene Species von Menschen und werden von den Bewohnern vorherrschend ländlicher Siedlungen entsprechend als eine solche betrachtet. S. R, An Introduction to the History of English Medieval Towns, S. IX f.; ., e writing of medieval urban history in England, in: eoretische Geschiedenis 19 (1992), S. 49 f. Zustimmend zu dieser De nition und ablehnend gegenüber einem »Kriterienbündel« äußert sich D. M. P in: . (Hg.), e Cambridge Urban History of Britain, vol. I, Cambridge 2000, S. 5. 69 Gedanklich nicht durchgehend schlüssig und gegenüber älteren Vorschlägen kaum weiterführend erscheint der hypertroph geratene De nitionsversuch F. Irsiglers: »Die Stadt des Mittelalters ist eine vom Dorf und nichtagrarischen Einzwecksiedlungen unterschiedene Siedlung relativer Größe mit verdichteter, gegliederter Bebauung, beru ich spezialisierter und sozial geschichteter Bevölkerung, Selbstverwaltungsorganen, einer auf Gemeindestrukturen aufbauenden, freie Lebens- und Arbeitsformen sichernden Rechtsordnung sowie zentralen Funktionen politisch-herrschaftlichmilitärischer, wirtschaftlicher und kultisch-kultureller Art für eine bestimmte Region oder regionale Bevölkerung.« F. I, Was machte eine mittelalterliche Siedlung zur Stadt? S. 44. Die De nition grenzt nicht wirklich ab (was kennzeichnet das Dorf?), ist in verschiedenen Elementen unspezi sch und nicht charakteristisch (Wirtschaft), legt andererseits die Rechtsordnung auf eine von mehreren Funktionen fest und bezieht zudem weite Bereiche des innerstädtischen Lebens (Politik, Herrschaft, Militär) nur auf die in der Wirkung diffuse zentrale Funktion für die Region. Die Größe der städtischen Siedlung ist »relativ« und entfällt daher als Kriterium für eine De nition. Die soziale Schichtung ist eine soziologische Universalie, die bereits dem grundherrschaftlichen Hofverband (familia) und dem Dorf eignet. Die kirchliche Sprengeleinteilung mit Pfarrkirche, darin läge sogar eine punktuelle Umkehrung des Elements der Zentralität, ist verschiedentlich bis tief ins Spätmittelalter hinein noch ländlich verortet. P. Johanek nennt die üblichen bewährten Kriterien,

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und sachlichen Aufgliederung zur Orientierung ein deskriptiver Überblick nützlich erscheint, ein ganzer Abschnitt mit der Bezeichnung »Erscheinungsbild« (1.1) den möglichen Merkmalen und Charakteristiken von Städten und des städtischen Lebens gewidmet. Etwas anderes als die Begriffsde nitionen und Idealtypisierungen sind die historischempirischen Erscheinungsformen der vielen Städte nach Raum und Zeit. Sie müssen durch geogra sche, topogra sche, demogra sche, wirtschaftliche, soziale, rechtliche, politische und verteidigungsstrategische Gesichtspunkte in einer Zusammenschau, durch eine Fülle beschreibender Merkmale festgelegt werden, wie sie eingangs nur angedeutet wurden. Die wechselnde Anzahl, die wechselnde Kombination und die Bedeutungsverlagerung derartiger Merkmale lassen die jeweilige Individualität der einzelnen Stadt, die Vielfalt städtischer Erscheinungsformen und den historischen Gestaltwandel hervortreten, lösen aber auch die Konturen eines begrifflich schärfer zu fassenden Stadtbegriffs wieder auf. Das anschauliche Modell und Leitbild der mittelalterlichspätmittelalterlichen Stadt ist an den Beispielen großer, weitgehend autonomer, wirtschaftlich starker und sozial differenzierter, funktionsreicher Städte wie Lübeck, Nürnberg oder Köln gewonnen, die eine Vielzahl von Merkmalen bündeln. Doch sind diese Städte Ausnahmen im Hinblick auf die überwältigende Masse kleiner, in ihren Funktionen reduzierter und oft kaum lebensfähiger Städte. Gerade das Spätmittelalter hat an Neugründungen ganz überwiegend Kleinstädte und Kümmerformen hervorgebracht. Hinzu kommt die Notwendigkeit,

nicht nur die Einzelstadt, sondern auch Städtegruppen einer Landschaft zu untersuchen.⁷⁰ 1.2.2.6 Spätmittelalterliche De nitionen und Wesensbestimmungen der Stadt Wie aber de nieren gelehrte Zeitgenossen im Spätmittelalter die Stadt, und welche Charakteristiken, die Existenz und Eigenarten ihrer Bewohner und des städtischen Lebens begründen, führen sie an?⁷¹ Der Domherr, Schulmeister und Eisenacher Stadtschreiber Johannes Rothe (um 1350–1434) de niert um 1400 die Stadt durch ihren Mauerring und die Stadtgemeinde, und, indem er im Anschluss an die »Politik« des Aristoteles (3. Buch) ferner ausführt, dass die Stadt einen Rat habe, der ihr Herz sei, dass Gehorsam herrsche und die Bürger in Eintracht miteinander lebten.⁷² Außerdem kommt er auf die Sozialstruktur zu sprechen. Für den Stadtarzt und Sängermeister Johann von Soest (1448–1506) ist die Stadt hundert Jahre später in seinem Verstraktat »Wie man eine Stadt regieren soll« (1495) eine Ansammlung von Häusern und Gassen; sie ist – gleichfalls mit Bezug auf die politische eorie des Aristoteles – eine Gemeinschaft (communitett), die in Liebe und Freundschaft, ehrenhaft und zu ihrem Nutzen, geschützt in Frieden und tugendhaft zusammenlebt. Der überragende Verbandszweck ist die Einigkeit, die civium unitas oder burgerlich vereynung. Der Bürger wird unter anderem durch seine Erwerbsarbeit charakterisiert. Gerechtigkeit, ein breiter Mittelstand und das Streben nach einem standesgemäßen Auskommen verleihen der nach wirtschaftlicher Autarkie strebenden Stadt soziale Stabilität. Verlangt wird

spezi ziert die Wirtschaft durch Handwerk, Gewerbe und Handel und hebt daneben auf die prinzipielle Rechtsgleichheit und die Selbstverwaltung der Bürger ab. P. J, Tradition und Zukunft der Stadtgeschichtsforschung in Mitteleuropa (Einleitung), S. 39. W. E meint prognostizieren zu können, dass die Diskussion »um die Eigenheiten der abendländischen Stadt auf längere Sicht immer weniger wie bisher um städtebauliche, rechtliche, statistische und geogra sch-topogra sche Kriterien als schließlich um Verhalten und Bewusstsein der Stadtbewohner geführt« werde, doch löst eine solche Verschiebung des Diskussionsschwerpunkts das sachliche Problem nicht. W. E, Zum Stand moderner Stadtgeschichtsschreibung (Einleitung), S. 21 f. 70 Siehe 6.1.5. 71 Zum Folgenden siehe E. I, Ratsliteratur und Ratsordnungen (4.1–4.3), S. 255, 292 f., 297 f. 72 F. O (Hg.), Das Rechtsbuch Johannes Purgoldts (2.2–2.4), Bücher IX, X (Johannes Rothe), S. 258, 298, 305.

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für die Stadt eine umfassende Gesetzgebung, damit jedermann wisse, was er zu tun und zu lassen habe. Außerdem werden Stadttopograe und Infrastruktur, das Umland, agrarische Wirtschaftskulturen, die Wirtschaftskräfte und der gerechte Preis, der städtische Rat und insbesondere familienrechtliche Fragen in den Blick genommen.⁷³ Die umfassendste Wesensbeschreibung, die modernen De nitionsversuchen und Kriterienbündeln keineswegs nachsteht, sondern sie eher überbietet, gibt der Jurist Nikolaus Wurm in seinem 1399 begonnenen Liegnitzer Stadtrechtsbuch auf der Grundlage der Parallelisierung und Angleichung von vor ndlichem Stadtrecht und römischem Recht, insbesondere römischem Munizipalrecht, ein wenig aristotelischer Politik- und Gesellschaftstheorie sowie einer Neigung zur de nitorischen Etymologie.⁷⁴ Er zitiert auch die Parömie eynen burger und eyn gebawer scheidet nicht mehe wenne der czawn und die mawer.⁷⁵ Zunächst widmet er sich dem Vorgang der Stadtgründung, die auch bei einer fürstlichen Gründung mit dem Willen des Königs erfolgen soll. Innerhalb des allgemeinen Siedlungs- und Stadtgebiets soll der König den Kau euten ein unter dem Frieden des heiligen Petrus stehendes Areal an einem schiffreichen Wasser zuweisen, das sie befestigen und ausbauen sollen. Hinzu kommt der gehegte Markt mit dem durch ein eingep anztes Friedenskreuz symbolisierten Marktfrieden. Mit dem P ug sollen als Grundform eine breite und eine lange und breite Gasse, die man des ›Königs Straße‹ nennt, die Hofstätten und was sonst noch Stadtgebiet ist, markiert und abgegrenzt werden.

Die Stadt ist in einem ersten, aristotelischen Verständnis eine Siedlung von vielerlei Leuten und eine gemeinschaftliche Ansammlung von Wohnungen, die man Weichbild nennt, das bedeutet das Gebiet einer Stadt.⁷⁶ Das Stadtvolk stellt eine beständige Einung dar, die ›dem Recht beistehen und es stärken soll‹, es bildet also eine Rechts- und Friedensgemeinschaft. Es ist ferner ein Verband, der einem Stadtherrn zu Treue und Dienstbereitschaft verp ichtet ist und über materielle Leistungsfähigkeit (reychtum) verfügt, um dem Stadtherrn gegen jedermann Hilfe zu leisten, und der solidarische Leistungen (munera) bereitstellen kann. In der Stadt soll die Gesamtheit aller Handwerke vorhanden sein. Eine Stadt ist ›nach allgemeiner Auffassung‹, so lautet die knappe, die begriffliche Anforderung erfüllende De nition des Juristen, im allgemeinen Verständnis (noch einem gemeynen synne) eine Siedlung, die mit Mauer, Graben, Toren, Türmen und Wiekhäusern befestigt ist, mit einem – politisch-rechtlichen – Verband (eynunge) der darin Wohnenden, mit territorialem Ortsrecht (markrecht) und Gericht.⁷⁷ Seinen de nitorischen Kern erweiternd, nennt der Jurist noch ein zentrales Element, das zur Stadt gehört, nämlich mit synonymen Bezeichnungen – das gemeine Gut, die res publica oder der gemeine Nutzen – das gemeinsame Vermögen, das der Aneignungs- und Verfügungsgewalt des Einzelnen entzogen ist und, wie er sagt, unter dem Schutz des allgemeinen kaiserlichen Friedens steht. Das städtische Gemeinwesen, die res publica, wird wesentlich durch den allen als Gesamtheit zustehenden Vermögensbereich des gemeinen Gutes (res publica) de niert. Dazu zählt Wurm einmal im kirchli-

73 Johann von Soest, Wie men wol eyn statt regyrn sol, cap. 1, S. 23 f. Die Edition von H.-D. Heimann berücksichtigt nicht die wichtigen lateinischen declarationes; diese sind jedoch nahezu vollständig wiedergegeben bei E. I, Ratsliteratur und Ratsordnungen (4.1–4.3), S. 297–305; zur Charakteristik der Stadt ebd., S. 297. 74 H.-J. L (Hg.), Das Liegnitzer Stadtrechtsbuch des Nikolaus Wurm, S. 24–26. Ein castellum wird de niert als eine Vorburg oder eine Veste, in der ein Markt gehegt wird und die ein eigenes Gericht hat. Die Allegationen des römischen Rechts sind vielfach unpassend, sodass umso mehr eine davon unabhängige eigenständige De nition hervortritt. Ebd., S. 24. 75 Ebd., S. 55. 76 Ebd., S. 24. Aristoteles, Politik, I, 3. 77 H.-J. L (Hg.), Das Liegnitzer Stadtrechtsbuch, S. 24. Wurm bezieht sich dabei auf die Glosse zu Digesten 3.4.9.

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chen Bereich die dem allgemeinen Recht entzogenen geistlichen Dinge, die Kirchen, Kirchhöfe, Klöster und Immunitäten (freyungen) sowie Messkelche und andere zum Gottesdienst gehörende Geräte, zum andern im weltlichen Bereich Markt, Rathaus und andere kommunale Gebäude, ferner Galgen und Pranger sowie nutzbare Liegenschaften und Betriebsstätten wie die der Allgemeinheit zugehörenden Weiden, Triften, Sand- und Lehmgruben, Ziegeleien und Kalköfen. Die Bezugnahme auf das gemeine Gut der Stadt erscheint deshalb so wichtig, weil sich am gemeinsamen Vermögen der korporative Charakter der Stadt bewährt und aus dem Gesamteigentum der Bürger, an dem der Stadtherr nicht teilhat, der für die Stadt zentrale, im 15. Jahrhundert gegenüber dem Stadtherrn auch mit juristischem Beistand ausformulierte Anspruch auf ein kommunales Selbstverwaltungsrecht erwächst.⁷⁸ Bestechend an den De nitionen und Charakterisierungen der spätmittelalterlichen Autoren ist der Sachverhalt, dass sie in ihrer Gesamtheit wissenschaftliche politische eorie (Aristoteles), Normativität (römisches Recht) und empirische Befunde der eigenen Zeit hinsichtlich Topogra e, Architektur, Politik, Recht und Wirtschaft sowie der Gesellschaft samt deren Wertvorstellungen miteinander verbinden.

1.3 Periodisierung des Städtewesens und Typen der Städtebildung 1.3.1 Epochen des europäischen Städtewesens Es liegt in der Natur der Sache, dass übergreifende Periodengliederungen immer nur einzelnen Gesichtspunkten und Sachzusammenhängen gerecht werden können, räumliche Sonderentwicklungen und Phasenverschiebungen vernachlässigen und deshalb umstritten bleiben. Die Zäsuren müssen daher immer wieder ver-

rückt, die dominanten Gesichtspunkte neu bewertet werden. Im Folgenden wird, um die mittelalterliche Stadt in einen weitgespannten Entwicklungszusammenhang zu stellen, ein Periodisierungsvorschlag vorgestellt, den Carl Haase entwickelt hat⁷⁹ und der hier geringfügig modi ziert und ergänzt wird. Haase gliedert das europäische Städtewesen in drei Hauptepochen, die nicht scharf abzugrenzen sind und ießende Übergänge aufweisen. Dabei legt er »als grobes Gliederungsprinzip zunächst die Frage des Stadtrechts im weitesten Sinne, der Ausbildung der Stadt als mehr oder weniger autonomer, auf eine Fläche bezogener, nach Stadtrecht lebender, vom achen Lande deutlich unterschiedener Gemeinde« zugrunde: 1. Die frühmittelalterliche Epoche, die Zeit der herrschaftlich gebundenen Stadt. Sie beginnt mit ersten Ansätzen etwa in der Karolingerzeit und reicht bis in das 13. Jahrhundert hinein. Bezugspunkte für die Entwicklung sind die »fast verschollenen Leitbilder« und Reste überkommener Siedlungskörper der alten Römerstädte und die »neuen Formen von Handelsplätzen im nördlichen Europa«. Zu den hauptsächlichen Entwicklungsmomenten gehören die Wirtschaft, das skalische und eigenwirtschaftliche Interesse des Herrn. Von einer Stadt in rechtlichem und topograschem Sinne, wie sie im Spätmittelalter voll ausgebildet ist, kann noch keine Rede sein. 2. Die Epoche der Stadt im Rechtssinne, in der sich die Stadtgemeinde in einem teilweise langwierigen Vorgang ausbildet und sich die Stadt durch Recht, Topogra e und in der Terminologie vom achen Land abhebt. Vereinfacht kann man von einer »kommunalen« Epoche sprechen. Die Stadt entwickelt sich zur handlungsfähigen Körperschaft, zur juristischen Person nach modernem Sprachgebrauch. Am Beispiel größerer Städte dieser Epoche konstituiert die Wissenschaft den Idealtypus der mittelalterlichen

78 E. Isenmann, Die Modernität der kommunalen Welt, S. 100 f. 79 C. H, Die Entstehung der westfälischen Städte, S. 12 f.; zur Auseinandersetzung mit kritischen Einwänden siehe S. 258–260.

Periodisierung des Städtewesens und Typen der Städtebildung 53

Stadt. Der Prozess schreitet vom Westen, dem Maas-Schelde-Raum ausgehend, mit Phasenverschiebungen nach Osten hin fort. In Deutschland setzt er etwa um 1100 ein. Bereits im Spätmittelalter zeichnen sich für Deutschland mit der allmählichen Konsolidierung der Territorialherrschaften, der Herausbildung institutioneller Flächenstaaten, neue Entwicklungsmomente ab. Der landesherrliche Stadtherr greift stärker in die Stadtgemeinde ein und beginnt sie zu unterhöhlen oder zu unterwerfen, er bürdet ihr wachsende Steuerlasten auf und integriert sie in den territorialen Verwaltungsaufbau und in das entstehende territoriale Wirtschaftssystem. Freie Städte, Reichsstädte und bedeutende hansische Städte, deren Autonomie am entschiedensten ausgebildet ist, werden zu einem Teil mediatisiert und landsässig oder geraten, in eine isolierte Insellage gedrängt, gegenüber den sie umgebenden Territorien in politische und wirtschaftliche Bedrängnis. Das landesherrliche Militärpotenzial wächst, die Artillerie entwertet die städtischen Befestigungen, von denen nur wenige entsprechend verstärkt werden und dem Beschuss gewachsen sind, während die bedeutenden Städtebünde zerfallen. Neue Städtetypen der frühen Neuzeit sind von vornherein auf die Bedürfnisse des fürstlichen Hofes und des Territorialstaates ausgerichtet. 3. Im Zeitalter der Französischen Revolution kommt eine Entwicklung voll zum Durchbruch, die in einer jahrhundertelangen Übergangszeit vorbereitet worden ist. Das Neue besteht darin, dass die städtische Autonomie zur Selbstverwaltung unter staatlicher Aufsicht wird, die Stadt ihre Eigenschaft als politische Korporation einbüßt und als reine Verwaltungseinheit in den Staat eingegliedert, »als eine verfassungsrechtliche Institution gleichsam eingeebnet« wird.⁸⁰ Der moderne Staat, d. h. der ächenhafte Finanz-

und Verwaltungsstaat, später der Nationalstaat und die industrielle Wirtschaftsgesellschaft beseitigen die alte Stadtgemeinde und gleichen Stadt und Land, die städtische Sonderrechtsentwicklung zurücknehmend, verfassungs- und privatrechtlich einander an. In der modernen Industriegesellschaft löst sich die Sonderung von Stadt und Land in eigenständige Lebensbereiche weitgehend auf. Auch Erscheinungen der Wirtschaftsordnung und des Wirtschaftslebens wie die Ausbildung der städtischen Gewerbeordnung, die wirtschaftliche Dominanz der Stadt über das umliegende Land und der städtische Frühkapitalismus, dann aber das gewerblich-industrielle Erstarken des Landes in der Neuzeit, die erdrückende Konkurrenz des territorialstaatlichen Merkantilsystems, der Niedergang der isoliert bleibenden Stadtwirtschaften und die Überschuldung der Städte, die Au ösung des Zunftwesens zuletzt durch den wirtschaftlichen Liberalismus und die wirtschaftliche Angleichung von Stadt und Land im industriellen Zeitalter sind in die stadtgeschichtliche Epochengliederung einzufügen. 1.3.2 Typenschichten der Städtebildung Auf der Grundlage einer Mengenstatistik der mitteleuropäischen Stadtentstehung, die Periodisierungsgrenzen dort anlegt, wo eine Fülle neuer Städte mit bestimmten Merkmalen auftritt und vorherrscht, hat Heinz Stoob folgende Typenschichten der Stadtentstehung und Städtebildung ermittelt:⁸¹ 1. Städte bis 1150: die Zeit der Mutterstädte, der Ausbildung des Typus »Stadt« in Mitteleuropa 2. 1150–1250: die Zeit der großen Gründungsstädte älteren Typs, der Vervielfachung der in den Mutterstädten vorgebildeten, normgebende Kraft entfaltenden Form

80 H. P, Recht und Verfassung thüringischer Städte ( 2.1–2.4), S. 2. 81 H. S, Kartographische Möglichkeiten der Stadtentstehung, S. 40 ff.; ., Minderstädte. Siehe auch K. K, Weichbild (2.1–2.4); M. S, Städtlein, Burg-, Amts- und Markt ecken Südwestdeutschlands (6).

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Die Stadt und ihre Bewohner

3. 1250–1300: die Zeit der Kleinstädte 4. 1300–1450: die Zeit der »Minderstädte« 5. 1450–1800: das große Städtetal; die Epoche, in der die Zahl neu entstehender Städte nur gering ist. Doch es entstehen neue Typen: Die teilweise aus dem Boden gestampften Bergstädte, die planvoll more geometrico angelegten fürstlichen Residenz-, Festungsund die Exulantenstädte 6. Seit 1800: die neue Städtewelle. Es ist keine Frage, dass dieses grobe Periodisierungs- und Typisierungsschema nur als Orientierungsrahmen dienen soll, für einzelne Städtelandschaften abzuwandeln und zu präzisieren, nach Merkmalen weiter zu quali zieren ist. Da es sich um mengenstatistische Einschnitte handelt, greifen die Typenschichten mit abnehmenden Entstehungszahlen über die Periodengrenzen nach beiden Seiten hinaus. So beginnen die Gründungsstädte älteren Typs bereits 1120 mit der Zähringergründung Freiburg im Breisgau, die allerdings Vorsiedlungen aufweist, als Markt (forum) für Händler (mercatores) auf herzoglichem Eigengut gegründet und dann eine zu erbauende civitas genannt wurde. Die Kleinstadtgründungen reichen bis tief in das 14. Jahrhundert hinein, während die Gründungen zahlenmäßig in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts kulminieren, als in Mitteleuropa dreimal so viele Städte entstehen als bis 1250 insgesamt. Die große Welle der Gründungen bricht sich etwa um 1300. Im deutschen Südosten liegt der Höhepunkt des Urbanisierungsprozesses im Zeitraum zwischen 1200 und 1300. Für die Zeit des Spätmittelalters sind die Kleinstädte und die sogenannten Minderstädte charakteristisch, an ihrem Ende entstehen die ersten neuen Bergstädte. Die Kleinstädte sind vergleichsweise bescheidene Siedlungen, die in ihrer Entwicklung nicht mehr zu den älteren Städten aufschließen können. Sie bleiben Städte mit geringer Einwohnerzahl, sind aber in Stadtrecht, Verfassung, Befestigung und Siegelführung am Vorbild großer Städte der Landschaft orien-

tiert. Sie hängen stärker vom Ortsherrn ab und sind auf die älteren Groß- und Mittelstädte ausgerichtet. Es handelt sich um Mittelpunkte einfachen Handwerks, ackerbürgerliche Ballungssiedlungen mit Nahmarktfunktion für einen engeren Umkreis und um befestigte Amtsorte der unteren Stufe. Vielfach war die ihnen im herrschaftlichen Raumgefüge zugedachte Funktion wichtiger als ihre Verkehrs- und Straßenlage und die damit zusammenhängende Marktfunktion. Die dichten Städtenetze, die sie nicht zuletzt infolge der Zersplitterung der Herrschaftsräume in verschiedenen Landschaften bilden, hemmen die Entfaltungsmöglichkeiten. Den begrenzten Entfaltungsmöglichkeiten trägt aber auch von vornherein ihre klein dimensionierte Anlage Rechnung. Vielfach handelt es sich um Gründungen kleiner Dynasten auf sehr begrenztem Areal und mit begrenzter Zielsetzung. Massiert treten die Kleinstädte im Südwesten, im fränkisch-hessischen und thüringisch-sächsischen Raum und im niederrheinischen Gebiet auf, weniger im küstennahen Nordsachsen und im territorial gleichfalls weiträumiger gegliederten Bayern. Vor allem der Südwesten ist ein Gebiet mit außerordentlicher Städtedichte und mit verhältnismäßig vielen Kleinstädten. Mit einer Phasenverschiebung wirkt sich die Verdichtung der Städtedecke auch in den planmäßigen Gürtelzonen im Osten auf die Entwicklung der Neugründungen aus. Es gelingt aber auch den Kleinstädten, nicht selten durch Gruppenbildung, ihre Abhängigkeit vom Stadtherrn in beträchtlichem Maße zu lockern, jedoch kann der Stadtherr vielfach bereits im 15. Jahrhundert diese Städte wieder straff zurückbinden, sofern sie nicht von sich aus um eine Integration in die territoriale Wirtschaft und in die landständische Verfassung bemüht sind. Noch im 13. Jahrhundert entstehen nach einer wissenschaftlichen Begriffsbildung S Städte des Typs der »Minderstädte«, der jedoch erst im 14. und 15. Jahrhundert vorherrschend wird und zugleich trotz der Vielzahl der Gründungen in diesem großen Zeitraum die Reduktion der städtebildenden Kraft belegt. Unter

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Minderstädten versteht S unterentwickelte Siedlungen, die im Rechtssinne wohl Städte sind, denen aber eine »oft nur schwer zu fassende Verkürzung der Privilegien, ein Gehemmtsein in der Entwicklung« gemeinsam ist. »Fließend werden die Übergänge vom Dorf her, zur Vollstadt hin.«⁸² Der Begriff der Minderstadt ist nicht unumstritten. Er ist ein Ordnungsbegriff, der geeignet erscheint, die Vielzahl regional verschiedener Quellenbegriffe wie ›Weichbilde‹, ›Burschaften‹, ›Freiheiten‹, ›Burgtäler‹, ›Städtlein‹ und stadtartige ›Märkte‹ abzudecken. Es sind in diesem Sinne nicht Städte gemeint, die sich aus irgendwelchen Gründen nicht zur Vollstadt entwickeln konnten, sondern Siedlungen, die überhaupt nicht Städte genannt wurden. S nimmt an, dass die Landesherren bei diesen Gründungen bewusst eine Stufe unter die Kleinstädte hinabgegangen sind und sie auch terminologisch vom Stadtbegriff distanzierten, um wenigstens diese Gründungen fest in Händen behalten zu können, was ihnen bei den Kleinstädten häu g nicht gelungen war. Diese kaum nachweisbar bewusste, aber in der Gestalt evidente Reduktion gehört wesentlich zur Begriffsbildung. Doch kann es durchaus sein, dass derartige Siedlungen nicht als de zitäre Städte, sondern als etwas anderes, eben nicht als Städte, sondern im Zuge des Landesausbaus als eigenständige, aber nicht fest umrissene Siedlungsform zwischen Dorf und Stadt mit einer bestimmten Zusammensetzung von privilegialen Rechten in den jeweiligen Freiheitsbriefen gegründet wurden. Es konnte sich um die freie Erbleihe hinsichtlich des Besitzrechts an Grund und Boden, personale Freiheit, Handelsprivilegien, ferner um Selbstverwaltungsrechte bis hin zur Bildung einer freien Gerichtsgemeinde handeln, wie bei den über 500 ostfranzösischen, luxemburgischen und linksrheinischen Ortschaften nach dem Recht des ostfranzösischen Beaumont (»Bömer Recht«) von 1182, während in anderen Fällen die korporativen Rechte auch

eingeschränkt sein konnten, wie es etwa bei stau schen Stadtgründungen der Fall war.⁸³ Insgesamt kennzeichnen drei Städtegruppen die Städtebildung im Spätmittelalter: 1. Die Kleinstädte in der spätmittelalterlichen Form ausgesprochener Zwergstädte in den Gebieten starker territorialer Zersplitterung und im Raum verzögerter staatlicher oder wirtschaftlicher Entwicklung. Die teilweise imponierenden Stadtrechte großer Städte wie etwa diejenigen Frankfurts, die den Kleinstädten verschiedentlich von den Königen auf Ersuchen von Ortsherren bis hinab zu Reichsrittern verliehen wurden, besagen nichts über die tatsächlichen Entwicklungschancen und die tatsächlichen Verhältnisse. 2. Die städtischen Kümmerformen des Spätmittelalters. Das sind: a) unfertig gebliebene städtische Siedlungen, Orte mit planloser Topogra e oder Fehlgründungen b) Städte, die ihre Stadtqualität infolge von Strukturwandlungen, Kriegen oder Naturkatastrophen eingebüßt haben (»abgekommene Städte«) oder – viel seltener – solche, deren Siedlung aus ähnlichen Gründen im Extremfall völlig verschwunden ist (Stadtwüstungen). 3. Die Siedlungstypen zwischen Dorf und Stadt. Das Spätmittelalter brachte an Neugründungen immer kleinere und unbedeutendere Städte hervor. Gründe dafür sind die eingetretene Sättigung der aus Städtelinien erwachsenen Städtenetze, die Zersplitterung der Herrschaftsverhältnisse und der demogra sche Umschwung, der durch die Pestepidemien seit der Mitte des 14. Jahrhunderts verschärft wurde und vermutlich zusammen mit einer Agrardepression eine »negative Siedlungsperiode« einleitete, die sich in Wüstungsvorgängen, im Aussetzen der Ostsiedlung und im Nachlassen der städtebildenden Kraft äußerten.

82 H. S, Kartographische Möglichkeiten, S. 33; ., Zwischen Autonomie und Dirigismus. 83 G. D, Rechtsgeschichte der Stadt (2.0), S. 425 f.; A. C, Burger und Baur scheydet nichts dann die Maur, S. 212–214; H. K (Hg.), Minderstädte; F. I, Dorfbefreiungen.

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Die Stadt und ihre Bewohner

Die Stadtwerdung besteht aus einem siedlungstechnischen Vorgang und der Stadtrechtsverleihung. Bei den Gründungsstädten im eigentlichen Sinne fallen Stadtrechtsverleihung und zügige Baumaßnahmen zeitlich eng zusammen. In anderen Fällen erhielten baulich bereits vorhandene Markt- und Gewerbesiedlungen das Stadtrecht verliehen. Aber auch die Gründungsstadt knüpfte regelmäßig an einen bestehenden Siedlungskern, eine Burg, ein Kloster, einen Herrenhof oder ein Dorf an; häu g war mit der Stadtgründung die Verlegung der vorhandenen Siedlung verbunden. Die Gründungsurkunde, nicht selten eine Übereinkunft zwischen dem Gründungsherrn und einer Kaufleutegruppe, enthielt Angaben über die Parzellengröße oder auch über bestimmte zu errichtende Baulichkeiten. Der Stadtherr gewann durch die ihm aus der Stadt zu ießenden Arealzinse, Marktabgaben, Zölle und Gerichtsgefälle, ordentliche und außerordentliche Steuern Anschluss an die Geldwirtschaft, deren Bedeutung gegenüber der Naturalwirtschaft seit dem 12./13. Jahrhundert ständig wuchs, und als Konsument Anschluss an die Stadtwirtschaft. Außerdem diente ihm die Stadtanlage als Großburg, in der er Ministeriale und Ritter als Militär- und Verwaltungsfachleute ansiedelte, als Stützpunkt in seinem Konzept der Raumherrschaft und der territorialen Grenzsicherung. 1.3.3 Wirtschaftlich-soziale Städtetypen Anknüpfend an die städtetypologischen und soziologischen Arbeiten Werner Sombarts und vor allem Max Webers hat es Horst Jecht auf der Grundlage der Verteilung von Steuervermögen unternommen, die spezi sche Sozialstruktur spätmittelalterlicher Städtetypen aus ihrer eigentümlichen Wirtschaftsstruktur herzuleiten.⁸⁴ Er ging dabei von der Voraussetzung aus, dass in dieser Zeit das Ökonomische als gesellschaftliches Moment immer größere, ja ausschlaggebende Bedeutung gewann. Da jede Stadt mehrere Gewerbe und eine gewisse agrar-

wirtschaftliche Ausrichtung hatte, geht es um das Vorherrschen von Wirtschaftszweigen und ihre maßgebliche Bedeutung für Wertschöpfung und Sozialprodukt. Außerdem konnten Städte ihren prägenden Charakter verlieren, so etwa Freiburg im Breisgau, Villingen und Rottweil, die sich im Spätmittelalter von Handelsund Exportgewerbestädten zu stark agrarisch orientierten Städten wandelten. Drei wirtschaftlich-soziale Städtetypen werden unterschieden: 1. Die reine Ackerbürgerstadt, die sich vom Land kaum abhebt und im wirtschaftlichen Sinne überhaupt keine Stadt darstellt. Gewerbe und Handel sind weitgehend mit der Landwirtschaft verbunden. – Relativ geringe soziale Differenzierung. Es überwiegen die mittleren Vermögensklassen gegenüber den ganz Armen und ganz Reichen. – Die Stabilität der Verhältnisse bleibt über lange Zeiträume hinweg erhalten. – Ständische Gliederung. Doch es gibt Unterschichten und etwa in »Weinstädten« wie Würzburg und Wien, die keineswegs Ackerbürgerstädte sind, große, gewissermaßen proletaroide Unterschichten, die von den Steuerordnungen nicht erfasst werden. 2. Die sich – im Sinne der geschlossenen Stadtwirtschaft Büchers – selbst genügende mittelgroße Gewerbe- und Handelsstadt mit überwiegend lokaler und auf das Umland konzentrierter Absatzorientierung. Gewerbe und Handel sind allseitig entwickelt. – Der mittlere Besitz behauptet zwar noch das Übergewicht, doch ist die Zahl derer sehr viel größer, die unterhalb der Grenze stehen, die ein gewisses sicheres Dasein verbürgt; andererseits ist die Zahl der Reichen größer. Bei größerer Bevölkerung und damit verbundener größerer Vermögensdifferenzierung ist die unterste Schicht auf Kosten der mittleren Schicht breiter gelagert. Der Grund dafür liegt in

84 H. J, Studien zur gesellschaftlichen Struktur mittelalterlicher Städte. Vgl. auch 7.2.

Periodisierung des Städtewesens und Typen der Städtebildung 57

dem zünftig bestimmten Handwerk, das angesichts einer hohen Arbeits- und Berufsspezialisierung zwar zwischen den Gewerben zum Teil recht erhebliche Unterschiede der sozialen Lage kennt, innerhalb eines Gewerbes im Ganzen aber keine sehr großen Vermögensunterschiede entstehen lässt, weil bei dem herrschenden zünftischen Prinzip der Arbeitsorganisation eine Erweiterung des Einzelbetriebes über eine gewisse durchschnittliche Größe hinaus und damit verbundene Verfahrensinnovationen nicht durchzuführen waren. – Die sozialen Verhältnisse verändern sich während eines längeren Zeitraumes relativ wenig. – Ständische Gliederung. Die im Prinzip gleichmäßige soziale Einschätzung aller Angehörigen einer Zunft ist in Übereinstimmung mit den ökonomischen Tatsachen, und die Zunftgenossen sind Angehörige einer umfassenden sozialen Gemeinschaft, nicht nur einer gesellschaftlichen Organisation. 3. Die Exportgewerbe- und Handelsstadt, für die Ausfuhr und Fernhandel nicht nur im Rahmen der Gesamtwirtschaft bedeutsam, sondern für das städtische Leben konstitutiv sind. – Die ökonomischen Daseinsbedingungen führen zu häu gen und tiefgreifenden Veränderungen im sozialen Aufbau, zu Verschiebungen vor allem zwischen Mittelund Unterschicht. Für den Export arbeiten Gewerbe, in denen das Prinzip der Arbeitsspezialisierung und der Berufsspaltung am wenigsten verwirklicht sind, die es aber, wie die Wollweberei als lange Zeit einziges Ausfuhrgewerbe, zu der modernen Form der Arbeitsteilung, der horizontalen Teilung des Produktionsprozesses in Form der Arbeitszerlegung gebracht haben. Die Arbeitszerlegung als Ausgangspunkt für ökonomische Ungleichheit ermöglicht nicht nur die Erweiterung des

Einzelbetriebes, sondern auch die Zusammenfassung mehrerer Betriebe unter Leitung eines kapitalistischen Unternehmers. Aus der Masse der Weber – in Augsburg arbeiteten in einer Zeitspanne nach 1460 etwa 700 Webmeister – hebt sich eine besondere Klasse von Verlegern und Unternehmern heraus, die als Besitzer der Produktionsmittel und Leiter des Produktionsprozesses einen großen Teil des Ertrags abschöpfen. Hinzu kommt eine kleine, aber umso vermögendere Schicht von Kau euten. – Der Fernexport führt zu einer von den sonst verbreiteten Produktionsformen abweichenden Organisation des gewerblichen Betriebes und zur Entstehung eines Großhändlerstandes, während sich aus den Schwankungen des kaum berechenbaren Marktes und den damit zusammenhängenden Veränderungen der Erwerbsmöglichkeiten ständige Diskrepanzen zwischen der ökonomischen Lage und sozialen Stellung des Einzelnen ergeben, die zu einer Zersetzung und Au ösung von ständischen Gemeinschaften wie den Zünften führen. Maßgebend ist die Klassenlage, die Orientierung an ökonomischen Besitz- und Erwerbsinteressen unter den Bedingungen des Marktes. Es nden sich somit frühe Ansätze zu einer modernen Klassengesellschaft. Als 4. Typus hat Heinrich Reincke die vor allem unter den hansischen Seestädten – Lübeck, Rostock, Stralsund, Danzig, Elbing, Riga, Reval – verbreitete reine Fernhandelsstadt hinzugefügt.⁸⁵ Der Fern- und Großhandel bildet hier die eigentliche ökonomische Existenzgrundlage. Es fehlt die Ergänzung des Handels durch ein Exportgewerbe. Eine Ausnahme machen die in mehreren Städten orierende Bierbrauerei, die aber nur in Wismar, zeitweise auch in Hamburg, wirtschaftlich und sozial prägend ist, sowie allenfalls noch die Exportproduktion gewisser Hilfsgewerbe des Handels wie die Böttcherei

85 H. R, Bevölkerungsprobleme der Hansestädte (1.4), S. 292.

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Die Stadt und ihre Bewohner

und der Schiffsbau oder die Bernsteindreherei. Die Vermögensverteilung scheint relativ ausgeglichen zu sein, sich aber in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ungünstig zu entwickeln. Vom Zwischenhandel lebte aber auch ganz wesentlich der Stapelplatz Wien, die einzige internationale Handelsstadt Österreichs, die Erzeugnisse des Westens – englisches, niederländisches und rheinisches Tuch – und des Südens – Waren des venezianischen Levantehandels und Italiens – mit solchen des östlichen Mitteleuropas, vor allem Ungarns – Vieh und Metalle – vermittelte.

1.4 Die Stadtbevölkerung 1.4.1 Größenordnungen der Stadt und ihrer Bevölkerung Die Bevölkerungszahlen der spätmittelalterlichen Städte beruhen nur ganz vereinzelt auf amtlichen Zählungen wie etwa den Bevölkerungsaufnahmen in Freiburg im Üchtland, Nürnberg, Straßburg oder Nördlingen im 15. Jahrhundert. Aber auch bei diesen Erhebungen wurde vermutlich nicht die gesamte Bevölkerung erfasst, da die Bestandsaufnahmen in der Regel bestimmten Zwecken wie der Erfassung des Nahrungsmittelbedarfs im Hinblick auf Kriegs- und Notzeiten dienten. Im Jahre 1459 wurden in Nördlingen insgesamt 5 295 Einwohner gezählt, unter denen sich 80 Kleriker, in der Mehrzahl Mönche, und 8 Juden befanden.⁸⁶ Die Erhebung scheint einer allgemeinen Volkszählung sehr nahe gekommen zu sein. Amtliche Zähler gingen von Haus zu Haus und registrierten alle Männer, Frauen und Kinder mit Namen. Das Motiv für diese Zählung, die bis in das frühe 19. Jahrhundert die einzige blieb, ist nicht bekannt. In Straßburg

wurden 1444 insgesamt 26 198 Ortsanwesende einschließlich der wegen der Armagnaken, herrenlosen französischen Söldnern, in die Stadt ge üchteten Landleute gezählt, woraus sich eine Bevölkerung von 16 500 bis18 000 Stadtleuten bei einer ummauerten Siedlungs äche von 200 Hektar ermitteln lässt; Freiburg im Üchtland kam im selben Jahr auf 5 200 Einwohner.⁸⁷ Bereits 1387 wurden in Frankfurt am Main im Hinblick auf die Eidesleistung gegenüber dem Rat und dem Kaiser 1 526 Haushaltungsvorstände und Gewerbetreibende erfasst, die nicht zu den Zünften gehörten, und weitere 1 378 Handwerker. Aus der Gesamtzahl von 2 904 männlichen Personen wurde durch Schätzungen mit einem Multiplikator von 3,3 auf eine Einwohnerzahl von 9 600 oder mit einem Multiplikator von 4 auf annähernd 12 000 Einwohner Ende des 14. Jahrhunderts geschlossen. Im Jahre 1440 waren es nur noch 2 106 Personen, sodass ein Bevölkerungsrückgang von gut einem Viertel auf vielleicht noch 8 500 Einwohner veranschlagt werden kann.⁸⁸ Als man in Nürnberg angesichts der Hussitengefahr die Stadtbefestigungen verstärkte, wurden 1430 alle Personen über zwölf Jahre im Grabenbuch als fronp ichtig registriert.⁸⁹ Dieses Fronbuch nennt insgesamt 15 449 Erwachsene. Hinzu kommen die Kinder unter 12 Jahren und die Kleriker, sodass man mit etwas mehr als 20 000 Einwohnern rechnen kann; spätere Verhältniszahlen zugrunde gelegt wären es 22 800 Einwohner. Die nächste amtliche Zählung wurde während des ersten Markgrafenkrieges zu Beginn des Jahres 1450 durchgeführt, damit der Rat einen Überblick über den Lebensmittelbedarf erhielt.⁹⁰ Ermittelt wurden insgesamt 30 131 Menschen, darunter befanden sich 9 912 in die Stadt geohene Bauern, die offensichtlich ohne all-

86 F. D, Die Steuern Nördlingens (4.8), S. 94–100. 87 G. M, Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 99, S. 312–316 (Straßburg); F. B, Bevölkerungs- und Vermögensstatistik (Freiburg i.Ü.). 88 K. B, Die Bevölkerung von Frankfurt am Main, S. 190–210; K. B, Frankfurt am Main im Spätmittelalter 1311–1519, in: Frankfurt am Main. Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen, Sigmaringen 1991, S. 53–149, S. 66. 89 R. E, Zur Einwohnerzahl und Bevölkerungsstruktur. 90 G. M, Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 100, S. 317–319.

Die Stadtbevölkerung

zu große Schwierigkeiten untergebracht werden konnten. Die 20 219 städtischen Einwohner setzten sich aus 6 238 weiblichen Bewohnern, 5 228 männlichen, 1 800 Einwohnern ohne Bürgerrecht, 446 Geistlichen und 150 Juden zusammen. Die Anzahl der Herdstellen, d. h. der selbständigen Haushalte, betrug etwas mehr als 4 000. Offen muss bleiben, ob Bürger des Krieges wegen die Stadt verlassen hatten. Zwischen den beiden amtlichen Erhebungen liegt die verheerende Seuche des Jahres 1437, die angeblich 9 000 Opfer gefordert haben soll. Weitere Anhaltspunkte für die Bevölkerungsziffer ergeben die Steuerbücher. Für die Jahre 1397 und 1433 wurden anhand der Losungsregister 5 626 und 5 662 Steuerp ichtige ausgezählt. Da es sich um Familien- und Haushaltsvorstände, technisch gesprochen um Steuereinheiten handelt, muss mit einem Multiplikator die Gesamtbevölkerung geschätzt werden. Ein Koefzient von 4,5 Personen zugrunde gelegt, ergeben sich rechnerisch 25 479 Einwohner im Jahre 1433.⁹¹ Eine weitere Berechnungsgrundlage bilden die Einzugslisten der Reichssteuer des Gemeinen Pfennigs aus dem Jahre 1497. Diese Steuer wurde in Form einer allgemeinen und direkten Kopf- oder Vermögensteuer von allen Personen im Reich über 15 Jahren erhoben. Auf der Grundlage dieser Listen wurden getrennt nach den Stadtteilen St. Lorenz (berechnet) und St. Sebald (geschätzt) samt einer Klerikerquote insgesamt 28 046 Einwohner ermittelt.⁹² Die zeitgenössischen Schätzungen liegen erheblich höher. Der Chronist Sigmund Meisterlin schätzt die Einwohnerzahl im Jahre 1485 auf 36 000; die Jahrbücher berichten zum Jahre 1483 von 40 000 Christen, die in den beiden Pfarreien zu den Sakramenten gegangen seien; der Humanist Konrad Celtis veranschlagt in seiner »Norimberga« an der Jahrhundertwende die Einwohnerzahl völlig überhöht auf 52 000.

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Außerdem berichtet er, die fruchtbaren Nürnbergerinnen würden jährlich bis zu 4 000 Kinder zur Welt bringen. Zahlenangaben von Zeitgenossen sind regelmäßig übertrieben, mehr ein Ausweis für das statistische Emp nden der Zeit. Das Beispiel Nürnberg zeigt, dass bei allen auf verschiedenen Wegen ermittelten Zahlen mehr oder weniger große Unsicherheiten bestehen bleiben, zumal aber wenn sie aus sekundärstatistischen Angaben abgeleitet werden.⁹³ Derartige sekundärstatistische Berechnungsgrundlagen ergeben die Zahl der Steuerzahler, der Wehrfähigen, der Feuerstellen, der Häuser oder die überbaute Siedlungs äche. Die Schwierigkeit besteht darin, für diese Einheiten, die eine größere Kopfzahl repräsentieren, jeweils einen geeigneten Koeffizienten zu nden oder nicht erfasste Bevölkerungsgruppen wie Frauen, Kinder, Kleriker, Dienstboten, Handwerks- und Handelsgehilfen oder allgemein die nicht steuerp ichtigen Personen anteilsmäßig zu schätzen. Die Multiplikatoren sind nicht naturgegebene Größen, sondern werden stets mehr oder weniger willkürlich gesetzt, wobei nicht selten später oder andernorts gewonnene Verhältniszahlen benutzt werden. Außerdem werden in der Regel nur die steuerp ichtigen Haushalte erfasst, die, wenn zugleich alle Bewohner und nicht nur die Bürger steuerp ichtig waren, über vermögensunabhängige xe Vorsteuern (Vorschoss) am zuverlässigsten ermittelt werden können. Wo aufgrund punktueller Quellen, die sämtliche Hausbewohner aufführen (Regensburg 1436), genauere Berechnungen möglich sind, erweisen sie sich nicht in allen Stadtvierteln als gleich und differieren zwischen 3,9 und 5,6 bei einem Durchschnitt von 4,46 pro Haus, außerdem verändern sie sich mit dem Zuschnitt der Haushalte und deren Zahl im Laufe der Zeit, insbesondere in Pest- und Seuchenzeiten. Das Stadtgebiet Lübecks um-

91 W. S, Das Bürgerrecht der Königs- und Reichsstadt Nürnberg (2.1). 92 O. P, Das Register des Gemeinen Pfennigs (1497) der Reichsstadt Nürnberg. Die Bevölkerungszahl Nürnbergs wird für den Zeitraum von 1530 bis 1550 – bei einem Bevölkerungsanstieg seit der Mitte des 15. Jahrhunderts – auf etwa 50 000 Einwohner geschätzt. Am Ende der reichsstädtischen Zeit, bei der Übergabe an Bayern 1806, hatte die Stadt mit 25 176 Einwohnern etwa die gleiche Bevölkerungsziffer wie um 1400. 93 R. M, Introduction II, S. 50 ff.; H. D; E. P; P.-J. S.

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Die Stadt und ihre Bewohner

fasste um 1300 eine Gesamt äche von etwa 113 Hektar und etwa 15 000 Einwohner bei 1 736 Grundstücken, 1399 etwa 20 000 Einwohner bei 1 876 Grundstücken.⁹⁴ Der Multiplikator für die Steuereinheit (Steuerzahler) hängt von der Familiengröße, der Zahl der alleinstehenden Steuerp ichtigen, von der Steuerordnung und der vielfach abweichenden Steuerpraxis und dem Anteil der nicht steuerp ichtigen Gruppen ab, sofern er in den Multiplikator eingeht. Bei den Haushalten sind neben der Familiengröße noch das Gesinde oder die Handwerksknechte zu berücksichtigen, die zum Haushalt im Sinne einer Familien- und Produktionseinheit gehören. Noch unsicherer ist die Berechnung der Bevölkerung nach den Häuserzahlen, da im Spätmittelalter in den großen Städten die Mietparteien pro Haus sehr zahlreich sein können. Für die Familiengröße werden Multiplikatoren zwischen drei und fünf Köpfen, für die Steuereinheit je nach steuerrechtlicher Denition gleichfalls zwischen drei und fünf Personen verwendet und für die Häuser mindestens fünf Bewohner pro Haus angenommen. Die Zahl der Wehrp ichtigen muss für eine Hochrechnung wohl mehr als verfünffacht werden. Auf einen Hektar überbauter Fläche kommen durchschnittlich etwa 100 Bewohner, doch schwankt die Bebauungsdichte der einzelnen Städte und der einzelnen Bezirke ganz erheblich. Der Anteil der Kinder an der Gesamtbevölkerung wird auf 25–33 Prozent veranschlagt. Die Vorstellungen über die Einwohnerzahlen der Städte beruhen nur ganz selten auf statistisch einigermaßen befriedigenden Erhebungen. Die für die frühe Neuzeit wichtigste statistische Quelle, die Geburten, Eheschließungen und Taufen verzeichnenden Kirchenbücher, steht noch nicht zur Verfügung. Es ist aber immerhin möglich, Größenverhältnisse einzugrenzen, wahrscheinlich zu machen und ältere, meist überhöhte Ziffern zu korrigieren. Es handelt sich aber um Momentaufnahmen,

die angesichts der häu gen Seuchenzüge von eingeschränktem Aussagewert für einen durchschnittlichen Normalzustand sind, andererseits zeitlich zu weit auseinander liegen, um die wechselvolle Bevölkerungsentwicklung hinreichend deutlich hervortreten zu lassen. Trotz der Bevölkerungsverluste durch die Pest wuchsen einige Städte wie Lübeck und Hamburg im 15. Jahrhundert durch Migrationsgewinne erheblich; Hamburg konnte seine abgesunkene Bevölkerung zwischen 1375 und 1450 vermutlich sogar verdoppeln. So bedeutende Städte wie Augsburg, Straßburg, Nürnberg, Wien, Braunschweig, Lübeck oder Danzig hatten im 15. Jahrhundert knapp unter oder deutlich über 20 000 Einwohner. Die mit Abstand größten Städte waren Köln mit etwa 40 000 Einwohnern und Prag, das diese Größe zeitweise im 14. Jahrhundert erreichte. Nach der Mitte des 14. Jahrhundert hatten von den großen andrischen Städten Gent etwa 64 000, Brügge 45 000 und Ypern 28 000 Einwohner.⁹⁵ Eine wirtschaftlich keineswegs unbedeutende Stadt wie Nördlingen, die eine regional bedeutende Messe besaß, brachte es nur auf über 5 000 Einwohner. Versucht man, diese Städte in den Bestand der deutschen Städte einzuordnen, so gehören Nürnberg und Straßburg zu der verschwindend kleinen Zahl von Großstädten nach mittelalterlichem Maßstab, während Nördlingen immer noch der kleinen Gruppe von Mittelstädten zuzurechnen ist, deren Anteil am Gesamtbestand etwa 5 Prozent beträgt. Der Nördlinger Rat ließ im Jahre 1485 – mit reichspolitischer Blickverengung auf Oberdeutschland – dem Kaiser vortragen, die Stadt sei für eine der Hauptstädte in deutschen Landen zu erachten und gehöre zur Gruppe der zehn bedeutendsten und mächtigsten Städte, der er in seinem geogra schen Spektrum Straßburg, Köln, Regensburg, Augsburg, Frankfurt am Main, Nürnberg, Konstanz, Basel, Ulm und eben Nördlingen zurechnete. Zumin-

94 R. H-K, Art. »Lübeck«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. V, München/Zürich 1991, Sp. 2147. 95 In Gesamt andern kamen etwa 78 Einwohner auf den km2 , was einem außerordentlichen Urbanisierungsgrad von 36% entspricht, nur in der benachbarten Grafschaft Holland war er mit 45% noch höher. M. B, Systémes scaux (4.8), S. 658 (mit weiterer Literatur zum andrischen Städtenetz).

Die Stadtbevölkerung

dest gebe es im Reich keine weiteren zehn Städte von der Bedeutung Nördlingens. Das spätmittelalterliche Österreich verfügte mit Wien (20 000–25 000 Einwohner), das als ›des Reichs Hauptstadt in Österreich‹ galt, über eine mittelalterliche Großstadt, während im 15. Jahrhundert mit großem Abstand etwa 14 Städte nur 2 000–5 000 Einwohner hatten und die Mehrzahl der Städte nicht einmal die Größe von 1 000 Einwohnern erreichte. Für eine Klassi zierung der mittelalterlichspätmittelalterlichen Städte nach der Größe ihrer Bevölkerungszahlen müssen die modernen Größenordnungen auf mindestens zehnfach verkleinerte mittelalterliche Maßstäbe übertragen werden. Im Folgenden werden zwei Klassi zierungen vorgestellt. Die erste stammt von H. Ammann und bezieht sich auf die schweizerischen und (I) deutschen Städte⁹⁶, die zweite fußt auf Berechnungen H. Stoobs zum Städtewesen Mitteleuropas (II).⁹⁷ Weit über die Hälfte der Städte (etwa 66 Prozent) bestand demnach aus Zwerg- und Kleinstädten, etwa 90 Prozent der Städte waren kleinere Mittelstädte, Klein- und Zwergstädte. Zum großen Teil waren die kleinen Städte wirtschaftlich agrarisch ausgerichtet; viele lebten von Ackerbau, Gartenkulturen und in Weingegenden vom Rebbau. Auch bei größeren Städten fehlten nicht deutlich ausgeprägte agrarwirtschaftliche Züge. Andererseits darf bei den Kleinstädten der Anteil von Handel und Gewerbe nicht unterschätzt werden; als wirtschaftliche Mittelpunkte hatten viele kleine Städte eine vorherrschend städtische Wirtschaft. Wenigstens waren unentbehrliche Handwerkszweige wie Lebensmittelgewerbe, Schneider und Schuster, Bau- und Metallgewerbe, daneben einige Spezialgewerbe vorhanden. Hinzu kamen die für die Verkehrswirtschaft tätigen Kau eute und Krämer. Wirtschaftlich rege Kleinstädte partizipierten durch den Besuch entfernterer Messen am Groß- und Fernhandel, während Spezialgewerbe auf den Messen Produkte abset-

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zen konnten. Insgesamt weisen die Kleinstädte ein nicht zu enges Spektrum an unterschiedlichen wirtschaftlichen Erscheinungsformen in entsprechend bescheideneren Dimensionierungen auf.⁹⁸ Anhaltspunkte für die Rangfolgen von Städten entsprechend ihrer wirtschaftlichen und politischen Bedeutung, wenn auch nicht völlig objektive Platzierungen, nden sich in den Matrikeln (Leistungsverzeichnissen) der hansischen Tohopesaten, jener bündnismäßigen Verträge zwischen den einzelnen Städten und Städtegruppen, in den Matrikeln des Schwäbischen Bundes oder der allgemeinen Städtetage. Die Beiträge der einzelnen Vertrags- und Bündnisstädte wurden auf den Tagungen in aller Öffentlichkeit – wie auf den Hansetagen – oder in internen Beratungen ausgehandelt. Ähnliches gilt für die Reichsmatrikeln seit dem 15. Jahrhundert hinsichtlich der Frei- und Reichsstädte sowie einiger Hansestädte, nur ist hier die autoritative Veranschlagung der Städte durch König und Reichsfürsten mit in Rechnung zu stellen. 1.4.2 Demogra e der Stadt Wie die Städte durch zwischenstädtische Wanderung (Migration), vor allem aber durch Zuzug vom Lande gefüllt wurden, so bedurften sie allein schon zur Erhaltung ihres Bevölkerungsbestandes der stetigen Ergänzung durch Zuwanderung. Die natürliche Bevölkerungsbilanz der Stadt war passiv; die Sterbeziffer überstieg die Geburtenziffer. Das De zit musste letztlich vom Land mit seiner etwas höheren Heiratsund Geburtenziffer, seinem wirtschaftlich und sozial bedingten Bevölkerungsüberschuss ausgeglichen werden. Die Landbevölkerung erneuerte immer wieder die unteren Schichten der städtischen Einwohnerschaft. Sie stellte Dienstboten, Lehrlinge, Hilfsarbeiter und Tagelöhner aller Art, Handwerker wie die schlecht entlohnten Leinenweber.

96 H. A, Wie groß war die mittelalterliche Stadt? S. 417–419. 97 H. S, Stadtformen und städtisches Leben im späten Mittelalter (1.3), S. 153 f. 98 H. A, Wie groß war die mittelalterliche Stadt? S. 421 f. E. E, Die europäische Stadt des Mittelalters (Einleitung), S. 228.

62

Die Stadt und ihre Bewohner

I. Deutsche Städte (< 3 000 oder > 4 000 einschließlich der bayerischen Märkte) Klassen

Einwohner

Zwergstädte Kleine Kleinstädte Mittlere Kleinstädte Ansehnliche Kleinstädte98 Kleine Mittelstädte99 Größere Mittelstädte100 Großstädte (Weltstädte)

unter 200 200–500 500–1 000 1 000–2 000 2 000–5 000 5 000–10 000 über 10 000101 über 20 000102 über 40 000 über 50 000

mehr als 200 Städte ca. 5% ca. 16 Städte ca. 26 Städte ca. 9 Städte ca. 0,5% Köln103 Gent, Brügge, Paris, Florenz, Mailand, Venedig, Neapel104

II. Mitteleuropäische Städte (ca. 3 800 Städte) Klassen Zwerg/-Minderformen Kleinstädte kleinere Mittelstädte Mittelstädte Großstädte ⁹⁹ ¹⁰⁰ ¹⁰¹ ¹⁰² ¹⁰³ ¹⁰⁴ ¹⁰⁵

Einwohner

Fläche (ha)

Anzahl um 1300

%-Anteil um 1330/40

unter 800 800–2 000 2 000–5 000 5 000–10 000 über 10 000

unter 8 mindestens 8 15 20–100 mindestens 100

450–500 50–60

ca. 18,5 ca. 47,5 ca. 24 ca. 8,5 ca. 1,5

99 Meißen (2 000). Die in der Forschung genannten Zahlen werden als ungefähre Angaben und mit den notwendigen Vorbehalten angeführt. 100 Essen (1380: 3 000), Herford (1500: 3 000–3 500), Marburg, Düren, Butzbach/Hessen (1421: 2 235), Kiel (Anfang 15. Jh.: 2 400–2 500), Wimpfen (2 000–2 500), Rottweil (1450: 4 500), Windsheim (3 000), Kempten (3 000), Lindau (1500: 3 000–4 000), Ravensburg (1380: 3 000, 1500: 4 000–5 000), Memmingen (1500: 5 000), Überlingen, Freiburg i.Ü. (14. Jh.: 4 000–5 000), Freiberg i. S., Leipzig (1474: 4 000), Dresden (1396: 3 745; 1453: 3 103; 1477: 2 228; 1501: 2 565), Quedlinburg (5 000) Bautzen (1400: 5 300; 1431: 4 200; 1436: 3 300), Stade (1400: 4 000). 101 Nördlingen (1459: 5 295), Esslingen (6 000), Zürich (14. Jh.: 6 000; Mitte 15. Jh.: unter 5 000), Bern (Ende 14. Jh.: über 6 000, 15. Jh.: 4500–5 000), Schaffhausen, Konstanz, Basel (6 000–8 000, 1495: 8 800/10 000), Freiburg i. Br. (1385: 7 108; 1391: 6 820; 1450: 4 792; 1500: 5 000), Heidelberg (1439: 5 200), Mainz (Ende 15. Jh.: 5 700), Frankfurt a. M. (1387: 9 600/12 000), Aachen (knapp 10 000), Wesel, Kassel, Osnabrück, Emden, Göttingen (1393: 6 000), Mühlhausen i. . (7 000–9 000), Reval (5 000), Görlitz (1426: 7 800, 1472: 8 300, 1533: 10 600). 102 München (1369: 10 810, 1440: 9 488, 1462: 12 614, 1500: 13 447), Regensburg (Mitte 14. Jh.: 15 000, Ende 15. Jh.: unter 12 000), Würzburg, Ulm (1400: 9 000; 1450: 13 000; 1500: 17 000; 1550: 19 000), Trier (1. Hälfte 14. Jh.: 12 000; danach 8 000–9 000), Augsburg (1470–1500: 18 000; 16. Jh. 30 000–35 000), Straßburg (1444: 17–18 000), Braunschweig (1403: 15 000–17 000; 1500: 20 000), Lüneburg, Erfurt (1493: 18 500), Hamburg (1300: 5 000; 1376: 8 000; 1400: 10 000–12 000; 1500: 14 000), Stralsund (1400: 12 000–13 000), Rostock (10 000–12 000), Breslau (14 000–15 000/20 000), Bremen (über 10 000), um 10 000: Goslar, Soest (Anfang 15. Jh.), Münster, Maastricht (um 1300), 10 000–15 000: Elbing, Königsberg, orn, Kulm. 103 Metz (1325: 25 000), Nürnberg (Mitte 15. Jh.: 20 000; 1497: 28 000), Wien (um 1500: 20 000–25 000), Lübeck (um 1300: 15 000, um 1400: 20 000; 15. Jh.: 25 000), Magdeburg (15. Jh.:15 000–20 000), Danzig (1400–1430: 20 000; 1510: 35 000). Schätzungen für die beiden Prager Städte: 8 000–10 000 (um 1300), 40 000 (Mitte 14. Jh.), 30 000 (15. Jh.). 104 Um 1500: 40 000–45 000. 105 Ende 15. Jh.: 100 000.

Die Stadtbevölkerung

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Relationen der Städteklassen untereinander (um 1300) 1 Großstadt: 3 große Mittelstädte: 8 kleinere Mittelstädte : 35 Kleinstädte: 14 Zwerg- und Minderformen Verteilung der Stadtbevölkerung (ca. 7 Millionen um 1330/40) Zwerg- und Minderformen Kleinstädte Mittel- und Großstädte

ca. 4% ca. 56% ca. 40%

Anteil der Stadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung Alemannischer Raum, Westeuropa östliches Mitteleuropa

1.4.2.1 Natürliche Bedingungen: Geburtlichkeit und Sterbeziffern Was die natürlichen demogra schen Bedingungen anlangt, so ist mit dem Fehlen von Kirchenbüchern einer exakten Statistik der Boden entzogen. Als Auskunftsmittel müssen zeitlich und räumlich verstreute Einzelbelege und jüngere demogra sche Modelle herangezogen werden. Die Fruchtbarkeit der Ehe war im Mittelalter und bis ins 19. Jahrhundert hinein beträchtlich. Heinrich Reincke hat die Auffassung vertreten, dass Kinderzahlen von 10–16 Kindern im Mittelalter »durchaus normal« gewesen seien.¹⁰⁶ Diese Zahlen mögen für wohlhabendere Familien zutreffen, kaum jedoch für die Ehen aller Bevölkerungsschichten und als Durchschnittswerte. Da noch keine Pfarrbücher überliefert sind, geben in der Regel nur persönliche Aufzeichnungen von Angehörigen der Oberschicht oder von sozialen Aufsteigern verlässliche Angaben. Entscheidend für die Kinderzahl sind außer der natürlichen individuellen Fruchtbarkeit das jeweilige Heiratsalter der Eheleute und die Dauer der Ehe. Der Augsburger Kaufmann Hans Rem (1340‒1396) hatte, wie er berichtet, in 34 Ehejahren an bis dahin überlebenden Kindern 9 Töchter und 4 Söhne auszustatten. Da die Eheschließung im Allgemeinen von der wirtschaftlichen Fähigkeit abhing, auf der Grundlage einer ausreichenden Erwerbsstelle einen eigenen Hausstand zu gründen, kamen

106 H. R, Bevölkerungsprobleme (1.4), S. 265.

ca. 25% ca. 20%

die wirtschaftlich Schwächeren, zumal angesichts von Tendenzen zur Zunftschließung vor allem nach 1500, häu g erst relativ spät nach zwangsweise auferlegtem Junggesellentum zur Heirat. Kinder der Oberschicht und des Patriziats wurden nicht selten in frühem Alter verheiratet, um das Geschlecht im Mannesstamm zu sichern. Für die Frau, die bei einem natürlichen intergenetischen Intervall von 16,5 bis 31,5 Monaten infolge von verlängerten Stillzeiten, Tot- und Fehlgeburten je nach Schicksal vielleicht durchschnittlich alle 30 Monate ein Kind zur Welt brachte, bedeutete eine verzögerte Heirat, dass Jahre besonders hoher Fruchtbarkeit bereits verstrichen waren. Sie konnte, wie es in der teilweise befremdlichen klinischnationalökonomischen Sprache der Demograe heißt, ihr »Reproduktionspotential« nur zu einem Bruchteil ausnutzen. Überdies war die weibliche Sterblichkeit zwischen 20 und 40 Jahren relativ hoch. Die mittlere sogenannte Abkunft der Frau könnte zwischen vier und sechs oder acht Kindern gelegen haben. Die Geburtlichkeit (Nativität) wurde durch die Heiratsziffer, das Heiratsalter, sexuelle Aktivität, Fruchtbarkeit, den infolge des von der Kirche hoch geschätzten und propagierten Zölibats und der wirtschaftlichen Bedingungen relativ hohen Junggesellenindex, die – relativ niedrige – Illegitimenziffer, durch eine hohe Müttersterblichkeit, durch ernährungs- oder arbeitsbedingte Fehlgeburten und frühzeitige Sterili-

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Die Stadt und ihre Bewohner

tät bestimmt.¹⁰⁷ Nur die allerwenigsten Faktoren können quantitativ präzisiert werden. Die Oberschicht versuchte gelegentlich, die Zahl der Erbberechtigten vertraglich einzuschränken und möglichst viele Kinder in kirchlichen Institutionen und Anstalten unterzubringen, und gefährdete auf diese Weise eventuell das Fortleben des Geschlechts im Mannesstamm, das in anderen Fällen wiederum durch eine möglichst hohe Kinderzahl gesichert werden sollte. Nicht völlig unfruchtbar blieb der Klerus, was aus dem Begriff der Paffenkinder zu ersehen ist. Der vergleichsweise hohen Geburtlichkeit stand aber eine sehr hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit gegenüber. Vielleicht starb jedes dritte Kind im Säuglingsalter. Als einigermaßen gesichert kann gelten, dass gewöhnlich nur etwa zwei, viel seltener drei Kinder zugleich im elterlichen Haushalt lebten. Das gemeinsame Eheleben war infolge eines gelegentlich hohen Heiratsalters, einer relativ niedrigen Lebenserwartung und einer hohen Kindbettsterblichkeit relativ kurz. Mehrgenerationenhaushalte dürften nicht allzu zahlreich gewesen sein. Wiederverheiratungen, auch mehrmalige und wechselweise des Mannes und der Frau in unterschiedlichem Alter, die zu einer Art von Kettenheiraten führen konnten, waren relativ häug, und aus ihnen ergaben sich vor allem die außerordentlich hohen Kinderzahlen. Der Augsburger Kaufmann und Chronist Burkard Zink (1396–1474/75) brachte es als Beispiel für einen sozialen Aufsteiger in vier Ehen und einem zwischenzeitlichen Konkubinat als Witwer auf insgesamt 18 Kinder, 11 Mädchen und 7 Knaben. Davon starben 7 Töchter und 4 Söhne noch im Kindesalter. Die

Abstände der Geburten lagen zwischen 17 und 24 Monaten. Aus seiner zwanzigjährigen Ehe mit Elisabeth Störkler (†1440) stammten 9 Kinder, von denen 6 im Kindesalter starben. Eine vergleichsweise lange Ehedauer konnte aber ein gleiches Ergebnis bringen. Aus der Ehe, die Albrecht Dürers Vater, Goldschmied in Nürnberg, 1467 mit Barbara Holper schloss, gingen bis zum Jahr 1492 18 Kinder hervor, 11 Knaben und 7 Mädchen. Genauere Daten überliefern die Aufzeichnungen des ein ussreichen Nürnberger Patriziers Conrad Paumgartner des Älteren (um 1380–1464) über Kinder, Enkel und Urenkel.¹⁰⁸ Paumgartner brachte es in zwei Ehen und insgesamt 55 Ehejahren auf 21 Kinder. Der ersten Ehe mit Anna Kress, die 13 Jahre von 1402 bis 1415 dauerte, entsprangen 7 Kinder, 3 Töchter und 4 Söhne, der zweiten mit Clara Zenner in 32 Ehejahren von 1417 bis 1449 insgesamt 6 Töchter und 8 Söhne. Das erste Kind wurde 1404 geboren, das letzte 1440. Die letzten 9 Ehejahre blieben kinderlos. Paumgartner hatte sein erstes Kind etwa im Alter von 24, sein letztes im Alter von etwa 60 Jahren, 24 Jahre vor seinem Tod. Von den 21 Kindern starben 10 (3 Töchter, 7 Söhne) frühzeitig, ein Kind mit fünf, 2 Kinder mit 6 und eines mit 9 Monaten. Weiter 4 Kinder wurden 19, 22, 23 und 33 Monate alt, zwei erreichten ein Alter von über 6 Jahren; eine Tochter verstarb mit über 18 Jahren. Die anderen Kinder erreichten Lebensalter von 28, 34, 37, 38, 45, 51, 57, 74 und 80 (Clara) Jahren. Die Geburtenintervalle bewegten sich zwischen je zweimal 12 und 13, häu gen 17–24 und vereinzelten 27, 30, 31 und 38 Monaten und betrugen im Durchschnitt 20,2 Monate. Von den

107 W. A (Wüstungen, S. 85) nimmt für den Zeitraum vom 11. bis 13. Jahrhundert eine allgemeine Geburtlichkeit von 42‰ und eine Sterblichkeit von 36‰ an, für das 14./15. Jahrhundert ein Verhältnis von 39‰ zu 41‰. R. M (Introduction, II, S. 455) rechnet in der frühen Neuzeit mit einer Sterblichkeit von 35–45‰, die bei Epidemien rasch auf 60–80‰ ansteigen konnte. Ermittelte Heiratsziffern: Basel (1454) 32,8%, Nürnberg (1449) 46,3%, Freiburg 38,7%, Dresden (Teil, 1430) 49,3%. Gegenwärtig liegt die Geburtlichkeit in Deutschland bei 8,1 Neugeborenen pro 1 000 Einwohner im Jahr (2009) und bei durchschnittlich 1,39 Geburten pro Frau (2010), die Sterberate bei 10,92 Personen pro 1 000 Einwohner (2011). Seit 1972 lieg in Deutschland wie in der mittelalterlichen Stadt, aber aufgrund anderer Relationen und einer niedrigen absoluten Geburtenziffer, die Sterberate höher als die Geburtenrate und die Zuwanderung gleicht das De zit nicht aus, während in mittelalterlichen Städten die Zuwanderung teilweise zu einem Bevölkerungswachstum führte. 108 Staatsarchiv Nürnberg, Reichsstadt Nürnberg, Hs. 264.

Die Stadtbevölkerung

5 verehelichten Töchtern heirateten 3 im Alter von 16 Jahren, eine Tochter mit 15 und eine mit 19 Jahren. Die 5 Söhne hatten mit 21 (2), 22, 24 und 25 Jahren ein deutlich späteres Heiratsalter. Zu den Kindern Conrad Paumgartners kamen noch 74 Enkel und 40 Urenkel. Stadt und Zunft förderten die Wiederverheiratung von Witwen, um deren Versorgung sicherzustellen und die Zunftkasse zu entlasten, indem sie heiratswilligen Männern die Gebühren für die Aufnahme ins Bürgerrecht oder in die Zunft erließen oder sie spürbar senkten. Die Ehe war in erster Linie eine wenig sentimentale, deshalb aber nicht zugleich lieblose Versorgungs- und Wirtschaftsgemeinschaft¹⁰⁹, die in der Regel innerhalb eng abgegrenzter Heiratskreise eingegangen und bei geringen Möglichkeiten freier Partnerwahl maßgeblich von den Eltern und Verwandten gestiftet wurde. In der Frage der Lebenserwartung sind wir auf außerstädtische Anhaltspunkte angewiesen. Bei englischen Grundbesitzern, um diese ersatzweise heranzuziehen, lag sie zum Zeitpunkt der Geburt in der Periode von 1200–1275 bei 35 Jahren; sie sank dann stetig bis vor die Mitte des 14. Jahrhunderts auf 27 Jahre, el dann in der Pestperiode 1348–1375 auf 17 Jahre, um dann ansteigend in der Periode von 1425–1450 wieder etwa 33 Jahre zu erreichen. Am höchsten war die Lebenserwartung um den ersten Geburtstag, da die Sterblichkeit (Mortalität) kurz nach der Geburt infolge des Zusammentreffens endogener und exogener Faktoren am höchsten lag. Die Sterblichkeit dürfte im ersten Lebensjahr etwa 15–20 Prozent, bis zum 20. Lebensjahr 30 Prozent betragen haben. Es gibt aber auch autobiographische Aufzeichnungen und Epitaphe, die nahelegen, dass mehr als jedes zweite Kind vor Erreichen des 14. Lebensjahres starb. Da die Sterblichkeit im Säuglingsalter sowie in Kindheit und Jugend sehr hoch war, hatten die Überlebenden nach den besonders gefährdeten Lebensabschnitten angesichts der möglichen Lebensspan-

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ne statistisch noch eine relativ lange Lebenserwartung. Es ist damit zu rechnen, dass bei den Geburten wie heute etwa 104–105 Knaben auf 100 Mädchen gekommen sind. Das Geschlechtsverhältnis scheint sich bis zum Alter von 14 Jahren infolge einer höheren Sterblichkeit der Knaben ausgeglichen oder zugunsten eines leichten Mädchenüberschusses entwickelt zu haben. Im Alter zwischen 14 und 40 Jahren verschlechterte sich die Lebenserwartung der Frauen, die im gebärfähigen Alter wiederholt den Risiken der Niederkunft und des Kindbetts ausgesetzt waren. Hinzu kommen mangelhafte Ernährung (Eisenmangel) und vielfach schwere körperliche Arbeit. In dieser Altersspanne starben mehr Frauen als Männer, während sich ab dem 40. Lebensjahr die Verhältnisse anglichen und im höheren Alter sich vermutlich eine etwas höhere Sterblichkeit der Männer gegenüber den Frauen ergab. Während für das Frühmittelalter mit einem Männerüberschuss gerechnet wird, hat Karl Bücher auf der Grundlage von partiellen statistischen Erhebungen bezüglich Nürnbergs, Frankfurts und Basels, insbesondere eines hohen Anteils alleinstehender Frauen in Frankfurter Steuerlisten, einen bedeutenden Überschuss der erwachsenen weiblichen Bevölkerung im späten Mittelalter konstatiert.¹¹⁰ Er erklärt den Frauenüberschuss mit den zahlreichen Bedrohungen des männlichen Lebens in den spätmittelalterlichen Städten infolge fortwährender Fehden, blutiger Bürgerzwiste und gefahrvoller Handelsreisen, mit einer größeren Sterblichkeit der Männer bei den wiederkehrenden pestartigen Krankheiten und mit der männlichen Unmäßigkeit in jeder Art von Genuss. Als weitere, strukturelle Gründe vermutet er die schwere körperliche Berufsarbeit der Männer in ungesunden Räumen bei sich rasch verändernden Ernährungsbedingungen, während er für die Frauen eine mit der gewerblichen Berufsbildung fortschreitende Entlastung von schweren

109 Siehe auch 8.1.3. 110 K. B, Die Frauenfrage im Mittelalter (8.1), S.6 ff.; vgl. R. M, Introduction II, S. 218–222.

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Die Stadt und ihre Bewohner

körperlichen Arbeiten annimmt. Diese Begründungen lassen sich im Einzelnen nur schwer belegen oder überprüfen. Immerhin waren die Frauen, da ihnen die Krankenp ege oblag, bei Epidemien einer erhöhten Ansteckungsgefahr ausgesetzt. Vor allem auf der Grundlage der relativ zuverlässigen Einzugslisten für den Gemeinen Pfennig des Jahres 1497 konnte für einzelne Städte auch ein Männerüberschuss ermittelt werden, sodass sich die Frage erhebt, ob es in den Städten tatsächlich durchweg einen signi kanten Frauenüberschuss gegeben hat.¹¹¹ 1.4.2.2 Hygiene und Medizin 1.4.2.2.1 Lebensbedingungen und hygienische Verhältnisse Die hohe Sterblichkeit lässt sich, wenn wir nach ihren endemischen Gründen fragen, mit den Lebensbedingungen und Lebensgewohnheiten in der Stadt erklären. Die Enge des Zusammenlebens in der Stadt und im Haus förderte Ansteckung und Krankheitsübertragung. Bevölkerungsdichte und räumliche Enge sind deshalb so außerordentlich wichtige Faktoren, weil angesichts der damaligen medizinischen Verhältnisse die Separierung, das Leben auf Distanz, die einzig mögliche und wirksame Prophylaxe gegen Ansteckung war. Von Ausnahmen abgesehen waren die Straßen und Gassen schmal und von vorragenden Geschossen teilweise überbaut. Die vielfach unverglasten, unzureichend abgedichteten Fensteröffnungen waren sehr klein und blieben des Gestanks wegen, der auf den Gassen herrschte, und aus Furcht vor den Miasmen weitgehend verschlossen. Miasmen sind nach der damals verbreiteten Lehre des Hippokrates die giftigen und ansteckenden Ausdünstungen der Erde und stehender Gewässer, die in die Luft aufsteigen und durch die Erregung von Fäulnis im Menschen krankmachen. Es fehlte in den Wohnungen, die großen Temperaturschwankungen ausgesetzt waren, an Licht und Luft. Manche Behausungen hatten keinen Rauchfang und Schornstein für das offene

111 Siehe dazu P.-J. S; K. W.

Herdfeuer, sodass sie zum Schaden der Augen und Atmungsorgane von beißendem, Reizungen verursachendem Rauch erfüllt waren und wegen des Abzugs durch Tür und Fenster Zugluft herrschte. Aber auch der komfortable Ofen und die Beleuchtung mit Kienspan, Talgkerzen, mit Fett oder Tran gefüllten Lampen und Schalen sorgten für lästige Rauch- und Geruchsentwicklung. Die Häuser hatten kleine Grundrisse, deren Zuschnitt an der Seite zur Straße hin schmal war und tief in das Grundstück hineinführte. Viele Wohnungen lagen im hinteren Hausteil den engen Gässchen oder dem Hinterhof zu. Bekannt sind Wohnräume in Treppenverschlägen, die Kellerwohnungen ohne jegliche Sonneneinstrahlung in den norddeutschen Hansestädten mit ihrem ohnehin feuchten Klima. Das Zusammenleben mit Arbeit, Essen und Geselligkeit spielte sich ohne strikte Trennung von Alter und Geschlecht auf engem Raum in Einraumgeschossen oder in Wohnungen mit nur wenigen Räumen ab, sodass Kranke kaum isoliert werden konnten. Ungeziefer fand in den Räumen leicht Unterschlupf und war nur sehr schwer wieder zu entfernen. Geschlafen wurde dicht an die Feuerstelle gedrängt, im extremen Fall der Unterschichten mit Vieh in einem Raum. Betten wurden wie auch später in der frühen Neuzeit oft von mehreren Personen zugleich oder nacheinander geteilt. Bettwäsche und Leibwäsche war ausweislich von Nachlassinventaren nur wenig vorhanden. Die sanitären Anlagen waren, sofern es überhaupt welche gab, sehr primitiv. Günstiger und luxuriös waren freilich die Wohn- und Lebensverhältnisse der Oberschicht. Die Epidemien fanden ihre ersten Opfer in den ärmeren Vierteln der Handwerker und Tagelöhner, deren Sterblichkeit jedoch im Hinblick auf die Wirksamkeit der medizinischen Versorgung und ärztlichen Kunst an sich kaum höher gewesen sein dürfte. Der Steinbau reduzierte gegenüber den Holzbauten die Besiedlung mit Ratten und Ungeziefer und damit auch die Übertragung von Krankheiten.

Die Stadtbevölkerung

In schlecht durchlüfteten Gassen verbreiteten Schweinekoben vor den Häusern, dort gelagerter Mist, Trester, Bauschutt und Hausmüll einen entsetzlichen Gestank, behinderten den Verkehr und machten bei Regenfällen aus öffentlichen Verkehrswegen übel riechende Kloaken. Im Unrat lebten Ratten, die Krankheitskeime verschleppten, als Wirtstiere Pestüberträger waren und wie die Mäuse die Getreidevorräte dezimierten. Eine Müllabfuhr und Straßenreinigung fand an bestimmten wichtigen Feiertagen oder in Frankfurt am Main zur Messezeit statt. In Göttingen wurde allerdings mindestens alle zwei Wochen Wasser eines oberhalb der Stadt angestauten Baches zur Straßenreinigung in Rinnen durch die Stadt geleitet. Außerdem wurde im 15. Jahrhundert von jedem Bürger eine Dreckgeld genannte Gebühr erhoben und davon ein Dreckwagen erworben, der regelmäßig zu bestimmten Zeiten durch die Stadt fuhr und auf den vor jedem Haus Unrat aufgeladen wurde. Erhöhte Bürgersteige und Straßenp aster, das gelegentlich bereits im 13. und 14. Jahrhundert anzutreffen ist, fanden erst spät allgemeine Verbreitung. Das Regenwasser wurde von den Hausdächern nur unvollständig abgeleitet und verwandelte die Straßen und Gassen in Sümpfe; das Brauchwasser der Haushalte wurde vielfach auf die Straße geführt. Um durch den Straßenkot zu gelangen, konnte man sich hölzerne Unterschuhe (Trippen) mit hohen Holzstützen unter die modischen Schnabelschuhe schnallen. Sofern Abtritte (Privete, heimliche Gemächer) nicht überhaupt fehlten und man sich nicht stattdessen der Höfe bediente oder Fäkalien nachts auf die Straße schüttete, liefen sie in freie Räume zwischen den Häusern aus, oder sie hatten ungemauerte, allenfalls mit Letten ausgeschlagene Gruben, die oft jahrzehntelang nicht geleert wurden, da dies umständlich und kostspielig war. Bei anderen Abtritten führte eine Röhre in einen Kasten, in ein unterirdisches Gewölbe mit großem Fassungsvermögen. Der Kasten befand sich später meist nicht mehr im Haus, sondern hinter dem Haus. Auch gab es Abtritte, die am Haus erkerartig zum Wasserlauf hin gebaut waren. Wer in Mün-

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chen aus Platzmangel kein Privet hatte, sollte seinen Un at direkt zur Isar tragen. Nur in ganz wenigen Städten führte ein Abzugssystem in Flussläufe. Im Übrigen waren als Gewohnheitsrecht und als Dienstbarkeit (Servitut) der Immobilie geltend gemachte Mitbenutzungsansprüche verschiedener Parteien an einem Abtritt Gegenstand langwieriger Zivilprozesse. Abtrittund Mistgruben gefährdeten aber die Grundwasserbrunnen. Dies gilt auch für innerstädtische Friedhöfe. Das Wasser aus den nicht selten verunreinigten privaten und öffentlichen Brunnen oder aus offenen Quellen war in hohem Maße infektiös. An Wasserläufen befanden sich Schöpfstelle und Abtritt nicht selten unmittelbar nebeneinander. Die Flussläufe hatten Abfälle und Fäkalien der Gruben aufzunehmen, da man ihnen die Kraft zusprach, diese zu verzehren. Tote Tierkörper und Schlachtabfälle wurden in einiger Entfernung von den Wohnhäusern auf Äcker, in Seen, Teiche oder Wasserläufe geworfen. Der Abdecker hatte kranke Tiere zu töten, die toten, für den menschlichen Verzehr nicht mehr geeigneten Haustiere zu häuten (abdecken, schinden) und zu beseitigen. Für wenig Geld wurden von ihm Häute kranker Tiere erworben, mit denen die Gefahr von Milzbrand und Brandbeulen einherging. Die Ab ussrinnen in den Straßen führten Abfälle, Unrat aller Art und Tierkadaver. Nur in Städten in Hanglage mit entsprechendem Gefälle konnten sie wirkungsvoll ge utet werden. Bei Hitze entstiegen den offenen Rinnen pestilente Dünste; unzureichende Flutung machte sie zu Brutstätten von Krankheitskeimen. Gedeckte Gräben und unterirdische Abzugskanäle wie in Nürnberg und Ulm waren noch selten. Auf den Straßen liefen Ge ügel und Schweine in beträchtlicher Anzahl umher; Vieh wurde durch die Gassen zur städtischen Weide getrieben. Bäcker und Müller hatten der anfallenden Kleie wegen einen großen, gewohnheitsrechtlichen Anteil an der Schweinehaltung. Die Schweine fraßen immerhin organische Abfälle, hinterließen aber Exkremente, verbreiteten Gestank und durchwühlten wie die Hunde und

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Die Stadt und ihre Bewohner

Ratten die Misthaufen an den Straßen. Der Dominikaner Felix Fabri, der den großen Eifer in der Stadt Ulm hinsichtlich der Erhaltung der Reinlichkeit lobt und hervorhebt, dass es keinen Gestank von Kloaken und Abtritten wie andernorts gebe, weil durch unterirdische Gänge alles abgehe, beklagt gleichwohl die Menge der Schweine, die wie nichts anderes die Straßen beschmutzten, die Luft verpesteten und überallhin ihren Unrat brächten. Zur Plage wurden Rudel durch die Stadt streunender Hunde, die bis in die Kirchen eindrangen und auf den Friedhöfen nicht tief genug bestattete Leichen ausscharrten. In zierte Wölfe der Umgebung übertrugen die Tollwut auf die städtischen Hunde. Aus sanitätspolizeilichen Gründen beschäftigten viele Städte Hundeschläger. Für diesen Zweck gab es in Nürnberg eine bürgerliche Stiftung. In Wien wurden durch Hundeschläger und Henker als Extremwerte im Jahre 1444 nicht weniger als 866 und 1475 insgesamt 510 verwilderte Hunde beseitigt; im Zeitraum von 1444 bis 1501 waren es nach den Rechnungsbüchern auf zehn jährliche Aktionen verteilt insgesamt 2 631.¹¹² Der Kölner Rat erteilte dem Hundeschläger 1498 den Auftrag, einen Monat lang alle Hunde ohne Hundemarke totzuschlagen. Es muss jedoch betont werden, dass derartige Verhältnisse und die damit verbundenen hygienischen Probleme keineswegs auf das Spätmittelalter beschränkt waren und sich an ihnen bis ins 18. Jahrhundert, vielfach sogar bis ins ausgehende 19. Jahrhundert, grundsätzlich wenig änderte. Trinkwasser wurde teilweise immer noch aus verunreinigten Flüssen entnommen und führte etwa 1892 zu einer verheerenden Choleraepidemie. Die kommunalen Verwaltungen des Spätmittelalters erkannten die hygienischen Probleme durchaus und gingen mit zahlreichen Verordnungen, Au agen und Entsorgungsmaßnahmen gegen Missstände vor, ohne sie jedoch ausreichend beseitigen zu können.¹¹³

Andererseits hellen für das 15. Jahrhundert Berichte italienischer und spanischer Reisender oder die Stadtbeschreibungen des Domkanonikers Heinrich Sloen, genannt Tribbe (Minden), des Dominikaners Felix Fabri (Ulm) und des Humanisten Konrad Celtis (Nürnberg) das ungünstige Bild der Stadt auf, wenn sie auch teilweise tendenziös und topisch verfahren. Sie loben die Sauberkeit bestimmter Städte und heben insbesondere den Reichtum an Brunnen und Wasser, die gute Beschaffenheit des Wassers in den Kanälen, die Einrichtung unterirdischer Ab üsse, die reine Luft, die Straßenp asterung mit Flusskieseln und die Sauberkeit der Straßen hervor. Der gelegentliche Tadel anderer Städte spricht dafür, dass diese positiven Zeugnisse, bezogen auf den damals erwarteten Standard, nicht der Glaubwürdigkeit entbehren. Hinsichtlich der persönlichen Sauberkeit nden sich drastische Schilderungen von Unsauberkeit, aber auch widersprüchliche Anhaltspunkte. Das Lob der Sauberkeit und der Tadel von Schmutz sprechen auf mentaler Ebene gegen eine häu g angenommene typische Schmutzunemp ndlichkeit des Mittelalters. Ein normativer Standard, der nicht allzu hoch angesetzt sein dürfte, kann den Spitalordnungen mit ihren Vorschriften über Körperwaschungen, Wäschewaschen, den Wechsel der Bettwäsche, das Aufschütteln oder Sonnen der Betten und Polster sowie den Stiftungen, die derartige Maßnahmen nanziell unterstützen, entnommen werden. Zumindest die Vorschriften für die Herbergen dürften an den durchschnittlichen Bedürfnissen eines erwachsenen Menschen orientiert gewesen sein. Die Beliebtheit des Badens im Mittelalter ist fast schon ein Gemeinplatz. Der stundenlange Besuch der Badestube mit Dampf- und Schwitzbad diente nicht nur der Körperp ege, sondern bedeutete ein umfassendes Vergnügen. Man rieb und schlug sich mit dem Badequast, ließ sich zur Ader und schröpfen, Haa-

112 G. W, Tiere und Tierhaltung, S. 240. 113 Siehe insbesondere U. D, Kommunalpolitische Zuständigkeiten; H. K, Die städtische Gemeinschaft, S. 49–64. Zu den Maßnahmen der Stadtregierung siehe 4.6.3.

Die Stadtbevölkerung

re, Bart und Nägel schneiden, massieren und wundärztlich behandeln; dazu nahm man eventuell Mahlzeiten ein, trank, hörte Musik, sang und spielte. Eine Trennung nach Geschlechtern wurde häu g nicht vorgenommen, doch gab es auch abwechselnde Besuchszeiten für Frauen und Männer. Vereinzelt wird Prostitution erkennbar, wenn etwa bei einem Hamburger Prozess des Jahres 1483 Bäderprostitution als Kategorie neben der Straßen- und Mühlenprostitution genannt wird. Nach der Ordnung der Straßburger Baderbruderschaft von 1477 durfte allerdings keine weibliche Person als Hilfspersonal beschäftigt werden, die zuvor als Prostituierte gelebt hatte, es sei denn, sie hatte sich dem ›nach christlicher Ordnung‹ entzogen und gebessert. Von professionellen Bordellbetrieben in Badehäusern kann trotz des zweifelhaften Rufes der Bader kaum gesprochen werden. Die Verbreitung venerischer Krankheiten seit etwa 1495 und die gewachsene Erkenntnis der Ansteckungsgefahr, mehr noch eine rigide protestantische und allgemeinere, nicht mehr pragmatisch an Bedürfnissen orientierte Sittenstrenge und Sexualmoral auf Seiten der Stadträte und in der Bevölkerung setzten dem gemeinsamen Badevergnügen und der daraus bezogenen Reinlichkeit im 16. Jahrhundert ein Ende. Für das Spätmittelalter kann angenommen werden, dass ein Bad alle zwei Wochen eine verbreitete Gewohnheit war. Handwerksgesellen erhielten turnusmäßig für das Bad früher frei und ein Badegeld, mit dem auch städtische Bedienstete bedacht wurden. Rechnungsposten patrizischer Haushalte für Badbesuch, eigenen Badebetrieb im Hause, für Wäsche und Seife lassen auf einen beachtlichen Standard persönlicher und häuslicher Sauberkeit schließen. 1.4.2.2.2 Heilkunst und Krankheiten Die Heilkunst¹¹⁴ wurde von verschiedenen Berufen und Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen Methoden und mit zweifelhaften

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Erfolgen ausgeübt. Die Heilkunst galt als freie Kunst. Akademische Ärzte, die an der Universität die griechisch-arabische Medizin studiert hatten, die weniger empirisch als auf wissenschaftlich-theoretischer Grundlage arbeiteten, sich im Wesentlichen auf die innere Medizin beschränkten und sich dadurch von den praktischen Chirurgen abhoben, gab es in Deutschland bis zum 15. Jahrhundert noch wenige. Seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert ordneten die Städte jedoch zunehmend das Medizinal- und Apothekenwesen und bestallten Stadtärzte, die häu g Wundärzte mit einem zusätzlichen Medizinstudium waren. Studierte Stadtärzte (physici), die allein das Recht zur Verordnung von Medikamenten besaßen und ihre Tätigkeit auf die innere Medizin beschränkten, sind am frühesten in Weimar (1281), Konstanz (1312), Straßburg (1328) und seit 1350 in Nürnberg nachweisbar, wo die Zahl von einem Stadtarzt auf fünf Ärzte im Jahre 1533 gesteigert wurde. Personell gut ausgestattet war auch das Medizinalwesen in Augsburg, das 1485 über vier, 1505 über sechs Stadtärzte und zwölf Hebammen verfügte. Auch Juden, die wundärztliche Erfahrungen hatten und in der schriftlich überlieferten jüdischen Heilkunde bewandert waren, wurden etwa in Basel, Freiburg im Breisgau und Frankfurt am Main zu Stadtärzten bestellt; mehrere Jüdinnen sind als Augenärztinnen nachgewiesen. Den Doctores der Arznei stand die ungleich größere Gruppe der Wundärzte, der Bader, Barbiere, Bruch- und Steinschneider für Blasen-, Nieren- und Gallensteine, Starstecher für die Augen und Chirurgen gegenüber. Selbst Henker, die Verstümmelungsstrafen vollzogen und danach die Wundversorgung übernahmen, konnten aufgrund ihrer Erfahrung nebenberu ich als Ärzte praktizieren. Städte statuierten vereinzelt schon im 14. Jahrhundert (Basel 1309/21, Nürnberg 1338/60), in größerer Zahl seit dem 15. Jahrhundert Apothekerordnungen und ließen die Apotheker, die

114 Neben der im Literaturverzeichnis aufgeführten medizinhistorischen Spezialliteratur vgl. noch R. R/A. T, Die Grundlegung der modernen Welt, S. 177 ff.; H.-F. u. H. R, Deutsche Kultur im Spätmittelalter, S. 231 ff.; O. B, Alltagsleben im Mittelalter, S. 488 ff.; P. K, Frauen im Mittelalter, Bd. 1 (8.1), S. 259 ff.; H. K, Die städtische Gemeinschaft, S. 83–91.

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Die Stadt und ihre Bewohner

Ausführung der Rezepte und die Beschaffenheit der Grundstoffe durch Ärzte und vom Rat ernannte Apotheken-Deputierte kontrollieren. In Pestzeiten mit ihrem erhöhten Bedarf versuchten sie, für ausreichende Medikamentenvorräte zu sorgen und einer Preistreiberei entgegenzuwirken. Die wissenschaftliche Medizin fußte vor allem auf der Humoralpathologie des Hippokrates (* 460 v. Chr.), ihrer Weiterentwicklung durch Galen (131–201) und ihrer Verbreitung durch einige spätantike Autoren. Dieser Säftelehre zufolge beruht die Gesundheit auf dem normalen Mischungsverhältnis der vier Körpersäfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle mit den ihnen zugeordneten zwei Grundqualitäten aus dem Kanon heiß und kalt, feucht und trocken und vier Intensitätsabstufungen. Die Leibessäfte bestimmen nach der Lehre Galens von den Komplexionen oder Temperamenten wiederum entsprechend ihrem Überwiegen im menschlichen Körper das Äußere des Menschen, seinen Charakter und seine individuellen Krankheitsdispositionen. Seit dem 12. Jahrhundert lassen sich die Bezeichnungen sanguinisch, cholerisch, melancholisch und phlegmatisch für die vier Temperamente nachweisen. Gesundheitsstörungen resultieren nach der humoralpathologischen Lehre aus eingetretenen Fehlmischungen (Dyskrasien) der Säfte, die pathogene Verhältnisse in den Grundqualitäten bewirken. Daraus leiten sich die Bedeutung des Aderlasses (venasectio) an bestimmten Laß -Stellen und in bestimmten astromedizinischen und jahreszeitlichen Rhythmen an günstigen Tagen zur Verringerung des vermeintlich schädlichen feuchtwarmen Blutes und der Gebrauch der von innerer Fäulnis und fauligen Speiseresten reinigenden Brechmittel (vomitiva), Abführmittel und Einläufe für die Gesundheit sowie der Urinschau für die Diagnose her, zu der noch das Pulsfühlen gehörte. Das Uringlas wurde deshalb zum Wahrzeichen des Arztberufes. Im 15. Jahrhundert geriet die Diagnose durch Urinschau

immer mehr in den Verdacht der Scharlatanerie. Da die Kirche das Sezieren von Leichen untersagte, wurden irreführende anatomische Kenntnisse durch Sezieren von Tierkadavern gewonnen. Karl IV. erlaubte dann der Universität Prag das Öffnen von Leichen zu Studienzwecken. An der Wiener Universität soll der aus Padua stammende Arzt Galeazzo di Santa So a 1404 die erste anatomische Lehr-Sektion nördlich der Alpen abgehalten haben. Die Stadt Köln erwirkte 1479 von Kaiser Friedrich III. die Erlaubnis, mit Unterstützung des örtlichen Hochgerichts und mit Wissen und Willen der nächsten Verwandten jährlich der Universität zwei Leichen zu übergeben, die jäh gestorben oder nach einem Gerichtsurteil hingerichtet und frisch waren, damit die Mediziner der Universität nach Art der Anatomie und wie an anderen Universitäten üblich sie aufschneiden, ihnen Glieder abtrennen und sie besichtigen konnten.¹¹⁵ Von kirchlicher Seite gestattete erst ein Breve Papst Sixtus’ IV. (1471–1484) das Sezieren, sofern kirchliche Stellen ihre Zustimmung erteilten. Das Sezieren selbst nahmen der Wundarzt oder der Bader vor, während der Professor durch Erläuterungen nach Galen oder Mondinos »Anatomie« (1316) kommentierte. Die frühen Klerikerärzte waren in Heilkräutern bewandert, bezogen aber ihr medizinisches Wissen aus Büchern, das sie durch volksmedizinische Kenntnisse und praktische Wundarztkenntnisse anreicherten. Magisches Denken war ihnen nicht völlig fremd, wie sie auch die Heilkraft von Reliquien priesen. Die Kirche wandte sich gegen eine wundärztlichchirurgische Tätigkeit der Kleriker und förderte dadurch das Entstehen des weltlichen Ärztestandes. Für alle Krankheiten gab es nur wenige Ursachen. Es konnte sich im Grundsatz nur um Veränderungen des Blutes oder anderer Körpersäfte handeln oder um Abweichungen vom normalen Bau der verschiedenen Körperorgane.

115 H. K, Regesten und Auszüge zur Geschichte der Universität Köln 1388–1559, in: Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 36/37 (1918), Nr. 1701, S. 226.

Die Stadtbevölkerung

Die Ärzte vertrauten den empirisch festgestellten Heilkräften verschiedener P anzen und alchimistischen Heilmitteln, aber auch der phantastischen Heilkraft verschiedener Edelsteine. Die Behandlung richtete sich nach der Bewegung der Himmelskörper. So gab es für den Aderlass günstige Konstellationen. Als Arzneimittel galten der aus unterschiedlichen Ingredienzien bestehende opiumhaltige eriak, ein seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. bekanntes Allheilmittel, dessen Herstellung etwa in Nürnberg seit 1442 nach dem Vorbild Venedigs amtlich durch Ärzte kontrolliert wurde, ferner Aloe, Zimt, Safran, Mandragora, Salbei, Mohn, Pfeffer, Honig und Ähnliches. Auch Hundeharn und Krötenleber waren als Heilmittel in Gebrauch. Häu g hatte der Arzt eine Lieblingsarznei, die er als universales Heilmittel gegen Krankheiten aller Art anwandte. Am stärksten wirkten vielleicht die Hoffnung auf Heilung und die Ehrfurcht des Patienten vor der Autorität des studierten Arztes mit universitärem Titel. Die Geburtshilfe oblag Nachbarinnen, Verwandten und vor allem spezialisierten Hebammen, die zunächst frei praktizierten. Nachweisbar seit dem 14. Jahrhundert bestellten Städte besoldete und vereidigte Ratshebammen, insbesondere um die Geburtshilfe auch für ärmere Frauen sicherzustellen. Im 15. Jahrhundert unterwarf die Stadt die Hebammen ihrer Aufsicht; sie engte ihr Tätigkeitsfeld, das ursprünglich auch die Heilbehandlung umfasste, auf bestimmte Maßnahmen der Geburtshilfe ein und ließ sie durch den Stadtarzt, der oft kaum Erfahrungen in der Geburtshilfe und Frauenheilkunde besaß, prüfen und periodisch kontrollieren. Weit verbreitet, aber von geringem wissenschaftlichen Wert war die fälschlich Albertus Magnus zugeschriebene Schrift »Von der Heimlichkeit des weiblichen Geschlechts«; weite Verbreitung fand in Europa bis in das Spätmittelalter und das 16. Jahrhundert hinein vor allem das bemerkenswerte hochmittelalterliche Standardwerk für Gynäkologie und Frauenheilkunde aus der medizinischen Schule von Salerno »Trotula

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de passionibus mulierum (curandarum)« (»Trotula maior«), das möglicherweise von einer Ärztin mit dem Namen Trotula oder Trota stammt. Weite Kreise der Bevölkerung wandten sich an die ›weisen Frauen‹ und ihre weniger zahlreichen männlichen Kollegen, die in ihrer Behandlungsmethode die Verabreichung von Heilmitteln mit Zauber- und Beschwörungsformeln verbanden. Die frei praktizierenden, vielfach vagierenden und in den hochmittelalterlichen Epen hochgeschätzten heilkundigen Frauen, die häu g – etwa auf die Augenheilkunde – spezialisierten Ärztinnen und die Hebammen wurden im Spätmittelalter von der Schulmedizin, die einen ärztlichen Monopolanspruch geltend machte, zunehmend als ›Empiriker‹ und Scharlatane diskreditiert, aus ärztlichen Tätigkeitsfeldern verdrängt und später sogar als Hexen und Zauberinnen denunziert der Verfolgung ausgesetzt. Insbesondere die unteren Schichten der Stadtbevölkerung suchten Zu ucht zu Schwarzkünstlern und Quacksalbern, die auf den Jahrmärkten neben volkstümlichen Heilkräutern und Salben ihre obskuren Mixturen und Wunderdrogen verkauften. Der künftige Stadtarzt Straßburgs Dr. Johann Widmann fasste vor seinem Dienstantritt im Jahre 1483 verschiedene Probleme, Missstände und Postulate der Heilkunde und des Apothekenwesens in einer Eingabe an den Rat zusammen.¹¹⁶ Er stellte rhetorisch die Frage, ob es gut und von Nutzen sei, dass man hier jedermann, getauften Juden, Bartscherern (Scherer), alten und sonst törichten Frauen und Landfahrern, die man alle lateinisch emperici nenne, und sogar dem Henker, wie ihm glaubhaft berichtet worden sei, erlaube, Arzneien zu verabreichen, was nur den Doktoren der Heilkunde (Arznei) und keinem Empirikern gestattet sein sollte. Die Empiriker kennten nicht Art und Natur der Dinge, die sie den Leuten geben, sodass sie mit Vorsatz oder aus Unwissenheit insbesondere bei kleinen Kindern Schaden anrichteten. Deshalb sollte, auch wenn Straßburg eine freie Stadt sei, die Ausübung der Heilkunst nur

116 O. W, Das Fürsorgewesen der Stadt Straßburg (4.10), Urkunden und Akten, Nr. 6, S. 12-15.

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Die Stadt und ihre Bewohner

den Doktoren der Medizin erlaubt sein. Wenn sich jemand Gelehrter der Heilkunde nenne wie getaufte Juden, die in Wirklichkeit nicht studiert hätten, oder Studenten, solle man sie auf keinem Gebiet praktizieren lassen, wenn sie nicht ein Zeugnis oder Privileg beibrächten, dass sie Doktoren oder wenigsten Licentiaten seien, oder man solle sie, wenn sie dies nicht hätten, öffentlich vor Gelehrten über eine vom Stadtarzt angegebene Materie disputieren lassen. Es sei auch fragwürdig, dass die Bartscherer die Lepraschau vornähmen und gleich wie die Doktoren eine Beurteilung abgäben, obwohl sie darin grundsätzlich unerfahren seien, auch wenn sie einige wenige Kenntnisse hätten. Überall sei seiner Erfahrung nach die Tätigkeit des Barbiers darauf beschränkt, die Ader anzustechen oder das auszuführen, wozu ihn Doktoren anwiesen. Tatsächlich nahm in Straßburg im 15. Jahrhundert der Ausschuss der vier Beseher, der immer aus zwei gelehrten Ärzten und zwei Scherern bestehen sollte, die Untersuchung von Personen vor, bei denen Verdacht auf Lepra bestand, wobei die Entscheidung, ob es sich unzweifelhaft um Aussatz handelte, nicht einfach war. Dr. Widmann hielt es vor allem notwendig, das Hebammenwesen zu verbessern. Viele verletzten die Schwangeren bei der Geburt ungebührlich, viele seien bei armen Frauen nachlässig und unwillig, andere unerfahren und andere Hexen und Zauberinnen. Sie strangulierten beim Geburtsvorgang viele Kinder, um die es vorher gut bestellt war. Es sei eine allgemeine unselige Regel, dass alle diejenigen, die tote Kinder von den Frauen brächten, insbesondere, wenn diese vorher in gutem gesundheitlichem Zustand waren, und alle, die ungewöhnliche, nicht approbierte oder bewährte Heilkünste p egten, Zauberinnen seien. Anderswo in großen Städten habe man vereidigte Hebammen, die den Ärzten schwören müssten, alles das getreulich und richtig zu machen, was sie könnten und wüssten, und wenn sie etwas nicht könnten, Rat bei vernünftigen Frauen und Ärzten einzuholen. Man unterziehe sie auch einer Prüfung durch Ärzte und ›weise erfahrene Frauen‹.

Zum Arznei- und Apothekerwesen teilte Dr. Widmann dem Rat die Apothekereide Bambergs, Nürnbergs und Würzburgs und die in ihnen enthaltenen Vorschriften mit: Alles muss sich strikt an den bewährten Lehrern der Heilkunde orientieren. Keinerlei Substanzen, sie seien nicht zubereitet und unvermischt oder zubereitet und vermischt, dürfen überaltert über die von der Lehre angegebene Verfallszeit hinaus, gefälscht und verfälscht oder schadhaft und verdorben verkauft oder in die Rezepturen (rezepte) untergemischt werden. Ein Abweichen von der Zusammensetzung der Arzneien, wie sie die Gelehrten vorschreiben, darf nur mit dem Rat eines Doktors oder mehrerer Doktoren erfolgen. Ohne Wissen der mit der Aufsicht darüber betrauten Ärzte darf niemand eine treibende Arznei, eine toxische (vergifte) Arznei, damit man kindelin vertribt [schädigt], und eine solche, damit man unenp ntlich macht, zü latin narcotica genannt, oder sonst schlechter Eigenschaften verdächtige oder zweifelhafte Arzneien einem Menschen verabreichen oder verkaufen. Niemand darf seine zubereiteten Rezepturen, die wertvollsten – Opiate und Antidote – wie Aurea alexandrina, Metridatum, Großer eriak und andere, die lange Zeit nach ihrer Herstellung und Verpackung in ihren Apotheken geblieben sind, zu etwas beimischen oder mit etwas vermischen ohne vorherige Prüfung der vorgesehenen Zusammensetzung durch die zuständigen Gelehrten und Aufsichtspersonen. Die Abgabepreise müssen angemessen sein. Ein Apotheker darf in Arzneisachen keinerlei Geschäftsbeziehungen zu einem Arzt haben. Alles, was in der Apotheke verkauft wird, muss mit Eigenschaft, Herstellungsdatum und Namen bezeichnet sein; zweimal im Jahr, im Frühling und Herbst, sollen Güte und rechte Beschaffenheit kontrolliert werden. Jede angebotene Arznei muss mit ihrem Verkaufspreis ausgezeichnet sein. Die Bücher, nach denen die Apotheker herstellen, müssen überprüft und sorgfältig berichtigt sein. In allen Zweifelsfragen müssen die Apotheker den Doktor der Heilkunde konsultieren und von ihm Anweisungen einholen. Sie dürfen nicht in den ärztlichen Tätigkeitsbereich

Die Stadtbevölkerung

übergreifen, wie auch ein Arzt weder eine Apotheke führen noch gleichzeitig Apotheker sein darf, auch wenn er in der Zubereitung von Arzneien ausreichend unterrichtet ist. Die städtischen Spitäler¹¹⁷ dienten zwar der stationären Krankenp ege, sie sind jedoch den heutigen Krankenhäusern nur bedingt vergleichbar. Die Heilung der kranken Insassen spielte eine eher untergeordnete Rolle. Es gab selten fest angestellte Ärzte und Wundärzte. Vor allem in den kleinen Städten waren die Funktionen des Spitals sehr umfassend, während in größeren Städten einzelne Funktionen auf spezielle Anstalten aufgeteilt waren. Aufgenommen wurden Kranke, p egebedürftige Altersschwache, die arm und ohne familiäre Unterstützung waren oder sich als Pfründner eingekauft hatten, Waisen, Findlinge, Pilger und arme Durchreisende. Aussätzige und Kranke mit ähnlich ansteckenden Krankheiten wurden im Allgemeinen in Sondersiechenhäusern außerhalb der Stadt untergebracht. Für Deutschland wurden 477 Leprosorien errechnet, darunter befand sich als eines des größten das Kölner Melatenhaus, das im ausgehenden 12. Jahrhundert gegründet wurde und 1247 annähernd 100, im Jahr 1582 noch 23 hospitalisierte Leprakranke beherbergt haben soll. In den Rheinlanden ist das erste Leprosorium 1180 urkundlich erwähnt, bis zum Aussterben der Lepra im 18. Jahrhundert können hier insgesamt 190 Leprosorien nachgewiesen werden. Eine überragende Rolle kam im Spital, das über eine Kapelle verfügte, dem gemeinschaftlichen Gebet und dem Gottesdienst zu. Die Annahme erscheint vielleicht nicht ganz abwegig, dass die Heilkunst auf ihrem damaligen Stand, trotz einiger Belege für beachtliche chirurgisch-operative Eingriffe, von einigen sinnvollen hygienischen Vorkehrungen und einfacheren wundärztlichen Eingriffen abgesehen, möglicherweise die Sterbeziffer häu g eher ursächlich erhöhte als Krankheiten heilte¹¹⁸,

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dass Heilungserfolge aufgrund von Autosuggestion trotz vieler absonderlicher ärztlicher Praktiken eintraten. Die Renaissancemedizin brachte wohl einige neue anatomische, physiologische und einige bakteriologische Erkenntnisse, demogra sch entscheidend waren jedoch erst die Verbesserung der Wasserqualität, die Fortschritte in der Geburtshilfe und Kinderhygiene, Impfungen und Verbesserungen der allgemeinen Ernährungslage seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Schwere Seuchen und Epidemien wurden allgemein als Pest (pestis, pestilentia) bezeichnet, dann ging der Ausdruck als Name auch auf die 1347/1348 neu aufgetretene Beulen- und Lungenpest über. Schwere Krankheiten mit hoher Sterblichkeit waren im Spätmittelalter verschiedene Kinderkrankheiten, darunter die hochansteckenden und den Menschen entstellenden Blattern (Pocken, variolae), das Kindbett eber, die Auszehrung (Tuberkulose) mit hoher Sterblichkeit zwischen dem 15. und 35. Lebensjahr, die zur Austrocknung führende Amöbenruhr (disenteria) und die Virusgrippe (in uencia [coeli]), die als Infektionskrankheit, wie teilweise selbst die Pocken und die eigentliche Pest, im Mittelalter kaum abgrenzbar und sicher zu bestimmen war. Eine tödliche Krankheit war die mit langwierigem Siechtum verbundene, weder spontan noch therapeutisch heilbare Lepra (Aussatz, Miselsucht), die sich infolge der Kreuzzüge sowie des Handels- und Pilgerverkehrs mit dem östlichen Afrika, Ägypten, dem Vorderen Orient und dem östlichen Mittelmeerraum ausbreitete, im 13. und 14. Jahrhundert ihre größte furchtbare Verbreitung fand, spätestens seit 1400 allmählich im Schwinden begriffen war, etwa nach 1500 deutlich zurückging und an der Wende zum 17. Jahrhundert in Europa weitgehend verdrängt war. Verbreitet war ferner das Antoniusfeuer – ignis sacer/ sancti Antonii, Ergotismus, Kribbelkrankheit, Brand –, das eine Vergiftung durch die in größeren Mengen in Form

117 Zu Bauform und Organisation des Spitals siehe ausführlich 1.5.4.5 und 4.10.1. 118 A. A, Die Bevölkerung Europas von 1700–1914, in: C. M. C/K. B (Hg.), Bevölkerungsgeschichte Europas, S. 140 f.

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Die Stadt und ihre Bewohner

von Brei, Brot und Fladen konsumierten Produkte aus Roggen darstellte, der vom toxischen Mutterkorn, der Dauerform des Schlauchpilzes, befallen war; es führte zu Nerven- und Gefäßschädigungen mit Absterben der Gliedmaßen. Zu nennen ist schließlich noch als massenhysterisches Phänomen die epidemisch um sich greifende psychogene Tanzwut (Veitstanz) mit pseudo-epileptischen Erscheinungen und Halluzinationen. Am Ausgang des 15. Jahrhunderts kam die wegen der ähnlichen Symptomatik – Schwellung der Lymphknoten, offene Beulen, Papeln und Gestank – als Abart der Pest oder der Pocken beschriebene, sich rasch verbreitende Syphilis (Große Blattern, Franzosen, morbus gallicus) hinzu, wobei sich die vereinzelt schon 1495 gemachte Beobachtung, dass es sich um eine sexuell übertragene Geschlechtskrankheit handelte, nur zögerlich gegen die üblichen ätiologischen Modelle durchsetzen konnte. Der englische Schweiß grassierte seit 1485 in England, ging aber erst viel später auf den Kontinent über, wo er 1529 Bremen erreichte. Die epidemische Ausbreitung von Krankheiten wurde häu g als Strafe Gottes für ein sündhaftes Leben großer Gemeinschaften wie der Städte oder ganzer Länder gewertet. Magen- und Darmerkrankungen, die auf Nahrungsgewohnheiten, schlechte Konservierung und unhygienische Lagerung und Verarbeitung der Lebensmittel sowie schlechte Trinkwasserqualität zurückzuführen sind, wurden gelegentlich als Vergiftungen infolge von Giftanschlägen diagnostiziert. Unterernährung schwächte die Menschen und machte sie für Krankheiten anfällig, Vitaminmangel führte zu Skorbut und Parasitenbefall trug zur Hautkrankheiten und zur Übertragung von anderen Krankheitserregern bei. Verbreitet waren infektiöse Augenkrankheiten und ohnehin die Linsentrübung des grauen Stars. Verwundungen aller Art führten zu Blutvergiftungen und häu g zum Tode. Bei chirurgischen Eingriffen und Amputationen waren Sepsis und ungenügende Blutstillung erhebliche Risikofaktoren. Als körperliche Krankheit infolge einer Entgleisung der schwarzen Galle und des Temperaments, die auch Gehirn, Verstand und See-

le ergreift, wurde von der antiken und mittelalterlichen Medizin die Schwermut (melancholia) aufgefasst und mit darauf beruhenden erapievorschlägen bedacht. In Spitälern fanden Epileptiker, fallende Sieche, Aufnahme und eine besondere Betreuung, weil sie mit ihrem krampfartigen Niederfallen und Schreien andere Kranke beunruhigten. 1.4.2.3 Krieg, Hunger und Pest Die Hauptfaktoren für krisenhafte und vorübergehende demogra sche Entwicklungen waren die Geißeln Krieg, Hunger und Pest (Seuchen) der Offenbarung des Johannes (Offb. 6), dargestellt durch drei der vier apokalyptischen Reiter in der bekannten Gra k Albrecht Dürers. Kriege, Kriegstote und verübte Grausamkeiten wurden von den Chronisten stets als bemerkenswerte und erregende Ereignisse notiert und geschildert, doch dürfen die unmittelbaren Bevölkerungsverluste durch Tötung nicht überschätzt werden. Fehden und Kriege waren zwar häu g, es handelte sich jedoch um begrenzte, mit relativ geringer Heeresstärke durchgeführte Aktionen, die in erster Linie durch die Schädigung des Umlandes den Gegner zur Verhandlungsbereitschaft oder Unterwerfung zwingen sollten. Gut befestigte Städte waren im Mittelalter durch den Vorteil der Defensive angesichts einer noch wenig wirksamen Artillerie kaum zu erobern und konnten fast nur durch langwierige Belagerung und Aushungern in die Knie gezwungen werden. Karl IV. musste jedoch 1376 die Belagerung Ulms abbrechen, und die Stadt Neuss wurde 1474/5 ein Jahr lang erfolglos von Herzog Karl dem Kühnen von Burgund belagert. Bedeutsamer waren deshalb die Folgen, die aus der Zerstörung der umliegenden Feld uren, der Vernichtung für die Stadtwirtschaft lebenswichtiger Sonderkulturen – wie der landfriedensrechtlich eigentlich geschützten Reben – auf Jahre hin, aus der Blockade der Verkehrswege und der weiteren Verdichtung der Bevölkerung durch in die Stadt ge üchtete Landbevölkerung resultierten: Meist kurzfristige Absatzkrisen und Erwerbskrisen, Ernährungskrisen und erhöhte Infektionsgefahr.

Die Stadtbevölkerung

Die Bürger größerer Städte konnten sich schon früh durch Stellung eines Ersatzmanns oder durch eine Geldleistung vom Kriegsaufgebot befreien. Im Spätmittelalter wurden zunehmend Söldner zur Kriegführung in Dienst genommen, sodass das bürgerliche Erwerbsleben nicht mehr unterbrochen wurde. Ein Teil der städtischen Söldner rekrutierte sich aus der städtischen Unterschicht. Hungersnöte brachen durch Ernteausfälle nach einem zu harten oder zu langen Winter, Maifrösten sowie nach einem verregneten oder zu trockenen Sommer aus. Die Missernten ließen die Getreidepreise emporschnellen und führten zu einer Teuerung, die wie Unwetter als Strafe Gottes betrachtet wurde. Ausgleich durch Getreide, das aus weiten Entfernungen herbeigeschafft werden musste, war für städtische Obrigkeiten begrenzt und unter großem logistischem Aufwand immerhin möglich. Unterernährung und qualitativ schlechte Nahrungsmittel ließen Epidemien, die mit der Verdauung zusammenhingen, um sich greifen und setzten vermutlich die Resistenz gegen Krankheit allgemein herab, die Mortalität stieg stark an.¹¹⁹ Betroffen waren zunächst die ärmeren Teile der Bevölkerung. Die Stadtbevölkerung war durch private und kommunale Vorsorgemaßnahmen oder Käufe auf entfernteren Märkten häu g besser als die Landbevölkerung versorgt, die deshalb in die Stadt drängte. Auf der Suche nach Nahrung zirkulierte die Bevölkerung, wodurch die Seuchengefahr anwuchs. Die große Pestkatastrophe von 1347 bis 1353 brach über Europa herein, als sich in der Bevölkerungsentwicklung bereits rückläuge Tendenzen abzeichneten. Nach jahrhundertelangem Anstieg seit dem 11. Jahrhundert mit jährlichen Wachstumsraten von etwa 5‰ erreichte die Bevölkerungskurve kurz nach 1300 ihren Höhepunkt, stagnierte dann und begann abzufallen.¹²⁰ Landwirtschaftlicher Produktionsrückgang bei Getreide, Land ucht der

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vermutlich durch die Feudalrente überlasteten bäuerlichen Bevölkerung und Wüstungen waren krisenhafte Erscheinungen einer Agrardepression, nachdem zuvor noch Grenzböden kultiviert worden waren, um die wachsende Bevölkerung ernähren zu können. Vornehmlich diese weniger ertragreichen und schwerer zu bewirtschaftenden Böden wurden wieder aufgegeben. Das Klima scheint im 14. Jahrhundert ausweislich des Wachstums alpiner und polarer Gletscher und des hohen Spiegels des Kaspischen Meeres kühler und feuchter geworden zu sein. Von gelegentlichen Wärmeperioden unterbrochen, reichte diese Kälteperiode, ab 1570/80 gefolgt von der sogenannten kleinen Eiszeit, bis in das 18. Jahrhundert hinein. Kalte und lange Winter sowie verregnete Sommer führten zu krisenhaften Ernteausfällen. Hungersnöte europäischen Ausmaßes während des zweiten Jahrzehnts des 14. Jahrhunderts (1315–1317) und die mit ihnen in Wechselbeziehung stehenden Epidemien hatten erhöhte Sterbeziffern zur Folge und leiteten möglicherweise einen Bevölkerungsrückgang ein, den die Pest dann zu einem säkularen Trend verschärfte. Nachdem die Bevölkerung Europas um 1400 einen Tiefstand erreicht hatte oder nach anderen Einschätzungen in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts möglicherweise tendenziell auf die Hälfte des Niveaus von 1348 vor der Pest gesunken war, setzte eine nachhaltige Erholungs- und Aufschwungsphase erst wieder im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts ein und machte im 16. Jahrhundert die eingetretenen Bevölkerungsverluste wieder wett, während für den weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts dann sogar von einer Bevölkerungsexplosion gesprochen wird. Unabhängig von den längerfristigen oder säkularen Trends gab es diese überlagernd bis weit ins 18. Jahrhundert hinein komplexe Krisen des im Anschluss an Ernest Labrousse so genannten alten Typs (»type ancien«) mit ih-

119 Der Zusammenhang zwischen Unter- und Mangelernährung und Anfälligkeit für epidemische Krankheitserreger wird medizinhistorisch jedoch gelegentlich kontrovers diskutiert. Vgl. den Sammelband Hunger and History. 120 W. A, Landwirtschaft 1500–1648, in: H. A/W. Z (Hg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. I, Stuttgart 1971, S. 386.

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ren Auswirkungen auf die Städte. Das sind die witterungsbedingten Erntekrisen, die Getreidemangel, Hunger, Teuerung, Stockungsspannen des Handwerks, stark erhöhter Mortalität infolge von Unterernährung und Krankheitsanfälligkeit und Wanderungsbewegungen auf der Suche nach Nahrung und Arbeit nach sich zogen. Nach guten Ernten ging die Mortalitätsrate wieder zurück, während der Krise aufgeschobene Eheschließungen wurden nachgeholt, überlebende Ehepartner verheirateten sich wieder, und die Geburtenrate stieg danach stark an, sodass sich die Verhältnisse wieder einigermaßen normalisierten. 1.4.2.4 Die Große Pest von 1348/50 und die periodischen Pestzüge 1.4.2.4.1 Ausbreitung der Pest und demogra sche Verluste Die pandemische Ausbreitung der Pest über Europa in den Jahren 1347–1353 und die nachfolgenden, regelmäßig wiederkehrenden Pestzüge haben am nachhaltigsten die demogra schen Verhältnisse des Spätmittelalters, aber auch die Lebenseinstellung der Menschen geprägt; wie tiefgehend dies auf Dauer erfolgte, ist allerdings die Frage.¹²¹ Einzelne Städte wurden fortan alle acht, zehn oder fünfzehn, im Durchschnitt alle elf Jahre von heftigeren, die ganze Bevölkerung treffenden Pestgängen heimgesucht. Schon Zeitgenossen ermittelten in Nürnberg im Jahre 1490 Pestgänge in üblichen Intervallen von zehn oder zwölf Jahren. Betroffene

Städte verloren dann 20, 30 oder 40 Prozent ihrer Bevölkerung. Dazwischen konnten sich mildere, endemische Pestwellen oder andere Seuchenzüge ereignen.¹²² Abgesehen von heftigen Schüben, wie erneut seit 1390, konnte die Pest in einer halbendemischen, milderen Form in der Stadt überdauern, in einzelnen Straßen oder Stadtvierteln jahreszeitlich bedingt während eines Jahres oder mehrerer Jahre aufflackern und umherirren, bis sie für einige Jahre vollständig erlosch. Die periodisch dezimierte Stadtbevölkerung hätte ohne kräftige Zugänge von Seiten des Landes nur schwer überleben können. Nicht alle Landschaften und Städte wurden von den Pestzügen jedes Mal, eine gleiche Zeit hindurch und mit der gleichen Heftigkeit erfasst. Deshalb gibt es keine einheitliche Chronologie der Seuchenzüge. Besonders hart jedoch wurde Mitteldeutschland betroffen. Erst etwa Mitte des 18. Jahrhunderts verschwand die Pest endgültig aus den Gebieten des deutschen Reiches. In Nürnberg trat sie zum letzten Mal im Jahre 1713 auf. Zuletzt war die Pest (sogenannte Justinianische Pest) in Europa 541/42 im Mittelmeerraum und in den angrenzenden Gebieten aufgetreten, in Perioden von 10 bis 15 Jahren wiedergekehrt und schien nach dem verheerenden Ausbruch von 746/48 seit dem ausgehenden 8. Jahrhundert endgültig verschwunden zu sein. Überliefert wird sie mit einer Beschreibung der Krankheitssymptome, wie sie auch bei der spät-

121 Aus der umfangreichen Literatur: J. N. B; K. B; M. V; H.-P. B; C. B; N. B. 122 Ein Beispiel für die Fortdauer und Dichte der Lebensbedrohung bietet die Seuchenchronologie Frankfurts am Main. Im Jahre 1313, noch vor der großen europäischen Hungersnot von 1315 bis 1317 wurde die Stadt von den Pocken heimgesucht. Kaum war 1349/50 die erste große Pestwelle abgeklungen, als 1352 erneut das folk sere starp. Im Herbst 1356 und im Frühjahr 1357 ordnete der Rat Prozessionen gegen den jähen Tod an. Jeweils in den Jahren 1364 und 1365 wurde eine processio generalis propter epidemiam angesetzt, 1395 und 1396 kam es erneut zu einem Sterben. Mit dem Beginn des 15. Jahrhunderts brachen in Intervallen von etwa zwei und sechs bis zehn Jahren Seuchen und Pestwellen aus: 1402, 1412, 1418–1420, 1428, 1438, 1439, 1443, 1449, 1450. Die Pest wütete 1451, 1461, 1463 (wie in anderen Teilen Deutschlands) und 1467. Messen und Prozessionen gegen das große Sterben und den jähen Tod fanden 1468, 1473, 1480–1482 und 1486 statt; 1496 erreichte die Syphilis als Massenseuche die Stadt. E. S, Einführung in die Grundprobleme der deutschen Geschichte (Einleitung), S. 10. München, das am Schnittpunkt großer Verkehrswege lag, verzeichnete 1439 bis 1495/96 insgesamt 12 Seuchenzüge: 1349, 1356, 1396, 1412, 1420, 1430, 1439, 1463, 1473, 1483, 1495/96. In Regensburg waren es in diesem Zeitraum neun, in Wien nur sechs Epidemien. In den Jahren 1473 und 1495 konnte in München kein Jahrmarkt abgehalten, in den Jahren 1439, 1463 und 1483 wegen der vielen aus der Stadt Ge ohenen und der wirtschaftlichen Einbrüche beim gemeinen Mann keine Steuer erhoben werden. F. S, München im Mittelalter, S. 391–394.

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mittelalterlichen Pest konstatiert wurden, bei dem byzantinischen Chronisten Prokop († um 562) und in der »Historia Francorum« Gregors von Tours († 594). Nun gelangte ein Pestzug aus Zentralasien kommend durch die Tataren nach Caffa auf der Krim, der Handelsniederlassung der Genuesen, und wurde auf genuesischen Schiffen 1347 nach Konstantinopel eingeschleppt. Über Nordafrika und die nordwestliche Mittelmeerküste verbreitete sie sich als Pandemie weiter. Einfallstore waren die Schifffahrtsrouten und ihre Endpunkte, von denen aus sie sich auf Handels- und Pilgerwegen im Hinterland verbreitete. Die Pest drang zunächst über Messina nach Sizilien vor, gelangte von Messina aus über die Hafenstädte Venedig, Pisa und Genua nach Mittelitalien mit Florenz und hoch in die Lombardei, über Genua nach Marseille, nach Südfrankreich, die Rhône aufwärts nach Norden, von Nordfrankreich nach England und verbreitete sich von Süden aus, wo Schiffe aus Italien und Marseille vor Anker lagen, auf der iberischen Halbinsel. Sie erreichte von Venedig und Friaul aus 1348 Tirol, die Steiermark, Kärnten und Wien, von Trient über den Brenner, das Pustertal und über den Reschenpass Bayern und Tirol. Sie zog die Rhone und den Rhein aufwärts, erreichte die Schweiz und 1349 die Rheinlande, im Dezember Köln und gelangte 1350 schließlich nach Norddeutschland, Skandinavien und Russland (1453). Einzelne Städte wie Würzburg, Nürnberg oder Prag blieben von der ersten Pestwelle verschont und wurden erst später – 1356 (Prag) und 1359 (Nürnberg) – heimgesucht. Im Jahre 1358 herrschte die Pest etwa (wieder) in Köln, Straßburg und in der Region zwischen der Donau bei Ulm und dem Bodensee. Die erste große Pestepidemie der Jahre 1347–1353, die auf eine Gesellschaft ohne Resistenzen traf, dürfte in Europa zwischen 20 und 30 Prozent der Bevölkerung hinweggerafft haben, wobei die angenommenen lokalen und regionalen Ziffern zwischen 10 und 60 Prozent schwanken. Der französisch-burgundische Chronist Jean Froissart († um 1405) spricht ohne realistische Berechnungsgrundlage von ›ei-

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nem Drittel der Menschheit‹. Andere Chronisten berichten, dass das große Sterben viele Städte, Dörfer, Klöster und Landstrichen menschenleer zurückließ, nennen unter dem Eindruck unerhörter Menschenverluste enorm hohe Zahlen an Verstorbenen und eine erschreckende Rate täglicher oder monatlicher Todesfälle, sprechen von Ansteckungen, übervoll beladenen Leichenkarren und frisch ausgehobenen Massengräbern. Der Straßburger Chronist Jakob Twinger von Königshofen nennt die 1349 aufgetretene Pest ›das größte Sterben in der ganzen Welt, von dem man jemals habe sagen hören‹. Um das Ausmaß der Katastrophe ermessen zu können, muss man sich vergegenwärtigen, dass im Zweiten Weltkrieg in Westeuropa etwa 5 Prozent der Bevölkerung durch Krieg und Massenvernichtung getötet wurden. Wilhelm Abel nimmt an, dass die Bevölkerung Deutschlands im Zeitraum von 1340 bis 1470 von 14 auf 10 Millionen zurückging, um erst gegen 1560 den Stand von 1340 wieder zu erreichen. In 29 Städten, für die Zahlen durch Schätzungen ermittelt wurden, sank die Bevölkerung vom letzten Viertel des 14. Jahrhunderts bis zum letzten Viertel des 15. Jahrhunderts um 15–20 Prozent. Eine Hochrechnung ohnehin vager städtischer Zahlen auf die Gesamtbevölkerung ist jedoch problematisch, da die Sterblichkeit in den ländlichen Regionen unbekannt ist und etwa vier Fünftel der Menschen auf dem Lande lebten. In verschiedenen Hansestädten lässt sich die Sterblichkeit während des Großen Sterbens von 1350 auf bestimmte Gruppen bezogen etwas genauer feststellen. In Hamburg starben von 34 Bäckermeistern 12 (35%), von 40 Knochenhauern 18 (45%), von 37 Stadtbediensteten 21 (57%), von 13 im Laufe des Jahres neu eingestellten Bediensteten nochmals 6 (45%), von 21 Herren des Rats 16 (76%). Dies ergibt für diese Gruppen eine durchschnittliche Sterblichkeit von mehr als 50 Prozent. Geht man von einer Bevölkerungszahl von etwa 10 000 vor der Pest aus, so wäre bei einer solchen Sterblichkeit mit einem Rückgang auf etwa 5 000 Einwohner zu rechnen.

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In Bremen sollen ausweislich eines Eintrags von 1351 im Bürgerbuch in den vier Kirchspielen 6 966 Personen an der Pest gestorben sein, doch sind Zweifel an der überraschend präzisen Zahl angebracht. Von 50 Ratsherren, die von 1348 bis 1350 amtierten, erscheinen danach in den Ratslisten nur noch 10 bis 15, was unter anderem auf die Sterblichkeit während der Pest zurückzuführen ist. Einer übertriebenen, aber die Ungeheuerlichkeit des Ereignisses widerspiegelnden chronikalischen Angabe zufolge sollen auf dem Höhepunkt der Pest täglich 200 Menschen gestorben sein. In Lübeck starben 1350 von 30 Ratsherren 11 (36,6%); als die Pest im Jahre 1367 zurückkehrte, starben erneut 11 Ratsherren. In Lüneburg verlor der Rat 1349 bis 1351 über 36 Prozent seiner Mitglieder, in Wismar waren es 42, in Reval 27 Prozent. Der Chronist Tilman Elken wollte wissen, dass in Lüneburg – mit seinen etwa 14 000 Einwohnern – während der Pest täglich 20 bis 30 Menschen starben und insgesamt die Hälfte der Bevölkerung der Seuche zum Opfer el. Der Straßburger Fritsche Closener berichtet in seiner 1362 fertiggestellten Chronik, dass während des großen Sterbens in jedem Kirchspiel täglich sieben bis zehn Menschen oder mehr gestorben seien und die Totenglocke in einer Woche 63mal geläutet habe; er nennt die völlig unwahrscheinliche Gesamtzahl von 16 000 Toten, meint aber, es seien verhältnismäßig weniger Menschen als in anderen Städten gestorben. Als 1358 wieder zur gleichen Jahreszeit ein allgemeines Sterben nach Straßburg kam, sei es nicht mehr ganz so groß wie das erste Mal gewesen. Burkard Zink, der in Augsburg im Jahre 1438 wie seine Ehefrau eine Infektion überlebte, geht in seiner Chronik und Autobiogra e davon aus, dass der damalige Pestzug 6 000 Tote forderte, was etwa einem Drittel der Bevölkerung entspräche. Für die Augsburger Pest von 1462/63 nimmt Zink bis zu 10 000 Tote an. Das Sterben habe zwar, so berichtet er, unter Alten und Jüngeren gewütet, doch seien mehr Junge gestorben. In Würzburg sollen 1437 etwa 4 000 Menschen an der Pest gestorben sein. In Köln tauchte die Pest 1451 und 1460 bis

1462 auf; 1451 soll die unwahrscheinliche Zahl von 21 000 Menschen gestorben sein. Chronikalische Berichte nennen für die Pestumgänge in Nürnberg von 1437 und 1462/63 Extreme von 4 000 und 11 000 Pestopfern. Bei späteren Pestgängen seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert starben in Nürnberg auf der Grundlage von chronikalischen Schätzungen jeweils zwischen 3 000 und 5 000 Menschen, zum Zeitpunkt des Höhepunkts wurden in der Totenliste von 1533/34 als absolutes Maximum 86 Verstorbene an einem Tag verzeichnet. 1.4.2.4.2 Ätiologie, Krankheitsbild und Krankheitsverlauf Die Erklärung der Krankheitsursachen (Ätiologie) und das Krankeitsbild der mittelalterlichen Pest beruhen auf Lehren der antikmittelalterlichen Medizin und einigen übereinstimmenden Symptombeobachtungen von Ärzten wie dem päpstlichen Leibarzt Guy de Chauliac und italienischer wie deutscher Beobachter und Chronisten, viel mehr jedoch auf modernen Erkenntnissen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Erst 1894 konnte der schweizerischfranzösische Arzt und Bakteriologe Alexandre Yersin während einer Epidemie in Honkong und in der Provinz Yunnan das Pestbakterium (Yersinia oder Pasteurella pestis) als Erreger isolieren und nachweisen. Wegen der Mutationen aufgrund der Instabilität des Genmaterials von Bakterien wird die Yersinia pestis jedoch mit dem mittelalterlichen Bakterium nicht völlig identisch sein. Andererseits wird gelegentlich erwogen, dass den überlieferten mittelalterlichen Pestzügen möglicherweise in Übertragung und Symptomen ähnliche virale hämorrhagische (blutbrechende) Fieber ähnlich dem Ebola eber zugrunde lagen oder es sich um Epidemien zusammen mit anderen auslösenden Krankheitserregern wie Pocken, Fleck eber oder Cholera handelte. Insbesondere werden chronikalische Berichte über Massensterben von Ratten vermisst, oder das stattdessen beobachtete Verenden von Haustieren und die äußerst rasche Ausbreitung der Epidemie, insbesondere trotz hemmender kühler Temperaturen

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bis nach Skandinavien hinauf, rufen Zweifel an den gängigen Darstellungen der Pest hervor. Eine nachträgliche sichere Diagnose historischer Seuchen ist oft kaum möglich. Problematisch ist daher der gleichwohl unentbehrliche Versuch, die zeitgenössischen Beschreibungen mit den modernen Erkenntnissen über die Pest zu verbinden. Doch wollen neuere molekulargenetische DNA-Analysen und Analysen von Proteinsignaturen an Gebeinen von spätmittelalterlichen Pestopfern aus Massengräbern an verschiedenen Orten Europas den eindeutigen Nachweis erbracht haben, dass die Yersinia pestis des Mikroorganismenstammes Biovar mediaevalis tatsächlich die Große Pest in Europa von 1347–1453 verursachte.¹²³ Das Bakterium passte sich vermutlich unterschiedlichen Bedingungen an und konnte eine Vielzahl an Nagetier- und Floharten befallen. Andererseits nahmen Wirtstiere, Überträger und vor allem auch die verschiedenen klimatischen Verhältnisse auf das Bakterium Ein uss, sodass sich wohl mehr als die bislang bekannten Yersinia-Typen ausbildeten und in Europa gleichzeitig mehrere Pestbakterien grassierten. Übertragen wurde der Pestbazillus durch den Biss (»Stich«) des in zierten Ratten ohs (Xenopsylla cheopis) in der heterologen Übertragungskette Ratte (Wirt) – Ratten oh (Vektor) – Mensch, doch scheint gegenüber früheren Annahmen in Mittelalter und früher Neuzeit der Menschen oh (Pullex irritans) durch einen – um ein Glied verkürzten – rascheren homologen Übertragungsmechanismus Mensch – Menschen oh – Mensch eine wichtige Rolle für die Ausbreitung gespielt zu haben, zumal der Ratten oh nur widerwillig, oft erst nach dem Tod der Ratte, auf den Menschen übergeht. Der

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Ratten oh konnte ohne Wirtstier zudem längere Zeit in der Kleidung der Menschen überleben. Andere kleine Nager und Haustiere spielen eine untergeordnete Rolle. Be el der Rattenoh die Wanderratte, blieb die Pest eher endemisch; sie trat nur hier und dort in unregelmäßigen Abständen auf, ohne sich zu einer wirklichen Epidemie zu entwickeln. Durch die Infektion der Hausratte gelangte der Erreger hingegen massenhaft in die menschlichen Siedlungsräume und Wohngebäude mit Speichern und Kellern und bewirkte die epidemische Ausbreitung. Ungünstige hygienisch-sanitäre Zustände (Ratten) und das feuchte Milieu in den Räumen (Flöhe) förderten die Verbreitung der Pest und bildeten die Voraussetzung dafür, dass in einigen Stadtquartieren ständig Infektionsherde bestehen blieben und es immer wieder zu Pestausbrüchen kam. In die nördlichen Teile Europas gelangte aus klimatischen Gründen im Allgemeinen nur die Beulen- oder Bubonenpest, erkennbar an dem sich blau-schwarz verfärbenden Gewebezerfall (Nekrose) mit schwarzen Flecken (Schwarze Blattern), der an der Einstichstelle entstand, und an den großen, zum eitrigen Aufbrechen neigenden Schwellungen (Beulen) an den Lymphknoten in den Bereichen von Kopf und Hals, Achselhöhle und Leistengegend. Chirurgische Behandlungsempfehlungen richteten sich daher auf unterschiedliche Methoden einer Eröffnung der Bubonen und der Ableitung und Entfernung des Buboneneiters, waren aber vergeblich. Symptome der Erkrankung nach einer Inkubationszeit von einem bis sechs Tagen waren qualvolle Kopfschmerzen, Benommenheit, Fieberschübe und allgemeine Erschöpfung. Etwa drei Viertel der Befallenen starben vermut-

123 S. H/R. B u. a., Distinct Clones of Yersinia pestis caused the Black Death. Eine Forschergruppe um K. I. Bos, V. J. Schuenemann, B. Brian Golding u. a. kam bei der Untersuchung von Erbgutspuren in Knochen- und Zahnproben von Pestopfern der ersten Welle (1348–50) aus dem Massengrab von East Smith ed in London zu dem Ergebnis, dass der mittelalterliche Pesterreger den heutigen Stämmen des bakteriellen Phänotyps Yersinia pestis ganz eng verwandt ist. Das Pestbakterium habe sich erst relativ kurze Zeit vor dem Pestausbruch so entwickelt, dass es menschenpathogen wurde und Menschen in zieren konnte. Weshalb die Pest so vehement mit ihren verheerenden Folgen wütete und sich so rasch und weiträumig ausbreitete, habe vermutlich daran gelegen, dass dem menschlichen Immunsystem der Erreger noch nie zuvor begegnet war. Damit stellt sich zugleich erneut die Frage nach dem Erreger der sogenannten Justinianischen Pest. K. I. B/V. J. S u. a., A draft genome of Yersinia pestis.

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lich nach einer Woche, weil die bakteriellen Erreger die Lymphbarriere durchbrachen, in die Blutbahn gelangten und als Gesamtinfektion eine tödliche Blutvergiftung (Septikämie) mit Schädigung verschiedener Organe wie Lunge und Milz verursachten, die zu Herz-KreislaufVersagen (Sepsisschock) führten. Immerhin bot die Beulenpest mit einer angenommenen Letalität in einer Spanne von 20 bis 75 Prozent oder 30 bis 80 Prozent der Befallenen gewisse Überlebenschancen im Gegensatz zu der sich langsamer ausbreitenden (primären) Lungenpest, die allein im strengen Sinne eine Infektionskrankheit war und direkt durch Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch übertragen wurde. Die Lungenpest war durch eine kurze Inkubationszeit (1 bis 2 Tage) und einen sehr raschen, fast immer tödlichen Verlauf gekennzeichnet, da die Schutzschranke der Lymphknoten ent el und der Erreger über die Lungenbläschen direkt ins Blut gelangte. Der Erkrankte litt an Herzrasen, Bluthusten, Atemnot und erstickte schließlich aufgrund einer Nervenlähmung sowie der Zerstörung des Lungengewebes. Beulen- und Lungenpest wurden als verschiedene und unterschiedlich rasche Verlaufsformen der einen Pest schon von den mittelalterlichen Zeitgenossen und teilweise bereits von Prokop († 562) durch empirische Beobachtungen von Inkubationszeit, Symptomatik und Letalität beschrieben. Eine weitere, sekundäre Form der Lungenpest konnte jederzeit dadurch entstehen, dass bei einer Beulenpest die bakteriellen Erreger im Verlauf der Pestsepsis über die Blutbahn in die Lunge gelangten. Die wiederkehrende Pest war in Mitteleuropa eine typische Sommerepidemie, die etwa 26 bis 34 Wochen anhielt. Den Verlauf der Epidemie bestimmten heiße feuchte Sommer, warme Herbste und milde Winter. Ein nicht näher bestimmter Zusammenhang zwischen Pest und feucht-warmer Witterung wurde bereits von den Zeitgenossen konstatiert. Pestjahre scheinen zugleich klimatische Ausnahmejahre gewesen zu sein. Hinweise geben Chroniken, Maß-

nahmen des Rats und in Nürnberg im Einzelfall von 1533/34 täglich geführte Listen mit Angaben über die Verstorbenen. Vorbereitet und gefördert wurde demnach die Epidemie in den Monaten Juli bis August, in denen die Sterberaten steil anstiegen, während sie in den Monaten September und Oktober für etwa drei Wochen den höchsten Stand erreichten und dann bis Ende Dezember steil ab elen, um in den Wintermonaten Januar und Februar auf niedrigem Niveau auszuklingen. 1.4.2.4.3 Maßnahmen gegen die Pest und zeitgenössische Erklärungen der Seuche Die einzige wirksame Prophylaxe gegen die Pest war die Flucht, wie dies schon Galen bei Epidemien empfohlen hatte: Fuga cito, vade longe, rede tarde (Flieh schnell, geh weit, komm langsam zurück); in der Übersetzung des gereimten Pestregimens des Nürnberger Barbiers, Wundarztes und Meistersingers Hans Folz (1435/40–1513) heißt es: Fleuch pald, euch fer, kum wider spot, das sind drey krewter in der not.¹²⁴ Angehörige der Ober- und Mittelschicht, also auch Handwerker, wichen ins Umland und in andere Städte aus. Grundbesitzende Kreise konnten sich auf ihre Landsitze vor der Stadt zurückziehen. In Augsburg wurden 1521/22 zwei Häuser für arme In zierte eingerichtet, in denen diese um Gottes willen bis zu ihrem Tod versorgt wurden, während die Reichen aus der Stadt nach Ulm, Donauwörth (Wörth) und Lauingen ge ohen waren. Nach dem Bericht des Wilhelm Rem über die Pest garantierte die Flucht in die Dörfer des Umlands und in andere Städte jedoch keinen Schutz vor Erkrankung, denn es handelte sich um ein rechtes Landsterben. Im Jahre 1533 wird von einem besonders massiven Sterben in Nürnberg berichtet, demzufolge mehr als ein Drittel der Bevölkerung, darunter nun auch ein ungewöhnlich großer Teil der Handwerker, aus der Stadt ge ohen sei und von den Ehrbaren sich nur noch die Sieben alten Herren, der Geheime Rat, dort aufhielten. Ein Pestregimen, dessen Druck der geheime Rat der Sieben

124 H. F (Hg.), Hans Folz. Die Reimpaarsprüche, München 1961, Pestregimen in Versen, Vers 58 f.

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älteren Herren in Auftrag gegeben hatte, empfahl der Bevölkerung die Flucht, während der evangelisch-lutherische Prediger Andreas Osiander in einer gleichfalls gedruckten Predigt in St. Lorenz die Furcht und die Flucht vor der Seuche als Zeichen des Unglaubens interpretierte und zur Erfüllung des Liebesgebotes aufforderte. Massen uchten trugen indessen durch bereits In zierte zur Verbreitung der Pest in den Dörfern und Flecken des Umlands und in entfernteren Städten bei. Andererseits führten mit der Pest einhergehende Hungersnöte Landbevölkerung auf der Suche nach Nahrungsmitteln in die Stadt. Die Ärzte standen, abgesehen von einigen sinnvollen hygienischen Maßnahmen, welche auch die Verbreitung der Ratten hemmten, und der schon vor der Pest bei Epidemien praktizierten Isolierung von Kranken, der Pest hil os gegenüber. Man hatte beobachtet, dass Personen, die Kontakt mit Erkrankten hatten, von der Pest befallen wurden. Bei späteren Pestzügen ließ der Münchner Rat bei Ausbruch der Pest durch den städtischen Fronboten von Haus zu Haus verkünden, dass niemand, der am Brechen gelitten hatte, vor Ablauf von 14 Tagen, nachdem er das Krankenbett verlassen hatte, auf die Straße gehen durfte. Den Isolierungsmaßnahmen, den Verboten von Krankenbesuchen und von Versammlungen, standen jedoch auf der anderen Seite gemeinsame Gebete und organisierte Bittprozessionen gegenüber. Ärzte empfahlen, entsprechend den ätiologischen und therapeutischen Pestkonsilien, Pestregimina und Pesttraktaten, als prophylaktische Mittel eine enthaltsame Lebensweise und diätetische Verhaltensmaßnahmen in der Ernährung zur Stärkung der Widerstandskraft, ferner Duftstoffe, Pillen, Salben, Edelsteine und Talismane. Alle Nachrichten vom gemeinen Sterben sollten unterdrückt werden; stattdessen wurde angeraten, der krankmachenden Angst vor der Pest individuell mit einer fröhlichen und ausgelassenen Gemütsverfassung entgegenzuwirken. Mit

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kommunalen Schutzmaßnahmen zur Abwehr der Pest, mit Handelsverboten, dem Fernhalten von Menschen und Waren aus Pestgebieten, strengen Kontrollen der Stadttore, der Verbrennung der Fahrhabe von Pestopfern, insbesondere von Textilien, Quarantänestationen, der Erstellung von genauen Totenlisten, der Anlage von Pestlazaretten und ausgelagerten Friedhöfen ging der Süden Europas mit Venedig und Mailand von wenigen Ausnahmen abgesehen dem Norden zeitlich weit voran. Dort nden sich einige der Maßnahmen erst seit dem ausgehenden 15. und im 16. Jahrhundert, doch wurde bereits 1351 in Braunschweig ein Spital wohl auch für Pestopfer erbaut. In Nürnberg betrieb der Pelzhändler und Frühhumanist Sebald Schreyer als Testamentsexekutor den 1490 gestifteten Bau des Sebastianspitals an der Pegnitz im Westen außerhalb der Stadt, damit die Ansteckung (contagio) nicht andere erfasse, wie Konrad Celtis berichtet. Nach dessen Angaben war es ein geräumiges und luftiges öffentliches Gebäude, wie es die Italiener Lazarett nennten, mit verschiedenen Kammern, in die Fuhrleute und Sänftenträger die an der Seuche Erkranken brächten. Menschen jeden Standes, auch Dienstknechten (servi), getauften Juden und Tagelöhnern werde dieser Dienst der Liebe erwiesen.¹²⁵ Die Vergiftung der Luft durch Miasmen, die man gelegentlich auf interkontinentale schwülwarme, feuchte und miasmenreiche Winde aus Asien aufgrund einer ungünstigen Konstellationen der Gestirne – von Saturn, Jupiter und Mars – zurückführte, wurde als Ursache der Krankheitsübertragung namhaft gemacht. Die Erklärung war zwar nicht zutreffend, vermittelte aber eine bildhafte Vorstellung von Ansteckung durch das Eindringen von krankmachender Materie in den menschlichen Körper, so in dem in Europa weitverbreiteten Modell des so genannten Pesthauchs (contagio, aer corruptus) des umbrischen Arztes Gentile da Foligno, der am 12. Juni 1348 in Perugia an der

125 Konrad Celtis, Norimberga (1.1), cap. 6 (A. W; G. F). Zu seinen Mutmaßungen über die Ursachen der Pest siehe weiter unten.

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Die Stadt und ihre Bewohner

Pest starb, und in dem berühmten Pestgutachten der Medizinischen Fakultät der Pariser Universität von 1348/49. Das Einatmen toxischer Miasmen, aber auch der Verzehr zur Fäulnis neigender Speisen führte nach gängiger Auffassung zu einem Überschuss an feucht-warmem Blut und damit zur Fäulnis innerer Organe, die den eigentlichen Krankheitsvorgang bewirkten. Um die Miasmen zu reduzieren und die Luft zu verbessern, wurden in der Öffentlichkeit große, nach Möglichkeit auch durch bestimmte Hölzer und Beigaben gutriechende Feuer abgebrannt, mit denen man die Luft reinigen wollte. Auch in Krankenzimmern wurde zu solchen reinigenden und abwehrenden Maßnahmen gegriffen, gelegentlich riet man zur Räucherung als Repellens, zur Lüftung der von verpesteter Luft erfüllten Räume oder aber zum Verschließen der Fensteröffnungen bei gefährlichen feuchtwarmen Südwinden. Empfehlungen für Maßnahmen gegen die Pest gingen im Reich anscheinend vor allem von Prag aus; böhmische Pesttraktate des 14. Jahrhunderts erreichten eine hohe Verbreitungsdichte. Zutreffende Erkenntnisse über die Infektionswege konnten nicht gewonnen werden. Gefürchtet waren die Ausdünstungen und der Atem von Erkrankten, die man für äußerst infektiös hielt, was hinsichtlich des Atems ohne die Miasmenvorstellung an sich richtig war. Selbst eine Übertragung durch Blickkontakt wurde für möglich gehalten. Von einer Übertragung über den Mund durch Kuss und Atem berichtet der italienische Jurist Giovanni de Mussis. Früh schon wurde von Beobachtern eine Infektion durch Drüsensekrete, blutigen Speichel und ausgeworfenes Blut angenommen. Es galt aber für die empirischen Beobachtungen als Erklärung letztlich das ätiologische Erklärungsmodell der in sich schlüssigen antiken Humoralpathologie mit seinen daraus abgeleiteten prophylaktischen und therapeutischen Maßnahmen. Der Straßburger Chronist Fritsche Closener berichtet von Beulen und Drüsen unter den Armen und oberhalb der Beine in der Leistenge-

gend, an denen die Betroffenen vier Tage nach ihrem Erscheinen, aber auch schon in kürzeren Abständen bis zu einem Tag, gestorben seien. Einige hätten überlebt. Die Übertragung der Krankheit drückt er damit aus, dass sie einer von dem andern erbte, und wenn das Sterben in ein Haus gekommen sei, da habe es selten mit einem Opfer aufgehört. Zu den Ursachen der Pandemie wusste sein Nachfolger Jakob Twinger von Königshofen zu Beginn des 15. Jahrhunderts nur mitzuteilen, auf die Frage, woher das Sterben gekommen sei, könnten weder die Gelehrten und noch die Ärzte anderes sagen, als dass es Gottes Wille sei.¹²⁶ In Nürnberg wütete die Pest stark in den Jahren 1437, 1462 und 1474. Konrad Celtis, um einen späteren Zeitgenossen und gebildeten Humanisten anzuführen, war der Ansicht, dass die Stadt selten unter Pestzügen und Seuchen zu leiden habe, und auch nur, wenn diese überall aufträten. Die Ursache für Seuchen sah er weniger in irgendeiner Ungunst und in schädlichen Auswirkungen des Klimas, als vielmehr in der Ansteckung der Körper inmitten einer solchen Vielzahl von Einwohnern. Wenn die Pest, die schlimmste Feindin des Menschengeschlechts, wie in Deutschland alle zehn oder zwölf Jahre zu wüten beginne, liege das entweder an gewissen verborgenen Widrigkeiten der Luft und des Erdreichs, an verdorbenen Nahrungsmitteln, an der Ungunst des Landstrichs und am Ein uss der Gestirne, am unheilbringenden Zusammenwirken himmlischer Kräfte oder am Zorn der Götter. Oder es gebe bei den Menschen wie bei anderen Lebewesen eben artspezi sche Seuchen und Krankheiten. Celtis, der feuchte Erdausdünstungen, also Miasmen, kennt und das von ihm nicht weiter geklärte Prinzip Ansteckung in der Menschenmenge, fragt skeptisch, wer denn alle Ereignisse der Natur auf gesicherte Ursachen zurückführen könne, und nennt seine Vermutung und seinen Erklärungsversuch schwach, zaghaft und unsicher. Es taucht bei ihm jedoch auch ein An ug eines frühen vagen Malthusianismus auf, wenn er mutmaßt, dass

126 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 8, S. 120 f. (Fritsche Closener); Bd. 9, S. 759 f. (Jakob Twinger).

Die Stadtbevölkerung

die Schöpfung (natura) durch diese Seuche auf eine bestimmte Anzahl von Menschen zurückgeführt werde, weil sie sich selbst reinige, Überüssiges beseitige und zurückschneide. Es gab vereinzelte Ansätze einer eorie der Ansteckung durch Kranke und Gegenstände, wie die des arabischen Arztes und Politikers in Granada Ibn al-Khatib († 1374) ohne Rückgriff auf die Miasmenlehre oder des Arztes, Humanisten und Philosophen Marsilius Ficinus († 1499) in Verbindung mit ihr. Ansteckung meinte nur, dass die Krankheit von Mensch zu Mensch sprang und implizierte noch keinen physischen und physikalischen Kontakt von Mensch zu Mensch. Die Miasmen waren Ansteckungsstoffe, die außerhalb des Körpers gebildet wurden. Der Florentiner Ficinus brachte die Miasmenlehre und die Ansteckung in einem Konsilium während der Pest von 1478 durch die Auffassung zusammen, dass die pestilenten Ausdünstungen an der Haut oder Kleidung eines Pestkranken bis zu zwei Monaten haften blieben und deshalb von einem Körper auf den anderen übertragen würden. Es gab zwar keine Kenntnis von der mikrobiellen Natur der krankheitserregenden Materie und den Übertragungsweisen, aber immerhin ein Erfahrungswissen vom ansteckenden Charakter der Pest, das wenigstens sinnvolle Isolierungs- und Hygienemaßnahmen ermöglichte. Die im 16. Jahrhundert von dem italienischen Arzt Girolamo Fracastoro (1483–1553) entwickelte eorie der Übertragung bestimmter Krankheiten durch spezi sche Keime durch Berührung und Einatmen wurde nicht weiter verfolgt und ausgebaut. Miasmen, Ansteckung und die Konstellation von Gestirnen blieben auch die frühe Neuzeit hindurch Erklärungen für die Pest. Noch 1721 nannte der Leibarzt des preußischen Königs faulige Dämpfe und den unheilvollen Ein uss der Sterne als Ursachen für die Pest. 1.4.2.4.4 Reaktionen der Menschen Die Schreckensbilder der Pest mit überquellenden Begräbnisstätten, Massengräbern und Leichengestank aus verlassenen Häusern, die Hilflosigkeit der Behörden, die wachsende Missach-

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tung der Gesetze, die Verzwei ung, die Fluchtversuche und die sozialen Verhaltensmuster der Menschen unter dem Druck der furchtbaren Epidemie wurden von Giovanni Boccaccio für Florenz in dessen »Decamerone« und von anderen Zeitgenossen für andere Städte übereinstimmend beschrieben. Sie unterscheiden sich kaum von den überlieferten Schilderungen aus der Zeit der sogenannten Justinianischen Pest und behielten über Jahrhunderte hinaus ihre nahezu universale Gültigkeit für andere europäische Pestwellen. Im Schatten des Schwarzen Todes, wie die Pest im 17. Jahrhundert genannt wurde, schwankten die Zeitgenossen zwischen Todesangst, Depression, panischen Ausbrüchen, inbrünstiger Religiosität, Hader mit Gott und ungezügeltem Lebensgenuss. Andere wiederum reagierten mit einer maßvollen Lebensführung, um sich gegen die Krankheit zu wappnen. Die Aufwands- und Luxusordnungen des Spätmittelalters, die als Re ex auf hedonistischen Konsum und übertriebene Modeerscheinungen im Gefolge der Pest gedeutet werden könnten, nehmen keinen direkten Bezug auf die Seuche, sondern sehen allgemein im Luxus ein Anzeichen für sündhafte Hoffart, die Gott durch Heimsuchungen straft. Es wird mit fast topischer Gleichförmigkeit berichtet, dass sich in der Not der Pest Verrohung und Gefühllosigkeit breitmachten und die christliche Nächstenliebe schwand. Die Familiensolidarität brach zusammen, die Angehörigen ließen die Erkrankten im Stich. Priester, Notare, Juristen und Ärzte ohen, sodass die Kranken keine Testamente mehr aufsetzen und nicht mehr die Sterbesakramente erhalten konnten und keine ärztliche Behandlung und Versorgung mehr erfuhren. Das Begräbnis überließ man Dienstleuten, die sich wie Krankenp eger und andere ihre Dienste überteuert bezahlen ließen. Berichtet wird aber auch von einer ins Außerordentliche gestiegenen Leidensfähigkeit der Kranken und von Beispielen selbstloser Opferbereitschaft. Schwerwiegende Folgen hatte es für die Stadt, wenn in größerer Zahl Ratsmitglieder und städtische Bedienstete ohen, die in den de-

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solaten und desorganisierten Zeiten der Pest eigentlich die öffentliche Ordnung, insbesondere die Gesundheits- und Wohlfahrtsp ege, sichern sollten. In Nürnberg ist für 1494 belegt, dass der größere Teil der Ratsherren ge ohen war. Im Pestjahr 1505 wurde im Rat beschlossen, alle Ratsherren zur Rückkehr aufzufordern, denn von den 34 Mitgliedern des Inneren Rates hielten sich 15 während der gesamten Pestmonate auswärts auf, weitere vier hatten zumindest zeitweise die Stadt verlassen. Während die Anwesenheit der drei Obersten Hauptleute, der höchsten Exekutionsbehörde, keine Frage war, wurden im Seuchenjahr 1520 die Alten Bürgermeister zum Bleiben in der Stadt verp ichtet, nur die weniger bedeutenden Jüngeren Bürgermeister durften sich vertreten lassen, wofür die Vertreter den doppelten Sold erhielten. Außerdem untersagte der Rat einer großen Zahl wichtiger Amtsträger die Flucht ohne seine Sondererlaubnis. Darunter befanden sich die Vormünder, die angesichts der vielen Todesfälle gebraucht wurden, die Stadtrichter, Stadtärzte, Baumeister, Amtleute der Forstverwaltung, die beiden Ratsschreiber, die vier Fronboten, der P eger des Großen Almosens, weitere Amtsträger und Bedienstete der Wirtschaftsverwaltung und der Rechtsp ege. Der Rat selbst ließ täglich zu seinem Schutz reinigende Feuer vor dem Rathaus abbrennen und stellte einen besonderen Barbier an, der durch Aderlasse für die Gesundheit der Ratsherren zu sorgen hatte. Ferner wurde in Seuchenjahren seit dem frühen 16. Jahrhundert die Anforderung an die ständische Qualität der Geschäftszeugen und der Personen für die gültige Beglaubigung von Testamenten herabgesetzt, der Streitwert, bis zu dem die Fronboten selbständig Urteile sprechen durften, heraufgesetzt sowie die Besetzung des Stadtgerichts und des Fünfergerichts des Rats, damit die Gerichte weiterhin funktionsfähig blieben, vorübergehend anders geregelt, denn es galt, nicht nur ge ohene, sondern auch verstorbene Urteiler zu ersetzen. Nach dem Abklingen der Seuche waren aufgestaute Geschäfte abzuarbeiten.

Während der Pest von 1521/22 musste in Augsburg zur Sicherstellung der Stadtverwaltung durch ein rotierendes System ein Drittel der Ratsherren in der Stadt bleiben, die beiden anderen Drittel durften sich außerhalb der Stadt aufhalten, waren jedoch verp ichtet, zu Beginn ihres jeweiligen Amtsmonats wieder nach Augsburg zu kommen. Die Zeitgenossen betrachteten die Pest als eine Geißel, die Gott den Menschen zur Strafe für ihre Sünden schickte. Gemeinsame Gebete und Bittprozessionen um Hilfe und Zuspruch von der Gottesmutter, gegen das große Sterben und den unvorbereiteten jähen Tod, die auch vom Rat angeordnet wurden, ferner Fastenaktionen, Gelübde, Wallfahrten, Umzüge von stellvertretend büßenden Geißlern (Flagellanten) oder die Nähe zu Reliquien, Stiftungen, Legate an die Kirche und Arme sollten schützen und Abhilfe schaffen. Pestkreuze und Pestsäulen sollten an Not und Sterben erinnern. Spezielle Bruderschaften wie die der Alexianer und Sebastiansbruderschaften widmeten sich der Betreuung der Pestkranken und der Bestattung der Pesttoten. Der hl. Sebastian und der hl. Rochus wurden unter den insgesamt 60 nachweisbaren Pestschutzheiligen bevorzugt, wobei der seit etwa 1480 anzutreffende, in Nürnberg infolge der Aktivitäten der Patrizierfamilie Imhoff besonders intensiv gep egte Rochuskult wie die von der Pestwelle des Jahres 1505 ausgelöste große Apothekenreform von 1506 auf dem Wege von Handelsbeziehungen aus Venedig nach Nürnberg gelangten. Pestschutzheilige erscheinen auf Tafelbildern und als Holz guren auf Pfeilern, Schreinen und Altären. Ferner zeigen Tafelbilder wie das Diptychon des Martin Schaffner von etwa 1510/14, wie Menschen unter dem ausgebreiteten Mantel Marias Schutz vor einem Regen von Pestpfeilen suchen, die ein zürnender und strafender Gott auf sie herabschleudert. Ferner entstand und verbreitete sich das Totentanzmotiv, das auf Malerei, Gra k und Plastik übertragen wurde. Galt die Pest als eine Strafe Gottes, so kam daneben doch auch der Verdacht auf, dass bösartige Individuen die Pest vorsätzlich ausstreu-

Die Stadtbevölkerung

ten. Der Verdacht richtete sich gegen Arme, Minderheiten verschiedener Art, gegen die Leprosen, die offensichtlich gegen die Pest immun waren, und vor allem gegen die Juden, die man beschuldigte, nachts die Türen mit pestilenten Substanzen zu bestreichen oder die Brunnen zu vergiften. Beschuldigungen der Brunnenvergiftung kamen aber bereits vor der Pest auf und wurden, allerdings nur vereinzelt, als unglaubhaft zurückgewiesen. In Nürnberg, Frankfurt, Straßburg und in anderen Städten kam es zu grausamen Pogromen, die aber, wie insbesondere das zunächst von des Pest verschonte Nürnberg zeigt, nicht unmittelbar mit dem Auftreten der Pest in der Stadt zusammenhingen, wobei aber die treibenden Akteure in der allgemeinen psychopathologischen Verunsicherung durch die Angst vor der Pest die Suche nach angeblichen Verursachern und Sündenböcken nutzen konnten.¹²⁷ Während der Pest erlahmte das wirtschaftliche Leben, wie dies nicht zuletzt an den rückläu gen Umsätzen am Rentenmarkt zu ersehen ist; es kam aber nicht völlig zum Erliegen. 1.4.2.4.5 Demogra sch-wirtschaftliche Folgen der Pest Zwar gab es nach Hunger- und Seuchenkatastrophen in der Regel ausgesprochene Erholungsphasen. Da Nahrungsstellen freigeworden waren, stiegen die Heiratsziffern an, und es stellte sich nachfolgend eine erhöhte Geburtenziffer ein. Die periodischen Pestzüge machten jedoch diesen Zugewinn wieder zunichte. Auch scheint, wie dies für England festgestellt wurde, die Pest für die Bevölkerungsstruktur insofern besonders unglücklich verlaufen zu sein, als von ihrem ersten Stoß überwiegend Erwachsene, bei ihrer Wiederkehr jedoch aufgrund einer teilweisen und vorübergehenden Immunisierung der Überlebenden der ersten Welle vor allem Kinder und später, wie es Burkard Zink für Augs-

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burg berichtet, allgemeiner jüngere Menschen betroffen wurden. Wieweit jedoch von einer regelrechten Land ucht, ausgelöst durch eine Verschärfung des Gefälles zwischen Land und Stadt als Folge der Pest, gesprochen werden kann, mag dahingestellt bleiben. Die zahlreichen, allerdings schwer zu datierenden ländlichen Wüstungen geben dafür einen Anhaltspunkt. Zur Erklärung werden vor allem wirtschaftliche Modellüberlegungen herangezogen, die sich allerdings teilweise auf wenig sichere empirische Daten stützen.¹²⁸ Demnach hatte das Massensterben in der Stadt, was unmittelbar einleuchtet, vor allem in den Reihen der vermögenden Schichten eine Grundbesitz-, allgemeine Vermögens- und eine Geldakkumulation durch Erbgang oder durch Aneignung herrenlosen Gutes in der Hand der Überlebenden, eine Erhöhung der Kaufmittel und teilweise der Kaufkraft sowie dadurch bewirkt eine Steigerung der Lebensbedürfnisse, insbesondere den fortan kaum mehr abreißenden Wunsch nach modischer Kleidung, zur Folge. Der Mangel an Arbeitskräften führte zu einem kräftigen Anstieg der Löhne, der aber verschiedentlich durch Höchstlohnverordnungen begrenzt oder verhindert wurde. Man kann hypothetisch annehmen, dass der Mangel an Arbeitskräften und die Suche nach Kompensation Anreize für technische, Arbeitskräfte sparende Innovationen schufen. Nicht belegbar sind aber unmittelbar kausale Auffassungen, wonach Arbeitskräftemangel und Lohndruck längerfristig zu bestimmten Rationalisierungen und zu bestimmten technischen Er ndungen wie die Druckerpresse Gutenbergs, der Mangel an Soldaten zur Weiterentwicklung der Feuerwaffen geführt hätten.¹²⁹ Der Rückgang der Bevölkerung, so lauten die weiteren Folgerungen, ließ den Absatzmarkt für Agrarprodukte, in erster Linie für Getreide, schrumpfen. Zugleich konzentrierte sich die Landwirtschaft auf die ergiebigen Böden und

127 Siehe dazu eingehender 7.6. 128 Siehe besonders die Arbeiten von W. A und die kritische Diskussion seiner eorie in 9.9. 129 D. H, Der Schwarze Tod; K. G. Z, Kanonen und Pest.

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erzielte im Durchschnitt eine Ertragssteigerung. Das mengenmäßige Angebot an Getreide sank nicht in dem gleichen Ausmaß, wie die bebaute Fläche reduziert wurde und die Nachfrage zurückging. In einem säkularen Trend ver elen die Getreidepreise – nach kurzem Anstieg nach der ersten Pestwelle – von 1375 an bis zum Ende des 15. Jahrhunderts infolge von Absatzkrisen. Eine vergleichende Analyse von Preisentwicklung, besetzten Bauernstellen und Zehnterträgen kommt für Oberdeutschland zu dem Ergebnis, dass nicht schon die ersten Pestzüge einen starken Einschnitt im Zusammenhang zwischen Bevölkerungsentwicklung und Agrarproduktion gebracht haben, sondern erst die Seuchen zwischen 1370 und 1380.¹³⁰ Zusätzlich brachten Missernten geringere Erlöse, und die Erlöspreise sanken bei steigenden Kostenpreisen, die durch erhöhte ländliche Löhne verursacht wurden. Hingegen zogen in der Stadt die Preise für gewerbliche Güter an. Den Arbeitskräften winkten hohe Löhne. Es handelte sich um steigende Reallöhne, da die Löhne stärker als die Preise für gewerbliche Güter stiegen und die Preise für das lebenswichtige Getreide ohnehin elen. Insgesamt veränderten sich die terms-oftrade, das Austauschverhältnis zwischen landwirtschaftlichen und gewerblichen Produkten, zugunsten der Stadt. Ausgenommen von dem landwirtschaftlichen Preisverfall waren die Tierhaltung und der Anbau von Gartenfrüchten, die beide anstiegen, und der Anbau von Industriep anzen. Ferner wies der Weinbau eine »Sonderkonjunktur« auf; die Reb ächen blieben in ihrem Umfang vermutlich erhalten und wurden sogar teilweise selbst auf ungünstige Standorte ausgeweitet. Das Resultat der Entwicklung war eine verstärkte Abwanderung der von der Pest vermutlich weniger stark dezimierten Landbevölkerung in die Stadt, die ihrerseits Anstrengungen unternahm, um ihre Bevölkerungsverluste wieder auszugleichen. Nach Ansicht W. Abels begann ein »goldenes Zeitalter der Lohnarbeiter«,

doch entspricht eine solche Formulierung nicht den realen Verhältnissen. Ferner veranlasste der Wüstungsprozess viele Bauern des städtischen Umlands, ihre Wohnsitze in die Stadt zu verlegen und von dort aus die Fluren der verlassenen Dörfer zu bewirtschaften. In manchen der Kleinstädte und Minderformen, aber auch der mittleren Städte, in denen Handel und Gewerbe vorgeherrscht hatten, drang erst jetzt der Ackerbau vor, da sie als späte Gründungen keine eigenen Feldmarken besessen hatten.¹³¹ 1.4.2.5 Wanderungsbewegungen (Migration) Es ist zu beobachten, dass unmittelbar nach dem Ausklingen der Pest in den Städten die Zahl der Neubürger im Rechtssinne in die Höhe schnellte, um nach einiger Zeit wieder auf ein übliches Maß zurückzukehren. Die Stadt erhielt nach der Pest verstärkten Zustrom von außen, doch gab es unabhängig davon Zuwanderung. Die grundlegende Schwierigkeit, die Zahl der Zuwanderer genau zu bestimmen, ist darin begründet, dass es zuverlässige Quellen, die exakte statistische Aufschlüsse über Zu- und Abwanderung ermöglichten, nicht gibt. In der Regel stehen nur Bürgerbücher zur Verfügung, in die man die Neubürger eintrug. Nicht alle Neubürger, die ins Bürgerrecht aufgenommen wurden, waren jedoch zeitgleiche oder zeitnahe Zuwanderer, denn viele von ihnen saßen bereits als bloße Einwohner in der Stadt und konnten jetzt, ganz überwiegend durch Einheirat, in die Nahrungsstellen von Pestopfern einrücken. In normalen Zeiten beein ussten die wechselnden Bedingungen für die Aufnahme ins Bürgerrecht und deren tatsächliche Handhabung die Zahl der Eintritte bereits Ansässiger in das Bürgerrecht. In einigen Städten stand die Aufnahme in das Bürgerrecht in der Mehrzahl der Fälle in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einer Einheirat. Andererseits verzeichnen die Bürgerbücher auch nicht alle Zuwanderer, da ein Teil von ihnen vermutlich erst später das Bür-

130 W. B, Materielle Grundstrukturen (9.9), S. 367. 131 H. S, Stadtformen und städtisches Leben im späten Mittelalter (1.3), S. 156.

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gerrecht erwarb; außerdem wurden in der Regel nicht auch die Familienangehörigen eingetragen. Abzurechnen wären andererseits die Frauen, Söhne und Töchter von Bürgern, die wegen des Todes des Ehemanns, Volljährigkeit oder aus anderen Gründen nunmehr ins Bürgerrecht aufgenommen wurden. Die jährlichen Neubürgeraufnahmen, die bei unterschiedlichen Erfassungspraktiken nicht stets alle verzeichnet wurden, liegen durchschnittlich möglicherweise zwischen 0,5 und 1 Prozent der Gesamtbevölkerung. Wenn man sie auf die Zahl der Bürger bezieht, ergeben sich – bei einer Relation von Bürgern und Einwohnern von eins zu drei oder etwas mehr – etwa 1,5–3 Prozent der Bürger. Alle derartigen Angaben stehen natürlich unter starken Vorbehalten. Neubürger können jedenfalls bei vorsichtiger Interpretation und Beachtung lokaler Verhältnisse Indikatoren für Zuwanderung sein. Für die Zuwanderung im Hansebereich wurde vorgeschlagen, die Zahl der Neubürger mit dem Koeffizienten 2,5 zu multiplizieren, um zu einer ungefähren Zahl der Zuwanderer zu gelangen.¹³² Durch Erfahrungswerte erhärtet ist dieser Koeffizient jedoch nicht. Viele Zuwanderer kamen ohne Anhang. Für die Bevölkerungsbilanz sind auch Wanderungsverluste in Rechnung zu stellen. Die Pestzeiten bewirkten nicht nur eine nachfolgende Zuwanderung vom Lande, sondern förderten auch die zwischenstädtische Wanderung, mithin eine generelle Mobilität, doch sind Abwanderung und zwischenstädtische Migration in ihrer Intensität noch weniger zuverlässig zu ermitteln als die bloße Zuwanderung. Die Sogwirkung und der Bevölkerungsbedarf der Städte brachten etwa die Ostexpansion im Wesentlichen zum Erliegen. Neuere systematische Untersuchungen haben für den Zeitraum von etwa 1250 bis 1550 für das Reich 228 Bürgerbücher und zusätzlich eine Reihe von Bürgerlisten erfasst und daraus die Herkunft von Neubürgern sowie vorsich-

132 133 134 135

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tig und, unter Hinweis auf die methodischen Schwierigkeiten und Aporien, Zuwanderungsfrequenzen und Migrationsräume ermittelt.¹³³ Städtische Bannmeile, städtisches Um- und Hinterland und städtische Territorialbildung sind Grundtatsachen für Zuwanderung in die Stadt und beein ussen die individuellen Migrationsabsichten.¹³⁴ Aus der unmittelbaren Nähe kommen Zuwanderer in die Stadt, die sich als Dienstboten, Lehrlinge und Hilfsarbeiter aller Art, die nicht ins Bürgerrecht gelangen, oder als schlecht entlohnte Leinenweber verdingen; bei Zuwanderern mit nachgefragten Berufen und bei Spezialisten oder bei Handwerksgesellen handelt es sich um zwischenstädtische Wanderung. Oberdeutschland kennzeichnet die überwiegende Zuwanderung aus dem Nahraum, während nördlich des Mains und im Hansebereich (Braunschweig, Stendal, Lübeck) Migration aus der Ferne bis zu 200 Kilometer deutlich ausgeprägt ist. Möglicherweise gibt es einen Zusammenhang zwischen sinkenden Getreidepreisen und steigenden jährlichen Einbürgerungen und umgekehrt.¹³⁵ Spitzenwerte der Einbürgerung hängen mit günstigem konjunkturellem Verlauf zusammen, während in wirtschaftlichen Krisen Bürger, wie etwa Weber, die Stadt verließen und in Dörfer des Umlands und in benachbarte Städte des Hinterlands auswichen. In Pestzeiten oder bei Kornteuerungen strömten vermögenslose hungernde Landleute verstärkt in die Stadt und hofften, dort verwaiste Herdstellen besetzen zu können oder von der obrigkeitlichen Versorgungs- und Preispolitik zu pro tieren, doch wiesen Stadträte die fremden Zuwanderer, auch wegen der Teuerung, so rasch wie möglich wieder aus. Folgende Grundtatsachen der städtischen Demogra e sind hervorzuheben: – Die städtische Bevölkerung wies wegen der gegenüber der Geburtenrate höheren Sterblichkeit eine passive Bilanz auf und war für Bestandserhaltung und Wachstum auf Zu-

T. P, Fragen der Zuwanderung in den Hansestädten des späten Mittelalters. Siehe die zahlreichen Beiträge in R. C. S (Hg.), Neubürger im späten Mittelalter (2.1). Siehe dazu Kap. 6.1.3. R. G, Die Einbürgerungsfrequenzen spätmittelalterlicher Städte im Vergleich.

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wanderung, letztlich auf die vom Land abgegebenen Bevölkerungsüberschüsse angewiesen. – Nach großen Seuchenzügen fand ein Neuaufbau der Bevölkerung durch umfangreiche Zuwanderungsschübe statt. – Der Neubürger und Zuwanderer prägt deshalb ganz wesentlich das Bild der Bevölkerung. Unter den Neubürgern machten Bürgersöhne nur etwa 40–60 Prozent aus. – Die horizontale Mobilität der städtischen Bevölkerung und die zwischenstädtischen Wanderungen waren beträchtlich.

1.5 Stadtgestalt (Grundriss, Aufriss, Umriss) und Topogra e 1.5.1 Das Modell der Stadt Die Städte sind, wenn sie in das spätere Mittelalter eintreten, nach und nach entstandene, mehrzellige Gebilde mit älteren und jüngeren Siedlungskernen, sofern sie nicht in ihrer Entwicklung gehemmt, im Stadium eines einfachen, der Burg oder Kirche vorgelagerten Fleckens verblieben sind. Vielfach sind kleinere, im Spätmittelalter gegründete Städte – im Altsiedelland wie im Osten – Ergebnisse einmaliger, klarer, aber auch in der Dimension eng begrenzter Planungen. Andererseits darf bei heute feststellbaren Grundformen städtischer Grundrisse nicht in jedem Fall auf eine ursprüngliche planerische Gesamtkonzeption geschlossen werden. Nicht selten wurde erst später der Hauptstraße ein weiterer, paralleler Straßenzug zu ihrer Entlastung beigegeben, sodass erst dadurch

eine »Leiterform« entstand. Auch Veränderungen des Gewässernetzes zogen im Straßennetz Veränderungen nach sich wie in Goslar, Freiburg im Breisgau oder Bern. Nach großen Bränden kam es gleichfalls vor, dass Straßen verlegt wurden und das Straßennetz eine Umgestaltung erfuhr. Die bei Fehlen archäologischer Befunde oder brauchbarer schriftlicher und bildlicher Zeugnisse unverzichtbare retrospektive Methode muss daher mit aller Vorsicht angewandt werden. An der Stadt wurde – wie an einzelnen ihrer Bauwerke – weitergebaut. Sie wurde in ihrem Bestand erweitert, je nachdem es der Bevölkerungszuwachs und die Bedürfnisse von Handel, Gewerbe, Verkehr oder die Verteidigung erforderten. Die Bautätigkeit hatte vorhandene Siedlungen durch weitere zu ergänzen, ein im Umriss abgestecktes Areal überhaupt erst einigermaßen auszufüllen, oder sie griff über den ursprünglichen Umriss hinaus und erschloss weitere Siedlungen als Vorstädte. Zwischen den verfassungsgeschichtlichen Frühformen der Stadt und der im Rechtssinne voll ausgebildeten Stadt, in der das ortsbezogene Marktrecht zum Ortsrecht erweitert wird und deren Mauern einen rechtlichen Sonderbezirk umschließen, gibt es kaum Unterschiede, was das formale siedlungsmäßigbauliche Modell anlangt.¹³⁶ Die charakteristische Physiognomie der einzelnen Stadt freilich resultiert aus dem Zusammenwirken von geogra sch-topogra scher Lage, siedlungstechnischem Grundriss, architektonischem Stadtaufbau (Aufriss) und forti katorischem Stadtumriss.

136 E. E, Frühgeschichten der europäischen Stadt (1.3); K. G, Die Gestalt der deutschen Stadt; H. G, Stadtgestaltungsforschung; E. K, Der Stadtgrundriß als Geschichtsquelle. Ausführlicher herangezogen wird im Folgenden C. M, Kleine Kunstgeschichte der deutschen Stadt im Mittelalter. Die Idealstadt des Mittelalters, gelegentlich auch planerisches Vorbild, waren das auf verschiedenen Stadtsiegeln erscheinende Himmlische Jerusalem der Heilsgeschichte und der Stätte des Heiligen Grabes mit Mauerring und 24 in gleichen Seitenabständen vorgelagerten Türmen sowie die Vision der Stadt, des neuen Jerusalem, aus dem 21. Kapitel der Offenbarung des Johannes mit viereckigem Mauerkranz und 12 Türmen. Ideales Modell war das Kreisrund, wie das der Weltscheibe, aufgeteilt durch ein Gassenkreuz in vier Viertel, bis das Modell in Renaissance und Barock durch eine radiale Straßenordnung geometrisch kompliziert wurde. O. B, Alltagsleben im Mittelalter, S. 195–198. Angestrebt wurde auch die Anlage von Kirchen in Form eines Kirchkreuzes.

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1.5.1.1 Siedlungskerne Grundlegend für das Modell, Regelfall für die Frühzeit und für das Zeitalter der Stadtgründung, ist zunächst der sogenannte »topograsche Dualismus« von befestigtem Herrensitz als herrschaftlich bestimmtem Bereich auf der einen Seite und auf der anderen Seite, an ihn angelehnt, dem wirtschaftlichen Bereich des Suburbiums in Form der offenen Siedlung oder der mauergeschützten Vorburg. Unmittelbar unterhalb der Burg be ndet sich im ›Burg ecken‹ oder ›Burglehen‹ der Wohnort der Burgmannen, der Dienstleute des Burgherrn, oft mit einem Nahmarkt. Die Wirtschaftssiedlung umfasst die Marktstatt (mercatum) und die handwerklich-händlerische Marktsiedlung (burgum/-us), eventuell eine spezielle Niederlassung der – in einer Gilde organisierten – Kaufleute (portus), die früher mit dem an den Quellenbegriff angelehnten Forschungsbegriff »Wik« bezeichnet wurde¹³⁷, in gewisser Distanz zum Herrschaftsmittelpunkt an der Fernstraße gelegen, mit Markt und oft mit eigener Kirche ausgestattet. Die Gewerbesiedlung war an ießendem Wasser für den Betrieb der Wasserräder orientiert. Hinzu kommt dann noch eine Kirche oder eine Kirchensiedlung. Die Kernburg ist eine unbesiedelte Fluchtburg oder auch ein nicht allzu großes einfacheres Gebäude, das als Herren- oder herrschaftlicher Gutshof charakterisiert werden kann, eine Pfalz, ein befestigter Dom (Domburg), ein befestigtes Kloster oder Stift, gelegentlich auch nur eine befestigte Kirche. Viele Burgen wurden allerdings als Wohn- und Amtssitze des Stadtherrn erst gleichzeitig mit der Stadtanlage oder auch erst später erbaut, als die Stadt bereits vorhanden war, damit der Stadtherr oder sein Vertreter geschützt waren und unmittelbar am Ort die Gerichtsbarkeit ausüben, Handel und Gewerbe beaufsichtigen konnten. Mit wachsender kommunaler Autonomie trat die städtische Burg als Verwaltungsmittelpunkt zurück, und die Stadt versuchte, sie friedlich oder gewaltsam

an sich zu bringen. Die Burg wurde dann mancherorts von der Bürgerschaft zerstört. Die suburbiale Siedlung ist im Grundriss durch ein Straßen- und Parzellennetz geordnet und weist einen Straßenmarkt oder einen Marktplatz auf. Sie kann topogra sch nach einer Handwerker- und einer Kau eutesiedlung differenziert sein. In späterer Zeit, etwa seit dem 12. Jahrhundert, ist die Siedlung befestigt. Sie baut ihre Mauer an den Herrensitz an oder nimmt ihn in ihre Mauern auf und überwindet so den topogra schen Dualismus. Die ältere Stadt der ottonisch-salischen Zeit ist durch eine außerordentliche topogra sche Vielfalt gekennzeichnet. Bischofssitze, große Klöster und Stifte wurden seit dem 9. Jahrhundert durch Wälle oder Mauern gesichert und rechtlich abgegrenzt. Den Bischofssitzen (civitates), die sich innerhalb römischer Städte und Kastelle befanden, boten teilweise noch erhaltene, ausgebesserte oder erweiterte Mauern Schutz wie in Köln, Straßburg, Augsburg oder Regensburg; gelegentlich wurde die ökonomisch geprägte Niederlassung einbezogen. Das castrum gab in einigen Fällen den Gassen der Stadt die lange beibehaltene Richtung. In Köln haben sich über die Zerstörung der Jahrhunderte hinweg aus römischer Zeit die Hohe Straße, die Breite Straße und die Schildergasse in ihren alten Fluchtlinien erhalten. Innerhalb der Stadt bildet der ummauerte Dombereich einen rechtlichen Sonderbezirk, eine geistliche Immunität, die außer dem Bischof die Domherren beherbergt und in der ferner im Wirtschaftsbereich die Leute wohnen, die im Dienst der Geistlichkeit stehen. Die Domherren gingen später dazu über, das klosterähnliche gemeinsame Leben (vita communis) aufzugeben und innerhalb der Mauern des Dombezirks in so genannten Kurien ihren Wohnsitz zu nehmen. Immunitäten sind ferner in der Stadt angesiedelte und gleichfalls ummauerte Klöster und Stifte. Diese Immunitäten erhielten vielfach zur Stützung eines vorhandenen Marktes vom König Zoll und Münzrecht verliehen, die

137 L. S, Art. »Wik/-orte«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. IX, München 1998, Sp. 96–98.

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unter die Regalien fallen. In ottonischer Zeit wurde der Markt selbst zu einem Regal und konnte als ein Königsrecht nur noch vom König verliehen werden. An weiteren rechtlichen Sonderbezirken befanden sich etwa in Regensburg Ende des 11. Jahrhunderts fünf Höfe auswärtiger Bischöfe, sieben Höfe auswärtiger Klöster und fünf Grafenhöfe, die später teilweise in Klosterhöfe umgewandelt wurden. Auch diese Höfe geistlicher Institutionen und weltlicher Herren, die auch in anderen Städten anzutreffen sind, stellen Immunitäten dar und wurden später deswegen Freihöfe genannt. In einigen Städten waren Kommenden des Deutschen Ordens und der Johanniter angesiedelt. Verschiedene Siedlungsbereiche, die topogra sch und baulich sowie in ihren Funktionen gegeneinander abgehoben sind, unterschiedliche Rechtsstellungen des Bezirks oder von Bevölkerungsgruppen besitzen, fügen sich in mehr oder weniger dichter Gruppierung durch Zusammenwachsen zum Gesamtbild der Stadt. Neben dem Herrensitz des Königs oder Bischofs nden sich eine Siedlung abhängiger Handwerker und der häu g nach landsmannschaftlicher Herkunft gegliederte Bereich der privilegierten und freien Kau eute wie in Hildesheim, Goslar oder Köln, die Judensiedlung, (ummauerte) Klöster und Stifte, die teilweise eine eigene Siedlung zinsp ichtiger Handwerker aufweisen, Höfe auswärtiger Prälaten und weltlicher Herren. Der gesamte Komplex ist noch nicht von einer großen Mauer umgeben; nur kleinere oder weitläu gere Teile sind durch Befestigungen gesichert. Es handelt sich um eine »gewachsene« Stadt, die sich jedoch nicht lediglich organisch entwickelt oder biologisch-vegetativ wuchert, sondern deren Wachstum durch neue Siedlungsanlagen und Erweiterungen durchaus auf zweckmäßigen Entscheidungen und Planungsabschnitten beruht.

1.5.1.2 Gründungsstädte Auf der anderen Seite lehnten sich die Gründungsstädte seit der Stauferzeit fast durchweg an eine bereits bestehende präurbane Siedlung mit Burg, Kloster, Herrenhof oder Dorf an, wobei häu g die vorhandene Siedlung durch grund- oder landesherrliche Initiative und Mitwirkung sowie mit nanziellen und technischen Mitteln in der Bebauung – mit Ummauerung, Stadtbach, Steinbau, Gassenraster und Parzellierung – städtisch zu nennend umstrukturiert und meist vergrößert (Villingen, Winterthur) oder verlegt wurde und in diesem Fall ihre Reste später auch den Namen Altstadt erhielten.¹³⁸ Oder es wurde eine neue städtisch strukturierte Siedlung neben einer bestehenden errichtet (Burgdorf, Freiburg i. B.). Es gab aber auch Stadtgründungen auf neuem, zuvor noch nicht besiedeltem Gelände, aber – abgesehen von den Kolonisationsgebieten – nicht in Isolation, sondern auf Altsiedelland und in der Nähe von bestehenden siedlungstopogra schen Elementen und herrschaftsrechtlichen Strukturen. Stadtgründungen im Sinne von Neustädten wurden auch an ältere Siedlungskomplexe angeschlossen, die bereits Stadtcharakter besaßen (Braunschweig). Der Grundriss der planmäßig angelegten Gründungsstadt oder der planmäßigen Stadterweiterung enthält folgende Elemente:¹³⁹ 1. Die zu Blöcken zusammengefügten Hofstätten (Hausstellen, Parzellen, areae). Die gegen Zins ausgeteilten Hofstätten fügen sich in einfacher oder doppelter Reihung zu Blöcken zusammen, die in der Regel allseitig von Straßen oder Gassen umschlossen sind. Bei einfacher Reihung ist die Hauptfront mit den Wohngebäuden nach einer Seite hin ausgerichtet; auf dem rückwärtigen Teil liegen meist Nebengebäude. Später wird die Rückfront häu g mit Wohnhäusern besetzt. 2. Das die Parzellenblöcke erschließende Straßensystem mit dem Markt. Das Straßensystem ist so angeordnet, dass die Straßen-

138 H. F, Die Siedlungsverlegung im Zeitalter der Stadtbildung; ., Burgbezirk und Stadtgebiet. 139 C. M, Kleine Kunstgeschichte, S. 70–86.

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enden auf beiden Seiten mit anderen Straßen verknüpft sind und das Straßennetz dadurch an jeder Stelle voll durchgehbar ist. In Verbindung mit einem Gefällesystem ist das Straßensystem für Wasserversorgung und Entwässerung von Bedeutung. Folgende Grundformen des Straßensystems sind erkennbar: a) Das Einstraßensystem, an das auf beiden Seiten je eine Hofstättenreihe gelegt ist. b) Das Querrippensystem, bei dem eine Hauptstraße auf beiden Seiten schmälere Gassen aussendet. c) Das Parallelstraßensystem. Werden die Enden zusammengeführt, ergibt sich eine Spindelform. Werden die beiden Straßen mit schmaleren Querrippen versehen, ergibt sich eine Leiterform. d) Das Rastersystem (Gitter-, Schachbrett-, Quadratblocksystem), das gedrungene, bisweilen quadratische Hofstättenblöcke umschließt. e) Das Hauptstraßenkreuz. Es handelt sich jedoch in den wenigsten Fällen um einen originären Typus. Vielfach liegt nur eine einfache Straßenkreuzung vor, oder es ist an eine Entwicklung in Etappen zu denken. Das sogenannte Zähringerkreuz ist nur in Villingen und Rottweil vor ndlich, wobei Rottweil als Zähringergründung urkundlich nicht gesichert ist. f ) Sonderformen wie in München, Neustadt Braunschweig, Neustadt Brandenburg oder Wiener Neustadt. An Märkten sind – bei ießenden Übergangen – zu unterscheiden: a) Der Straßenmarkt als eine von vornherein breiter angelegte Straße. b) Der Marktplatz als ein von vier Straßen begrenzter Block, der in vielen Städten am Rand oder in der Mitte durch Markt- oder Rathausbauten teilweise überbaut ist. 3. Den forti katorischen Stadtumriss, der die Siedlung mit Bezug auf das Straßennetz begrenzt. Der Stadtumriss ist zunächst abgerundet; seit der Wende zum 13. Jahrhundert wächst

die Tendenz zur geradlinigen Mauerführung mit scharfkantigen Ecken. 1.5.1.3 Siedlungsareal und Befestigung Wien besaß um 1200 bereits ein mit der 1192 begonnenen, aus Lösegeldzahlungen König Richards von England in Höhe von 50 000 Mark Silber nanzierten großen Ringmauer umgebenes Areal, das für 650 Jahre bis zur Stadterweiterung von 1850 ausreichte. Um 1500 gab es 1 300 Häuser mit bis zu drei Stockwerken in der Stadt und 900 in der Vorstadt. Im Spätmittelalter wurden vor allem die Stadterweiterungen des Hochmittelalters durch Vorstädte und Neustädte fortgesetzt. Durch Einbeziehung von freien Flächen und Vorstädten erhielten viele Städte, wie etwa Köln, Ulm, Regensburg, Nürnberg und Basel, ein Areal, das bis ins 18. und 19. Jahrhundert völlig zureichte. In Nürnberg waren um 1250 die beiden Stadtteile, die Sebalder Stadt (47,9 Hektar) und die nach 1140 entstandene Lorenzer Stadt (23,3 Hektar), jeweils für sich mit Mauer und Graben befestigt. Unter dem Eindruck der Kriege zwischen den Gegenkönigen Ludwig dem Bayern und Friedrich von Österreich ließ der Rat 1320–1325 beide Stadtteile durch über die Pegnitz geführte Mauern miteinander verbinden. Dadurch wurden 7,8 Hektar Fläche neu umschlossen, sodass die Gesamt äche nunmehr 79,2 Hektar betrug. Unter dem Druck des drohenden Städtekrieges wurde 1384 und in den folgenden Jahren eine zweite Stadtmauer angelegt, welche die Vorstädte umfasste und einen Zugewinn von etwa 82 Hektar an Fläche brachte. Die Gesamt äche betrug nun etwa 161 Hektar und wurde bis zum Ende der reichsstädtischen Zeit beibehalten. Augsburg bezog 1295 die nördliche Vorstadt mit drei Stiften in die Stadtumgrenzung ein und erweiterte dadurch das Stadtgebiet von etwa 83 auf 126 Hektar, ohne das neue Areal sofort mit einer Ringmauer zu versehen. Ulm vollendete zwischen 1330 und 1378 in der Hauptsache seine seit dem 11. Jahrhundert nunmehr dritte, 1316 begonnene Befestigung. Der Mauerumfang betrug jetzt 3,35 Kilometer und umschloss in dieser Neukonzepti-

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on des Stadtumrisses eine um das Vierfache des bisherigen Umfangs erweiterte Siedlungs äche von jetzt 66,5 Hektar. Diese großzügig geplante Ausdehnung, die eine Steigerung der Einwohnerschaft von 4 000 bis 7 000 Einwohner in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts auf 15 000 bis 20 000 Einwohner im 16. Jahrhundert leicht verkraftete, prägte die Größe der Stadt bis weit ins 19. Jahrhundert. Nicht wenige Städte besaßen im 14. Jahrhundert eine ummauerte Siedlungs äche, die erst im 19. Jahrhundert überschritten wurde. Kaiser Ludwig der Bayer erlaubte 1333 Frankfurt die Erweiterung der Stadt auf die dreifache Fläche und den Bau einer neuen Stadtbefestigung, die nun auch die über die alte Mauer hinausreichende vorstadtartige Bebauung schützte, wodurch der Raumbedarf weit über das Mittelalter hinaus befriedigt war. Die im ersten Drittel des 13. Jahrhundert fertiggestellte stau sche Mauer hatte eine Fläche von etwa 40 Hektar umschlossen. Viele Kaufmannsund Patrizierfamilien zogen nun von der Altstadt in die Neustadt und errichteten dort großzügige Wohnsitze, wie auch das Tuchgewerbe in der Neustadt genügend Raum fand. Karl IV. erweiterte 1348 die Prager Altstadt (160 Hektar) um die mehr als doppelt so große, riesige Neustadt (360 Hektar), wenig später auch die Kleinseite und ihre Befestigung, sodass die Prager Städte zu den räumlich größten Städten Europas gehörten. Visby verfügte im 13./14. Jahrhundert über eine Mauer von 3,4 Kilometern Länge mit 38 Türmen, die eine Fläche von 90 Hektar zu schützen hatte. Die Stadt Basel, die von der ersten Pestwelle heimgesucht und 1356 durch ein Erdbeben mit nachfolgenden Bränden zu einem großen Teil zerstört worden war, begann 1362 ihren alten Mauerring zu erweitern und die Vorstädte zu befestigen. Die 1398 vollendete äußere Ringmauer war auf einer Gesamtlänge von 4,1 Kilometern mit 41 Türmen besetzt. Durch die Vorstädte wurde die Gesamt äche der Stadt auf 106,65 Hektar erweitert, nachdem die Altstadt nur eine Fläche von 36,7 Hektar aufgewiesen hatte. Die Ausdehnung der Mauer dürf-

te bei einer Bevölkerung von etwa 8 000 Einwohnern Mitte des 15. Jahrhunderts zu einem eher ungünstigen Verhältnis zwischen Mauerlänge und Verteidigungskraft geführt haben, zumal die Qualität des Bauwerks von Zeitgenossen wie Aeneas Silvius für gering erachtet wurde. Gewonnen wurden durch die Einbeziehung von Vorstädten allerdings ein größerer Fluchtbezirk für die Umgebung und Flächen für Nahrungsproduktion bei Belagerung und anderen Konikten mit der Umwelt. Viele der Erweiterungen konnten durch Bebauung und Besiedlung überhaupt nicht mehr richtig gefüllt werden. Wenn andererseits in der spätantiken Kaiserresidenz Trier im 4. Jahrhundert vielleicht 60 000 Einwohner lebten, um 500 aber nur noch 5 000 auf der alten Fläche von 285 Hektar, konnten große Teile der immer noch ummauerten civitas im Zuge einer vom Niedergang bewirkten Rustikalisierung landwirtschaftlich genutzt werden, wie es auch in anderen spätantiken Städten der Fall war. Der im 12. und 13. Jahrhundert schrittweise erfolgte Bau einer neuen Stadtmauer folgte teilweise der antiken Ummauerung, reduzierte jedoch das Siedlungsareal auf 138 Hektar, sodass agrarisch genutzte Flächen wieder für die im Hochmittelalter wachsende Bevölkerung bebaut wurden. Entgegengesetzt verlief die Siedlungsentwicklung Kölns. Die kurz nach 50 n. Chr. errichtete monumentale römische Steinmauer mit einer Länge von 3 912 Metern umschloss ein Areal von 96,8 Hektar. Erzbischof Bruno († 965) ließ einen längst versandeten Rheinarm zuschütten und überbauen und erweiterte dadurch die besiedelte Fläche auf 122 Hektar. Die fast quadratische römische Stadtmauer wurde 1106–1141 durch Einbeziehung von Vorstädten, die sich als Ausbuchtungen an drei Seiten um die Kirchen St. Georg, St. Ursula und St. Kunibert sowie St. Aposteln gebildet hatten, um 80 Hektar erweitert, sodass nunmehr eine Fläche von 202 Hektar umschlossen wurde. Nahezu eine Verdoppelung der Siedlungsäche auf nunmehr 401 Hektar bei geschätzten 20 000 Einwohnern brachte die neue halbkreisförmige, in stau scher Zeit 1179/80 be-

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gonnene Ummauerung. Damit besaß das Stadtgebiet seine größte Ausdehnung mit ausgedehnten Flächen insbesondere für Weinanbau und etwa 8 000 Gebäuden im Spätmittelalter. Ausgangs des 17. Jahrhunderts waren noch 30 Prozent des Gebiets agrarisch genutzte Flächen, und erst 1881 wurde der Ring durchbrochen, weil er durch Industrialisierung und Bevölkerungswachstum zu eng geworden war. Der Vorgang der Stadterweiterung und die Bereitstellung eines weiteren, besitzrechtlich gebundenen Areals sind im Falle Duderstadts genauer dargestellt. Der Mainzer Erzbischof Dietrich von Erbach und das Domkapitel gestatten 1436 in einem besonderen Gnadenakt dem Rat und der Gemeinde auf deren Bitte hin die Stadt zu erweitern und sich mit der Neustadt zu einer einzigen Stadt mit gleichen Freiheiten sowie einem gemeinsamen Rat und einer einzigen Gemeinde zu vereinen.¹⁴⁰ Der Rat hatte vorgebracht, die Stadt sei wegen ihrer Enge und dem engen Häuserstand in der Vergangenheit mehrfach von großen Bränden heimgesucht worden. Der Stadtherr erlaubt die Erweiterung der Stadt und den dafür notwendigen Bau von Toren, Gräben, Türmen, Mauern und anderen Befestigungen von der Vorstadt, wo sich der erzbischö iche Vogtshof, ein weiteres Flurstück mit Höfen und Äckern und andere zinsp ichtige, dem Stift zu Lehen rührenden Höfe befanden, bis zum äußersten Graben an der Feld ur. Die Stadtmauer, welche die Stadt von diesem neuen Areal trennte, durfte abgebrochen, der Graben aufgefüllt werden, damit eine einzige Stadt entstehen könne. Da sich das neue Areal aus verschiedenen Liegenschaften mit unterschiedlichen Besitzrechten und Zinsbelastungen zusammensetzte, nahm der Erzbischof eine gewisse Vereinfachung vor, indem er ein verpfändetes Flurstück mit Zehntp icht sowie mehrere Lehenszinse von stiftischen Höfen, die in Händen von Bürgern lagen, zwei Duderstädter Geschlechtern und einen Teil des stiftischen Vogt-

hofs mit reduzierter Zinslast der Stadt übereignete, dann alle Güter der Bürger dem Rat vorbehaltlich deren Rechte als Lehen übertrug. 1.5.1.4 Vorstadt Die Vorstadtanlage¹⁴¹, die in einigen Fällen eine eigene Befestigung erhalten hatte, bevor sie in den erweiterten Mauerring einbezogen wurde, zeichnet sich durch eine im Vergleich zu den älteren Teilen der Stadt erheblich schwächere Besiedlung, eine lockere Bebauung und einfachere Bausubstanz aus. Sie enthielt freie Flächen, die zum Getreideanbau, für Gartenkulturen, Rebkulturen und zur Weidewirtschaft genutzt wurden. Hier fanden sich Höfe mit Scheunen, Ställen, Heu- und Lagerräume und kommunale Speicher. Hier besaß die Oberschicht Gärten und Gartenhäuser. Es war Platz für die Anlage von Mühlen, Bleichen, Färbereien, von Gewerben, die man aus polizeilichen Gründen wegen Lärm- und Geruchsbelästigung und Feuergefahr in der inneren Stadt ungern duldete, oder für die Ansiedlung von Textilgewerbe. Die Wasserläufe der Vorstädte waren durch die Abwässer der Gerber und des städtischen Schlachthauses verunreinigt und bildeten Infektionsherde. In der Vorstadt befanden sich auch die Richtstätte und ein Platz für die Schützen der Stadt, auf dem sie üben konnten. Ferner nahmen die Vorstädte Fremdenherbergen, Spitäler, insbesondere Leprosorien, und Klosteranlagen auf, wie andererseits Klöster und kirchlicher Grundbesitz zur Vorstadtbildung beitrugen. In den Vorstadtbereichen gingen Stadt und Land oft ohne deutliche Abgrenzung ineinander über. Als Siedlungstypen gab es Vorstädte mit unmittelbarem topogra schem Anschluss an die Stadt und solche, die aus ursprünglich selbständigen Dörfern und Weilern in einer gewissen räumlichen Distanz gebildet wurden. Die Vorstädte waren meist rechtlich benachteiligte Teile der Stadt, die ›mindere Stadt‹ wie etwa Kleinbasel, nur im Ausnahmefall wie in Stuttgart die

140 B.-U. H (Hg.), Quellen zur Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 63, S. 416–421. 141 E. M/J. S (Hg.), Stadterweiterung und Vorstadt; K. B, Altstadt – Neustadt – Vorstadt; K. C, Vorstädte; H. K, Stadterweiterung und Vorstadt. Zum Forschungsstand und mit Erörterung der Begriffe: A. B, Stadt, Vorstadt und Stadterweiterung.

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›reiche Vorstadt‹. In den Vorstädten lebten die Leute mit geringem Steuervermögen, vor allem Knechte, Arbeiter, Tagelöhner und Stümpler, auf die man in Arbeitsspitzen zurückgriff. Sie wohnten in Buden, Gartenhäusern, Scheunen und Behelfshütten. Hier fand auch kriminelles Gelichter Unterschlupf. Nürnberg errichtete im ausgehenden 14. Jahrhundert in den neu ummauerten Vorstädten Gassen mit hohen Kleinwohnungshäusern für Arbeiter. 1.5.1.5 Gemarkung Vor den Mauern der Stadt lag die Stadt ur, auch Stadtbann genannt, die Zone der im Grundbesitz der Stadt be ndlichen Feldmark mit Vorstädten, Allmenden, landwirtschaftlich genutzten parzellierten Gärten, Wiesen, Äckern und Waldungen. Über diese städtische Gemarkung übte die Stadt in ihrer Eigenschaft als Herrin über Grund und Boden mit Zwing und Bann die niedere Gerichtsbarkeit aus. Dieser Niedergerichtsbezirk bis zur Mauer stellte oft den Bereich der Stadtverbannung dar, so etwa bei schuldrechtlicher Zahlungsunfähigkeit. Ferner erstreckte die Stadt auf die Gemarkung meist den Stadtfrieden und dehnte auf sie im Falle größerer Städte zugleich den Hoch- und Blutgerichtsbezirk aus. Die städtische Gemarkung gehörte zu dem ursprünglichen wirtschaftlichen Bereich, in dem der städtische Rat Abgaben erhob, zum Vorteil der Stadtbürger Handel und Gewerbe reglementierte, eventuell den Zwischenhandel oder den Handel überhaupt verbot und Gewerbebetriebe unter seine Kontrolle brachte, um städtische Anlagen von Konkurrenz zu befreien. 1.5.1.6 Altstadt und Neustadt – Topogra e Weist schon die Altstadt oder die innere Stadt, die volles Stadt- und Bürgerrecht besitzt und auch die echte Stadt oder Rechtstadt genannt wird, topogra sche und siedlungsmäßige Vielfalt auf, so wird sie durch Stadterweiterungen und Neubildungen noch angereichert.¹⁴² Die

Altstadt ist dann im Sinne der Quellensprache (vetus oppidum) die zum Zeitpunkt der (jeweiligen) Erweiterung (jeweils) bestehende Stadt. Durch die Neustadt werden neue, rechtlich unselbständige und integrierte Stadtquartiere erschlossen. Zu unterscheiden sind davon die seltenen Fälle von Neustädten, die wie im Falle Brandenburgs an der Havel rechtlich selbständig sind. Vorstädte, sind rechtlich unselbständig und besitzen häu g nur einen geminderten rechtlichen Status, können aber über sondergemeindliche Organisationsformen verfügen. Wo in den Quellen von Vorstädten die Rede ist, die jedoch eine eigene Verfassung und einen eigenen Rat haben, kann man wie bei selbständiger Altstadt und Neustadt von Doppelstädten sprechen. Topogra sche Vielfalt und einen topogra schen Polyzentrismus weist Regensburg auf, in dem römisches Kastell, Bischofssitz, Pfalz und Kloster St. Emmeram als herrschaftliche Kerne zusammenkommen. In Lübeck lassen sich der Burgbezirk, die ältere Kaufmannssiedlung am Petrihügel, die Domimmunität (anstelle der schauenburgischen Kaufmannsniederlassung), die planmäßige Anlage aus der Zeit Heinrichs des Löwen mit Markt, Rathaus und Pfarrkirche sowie mehrere gegeneinander abgrenzbare Erweiterungen deutlich unterscheiden. Wahrscheinlich sind in die Gründung Heinrichs des Löwen (1158/59) teilweise Vorgängersiedlungen aus slawischer und schauenburgischer Zeit aufgegangen. Braunschweig bestand aus fünf Weichbilden. Zu der zuerst bestehenden Alten Wiek (vor 1031) und der von Lothar III. um 1130 gegründeten Altstadt errichtete Heinrich der Löwe 1160 den Hagen, Ende des 12. Jahrhunderts und um 1300 kamen die Neustadt und Sack hinzu. Die ursprünglichen Siedlungskerne sind die Burg (10. Jahrhundert) und der ihr vorgelagerte Burg ecken, der Dom (um 1030), ein Rastort um St. Jakobi, eine Kaufmannsniederlassung bei St. Nicolai, ein Markt ecken

142 H. G, Stadtgestaltungsforschung; H. S, Stadtformen und städtisches Leben; G. P. F/R. H, Die Topographie der Stadt Lübeck.

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bei St. Ulrich (vor 1038), eine Klostersiedlung bei St. Ägidien (1115), eine Dorfsiedlung bei St. Magni (1031), die planmäßig angelegte Altstadt um St. Martini (1180–90) mit späteren Erweiterungszellen und die beiden Neustädte um St. Andreas (um 1150) und St. Katharinen (um 1200). Im Jahre 1269 einigten sich die drei Städte Altstadt, Hagen und Neustadt darauf, einen Gesamtrat und eine Kasse für eine Gesamtstadt einzurichten, doch unterband der Gildeaufstand von 1293 die Anfänge eines Zusammenschlusses. Obwohl später ein Gesamtrat geschaffen wurde, blieben im 14. und 15. Jahrhundert die besonderen Räte der fünf Weichbilde erhalten. Der karolingische Bischofssitz Hildesheim erhielt um 1000 eine erste Domburgmauer und bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts vier im Kreuz dazu liegende Stiftsimmunitäten. Aus dem Altenmarkt, einer zweizeiligen Kau eutestraße, erwuchs das Marktviertel um die Bürgerpfarre St. Andreas. Von ihm aus wurde um 1220/30 planmäßig die ovale Altstadt mit einem neuen Marktzentrum angelegt. Gegen 1196 entstand an dem durch die Niederung der Innerste erbauten Damm auf dem Grund des Moritzstifts eine zweite Stadtanlage, die von Niederländern besiedelt wurde. Um 1215 ließ das Domkapitel einen anderen selbständigen Bürgerverband im Südosten eine weitere Anlage, die Neustadt, errichten. Jede der drei Bürgergemeinden besaß eigenes Recht, ein eigenes Ratskollegium, eine eigene Pfarrkirche und eine eigene Stadtmauer. Der wirtschaftlich und nanziell übermächtigen Altstadt, die seit Mitte des 13. Jahrhunderts Bündnisse mit den Nachbarstädten Goslar, Hannover, Hameln und Höxter einging und sich mit der Hanse verband, gelang es, den Bischof aus allen seinen weltlichen Positionen zu verdrängen. Weihnachten 1332 überelen die Bewohner der Altstadt aus wirtschaftlicher Rivalität und nach ständigen Auseinandersetzungen die Dammstadt und vernichtete sie samt Nikolaipfarre vollständig. Die Neustadt ordnete sich der Altstadt völlig unter und erhielt erst 1383 einen minderheitlichen Anteil am Rat; erst 1806 wurde sie gleichberechtigt.

Im Gegensatz zu Hildesheim waren zwar die Nürnberger Städte, St. Sebald mit Sebaldsgrab als Wallfahrtsziel und Burg und die von den Staufern seit 1140 am südlichen Gegenufer der Pegnitz angelegte Lorenzer Stadt, topogra sch völlig selbständig und hatten zunächst getrennte Befestigungen, doch bildeten sie nach dem Ende der Staufer und mit ihrer allmählichen Lösung vom stadtherrlichen Königtum eine verfassungsrechtliche Einheit unter einem Rat. In der 1243 unter König Wenzel I. gegründeten Prager Altstadt (Größere Stadt) mit vorwiegend deutscher Bevölkerung galt süddeutsches Stadtrecht, während die 1257 von Otakar II. Přemysl am linken Moldauufer unterhalb der Burg gegründete Stadt, die Kleinseite, Kleinstadt oder Neustadt hieß und in der wegen der Vertreibung der vorherigen Bewohner zunächst nur Deutsche lebten, Magdeburger Recht erhielt. Die Altstadt mit doppelter Mauer und Graben zerschnitt mehrere Siedlungen und wies noch unbebaute Flächen auf; sie enthielt zeitweise, bis zur Vereinheitlichung der Stadtrechte um 1287, die darin gegründete Novacivitas circa s[anctum] Gallum als selbständige Rechts- und Verwaltungseinheit und umfasste in ihrer endgültigen Ausdehnung eine Fläche von etwa 140 Hektar. Sie wurde von einer etwa 1 700 Meter langen Mauer mit 13 Türmen und Toren umgeben, war aber an der Flussseite nur leicht befestigt. Beide Städte führten eigene Siegel und entwickelten, seit Beginn des 14. Jahrhunderts erkennbar, jeweils eigene kommunale Regierungen. Hinzu kam die vor 1320 vom Burggrafen unmittelbar westlich der Burg angelegte abhängige Hradschin- oder Burgstadt. Karl IV. gründete 1348 eine Neustadt, die mit einer Fläche von 360 Hektar die Altstadt umfasste und entlastete. Bemühungen um eine Vereinigung mit der Kleinseite, die von Karl IV. und danach unternommen wurden, blieben im Mittelalter ohne Erfolg. Im Unterschied zu den zuvor betrachteten Städten treten in Stralsund, dem hansischen Haupthafen Vorpommerns, monumentale Kirchenbauten als Siedlungskerne an die Stelle der hier fehlenden Kirchenburg oder Kö-

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nigspfalz. Das Ortsbild ist dreifach gegliedert in die Nikolai-Altstadt mit dem Altmarkt und in zwei Erweiterungen, die erste um die Jakobikirche und die spätere, die Neustadt, um St. Marien. Der Grundriss weist ein klares Rasterbild auf. Von den 10 Türmen im Steinbering aus dem späten 13. Jahrhundert sind allein 6 auf die Schiffsbrücken des Hafens ausgerichtet. Sie dienen als Kopf- und Kontrollstationen für die 6 Parallelstraßen, die in damals höchst moderner Organisation den Umschlag aufnehmen, der auf den 6 Schiffsbrücken und auf dem Hafengelände vor der Mauer bewerkstelligt wird. Diese Anlage ist charakteristisch für hansische Ostseehäfen von Lübeck bis Visby. Bereits im 13. Jahrhundert wurden die damaligen beiden Stadtteile von einem Rat geleitet, der 1334 nunmehr auch von der Neustadt zu einem Drittel besetzt wurde. 1.5.2 Grundriss und Aufbau Der Stadtplan ist ein durch vielfältige Funktionen, ein geogra sch, verkehrsgeogra sch, siedlungstechnisch, verteidigungsstrategisch, wirtschaftlich, sozial, rechtlich, kultisch-religiös und kulturell bestimmtes Gebilde. Als Standorte, die den Grundriss mit formten, wurden zumeist ein Flussufer, eine Stelle, wo eine Furt oder ein Brückenschlag den Übergang über den Fluss ermöglichten, oder zur besseren Verteidigung die Hügellage gewählt. Vor allem die aus der Antike überkommenen Städte liegen am Fluss. Häu g ist auch die Stadtlage am Fuße eines Berghügels. Ferner kommen die Hang-, Sporn-, Insel- und Tallage oder die Lage an einer Meeresbucht vor. In Grundriss und Aufbau stadtprägende rechtlich-soziale und wirtschaftliche Elemente sind: 1. Das kirchlich-geistliche Element mit Dom, Bischofssitz, Kloster- und Stiftsanlagen, Domund Stiftsherrenhäusern (Kurien) und Spital; mit eigenen hofrechtlich und grundherrschaftlich geordneten Wirtschaftseinheiten.

Auswärtige, oft weit entfernt gelegene alte Orden wie die Benediktiner und die besonders wirtschaftlich aktiven Zisterzienser unterhalten in einer Vielzahl von Städten innerhalb der Mauern, aber mit gefreitem, exterritorialem Status Klosterhöfe, die auch P eghöfe genannt wurden, mit Kapellen, Wohnbauten und Wirtschaftsbauten mit Speichern, Wirtschaftseinrichtungen und Ställen, wobei vielfach die Speicher wegen der Handelsfunktionen der Wirtschaftshöfe herausragen.¹⁴³ Die größte Zahl dieser Höfe wird im 13. Jahrhundert und im Verlauf des 14. Jahrhunderts in Randlage, aber nicht nur dort, angelegt. Als Steinbauten nahe der Mauer waren sie von verteidigungsstrategischem Nutzen. Die Niederlassungen der Bettelorden fügen sich bereits in die bürgerliche Bauordnung ein. Das kirchliche Element der Pfarrkirche hat insoweit bürgerlichen Charakter, als die bürgerliche Stadtgemeinde die Rats- oder Pfarrkirche erbaut und teilweise weltlich nutzt, den Pfarrer wählt und das Kirchenspiel weltliche Verwaltungsaufgaben übernimmt oder die bürgerliche Gemeindestruktur in umfassenderem Sinne prägt (Parochialverfassung). Das Spital gerät unter kommunale Aufsicht und Verwaltung. 2. Die adlig-feudale Herrschaft mit Burg, Pfalz, dazugehörender Villa (Gutshof, Bauhof ), Burgmannen- und Ministerialensiedlung und gefreiten Adelssitzen; mit Zollstätte und Münze. Vieles davon geht in kommunale Hand über. 3. Das bürgerliche Element mit Rathaus, Kaufhaus, Markt und Marktbauten, Hafenanlagen, Bürgerhäusern, Zunfthäusern, Trinkstuben, Tanz- und Festhäusern, Badehäusern, Herbergen, Vorratsspeichern, Zeughaus, Mühlen, Kränen und anderen Wirtschaftsbauten, Brunnen, Mauer, Toren und Türmen. Markt, Kaufhaus und Mauer beruhen jedoch auf königlichen Rechten, dem Markt- und Zollregal und der königlichen Befestigungshoheit, die nach unten an die

143 G. S, Die Zisterzienserstadthöfe in Köln; W. H/J. C, Klosterhöfe in norddeutschen Städten (5).

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nichtköniglichen Stadtherren weitergegeben werden. Das Areal ist stadtherrlich. Die Stadt konnte im Hinblick auf den weltlichen oder geistlichen Stadtherrn und dessen herrschaftliche Präsenz oder Ferne dominant bürgerlich (Nürnberg, Lübeck), dominant kirchlich (Würzburg) geprägt sein oder entsprechend den Veränderungen in der Stadtherrschaft eine Mischprägung (Augsburg) aufweisen. Bevor in spätstau scher Zeit die Gotik über den Kirchenbau in die Stadt einzog und auch die bürgerliche Architektur formte, setzte sich der topogra sche Dualismus zwischen Burg (Kirchenburg) und bürgerlicher Siedlung in ottonisch-salischer Zeit in einem nie schärfer nach Maßstab und Form herrschenden baulichen Gegensatz zwischen kirchlichem Kultbau und bürgerlicher Siedlung fort.¹⁴⁴ Monumentale Steinkirchen überragten die Siedlung, die in ihrem Gesamtbild von eingeschossigen, überwiegend einräumigen, strohgedeckten Holzhäusern in Form von Pfostenhäusern oder Blockhäusern (Osten) bestimmt war. Die Umwallung war nicht selten in einer Konstruktion aus Holz und Erde ausgeführt, innerhalb der Siedlung gab es holzbefestigte Wege. Mit der Wende zum 12. Jahrhundert und während der Stauferzeit, mit dem konstruktiven Gesamtplan der Gründungsstadt, der eine Zusammenschau von Grundriss und Aufriss (Aufbau) erforderte, und vor allem auch mit dem Wandel im Hausbau begann die bürgerliche Bautätigkeit zu den Einzelunternehmen des Burgen-, Kirchen- und Klosterbaus aufzuschließen. Das Bürgerhaus gewann im oberund niederdeutschen Typus Kontur. Die Oberschicht begann in teurem und dauerhaftem Stein zu bauen. In Stein wurden jetzt die Pfarrkirchen ausgeführt; die Steinbefestigung breitete sich aus; Straßen und Plätze wurden gelegentlich schon gep astert. Es entstanden bürgerliche Bautypen, der Hallenbau des Kaufhauses und wenig später das multifunktionale Rathaus. Die Stadt wird im Spätmittelalter in ihrem Aufbau zur gotischen Stadt. Architektonisch

konvergieren nunmehr Profanbauten und die – freilich in ihren Dimensionen abgehobenen – monumentalen und gedanklich überhöhten Sakralbauten hinsichtlich der multifunktionalen Bauform des Hauses, des einfachen Kubus mit Dach, und hinsichtlich der Gliederung, wobei sich die eng gestellten Strebepfeiler und Strebebögen der Kirchen und die gleichmäßig gegliederten Reihen der spitzgiebeligen Bürgerhäuser entsprechen. Die Entsprechungen setzen sich fort in der Fassadengliederung der Fachwerkund Steinhäuser, in Detailformen und in der Ornamentik, die jetzt mit dem gleichen kunstgeschichtlichen Vokabular beschrieben werden können. Zur Grundform des Hauses tritt die häu g in das Stadtsiegel aufgenommene Machtund Repräsentationsform des Turmes hinzu, der den Mauerzug gliedert, aber auch als Wohnund Repräsentationsturm in den Bauten der städtischen Oberschicht in Erscheinung tritt. Der malerische Anblick, den die spätmittelalterliche Stadt in ihrem Aufbau bietet, das Gewirr gekrümmter und oft zu Tor und Mauer hin vereinigten Gassen, die Plätze, die gebrochenen Straßen uchten, das Vorspringen oder Zurücktreten einzelner Grundstücke, die Häuser mit Erkern und Vorbauten, der Abschluss von Straßen durch Kirchenfassaden oder Markt- und Rathausbauten, die planvoll angelegten Türme, Tore und Gebäude, die auf die Straßen uchten hinführen – das alles ist nicht bewusst herbeigeführtes Ergebnis einer malerischen, auf Unregelmäßigkeiten abzielenden Ästhetik in der mittelalterlichen Stadtbaukunst. Der mittelalterliche Städtebau war zweckbestimmt und strebte im Allgemeinen nach klar überschaubaren Anlagen, er reagierte aber auch auf topogra sche Situationen und geologische Strukturen, trug unterschiedlichen Besitzverhältnissen, vorgegebenen Wegführungen und Gebäuden Rechnung, versuchte geradlinige Steigerungen zu vermeiden und nutzte bestimmte Gefällesysteme für die Rolle, die das Straßennetz für die Wasserversorgung und Entwässerung spielte.

144 Zum Folgenden C. M, Kleine Kunstgeschichte, S. 261–267.

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An gestalterischen Prinzipien, die, wenn auch nicht bewusst angewandt wurden, so doch in Erscheinung treten, werden von architekturgeschichtlicher Seite geltend gemacht:¹⁴⁵ – Die Kompositionsordnung nach dem Gestaltungsprinzip der »exakten« Geometrie, das sich abstrakt auf mathematische Gesetze gründet, oder der »optischen« Geometrie, die dasselbe Gestaltungsprinzip verfolgt, aber von der Gesetzlichkeit des Sehvorgangs des Auges geleitet wird und im Raumbild von Grund- und Aufriss kaum einen mathematisch rechten Winkel zeigt. – Die landschaftsgebundene Korrespondenz mit der Bodenformung. Abschnitte in der Bodenober äche werden durch leichtes Abknicken der Straßen ucht und durch Wechsel im Gefälle markiert. Selbst eine im Grundriss kaum bemerkbare Zäsur tritt, in normaler Augenhöhe gesehen, im perspektivischen Bild der Straße jedoch überraschend stark in Erscheinung. Mit dem Bruch in der Bau ucht (Horizontalvisierbruch) trifft immer ein Bruch im Gefälle der Straße (Längenvisierbruch) zusammen. – Die »monumentale Perspektive«. Durch ihre Lage und Stellung zwingen große Bauten den Blick, aufs Ganze und nicht aufs Einzelne zu gehen. Die ersten ausführlicheren, wenn auch noch sehr unvollständigen Bauverordnungen wurden im 14. Jahrhundert erlassen, als die Besiedlung dichter wurde und die Grundstücke stärker aneinander rückten. Während sich die Siedlungen der frühen Städte an einzelne Zentren, an Kirchen, Burgen, Märkte und Fernstraßen anlehnten, besaßen die Gründungsstädte als siedlungstechnische Grundlage ein Straßengerüst und eine rationale Grundstückseinteilung. Die Parzellengröße war in einigen Fällen verfassungsrechtlich festgelegt und gelegentlich an Einheiten des Arealzinses orientiert; sie blieb in der Regel sehr konstant und wurde eventuell nach einem Stadtbrand durch Zusammenlegung von

Parzellen vergrößert. Es ist anzunehmen, dass das Straßengerippe, die Bau- und Fluchtlinien oder die trauf- oder giebelseitige Häuserstellung, wenngleich sie nicht statutarisch festgelegt waren, so dennoch in den Maßnahmen des Städtegründers und der Gründungssiedler festlagen. Feste Bautraditionen dürften zunächst anstelle geschriebener Baurechtsvorschriften wirksam gewesen sein. Die Stadterweiterungen seit dem 14. Jahrhundert waren dann mit festen Planungen verbunden. Die Reglementierung, d. h. die Vereinheitlichung des Bauens durch Bauvorschriften, wurde gefördert durch die wiederholten Stadtbrände und die einheitlichen Vorschriften, die für den Wiederaufbau erlassen wurden. 1.5.3 Kommunales Bauwesen Unschätzbare Einblicke in das kommunale Bauwesen gewährt Endres Tuchers Baumeisterbuch der Stadt Nürnberg der Jahre 1464–1475.¹⁴⁶ Der Baumeister beschreibt die Befugnisse, P ichten und umfassenden Aufgaben seines Amtes und diejenigen seiner unmittelbaren, die Aufsicht führenden Untergebenen (Schaffer, Anschicker), ferner die Tätigkeit der von der Stadt beschäftigten mehr als 16 verschiedenen Handwerksmeister, der Gesellen, Lehrjungen und Arbeiter. Der Baumeister hatte dem Rat jährlich umfassend Bericht über die Baufortschritte und die Anzahl der beschäftigten Steinmetze und Zimmergesellen zu erstatten, während der Rat Auskunft über die geplanten Bauvorhaben im kommenden Jahr geben sollte, damit der Baumeister die Einstellung der erforderlichen Arbeiter planen konnte. Die Zuständigkeit des Baumeisters erstreckte sich auf die Instandhaltung und Reinigung der öffentlichen Gebäude, Brücken, Brunnen, Stege, Waschbänke, der Wasserläufe und des Grabens, ferner auf Maßnahmen gegen Überschwemmungen, die Aufsicht über den technischen Betrieb der Bauten, die Beschaffung von

145 Übersicht bei H. G, Stadtgestaltungsforschung. 146 M. L (Hg.), Endres Tuchers Baumeisterbuch. Siehe allgemein G. F, Bauen für die Stadt (1.5.1–1.5.2).

Stadtgestalt 99

Baumaterialien, die Straßenreinigung und die P asterung, die Leerung der heimlichen Gemächer, die Überprüfung der Ketten und Schlösser der Straßensperren. Tucher hatte für das Schaugerüst für die öffentliche Heiltumsweisung und die Ausstattung der Burg beim Besuch des Kaisers zu sorgen. Er ließ in seiner Amtszeit an Plätzen der Stadt zu ihrer Verschönerung 160 Linden und 40 Vogelbeerbäume p anzen. Im Außenbereich war der Baumeister für den Zustand der Wege, Gräben und Brücken und die Erhaltung der Landwehr zuständig. Tucher vereinbarte mit dem städtischen Waldhauer das Fällen bestimmter Bäume für die Gewinnung von Bauholz, sorgte für Schlosserarbeiten und die Herstellung von Wagen und Karren für den Transport, schloss Verträge mit einer Reihe von Handwerkern, deren Leistung für Bau und Reparatur benötigt wurde, führte die Aufsicht über die städtischen Steinbrüche und Kalköfen und die Reinigung der Gräben in der Umgebung, zu der Bauern verp ichtet waren. Er hatte Anteil an der systematisch in Stadtvierteln organisierten Feuerpolizei und Löschordnung und handhabte und überwachte die Bauvorschriften des Rats. Die Aufzeichnungen Tuchers beschreiben detailgenau die Röhrenleitungen und die vielen Radbrunnen, führen die Gerätschaften auf und geben Auskunft über die vom Rat festgesetzten Arbeitslöhne, die Lebensverhältnisse der beschäftigten Handwerker und die Materialpreise. Sie zeigen eine außerordentliche Sparsamkeit in der Amtsführung zugunsten der Stadt. Um Pfusch am Bau zu verhindern, sollte nach dem Beschluss des Rats niemand mehr zum Meister aufgenommen werden, der sich nicht zuvor einer Prüfung durch zwei Meister unterzogen hatte. Der Jahreslohn Tuchers betrug 100 Pfund (neu), hinzu kamen noch Späne und Abfälle von Zimmerholz, die er für etwa 60 Pfund (alt) verkaufte.

1.5.4 Stadtmauer, Häuser und einzelne Bauwerke 1.5.4.1 Die Stadtbefestigung 1.5.4.1.1 Mauern, Tore und Graben Die Errichtung der Stadtmauer stellte dem Volumen nach und, weil sie wegen der Gefahrenlagen möglichst zügig fertigzustellen war, als die größte kollektiv zu tragende Einzelbauaufgabe außerordentliche Anforderungen an Arbeitskraft und Finanzmittel.¹⁴⁷ Ferner waren mit der Festlegung des Verlaufs der Mauer konzeptuelle Überlegungen hinsichtlich der vorhandenen sowie der gegenwärtig und zukünftig benötigten Siedlungs äche verbunden. Altstadt und Neustadt konnten von jeweils eigenen Mauern ganz oder angrenzend teilweise umschlossen sein. Besonders teuer war der Mauerbau, wenn von weither Natursteine herangeschafft werden mussten. Besonders aufwendig war die Bauweise, wenn sie wie die 1172 begonnene Aachener Barbarossamauer, der erste Bering der Stadt, als Gussmauer aus zwei Schalen aus Natursteinen bestand, die im Innern schichtweise mit Steinen verfüllt und mit Mörtel vergossen wurde. Sie erreichte eine Länge von 2 480 Metern und schwankte in der Dicke zwischen 1,5 und 2,5 Metern. Aachen hatte dem Kaiser 1171 den Bau eines vollständigen Mauerrings um die Stadt innerhalb von nur vier Jahren versprechen müssen, was sich dann als völlig unmöglich erwies; es ist aber nicht sicher, seit wann die Mauer einigermaßen wehrfähig war. Der später wegen der wachsenden Siedlung notwendig gewordene zweite Ring wurde vermutlich um 1300 in Angriff genommen. Für die ursprünglichen Befestigungsanlagen bot der Siedlungsherr kraft seines Burgbanns die Landbevölkerung zur Mithilfe auf. Bürgerfronen und die Anwerbung oder Ansiedlung von Tagelöhnern erbrachten davon unabhängig Arbeitskräfte. Vom Stadtherrn genehmigte indirekte Steuern, die Überlassung von Judenschutzgeldern, später die Bereitstel-

147 C. H, Die mittelalterliche Stadt als Festung; V. S, Bombarden; C. M, Kleine Kunstgeschichte, S. 89–104; Stadt und Festung Freiburg; M. P, Die mittelalterliche Stadtbefestigung von Freiburg im Breisgau; G. I/B. S (Hg.), Die Befestigung; M. M (Hg.), Stadt und Wehrbau.

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Die Stadt und ihre Bewohner

lung von Titeln im Finanzhaushalt oder ergänzend Strafen in Form von Bauleistungen und Materialien stellten Finanz- und Sachmittel bereit. Der Stadtherr gewährte wirtschaftliche Privilegien, genehmigte Wegegelder und ermäßigte oder erließ Abgaben, um die Wirtschafts- und Finanzkraft der Stadt zugunsten der Aufwendungen für den Mauerbau zu stärken. Auch Klöster wurden an den Baukosten beteiligt. Damit die Stadt nicht durch die Heerfolge, zu der sie dem Stadtherrn verp ichtet war, in ihrer eigenen Verteidigung entblößt wurde, verstand sich der Stadtherr nach Auseinandersetzungen vielfach dazu, an die Stelle der Heerfolge eine Steuer oder Leistungen zugunsten der städtischen Befestigung treten zu lassen. Die Steinmauer mit offenem Laufgang oder gedecktem Wehrgang löste die älteren Konstruktionen aus Holzpalisaden und Erdwall ab. In der Stauferzeit gab es Türme im Allgemeinen nur über den Toren. Zwischentürme oder vorgelegte Zwinger mit zusätzlicher Mauer kamen lediglich in aufwendigen Anlagen reicher Städte vor. Ein gefährdetes Vorfeld konnte durch eine zusätzliche Mauer gesichert werden. Zwischentürme wurden an besonders gefährdeten Punkten situiert, vielfach um gegenüber einem stadtnahen Bergrücken Höhe zu gewinnen. Schalentürme mit stadtseitig offenen Galerien oder mit einer Fachwerkwand sparten Baukosten und verhinderten, dass der Feind eingenommene Türme vollwertig gegen die Stadt benutzen konnte. Vereinzelt kamen die in Frankreich häu geren Doppelturmtore vor. Die kleine Stadt Hainburg an der Donau in Niederösterreich erhielt bereits im 13. Jahrhundert eine monumentale Befestigung mit einer 2,5 Kilometer langen Stadtmauer, 15 Türmen und 3 großenTortürmen mit Torzwingern, darunter das mächtige überbaute Doppelturmtor (Wienertor), das als das größte mittelalterliche Stadttor Europas gelten kann. Die seit 1179 mit Zustimmung des Erzbischofs und des Kaisers – nach Zahlung eines Bußgelds von 2 000 Mark Silber – errichtete Kölner Stadtbefestigung war damals in ihren Dimensionen das weitaus größte profa-

ne mittelalterliche Bauunternehmen im Reich. Ein riesiger halbkreisförmiger Mauerbogen von 4,6 Kilometern Länge umfasste von der Rheinlinie ausgehend den Stadtkern und die Stadterweiterungen samt den vorgelagerten Klöstern und Stiftssiedlungen. Die 2,3 Kilometer lange Rheinfront wurde im 13. Jahrhundert gleichfalls durch eine Mauer befestigt. Die Stadtbefestigung war 1259 einigermaßen fertig gestellt; sie umfasste über 50 Türme, 12 landseitige, teilweise durch Doppeltürme gesicherte Tore und 22 Pforten der Rheinmauer. Der Rat ließ 1386 vor dem älteren Stadtgraben einen zweiten Graben anlegen, der im 15. Jahrhundert durch Vorpforten verstärkt und später zu Bollwerken ausgebaut wurde. Umschlossen wurde die Stadt nun von einer 8 Kilometer langen, im Durchschnitt 7 Meter hohen Mauer. Es war die längste Stadtmauer nördlich der Alpen, die Köln für 600 Jahre schützte. Zur Stadtbefestigung gehörten neben dem Mauerring auch die dahinter stehenden oder sich in der besonders gefährdeten Ecklage bendlichen Gebäude: die festen Häuser der Oberschicht und der dort bewusst angesiedelten Burgmannen, aber auch die Kirchen und Klöster sowie die Gebäude der Ritter- und der Bettelorden. Der Wandel in der Angriffstechnik im 14. und 15. Jahrhundert musste mit neuen Techniken der Verteidigung und mit Umbauten an der Stadtbefestigung beantwortet werden. Immer weniger Städte waren in der Lage, die Mittel dafür aufzubringen, sodass seit dem 16. Jahrhundert der militärische Wert ihrer Verteidigungsanlagen und damit ihre Fähigkeit zur Selbstbehauptung erheblich reduziert wurden. Bis über das 14. Jahrhundert hinaus wurde der Angriff mit Armbrust mit einer Reichweite von etwa 200 Metern, großer Karrenarmbrust, Rammbock, Steinschleuder (Blide, Triboc: Hebelarm mit Gegengewicht) und Katapult (Onager) im Wesentlichen frontal aus der Nähe geführt. Entsprechend erfolgte die Verteidigung vertikal aus möglichst großer Höhe herab. Der Mauer vorgelagerte Zwinger sollten den anstürmenden Feind möglichst lange im

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Bereich der von der Stadtmauer herab geschleuderten Handwurfgeschosse festhalten. Noch im 14. Jahrhundert kamen Handfeuerwaffen sowie später weittragende Karren- und Wagenbüchsen (Geschütze) auf. Das hatte zur Folge, dass man nun die Verteidigung stärker auf die horizontale Ebene verlagerte, den Standort der Schützen- und Wurfplätze senkte und die Mauern durch Schießscharten, die früher fehlten, öffnete. Die Verteidigungslinie wurde vorgeschoben, um den Feind in eine größere Distanz zu drängen. Die zinnenbekrönte Mauer wurde nun in dichteren Abständen mit Türmen bewehrt. Ein Zwinger wurde vorgelagert, dessen Mauer seinerseits mit Türmen besetzt sein konnte. Türme und Wehrgänge wurden vielfach überdacht, Tore verdoppelt, mehrhö g angelegt oder durch Vorwerke aus einer Mauer mit Wehrgang, eine so genannte Barbakane, geschützt. Vor die Mauern wurden auch Erdwälle gelegt, die man in Kriegszeiten mit Geschützen besetzte. Ein Teil der Mauertürme und Stadttore, aber auch der Kirchtürme war von Wächtern bewohnt. Damit sich die städtischen Wächter auf dem Straßburger Münster in kalten Winternächten etwas erwärmen konnten, wurde ihnen erlaubt, eine gesichert Feuerstelle zu unterhalten, doch mussten sie wegen der Feuergefahr auf einem einbeinigen Schemel sitzen, sodass sie um elen und aufwachten, falls sie eingeschlafen waren. Um den Verkehr durch die Tore kontrollieren zu können, beschloss der Rat Straßburgs, an jedem Tor einen Schlagbaum zu errichten, damit gegen den Willen der Torhüter niemand ausgehen oder eindringen konnte, sondern eine Person stillstehen musste, bis sie mit Fragen oder durch Mustern überprüft war, und nicht jeder mit verstopftem oder verbundenem Mund aus- und eingehen konnte und man nicht wusste, wer er sei. Politische Krisen und akute Kriegsgefahren stimulierten in Nürnberg im 14. und 15. Jahrhundert den Festungsbau.¹⁴⁸ Der vorletzte, die beiden gesondert befestigten Stadtteile verbin-

dende Mauerzug wurde 1332 fertig. Unter dem Eindruck der ronkämpfe zwischen Ludwig dem Bayern und Karl von Böhmen begann man 1346 für kurze Zeit die Vorstädte zu befestigen, aber erst unter dem Druck eines bevorstehenden Krieges zwischen Fürsten und Städten wurden seit 1384 energisch die Arbeiten an einer neuen Gesamtbefestigung durchgeführt. Die vom Reich erfolglos geführten Hussitenkriege des frühen 15. Jahrhunderts veranlassten die Stadt seit 1427 zu einer verstärkten Bautätigkeit vor allem am Graben, bis dann 1452 die insgesamt umfangreichste Befestigung des Spätmittelalters mit der noch heute zum großen Teil erhaltenen zweiten Stadtmauer als ein Jahrhundertwerk im Wesentlichen vollendet war. Die Stadt hatte nun zwei Mauerringe, von denen der innere entbehrlich war, doch wurde die ältere Anlage bis Ende des 15. Jahrhunderts nicht angetastet, und die innen gelegenen Tore wurden zur erhöhten Sicherheit auch geschlossen. Die um 1400 vollendete neue Mauer bildete annähernd ein regelmäßiges Viereck; sie war etwa 5 Kilometer lang, 7–8 Meter hoch, etwa 1 Meter stark und besaß einen überdeckten Wehrgang. In Pfeilschussabständen von 35 bis 43 Metern war sie mit 123 Türmen besetzt. Fünf starke turmbewehrte Stadttore und zwei Nebentore waren eingelassen. Vor der Mauer errichtete man einen 15 Meter breiten Zwinger mit einer mannshohen Abschluss- und Wehrmauer. Dem Zwinger mit 83 Zwingertürmen wurde als Annäherungshindernis ein 20 Meter breiter und bis zu 12 Meter tiefer Trockengraben mit beidseitigen Futtermauern aus Stein vorgelagert. Nachdem man bereits früher mit dem Bau der inneren Grabenwand, die 1430 fertig gestellt wurde, begonnen hatte, ng man 1427 unter dem Druck der Hussitenkriege an, die äußere Grabenwand senkrecht abzumauern, um nun auch den Einstieg zu erschweren. Alle Einwohner über 12 Jahre waren verp ichtet, für die Dauer von 10 Jahren jährlich einen Tag Schanzarbeiten zu leisten oder die Fron durch

148 G. P und F. S in: G. P (Hg.), Nürnberg, S. 85 f., 91 f.; H. H. H, Die Nürnberger Stadtmauer; P. S, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs (4.8), S. 135 ff.

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Die Stadt und ihre Bewohner

eine Geldzahlung abzulösen. Im Jahre 1430 sollen zeitweise etwa 800 Mann am Ausbau der Mauer und des Grabenfutters gearbeitet haben. Die Arbeit an der äußeren Grabenwand nahm 26 Jahre in Anspruch. In die innere Grabenwand waren sogenannte Streichwehren eingelassen, die der Flankierung der Zwingermauer und der Bestreichung der Grabensohle dienten, sodass der Angreifer während des Sturmes beschossen werden konnte. An den Toren wurden Vorwerke errichtet. An jedem Tor postierte man eine Büchse, die einen Zentner schwere Steine abschießen konnte. Die Befestigung wurde in den Jahren 1519 bis 1613 ständig der Entwicklung des technischen und taktischen Artillerieeinsatzes angepasst, so 1538 bis 1545 durch die Erbauung der berühmten polygonalen Burgbastei, und durch einen Kranz weit ausholender Erdbastionen und Erdwerke verstärkt. Aus verteidigungstechnischen Gründen durften außerhalb zur Bildung eines Glacis in einer Zone von einer Meile um die Stadt keine Baulichkeiten errichtet werden; bestehende Bauwerke wurden, wie auch in verschiedenen anderen Städten, deswegen abgerissen. Innerhalb der Stadt waren an neuralgischen Punkten gegen dennoch eindringende Feinde, zur Abwehr plötzlicher Anschläge oder gegen innerstädtischen Aufruhr zahlreiche Kettenstöcke als Sperren vorbereitet. Weiter im Innern angebracht, dienten sie auch der Regulierung und Eindämmung von starkem Verkehr bei Festveranstaltungen und Massenau äufen oder zugunsten ungestörter Gottesdienste. Es handelt sich um Eisenketten, die an starken, in den Boden eingerammten P öcken oder an den Häusern befestigt waren und mithilfe von Vorlegeschlössern quer über die Gasse und Straße gespannt werden konnten. Im Baumeisterbuch von 1464 bis 1472 sind insgesamt 420 Ketten mit 424 Schlössern angeführt. Darüber hinaus wurden an den wichtigen Straßen noch Schranken und Schlagbäume, die so genannten Schneller, errichtet und für Großveranstaltungen auch eigens aufgebaut. Kettenstöcke, die vor allem nachts eingehängt und abgeschlossen wurden, die Gassen auch mehrfach sperrten und den in-

neren Wohnbereich vor Aufruhr und Plünderung sichern sollten, gab es außer in Nürnberg auch in Aachen, Basel, Frankfurt am Main, Lübeck, Lüneburg, Schwäbisch Hall, Köln und Regensburg. Zur Abwehr von außen eindringender Feinde wurden in Städten auch die Gassen zur Mauer hin verengt. Die Pegnitz sicherten an ihrem Ein uss in die Stadt Wehrgänge und Stauanlagen, an ihrem Aus uss ein starker Turm und Schwibbögen, das sind gedeckte Brücken, deren Bogenöffnungen durch Fallgitter gesperrt werden konnten. Gut erhalten sind aus der Zeit des Spätmittelalters die Befestigungen von Städten wie etwa Rothenburg ob der Tauber (wiederaufgebaut), Dinkelsbühl, Nördlingen, Weil der Stadt, Zons, Soest oder Hainburg an der Donau. Insbesondere die Tortürme und Toranlagen zeigen durch ihre vielfältigen und eindrucksvollen architektonischen Formen, verschiedenartige Dachformen, Eckerker und Türmchen, Blendgliederungen und Schauwände ein unverkennbares individuelles Gepräge und werden, wie etwa das Lübecker Holstentor, zum Wahrzeichen der Stadt. Nicht immer stand indessen der repräsentative und symbolhafte Zuschnitt der Bauten in einem Verhältnis zur tatsächlichen Wehrhaftigkeit der Stadt. Bis zum Ende des Mittelalters gab es auch noch Holzbefestigungen anstelle massiver Steinmauern, wie dies Bildbelege aus dem 15. und frühen 16. Jahrhundert zeigen. Es handelte sich aber nicht mehr um Wallbefestigungen mit Planken, sondern um eine Nachahmung neu entwickelter Mauer- und Turmformen in Holz. Aus der Bilderhandschrift der Chronik des Diebold Schilling (1513) ist zu ersehen, dass das Luzerner Stadttor als Ständerkonstruktion mit senkrechter Bohlenausfachung ausgeführt war und in Vierkantpfosten eingenutete horizontale Bohlen den Rahmen für die Stadtmauer bildeten. Auch ein Teil der Braunschweiger Stadtbefestigung erweist sich als eine aufwendige, mit senkrechten Bohlen ausgefachte Rahmenkonstruktion.

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1.5.4.1.2 Die Landwehr Die Bedrohung durch den Markgrafen von Brandenburg-Ansbach veranlasste den Rat der Stadt Nürnberg im Jahre 1449, zum Schutz der nächsten Umgebung in einem Abstand von 500 bis 800 Metern eine Landwehr um die Stadt zu führen. Sie bestand aus Plankenwerk, das teilweise noch durch einen Graben gesichert war. An den von Wegen gekreuzten Stellen wurde sie mit Schlagbäumen geschlossen. An wichtigen Punkten standen Blockhäuschen, die mit Wachen oder Schützen besetzt werden konnten. Außerdem führte im Süden zwischen Regnitz und Pegnitz ein Verhau in weitem Bogen durch den Lorenzer Wald. Zwischen Landwehr und Verhau befanden sich noch drei massive Privatgebäude als weitere Verteidigungslinie, die durch improvisierte Befestigungswerke gesichert und mit Büchsenschützen besetzt werden konnten. Auch eine Reihe kleinerer Städte versuchte, ihren weiteren Vorraum oder die Grenzen ihres Territoriums durch Landwehren (Hege) zu schützen. Diese bestanden häu g aus Wall und Graben, dichten Hecken oder Verhauen mit Türmen über oder neben den Straßendurchlässen und Warttürmen auf Anhöhen zur Beobachtung des Umlandes. Der tatsächliche militärische Wert derartiger Landwehren ist schwer zu bestimmen. Sie behinderten die Reiterei und erschwerten den Viehraub in Fehdefällen; auf alle Fälle markierten sie eine deutlich sichtbare Rechtsgrenze, und man konnte unbefugtes Überschreiten als Gewahrsamsbruch ahnden. Der Heeg der Stadt Schwäbisch Hall hatte eine Länge von 120 Kilometern, war aber gegen ansbachisches Territorium nicht geschlossen. Er bestand aus einem Wall und einem 10 Fuß tiefen und breiten Graben, war mit Haselnuss und Weißdorn bep anzt und mit 4 Landtürmen besetzt. Insgesamt 62 Kilometer lang war der Rothenburger Heeg, der 9 Türme aufwies.

Zur Sicherung des Umlandes und der Straßenverbindungen setzten sich viele Städte pfandrechtlich, seltener durch Kauf, in den Besitz von Burgen. 1.5.4.2 Die Behausungen des Städters Nur ein Bruchteil der Häuser, die wir spontan als mittelalterlich erkennen wollen, geht auf die Zeit vor 1500 zurück, und der Bestand an noch intakten Häusern aus der Zeit vor 1800 dürfte weit unter einem Prozent liegen. Noch vor den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs waren es in früheren Zeiten die wiederholten verheerenden Stadtbrände, die immer wieder größere Lücken in den Bestand an älteren Bauten gerissen haben, während der Wandel der Lebensbedürfnisse und Lebensformen jenseits eines konservierenden Historismus schon seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zu Veränderungen der Bausubstanz durch Modernisierungen im jeweils neuen Stil oder zu Abbrüchen geführt hat. Diese Lage erschwert die Forschung, lässt für viele wichtige Fragen bislang nur hypothetische Antworten zu und räumt archäologischem Vorgehen unter Einschluss naturwissenschaftlicher Datierungsmethoden, wie dies überhaupt für die Erforschung des Alltagslebens (Kloakenfunde) gilt, eine große Bedeutung ein. Zu diesen Datierungsmethoden gehören die Altersbestimmung des Holzes mittels der auf den jährlichen Wachstumsringen der Bäume beruhenden Dendrochronologie oder der Radiokarbonmethode (C-14-Methode), die mit dem Zerfall des von einer P anze aufgenommenen radioaktiven Kohlenstoffs nach deren Absterben arbeitet. 1.5.4.2.1 Typisierung des Hauses und Raumgefüge Die Ableitung des städtischen Hauses (Bürgerhaus)¹⁴⁹ aus dem Bauernhaus, dessen Übertragung in die Stadt, ist zwar naheliegend, aber nur dann eigentlich von Belang, wenn sich das Bau-

149 Grundlegend ist die Reihe »Das deutsche Bürgerhaus«, hg. von A. B/G. B; H.-G. G, Kleine Kunstgeschichte des deutschen Bürgerhauses. Zum Folgenden siehe die konzentrierte Darstellung von C. M, Kleine Kunstgeschichte, S. 105–150; F. S/U. D, Geschichte des Wohnens; B. F, Geschichte des Wohnens. Kulturgeschichtlich immer noch von Interesse ist M. H, Das deutsche Wohnungswesen (1899).

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ernhaus schon in früher Zeit als ein scharf konturierter Typus erweisen lässt. Die Typisierungen des Hauses setzen sich je nach Gesichtspunkt am Baumaterial, an Gestalt und Konstruktion, an der Raumaufteilung, der Nutzungsanforderung oder an der Erwerbstätigkeit und am sozialen Status des Erbauers fest. Ausgangspunkt ist die Einraumwohnung, die in ihrer räumlichen Kleinheit allen elementaren tagtäglichen Wohn- und Arbeitsbedürfnissen zu genügen hatte und im Wesentlichen Wohnform der unteren Schichten blieb, während seit dem 13. Jahrhundert eine statusgebundene räumliche Abtrennung für Schlafen in einer Kammer, Hauswirtschaft und Kochen in einer Küche, für die Vorratshaltung in ebenerdigen Lagerräumen, im Keller oder auf dem Dachboden und für die handwerkliche oder kaufmännische Arbeit in der Werkstatt oder im Kontor bis hin zum Abtritt, zur ofenbeheizten Stube und zu einem saalartigen Raum für repräsentative Geselligkeit der Oberschicht einsetzte. Die Ausweitung des funktionalen Raumbedarfs war seit dem 14. Jahrhundert vielfach mit einem Höhenwachstum der Häuser und Erweiterungsbauten im Bereich der Hinterhöfe verbunden. Es wird angenommen, dass wenig bemittelte Bewohner in einstöckigen Häuschen mit einer Grund äche von 20 bis 30 m2 wohnten, viele Handwerkerhäuser über eine Grundäche von 3 bis 4 Meter mal 8 Meter verfügten, Wohn ächen von 45 m2 kleinbürgerlichen Ansprüchen genügten und Stuben in bürgerlichen Häusern die Größe von 20 bis 45 m2 aufwiesen. Die Sozialsiedlung der Augsburger Fuggerei stellte Familien immerhin zwischen 45 und 60 m2 Wohn äche zur Verfügung. Die Tendenz ging zur Verbreiterung der Grundrisse, wozu verschiedentlich mehrere kleine Häuser abgebrochen und mehrere Hofstätten in Anspruch genommen wurden. Fachwerkhäuser wiesen etwa in Limburg ein Spektrum von 26 bis 110 m2 auf, Steinhäuser von 76 bis 144 m2 . Geograsche Bautradition, lokale Bauverordnungen, Nutzungsanspruch und soziale Prätention, ferner das in der Regel noch wenig erfüllte Bedürfnis nach Rückzugsmöglichkeiten für Muße und

Intimität bestimmen die Baugestalt und einzelne Konstruktionselemente, Raumaufteilung, Material, Dachform und Dachstellung, Fassadenaufbau, Fassadengliederung und Ornamentik. Vom spätmittelalterlichen Häuserbestand ausgehend lassen sich zwei verschiedene Typen des Raumgefüges feststellen. Die Grenzlinie zwischen den Verbreitungsgebieten verläuft vom Westen her südlich der andrischen Städte und der Stadt Köln durch Hessen, stößt im Bereich der Ostgrenze des Herzogtums Sachsen nach Norden und markiert entlang der Ostsee bis in das Baltikum hinauf einen breiten Streifen. Die Grenzlinie ist freilich unscharf, und es gibt Überschneidungsgebiete. Nördlich dieser Linie liegt das Gebiet des Dielenhauses mit hohem Satteldach. Das Wohnen vollzieht sich in erster Linie im Erdgeschoss eines hohen Saales, einer hallenartigen Diele. Die Diele ist Werkstätte oder Kontor und Aufenthaltsraum; im Zuge räumlicher Differenzierung werden Wohnräume als seitliche oder hintere Kammerfächer abgetrennt. Ferner kommt es zum Einbau hochliegender »Hängekammern«. Daraus und aus der Errichtung eines Speicherraums entsteht ein Obergeschoss. Die Häuser weisen 1½ bis 3 Geschosse auf. Südlich dieser Linie wohnt man im Obergeschoss. Außerdem ist der Grundriss zweigeteilt. Auf der einen Seite be nden sich der Hauseingang und der Durchgang zum Hof (Ern, Flur) mit der Treppe zum Obergeschoss. Auf der anderen Seite liegen im Erdgeschoss Werkstatt und Laden. Im Obergeschoss mit den Wohnräumen wird die Längsteilung durch eine Querteilung in einzelne Wohnbereiche überlagert. Zur Straße hin liegt als Mittelpunkt des Bürgerhauses die mit einem Ofen beheizte, rauchfreie Stube, dahinter die – häu g unbelichtete – Küche mit Herd; zur Rückfront hin be nden sich die Schlafkammern. Heizen war Luxus der Reichen. Der Nürnberger Baumeister Anton Tucher verheizte Anfang des 16. Jahrhunderts jährlich für zwei Stuben im Durchschnitt so viel Holz, dass die Kosten dafür nahezu dem Jah-

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reslohn eines Handwerksgesellen im städtischen Bauamt entsprachen. Häuser reicher Bürger nehmen im Obergeschoss oder darüber einen Festsaal auf. Charakteristisch sind Laubengänge im Erdgeschoss der Bürgerhausreihen an Hauptstraßen und Plätzen. Die Wohnqualität erfuhr eine hohe Wertschätzung; so wollte der Hansekaufmann Hildebrand Veckinchusen lieber am Essen sparen als in einem kotten wohnen. Nachdem der Italiener Aeneas Silvius bereits 1458 die Häuser Nürnbergs gerühmt hat, preist Konrad Celtis um 1500 die Pracht der hoch aufragenden Wohnhäuser mit Innenhöfen in Nürnbergs Innenstadt, aus teuren behauenen Steinquadern gebaut – statt aus Bruchsteinen und auf einem Weidenge echt mit Lehm, Gips oder Kalk verputzt – mit großen Glasfenstern aus Butzenscheiben versehen und mit ausladenden eisernen Fensterkörben gesichert, davor Tontöpfe mit vielerlei Blumen und duftenden fremdländischen Kräutern, die bei Wind die geräumigen und luftigen Zimmer und Kammern mit ihrem Geruch erfüllen. Die detaillierte Bauaufnahme des Runtingerhauses in Regensburg zeigt das großzügige Raumangebot von Patrizier- und Kau eutehäusern, die mehr als 10 000 Gulden kosten konnten¹⁵⁰, während einfache Häuser schon deutlich unter 100 Gulden zu haben waren, von den ebenerdigen Hütten mit geringer Grund äche ganz zu schweigen. Nürnberger Patrizier wendeten für den Unterhalt einer eigenen Badestube und eines Privets im Haus erhebliche Beträge auf. Hinter dem an der Straße oder Gasse gelegenen Haupthaus liegt der Hof, der einen Laubenumgang aufweisen kann. Hier nden sich bei vermögenden Bürgern reich gegliederte Maßwerkgalerien und Treppentürmchen (Nürnberg). Im Hof kann sich ein Anbau oder Brunnen be nden. Ein eigener Brunnen war ein Statusmerkmal. An den Hof angeschlossen sind Nebengebäude, ein Stall für Pferde und Kleinvieh, ein Schuppen für Wagen, eventuell

ein Warenlager. Das Obergeschoss kann weitere Wohnräume für das Gesinde aufnehmen. Hinter diesem Komplex aus Haus, Hof und Nebengebäuden kann sich bis zur Grundstücksgrenze ein Garten erstrecken. Die Keller schieben sich oft unter die Straße oder gar unter Nachbarhäuser. Gelegentlich sind sie sogar zweigeschossig, und es be nden sich in ihnen Brunnen. Als angegliederte Bauteile kommen auch Badestuben und Waschhäuser vor. Manche Häuser besitzen als Besonderheit eine Hauskapelle. Neben diesen Bürgerhäusern be nden sich in der Stadt auch Bauernhöfe und herrschaftliche Sitze im Besitz von Adel, Geistlichkeit oder von Bürgern, desgleichen auf landwirtschaftlichen Erwerb zugeschnittene, ackerbürgerliche Grundstücke und Häuser. 1.5.4.2.2 Holz- und Fachwerkbauten Die Masse der städtischen Häuser, von denen wir erst über Bauten, die an der Wende zum 14. Jahrhundert entstanden sind, genauere Kenntnisse haben, wurden zunächst als Holzbauten, in der Frühzeit als Ein- oder Zweiraumhäuser, errichtet. Die Bauten der Frühzeit konnten – bei Ablauf der Grundstücksleihe oder -pacht – rasch wieder abgeschlagen werden, besaßen nur geringen Wert und wurden deshalb der Fahrhabe zugerechnet. Im Spätmittelalter sind es nicht mehr Holzmassivbauten, bei denen waagrechte oder senkrechte Hölzer die tragende Wand bilden, sondern Skelettbauten.¹⁵¹ Das tragende Gerüst besteht aus untereinander verbundenen senkrechten, waagerechten und schrägen Hölzern. Die Ständer als vertikale Konstruktionshölzer werden in der Regel auf durchlaufende Schwellen aufgesetzt. Die Grundschwelle kann zur Erhöhung der Stabilität und zum Schutz gegen Nässe auf einer Sockelmauer au iegen. Die von dem Gerüst eingeschlossenen Gefache sind beim Ständerbohlenbau mit aussteifenden Holzbohlen und beim Fachwerk mit exiblem Material, lehmbeworfenem Flechtwerk oder Mauerwerk aus Bruch-

150 W. E, Das Handelshaus der Runtinger (9.3–9.4), S. S. 62 ff., S. 325–335 (W. B zur Baugeschichte). 151 G. B/U. M/A. W, Kleine Kunstgeschichte des deutschen Fachwerkbaus.

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Die Stadt und ihre Bewohner

stein oder Ziegel geschlossen, doch wird der Holzskelettbau als Ganzes ohne Rücksicht auf das Material der Ausfachung als Fachwerk bezeichnet. Beim Geschossbau handelt es sich um eine das Dachwerk tragende Ständerkonstruktion, die von der Schwelle bis zur Traufe durchgeht und in die einzelne Etagen eingeschossen, d. h. zwischen die Ständer eingehängt werden. Bei dem jüngeren Stockwerkbau werden die einzelnen Etagen als jeweils selbständige, in sich abgezimmerte Konstruktionseinheiten übereinander gestellt. Die Hauptständer des Hausgerüsts laufen nicht mehr durch alle Geschosse, sondern enden geschossweise jeweils mit einem Rahmenkranz. Auf dem Rahmen der Ständer, dem horizontalen, die Wand abschließenden Balken, ruht die Balkenlage (Gebälk) zur Überdeckung des Raumes auf. Auf einem neuen Schwellenkranz wird nun die neue geschosshohe Ständerreihe errichtet. Die wohl schon im ausgehenden Hochmittelalter anzutreffende Stockwerkszimmerung erlaubt ein Vorkragen der einzelnen Geschosse, wobei die Vorkragung durch konsolenartige Knaggen oder durch Bügen (Streben) gegen die Wand abgestützt wird. Die Auskragung (bis zu 60 cm) hat statisch konstruktive Vorteile, zugleich wird der Nutzraum für die auf beengter Parzelle errichteten Häuser erweitert. Die darunter liegende Wand erhält einen gewissen Schutz vor Schlagwasser bei Regen. Wie die Erker wurden die Überhänge als Zierde des Hauses betrachtet. In engen Gassen durften Überhänge nur mit besonderer Erlaubnis ausgeführt werden. In Straßburg wurde das zulässige Maß für den Überhang am Münster in Stein gehauen. Frühzeitig, etwa nach Bränden, wurden Überhänge aber auch ganz oder nur zeitweilig verboten. Für das niederdeutsche Fachwerk ist die sehr enge Ständerstellung charakteristisch, für das oberdeutsche Fachwerk eine sehr weite Stellung, die mit den Zwischenriegeln, den waagerechten Balken zwischen den senkrechten tragenden Balken (Stützen), breit gelagerte Gefache ergibt. Hinzu kommt eine keineswegs immer konstruktionsbedingte Vielzahl von einfa-

chen oder gedoppelten Kopf- und Fußbändern, das sind schräg gestellte, versteifende Bohlen zur Aufnahme von Zugkräften zwischen Ständer und Rahmen oder Schwelle. Überaus reiche Verzierungen kennzeichnen die Fachwerkhäuser in Niedersachsen und Hessen. Die ebenerdigen Fußböden bestanden aus gestampftem Lehm, doch gab es mit den Wellerungen auch eine frühe Art des aufkommenden Estrichs. Dabei wurden horizontal gelagerte Holzstäbe mit Stroh umwickelt, mit Lehm verstrichen und mit Dielen, bei Wohlhabenden auch mit Backstein iesen oder ge rnissten Klinkersteinen überdeckt. Hölzerne Zwischendecken, die auf Balken ruhten, trennten die Geschosse ab. Die Fensteröffnungen der Gebäude blieben lange Zeit sehr klein. Verschlossen wurden sie bis ins 15. Jahrhundert vor allem mit feiner Leinwand, sonstigen ölgetränkten Textilien, dünn gegerbter Haut, ausgespannten tierischen Blasen, geöltem Pergament oder dünn geschabtem Horn (Hornblende), ferner durch Holzläden mit und ohne Ausschnitt. Benutzt wurde auch Marienglas, das sind plastisch biegsame Spaltstücke von Gips. Erst das grünliche und seit dem 15. Jahrhundert transparente Waldglas und venezianische Glasscheiben gewährten größere Lichtdurchlässigkeit und schützten besser vor Luftzug und Wärmeverlust. Glas war aber sehr teuer, sodass es zunächst nur in Kirchen, öffentlichen Gebäuden und in Häusern der Oberschicht, dort oft auch nur für repräsentative Fenster zur Straße oder zum Platz hin, verwendet wurde. Die technische Neuerung der Verbleiung erlaubte die Verglasung größerer Flächen und führte zu einer Vergrößerung der Fenstermaße. Seit dem 14. Jahrhundert wurden in reichen Bürgerhäusern durchscheinende, aber nicht durchsichtige Butzenscheiben verwendet. Für die Mehrgeschossigkeit der Bürgerhäuser könnten die Bauformen des Adels oder Bauten kirchlicher Höfe vorbildlich gewesen sein. Sie lässt sich aber auch aus der Notwendigkeit erklären, Räume für die häusliche Vorratshaltung und für die Lagerung von Materi-

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al und Handelswaren zu schaffen. Die Dachräume zahlreicher Bürgerhäuser des Spätmittelalters sind Vorratsspeicher. Mit Rollenaufzügen wurden Material und Waren über auskragende Balken nach oben befördert. 1.5.4.2.3 Steinbauten Steinhäuser, vor allem des Adels und der Oberschicht, lassen sich in der Stadt bereits für das 12. Jahrhundert nachweisen (Freiburg im Breisgau); seit dem 13. Jahrhundert begann man unter dem Eindruck der zahlreichen verheerenden Stadtbrände in manchen Städten zunehmend Holzhäuser durch Steinbauten zu ersetzen; Steinbauten prägten etwa im 13. Jahrhundert das Stadtbild Zürichs. Der Rat subventionierte den Steinbau eventuell durch Steuererleichterungen und stellte Material des städtischen Bauhofs zur Verfügung. Zwei Formen von Steinbauten sind grundsätzlich zu unterscheiden: – Die Wohntürme, Kemenaten und Steinwerke der Oberschicht als entwicklungsgeschichtlich eigenständige Bauformen. – Die Umsetzung der bereits vorhandenen Formen mehrgeschossiger Holzbauten in dauerhafteres Material; ihre Abbildung durch das Material Stein in einer Art »Versteinerungsprozess«.¹⁵² Die Verwendung von Stein oder Backstein wurde in einigen kommunalen Verordnungen baurechtlich vorgeschrieben wie etwa in Lübeck 1276 nach zwei Stadtbränden. Sie wurde von der Stadt durch Bereitstellung bestimmter Mengen von Baumaterial aus dem städtischen Bauhof gefördert und durch Steuerfreiheit beim Materialkauf, durch die Ermäßigung anderer steuerlicher Abgaben oder durch teilweise Erstattung von Kosten belohnt und subventioniert. Der daran geknüpfte Gedanke des Feuerschutzes konnte sich auf den Massivbau, auf die Steinuntermauerung von Neubauten, auf die Errichtung in Stein ausgeführter Brandmauern, von Dachzinnen gegen das Übergreifen von Feuer, auf die Ausfachung des Holzge-

152 C. M, Kleine Kunstgeschichte, S. 123.

rüsts mit Bruch- oder Backstein oder auch nur auf das Verkleiden von Holzhäusern mit Kalk und Lehm beziehen. Die Dächer mussten, was bei Holzbauten statisch nicht unproblematisch war, mit Ziegeln, Schiefer- oder Steinplatten anstelle von Holzlatten, Schindeln, Stroh oder Schilf gedeckt werden. Seit dem 12. Jahrhundert gab es Dachziegel aus gebranntem Ton in Form von Hohl- und Flachziegeln, sofern sie noch auf einer weichen Dachhaut lagen, bestand diese weiterhin aus Stroh, Reet, Schilf und Lehm. Reiche Bürger bevorzugten aus Prestigegründen den Steinbau und verwendeten Quadersteine wenigstens an Gebäudeecken. Außer dem Hau- und Werkstein fand in Süddeutschland und in den Gebieten der Mittelgebirge der billigere Bruchstein Verwendung, in der norddeutschen Tiefebene seit dem 12. Jahrhundert der Backstein, der daneben auch etwa im bayerischen Raum, in Wien oder in Straßburg anzutreffen ist. Für weniger aufwendige Bauten wurden auch Lesesteine von Äckern und aus Flussbetten verwendet. Steinbaugebiete sind der deutsche Südwesten (14./15. Jh.), der bayerische und österreichische Alpen- und Voralpenraum und der norddeutsche Backsteinbereich von Niedersachsen entlang der Ostsee bis hinauf nach Reval, doch setzte sich der Steinbau dort nicht vollständig durch. In Hamburg blieb der Fachwerkbau bis in nachmittelalterliche Zeit überwiegend. Auch in anderen Städten wie in Frankfurt am Main oder in Großstädten wie Nürnberg und Augsburg wurde der Steinbau kommunal erst in nachmittelalterlicher Zeit gefördert. Andere Städte wie Schwäbisch Gmünd, Wimpfen, Schwäbisch Hall oder Tübingen kehrten nach einer Periode des Steinbaus im 13. Jahrhundert wieder zum Fachwerkbau zurück. Außerdem konnten Fachwerkgeschosse auf einem Erdgeschoss aus Stein aufruhen. Mit eindrucksvollen Fassadengliederungen, den Dreiecksgiebeln mit Trauf- und Firststaffeln und Fialpfeilerchen, den Staffelgiebeln mit Zinnenbekrönung, den Pfeilergie-

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Die Stadt und ihre Bewohner

beln, den als horizontal abschließende Blende emporgezogenen Vorschussmauern oder bis zum Dach rst durchgehenden Hausfassaden mit Fialtürmchen, Blendbögen und Blendarkaden, Maßwerk- und Blendfenstern und runden Okuli blieben die Steinbauten lange Zeit Signum der wohlhabenden Schichten. Ein außerordentlicher Reichtum an Fassaden- und Giebelgliederungen zeichnet vor allem die norddeutsche Backsteingotik aus. Originäre Steinbauformen sind die zinnenbekrönten und mit Fensterarkaden versehenen Wohntürme und Turmhäuser, die herrschaftlichen Giebel- und Saalgeschosshäuser, die Kemenaten (Steinwerke) und die Immunitätsbauten von bürgerlicher Oberschicht, Klerus und Adel. Keine Stadt nördlich der Alpen hat eine solch eindrucksvolle Vielzahl von turmbewehrten Patriziersitzen aufzuweisen wie Regensburg. Mehr als 40 der Türme sind ganz oder teilweise erhalten; einige erreichen eine Höhe bis zu 37 Metern. Lediglich in der Frühzeit und später in den wenigsten Fällen dienten die Türme tatsächlich der Verteidigung. Als Abbild wehrhafter Bauformen des Adels sind sie jedoch Machtformen und Bauten von überhöhter Repräsentativität. Zum Turm, der im Erdgeschoss einen gewölbten Raum (Kapelle) enthält, gehört ein Anbau als eigentlicher Wohntrakt. Die Wohnhäuser nahmen vielfach gleichfalls eine gewölbte Kapelle und im Obergeschoss einen großen Saal auf. Die Regensburger Patriziertürme, die ältesten Beispiele stammen aus dem 12. Jahrhundert, entstanden zeitlich durchaus parallel zu den Geschlechtertürmen in Rom, Bologna, Florenz oder S. Gimignano. Vorgängig waren in Regensburg aber die Türme der Höfe der auswärtigen Bischöfe von Salzburg, Augsburg, Bamberg und Eichstätt oder ein Turm des Königshofes. Türme und mächtige, vornehme Steinhäuser gab es freilich auch in einer Vielzahl weiterer Städte, so in Trier, Nürnberg (Nassauer Haus) und Augsburg, in Städten des böhmischen (Prag) und österreichischen Raumes (Wien, Krems), im deutschen Südwesten (Schwäbisch Hall, Ulm, Konstanz u. a.), in der

Schweiz, in Lothringen, im Elsass und vor allem im mittel- und niederrheinischen Raum mit dem sogenannten Arx-Turmbau und Wohntürmen, den Immunitätsbauten in Bischofs- und Stiftshöfen und den vornehmen Giebelhäusern (Overstolzhaus in Köln). In Nürnberg wurden 1430 in den beiden Pfarrbezirken St. Sebald und St. Lorenz 65 Wohntürme und 3 556 sonstige Wohnhäuser gezählt. Die Steinbauten der Oberschicht waren zumeist Teil eines größeren Gebäudekomplexes in einer gehöftartigen Anlage, auf der auch Holzbauten stehen konnten. Giebelhäuser mit Satteldach sind die Kemenaten oder Steinwerke im niederdeutschen Bereich, vor allem im Gebiet des alten Herzogtums Sachsen und entlang der Ostsee. Es handelt sich um rechteckige oder quadratische Steinbauten, die häu g unterkellert und auf zwei Einraumgeschosse angelegt sind. Patriziat und Oberschicht besaßen häu g Häuser oder Herrensitze auf dem Lande. Bekannt sind die Weiherhäuschen, die wasserburgartigen Anlagen des Nürnberger und Rothenburger Patriziats. Auch Adelsburgen wurden durch Kauf oder Belehnung erworben. 1.5.4.2.4 Stockwerkseigen, Mietshäuser und Buden Die einzelnen Hofstätten mit ihren Gebäuden waren durch Erbteilung häu g stark zersplittert. So genanntes Stockwerkseigen war daher weit verbreitet. In Rottweil konnte eine Hofstätte in vier, in Freiburg im Breisgau sogar in acht Teile zerlegt werden. Ganz überwiegende Teile der Mittelschichten und die Unterschichten wohnten, erkennbar schon seit dem 13. Jahrhundert, in mehrgeschossigen Häusern mit mehreren Wohnungen oder in kleinen Zinshäuschen (Buden, Gaden) auf Hinterhöfen zur Miete, sofern sie überhaupt einen selbständigen Haushalt führten. Häuser mit mehreren Wohnungen waren nicht selten. In Regensburg sind für das Ende des 14. Jahrhunderts Häuser mit bis zu acht Mietparteien belegt, Ähnliches gilt für Köln. Im Kölner Kirchspiel St. Columba gab es 1487 insgesamt 822 Häuser, von denen 161 vom Eigentümer

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bewohnt, 661 (80%) jedoch vermietet waren. In Rostock befanden sich 1522 bereits 57 Prozent aller Haushaltungen in Mietverhältnissen. In anderen Städten liegen die Anteile der Steuerp ichtigen, nicht der Einwohner insgesamt, in Miete zwischen 20 und etwa 50 Prozent; deutlich niedriger sind die Anteile in Vorstädten, in denen die Zahl der kleinen Häuser mit jeweils nur einem Haushalt beträchtlich höher war.¹⁵³ Mietshäuser dienten der Geldanlage und mochten gelegentlich Gegenstand von Immobilienspekulation sein. Vor allem traten kirchliche Institutionen mit ihrem reichen Grundbesitz als Vermieter auf. Das soziale Niveau nahm mit der steigenden Zahl der Stockwerke, in denen sich die Wohnungen befanden, ab. Einräumige oder zweigeschossige Häuschen wurden als Einzelgebäude oder als Häuserzeilen in der Regel im Hinterbereich des Haupthauses auf der Hausparzelle errichtet; es gab aber auch winzige Häuschen, die gewöhnlich aus nur einer Kammer bestanden, die den Häusern vorgebaut waren. In Lübeck haben sich kleine, straßenartige Hofanlagen erhalten, die einseitig oder beidseitig mit eingeschossigen Reihenhäuschen bebaut sind. Errichtet wurden sie als Zinshäuschen reicher Bürger und geistlicher Institutionen oder als Einrichtungen der sozialen Fürsorge. Im Jahre 1487 gab es 101 derartiger häu g nur einräumiger Gänge oder Buden.¹⁵⁴ Die ohne Gassen aneinandergereihten Kölner Zinshäuschen lagen traufseitig zur Straße; es fehlten ihnen Speicher und Giebel als Zeichen der Selbständigkeit und des eigenen Grundbesitzes. Auch konnte nach Häusern mit Braurecht, in der Regel Bürgerhäuser, und solchen ohne Braurecht, in der Regel Buden, unterschieden werden. Gelegentlich besaßen mehrere Häuschen ein gemeinsames Dach, weil dies geringere Kosten in der Herstellung und Wasserableitung erforderte. Einfache Holzhäuser nden sich vor allem auch im Vorstadtbereich.

153 E. M, Städte und Menschen (Einleitung), S. 326 f. 154 M. S, Gänge, Buden und Wohnkeller in Lübeck.

Zum Zweck der Gewerbeansiedlung errichtete der Nürnberger Rat 1488/89 für schwäbische Barchentweber die Reihenhaussiedlung der Sieben Zeilen. Die Häuser enthielten einen Arbeitskeller, eine Werkstatt im Erdgeschoss und einen Wohnbereich im Obergeschoss. Je drei Häuser waren zu einer Zeile zusammengeschlossen. In norddeutschen Hansestädten wohnten die Unterschichten in ungesunden Verhältnissen von schmutziger Feuchtigkeit vorwiegend in Buden (Katen), Kellerbuden und Wohnkellern (Dönskeller), die oft von den darüber liegenden Häusern getrennt waren und auch gesonderte Eigentümer haben konnten, und in Kellern fester Häuser. Die vielfach aus Flechtwerk und Brettern bestehenden Buden lagen an Nebenstraßen, Gassen, Gängen oder in der Nähe der Stadtmauer. Die Zahl der Buden war größer als die der Häuser, in Wismar und Stralsund lag ihre Zahl im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts doppelt so hoch. Der Rat der Stadt Erfurt bekundete 1389, dass arme Leute auf Kirchhöfen oder öffentlichen Straßen keine Hütten oder Behausungen mehr haben sollten und ordnete den Abriss derartiger Bauten an. In Frankfurt am Main beschloss der Rat 1496, den Bettlern künftig nicht mehr zu gestatten, ›auf unser lieben Frauen Berg‹ Hütten zu bauen, sondern sie in die Giglergasse (Bettler-) zu treiben. Mit seinem Asylrecht bot der Friedhof, wie auch aus Hildesheim und Erfurt bekannt, eine Heimstatt für Bettler, die dort Behelfshütten errichteten. Der Regensburger Rat ordnete 1471 an, auf den Kirchhöfen Pfähle zu setzen, um Bettler, die sich dort aufhielten und deren lärmendes Lamentieren störte, während des Kirchgangs daran anzubinden. Untermieter (Inquilinen) waren überwiegend unselbständige Arbeiter ohne Bürgerrecht. Sie spielten in den kleinen Ackerbürgerstädten nur eine untergeordnete Rolle. Der Anteil der Untermieter wuchs aber mit der Größe und funktionalen Differenziertheit der Stadt und

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konnte bis über die Hälfte der Haushalte betragen; in den meisten Städten nahm er am Ausgang des 15. Jahrhunderts und zu Beginn des 16. Jahrhunderts zu.¹⁵⁵ 1.5.4.3 Das Rathaus Mit dem Aufkommen der Ratsverfassung seit dem Ende des 12. Jahrhunderts wuchs das Bedürfnis der Bürgergemeinde nach einem eigenen Haus.¹⁵⁶ Das Bürgerhaus (domus civium) oder Rathaus (domus consulum) wurde zum zentralen Gebäude von Bürgerschaft und Korporation Stadt, zum verschiedentlich prachtvollen Monument autonomer Selbstregierung. Würzburg, das in strenger Abhängigkeit von der bischö ichen Herrschaft blieb, hat es im Mittelalter bezeichnenderweise nicht zu einem Rathaus gebracht. Als Kaiser Friedrich II. 1232 die Abschaffung des selbständigen Rates in Worms durch den Bischof anordnete, verfügte er auch die Zerstörung des Rathauses. Nach der Eroberungen und Mediatisierung der Stadt Mainz ließ der Erzbischof 1462 das Mainzer Rathaus beseitigen. Bevor der Rat ein eigenes Haus bezog, nahm er einzelne Funktionen, vor allem die Gerichtsbarkeit, in Kirchen, Marktbauten oder im Sitz der stadtherrlichen Amtsträger wahr. Später erwarb die Stadt für ihre Zwecke ehemalige Schultheißen- oder Vogteisitze, aber auch vornehme Bürgerhäuser. Wo eine Kommune ein Rathaus eigens erbaute, orientierte sie sich am Vorbild des Saalgeschossbaus oder des Wohnturms und fügte es in die Häuserzeilen oder Baublöcke ein. In niederdeutschen Gründungsstädten wurde das Rathaus in die unmittelbare Nähe der Hauptpfarrkirche, meist zwischen dem groß ächigen Markt und der Kirche, platziert. Der zweite entwicklungsgeschichtliche Bautyp des Rathauses, der die größte Verbreitung fand, knüpft an den rechteckigen, frei auf dem Marktplatz und in der Regel traufständig zu

ihm stehenden Hallenbau des Kaufhauses (mit Lauben) oder Gewandhauses an, erweitert ihn nach oben und belässt ihm oft wirtschaftliche Funktionen. Das kurz nach 1232 errichtete Dortmunder Rathaus repräsentiert diesen mehrgliedrigen und multifunktionalen Typ als erstes fassbares Beispiel. Im Untergeschoss des (nicht erhaltenen) Rathauses befand sich ein Weinkeller, das Erdgeschoss enthielt Gerichtslaube und Tuchhalle, das erste Obergeschoss Gerichts- und Ratssaal, und darüber lag ein Festsaal. Das monumentale orner Rathaus war zuvörderst Kaufhaus, nur das Obergeschoss diente Verwaltungszwecken. In Vorhallen oder Straßenlauben der Rathäuser wurde häu g das Marktgericht als Niedergericht abgehalten. Der Weinkeller mit Ausschank im Untergeschoss ist als Ratskeller bis heute ein Begriff. Neben einfachen, oft auch in Fachwerk ausgeführten Saalgeschossbauten, die eine Abtrennung und Hinzufügung von separaten Räumen erlaubten, nden sich weitläu ge, monumentale Gebäudekomplexe, die in einem langwierigen Bauvorgang durch immer neue Umbauten, An- und Aufbauten entstanden sind. Solche komplizierten, sich in Etappen vom 13. bis 15. Jahrhundert und weiter erstreckenden Baugeschichten besitzen etwa die Rathäuser in Braunschweig, Lüneburg, Lübeck, Breslau und orn. Die Schauwand des West ügels des Lübecker Rathauses ist für die Bauten in Stralsund, Rostock, vielleicht auch orn vorbildlich geworden. Rathaustürme – nach dem Vorbild der freistehenden oder integrierten andrischen Belfriede – nden sich relativ selten, so vor allem im niederdeutschen und schlesischen Bereich in Köln, Breslau, Görlitz, Danzig und orn, während Türme auch auf Vorgängerbauten zurückgingen und im Süden Türme als Stadttürme teilweise unabhängig vom Standort des Rathauses errichtet wurden. Freitreppen dienten der Verkündigung von Verordnungen und Urteilen oder sonstigen zeremoniellen Akten.

155 D. D, Sozialtopographische und sozialräumliche Gliederung (1.5.5), S. 186. 156 J. P, Rathaus und Markt; C. M, Kleine Kunstgeschichte, S. 186–196; S. A, Mittelalterliche Rathäuser; U. S/A. W (Hg.), Mittelalterliche Rathäuser.

Stadtgestalt 111

Neben der Vorhalle und den Lauben, die für das Marktgericht genutzt werden, und der eventuell vorhandenen reinen Gerichtslaube für das Hochgericht ergibt sich für das Rathaus im Wesentlichen folgender Raumbedarf: – Der Ratssaal für Rats- und Gerichtssitzungen; – ein Festsaal für Empfänge und Tanzveranstaltungen; – die kleine Ratsstube (spätestens seit dem 15. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Entstehung der Wohnstube); – Schreibstuben und Archiv; – spezielle Kammern für wichtige Ratsämter (Finanzverwaltung, Bauamt u. a.); – eine Kapelle oder ein Altarerker, sofern nicht eine eigenständige Ratskapelle außerhalb des Rathauses oder die Ratskirche in Anspruch genommen wird; – eine Ratsküche; – Lagerräume (Ratskeller); – ein Gefängnis, sofern es nicht in Türmen der Stadtbefestigung untergebracht ist. Neben dem Rathaus auf dem Marktplatz befand sich der Pranger, auch Kaak, Stock, Schandstein, Schandpfahl oder Schandkorb genannt, selten der Galgen (Breslau) und Richtblock, die in der Regel vor der Stadt standen. Gleichfalls auf dem Markt stand in Bremen und anderen Städten der Roland aus der Karlslegende als Symbol der Freiheit der Stadt, der Marktfreiheit, ihres Rechts, der Gerechtigkeit und ihrer Macht, dargestellt durch das Schwert des Kaisers. In Bremen wurde die hölzerne Rolands gur 1366 von Dienern Erzbischof Adalberts verbrannt, 1404 stellte die Stadt eine neue Figur in Stein mit einer Höhe von über 5 Metern auf. Als Berlin 1488 seine städtische Autonomie einbüßte, warf man den Roland der Stadt in die Spree. Zerstört wurde der Roland auch in Quedlinburg nach der militärischen Unterwerfung der Stadt durch die Äbtissin im Jahre 1477.

1.5.4.4 Kaufhaus und Marktbauten Als Gebäude des Wirtschaftslebens diente das Kaufhaus¹⁵⁷ als Lager, der Warenauslage und dem Verkauf. Für den Stadtherrn und die Kommune war das Kaufhaus unter skalischen Gesichtspunkten Ort des im Spätmittelalter systematisch ausgebauten Stapelzwangs, dem die fremden Kau eute unterlagen, Zollstätte und Ort der Erhebung von Verkehrs- und Verbrauchssteuern. Die zum Kaufhaus gehörige Waage und das städtische Wiegemonopol waren Voraussetzung für die Erhebung von Zoll und Akzise (indirekte Steuer), soweit sie nach Gewicht und nicht nach Rauminhalt bemessen wurden. ›Stapel‹ (›Grät‹), ›Waage‹ und ›Maut‹ (Zoll) gaben dem Kaufhaus vielerorts den Namen. Der Wirtschaftsverkehr war durch stadtherrliche oder kommunale Ordnungen eingehend geregelt. Städtische Amtsträger, Makler (Unterkäufer) und mit Kontrollbefugnissen versehenes Hilfspersonal regulierten und überwachten das Geschehen. In Köln war das alte Kaufhaus Ort der Handelsgerichtsbarkeit, wo von zwei Ratsherren zwei- bis dreimal in der Woche Gericht gehalten wurde. Die Kaufhäuser waren mehrschiffige, einoder zweigeschossige Hallenbauten. Vor allem in Städten der Ostsiedlung entstanden Hallenbauten in Verbindung mit Budenreihen. In Breslau bestand das 1241 begonnene Kaufhaus als Tuch- und Gewandhaus zunächst aus zwei parallelen Längs ügeln, die einen straßenartigen, an den Enden durch Tore geschlossenen Hof umfassten. Die Längs ügel waren in zahlreiche, vom Hof aus zugängliche Kammern unterteilt. Die so genannten Reichskrämer errichteten dann auf der Nordseite eine gleichartige Anlage. Durch einen Zwischenraum, der mit Buden besetzt war, befand sich wiederum parallel dazu eine zweischiffige Halle mit Brot-, Schuh- und Lederbänken. Ausgangs des 13. Jahrhunderts wurde an der Südseite des Komplexes mit dem Anbau des Rathauses, eines Gerichtszwecken dienenden Gebäudes, begon-

157 G. N, Das mittelalterliche Kaufhaus; F. I, Kölner Wirtschaft im Spätmittelalter (9.0), S. 235; C. M, Kleine Kunstgeschichte, S. 168–177.

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Die Stadt und ihre Bewohner

nen. Spätere An- und Umbauten verdichteten und umfassten den vielgliedrigen Komplex im Spätmittelalter. Das orner Rathaus war im Mittelalter zugleich der monumentalste Kaufhausbau im Reich. Der 1259 vom Deutschen Orden genehmigte Bau entwickelte sich in Etappen zu einem zweigeschossigen, vier ügeligen Baublock mit einem durch zwei Geschosse laufenden Turm und vier Ecktürmchen. Im Erdgeschoss beherbergte er eine Tuchhalle, Verkaufsstände für Handwerker und kleine Gewerbetreibende, die Ratswaage, Brotbänke und die Gerichtslaube. Das Obergeschoss war der städtischen Verwaltung vorbehalten. Der größte noch erhaltene Kaufhausbau ist das 1388 begonnene dreischiffige Konstanzer Kaufhaus, in das während des dortigen Konzils (1414–1418) 52 Kammern (Gaden) für die Papstwähler eingebaut wurden. Der Bau ist zweigeschossig mit einem viergeschossigen Dach. Zwei Eckerker und ein ursprünglicher Mittelerker zum Bodenseehafen hin waren als kranartige Aufzüge ausgebildet. In Köln standen die Vielgestaltigkeit des Handels und das außerordentliche Handelsvolumen der Entstehung eines großen, zentralen und multifunktionalen Kaufhauses für die Gesamtheit des kaufhausfähigen Warensortiments, wie es etwa Mainz, Straßburg, und Konstanz besaßen, entgegen. Stattdessen kam es auf Initiative der Exportgewerbe in einem arbeitsteiligen System zum Bau zahlreicher spezialisierter Schau- und Verkaufshäuser, die nach veränderten Marktbedingungen genutzt wurden und deshalb in ihren Funktionen wechselten. Seit 1355 wurden kommunale Kaufhäuser in städtischem Eigentum und unter städtischer Aufsicht errichtet. In den verschiedenen Kaufhäusern wurden verwandte, ähnliche Lager- und Verkaufsbedingungen erfordernde Waren zusammengefasst. In Ulm (seit 1370/71) und Esslingen bildeten Rathaus- und Kaufhaus eine bauliche Einheit. Auf dem Markt schlugen Handwerker und Kleinhändler zum Vertrieb ihrer Produkte und Handelswaren zunächst zu den

Marktzeiten bewegliche Verkaufskisten, Tische, Bänke und Stände auf. Diese wurden zu einem guten Teil von festen Buden (Schra(n)gen, Gaden) abgelöst, die als Verkaufsorte für Kleinhändler (Krämer) sowie als Produktions- und Verkaufsorte für bestimmte Gewerbe, insbesondere für Goldschmiede, Schneider, Kürschner und Schuster, dienten. In Köln wurden die Marktstände für Zwischenhändler monatlich wechselnd durch Verlosung vergeben. Schon seit dem 12./13. Jahrhundert wurden für mehrere gleichartige Handwerksbetriebe im Sinne einer Zentralisierung des Markt- und Handelsgeschehens ebenfalls Kaufhäuser errichtet, die sich baulich nicht von den Kaufhäusern der Kau eute unterschieden und zumeist die Fleischhalle (Metzig), das Brothaus sowie die Werk- und Verkaufsstätten der Schuster und Kürschner enthielten. Auch im Handwerk gab es spezialisierte Häuser. So standen etwa in Rottweil auf den beiden Marktstraßen des Straßenkreuzes vier Marktgebäude: die Kürschnerlaube, die Metzig, die Brotlaube und das Kaufhaus. In Köln gab es 1373 ein großes Fleischhaus im Marktviertel und sechs weitere Fleischhäuser in der Nähe der alten Stadttore. Spätestens seit dem 14. Jahrhundert wurden vielfach auch die städtische Vorratshaltung und die vorübergehende Lagerung von Handelswaren in eigenen Großbauten, Herings- und Fleischhäusern, Unschlitthäusern, Korn- und Salzspeichern oder Weinstadeln konzentriert. Der städtischen Vorratshaltung hatten früher die Speicherräume in Kirchhaus- und Rathausdächern, Kaufhäuser, Verteidigungstürme und andere Großbauten gedient, oder es war die Lagerung auf Bürgerhäuser aufgeteilt worden. Viele dieser Großbauten vereinigten sich in den Stadtbildern zu einem lockeren Ensemble wie etwa in Ulm mit der Abfolge von Rat- und Kaufhaus, Stapelhaus (Grät), Schuhhaus, Salzstadel und Kornhaus. 1.5.4.5 Das Spital Hospitäler waren zunächst kirchliche Gründungen, zu denen weltliche Stiftungen und Grün-

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dungen hinzukamen.¹⁵⁸ Sie waren deshalb eine kirchenrechtliche Institution, die später meistenteils unter kommunale Verwaltung geriet. Spitäler bildeten vielfach einen ummauerten Immunitätsbereich. Die Kommunalisierung des Spitals führte zur Verlagerung aus der Dom- und Kirchenimmunität. Spitäler wurden aus hygienischen Gründen im Hinblick auf Abwasserableitung, Abfallbeseitigung und reine Luft in der Randlage der Stadt bei der Stadtmauer, wo es zudem noch genügend Raum gab, häu g auch an Ausfallstraßen oder vor dem Tor errichtet, sodass Reisende auch noch nach Einbruch der Nacht aufgenommen werden konnten. Mit dem Strukturwandel hin zur Pfründneranstalt und nach der Entstehung spezieller Elenden- und Pilgerherbergen ent el dieser Gesichtspunkt. Im 14. Jahrhundert wurden Spitäler gelegentlich in die Stadtmitte und direkt an den Markt gelegt. Die Hospitäler waren seit dem Hochmittelalter Saal- oder (mehrschiffige) Hallenanlagen mit großem Luftvolumen. Ihnen war eine Altarnische, meist aber eine Kapelle angeschlossen, die dem gemeinsamen Gebet und Messlesungen für Stifter diente. Baulich erweitert wurde das Spital zur zweigeschossigen Hallenanlage oder zur Anlage mit zwei nebeneinander gelegenen Hallen. Besaß der gemeinsame, ungeteilte Spitalsaal den Vorteil, dass eine bessere Beaufsichtigung der Kranken und eine unmittelbare Verbindung zum Altarraum möglich war, so zog das Pfründnerwesen mit der Teilumwandlung des Spitals in ein Altenstift eine räumliche Differenzierung nach sich, die im Zusammenhang mit der baulichen Erweiterung des Spitals realisiert wurde. Die vielfach gesunden und wohlhabenden Pfründner wollten aus hygienischen und mentalen Gründen nicht zusammen mit den Siechen und Armen in einem Saal untergebracht sein. Durch ihren Einkauf erwarben sich die Pfründner einen häu g vertraglich festgelegten Anspruch auf eine bestimmte Wohn- und

158 Siehe auch 4.10.1. 159 R. J, Obrigkeitliche Armenfürsorge, S. 22.

Verp egungsqualität. Es wurden für sie deshalb Einzelstuben im Obergeschoss und gesonderte Speisezimmer (Herrenstuben) eingerichtet. Als Wirtschaftseinheit umfasste das Spital Versorgungseinrichtungen wie Speicher und Küche, Speisesaal (Refektorium) und Räume für das Personal. Dazu wurden Nebengebäude errichtet, die zusammen mit den übrigen Bauten einen Innenhof umfassten, oder es wurden, wie häu ger im Spätmittelalter, alle Räumlichkeiten samt Spitalsaal, Kirchenraum und Pfründnerstuben in einem großen bürgerhausähnlichen Gebäude untergebracht. Das älteste erhaltene kommunale Spital ist das 1236 erbaute Heilig-Geist-Spital in Mainz, die monumentalste Anlage ist das gleichnamige Lübecker Hospital, das 1285–90 entstand. Die übliche Bezeichnung Heilig-Geist-Hospital meint nicht mehr den Heiligen-Geist-Orden als Träger des Spitals, sondern das Kapellenpatrozinium. Das Spital gehörte mit seinen Nebengebäuden zu den herausragenden Baulichkeiten der Stadt. Durch Grundbesitzerwerb in der Stadt entstanden vielfach ganze Spitalviertel. Ein Beispiel für die vielfältigen Funktionen des Spitals im weiten Sinne bietet das Frankfurter Heilig-Geist-Spital, das im Mittelalter – nach modernem Verständnis – folgende Einrichtungen unter einem Dach vereinte:¹⁵⁹ ein Krankenhaus (1), zeitweise eine Entbindungsanstalt (2), eine Fürsorgeanstalt für Kinder (3), ein Versorgungsheim für wohlhabende Pfründner (4), eine Speisungsanstalt für Arme (5), eine Anstalt für Geisteskranke (6), eine Elendenherberge mit Nachtasyl (7), ein Pestilenzhaus (8), eine Almosenverteilungsstätte (9), ferner – was nicht typisch ist – eine Speisenlieferungsanstalt für die Gefangenen in den städtischen Türmen (10) und ein Gefängnis (11). Vielfach war dem Spital eine Badeanstalt für die Versorgung von Hauterkrankungen angeschlossen, die infolge der unhygienischen Verhältnisse zahlreich waren.

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Die Stadt und ihre Bewohner

Schon frühzeitig fand eine Trennung in allgemeine Hospitäler und in ergänzende Siechenhäuser für ansteckende Krankheiten statt. Eine Spezialisierung zur Funktionsentlastung des Hospitals und als Ausgleich für die Restriktionen des »Bürgerhospitals« mit seinem Pfründnerwesen vollzog sich daneben, ohne dass der umfassende Hospitalgedanke aufgegeben worden wäre, mit der Einrichtung von Elendenherbergen (Hospize) für fremde Reisende, von Pilgerhäusern, von bescheidenen Armen- und Seelhäusern für ärmere Hilfsbedürftige und Obdachlose, von quasi-klösterlichen Regelhäusern für arme alleinstehende Frauen, von Findelhäusern angesichts von Kindesaussetzungen und von Waisenhäusern. An Sonderspitälern, Isolieranstalten für ansteckende Krankheiten, gab es Lepra-, Pest- und seit etwa 1500 noch Blattern- oder Franzosenhäuser für Syphiliskranke. Seit dem 13. Jahrhundert wurden meist auf Initiative der Kommunen außerhalb der Stadt, von den Wohnbereichen der Gesunden geschieden, Leprosorien-, Siechen-, Sondersiechen-, Aussatz-, Gutleute- oder Melatenhäuser für Leprakranke angelegt. Sie befanden sich der Versorgung und Entsorgung wegen in der Nähe einer Quelle oder eines Flusslaufes und in unmittelbarer Nähe der Hauptverkehrswege zur Stadt, damit sie für die städtische Verwaltung erreichbar waren und die Insassen die Möglichkeit hatten, Almosen zu sammeln. Die ausgebildete, auf Unterbringung und Versorgung angelegte, von Mauern umschlossene Siedlung umfasste Wohnstätten für die Kranken sowie P ege- und Hilfskräfte, landwirtschaftliche Gebäude, einen Brunnen, eine Kapelle oder Kirche und einen Friedhof. Die streng bewachten Pesthäuser (Pesthöfe, -lazarette), die im Reich nach dem Auftreten der Pest planvoll überwiegend erst im ausgehenden 15. Jahrhundert eingerichtet wurden, dienten hingegen nur der zeitweiligen Isolierung und Unterbringung Pestkranker oder einer Infektion Verdächtiger außerhalb oder innerhalb der Stadt. Der hermetischen Absonderung wegen wählte man für ihre Errichtung nach Möglich-

keit ein Areal, das von Wasserläufen oder Wassergräben umschlossen war. Auch wurden Wohnungen von Pestkranken, die man zum dortigen Verbleiben zwang, durch Kennzeichnung mit Kreuzen als Pesthäuser deklariert. Geistig Behinderte, die zudem stark selbstmordgefährdet waren, wurden – soweit sie nicht in der Familie gehalten wurden oder im Spital oder in separaten Räumen des Spitals sowie zunehmend auch in gestifteten Häusern unterkamen – in einem Irrenasyl wie dem 1326 in Elbing eröffneten oder in einem Narrenhäuslein verwahrt, als das Stadttürme und Tore dienten oder das wie 1470 in Nürnberg eigens errichtet wurde. In Hamburg (1376) war die Toll- oder Torenkiste (cista stolidorum) ein Turmstockwerk mit Ketten und Fußblöcken, während in Lübeck und anderen Städten Tollkisten als erbärmlichste Form der Unterbringung Verschläge mit kleiner Fensteröffnung im Bereich der Befestigung oder vor der Mauer waren. 1.5.4.6 Weitere Bauten von Kommune, Korporationen und Privatpersonen 1.5.4.6.1 Mühlen, Krane und Siedehäuser Technische Wirtschaftsbauten sind die Mühlen. Die Müllereien waren oft stadtherrliche oder kommunale Regiebetriebe und lagen meist vor der Stadt, doch war man bestrebt, diese lebenswichtigen Produktionsstätten vor feindlichen Zugriffen geschützt zu errichten, zumal sich Mehl nicht lange lagern ließ. In Köln wurden vor der Stadt mitten im Rhein schwimmende Mühlen betrieben. Die Mühle als unterschlächtige Wassermühle, Windmühle auf Türmen und Toren der Stadtbefestigung oder als durch Muskelkraft (u. a. durch Pferde) bewegtes Antriebsaggregat fand außer in den Getreidemühlen vielfache Verwendung in den stadt- oder zunfteigenen Walk-, Zwirn- und Lohmühlen der Tucher, Garnhersteller, Gerber und Schuster, in Hammerwerken, als Öl-, Knochen-, Reiß-, Pulver-, Stein-, Bohr- und Sägemühlen, Schleif-, Polier-, Drahtziehmühlen und Papiermühlen (Hader-, Gleißmühlen). Größere Bauten sind auch die mit Tretrad betriebenen Krane, die seit dem 13. Jahrhundert belegt sind, oder das

Stadtgestalt 115

Danziger Krantor. In den Salzstädten Lüneburg, Halle und Schwäbisch Hall, in Reichenhall, Hallein und Hall im Alpengebiet wurden in Randlage die Siedehäuser im Bereich der Salzquellen erbaut. In Lüneburg gab es 54 in Zeilen aufgereite Häuser. Durch Schöpfen oder Pumpen wurde die Sole an die Ober äche und durch Kanäle und Leitungen in die Siedehäuser gebracht, wo in großen Bleipfannen das Wasser verdampft wurde. Die technischen Bauten des Bergwesens liegen außerhalb des Stadtgrundrisses. 1.5.4.6.2 Brücken Zentrale Verkehrsadern führten über Brücken bisweilen ins Stadtzentrum und zu einem Markt oder verbanden Stadtteile. Die Holz- und Steinbrücken waren teilweise eindrucksvolle, aber durch Naturgewalten wie Hochwasser und Eisgang oder Feuer gefährdete und reparaturanfällige Konstruktionen. Sie wurden aus Brückenzöllen und speziellen Abgaben (Brückengelder) für die Benutzung, eigenen Vermögenserträgen aus zinstragenden Liegenschaften, Sammlungen, Legaten reicher Bürger, gelegentlichen Zuwendungen Dritter, darunter Könige und Bischöfe, und aus kirchlichen Ablässen nanziert und unterhalten.¹⁶⁰ Da die Brücke wie Straße und Strom ein Regal (Königsrecht) war, griffen Könige in den Bau, die Nutzung und Finanzierung von Brücken durch Gewährung von Zoll und Brückengeld ein. Das Eigenvermögen der Brücke aus Renten und Zinsen, durch das die Brücke in Frankfurt am Main, Bremen, Koblenz oder Bozen zur Vermögensträgerin und gemeinnützigen juristischen Person wurde, verwalteten für die Kommune die Brückenmeister (provisores pontis), die zu den frühen Ratsämtern gehörten. Auch Brückenbau-Bruderschaften wurden zugunsten von Bau und Reparatur gebildet. Die Brücke war Gemeinschaftsaufgabe der Bürgerschaft und stand ausdrücklich unter dem Gedanken des gemeinen Nutzens (communis utilitas), wegen ihrer Unentbehrlichkeit für die Menschen zugleich unter dem Gedanken der

Nächstenliebe. Ferner war sie von volkstümlichen Legenden und christlich-numinosen Vorstellungen umrankt. Zu ihrem Schutz waren Brücken mit Bildnissen und Figuren von Heiligen besetzt. Manche trugen sogar Kapellen mit dem Patrozinium des hl. Nikolaus, später auch des hl. Nepomuk, und auf dem Scheitelpunkt eine Kreuzigungsgruppe. Auf Brücken in Basel, Erfurt und in anderen Städten standen Verkaufsbuden, die sie zu einem Markt machten. Brücken waren aber auch wie in Dresden und Würzburg Orte der Rechtsprechung, ferner Richtstätten bei Verurteilung zum Tode durch Ertrinken etwa für Kindsmörderinnen oder Wucherer. Außenbrücken – mit Brückentürmen – waren Teil der Forti kation. Herausragende und von den Zeitgenossen bestaunte Beispiele für die ältesten Steinbrücken nach dem Verfall der alten Römerbrücken sind östlich des Rheins die 1133 in Würzburg über den Main errichtete Brücke und die zwischen 1135 und 1146 vermutlich unter Mitwirkung oberitalienischer Spezialisten erbaute Regensburger Donaubrücke, die mit 336 Meter doppelt so lang und mit drei Zollhäuschen bestückt ist. Die steinerne Mainbrücke Frankfurts wird erstmals 1266 erwähnt. In Maastricht ersetzte die 1280 begonnene und 1298 in Gebrauch genommene 160 Meter lange Servatiusbrücke, deren Standort der Verlagerung der Kaufmannssiedlung folgte, die südlich gelegene, marode gewordene und 1275 eingestürzte römische Brücke. Im Laufe des 15. Jahrhunderts ging der Bau bedeutender Brücken deutlich zurück, da das Verkehrsaufkommen nicht mehr signikant anstieg und die Bedürfnisse weitgehend erfüllt waren. Die Stadt Köln besaß im Mittelalter keine Brücke über den Rhein, sodass der Übergang mit einem Fährdienst bewerkstelligt werden musste. 1.5.4.6.3 Gilde- und Zunfthäuser Hervorstechende, repräsentative Bauten sind die Gilde- und Zunfthäuser, die Gewandhäu-

160 E. M, Die Brücke im Mittelalter; ., Die Brücke im europäischen Mittelalter.

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Die Stadt und ihre Bewohner

ser mit Festsaal, die Häuser und Trinkstuben der Patriziergesellschaften und der Kau eutearistokratie, darunter die hansischen Artushöfe in Reval, Riga und Danzig, und die städtischen Tanz-, Trink-, Hochzeits- und Festhäuser. Für etwa 80 000 Gulden wurde 1441–47 der prachtvolle Kölner Festbau, der Gürzenich, erbaut, der seit dem späten 15. Jahrhundert im Erdgeschoss auch als Kaufhalle benutzt wurde. 1.5.4.6.4 Badestuben Für Hygiene und Geselligkeit wichtig waren die kommunalen oder privaten Badestuben, die man als eine notwendige Einrichtung einer Stadt betrachtete. An Badestuben gab es, wobei die Zahlenangaben oft schwanken, im ausgehenden Mittelalter in Breslau 12, in Wien 21 (29), in Augsburg 17, in Frankfurt am Main zeitweise 15, in Würzburg und Nürnberg 12 und 10 in Ulm. Köln verfügte im 12. Jahrhundert über mindestens 2, im Jahre 1438 über 11 Badestuben. Das Aufkommen von Syphilis am Ende des 15. Jahrhunderts und frühneuzeitliche Prüderie führten zu einer rückläu gen Entwicklung. In Frankfurt gab es 1387 insgesamt 29, im Jahre 1555 nur noch 2 Badehäuser. 1.5.4.6.5 Bäche, Brunnen und Abwasser Die Versorgung der Stadt mit Trink-, Brauchund Löschwasser war eine lebenswichtige Aufgabe.¹⁶¹ Für die Bereitstellung von Trinkwasser nutzte man innerstädtisches Grund- und Quellwasser, aber auch Flusswasser, das in einigen Städten von Wasserträgern zum Verbraucher gebracht wurde. In selteneren Fällen führte man der Stadt Quellwasser aus der nahen Umgebung zu. Als Brauchwasser standen Flusswasser und in Fässern und Zisternen aufgefangenes Regenwasser zur Verfügung, oder es wurde Wasser in Kanäle und in holzgefasste, später gep asterte und regelmäßig gesperrte und ausgekehrte Stadtbäche eingeleitet. In Freiburg im Breisgau durchzogen die Bächle die Stadt und dienten der Wasserversorgung, aber auch der Rein-

haltung der Straßen und der Brandbekämpfung; in Aachen betrieb die schmale Pau Mühlen der Bürger und weitere innerhalb der Immunität des Marienstifts und versorgte an Wasserlöchern verschiedene mit Wassergerechtsamen bedachte Gewerbe. Außerdem gaben die teils offenen, teils gedeckten Stadtbäche den Hausfrauen Wasser zum Waschen und Fegen. Die größte Bedeutung kam dem Grundwasserbrunnen zu, der Wasser in einem quadratischen Holz- oder einem runden Steinschacht fasste. Die ältesten Brunnenanlagen sind archäologisch in Lübeck und Wien für das 12. und 13. Jahrhundert nachgewiesen. Entsprechend der Schöpftechnik lassen sich verschiedene Arten von Ziehbrunnen (kölnisch Pütze), bei denen das Aufzugsseil über einen Balken oder eine Welle läuft, unterscheiden: Windeoder Wellenbrunnen, bei denen das Seil auf der Welle gerollt ist und diese mit Hebelarmen gedreht wird, und Hebe- oder Galgenbrunnen, bei denen Seile und Schöpfgefäß über einen waagerechten Hebebalken bewegt werden. Vom 16. Jahrhundert an wurden in Köln auch Saugbrunnen errichtet, die allmählich die Ziehbrunnen verdrängten. Über größeren Brunnen wurde ein Brunnenhaus errichtet. Für die Laufbrunnen in Gestalt von Stockoder Röhren-, Schalen- und Wandbrunnen, die ständig ießendes Wasser abgeben, musste das Wasser von Quellen, die innerhalb oder außerhalb der Stadt gefasst wurden, in Leitungen geführt und auf die Brunnenanschlüsse verteilt werden. Quellwassergespeiste Laufbrunnen hatten den Vorzug, dass ihr Wasser weniger durch Sickerwasser aus benachbarten Senkgruben von Abtritten verunreinigt war. Notwendigkeit und Möglichkeit der Anlage von Leitungen richteten sich nach den geologisch bedingten örtlichen Grundwasser- und Quellverhältnissen und nach dem Umfang des Wasserbedarfs, der etwa durch wachsenden Brauwasserbedarf erheblich gesteigert werden konnte. In grundwasser-

161 H. K, Die städtische Gemeinschaft, S. 49–58; U. D, Die kommunalpolitischen Zuständigkeiten; G. B; R. B; M. G; K. G; J. S; M. M.

Stadtgestalt 117

reichen Städten wurden deshalb erst relativ spät Leitungsanlagen gebaut. Derartige Leitungen waren seit langem innerhalb städtischer Klöster in Gebrauch. Von den Städten besaßen Salzburg im 12. Jahrhundert und Basel und Regensburg im 13. Jahrhundert Leitungsanlagen, die Quellwasser von außen zuführten und die von kirchlichen Institutionen initiiert und erbaut worden waren. Im Jahre 1316 übernahm dann der Basler Rat die Regie über Quellen und Leitungen und deren Ausbau. Kommunale Wasserleitungen lassen sich für das 13. Jahrhundert noch in Regensburg nachweisen, für das 14. Jahrhundert in Freiburg im Breisgau, Bern und Nürnberg und für das 15. Jahrhundert in Augsburg, Ulm, Zürich, München, Meran und Innsbruck, zusätzliche in Bern und Regensburg. Im 15. Jahrhundert waren in einzelnen Städten ganze Leitungsnetze vorhanden wie in Nürnberg und Basel, in Frankfurt am Main sogar schon seit 1342. Der Verlauf außerhalb der Stadt wurde in Nürnberg als Geheimnis behandelt. Die längeren Leitungen wurden als weniger haltbare, erheblichen Wasserverlust aufweisende längs durchbohrte Holzrohre gelegt. Bei der Lübecker Leitungsführung aus der Wackenitz von 1294 für die Bierbrauer waren die Holzrohre untereinander mit Röhren aus Zinn oder Kupfer verbunden. Meist nur Brunnen- und Hausleitungen wurden als weniger druckfeste, zudem gesundheitsschädliche Bleirohre ausgeführt; Versuche mit Eisen- oder Tonrohren (Augsburg 1412) wurden wieder aufgegeben. Das Wasser wurde aus höher gelegenen Quellen in Brunnenstuben mit Wasserkästen geleitet und durch Rinnen oder Röhren auf Brunnen verteilt (Gravitationsanlagen) oder – auch Grundwasser – mithilfe von Wasserkünsten künstlich gehoben. Wasserkünste, in denen mit Wasser- oder Windkraft getriebene Schöpfräder höher liegende Sammelbehälter füllten, sind schon für das 13. Jahrhundert nachweisbar (Breslau 1272, Lübecker Brauwasserkunst 1294). Die Lübecker ›Wasserkunst‹ förderte mit Hilfe eines Wasserrades mit Schöpfgefäßen Wasser aus der Wackenitz in einen Hochbehälter, von dem aus das Wasser mit

Rohren zu den städtischen Bierbrauern geleitet wurde. In Augsburg entstand 1412–1416 mit dem Brunnenwerk im Roten Turm der erste bekannte Wasserturm. Zur Erzeugung des notwendigen Wasserdrucks beförderten wassergetriebene Zylinderdruckpumpen das Wasser in die hoch gelegenen Sammelbehälter; Leitungen liefen unter der Straße und versorgten öffentliche und private Brunnen. Separate Hausanschlüsse wurden vor allem von Bierbrauern und Bäckern gelegt. Die häusliche Wasserversorgung war grundsätzlich Privatsache. Nur wenige Häuser hatten eigene Brunnen, aber es gab öffentliche Brunnen, die im 13. Jahrhundert aus Holz gefertigt, danach aus Stein oder Ziegeln gemauert waren. Öffentliche Brunnen und Viehtränken befanden sich an größeren Plätzen und Stadttoren und wurden von der Stadt vor allem dort errichtet, wo Wasser zur wirtschaftlichen Nutzung benötigt wurde. Einzelne Brunnen wurden, wie etwa der Schöne Brunnen in Nürnberg (1389–96), technisch und künstlerisch zu kommunalen Prestigeobjekten ausgestaltet, da Brunnen sichtbar die ›Ehre der Stadt‹ und den ›gemeinen Nutzen‹ repräsentierten. Für Bau und Unterhalt öffentlicher und halböffentlicher Brunnen wurden vielfach Brunnengemeinschaften und Wasserkunstgenossenschaften gebildet, die über Sonderhaushalte mit Vermögen und Erträgen aus öffentlicher und privater Hand verfügten. Soweit öffentliche Brunnen überwiegend privat genutzt wurden, hatten die sie nutzenden Anlieger, die zu Brunnengemeinschaften zusammengeschlossen wurden, die tägliche Obsorge zu übernehmen und die anfallenden Reparatur- und Reinigungskosten unter sich umzulegen. Städtische Brunnenmeister überwachten Brunnen, Wasserkünste und Leitungen, wegen der Vorsorge für die Feuerbekämpfung meist auch private Brunnen. Nürnberg besaß nach der Mitte des 15. Jahrhunderts etwa 100 öffentliche Grundwasserbrunnen und etwa 17 bis 23 öffentliche Laufbrunnen; über 23 Laufbrunnen, die von einem durch eine Wasserkunst versorgten Wasserturm und einem weiteren hochgelagerten Punkt aus mit-

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tels eines Röhrensystems gespeist wurden, verfügte Ulm. Die Stadt Basel, die für ihre Laufbrunnen berühmt war, hatte bereits 1440 insgesamt 40 öffentliche Brunnen und weitere 22 in Klöstern, im Spital und in Privathäusern, die an Wasserleitungen angeschlossen waren. Abwasser und Fäkalien wurden in einigen Städten bereits im Spätmittelalter teilweise in offenen Rinnen, Gräben, Schwemmgräben oder in gedeckten Kanälen und unterirdischen Leitungen abgeführt. In diesem Bereich waren Anlieger zu Dohlengemeinschaften zusammengeschlossen. Ansonsten gab es gewerbliche, unter Ratsaufsicht stehende Grubenräumer, die in Frankfurt Heimlichkeitsfeger, in München und Köln Goldgrübler und Goldgräber, in Nürnberg Pappenheimer genannt wurden. Die kostspielige Leerung der im Übrigen vielfach bis in Grundwassertiefe gegrabenen und auch von der Grundwasserströmung erfassten Senkgruben hatten städtischen Ordnungen entsprechend außerhalb der warmen Jahreszeit, bei Nacht und unter Benutzung vorgeschriebener Transportwege zu erfolgen. Der Aushub sollte an bestimmten Stellen in den Fluss gekippt werden, dem man die Fähigkeit zusprach, Fäkalien und Abfälle, gelegentlich wird auch Aas genannt, schadlos zu verzehren. Nur die Stadtbäche mit ihrer geringeren Wasserführung durften dazu nicht genutzt werden. 1.5.4.6.6 Gassen und Straßen Gassen und Straßen wurden stellenweise mit Stroh bedeckt (Frankfurt) oder mit Schotter eingeworfen. Bohlenwege (Brücken), Holzbohlen, die quer zur Straßen ucht auf längs gelagerten Stämmen befestigt und eventuell durch Polster aus Sand gegen Erschütterungen durch Fahrzeuge unterfüttert wurden, oder lediglich Schrittsteine überbrückten feuchte Abschnitte. Um 1200 kamen etwa in Lübeck und Hannover Steinp asterungen auf. Es dauerte aber bis zum 14. und 15. Jahrhundert, bis die Bep asterung mit Flusskieseln oder zugehauenen Kopfsteinen und Steinplatten in Sandbettung häu -

ger anzutreffen war; so gibt es Anhaltpunkte für eine systematischere P asterung in Bern 1399, in Zürich 1403 und in Augsburg 1416. Sie beschränkte sich auch dann noch auf verkehrsreiche Straßen, auf Marktplätze und Geländeabschnitte um die Tore, öffentliche Gebäude und vor Grundstücken einzelner Bürger. Bürgersteige fehlten. Die Bep asterung erfolgte in städtischer Regie durch P astermeister, die seit dem 14. Jahrhundert anzutreffen sind. Einen Anteil an den Kosten hatten die Anlieger zu tragen. Duderstadt gewährte Beihilfen für die Ausbesserung privater P asterungen. Entwässert und zur Reinigung geschwemmt wurden Straßen und Gassen durch Rinnsteine und Kanäle. 1.5.4.7 Kirchenbauten 1.5.4.7.1 Kathedral-, Stifts- und Pfarrkirchen Als monumentale Bauwerke beherrschten die meist mehrtürmigen Bischofs-, Stifts- und Klosterkirchen und die an den Stadtmauern situierten Bettelordenskirchen das Stadtbild und müssen bereits den aus der Ferne herannahenden Reisenden tief beeindruckt haben.¹⁶² Der Dom- und Münsterbau war Sache des bischö ichen Bauherrn und der überwiegend adligen Kleriker der Bischofssitze, die kirchliche Finanzmittel, Ablassgelder, grundherrschaftliche Einkünfte, selbst Frondienste, Besitzübergaben und Dotationen von Laien für den Bau mobilisierten. In immer größerem Umfang übernahmen seit dem 13. Jahrhundert zu Reichtum gelangte Bürger und nanzkräftige Kommunen Baulasten. Sie gewannen deshalb Ein uss auf die Kirchenfabrik, d. h. die Verwaltung des Bauvermögens, oder übernahmen sie gleichwertig (Lübeck 1256), weitgehend (Bremen) oder faktisch vollständig (Straßburg 1282/86). Die Verwaltung des Stiftungsvermögens der rechtlich selbständigen Kirchenfabrik des Straßburger Münsterbaus (opus Sanctae Mariae, Frauenwerk) ging 1284 vom Domkapitel auf den prominenten Straßburger Bürger ministerialischer Herkunft Ellenhard über und geriet unter die P egschaft des Rates, sodass das Münster mehr

162 Zusammenfassend C. M, Kleine Kunstgeschichte, S. 200–230. Siehe auch Kap. 5.

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zur Stadtkirche als zur Bischofskirche wurde. Vom Ende des 13. Jahrhunderts an ndet man den Domklerus kaum mehr unter den Spendern; das Bauvermögen wurde zum allergrößten Teil von Straßburger Bürgern aufgebracht. Ähnlich verhielt es sich beim Bau des Stephansdoms in Wien. In Regensburg scheint der Dombau in gotischer Zeit fast ausschließlich auf der Finanzkraft des städtischen Patriziats beruht zu haben. Der Kirchenbau wurde der Ehre der Stadt zugerechnet. Große, architektonisch beeindruckende und mit Kunstwerken reich geschmückte Kirchen dienten der Reputation der Stadt und ihrer Bürger, manifestierten Bürgersinn, kommunale politische Unabhängigkeit, wirtschaftliches Florieren und gesellschaftlichen Reichtum, bürgerliche Opferbereitschaft und Frömmigkeit. Sie boten Vergleichsmaßstäbe im Wettbewerb der Städte untereinander. Deshalb klagte die Stadt Köln 1419 über die Vernachlässigung des Baubetriebs und forderte die Vollendung des 1248 als Neubau begonnenen und am Vorbild der Kathedrale von Amiens orientierten gotischen Bauwerks, das erst den fertigen großen Chor aufwies, während sich Kirchenschiff und Türme erst in einem rudimentär ausgeführten, provisorischen Zustand befanden und lediglich ein großer stillstehender Baukran den Bauwillen repräsentierte. Kirchenschiff und Türme wurden erst im Zeichen der Romantik in einer zweiten Bauphase 1842–1880 mit Geldern, die der Zentral-Dombau-Verein sammelte, sowie mit Zuschüssen Preußens und Kaiser Wilhelms I. fertiggestellt. Die Stadt selbst war in ihrem Erscheinungsbild überwiegend durch romanische Kirchenbauten geprägt, die teilweise begonnen wurden, als sich bereits andernorts die Gotik ausgebreitet hatte. Der geistlich-pastoralen Versorgung der Laien waren – allerdings keineswegs ausschließlich, sondern neben den Dom-, Stifts- und Klosterkirchen – die kommunalen Pfarrkirchen mit ihrem Sprengelbereich (Kirchspiel, Parochie) als Zeichen genuin bürgerlicher Kirchlichkeit und Frömmigkeit gewidmet. Bei vorgegebenen Sprengeleinteilungen konnte es, wie in Ulm bis 1377, vorkommen, dass die für die

Stadt zuständige Pfarrkirche vor deren Mauern lag und in der Stadt von ihr abhängige Kapellen errichtet wurden, die oft sehr spät im 15. Jahrhundert volles Pfarrrecht erhielten. Die erste große Welle städtischen Pfarrkirchenbaus erfolgte in stau scher Zeit, vor allem an der Wende zum 13. Jahrhundert, vorwiegend in der aufwendigen Form der Basilika, d. h. mit Hauptschiff und untergeordneten Seitenschiffen. Die spätgotische bürgerliche Stadtkirche ist die eintürmige Hallenkirche mit gleich hohen Seitenschiffen, die zusammen mit dem Mittelschiff von einem monumentalen Dach oder Paralleldächern über jedem Schiff zusammengefasst werden oder jochweise angeordnete Zwerchdächer haben. Das Querschiff entfällt; die Giebelfront wird zum Schaugiebel ausgestaltet. Doch haben Städte wie Lübeck, Freiburg im Breisgau oder Ulm Basiliken gewaltigen Ausmaßes errichtet. Beim sogenannten sächsischen Querriegel, der auch in die Mark Brandenburg und in das Ostseegebiet vordrang, stehen zwei Türme über einem breit gelagerten Unterbau. Eine wechselvolle Baugeschichte hat die Lübecker Marienkirche als reine Bürgerkirche. Zunächst aus Holz (1163), entstand sie um 1200 in Backstein als Basilika nach vergrößertem Modell des örtlichen Domes, sollte dann aber nach bürgerlichem Selbstverständnis als Rats- und Stadtkirche in der Form der Hallenkirche ausgeführt werden (1250). Nach erneuten Umbauten nach 1260 wurde sie schließlich doch nach französischem Kathedralschema als Basilika mit Zweiturmfassade und Umgangschor mit Kapellenkranz verwirklicht (1310–30); die Westtürme wurden 1351 vollendet. Abbild ist die Nikolauskirche zu Stralsund, die vor 1260 als Hallenkirche konzipiert war und nach 1270 zur Kathedrale mit Umgangschor umgebaut wurde. Der Bau des gotischen Straßburger Münsters, das auf den Grundmauern einer um 1015 frühromanisch begonnenen und 1176 abgebrannten Kirche ausgeführt wurde, dauerte zweieinhalb Jahrhunderte. Bald nach dem Brand beschloss der Bischof, den alten Dom zu ersetzen. Die architektur- und kunstgeschichtlich außerordentlich prächtige, 66 Meter hohe Westfassa-

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de mit ihrem reichen Skulpturenschmuck wurde 1277–1399 errichtet, und der Bau kam 1439 mit der Fertigstellung des damals mit 142 Meter höchsten Turms der Christenheit zum Abschluss. Von Anfang an als monumentale Pfarrkirche geplant war das zu Ehren der Jungfrau Maria errichtete Ulmer Münster, dessen Bau relativ spät 1377 nach der Erlaubnis zum Abbruch der alten Pfarrkirche zu den Allerheiligen vor den Mauern der Stadt in Angriff genommen wurde. Der Ulmer Dominikanermönch Felix Fabri berichtete 1488 in seiner »Abhandlung über die Stadt Ulm« von der vor 111 Jahren erfolgten Grundsteinlegung, wie er selber nachrechnete, und stellte unter verschiedenen Gesichtspunkten Betrachtungen über das Bauwerk und seine Entstehung an¹⁶³, sodass wir Einblicke in die zeitgenössische Wahrnehmung, Topik und Deutung des Kirchenbaus gewinnen können. Man erwog Fabri zufolge die Gefahren in den unruhigen Zeiten, die von der Situierung der Pfarrkirche vor der Stadt ausgingen, sowie die Unmöglichkeit, an hohen Festtagen nächtliche Gottesdienste abzuhalten, die generelle Erschwerung des sonntäglichen Gottesdienstbesuchs und die Grablegen bei den Bettelordensklöstern. Man bedachte, welche Stiftungen der Bürger den Franziskanern und Dominikanern für ihre Kirchen und Bauten zu ossen und dass vieles davon einer innerstädtischen Pfarrkirche zugewendet worden wäre. Um die Pfarrkirche samt Kirchhof für Grabstätten fast im Zentrum der Stadt errichten zu können, kaufte man die dort gelegene Schwitzstube und andere Häuser, ferner das Haus der Schwestern von der dritten Regel des hl. Franziskus und den größten Teil des Gartengrundstücks der Franziskaner auf. Während des Abbruchs der alten Pfarrkirche, deren Materialien – Portale und Sakristeieingänge –, Skulpturen und Kunstgegenstän-

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de in Arbeitsleistungen der ganzen Laienbevölkerung und der Geistlichen zur Wiederverwendung in die Stadt geschafft wurden, errichtete man für den Gottesdienst auf dem Baugrund der neuen Kirche in der Stadt als vorübergehendes Provisorium eine Kirche aus Holz mit Holzaltären. Der Ankauf und Transport der Bausteine kostete dann, da sie von weither besorgt werden mussten, unglaubliche Summen. In einem Kreis von 464 Schritten wurde sodann die ›schauderhaft anzusehende‹ große und tiefe Baugrube bis auf das Grundwasser ausgehoben.¹⁶⁴ In den Schlamm schlug man Pfähle aus stärkstem Ulmenholz und legte darauf Grundsteine und große Felsblöcke, um das Fundament vorzubereiten. Eingehend schildert Fabri die Grundsteinlegung am 30. Juni 1377 durch den Bürgermeister und Angehörige des Stadtregiments angesichts dessen, dass nach dem kühnen und großherzigen Willen der Gründer das Bauwerk ausschließlich auf Kosten der, wie Fabri sagt, so kleinen Stadt und der Bürger begonnen und abgeschlossen werden sollte, ohne Fremde und Fürsten¹⁶⁵ um Beihilfen anzurufen, zu betteln und besondere Ablässe dafür zu erlangen. Auch aus diesem Grund nennt Fabri das im Kirchenschiff längst vollendete Münster mit seinem noch nicht in voller Höhe aufgeführten, aber gleichsam in den Himmel wachsenden ›riesigen und erhabenen‹ Glockenturm¹⁶⁶ zur Ehre der göttlichen Majestät einen Tempel ›zum Staunen und zur Bewunderung für alle Völker und Jahrhunderte‹. Das Münster als einzige Pfarrkirche der Stadt überrage an Größe und seelsorgerischer Bedeutung alle anderen Pfarrkirchen. Es sei keine Kollegiatkirche, keine Bischofs- oder Abteikirche, sondern eine einfache Pfarrkirche, übertreffe aber an Größe viele Kathedralkirchen und an Schönheit die meisten Patriarchalkirchen, ausgenommen freilich als berühmtes-

Principale III (Drittes Hauptstück), cap. 1. Das Münster ist 124 Meter lang und 50 Meter breit. Ausgenommen war der Graf von Württemberg, der anscheinend Baugrund zu Verfügung stellte. Der Turm des Ulmer Münsters zusammen mit den beiden Chortürmen wurde erst in einem zweiten Bauabschnitt seit 1844 im Jahre 1890 vollendet; seine Höhe beträgt als höchster Kirchturm der Welt knapp 162 Meter gegenüber 157 Metern der gleichfalls erst im 19. Jahrhundert vollendeten Türme des Kölner Doms.

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te die einstige Sophienkirche in Konstantinopel. Fabri geht auch auf die ästhetische Wirkung des Bauwerks ein: Die Ulmer Kirche ist schöner als alle anderen, freilich nicht wegen des Wandschmucks, der Struktur des Bodenbelags, der Steinskulpturen, der Wandmalereien oder Täfelungen¹⁶⁷, sondern wegen des Glanzes des Lichts, worin die eigentliche Schönheit bestehe. Er habe viele Kirchen gesehen, die in Architektur und in der Qualität der Materialien schöner seien, doch keine, die so von Licht durchutet und in allen Winkeln so hell sei wie diese Kirche, die auch keine verborgenen, sondern nur zugängliche und helle Kapellen habe. Ferner verfüge die Kirche mit 51 Altären über mehr Altäre als andere Kirchen; die Altäre seien außerdem nicht von Fürsten, Adligen oder sonstigen Fremden, sondern ausschließlich von der Stadtbevölkerung selbst dotiert. Die Nürnberger Pfarrkirchen St. Sebald und St. Lorenz waren gleichfalls Bürgerkirchen, doch wiesen sie im Chorhaupt, der vornehmsten Stelle, ein streng hierarchisches Fensterrecht auf, das gestiftete Fenster in der Reihenfolge von Kaiser, Bischof, Markgraf, Inhaber von Kirchenstellen, Kirchenp egern und Familien des Patriziats ordnete. Den Stiftungsbrief für die Frauenkirche (Marienkirche), die an der Stelle der 1349 zerstörten Synagoge in den Jahren 1352 bis 1362 an der Ostseite des Hauptmarkts als Hallenkirche aufgeführt wurde, erließ 1355 Kaiser Karl IV.; die Frauenkirche diente auch als königliche Hofkapelle. Der Bau von St. Sebald wurde um 1230 auf einem dem hl. Petrus geweihten Vorgängerbau (Petruskapelle) begonnen und bis 1273 vermutlich nach dem Vorbild des 1237 fertiggestellten Bamberger Doms mit spätromanischen Bauteilen als doppelchorige Pfeilerbasilika mit Doppelturmfassade und polygonaler Apsis am Westturm errichtet, während der Innenaufriss gotisch ausgeführt wurde. Bereits 1309 brach man die Seitenschiffe ab und erweiterte den Kirchenraum vermutlich bis 1330 auf die heutige Breite in der Flucht der

Stirnmauern des Querhauses; ferner wurden bis 1345 die beiden Türme im hochgotischen Stil erhöht. In der Zeit der Parler wurde in den Jahren 1358–1379 der Ostchor über der Grablege des Ortsheiligen und Schutzpatrons St. Sebald zum spätgotischen Hallenumgangschor ausgebaut. Damals fand auch die Umwidmung von St. Petrus zu St. Sebald statt. Stiftungen fester Ausstattungsobjekte waren im Unterschied zu St. Lorenz bis ins später 15. Jahrhundert fast ausschließlich den Patrizierfamilien vorbehalten. St. Sebald befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Alten Rathaus und diente als Ratskirche. In Konkurrenz zu dem Vorbild St. Sebald im südlich der Pegnitz gelegenen Siedlungskern Nürnbergs entstand im nördlichen Stadtteil auf einer ehemaligen dreischiffigen romanischen Pfeilerbasilika die Kirche St. Lorenz in der Zeit von etwa 1250 bis 1315 als dreischiffige gotische Basilika und wurde nach umfangreichen Umbauten seit 1350 um 1390 fertiggestellt. Die doppeltürmige Westfassade wurde mit dem Wappen Kaiser Karls IV. und einer steinernen Rosette versehen (1353/60). Um 1400 wurden die Außenwände wie in St. Sebald nach außen verschoben und im Innern zwischen den Strebepfeilervorlagen der Seitenschiffe kleine Kapellen für Ratsgeschlechter eingerichtet. Nachdem Ludwig der Bayer den Nürnbergern als Dank für politische und militärische Unterstützung gegen den Habsburger Friedrich den Schönen im Jahre 1316 Reliquien des hl. Deocarus geschenkt hatte, wurden diese in die noch im Bau be ndliche Lorenzkirche gebracht. Die 39 Partikel der Gebeine wurden in einem kostbaren Silbersarg aufbewahrt; und 1406 wurde ein eigener Deocarus-Altar geweiht. Der Patrizier Andreas Volckamer stiftete 1436/67 den noch heute erhaltenen Altar, der vermutlich die Anregung für den letzten Bauabschnitt, den 1439 bis 1477 nach Abriss des alten Chores über dem Altar errichteten großzügigen spätgotischen Hallenumgangschor gab. Die wunder-

167 Das berühmte Chorgestühl und der hervorgehobene Dreisitz des Münsters entstanden 1468–1474 als Werk des Zimmermanns und Holzschnitzers Jörg Syrlin d. Ä. in Zusammenarbeit mit dem Bildhauer Michel Erhart.

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Die Stadt und ihre Bewohner

wirkenden, Lahme und Blinde heilenden Reliquien hatten wie das Grab des hl. Sebald und in noch größerem Umfang Wallfahrten zur Folge. 1.5.4.7.2 Bettelordenskirchen Die Seelsorge durch den Pfarrklerus wurde ergänzt durch die der Bettelorden (Mendikanten), die sich von der Kanzel herab und im Beichtstuhl intensiv und mit großem Erfolg um die Stadtbevölkerung bemühten und damit auch in Konkurrenz zum eingesessenen Stadtklerus traten. Die Architektur der Bettelorden ist in der Regel einfach und streng und dem Armutsideal angemessen, das auf diese Weise baulich zum Ausdruck gebracht wird. Ihr schlichter und strenger Gesamteindruck bei häu g erheblicher Größe des Baukörpers mit großen schmucklosen Außen ächen und mächtigem Dach wird in der Architekturgeschichte gelegentlich mit dem etwas abfällig-ironisierenden Ausdruck »Predigtscheunen« charakterisiert. Die Statuten der Franziskaner von 1260 erlaubten keinen selbständig stehenden Turm, keine Wölbung außer über dem Hochaltar und keine über üssige und ästhetisch reizvolle Ausstattung. Deshalb ist die überwiegende Zahl der Franziskanerkirchen im Langhaus ach gedeckt, während die Dominikaner das Langhaus häu g wölbten. Es fehlen der Turm, aufwendiges Strebewerk und zumeist das Querhaus, ferner komplizierte Anlagen für Einzelaltäre, da die Predigt und das mönchische Chorgebet im Vordergrund standen. Ein durchgehendes Dach mit Dachreiter fasst das Kirchenschiff und den oft langgestreckten Chor zusammen; vereinzelt nden sich schlanke Westtürme und Einzeltürme am Chor. Das Kirchenschiff wurde als Saalbau oder als Basilika errichtet, die sich vor allem im süddeutschen Raum als Bauform bis in spätgotische Zeit hielt, während seit dem 13. Jahrhundert die Hallenform mit Sonderformen insbesondere von Westfalen ausgehend im Rheinland, in Norddeutschland, in Westpreußen, im obersächsischen, mährischböhmischen Raum und in Österreich Verbreitung fand. Die Kirchen der Bettelorden lagen oft mit der Längsseite und nicht durch Kirchhöfe oder Immunitäts ächen getrennt unmittelbar

zur Straße; der Klausurbereich mit Konventsgebäuden war auf der rückwärtigen Seite situiert. Die Kirchen fügten sich in die Flucht der Bürgerhäuser ein und waren, auch im übertragenen Sinne, den Stadtbewohnern zugewandt. 1.5.4.7.3 Kirch- und Friedhof Die Kirche war ein Asyl- und Friedensbereich, der von den Kirchhofsmauern umgrenzt wurde; die Kirche war daher zunächst nicht unmittelbar zugänglich. Von diesem Bereich eines erhöhten Friedens leitet sich der Ausdruck Friedhof her, der dann auf die Begräbnisstätte überging. Die steigende Belegung des Kirchhofs führte zur Errichtung von Beinhäusern (Karner), die häu g mit einer Kapelle verbunden waren. Seit dem Spätmittelalter lagerte man vereinzelt überfüllte Begräbnisstätten vor den alten Stadtbereich aus oder, vor allem im ausgehenden 15. Jahrhundert in Pestzeiten, vor die Stadt, so etwa in Nürnberg, Straßburg und Braunschweig. Die Beerdigung vor der Stadt ohne unmittelbare Kirchennähe stieß jedoch zunächst noch auf Widerstand, da die alte, vorreformatorische Kirche lehrte, dass Verstorbene umso mehr der Fürsprache der Heiligen sicher sein konnten, je näher sie am Grab eines Heiligen und in der Nähe von Reliquien bestattet wurden; auch galten Beerdigungen vor der Stadt verschiedentlich als ›unehrlich‹. Reformierte Städte lösten die Karner auf, sodass neue Begräbnis ächen erforderlich wurden. Alte Kirchhöfe wurden bei einer Verlegung, die im 16. Jahrhundert nun häu g vorkam, gelegentlich aufgelassen, sodass jetzt Marktplätze vor den Kirchen entstanden. Der Friedhof war Ort des Totengedenkens, der ungestörten Ruhe der Toten bis zu ihrer Wiederauferstehung am Jüngsten Tag, aber auch unheimliche Stätte des Todes und der Verwesung, literarisch bezeugter Gegenstand dämonologischer Ängste, des Glaubens an das Wirken untoter Toter und vermuteter nekromantischer Praktiken. Hohe kirchliche Würdenträger wurden in der Kirche bestattet, die Bürger und Einwohner auf dem Kirchhof, früh verstorbene, ungetaufte Kinder oder Totgebur-

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ten an den Randlagen des Friedhofs. Arme wurden auch an Straßen, vermutlich an Prozessionswegen, begraben. In Pestzeiten fanden auch Bestattungen in Massengräbern statt. 1.5.4.7.4 Die profane Nutzung von Kirche und Kirchhof Kirche und Kirchhof waren profaner Nutzung zugänglich. Rat und Kirche, Bürgerschaft und Kirche waren eng miteinander verbunden, sodass auch der weltliche Bereich in den kirchlichsakralen der städtischen Pfarrkirche einbezogen war. Im Kirchhof wurden Versammlungen abgehalten, an Markttagen und zu Messezeiten wurden Verkaufsstände aufgeschlagen, Urkunden ausgefertigt. Zwischen den Strebepfeilern der Kirche baute man gelegentlich Verkaufsstände und feste Buden ein. Marktbuden wurden aber auch in Kirchenvorhallen und in Kreuzgängen aufgeschlagen, so im Kölner Dom von den Hutkrämern (1477). Auf dem Kirchhof wurden selbst Häuser und Buden zu Wohnzwecken errichtet und gegen Mietzins ausgegeben oder sozialfürsorglich ärmeren Bewohnern zur Verfügung gestellt. Patrizier, Gilden, Zünfte und Gesellengilden waren in der Kirche durch den Unterhalt von Kerzen, durch Stiftungen von Leuchtern, Glasfenstern, Andachtsbildern, Altären, Gestühl und Votivmöbeln, durch Familienkapellen, Totenschilde, Epithaphe, Grabplatten und Zunftfahnen präsent. Neben der Gottesmutter Maria waren in den hansischen Seehandelsstädten St. Nikolaus als Schutzpatron für Handel und Schifffahrt und St. Jacobus als Schutzpatron der Fremden und Pilger bevorzugte Kirchenpatrozinien. Die weltliche Herrschaft des Rates erhielt Legitimation und Weihe durch die sakrale Umgebung der Rats- und Stadtkirche und ihr Reliquienprogramm. In einer Vielzahl von Kirchen wurde im Chor, in einer Vorhalle oder vor einem Portal Gericht gehalten. Kirchen bargen verschiedentlich das städtische Archiv. Von der Kanzel herab wurden Ratsverordnungen, Land- und Reichsfrieden sowie Reichssteuerordnungen verkündet; Eingänge von Reichssteuern wurden in der Sa-

kristei deponiert. Gelegentlich fanden Ratssitzungen und Vertragsabschlüsse in der Kirche statt; hier wurden auch Wahl und Vereidigung von Schultheißen und Bürgermeistern vorgenommen. Vielfältig war die Nutzung der Lübecker Marienkirche. Sie war Versammlungsort der bürgerlichen Gemeinde und des Rats. Über der Bürgermeisterkapelle im ersten Stock wurde das Ratssilber (-schatz) verwahrt, das wie in anderen Städten der Repräsentation diente, aber auch in Notzeiten eingeschmolzen und gemünzt werden konnte. Die Kapelle selbst diente den Bürgermeistern als Versammlungsort. Im Ratsgestühl fand die feierliche Einsetzung der Ratsherren und der Bürgermeister statt, die vor dem Gestühl Bittschriften entgegennahmen und Verfügungen ausstellten. Der Chor diente zu Gerichtssitzungen, ferner zu Versammlungen von Testamentsvollstreckern und Gläubigern. Die an der Marktseite angebaute St.-AnnenKapelle wurde Briefkapelle genannt, weil hier öffentliche Schreiber Urkunden ausfertigten. Glocken, Sonnenuhren und seit dem 14. Jahrhundert auch astronomische Uhren im Kircheninnern setzten der Einwohnerschaft das Zeitmaß, wie Hohl- und Längenmaße, Ziegelgröße und Brotmaße gelegentlich im Stein der Kirche xiert waren. Wie die Stadttürme wurde auch der Kirchturm als höchster Punkt der Stadt zur Wacht genutzt, außerdem spielte er für die Orientierung, etwa bei Segelanweisungen, eine wichtige Rolle. Den 126 Meter hohen Turm der Petrikirche zu Rostock konnte man bei klarer Sicht aus einer Entfernung von etwa 30 Seemeilen erkennen. 1.5.5 Die Topogra e der Stadt Die räumliche Gliederung der Stadt folgt weitgehend natürlichen Gegebenheiten und Nutzungsmöglichkeiten des Geländes, zugleich wird sie von Lebensfunktionen und diese leitenden rechtlichen, kirchlichen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnungsvorstellungen bestimmt. Der Florentiner Humanist Leon Battista Alberti hat um 1450 in seinen »Büchern über die Bau-

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kunst« hinsichtlich der Lokalisierung der Bevölkerung die Ausweisung bestimmter Stadtbezirke und Stadtlagen für die Niederlassung von Handwerkern gleicher Betriebe dargestellt und unter Berufung auf Vergil die größtmögliche Distanz zwischen den Palästen der Vornehmen und dem niederen Volk, dem Getriebe der Werkleute, gefordert. Doch auch im Reich gab es in dieser Zeit eindrucksvolle Bemühungen um eine topogra sche Erfassung der Stadt zwischen Ideal und Wirklichkeit. Der Domherr Heinrich Tribbe beschreibt um 1460 Topogra e und Bebauung von Stadt und Stift Minden unter Einschluss der rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Kirche sowie der städtischen Verfassung, der Zünfte und Bruderschaften. Felix Fabri bietet 1488 im 3. Hauptstück seiner »Abhandlung über die Stadt Ulm« neben der Darstellung des Gesellschaftsaufbaus und der Verfassung einen historischen Abriss der baulichen Entwicklung und Erweiterung der Stadt. In einem Rundgang durch die Stadt beschreibt er die Topogra e, die Kirchen und Friedhöfe, die Lokalisierung der Lärm verursachenden Gewerbe im vorstädtischen Bereich, ferner die Standorte anderer Gewerbe und der damit verbundenen Wohnungen der Handwerker, die Quartierbildung der Fischer, den Vorstadtbereich (suburbium) mit zahlreichen Häuschen der Tuchwalker, den noch weiter vorgelagerten Werkhof der städtischen Zimmerleute. Er vermerkt ferner das aufeinander abgestimmte Gefüge der Märkte und Plätze, die Nutzung der Flussläufe, technische Anlagen wie die Bohrmühle, die große Bleiche für die Baumwolltuche (Barchent), die Funktionen und die Nutzung der öffentlichen Gebäude, den Glockenturm des Rathauses mit seiner Zeitmessung, die Brücken, Mauerabschnitte, Tore und Türme, den Wasserturm und das unterirdische Kloaken- und Abwassersystem. Er würdigt auch die Bausubstanz, die Breite der nicht dunklen Straßen mit den hohen Häusern, die meist aus Holz gebaut sind, weil es außer Backsteinen keine Natursteine gibt,

168 Zur Anlage der Bischofsstadt siehe 3.2.1.

und beschreibt die Gefährdung topogra scher Abschnitte der Stadt durch Überschwemmungen. Einen instruktiven, aber weniger sachlichnüchternen, literarisierenden Rundgang unternimmt für Nürnberg der Humanist Konrad Celtis im 4. Kapitel seiner »Norimberga« von 1500. Im 19. Jahrhundert war es Wilhelm Heinrich Riehl, der 1857 in seinen »Augsburger Studien« unter der prägnanten Kapitelüberschrift »Der Stadtplan als Grundriss der Gesellschaft« versuchte, die soziologische Struktur des städtischen Raumgefüges darzulegen. Er fand die korporative Gliederung der Gesellschaftsordnung als Prinzip wieder in der Gliederung des Stadtraums nach Straßen und Stadtvierteln. Hinsichtlich der Stadtentstehung und Stadtgründung rückte die rechts- und verfassungsgeschichtliche Qualität siedlungsmäßiger und topogra scher Grundlagen – Burg, Kaufmannssiedlung (wik), mercatus, burgum, area (Wohngelände), Befestigung, Straßennetz, Gewässernetz, Neustadt – sowie des Aufrisses öffentlicher, halböffentlicher und privater Baulichkeiten in den Vordergrund. Bahnbrechend wirkte hier die 1897 erschienene Arbeit von Siegfried Rietschel über »Markt und Stadt in ihrem rechtlichen Verhältnis«. Unübersehbar ist auch der kirchliche Ein uss auf den mittelalterlichen Grundriss, der schon früh in der Sakraltopogra e der Bischofsstadt im Anschluss an die Domburg und in den ummauerten kirchlichen Immunitätsbezirken zum Ausdruck kommt.¹⁶⁸ Wenn von einer Rechts-, Wirtschafts- und Sozialtopogra e die Rede ist, so handelt es sich um gesonderte Einzelaspekte, die in Wechselbeziehungen zueinander stehen. Häu g müssen unter vorsichtiger Anwendung der retrogressiven Methode frühneuzeitliche Modelle in das Mittelalter und Spätmittelalter zurückprojiziert werden, wobei eine hohe Konstanz der Verhältnisse angenommen wird.

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1.5.5.1 Wirtschaftstopogra e 1.5.5.1.1 Gewerbliche Standorte – Gewerberechts- und Umweltprozesse Die gewerbliche Produktion war im Grundsatz wegen ihres hauswirtschaftlichen Charakters räumlich über die ganze Stadt verstreut. Bei einigen preiswerklichen Handwerken konnte auch der Verkauf im Hause des Produzenten statt nden, sofern nicht Gründe der Warenkontrolle, der Steuererhebung oder die Erreichbarkeit eines größeren Publikums eine Konzentration des Warenverkehrs im Kaufhaus oder auf dem Markt erforderlich machten. An besondere Standorte meist am Rande der Stadt waren aus betriebstechnischen Gründen die Kraftaggregate der Wassermühlen und der selteneren Windmühlen gebunden. Fließendes Wasser, teilweise auch eine hohe Luftfeuchtigkeit, war Voraussetzung für die Wäscherei und Färberei in der Wollverarbeitung, für die Gerberei, die Müllerei und für den Fischfang, die deshalb an natürlichen oder künstlichen Wasserläufen angesiedelt wurden und dort konzentriert in den Gerber- und den Fischervierteln anzutreffen waren. Brauereien waren meist an Brunnen gebunden. Feuergefährlichkeit wie die der Gießereien und Schmiedebetriebe, Lärm und Geruchsbelästigungen durch Gerberei, Färberei, Leimsiederei führten zum Abdrängen entsprechender Gewerbe in die Randlage und vor die Mauern oder zu ihrer Häufung in bestimmten Gassen. Gerberviertel lagen zunächst vielfach außerhalb des ummauerten Stadtgebiets und wurden durch die Erweiterung von Stadtareal und Mauer im 14. und 15. Jahrhundert in Randlage einbezogen. Räumlich konzentriert arbeiteten die Salzsieder mit ihren rauchenden Öfen für die Salzpfannen, wie auch die Buntmetall- und Bleiverarbeitung wegen der Verschmutzung auf bestimmte Orte beschränkt wurde. Bleichen, Färbeplätze und Flachsrotten sowie Produktionsstätten, die für die Bauwirtschaft von Bedeutung waren, wie Steinbrüche, Kalkbrüche und Kalköfen, Lehmkuhlen und Ziegeleien, befanden sich außerhalb der Stadt oder in Vorstädten, wo auch Tuchwalker und andere Berufe

des Textilgewerbes angesiedelt waren. So arbeiteten 1449 in der Nürnberger Vorstadt Wörth über 80 Färber, deren Ansiedlung der Rat gefördert hatte. In die Außenbezirke abgeschoben wurden die Abdeckereien. Auch bei den Webern gab es in Städten wie Konstanz, Biberach, Ulm oder Marburg Quartierbildungen. Agrarische Berufe und Transportgewerbe waren vorzugsweise im Außenbereich angesiedelt. In der Stadtmark vor der Mauer lagen Acker uren, Gartenanlagen und Stadtwälder. Die natürliche Standortgebundenheit einer Vielzahl von Gewerben und die raumplanerischen Ordnungsmaßnahmen des Rats führten schon im Mittelalter verschiedentlich zu einer Trennung von Wohn- und Gewerbegebiet, Wohn- und Arbeitsstätte. Andere Gewerbe, die für den täglichen Bedarf produzierten, wie Bäcker, Metzger oder bestimmte Schmiede, waren an Versorgungsbereichen orientiert über die ganze Stadt verstreut. Eine Konzentration fand hingegen bei spezialisierten Exportgewerben im weitgehend standortgebundenen Textil- und Metallbereich statt. Die Münze stand meist in der Nähe stadtherrlicher Gebäude, da sie ursprünglich rechtlich eng an den Stadtherrn gebunden war. Kau eute, Krämer und Höker waren grundsätzlich auf verkehrszentrale Standorte angewiesen. Die Wohnsitze und Speicher der Kau eute lagen im Markt- und Hafenbereich oder an großen Durchgangsstraßen; sie konnten aber auch unabhängig von veränderten Verkehrslagen an Kaufmannssiedlungen der städtischen Frühzeit anknüpfen. In einigen Städten deuten Straßen- und Gassennamen auf eine Quartierbildung unter dem Gesichtspunkt landsmannschaftlicher Herkunft, wie sie noch im Spätmittelalter in Messeorten anzutreffen ist. Auch fremde Gewerbetreibende wurden in Quartieren angesiedelt. Wirtshäuser, Kellereien und Schänken waren zwar dispers und bevorzugt in Ecklage verteilt, befanden sich aber auch wie die Herbergen der Durchreisenden wegen gehäuft an den Torbereichen. Die Benennung von Straßen oder Gassen nach einzelnen Handwerkszweigen lässt keines-

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wegs grundsätzlich den Schluss auf eine Konzentration dieser Gewerbe zu. Am ehesten kann bei Gewerben mit betriebsbedingter Standortbindung davon ausgegangen werden. In anderen Fällen gaben das in der Straße gelegene Zunfthaus oder das in der Stadt überhaupt vertretene Handwerk den Namen ohne speziellen örtlichen Bezug. Andererseits gab es Handwerkerquartiere, die sich später auflösten. Neben Gassen, die ehrbare Gewerbe als Namen haben, gab es solche, die auf die Betätigung von zweifelhaften oder fahrenden Leuten hinweisen: die Giler- (Bettler-), Bicker(Henker-), Diebs-, Lotter- (Gaukler-), Fechter-, Sackpfeifer- oder Geigergasse. In Köln war vermutlich seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert der Bereich Schwalbengasse/Berlich Standort von privaten Freudenhäusern. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts bemühte sich der Rat mit geringem Erfolg, den Wohnbereich der Prostituierten einzuschränken, damit der Wohnwert der besseren Viertel und Straßen nicht gemindert wurde und die Dirnen sich nicht an allen Orten der Stadt einquartierten.¹⁶⁹ Die Umweltbelastungen, die von Gewerben durch Lärm, schlechte Luft und Schmutzwasser wie Beiz-, Kalk-, Gerb- oder Färbereiwasser verursacht wurden, führten spätestens seit Beginn des 14. Jahrhunderts aus Gründen der Sicherheit oder der Wohnqualität zu Verordnungen und Verboten des Rats, der die Belästigungen und Gesundheitsgefährdungen für die Bevölkerung möglichst gering halten wollte. Unter Berufung auf das Vorbild anderer Städte bestimmte der Berner Rat 1314 für die Gerber mit ihrem geruchsintensiven Gewerbe Arbeitsund Wohnplätze am Stadtbach im Bereich seines Austritts an der Stadtmauer. In Freiburg im Breisgau wurden im 15. Jahrhundert die Gerber in die Gerberau verlegt. Die Lärm verursachenden Fassbinder (Büttner) hatten sich in Rothenburg in der Außenstadt anzusiedeln (1383), während sie in Frankfurt am Main in der Altstadt nur noch in einer Gasse wohnen durften

(1402). Nach dem Stadtbrand von 1417 wurde in Basel aus Sicherheitsgründen angeordnet, dass Bäcker, Töpfer und Glockengießer in die Vorstädte zu ziehen hätten; in Nürnberg war das Brennen von Tongeschirr wegen der Rauchentwicklung nur noch außerhalb der Stadt erlaubt. In München wurden unter dem Stadtherrn Ludwig dem Bayern die Weißgerber in einer eigenen Gasse konzentriert. Der bischöfliche Stadtherr legte in Würzburg bereits Ende des 13. Jahrhunderts für die Bäcker eine eigene Bäckerstraße an; die Hafner übersiedelten in die Vorstadt, nachdem ihnen 1424/24 die Ausübung des Gewerbes in der Innenstadt verboten worden war. Gegen innerörtliche Belästigungen durch Geruchs- und Lärmimmissionen, die sich durch Etablierung oder Ausweitung von Gewerbebetrieben ergaben, wurden verschiedentlich Gerichte bemüht. Der Immissionsschutz und der Beseitigungsanspruch des Eigentümers von Grundstücken fußten bis ins 19. Jahrhundert auf dem Recht der Dienstbarkeiten von fremden Liegenschaften, dem römischrechtlichen Servitutenrecht, das seine maßgebliche Zusammenfassung auf Jahrhunderte hinaus auch für Deutschland durch den italienischen Juristen Bartolomaeus Caepolla († 1475/77) gefunden hatte. Das Gericht des zur Gefahrenabwehr verp ichteten Rats konnte auf Ratsverordnungen, Herkommen oder nach Ermessen auf eine polizeiliche Entscheidungsmacht zurückgreifen. In Lübeck erhoben 1478 Nachbarn Klage gegen einen Seifensieder wegen des von seinem Gewerbe ausgehenden großen Gestanks, der insbesondere für das gebraute Bier von großem Schaden sei. Der Rat untersagte als Gericht die Ausübung des Gewerbes, weil es dort nicht herkömmlich sei.¹⁷⁰ Um 1415 klagten in Zürich Anwohner gegen einen Bürger, der das Gewerbe der Wolltuchfärberei aufnahm und in seinem Garten einen Kessel für das Sieden von Farben und Tuchen aufstellte, wegen Belästigung durch Geruch und Rauch. Der Rat erlaubte das Betrei-

169 F. I/A. L, Bettler und Gaukler (7.3-7.5), S. 180–183. 170 W. E (Hg.), Lübecker Ratsurteile (4.7), Bd. 1, Nr. 211, S. 141.

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ben des Kessels, verlangte aber, dass der Färber mit Rat des städtischen Baumeisters einen Kamin errichtete, der Rauch und Dampf abführte. Er behielt sich aber in seinem Urteil vor, die Einstellung des Betriebs anzuordnen, falls der Stadt und den Nachbarn trotz der Maßnahme eine erhebliche Belästigung entstand.¹⁷¹ In Nürnberg klagten 1457 in einem regelrechten Gewerberechts- und Umweltprozess vor dem Stadtgericht zwölf Nachbarn auf der Füll und am Kopfenberg erfolgreich gegen den Betrieb von zehn neuen mechanischen Stämpfen der Mühle unter der Füll. Die Kläger hatten Lärmimmissionen und tektonische Erschütterungen vorgebracht: Es sei ein solches ›Gerumpel‹ und ›Geprassel‹, dass man sein Wort auf der Straße und in den Häusern nicht mehr verstehe; Fenster und Öfen würden erschüttert; der Wein, der in den Kellern liege, könne nicht ruhen; Kinder, Kranke und Wöchnerinnen könnten nicht schlafen, und nachts – das ist im Mittelalter früher als heute – müsse man sein Hauptkissen über den Kopf ziehen. Schlimmer noch: Häuser seien nur noch zum halben Wert verkäu ich, sodass schon 2 000 Gulden Hauptgut, d. h. Kapital, verloren seien. Schließlich folgt das gewerberechtliche Argument der Kläger: Nach einem über 50 Jahre alten Fünfergerichtsbrief seien nur drei Räder, ein Walkrad und zwei Lohräder, aber eben keine Stämpfen gestattet.¹⁷² 1.5.5.1.2 Der Markt Zentrum und originäres Kennzeichen der Stadt ist der Markt in seinen Funktionen als Lokal-, Nah-, Stapel- oder Fernhandelsmarkt.¹⁷³ Auf ihn laufen die wichtigsten Straßen zu. Durch Zusammenwachsen von Siedlungen oder im Zuge der Stadterweiterung erhielt die Stadt häug einen zweiten Markt, sodass dann vom Neumarkt im Unterschied zum Altmarkt gesprochen wurde. Intensivierung und Wachstum des Nah- und Fernhandels machten in vielen Städ-

ten den Ausweis weiterer Markt ächen neben dem Hauptmarkt erforderlich und führten zu einer Differenzierung in verschiedene spezielle Nebenmärkte. Der große Markt als topogra sche Einheit zer el in eine Vielzahl verschiedener nach Wirtschaftsgütern geordneter Unter- und Einzelmärkte. Davon getrennt und in einem bestimmten Umkreis verstreut lokalisiert wurden zusätzlich für einige Warengattungen gesonderte Markt ächen ausgewiesen. So gab es in einer Abfolge größerer und kleinerer Flächen auf den großen Märkten oder auf Sondermärkten Fleisch-, Fisch-, Hühner-, Kraut-, Gemüse-, Obst-, Korn-, Heu-, Waid-, Holz-, Stein-, Kohlen-, Wein-, Ross-, Vieh-, Hafen-, Krämermärkte usw. Neben den Anbietern der täglichen Gebrauchs- und der Massenwaren nutzten verschiedentlich auch Goldschmiede und Kürschner die Marktfrequenz für den Absatz ihrer Luxuswaren. Eröffnet wurde der Markt für die Bevölkerung durch morgendliches Glockengeläut. Kleinere Märkte fanden verschiedentlich an kleinen Plätzen vor den Toren innerhalb der Stadtmauer, am Flussufer, auf dem Domhof und auf Kirchhöfen sowie in den Immunitäten der Kirchen und Klöster statt. Durch die Errichtung fester Buden und Steinbauten entstanden in manchen Städten meist am Rande des Marktplatzes neue Bauzeilen. In Lübeck umfassen Bauzeilen auf allen vier Seiten den nördlichen Teil des Platzes, der von der Marienkirche mit Friedhof eingenommen wird, und den südlichen Teil, den Marktplatz, der an der Nordseite durch das Rathaus und Blöcke von Krambuden geschlossen wird. Die Bauzeilen des Marktplatzes gegenüber den Zeilen der Bürgerhäuser grenzen zugleich Sondermärkte aus. In Städten der Ostsiedlung entstanden aus Marktbauten in der Platzmitte große Baukomplexe mit basarähnlichen Einrichtungen von Produktion und Verkauf wie der Große Ring in Breslau. Auch Brücken wurden wie etwa in Erfurt und Esslingen mit Buden bebaut.

171 H. Z-W (Hg.), Die Zürcher Stadtbücher II (2.2–2.4), Nr. 252, S. 409 f. 172 W. . S, Die Nürnberger Handelsgesellschaft Gruber-Podmer-Stromer (9.3–9.4), Quellenanhang, Nr. 82 b, S. 134. 173 Siehe auch Kap. 6.

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Die Stadt und ihre Bewohner

Vielfach bebaut und reich gegliedert war das Kölner Marktviertel. Im Spätmittelalter wurde das Handels- und Marktleben in einer Entwicklung hin zu zentralisierten Kaufhausbetrieben und zur örtlichen Dezentralisierung »von den offenen Märkten und Plätzen mit ihren beweglichen Verkaufstischen und -bänken, offenen Hallen, Ständen und Buden in halböffentliche zünftige oder öffentliche städtische Kaufhäuser« verlagert, wobei teilweise private oder zünftige Einrichtungen übernommen, ausgebaut und unter öffentliche Kontrolle gebracht wurden. Die Ausbildung des komplizierten indirekten Steuersystems der Stadt mit seinen zahlreichen Verbrauchs- und Umsatzsteuern sowie der systematisch ausgebaute Stapel erforderten ein hohes Maß an Zentralisierung. Hingegen war die Brothalle 1289 aufgegeben worden, sodass von da an jeder Bäcker zu Hause verkaufen durfte, während der Fleisch- und Fischverkauf dauernd an bestimmte Bänke und Häuser gebunden waren.¹⁷⁴ Am Markt befanden sich verschiedentlich auch Garküchen und Stände der Garbräter, die Innereien und Fisch für die armen Leute feilboten. Städtische Verordnungen sollten dafür sorgen, dass der Marktplatz, an dem Zeichen des Marktfriedens angebracht waren, reingehalten wurde. Der Göttinger Rat untersagte 1420, Ferkel und Schweine in Marktnähe zu halten, da sie Unrat und Gestank verbreiteten. Um den Marktplatz sauberer und für Herren, Bürger und Gäste schöner und angenehmer zu machen, sollten in München 1315 die Fleischbänke verlegt werden. Auf dem Markt fanden Feste und Tanzvergnügungen statt, traten Spielleute und Gaukler auf; den Platz querten Prozessionen. Marktplätze dienten als Ort von Bürgerversammlungen und Schwörtagen. Hier wurden Delinquenten an den Pranger gestellt und in einigen Fällen auch spektakulär entehrt oder hingerichtet.

1.5.5.1.3 Hafenanlagen Spezielle Baulichkeiten und Geländegestaltungen erforderten die Fluss- und Seehäfen.¹⁷⁵ Die meisten Seehäfen waren nichts anderes als nahe dem Meer gelegene Häfen am Unterlauf von Flüssen wie in Lübeck, Rostock, Elbing, Danzig, Hamburg und Bremen. Durch den Bau größerer Schiffstypen mit größerer Wasserverdrängung wie der einmastigen und einsegeligen Hansekogge, die vor allem vom 12. bis 14. Jahrhundert dominierte, und der modernisierten Holk (Hulk), die um 1400 als technisch höher entwickelter Schiffstyp mit erheblich größerem Lastraum für die Massenverbrauchsgüter Getreide, Holz und Salz allmählich die Kogge ablöste, war einfaches Au aufen auf das feste Ufer nicht mehr möglich. Ältere Hafenplätze mussten verlegt, Molen, Kais und Laufstege angelegt werden. Auf Umladeplätzen wurde die Verfrachtung von Waren auf kleinere, weniger tiefgängige Flussschiffe bewerkstelligt. Speicher, von denen keine mittelalterlichen Beispiele erhalten sind, wurden für die Zwischenlagerung der Güter vor ihrer weiteren Distribution erforderlich. Die Salzspeicher Lübecks an der Trave stammen aus der Zeit vom 16. bis 18. Jahrhundert. Zur Bewegung großer Gewichte beim Beladen und Entladen der Fässer (Tonnen) und Materialien wurden Winden, Wippen, die aus einem unverspannten Mast mit schwenkbarer Rahe bestanden, und mit großen Treträdern betriebene feststehende Krane oder Schiffskrane benutzt. Aus der unterschiedlichen Wasserführung ergab sich auch bei der Flussschifffahrt die Notwendigkeit oder Möglichkeit, an bestimmten Etappenpunkten (Köln) von größeren auf kleinere oder umgekehrt auf größere und tiefgängigere Schiffe umzuladen. Bei der Befestigung der Wasserseite blieb der Hafenbereich ausgegrenzt. Mit Karren wurden die Waren durch die Hafentore in das Stadtinnere zu den Speichern der Kaufmannshäuser und zum Markt gebracht. In zahlreichen Ost-

174 F. I, Kölner Wirtschaft im Spätmittelalter (9.0), S. 235. 175 C. M, Kleine Kunstgeschichte, S. 184–186; H. S (Hg.), See- und Flußhäfen.

Stadtgestalt 129

seestädten mit ihren Schachbrettmustern verliefen die Hauptstraßen senkrecht zu den Ufertoren hin. An den Uferplätzen befanden sich die Werften für den arbeitsteiligen städtischen Großschiffbau, über die wir allerdings nur sehr wenig wissen. Im Hafen waren für das Aus- und Beladen der Schiffe unter Benutzung des Krans, für das Trocknen transportierten Getreides und für den Unterhalt des Hafens Abgaben zu entrichten. Der Hafenmeister überwachte mit seinen Gehilfen den Zustand der Kais und der Fahrrinne, er regelte den Schiffsverkehr und vergab die Ankerplätze. Wie auf dem Markt kontrollierten vereidigte Prüfer die Warenqualität. Die wirtschaftliche Bedeutung der Rheinschifffahrt und des Handels veranlasste bereits Erzbischof Bruno von Köln († 965) im 10. Jahrhundert zum Ausbau der Rheinvorstadt Kölns, dem heutigen Martinsviertel rund um Groß St. Martin, das die Stadt näher an den Fluss brachte, der eine Wasserstraße höchsten Ranges war. Als Anfang des 12. Jahrhunderts die zweite und im 13. Jahrhundert die dritte Phase der Stadtentwicklung vonstattenging, wurde eine fast drei Kilometer lange Rheinpromenade mit Verladeplätzen geschaffen, die durch 22 Pforten in der rheinwärts gelegenen Stadtmauer aus jedem Stadtteil zu erreichen waren. 1.5.5.2 Sozialtopogra e Die sozialtopogra sche Forschung unternimmt den Versuch, Wechselbeziehungen zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen und der Gesellschaftsordnung auf der einen und dem Stadtgrundriss und dem Stadtaufbau auf der anderen Seite zu erhellen.¹⁷⁶ Dies geschieht in der Annahme, dass Bevölkerungsgruppen und Einzelpersonen sich entsprechend ihrer Vermögenslagen, sozialen Positionen, Schichtzugehörigkeiten und der mehr oder weniger normativen Gesellschaftsordnungen topogra sch in bestimmten Siedlungsformen im städtischen Sied-

lungsraum festsetzen, den Raum strukturieren und die Baulichkeiten nach Art, Konstruktion, Material, Größe, Wert und Ausstattung gestalten und prägen. Soziotope werden Straßenzüge oder Viertel genannt, deren Sozialstruktur weitgehend homogen ist. Das Wohnen in einem bestimmten Viertel, in einer bestimmten Besitzstruktur, Form und Qualität ist Merkmal und Ausweis der sozialen Lage und Lebensweise, konstitutives Element der sozialen Bewertung und der Einschätzung des sozialen Rangs. Die sozialtopogra sche Rekonstruktion erfolgt durch die Projektion der gesellschaftlichen Verhältnisse auf Stadtgrundriss (und Aufriss), d. h. durch eine möglichst ächenhafte Kartierung möglichst vieler sozialer Merkmale. Dafür stehen jedoch nur wenige vor dem 19. Jahrhundert angefertigte, zuverlässige Stadt- und Katasterpläne oder Aufrissdarstellungen aus der Vogelperspektive zur Verfügung, sodass Grundriss und Baubestand unter Heranziehung schriftlicher und archäologischer Quellen vorsichtig retrogressiv für das Spätmittelalter erschlossen werden müssen. Ferner sind die spätmittelalterlichen sozialgeschichtlichen Quellen relativ spärlich, sodass regelmäßig frühneuzeitliche Verhältnisse und Muster zurückprojiziert werden müssen. Der unmittelbare Zugriff auf die zeitnahen oder relativ zeitnahen Quellen ergibt nur rudimentäre Anhaltspunkte prominenter Bauten, Plätze, Straßen, Eckhäuser und Häuser mit Inschriften, die aber als topogra sche Fixpunkte mit hoher Standortkontinuität dienen können. Wichtige Informationen liefern die nach Vierteln, Gassen und Häusern gegliederten Steuerlisten und die daran orientierten Umgänge der Steuereinnehmer. Die Sozialtopogra e ist zudem durch siedlungsgeogra sche, entstehungsgeschichtliche und damit stark verfassungs- und rechtstopogra sch bestimmte, wirtschaftstopogra sche und politische Faktoren vorgeprägt oder festgelegt, sodass der Vorrang des Sozialen, das

176 H.-C. R, Probleme der Sozialtopographie; D. D, Sozialtopographische und sozialräumliche Gliederung; U. D/B. F, Räumliche Aspekte sozialer Ungleichheit. Zur Topogra e einzelner Städte siehe das Literaturverzeichnis.

130

Die Stadt und ihre Bewohner

ohnehin auf rechtlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen aufbaut, für die Gestaltung des Raumes und die Wahl der Wohnstätte zu erweisen ist. Sozial bestimmt ist der Standort, wenn seine Wahl oder seine Zuteilung durch den Stadtherrn oder die Kommune primär nach Gesichtspunkten des Prestiges, der sozialen Rangstellung und der anerkannten Standesordnung erfolgt, womit Wohnqualität und optimale Produktions- und Absatzbedingungen vereinbar sein mögen. Da für den Kaufmann und Handwerker regelmäßig Wohn- und Arbeitsstätte zusammen elen und Häuser und Nebengebäude das Gesinde, Handlungsgehilfen und Handwerksgesellen aufzunehmen hatten, war vielfach die wirtschaftlich bestimmte, funktions- und betriebsbedingte Standortwahl ausschlaggebend. Grundsätzlich wies der einmal mit hohen Kosten investierte Betrieb eine hohe Platzkonstanz auf. Davon hängt auch die räumliche Verteilung von Vermögen ab, das vor allem als Steuervermögen fassbar wird. Zum großen Teil war es in Grundbesitz, im eigenen Haus und Betrieb investiert. Die Vermögensstruktur war damit schon frühzeitig festgelegt. Sie bewirkte eine außerordentliche Stabilität in den räumlichen Anordnungen der Vermögensgruppen, die sich auch bei Besitz- und Bewohnerwechsel bewährte. Überhaupt war die sozialtopogra sche Struktur des Stadtraums in hohem Maße bereits mit der Zuteilung von Grund und Boden durch den Stadtherrn gegen Zins, dann durch den Rat, und mit der baulichen Erschließung eines Stadtteils grundgelegt. Die Innen- und Altstadt war durch die Konzentration von großen Vermögen und repräsentativen Häusern sowie einem Wohnumfeld von gehobener Qualität ein herausragender Bereich, obwohl die Bebauung eng war und Marktgetriebe herrschte. Der Markt lag im Allgemeinen im Zentrum des städtischen Weichbildes und im Schnittpunkt der in die Stadt führenden Fernstraßen. Er war – in Verbindung mit dem Rathaus und der ihn abschließenden oder ihm nahe gelegenen Kirche – nicht nur

wirtschaftlicher, sondern auch politischer, kultischer und durch die Konzentration vielfältigen städtischen Lebens ideeller Mittelpunkt der Stadt. Deshalb nahm der Standort am Marktplatz, besetzt durch die kaufmännische Oberschicht, den höchsten Rang in der ökonomischen und sozialen Raumbewertung ein. Im Marktbereich begann im Spätmittelalter die systematische P asterung, setzen die ersten Maßnahmen für eine bessere Entsorgung ein, hatten die Häuser häu g eigene Brunnen und gingen die ersten Wasserleitungen aus. »Ihm folgen die Hauptverbindungsstraßen vom Markt zu den Toren, häu g mit wachsender Entfernung vom Markt in der Bewertung abnehmend. Dabei ist auch eine Abstufung nach der Verkehrsbedeutung der Tore zu beobachten. Die nächste Rangstufe nehmen die Eckgrundstücke und -gebäude ein, in sich abgestuft nach Kreuzungen von Haupt- und Nebenstraßen. Weiterhin folgen die Standorte an durchgehenden Nebenstraßen, an Querstraßen, an völlig abseitigen Straßen sowie unmittelbar entlang der Stadtmauer.«¹⁷⁷ Insbesondere die jeweils höhere Bewertung von Eckgrundstücken macht den sozialrepräsentativen Aspekt deutlich, da sich die darauf erbauten Häuser mit zwei Fassaden im Stadtbild präsentierten. Im Allgemeinen liegt ein Modell der zentralperipheren Abstufung der sozialen Raumund Standortbewertung vor, das jedoch zahlreiche Durchbrechungen kennt. Die rationale Stadtplanung des sogenannten Absolutismus hat dieses Modell in einer theoretischgeometrischen Konzeption durchgeführt, wonach der Ort höchster sozialer und politischer Rangstufe in einer kreisförmig gedachten Siedlungs äche im Schnittpunkt aller radialen Straßen liegt. Die frühe, stadtherrlich geprägte politisch-soziale Topogra e sieht anders aus. Der Sitz des Stadtherrn befand sich regelmäßig in Randlage. In der Nähe der stadtherrlichen Burg lagen die zu Lehen ausgegebenen Sitze der mit der Verteidigung und herrschaftlichen Aufgaben betrauten adligen oder dienstrechtlich ge-

177 D. D, Sozialtopographische und sozialräumliche Gliederung, S. 169.

Stadtgestalt 131

bundenen Burgmannen und Ministerialen, die später ganz oder zu einem Teil als vornehme Geschlechter in der patrizischen Oberschicht der Stadt aufgingen. Im Vergleich zu den Parzellen im Stadtkern besitzen diese Burgmannen- und Freihöfe häu g einen größeren Zuschnitt. Zu diesen Höfen gehören ein Haus – häu g ein turmartiges Steinhaus – und Wirtschaftsgebäude; vielfach sind sie von einer eigenen Mauer umgeben. Innerhalb des städtischen Weichbildes besitzen sie einen rechtlichen Sonderstatus. Sie liegen nicht selten in einer Straße (Herrenoder Ritterstraße) zusammengefasst, die sich in Randlage be ndet oder auf die Burg zuführt wie in Rothenburg ob der Tauber, Nürnberg oder Rinteln. Es nden sich auch adlige Stadtsitze in Quartierbildung wie in Schwäbisch Hall. In zahlreichen planmäßig angelegten Gründungsstädten sind sie – analog der Situierung der Domherrenkurien entlang der Mauer der Domimmunitäten – unmittelbar von innen an die Befestigung angelehnt und bilden entlang der Mauer einen Ring. Bereits im 14. Jahrhundert wurde in verschiedenen Fällen die periphere Lage aufgegeben und der Standort an Markt und Hauptstraßen bevorzugt. Die Gründe dafür sind vermutlich in einer Verbürgerlichung der Adligen und Ministerialen im Sinne einer Orientierung auf das neue politisch-soziale Zentrum der Stadt hin und in einer verstärkten kaufmännischen Betätigung zu suchen. Andererseits verschoben sich in Konstanz im 15. Jahrhundert Wohnsitze der Patrizier aus der zentralen Marktlage zur Stadtmauer hin. Bei einigen dispers im Stadtraum angeordneten Gewerben, wie z. B. den Badern, Schustern und Schneidern, ist eine in sich nach Vermögen gestaffelte zentralperiphere Rangabstufung des Standortes zu beobachten. Wirtschaftlicher Aufstieg war mit dem Bemühen verbunden, den Standort näher an das Zentrum hin zu verlegen. Zur Peripherie hin nehmen die Größe der Häuser und die Zahl der Haushalte mit Dienstpersonal ab, es entsteht der Charakter von Behelfsquartieren und die öffentlichen

178 H. L, Die ostdeutschen Kietze.

Brunnen werden seltener. Eine zentralperiphere Abstufung weisen auch einzelne Berufe in der Skala von ratsfähigen Zünften bis hinunter zu den ›unehrlichen‹ Berufen auf. Sozial gering bewertete Gewerbe wie die Weber, insbesondere die Leinenweber, sowie Tagelöhner sind vielfach in der Peripherie oder in Vorstädten mit minderem Rechtsstatus und geringeren Bürgerrechtsgebühren angesiedelt und wohnen in Holzbuden oder Häusern von geringer Größe, schlechter Bausubstanz und Ausstattung. Sofern die Ansiedlung im Vorstadtbereich einer funktionellen Standortzuweisung und Raumordnung entsprach, kam sie auch den Gewerben zugute, zeugte sie nicht von Armut und war nicht diskriminierend. In Nürnberg wurden Teile des Vorstadtbereichs durch Gärten und Gartenhäuser führender Patrizierfamilien aufgewertet. Am Rand der Stadtmauer be nden sich bei den Ziegelgruben die Wohnung des Henkers und die städtischen Bordelle, häu g in dem Milieu der Unterschichten aber auch die Bettelordenskirchen. Der Anteil der mobilen Bevölkerungsgruppe der Untermieter, d. h. unselbständiger Arbeiter mit bloßem Einwohnerstatus, nimmt nach den äußeren Bezirken und Vorstädten hin zu, wo sich Einkommensschwache und Arme zunehmend in Quartieren konzentrieren. Angehörige dieser Bevölkerungsgruppe nden sich aber auch in mehr innen gelegenen Mietswohnungen in Buden, die sekundär im hinteren Bereich von Parzellen reicher Bürger gebaut wurden, sodass hier Arme und Reiche auf derselben Parzelle nebeneinander wohnen. In norddeutschen Städten waren nichtdeutsche Bewohner rechtlich und sozial diskriminiert und wurden in besonderen Quartieren, den Wendenquartieren, angesiedelt. Im markgrä ich-askanischen Herrschaftsbereich entstanden in mehreren Städten als Kietz bezeichnete, rechtlich gesonderte und als minderwertig betrachtete Ausbausiedlungen, in denen vorwiegend Slawen wohnten, die zunächst vor allem als Fischer, später überwiegend als Tagelöhner arbeiteten.¹⁷⁸

132

Die Stadt und ihre Bewohner

Eine Sonderstellung nehmen die Judenquartiere ein, die häu g am Rande der Stadt, aber mit Verbindung zu Markt und Toren lokalisiert waren und oft nur einen einzigen Straßenzug umfassten.¹⁷⁹ Weder waren im Hochmittelalter die Judensiedlungen scharf von den Häusern der Christen gesondert, noch wohnten die Juden ausschließlich in Judenquartieren. Augsburger Juden wurden in den 1420er Jahren durch Abgrenzung der Judengasse in eine ghettoartige Situation versetzt. In Frankfurt am Main wurden die Juden erst spät auf Betreiben von Kirchenoberen 1462 durch Umsiedlung in ein weniger verkehrsgünstig gelegenes, ummauertes Ghetto östlich der alten Staufermauer gedrängt. Zuvor hatten sie auch noch nach der allmählichen Wiederansiedlung nach 1260 und 1360, vorausgegangen waren jeweils die furchtbaren Pogrome mit fast vollständiger Vernichtung von 1241 und 1349, unter Christen im bevorzugten Wohngebiet zwischen der Bartholomäuskirche und dem Main gelebt. König Friedrich III. hatte angeblich 1442 bei seinem Besuch in Frankfurt daran Anstoß genommen, dass die Synagoge unmittelbar bei der Pfarrkirche lag und dem christlichen Gottesdienst durch die nahewohnenden Juden Eintrag geschehe. Er hatte deshalb eine Umsiedlung der Juden verlangt und diese Forderung 1458 wiederholt. Der Rat beschloss 1460 die Umsiedlung, und 1461 bis 1465 entstand die Anlage einer neuen Judengasse mit dem Bau von Synagoge, Ritualbad (Mikwe), Gemeinde-, Tanzund Wirtshaus, Wohngebäuden, Ziehbrunnen und drei abends zu verschließenden Toren.¹⁸⁰ Mit Ausnahme von Synagoge und Ritualbad übernahm dafür die Stadt die Kosten. Die Juden konnten am neuen Ort zwar ungestörter ihr Gemeindeleben entfalten und waren hier ei-

nigermaßen geschützt, doch verstärkten Isolierung und Distanzierung eher die Anfeindungen, denen sie außerhalb ausgesetzt waren. Den Nürnbergern hatte König Karl IV. im Anschluss an das verheerende Pogrom von 1349 auf dem Areal des zerstörten Judenviertels die Anlage des Hauptmarkts mit der Frauenkirche anstelle der Synagoge und des Obstmarkts gestattet. An speziellen Bauten enthielten die Judensiedlungen die Synagoge, das kultische Judenbad mit »lebendem« Wasser, d. h. mit Grundoder Quellwasser, Räumlichkeiten für die Schule und – nur in größeren Städten – Friedhöfe bei der Synagoge oder außerhalb der Stadt, auf denen die Toten nach jüdischen Vorstellungen das Recht auf eine immerwährende Grabstätte hatten. Von kultischen Besonderheiten der Raumaufteilung und Ausstattung abgesehen, wichen die jüdischen Bauten grundsätzlich nicht von der lokalen oder regionalen Bauweise ab. Für das gesellige Leben wurden Bade- und Tanzhäuser- errichtet. Anlässlich der Pogrome und Vertreibungen von 1348/49, auch wiederholter späterer Austreibungen, wurden die jüdischen Siedlungen in kommunalen Besitz genommen, wobei man häu g Synagogen in Marienkapellen umwandelte oder am Ort ihrer Zerstörung Kapellen erbaute. Als die Juden in der zweiten Jahrhunderthälfte in vielen Städten wieder aufgenommen wurden, erhielten sie zur Ansiedlung häu g ihre alten Viertel, wohl seltener abgelegene Stadtbereiche zugewiesen, bis sie am Ausgang des 15. Jahrhunderts in einer weiteren, aber unblutigen Welle von Vertreibungen aus den meisten Städten ausgewiesen wurden. Sie zogen sich nun nach dem Osten und nach Norditalien zurück oder versuchten, in Kleinstädte und auf Dörfer auszuweichen.

179 C. M, Kleine Kunstgeschichte, S. 253–260; H. V, Die Judensiedlungen; M. J. W, Grenzen in der Stadt? 180 K. B, Frankfurt am Main im Spätmittelalter 1311‒1519, in: Frankfurt am Main, Sigmaringen 1991, S. 134 f.

2

Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

Vom Recht her lässt sich die Stadt (seit etwa 1200) als Typus durch folgende aufeinander bezogene und miteinander ver ochtene Institutionen und rechtliche Erscheinungen bestimmen, durch (1.) den Status des Bürgers im Unterschied zu anderen Bevölkerungsgruppen, (2.) den städtischen Frieden, (3.) personenrechtliche Freiheit und Gleichheit, (4.) das Stadtrecht und (5.) die Stadtverfassung auf gemeindlich-genossenschaftlicher Grundlage mit dem Rat als Zentrum der Herrschaft und Regierung und einem mehr oder weniger ausgebildeten Ämterwesen.¹⁸¹

2.1 Stadtbürger und Stadtbewohner 2.1.1 Bürgerbegriff und Bürgerrecht 2.1.1.1 Der Begriff des Bürgers Im Spätmittelalter war Bürger, wer den Gesamtschwur der versammelten Bürgergemeinde anlässlich der Ratsumsetzung mitleistete. Bürger wurde, wer die Voraussetzungen der Bürgerrechtsaufnahme erfüllte, vom Vertreter des Stadtherrn oder vom Rat zum Bürger- oder Burgrecht – ius civile, ius civitatis, civilitas, urbanitas – zugelassen wurde, den Einzelbürgereid des Neubürgers ablegte und in die Neubürgerliste aufgenommen wurde.¹⁸² Der Rechtsstatus des Bürgers war abgehoben gegenüber dem des bloßen Einwohners, des Gastes oder des Fremden. Die Bezeichnung Bürger war zunächst verschiedentlich dem Kreis der Besten oder Weisesten, der ratsfähigen Schicht, vorbehalten. Mit dem Vordringen des allgemeinen Bürgerbegriffs unterschied man in einigen Städten die Bürger

vom Rat und die Bürger von der Gemeinde, worunter hauptsächlich die (noch) nicht im Rat vertretenen Handwerker verstanden wurden. Noch im 15. Jahrhundert, als sich längst der allgemeine Bürgerbegriff durchgesetzt hatte, sprach man etwa in Esslingen, wie früher in Konstanz, Ulm und Augsburg, von Bürgern und meinte die Patrizier. Da es unter verschiedenen Bezeichnungen ein gemindertes Bürgerrecht, Aus- und Pfahlbürger sowie Juden und Geistliche mit Bürgerrecht gab und Frauen das Bürgerrecht besitzen konnten, ohne dass damit eine politische Berechtigung verbunden war, muss den Bezeichnungen der Quellen mit ihren unterschiedlichen Bedeutungen zur Klärung ein wissenschaftlicher Ordnungsbegriff des Bürgers entgegengestellt werden. Da ferner in einigen Städten auch bloße Einwohner am Gesamtschwur der Gemeinde beteiligt waren, einen dem Bürgereid angeglichenen oder mit ihm identischen Eid zu leisten hatten und dem Bürger vergleichbare P ichten und Rechte einschließlich der Steuerp icht, der quali zierten Wirtschaftstätigkeit und des aktiven Ratswahlrechts im Rahmen der politischen Zunft (Köln) haben konnten, sodass kaum mehr ein substantieller Statusunterschied zwischen Bürger und Nichtbürger erkennbar wird, ergibt sich die Notwendigkeit, ein eindeutiges de nitorisches Kriterium für einen wissenschaftlichen Bürgerbegriff zu nden. Dieses Kriterium besteht im passiven Wahlrecht, denn nur Bürger konnten in den Rat gewählt werden. Dabei spielt es keine Rolle, wenn nur ein kleiner Kreis von Bürgern oder nur Angehörige von Geschlechtern tatsächlich die Chance dazu

181 Vgl. G. D, Rechtshistorische Aspekte des Stadtbegriffs. 182 W. E, Der Bürgereid (2.2–2.4), S. 46 f. Zu Bürgerbegriff, Bürgerrecht, Bürgeraufnahme und Sondergruppen im Bürgerrecht siehe im Überblick und mit neuerer Literatur: G. D, Die Rechtsgeschichte der Stadt, S. 445–474; R. C. S (Hg.), Neubürger im späten Mittelalter; E. I, Bürgerrecht und Bürgeraufnahme; C. K, Bürger in Augsburg.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

hatten.¹⁸³ Die so genannte Regimentsfähigkeit des Bürgers konnte auch noch, wie es vor allem im 15. und häu ger noch 16. Jahrhundert vorkam, von einer mehrjährigen Ansässigkeit im Bürgerrecht abhängig gemacht werden. Wenn das passive Wahlrecht streng genommen den de nitorischen Kern des (vollen) Bürgerrechts ausmacht, so heißt das nicht, dass mit dem Erwerb des Bürgerrechts in erster Linie politische Partizipation angestrebt wurde. Auf jeden Fall vermittelte die Fähigkeit zu politischer Partizipation durch Amtsfähigkeit und Beteiligung an der Bürgerversammlung einen herausgehobenen Status, doch mochte das eigentliche Interesse am Bürgerrecht entsprechend seiner jeweiligen Ausgestaltung in einzelnen Gesichtspunkten eher in der Möglichkeit des Zunfteintritts, der Ausübung einer quali zierten wirtschaftlichen Tätigkeit, des Grundbesitz- und Grundpfanderwerbs, an besonderen dem Bürger vorbehaltenen Nutzungsberechtigungen, am besonderen Schutz durch die Stadt und der für Handels- und Bankgeschäfte wichtigen Verantwortung durch den Rat außerhalb der Stadt, oder auch nur an einem unangefochtenen Aufenthaltsrecht liegen. Wo viele dieser Rechte auch Nichtbürgern gewährt wurden, wie etwa in Freiburg im Breisgau, entel angesichts der Kosten und korrespondierenden P ichten oder der eventuell nachteiligen engen und nur unter Bedingungen wieder auflösbaren Bindung des Bürgers an die Stadt ein fundamentales Interesse am Bürgerrecht. Bis zum Ende des alten Reichs gab es in den Städten neben den Bürgern stets noch andere Bewohnergruppen wie Beisassen, Geistliche,

Juden und Gäste, die kein Bürgerrecht hatten und insgesamt an Zahl die Bürger weit übertrafen. Da zwar verschiedentlich die Zahl der Neubürger ermittelt werden kann, nicht aber die Zahl der Bürger insgesamt und nicht zugleich die genaue Zahl aller Stadtbewohner, gibt es keine verlässlich genauen Angaben zum Verhältnis der Bürger zu den übrigen Stadtbewohnern.¹⁸⁴ Man wird sagen können, dass im Spätmittelalter, als gelegentlich alle Personen mit eigenem Haushalt in das Bürgerrecht förmlich gedrängt wurden, der Anteil an Bürgern in der Stadt höher war als in der frühen Neuzeit mit ihrer restriktiveren Bürgerrechtspolitik. Am Ausgang des 16. Jahrhunderts war, dies sind Angaben ohne statistische Sicherheit, der Anteil der Vollbürger in Nürnberg, Augsburg und Ulm auf etwa 20 Prozent der erwachsenen männlichen Bevölkerung gefallen. Im 17./18. Jahrhundert besaßen in Augsburg oder Genf etwa nur ein Drittel der (mündigen) Bewohner das Bürgerrecht. 2.1.1.2 Die ursprüngliche Bedeutung des Haus- und Grundbesitzes Die Entwicklung eines normativen Bürger- oder Burgrechts, das die Voraussetzungen für den Erwerb des Bürgerrechts und die Entscheidungsvorgänge und die Formalitäten für die Aufnahme in das Bürgerrecht xiert, ist in ihren Anfängen in vielen Städten nur schwer und oft zeitlich spät zu fassen, doch kann man von zwei gewissermaßen natürlichen Grundvoraussetzungen ausgehen, zum einen von der Sesshaftigkeit und dem Besitz einer Hof- oder Hausstätte (area) mit zugehörigem Wohnhaus, in späteren

183 E. I, Bürgerrecht und Bürgeraufnahme, S. 207 f. 184 Eine Bevölkerungsgliederung Wiens nach ihrem Rechtsstatus nimmt in einer groben Überschlagsrechnung für das Stichjahr 1420 an, dass bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 20 000 Bewohnern auf 10 000 Bürger die Zahl von 5 500 »Inwohnern« kamen. Dabei wird allerdings von 2 000 Bürgern mit durchschnittlich vier Familienangehörigen ausgegangen, sodass in Wirklichkeit allenfalls etwas mehr als die 2 000 den Rechtsstatus des Bürgers hatten. Andererseits muss die Zahl der Inwohner reduziert werden, wenn Familienangehörige herausgerechnet werden. Allerdings dürfte angesichts der Handwerksgesellen und des Hausgesindes die Zahl der Inwohner ohne Haushalt und Familie höher als bei den Bürgern gelegen haben. Dadurch würden sich beide Gruppen etwas stärker einander angleichen.Hinzu kommen geschätzt: Geistlichkeit (1 500), Universitätsangehörige (1 500), Juden (700), die jedoch 1421 ausgewiesen wurden; fremde Kau eute als »Gäste« (300), Adel samt Dienerschaft (300); zeitweise der Landesfürst mit Hofstaat (200). R. P, Der organisatorische und wirtschaftliche Rahmen, in: P. C/F. O (Hg.), Wien. Geschichte einer Stadt, Bd. I, Wien/Köln/Weimar 2001, S. 207–209.

Stadtbürger und Stadtbewohner

Formen eines Stockwerkseigens oder lediglich eines eigenen Haushalts in einer Wohnung zur Miete, zum andern von der Fähigkeit, zur Existenzerhaltung des politischen Verbandes militärische und sonstige Leistungen zu erbringen. Hausbesitz und Hausgesessenheit im nachbarschaftlichen (geburschaftlichen) und parochialen Verband war zwar zunächst in den alten Bischofsstädten des Südens und Westens sowie in den späteren Siedlungen Norddeutschlands – entsprechend ländlichen Verhältnissen – Voraussetzung für das Bürgerrecht, vermittelte es aber nicht zwangsläu g, da es auch grundbesitzende Beisassen und Seldner ohne Bürgerrecht gab. Die Bürgergemeinde war zunächst eine Grundbesitzergemeinde, sie beruhte auf der Hausgesessenheit und Haushäblichkeit. Der Hausbesitz war Zeichen der Sesshaftigkeit und Zugehörigkeit zum Nachbarschaftsverband oder zur Stadtgemeinde, ferner der vollen Rechtsfähigkeit mit Gerichtsp icht und Zeugnisfähigkeit wie im Landrecht, und er stellte die Steuer- und Haftungsfähigkeit sicher, was gelegentlich in einem gesetzlichen Mindestwert des erforderlichen Hauses zum Ausdruck kommt. Es ist jedoch fraglich, ob und wann in den Städten der Bürgerrechtserwerb mit Haus- und Grundbesitz als Voraussetzung verbunden war, sind doch Aussagen darüber häu g nur für bestimmte Zeitpunkte und Perioden möglich. Im Bereich des lübischen Rechts musste es ein unbelastetes bebautes Grundstück zu vollem, erblich gebundenen Eigentum sein, das die ›Erbgesessenheit‹ begründete; Besitz zur Leihe genügte nicht. Seitdem sich die bürgerliche coniuratio durchgesetzt hatte, war der Bürger im Rechtssinne der geschworene Bürger, und das Haus als Eigen oder in unterschiedlichen Besitzformen war nur noch Voraussetzung für den Erwerb des Bürgerrechts. Wenn es nicht selten vorkam, dass in der Stadt Ansässige, welche die Voraussetzungen erfüllten, und Bürgersöhne das Bürgerrecht nicht anstrebten, um sich den bürgerlichen P ichten und Lasten entziehen oder die Stadt ohne Abzugsgeld wieder verlassen zu können, so gingen die Städte immer wieder dagegen vor und droh-

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ten bisweilen mit Ausweisung. Jeder, der in der Stadt Grundbesitz besaß oder erwarb und, worauf gelegentlich auch abgehoben wurde, bürgerliche Lasten mittrug, sollte um das Bürgerrecht nachkommen, wie umgekehrt jeder, der keinen Haus- und Grundbesitz hatte, nicht in das Bürgerrecht aufgenommen werden sollte. Um städtischen Grundbesitz nicht in die Hand von nicht eidesgebundenen Ansässigen gelangen zu lassen, wurde das weit verbreitete Verbot statuiert, an derartige Personen wie Geistliche und Adlige Grundbesitz zu veräußern, oder es wurde – wie etwa in Lübeck und Konstanz – das Institut des bürgerlichen Treuhänders (Salmann) beim Grunderwerb durch Nichtbürger eingeführt. Nur Bürger sollten, was allerdings nicht strikt durchgesetzt werden konnte, im Besitz von Immobilien sein; und der Erwerb eines Hauses ging mit der anschließenden Aufnahme ins Bürgerrecht einher. Neubürger mussten sich wenigstens verp ichten, binnen Jahresfrist in der Stadt ein Haus oder ein Wohngrundstück als ›erbliches Eigen‹ (hereditas) zu erwerben. Wie ernst man es damit nahm, geht daraus hervor, dass man in Worms ein eidliches Versprechen abnahm und in Zürich der Rat bis zum vollzogenen Erwerb des Hauses das Vermögen des Neubürgers als Pfand beschlagnahmte. Solange der Hausbesitz Bedingung für den Bürgerrechtserwerb blieb, gab es eine ganz erhebliche Anzahl nicht verbürgerter Stadtbewohner – Einwohner, Eingesessene, Beisassen, Habitanten, Seldner – , und ihr Abstand zu den Bürgern blieb groß. Gelegentlich wurde ausgedrückt, dass diese bloßen Einwohner grundsätzlich nicht am bürgerlichen Frieden (pax) teilhatten, doch konnte es einen Nachteil bedeuten, dass die nicht verbürgerten Einwohner nicht den Bindungen der geschworenen Bürger unterlagen. In Gefahrenzeiten (1388, 1428) ließ der Rat in Nürnberg die bloßen Einwohner und die Gäste schwören, der Stadt treu, gehorsam und unschädlich zu sein. Eine grundsätzliche Lösung bestand im Süden darin, dass man einen eigenen Seldnerschwur schuf und die Seldner – Bewohner eines Hauses oder einer (Miet-) Wohnung – am jährlichen Gesamt-

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

schwur beteiligte, oder aber, so zunächst vornehmlich im Norden, unter Verzicht auf das Hauseigentum auch Nichterbsässige in das Bürgerrecht aufnahm. Allerdings besaßen dann die so genannten Erbbürger noch einige besondere Rechte (wie etwa das Braurecht) und P ichten. In Freiburg im Breisgau genügte nach der Verfassungsurkunde von 1272 ein Achtel Hausanteil für das Bürgerrecht, während in Rottweil die etwas strengere Bestimmung galt, wonach ein Haus nur in vier Teile zerlegt werden konnte. Auch im Süden el gegen Ende des Mittelalters, in Augsburg etwa um 1400, die Bindung des Bürgerrechts an den Hausbesitz weg, doch wurde, nachdem der Hauserwerb durch eine Geldzahlung (Udal) ersetzt worden war, in einigen eidgenössischen Städten (Luzern) in der frühen Neuzeit erneut Hauseigentum oder die Ersetzung eines Holzhauses durch ein Steinhaus gefordert. Das Wachstum der Städte, die soziale Differenzierung, die vermehrten Mietverhältnisse und die neue soziale Bewertung des mobilen Vermögens und seiner Leistungsfähigkeit führten zur Lockerung und zur Aufgabe der Voraussetzung des Hauseigentums. Eine bezeichnende Übergangsform war der Nachweis einer Rente in bestimmter Höhe, die auf eine Immobilie gelegt war. Der von Haus haben abgeleitete Quellenterminus haushäblich ist mehrdeutig, da er zunächst das Eigentum (Eigen) oder den Besitz von Haus und Hofstätte bedeutet, jedoch später auch nur das Hauswesen und den eigenen Haushalt, die Ansässigkeit (Gesessenheit) mit seinem Wesen meinen kann. Andere Quellen sprechen von der Niederlassung in der Stadt mit Haus und häblich, d. h. mit der Habe, dem mobilen Vermögen (Ulm). 2.1.1.3 Voraussetzungen und Bedingungen für die Aufnahme in das Bürgerrecht Von allen anderen Bedingungen abgesehen, konnte Bürger grundsätzlich nur werden, wer eigenes Feuer und eigenen Rauch hielt, d. h. ei-

185 B. S, Frauen im Bürgerrecht.

nen selbständigen Hausstand führte, was noch unter den Begriff der Haushäblichkeit el. Das Bürgerrecht war dadurch an die Sozial- und Wirtschaftsform des Hauses und des Haushalts gebunden, doch gelangten nach ihrer Entlassung aus der väterlichen Gewalt auch Unverheiratete ins Bürgerrecht. Die unverheirateten, unselbständigen Kinder und die Ehefrau standen unter dem Schutz des bürgerlichen Friedens des Vaters. Sie hatten Teil an der Bürgerschaft des Haushaltungsvorstands, die auch nach dessen Tod fortbestand. Die verheiratete Frau, die in Frankfurter Urkunden neben dem Ehemann concivis genannt wird, scheint mehr als nur eine durch den Ehemann vermittelte Stellung zum Bürgerrecht gehabt zu haben. Nach dem Tod des Ehemanns lebten die Bürgerschaft der Frau als des nunmehrigen weiblichen Haushaltsvorstands sowie diejenige des Bürgersohnes zu vollem Recht auf. Die Bürgerwitwe und die Bürgertochter verschafften dem sie heiratenden Mann einen erleichterten Zugang zum Bürgerrecht. Im Falle ihrer Verselbständigung (Abschichtung) waren die Bürgersöhne gehalten, das Bürgerrecht für sich zu erwerben, wobei ihnen – befristet – Vergünstigungen oder der völlige Erlass des Bürgergeldes gewährt wurden. Die Bürgersöhne besaßen gewissermaßen eine zu realisierende Anwartschaft auf das Bürgerrecht; dem Erlass des Bürgergeldes stand die Vorstellung nahe, dass sich das Bürgerrecht vererbe. Auch die Bürgerwitwe konnte das Bürgerrecht zu erleichterten Bedingungen erwerben. Es gab also vollberechtigte Bürgerinnen zu eigenem Recht.¹⁸⁵ Dies gilt vor allem auch für Kauffrauen und Handwerkerwitwen, die einen eigenen Beruf ausübten oder den Gewerbebetrieb ihres Ehemannes weiterführten und einen Hausstand hielten. Die bürgerliche Wacht- und Wehrp icht erfüllten sie durch den obligatorischen Besitz von Harnisch und Waffen sowie die Stellung von Vertretern im Kriegsfall. Das Bürgergeld war eine Aufnahmegebühr, eine Zahlung, durch die man sich in die Bürger-

Stadtbürger und Stadtbewohner

genossenschaft einkaufte. Ein Einkaufsgeld verlangten auch die Zünfte. Das Bürgergeld ging an die Stadt, nicht an den Stadtherrn, und war vielfach dem Mauerbau, der Brücke, dem Bau der Pfarrkirche oder anderen Gemeinschaftszwecken gewidmet. Die Bürgergelder stärkten je nach ihrer Höhe – etwa 2 Gulden und darunter bis 12 Gulden – und der Zahl der Neubürger, insgesamt aber in geringem Umfang, die Finanzen der Stadt. Gelegentlich wurden noch kleinere Zahlungen oder Weingaben an städtische Amtsträger und den Schreiber für den Eintrag ins Bürgerbuch fällig. Da die lübischen Kolonialstädte noch längere Zeit auf Zuwanderung aus Altdeutschland angewiesen waren, wurde das Bürgergeld niedrig gehalten, ferner waren die gesetzlichen Sätze Richtwerte, die über- und unterschritten werden durften, wie auch Stundungen des Bürgergeldes oder Gratisverleihungen des Bürgerrechts vorkamen. Vom Lande Zugezogenen wurde die Zahlung des Bürgergeldes, die sie nicht sofort leisten konnten, verschiedentlich gestundet; die bürgerliche Erwerbstätigkeit in der Stadt sollte sie dazu in die Lage versetzen. Bürgen – meist zwei – hatten die spätere Zahlung zu garantieren, darüber hinaus aber grundsätzlich auch die Haftung dafür zu übernehmen, dass der Neubürger die geforderte Mindestzeit, die fünf bis zehn Jahre betragen konnte, in der Stadt blieb und seinen Bürgerp ichten nachkam, insbesondere die städtischen Steuern zahlte, wobei es vorkam, dass Mindestbeträge festgelegt wurden. Waren keine Bürgern beizubringen, musste sich der Neubürger in Augsburg eidlich verp ichten, der Stadt bei vorzeitigem Abzug fünf Pfund Pfennige zu zahlen. Der Leistung des Bürgereides ging die Klarstellung voraus, ob der Bewerber die erforderlichen Voraussetzungen erfüllte. Dazu gehörten, nachdem früher persönliche Freiheit keine Voraussetzung gewesen war und auch unfreie Zugezogene ins Bürgerrecht aufgenommen worden waren, der Nachweis freier und ehelicher Geburt, der an der Wende vom 15. zum 16. Jahr-

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hundert eventuell durch schriftliches Zeugnis des Herkunftsortes zu erbringen war, und die Aussage, dass gegen den Bewerber keine Klagen anhängig waren, denn die Stadt wollte in keine Streitigkeiten verwickelt werden. Zumindest machte der Rat darauf aufmerksam, dass hierin die Hilfe der Bürger nicht erwartet werden durfte. Erst nach Leistung des Bürgereides, der »als Beitrittseid seinen Bestand aus dem Gemeindeschwur bezog«, erfolgte der Erwerb des Bürgerrechts.¹⁸⁶ Der umgekehrte Vorgang gehört der jüngeren Zeit an. Als weitere Voraussetzung für die Aufnahme in das Bürgerrecht musste vom Bewerber in der Regel ein Mindestvermögen nachgewiesen werden. Die Höhe des Bürgergeldes und des Mindestvermögens schwankte. Die variable Festsetzung durch den Rat war ein Instrument zur Regulierung des Zuzugs interessierter Neubürger und der Aufnahme in Bürgerrecht bereits Ansässiger. Die zunächst niedrigen Kosten für die Aufnahme scheinen nach der Wachstumsperiode der Städte im 13. Jahrhundert in den beiden folgenden Jahrhunderten generell gestiegen zu sein. Hohe Sätze waren situationsbedingt eine wirtschaftspolitische Abwehrmaßnahme der Alt- und Erbbürger gegen aufstrebende Volksschichten und – insbesondere nach Fortfall der Bedingung des Hauseigentums – eine soziale Vorbeugungsmaßnahme, um Versorgungsbedürftige, die der Mildtätigkeit zur Last fallen konnten, fernzuhalten. Mindestvermögen, Kautionssummen und Bürgen sollten anstelle des Haus- und Grundbesitzes nun die Haftungsfähigkeit für Steuerleistungen, verursachte Schäden und bei Ungehorsam sicherstellen. In Ulm und München war zusätzlich die Zahlung einer Mindeststeuer Bedingung für die Aufnahme ins Bürgerrecht. Der Rechtsstatus des Bürgers war hinsichtlich des Vermögensnachweises mit einem Schwellenwert verknüpft, der sich in Haus- und Grundbesitz, in städtischen Renten, Waffenbesitz und in beziffertem unspezi schem Vermögensbesitz ausdrücken konnte. Die Stadt Ulm

186 W. E, Der Bürgereid, S. 61; G. D, Bürgerrecht und Bürgereid.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

verlangte 1417 den Nachweis von Vermögen im Werte von mindestens 200 Pfund Heller, da infolge einer vorhergegangenen Erleichterung der Aufnahme viel armes Volk in die Stadt gekommen und die Gemeinde eine arme geworden sei. Auch etwa Bern verwehrte den ärmeren Bevölkerungskreisen das Bürgerrecht und beschränkte dessen Erwerb gegen Ende des Mittelalters immer ausschließlicher auf vermögende Personen, auf Kau eute, Akademiker und quali zierte Handwerker.¹⁸⁷ In München betrug das geforderte Mindestvermögen Ende des 14. Jahrhunderts etwa 90 Pfund Pfennige; Nördlingen forderte 30 Gulden im Jahre 1416; Straßburg setzte lediglich 20 Gulden (10 Pfund) an, eine Anhebung auf etwa 100 Gulden scheiterte im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts. Der Augsburger Rat verlangte im 15. Jahrhundert 50 Gulden. Jeder Neubürger sollte die Gewähr bieten, dass er nicht sofort dem Almosen zur Last el, sondern sich und seine Familie einige Jahre selbst erhalten konnte. Als sich die Wirtschaftskonjunktur um die Mitte des 16. Jahrhunderts abschwächte, ordnete der Rat 1559 an, wer kein Vermögen besitze und dennoch Bürger werden wolle, habe im Bauamt vermögende Bürgen dafür zu stellen, dass er in den nächsten fünf Jahren nicht dem Almosensäckel beschwerlich sein wolle. In Frankfurt am Main¹⁸⁸ scheint Voraussetzung für das Bürgerrecht zunächst der Besitz oder Erwerb eines Grundstücks in der Stadt im Wert von zehn Mark gewesen zu sein. Seit 1330 hatte der Neubürger stattdessen eine Aufnahmegebühr von drei Pfund zu zahlen und eine jährliche Rente von ½ Mark nachzuweisen. Die Rente musste auf dem Weg des Rentenkaufs erworben und als dingliches Recht auf einem Grundstück in der Stadt radiziert sein. Im Jahre 1373 ent el der Rentenkauf, stattdessen war eine erhöhte Aufnahmegebühr von zehn Pfund zu zahlen, was der früheren niedrigeren Aufnahmegebühr zuzüglich des Kapitaleinsatzes für den Rentenkauf entspricht. Weniger bemittel-

187 R. G, Die Einbürgerungsfrequenzen, S. 256. 188 G. D, Zum Bürgerbegriff im späten Mittelalter.

te Bewerber hatten sofort einen Anteil in Höhe der alten Aufnahmegebühr zu entrichten und später den Rest zu zahlen, wenn sie dazu in der Lage waren, was man bei einem Reinvermögen von 100 Pfund für gegeben erachtete. Die große Überzahl von Neubürgern bestand in der Tat aus wenig bemittelten Personen. In der Praxis wurde von den wenigsten die volle Aufnahmegebühr entrichtet. Diese Regelungen sind von besonderem Interesse, weil sie zeigen, wie man in Frankfurt allmählich von der alten Konzeption der Grundbesitzergemeinde abging und neben der Teil skalisierung der Bürgerrechtsverleihung durch die Aufnahmegebühr im Erfordernis des Rentenkaufs einen Kompromiss zwischen Grundbesitz und Kapital in Form des dinglichen Rechts einging. Der Rentenkauf brachte den Neubürger in den Genuss des Kapitalertrags in Form einer gesicherten jährlichen Rente und schuf für die Altbürger zugleich die Möglichkeit, Grundbesitz zum Zwecke der Kreditschöpfung zu nutzen. Schließlich setzten sich die Fiskalisierung und die geldwirtschaftliche Konzeption durch. Die Neuregelung erleichterte andererseits die Stundung oder den Erlass von Teilen des Bürgergeldes. Der Rat konnte seine Aufnahmepolitik an der jeweiligen Wirtschaftskraft des Neubürgers orientieren und sie insgesamt exibel handhaben. Dem ärmeren Neubürger wurde ein Teil seines mitgebrachten Vermögens zur wirtschaftlichen Existenzgründung belassen, wie ihm sein in der Stadt erwirtschaftetes Vermögen nicht sofort wieder abgeschöpft wurde. Die geldwirtschaftliche Fundierung des Bürgerrechtserwerbs trug möglicherweise der Wert- und Preissteigerung städtischer Grundstücke und der zunehmenden Gewohnheit des Wohnens zur Miete Rechnung. Die geldwirtschaftlich- skalische Konzeption setzte sich zu einem Zeitpunkt durch, als die Entscheidung über die Aufnahme vom Vogt, dann vom Reichsschultheißen nunmehr durch den pfandweisen Erwerb des Schultheißenamtes durch die Stadt (1373) vollständig an Bürgermeister und

Stadtbürger und Stadtbewohner

Rat überging. Der Rat war bestrebt, das Bürgerrecht tendenziell auf alle Ansässigen auszuweiten, damit alle Einwohner gleichermaßen durch einen gleichen Eid verbunden beieinander saßen. Nach lübischem Recht sollte jeder, der mit Frau und Kind in die Stadt zog, sich dort länger als drei Monate aufhielt und einen selbständigen Erwerb (Nahrung) gleich welcher Art, es sei als Kaufmann oder Handwerker, trieb, sich um den Erwerb des Bürgerrechts bemühen, gleichfalls sollten es die Kinder, wenn sie älter als zwölf Jahre und mündig waren. Irgendwelchen Bevölkerungs- oder Berufsgruppen wurde nicht durch gesetzliche Sonderbedingungen der Erwerb erschwert, dafür war es zur Sicherheit dem Ermessen und der Entscheidung des Rats im Einzelfall anheimgegeben, ob er dem Bürgerrechtsbegehren stattgab oder nicht. Tatsächlich wurden ausweislich der Lübecker Neubürgerlisten (civilitates) von 1317 bis 1356 Gewerbetreibende aller Art bis hin zu Fischern, Trägern und Schweinetreibern, ferner Gesellen und Knechte sowie Frauen, aufgenommen.¹⁸⁹ In Konstanz, Köln, Freiburg, Augsburg und in anderen Städten wurde nach erfolgreichen Zunftkämpfen die Aufnahme in das Bürgerrecht von der vorherigen oder gleichzeitigen Aufnahme in die gewerbliche oder politische Zunft abhängig gemacht. In Augsburg hatte gemäß einem Ratsbeschluss von 1399 der Neuankömmling eine Zunft zu wählen und bei ihr vorstellig zu werden; danach sprach die Zunft gegenüber den für die Prüfung der Bewerbung beim Rat zuständigen Baumeistern ein Votum hinsichtlich der Aufnahme aus. Damit regelte der Rat die Verteilung der Neubürger auf die Zünfte und übertrug der Zunft eine gewisse Mithaftung für Ehrbarkeit und Verhalten des für geeignet erachteten Bewerbers. In Straßburg forderten 1402 mehrere Zünfte, das Zunftrecht mit dem Erwerb des Bürgerrechts zu verknüpfen. Das Bürgerrecht wurde, wie etwa auch in Frankfurt am Main, Ulm und Basel, zur Vorbedingung für den Eintritt in die Zunft, doch konnte diese Maßgabe in einigen Städ-

189 W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 272.

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ten bis ins 15. Jahrhundert hinein nicht konsequent durchgesetzt werden, sodass ein alleiniges Zunftrecht vorkam. Andererseits wurden in einigen Städten Handwerker erst im 15. Jahrhundert zum Bürgerrecht zugelassen. Bei Verletzungen der Bürgerp ichten und Delikten konnte das Bürgerrecht verwirkt, danach aber vielfach wieder zurückgekauft werden. 2.1.1.4 Formen eines geminderten Bürgerrechts und bürgerrechtliche Sondervereinbarungen Für ärmere und sozial weniger angesehene Bevölkerungsgruppen gab es in einigen Städten ein gemindertes Bürgerrecht, ein Kleinbürgerrecht (Hintersassenrecht, Schultheißenbürgerrecht) mit günstigeren nanziellen Aufnahmebedingungen, das jedoch eine politische Berechtigung vorenthielt. Nürnberg richtete 1382 die beiden Kategorien des einfachen Bürgers und des Handwerksbürgers ein. Die Straßburger Schultheissenburger waren Leute sehr bescheidenen sozialen und wirtschaftlichen Zuschnitts, Dienstboten und kleine Handwerker, deren Vermögen 10 Pfund nicht überschritt und die ein Aufnahmegeld von nur 2 bis 4 Schillingen zu zahlen hatten. Wuchs ihr Vermögen über jene 10 Pfund an, waren sie gehalten, das volle Bürgerrecht zu erwerben. Es handelte sich vielfach um ungesicherte Existenzen, die von der Hand in den Mund lebten und die Befürchtung aufkommen ließen, dass sie der Stadt zur Last elen. Daher nahm man Schultheißenbürger eher restriktiv auf, zumeist in Kriegszeiten oder wenn man ihrer in sonstigen Notlagen bedurfte. Außerdem versuchte der Rat die Anzahl der Aufnahmeanträge dadurch zu begrenzen, dass er 1464 den Hinzugekommen das Versprechen abverlangte, sich nicht dem Bettel zu widmen und nicht das städtische Almosen in Anspruch zu nehmen. Der Rat beklagte aber noch im frühen 16. Jahrhundert, dass teilweise massenhaft der Eintritt in das Schultheißenbürgerrecht erfolge, um zum Almosenempfang be-

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

rechtigt zu sein, und erlaubte diesen zweitweise erst nach fünf Jahren. Für die Stadt bestand das Problem darin, dass für die Aufnahme noch immer der Schultheiß im Namen des Bischofs die Zuständigkeit beanspruchte. Der Rat statuierte in Konkurrenz zum Schultheißen, dass derjenige von den Schultheißenbürgern, der vor Ende der Frist von fünf Jahren Almosen beantragte oder das städtische Bettelverbot missachtete, als Eidbrüchiger das Bürgerrecht verloren haben sollte und es nach mehrmaligem Verstoß nicht wieder kaufen dürfe. Sonderregelungen und Vergünstigungen für den Eintritt ins Bürgerrecht gab es andererseits für auswärtige nanzstarke Kau eute, Angehörige bedeutender Geschlechtern und Adlige, insbesondere solche mit steuerp ichtigem Besitz in der Stadt, die als Neubürger gewonnen werden sollten, ferner für Vertreter hochquali zierter und von der Stadt benötigter Spezial- und Mangelberufe, die oft aus weit entfernten Orten kamen. Sie wurden wegen der vertraglichen Sondervereinbarungen mit der Stadt als Ding- oder Gedingbürger, Satzbürger und Paktleute oder Beisitzer bezeichnet, besaßen keine Rats- und Gerichtsfähigkeit und hatten beim Abzug keine oder eine geminderte Abgabe zu entrichten. Personen mit Spezialberufen und Kenntnissen innovativer Techniken, die sich zugleich durch Mobilität auszeichneten, darunter Büchsenmeister, Brunnenmeister und Röhrenmeister für Wasserleitungen, Baumeister, Steinmetze, Klingenschmiede, Harnischmacher, Uhrmacher, Buchdrucker, Ärzte, gelegentlich Ratsschreiber, ferner Notare, Schulmeister, Künstler oder Barchentweber, war an einer Bindung an die Stadt durch das vor allem infolge der Erhebung von Nachsteuern meist nur erschwert aufzugebende Bürgerrecht nicht gelegen. In Memmingen wurde 1462 der Beisitz auf Geding auf die Dauer von fünf Jahren beschränkt. Die Stadt Rottweil, die bereit war, Verträge mit einer klein gestaffelten Laufzeit bis zu 20 Jahren einzugehen,

schrieb hingegen 1487 vor, dass auf geding aufgenommene Personen in der Stadt von ihrem eigenen Vermögen leben mussten und daher kein Gewerbe ausüben durften, und schloss sie ausdrücklich vom Sitz in Gericht oder Rat aus.¹⁹⁰ Andererseits stellte die Kategorie der Dingbürger die Solidarität der Bürger infrage und führte zu inneren Streitigkeiten und Unmut, da viele der regulären Bürger der Auffassung waren, dass Dingbürger ihren eigenen Nutzen und Vorteil suchten und sich dem gemainen mitleiden, der solidarischen Übernahme bürgerlicher Lasten, entziehen wollten.¹⁹¹ Deshalb lehnten es einige Städte ab, Dingbürger aufzunehmen. Die Stadt Augsburg begann seit den 1350er Jahren vornehmlich in wirtschaftlichen und politischen Krisenzeiten Adlige, vor allem Kaufleute, ferner Rentiers, Kleriker und Juden befristet als Bürger mit Sondervereinbarungen (gedinge) aufzunehmen. Um wichtige Neubürger gewinnen zu können, vereinbarte der Rat mit Paktbürgern auf zehn Jahre oder auf Lebenszeit, später auch enger befristet, feste Steuerbeträge, die häu g weit unterhalb der Beträge der ordentlichen städtischen Vermögensteuer lagen, bei den Juden jedoch erheblich darüber, außer man war an ihrer Ansiedlung zeitweise besonders interessiert. Die niedrigen Steuerbeträge verletzten die Steuergerechtigkeit und führten dazu, dass Bürger, die am leistungsfähigsten waren, die größten Steuerbefreiungen erhielten. Den Status von Paktbürgern erlangten allerdings auch bereits ansässige vermögende Bürger und solche, die, wie etwa der prominente Peter Egen im Jahre 1444, das Bürgerrecht aufgegeben hatten und bereit waren, unter Sonderbedingungen in die Stadt zurückzukehren. In den Jahren 1451 und 1459 erließ der Rat schließlich Verbote auf ewig, Bürger von außerhalb oder innerhalb der Stadt sowie Rückkehrer unter Sondervereinbarungen aufzunehmen. Dennoch wurden Zuzügler wie der Ulmer Rudolf Dietenheimer 1456 und 1465 Bartholomäus Rem und führende Nördlinger Textil-

190 H. G (Hg.), Das ältere Recht der Reichsstadt Rottweil (2.2.–2.4), Nr. 431, S. 233, Nr. 278, S. 203. 191 C. M (Hg.), Das Stadtbuch von Augsburg (2.2.–2.4), S. 288 f., Nr. XXX.

Stadtbürger und Stadtbewohner

kau eute, ferner Rückkehrer wie 1476 Jakob Rehlinger aus Nürnberg, der Sohn des Augsburger Bürgermeisters Ulrich Rehlinger, und 1498 Anton Welser aus Memmingen wieder mit geding ins Bürgerrecht aufgenommen. Neben den niedrigen Steuerbeträgen kamen im Falle des Bartholomäus Rem und des Jakob Rehlinger als weitere Privilegien hinzu, dass sie von Ämtern in Rat und Gericht sowie vom Kriegsdienst vertraglich befreit wurden. 2.1.1.5 Bürgerrechtspolitik Die Bürgerrechts- und Aufnahmepolitik Nürnbergs¹⁹² weist einen engen Zusammenhang mit der schrittweisen Kommunalisierung der Stadtverfassung sowie der Siedlungserweiterung und Bevölkerungsentwicklung auf. Sie war ein Instrument städtischer Wirtschafts-, Sozial- und Verteidigungspolitik. Das Nürnberger Bürgerrecht zeichnet sich dadurch aus, dass es zeitweise deutlich nach sozialen und innerörtlichen Gesichtspunkten gestuft war. Nach den Handwerkerunruhen von 1348/49 und den Handwerkerordnungen von 1357/58 galt, dass alle, die Meisterwerk trieben, zugleich das Meisterund das Bürgerrecht besitzen müssten. Bis zu einem bestimmten Termin sollten die betreffenden Personen beides unentgeltlich erhalten, nach dem Stichtag waren beträchtliche Aufnahmegebühren zwischen vier und zehn Pfund (960–2400 Silberheller) zu entrichten. Mit der generellen Aufnahme der Handwerker in das Bürgerrecht verp ichtete der Rat weite Kreise der Bevölkerung durch den Bürger- und Steuereid zu Gehorsam ihm gegenüber, mit der Gebührenfestsetzung wollte er für die Zukunft die Zahl der Handwerker auf nanzkräftige Neubürger beschränken. Um ständig einen Überblick über die Zahl der Meister in den einzelnen Handwerken und Berufen sowie über diejenigen zu haben, die den Bürger- und Losungseid (Steuereid) geschworen hatten, legte die Stadt von 1363 bis 1370 zur obrigkeitlichen Kontrolle nach Handwerken gegliederte Meisterlisten an. Angesichts eines raschen Bevölkerungs-

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wachstums in den 60er und 70er Jahren und insbesondere eines sich abzeichnenden schweren Kon ikts zwischen Fürsten und Städten verzichtete der Rat seit 1365 auf die Stellung von Bürgen bei der Neubürgeraufnahme und senkte die Aufnahmegebühren drastisch. Sie betrugen – offenbar entsprechend dem eingebrachten Vermögen – nur noch ein bis zwei Pfund. Verlangt wurde aber eine fünährige Mindestresidenz. Unter dem Eindruck der drohenden Kriegsgefahr, um die inzwischen entstandenen Vorstädte durch eine neue, rasch erbaute Stadtmauer zu schützen und diese nun fast vier Kilometer lange Befestigungslinie durch eine vermehrte Einwohnerschaft besser verteidigen zu können, bildete der Rat 1382 drei Kategorien des Bürgerrechts und des Rechts der Ansässigkeit: Der (Voll-)Bürger wohnt in den eigens befestigten Innenstädten St. Sebald und St. Lorenz; er ist der burger der reht stat. Ein zugezogener Neubürger, der 200 Gulden Vermögen besitzt, bezahlt eine Aufnahmegebühr von zehn Gulden und darf erst in die Innenstadt ziehen, wenn der Rat dies erlaubt und der Zuziehende ein Haus im Wert von 50 Gulden erwirbt. Er wird in die ›Pergamentene‹ Neubürgerlichste eingetragen. Diese Kategorie macht die obere Mittelschicht und die Oberschicht der Bürgerschaft aus. Alle zuziehenden Handwerksmeister oder Angehörigen sonstiger Berufe wie Krämer, Wirte, Brauer, Müller, Maler, Angehörige der freien Künste, die vermutlich ein Vermögen unter 200 Gulden haben, müssen für fünf Jahre in die ummauerten Vorstädte ziehen. Sie haben eine Gebühr von lediglich 60 Hellern zu zahlen, das entspricht etwa sechs Tagelöhnen. Als Vorstadtoder Minderbürger, als handwerkspürger, werden sie in die ›Papierne‹ Neubürgerliste eingetragen. Sie können als untere Mittelschicht gelten. Hausbesitz ist nicht erforderlich; es genügen Vermögen, Arbeitskraft und Mietwohnung. Die ›Tagwerker‹ werden als bloße Einwohner ohne Bürgerrecht behandelt. Sie werden als

192 W. S, Das Bürgerrecht der Königs- und Reichsstadt Nürnberg.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

sleht bürger, einfache Bürger ohne besondere Quali zierung, bezeichnet. Ab 1386 müssen sie sich durch einen besonderen Eid verp ichten, nur Tagewerk, kein Handwerk zu treiben und auf Erfordern die Stadt zu verlassen. Sie zahlen eine Aufnahmegebühr von 30 Hellern, etwa drei Tagelöhne, und wohnen in den Vorstädten; sie gehören zur Unterschicht. Die Stadt brauchte sie für die schnelle Durchführung des Mauerbaus, zur Besiedlung und Bewachung der umfangreichen Vorstädte und für den Kriegsdienst. Im Jahre 1393 wurden allein 436 Tagwerker aufgenommen. Etwa 1430 fällt die Kategorie der ›Tagwerker‹ weg. Die Angehörigen dieser Kategorie sind nur noch ›Einwohner‹ oder sie erwerben für ein bis zwei Gulden das Bürgerrecht. Nachdem seit 1400 die inzwischen ummauerten Vorstädte mit waffenfähigen Leuten besiedelt waren, erschwerte der Rat die Aufnahme von Tagewerkern und Mittellosen, um keine unruhige und zu Aufruhr neigende Unterschicht anwachsen zu lassen, die das bürgerliche Almosen in Anspruch nahm. Immer wieder hatte der Rat jedoch, wie es auch in anderen Städten der Fall war, seuchenbedingte Bevölkerungsverluste durch eine großzügigere Aufnahmepolitik auszugleichen, um die Produktionskraft und Verteidigungsfähigkeit der Stadt aufrechtzuerhalten. Um Wohnraum für die schnell und massenhaft zuziehenden einfachen Bürger (sleht burger) zu schaffen, errichteten reichere Bürger auf ihren Grundstücken ganze Komplexe zum Teil dreistöckiger Mietshäuser und kleiner Reihenhäuser. Ausweislich der nicht ganz vollständigen beiden Bürgerlisten wurden in der Zeit von 1382 bis 1500 mindestens 1 710 Vollbürger (sofort) in die Innenstadt zugelassen, gleichzeitig mindestens 17 983 Handwerker, Tagewerker und Angehörige sonstiger Berufe als Neubürger (zunächst) in die Vorstädte aufgenommen. Insgesamt ergibt sich eine Zahl von mindestens 19 693, schätzungsweise von 21 000 Neubürgern, wobei es sich in der Regel um Leute mit Familie handelt. Im Zeitraum von

1382 bis 1550 sind 24 370 Neubürger verzeichnet, woraus sich ein jährlicher Durchschnitt von 145 Neubürgern ergibt. In den Jahren 1407 und 1408 wurde bestimmt, dass die Mindestvermögen für die Innenstadt 200 Gulden und für die Vorstadt 100 Gulden, für das Meisterrecht 30 Gulden neben Kleidern und Hausrat betragen sollten. Ausnahmen konnten gemacht werden, wenn Meister in einem Handwerkszweig fehlten. Unter dem Eindruck der Pestepidemien und der Hussitenkriege konnten Leute mit einem Vermögen unter 100 Gulden aufgenommen werden, wenn es sich um gerade, d. h. kriegstüchtige und geeignete Personen handelte. Um die Jahrhundertmitte kehrten die Bestimmungen über die fünährige Residenzp icht in der minderberechtigten Vorstadt und die Erlaubnis der für die Steuererhebung und die Finanzen zuständigen Losunger für den Zuzug in die voll berechtigte Innenstadt (reht stat) nach Erwerb eines Hauses im Wert von 50 Gulden wieder. Die unterschiedlichen Voraussetzungen für die Innenund die Vorstadt elen seit 1467 zugunsten eines einheitlichen Bürgerrechts weg. Es blieb die Staffelung der Aufnahmegebühren nach dem eingebrachten Vermögen mit einem Mindestbetrag von 2 Gulden und einem Höchstbetrag von 10 Gulden. Neubürger wurden zuzeiten offen angeworben. So ließ der Mainzer Rat 1436 an Türen und Toren anschlagen, dass jeder in die Stadt einziehende Neubürger für die Dauer von zehn Jahren von allen Steuern und Abgaben befreit sein solle.¹⁹³ Seit Mitte des 14. Jahrhunderts, verstärkt dann im 15. Jahrhundert, sind in den Städten Bestrebungen des Rats erkennbar, die darauf abzielten, dass möglichst alle Bewohner, zumindest soweit sie einen selbständigen Hausstand hatten, zu Bürgerrecht in der Stadt sitzen sollten. Gelegentlich wurde es solchen Personen bei Strafe geboten, in das Bürgerrecht einzutreten. Andererseits glich der Rat vieler Städte die P ichten von Nichtbürgern denen der

193 F. K, Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 351, S. 449.

Stadtbürger und Stadtbewohner

Bürger an und versuchte damit zugleich indirekt, Nichtbürger in das Bürgerrecht zu drängen. Wer die Voraussetzungen für den Erwerb des Bürgerrechts erfüllte, konnte es dennoch nicht einfach ersitzen; für die Aufnahme in das Bürgerrecht bedurfte es eines formellen Rechtsaktes. Das Augsburger Stadtrecht behandelte um 1291 Ansässige ktiv als Bürger, indem es den tüchtigen Zuzügler, der über ein Jahr ansässig war und die Hof- und Herdsteuer entrichtete, auf die bürgerlichen Satzungen verp ichtete, als ob er das Bürgerrecht empfangen hätte. In Ulm wurde 1377 bestimmt, dass diejenigen, die einen Monat lang haushäblich ansässig waren, wie die Bürger Steuern zu leisten hatten. Ähnliches galt in Arbon, Buchhorn, Überlingen, Hagenau, Pfullendorf, Schaffhausen und Zürich. Im Jahre 1398 konzipierte der Frankfurter Rat einen Eid, mit dem Beisassen zu schwören hatten, den Rat und die Stadt vor Schaden zu warnen, ihr Bestes zu fördern, von ihren Gütern innerhalb und außerhalb der Stadt Steuern zu leisten und in allen Angelegenheiten gehorsam zu sein in gleicher Weise als ob sie Bürger wären. Andererseits wurde etwa in Waldsee und Memmingen jeder Nichtbürger, der Steuer, Wacht, Botendienst und andere bürgerliche Dienste leistete, ausdrücklich dem Bürger innerhalb der Stadt, nicht jedoch wenn er sich außerhalb aufhielt, rechtlich gleichgestellt. Allerdings musste in Memmingen seit der Mitte des 14. Jahrhunderts jeder Zugezogene spätestens nach vier Jahren das Bürgerrecht beantragen, sonst wurde er wie ein Gast behandelt, auch wenn er Steuern und Dienste geleistet hatte. Ein Augsburger Ratsbeschluss von 1397 verp ichtete – unter Aufgabe der Haushäblichkeit im Sinne von Hausbesitz – alle Sesshaften mit eigenem Haushalt bei Strafe eines zehnjährigen Stadtverbots, das Bürgerrecht anzunehmen, auch Ledige, die keine Bürgerkinder waren und heirateten. Die Verp ichtung, das Bürgerrecht anzunehmen, wurde nachfolgend mehrfach angemahnt. Personen, die dem nicht nachkamen, sollten beim Rat angezeigt werden.

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Ein Ratsbeschluss von 1457 verlangte, dass alle hausbesitzenden Personen und solche mit eigenem Haushalt, Ehepaare, frisch Verheiratete, aber auch Witwen und Junggesellen, ferner Personen, die ein Haus oder eine Wohnung gemietet hatten, bei Strafe des Stadtverweises binnen zweier Wochen das Bürgerrecht annahmen und in eine Zunft eintraten. Bürger und Nichtbürger hatten beide einen Eid zu schwören, mit dem sie, damit Bürger und Einwohner in einer gleichen P ichtbindung standen, versprachen, die Stadt vor Schaden zu warnen, ihren Nutzen zu fördern sowie den Geboten von Bürgermeistern und Rat gehorsam zu sein und diesen beizustehen, wie es Bürgern zukam. Der Frankfurter Rat war mit gleicher Intention seit der Mitte des 14. Jahrhunderts etwa hundert Jahre lang im Wege mehrerer unterschiedlich konzipierter Verordnungen darum bemüht, dass die in Frankfurt wohnhafte Bevölkerung um des inneren Friedens und der Ordnung willen im Sinne einer gleichförmigen Gesamtbürgerschaft Bürger und eidhaftig wurden. In den Jahren 1432, 1448 und 1459 versuchte der Rat alle ansässigen Haushaltungsvorstände zum Erwerb des Bürgerrechts zu zwingen. Im Zeitraum von 1311 bis 1533 verzeichnete Frankfurt insgesamt 13 380 Neubürger, 60 waren es im jährlichen Durchschnitt. Gelegentlich wurde eng gefassten Bevölkerungskreisen geboten, das Bürgerrecht (kostenlos) anzunehmen oder die Stadt zu verlassen. Das war in Ravensburg bei den so genannten Stirnenstöseln, einer Gruppe unruhiger Elemente, der Fall, die der Rat 1380 durch Bürgerrecht und Bürgereid in ein Ordnungs- und Loyalitätsverhältnis gegenüber der Stadt einbinden wollte. In Nürnberg mussten die Lehrjungen der gesperrten Handwerke, deren Techniken nicht nach außen gelangen sollten, sofort das Bürgerrecht erwerben. Der Straßburger Rat erließ 1419 ein Mandat, wonach alle in Straßburg ansässigen Adligen das Bürgerrecht zu erwerben und – wie die adligen Ausbürger – dem Rat einen Treueid zu leisten hätten und nur dann dem Rat oder Schöffenkolleg angehören könnten.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

Der Rat betrieb eine pragmatische Bürgerrechtspolitik, indem er die Bedingungen des Bürgerrechtserwerbs nach ordnungspolitischen Zielsetzungen und entsprechend den demogra schen, militärischen, wirtschaftlichen und skalischen Konjunkturen einmal erleichterte, dann wieder erschwerte. Verlustreiche Seuchen und Kriege machten Zuzug und die Wiederauffüllung der Bürgerschaft erforderlich. Um die städtische Eidgenossenschaft und das Ordnungsgefüge zu stärken und die Leistungen für die Stadt besser durchsetzen zu können, drängte man alle mit eigenem Hausstand Sesshaften und selbst problematische Bevölkerungsgruppen in das Bürgerrecht und verlieh es zu bestimmten Zeitpunkten auch kostenlos. Durch die Verp ichtung zum Erwerb des Bürgerrechts wollte der Rat vermeiden, dass der Schutz der Stadt und wirtschaftliche Vorteile ohne die vollen verbindlichen Verp ichtungen des Bürgers in Anspruch genommen wurden. Andererseits war die Stadt vor allem an vermögenden Zuzüglern interessiert, warb sie deshalb an, gewährte ihnen eventuell eine befristete Sonderstellung und erschwerte, wenn sie Bürger geworden waren, ihren Abzug, während sie ärmere Bevölkerungsgruppen durch Verschärfung der Aufnahmebedingungen vom Bürgerrecht fernzuhalten trachtete. Seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert wurden vereinzelt befristete und unbefristete Aufnahmesperren verhängt (Konstanz), die in der frühen Neuzeit unter der Vorstellung nur begrenzter Erwerbsmöglichkeiten in der Stadt häu ger wurden, um den Kreis der zu quali zierter Wirtschafts- und Erwerbstätigkeit berechtigten und privilegierten Bürger zu beschränken. 2.1.1.6 Die Aufgabe des Bürgerrechts Den Städten war grundsätzlich daran gelegen, vor allem reiche und nanzkräftige Bürger zu gewinnen, aber auch zu behalten. Das Bürgerrecht musste bei Wegzug formell gekündigt werden. Bei Aufgabe des Bürgerrechts und beim Abzug war trotz des freien Zugs in der Regel ein

Abzugs- und Ablösegeld oder eine Abzugs- oder Nachsteuer als Abgeltung hypothetischer Restforderungen der Stadt zu entrichten. Gedanklich handelte es sich um eine Lösung aus der solidarischen Haftung des Bürgers für die städtischen Schulden, die anteilsmäßig auf allen Bürgern lasteten, oder in erweitertem Sinne um eine Abgabe vom wegziehenden Vermögen. Der Rat der Stadt Schaffhausen bestimmte 1356 in diesem Sinne, dass ein Stadtbürger, der sein Bürgerrecht aufgeben und wegziehen wolle, zuvor seinen Anteil der während seiner Anwesenheit als Bürger aufgelaufenen Schulden nach der Erkenntnis, dem urteilsähnlichen Feststellungsbescheid des Rats, zu übernehmen habe.¹⁹⁴ Ein stadtherrliches Privileg von 1411 erlaubte der Stadt München, vom Wegziehenden zur Tilgung der kommunalen Schuld drei Beträge in Höhe der letzten Vermögensteuer zu erheben. Man kann diese Abgabe als Vermögensverkehrssteuer deuten, wenn wie in München oder in Schaffhausen 1368 und später speziell Vermögen, das durch Erbschaft die Stadt verließ, ferner die Aussteuer sich nach auswärts verheiratender Kinder, das Gut, das Personen ins Kloster oder ins Spital mitnahmen, oder Vergabungen an Kirchen, Kapellen und Klöster mit einer Abzugssteuer belegt wurden. Fiskalisch betrachtet wollte man den Abzug vermögender Bürger mit ihrem steuerbaren Gut aus der Stadt verhindern und im Hinblick auf den unabwendbaren Ausfall von Steuerleistungen eine gewisse Kompensation erzielen. Da der Wegzug aus der Stadt von konjunkturellen Lagen und Krisen beein usst wurde, änderte der Rat immer wieder die Bedingungen für den Abzug. Zur Zeit einer Wirtschaftskrise in den 1450er Jahren gewährte Schaffhausen 1459 bei Neubürgeraufnahmen Vergünstigungen bei den Abzugssteuern, und der Rat behielt sich vor, ihm nützlich erscheinende Personen bei der Bürgeraufnahme auf deren Wunsch von Abzugssteuern freizustellen. Der Rat der kurz vor dem Bankrott stehenden Stadt Mainz hob

194 O. L, Der Finanzhaushalt der Stadt Schaffhausen (4.8), S. 149–155.

Stadtbürger und Stadtbewohner

1444 für die folgenden vier Jahre das Recht des freien Wegzugs aus der Stadt überhaupt auf. Durch eine teilweise hohe Nachsteuer und das Erfordernis, die Bürgerrechtsaufsagung persönlich vor dem Rat zu erklären, wurde der Abzug erschwert. Augsburg und Ulm erhielten 1376 von Karl IV. die Erlaubnis, bereits statutarisch festgesetzte drei Nachsteuern zu erheben. Auch in München und Zürich war die Nachsteuer in Höhe von drei Vermögensteuern üblich. Auswanderungswellen, wirtschaftliche und nanzielle Krisenzeiten und Zeiten der Erholung veranlassten den Augsburger Rat, die Abzugsbedingungen immer wieder durch Statuten zu verändern, wobei abwechselnd die dreifache Vermögensteuer (1374, 1424, 1454, 1468), dann wieder insbesondere wegen der Paktbürger der zehnte Pfennig (1399, 1433, 1445) auch von Besitzungen außerhalb der Stadt (1399) erhoben wurde. Nürnberg verlangte zunächst eine einfache Vermögensteuer, dann den zehnten Pfennig von aller Habe. Abzugs- oder Ablösegelder waren etwa auch in Esslingen, Reutlingen. Rothenburg ob der Tauber, Isny, Kaufbeuren und Regensburg zu zahlen. Frankfurt am Main verzichtete anscheinend selbst in Zeiten enormen Geldbedarfs wie 1389 nach der Niederlage bei Kronberg auf ein Abzugsgeld. In Augsburg wurde zeitweise eine Bedenkzeit und Widerrufsmöglichkeit von einem Monat nach Aufsagung des Bürgerrechts eingeräumt. Dort gab es Stimmen, die davon ausgingen, dass eine niedrige Nachsteuer den Zuzug reicher Leute erhöhe, was aber wohl nicht eintrat. Nachdem Rottweil 1424 den Abzug des Vermögens aus der Stadt und die Aufgabe des Bürgerrechts erleichtert hatte und deshalb viele Leute abgezogen waren, verlangte die Stadt vier Jahre später und erneut 1466 nicht weniger als 20 Steuern gemäß dem Steuerbetrag, der aufgrund der eidlichen Steuerdeklaration im Steuerbuch verzeichnet war. Ferner musste in Rottweil der Abziehende Zinse und Liegenschaften, die in der Stadt und in deren Bannbereich situiert waren, binnen Jahresfrist

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verkaufen, sonst hatte er sie weiterhin zu versteuern und musste davon Bürgerp ichten wie Wachtdienste leisten, als ob er dennoch Bürger wäre.¹⁹⁵ Wer in Straßburg das Bürgerrecht aufgab, musste schwören, binnen eines Monats mit der ganzen Familie die Stadt zu verlassen oder in einem Wirtshaus in der Stadt Logis zu nehmen, wie das auch in Augsburg 1451 gefordert wurde. Auch in Augsburg mussten binnen Jahresfrist in Stadt und Stadtmark gelegene Liegenschaften an Bürger verkauft werden, wovon 1454 für fünf Jahre zugunsten einer jährlichen Steuerleistung von den Gütern abgesehen wurde. Außerdem mussten die Abziehenden schwören, alle Streitigkeiten, die aus der Zeit des Bürgerrechts herrührten, vor Augsburger Gerichten auszutragen. Sie sollten zu ihren Lebzeiten nicht mehr ins Bürgerrecht aufgenommen werden, doch konnte der Rat eine vorübergehende Aufgabe erlauben, wenn ein Bürger einer Sache nicht in erforderlicher Weise nachgehen konnte, solange er sich im Bürgerrecht befand. Eine Ratsverordnung von 1505 nennt als wichtigen Grund für die wiederholten Änderungen der Statuten den Umstand, dass einige Bürger – Angehörige der vermögenden Oberschicht – nicht aus rechtmäßigen Ursachen, sondern aus Eigennutz, um den üblichen bürgerlichen Jahressteuern und anderen solidarischen Leistungen zu entgehen, das Bürgerrecht aufsagten, aber – um weiter am städtischen Leben teilnehmen zu können – nicht aus der Stadt wegzogen oder – wie ›Gäste‹ – in öffentlichen Gasthäusern logierten. 2.1.2 P ichten des Bürgers – Rechte des Bürgers und Leistungen der Stadt 2.1.2.1 Bürgereid und Bürgerp ichten Die Bürgerschaft bildet einen durch den Erwerb des Bürgerrechts begründeten Stand; wirtschaftliche, soziale und beru iche Differenzierungen betreffen nicht den grundlegenden Rechtsstatus.

195 H. G (Hg.), Das ältere Recht der Reichsstadt Rottweil (2.2.–2.4), Nr. 248, S. 188–190, Nr. 270, S. 201.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

Der Bürgereid verp ichtet generell zu Treue und Gehorsam gegenüber dem Rat sowie zum Einsatz für den Nutzen und die Ehre der Stadt. In Bremen mussten die Neubürger seit 1365 im Zuge des niedergeschlagenen Aufstands (Bannerlauf ) gegen das exklusive Ratsregime bis 1904 schwören, dem Rat gehorsam zu sein und niemals etwas gegen den Rat zu unternehmen. Namentlich in Territorialstädten wurde der Stadtherr in den Eid einbezogen. Verschiedene Eidesformeln heben einzelne P ichten noch besonders hervor und konkretisieren sie. Die einzelnen P ichten werden unter Berufung auf den Eid als ihren Geltungsgrund angemahnt. Die Formel he waket und schotet mit uns, ›er leistet mit uns die Wacht- und Steuerp icht‹, war in Lübeck eine Bezeichnung für den Bürger. Zu den Hauptp ichten des Bürgers gehören neben der Befolgung der städtischen Gesetze die P icht, Lasten der Stadt solidarisch mitzutragen (mitleiden), d. h. Steuern in der Regel in Form der Vermögenssteuer nach Maßgabe der individuellen wirtschaftlichen Leistungskraft und in den Formen der Verkehrs- und Verbrauchssteuer zu entrichten, die persönliche Wehr- und Bewaffnungsp icht, die auch den Wacht- und Feuerwehrdienst und eventuell Patrouilliengänge zur Gefahrenabwehr umfasst, gemeinnützige Arbeitsdienste als ›Bürgerfron‹ für die Befestigung und am Wasserlauf, die P icht – eventuell gegen Entschädigung (›Reitgeld‹) nach Anzahl der Pferde – ›in der Stadt Dienst zu reiten‹, d. h. Botendienste zu leisten. Andererseits räumten Ulm und Zürich ihren Bürgern das Recht ein, in eigenen Angelegenheiten den allgemeinen Boten von Stadt und Bürgern in Anspruch zu nehmen. Der Bürger hat für den Kriegsdienst einen Harnisch und bestimmte Waffen, die er nicht veräußern oder verpfänden darf, und gelegentlich einen ledernen Eimer für den Brandeinsatz nachzuweisen. Da es sich um den gemeinen Nutzen handle, der alle angehe, verlangte der Straßburger Rat jedoch nicht nur von den Bürgern, sondern von allen Einwoh-

nern jeden Standes, weltlichen und geistlichen, Dienstknechten, weiblichen Hausbesitzerinnen und den Insassen der Männer- und Frauenklöstern angesichts zunehmenden Wassermangels Fronarbeiten (tagewon) am südlichen Arm der Ill, damit durch Aushebung des Kanals und anderer Zu üsse der Wasserzustrom zur Stadt gesichert wurde und der Betrieb der Mühlen und die Transporte von Wirtschaftsgütern auf dem Wasser aufrechterhalten werden konnten.¹⁹⁶ Damit die Stadt als geschlossener Gerichtsbezirk konsolidiert werden kann, hat der Bürger die P icht, vor dem Stadtgericht Recht zu nehmen und Recht zu geben und darauf zu verzichten, Bürger vor auswärtigen Gerichten, insbesondere in Schuldsachen vor geistlichen Gerichten, zu verklagen. Der Bürger ist für den Rechts- und Ordnungszustand der Stadt, die eine vergleichsweise geringe Zahl von Ordnungskräften beschäftigt, unmittelbar mitverantwortlich. Deshalb hat er aufgrund des Bürgereides Verstöße gegen Frieden, Recht und polizeiliche Ordnungen, die ihm zur Kenntnis gelangen, aufgrund des Bürgereides bei Strafe anzuzeigen, zu rügen, und bei der Ergreifung von Friedensbrechern durch Nacheile mitzuwirken, wenn sich ein Zetergeschrei (Gerüfte) erhob und insbesondere, wenn der Stadtrichter, Bürgermeister oder ein anderer hoher Amtsträger dazu aufforderte und die Glocke Sturm geläutet wurde oder eine spezielle Alarmglocke ertönte. Handelte es sich dabei um Verwandte, wurde die Verp ichtung zur Verfolgung verschiedentlich ausgesetzt. Denunziationen, obwohl sie auf der aus dem Bürgereid abgeleiteten Rügep icht beruhten, und bestimmte Maßnahmen der Gefahrenabwehr wurden gelegentlich durch Anteile an den Bußen der Delinquenten und kleinere Geldbeträge als Anreize zu größerem Eifer belohnt. Damit Kon ikte des Landes nicht auf die Stadt übergriffen, wurde es 1372 Bürgern bei ewiger Stadtverbannung verboten, ohne Erlaubnis des Augsburger Rats einem Auswärtigen (Ausmann), sei es dem Bischof, einem adligen

196 J. B (Hg.), Straßburger Zunft- und Polizeiordnungen (2.2–2.4), S. 240 f. (15. Jh.)

Stadtbürger und Stadtbewohner

Herrn oder sonst jemandem, bei einem kriegerischen Angriff in irgendeiner Weise zu helfen. Kam es allerdings nach den gewaltsamen Auseinandersetzungen zu einem rechtlichen Ausgleich, an dem der Stadt gelegen war, konnte der Rat bei einer Buße von 100 Gulden die Wiederkehr in die Stadt erlauben. Auch Rottweil untersagte die Hilfe für Ausleute; andererseits durfte sich kein Bürger in den Schutz eines Landmannes begeben. In Nürnberg waren Bürger und Ratsherren in nicht unbeträchtlicher Zahl Lehensleute des Königs und von Fürsten, insbesondere des benachbarten Markgrafen von BrandenburgAnsbach, der sich häu ger in rechtlichen Auseinandersetzungen sowie im politischen und militärischen Kon ikt mit der Stadt befand und dabei die Lehensp ichten auch von Ratsherren anmahnte. Von Juristen ließ sich der Rat angesichts der P ichtenkollision darlegen, dass der gemeine Nutzen der Stadt gegenüber anderen P ichtbindungen ›hoch privilegiert‹ sei und gegenüber den Lehensp ichten Vorrang genieße.¹⁹⁷ 2.1.2.2 Rechte des Bürgers Das Bürgerrecht ist aber auch eine nutzbare Gerechtigkeit.¹⁹⁸ Es berechtigt zu quali zierter wirtschaftlicher Betätigung, zur Ausübung eines Handwerks im zünftigen Rahmen und zur Benutzung für Gewerbe und Handel errichteter Anlagen, das Betreiben eines offenen Ladens oder einer Handelsunternehmung. Wo dies nicht den Bürgern vorbehalten war, wie etwa in Freiburg im Breisgau, bestand kein dringendes Bedürfnis, das Bürgerrecht zu erwerben. Bürger kommen in den Genuss von städtischen Sozialstiftungen, ihnen sollen die geistlichen Pfründen in der Stadt vorbehalten sein; sie dürfen die Allmende nutzen, an bestimmten Tagen in bestimmten Mengen Fische fangen, jagen und Brennholz (Bürgerholz) beziehen. Sie haben an der Zollfreiheit teil und das Recht zum Eintritt in einen Kaufvertrag (Zug-

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recht). In Köln war das Bürgerrecht speziell mit der Berechtigung zum Weinzapf, dem Weinausschank in kleineren Mengen, verbunden. Der dazu erforderliche, mit einer Gebühr verbundene Zutritt zur Weinbruderschaft wurde allerdings vom Rat in der Zeit von 1372 bis 1396 zugunsten der Geschlechter geschlossen. 2.1.2.3 Leistungen der Stadt Die Stadt gewährt dem Bürger umfassenden Rechtsschutz. Sie hat den Bürger, der die materiellen Lasten der Stadt mitträgt, als Gegenleistung zu verantworten. Der Bürger kann in auswärtigen Rechtssachen einen Ratsherrn verlangen, der für ihn nach bestem Vermögen reiten und raten muss. Der Rat unterstützt den Bürger bei der Beitreibung von Schulden fremder Bürger und wenn er die Beachtung der städtischen Zollprivilegien in anderen Städten geltend macht. Er verhandelt bei Beraubung von Gütern und bei Gefangennahme um Freigabe und Freilassung; er kauft den Bürger auch frei. Vor allem erfolgt der Freikauf der Bürger, die in Fehden der Stadt gefangen genommen wurden. Das lübische Recht verfährt uneinheitlich in der Frage, ob der Freikauf auf Kosten der Stadt geht oder, da der Kriegsdienst eine Bürgerp icht darstellt, auf eigene Kosten des gefangengenommenen Bürgers. Die größte Loskaufaktion Frankfurts geschah nach der verlorenen Schlacht von Kronberg 1389 gegen Kronberger Ritter im Zusammenhang mit dem Fürstenund Städtekrieg, an dem die Stadt auf Seiten des Rheinischen Bundes gegen Ruprecht von der Pfalz stand. Die Stadt hatte für 620 Gefangene die immense Summe von 73 000 Gulden aufzuwenden. Im Einzelfall wollte die Stadt in ihrer Finanznot die verauslagten Lösegelder erstattet haben. Im Übrigen p egte auch die Stadt ihre Gefangenen zu schatzen, d. h. erst gegen ein festgesetztes Lösegeld freizugeben. Der Einsatz der Stadt konnte bis zur Erklärung der Feindschaft und Führung einer städtischen Fehde zugunsten des Bürgers in Rechtsstreitigkeiten und bei

197 E. I, »Pares curiae« (4.4), S. 281–285. 198 O. . G, Das deutsche Genossenschaftsrecht (2.2–2.4), Bd. 1, S. 704.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

Rechtsverletzungen gehen, sofern nicht übergeordnete städtische Interessen dem entgegenstanden. Die Willküren der Städte Lübeck, Rostock und Wismar von 1260 statuierten indessen ein Auslöseverbot für Bürger, die außerhalb eines Krieges in Gefangenschaft gerieten. Sie bestimmten stattdessen mit aller Härte, man solle dem Gefangenen anstelle des Lösegeldes ein Messer und seinen Gürtel schicken als symbolische Aufforderung, sich selbst zu befreien oder sich aufzuhängen. Die Städte, die im 13. Jahrhundert den Kampf gegen See- und Landräuber aufnahmen, ergriffen diese Maßregel, die der P icht der Familie und der Bruderp icht der Gildegenossen zur Lösung aus Haft und Knechtschaft widersprach, um den Räubern die Möglichkeit der Erpressung von Lösegeld und den Anreiz zu Menschenraub zu nehmen. Man hielt in Lübeck bis ins revidierte Stadtrecht von 1586 daran fest, milderte aber die Praxis, indem die Frage der Auslösung im Einzelfall dem Rat anheimgestellt wurde.¹⁹⁹ Die Stadt Nürnberg setzte hingegen für die Auslösung eine Höchstsumme fest. Ganz allgemein unternimmt es die Stadt durch den auf den gemeinen Nutzen verp ichteten Rat, die persönliche Sicherheit, Ruhe und Rechtssicherheit der Bürger zu gewährleisten, ihre Erwerbschancen durch die Wirtschaftsordnung zu sichern und durch die städtische Verwaltung ihrer Wohlfahrt und Fürsorge zu dienen. 2.1.3 Einwohner und Beisassen Zur Gruppe der Einwohner, Mitwohner, Beisassen, Seldner, Habitanten oder wie sie sonst noch genannt werden, gehören neben Vermögenden, die am Bürgerrecht nicht interessiert waren, vor allem die Handwerksgesellen, Knechte, Mägde und Tagelöhner aller Art. Die Zusammensetzung dieser Gruppe im Verhältnis zu den Bürgern ist in den einzelnen Städten verschieden. Das gilt auch für die Handwerksmeister, die in

199 W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 404 f.

einigen Städten erst im Verlaufe des 15. Jahrhunderts Vollbürger werden konnten. An sich hatten die Angehörigen dieser Gruppe weder die Rechte noch die P ichten der an der Eidgenossenschaft (coniuratio) beteiligten Bürger. Dieser Zustand widersprach aber den Interessen der Vollbürger. Deshalb ging man dazu über, auch die Beisassen als minderberechtigte Gemeindemitglieder zur Eidesleistung zu verp ichten. Es mochte sich um Leute handeln, die das Bürgergeld nicht erlegen und die übrigen Voraussetzungen für das Bürgerrecht nicht erfüllen konnten oder noch in anderen Rechtsbeziehungen standen. Häu g waren auch studierte Leute wie Ärzte und Gerichtsprokuratoren und Künstler unter den Beisassen. Sofern Bewohner den Beisasseneid, der sich nicht sonderlich oder überhaupt nicht vom Bürgereid unterschied, nicht leisten wollten, blieben sie Gäste, d. h. ohne den Schutz durch die Stadt, ohne den Genuss der Rechte, Freiheiten und Gewohnheiten der Stadt. Die Handwerksgesellen waren vom Meister anzuhalten, dass sie den entsprechenden Eid der Knechte ablegten. Der geschworene Beisasse hatte kein Wahlrecht, doch besaß in Köln seit 1396 jeder in einer Gaffel vereidigte Eingesessene dort ein aktives Ratswahlrecht. Der Schutz des Stadtrechts kam ihm zwar innerhalb, nicht aber wie dem Bürger auch außerhalb der Stadt zu. Verp ichtet war er in der Regel zur Steuerleistung, zum Wachtdienst und zu den anderen üblichen Bürgerp ichten. In einigen Städten hatten die nicht im Bürgerrecht sitzenden Bewohner ein jährliches Schutzgeld zu entrichten. 2.1.4 Sondergruppen im Bürgerrecht 2.1.4.1 Pfahlbürger und Ausbürger Pfa(h)lbürger (palburger) und Ausbürger werden in den Quellen nicht immer terminologisch getrennt und erscheinen wechselseitig austauschbar. Der Begriff der Ausbürger besitzt ein weiter gefasstes Bedeutungsspektrum, so dass unter ihm auch Pfahlbürger begriffen werden können.

Stadtbürger und Stadtbewohner

In den Städten spricht man meist von Ausbürgern, um die negative rechtlich-soziale Konnotation des Ausdrucks Pfahlbürger im Hinblick auf bäuerliche Eigenleute zu vermeiden. Dennoch handelt es sich um zwei verschiedene Personengruppen.²⁰⁰ Pfahlbürger²⁰¹, männliche und auch weibliche, die im Statutum in favorem principum (1231) Friedrichs II. als cives non residentes erläutert werden, sind Bewohner des umliegenden Landes, die in ein bürgerrechtsähnliches Verhältnis zur Stadt eintreten, grundsätzlich aber auf dem Lande wohnen. Sie bitten um Aufnahme ins Bürgerrecht, zahlen eine Eintrittsgebühr, verp ichten sich eidlich der Stadt und haben ihr Bürgerrecht für eine bestimmte Zeit aufrecht zu erhalten. Insbesondere unterstehen sie der städtischen Gerichtsbarkeit. Sie verstärken die Bindung an die Stadt eventuell durch den Erwerb einer steuerp ichtigen Immobilie oder sonstigen Eigentums und stellen bisweilen noch Bürgen; sie werden verp ichtet, während bestimmter Zeiten in der Stadt zu wohnen. Die Frankfurter Pfahlbürger etwa müssen im Winter samt Ehefrau, Kindern und Gesinde (familia) eine Zeit lang in der Stadt residieren; in Städten mit längeren Residenzzeiten wurden die Fristen auch zugunsten von Ernteeinsätzen reduziert. Ferner entrichten Pfahlbürger eine xe, gelegentlich gegenüber der städtischen Vermögensteuer hohe jährliche Steuer und haben eventuell auch Heerfolge zu leisten. Dafür kommen ihnen ähnliche Rechte wie den stadtgesessenen Bürgern zu. Es handelt sich vielfach um wohlhabende, zu einer Art von »Dorfpatriziat« zu zählende Leute, die aber vielfach Eigenleute eines Herren sind oder in einem sonstigen Untertanenverhältnis mit Abgabenp ichten stehen, sodass sich ein Kon ikt zwischen angenommenem Bürgerrecht und bestehender Untertänigkeit ergibt, die durch den Anspruch auf gerichtliche Exemtion zugunsten der städtischen Ge-

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richtsbarkeit und auf Freiheit von Hörigenabgaben ausgehöhlt wird. Im Appenzeller Raum handelt es sich um ganze dör iche Gemeinden; in Bern trat etwa die Hälfte der Bauern im Berner Mittel- und Oberland in ein Ausbürgerverhältnis zur Stadt. In Frankfurt am Main besaßen 103 Dörfer das Burgrecht und waren unter anderem verp ichtet, an den Bürgerfronen, den Schanzarbeiten an Graben und Mauer, teilzunehmen. Das Interesse der Stadt an den Pfahlbürgern lag an einer Anbindung und Kontrolle des umliegenden Landes durch Bindung von Bauern und ländlichen Handwerkern, die der Sicherung der Versorgung und von steuerlichen und militärischen Leistungen dienen kann, aber zu keiner strategischen Territorialpolitik ausreicht, dasjenige der Pfahlbürger an dem Schutz und an dem Verantworten durch die Stadt sowie am erleichterten Zugang zum städtischen Markt bei fortdauernder Sesshaftigkeit in ihrem ländlichen Lebensraum. Von der Inanspruchnahme des städtischen Gerichts mochten sich Pfahlbürger rechtliche und parteiliche, auch taktischobstruktive Vorteile bei Rechtsstreitigkeiten mit dem ursprünglichen Herrn oder anderen Streitgegnern versprechen. Das Institut der Pfahlbürger schuf eine rechtlich ungeklärte, gewaltanfällige Zone zwischen Stadt und feudaler Herrschaft mit kollidierenden Ansprüchen und mit Verlusten der Herren an Menschen, Diensten, Einkünften und damit verbundenem Prestige. Gelegentlich wurde zwischen Stadt und Herren in Fragen der bäuerlichen Abgaben und Dienste ein vertragliches Einvernehmen oder eine schiedsgerichtliche Entscheidung gesucht. Hinsichtlich der Stadt und den Pfahlbürgern gab es kaum einheitlich zu bestimmenden Interessenlagen, wobei auch das Verhältnis von Kosten und Nutzen diffus bleibt. Der Status des Pfahlbürgers konnte eine Vorstufe zum endgültigen

200 C. K, Bürger in Augsburg, S. 134–142; P. B, Pfahlbürger; G. P. M, Pfahlburger; R. K , Umlandpolitik; H. J. D, Die Kölner Außenbürger. 201 Die etymologische Herkunft des Ausdrucks Pfahlbürger ist nicht überzeugend geklärt. Entweder wird eine Herleitung von Pfahl (Pfähle des Dorfetters) oder, wofür wohl mehr spricht, von ahd. balo/palo im Sinne von Schlechtigkeit, Falschheit oder im Sinne von falsi cives (falsche Bürger im Gegensatz zu echten) angenommen.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

Übergang in die Stadt und zum Vollbürger darstellen. Die Pfahlbürgerschaft wurde mehrfach reichsgesetzlich wegen der Kollision mit den Rechten der Herren verboten, so etwa bereits in der Confoederatio cum principibus ecclesiasticis von 1220 und im Statutum in favorem principum von 1231/32, in den Reichsfrieden von 1235 und 1298, vom Rheinischen Bund 1255, im Jahre 1333 von Ludwig dem Bayern, weiter 1340 und 1341 und 1356 unter scharfen Strafandrohungen in der Goldenen Bulle Karls IV. (cap. XVI), im Egerer Landfrieden König Wenzels von 1389 und in der Goldenen Bulle König Sigmunds von 1431 in Form eines ›ewigen‹ Gesetzes. In diesem Reichsgesetz wird bestimmt, dass Städte nur Bürger haben sollen, die mit ihrem eigenen Rauch haushäblich in der Stadt saßen; alle Verleihungen des Pfahlbürgerrechts, insbesondere solche an Eigenleute, wurden für rechtlich ungültig erklärt. Die Goldene Bulle von 1356, deren Bestimmung in die Goldene Bulle Sigmunds von 1431 in deutscher Übersetzung inseriert wurde, hatte die Annahme des Status eines Pfahlbürgers in der Zwischenstellung als eines städtischen Bürgers und eines ländlich-bäuerlichen Untertanen als Betrug an den Herren, denen sie untertänig waren, und List verurteilt und den Genuss der städtischen Freiheit und des Schutzes der Stadt nur für den Fall zugelassen, dass Personen vom Land persönlich in die Stadt zogen, dort nicht mit schein, sondern aufrichtig und dauerhaft Wohnsitz nahmen, sich dem Stadtrecht unterwarfen und die gewöhnlichen Abgaben und Steuern an die Stadt leisteten. Die König und Reich eng verbundene Stadt Frankfurt am Main verzichtete bereits 1346 vertraglich auf bäuerliche Ausbürger; die Mehrzahl ihrer 145 Ausbürger zog in die Stadt. Die Reichsstädte Memmingen, Kempten, Isny und Leutkirch vereinbarten 1398 einen grundsätzlichen Verzicht auf Pfahlbürgeraufnahmen. Pfahlbürger erwarben vielfach – wie es die Goldene Bulle König Sigmunds alternativ verlangte – die Vollbürgerschaft der Stadt und gingen nur noch zur Erntezeit auf das Land, oder sie

blieben bei ihren Herren. Verschiedentlich wurden auch andere Formen des städtischen Schutzes gesucht. Bereits die Goldene Bulle von 1356 brachte einen einschneidenden Rückgang der Pfahlbürgeraufnahmen. Gegen die dominierenden fürstlichen Landesherren, die ihre Territorialbildung intensivierten, war der städtische Schutz nicht mehr zu gewährleisten. Der städtische Ein uss auf dem Land wurde zunehmend durch den Aufkauf von Grundherrschaften mit bäuerlichen Hintersassen durch Bürger ausgedehnt. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts fand das Pfahlbürgerwesen weitgehend ein Ende, nicht jedoch auf schweizerischem Gebiet, wo es zunächst einen Höhepunkt erlebte und erst am Ende des 15. Jahrhunderts angesichts einer restriktiven Haltung der Städte seine Bedeutung verlor. Andererseits kam es vor, dass sich Stadtbürger in wirtschaftlichen Krisenzeiten zu Erwerbszwecken mit oder ohne Erlaubnis des Rats für einige Zeit auf dem Lande niederließen. Ausbürger wurden vorzugsweise landgesessene Adlige, Grafen, auf Eigengut sitzende Ritter, Edelknechte und Freie genannt, die eine Form eines Bürgerrechts einer Stadt ohne Residenzp icht erwarben. Hinzu kamen Kleriker und geistliche Korporationen im Umland. Stadt und adlige Ausbürger führten militärische Interessen zusammen, gegenseitige militärische Hilfe und die gegenseitige Ergänzung des Schutzes durch die befestigte Stadt und die ländlichen adligen Burgen, für die den Städten im Kriegsfalle ein Öffnungsrecht eingeräumt wurde, sodass die Stadt sie mit eigener Besatzung als strategische Stützpunkte benutzen durfte. Auch waren für den Adel der Zugang zum wirtschaftlichen Leben der Stadt und bisweilen die städtische Gerichtsbarkeit attraktiv. Durch fehdelustige adlige Ausbürger wurde die Stadt nach deren Einbürgerung nicht selten in unerwünschte Kriege verwickelt. Für größere Städte war die Ausbürgeraufnahme ein Mittel der Sicherung der Handelswege und des Umlandes sowie der Ergänzung ihrer Territorialpolitik. Die fürstliche Herrenschicht des Reiches, die sich in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ins-

Stadtbürger und Stadtbewohner

besondere in Süddeutschland in einer scharfen politischen Frontstellung gegenüber den Städten befand, versuchte, die Verbindung von Adel und Stadt aufzulösen. So wurden die Städte nach ihrer Niederlage im süddeutschen Fürstenund Städtekrieg (1388) durch den Reichsfrieden von Eger (1389) verp ichtet, die Ritter aus dem Bürgerrecht zu entlassen. Das wie Frankfurt eng dem Reich verbundene Nürnberg hatte nur punktuell 1386/87 insgesamt 20 fränkische Ritter als Pfalbürger, d. h. aber als adlige Ausbürger, aufgenommen. Das adlige Ausbürgertum, das ohnehin einen starken Bündnischarakter besaß und nicht oder selten wie das bäuerliche Pfahlbürgertum eine Unterordnung unter die Ratsherrschaft mit Steuerp icht bedeutete, wurde im 14. Jahrhundert zunehmend durch militärische Bündnisverträge, Solddienstverträge und Rentenzahlungen der Stadt für Hilfsverp ichtungen ersetzt. Ausbürger wurden gewissermaßen zu Söldnern. Rottweil verlangte indessen von seinen Ausbürgern – Prälaten, adeligen Herren und Nichtadligen – einer städtischen Satzung gemäß in einseitiger Ausgestaltung des Rechtsverhältnisses in vertraglicher Form, dass sie mindestens für fünf Jahre das Bürgerrecht aufrechterhielten, sich mit ihren Leuten und Gütern, mit denen sie sich ins Bürgerrecht begaben, an die Bündnisse der Stadt hielten, mit ihren Schlössern und Festungen der Stadt gewärtig waren und sie in allen Nöten der Stadt öffneten, der Stadt zu Hilfe kamen, in Streitsachen mit der Stadt vor dem Schultheißen in Rottweil zu Recht zu standen, dies auch noch nach dem Ende des Bürgerrechtsverhältnisses, und Streitsachen nicht vor andere Gerichte zogen. Bedurften sie der Hilfe der Stadt, hatten sie dem städtischen Rat zu folgen, wenn es darum ging, in Tage zum gütlichen oder schiedsgerichtlichen Streitaustrag einzuwilligen. Waren die Ausbürger dazu nicht bereit, dann war ihnen die Stadt in der Sache auch nicht zur Hilfe verp ichtet. Wenn sie

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eine städtische Gesandtschaft benötigten, sollten sie diese auf ihre eigenen Kosten wie die eingesessenen Bürger auch erhalten. In Streitsachen und Angelegenheiten, die auf die Zeit vor dem Bürgerrecht zurückgingen, war die Stadt zu Hilfe nicht verp ichtet, wenn sie aber geleistet werde, so würde dies nur freiwillig geschehen.²⁰² Der Straßburger Rat gab 1422 das bäuerliche Pfahlbürgertum auf und schränkte das adlige Ausbürgertum ab 1433 ein. Er beschloss, grundsätzlich keine Ausbürger mehr anzunehmen, seien sie hohen oder niederen, geistlichen oder weltlichen Standes. Wenn dennoch Annahmebegehren an den Rat herangetragen würden, hatte dieser zu entscheiden, ob der Antrag zur endgültigen Entscheidung an den großen Schöffenrat weitergeleitet wurde. Die Restriktion wurde damit begründet, dass der Stadt bisher durch die Ausbürger große Streitigkeiten (criege), Bedrängnisse und Kosten entstanden seien.²⁰³ Die kleine Reichsstadt Kempten hatte 1476 nach Angaben des Rats 600 Ausbürger, wohl überwiegend bäuerlicher Art, im Umkreis bis zu vier Meilen. Diese mussten für das Bürgerrecht ein Aufnahmegeld und danach Jahressteuern entrichten. Für den Neusser Krieg von 1474/75 als Reichskrieg gegen den Herzog von Burgund wurden sie von der Stadt zudem zu einer eidlich deklarierten Vermögensteuer veranlagt. Die Stadt Freiburg im Breisgau, die 1368 endgültig habsburgisch wurde, hatte noch 1453 Pfahlbürger in 41 Orten, um 1500 noch 120 Haushalte dieses Status in 25 Dörfern. Hinzu kamen seit etwa 1300 noch Paktbürgerverträge mit Adligen des Umlands. Der Nördlinger Rat verzeichnete 1448 insgesamt 31 adlige Ausbürger mit Paktbürgerverträgen unterschiedlicher Art in einem Umkreis von 20 bis 30 Kilometern, der zugleich die wirtschaftliche Interessenzone der Stadt beschreibt. Im frühen 15. Jahrhundert wurde in Augsburg das adlige Ausbürgertum dem Paktbürgertum mit vereinbartem

202 H. G (Hg.), Das ältere Recht der Reichsstadt Rottweil (2.2–2.4), Nr. 232, S. 181 f. (Anfang 14. Jahrhundert). 203 K. T. E (Hg.), Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte der Stadt Straßburg (2.2–2.4), Nr. 219, S. 457. Vgl. etwa den ›Bischof Friedrichs Krieg‹ von 1392, unten 4.8.6.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

festem Steuerbetrag angeglichen, doch ent el diese Form grundsätzlich mit dem 1451 vom Rat erlassenen Verbot, Bürger mit Sondervereinbarungen (gedinge) aufzunehmen. Die Kölner Außenbürger waren eine Einrichtung eigener Art, bei der trotz nomineller Angleichungen Stadtbürgerrecht und persönliches oder erbliches Außenbürgerrecht streng voneinander getrennt waren. Die Außenbürger, die auch Edelbürger genannt wurden, unterlagen keiner Steuer- und Residenzp icht. Die Außenbürgerverträge waren eine Konstruktion, um in einem Zeitraum von 1263 bis um die Mitte des 16. Jahrhunderts ungeachtet reichsgesetzlicher Bündnisverbote oder zu deren Umgehung Bündnisse mit niederrheinischen Hochund Niederadligen an den zulaufenden Fernhandelsstraßen mit dem Ziel einzugehen, in deren Gebieten und Landesherrschaften Verkehrssicherheit für den Kölner Handel zu erlangen sowie durch das Bündnissystem – 1338 waren es 30 Außenbürger – die Unabhängigkeit vom erzbischö ichen Stadtherrn zu bewahren und zu festigen. Nach der siegreichen Schlacht von Worringen 1288 gegen ihren erzbischö ichen Stadtherrn hatte die Stadt die Bemühungen verstärkt, Außenbürger zu gewinnen. Gegen eine jährliche an ein Rentenlehen gemahnende Rentenzahlung, die nach dem Status und den politisch-militärischen Fähigkeiten und Leistungen des Außenbürgers gestaffelt war, verp ichtete sich der Außenbürger, der Stadt auf Verlangen mit einem bestimmten Truppenkontingent zu Hilfe zu kommen, Person und Gut der Kölner in seinem Herrschaftsbereich zu schützen, keine unüblichen Zölle und Abgaben zu erheben, im Verkehr mit Köln für eine geeignete Rechtsp ege zu sorgen und von einer Solidarhaftung Kölner Bürger abzusehen. Ähnliche Vergünstigungen wurden den Außenbürgern und ihren Untertanen während ihres Aufenthalts in Köln eingeräumt. Um 1430 war ein großes Gebiet nicht mehr nur vorwiegend links, sondern nunmehr auch rechts des

Rheins zwischen Mosel-Lahn und Lippe mit Außenbürgern besetzt, zu denen auch fürstliche Räte und Amtleute gehörten. Unter den Außenbürgern befanden sich als Außenbürger mit erblichem Status die Herzöge von Jülich und viele Niederadlige, die sich als Lehensleute der Stadt Köln betrachteten; einige trugen der Stadt sogar, um ein Lehensverhältnis zu begründen, ihren Allodialbesitz (Eigen) auf, um ihn als Lehen (feudum oblatum) zurückzuerhalten. Der Neusser Krieg von 1474/75 war ein außerordentlich bedeutsames Ereignis, bei dem die Hilfe der Außenbürger gegen die Invasion Herzog Karls des Kühnen von Burgund ins Kölner Erzstift angemahnt wurde. 2.1.4.2 Geistliche Korporationen und Kleriker Auch geistliche Korporationen – auch auswärtige mit oder ohne Grundbesitz in der Stadt –, Kapitel, Klöster, Ritterorden, Spitäler und einzelne Kleriker traten in das Bürgerrecht ein, das jedoch keine politische Berechtigung in der Form von Wahlrecht und Amtsfähigkeit enthielt.²⁰⁴ Die Verhältnisse in den einzelnen Städten und Städteregionen gestalteten sich jedoch ganz unterschiedlich. Waren in den oberschwäbischen Städten die Weltgeistlichen an den Stadtkirchen häu ger Bürger, so wurden in Nürnberg, Soest, Essen oder Berlin und Cölln keine Kleriker ins Bürgerrecht aufgenommen. In Lübeck gab es keine geistlichen Institutionen im Bürgerrecht. Relativ hoch wurde der Anteil von Klerikern im Bürgerrecht in Straßburg, wo der Rat 1451 schließlich bestimmte, dass jedermann, also auch der Kleriker, der in der Stadt oder in dem Burgbann saß, das Bürgerrecht erwerben solle, ohne damit allerdings eine auch nur annähernd vollständige Aufnahme der Kleriker zu erreichen. In Zürich wurden gar laut Vertrag zwischen dem Rat und den Stiften von 1304 alle innerhalb der Ringmauer und in den Vorstädten ansässigen Geistlichen auf ewig zu Bürgern und in den Schutz

204 B. M, Kleriker als Bürger; H. J. G, Städtische Sondergruppen im Bürgerrecht, in: R. C. S (Hg.), Neubürger, S. 125–167; F. S, »von etlichen geistlichen leyen wegen«.

Stadtbürger und Stadtbewohner

der Stadt aufgenommen, doch unterschieden sich das Bürgerrecht der Pfaffen, deren Privilegien zunächst grundsätzlich erhalten blieben, und dasjenige der Bürger in einigen Elementen. Über die Fortgeltung des Vertrags ist damit noch nichts gesagt. Von 1379 bis ins ausgehende 15. Jahrhundert nden sich in Zürich individuelle Bürgeraufnahmen von Klerikern durch befristete Burgrechtsverträge mit Schutzversprechen der Stadt, Gehorsamsversprechen der Kleriker und in der Regel pauschalen jährlichen Steuerbeiträgen. Der Augsburger Rat versuchte nach dem Beitritt zum Schwäbischen Städtebund (1379) und im Zeichen des süddeutschen Fürsten- und Städtekriegs 1388 die gesamte Geistlichkeit ins Bürgerrecht zu zwingen, um sie in der bedrängten nanziellen Lage der Stadt besteuern zu können, doch musste er nach der Niederlage der Städte im Jahre 1388 die Kleriker, die es wünschten, wieder aus dem Bürgerrecht entlassen und durfte in den nächsten zehn Jahren keine Geistlichen aufnehmen. Insgesamt blieb es in den Städten bei nur spärlichen Einbürgerungen von Klerikern. Kleriker und geistliche Korporationen konnten sich durch das Bürgerrecht das Recht auf Ausübung eines Gewerbes, die Teilhabe an den städtischen Handelsprivilegien oder den Zugang zum städtischen Markt für ihre landwirtschaftlichen Produkte verschaffen. Für Basel ist sogar der Erwerb des Zunftrechts durch Kleriker belegt. Vor allem gewährte ihnen das Bürgerrecht den vollen Schutz der Stadt; teilweise glich es dem der Ausbürger. Die Stadt hingegen war bemüht, durch den Eintritt des Klerus in das Bürgerrecht den Sonderstatus der zahlreichen Geistlichen und des großen kirchlichen Grundbesitzes abzubauen, sie an den bürgerlichen P ichten und Lasten zu beteiligen und stärker in die Stadt zu integrieren. Dabei übte die Stadt auf die Geistlichen nicht selten

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Druck aus, der bis zur Nötigung reichte. Insbesondere ging es der Stadt um die Beseitigung des privilegium immunitatis, das den Klerus von den bürgerlichen Lasten und Steuern freistellte. Nicht immer war jedoch mit dem Bürgerrechtserwerb von Klerikern und Korporationen eine volle Steuerp icht verbunden; vielfach gewährte die Stadt Steuerfreiheit oder Steuererleichterungen. Im Übrigen wurde der Klerus in einigen Städten insbesondere in Kriegszeiten zu Steuerleistungen herangezogen, ohne dass er zuvor in das Bürgerrecht eingetreten war. Mit dem Bürgerrechtserwerb kam es nunmehr auch vor, dass Klöster durch Gespanndienste der militärischen Dienstp icht genügten und Kleriker – durch Vertreter – den bürgerlichen Wachtdienst ableisteten. Während Klerikern der persönliche Kriegsdienst mit der Waffe verboten war, erschien der Wachtdienst auf der Mauer, unter anderem nach Auffassung Felix Fabris, kirchenrechtlich durchaus möglich. Das Gerichtsstandsprivileg (privilegium fori) der Kleriker im Bürgerrecht blieb jedoch erhalten, sodass ein wesentliches Element häu g in Eiden beschworener Bürgerp icht, vor städtischen Gerichten Recht zu nehmen und zu geben, fehlte. In vielen Städten gab es keine Kleriker im Bürgerrecht, die insgesamt betrachtet eine Ausnahmeerscheinung blieben. »Insgesamt überwog wohl das Interesse der Städte, die Geistlichen zu integrieren, gegenüber deren Wunsch, die Vorteile des Bürgerseins zu genießen.«²⁰⁵ 2.1.4.3 Die Juden Als königliche Kammerknechte (servi camerae nostrae), wie sie im Judenprivileg Kaiser Friedrichs II. von 1236 genannt wurden, standen die (aschkenasischen) Juden unter dem Schutz des Königs, dem sie dafür Abgaben zu leisten hatten.²⁰⁶ Durch die Ausbildung der Kammerknechtschaft war der Judenschutz ein Re-

205 B. M, Kleriker als Bürger, S. 204. 206 Germania Judaica I–III; M. T, Die Juden im mittelalterlichen Reich; M. S, Judei, cives et incole; R. O, Die rechtliche und wirtschaftliche Stellung der Juden in Südwestdeutschland im 15. und 16. Jahrhundert; F. J. B, Des Kaisers Kammerknechte; D. W, Die Rechtsstellung der Juden, in: Germania Judaica III,3. Zum Vergleich mit italienischen Städten siehe O. C/J. K, Jews as citizens in late medieval and Renaissance Italy.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

gal geworden. Der König war nun allgemeiner Herr der Juden. Im Laufe der Zeit gingen der Judenschutz und die jährlichen Judensteuern durch einfache Übertragung, Belehnung oder Verpfändung an Landesherren und Stadtherren, von den Stadtherren oder durch unmittelbare Begabung seitens des Königs auch an Stadtgemeinden über. Nicht immer gab der König sämtliche Rechte aus der Hand, oft behielt er sich das allgemeine Besteuerungsrecht vor. Die Verleihung erfolgte unbefristet oder befristet. Vollständig trat insbesondere Karl IV. an vielen Orten die königlichen Rechte den Stadtgemeinden gegen große Geldsummen kurz vor oder während der Pogrome und Judenverfolgungen der Jahre 1348 bis 1350 ab. So übergab er 1348 der Stadt Worms die Juden und ihre Gemeinde ›mit ihrem Leib und Gut und mit allem Nutzen und allen Rechten‹, wie er sie an ihnen habe. Da der Judenschutz ein Regal geworden war, entschied der König oder in der Devolutionskette der Landesherr durch Privilegienerteilung, wo Juden aufgenommen, gehalten oder wieder ausgewiesen werden durften. Derartige Privilegien wurden den Städten auf Dauer oder auf einige Jahre befristet verliehen, zunehmend befristet bei der Wiederkehr der Juden nach der Welle grausamer Pogrome mit hohen Opferzahlen und Vertreibungen von 1348/50.²⁰⁷ Der Basler Rat musste unter Druck der Judenfeinde anlässlich des Pogroms von 1349 schwören, die Juden zu verbrennen und Juden zweihundert Jahre lang nicht mehr in die Stadt zu lassen. In Straßburg beschloss der eingesetzte judenfeindliche Rat nach dem dortigen Pogrom, dass hundert Jahre keine Juden mehr in die Stadt kommen sollten, doch wurden bereits 1368 wieder Juden für die Dauer von zwanzig Jahren aufgenommen. Dann aber wurde, nachdem die Stadt von den Juden 1386 die Zahlung von 20 000 Gulden erpresst hatte, 1388 der Beschluss gefasst, keine Juden mehr zu dulden. Vor und nach der Vertreibung habe man den Juden ein großes Vermögen (gros guot) genommen, be-

richtet der Chronist Jakob Twinger von Königshofen. Grundsätzlich mussten Städte die Ausweisung von Juden gegenüber dem König rechtfertigen, der auch Aufnahmen anordnete oder Vertreibungen auf Antrag zuließ, bei ungenehmigten Ausweisungen und solchen ohne privilegiale Grundlage hohe Strafgelder verlangte. Wegen einer solchen Vertreibung im Jahre 1439 forderte König Albrecht II. von Augsburg 13 000 Gulden, die erst Friedrich III. einziehen konnte und dafür 1456 den Augsburgern erlaubte, jederzeit wieder Juden aufzunehmen und diese bei Bedarf auch wieder zu vertreiben. Nachdem das Königtum viele der jährlichen Judensteuern verpfändet oder in anderer Form aus den Händen gegeben hatte, traf König Wenzel 1385 mit 38 süddeutschen Städten im Zusammenhang mit den verabredeten Judenschuldentilgungen die Vereinbarung, dass die Städte künftig generell die Hälfte der jährlichen Judensteuern an den König abzuführen hatten. Dafür erhielten die Städte für die Zukunft die Erlaubnis, Juden aufzunehmen. Auch nachfolgende Verträge des Königs mit Städten enthielten die Bestimmung über die hälftige Aufteilung der Judensteuer. Daneben oss dem Königtum als weitere jährliche Judenabgabe der von Ludwig dem Bayern 1342 eingeführte Goldene Opferpfennig zu, eine Kopfsteuer von einem Gulden, die von einem Alter von zwölf Jahren an bei einem Mindestvermögen von 20 Gulden erhoben wurde. Außerdem verlangten die Könige als eine Krönungsabgabe den dritten Pfennig und nötigten die Juden immer wieder zu außerordentlichen Abgaben, insbesondere im Zusammenhang mit den Hussiten- und Türkenkriegen. Darüber hinaus erfanden gelegentlich auch Städte zusätzliche regelmäßige Abgaben und erzwangen außerordentliche Leistungen bei verschiedenen Anlässen und für verschiedene Zwecke.²⁰⁸ Die Juden Augsburgs hatten sich 1374 mit 10 000 Gulden, die Juden Ulms mit 12 000

207 Zu Judenfeindschaft und Pogromen siehe 7.6. 208 E. I, Steuern und Abgaben; H.-J. G, Städtische Sondergruppen im Bürgerrecht.

Stadtbürger und Stadtbewohner

Gulden an der Zahlung zu beteiligen, die Karl IV. als Beihilfe bei seinem Erwerb der Mark Brandenburg von diesen Städten verlangte. Während des Schwäbischen Städtebundes wurde von den Juden in drei Schatzungen mindestens 27 000 Gulden erpresst. Der Bund und König Wenzel vereinbarten 1385, dass bei den im letzten Jahr kontrahierten Schulden den Juden nur das Kapital ohne Zinsen zurückzuzahlen war, ältere Darlehen und Zinsen um ein Viertel gekürzt und durch Pfänder bei den Städten gesichert werden sollten. Im Jahre 1391 wurden sogar alle Verbindlichkeiten bei den Juden getilgt. König Wenzel reservierte sich bei der ersten Schuldentilgung die Summe von 40 000 Gulden, die von den Städten abzuführen waren. Allein Nürnberg erzielte durch das den Städten übertragene Verfahren der Schulden- und Pfandregulierung, bei dem die Juden in Arrest genommen wurden, durch Aneignung des Großteils der Außenstände der Juden nach Abzug aller Kosten einen Gewinn über 60 000 Gulden. In Frankfurt am Main veranstaltete der Rat gezielte Strafverfolgungen gegen Juden wegen Geschlechtsverkehrs mit Christinnen aus skalischen Gründen, um, wie in anderen Städten, enorme Strafgelder zu erpressen. Juden mussten dem Rat auch zinslose Darlehen gewähren (Basel, Trier). Fremde Juden hatten sofort oder nach einer kurzen Frist pro Person und Tag für ihren Aufenthalt in der Stadt den hohen Betrag von einem Gulden zu zahlen. Der Ulmer Dominikanermönch Felix Fabri zählte im ausgehenden 15. Jahrhundert die in Ulm lebenden, wie er meinte drei Juden zu den Mitgenossen (concomitativi), die von den Ulmern geduldet würden, wie auch die Kirche sie zum Zeugnis des christlichen Glaubens dulde. Sie lebten aber nach gemeinem Recht und erfreuten sich der Privilegien der Stadt, in der sie lebten oder geboren seien. Dies entnahm er als Gelehrter dem Decretum Gratiani (D.45 c.3) und zwei juristischen Konsilien des Paulus de Castro und Johannes de Bombellis. Er wusste jedoch, dass sich in Ulm nach alten Satzungen nur drei Juden mit Familie und Gesinde auf-

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halten durften und jeder jüdische Fremde, der über drei Tage in der Stadt blieb, jeden Tag einen Gulden zu zahlen hatte. Juden siedelten sich zunächst in den großen Bischofsstädten als Fernhändler, Kau eute und Geldleiher an, wo sie einen Bevölkerungsanteil von etwa 10 bis 20 Prozent ausmachten. Vor 1348/50 besaßen die Juden in Städten des Reichs wie Köln, Speyer, Worms, Mainz, Straßburg, Zürich, Ravensburg, Rottweil, Frankfurt am Main, Regensburg, Augsburg, Mühlhausen, Nordhausen, Nürnberg oder Breslau, in etwa 200 Städten vor 1350 und danach im 14. und 15. Jahrhundert in etwa 100 Städten ähnlich dem Bürgerrecht der Christen ein jüdisches Bürgerrecht, das dem christlichen in manchem glich, aber nicht völlig gleichwertig war. Gegenüber dem 13. Jahrhundert traten in späterer Zeit Verschlechterungen ein. Im Kern bedeutete das Bürgerrecht für die Juden, die als tanquam concives bezeichnet wurden, das garantierte Recht zur Ansässigkeit, Bevorzugung vor dem bloßen Gast und Schutz und Hilfe durch die Stadt, die in einzelnen Fällen durchaus effektiv sein konnte. Die Stadt bot, durch einzelne Beispiele belegt, Schutz vor fremden Gerichten und fremden Ansprüchen, sie intervenierte auch außerhalb gegen Beraubung und Gefangennahme; sie gewährte Hilfe bei der Eintreibung von Forderungen, auch bei solchen gegenüber jüdischen Gemeindemitgliedern. Insoweit nden sich gleiche Elemente des Schutzes und der Rechtshilfe, wie sie das Bürgerrecht der Christen gewährte. Doch blieben die Juden als Anhänger des mosaischen Glaubens, der ihren internen Rechtskreis und ihre Kultur prägte, eine nichtchristliche Sondergemeinde innerhalb eines fundamental christlich bestimmten Gemeinwesens. Von christlicher und jüdischer Seite her waren dadurch der völligen Integration und Rechtsgleichheit deutliche Grenzen gesetzt, die nur partielle oder weitergehende Anbindungen erlaubten. So gestattete das Bürgerrecht den Juden im Zuge der Verschlechterung ihres generellen Status nur eine äußerst eingeschränkte Wirtschafts- und Erwerbstätigkeit. Man privilegierte die Juden gegenüber den christlichen

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

Bürgern mit dem Recht der verzinslichen Darlehensgewährung und erwartete von ihnen, dass sie solche Darlehen zur Förderung christlicher Geschäftstätigkeit gewährten. Nürnberg erhielt 1310 die Erlaubnis, durch den Schultheißen Juden als Bürger (Judenbürger) aufzunehmen, sie daher unmittelbar zu schützen und von ihnen Steuern zu erheben. In manchen Städten war das Bürgerrecht der Juden befristet. Politische Rechte, wie etwa ein Ratswahlrecht und Ratszugehörigkeit, hatten die jüdischen Bürger nicht. Nirgendwo konnten Juden städtische Ämter übernehmen. Der Grundsatz der Amtsunfähigkeit der Juden im Hinblick auf Gewalt über die Christen galt im Übrigen im kanonischen Recht (Decretum Gratiani D. 54 c.14, Dekretalen X 5.6.16/18) wie im Kaiserrecht, dem römischen Recht (Codex 1.19.18/19). Das IV. Laterankonzil von 1215 (Kanon 67) erklärte es unter Bezug auf das Konzil von Toledo (589) für widersinnig, dass ein Lästerer Christi Amtsgewalt (vis potestatis) über Christen ausübte, und verbot, Juden mit öffentlichen Ämtern (officia publica) zu betrauen, denn unter dem Deckmantel einer solchen Stellung seien sie den Christen am meisten gefährlich. Gegenüber der Stadt und dem Stadtherrn traten die Juden vielfach korporativ auf. Auch von Juden erhobene direkte Steuern wurden häu g in Verhandlungen in Repartitionssteuern mit einem Gesamtkontingent umgewandelt und von den Juden dann untereinander nach Leistungsvermögen umgelegt. Nach ihrer Rückkehr in den 50er, 60er und 70er Jahren des 14. Jahrhunderts nach den Pogromen von 1358/50 erhielten die Juden in den meisten Städten nur ein befristetes Bürgerrecht, ein Aufenthaltsrecht auf Sicht und nach Gefallen der Bürger oder eine Aufenthaltsgenehmigung in Form von Schutzbriefen. Ausnahmen waren etwa Augsburg und Worms. In Worms behielt sich der Rat aber das Recht vor, sie jederzeit wieder auszuweisen. Auch hinsichtlich der Juden wurden Bürger, bloße Ansässige, die

in der Regel keine Geldleihegeschäfte betreiben durften, und nichtansässige Gäste unterschieden. In Erfurt und Augsburg sollten grundsätzlich nur Juden mit Bürgerrecht wohnen, doch gab es in Augsburg nachweislich auch Juden als bloße Einwohner. Seit 1380 regelte Augsburg die Steuerleistungen der Juden wie bei den christlichen Paktbürgern auch in Sondervereinbarungen. Als Frankfurt 1360 wieder Juden aufnahm, erhielten sie korporativ und auf Zeit gegen eine Abgabe eine eigene Rechtsstellung, die – wie in Köln – stedigkeit oder stättigkeit genannt wurde. Grundsätzlich standen die Juden weiterhin unter dem allgemeinen Schutz des Königs, der in verschiedenen Fällen Reichsstädten befahl, Juden wieder aufzunehmen, sie bei ihren Freiheiten zu belassen und nicht mit zusätzlichen Steuern und Abgaben zu belasten. Juden erhielten mit ihren Haushaltsangehörigen von den Städten befristete individualisierte Schutzbriefe, die ein Schutzversprechen hinsichtlich Leib und Gut enthielten und die ihre Abgaben und ihre besonderen Rechte hinsichtlich der Religionsausübung und der Darlehensgeschäfte oder das Recht selbständiger Geschäftstätigkeit überhaupt festlegten. Derartige Schutzbriefe gab es auch schon vor den Pogromen. Geregelt wurden eventuell noch die Zahlung einer Aufnahmegebühr und der Abzug, ferner sogar geschäftliche und gerichtliche Einzelheiten wie Höchstzinssätze, die Pfandverwertung oder Fragen des Gerichtsstandes, des Zeugenbeweises und der Beweismittel oder die Freiheit von Kollektivhaftung. Spezielle Klauseln wie die Steuerfreiheit des Rabbiners, der Schüler, des Synagogenwärters und des Schächters oder das Recht, mutwillig zerstörte Baulichkeiten wiederaufzubauen, gingen auf Wünsche der Juden und ihre auf Lebenserfahrungen beruhenden besonderen Rechtsschutzinteressen zurück. Der Schutzbrief für die Straßburger Juden von 1383 ist zu einer regelrechten Judenordnung ausgewachsen.²⁰⁹ Der Rat sichert den Juden Frieden und strafrechtlichen Schutz gegen

209 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 9, Beilage IV, S. 980 f.

Stadtbürger und Stadtbewohner

Körperverletzungen gleich den Bürgern zu, verleiht den jüdischen Kirchhof gegen Zins, benennt das Gericht in der Stadt bei Schulden von Bürgern, verbietet die Zession von Schuldforderungen und Ansprüchen an Herren ohne Erlaubnis des Rats, verp ichtet die Juden zur Pfandleihe hinsichtlich der Bürger, legt den Höchstzinssatz für die Darlehen fest; verbietet die Leihe auf Harnische, regelt die Pfandlösung zur vereinbarten Zeit und den öffentlich zu erfolgenden Verkauf binnen eines Jahres nicht eingelöster Pfänder, die Rückgabe gestohlener Pfandgegenstände zum Hauptgut (Kapitalwert) und verlangt die Herausgabe verpfändeter Messkelche, Messbücher, Messgewänder und blutiger Pfänder sowie die Teilung mit der Stadt von Gut, das auf dem jüdischen Kirchhof, in der Schule, in Häusern der Juden oder von Juden in anderen Häusern gefunden wird. Der Rat verbietet ferner die Geschäftsgemeinschaft zu Gewinn mit nicht ansässigen Juden und die Beherbergung fremder Juden ohne Wissen und Willen von Meistern und Rat. Die Juden hatten einen dem Bürgereid ähnlichen Judeneid abzulegen und wurden gesondert und in erhöhtem Maße zum städtischen Steueraufkommen herangezogen. Über ihre persönlichen militärischen Leistungen gibt es nur vereinzelte lokale Quellenbelege, die auch keine Aussagen über zeitliche Entwicklungstendenzen erlauben. Zu städtischen Verteidigungsbauten hatten die Juden schon früh beisteuern müssen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass sich die Juden wie die christlichen Bürger an Wachtdiensten, Schanzarbeiten und im Notfall an der Stadtverteidigung zu beteiligen hatten, doch bestand hinsichtlich der Juden eine verstärkte Neigung der Stadt, diese P ichten durch die Stellung von Vertretern oder nanzielle Leistungen, wie es allgemein möglich war, ablösen zu lassen. Daraus kann jedoch kein Waffenverbot für Juden geschlossen werden, wie es etwa der auf verschiedenen Rechtsquellen beruhende »Schwabenspiegel« (1275/76) als Rechtsbuch konstatiert oder

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die Kammerknechtschaft es nahelegen mag. Ein solches Verbot ist für Städte nicht nachzuweisen, wohl aber nden sich vereinzelt Belege für Juden, die ein Schwert als Waffe und Statussymbol trugen. Insgesamt gesehen erhielt das formelle Bürgerrecht der Juden zunehmend den Charakter eines bloßen, zweifelhaften Schutzverhältnisses zur Stadt. Über die Größen der städtischen Judengemeinden herrschen teilweise übertriebene Vorstellungen. Infolge von Diskriminierungen, Verfolgungen und einer wechselnden Aufnahme- und Duldungspolitik schwankten die Zahlen ihrer Angehörigen außerordentlich; und es setzte sich eine Tendenz zur Ansiedlung in den größeren Städten durch.²¹⁰ Siedlungsschwerpunkte waren das Rheinland, der Südwesten und Franken, ferner Schlesien, Mähren und Niederösterreich. In vielen kleinen Städten gab es nach 1350 keine Juden mehr. Hinsichtlich der bedeutenden Nürnberger Judengemeinde sind für das Jahr 1338 insgesamt 212 Steuerzahler zu ermitteln, die im Hinblick auf die Familienangehörigen und das Gesinde etwa 1 000 Personen repräsentieren dürften. Ähnlich groß war die Gemeinde Erfurts. Das wären etwa 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung. Trier beherbergte vor 1349 nur etwa 300 Juden, die einen Bevölkerungsanteil von etwa 3 Prozent bildeten. Das Augsburger Steuerbuch von 1346 verzeichnet nur 18 steuerp ichtige Juden, aber bei dem Pogrom von 1348 wurden 130 Personen jüdischen Glaubens erschlagen. Die Augsburger Hussitensteuerliste von 1428, die alle Personen über 15 Jahre erfasst, nennt 146 jüdische Einwohner, während es ansonsten in dieser Zeit etwa 20 jüdische Steuerzahler gab. Der sicherlich nicht unbedeutenden Frankfurter Judengemeinde, die nach der Wende zur Neuzeit zur größten in Deutschland aufstieg, gehörten vermutlich nie mehr als 250 Angehörige an. Sie zählte vor dem Pogrom von 1241 über 200 Personen, 1349 wurde eine Gemeinde von 50 bis 60 Personen getötet und vertrieben, zwischen 1360 und 1500 gab es durchschnittlich 14 jüdi-

210 M. W, Man bedarf keiner Juden mehr, S. 31 ff., 257.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

sche Haushaltungen mit extremen Schwankungen zwischen 30 und 200 Personen. Die Regensburger Gemeinde, die von den Pogromen der Pestzeit verschont geblieben war und Zuzug durch Verfolgte gehabt hatte, dürfte im ausgehenden Mittelalter als größte, aber arme Gemeinde kaum mehr als 500 oder 600 Angehörige gezählt haben. In Köln und Nürnberg lebten nach den Pogromen noch 150 bis 200 Juden, in Köln waren es zuvor etwa 750. In anderen Städten gab es teilweise weniger als zehn jüdische Familien. Nördlich der Linie Dortmund–Goslar und an der Ostseeküste lebten kaum Juden. Lübeck und Hamburg nahmen keine Juden auf, Bremen beherbergte Juden erst spät. Einer neueren Statistik zufolge gab es vor 1340 in wohl insgesamt 1 000 Orten oder in 40 Prozent aller Städte des Reichs jüdische Einwohner, die dort kürzere oder längere Zeit lebten. Um 1400 wohnten Juden noch in einem Drittel der Städte; absolut waren es – angesichts des Städtewachstums – vermutlich sogar noch mehr Städte, die Juden aufgenommen hatten. Die Stadt Straßburg, die Juden 1368 auf zwanzig Jahre wieder zugelassen hatten, erneuerte 1388 das Aufenthaltsrecht nicht mehr. Noch vor 1400 setzten dann am Oberrhein Vertreibungen und Ausweisungen aus Städten und Territorien ein, die sich in den 20er und 30er Jahren des 15. Jahrhunderts über das Bodenseeund Rheingebiet ausbreiteten. Eine weitere Vertreibungswelle folgte 1439 (Augsburg) und zwischen 1450 und 1470 mit Zentrum in Süddeutschland. In einigen Städten siedelten sich nach wenigen Jahren wieder Juden an. Inzwischen waren die geschrumpften Vermögen der Juden kaum mehr lohnende Objekte skalischer Inanspruchnahme, und christliche Finanziers hatten die Rolle der Juden als Kreditgeber übernommen. De nitiv war jedoch eine dritte große Vertreibungswelle, die zwischen 1490 und 1520, zur Hauptsache während der Regie-

rung König Maximilians I. (1486/93–1519) erfolgte.²¹¹ Juden wurden aus der überwiegenden Zahl der ihnen bis dahin noch offenen Reichsstädte meist mit königlicher Erlaubnis vertrieben, in weniger als einem Neuntel aller Städte wurde ihnen noch Aufenthalt gewährt. Einzelne Gemeinden befanden sich im Wesentlichen nur noch in Städten etwas südlich und nördlich der Mainlinie, insbesondere in Städten der Wetterau und Mitteldeutschlands. Doch verblieben am Ende des 16. Jahrhunderts größere Gemeinden nur noch in Frankfurt am Main, Mainz, Worms und Speyer, ferner in Prag. 2.1.5 Gäste und Fremde Wer weder Bürger ist, noch in einem der anderen genannten Verhältnisse zur Stadt steht und nicht ansässig ist, gilt als Fremder. Die Stadt Frankfurt am Main unterscheidet hier zwischen dem Ausmärker, der aus der Umgebung tagsüber in die Stadt kommt und hier seinen Handelsgeschäften nachgeht, und dem Gast, dem angesehenen Fernkaufmann, der eine förmliche Einladung zu den Messen erhält und an der Festlegung der Messetermine beteiligt ist. Der Gast übernachtet in der Stadt und hat dort einen Wirt. Das Gastrecht ist in Frankfurt mehr als nur ein privatrechtlicher Herbergsvertrag, es ist ein Freundschafts-, Schutz-, aber auch ein Haftungsverhältnis, das durch den Wirt zur Bürgerschaft vermittelt wird. Zu einem guten Teil ist das Gästerecht ein Handelsrecht. Die Stadt Frankfurt lebt von Handel, Markt und Messe, sie betont die Gleichheit aller, der Heimischen wie der Fremden, in der Messe Freiheit. In anderen Städten, wo Besitzstände im gewerblichen Produktionsbereich gewahrt wurden und ein einheimischer Krämer- und Großhändlerstand entstand, bildeten sich Interessengegensätze zwischen den Heimischen und den Fremden heraus, die weitgehend zu Ungunsten der Fremden entschieden wurden. Das

211 Ausweisungen aus Städten: Straßburg 1349/1388, Freiburg i. Br. 1401/1424, Speyer 1405/1435, Köln 1424, Bern 1427, Ravensburg 1429, Konstanz 1432, Zürich 1435/36, Heilbronn 1437/1467, Augsburg 1438, Mainz 1438/1462 sowie endgültig 1470/71, Siegburg 1440–47, München 1442, Halle 1454, Erfurt 1458, Neuss 1462, Quedlinburg 1477/82, Magdeburg 1493, Ulm, Aschaffenburg und Nürnberg 1499, Regensburg und Rothenburg o. T. 1519/20.

Der städtische Friede 159

Gästerecht regelt den Aufenthalt und die Tätigkeit der auswärtigen Klein- und Großhändler in der Stadt. Es ist im Mittelalter »ein Kompromiss zwischen dem Egoismus der Bürgergenossenschaft und den Notwendigkeiten des zwischenstaatlichen Verkehrs«.²¹² Einzelne Städte unterschieden sich durch restriktivere bis xenophobe und großzügigere Bestimmungen. Zum Gästerecht gehören das Stapel- und das Niederlagsrecht. Der Gast genoss nicht die Zollfreiheit des Bürgers. Gestattet wurde ihm nur der Großhandel, nicht aber der Detailverkauf. Der Handel unter Gästen wurde vielfach verboten. Lübeck untersagte strikt die Zusammenarbeit des Bürgers mit dem Gast zu gemeinsamem Gewinn, Nürnberg unterwarf in diesem Fall das Gut des Bürgers der einfachen, das Gut des Gastes einer doppelten Vermögensteuer. Zurückgesetzt wurde der Gast durch den Grundsatz, dass der Gast nur gegen den Gast, nicht aber gegen einen Bürger zeugen könne. Die Hilfeleistung des Bürgers für einen Gast wurde gelegentlich eingeschränkt. Besondere Gastgerichte entschieden über Klagen auswärtiger Kau eute untereinander oder gegen Bürger. Sie richteten nach dem in der Stadt geltenden Recht; »etwas anderes, als nach eigenem Recht zu verfahren, gibt es im Mittelalter nicht«.²¹³ Die Besonderheit des Gastgerichts bestand in einem beschleunigten Verfahren mit Rücksicht auf die Reisefertigkeit des Gastes. Meist handelte es sich nicht um eine eigene Behörde, sondern nur um besondere Termine des Stadtgerichts. Im Strafrecht büßte der Gast in Basel höher als der Einheimische und war überall im Stadtgebiet verhaftbar. Fügte der Gast in Augsburg einem Bürger Schaden zu, musste er diesem das Zweifache erstatten. Klagte ein Gast gegen einen Bürger, brauchte er einen anderen Bürger, der ihm als Zeuge diente. Eine Vielzahl von auswärtigen Fremden ersuchte den Rat, festgehalten in Geleitregistern, um sicheres Geleit in der Stadt von einem Tag,

mehreren Tagen oder einem ganzen Jahr, um in der Stadt unbehelligt in Dienst-, Geschäfts- und Familienangelegenheiten tätig zu sein, Güter einzuführen, als Wallfahrer durchzureisen, politische Verhandlungen zu führen, Sühne- und Friedensschlüsse zu betreiben oder – als zuvor ge üchtete oder von Arrest bedrohte Schuldner – Schuldverhältnisse zu regeln.

2.2 Der städtische Friede Friede (pax) meint im Mittelalter zunächst den Rechtsfrieden im Sinne des ungestörten und unangefochtenen Rechts. Der Friedensbegriff ist ferner dadurch gekennzeichnet, dass der Friede – als ein Zustand garantierter Gewaltlosigkeit mit den Merkmalen der ›Sicherheit‹ (securitas) im Recht und vor (unrechter) Gewalt, der äußerlichen und inneren ›Ruhe‹ (tranquillitas, Ruhe und Gemach) sowie im Sinne der Abwesenheit oder des Verbots von Blutrache, Fehde und Formen der Selbsthilfe wie der eigenmächtigen Pfändung – im Landrecht im Allgemeinen in zeitlicher, räumlicher, sachlicher oder personaler Hinsicht beschränkt war.²¹⁴ Es handelt sich um sogenannte Sonderfrieden, die sich an unterschiedlichen Rechtsbereichen und Rechtsgemeinschaften als Haus-, Dorf-, Markt-, Stadt-, Land- oder Königsfrieden, auch als Gerichts- und Heeresfrieden festsetzten. Diese einzelnen Frieden hatten unterschiedliche Strukturen und waren in ihrer Intensität abgestuft. Der Hausfriede schloss jede Gewalttätigkeit aus, während der Landfriede, sofern es sich nicht um einen speziell vereinbarten Frieden mit einem absoluten Fehdeverbot handelte, mit gewissen Einschränkungen durchaus die Führung von rechtmäßigen Fehden zuließ. Gegenüber einer rechtlich nur relativ befriedeten Umwelt stellten die Sonderfrieden geschlossene Bereiche eines erhöhten Rechts- und Friedensschutzes dar. Die Gottes-

212 W. E, Über die rechtsschöpferische Leistung (2.2–2.4), S. 252 f.; H. T, Die Rechtsstellung der Fremden; G. D, Zum Bürgerbegriff, S. 80 f.; E. S, Fremde. 213 W. E, Über die rechtsschöpferische Leistung, S. 253. 214 H. A, Königtum und Landfriede; W. J, Art. »Friede«; G. D, Rechtshistorische Aspekte, S. 15 ff.

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und die Landfrieden, unter denen terminologisch auch die übergreifenden Reichsfrieden rmieren, zielten seit dem 11./12. Jahrhundert zwar auf einen allgemeinen Friedenszustand (pax generalis) ab, blieben aber doch regelmäßig räumlich oder zeitlich beschränkte Sonderfrieden (pax specialis), wie sie sich auch der Sonderfriedenstechnik bedienten. Erst der Wormser allgemeine Landfriede (Reichsfriede) von 1495, der sogenannte ewige Landfriede, war ein zeitlich unbefristeter und zugleich absoluter, d. h. die Fehde als legitimes Mittel der Rechtsdurchsetzung ausschließender Friede, nachdem ihm seit 1467 eine Reihe zeitlich befristeter absoluter Frieden vorangegangen war. Die Stadt war ein Sonderfriedensbereich. Im Mittelalter war der städtische Friede generell und absolut.²¹⁵ In dieser Form war er jedoch nicht von Anfang an in Erscheinung getreten.²¹⁶ Auf älteren örtlichen Frieden (Burgund Marktfriede) aufbauend, wurde er vom Stadtherrn geschützt, im Zusammenhang mit der Gemeindebildung aber als ein geschworener Friede (pax iurata) des Bürgerverbandes als einer Schwurgenossenschaft intensiviert und kommunalisiert. Dieser geschworene Friede galt zunächst nicht dauerhaft, sondern er wurde in zeitlichen Intervallen wiederholt, stabilisierte sich aber zu einem immerwährenden Frieden. Bereits im ältesten Straßburger Stadtrecht aus dem 12. Jahrhundert heißt es unmittelbar in der ersten Vorschrift, die in späteren Satzungen mehrfach wiederholt wurde: Ad formam aliarum civitatum in eo honore condita est Argentina, ut omnis homo tam extraneus quam indigena pacem in ea omni tempore et ab omnibus habeat.²¹⁷ Auswärtige und Stadtbewohner sollen in der Stadt zu jeder Zeit und von jedermann Frieden gewärtigen können. In der Stadt waren jegliche Eigenmacht und nicht gerechtfertigte Selbsthilfe verboten. Friedensbruch durch eigenmächtige Gewaltmaßnahmen von Bürgern war Eid-

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bruch. Sühnebestimmungen sind Bestandteil früher autonomer Rechtssetzung des Bürgerverbandes. Ohne grundsätzlich an die Kompetenz des stadtherrlichen Richters zu rühren, verhängte der Bürgerverband bei Friedensbruch als höchste Strafen die Verbannung und Hauszerstörung, d. h. den Ausschluss aus der Gemeinschaft. Mit wachsendem Ein uss auf das stadtherrliche Gericht und dem Aufbau einer Ratsgerichtsbarkeit war es dann die Stadt, die zuerst mit den peinlichen Strafen des Landfriedensrechts wirklich Ernst machte. In einem räumlich klar umgrenzten Bezirk erlangte der städtische Herrschaftsverband das »Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit«, das nach Max Weber eines der Kennzeichen moderner Staatlichkeit ist.²¹⁸ Die archaische Blutrache nach der Tötung von Verwandten lebte im Einzelfall allerdings fort, wenn die Stadt Zürich 1448 den Kreis der dazu berechtigten auf Verwandte in unmittelbar auf- oder absteigender Linie einschränkte, doch war die Stadt bereit, den Täter zu schützen, wenn ein gerichtliches Urteil ergangen und erfüllt war.²¹⁹ Nicht nur der Richter, der Bürgermeister, der einzelne Ratsherr oder ein geschworener Bote der Stadt, sondern in vielen Städten auch jeder Bürger oder auch Einwohner und gelegentlich selbst Fremde waren befugt und gehalten, durch ein stadtrechtlich scharf sanktioniertes Friedegebot (Trostungsgebot) einen erhöhten Frieden zu schaffen, dadurch aufkeimende Feindseligkeiten und Gewalttätigkeiten sofort zu unterbinden und die Parteien durch das Friedegebot zur Friedensbereitschaft, zum Abschluss eines eidlich gelobten Handfriedens und damit zum Streitaustrag auf friedlichem Wege, d. h. auf gütlichem oder gerichtlichem Wege, zu zwingen. Eine Straßburger Ordnung aus dem 15. Jahrhundert regelt das Friedegebot in Erinnerung an das Stadtrecht mit seinem einleitenden Satz, dass jeder Mensch, er sei fremd oder

Zur Qualität des Stadtfriedens siehe H. A, Königtum und Landfriede, S. 21–26. W. E, Der Bürgereid, S. 139 ff.; H. P, Die deutsche Stadt im Mittelalter (Einleitung), S. 251 ff. F. K, Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 126, S. 93. M. W, Wirtschaft und Gesellschaft (1.2), S. 29 f. H. N (Hg.), Die Zürcher Stadtbücher III, Nr. 106, S. 200, Nr. 164, S. 351 f. (1423), Nr. 262, S. 420 (1424).

Der städtische Friede 161

von der Stadt, zu allen Zeiten darin Friede haben solle, spricht von der Oberkeit von Stettmeister und Ammeister als den Häuptern der Stadt, den Frieden der Stadt zu gebieten, doch sollen, wenn zwischen Bürgern oder anderen Personen, seien sie edel oder unedel, einheimisch oder fremd, gewalttätiger Streit aufkommt und die Häupter der Stadt nicht am Ort sind, ersatzweise Ratsherren oder Einundzwanziger, andernfalls jeglicher Bürger, Ratsbote, Ammeisterknecht, Scharwächter oder städtischer Spitzel (heimlich hůt) sofort dazwischengehen und beide Parteien ernstlich ermahnen, Frieden zu halten, friedlich auseinanderzugehen und ihre Kon ikte rechtlich, d.h. gütlich-schiedsgerichtlich oder gerichtlich, auszutragen.²²⁰ Das Friedegebot zur Verhinderung von Gewalttaten war in Rottweil besonders eingehend geregelt und mit harten Sanktionen versehen. Jeder Volljährige, sei er Bürger und Einheimischer oder Gast und Fremder, war ermächtigt, Streitenden an statt der Sicherheit der Stadt, anstatt der amtlichen Ordnungsinstanzen, den Frieden der Stadt zu gebieten. Wer einen derartigen Frieden mit Worten brach, hatte zehn Pfund Strafe zu zahlen, nach einer späteren Satzung mit fünf Pfund oder ersatzweise einem Monat Turmhaft bei Zahlungsunfähigkeit zu büßen. Wer hingegen, bezeugt durch den Friedegebietenden oder zwei Zeugen, dennoch handgrei ich wurde, dem sollte ohne Gnade die rechte Hand abgeschlagen werden. Diese Strafe sollten auch Verwandte oder andere treffen, denen gleichfalls Friede geboten worden war. Wer immer heimlich oder offen tätlich wurde, galt durch Rechts ktion als eigenständige Partei (selbstsacher), als ob ihm auch Friede geboten worden wäre. Nach einer späteren Satzung sollten nur die vorderen Finger der rechten Hand abgeschlagen werden. Der Delinquent galt als friedbrüchig und ehrlos und hatte ein abgebrochenes Beimesser zu tragen, doch kehrte man später vorübergehend zur Strafe des Handabschlagens zurück. Diejenigen, die den Frie-

den geboten hatten, wurden unter den gleichen strafrechtlichen Schutz gestellt. Ein Friedegebot konnte aber auch von einer Partei durch Antrag bei einem städtischen Amtmann erwirkt werden, und zwar von demjenigen, der einen tätlichen Angriff eines anderen vermutete, als auch von Personen, die andere geschmäht hatten und jetzt gewalttätige Reaktionen befürchteten. Der Amtmann sollte dann nacheinander beide Parteien vereidigen.²²¹ Eine Satzung von 1535 bestimmte schließlich ergänzend, dass der Rat Personen, die des Friedensbruchs beschuldigt wurden, in Untersuchungshaft im Turm nehmen konnte, bis über Schuld oder Unschuld befunden war. Die Bindung der Adressaten eines Friedegebots beruhte auf ihrer eidlichen Friedensp icht und bezog sich darauf. Die streitenden Parteien hatten sich eidlich zur Aufrechterhaltung des momentanen Rechtszustandes zu verp ichten, bis eine gütliche Einigung, ein Schiedsurteil oder eine Entscheidung judizierender Ratsinstanzen oder des Stadtgerichts zustande kam. Das Friedegebot diente als Mittel der Friedensbewahrung dem Ziel, einen Streit möglichst durch Vergleich und Sühne zu beenden, es gar nicht erst zu einem Gerichtsurteil kommen zu lassen. Denn das Urteil beendete zwar den prozessualen Rechtsstreit, den Krieg mit Mitteln des Rechts, war aber weniger geeignet, tatsächlich sozialen Frieden zu stiften; dies gelang eher durch den gütlichen Vergleich (Freundschaft), durch den sich beide Seiten banden. Deshalb verlangte es die bürgerliche Friedensp icht, von den Versuchen gütlicher Streitbeilegung Gebrauch zu machen, die in der Gerichtsverfassung dem Spruch vor Gericht oder vor dem Rat vorgeschaltet waren. »Dem gleichen Ziel wie das Friedegebot, nämlich einen Streitvergleich zu ermöglichen und zu fördern, diente in vielen Fällen das vom Rat der Stadt dem auswärtigen oder nach auswärts ge üchteten Schuldner oder Rechtsbrecher oder überhaupt jemandem, der aus Besorgnis vor Feindschaft nicht wagte,

220 J. B, Straßburger Zunft- und Polizei-Verordnungen, S. 23. 221 H. G (Hg.), Das ältere Recht der Reichsstadt Rottweil, Nrr. 367, 552, S. 221 f., 269–272.

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in die Stadt zu kommen, erteilte Geleit. Es verschaffte, als individuelles Rechtsgeleit, dem Geleiteten für seine Person und seine Habe befristeten Schutz vor Arrestierung (›Bekümmerung‹) und mit seinen verstärkten Sanktionen erhöhte Sicherheit vor unrechter Gewalt.«²²² Wer eigenmächtige Selbsthilfe nicht unterlassen wollte, hatte das Bürgerrecht aufzugeben und die Stadt zu verlassen. Bürger, zumeist Patrizier, die in erkennbarem Rechtsnotstand eine Fehde außerhalb der Stadt führen wollten, hatten – mit Genehmigung des Rats – gleichfalls das Bürgerrecht aufzugeben, damit die Stadt nicht in die Fehde hineingezogen wurde. Der Friede schützte das Recht und den Bürger, dessen Ruhe nicht zuletzt Voraussetzung für sein Seelenheil war; er gewährleistete die Einheit (unitas) und Eintracht (concordia) des Bürgerverbandes und wahrte damit dessen Fähigkeit zur Selbstbehauptung gegenüber einer kriegerischen Umwelt. Er ermöglichte erst das ungestörte städtisch-bürgerliche Erwerbsleben, den örtlichen Wirtschaftsverkehr und das Marktgeschehen, die mit dem individuellen zugleich den kommunalen Wohlstand brachten. Der Friede war Voraussetzung für den gemeinen Nutzen (bonum commune, utilitas publica), unter dem alle diese Wirkungen und Segnungen des Friedens begriffen wurden und der höchste Maxime für das Stadtregiment wie für den einzelnen Bürger zu sein hatte. Durchgreifend wurde der städtische Friede, weil er sich auf einen begrenzten, geschlossenen Raum bezog, keine personalen Sonderrechte duldete und vor allem von einer städtischen Gerichtsbarkeit gewährleistet wurde, die für den Bürger in weltlichen Sachen eine klare und verp ichtende Zuständigkeit besaß und über einen rechtlich gleichgestellten Verband auf der Grundlage einerlei städtischen Rechts richtete. Die Stadt war außerdem in der Lage, streitiges Recht zu klären und durch ein differenziertes Recht, das relativ rasch auf Veränderungen im Wirtschafts- und Sozialleben reagierte, Kon ik-

te dadurch in gewissem Umfang überhaupt zu vermeiden. Das Herforder Stadtrecht aus dem 14. Jahrhundert formuliert mit Bezug auf Aristoteles: De erst der stede ansatte unde vorsatede, de heft ghewesen der grotesten goden dyng eyn sake, sint in den steden de lute sik moghen mit vrede, mit ghenaden gheneren mit eren arbeyde, […]. Sint dat nicht mach gheschen sunder gherichte unde recht, so hebbe ik hier bescrev en zomelike stucke van deme gherichte tho Hervorde unde van syme rechte […].²²³ Die Gerichtsbarkeit in der Stadt wurde zunächst vom Stadtherrn durch den von ihm eingesetzten Vogt und Schultheißen oder Ammann ausgeübt. Sie unterlag dem Gedanken der feudalen Nutzung der gerichtsherrlichen Rechte. Dem Stadtherrn elen Teile der Einnahmen aus Prozessen (Gerichtsgefälle) auch dann noch zu, als er sich schon weitgehend von der Gerichtsbarkeit in der Stadt zurückgezogen hatte. Der Bürgerverband, der den Frieden kommunalisierte, war im Zuge seiner Autonomiebestrebungen darauf aus, auch die Gerichtsbarkeit unter eigene geregelte Verwaltung zu nehmen und zu kommunalisieren. Dies geschah in den verschiedenen Städten in verschiedenen Etappen. Noch bis ins 15. Jahrhundert hinein lieh der König als Stadtherr nicht der Stadt Nürnberg als Korporation oder dem Rat den Blutbann, sondern einem Nürnberger Ratsbürger, der ihn an den Stadtrichter weiterverlieh. Die Stadt war jedoch keineswegs eine idyllische Insel der Gewaltfreiheit. Hin und wieder kam es zu Geschlechterfehden, Kämpfen um den Zugang weiterer Kreise zum Rat oder zu Aufständen von Bürgern gegen eine für bedrückend erachtete Ratsherrschaft. Kaum ein Tag verging, dass der Rat nicht in Fällen zu Gericht saß, in denen – wie die wiederkehrende Formel lautet – jemand das ›Messer über jemanden gezückt hatte‹. Mit detaillierter gesetzgeberischer Kasuistik, welche die verschiedensten Körperverletzungen und Verbalinjurien je nach Schwere mit den dazugehörigen und zügig voll-

222 W. E, Lübisches Recht, S. 400, 394. 223 T. H-C (Hg.), Rechtsbuch der Stadt Herford.

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streckbaren Bußen katalogisiert, versuchte der Rat jedoch, Gewalttätigkeiten in einer Gesellschaft niederzuhalten, die von Ehrgefühlen und Leidenschaften leicht erregt, dazu neigte, rasch handgrei ich zu werden.

2.3 Städtische Freiheit und Gleichheit Für weite Kreise der städtischen Bevölkerung war die Freiheit des Bürgers ein langwieriger, teilweise widerspruchsvoller Emanzipationsprozess, der in klein anmutenden Schritten aus verschiedenen Formen und Manifestationen personenrechtlicher Unfreiheit herausführte. Nicht überall gelangte die Loslösung vollständig zum Ziel, doch war von einem bestimmten Zeitpunkt an die Bürgerfreiheit zumindest der maßgebliche Richtpunkt für das städtische Leben. Die Freiheit des Bürgers war in verschiedenen Fällen noch kein subjektives Menschenrecht, sondern eine ständische, durch die städtische Bürgergemeinde vermittelte Freiheit. 2.3.1 Unfreiheit und Zensualität Die Freiheit des Stadtbürgers war keine altrechtliche Freiheit des Blutes oder des allodialen Besitzes (Eigen, hereditas), sondern eine neue, auf die Freiheit der Arbeit und des Gewerbes gegründete Freiheit. Sie war der freiheitlichen Rechtsstellung vergleichbar, die ländlichen Rodungs- und Neusiedlern als Anreiz – vor allem im Kolonisationsgebiet im Nordosten – gewährt wurde, nicht jedoch funktionsgleich. Ihre korporative Freiheit betrachteten die Stadtbürger ausweislich vor allem der Städtechroniken als von Gott gesetzt und in Gott gegründet. Der überwiegende Teil der Bewohner der alten Städte, die in der Landwirtschaft, im Handwerk oder in der Hofhaltung und Hofverwaltung des Stadtherrn tätig waren, gehörte im 11. und 12. Jahrhundert mit Statusabstufungen der personenrechtlichen Unfreiheit und Freiheit

zu dessen unfreiem, hof- oder dienstrechtlich gebundenen Verband, der hofrechtlichen familia. Auch Teile der städtischen Oberschicht wie die Ministerialen und die Münzerhausgenossen entstammten ursprünglich der stadtherrlichen Unfreiheit, aus der sie sich in einem Aufstiegsprozess innerhalb der familia durch quali zierten Dienst emanzipieren konnten, während andere Unfreie in den günstigeren Stand der Zensualität entlassen wurden. Hinzu kamen Hörige, die aus umliegenden kirchlichen und adligen Grundherrschaften entlaufen waren und sich durch Niederlassung und Sesshaftigkeit in der Stadt von ihrem bisherigen Herrn und ihrer familia zu lösen trachteten. Von den verschiedenen Formen der Unfreiheit hob sich die Freiheit der angesiedelten Kau eute ab, die den unfreien Stadtbewohnern vor Augen stand. Der dem fahrenden Kaufmann erteilte Königsschutz war Ausdruck der Unabhängigkeit gegenüber herrschaftlichen Gewalten und bewahrte den Kaufmann vor deren Ansprüchen. Durch ihren in der Marktsiedlung befreiten Grundbesitz, durch Gewohnheit, Herkommen und Privileg, insbesondere durch das Recht ›zu kaufen und zu verkaufen‹ (ius emendi et vendendi), ›zu gehen und wiederzukehren‹ (ius eundi et redeundi) waren die Kau eute aus dem Kreis der personenrechtlichen Unfreiheit und deren Rechtsfolgen herausgenommen und bildeten durch ihren gleichen Grundbesitz und ihre gleiche persönlichständische Rechtsstellung einen genossenschaftlichen Verband, den sie vielfach durch Gildebildung weiter festigten und handlungsfähig machten.²²⁴ Die Freiheitsrechte der Gründungsstädte, deren Bürger ein freiheitlich ausgestaltetes Grundbesitzrecht und persönliche Freiheitsrechte wie Freizügigkeit und Abgabenfreiheit des Nachlasses genießen konnten, mussten von den Bürgern der alten bischö ichen Städte, die als Siedlungen bis in die römische Zeit zurückreichten, durch Freiheitsgewährung des Grund-

224 Vgl. G. D, Die genossenschaftliche Struktur von Gilden und Zünften, in: . Bürgerrecht und Stadtverfassung, S. 220–222.

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und Stadtherrn und königliche Privilegierung erlangt werden. Leibeigene (servi) hatten in unterschiedlichem Ausmaß der Belastung persönliche Arbeitsdienste (Knechtsdienste) und einen Zins (Kopfzins) als Ausdruck persönlicher Abhängigkeit und Rekognitionsabgabe zu leisten. Von ihrem Nachlass erhielt der Leibherr bei Ehen zwischen Angehörigen verschiedener hofrechtlicher Verbände (Misch-, Ausheirat), wenn der Ehemann starb als Todfallabgabe (Sterbfall-) aus dem Nachlass (Hauptrecht, Kurmede, mortuarium) in Form des quotenmäßigen Buteil von zwei Dritteln und im Todesfall von Ehepartnern aus demselben Verband das Besthaupt (suppelectilis), das beste Stück Haustier (Pferd, Vieh) aus dem beweglichen Nachlass, hinsichtlich der Frau das beste Gewand oder das beste Stück des Nachlasses überhaupt. Ferner waren Leibeigene Beschränkungen hinsichtlich der Freizügigkeit und Eheschließung unterworfen. Ehen mit unfreien Angehörigen einer anderen grundherrschaftlichen familia konnten als verbotene ungenoßsame Ehen zwangsweise getrennt werden. Hörige strebten in die Zensualität als geminderte Form der Unfreiheit, kauften sich aus eigenen Mitteln in die Zensualität frei oder wurden von ihren Herren in diesen Status entlassen, der im Vergleich zu anderen Formen hofrechtlicher Bindung sogar als freie Knechtschaft (libera servitus) bezeichnet wurde. Verbreitet war die Zensualität verstärkt seit dem 11. Jahrhundert in Landschaften, die durch kirchliche Großgrundherrschaften geprägt waren, in Flandern, Brabant und im Hennegau, am Niederrhein und in Westfalen, im Mittelrheinischfränkischen und Alemannischen und im Südosten mit Bayern. Wenn anstelle von persönlichen Arbeits- und Dienstleistungen nur noch Zinse in Form von Geld oder Wachs zu entrichten waren, bedeutete dies einen Schritt hin zu einem freiheitlicheren Status, zu einer abhängigen Zwischenstellung zwischen Hörigkeit und Freiheit. Die Freiheit des Zensualen bedeutete Freizügigkeit und gab die Möglichkeit zur Zuwanderung in die Stadt und dort zur Entfaltung wirtschaftlichen Erwerbsstrebens, das für

die Stadt von außerordentlicher Bedeutung war. Nur durch ihre Person dem Herrn verp ichtet, aber nicht schollengebunden und daher zur Abwanderung in die Städte bereit, waren auch die Eigenleute (homines proprii), ehemalige servi cottidiani der sich au ösenden hofrechtlich geordneten Villikationswirtschaft. Es handelte sich um Kleinstellenbesitzer und Handwerker, die ihrem Herrn gleichfalls keinen persönlichen Dienst leisten, sondern ihm nur einen Jahreszins entrichten mussten. Mit dem Status des Zensualen verbunden waren jedoch weiterhin bestimmte Abgaben und rechtliche Beschränkungen: (1) Der Kopfzins, der von Volljährigen oder Verheirateten beiderlei Geschlechts am Festtag des Kirchenpatrons am Altar zu leisten war – in Worms in Höhe zweier Silberpfennige, ansonsten waren es meist 2 bis 6 Pfennige. (2) Die Todfallabgabe in Form des Besthauptes oder des Buteil. (3) Erb- und eherechtliche Folgen, die im Falle der Eheschließung mit einem Partner aus einer anderen grund- und hofrechtlichen familia eintraten. Der Herr beanspruchte bei Eheschließungen innerhalb derselben familia das Recht der Zustimmung, das in der Regel jedoch durch einen xierten Geldbetrag abgelöst werden konnte. Handelte es sich aber um eine Misch- oder Ausheirat mit einem Partner aus einer anderen familia, so zog er, falls er nicht vom Recht der Zwangsscheidung einer damals recht formlos geschlossenen Ehe Gebrauch machte, die Buteil-Abgabe ein. Auf dem Lande mochte eine solche Forderung noch eine gewisse Berechtigung haben, wenn etwa ein grundhöriger Bauer eine Frau aus einer anderen Grundherrschaft heiratete, da sie ihren Kindern das Recht der Herkunft vermittelte und daher die Gefahr bestand, dass im Falle des Todes des Vaters der Grundherrschaft nicht nur die Kinder, sondern mit ihnen als Erben die verliehenen Grundstücke verlorengingen. In der Stadt lebten die Menschen jedoch überwiegend nicht mehr von der Nutzung des übertragenen Grundbesitzes, sondern von Einkünften aus Handel, Gewerbe und Lohnarbeit. Außerdem brachten es die zahlreichen Hofrechtsverbände in der Stadt und

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der Zustrom von Menschen aus verschiedenen Grundherrschaften in die Stadt mit sich, dass Mischheiraten immer häu ger wurden. Gegen Leibeigenschaft wandte sich das Landrecht des »Sachsenpiegels« (III, 42), da Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen und durch seine marter gelediget habe, den einen alse den anderen. Gott sei der arme also lieb alse der riche. Ursprünglich waren, so heißt es dann auch im »Schwabenspiegel«, die Menschen, die in die Lande kamen, alle frei. Eigenschaft sei durch Zwang, Gefangennahme und unrechte Gewalt entstanden; man habe sie von alters her zur unrechten Gewohnheit gemacht und wolle sie nun als ein Recht beanspruchen. Der Schwabenspiegel macht geltend, dass sich Leibeigenschaft weder mit dem Alten noch dem Neuen Testament begründen lasse. Was im römischen Recht für die Sklaverei die Kriegsgefangenschaft und das ius gentium (Völkergemeinrecht) sind, erscheint hinsichtlich der Leibeigenschaft als gewaltsam begründete unrechte Gewohnheit. Der Verfasser der »Reformatio Sigismundi« von 1439 nennt es unerhört, dass es jemand wage, einen anderen als eigen zu beanspruchen, nachdem Gott (Christus) durch seinen Tod und die erduldete Marter alle Christen ohne Unterschied gefreit und von allen Banden gelöst habe, und bezeichnet einen solchen Anspruch heidnisch, gegen Christus und seine Gebote gerichtet. Ulrich Tengler erklärt in seinem 1509 gedruckten »Laienspiegel« die Entstehung von Leibeigenschaft mit Lands Gewonhaiten, die mit Erlaubnuß zu reden, billich und vil ee für Unrecht und ungötlich Missbrauch als für rechtmäßige Gewohnheiten zu erachten sind. 2.3.2 Personen- und güterrechtliche Freiheit – Privatrecht Dass in der städtischen Lebenswelt die herrschaftliche Nachlassforderung möglicherweise infolge einer Verschlechterung der Zensualität unerträglich erschien, zeigen die Privilegien, die Kaiser Heinrich V. 1111 den Speyrer und 1114 den Wormser Bürgern kollektiv erteilte. Im Fal-

le Speyers spricht der Kaiser mit Bezug auf die Nachlassabgabe des buteils der Unfreien von einem ›nichtswürdigen und ruchlosen Recht‹, dessentwegen die ganze Stadt in allzu große Armut geführt und zugrunde gerichtet worden sei. Er statuiert nicht nur für Bürger, sondern für alle Bewohner das freie Erb- und Verfügungsrecht über jeglichen Besitz, das durch keine Person oder Herrschaftsgewalt eingeschränkt werden dürfe. Um diese Rechtsverleihung unumstößlich und unverletzlich zu machen, ordnet der Kaiser an, den Wortlaut des Privilegs über dem Portal des Domes mit seinem Bild versehen in goldenen Buchstaben anbringen zu lassen, wie es dann auch geschah. Ferner verp ichtete er die Speyrer Bürger, jeweils am Todestag Heinrichs IV., der nach der posthumen Lösung vom Kirchenbann in der Krypta des Domes beigesetzt werden konnte, an den jährlichen Gedächtnisfeierlichkeiten mit brennenden Kerzen in den Händen geschlossen teilzunehmen und von jedem Haus ein Brot für die Armen zu spenden. Im Wormser Privileg von 1114 wird neben der besitzrechtlichen auch die eherechtliche Frage der Misch- oder Ausheirat geregelt. Der Kaiser bekundet, er habe den ›jammervollen Klagerufen der betroffenen Leute und den fortwährenden Schikanen, die sie hinsichtlich ihrer Ehen noch erlitten, auf ihre Bitten hin ein Ende gemacht‹ und verfügt: ›Jedermann – ganz gleich wer er ist und woher er kommt –, der seine Gattin aus seinem eigenen Verband oder aus einer anderen familia dort zur Ehe nimmt oder der als Ehemann von anderswo dorthin kommt, soll ein und dasselbe Recht ohne Unterschied von nun an bis in Ewigkeit haben, sodass kein Vogt deren Ehen […] au öst; und keine höhere oder niedere Gewalt darf beim Tode des Mannes oder der Frau etwas von der hinterlassenen Habe als ihm rechtlich gebührend fordern‹, sondern diese Habe soll ›fest besessen werden‹. Trotz der Privilegien Heinrichs V. kam es zu Kon ikten zwischen den Bischöfen als Grundund Stadtherren und den Bürgern beider Städte, bis Friedrich Barbarossa die Streitfrage 1182 für Speyer und 1184 für Worms zugunsten der

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Bürger endgültig entschied. In Worms ent el mit dem jährlichen Kopfzins der Zensualen das letzte Zeichen persönlicher Abhängigkeit. Über dem Nordportal des Wormser Doms wurde eine metallene Tafel mit dem Text des Privilegs von 1184 angebracht, ferner in den Bögen des Tympanons eine Inschrift, die in sieben Hexametern die Treue und politische Klugheit der Wormser preist und als Gegenleistung die Befreiung vom Kopfzins gewährt. In einem Diplom König Lothars von 1229 für die Straßburger Bürger wurde die persönliche Abhängigkeit von auswärtigen Grundherrn indirekt durch die Bestimmung ausgehöhlt, dass deren Vögte von den in Straßburg ansässigen Zensualen den fälligen Kopfzins in der Stadt entgegennehmen müssten, bei Versäumnis des Zahlungstermins oder bei Zahlungsverweigerung der Herr seine Forderungen vor dem städtischen Richter geltend machen müsse. Manche Stadtrechte haben ein abgemildertes Zensualenrecht dauerhafter beibehalten, sodass eine nunmehr fremde Rechtswelt immer noch in die Stadt hineinragte. Die persönliche Freiheit der Bürger Frankfurts und der Wetteraustädte Gelnhausen, Wetzlar und Friedberg wurde erst 1232 mit der Befreiung vom königlichen Heiratszwang durch Heinrich (VII.), der endgültigen Emanzipation aus der unfreien Rechtsstellung der Pfalzund Fiskalleute, vollständig. Herzog Rudolf IV. von Österreich versprach erst 1364 den Wiener Bürgern, ihre Kinder und Verwandten nicht gegen deren Willen zu verehelichen. Die für Salzburg 1368 aufgehobenen Heiratsbeschränkungen widerrief Erzbischof Pilgrim II. gegen den Widerstand der Bürgerschaft zehn Jahre später. Erst 1367 untersagte Kaiser Karl IV. den Einzug von Todfallabgaben und Heiratsbeschränkungen in Konstanz, und erst 1379 verzichtete der Konstanzer Bischof auf seine Rechte über Hörige.

Seit dem frühen 12. Jahrhundert streiften die Bürger verschiedener Städte »die Zeichen der Unfreiheit in Grundbesitzrecht, Erbrecht, Abgaben und persönlicher Stellung« ab, und es bildete sich ein auf rechtlicher Freiheit gegründeter und insoweit einheitlicher Bürgerstand inmitten einer herrschaftlich geordneten Umwelt heraus.²²⁵ Privilegien schufen aber keinen allgemeinen städtischen Rechtszustand, sondern galten nur für die privilegierte Stadt. Es erfolgte aber schrittweise, in den Kolonisationsgebieten schubartig, »die Freistellung der Person gegenüber Herrenrechten und gegenüber der intensiven Sippenbindung zu eigenverantwortlicher Arbeit und Erwerb«.²²⁶ »Die volle und gleiche Rechtsfähigkeit ng an, sich vom Grundbesitz zu lösen und der Einzelperson, auch der besitzlosen, dem Menschen als solchem zuerkannt zu werden.«²²⁷ Hinzu traten der »Schutz der städtischen Vermögen vor fremdem Zugriff« und unter dem Ein uss des römischen Rechts die »Entwicklung eines die individuelle Verfügungsmacht stärkenden Eigentumsbegriffs«²²⁸ wie auch ein Schuldrecht, das seit dem 15. Jahrhundert zunehmend vom römischen Recht geprägt war, nicht jedoch so im lübischen Recht.²²⁹ Die Bürger und Einwohner konnten, was ihre Wirtschaftstätigkeit stimulierte, über ihre Arbeitskraft und ihren Arbeitsertrag frei verfügen und ein rechtlich geschütztes Privateigentum ausbilden. Die Lösung der Rechtsordnung aus herrschaftlichen Bindungen bei gleichzeitiger Konstituierung einer Sphäre des auf die Existenz der Stadt bezogenen Öffentlichen und der öffentlichen Ordnung machten die Entwicklung frei für eine Sonderung des Privatrechts, das die Rechtsbeziehungen und den Verkehr unter rechtlich Gleichen ordnete. Die res publica bedeutete sowohl das gemeinschaftliche Vermögen (gemeines gut) und das Gemeinwohl (ge-

225 G. D, Rechtshistorische Aspekte, S. 17. Zur Zensualität siehe vor allem die Arbeiten von K. S. 226 G. D, Art. »Stadtrecht«, Sp. 1867; ., Bürgerrecht und Stadtverfassung, S. 74 f., 99–101, 258–261; ., Die Rechtsgeschichte der Stadt, S. 645–661. 227 W. E, Grundlegung, S. 14 f. 228 G. D, Art. »Stadtrecht«, Sp. 1867. 229 W. E, Grundlegung, S. 12.

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meiner Nutz, publica utilitas) von Bürgerschaft und Stadt als auch die politische Ordnung der städtischen Gemeinschaft (communitas) und das Gemeinwesen selbst. Das römische Recht mit seiner Unterscheidung zwischen der utilitas publica, dem gemeinen Nutzen, und der utilitas singulorum, dem Nutzen der Einzelnen nun im Sinne von Privatleuten, bot die Möglichkeit einer Kategorisierung der Zwecke und Interessen.²³⁰ 2.3.3 »Stadtluft macht frei« Wer Jahr und Tag in der Stadt verweilt, ohne dass er von jemandem angefordert wird (sine alicuius impetitione), bleibt weiterhin frei, so heißt es in der – älteres Recht aus dem 12. Jahrhundert aufnehmenden – Rechtsaufzeichnung der um 1160 von Heinrich dem Löwen gegründeten Braunschweiger Hagenstadt aus dem Jahre 1227. Kaiser Friedrich I. bestätigte 1186 den Bürgern der Stadt Bremen ihre angeblich von Karl dem Großen stammenden Rechte, wonach unter anderem der Mann oder die Frau, die Jahr und Tag unangefordert im Weichbild (Stadtrechtsbereich) verweilten, nach dieser Verjährungsfrist ihre Freiheit – durch Schwur – beweisen durften, während dem Kläger der Beweis der Hörigkeit verwehrt war; ausgenommen war jedoch die familia des Bischofs. Das Ottonianum, die älteste allgemeine Braunschweiger Stadtrechtsaufzeichnung vom selben Jahr, verlangt hingegen, dass der Mann Jahr und Tag ohne Ansprache (impetitio) Bürger gewesen sein müsse, damit ihn niemand anfordern könne. Ähnliche, zum Teil möglicherweise gefälschte Privilegien besaßen Lübeck (Barbarossaprivileg 1188, 1222/25), Dieburg (1194/98), Stade (1209) gleichlautend wie Bremen, Goslar (1219), Bern (1218), Freiburg im

Breisgau (nach 1218 oder 1244), Annweiler (1219), Wien (1237, 1296), Hameln (1277), Eger (1279), Düsseldorf (1288) und Amberg (1294). In Dortmund und Soest erscheint der Grundsatz erst in Stadtrechtsaufzeichnungen des 14. Jahrhunderts. In Regensburg musste der Angesprochene zehn Jahre unangefochtenen Aufenthalts nachweisen (1230), in der kleinen ostschwäbischen Stadt Mindelheim (1383) fünf Jahre, um, bei Fortdauer des Todfallrechts, gegen Rückforderungen geschützt zu sein, und in Memmingen (1471) gleichfalls fünf Jahre, um die volle persönliche Freiheit zu erlangen. Für derartige Bestimmungen, die vom 12. Jahrhundert bis zum Ende des 14. Jahrhunderts in Privilegien auftauchen, wurde der bekannte, rechtssprichwörtlich klingende, aber in dieser Formulierung von der Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts (Ernst eodor Gaupp) geprägte Rechtsgrundsatz »Stadtluft macht frei« geprägt. Der Grundsatz bedeutet, dass der Unfreie, der sich Jahr und Tag in der Stadt aufhält oder, wie später bestimmt wird, das Bürgerrecht besitzt und von seinem Herrn in dieser Zeit nicht zurückgefordert wird, sich von bisheriger Gebundenheit und Unterworfenheit löst.²³¹ Er ist, wie es im Privileg für Dieburg heißt, nur noch dem Stadtherrn personenrechtlich unterworfen, was gewissermaßen dem von der Rechtsgeschichte geprägten komplementären Satz »Luft macht eigen« entspricht. Im Übrigen erhielt auch der minder geborene Ehegatte die Rechtsstellung des freien Ehegatten, gleich ob es sich um Mann oder Frau handelte. Dem nacheilenden Herrn war eine Rückholung auf dem Wege der gewaltsamen Selbsthilfe, ein Eindringen in den städtischen Immunitätsbereich verwehrt, und er musste den beanspruchten Mann vor Ablauf der Frist vor dem städtischen Gericht angesprochen haben.

230 Digesten 1.1.2: Publicum ius est quod ad statum rei Romanae spectat, privatum quod ad singulorum utilitatem – ›Öffentliches Recht ist das, was sich auf die Ordnung des römischen Staatswesens bezieht, Privatrecht, was sich auf die Interessen der einzelnen bezieht‹; vgl. dazu E. I, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht, S. 46 f. 231 H. M, Über den Rechtsgrund des Satzes »Stadtluft macht frei«; H. S, »Stadtluft macht frei«; W. E, Lübisches Recht, S. 148–150; K. K, Deutsche Rechtsgeschichte 1, S. 237–240; V. H, »Stadtluft macht frei«?; B. D, »Freiheit der Bürger – Freiheit der Stadt«, S. 485–510 (mit Diskussion der Literatur), bes. S. 505–507.

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Wurde die Frist versäumt, konnte der Herr nicht mehr wie innerhalb der Frist den Beklagten der Hörigkeit überführen, sondern diesem wurde die Möglichkeit eingeräumt, sich freizuschwören. Es handelte sich um eine nach dieser Frist eintretende prozessuale Beweisvergünstigung für den zugezogenen Unfreien, nicht um eine direkte materiellrechtliche Statusumwandlung, denn der Hörige wurde nicht frei, sondern er konnte nach der Frist frei in der Stadt verweilen und seine Freiheit beweisen. Nicht das bloße Verweilen, sondern der Rechtsakt der Aufnahme ins Bürgerrecht und in die Stadtbürgerschaft, wurde schließlich der Grund für die Beweisvergünstigung und die Freiheitsvermutung, die in ihr zum Ausdruck kam. Noch im 12. Jahrhundert bestand in einem Statusprozess eine Vermutung der Unfreiheit. Deshalb stand dem klagenden Herrn der Beweis seines Rechts mit Verwandten der väterlichen agnatischen Seite (Schwertmagen) wie in Kenzingen (1283), in der Regel aber der mütterlichen (kognatischen) Seite (Muttermagen) als Eideshelfern zu, so etwa in den Stadtrechten von Augsburg, Basel, Frankfurt am Main, Freiburg, Rottweil und Bern sowie noch in der Goldenen Bulle König Sigmunds von 1431. Im 13. Jahrhundert schuf die Aufnahme ins Bürgerrecht nach Ablauf der Frist von Jahr und Tag eine Freiheitsvermutung; nunmehr wurde die Freiheit des Beklagten vermutet und in einer Beweisumkehr diesem der Beweis seiner Freiheit zugesprochen. Graf Adolf von Berg fand bei der Stadtrechtsverleihung von Düsseldorf 1288 eine andere Lösung. Er bestätigt die vollen Herrenrechte an einem zugezogenen Unfreien, der binnen Jahr und Tag ordnungsgemäß zurückgefordert wird. Geschieht dies aber nicht, gehört dieser gewissermaßen als fremder Neuankömmling (advena) dem Grafen und seinen Nachfolgern, und der Graf macht ihn dann den Düsseldorfer Bürgern zum Mitbürger (cooppidanus), auf dass er frei sei und künftig für alle Zeit als Bürger gel-

ten und das Recht der Bürger in Frieden und Ruhe genießen solle.²³² Ratsjuristen des ausgehenden 15. Jahrhunderts bezogen sich in Rechtsgutachten gegen Leibeigenschaft auf die städtischen Freiheitsprivilegien, die Freiheit nach Jahr und Tag, schufen aber unabhängig von dem nicht überall vorhandenen Privilegienrecht und komplementär zu der herkömmlichen Rechtsvermutung eine gemeinrechtliche Rechtsgrundlage für den Statusprozess, indem sie auf die naturrechtliche Freiheit des römischen und kanonischen Rechts rekurrierten, auf die Rechtsregel der Begünstigung der Freiheit (favor libertatis) und die Rechtsvermutung zugunsten der Freiheit, welche die Beweislast dem Kläger mit seinem Anspruch gegenüber dem Hörigen zuschoben und denjenigen, der seine Freiheit vor Gericht durchsetzen wollte, von der Beweislast entbanden. Im Zweifel war zugunsten der Freiheit zu entscheiden – in dubio pro libertate iudicandum est.²³³ Der Grundsatz »Stadtluft macht frei« war kein allgemeines Stadtrecht, auch nicht in einer bestimmten Städteregion wie etwa Westfalen, wo er in weiten Teilen nicht durchdrang, oder im Niederrheingebiet, das bis ins Spätmittelalter von Zensualität geprägt blieb. Er ndet sich seit der Wende zum 13. Jahrhundert in einigen Städten, während er für andere nicht galt. Früh schon setzten im 13. Jahrhundert Widerstände gegen den Grundsatz ein. Friedrich II. verbot 1220 und 1232 die Aufnahme von Eigenleuten der Prälaten und sonstiger Grundherrschaften; derartige Verbote gingen gleichfalls 1231 von Heinrich (VII.) und 1276 von Rudolf von Habsburg aus. Auch erreichten einzelne Klöster und Herren vom König ein Verbot der Aufnahme ihrer Leute zu Stadtbürgern. Der Stadt- und Landesherr, der seine Stadt fördern wollte, und die Stadtgemeinde, die auf Zuzug und Neubürger aus war, hatten gegenüber den umliegenden Grundherren ein Interesse an dem Hörigen, der sich durch die Nie-

232 B.-U. H (Hg.), Quellen zur Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 47, S. 332. 233 E. I, »Liberale« Juristen? (4.4) S. 279–293.

Städtische Freiheit und Gleichheit 169

derlassung in der Stadt von seinem Herrn zu lösen trachtete. Allerdings wollte der Stadtherr die Funktionsfähigkeit seiner eigenen Grundherrschaften gewahrt wissen; und es war die Frage, ob Stadtherr und Stadtgemeinde nicht doch Auseinandersetzungen mit benachbarten Herren zu vermeiden suchten und einen Interessenausgleich anstrebten, oder der Rat nach Jahr und Tag tatsächlich bereit war, gegenüber dem Herrn, der seinen Anspruch durch rechtliche Untätigkeit verschwiegen hatte, als Sachwalter des Hörigen aufzutreten. Grundsätzlich war der Stadt daran gelegen, dass sich Hörige mit ihren Herren wegen der geschuldeten Leistungen einigten oder sich freikauften. Lüneburg und Braunschweig kauften Bürger, die Hörige waren, aus städtischen Mitteln von ihren Herren frei, da die Betroffenen dazu nicht selbst in der Lage waren. Das Frankfurter Bürgerrecht löste im ausgehenden 13. Jahrhundert den einzelnen Bürger nicht aus hergebrachten Leistungsverp ichtungen und Abhängigkeiten gegenüber Adligen und Rittern als Grundherrn. Der Zins des Leibeigenen in Form von Fastnachtshühnern war aber nur noch zu entrichten, wenn die Abgabep icht auf innegehabten Gütern ruhte. Herren, die einen Neubürger als ihren Hörigen ansprachen und zurückfordern wollten, konnten dies ohne zeitliche Befristung tun, doch war, falls der Betreffende mit Zeugen aus seiner Verwandtschaft den Anspruch zurückweisen konnte, die Bürgergemeinde verp ichtet, ihn gegen den Herrn zu schützen.²³⁴ Die Stadt respektiert die Rechte von Eigenherren und traf mit umliegenden Herren Vereinbarungen, die deren Rechte wahrten, sodass in Frankfurt der Satz »Stadtluft macht frei« praktisch keine Geltung besaß. Ohnehin gingen verschiedene Städte seit der Mitte des 15. Jahrhunderts dazu über, personenrechtliche Freiheit zur Voraussetzung für das Bürgerrecht zu machen. Das Augsburger Stadtrecht von 1276 regelte die Ansprüche von Herren gegenüber ver-

schiedenen Kategorien von Zugewanderten, die das Bürgerrecht erworben hatten, gegenüber Hubern (Erblehensbauern) mit mildem Hörigenstatus und unverrechneten Amtleuten sowie Eigenleuten, Lehenshörigen und kirchlichen Zinsern mit abgestufter Hörigkeit. Von einer Rückforderung war nicht die Rede, doch sollten die Huber auf den Gütern des Herrn eine ordnungsgemäße Ablösung durch eine Abzugstaxe bewerkstelligen und die Amtleute Rechenschaft ablegen. Für die Rückkehr der Huber und Amtleute ohne Schaden an Leib und Gut hatte der frühere Herr Bürgen zu stellen. Streitigkeiten hinsichtlich weitergehender Leistungen waren vom Stadtgericht nach dem Urteil der Bürger zu entscheiden. Hörige mit Bürgerrecht wurden personenrechtlich wie Freie behandelt, insofern sie nach den Grundsätzen des Stadtrechts beerbt wurden und testamentarisch über ihren Nachlass verfügen konnten. Sie waren nicht zu Diensten verp ichtet, hatten jedoch jährliche Geldleistungen an den Eigenherren zu entrichten; allerdings wurden sie wie auch andernorts auf ein bestimmtes Maß (1 Schilling oder 4 Pfennige) beschränkt, wozu Privilegien König Rudolfs für die Herabsetzung eine Handhabe boten. Nicht gezahlte (versessene) Zinse konnte der Herr gerichtlich geltend machen. Fehlten ein Testament oder rechtmäßige Erben, el der Nachlass an den Herrn.²³⁵ Ulm verlangte die vorherige Verrechnung, doch gab es auch hier Hörige als Bürger, die 12 Pfennige an Zins zahlen mussten, aber wie in Augsburg von der Todfallabgabe befreit waren. Diese wiederum blieb noch ins 15. Jahrhundert hinein in Mindelheim, Kaufbeuren und Memmingen erhalten. Unfreie Leute konnten in Memmingen nur binnen Jahr und Tag von ihrem Herrn angesprochen werden, doch selbst in diesem Fall war ihr Vermögen in der Stadt sicher, und nur beim Tod konnte der Herr seinen Anteil am Nachlass einfordern. Erst aufgrund eines Privilegs Kaiser Friedrichs III. von 1471 erlangte ein unfreier Zuzügler bei fünäh-

234 E. O, Freiheit und Stadt. 235 C. M (Hg.), Das Stadtbuch von Augsburg, Art. XX, S. 59.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

rigem unangefochtenem Aufenthalt in der Stadt die volle Freiheit. Die Stadt Freiburg im Breisgau musste bereits 1120 den Grundherren die Entrichtung der leibherrlichen Abgaben für ihre abgewanderten Eigenleute zusichern. Vor allem seit dem späten 15. Jahrhundert wurden Hörige, die einen nachjagenden Herrn hatten und einen Freikauf nicht nachweisen konnten, vielfach nicht mehr ins Bürgerrecht aufgenommen. Die Herzöge von Bayern beanspruchten noch um 1487 und 1493 eine Vielzahl von Bürgern Augsburgs, 1487 waren es fast 200, als Hörige ohne zeitliche Beschränkung und luden sie vor ihr Gericht. Nürnberger Rechtsgelehrte beriefen sich in Gutachten für den Augsburger Rat auf päpstliche und kaiserliche Rechte, wonach jeder Mensch ursprünglich frei sei und erst durch Krieg und Gefangenschaft Unfreiheit eingeführt worden sei. Sie begründeten das Recht jeder Person, sich durch räumliche Mobilität zu verändern und damit auch die Verp ichtung gegenüber dem alten Herrn zu beenden. Die zeitlich unbefristeten Rückforderungen der Herzöge wiesen sie als unrechtmäßig und allein auf Macht und Gewalt gegründet zurück, legten aber einen Kompromiss nahe, der eine Entschädigung für Eigenleute vorsah, die vor weniger als 20 Jahren unverrechnet abgewandert waren, und wonach Kinder nur innerhalb von fünf Jahren nach dem Tod ihrer Eltern beansprucht werden durften. In einem späteren Gutachten machten sie die Fristversäumnis und negligentia domini wegen Verstreichens der Jahresfrist geltend und konzedierten bei einem Bürgerrecht seit einem halben Jahr dem Bürger eine nachträgliche Verrechnung mit seinem früheren Herrn und den Verbleib im Bürgerrecht, während ein Rückforderungsprozess vor dem Augsburger Stadtgericht nach Augsburger Recht zu erfolgen habe.²³⁶ Trotz anfänglichen Widerstands der Stadt mussten viele Personen

nachträglich eine Ablösesumme entrichten, die zwischen einem Gulden und 60 Gulden, meist aber zwischen drei und sechs Gulden lag. Da die Stadt, vor allem die neu entstandene Stadt, des Zuzugs von außen bedurfte, war der Freiheitserwerb entsprechend dem Satz »Stadtluft macht frei« zunächst als »Ansiedlungsprämie« zu verstehen. Um jedoch übermäßigen Zuzug von Hörigen und Eigenleuten vom Lande und die damit verbundenen Streitigkeiten mit umliegenden adligen Grundherrn oder mit dem grundbesitzenden Stadtherrn zu vermeiden, schränkten die Städte vornehmlich seit dem 15. Jahrhundert häu g von sich aus die Bürgerrechtsaufnahme von Hörigen vom Lande ein. Die Stadtherren untersagten aber vielfach schon in den Gründungsprivilegien die Aufnahme ihrer eigenen Hörigen in den Bürgerverband; benachbarte Stadtherren vereinbarten untereinander, Eigenleute der Vertragspartner in ihren Städten nicht als Bürger zu dulden. Die Anziehungskraft der Stadt war indessen nicht zu brechen. Die Freiheit des Bürgers war für die städtische Bürgergemeinde grundsätzlich konstitutiv und charakteristisch. Doch wie ein hoher Anteil der Stadtbevölkerung nicht das Bürgerrecht besaß, so lebten in Städten Hörige, und es gab vor allem in kleinen Territorialstädten, aber auch in großen Reichsstädten wie Augsburg und Ulm noch im ausgehenden Mittelalter, in anderen Städten noch bis in die frühe Neuzeit hinein unfreie Bürger.²³⁷ Auch in die österreichischen Städte reichten leibherrliche Abhängigkeiten hinein. Die Markgrafen von Baden, die Grafen und Herzöge von Württemberg, die Habsburger und andere Herren betrachteten die Bewohner und Bürger von Landstädten insgesamt als Eigenleute, wobei aber entsprechende Leistungen von Hörigen häu g ruhten. Der Anspruch auf Hörigkeit war ein Mittel, Bürger en-

236 Das erste Gutachten wurde fälschlich Dr. Konrad Peutinger zugeschrieben. U. H, »Im Zweifel für die Freiheit«. Ein Mustergutachten Conrad Peutingers zu Bürgerrecht und Bürgeraufnahme im spätmittelalterlichen Augsburg, in: K. S/U. M (Hg.), Stadtregiment und Bürgerfreiheit (4.1–4.3), S. 120–144. Tatsächlich stammt es von den Nürnberger Ratsjuristen Dr. Johannes Letscher und Dr. Peter Stahel. E. I, »Liberale« Juristen? S. 278–292. Zum ganzen Vorgang der Rückforderung siehe C. K, Bürger in Augsburg (2.1), S. 40–48, 117–125. 237 B. F, Bürger als Hörige (mit weiterer Literatur).

Städtische Freiheit und Gleichheit 171

ger an sich zu binden, was außerdem durch eidliche Nichtabzugsverp ichtungen oder die Forderung von Abzugsabgaben versucht wurde. 2.3.4 Rechtliche Gleichheit Korrelat zur Freiheit der Bürger war die allgemeine Gleichheit vor Gericht und Stadtrecht. Alle Rechte des Stadtbürgers kamen zunächst nur dem geschworenen Bürger als dem Vollbürger zu. Die große Zahl von Stadtbewohnern wie Tagelöhner, Mägde und Knechte, Handwerksgesellen und Seeleute besaß vielfach kein Bürgerrecht. Als bloße Einwohner, Beisassen, Seldner oder wie man sie sonst noch nannte, wurden sie in den meisten Städten durch einen eigenen Eid auf die Stadt und auf das in ihr geltende Recht verp ichtet. Vor dem Stadtgericht galten sie jedoch als freie Leute, und das Gericht urteilte dem Grundsatz nach, ungeachtet sozialständischer Unterschiede, auf der Grundlage einerlei Rechts.²³⁸ Hinzu kam der ins Politische hinein erweiterte Gedanke, dass sich Bürgermeister und Rat in ihrer Amtstätigkeit unterschiedslos jedermann in gleichem Maße zuzuwenden hatten. Alle Bürger und Einwohner, Arm und Reich, wie die Formel lautete, sollten vor dem Stadtgericht Recht nehmen und Recht geben. Das Landrecht hingegen kannte in demselben räumlichen Bereich eine Vielheit von ständisch, d. h. personal und nicht sachlich gegliederten Gerichten, die dem Grundsatz Rechnung trugen, dass die hohen Stände, Adel und Geistlichkeit, nur vor Standesgleichen zu Recht zu stehen brauchten. »Die Verfolgung der Eid- und Friedensbrüche oder schlechthin der Ansprüche, welche die Stadt gegen Jemanden besitzt (z. B. betr. Steuer, Zinse, Wachtdienst), ist […] nicht in die Disposition des Rats gestellt. Zum ersten Mal in der deutschen Prozessrechtsgeschichte nden wir in der Stadt das Legalitätsprinzip wirklich als

Prinzip aufgestellt und durchgeführt.«²³⁹ Der Rat war eidlich verp ichtet, gegen jedermann, Arm und Reich, vorzugehen und die Ansprüche der Stadt zu verfolgen. »Die im Stadtrecht immer wieder so nachdrücklich hervorgehobene Gleichstellung von Arm und Reich – Ausdruck der neuen Idee einer Gerechtigkeit, die gegen die archaisch-landrechtlichen Werte von Stand, Macht, Kraft verfochten wird – ist man auch institutionell zu sichern bestrebt.«²⁴⁰ Vielerorts traten im stadtherrlichen Gericht zwei Bürger (Ratsherren) neben den vom Stadtherrn eingesetzten Richter, damit sie bei ihrem Eid bewaren, dat eneme iewelken manne recht schee, armen unde ryken, vrunden unde vromen algelik, wie es im Hamburger Stadtrecht von 1270 heißt. Die Gleichheit der Städter galt jedoch nicht auf allen Gebieten des Rechts. Es handelte sich um Gleichheit bei der Rechtsanwendung, nicht aber um durchgehende Rechtsinhaltsgleichheit.²⁴¹ So war in den Hansestädten die Ratsunfähigkeit der Handwerker eine verbreitete Erscheinung und hielt sich etwa in Lübeck bis ins 19. Jahrhundert hinein. In Linz an der Donau bestand bis 1491 sogar ein Heiratsverbot zwischen den Besitzern der zahlenmäßig festgelegten Hausstätten und den Handwerkern, die bis dahin nicht zum Bürgerrecht zugelassen waren. Die Ehefrau war standesrechtlich und damit erbrechtlich dem Ehemann gleichgestellt, stand aber unter dessen Vormundschaft. Aus Gründen eines störungsfreien Wirtschaftsverkehrs befreite man die Kauffrau von der Vormundschaft im Geschäftsverkehr und im Prozess und räumte ihr unbeschränkte Verp ichtungsfähigkeit ein. Sie haftete aber auch für ihre Verbindlichkeiten mit ihrem gesamten Vermögen, während die Verp ichtungsfähigkeit und Haftung der anderen Bürgerfrauen auf Pfenniggeschäfte, d. h. auf Geschäfte von nur geringem Geldwert, beschränkt war.

238 W. E, Über die rechtshistorische Leistung, S. 250 ff. 239 W. E, Der Bürgereid, S. 107. Vgl. hinsichtlich von Steuerforderungen mit römischrechtlicher Begründung E. I, Funktionen und Leistungen (4.4), S. 309. 240 W. E, Der Bürgereid, S. 109 f. 241 W. E, Über die rechtsschöpferische Leistung, S. 249 f.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

2.4 Das Stadtrecht Die deutschen Städte sind auf dem Boden einer landrechtlichen Welt erwachsen. Die frühen Stadtbewohner lebten im Wesentlichen nach Landrecht, so im Ehegüter- und Erbrecht, im Strafrecht und im allgemeinen Verkehrsrecht. Ansätze für das spätere, rasch anwachsende bürgerliche Recht, das Stadtrecht, bildeten das privilegiale Kaufmannsrecht und die interlokalen Kaufmannsgewohnheiten, einzelne Sätze früher Marktprivilegien und die Rechte der Handwerkerorganisationen. Genauere Aufschlüsse über das Stadtrecht, das zunächst vielfach mündlich tradiert wurde, ergeben sich dann aus den Stadtrechtsprivilegien und Stadtrechtsaufzeichnungen seit dem 12./13. Jahrhundert. Das Stadtrecht²⁴² umfasst nun – dem Geltungsgrund nach – die vom Stadtherrn bei der Stadtgründung, der Stadterhebung oder schon bestehenden Städten und nachfolgend immer wieder gewährten privilegialen Freiheiten (libertates), Gerechtigkeiten (iustitiae) und Rechte (iura), die als urkundlich geschlossene Verleihungen vielerorts Handfesten genannt werden, ferner das vom Bürgerverband und seinem Ausschuss (Rat) selbst gesetzte, autonome Recht (Willkür, Satzung). Wo kein Schöffenkolleg konkurrierte und das Willkürrecht sowie die Jurisdiktion über die Willküren früh durch Fälschungen herausgestellt wurden wie in Lübeck und in der Folge in Städten mit lübischem Recht, bestand die Rechtsordnung neben dem stadtherrlichprivilegialen Stadtrecht hauptsächlich aus Willküren und Urteilen des Rats. Soziologisch betrachtet, handelt es sich um ein Recht, das von einer kaufmännischen Führungsschicht ausgeformt und fortgebildet wurde. Das häu g nur mündlich tradierte landrechtliche Herkommen wurde durch teilweise abweichendes städtisches

Privilegienrecht, vor allem aber durch städtisches Statutar- (Satzungs-) und Gewohnheitsrecht weitgehend verdrängt, anverwandelt oder ergänzt. In einem engeren Sinne ist Stadtrecht alles städtische Recht, das vom Landrecht abweicht oder fortgeltende landrechtliche Bestimmungen ergänzt. Einen Eindruck von der komplizierten Gemengelage eines Stadtrechts vermittelt etwa das Stadtrecht der mittelgroßen Reichsstadt Ravensburg. Es bestand im ausgehenden 13. Jahrhundert aus allgemeinem Reichsrecht, königlichen Privilegien, Ulmer Gewohnheitsrecht und Ulmer Ratssatzungen sowie aus Bestimmungen, die dem Recht der Reichsstadt Esslingen entlehnt waren, denn Ulm war 1274 von König Rudolf von Habsburg (1273‒1291) mit Esslinger Stadtrecht bewidmet worden, das sich allerdings nicht erhalten hat. König Adolf von Nassau (1292‒1298) hatte wiederum der oberschwäbischen Stadt Ravensburg 1296 das Recht der niederschwäbischen Reichsstadt Ulm verliehen, unmittelbar danach hatte sich Ravensburg eine Rechtsmitteilung der Stadt Ulm geben lassen. Das Wachstum der wirtschaftlich orierenden Reichsstadt in den ersten drei Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts ließ das Bedürfnis nach einer genaueren Regelung verschiedener Lebensbereiche entstehen und führte unter der Regie des Rates zu zahlreichen, nunmehr lokalen Satzungen, die vom Stadtschreiber in den Jahren 1326–1335 schriftlich xiert wurden und immer neue Zusätze erhielten. Als die Mutterrechtsstadt Ulm 1376 mit dem Roten Buch eine Neuredaktion ihres Satzungsrechts vornahm, ließ sich Ravensburg einen Auszug aus diesem Buch von 39 Artikeln anfertigen und ergänzte damit das Ravensburger Stadtrecht.²⁴³

242 Ius civitatis, ius civile, burgrecht. Weichbild (wiecbelde) meint das Stadtrecht, den räumlichen Geltungsbereich des Stadtrechts und die städtische oder stadtähnliche Siedlung. Zum Stadtrecht siehe H. P, Die deutsche Stadt, S. 332 ff. und vor allem die Arbeiten von W. E und K. K. Zusammenfassend auch K. K, Deutsche Rechtsgeschichte 1, S. 237–251, 275–291; K. K/A. C/K. N- S, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, S. 59 ff. (mit Quellenbeispielen); G. D, Die Rechtsgeschichte der Stadt, S. 600–625. 243 K. O. M (Bearb.), Oberschwäbische Stadtrechte, Bd. II: Ravensburg, S. 4–8 (Einleitung). Zum weiteren Austausch zwischen Städten hinsichtlich Verfassung, Recht und gesetzlichen Regelungen im Sinne der Policey siehe 4.3.7.

Das Stadtrecht 173

2.4.1 Stadtherrliche Privilegien Unter »Freiheit« (libertas) ist nicht nur die vom Stadtherrn in Form eines Privilegs eingeräumte Befreiung von sonst geltendem objektivem Recht oder von entgegenstehenden Befugnissen anderer zu verstehen, sondern oft zugleich in positiver Wendung die aus der Freiheit hergeleitete Berechtigung (›Gerechtigkeit‹, ›Gerechtsame‹, iustitia) des Befreiten, »ein vom allgemeinen abweichendes Recht zu setzen oder Rechte auszuüben, vor denen die Berechtigungen anderer weichen müssen.« Ferner kann ›Gerechtigkeit‹ (iustitia) »nicht nur die Berechtigung zur Rechtsetzung und Rechtsausübung bedeuten, sondern auch deren Erzeugnisse, das gesetzte objektive Recht: Die Stadt hat die Gerechtigkeit, ein solches Recht (ius) zu haben«. Im Gegensatz zu modernen Rechtsbegriffen haben die genannten Termini jedoch keine absolute, objektiv festgelegte Bedeutung; sie werden häug synonym oder zur Sicherheit, damit das Gemeinte auch tatsächlich ausgedrückt wird, gehäuft und im Kern tautologisch verwendet.²⁴⁴ Der Stadtherr verlieh einzelne Privilegien oder ganze Komplexe und bestätigte die vorhandenen Privilegien oder pauschal das Recht der Bürgerschaft, ihre Rechte (iura), guten Gebräuche (mores) und guten Gewohnheiten (consuetudines), wie Kaiser Friedrich II. der Stadt Lübeck 1226. Sofern Privilegien nicht nur angeblich oder tatsächlich bestehendes Recht sicherten, stellten sie ein rechtlich-politisches Programm dar, das in der Zukunft realisiert werden musste. Zu den ältesten überlieferten stadtherrlichen Privilegien gehört das Privileg, das der Lütticher Bischof Dietwein den Bürgern (burgenses) von Huy an der Maas 1066 erteilte. Große und feierliche Privilegien des Stadtherrn in Form von Handfesten gaben der Stadt einen Grundbestand an notwendigen Rechten und rechtlichen Regelungen verschiedenster Art für das Zusammenleben der Bewohner. Hinzu kamen verschiedentlich gesondert königliche Rechte (Regalien) wie Markt, Zoll, Zollfreiheit oder Zollvergünstigung, Münze, Strom-

hoheit, Straßen- und Geleitrecht oder das Befestigungsrecht, ferner Gerichtsstandsprivilegien, Befugnisse und inhaltliche Regelungen hinsichtlich Rechtsetzung und Rechtsprechung sowie das Recht der Steuererhebung und der eigenständigen Finanzverwaltung. Es handelte sich um Rechte, die eine Entfaltung des wirtschaftlichen Lebens und eine Weiterentwicklung kommunaler Rechte und Befugnisse sowie der Herrschaft und Regierung des Rats ermöglichten. Die grundlegenden Regalien wurden königlichen Städten unmittelbar verliehen oder gelangten über den damit vom König ausgestatteten fürstlichen Stadtherrn weiter an die Stadt. Früh schon nahmen die stadtherrlichen Rechtsverleihungen auch Rechtssätze auf, die von der Stadtgemeinde selbst gesetzt waren, sodass spätere Handfesten in der Form des Privilegs auch inhaltlich autonomes Stadtrecht der Recht setzenden Gemeinde oder des Rats enthielten, dem der Stadtherr seine Zustimmung erteilte oder dessen privilegiale Bestätigung mit Wirkung einer Befestigung des Rechts von der Stadt erwünscht war. Es bereitet deshalb gewisse Schwierigkeiten, nachträglich privilegiales Recht und autonomes Recht mit dem jeweils unterschiedlichen Geltungsgrund voneinander zu trennen. Der Rat behandelte die wertvollen, in feierlicher Form ausgestellten und sorgsam aufbewahrten Privilegien der Stadt häu g als Arkanum. Opponierende bürgerschaftliche Kreise vermuteten deshalb, dass sie bürgerliche Freiheitsrechte enthielten, die ihnen vorenthalten wurden, und forderten vor allem in der frühen Neuzeit ihre Offenlegung, die, wenn sie gewährt wurde, die Erwartungen jedoch in der Regel enttäuschte. 2.4.1.1 Städtepolitik und Privilegienerteilung Ein Gradmesser für die Städtepolitik von königlichen oder fürstlichen Stadtherrn ist die Einussnahme, die der Stadtherr, hier am Beispiel des Königs als des höchsten Privilegien-

244 Siehe (mit den angeführten Zitaten) W. E, Lübisches Recht, S. 135–37.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

gebers, durch die Erteilung von Stadtrechtsurkunden und Privilegien, die personenrechtliche und wirtschaftliche Freiheits- und Sonderrechte, ferner Regelungen von Fragen des Prozessrechts, des Besitz-, Erb- und Familienrechts, des Strafrechts und des Friedens- und Ordnungsrechts umfassten, auf die Stadtentwicklung nahm. Vielfach bestätigten sie überwiegend lediglich ältere Privilegien, die Vorgänger gewährt hatten. Neue Privilegien für bestehende Städte gingen zu einem ganz überwiegenden Teil nicht auf eine Initiative des Königs zurück; sie wurden vielmehr formell und inhaltlich von den Bürgern und dem Rat in der Form von Supplikationen (Suppliken) veranlasst.²⁴⁵ Diese artikulierten in Supplikationen ihre Bitten, der König gewährte sie in der inhaltlich und – was die erforderliche Verklausulierung anlangt – formell gewünschten oder in abgeänderter Form oder lehnte sie ab. Daraus wurde im Falle des Erfolgs dann je nach Begehr ein königliches Privileg als Rechtsgewährung und Gnadenerweis, ein Reskript als Entscheidung in einer Rechtssache oder ein Mandat mit einem Gebot oder Verbot an mitbetroffene Dritte. Um von Kaiser Friedrich II. das Privileg von 1226 zu erlangen, mussten Abgesandte der Stadt Lübeck von der Ostseeküste bis nach dem fernen Borgo San Donnino (heute Fidenza) reisen. Für eine nüchterne Beurteilung der königlichen Städtepolitik und Rechtsgestaltung sind zunächst quantitative Befunde aufschlussreich.²⁴⁶ Wenn wir die von den Städtegründungen her dynamische Zeit Friedrichs II. ins Augenmerk nehmen, so sind 71 Urkunden verschiedener Art erhalten, die für Städte und ihre Bürger im deutschen Reichsteil bestimmt sind. Der Empfängerkreis ist auf 35 verschie-

dene Städte beschränkt; darunter be nden sich zwölf Bischofsstädte, jeweils acht Reichslandund Pfalzstädte, vier Städte auf stau schem Allod und drei Städte anderer Herren. An der Spitze der Empfänger steht Worms mit acht Urkunden, gefolgt von Straßburg und Lübeck mit je fünf, Aachen, Köln und Speyer mit je vier, Oppenheim und Regensburg mit je drei Urkunden, während acht Städte nachweislich jeweils zwei erhielten und für 18 Städte nur jeweils eine Urkunde ermittelt werden konnte. Unter den 71 Urkunden be nden sich nur neun umfangreiche Stadtrechtsprivilegien, die für Aachen (1215), Goslar (1219), Annweiler (1219), Nürnberg (1219), Molsheim (1220), Pfullendorf (1220), Lübeck (1226), Regensburg (1230) und Wien (1237) ausgestellt wurden. Die villa Annweiler erhielt das Recht der Stadt Speyer, zugleich wurden die alten Rechte und Freiheiten bestätigt. Im Privileg für die ältere königliche Gründung Goslar werden die älteren, von Friedrichs Vorgängern gewährten Freiheiten und Rechte, die von einigen Stadtbewohnern verändert und missbräuchlich verwendet worden seien, erneuert, bestätigt und dabei aus verstreuten Rechtsaufzeichnungen (rescripta) sorgfältig zu einer Einheit zusammengefasst. Als die Stadt Bern 1218 an das Reich el, bestätigte Friedrich II. uneingeschränkt die großzügigen Stadtfreiheiten der Zähringer, ohne der Stadt eigene Rechtsvorstellungen aufzudrängen. Das Nürnberger Privileg Friedrichs II. gibt sich als Bestätigung älterer Rechtsverleihungen und will darüber hinaus die naturgegebenen wirtschaftlichen Standortnachteile der Stadt ausgleichen. Fünfzehn Städte erhielten lediglich die älteren Privilegien mit ihren Normenkatalogen, die Vorgänger oder Bischöfe und Fürsten erteilt

245 In mündlichen und in den meist schriftlichen vorgebrachten Suppliken (Petitionen) appellierten die Supplikanten (Petenten) an die Huld, Gnade und Gunst des Kaisers, Papstes, Landesherrn oder an die Obrigkeit. Dies geschah in Form einer mit Bekundungen der Untertänigkeit und Demut vorgebrachten Bitte (petitio), dem Wortsinn von Supplikation nach eine » ehende Bitte«, die einen Gnadenerweis oder die Beseitigung einer »Beschwer« (gravamen) zum Gegenstand hatte. Wenn die Supplikation nicht nur eingereicht, sondern dem Herrscher in einer Audienz unmittelbar übergeben wurde, erfolgte dies je nach Stand des Supplikanten und des Herrschaftsverhältnisses kniend und körpersprachlich unter ostentativem Händeringen. Stadtbewohner und Streitparteien in der Stadt konnten sich mit Supplikationen an den Rat wenden. Siehe dazu E. I, Recht, Verfassung und Politik (4.4), S. 210–216, 245, passim; ., Funktionen und Leistungen gelehrter Juristen (4.4), S. 304–306, ., Art. »Gravamen« (5). 246 M. B, Rechtssetzung; E. I, La cittá.

Das Stadtrecht 175

hatten, transumiert und bestätigt. Zu den verliehenen und bestätigten Stadtrechtsprivilegien kommen weitere königliche Urkunden mit eng begrenzten Rechtsinhalten hinzu wie die Einrichtung von Messen, der Schutz für Marktbesucher oder die Wiederaufnahme in die königliche Gnade. Dort, wo die Staufer selbst unmittelbar Stadtherren waren, gewährten sie im Allgemeinen einige günstige wirtschaftliche Bedingungen und personenrechtliche Freiheiten, aber keine politischen Selbstbestimmungsrechte. 2.4.1.2 Große Privilegien Friedrichs II. Die großen Privilegien Friedrichs II. für (1) Nürnberg (1219), (2) Lübeck (1226) und (3) Regensburg (1230) zeigen in ihrer Bündelung heterogener Einzelpunkte die für die Städte zu einem bestimmten Zeitpunkt erstrebten Regelungen. Die Urkunden weisen umfangreiche Zeugenreihen auf. (1) Das Privileg für Nürnberg von 1219²⁴⁷ mit seinen 18 Artikeln enthält nur wenige grundsätzliche Bestimmungen wie die für die Kau eute wichtige Befreiung vom gerichtlichen Zweikampf im Reich, außerdem zur de nitiven Beendigung einer Strafsache durch den königlichen Schultheißen, ferner zu verschiedenen Formen des Besitzrechts, zum Leihegut, zur Pfändung oder das Verbot personenrechtlicher Selbstverpfändung für Nürnberger; insbesondere soll kein Kaufmann für einen anderen als lebendes Pfand eingesetzt werden können. Daneben wird im Sinne der wirtschaftlichen Förderung der Stadt in Einzelfallbestimmungen auf den Märkten Donauwörths und Nördlingens das Recht gewährt, mit Nürnberger Pfennigen Gold- und Silbermetall zu kaufen, zu wechseln sowie dort durch den Nürnberger Münzmeister Münzprägungen vorzunehmen. Ferner wird der Zoll an einer Zollstelle an der Donau xiert und im Streckenabschnitt zwischen Passau und Regensburg Zollfreiheit gewährt; hinzu kommt eine Zollvergünstigung im oberösterreichischen Aschach an der Donau. Zwei weitere

Artikel sind den Handelsabgaben der Nürnberger in Worms und Speyer gewidmet. Wenn ein Nürnberger in Worms am Fest des heiligen Johannes des Täufers ein Pfund Pfeffer und zwei Handschuhe zur symbolischen Ablösung entrichtet, müssen er und alle Nürnberger in diesem Jahr keine weiteren Abgaben entrichten; in Speyer und Nürnberg gilt wechselseitige Abgabenfreiheit. Damit wird der Zugang zum Handel am Mittel- und Oberrhein eröffnet. Kein Bürger braucht bei Abhaltung eines königlichen Hoftages in Nürnberg einen Zoll auf seine Verbrauchsgüter bezahlen. Vor allem wird den Bürgern das bereits von seinen Vorgängern gewährte Recht bestätigt, im Falle einer Steuererhebung durch den Herrn des Reiches die Steuer (steura) nicht als Einzelpersonen, sondern in Gemeinschaft (non particulatim sed in communi) nach ihrer individuellen Leistungsfähigkeit (pro posse) zu entrichten. Im Spätmittelalter wurde die Reichssteuer von der Stadt als jährliches Fixum von 2 000 Gulden erhoben. In dieser Befugnis, das Steuerkontingent in eigener Verantwortung auf die Bürger umzulegen, bestand ein wichtiger Ansatz für die Gemeinde- und Ratsbildung sowie für eine kommunale Finanzwirtschaft. (2) Die Lübecker Privilegien waren von großer Reichweite und Bedeutung, da sie an die Tochterstädte weitergegeben wurden. An dem Privileg für Lübeck von 1226²⁴⁸ mit seinen 16 Artikeln ist bemerkenswert, dass die Lübecker den Kaiser dazu veranlassen konnten, mit der ihnen zugestandenen Erweiterung des Stadtgebietes, der Übertragung der Münzprägung an die Stadt und der Befreiung vom Zoll zu Oldesloe zugunsten ihrer Stadt massiv in Rechte des Grafen von Schauenburg einzugreifen. Ansonsten geht es in dem Lübecker Privileg hauptsächlich um die Freiheit von der Geiselstellung zugunsten der Bindungswirkung des allgemeinen Treueides, um Zollfreiheiten, die Prägung kaiserlicher Münzen, wofür jährlich 60 Mark Silber an den Kaiser abzufüh-

247 B.-U. H, Quellen zur Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 37, S. 256–261. 248 Ebd., Nr. 39, S. 266–273.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

ren sind, die Befreiung von der Grundruhr im Reichsgebiet, die Freiheit von der indirekten Steuer (Ungeld) im Herzogtum Sachsen, um den freien Güterverkehr durch die angrenzenden Herrschaften von Fürsten und Herren sowie den durch Geleit gesicherten Handelsverkehr auf der näheren Wegstrecke zur Stadt. Die grundlegenden Freiheiten und Rechte der kommunalen Stadtregierung, die Institution des Rates und dessen Befugnis zur Rechtsetzung und Jurisdiktion über die eigenen Statuten, sind im Barbarossaprivileg von 1188 enthalten, das die Lübecker um 1225 von dem Domherrn Marold umarbeiten und durch diese Befugnisse erweitern ließen. Das inhaltlich und durch ein nachgemachtes Siegel gefälschte Privileg wurde 1226 anlässlich der Privilegierung der Stadt von Friedrich II. mit ewiger Geltung bestätigt. (3) Aus dem Privileg Friedrichs II. für Regensburg von 1230²⁴⁹ wird ersichtlich, dass neben dem herrschaftlichen Frieden eine geschworene bürgerliche Friedenseinung (pax iurata) bestand, die zeitlich befristet war und erneuert wurde, dass man aber immer noch mit Zeiten rechnete, zu denen es eine solche friedensrechtliche Schwurgemeinschaft nicht gab. Aus mehreren Artikeln geht hervor, dass die Bürger zur Erhaltung der Rechte der Stadt Steuerumlagen (collectae) und anderes statuierten, insbesondere baurechtliche Genehmigungen erteilten. Erfahrene Bürger sollten zusammen mit Münzmeistern des Herzogs und des Bischofs dreimal im Jahr die Münzprobationen vornehmen. Bereits älter ist die Befugnis der Bürger, einen ›Hansegrafen‹ zu wählen, der als Richter für auswärtige Handels- und Marktsachen fungierte. Außerdem ist hinsichtlich des Eindringens in das Haus eines Bürgers und der Aneignung einer Sache von der Voraussetzung eines Gerichtsurteils der Stadt (iudicium civitatis) und von einem Urteil der Bürger (sententia concivium) bei der Ausübung der herzoglichen Gerichtsbarkeit gegenüber Bürgern die Rede. Angesichts der Konstellation, dass es drei Stadtherren mit unterschiedlichen Herrschaftsrech-

ten gab, wahrte Friedrich II. bürgerliche Rechtspositionen, Besitzrechte und Interessen gegenüber herrschaftlichen Ansprüchen des Herzogs von Bayern und des Bischofs. Er hatte aber auch die Rechte der Kirche in der Stadt zu berücksichtigen, was durch einzelne Bestimmungen und generell durch eine salvatorische Klausel geschah. 2.4.1.3 Einzelne Privilegieninhalte Privilegiale Regelungen, welche den personenrechtlichen Status unfreier, vom Lande zugezogener oder in hofrechtlichen Verhältnissen lebender Stadtbewohner und die fortschreitende Rechtsgleichheit hinsichtlich der persönlichen Freiheit aller Bewohner in der Stadt betrafen, waren vor allem in rheinischen Bischofsstädten mit ihren vielen hofrechtlichen Verbänden in der Zeit von Heinrich V. (1106‒1125) bis Friedrich Barbarossa (1152‒1190), teilweise in Konkurrenz zwischen königlichen und bischö ichen Verfügungen, verschiedentlich getroffen, wenn auch noch nicht zu einem endgültigen Abschluss gebracht worden. Die in Privilegien Friedrichs II. enthaltenen Regelungen gewähren den Bewohnern pauschal eine neue, höhere Qualität der Freiheit, machen aber die künftige Aufnahme von Unfreien von der Zustimmung ihrer Herren abhängig (Pfullendorf 1220); sie entbinden von auswärtigen Diensten und von Abgaben Unfreier (Molsheim 1220) oder schließen eine Rückforderung durch den Herrn nach einem Jahr Stadtsässigkeit oder Bürgerrechtsbesitz aus (Annweiler 1219, Goslar 1219, Wien 1237). Das Privileg für Regensburg von 1230 unterscheidet ›Hörige‹, ›Zensuale‹ und ›Vogtleute‹ und erhebt die Steuerleistung für die Stadt oder für König und Bischof zum Kriterium für die Reduzierung von personenrechtlichen Abgaben und Dienstleistungen. König Heinrich (VII.) (1222‒1235) verzichtete 1232 anlässlich eines genannten Einzelfalls nunmehr grundsätzlich gegenüber den Städten Frankfurt, Wetzlar, Friedberg und Gelnhau-

249 B. D, Quellensammlung zur Frühgeschichte der deutschen Stadt (Einleitung), Nr. 140, S. 223–226.

Das Stadtrecht 177

sen auf die Ausübung des hofrechtlichen Ehezwangs. Zum ältesten Kernbestand früher stadtherrlicher Handfesten (Freiburg im Breisgau 1120) gehört das Kaufmannsrecht (ius mercatorum), das auf karolingisches Privilegienrecht zurückgeht und recht vielseitig war. Es gewährte den Kau euten den besonderen Schutz des Königs, Handels- und Zollfreiheit, bestätigte ihr Waffenrecht und befreite den Kaufmann, der sich auf Reisen nur schwer Eideshelfer besorgen konnte, im Prozess vom Zweikampf, ferner beim Transport der Waren zur See vom Strandrecht (ius naufragii, ius litorum, Grundruhr) der Küstenbewohner, d. h. des Rechts, sich bei Schiffbruch als herrenlos betrachtete Güter anzueignen, was auch im Landverkehr für den Achs- oder Radbruch von Frachtwagen auf Brücken und in Furten galt. In den Jahren 1220 und 1316 reichsrechtlich abgeschafft, war die Aneignung bei Grundruhr nunmehr Landfriedensbruch und Straßenraub. Kaufmannsrecht erstreckte sich ferner auf das Erbrecht und auf das Bodenrecht, für das meistens die freie Erbleihe, die ein weitgehendes Besitzrecht gewährt, maßgebend wurde. Diese verp ichtete zur Zinsleistung für die Bodenleihe, gewährte aber ein weitgehendes Besitzrecht. In gewissem Sinne internationale Kaufmannsbräuche waren Grundlage eines Austausch- und Verkehrsrechts. Bei den auf stadtherrlichem Grundbesitz erwachsenen Städten stammte das Grundbesitzrecht aus dem Eigen und Erbe (Allod) des Stadtherrn. Der Stadtherr gewährte den Gründungsstädten ein freiheitlich ausgestaltetes Grundbesitzrecht in der Form der freien, erblichen Leihe, d. h. der Grund und Boden konnte vom Beliehenen vererbt, belastet und veräußert werden. Zu zahlen war nur ein geringer Geldzins; es mussten aber keine sonstigen Abgaben oder Dienste geleistet werden. Dieser Zins (census arealis, Wort-, Weichbildzins) ist nicht etwa ein pachtähnliches Nutzungsentgelt, sondern ein symbolischer Anerkennungsbetrag (Rekognitionszins) für stadtherrliches Ei-

250 W. E, Lübisches Recht, S. 158 f.

gentum und zugleich wohl eine solucio, ein Lösegeld für die Befreiung von grundherrlichen Bindungen verfügungs- oder erbrechtlicher Art oder auch von der bisherigen (agrarischen) Nutzungsart.²⁵⁰ Der Zins konnte unmittelbar von jedem einzelnen Besitzer erhoben werden oder von der Stadt für alle Besitzer durch einen Pauschalbetrag bezahlt werden. Es gab auch Befreiungen von diesem Zins und die Grundstücksüberlassung zu Eigen sowie Abgabenfreiheit für die Stadt ur. Mit dem freien Bodenrecht hängt die Freizügigkeit der Bürger zusammen. Außerdem hatte der Stadtherr keinen Anteil am Nachlass des verstorbenen Bürgers. Hinsichtlich des erbenlosen Nachlasses wurden besondere Bestimmungen getroffen. Der Stadtherr verlieh Rechte der Gerichtsbarkeit und der Gebotsgewalt; er verlieh oder anerkannte die Befugnis zu autonomer Rechtsetzung durch Willküren oder durch Besserung vorhandenen Rechts (Barbarossaprivileg für Lübeck 1188/1226). Es ist nicht immer zu klären, ob es sich um eine konstitutive Rechtsverleihung oder lediglich um die Anerkennung und Bestätigung eines autogenen Rechts in der Form von Willkürrecht (Satzung) oder bereits etablierter Rechtsgewohnheit des bürgerlichen Schwurverbandes handelte. Der Stadt wurde auch das Recht verliehen, Zünfte einzurichten (Innungsrecht). Ferner erhielten die Bürger die Freiheit vom Landgerichtszwang; sie durften nur vor ihrem heimischen Richter verklagt und nicht außerhalb der Stadt vor Gericht gezogen werden. In mehr oder weniger großem Umfang ndet sich kasuistisches Bußen- und Strafrecht. Von großer Bedeutung waren für die eigenständige städtische Gerichtsbarkeit – der Reichsstädte und Freien Städte – das königliche Privileg de non evocando, mit dem die höhere Gewalt auf Eingriffe in Verfahren städtischer Gerichte verzichtete, und das Privileg de non appellando, das die Appellation an ein höheres Gericht, insbesondere das königliche Hofund das spätere Kammergericht, untersagte, je-

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

doch meist nur bis zu einem bestimmten Streitwert. Befreit wurden die Kau eute und die Bürger vom gerichtlichen Zweikampf (duellum) und von der Prozessgefahr (captio, vare). Die Prozessgefahr bezieht sich auf den langatmigen Formalismus, der aus dem archaischen Prozessritus stammt. Qui cadit a syllaba, cadit a causa. Ein einziger Missgriff in der Wortwahl, sofort bemerkt von den gegnerischen Auditoren, ein Versprechen oder ein Missgriff in der Gebärde wie eine falsche Fingerhaltung konnten den Verlust der ganzen Sache nach sich ziehen. Die Befreiung von der Prozessgefahr, die angesichts landschaftlich unterschiedlicher Gebräuche unberechenbar war, besaß wie die Befreiung vom gerichtlichen Zweikampf vor allem für die Kau eute große Bedeutung, die oft vor fremden Gerichten ihr Recht suchen und verteidigen mussten.²⁵¹ Hinzu kommt das Verbot personenrechtlicher Selbstpfändung insbesondere von Kau euten oder die Freiheit von Geiselstellung. Gegenstand von Privilegien waren auch rationale Beweisregeln oder die Beschleunigung des Prozesses des Kaufmanns und Gastes etwa durch die Zulassung zum Eineid. Die Bürger erhielten das Recht auf Kauf und Verkauf. Befreit wurden die Bürger von der Haftung von außerhalb der Stadt gemachten Schulden anderer, oder die Stadt wurde von der Haftung für einzelne Bürger befreit. In Einzelfällen wurde Städten die Freiheit der Nichtverpfändung gewährt. Der Stadtherr befreite von Zoll und Ungeld und gelegentlich vom Kriegsdienst, der dann auf die Stadtverteidigung beschränkt war. Vielfach wurden Städte trotz der Privilegierung zu Kriegsdiensten für den Stadtherrn herangezogen. Durch Privileg erlangten Städte vielfach die Befestigungs- und Wehrhoheit, allgemein die Steuerhoheit durch die Ablösung der persönlichen Vogteiabgaben durch eine kollektiv auf der Stadt ruhende Steuer, die durch eigenes Rechtsgebot aufgebracht wurde, oder es wurde unmittelbar das Recht zur Abgabenerhebung für Gemeinschaftszwecke eingeräumt.

251 Ebd., S. 150 f.

An einzelnen Rechten wurden der Stadt das Recht der Gebietsnutzung, der Stadterweiterung, Rechte über Wege, Brücken, Mühlen, das Marktrecht (ius fori) in Verbindung mit Kaufmannsrecht, Stapel- und Bannmeilenrecht, die Aufsicht und Gerichtsbarkeit hinsichtlich des Maß- und Gewichtswesens, Markt- und Durchfuhrzölle, das Münzprüfungsrecht oder das Münzrecht selbst gewährt. Eine Besonderheit ist das Recht des Geldwechsels (cambium), das der Stadtherr sonst als ein für ihn einträgliches Monopol an die Münzer vergab, die dadurch privilegierte Wechselbanken unterhielten. Es beruht auf dem Münzbann, kraft dessen der Stadtherr den Gebrauch fremden Geldes untersagen und den Geldwechsel an die Münzstätte binden konnte. Einigen Städten wurde das Geleitrecht, ein Regal, verliehen. Der König verlieh Rechte über die stadtsässigen Juden und Messeprivilegien. In den stadtherrlichen Privilegien wurden die skalischen Einnahmen und Gerichtsgefälle in genauen Proportionen zwischen dem Stadtherrn, dem stadtherrlichen Richter, dem Rat oder der Bürgergemeinde aufgeteilt. Die bei Verletzung der Privilegien durch Dritte fälligen Strafgelder sollten nach späteren Regelungen zwischen dem (königlichen) Privilegiengeber und der privilegierten Stadt hälftig aufgeteilt werden. Einzelne Privilegien und Privilegienbestätigungen (Kon rmationen) beim Herrschaftsantritt eines neuen Königs kosteten, wie es vor allem für das 14. und 15. Jahrhundert genauer im Falle königlicher Privilegien nachzuweisen ist, über die Gesandtschaftskosten hinaus vielfach Geld für die Erfüllung des Privilegienwunsches; über die Höhe des Betrags wurde vielfach zäh verhandelt. Dabei forderte der König einen an der Bedeutung des verliehenen Rechts orientierten Preis, Hofpersonal Zuwendungen für die Förderung und das Einbringen der Bitte um Erteilung (Supplikation) in den Geschäftsgang (Sollicitation) und Hilfsdienste, die Kanzlei Taxen für den materiellen Wert der Urkunde (Pergament, Siegel) und für die Aus-

Das Stadtrecht 179

stellung.²⁵² In einigen Fällen (Aachen 1166, Lübeck 1226, Nürnberg 1460) wurden Fälschungen oder Urkunden mit gefälschten Bestandteilen, für die Herrscher wie Karl der Große oder Friedrich Barbarossa herhalten mussten, zur Bestätigung vorgelegt. Häu g wurde die Urkunde inhaltlich und stilistisch von den städtischen Kanzleien – eventuell mit Hilfe von Juristen – bereits entworfen und mit den rechtserheblichen Formeln versehen und ging dann kaum verändert im Namen des Herrschers aus. Materiell rechtsgestaltend war in diesen Fällen nicht der Stadtherr, sondern der Rat selbst. 2.4.1.4 Typen der Privilegienmotivation Freiheiten, Gerechtigkeiten und Rechte wurden vom Stadtherrn in der Urkundenform des Privilegs und unter der materiellrechtlichen Denkform der Leihe eingeräumt. Zwei Grundtypen der formellen königlichen Privilegienmotivation, die freilich auch kombiniert werden, kommen vor: Einmal ist es der Gunsterweis aus Freigiebigkeit (liberalitas) und Wohltätigkeit (benignitas) angesichts unablässiger Dienstleistungen (obsequia) für König und Reich und zur Entschädigung (remuneratio) im Dienst gemachter Aufwendungen und erlittener Schäden – Lübeck 1226, Regensburg 1230. Im andern Falle ist die Privilegierung ein völlig einseitiger Gnadenakt, mit dem der König aus reiner Wohltätigkeit (mera benignitate) ohne vorherige Gegenleistung strukturelle naturräumliche und wirtschaftliche Standortnachteile (defectus) – Nürnberg 1219 bis ins 15. Jahrhundert – oder Schäden durch Schicksalsschläge (Pfullendorf 1220) wie etwa Stadtbrände und Kriege ausgleichen will. Die Privilegierung richtete sich an die Korporation Stadt, den Bürgerverband und den Rat, nachdem sich dieser herausgebildet hatte. Der Bürgerverband war dadurch eine Privilegsgenossenschaft und als solche in die ständisch-privilegiale Welt mit ihren unterschiedlichen Berechtigungen und Rechtsstellungen eingeordnet. Jede Stadt verfügte über gewisse Grundprivilegien; insgesamt brachte aber

252 Siehe 3.4.4.

jede Stadt im Laufe der Zeit einen individuellen Privilegienbestand zusammen, der um 1500 im Wesentlichen abgeschlossen war. Dies geschah häu g in Schüben, wenn einzelne Stadtherren der Stadt besonders geneigt waren, durch den Einsatz gelegentlich sehr erheblicher Geldmittel oder durch sonstige materielle oder politische Leistungen für den Stadtherrn und meistens auf dem Wege der Supplikation (Petition). Frankfurt am Main etwa erhielt im 14. Jahrhundert von Ludwig dem Bayern mindestens 13 Privilegien, von Karl IV. mindestens 33. 2.4.1.5 Verschiedene Privilegiengeber Köln als Bischofsstadt, dann Freie Stadt und schließlich reichsunmittelbare Stadt besaß Privilegien Papst Innocenz III. von 1205 (de non evocando), der zugleich alle der Stadt von Kaisern und Fürsten erteilten Privilegien bestätigte, und Papst Innocenz IV. von 1252, ferner des bischö ichen Stadtherrn seit 1180 und der Könige. Die Privilegierung der Stadt durch die Erzbischöfe gelangte an ihr Ende, als Köln ein hohes Maß an Selbständigkeit und Selbstbestimmung erreicht hatte, sodass sich Erzbischof und Stadt 1275 und später (1287, 1302) nur noch gegenseitig die Fortdauer ihrer alten Rechte zusicherten. Königliche Privilegienvergaben und Privilegienbestätigungen begannen mit König Heinrich IV. (1106) zugunsten des Erzbischofs mit seiner Stadt und erstmals unmittelbar zugunsten der Stadt mit König Philipp von Schwaben (1207). Sie setzten sich, da Privilegien vom neuen Herrscher bestätigt werden mussten und den Bedürfnissen der Stadt entsprechend ständig vermehrt wurden, bis zu Friedrich III. (1475, 1493) und Maximilian I. (1486, 1501) fort. Karl IV. erteilte Köln einerseits Privilegien, nahm aber auch einzelne, die Jahrmärkte, das Befestigungsrecht und öffentliche Einnahmen betrafen, um dem Erzbischof entgegenzukommen, zurück, doch blieb dies ohne Folgen. Kaiser Friedrich III. bestätigte 1475 in seinem Generalprivileg 13 inserierte Privilegien seiner Vorgänger seit König Otto IV. (1212)

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

und zusammenfassend der Stadt recht, freiheit, ere, beseß, eigenthumb, außnemung, gewonheit, burckbann, ba[n]myle, gericht, zolle, jarmerckt, weggelt, geleitt, muntz, aufkomunge, asseyen, assisen, zynnß, rent und all annder ir zugehorung, gut, nutz und allerley zufelle. Die hohe Privilegierung führte zu einer semantischen Erweiterung in der Art, dass sich die einzelnen Freiheiten im Zusammenhang mit der Emanzipation vom Stadtherrn zu einer Vorstellung eines besonderen politischen Freiheitsstatus verdichteten. Zu den am reichsten privilegierten Städten gehörte neben Köln und Frankfurt vor allem Nürnberg, das in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts infolge kontinuierlich enger Beziehungen zum Königtum noch einmal zahlreiche Privilegien erwarb. In Generalprivilegien zusammengefasst, wurde der Privilegienstand in der Regel vom jeweils nachfolgenden Stadtherrn bestätigt. Die städtischen Privilegien erlauben in früheren Zeiten häu g noch keinen unmittelbaren Rückschluss auf die Stadtherrschaft, da es mehrere Privilegiengeber je nach stadtherrlichen Anteilen sowie nach Qualität und Herkunft der Privilegien gibt. Ein Beispiel dafür ist Neustadt (Pfalz), gegründet als eine Art Großburg noch vor 1220 durch den Pfalzgrafen am Rhein zur Absicherung der pfalzgrä ichen Territorialbildung auf dem Grund eines ehemaligen, allodi zierten Reichslehens des Speyrer Bistums, das auf die Pfalzgrafen übergegangen war. Nur noch die Vorstadt blieb im 13. Jahrhundert Reichslehen im Besitz des Speyrer Bischofs. Pfalzgraf Ludwig II. erlangte 1275 von seinem Schwiegervater König Rudolf von Habsburg für seine landesherrliche Stadt ein Privileg, durch das sie alle Rechte und Freiheiten der Stadt Speyer als Grundlage ihres objektiven prozessualen und materiellen Rechts erhielt. Offensichtlich konnte nur der König das Recht der nichtpfälzischen freien Stadt Speyer verleihen und die komplizierten Verhältnisse zwischen König, Pfalzgraf und Bischof ordnen. Ludwig der Bayer gewähr-

te dann 1346 den Bürgern den ausschließlichen Gerichtsstand vor dem Schultheißen der Stadt, und Karl IV. erweiterte den von ihm bestätigten bisherigen Privilegienbestand um Steuer-, Zollund Marktprivilegien. Bis zu König Matthias im Jahre 1613 wurden die aufgelaufenen Königsprivilegien in Zusammenfassungen stets erneuert und bestätigt, ohne dass die Stadt damit zur Reichsstadt geworden wäre. Von den Pfalzgrafen erhielt die Stadt seit 1303 Schutzprivilegien verschiedener Art, Unveräußerlichkeits- und Unverpfändbarkeitsprivilegien und ihre Bestätigung, die Freiheit von Ungeld und die Gewährleistung der königlichen Privilegien, doch versuchten die Pfalzgrafen bereits nach der Mitte des 15. Jahrhunderts, alle pfälzischen Städte gleich zu behandeln, und beschnitten im frühen 16. Jahrhundert die Rechte der Stadt.²⁵³ 2.4.1.6 Die Geltungsdauer und Sicherung städtischer Privilegien Der Vorgänger konnte den Nachfolger zwar entsprechend der Rechtsnatur des Privilegs durch seine Privilegiengewährung grundsätzlich nicht binden (par in parem non habet imperium), doch sollten Gründe vorliegen, wenn die Kon rmation versagt oder Privilegien widerrufen wurden. Andererseits erlangten Reichsstädte von ihrem königlichen Stadtherrn etwa seit Karl IV., in besonderer Weise seit Friedrich III. (1440‒1493) nach 1460 Privilegien, die auf ewige Zeit, unwiderru ich und mit Bindungswirkung für ihre Nachfolger verliehen wurden.²⁵⁴ Lübeck war es aber bereits 1226 gelungen, Teile des gefälschten Barbarossaprivilegs mit einer Bindungswirkung hinsichtlich der Nachfolger zu versehen. Der Rat der Stadt Nürnberg sicherte seine weltlichen Privilegien gegen Nichtbeachtung oder Verletzung durch kirchliche oder weltliche Mächte über den äußeren Rechtsbereich hinaus durch die Verp ichtung der Gewissen, indem er 1475 seine großen Gerichtsprivilegien Karls IV. und Friedrichs III. durch Papst Sixtus IV. bestätigen ließ und es 1478 erreichte, dass derselbe Papst

253 P. S , Verfassungsentwicklung der Stadt Neustadt an der Weinstraße, S. 7–20. Zu Köln siehe 3.1–3.5. 254 E. I, Recht, Verfassung und Politik (4.4), S. 109–122.

Das Stadtrecht 181

sämtliche Rechte und Freiheiten der Stadt für ewige Zeiten in den Schutz des Heiligen Stuhles nahm.²⁵⁵ Bei Verlust der stadtherrlichen Huld aufgrund schwerer Treue- und Gehorsamsverletzungen seitens der Stadt konnten allerdings Privilegien entzogen werden; sie mussten dann von der Stadt zurückgekauft werden. Stadtherren stellten allerdings aus nanziellen Interessen die Fortgeltung der von ihnen gewährten Befreiungen von Zoll- und Steuer (Bede) infrage. Der Rat hatte Sorge zu tragen, dass die städtischen Privilegien nicht durch Sorglosigkeit und Nachlässigkeit des Stadtregiments und der Bürger verloren gingen; die Bürgerschaft musste dem Rat bei der Verteidigung der Privilegien mit ›Gut und Blut‹ beistehen. Räte verschiedener Städte wie Elbing, Köln, Wesel und Nürnberg nahmen zur Verteidigung ihrer Privilegien nachweislich seit 1300 auch die Hilfe gelehrter Juristen – einschließlich französischer und italienischer Rechtsgelehrter – in Anspruch. Diese interpretierten die städtische Privilegien, die der dauerhaften Korporation anhafteten und deshalb realer (privilegium reale) und nicht personaler Art waren, auf der Grundlage des römischkanonischen Rechts und stellten ihnen auch Argumente zur rechtlichen Sicherung der Privilegien gegen Widerruf oder Nichterneuerung bereit sowie zu ihrer Auslegung, die weit oder weitestgehend zugunsten des Privilegierten erfolgen solle.²⁵⁶ 2.4.2 Kommunale Rechtsetzung: Willkürund Satzungsrecht Das autonome Stadtrecht ist rationales Willkürrecht (Kore), Einungsrecht (Einung, conventio), Statutarrecht (statutum), rechtsgeschäftlich begründete Satzung (Satzung, Gesetz). Auch der

Ausdruck ›Ordnung‹ (ordinatio) ist dafür gebräuchlich.²⁵⁷ Willkür (willekore) heißt im mittelalterlichen Sprachgebrauch gerade nicht eigenmächtiges, gesetzloses Verhalten, sondern das Gegenteil, die Normsetzung. Ganze Stadtrechtsbücher wurden Willküren genannt (Danzig), wichtige Teile des Bestands an Willküren, die der Bürgerschaft regelmäßig eingeschärft wurden, heißen Burspraken und Morgensprachen. Die Willkür und Satzung ist ein durch Übereinkunft, durch Willensakt bewusst geschaffenes Recht, dessen Geltungsgrund nicht auf Gewohnheit beruht, mag es auch inhaltlich vielfach noch auf Gewohnheitsrecht und Landrecht zurückgreifen. Älteres Landfriedens-, Stammes- und Landrecht galten in der Stadt zunächst noch fort, aber nur soweit Verhältnisse in der Stadt nicht wesentlich anders zu beurteilen und zu ordnen waren als unter Adel und Landbevölkerung. Nach »germanischer« Auffassung ist das Recht nicht gesetzt, nicht gemacht, sondern es stellt die unwandelbare, ewig gültige Ordnung des Lebens und der Dinge dar. Es ist seit unvordenklicher Zeit vorhanden und wird im Einzelfall durch Urteil, durch Weistum, d. h. durch gerichtsförmige Rechtsweisung einer dazu geeigneten und befugten Versammlung, festgestellt und gefunden. Das gefundene Recht kann gebessert, angepasst, der Idee nach jedoch nicht gemacht werden. Rechtsbesserung war die Form, mit der man auch in einer stationären Ordnung unvermeidlichen Veränderungen sozialer und rechtlicher Verhältnisse Rechnung trug, »die im Volksrecht lange geübte Manier, einen in Wirklichkeit neuen Rechtssatz nur als Verbesserung und Berichtigung eines vermeintlich oder angeblich irrig oder falsch überlieferten alten auszugeben, das nicht mehr Zeitgemäße als Missverständnis des alten Schreibers

255 J. K, Die Stadt Nürnberg in ihren Beziehungen zur Römischen Kurie (5), S. 23. 256 E. I, Recht, Verfassung und Politik, S. 118. 257 Weitere Ausdrücke sind iustitium, mandatum, arbitrium, decretum. W. E, Die Willkür; ., Geschichte der Gesetzgebung; E. I, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht. 258 W. E, Über die rechtsschöpferische Leistung, S. 243. In den Rechtsreformationen seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert tritt jedoch deutlich der Gedanke hervor, dass das Recht entsprechend dem Wandel der Verhältnisse geändert werden müsse.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

anzusehen und das neue als berichtigte Fassung des alten herzustellen«.²⁵⁸ Recht bezieht sich aber vor allem auf den grundlegenden Rechtsbereich von Eigen und Erbe, Familie, Gericht und Prozessrecht. Hingegen kann sich eine Gemeinschaft ohne Ermächtigung von dritter Seite rechtsgeschäftlich auf bestimmte Verhaltensregeln einigen, die sie künftig beachten will, und sich für den Fall der Nichtbeachtung und der Regelverletzung festgesetzten Bußen und Strafen unterwerfen. Eine derartige Übereinkunft wird Willkür, Einung oder Satzung genannt. Das kommunale Willkür- und Satzungsrecht ist seiner Entstehung und seinem Grundgedanken nach Friedens- und Ordnungsrecht, das zur Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und eines gedeihlichen sozialen Zusammenlebens in der Enge der dicht besiedelten Stadt und in einer vergleichsweise stark differenzierten, ständisch segregierten und daher kon ikt- und störungsanfälligen Gesellschaft Verhalten, ein Tun und Lassen, normiert und Abweichungen sanktioniert. Dabei schützt der fürsorgliche Rat durch Gesetze die Bürger auch vor sich selbst, vor eigenem schädlichem Fehlverhalten, indem er beurteilt, was den Einzelnen nützlich ist und ihrer Existenzsicherung dient. Das städtische Willkürrecht war ein Recht neuen Stils, das die alte Vorstellung umkehrte, wonach ein Recht umso stärker und besser sei, als je älter es erwiesen werde. Es war im strengen Sinne positives Gesetzesrecht mit zeitlich befristeter oder unbefristeter (ewiger) Geltung; es konnte ohne weiteres durch nachfolgende Verwillkürung aufgehoben, ersetzt oder verändert werden. Hier galt der moderne, aber bereits von der mittelalterlichen Rechtswissenschaft formu-

lierte Grundsatz, wonach das spätere Gesetz das frühere aufhebt – lex posterior derogat legi priori. Satzungsrecht, zu dem im Übrigen auch die mittelalterlichen Landfrieden gehören, ist eine Wurzel des modernen Gesetzesrechts.²⁵⁹ Durch die städtische Gesetzgebung – die Statutengebung, die Deklaration, Besserung, Veränderung oder Abschaffung von Normen nach dem Willen des Rates (und der Bürger)²⁶⁰ – wurden die bestehenden Rechtsverhältnisse und die Rechtsbildung selbst mobilisiert, und mit ihr drang eine neue Vorstellung vom Wesen des Rechts als einer Verhaltensnorm durch, die willkürlichwillentlich und rational gestaltbar war.²⁶¹ Städtische Statuten waren zunächst in lateinischer Sprache abgefasst, etwa seit dem letzten Drittel des 13. Jahrhunderts begann sich allmählich die Redaktion in deutscher Sprache durchzusetzen. Das kommunale Gesetzesrecht gründet auf den Wertvorstellungen und politischen Maximen von Frieden und Ruhe, gemeinem Nutzen, Notdurft (necessitas) und Ehre der Stadt, aber auch von Gleichheit und Gerechtigkeit. Die städtischen Statuten sind zugleich das wichtigste Mittel zur Verwirklichung und Gewährleistung des gemeinen Nutzens und der sozialen Kohärenz, indem sie dazu dienen, dass Reich und Arm, wie es heißt, in Frieden und Eintracht zusammenleben können. Mit der Existenz von Badehäusern, um ein Beispiel für den praktischen Regelungsbedarf zu geben, war eben auch die Frage der Haftung des Meisters und des Personals für abhandengekommene Gegenstände von Besuchern verbunden und wurde, durch bestimmte Vorfälle veranlasst, Gegenstand einer Satzung.²⁶² Das Satzungsrecht dient der Sicherheit von Bewohnern und Stadt durch die Herstellung eines waffenlosen Gemeinschaftsfrie-

259 W. E, Über die rechtsschöpferische Leistung, S. 243. 260 F. A, Das Stadtrecht von München, S. 144, Art. 371. Vgl. den älteren, nicht in das Stadtrechtsbuch von 1347 aufgenommenen Rechtssatz: Es habent die purger und die gesworne [des Rates] gewalt über alle (ir) saetze, swenne si guot tunchet (uf iren ait), daz si di saetze vercherent oder abnement, oder niwe saetze machent; und swenne si daz tünent, daz süln si dem richter chunt tun, und sol der richter danach richten. Ebd., S. 278, VII, Art. 39. 261 W. E, Grundlegung, S. 15; ., Über die rechtsschöpferische Leistung, S. 241–258; G. D, Bürgerrecht, S. 75–78, 104–110, 265–267. 262 H. P (Hg.), Das Bamberger Stadtrecht, §§ 374 f. In Straßburg gab es beim Hilfspersonal neben der Reiberin eine spezielle Hüterin für abgegebene Kleidung (Ordnung der Straßburger Baderbruderschaft von 1477). P. K, Frauen im Mittelalter I (8.1), S. 305.

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dens und eine gezielte Gefahrenabwehr im dichten innerstädtischen Leben und Verkehr, der Sicherstellung der Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern und der Förderung und gerechten Regulierung der wirtschaftlichen Verkehrsinteressen der Bürger und Einwohner. Dieses Ordnungsrecht bedarf im Sinne des gemeinen Nutzens der stetigen, an der Zweckmäßigkeit und den Erfordernissen des gesellschaftlichen Friedens orientierten Anpassung an neue Entwicklungen, Sachverhalte und Bedürfnisse.²⁶³ Der Bereich, den diese Normen erfassen, wird seit der Mitte des 15. Jahrhunderts in Nürnberg und in anderen Städten mit den Begriffen policey oder regiment und pollicey bezeichnet, womit der vom Stadtregiment mit Hilfe seiner »polizeilichen« Regelungen und seiner Verwaltungstätigkeit und Rechtsprechung herzustellende Ordnungszustand gemeint ist. Policey ist von Politia, der guten Verfassung und Ordnung, abgeleitet. Die darauf bezogenen Gesetze heißen seit dem Übergang zur frühen Neuzeit ›Policey-Gesetze‹, wobei man dafür in der Forschung gelegentlich die alte Schreibweise Policey beibehält, um eine Verwechslung mit dem modernen, begrifflich verengten Begriff der »Polizei« zu vermeiden. Die städtischen Satzungen sind Normen, die häu g in eng gefasster Kasuistik einzelne sehr lebensnahe, neu auftretende oder nunmehr präventiv regelungsbedürftige Sachverhalte als gesetzliche Tatbestände fassen und sich nicht selten auch im Sinne heutiger »Maßnahmegesetze« an eine nur sehr begrenzte Allgemeinheit wenden. Sie sind ferner, wie selbst verfassungsrechtliche Bestimmungen der Kölner Eidbücher, ursprünglich in der Geltungsdauer befristet, werden rasch und in großer Anzahl produziert und im Hinblick auf ihre Zweckmäßigkeit entsprechend den sich im Verlauf der Zeit wandelnden Umständen und Sachen nach Gutbedünken des Rats jederzeit verändert, gebessert, gemehrt oder gemindert (derogiert), oder gänzlich abgeschafft (abrogiert). Gelegentlich

geschieht eine Überprüfung bei Antritt des neuen Rats oder es gibt dafür wie in Straßburg eine vom Rat getrennte Kommission. Die Normen stehen unter diesem Änderungs- und Geltungsvorbehalt oder werden, wenn erforderlich, vom Rat auch näher rechtsverbindlich erläutert (deklariert). Satzungen können aber auch ausdrücklich mit dauerhafter, ewiger Geltung erlassen werden. Bei einer Veränderung bestehender Rechtsverhältnisse nimmt der städtische Gesetzgeber genau genommen, aber lediglich auf die Stadt bezogen, vollen ganzen Gewalt (Ulm) oder eine plena et perfecta potestas (Hamburg) – durchaus wie Papst und Kaiser – eine ›Vollgewalt‹ (plenitudo potestatis) in Anspruch. Bei zu häugen Änderungen in kurzer Zeit allerdings ist das Willkür- und Satzungsrecht, wie zeitgenössische Gesetzgebungslehren mahnen, einer gewissen Gefahr des Autoritätsverlusts ausgesetzt. Es ist zudem kein Recht im eigentlichen Sinne, weil es Verhalten im Hinblick auf Frieden und Ordnung normiert und dem Gemeinwohl (utilitas publica) zuzuordnen ist, nicht aber Ansprüche regelt, die sich auf den privatrechtlichen Bereich (utilitas singulorum) von Eigen, Lehen, Erbe und Familie beziehen und die streitig ursprünglich und eigentlich vor dem Stadtgericht in traditionalem, später auch in einem durch römisches und kanonisches Recht rationalisierten Rechtsgang verhandelt werden. Es ist jedoch zu beobachten, dass der gesetzgebende Rat zunehmend auch auf den Bereich von Eigen, Erbe, ehelichem Güterrecht und auf das Prozessrecht ausgriff. Eine Begründung und Rechtfertigung dafür wurde in der Wahrung des innerstädtischen Friedens und in der Förderung des gemeinen Nutzens gesehen, die als überragende Verbandsziele partiell auch Privatrecht unter den Gesichtspunkten der öffentlichen Ordnung, des Rechtsfriedens und seiner prozessualen und exekutorischen Erfordernisse sowie der übergeordneten Belange verfügbar machten, ferner in sachlich unabweisbaren Re-

263 E. I, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht, S. 77–94; ., e Notion of the Common Good (2.5.3), S. 133–143.

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gelungsbedürfnissen für spezi sch stadtgesellschaftliche Lebenssachverhalte und Verkehrserfordernisse, für die unter gewandelten Umständen das alte Recht keine oder keine adäquaten Lösungen mehr bereithielt. Beispiele für die Verschränkung von Privatrecht und öffentlichen Belangen im Zeichen des gemeinen Nutzens gibt etwa die kompilatorische Windsheimer Rechtsreformation von 1521, die wie die Wormser Reformation einen lehrbuchhaften Charakter besitzt. Es diene dem gemeinen Nutzen, wenn der Einzelne von seinem Vermögen nicht schlechten Gebrauch mache und es verschwende, heißt es dort. Im Familienrecht wird die weibliche Aussteuer (dos, matrimonium, ehsteuer), die Mitgift als das erbliche Eigengut oder patrimonium der Frau, das ihr eine gewisse materielle Sicherheit gewährt, den bevölkerungspolitischständischen Intentionen des römischen Rechts (Justinian) mit der Begünstigung der Mitgift (favor dotis) entsprechend letztlich aus Gründen der prekären allgemeinen städtischen Demogra e als rechtlich hoch privilegiert bezeichnet. Denn es sei gut und notwendig, die Frauen auszusteuern und ihre Aussteuer sorgfältig zu erhalten, damit sie in den Ehestand gelangten und eheliche Kinder bekämen, sodass dadurch die Städte und Flecken zur Mehrung des gemeinen Nutzens mit Bevölkerung aufgefüllt würden. Testamente und Legate, die der städtischen Ordnung und dem gemeinen Nutzen widersprechen, sind nichtig. Legate zugunsten der Stadt hingegen, welche den Wegen, Toren, Brücken, Gräben, dem P aster oder auf andere Weise der Erhaltung des gemeinen Nutzens gewidmet werden, sind stets rechtsgültig und dürfen nicht angefochten werden.²⁶⁴ In Rechtsgutachten wird ausgeführt, dass Ehe (matrimonium), Mitgift (dos) und das Testament eine causa favorabilis, eine rechtlich zu begünstigende Sache seien, und es im Sinne des innergesellschaft-

lich – nicht obrigkeitlich- skalisch de nierten – gemeinen Nutzens liege, dass der letzte Wille eines jeden, der den Rechtsvorschriften gemäß errichtet wurde, eingehalten werde.²⁶⁵ Eingriffe des Rats in Privatrecht in größerem Stil erfolgten unter der legitimatorischen Vorstellung der Rechtsreformation. Weitere Erklärungszusammenhänge ergeben sich aus der verfassungsgeschichtlich überragenden Position, die inzwischen der Rat und das Ratsgericht als Appellationsinstanz über dem kommunalisierte Stadtgericht erlangt hat, und aus dem Anspruch des Rates, gegenüber dem Stadtgericht das Stadtrecht zu interpretieren und Lücken auszufüllen. Der Rat erlangte außerdem eine Zivilgerichtsbarkeit in Sachen, die wegen Rechtsunklarheit an ihn geschoben wurden. Die Scheidung von Willkür und eigentlichem Recht im Sinne der Rechtsgewohnheit wurde zwar durch die Gesetzgebung des Rats und die Geltungsdauer der Normen überspielt, blieb aber im Bewusstsein der Zeitgenossen verankert. Das zeigt rechtsgeschichtlich höchst aufschlussreich im ausgehenden 15. Jahrhundert ein Streit um das Erbrecht von Enkeln in Ulm, in dem eine Partei verlangte, dass das Stadtgericht das am Gericht herkömmliche Recht und nicht die nur friedensrechtlich-polizeiliche, Nützlichkeitserwägungen folgende erbrechtliche Ratssatzung für die Entscheidungs ndung heranziehe.²⁶⁶ In der Stadt bildet die Schwurgenossenschaft der Bürger die Grundlage für die Unterwerfung eines jeden einzelnen unter selbstgesetztes Recht. Der Neubürger tritt ihr durch Leistung des Bürgereides, der ihn mit Leib und Gut bindet, bei und unterwirft sich dem in ihr schon geltenden Recht. Verwillkürung bedeutet die »durch den Bürgereid begründete und gesicherte Selbstunterwerfung unter das von den Bürgern rational gesetzte, vereinbarte, gekorene Recht«²⁶⁷, das sei-

264 H. H (Bearb.), Die Rechtsreformation des Stadtschreibers Johann Greffinger, S. 100–101, 146, 125, 164. 265 E. I, »Liberale« Juristen? (4.4), S. 283, 310 f. 266 Es wurden auch vil gesatzt umb gutz frides und nutzes willen furgenommen, doch nicht darumb, das sie recht sein sollten. E. I, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht, S. 246. 267 W. E, Über die rechtsschöpferische Leistung, S. 242 f.

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nem Wesen nach Vertrag ist und seinen Geltungsgrund in eben dieser Verwillkürung der bürgerlichen Schwurgenossenschaft hat. Dieses selbst gesetzte Recht bindet grundsätzlich nur die an der Verwillkürung Beteiligten und die, denen die Verwillkürung als eine eigene zugerechnet wird. In größeren Gemeinschaften bereitet es Schwierigkeiten, alle Genossen unmittelbar an der Normgebung zu beteiligen. Die einfachen Leute waren indessen schon immer dem gefolgt, was die sozial und politisch Herausragenden, die Besten, Reichsten, Mächtigsten, Weisesten oder wie sie sonst noch genannt wurden, unter sich vereinbart hatten und notfalls auch bei anderen durch Zwang durchsetzen konnten. Solche Gruppen, die Repräsentationsrechte »appropriierten« (Max Weber), dann gewählte Repräsentationskörper und Ausschüsse der Genossen stellten die Normen auf. »Die Bindekraft ihrer Verwillkürung für die Gesamtheit – deren notwendige Mitwirkung also – beruhte auf deren nachträglichen, bei der Verkündung vorgenommenen Zustimmung oder auf der schon mit der Wahl und Ermächtigung zur Rechtsetzung verbundenen Unterwerfung.«²⁶⁸ Der Bürgerverband wiederholte den Bürgereid, der zu Treue und Gehorsam verp ichtete, bei jeder neuen, meist jährlich erfolgenden Ratssetzung. Er ermächtigte dadurch das Stadtregiment zur Normgebung und unterwarf sich in seinem Gehorsamseid im Vorhinein den neuen Satzungen. Die Stadtrechtsbücher wurden dabei öffentlich verlesen und von der Bürgerschaft beschworen. In Städten des sächsisch-magdeburgischen Rechtskreises oder solchen mit Zunftverfassung erfolgte die Gesetzgebung durch Bürgermeister und Kleinen Rat aber vielfach noch – je nach Bedeutung und Akzeptanzbedürftigkeit – unter tatsächlicher oder wenigstens nomineller Einbeziehung des Stadtrichters (Schultheiß), von Ratsfreunden, d. h. Angehörigen des derzeit pausierenden Teils des Rats und ehemalige Ratsherrn, ferner von bürgerschaftlichen Kollegien, von Großem Rat, von Versamm-

lungen der Zunftgemeinde oder der Gesamtbürgerschaft. Ein besonderer Fall der städtischen Rechtsbildung im Sinne einer Rechtstradition sind die in Hamburg 1410 einsetzenden vertraglichen Vergleiche zwischen dem Rat und der von einem Ausschuss vertretenen Bürgerschaft, die so genannten Rezesse. Ähnliche Vereinbarungen gab es freilich auch in anderen Städten. Die Hamburger Rezesse sind in ihren Regelungsinhalten teilweise den früher aufgekommenen Burspraken ähnlich, wurden jedoch in besonders feierlicher Form ausgefertigt und stellen, wenngleich sie vom Rat verkündet wurden, vor allem Vereinbarungen dar, die wie 1410 (20 Artikel), 1458 (33 Artikel) und 1483 (70 Artikel) offene Kon ikte zwischen Rat und Bürgerschaft beilegen. Über polizeiliche Regelungen in Wirtschaftsfragen hinaus stärkten die Rezesse, von denen der von 1410 bereits 1417 auf Druck benachbarter Hansestädte hin aufgehoben wurde, die persönliche Rechtssicherheit der Bürger gegenüber dem Rat, erneuerten den bereits vor 1410 zugesicherten Schutz vor willkürlicher Verhaftung, verankerten die Bürgerbeteiligung bei Steuerfragen und kriegerischen Unternehmen, legten eine Senkung der Vermögensteuer (Schoss) fest, untersagten nicht vom Rat einberufene Bürgerversammlungen, gewährten aber ein Vortragsrecht von Vertretern der Kirchspiele in wichtigen Angelegenheiten der Stadt. Das Satzungsrecht hatte zugleich Wirkungen auf die Verfassungsbildung der Stadt. Da es zunächst nur unter Bürgern galt und sich die an der Verwillkürung Beteiligten in einem bedingten Selbsturteil im Voraus die Rechtsfolgen setzten für den Fall, dass sie ihr Versprechen, das gekorene Recht einzuhalten, nicht erfüllten, brauchte im Falle einer Verletzung die verwillkürte Rechtsfolge nur festgestellt und vollstreckt zu werden. Es handelte sich nicht um ein Urteil im Sinne der Rechts ndung und Rechtsweisung, d. h. um eine Aussage über die Rechtslage, sondern um Gesetzesanwendung. Nicht der vom Stadtherrn eingesetzte, von Hau-

268 W. E, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, S. 22 f.

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se aus landrechtliche Richter, sondern der Rat als genossenschaftliches Organ ist in Bezug auf das städtische Willkürrecht die richtende und vollstreckende Instanz. Dies wiederholt sich im Rahmen kleinerer Gemeinschaften innerhalb der Stadt wie den Zünften, in denen dem Zunftvorstand diese Funktion zufällt. Deshalb überwachte auch das Sühnegericht der Bürger oder des Rates das von der bürgerlichen Schwurgenossenschaft gesetzte Friedensrecht. Die Fähigkeit und Befugnis der Stadt und des Rats, gewillkürtes Recht zu schaffen und bei Verletzungen des Willkürrechts die verwirkte Strafe festzustellen und beizutreiben, wurde in Lübeck früher als in anderen Städten xiert, und zwar in dem Privileg Herzog Heinrichs des Löwen von etwa 1163 mit dem für das gemeinlübische Recht zentralen und in Variationen auftauchenden Satz, wonach der Rat über die Verletzung der von ihm erlassenen städtischen Willküren richtet: Omnia civitatis decreta [kore] consules iudicabunt – So we dat to breket, dat de Ratman settet, dat scholen de ratman richten. Das 1225 in Lübeck gefälschte und 1226 von Friedrich II. bestätigte Barbarossaprivileg von angeblich 1188, in welches das Heinrichsprivileg inseriert ist, enthält ferner die Anerkennung der Rechtsbesserung durch die Stadt vorbehaltlich der Rechte des Vogts (iudex). Das Recht der Willkürsetzung wurde der Stadt, nach Auffassung Wilhelm Ebels, dem Wesen der Willkür als beschworener Bürgereinung entsprechend nicht erst durch Privileg verliehen, sondern vorausgesetzt, und zwar ohne gegenständliche Beschränkung. Alle Städte mit lübischem Recht haben, soweit nicht ausnahmsweise vom Landesherrn etwas anderes verordnet war, seit jeher uneingeschränktes Willkürrecht besessen, dennoch wurde es mehreren Städten privilegial bestätigt. Einschränkungen, vor allem für preußische Städte, wurden insoweit gemacht, dass der Landesherr nicht geschädigt werden durfte, dass die Willkürfreiheit an die Zustimmung des Landes-

herrn oder an die Mitwirkung des Stadtrichters gebunden wurde, dessen stadtherrliche (landrechtliche) Gerichtsbarkeit grundsätzlich nicht gemindert werden durfte. Verschiedene Reichsund Landstädte von Hamburg bis Basel wiederum erwirkten vom ausgehenden 13. Jahrhundert bis um 1500, manche nachdem der Rat längst Satzungen erlassen hatte, die privilegiale Verleihung des Satzungsrechts, die auf Widerruf oder auf Dauer entweder allgemein die Befugnis zur Statutengebung einräumte oder das Recht gewährte, bestimmte Statuten, etwa skalische oder polizeiliche, zu erlassen. Dabei behielt sich der Privilegiengeber gelegentlich die eigenen Rechte in der Stadt oder Bestätigungsrechte vor. Die kommunale Rechtsetzung konnte originär, autogen und herkömmlich sein oder auf herrscherlicher Privilegierung beruhen. Für die Städte, namentlich für landsässige Städte mittlerer Größe, stellte sich in Kon iktsituationen die Frage, ob ihre bisher autonom erfolgte Gesetzgebung wirklich rechtens war oder ob es zur Rechtsetzung nicht doch der besonderen Erlaubnis und Ermächtigung durch den Stadtherrn bedurfte und die Gesetze durch ihn bestätigt werden mussten. In Nürnberg machten 1479 die Intervention Kaiser Friedrichs III. und sein Gebot, ein prozessrechtliches Statut, das die dortigen Juden benachteiligte, aus dem Statutenbuch wieder zu streichen, eine grundsätzliche juristische Klärung des städtischen Gesetzgebungsrechts erforderlich.²⁶⁹ Angesichts offener, hinsichtlich neuartiger städtischer Rechtsentwicklungen noch nicht gewohnheitsrechtlich eingelebter und nur rudimentär positivierter Verfassungsverhältnisse war es ohnehin kaum rechtlich zu entscheiden, ob der städtischen Gemeinde das auf der Grundlage der bürgerlichen Schwurgenossenschaft autogen in Anspruch genommene Recht zu autonomer, zunächst auf das Friedens- und Polizeirecht beschränkte Rechtsetzung ohne wei-

269 E. I, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht, S. 52–76. 270 W. E, Die Willkür, S 48 ff.; ., Geschichte der Gesetzgebung, S. 20–22; ., Lübisches Recht, S. 168–181; W. J, Städtische Statuten, S. 275; P. S , Willkür, Statuten und Landesherrschaft; R. H, Basler Rechtsleben, S. 17–20.

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teres zukam²⁷⁰ oder ob eine derartige Befugnis der förmlichen Konzession des Stadtherrn bedurfte, der die Jurisdiktions- und umfassende Herrschaftsgewalt besaß. Der Stadtherr stellte seine Konzession der Gesetzgebungsbefugnis und der städtischen Jurisdiktion auf der Grundlage städtischer Satzungen gelegentlich als reinen und rechtlich ungebundenen herrscherlichen Willensakt dar und behielt sich seine erblichen Rechte in der Stadt vor. Die Grafen von Holstein gewähren den Konsuln und der Stadt Hamburg 1292 das in der Volkssprache kore genannte Recht, nach ihrem Gutbedünken (beneplacitum) Statuten und Edikte zu ihrem und der Stadt Nutzen und Notwendigkeit zu verkünden und sie zu widerrufen, sooft und wann immer es erforderlich sein wird. Ferner übertragen sie ihnen aus reinem und freiem Willen die Befugnis, ihre Rechte und Erkenntnisse (sententiae) beschränkt auf die Stadt im Rathaus gemäß der schriftlichen Aufzeichnung des Stadtbuchs frei anzuwenden und zu vollziehen, doch unter der Bedingung, dass weder Arm noch Reich oder jemandem, der es von ihrer Seite verlangt, der behauptet und vermutet, ihm sei weniger gerecht geurteilt oder Unrecht zugefügt worden, auf seine Bitte hin ein Auszug (copia) aus dem Buch verweigert wird. Darüber hinaus erteilen sie die volle und vollkommene Rechtsmacht (plena et perfecta potestas) in neu auftauchenden Angelegenheiten, über die es im Buch noch keine rechtliche Erkenntnis gibt, durch ge-

meinsamen Konsens und Beschluss der Konsuln neues Recht zu schaffen und zu statuieren, wie es ihr Wille verlangt. Dieses neue Recht soll in das Buch eingetragen und danach von ihnen und ihren Nachkommen als beständiges Recht (ius perpetuum) erachtet werden. Voraussetzung ist freilich, dass dieses Recht oder Statut in keiner Weise die Steuern und Gerechtigkeiten, welche die Grafen gegenwärtig und künftig kraft Erbrechts in der Stadt haben und haben werden, beeinträchtigt und an cht.²⁷¹ In anderen Fällen stellte der Stadtherr die Rati kation und Approbation der städtischen Statuten durch seinen Konsens in Aussicht und bezeichnete den Widerstand gegen derartige Ratsverordnungen sogar als gegen seine eigene Person gerichtet.²⁷² Auf jeden Fall bilden die schwurgenossenschaftlich-autogene, die geduldete oder die rechtsförmlich zugestandene Etablierung eines Rates und die Schaffung autonomen Satzungsrechtes durch den Rat zur Wahrung des städtischen Friedens einen unmittelbaren inneren Zusammenhang. Dieser innere Zusammenhang, der im Falle einer friedensrechtlichen Schwureinung ein Höchstmaß an Geschlossenheit erlangt, wird durch stadtherrliche Konsens- und Vorbehaltsrechte nicht grundsätzlich aufgelöst, doch modi ziert die herrschaftliche Komponente entwicklungsgeschichtlich in unterschiedlicher Weise die bürgerschaftliche Autonomie. Wie etwa in Straßburg, Worms, Köln und Basel im

271 Urkunden zur Geschichte des Städtewesens I (Einleitung), Nr. 79, S. 80. 272 Graf Otto von Anhalt für den Rat von Nordhausen 1273; W. S (Bearb.), Quellen zur älteren Geschichte des Städtewesens (Einleitung), Nr. 82 a, S. 99. Markgraf Friedrich von Meißen traf 1294 mit den Bürgern der Bergstadt Freiberg die Übereinkunft, wonach die Geschworenen, der Rat, die Befugnis haben sollten, Recht zu setzen. Und was der Rat dem Markgrafen, seiner Stadt und seinem Bergwerk zum Nutzen statuierte und worin er mit dem Markgrafen übereinkam, dem sollte niemand widersprechen. Ebd., Nr. 77 c, S. 91. Der Stadt Mühlhausen i. . bestätigte Karl IV. 1349 die Befugnis, Steuergesetze zu erlassen. Urkunden zur Geschichte des Städtewesens I (Einleitung), Nr. 83, S. 84. Karl IV. bestätigte 1377 die Privilegien Dortmunds und erteilte Bürgermeister und Rat die freie und umfassende Befugnis (liberam et omnimodam facultatem), lobenswerte Gewohnheiten und Statuten der Stadt zur Ehre des Reichs und des Ortes sowie zum Nutzen der Einwohner, zu erneuern, vermehren, bessern und gemäß ihrer Erkenntnis nach der Beschaffenheit der Zeiten zum Besseren zu wenden. Urkunden zur Geschichte des Städtewesens 1351–1475 (Einleitung), Nr. 165. S. 172. Weitere Beispiele für das Recht der Statutengebung aus dem territorialherrschaftlichen niederrheinischen Raum: W. J, Städtische Statuten, S. 275–277. Die Ordnung König Maximilians I. von 1510 für Konstanz, die weitgehend auf einer Urkunde König Sigmunds von 1430 beruht, legt lapidar fest, ›was mit der Mehrheit des kleinen oder großen Rates gesetzt, verordnet und beschlossen ist, dabei soll es bleiben‹. Eine Urkunde Kaiser Karls V. von 1541 räumt dem Kleinen Rat die Vollmacht ein, gemeinsam mit dem Großen Rat die Verfassungsordnung Maximilians in einzelnen Punkten zu verändern und zu verbessern. O. F (Bearb.), Die Statutensammlung, S. 42*–44*.

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Zusammenhang mit der Etablierung eines Rates autogene und autonome Positionen zeitweilig zurückgenommen wurden, so besaßen ausweislich des Richtebriefes die Bürger der Stadt Konstanz zunächst das Recht, mit Willen des Königs und der Bürger Satzungen zum Schutz des Friedens zu errichten, ohne dass von einer Zustimmung des stadtherrlichen Bischofs die Rede war. Doch wurden später die Gesetze unter den Vorbehalt gestellt, dass sie dem König und dem Bischof nicht schädlich waren, und es wurde die Zustimmung des Bischofs auch im Hinblick auf später zu fassende Gesetze hervorgehoben bis hin zu einer feierlichen Abmachung zwischen Bischof und Bürgern über die beiderseitige konsensuelle Anerkennung der Ratsgesetze.²⁷³ Die kleine Stadt Burg an der Elbe hingegen emp ng eine umfassende Ordnung in der Form einer Vielzahl einzelner statutarischer Bestimmungen 1474 einseitig aus der Hand des Erzbischofs Johann von Magdeburg.²⁷⁴ Von städtischer Autonomie ist dabei keine Rede, vielmehr von der herrscherlichen P icht des durch die göttliche Vorsehung zu fürstlicher und erzbischö icher Würde und zur Regierung des Volkes erhobenen Erzbischofs, die Untertanen des Magdeburger Stifts in Frieden, Eintracht, in rechtschaffenen Stand und in gute Ordnung zu versetzen. In der Begründung der Statutengebung bekundet der Erzbischof, es sei an ihn herangetragen worden, dass Bürgermeister, Räte und die Allgemeinheit der Bürger der Stadt nicht hinreichend mit den notwendigen Gesetzen, Willküren und Ordnungen versehen seien. Der Erzbischof hilft dem durch seine Ordnung ab, damit Bürger und Einwohner in Frieden und Eintracht bleiben, dass sie durch die Regierung in rechtschaffenem Stand gehalten und in die Lage versetzt werden, dem Erzbischof und dem Stift umso förderlicher Steuern, Hilfe

und Dienste zu leisten. Der Erzbischof behält sich und seinen Nachfolgern auch die Rechtsmacht vor, die bestehenden Statuten zu ändern und neue zu setzen. Nur in dem Zusammenhang mit der Bestimmung, dass dies mit dem Rat des Stiftskapitels, der erzbischö ichen Räte und auch der ältesten und verständigsten Ratsherren und Bürger geschehen solle, wird einer rudimentären Mitwirkung von Seiten der Stadt gedacht. Der Rat hat bei seiner Bestätigung zu schwören, die vom Erzbischof erlassenen Satzungen und Ordnungen in voller Geltungskraft einzuhalten und durchzusetzen und in keiner Weise ihnen zuwiderzuhandeln. Dies war die Situation einer von geistlicher Herrschaft geprägten Kleinstadt, vergleichbar aber mit derjenigen der viel größeren Bischofsstadt Würzburg. Auch dort ordnete der bischö iche Stadtherr kraft seiner Herrschaftsgewalt von Gottes Gnaden, als rechter natürlicher Landesfürst und Erbherr, aus fürstlichem Wesen und fürstlichen Tugenden die weltliche Lebenswelt der Bürger und Laien und die polizeiliche Ordnung (pollicey) der Stadt²⁷⁵, und zwar mit Hilfe des Oberen Rates, der aus zwei Kanonikern der beiden Stifte, zwei bischö ichen rittermäßige Ministerialen des Domkapitels, sechs Bürgern und zwölf bischö ichen Räten gebildet wurde. Die wichtigsten Statuten wurden alljährlich auf der Herbsteinung dem Volk (populus) Würzburgs verkündet. Von dem Niederen Rat, dem bürgerschaftlichen Rat, sind hingegen nur ganz wenige Satzungen überliefert. Dessen Schwäche rührt daher, dass nach der Auseinandersetzung mit dem Bischof und der Schlacht von Bergtheim von 1400, die für die Bürger mit einer Niederlage endete, im völligen Gegensatz zu den emanzipierten rheinischen Bischofsstädten, den Freien Städten, die selbständige Handlungsfähigkeit des Rates der Stadt äußerst eingeschränkt war und die Zünfte keine politisch

273 K. B, Die Entwicklung des Konstanzer Stadtrechts, in: O. F (Bearb.), Das Rote Buch, S. 4, 8–10. 274 Urkunden zur Geschichte des Städtewesens 1351–1475 (Einleitung), S. 211–218, Nr. 190. 275 Zum Folgenden siehe H. H (Hg.), Würzburger Polizeisätze, Nr. 372, S. 193 (1487), Nr. 379, S. 202 f. (1490) – Nr. 10, S. 43 [1341/42] – Nr. 106, S. 71–75 – Nrr. 9, 107, 299a – Nr. 317a, S. 142 (1474) – Nr. 349, S. 170 f. [1475], Nr. 373, S. 195 (1487), Nr. 381 (1490), S. 207 (1490) – Nr. 349, S. 170 f. [1475], Nr. 373, S. 195 (1487), Nr. 381 (1490), S. 207 (1490).

Das Stadtrecht 189

berechtigte, sondern nur gewerbliche Zusammenschlüsse darstellten, Ämter wie das Weinschröteramt unmittelbar dem Bischof zugehörten. Die bürgerliche Beteiligung am Oberen Rat war später so geregelt, dass von den zugehörigen sechs bürgerlichen Ratsmitgliedern drei dem Niederen Rat entnommen wurden, drei weitere aus den Zünften der Häcker (Weingärtner), Bäcker und Metzger als Vertretern der Gemeinde. Vielfältig sind indessen die Formen, unter denen die bischö ichen Statuten zustande kamen. Der Bischof reagierte auf Supplikationen der Bürger oder von Zünften, genehmigte teilweise ausformulierte Supplikationen als Statuten, gestattete auch Zünften, mit Wissen, Willen und Erlaubnis des Bischof sowie mit Rat und Erlaubnis des Oberrates Ordnungen zu machen, während es ferner vorkam, dass der Oberrat eigenständig ohne Erwähnung des Bischofs mit Rat der Meister der Zunft eine Ordnung beschloss und erließ. Schließlich heißt es in einer Satzung von 1475, die den Metzlern (Metzger) geschworene Schätzer für die Preistaxierung von Fleisch verordnet und das Schlachten von Tieren unter dem Alter von vier Wochen verbietet, so sei es von Bischof, Kapitel, Oberem Rat und Niederem Rat und der ganzen Gemeinde um des gemeinen Nutzens willen beratschlagt und beschlossen worden.²⁷⁶ Die stadtherrliche Konzession und Sanktionierung von städtischen Statuten, die in den meisten Fällen auf einer Bitte, einer Supplikation oder Petition, von Bürgerschaft oder Rat beruhen dürfte, konnte aber nur eine Etappe auf dem Wege zu sehr weitgehender gemeindlicher und ratsherrlicher Autonomie sein oder nur nachträglich legitimieren, was die Städte ohnehin schon praktizierten. Die Kompetenz, das soziale, wirtschaftliche und in bestimmtem

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Umfang auch das politische Leben, das Gemeinschaftsleben insbesondere unter den Gesichtspunkten von Sicherheit und Versorgung in der Stadt durch Statuten zu regeln, war dem Vorgang der Gemeindebildung und der Etablierung einer Ratsherrschaft gedanklich inhärent und wurde den Städten niemals grundsätzlich bestritten. Wo das Recht zur Statutengebung zum Gegenstand von Kon ikten und zu Verhandlungen mit dem Stadtherrn kam, ging es um die Festlegung von Zuständigkeiten, die Abgrenzung der von der Bürgerschaft oder dem Rat zu regelnden Materien und jenen Bereichen, die der Entscheidung des Stadtherrn vorbehalten waren²⁷⁷, während für die Städte mit lübischem Recht ein uneingeschränktes Willkürungsrecht (Satzungsrecht) galt, das freilich die Schädigung des Landesherrn ausschloss.²⁷⁸ Als jedoch das in Frauenburg residierende Domkapitel des Bistums Ermland und der Schultheiß Johannes von Leysen 1353 die Stadt Allenstein nach dem Recht der Stadt Kulm gründeten, bestimmten sie, dass die Ratsmannen (consules) und Einwohner der Stadt, ohne sie ersucht und ihre Zustimmung eingeholt zu haben, keine Satzungen oder Gewohnheiten, die Willkür genannt werden, erlassen, keine Ratswahlen vornehmen oder sonst etwas, das für die Stadt beschwerlich oder von Gewicht war, machen durften.²⁷⁹ Dem Bürgermeister und dem Rat Basels erteilte Kaiser Friedrich III. im Jahre 1488 ein Privileg, das ihnen neben anderem die Befugnis einräumt, in der Stadt und in ihren Gebieten hinfort ewig alles und jegliches, das sie bei ihren Amtseiden für richtig erachten, das für die ganzen Stadt von Nutzen, notwendig und gut und dem Reich und den Rechten weder zuwider noch schädlich ist, zu ordnen, zu statuieren und

Ebd., Nr. 350, S. 173 [1475]; so auch hinsichtlich der Weinakzise, Nr. 121, S. 78. W. J, Städtische Statuten, S. 275 f., 278. W. E, Lübisches Recht, S. 169 f. B.-U. H (Hg.), Quellen zur Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 56, S. 372 f. R. T (Bearb.), Urkundenbuch der Stadt Basel, Basel 1905, Nr. 73, S. 59 f. Schultheiß, Bürgermeister, Rat und Bürger der Stadt Solothurn hatten bereits 1365 von Kaiser Karl IV. mit Bezug auf ein Privileg für Bern als Gnade und mit Geltung bis auf Widerruf die Befugnis zur Rechtsetzung und Rechtsänderung erhalten. C. S (Hg.), Die Rechtsquellen der Stadt Solothurn von den Anfängen bis 1434, Aarau 1949, Nr. 69 f., S. 141.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

wieder aufzuheben, ohne dass sie jemand daran hindern oder ihnen widersprechen darf.²⁸⁰ Der Basler Rat hatte sich jedoch lediglich bestätigen lassen, was er schon seit Jahrhunderten zuvor getan hatte, nämlich Satzungen und Ordnungen auszuarbeiten und zu erlassen. »Die Kompetenz dazu war ihm weder ausdrücklich eingeräumt noch prinzipiell bestritten worden. Sie erschien offenbar als gegeben und keiner Ableitung bedürftig, sofern er mit seiner Satzungstätigkeit nicht in fremde Hoheitsrechte eingriff.«²⁸¹ Um ihre Befugnisse zu klären und juristisch abzusichern, holten Städte wie Wesel, Duisburg oder Nürnberg nachweislich seit der Mitte des 15. Jahrhunderts zur Frage ihres Gesetzgebungsrechts bei gelehrten Juristen Rechtsgutachten (Konsilien) ein. Diese gründeten auf der Grundlage des römisch-kanonischen Rechts und in Übernahme italienischer Doktrinen vor allem des Bartolus und seines Schülers Baldus aus der Mitte des 14. Jahrhunderts die autonome Rechtsetzung durch Statuten auf folgende Voraussetzungen und Tatbestände: (1) Die Jurisdiktionsgewalt in der vom Stadtherrn verliehenen höchsten Form der Hoch- und Niedergerichtsbarkeit, des merum et mixtum imperium, aus der die Gesetzgebung abgeleitet wird; (2) seit unvordenklicher Zeit unangefochten ausgeübte, als Rechtsbesitz ersessene Jurisdiktion und Gesetzgebung; (3) herrscherliches Privileg. Der Nürnberger Rat sprach 1479 auf alle drei Voraussetzungen gestützt in seiner Stadtrechtsreformation von seinem ius magistratus. Städte, die nur über eine mindere Jurisdiktionsgewalt verfügten, dürfen nach Auffassung der Juristen zwar keine allgemeinen örtlichen Statuten erlassen, jedoch in ureigensten Belangen sowie zur Verwaltung des städtischen Gemeinwesens und seines Vermögens (res publica, gemeines Gut) sogenannte conventiones, Übereinkünfte in Form der Satzung, und zwar ohne Erlaub-

nis und Bestätigung des Stadtherrn.²⁸² Indem ferner Mainzer Juristen und Rechtsgelehrte der Universität zu Köln im Falle des Bischofs gegenüber der Stadt Naumburg die Berechtigung des Stadtherrn verneinten, bei der Rechnungslegung der Stadt anwesend zu sein, begründeten von Städten beauftragte Rechtsgelehrte im 15. Jahrhundert in Deutschland erstmals ein kommunales Selbstverwaltungsrecht mit autonomem Satzungsrecht.²⁸³ Trotz des umfassend begründeten Gesetzgebungsrechts ließ sich Nürnberg 1464 verschiedene Statuten von Friedrich III. in der Form eines kaiserlichen Privilegs gewähren, weil insbesondere die gewünschte Regelung der Haftungsbeschränkung für bloße Kapitaleinleger in Handelsgesellschaften von der überörtlichen Rechtsgewohnheit abwich. Autoren wie Johannes Rothe, Johannes Frauenburg, Nikolaus Wurm und Johann von Soest legten im 14. und 15. Jahrhundert prägnante Gesetzgebungslehren vor, in denen sie verschiedenen Formen der Gesetzgebung und ihr formelles Zustandekommen analysierten, rechtspolitische Maximen zu Zweck, Funktion und Qualität der Satzungen vortrugen und Auslegungsregeln erörterten.²⁸⁴ Johann von Soest zufolge soll man zuerst den Regierenden, dem Rat und Bürgermeister also, eine Satzung verordnen, eine satzung der gewalten, die sie und ihre Nachfolger einhalten müssen. Eine weitere Satzung soll die Zuständigkeiten der Amtsträger regeln, damit der Amtsbereich der Richter des Stadtgerichts und der des Rathauses, des Ratsregiments, gegeneinander abgegrenzt sind. Schließlich soll das ganze Volk umfangreichere und kleinere Satzungen haben, aus denen jedermann ohne Schwierigkeiten ersehen kann, was er tun oder lassen soll. Das Recht soll für jedermann, Arm und Reich, unverzüglich und effektiv durchgesetzt werden.

281 H. R. H, Basler Rechtsleben I, S. 18. 282 E. I, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht, S. 161–261. 283 Dazu und zu den erstaunlichen argumentatorischen und begrifflichen Affinitäten zu gegenwärtigen Kommentierungen von Art. 28 Abs. 2 Grundgesetz siehe E. I, Zur Modernität der kommunalen Welt des Mittelalters, S. 93–105. 284 E. I, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht, S. 38–52; ., Ratsliteratur und städtische Ratsordnungen (4.1–4.3), S. 279–284.

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Die rechtspolitische Maxime einer umfassenden Normierung aller Handlungs- und Lebensbereiche hat eine erzieherische und friedenserhaltende Wirkung. Die Bösen können durch Satzungen auf den Weg der Ehrbarkeit gebracht werden, damit die Gemeinde stets in Frieden bleiben kann. Die Bürger sind in ihrer Feindschaft und in ihrem Hass, den sie gegeneinander tragen, durch das Gesetz auseinanderzuhalten. Das Gesetz soll verhindern, dass alle nur ihren eigenen Willen durchsetzen. Friedensstörende Kon ikte wie Besitzstreitigkeiten, Fehden aus Mutwillen, Gewalttätigkeiten und Schmähungen, Beeinträchtigungen von Leib, Gut und Ehre – alle diese Tatbestände sollen durch Satzungen unterbunden werden. Die Satzung wird nicht nur für gegenwärtige, sondern auch für die künftige Generation gemacht. Sie muss über den Tod ihrer Urheber hinaus in ihrem Wesenskern Bestand haben, denn viele, jährliche Veränderungen führen leicht dazu, dass man die Satzung missachtet. Die Vorherrschaft des Willkürrechts im Stadtrecht bedeutete eine Mobilisierung des Rechts im Sinne einer Rechtsbildung, die auf Veränderung, Differenzierung und Zweckmäßigkeit angelegt war. Dieser Vorgang setzte vor allem nach der Ausbildung der neuen städtischen Verfassungsformen und nach der Entstehung des Rates ein. Er trug den veränderten Rechtsbedürfnissen der Stadtbevölkerung im Hinblick auf die Entfaltung der neuen Verfassung und Verwaltung, auf wachsende ordnungspolitische Aufgaben, die wirtschaftliche und soziale Mobilität in der Stadt und auf die spezisch bürgerlichen Interessenlagen rasch Rechnung. Der Vorgang einer differenzierten Rechtsbildung tritt in einer energischen und kontinuierlichen Gesetzgebungstätigkeit des Rates zutage und in einem schnellen Wachstum der Aufzeichnungen städtischen Statutar- und Gewohnheitsrechts, die schon im 12. Jahrhundert etwa in Straßburg, Soest oder Freiburg im Breisgau einsetzten, sich im 13. Jahrhundert allerorten beschleunigt vermehrten und die Gestalt umfangreicher Statutenbücher gewannen.

Das Stadtrecht machte sich frei von Fesseln der Tradition, in denen das ländliche Recht vielfach bis ins 19. Jahrhundert verhaftet blieb, und verdrängte schrittweise Landrecht auch aus Bereichen, in denen sich spezi sch bürgerliche Lebensformen noch nicht entwickelt hatten wie im Ehegüterrecht und im Erbrecht. Auch im stadtherrlichen Gericht konnten die bürgerlichen Urteils nder zur Rechtsbildung beitragen, indem sie stadtbürgerliche Rechtsauffassungen zur Geltung brachten. Stadtgerichtliche Urteile wurden teilweise in die Stadtrechtsbücher aufgenommen. Lange angewandte und eventuell vom Stadtherrn anerkannte oder geduldete Satzung wurde allmählich zur Rechtsgewohnheit und damit zu Recht im älteren Sinne. Dadurch konnten die Wesensunterschiede zwischen den beiden Arten von Recht verschwimmen. Die Mehrschichtigkeit des städtischen Rechts blieb noch lange erhalten, aber aus Landrecht, Teilen von landrechtlichen Rechtsbüchern wie des »Sachsenspiegels« im Hamburger (1270) und Bremer Stadtrecht (1303), als Stadtrecht verwillkürtem geschriebenem Kaiserrecht (Isny 1430, Konstanz 1532), Gewohnheit und städtischen Willküren formte sich doch ein einheitliches umfassendes Stadtrecht. Damit wurde auch aus der personalen Geltung von Recht eine gebietsbezogene, lokale Geltung. Das von den Bürgern erworbene stadtherrliche Gericht wurde nun verschiedentlich auch für Satzungsrecht zuständig. Wie für die Satzung und für die örtliche Gewohnheit galt für das vereinheitlichte Stadtrecht der Satz, dass Stadtrecht (Willkür) vor Landrecht gehe. Je schärfer sich der obrigkeitliche, von der Bürgergemeinde abgehobene Charakter der Ratsherrschaft ausprägte, umso eher konnte die Ratsgesetzgebung die Form eines einseitigen Rechtsgebots und Mandats annehmen. Dies war in Städten Oberdeutschlands seit dem 15. /16. Jahrhundert und vor allem in der letzten Zeit des ständischen Bürgertums im 17. und 18. Jahrhundert der Fall. Es griff aber auch ein erstarkender Stadtund Landesherr gestützt auf die Gehorsamsp icht der Bürger immer mehr durch Rechtsge-

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

bot in das gemeindliche Leben und in das Recht der landsässigen Städte ein oder setzte an die Stelle des Stadtrechts durch Kodi kation von Landrechtsordnungen weitgehend ein allgemeines territorialstaatliches Recht. 2.4.3 Stadtrechtsfamilien und Oberhöfe Das Stadtrecht war lokales, in einem ummauerten Bezirk geltendes, von der städtischen Gerichtsbarkeit durchgesetztes Recht. Erweitert wurde die Rechtsgeltung von Stadtrecht durch die Übertragung des Rechts einer sogenannten Mutterstadt, das diese akkumuliert und in ihrem Grundbestand durch königlichkaiserliche Privilegien gesichert hatte, auf eine Anzahl von Tochterstädten oder in weiterer Filiation auf Enkelstädte. Beispiele für solche Mutterstädte sind Lübeck, Magdeburg und Frankfurt am Main.²⁸⁵ Dadurch entstanden materielle Rechtsgleichheiten innerhalb einer bis ins Spätmittelalter wachsenden Stadtrechtsfamilie, deren Rechtskreis zudem durch die sich seit dem 12. Jahrhundert entfaltende autoritative Oberhoftätigkeit²⁸⁶ der Mutterstadt zusammengehalten und bestärkt werden konnte, was aber häu g nicht der Fall war. Aber nicht nur Mutterstädte von Stadtrechtsfamilien fungierten als Oberhöfe, sondern auch einige bedeutende Tochterstädte Magdeburgs wie Halle, Leipzig, Breslau, orn und Krakau, darüber hinaus in einem weiteren Sinne auch Städte mit Vorbildfunktion ohne unmittelbare stadtrechtliche Verbindung. Es ist zu beachten, dass die verschiedenen Stadtrechtsfamilien keine konsistente schematischen Konstruktionen, sondern von unterschiedlicher Kohärenz sind und keine jeweils gleichförmigen Rechtskreise darstellen. Stadtrechtsbewidmungen können pauschal erfolgen, sich in der Übernahme ganzer Rechtsbestände niederschlagen oder nur nominell sein, während es sich in Wirklichkeit eher um eigen-

ständige Rechtsaufzeichnungen handelt. Auch ist die aus der Stadtrechtsbewidmung folgende tatsächliche Abhängigkeit der Tochterstädte von der Rechtsautorität der Mutterstadt unterschiedlich ausgeprägt und richtet sich danach, ob in der Zukunft auch Statuten und Rechtsänderungen übernommen wurden und eine Rechtseinholung beim Oberhof überhaupt stattfand. Die größten Oberhöfe waren mit ihren weiträumigen Rechtslandschaften der Magdeburger Schöffenstuhl und der Lübecker Rat. Von den etwa 100 Städten, die mit lübischem Recht bewidmet waren, zogen jedoch nur etwa 33 bis 35 nachweislich nach Lübeck; die Relation war hinsichtlich des Magdeburger Rechts und des Magdeburger Schöffenstuhls vermutlich noch ungünstiger. Bekannte Oberhöfe waren ferner Iglau und Brünn, die Schöffengerichte von Frankfurt, Aachen und Köln, der Rat der Städte Dortmund, Freiburg im Breisgau und bedingt auch Nürnberg. Spruchkörper der Oberhöfe waren Ratsgremien (Lübeck) oder Schöffenstühle (Magdeburg), die ihren Spruch als Kollegium von Rechtskundigen in einem gerichtsförmigen, aber nicht gerichtlichen Verfahren fanden, da die Sache nicht bei ihrem Gericht anhängig war, was sich aber im Falle Lübecks später änderte. Die Oberhöfe besaßen gegenüber den Anfragenden keinen Gerichtszwang, doch waren ihre Sprüche, die zunächst mündlich und seit dem 14. Jahrhundert zunehmend schriftlich ergingen, trotz fehlender Zwangskompetenz nicht nur unverbindliche Stellungnahmen oder Gutachten, sondern als ungebotene Urteile Entscheidungen, die in der Regel übernommen wurden. Das Rats- oder das Stadtgericht einer Tochterstadt oder einer in anderer Weise zugewandten Stadt holte noch während eines Gerichtsverfahrens vor der Urteilsverkündung durch den Richter bei den Rechtskundigen des Oberhofes,

285 G. S-F, Die Verbreitung der deutschen Stadtrechte in Osteuropa; W. E, Lübisches Recht im Ostseeraum; H. P, Die deutsche Stadt, S. 342 ff.; F. E (Hg.), Magdeburger Recht; G. D, Die Rechtsgeschichte der Stadt, S. 623–639; S. D, Die Soester Stadtrechtsfamilie; K. K/A. C/K. N- S, Deutsche Rechtsgeschichte 2, S. 117–120. 286 J. W, Über Oberhöfe, Recht und Rechtszug.

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deren umfassendes und überlegenes Rechtswissen gesucht wurde, Rechtsrat und Rechtsbelehrung ein. Der Richter des Ausgangsgerichts verkündete ihre Auskunft und Entscheidung dann als eigenes Endurteil. Die Rechtseinholung erfolgte, wenn der bereits als Urteil bezeichnete Urteilsvorschlag, den ein damit beauftragter Schöffe seinen Mitschöffen zur Billigung vorlegte, noch vor der Verkündigung durch den Richter, durch die er unanfechtbar wurde, von einer Prozesspartei durch Vorschlag eines Gegenurteils gescholten wurde. Die Schöffen des Oberhofs billigten im Falle der Urteilsschelte und des gezweiten Urteils dann einen der beiden Vorschläge. Die Rechtseinholung beim Oberhof erfolgte auch in nicht leicht lösbaren Fällen bei Rechtsunsicherheit oder Rechtsunkenntnis der Schöffen und bei ausdrücklichem Antrag der Parteien. Die Parteien fragten, was in der Sache rechtens sei und begehrten, sie an den Oberhof (Magdeburg) zu ziehen, wenn die Schöffen es selbst nicht wüssten. In diesen Fällen konnten die Schöffen des Oberhofes die Sache frei entscheiden, da über keine Urteilsvorschläge zu be nden war. Von Lübeck gingen Tausende von Einzelrechtsweisungen des Rats aus, der auch im Innern und im Unterschied zu den Magdeburger Schöffen für sämtliche Rechtsfragen, auch peinliche Sachen, zuständig war. Berufungsinstanz in einem Rechtszug bei einem von Parteien gescholtenen Urteil war nur der Lübecker Rat, der seit der Mitte des 14. Jahrhunderts keine Rechtsauskünfte mehr erteilte und stattdessen nur noch als eine Art Rechtszug und Appellationsinstanz für lübische Tochterstädte fungierte. Deshalb war für das noch lange mündliche Verfahren die Anwesenheit der Parteien oder eine Parteienvertretung durch bevollmächtigte Fürsprecher (Vorspraken) oder später durch Prokuratoren erforderlich, die nur für weit ent-

fernte Städte wie Elbing und Reval wegen der gefahrvollen Anreise unterbleiben konnte. In diesem Fall fertigte der örtliche Rat ein Berufungsschreiben an den Lübecker Rat, der einen schriftlichen Bescheid erteilte. Der Lübecker Rat fasste nach Anhörung der Parteien und Kenntnisnahme des gescholtenen Urteils ohne Zeugenverhör und vorgelegte Urkunden einen grundsätzlichen Beschluss, der notfalls noch erforderliche Beweis war vor dem heimischen Rat zu erbringen. Das in Lübeck gesprochene Ratsurteil entschied den Prozess in der Sache, aber es musste noch durch den heimischen Rat verkündet und in ein eigenes Ratsurteil transformiert werden.²⁸⁷ In manchen Fällen schoben sich aus praktischen Gründen hinsichtlich kleinerer Nachbar- und Tochterstädte »Mittelhöfe« wie Reval, Elbing, Anklam, Rostock und Greifswald zwischen Lübeck und Städte lübischen Rechts. Die Stadt Elbing war mit lübischem Recht bewidmet, doch untersagte der Deutsche Orden als Stadt- und Territorialherr den Rechtszug nach Lübeck, wogegen die Stadt zur Klärung von Fragen ihres Privilegienrechts im Jahre 1300 Rechtsgutachten mit einer Beurteilung nach römisch-kanonischem Recht bei zwei Pariser Kanonisten, ferner bei zwei Lübecker Kanonikern und bei dem Lübecker Syndicus Heinrich Wittenborn einholte.²⁸⁸ In Magdeburg war die vom 1240/41 etablierten Rat strikt getrennte Schöffenbank aus Angehörigen der städtischen Oberschicht, die aus der erzbischö ichen Ministerialität stammte, für Rechtsauskünfte zuständig.²⁸⁹ Die Schöffen erteilten ihre Auskünfte – gegen Entgelt – nur nach Magdeburger Recht, d. h. herkömmlichem Recht, in Sachen, die Eigen und Erbe, Familie, Schuld betrafen und damit Recht an sich, und unter Ausschluss des Willkürrechts des Rats. Auch fungierten die Schöffen, selbst

287 Es ist die Frage, ob dies bereits einem Appellationsverfahren nahekommt. Nach geltendem Recht ist die Appellation ein Rechtsmittel mit suspensiver und devolutiver Wirkung, d. h. das Verfahren wird angehalten und das Untergericht verliert die Zuständigkeit an das Appellationsgericht. 288 C. P. W/J. M S (Hg.), Codex diplomaticus oder Regesten und Urkunden zur Geschichte Ermlands, Bd. I: Urkunden der Jahre 1231–1340, Mainz 1860, Nr. 108, 184–190 (1300 August 16). 289 J. W, Zum Rechtsbegriff der Magdeburger Schöffen.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

wenn eine Urteilsschelte Anlass für das Ersuchen um Rechtsbelehrung war, nicht als Instanz in einem Rechtszug. Allerdings öffneten sich die Magdeburger Schöffen im ausgehenden 15. Jahrhundert auch Ein üssen der gelehrten Rechte, nahmen seit 1497 auch Rechtsgelehrte in ihr Kollegium auf und anerkannten nunmehr auch fremde Willküren und Rechtsgewohnheiten. Bereits im späten 15. Jahrhundert übertrafen in dem bedeutendsten der Schöffenstühle Magdeburger Rechts, dem Leipziger, die studierten Juristen, die zum Teil der seit 1410 bestehenden Juristenfakultät angehörten, an Zahl die Laienschöffen. Mit dem Eindringen der gelehrten Juristen und ihrer Herrschaft im 16. Jahrhundert veränderte sich tiefgreifend die nunmehr wissenschaftlich und vom römischkanonischen Recht geprägte Rechtskultur des Schöffenstuhls.²⁹⁰ Stendal trug seit 1334 die Magdeburger Schöffensprüche als Präjudizien in ein eigenes Buch ein; Lübecker Ratsurteile sind in einer Sammlung aus den Jahren 1515–1554 erhalten. In Breslau entstand 1360 ein bereits geordnetes, gebrauchsorientiert zu einem Rechtsbuch verarbeitetes systematisches Schöffenrecht. Im südlicheren Brünn gab es bereits vor 1350 einen Stadtschreiber, der Schöffensprüche als gelehrter Jurist beurteilte. Die großen Stadtrechtsfamilien Magdeburgs und Lübecks umfassten jeweils hundert Städte und mehr. Das lübische Recht gelangte über alle deutschen Städte und Hanseniederlassungen des Ostseeraums bis nach Reval und Novgorod und galt um 1400 vielleicht für 250 000–300 000 Menschen in etwa 80–100 Städten. Zu den wichtigsten Städten mit lübischem Recht gehörten Rostock, Wismar, Kiel, Stralsund, Elbing, Reval, Greifswald, Memel, Stettin und Danzig. Völlig einheitlich war das lübische Recht nicht, da die Stadtherren bei der Übernahme Einschränkungen der städtischen Autonomie vornehmen konnten und die Städte selbst eigene Willküren erließen. Das Magde-

burger Recht fand – vor allem mit der Ostsiedlung und durch Bewidmung durch die Landesherren – Verbreitung im östlichen Sachsen, in der Mark Brandenburg, in Böhmen, Schlesien, Polen und darüber hinaus. Mit Kulmer Recht waren etwa 80 Städte bewidmet. Stadtrechtsfamilien begründeten im Norden noch Braunschweig und Lüneburg, Münster, Soest und Dortmund, im Rheingebiet Aachen und Frankfurt am Main, im Süden Freiburg im Breisgau, Nürnberg durch seine Oberhoffunktion und Wien. Von Freiburg etwa gingen viele oberrheinische und Schweizer Stadtrechte aus, die im Übrigen wichtige Hinweise für die Rekonstruktion der Freiburger Stadtrechte geben.²⁹¹ Das seit Anfang des 12. Jahrhunderts lückenhaft aufgezeichnete Soester Stadtrecht entwickelte sich aus dem Landrecht des westfälischengerischen Raumes unter starken Ein üssen kaufmännischen Gewohnheitsrechts. Die älteste erhaltene lateinische Aufzeichnung auf einem großen Pergament (sog. Kuhhaut) stammt aus dem Anfang, die zweite aus dem Ende des 13. Jahrhunderts. Mit Soester Recht wurden etwa 60 westfälische Städte bewidmet, doch wurden zahlreiche Besonderheiten der Stadt- und Ratsverfassung nur eingeschränkt und für begrenzte Zeit aufgenommen. Damit war Soester Recht Grundlage einer der größten und ältesten Stadtrechtsfamilien Altdeutschlands. Es hatte ferner über Soester Kau eute erheblichen Einuss auf die Anfänge des lübischen und gemeinsam mit diesem auf das hamburgische Recht. Soester Marktrecht ndet sich bereits in der frühen Rechtsverleihung des Soester Stadtherrn, des Kölner Erzbischofs, für sein Städtchen Medebach von 1165, zuvor schon in einer Urkunde von 1144. Kölner Recht wird im ältesten und auf die Marktgründung 1120 bezogenen Teil der kompliziert aus späterer Zeit überlieferten Stadtrechte für Freiburg im Breisgau erwähnt, wonach vor allem Kölner Kaufmannsrecht gelte und Freiburg nach den Rechten Kölns (secund-

290 J. P, Leipziger gelehrte Schöffenspruchsammlung. Zur Rechtskultur der Schöffenstühle siehe 4.7.4.2. 291 Zuletzt M. B, Die Freiburger Stadtrechte.

Das Stadtrecht 195

um iura Colonie) gegründet sei, doch lässt sich dafür wegen der erst sehr späten Kodi kation Kölner Rechts kein Nachweis führen. Freiburger Rechtsanfragen in Köln im 14. Jahrhundert belegen nur, dass man glaubte, dass Freiburg nach Kölner Recht gegründet sei.²⁹² Ulmer Stadtrecht erhielten Memmingen, Ravensburg, Meersburg, Saulgau, Dinkelsbühl, Biberach, Giengen und Schwäbisch Gmünd, während Ulm selbst 1274 mit dem Stadtrecht Esslingens bewidmet worden war.²⁹³ Das Stadtrecht Rottweils fußte auf dem Recht der Zähringerstädte Freiburg und Villingen, während die Stadt Reutlingen wiederum 1377 das Recht Rottweils für sich wählte und Kaiser Karl IV. um Bestätigung bat. Weißenhorn und Donauwörth holten sich 1448 und 1452 Rechtsentscheidungen in Rottweil.²⁹⁴ Neben den weiträumigen Rechtsbeziehungen gab es aber vor allem im Altsiedelland kleinräumige und fragmentarische Rechtsübernahmen, die dann wieder abbrachen oder auch aus dem Bewusstsein gerieten. Es handelt sich dabei um Verbindungen, Bezüge oder Übernahmen nicht xierter oder pauschaler Art, von denen es fraglich ist, ob sie Stadtrechtsfamilien konstituierten. Der Stadtherr bewidmete bei der Gründung die Stadt mit dem Recht einer Mutterstadt oder stellte den Bürgern die Wahl ihres Rechtes frei. Häu g wandten sich auch Städte selbst mit der Bitte um Rechtsmitteilung an ältere Städte, in denen nicht selten auf eine solche Anfrage hin die wichtigsten Rechtssätze zum ersten Mal zusammengestellt und aufgezeichnet wurden, so in Münster für Bielefeld (vor 1214). Zum Zweck der Rechtsmitteilung entstanden umfangreiche Stadtrechtsbücher wie im Falle Lübecks für Tondern (1243) oder Dortmunds für Memel (1252). Rechtsmitteilungen dieser Art kamen schon um die Mitte des 14. Jahrhunderts wieder aus der Übung, und man begnügte sich damit, das Recht einer Mutterstadt

zu verleihen, ohne die einzelnen Rechtsbestimmungen zu nennen. 2.4.4 Justizgewährungs- und Burgrechtsverträge Städte, die durch Handel in regelmäßiger Verbindung miteinander standen und nicht einer Rechtsfamilie anzugehören brauchten, schlossen gegenseitige oder mehrseitige Justizgewährungsverträge untereinander ab. Der Bürger wurde dadurch von allen Nachteilen befreit, die er als Gast sonst in den anderen Städten zu erleiden hatte. Er wurde von der Haftung für die Schulden von Mitbürgern befreit und erhielt den Rechtsschutz, wie ihn der Bürger der Gaststadt genoss. Städte schlossen auch untereinander Burgrechtsverträge ab, in denen sie sich und ihre Bürger wechselseitig in ihr jeweiliges Bürgerrecht aufnahmen. 2.4.5 Stadtrechtsaufzeichnungen Die vom Rat unabhängig vom Zweck der Rechtsmitteilung veranlassten Rechtsaufzeichnungen erreichten ihren Höhepunkt im 14. Jahrhundert. Aufgezeichnet wurde in den Städten zunächst vielfach streitiges und deshalb durch Urteil geklärtes Recht. Früh schon, seit etwa 1150, wurde in Soest Stadtrecht – in mehreren Schichten – schriftlich festgehalten. In Bremen geschah dies 1303 bis 1308, in Goslar um 1330. Den wesentlichen Teil stellte in Bremen ein Ausschuss aus den 14 amtierenden Ratsherren und weiteren 16 Bürgern aus den Vierteln (Kirchspielen) als mene stad in den Jahren 1303 bis 1305 aus alten Rechtsgewohnheiten, dem »Sachsenspiegel« und dem Hamburger Recht von 1270 zusammen. Nach einer noch nicht durchgeformten Statutensammlung von 1407 wurde das Kölner Stadtrecht in den Statuten von 1437 zusammengefasst, dabei auch

292 Zusammenfassend dazu M. B, Die Freiburger Stadtrechte I, S. 214–218. 293 C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm, S. 14 f. 294 H. G (Hg.), Das ältere Recht der Reichsstadt Rottweil, S. 35–38, 49.

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deklaratorisch geklärt, reformiert und fortgebildet. Ergänzende private Aufzeichnungen, kompendienhafte Rechtsbücher von Schulmeistern, Stadtschreibern, gelehrten Juristen und patrizischen Angehörigen des Stadtregiments setzten im 13. Jahrhundert ein und wurden im 14. und 15. Jahrhundert häu ger. Dazu gehören etwa das Eisenacher Rechtsbuch des Johannes Rothe vom Ende des 14. Jahrhunderts, vom ausgehenden 15. Jahrhundert das Liegnitzer Stadtrechtsbuch des Nikolaus Wurm und der »Rechte Weg« für Breslau des Kaspar Popplau oder das »Rechtsbuch Purgoldts« aus dem frühen 16. Jahrhundert.²⁹⁵ Bei der umfassenden Aufzeichnung trat früh schon eine bewusste Systematisierung zutage, wie etwa in dem vom Hamburger Ratsnotar Jordan von Boizenburg überarbeiteten und 1270 vorgelegten niederdeutschen »Ordeelbook« mit 12 Abschnitten – Personen-, Sachen-, Familien-, Erb- und vor allem Schuld- und Handelsrecht, Prozess- und Strafrecht – und insgesamt 168 Artikeln samt einem Anhang von 28 Schiffsrechtartikeln. Neben dem lübischen Recht hatte vor allem der »Sachsenspiegel« Einuss auf das Ordeelbook ausgeübt, dieses wiederum wirkte auf die Stadtrechte Stades (1279), Buxtehudes (1328), Bremens (1304) und des weit entfernten Riga (um 1295) ein. Auf der Grundlage des Ordeelbooks kam es 1301/02 zu einer weiteren, in der Anordnung veränderten Aufzeichnung des Stadtrechts, in die Änderungen im ehelichen Güterrecht sowie im Gerichtsverfassungs- und Prozessrecht eingingen und Polizeirecht aufgenommen wurde. Neben diesem Roten Stadtbuch mit Nachträgen bis 1453, das nie amtlich in Kraft gesetzt wur-

de, blieb das Ordeelbook formell das offizielle Recht Hamburgs für das Spätmittelalter, nachdem die Stadt nur für kurze Zeit lübisches Recht hatte. Im Jahre 1497, kurz nach der Reform des königlichen Kammergerichts (1495) mit seinen Bestimmungen zum gemeinen Recht, schuf dann der gelehrte Jurist und Finanzreformer, der aus Buxtehude stammende Bürgermeister (seit 1481) Dr. iur. utr. Hermann Langenbeck, vermutlich von den beiden Syndici unterstützt, vor allem auf der Grundlage der Fassung von 1301/02 eine wenig tiefgreifende Neubearbeitung des Hamburger Stadtrechts, die von Langenbeck selbst glossiert wurde und zu der berühmten Bilderhandschrift (1501–1508) führte. Wo es notwendig erschien, wurde das Stadtrecht reformiert und verbessert. In der Vorrede legitimierte Langenbeck historisch die Satzungsgewalt des Rates und anerkannte zugleich die subsidiäre Geltung des Sachsenspiegels und des römischen Rechts (Kaiserrecht) für das Hamburger Recht, sofern dieses keine eindeutige rechtliche Regelung bereithielt. Römisches Recht fand aber nur in wenigen Bestimmungen Eingang, in anderen Fällen sicherte Langenbeck alte Bestimmungen durch ihre Präzisierung gegen mögliche Einwände auf der Grundlage des gemeinen Rechts ab und traf im Einzelfall eine Regelung gegen das römische Recht. Das römische Recht zog er aber bei der Glossierung des Stadtrechts heran. Im Anschluss an das vorangestellte Inhaltsverzeichnis (Register) ndet sich ein Hinweis auf die Anlage, die künftigen Rechtsveränderungen Rechnung tragen sollte.²⁹⁶

295 P. R (Bearb.), Eisenacher Rechtsbuch; H.-J. L (Hg.), Das Liegnitzer Stadtrechtsbuch des Nikolaus Wurm; F. E (Hg.), Der Rechte Weg; F. O, Das Rechtsbuch Johannes Purgoldts. 296 Jedes Blatt hat zwei Kolumnen, eine beschriebene und eine unbeschriebene. Falls man später einen Artikel völlig abschaffen will, soll dieser nicht einfach getilgt und kanzelliert werden. Stattdessen ist neben dem Text in der unbeschriebenen Kolumne der Sachverhalt der Annullierung des Artikels samt Begründung einzutragen. Die Veränderung, Mehrung, Minderung oder Deklaration von Artikeln ist gleichfalls auf dieser Seitenhälfte zu vermerken, während ein neuer Artikel auf die Blätter zu schreiben ist, die hinter jedem Stück (Titel) des Stadtrechts für Nachträge freigelassen sind. J. M. L, Die ältesten Stadt-, Schiff- und Landrechte Hamburgs, S. 163–320, 180. Siehe auch die Vorschriften für die Fortführung des Rottweiler Stadtrechts; H. G (Hg.), Das ältere Recht der Reichsstadt Rottweil, S. 188, Nr. 248.

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2.4.6 Stadtrechtsreformationen Mit der Nürnberger Reformation von 1479, die 1484 im Druck erschien, setzten in Oberdeutschland die vom Rat veranlassten und unter Mitwirkung von Gerichtsschöffen, Stadtschreibern und Rechtsgelehrten entstandenen großen deutschsprachigen Stadtrechtsreformationen ein, die das Stadtrecht systematisch gliedern, verarbeiten und dabei mehr oder weniger und partiell römisches und kanonisches Recht rezipieren.²⁹⁷ Ansatzpunkt für die Reformationen ist, verbunden mit verschiedenen rechtspolitischen Zielsetzungen, wie der Name sagt die verbesserte Erneuerung des aus Regelungen unterschiedlicher Herkunft zusammengesetzten überlieferten Stadtrechts, wobei nun auch Lücken ausgefüllt werden.²⁹⁸ In Nürnberg lag der Ausgangspunkt in älteren Anläufen zu einer Reform des Prozessrechts; die erste Frankfurter Reformation gibt sich die Form einer durch privatrechtliche Materien erweiterten Gerichtsordnung. Die verschiedenen kodi katorischen Motive der Rechtsreformationen gehen aus den Vorreden hervor. Bereits der Kölner Rat begründet die partiell reformierende Statutensammlung von 1437 mit neu entstehenden Gebrechen und neuen Umständen und der daraus resultierenden Notwendigkeit, alte Gesetze dem anzupassen und zu verändern, ferner mit der zeitbedingten Vergänglichkeit aller Dinge und den Schwächen des menschlichen Gedächtnisses, die eine schriftliche Fixierung und Zusammenstellung erforderlich machen sowie mit der Einsicht, dass der Friede am besten gewährleistet ist, wenn die Stadtbewohner unverzüglich ihr Recht erhalten können und deshalb Gerichte und Richter in Furcht und Ehren gehalten würden. In der Frankfurter Reformation von 1509 werden Rechtsunsicherheiten wegen der fehlenden schriftlichen Fixierung von rechtlichen Gewohnheiten und Gebräuchen genannt sowie

der Umstand, dass viele von ihnen untauglich geworden seien. Die Vorrede der Nürnberger Reformation von 1479 nennt als Erfordernis das tägliche Anwachsen von Prozessen mit allen schädlichen sozialen und materiellen Folgen wegen bestehender Rechtsunsicherheiten. Die Wormser Reformation von 1499 geht weit ausholend von den großen, anthropologisch bedingten Unterschieden und Veränderungen in der Tatsachenbeurteilung der Menschen aus, die im Fixpunkt einer beständigen, umfassend herrschenden Gerechtigkeit im Interesse des gemeinen Nutzens ein Korrektiv haben müsse. Dazu bedürfe es der Gesetze und Ordnungen in schriftlicher Fassung und der Erneuerung und Reformierung der Gesetze, des alten Herkommens und der guten Gewohnheiten der Stadt, die durch divergierende Deutungen in irrtümlichen Gebrauch und Missbrauch gefallen seien. Zuvor hatte Kaiser Friedrich III. der Stadt 1488 das Recht und die Freiheit bestätigt, Ordnungen, Gesetze und Statuten zu erlassen. In der Freiburger Reformation von 1520 ist davon die Rede, dass die Satzungen, die der erste Stifter der Stadt gegeben habe, vielfach unverständlich und unzureichend seien und sich in den gegenwärtigen Zeitläufen mit dem Nutzen von Bürgern und Einwohnern nicht vertrügen. Einige der Begründungen wurden den Publikationspatenten zu der Kompilation Kaiser Justinians von der Mitte des 6. Jahrhunderts, des nach der mittelalterlichen Rezeption so genannten Corpus iuris civilis, insbesondere der Konstitution Tanta Justinians zu den Digesten entnommen. In ihr wird ausgeführt, dass sich mit den stetigen Veränderungen des menschlichen Standes durch Alter und Zeit auch die Gesetze ändern müssten, wie die Windsheimer Reformation von 1521 zitiert und ergänzend hinzufügt: nicht nur die städtischen Statuten, Gesetze und Ordnungen, sondern auch die gemeinen geschriebenen Rechte, d. h. das römische und kanonische Recht.²⁹⁹

297 Editionen von W. K; G. K; H. H. 298 E. I, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht, S. 90–94. 299 H. H (Bearb.), Die Rechtsreformation des Stadtschreibers Johann Greffinger, S. 22. Vgl. Digesten, Proömium III, 18.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

Eine zentrale rechtspolitische Zielsetzung ist in Nürnberg (1479) und Frankfurt (1509) die Angleichung an das römische und kanonische Recht. Die Nürnberger Gesetze seien mit Rat vieler hochgelehrter Doctores den geschriebenen Rechten, d. h. dem römisch-kanonischen Recht, sovil sich das nach der stat Nüremberg gelegenheyt, herkomen und leufte hat erleiden mügen, gemeß gemacht worden. Der Reformation geht eine überaus reiche Konsiliartätigkeit der Nürnberger Ratsjuristen und externer Rechtsgelehrter zu vielen Rechtsfragen nach römischkanonischem Recht voraus. Der Rat wollte seine Juristen wiederum an das neue Recht und damit aber auch stärker an das herkömmliche städtische Recht binden und ordnete deshalb an, dass jeder von ihnen ein Exemplar der gedruckten Fassung besitzen solle. Die Vorarbeiten zu der revidierten, verneuten und nun stärker romanisierten Reformation von 1564 standen unter der Maßgabe, Statuten, die mit den gemeinen Rechten und nun auch den üblichen Gebräuchen des Reichskammergerichts kollidierten, nach Möglichkeit und wenn es zuträglich erschien, diesen anzupassen. Der maßvoll romanisierten Nürnberger Reformation von 1479, die über Vermittlung des Grafen Eberhard von Württemberg auch für das Stadtrecht der Landstadt Tübingen von 1493 herangezogen wurde und weithin Aufmerksamkeit erregte, folgten die gleichfalls von Nürnberg beein usste, aber stark romanisierte Wormser Reformation (1498/99), die eher ein populäres Lehrbuch des römisch-kanonischen Rechts darstellt als eine reformierende Statutenkodi kation und ein Werk für die Rechtspraxis, und die Frankfurter Reformation (1509). Die 1520 entstandene und zum Druck gelangte Stadtrechtsreformation (Nüwe Stadtrechten und Statuten) der habsburgischen Landstadt Freiburg im Breisgau ist maßgeblich ein Werk des humanistischen Rechtsgelehrten der Freiburger Universität Dr. Ulrich Zasius (Zäsy) und wird we-

gen ihres Aufbaus, ihrer rechtspolitischen und rechtstechnischen Vorzüge und der gelungenen, für die Praxis geeigneten Verbindung von gelehrtem und heimischem Recht und eigenständiger Lösungen (P ichtteilrecht) des Zasius als bedeutendste Leistung gerühmt. Selbst das kleine Städtchen Windsheim bei Nürnberg erhielt 1521 durch seinen Stadtschreiber Johann Greffinger eine Reformation, die als eine Kompilation bereits ausgiebig auf die Nürnberger, Wormser und Freiburger Reformationen zurückgreift, wie die Wormser einen ausgeprägten Lehrbuchcharakter besitzt und anders als das alte Statutenbuch kaum Gebrauchsspuren aufweist.³⁰⁰ Die älteren Rechtsreformationen Nürnbergs und Frankfurts wurden im Verlauf des 16. Jahrhunderts einer Revision unterzogen. Die Nürnberger Reformation wurde 1564 unter Mitwirkung des Juristen Claude Chansonette (Claudius Cantiuncula) dem römischen Recht noch stärker angeglichen (äquipariert), die Frankfurter von 1581 in den Jahren 1571 bis 1578 von Johann Fichard umgearbeitet und vervollständigt, weil sie dem Rat gantz confusa, an vielen orthen dunkel und in vielen stücken mangelbar erschien. Die Rechtsreformationen enthalten kein Verfassungsrecht im engeren Sinne. Ratsverfassung und Ämterwesen bleiben unverändert vorausgesetzt. Die Reformationen bauen mit unterschiedlichen Anteilen auf der Gerichtsordnung, dem Prozess- und Vollstreckungsrecht auf, behandeln die Klageformen und in unterschiedlicher Gruppierung Schuldrecht mit Vertrag, Kauf und Verkauf, Pfandrecht, Bürgschaft, Darlehen, Depositum, Leihe, Miete, Pacht und Werkvertrag, vielfach in unmittelbarer Verbindung damit Sachenrecht, ferner Familien-, Erbund Vormundschaftsrecht und enthalten vielfach noch Strafrecht und Ordnungsrecht, insbesondere kommunales Baurecht, in Freiburg mit stadtplanerischen Regelungen.

300 H. C, Die Rezeption des römischen Rechts in Frankfurt a. M; H. K, Ulrich Zasius und das Freiburger Stadtrecht von 1520. Vgl. noch die Privatrechtsgeschichten von F. W, G. W/G. W, H. C und H. S sowie K. K/A. C/K. N- S, Deutsche Rechtsgeschichte 2, S. 247-251.

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2.4.7 Rechtsdenken und einzelne Rechtsmaterien Die Mobilisierung des Rechts durch Willkürrecht geht einher mit einem Trend zur Rationalisierung und Ökonomisierung des Rechts.³⁰¹ In der Stadt vollzieht sich zuerst der Durchbruch von archaischen Denkformen und Vorstellungen, symbolischen und feierlichen, vielfach wohl kultisch bedingten Handlungen bei rechtsgeschäftlichen Vorgängen und einem rituellen Formalismus bei Gericht hin zu einem relativ symbolarmen, rationalen Recht. Rache als gerechtfertigtes Handlungsmotiv und als rechtliches Mittel, die Neigung »auch des zum Frieden geschworenen Bürgers, die Verteidigung, Durchsetzung und Vollstreckung seines (auch nur vermeintlichen) Rechts ohne Anrufung von Gericht und Obrigkeit selber in die Hand zu nehmen« und – wie es in den Stadtrechten heißt – »sein eigener Richter zu sein«, werden in der Stadt, die mit ihrem Stadtfrieden den Landfrieden ergänzt, mit harten Strafen für Verwundung und Tötung unterdrückt. Dass dies nicht sogleich gelang, zeigen die häugen Familienfehden und auf rechtlichem Gebiet gelegentliche stadtrechtliche Bemühungen, Fehden wenigstens auf die unmittelbar Beteiligten zu begrenzen, »die Entstehung, Verhärtung und Ausweitung von Fehde und Feindschaft zu verhindern und ihre Beilegung durch Friedegebote und Sühneverträge zu fördern«.³⁰² Dies sind jedoch Notmaßnahmen, denn grundsätzlich ist jegliche Eigenmacht (lübisch sulfwolt) verboten. Dabei ist es zu beachten, dass Eigenmacht in der Stadt nicht entsprechend heutiger Bedeutung von Selbsthilfe (§§ 229 f. BGB) eine »Ersatzhandlung bei Fehlen der eigentlich und von Rechts wegen berufenen obrigkeitlichen Hilfe« bedeutet, sondern dass ihr oftmals ein »aggressiver und aktiv rechtsverlet-

zender Charakter« eigen war.³⁰³ Vom Landfriedensrecht übernahm die Stadt das Kriminalstrafrecht, die Todesstrafen mit Köpfen, Hängen, Rädern, Lebendigbegraben, Verbrennen, Ertränken sowie das Handabhauen und andere peinliche Strafen, änderte sie jedoch durch eigene Rechtsetzung ab und gelangte in Einzelfällen zu eigenen Halsgerichtsordnungen. Bußtaxen und taxierte Wergelder, die nach archaischer Rechtsauffassung die verletzte Ehre und das Sippenheil wiederherstellen sollten, werden durch peinliche Strafen und durch das »Prinzip des rechnerisch ermittelten, am konkreten Vermögensnachteil orientierten Schadensersatzes« abgelöst.³⁰⁴ Abgeschafft werden auch das Gottesurteil als Beweismittel und der Zweikampf als Form der gerichtlichen Streitentscheidung. Der Kaufmann braucht sich im Streit um Kauf oder Geldschuld nicht mehr, gewissermaßen von Berufs wegen, in eine Fehde oder in einen gerichtlichen Zweikampf einzulassen. Außerdem wird der Stadtbürger von der Prozessgefahr (vare), dem magischen Formzwang und den Folgen seiner Verletzung, entbunden, sodass eine freiere Verhandlung der Rechtssachen vor Gericht statt nden kann. Der Wandel im Verfahrens- und Prozessrecht offenbart über den Vorgang der rechtstechnischen Rationalisierung hinaus einen tiefgehenden Wandel im Rechtsdenken. Immerhin fordert Nikolaus von Kues noch 1433 in seiner Reformschrift »De concordantia catholica«, dass im Interesse der einfachen pauperes, d. h. der armen und abhängigen Leute, die Prozessgefahr beseitigt werden müsse, damit sie nicht ungerechterweise durch cavillationes, d. h. Spitz ndigkeit und Silbenstecherei der gewerbsmäßigen Sachwalter, aus der Form geführt würden und damit ihre ganze Sache verlören. Cusanus

301 Grundlegend dazu: W. E, Über die rechtsschöpferische Leistung des mittelalterlichen deutschen Bürgertums; G. D, Hell, verständig; ., Die Rechtsgeschichte der Stadt, S. 650–682. 302 W. E, Lübisches Recht, S. 391 f. Vgl. E. P, Die Entstehung der Ratsherrschaft in Nürnberg im 13. und 14. Jahrhundert (4.1–4.3), S. 45 ff. 303 W. E, Lübisches Recht, S. 392. 304 Hierzu und zum Folgenden W. E, Über die rechtsschöpferische Leistung; G. D, Rechtshistorische Aspekte, S. 12 f.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

nennt dabei die Erzdiözese Trier als sein Beobachtungsfeld. Außerdem spricht er sich gegen die im alten Prozess gebräuchlichen Eideshelfer und die uneingeschränkte Zulassung des Eides als Beweismittel, genauer als Entscheidungsmittel aus. Die Diskrepanz zum städtischen Prozessrecht wird schon daraus ersichtlich, dass bereits vor mehr als 300 Jahren das Soester Stadtrecht von 1120 die Prozessgefahr aufgehoben hatte; nachfolgend war sie durch stadtherrliche Privilegien für Magdeburg (1188) und für Goslar (1219) beseitigt worden. Die archaischen Prozessformen hielten sich jedenfalls auf dem Lande länger, und zweifellos entsprach ein rationales und deshalb auch berechenbareres Verfahren der ökonomischen Interessenlage des Stadtbürgers. Dem strengen, rituell-formalen Charakter des archaischen Rechtsganges steht ja ein »durchaus irrationaler Charakter der Entscheidungsmittel« gegenüber; »es fehlen alle logischrationalen Begründungen der konkreten Entscheidung«.³⁰⁵ Aus dem Gerichtsverfahren der Städte verschwinden auch die alten Eideshelfer, die andernorts bis gegen das Ende des Mittelalters anzutreffen sind. Sie wurden ersetzt durch echte Zeugen im heutigen Sinne, durch Geschäfts- und Tatzeugen, die tatsächlich gegenwärtig waren, als der zu beweisende Vorgang geschah. Die Eideshelfer, die vornehmlich aus der nahen Verwandtschaft genommen wurden, sagten nicht aus eigener Kenntnis über den Beweisvorgang selber aus, sondern leisteten (coniuncta manu) mit dem reinigungsp ichtigen Beklagten oder dem überführungsp ichtigen Kläger als dem jeweiligen Beweisführer dessen Parteieid mit. Der Eid der Partei war kein Beweismittel wie er es heute ist, sondern bereits die Streitentscheidung. Das Gericht fällte kein Urteil, sondern entschied nur darüber, welche Partei in welcher Form den Eid zu schwören hatte, an den als Rechtsfolge der Gewinn oder der Verlust der Sache geknüpft war. Dagegen gab es

auch keinen Gegenbeweis. Einziger Behelf gegen den streitentscheidenden Eid war die Eidesschelte durch Wegreißen der Hand vor Vollendung der Eidesformel. Die Eidesschelte führte dann zum Zweikampf. Indem nun in den Städten an die Stelle der Eideshelfer die Zeugen treten, vollzieht sich der Übergang von der formalen zur materiellen Rechtswahrheit. Der Gegenbeweis wird jetzt zugelassen, und das Gericht will den wirklichen Sachverhalt, nicht nur das behauptete Recht kennenlernen und ein Urteil in der Sache fällen. Der rituelle Formalismus des älteren Verfahrens und der umfassende Unrechtsvorwurf des älteren Rechtsgefühls werden von einem rationalen Formalismus verdrängt, der eine Lösung ausgegliederter, entscheidungsfähiger Rechtsfragen in berechenbarer Weise ermöglicht und dadurch insbesondere dem rationalen Wirtschaftsleben ein entsprechend rationales Verfahrensrecht für den Streitfall zur Seite stellt. Auch außerhalb des Prozessrechts wurde in der Stadt der rituelle Formalismus zurückgedrängt. Mit zunehmender Formfreiheit im Geschäftsverkehr gewann die Berücksichtigung des wirklichen Willens der Handelnden beim Abschluss des Rechtsgeschäftes Raum. Der archaische Formalismus stellte ganz auf die feierlichen Worte und Symbole ab. »Der Zauber des Worts vertrug keine Anfechtung wegen Irrtums.«³⁰⁶ Mit dem Abbau der Förmlichkeiten gewann umso mehr die rechtsbegründende Kraft des Willens an Selbständigkeit und Gewicht, sodass nunmehr die Anfechtung wegen Irrtums in Erscheinung trat.³⁰⁷ Die Verbreitung der Schriftlichkeit in der Stadt erleichterte und förderte den Verzicht auf feierliche Handlungen und Symbole im Geschäftsverkehr. Dieser Verzicht war bei steigendem Geschäftsumfang und bei einer wachsenden Zahl der Geschäftsabschlüsse auf dem Markt und im Kontor geboten, so etwa für die aufwendigen Formen des Geschäftsabschlusses

305 M. W, Wirtschaft und Gesellschaft (1.2), S. 447, 441 ff. 306 W. E, Über die rechtsschöpferische Leistung, S. 247. 307 Siehe dagegen B. K, »is sint nicht vil wort die eynen man schuldig machen«.

Das Stadtrecht 201

wie den Weinkauf, d. h. die »Bewirtung der Geschäftszeugen und das gegenseitige Zutrinken zwischen den Vertragspartnern zum Heil und zur Freude am Besitz«.³⁰⁸ Und ebenso gilt dies auch für die Mitwirkung von Geschäftszeugen. Der Kaufmann kann nicht ständig zwei Geschäftszeugen als das landrechtliche Minimum mit sich führen. Man begnügt sich mit der Beweissicherung in öffentlichen Stadtbüchern, im Kaufmannsbuch, durch Denkzettel (literae memoriales), die man bei Gericht oder beim Rat deponiert, oder durch die vor allem im Süden gebräuchliche Notariatsurkunde. Das öffentliche Schuldbuch wird zum ausreichenden, unanfechtbaren Beweis für die so genannte ›bekannte Schuld‹. Das Handelsbuch des Schuldners und sogar auch des Gläubigers erhält, wenn es im Übrigen richtig geführt ist, den Wert zumindest eines halben Beweises. Als Marktort ist die Stadt gekennzeichnet durch das allgemeine ius emendi et vendendi, das Recht Kaufmannschaft zu treiben.³⁰⁹ Dieses Recht ist jedoch streng geregelt und nach Betätigungsfeldern gesondert und häu g ständisch gebunden, verschiedenen Berechtigten zugewiesen. Den Kau euten, den Handwerkern, die ja neben ihrem Lohnwerk auch fertige Erzeugnisse im Preiswerk auf dem Markt absetzen, sowie den Kunden ist an einem praktikablen, beweglichen und hinreichend differenzierten Austausch- und Verkehrsrecht gelegen. Dieses Recht, nach heutigen Begriffen ein Schuld- und Handelsrecht, ist das »Lebenselement des bürgerlichen Rechtsverkehrs«³¹⁰ und gehört, obwohl es teilweise nur schwer zu fassen ist, zu dem ältesten Bereich des Stadtrechts im engeren Sinne. Das Geben des Gottespfennigs (Haftgeld, arra) oder der Gelöbnistrunk (Litkauf, Leikauf ) waren Zeichen für den vollendeten Kaufvertrag, von dem die Kontrahenten nur noch aufgrund eines im Abschluss des Kaufgeschäfts selbst lie-

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genden Mangels zurücktreten konnten. Beim Kauf, für den die Rechtssprichwörter Augen auf, Kauf ist Kauf und wer die Augen nicht auftut, tut den Beutel auf gelten, wird die Sachmängelhaftung im Stadtrecht für den örtlichen Marktkauf gesetzlich festgelegt. Im alten Recht der fahrenden Kau eute hat sie noch gefehlt, wie der Aufzeichnung Notkers des Deutschen (um 1000) oder auch aus dem ältesten »deutschrussischen« Handelsvertrag von 1228 zu entnehmen ist. Die Sachmängelhaftung gilt zunächst nur für verborgene Mängel. Der Marktbesucher hat die Waren vor Augen und muss sie prüfen, wenn er keinen Schaden erleiden will. Für Waren jedoch, die zunächst unbesehen, weil noch nicht zur Stelle, geordert werden, muss die Sachmängelhaftung erweitert werden. Augsburg schreibt beim Rosskauf eine Gewährleistungsfrist mit Rückgängigmachung des Kaufs hinsichtlich verborgener Krankheiten von drei Tagen vor, außer der Verkäufer schloss eine über den Augenschein hinausgehende Sachmängelhaftung ausdrücklich aus und der Käufer kontrahierte dennoch. Das Stadtrecht trifft Neuregelungen hinsichtlich des Kaufs von veruntreutem oder von gestohlenem Gut. Beide Vorgänge werden im Stadtrecht gegenüber dem alten Recht weitgehend angeglichen. Im alten Recht konnte man gestohlenes Gut von jedermann wieder herausfordern, während man anvertrautes Gut nur von dem zurückfordern konnte, dem man es gegeben hatte, denn wo man seinen Glauben gelassen hat, da soll man ihn suchen. Sowohl das gestohlene Gut als auch jetzt das veruntreute Gut muss in vielen Stadtrechten nunmehr der fordernde (rechtmäßige) Eigentümer vom nichtsahnenden Käufer durch Zahlung des dafür erlegten Kaufpreises auslösen.³¹¹ Zunächst ist der Kauf nur ein Bargeschäft – Zug um Zug (Kontantgeschäft), an Ort und Stelle (Locogeschäft). Im Handelsverkehr der Kau eute wird der Kauf angesichts eines chro-

W. E, Über die rechtsschöpferische Leistung, S. 247. K. K/A. C/K. N- S, Deutsche Rechtsgeschichte 2, S. 89–103. W. E, Über die rechtsschöpferische Leistung, S. 256. A. V, Das Lösungsrecht; zusammenfassend S. 174-182. Zum angeblichen jüdischen Hehlerrecht siehe E. W, Art. »Hehlerprivileg«, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Bd. II, 1978, Sp. 37-41.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

nischen Bargeldmangels, da Geldmenge und Umlaufgeschwindigkeit nicht mit der Ausweitung des Warenverkehrs Schritt halten können, auch zum Kreditgeschäft, das einen ganz erheblichen Umfang gewinnt. Über die Vorstellung Kauf gegen Schuld, den Borgkauf, wird der Kauf jetzt überhaupt zum schuldrechtlichen Geschäft. Zur Sicherung seiner Durchführung entsteht der Eigentumsvorbehalt, für den wiederum die Handelsmarke in ihrer Eigenschaft als Firmenzeichen von Bedeutung wird. Wie der Bürger und nicht der Bauer zuerst den Wert des Grundbesitzes für Zwecke der Kreditförderung erfasst, so entwickelt der Bürger vom Kauf als Schuldgeschäft herkommend die Idee eines nicht an Immobilien gebundenen reinen Personalkredits, die sich im Wechselbrief ausprägt. Der Wechsel diente zunächst dem Geldwechsel (cambium), dem Umtausch harter Münzen in eine fremde Währung (Valuta), und zugleich dem bargeldlosen Geldtransfer, der den außerordentlich gefährlichen Geldtransport ersparte. Der Wechselbrief³¹² war anfangs eine schriftliche Anweisung unter gewerbsmäßigen Geldwechslern (campsores) verschiedener Plätze, dem Inhaber des Wechselbriefes oder dessen Bevollmächtigten am fremden Ort eine bestimmte Summe in der Währung des Zahlungsortes auszuzahlen. Den Gegenwert hatte der Inhaber des Wechselbriefes in heimischer Währung zuvor eingezahlt. Noch im Mittelalter wird der Wechselbrief zum echten Kreditpapier unter Kau euten und als Geldersatz zum Zahlungsmittel. Die Zahlung wird aufgeschoben, es wird kreditiert. Als Eigenwechsel (Solawechsel, trockener Wechsel) ist der Wechsel ein Versprechen des Ausstellers, selber am anderen Ort eine bestimmte Summe in der dortigen Währung zu zahlen. Er ist meist in die Form eines Notariatsinstruments gekleidet. Als gezogener Wechsel (Tratte) enthält der Wechsel eine Zahlungsanweisung an einen Geschäftspartner oder an eine

312 Siehe 9.6. 313 Siehe 9.7.

Bank, dem Wechselgläubiger oder seinem Beauftragten anstatt des Ausstellers eine bestimmte Summe zu zahlen. In der Anweisung wird das Zahlungsversprechen des Ausstellers als mit enthalten betrachtet. Der Wechsel selbst verkörpert die Forderung. Der Gläubiger aus einer Wechselforderung ist durch das Eigentum am Wechselbrief legitimiert, einen weiteren Nachweis braucht er nicht. Das Recht aus dem Papier folgt dem Recht am Papier. Im späten Mittelalter, spätestens seit dem 15. Jahrhundert, kann der Wechsel durch eine Weitergabeerklärung (Indossament) weitergegeben werden. Auf der Rückseite der Urkunde wird dabei eine Orderklausel angebracht. Unter dem Ein uss des Kreditgedankens wird die Schuldurkunde des Landrechts mit ihrer Häufung von Bürgen und Mitgelobern vereinfacht und beweglich gemacht. Das auf Immobilienbesitz des Rentenschuldners gegründete Rentengeschäft dient als Mittel sowohl der Kreditnahme (Rentenverkauf ) als auch der Kapitalanlage (Rentenkauf ). Rentenpapiere und Schuldverschreibungen können weiterveräußert werden. Daneben verbreitet sich das Lombardgeschäft, d. h. der Kredit gegen Verpfändung beweglicher Sachen. Das kirchliche (kanonische) Zinsverbot steht zwar der möglichen Vielfalt von Geldgeschäften im Wege, kann aber die Tendenz des Geldes, wiederum Geld zu zeugen, nicht völlig unterdrücken, und führt angesichts eines starken Kreditbedürfnisses zur Er ndung von Geschäftsformen wie den »Kauf auf Wiederkauf« oder den Wechselbrief, in denen die Zinsnahme verschleiert wird, und zu Ausnahmeregelungen durch so genannte Zinstitel.³¹³ Kaufmännische Geschäftstätigkeit mit internationalem Zuschnitt erfordert eine Kapitalanhäufung, Zusammenarbeit und Arbeitsteilung, die vom bloßen Kommissionsgeschäft über die gelegentliche Vergesellschaftung bis hin zu der auf Dauer angelegten Gesellschaft reicht, die eine Mithaftung aller Gesellschafter

Das Stadtrecht 203

beinhaltet. Das Frachtvertragsrecht hinsichtlich der Transporte zu Lande und zur See wird in den Städten zu einem ausgebildeten Rechtsinstitut, das die Haftung für verlorenes Gut, das Rücktrittsrecht des Versenders und andere Fragen regelt. Wichtig ist vor allem die Ausbildung eines Konkursrechtes, also des Rechts des Schuldenwesens im Falle der Überschuldung. Es wurde wohl nicht, wie man früher annahm, generell aus der Handelswelt Oberitaliens und des Mittelmeerraumes übernommen, sondern stellt nach Ansicht Wilhelm Ebels zumindest im niederdeutsch-hansischen Raum eine eigenständige Parallelbildung dar. »Das deutsche Konkursrecht geht nicht von einer wütenden Zusammenrottung der Gläubiger aus, einem concursus creditorum, wobei die Wechselbank des betrügerischen Wechslers umgestürzt, banco rutto gemacht wird, sondern ist eine eigentlich recht geniale Übertragung der Nachlassschuldenregelung auf die Lebenden. Der verschuldete Kaufmann muss – später nur noch symbolisch – aus der Stadt iehen, gilt danach als tot, sodass unter seinen Gläubigern eine Art Nachlassteilung eintreten kann.«³¹⁴ Schuldrecht sowie Konkurs- oder Insolvenzrecht wurden statutarisch ausgebildet, wobei in einigen Fällen durch Redaktion von Juristen auch Ein üsse des römisch-kanonischen Rechts anzunehmen sind. Es setzt sich mit üchtigen Schuldnern auseinander, ordnet im Rahmen der gerichtlichen Zwangsvollstreckung den Güterarrest und die Beschlagnahme (Fronung, Bekümmerung) von Liegenschaften und liegenschaftsbezogenen Rechten (Zinse, Renten), regelt die gerichtliche Versteigerung (Gant) und die Verrechnung des Ergebnisses mit der Forderung, legt eine Rangordnung unter den Forderungen fest, insbesondere der privilegierten Boden- und Hauszinse und Lohnansprüche, und räumt den Ansprüchen der Bürger Vorrang vor Forderungen der Geistlichen und in jedem Fall von Fremden

ein.³¹⁵ Satzungen verlangen das Ausschwören des nicht ge üchteten zahlungsunfähigen Schuldners, der sich dadurch selbst, vielfach in die Stadtmark, verbannt, während andererseits das vom Rat erteilte Schuldnergeleit die Rückkehr des ge üchteten Schuldners zur Regelung von Ansprüchen mit den Gläubigern in der Stadt ermöglicht. Im Schuldrecht war der Rat – in Konkurrenz zum summarischen Verfahren des geistlichen Gerichts – darum bemüht, mit der Unterscheidung zwischen anerkannter (gichtiger) Schuld und bestrittener (ungichtiger) Schuld ein beschleunigtes Verfahren vor den städtischen Gerichten zu erreichen. Im Falle der vom Schuldner durch Brief und Siegel, Notariatsurkunde, beweisbares Schuldgelöbnis mit Hand und Mund oder förmlich vor Gericht anerkannten offenkundigen Schuld konnte der Gläubiger ohne weiteres Gerichtsverfahren auf das Vermögen des Schuldners zugreifen. Wie ökonomisches Denken auf das Familienrecht einwirkt und zur unbeschränkten Verp ichtungsfähigkeit und Haftung der Kauffrau führt, so führt es aus Gründen des kaufmännischen Kredits im Stadtrecht zur weitgehenden Mithaftung der Bürgersfrau für die Schulden ihres Ehemannes. Sie haftet nunmehr mit ihrem eingebrachten Gut, was im Landrecht nicht der Fall ist. Außerordentlich instruktiv ist die grundsätzliche Abweichung des Grundbesitzrechts in der Stadt von den ländlichen Rechtsverhältnissen. Wurde bereits von einer Mobilisierung des Rechts durch die städtische Gesetzgebung gesprochen, so ist am Grundbesitzrecht eine Mobilisierung der Rechtsobjekte durch die Stadt zu erkennen. Auf dem Lande geht es in erster Linie um die Nutzung von Grund und Boden, sei es durch den, der in eigener Person den Acker bestellt, sei es durch den, der daraus seine Grundrente in Form von Abgaben bezieht. »Die Berechtigun-

314 W. E, Über die rechtsschöpferische Leistung, S. 257. 315 Siehe insbesondere H.-R. H, Basler Rechtsleben, I, S. 53; II, 54–57, 117–139; E. I, Gelehrte Juristen und das Prozeßgeschehen (4.7), S. 340–355. Vgl. 9.6.3.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

gen an Grund und Boden, sowohl im Lehnrecht als auch in der Grundherrschaft waren übereinander gelagert und hierarchisch gegliedert, mit personalen Rechtsbeziehungen ver ochten und damit zu Herrschaftsverhältnissen ausgestaltet. Die politische Herrschaftsverfassung war darum mit der Berechtigung an Grund und Boden untrennbar verbunden; aus der Stellung in diesem System ergab sich weitgehend der persönliche Status des Einzelnen.«³¹⁶ Es herrschte das Prinzip der Gebundenheit des Grundbesitzes; das Recht des Einzelnen war herrschaftlich, aber auch genossenschaftlich und familienrechtlich beschränkt. Das städtische Recht »befreit den Einzelnen aus der Enge vorgegebener Herrschaftsverhältnisse, es schafft die Voraussetzungen für den sozialen Aufstieg durch Vermögenserwerb aus Handel und Gewerbe. Die Stadt ist damit ein Raum weit größerer gesellschaftlicher Mobilität als der agrarische Bereich«.³¹⁷ In der Stadt fallen die Bindungen des Grundbesitzes nach und nach fort. Es entwickelt sich ein Recht, das am Prinzip der Freiheit des Grundbesitzes orientiert ist und das auf den römischen und heutigen Eigentumsbegriff hin tendiert, zu einem die Substanz der Sache ergreifenden Verfügungsrecht und zu einem herrschaftsfreien Verkehrseigentum. Auch der Bürger hat anfangs kein freies Eigentum an dem ihm in Erbleihe überlassenen Areal. Er kann über sein erbliches Recht verfügen, hat aber einen – wenn auch nur geringen – Zins an den Stadtherrn zu zahlen. Mit der Ablösung des Zinses und mit seiner Übernahme durch die Stadt geht diese Bindung an den Stadtherrn jedoch verloren. Soweit genossenschaftliche Bindungen hinsichtlich mitverliehener Wiesen, Äcker, Hopfengärten oder Reb ächen bestehen, unterliegen sie einer vom Hausbesitz gesonderten Rechtsordnung; die Stadt erscheint als deren Eigentümerin und verteilt die Nutzungsrechte. Die familienrechtlichen Bindungen, die Beispruchs- und Zustimmungsrechte der Ver-

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wandtschaft und der Erben, halten sich in der Form des ›Erbenlaubes‹ am längsten, überleben aber zugunsten der Verfügbarkeit, der Kreditfähigkeit des Familiengutes und der entsprechenden Gläubigerinteressen das Mittelalter kaum. Unter Erbenlaub (ervengelof ) wird die Zustimmung der nächsten Erben bei Veräußerung und Verpfändung von Erbgut, d. h. der durch Erbgang erworbenen Grundstücke verstanden. Über Liegenschaften kann auch erst spät testamentarisch freier verfügt werden. Über Kaufgut, das der Eigentümer durch Rechtsgeschäft erworben hat, steht diesem jedoch die freie Verfügung zu. Das herkömmliche Retraktrecht (Näherrecht), ein im Falle des Verkaufs anwartschaftliches dingliches Erwerbsrecht der nächsten Erben an Grundstücken binnen Jahr und Tag, wurde in Stadtrechten in der Ausübung zeitlich drastisch verkürzt, in Duisburg etwa im frühen 14. Jahrhundert durch Statut auf sechs Wochen und drei Tage, wobei allerdings Bürger die Geltung des Status anfochten und die Rechtsfrage aufgeworfen wurde, ob der Rat das Herkommen, die consuetudo, die auch im Reichsrecht vor ndlich war, ändern durfte.³¹⁸ Anders als auf dem Land mit seinen übergreifenden Sippenbindungen waren in der Stadt die Kleinfamilie oder die kleinere Verwandtengruppe vorherrschend, und Zugezogene lockerten ihre Verbindung zu den zurückgelassenen Verwandten, was möglicherweise eine Individualisierung von Rechtsverhältnissen förderte. Wer aber in Rottweil ›an sein Totenbett kam und weder reiten noch gehen konnte‹, durfte Verfügungen über sein Immobiliarvermögen (Gut) rechtskräftig nur mit Gunst und Willen seiner nächsten Erben treffen.³¹⁹ Seine beweglichen Gegenstände (res) konnte nach Mitteilung der Schöffen der Stadt Münster der Schwerkranke, ›solange er noch die Hand zu heben in der Lage war‹, vermachen wem er wollte, während nach einer Rechtsweisung der Magde-

G. D, Rechtshistorische Aspekte des Stadtbegriffs, S. 19. Ebd., S. 20. E. I, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht, S. 179–187. H. G (Hg.), Das ältere Recht der Reichsstadt Rottweil (2.2.–2.4), Nr. 168, S. 162.

Das Stadtrecht 205

burger Schöffen von 1261 weder der Ehemann noch die Ehefrau auf dem Krankenbett ohne Erlaubnis der Erben mehr als drei Schillinge vergeben durften, die Ehefrau auch nicht ohne Erlaubnis des Ehemannes.³²⁰ Seit dem 13. Jahrhundert wurden Testamente zulässig und entwickelte sich allmählich eine weitgehende Testierfreiheit, sodass der Erblasser Vermögen auch an Dritte übertragen und die nächsten Angehörigen zu einem großen Teil vom Erbe ausschließen konnte. Die Juristen machten hierfür das nicht verfügbare ›Falcidische Viertel‹ (quarta Falcidia) im römischen Recht geltend, wonach der Erblasser nur über drei Viertel der Erbschaft durch Legate verfügen durfte und ein Viertel den Erben erhalten bleiben musste. Mit dem Fortfall derartiger Beschränkungen zugunsten freierer individueller Verfügungsrechte entsteht der Begriff des Privateigentums an Grundstücken. Im Unterschied zur grundherrschaftlich-feudalen Rechtsordnung wird in der Stadt ein Bereich »privaten« Rechts aus dem allgemeinen Verfassungsaufbau ausgegliedert. Das Grundstücksrecht wird damit zugleich mobilisiert und kommerzialisiert. In der Stadt entwickelt sich ein lebhafter Grundstücksverkehr, wie er den ländlichen Lebensverhältnissen weitgehend unbekannt ist. Dies wird deutlich an der Verwendung von Grundstücken zu Kreditzwecken, vermittelt durch das Pfandrecht, und an dem gesteigerten Eigentumswechsel außerhalb des Erbgangs durch Rechtsgeschäfte unter Lebenden, durch Kauf. Das Pfandrecht war die zweckmäßige Form, um vor allem kurz- und mittelfristige Kredite dinglich zu sichern. Um die Grundstücksgeschäfte angesichts des zunehmenden Grundstücksverkehrs, in erster Linie die Verpfändungsgeschäfte, zu verklaren, d. h. »zu andauernder, jedem jederzeit zugänglicher Publizität zu bringen und beweissicher zu machen«, wird in der Stadt das Grundbuch erfunden.³²¹ Seine Ursprünge sind also

nicht in den Urbarien der ländlichen Herrschaften zu suchen. Das Grundbuchwesen tritt in zwei unabhängig voneinander entstandenen Formen auf: in der Registrierung durch Gerichtsschöffen wie in Köln und in der Ratsbuchführung wie in Lübeck. Durch das Grundbuch werden nicht nur die Geschäftsvornahmen, sondern auch die Rechtsverhältnisse am Grundstück öffentlich sichtbar gemacht. Dadurch ist eine mehrfache Verpfändung des Grundstücks ermöglicht, wenn das Pfandrecht nicht den ganzen Grundstückswert erfasst. Obwohl das Bodenrecht sich dem römischen Eigentumsbegriff angleicht und durch die Juristen der Rezeptionszeit in das römische Recht eingefügt werden kann, bleibt durch das Grundbuch die deutschrechtliche Unterscheidung von Liegenschaften und Fahrhabe, von res immobiles und res mobiles, sowie ihre rechtlich unterschiedliche Behandlung aufrechterhalten und wird institutionell abgesichert. Die vielfach genutzte Möglichkeit mehrfacher Verpfändung von Häusern und Grundstücken hat aber zur Voraussetzung, dass ein rechnerisches Wertverhältnis von Schuld und Pfandobjekt ermittelt wird. Dies geschieht zuerst im städtischen Pfandrecht. Im Landrecht ist das Pfand ursprünglich Ersatzleistung für die Schulderfüllung. Es kann zwar ausgelöst werden, verbleibt aber sonst beim Gläubiger, der dadurch möglicherweise einen höheren Wert als den Schuldbetrag erhält. Das städtische Pfandrecht jedoch verp ichtet den Gläubiger, das verfallene Pfand zu veräußern. Der dabei erzielte Mehrerlös muss dem Schuldner zurückerstattet werden, andererseits wird der Schuldner persönlich haftbar und der Gläubiger erhält ein Nachforderungsrecht, falls das verkaufte Pfand den Schuldbetrag nicht einbringt. Nach der älteren Pfandsatzung muss der Gläubiger den unmittelbaren Besitz am Pfand erhalten, das er dann nutzt. Das Recht der Kaufmannsstädte, vor allem Kölns, entwickelt da-

320 B.-U. H (Hg.), Quellen zur Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 36, S. 248 (vor 1214); Nr. 43, S. 294. 321 W. E, Über die rechtsschöpferische Leistung, S. 255; K. K/A. C/K. N- S, Deutsche Rechtsgeschichte 2, S. 70–73.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

neben eine neue Satzung, die dem Gläubiger nur noch den mittelbaren Besitz und nur ein bedingtes Zugriffsrecht gewährt. Wirtschaftliche Voraussetzung dafür sind der erhöhte Kapitalbedarf des Handels, das Steigen der Grundstückswerte und vor allem die Notwendigkeit, das Wohn- und Geschäftshaus als Kreditgrundlage zu nehmen, dessen Besitz und Nutzung aber nicht entbehrt werden kann. Beim besitzlosen Pfand kann der Schuldner in seinem Haus wohnen bleiben und in seiner Werkstatt weiterarbeiten oder das Haus auf andere Weise nutzen. Das Pfandgrundstück, an dessen Erwerb dem Pfandgläubiger möglicherweise nicht gelegen war, muss bei Säumigkeit oder Zahlungsunfähigkeit des Schuldners nicht unbedingt durch Pfandverfall auf ihn übergehen, denn es kann auch ein Pfandverkauf vereinbart werden. Rechtliche Voraussetzung ist das Entstehen von Einrichtungen, welche die Publizität sichern, auch wenn der Schuldner im unmittelbaren Besitz des Pfandes bleibt. Eine solche Einrichtung ist das Grundbuch. Mit der weiten Verbreitung von Mietverhältnissen mussten in Stadtrechten die Zahlungsfristen und insbesondere das Problem der Sicherung der Mietzinsforderungen des Vermieters von Häusern, Wohnungen, Werkstätten und Gärten geregelt werden, während ansonsten die vertraglichen Mietverhältnisse zwischen den Parteien weitgehend autonom gestaltet werden konnten.³²² Grenzen nden die Setzung und Geltung städtischen Rechts jedoch durch das kirchliche kanonische Recht und die geistliche Gerichtsbarkeit. Geregelt werden von der Stadt zwar ehegüterrechtliche Fragen wie Brautschatz, Morgengabe, Frauenvermögen und Mannesverfügung, nicht aber die Angelegenheiten des persönlichen Eherechts, d. h. der Bereich von Verlöbnis, Trauung, Ehezucht und Ehetrennung. In diesem Bereich sind die kirchliche Gesetzgebung und Jurisdiktion zuständig. Nach Einführung der Reformation ging jedoch in protestantischen Städten die Gesetzgebungsgewalt an

die weltliche Obrigkeit über und es wurde ein weltliches Ehegericht eingerichtet, das sich um gütliche Einigung bemühen sollte, aber auch Ehescheidungen aussprechen konnte, strafbare Handlungen wie Ehebruch aber vor das Ratsgericht bringen musste. Ansprüche aus Eheversprechen wurden in den Stadtrechten vom Rat an das geistliche Gericht verwiesen. Die Folgen für das Frauenvermögen bei Eheschließung der Frau ohne den Rat ihrer Freunde, das sind die Verwandten, statuierte jedoch das Stadtrecht. Gleiches gilt für die erbrechtlichen Folgen einer ohne Wissen und Einwilligung der Eltern und Verwandten geschlossenen so genannten Winkel-, Kuppeloder Kirchweihehe (norddt. Abheirat). Wenn in solchen Fällen die Enterbung oder der Stadtverweis (Braunschweig) drohte, so widersprachen derartige Statuten in gewisser Weise dem Konsensprinzip des kanonischen Rechts, wonach der übereinstimmende Wille der Partner allein die Ehe rechtsgültig machte. Kam der tatsächliche Vollzug der Ehe hinzu, musste ihre Gültigkeit grundsätzlich vermutet, ihre Ungültigkeit bewiesen werden. Ehen, deren Gültigkeit aus formalen Gründen zweifelhaft war, wurden von der Kirche daher leichter anerkannt als von der Stadt, die um ordentliche, eindeutige Eheverhältnisse bemüht war und anfechtbare Verbindungen bekämpfte. Die beiden Augsburger Ratsgremien regelten 1434 als immerwährendes Recht und Gesetz die erbrechtlichen Folgen bei böswilligem Verlassen eines Ehepartners zugunsten eines außerehelichen Verhältnisses. Der verlassene Teil, der sich selbst versorgte, durfte über das Vermögen, das er zum Zeitpunkt, zu dem er verlassen wurde, besaß und danach hinzu erwarb, testamentarisch verfügen; lag kein Testament vor, el es an seinen nächsten Verwandten. Eine Anfechtung durch geistliche oder weltliche Gerichte sollte die Rechtsdurchsetzung nicht verhindern können. Bei Wiederaufnahme der ehelichen Gemeinschaft galt wieder das Stadtrecht. Im Falle der Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft

322 T. R, Die Sicherung der Mietzinsforderungen, S. 141–172.

Die Stadtverfassung

durch die Trennung ›von Tisch und Bett‹ tendierte das weltliche Ehegüterrecht dazu, die Besitzverhältnisse wiederherzustellen, wie sie vor der Ehe bestanden hatten. Die Frau sollte zumindest die Fahrhabe zurückerhalten, die sie mit in die Ehe eingebracht hatte, verlor aber die Morgengabe als das an die Ehe geknüpfte Geschenk. Ehebruch, Bigamie, das als üble Nachrede betrachtete, häu ger vorkommende Ansprechen um Ehe aufgrund fälschlich behaupteter Eheversprechen, ferner Verweigerung versprochener Ehe, fälschliche Behauptung der Verführung und tatsächliche Verführung galten als schmachvolle Ehrverletzungen und folgenschwere Störungen des Stadtfriedens und fanden deshalb als Straftatbestände, die teilweise mit Geldstrafen und Stadtverbannung geahndet werden, Eingang in das Stadtrecht. Der Rottweiler Rat stellte Ehebruch, ferner Entehrung von Ehefrauen, Töchtern und Schwestern oder von Hausgesinde durch Dritte sowie offene Konkubinate unter gestaffelte Geldstrafen. Stra os blieb die Entehrung von Gesinde nur, wenn der Hausherr oder die Hausherrin zwischen dem Täter und der Verführter eine Eheschließung herbeiführen konnten.³²³ Um missbräuchlichen Klagen vor dem geistlichen Gericht zu Konstanz wegen genommener Jungfräulichkeit (Magttum) entgegenzuwirken, die sich gelegentlich auf Vorfälle bezogen hätten, die bis zu 16 oder 20 Jahre zurücklagen, statuierten die beiden Räte Zürichs 1442 eine hart sanktionierte Verjährungsfrist von einem Jahr, die 1507 bestätigt wurde.³²⁴ Die Kirche wiederum versuchte, die Grenzen ihrer Zuständigkeit vorzuschieben und etwa alle Testamentssachen als causae ecclesiasticae unter ihre Jurisdiktion zu ziehen. Sie hatte ein großes Interesse an Legaten ad pias causas, an Vermächtnissen für fromme Zwecke, und wollte nur die nach kanonischem Recht unter Zuziehung wenigstens eines Geistlichen errichteten Testamente als gültig anerkennen.

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Die Kleriker lebten nach kanonischem Recht und hatten ihre eigene Gerichtsbarkeit. Sie durften aufgrund ihres Gerichtsstandsprivilegs (privilegium fori) nicht vor ein weltliches Gericht gezogen und damit dem weltlichen Recht unterstellt werden. Dem städtischen Recht entzogen waren in der Regel auch interne Rechtsangelegenheiten und Streitigkeiten der Juden. Von der städtischen Gerichtsbarkeit ausgenommen waren exemte Personen in der Stadt wie die stadtherrlichen Amtsträger und der seinen eigenen Gerichten im Lande unterstehende Adel, der in der Stadt einen Wohnsitz hatte und nicht in einem Ausbürgerverhältnis zur Stadt stand.

2.5 Die Stadtverfassung 2.5.1 Stadtgemeinde und Stadtverfassung Zentrales Merkmal der weitgehend autonomen Stadt ist ihr Gemeindecharakter mit Markt, Gericht, Rechtsbildung, Selbstverwaltung und militärischer Selbstverteidigung. Als Gemeinde (communitas) bildet die Stadt einen politischen Verband, der mit dem Rat einen regierenden Ausschuss einsetzt, sodass sich in personalem und politischem Sinne eine je nach Stadtverfassung unterschiedlich ausgestaltete Bipolarität von Rat und Gemeinde ergibt. Die Stadt ist aus landrechtlichen Verhältnissen entstanden, doch wie sich das städtische Recht aus den ländlichen Rechtsverhältnissen fortentwickelt und sich von ihnen abhebt, so steht die politische Ordnung der Stadt, die, nach ursprünglicher stadtherrlicher Privilegierung, die eigenständige Rechtsbildung erst ermöglicht hat, im Mittelalter den Formen neuzeitlicher Staatlichkeit entschieden näher als der politische Verband des Landes. Größere mittelalterliche Territorien erwuchsen als zusammengesetzte Gebilde aus patrimonialen und lehensrechtlichen Herrschaftsverhältnissen und adligen Allodialbereichen mit Immunitätscharakter und bildeten erst allmäh-

323 H. G (Hg.), Das ältere Recht der Reichsstadt Rottweil, Nrr. 279–285, S. 203–205. 324 H. N (Hg.), Die Zürcher Stadtbücher III, Nrr. 87 f., S. 79–81.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

lich einen einheitlichen bezirksbezogenen und gebietsherrschaftlichen Verband. Die genossenschaftlich organisierten Dörfer wiederum waren trotz ihrer Satzungen und ihrer Selbstorganisation im Vergleich zur entwickelten Stadt rudimentäre Gebilde. Die Stadtverfassung war in ganz anderer Weise institutionell ausgeformt und durchgebildet. Angesichts der nur schwer zu überwindenden Schwierigkeiten, die weite Entfernungen und schlechte Straßen für die Herrschaftsausübung darstellten und ihr natürliche Grenzen setzten, wird man immer wieder auf den fundamentalen Sachverhalt des ummauerten, klar begrenzten städtischen Raumes hinweisen müssen, der eine stets präsente und intensive Herrschaft und eine kontinuierliche Verwaltung mit »Betriebscharakter«³²⁵ anstelle einer bloßen »Gelegenheitsverwaltung« ermöglichte, ferner auf den sozialen und kulturellen Sachverhalt, dass die Stadt in der Lage war, wirtschaftlichen, organisatorischen und politischen Sachverstand weitgehend aus sich selbst hervorzubringen, und auf die nanziellen Mittel, die von der Stadt infolge der Handels- und Gewerbetätigkeit ihrer Bürger durch Erhebung von Solidarabgaben mobilisiert und für ihre Zwecke eingesetzt werden konnten. Die begrenzte Ausdehnung des städtischen Territoriums und die entsprechende Größe der Bevölkerung ermöglichten zudem nach zeitgenössischer politischer und juristischer Verfassungstheorie je nach Größenordnung eine nichtmonarchische, eine demokratische oder aristokratische Regierungsform.³²⁶ Die verbandsbildende politische Dynamik in der Stadt beruhte auf einem teilweise enormen Bevölkerungs- und Siedlungswachstum seit dem 10. Jahrhundert durch Zuzug und einem wirtschaftlichen Aufschwung durch Differenzierung von Handwerk und Gewerbe, gewerbliche Arbeitsteilung, zunehmende Markt-

produktion und Markterweiterung. Es lösten sich zugleich die alten grund- und hofrechtlichen Bindungen an den Stadtherrn. Damit einher ging in manchen Städten ein expandierender weiträumiger Großhandel mit örtlich erzeugten Produkten und fremden Waren. Über den grundlegenden Vorgang der städtischen Gemeindebildung sagen die Quellen nur wenig aus. Bürger konnten bereits in einem nicht klar zu de nierenden Zustand der Verbandsbildung und ohne einen eigenen Rat zu besitzen am unmittelbaren Stadtherrn vorbei königliche Privilegien erhalten. Für Erklärungsversuche hinsichtlich der Gemeindebildung spielen deshalb Verallgemeinerungen einzelner örtlicher oder regional verbreiteter Gegebenheiten zu Entstehungstheorien eine große Rolle. 2.5.1.1 Entstehungstheorien der Gemeindebildung Die älteren Bemühungen um eine Erklärung der Stadtentstehung und Gemeindebildung haben einzelne Bau- und Siedlungselemente der Stadt, die Burg, die Landgemeinde, die früher in Anlehnung an die Quellensprache mit dem Kunstbegriff »Wik« bezeichnete Kau eutesiedlung, den Markt oder die Gilde einseitig hervorgehoben und einzelne eorien daraus abgeleitet.³²⁷ Der Ursprung der Stadt und ihrer Gemeindebildung lässt sich nicht generalisierend auf bestimmte prägende Grundlagen und Ausgangspunkte zurückführen, wie dies die ältere Forschung mit ihren verschiedenen Entstehungstheorien versucht hat: Fortdauer der römischen Munizipalverfassung (Friedrich Carl von Savigny), Hofverfassung (Karl Wilhelm Nitzsch), germanische Gildeverfassung (Ernst Wilda), Stadtmarkverfassung (Georg Ludwig von Maurer), Marktrecht und öffentliche Gerichtsverfassung. Von derartigen unnötigen Verabsolutierungen ist die neuere Forschung abgegan-

325 M. W, Wirtschaft und Gesellschaft (1.2), S. 28, passim. 326 Siehe unten 2.5.4. 327 E. E, Frühgeschichte der europäischen Stadt (1.3); F. S, Stadtgemeinde und Landgemeinde; K. K, Weichbild; E. U, Stadtgemeinde und Stadtbürgertum im Feudalismus; G. D, Die Rechtsgeschichte der Stadt, S. 330–338; K. S, »Denn sie lieben die Freiheit so sehr …«, S. 11–17.

Die Stadtverfassung

gen und hat dargetan, dass diese persönlichen und dinglichen Elemente zusammengewirkt und nach Ort und Umständen mit unterschiedlichem Anteil und Gewicht die Stadt und ihre Gemeinde in ihren Ursprüngen im Rechtssinne geformt haben. Wurzeln der Gemeindebildung seit dem 10. Jahrhundert wurden vor allem gesehen in der (1) Marktgemeinde mit Marktrecht, Münze, Zoll, Bannbezirk und Kaufmannsrecht, der (2) alten Gerichtsgemeinde, in der nicht weiter ableitbaren (3) geogra schen Nachbarschaft (Geburschaft), die innerhalb der Stadt topogra schterritorial geprägte Sonderbezirke und Sondergemeinden bildet, wie etwa in Köln und Soest, in der (4) Landgemeinde und Markgenossenschaft mit Gemeineigentum (Allmende) und (5) in der Verteidigungsgemeinschaft mit der großen Gemeinschaftsaufgabe des Mauerbaus, ferner in der ländlichen wie städtischen (6) Neusiedlung, der Landnahme zu freier Erbleihe und der Siedlung gleichberechtigter Genossen als einem der »Urvorgänge der Rechtsbildung« und der gemeindebildenden Faktoren.³²⁸ Bürgerliche Freiheit und Rechtsgleichheit sind im Europa nördlich der Alpen ein Ergebnis der Emanzipationsbestrebungen im Zusammenhang mit dem evolutionären oder revolutionären Prozess der Kommunebewegung. Am besten ist dies am Beispiel alter Bischofsstädte beobachten, während die Stadtherren bei Neugründungen häu g den Bewohnern als Ansiedlungsprämie entsprechend den Rodungsfreiheiten in ländlichen Neusiedelgebieten einen freiheitlichen Status konzedierten. Wenn die Gemeindebildung auf bestimmten älteren Grundlagen beruhte, so bedurfte es einer demogra sch-wirtschaftlichen Dynamik und politischer Initiativen, um sie fortzuentwickeln und durchzusetzen. Eine große Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die Auffassung erlangt, wonach (7) die örtlichen Kau eutegilden einen maß-

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geblichen Ein uss auf die Gemeindebildung gehabt hätten. Zugrunde liegt dem die Annahme, dass neben der vertikal ausgerichteten Herrschaft genossenschaftliche Formen der Rechts- und Verbandsbildung unter Rechtsgleichen eigenständig fortbestanden hätten. Otto von Gierke hat dies in seinem monumentalen »Deutschen Genossenschaftsrecht« das Prinzip der »freien Einung« genannt, dem er vom Hochmittelalter bis ins frühe 16. Jahrhundert, bis zum Bauernkrieg von 1525, eine prägende Kraft für die deutsche Verfassungsgeschichte zuerkannte. Hinzu kommt, dass die Kau eutegilden in manchem ähnlich wie die kommunalen Schwurgenossenschaften strukturiert waren. Das gilt für die eidliche Bindung, die innere Ordnung und den gegenseitigen Schutz. Die örtlichen Kau eutegilden lieferten demnach der Kommunebewegung die vorbildhaften Rechtsformen der freien Einung und zugleich mit den Kau euten die aktive Führungsschicht, die dank persönlicher Freiheit, politisch-sozialer Erfahrung des Gildelebens und ihrer Wirtschaftskraft geeignet war, die Gemeinde zu formen und eventuell mit stadtherrlichen Ministerialen und anderen Verbündeten, wie man hinzufügen kann, den politisch emanzipatorischen Kampf gegen den Stadtherrn aufzunehmen. Vor allem der belgische Stadthistoriker Henri Pirenne³²⁹ und auf deutscher Seite der Rechtshistoriker Hans Planitz haben diese Gildetheorie der Gemeindebildung begründet und propagiert. Wenig Klarheit besteht indessen darüber, wie die als persönlich frei erachteten Kau eute mit der Masse der hofrechtlich gebundenen, unfreien Stadtbevölkerung in Verbindung traten und inwiefern sie deren persönliche Freiheit förderten, wer zunächst aktiv die Gemeinde bildete und wer nur der Gemeinde zugerechnet wurde. Gegen die Gildetheorie ist vor allem eingewandt worden, dass eine exklusive Personengruppe wie die Kau eute, die sich zu dem

328 K. K, Weichbild, S. 14. 329 H. P, L‘origine des constitutions urbaines au moyen âge, in: Revue historique 53 (1893), S. 52–83 und 57 (1895), S. 57–98, 293–327.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

speziellen Zweck des Fernhandels zusammengeschlossen hatten, kaum einen unmittelbaren Ein uss auf den ortsbezogenen Gemeindebildungsvorgang besessen haben könne. Ferner gibt es nur für die nordwesteuropäische Städteregion einige wenige quellenmäßig gesicherte Hinweise auf die Ein ussnahme von Kaufleutegilden auf den Stadtwerdungsvorgang. In einem länger gestreckten Vorgang trafen diese Kau eute jedoch auf sich au ösende hofrechtliche Verbände und auf Handwerker, die sich ihrerseits mit dem Ziel der Selbstbestimmung in den Kau eutegilden einungsrechtlich verwandten Zünften organisierten. Es bleibt indessen die Möglichkeit, dass die Idee der Genossenschaft, die Rechtsform der freien Einung sowie das Organisationsmodell der Gilde ohne konkrete Anbindung an die einzelnen Gilden formbildend waren. Tatsächlich hatten die Kau eute in vielen nordeuropäischen Städten auch nach der Gemeindebildung die Führungsposition inne. Die Einungsidee konnte sich durchaus auch an örtlichen Schöffenkollegien ausrichten, so etwa in Städten an Rhein, Maas und Mosel. Der Gildetheorie in einigen Zügen verwandt ist der Interpretationsansatz, der die kommunale Bewegung in die Gottesfriedensbewegung einordnet, wie sie sich seit dem Ende des 10. Jahrhunderts entfaltet und mit der städtischen Kommune die Bezeichnung communia sowie die Zielsetzung des Friedens, der pax, gemeinsam hatte. Die früher von Bischof und Klerus geführten Friedenseinungen stellten vielfach auf der Ebene der Diözese Selbsthilfeund Verteidigungsmaßnahmen gegen die zahlreichen Adelsfehden und die damit einhergehende Bedrückung und Willkür dar. Auf der Ebene von Strukturähnlichkeiten liegt es nahe, davon auszugehen, dass sich die Bürger geschworener Einungen gegen herrschaftliche Willkür und Übergriffe wandten und darüber hinausgehend den stadtherrlichen

Frieden und Rechtsschutz als nicht mehr zureichend empfanden und ihn deshalb auf eine genossenschaftliche Grundlage stellen wollten. Otto von Freising, Bischof, Onkel und Historiograph Kaiser Friedrich Barbarossas, ein Angehöriger der Hocharistokratie und Bildungselite, nannte in seinen »Gesta Frederici« von 1157/58 als politische Motive der kommunalen Bewegung in Oberitalien die große Freiheitsliebe der städtischen Bewohner – libertatem tantopere affectant – und ihren Wunsch nach Selbstregierung durch gewählte Konsuln, um der willkürlichen Machtausübung durch gebietende Herren zu entgehen.³³⁰ 2.5.1.2 Der Bürgerverband als Schwur- und Eidgenossenschaft (coniuratio) Am Beispiel der westlichen Bischofsstädte hat Hans Planitz die eorie entwickelt, wonach die deutsche mittelalterliche Stadt im Rahmen der eidgenössischen Friedensbewegung des 11./12. Jahrhunderts durch coniurationes, Schwur- und Eidgenossenschaften der Bürger unter Führung der in Gilden organisierten Fernhandelskau eute in revolutionären Aufstandsbewegungen gegen den Stadtherrn entstanden oder wenigstens vollendet worden sei. Durch ihre Eidgenossenschaft hätten die Bürger die Stadtgemeinde als körperschaftliches Gebilde geschaffen.³³¹ Während des 12. Jahrhunderts setzten sich – so Planitz – in etwa 25 Städten älteren Typs Schwurgemeinschaften durch und brachten autonomes Recht hervor, das dann teilweise oder vollständig auch von Städten aufgenommen wurde, die selber keine eidgenössischen Bewegungen durchgemacht hatten. Ihrem Zweck nach war die coniuratio eine eidlich begründete pax, wie sie gelegentlich auch genannt wird, ein persönlicher Friede zwischen den Eidgenossen als eine Parallelerscheinung zu den Landfrieden. Die Eidgenossenschaft verp ichtete die an ihr beteiligten Bürger zu Treue und zum Ein-

330 Otto von Freising et Rahewin, Gesta Frederici seu rectius Cronica, hg. von F.-J. S, übersetzt von A. S, Darmstadt 1965, Buch II, Kap. 14, S. 308. 331 Siehe die angeführten Aufsätze von H. P; zusammenfassend in: ., Die deutsche Stadt, S. 251 ff., 336 ff.

Die Stadtverfassung

satz für die Gemeinde, woraus sich die Wehrund Steuerp icht herleiteten. Friedegebot und Sühnegericht dienten der Erhaltung des Friedens. Die höchsten Strafen gegen Friedensbrecher waren der Ausschluss aus der Eidgenossenschaft, die Stadtverweisung und die Hauszerstörung als Akt der Feindschaft und Rache, wenn die Tat gegen die Gemeinschaft selbst gerichtet war. Zu diesem spezi schen und fortgeltenden eidgenössischen Recht und dem privilegialen Kaufmannsrecht der vorstädtischen Zeit trat seit dem 13./14. Jahrhundert das ius civitatis, das aus Gewohnheiten und städtischen Willküren als einer inhaltlich neuen Schicht autonomen Rechts erwuchs, lokal und nicht personal, d. h. auch für Nichtbürger innerhalb des Weichbildes, galt und alle Bereiche des Rechtslebens, Strafrecht, Privatrecht, Prozess, Gerichtsverfassung, Gewerbe und Polizei umfasste. An der Überbewertung der von der Kaufmannsgilde gelenkten revolutionären Schwurgemeinschaft, d. h. der Verallgemeinerung bestimmter Vorgänge und ihrer Leitfunktion, wurde vielfach Kritik geübt: Der Herrschaft des Stadtherrn standen nicht isoliert einzelne Bürger gegenüber; von Anfang an traten ihr in gewissem Umfang handlungsfähige Gemeinschaften entgegen. Die Stadtherrschaft und die auf genossenschaftlicher Grundlage erwachsende Gemeinde waren von Anfang an aufeinander bezogen und ergänzten sich. In der Frühzeit der Stadt dominierte der Stadtherr, doch wuchs die Bedeutung der bürgerlichen Genossenschaft, die zu einem stärkeren Widerpart wurde, an Selbständigkeit gewann, sich eine eigene herrschaftliche Spitze gab und vom Stadtherrn stadtherrschaftliche Befugnisse erwarb.³³² Die bürgerliche Stadtgemeinde entstand nicht stets als Kampf gegen den Stadtherrn, sondern wurde vom Stadtherrn auch freiwillig oder notgedrungen gefördert; sie wurde häu g nicht durch einen einzigen Akt ins Leben gerufen, sondern durch eine Abfolge von Vorgängen. Die

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Bildung der Gemeinde konnte autogen und originär durch Eidverbrüderung, damit auch gewissermaßen »revolutionär« gegen den Stadtherrn erfolgen, oder die Gemeinde konnte von ihm durch Privileg konstituiert und damit abgeleitet sein. Dabei konnte die privilegiale Ableitung einer vorausgegangenen faktischen Gemeindebildung durch die Bürger legitimierend nachfolgen.³³³ Für die herrenständisch-feudale Umwelt Europas war die nicht vom Stadtherrn abgeleitete Bildung der Stadtgemeinde grundsätzlich etwas Illegitimes, wie dies die zahlreichen scharf ablehnenden und empörten Verdikte geistlichen Zeitgenossen und Chronisten wie Guibert von Nogent (1053‒etwa 1124), Richard von Devizes (zum Jahr 1191), und Jakob von Vitry (1160‒1240) sowie Verbote der eidgenossenschaftlichen Gemeinschaftsbildung (communia) und Bestellung von consules durch Fürstensprüche und Könige belegen. Eine umfassende Erklärung für die Ausformung der körperschaftlich verfassten Stadt vermögen diese einzelnen Verweise auf Wurzeln der Gemeindebildung nicht zu geben. Zweifellos spielte die coniuratio der Bürger eine wesentliche Rolle bei der Fortentwicklung der städtischen Siedlung und Ortsgemeinde hin zur Körperschaft. Wilhelm Ebel hat das Problem der Gemeindebildung auf eine grundsätzlichere Ebene verlagert, indem er nicht nur auf den institutionellen Sachverhalt der coniuratio und den Geltungskreis des Stadtrechts im Sinne der Willkür, sondern auch auf dessen Geltungsgrund abzielt.³³⁴ Die coniuratio war für Entstehung, Geltung und Fortbildung des Stadtrechts im engeren Sinne die eigentliche Grundlage und das eigentliche Mittel. Nur hat die bürgerliche coniuratio der Frühzeit die Stadt weder im rechtlichen Sinne allein geschaffen noch war sie notwendigerweise und überall ein revolutionärer, gegen den Stadtherrn gerichteter Vorgang, wie dies Beispiele der Bischofsstädte im Westen und Süden nahezulegen schei-

332 E. E, Die europäische Stadt des Mittelalters (Einleitung), S. 111. 333 M. W, Wirtschaft und Gesellschaft (1.2), S. 749 f.; ., Die Stadt, Ausgabe W. N (1.2), S. 124–126. 334 W. E, Der Bürgereid; ., Die Willkür.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

nen. Auch kann dies aus der gelegentlich ablehnenden und feindseligen Haltung der Herrenschicht des Reichs, wie sie in einigen sogenannten »Reichssprüchen« durch Verbote schwurgenossenschaftlicher Erscheinungsformen zum Ausdruck kommt, nicht geschlossen werden. Immerhin enthält, als ein noch sehr spätes Beispiel, die Bewidmung der Stadt Waldkirch mit dem Recht der Stadt Freiburg im Breisgau durch die Herren von Schwarzenberg im Jahre 1330 eine coniuratio der Bürger auf Veranlassung des Stadtherrn. Schließlich hat die coniuratio nicht in einem einmaligen geschichtlichen Vorgang ein für alle Mal, gewissermaßen in einem rechtlichen Gesamtakt, die genossenschaftliche Gemeinde geschaffen. Auch wenn sich die Schwurgenossenschaften faktisch als Dauergebilde herausgestellt haben, so waren sie doch nicht von Anfang an und rechtsbegrifflich auf Dauer angelegt. Sie wurden häu g auf Zeit geschworen und in bestimmten Intervallen immer wieder erneuert. Es war durchaus damit zu rechnen, dass es Zeiten ohne geschworenen Frieden gab; dann galt wieder das ältere Landrecht, das der vereinbarte Frieden verändert hatte. Im Normalfall waren die Schwurgemeinschaften allerdings seit dem 14. Jahrhundert, zumeist schon im 13. Jahrhundert, Dauererscheinungen geworden. »Indes auch außerhalb der revolutionären Neuschöpfungen, im ruhigen Fluß gemeindlichen Lebens, erweist sich die eidvertragliche bürgerliche Rechtsetzung als eine der ständigen Erneuerung unterworfene (weil bedürftige) lebendige Grundlage der Rechtsgeltung. Das Stadtrecht auch der in ihrer Verfassung labilen und institutionell funktionierenden mittelalterlichen Stadt beruht, konstruktiv gesehen, auf immer wiederholter eidlicher Selbstbindung der Bürger, auf einer coniuratio reiterata. Ihre Erscheinungsform ist der auf Bestätigung (erneute Verwillkürung) des überkommenen und auf Anerkennung des neuen Satzungsrechts gerichtete Bürgereid. Seine historisch und begrifflich ursprüngliche Gestalt ist der bei jeder Ratsum-

335 W. E, Der Bürgereid, S. 15 f.

setzung von der versammelten Bürgerschaft geleistete Gesamtschwur. Ihm gegenüber ist der Einzeleid des Neubürgers – Bürgereid im herkömmlichen Sprachgebrauch – ein zwar schon früh bezeugtes, nichtsdestoweniger geschichtlich und begrifflich sekundäres Gebilde«.³³⁵ Die beiden Parteien des Gesamtschwurs sind die Bürgerversammlung und der Rat. Die Gesamtheit der Bürger einer Stadt trat mit oder ohne Teilnahme des stadtherrlichen Vogtes oder Schultheißen ein- oder mehrmals im Jahr zu Bürgerversammlungen zusammen, die in örtlich unterschiedlichen Bezeichnungen Bürgersprache, burding, purchding, Schwörmontag, Maientag oder ähnlich genannt wurden. Außerdem konnte die Bürgerversammlung vom Rat in wichtigen Angelegenheiten berufen werden; einige geschriebene Verfassungen verlangen in diesen Fällen ihre Einberufung. Die Bürgerversammlung war primäres Willensorgan der Genossenschaft, sie verlor aber vielfach im Laufe der Zeit gegenüber dem Rat an Bedeutung und wurde nur noch in wichtigen Fällen zusammengerufen. Es verblieben ihr jedoch vielfach formelle Mitwirkungsrechte. Die Bürgergemeinschaft bedurfte einer exekutiven Gewalt, die den geschworenen Frieden (pax iurata) vollzog, eines politischen Führungsgremiums, einer inneren Verwaltung und einer Vertretung gegenüber dem Stadtherrn und nach außen. Wieweit der Stadtherr durch Präsentations- oder Bestätigungsrechte an der Besetzung des Rates mitwirkte und wieweit der Rat in seinen Entschließungen gegenüber dem Stadtherrn frei oder an dessen Zustimmung gebunden war, ist eine Frage des Einzelfalles und des Entwicklungsstandes. Wie schon beim Zustandekommen der Schwureinung die Initiative bei einzelnen führenden Personen, Geschlechtern oder Gilden der Ortsgemeinde lag, so wird die Ratsentstehung durch derartige soziale und politische Konstellationen präjudiziert. Die meliores civitatis, die Schöffen, die an Rhein, Maas und Mosel die ältesten Gerichts- und Verwaltungsbehörden darstellten, die Fernhändlergil-

Die Stadtverfassung

den, auch stadtherrliche Ministeriale, die Weisesten oder wie sonst noch die führenden Kreise genannt wurden, übernahmen als iurati (Geschworene) oder nominati (Genannte) Leitungsfunktionen innerhalb der coniuratio. Sie gingen dann im Rat auf oder blieben als Gruppen bestehen, die gelegentlich zur Entscheidungs ndung oder zu Rechtsgeschäften des Rates beigezogen wurden oder denen Teilfunktionen verblieben. In Wien, Nürnberg und Rothenburg ob der Tauber etwa bildeten die Genannten einen Kreis besonders vereidigter Zeugnispersonen, Gerichtszeugen und Rüger. In Zürich wurden sie als die Zweihundert zum Großen Rat, auch in Nürnberg bildeten sie den Größeren Rat. Diese Gruppen neben dem Rat, zu denen auch der abgetretene Rat zählte, wurden häu g für Repräsentanten der Bürgergemeinde genommen. Wenn deshalb von einem Gesamthandeln von Rat und Bürgern die Rede ist, sind mit den Bürgern häu g derartige, neben dem Rat herausragende Gruppen der Bürgerschaft gemeint, die stillschweigend oder selbstverständlich für die gesamte Gemeinde handeln. In den Schwörtagen süddeutscher Städte, die sich in Ulm etwa als folkloristischer Brauch erhalten haben, zeigen sich die rechtliche konstruktive Idee und der gemeinschaftsbildende emotionsbesetzte Vollzug der bürgerlichen Schwurgemeinschaft am deutlichsten. Am Schwörtag, anlässlich des jährlichen Ratswechsels, verp ichtet sich die Bürgerschaft zu gegenseitiger Treue, Freundschaft und Hilfe und leistet auf dieser Grundlage aufbauend ihrem Leitungsgremium, dem Rat, den Gehorsamseid, während sich der Rat seinerseits eidlich verp ichtet. Auf dem Schwörtag »beruhten die Bürgerp ichten, die Geltung des Stadtrechts, die Gewalt des Rats. In seiner ursprünglichen und vollständigen Gestalt wurde auf ihn, den neuen Rat, Treue und Gehorsam geschworen, der Bürgerschwur durch den Eid des Rats beantwortet, und mit dem Eid die pax und die Verbindlichkeit des gesamten, aus diesem Anlass verlesenen Stadtrechts erneuert«.³³⁶ Vom

336 Ebd., S. 23.

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Süden nach Norden hin schwächt sich die Schwureinung zunehmend ab, es tritt der zweite Hauptbestandteil des Bürgereides, das Versprechen von Treue und Gehorsam, in den Vordergrund. In Städten mit einem lebenslänglichen, sich durch Kooptation ergänzenden Rat und einem aristokratisch-oligarchischen Regime el der Schwörtag als Gesamteid gegenüber einem neuen Rat weg. Das Versprechen von Treue und Gehorsam enthält die Ermächtigung an den Rat, Satzungsrecht zu machen und die Unterwerfung unter das damit geschaffene Gebotsrecht. Die mittelalterliche Stadtgemeinde war eine regelmäßig sich neu konstituierende Eidgenossenschaft, eine »coniuratio reiterata«, wie sie Ebel nennt. Der Bürgereid als ein promissorischer Eid (Versprechenseid) hatte nicht nur eine bestärkende, sondern eine rechts- und verfassungsbegründende Kraft. Der gemeinsame Eid der Bürger steht am Anfang der Stadtgemeindebildung, der kommunalen Periode der Stadt. Darüber hinaus haben Stadtverfassung, Stadtfrieden und Stadtrecht in ihm ihren genossenschaftlich-einungsrechtlichen Geltungsgrund. Ältere Bestände hinsichtlich Verfassung, Frieden und Recht werden auf diese Weise neu integriert. Die eidgenossenschaftliche Gemeinde schafft sich ihre eigene Verbandsgewalt, ihre eigene genossenschaftliche Gerichtsbarkeit und eigene Verwaltungsämter und unterläuft so die stadtherrliche Organisation. In Oberitalien vollzog sich dieser Vorgang bereits um 1100 in der lombardischen Kommunebewegung. Durch promissorische Eide in Form von Gelöbniseiden miteinander verbunden sind auch die Angehörigen von Kaufmannsgilden, Handwerkerzünften und Gesellenvereinigungen. Die Bürgergemeinde ist lediglich der umfassendste genossenschaftliche Verband der Stadt. Otto von Gierke hat in seinem Werk über das deutsche Genossenschaftsrecht eindringlich die genossenschaftliche Binnen- und Gesamtstruktur der Stadt dargestellt. Durch die genos-

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

senschaftliche Struktur der Stadt ist der Bürger in ein bestimmtes Ordnungsgefüge eingebunden, das die Stadtgesellschaft von modernen individualistischen und liberal-egalitären Tendenzen abhebt, während andererseits das Stadtrecht ein auf dem Prinzip der Gleichheit beruhendes, zunehmend individualisiertes Privatrecht aus der Herrschaftsordnung ausgliedert. 2.5.1.3 Die Stadt als Körperschaft (universitas) Die Stadtgemeinde ist als erster genossenschaftlicher Verband über das Stadium der bloßen Genossenschaft hinausgelangt und zur Körperschaft (universitas) fortgeschritten, nach heutigem Sprachgebrauch zur juristischen Person geworden. Die Stadt hat neben der Rechtspersönlichkeit des einzelnen Bürgers und getrennt von ihr eine eigene Rechtspersönlichkeit entwickelt. Die Stadt als korporative Gesamtheit der Bürger (universitas civium) existiert, wie die juristische mittelalterliche Korporationslehre darlegt, unabhängig vom Wechsel der Bürger, ist etwas von der Gesamtheit der Bürger Verschiedenes, eine rein begriffliche und ktive, eine unsterbliche Person. Sie bildet einen einheitlichen Willen aus und ist, versinnbildlicht durch das Stadtsiegel mit Mauer und Türmen, rechts- und handlungsfähig. Deshalb ist sie vermögensfähig, kann sie Rechtsgeschäfte vornehmen, Darlehen und Anleihen aufnehmen und Schulden machen, für die sie haftet, ferner Prozesse führen und Delikte begehen. Das unterscheidet die Körperschaft von der Genossenschaft, bei der Rechte und P ichten, nutznießende Berechtigungen und Haftungen der Gesamtheit zugleich auch die des einzelnen ihrer Mitglieder sind. Der Wandel in der Siegelumschrift vom ›Siegel der Bürger‹ (sigillum civium) zum ›Siegel der Stadt‹

(sigillum civitatis) spiegelt den Übergang von der Genossenschaft zur Körperschaft wider.³³⁷ Zur Rechtsfähigkeit der Korporation gehört nach der juristischen Korporationslehre ferner das Recht, Versammlungen abzuhalten und Beschlüsse über korporative Angelegenheiten zu fassen, Vorsteher zu wählen und ihnen die Gerichtsbarkeit über die Mitglieder zu übertragen, Statuten zu erlassen und Umlagen oder Steuern zu erheben. Wo eine Versammlung aller nicht möglich ist, kann ein Kollegium gewählter Repräsentanten oder deren Mehrheit anstelle der Mehrheit aller Beschlüsse fassen. Diese vor allem in der kommunalen Welt Italiens durch Legisten und Kanonisten entwickelte Korporationslehre wurde im Laufe des Spätmittelalters auch in Deutschland rezipiert. Sie kann eine ganze Reihe empirischer Züge und institutioneller Entwicklungsmöglichkeiten des Verbandslebens und das Fortschreiten von genossenschaftlichen Gesamthandsverhältnissen, d.h. der Teilhabe der einzelnen Verbandsgenossen nicht nach Bruchteilen, sondern zu gesamter Hand in vollem Umfang, hin zu körperschaftlich-gemeindlichen Formen in der juristischen Abstraktion und modellhaft begrei ich machen.³³⁸ 2.5.1.4 Spätmittelalterliche Gemeindekonzeptionen Die verfassungsgeschichtliche Ausprägung der Stadtgemeinde kennt unterschiedliche Formen einer Binnendifferenzierung. Die Gemeinde (universitas civium) umfasste alle Bürger, gelegentlich auch darüber hinaus die eidfähigen männlichen Einwohner ohne Bürgerrecht. Die städtische Gesamtgemeinde war aber vielfach und meist korporativ gegliedert. So treten sich in Ulm im Schwörbrief von 1397, wie in Augs-

337 E. I, Art. »Universitas«; E. P, Art. »Universitas civium«. 338 In dem »Tractatus de regimine civitatis« des italienischen Juristen Bartolus de Saxoferrato (1314–1357) heißt es im Hinblick darauf, dass die Kunst die Natur nachahmen solle, mit Bezug auf das römische Recht zur überragenden Einheitsvorstellung mit korporationsrechtlichen und metaphorischen Bedeutungselementen: Sed tota civitas est una persona et unus homo arti cialis et ymaginatus, und auf den Endzweck von Herrschaft und Regierung bezogen: Pax et unio civium debet esse nalis intentio regentis. D. Q (Hg.), Politica e diritto nel Trecento Italiano. Il »De tyranno« di Bartolo da Sassoferrato (1314–1357). Con l‘edizione dei trattati »De Guelphis et Gebellinis«, »De regimine civitatis« e »De tyranno«, Firenze 1983, S. 154, 153 f.

Die Stadtverfassung

burg und Konstanz, die Geschlechter als Stand und die in einzelne Zünfte gegliederte Gemeinde als Zunftgemeinde gegenüber und bilden als Schwurverband, indem sie wechselseitig die Respektierung ihrer jeweiligen Rechte und gegenseitige Hilfe schwören, die Gesamtbürgerschaft, für die es jedoch noch keine eigene Bezeichnung gibt.³³⁹ Außerhalb des Schwörbriefes gibt es dann jedoch in städtischen Satzungen die ganze Gemeinde und die gesamte gemaind der burger, auch alle burger gemainlich als mitwirkende Bürgerversammlung.³⁴⁰ Wenn den Geschlechtern, dem Patriziat, die Zunftgemeinde gegenübertrat, konnte es vorkommen, dass die Geschlechter, wie in Ravensburg und Konstanz, beim jährlichen Bürgereid auf die Satzungen einen speziellen Eid der Müßiggänger ablegten. In Köln bestand die Gemeinde seit dem Verbundbrief von 1396 nicht nur aus den Bürgern, sondern aus allen eidfähigen männlichen Einwohnern, die sich jedoch in eine von insgesamt 22 Gaffeln, die zusammen die Gemeinde darstellten, einschreiben mussten.³⁴¹ Diese Gaffeln waren trotz des Unterbaus von Handwerkerzünften (Ämter) und Kau eutegesellschaften politische Korporationen wie die Zünfte der Zunftverfassungen. Wenn in Städten über die politischen Organisationsformen hinaus von einer Gemeinde die Rede ist, so handelt es sich meist um eine rechtlichpolitische regulative Idee und um eine nicht mehr konkretisierbare, ktive Gesamtheit. Der Gemeindebegriff weist indessen noch weitere komplizierte historische Varianten auf.³⁴² In Osnabrück war die Meinheit die Gesamtheit der Bürger, während unter der Gemeinheit die Gesamtheit der 22 Gildemeister und 16 Wehrgeschworenen verstanden wurde.

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Mit ›Meinheit‹ konnte aber in anderen Städten die Gesamtheit der nicht im Rat sitzenden Bürger oder, wie etwa in Braunschweig oder Höxter, jener Teil der Bürgerschaft bezeichnet werden, der gerade keiner Gilde angehörte.³⁴³ In Frankfurt am Main gurierte der nicht zu den Geschlechtern und den Zünften gehörende Teil der Bürgerschaft während der Zunftunruhen von 1355 bis 1366 als Gemeinde, während sonst die Bürgerschaft in die Gemeinde unter Einschluss der kleinen Gruppe der Geschlechter und in die Zünfte eingeteilt war. In Münster wiederum standen sich zunächst im 13. Jahrhundert die aktuell im Rat sitzenden Bürger und die übrige, nicht im Rat sitzende Bürgerschaft als Rat und Gemeinheit (tota universitas burgensium ac civium) gegenüber, bis sich ein Kreis bevorrechtigter Ratsfamilien als Patriziat herausbildete und sich ein Teil der übrigen Bürgerschaft in Gilden organisierte, so dass sich nunmehr die Gemeinheit in die Gildenbürger und die nicht Gilden zugehörigen Bürger unterteilte. Etwa um 1430 bildete sich dann eine Gliederung in den von den Patriziern (Erbmänner) besetzten Rat, die sich zudem 1410 zu einer Gesamtgilde (gilde, gemene gilde) formierenden Gilden und in die Gemeinheit als die nicht gildefähigen Bürger oder das gemeine Volk heraus, wobei die Gemeinheit im Wesentlichen von der Gesamtgilde politisch vertreten wurde. Die nicht zum Bürgerrecht gelangende Unterschicht zählte nicht zur Gemeinheit und blieb außerhalb der ständisch-politischen Terminologie. Nach 1440 gelangten dann auch Bürger aus den Gilden in den Rat und gewannen dort um die die Wende zum 16. Jahrhundert schließlich die Mehrheit.³⁴⁴

339 Die Anordnung, wonach jedes Jahr das Rote Buch der Stadt Ulm verlesen werden solle, bestimmt dann, dass dies vor ganzer gemaind zu geschehen habe. C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm (2.2–2.4), Nr. 176, S. 92. 340 Ebd., Nr. 176, S. 92; Nr. 172, S. 91; Nr. 177, S. 93. 341 W. S, (Hg.), Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung I (2.2–2.4), Nr. 52, S. 187–189. H. S, Gemeinde in Köln im Mittelalter, S. 1025–1100. 342 G. G, Die Gemeinde als alternatives Ordnungsmodell; P. B (Hg.), Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa; E. I, Obrigkeit und Stadtgemeinde. 343 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 16, S. 39, 113, passim. H. R, Höxter um 1500 (7.1–7.2), S. 72. 344 K.-H. K, Die Unruhen in Münster/Westfalen 1450–1457, S. 153–170.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

2.5.2 Die Ausbreitung der Ratsverfassung (Konsulat) und des Bürgermeisteramtes 2.5.2.1 Stadtherrschaft und Ratsentstehung: consiliarii und consules Der Vogt und der Schultheiß oder Ammann, wie dieser im deutschen Südwesten auch genannt wurde, nahmen als Vertreter des Stadtherrn dessen Herrschaftsrechte gegenüber Bürgerschaft und formierter Gemeinde wahr. Es handelte sich um den Schutz des Burg-, Marktund Stadtfriedens, um die herrschaftliche Gerichtsbarkeit im Vogtgericht und im Stadtgericht, um die Vollstreckung von Urteilen, insbesondere von Bluturteilen, ferner um allgemeinere militärische, administrative und logistische Aufgaben. Die stadtherrlichen Amtsträger besaßen leitende Funktionen, die sie vielfach notwendigerweise in Kooperation mit mehr oder weniger formierten Kreisen der Bürgerschaft ausübten. Eine solche Zusammenarbeit stellte sich insbesondere im stadtherrlichen Gericht ein, wo der stadtherrliche Richter das Verfahren leitete, die Urteile verkündete und Vollstreckungsmittel bereitstellte, die zunehmend auch bürgerlichen Schöffen (scabini) oder formierten Schöffenkollegien jedoch das Urteil sprachen, wie dies in einigen Privilegien (Aachen 1215 und früher) zum Ausdruck kommt, oder der aus Ministerialen und Bürgern zusammengesetzte Rat ausgedehnte Jurisdiktionsrechte auf der Grundlage des städtischen Privilegienund Gesetzesrechts erhielt (Straßburg 1214). Die Führung eines städtischen Siegels mit der Bildsprache von Mauern, Toren und Türmen seit etwa 1114 wie in Köln ist zunächst ein Anzeichen für ein gesamtheitliches, korporatives Verständnis von Stadt und Gemeinde, lässt aber noch keineswegs auf einen bürgerschaftlichen Rat schließen, wohl aber geben die Siegelumschriften einen Hinweis auf die begonnene Kommunalisierung der Stadt, wenn das persönliche Siegel des stadtherrlichen Schultheißen abgelöst wird und im städtischen Siegel die stadtherrschaftlichen Elemente immer mehr zugunsten der universitas civium reduziert werden. Wenn in Städten hingegen consules auf-

tauchen, ist dies im Allgemeinen ein Anzeichen dafür, dass die bürgerliche Gemeindebildung ein zumindest fortgeschrittenes Stadium bürgerschaftlicher Willensbildung und Handlungsfähigkeit erreicht hat und wohl über ein von den Bürgern gewähltes und eingesetztes, ihren Willen vertretendes und vollstreckendes, aber auch selbständig handelndes Ratsgremium verfügt. Die Anfänge der Ratsverfassung (Konsulat) im Reichsgebiet liegen an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert. Am frühesten belegt sind consules für Utrecht (1196), Lübeck (1201), Straßburg (1201/1202), Erfurt (um 1212), Soest (1213), Köln (1216), Speyer (1237), Augsburg (1257) und Aachen (1259). In Straßburg, Speyer und Worms hatte sich um 1200 vermutlich zunächst, so lautet der Forschungsbegriff, eine sogenannte »Konsiliarverfassung« herausgebildet. Für Soest sind bereits für die Zeit um 1150 mit einer Gruppe von meliores ein ratsähnliches Gremium und ein Stadtsiegel (1168) nachweisbar. Ein Gremium mehr oder weniger abhängiger consiliarii oder rectores beriet in Bischofsstädten den bischö ichen Stadtherrn. Erstbelege für das Auftreten von Räten und deren Beteiligung an der Ausstellung von Urkunden geben noch keine sicheren Anhaltspunkte für die tatsächliche Ratsentstehung und sagen noch nichts über die Formen und die Qualität der Mitsprache- und Mitwirkungsrechte gegenüber der Stadtherrschaft aus. Die Einrichtung von bürgerschaftlichen Räten setzte sozial- und rechtsgeschichtlich die Herausbildung eines Standes von personenrechtlich Freien seit dem späten 11. Jahrhundert voraus, die von Grundbesitz lebten, vornehmlich als Kau eute tätig und vermögend waren und, teilweise in Bruderschaften und Gilden organisiert, als divites, potentes, discreti, maiores, meliores oder Erbbürger eine städtische Führungsgruppe bildeten, die gewisse Zuständigkeiten in der Wirtschaft und in der Stadtverteidigung besaß. Diese Führungsgruppe wird unter Verwendung des Quellenausdrucks meliores wissenschaftlich auch als »Meliorat« im Sinne einer vor- oder frühkommunalen Vorform des Patriziats bezeichnet. In rheinischen Städ-

Die Stadtverfassung

ten standen diese genuin bürgerlich-städtischen Führungsgruppen oder einzelne Bürger den bischö ichen Ministerialen nahe, zählten neben den Ministerialen als bürgerliche Vertrauensleute in der Art der ›guten Leute‹ (boni homines) selbst zu den Ratgebern (consiliarii) des Stadtherrn und wurden von diesem als Schöffen zur Gerichtsbarkeit und zu Aufgaben in der Wirtschaftsverwaltung und Stadtverteidigung herangezogen. Sie nutzten stadtherrliche Ämter und Funktionen, bis sie in einem weiteren Schritt unter bischö icher Regie und Rechtsgewährung gemeinsam mit bischö ichen Ministerialen (Straßburg, Worms) einen speziell auf die städtischen Belange bezogenen stadtherrlichbürgerschaftlichen Rat bildeten oder – deutlicher bürgerschaftlich-autogen – als gewählter Ausschuss der Bürgergemeinde zusammen mit den vom Stadtherrn nominierten Ministerialen agierten. Seit dem zweiten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts löste mit der Entstehung bürgerschaftlicher Ratsgremien der Titel consules die ältere Bezeichnung consiliarii ab. »Das Konsulat galt den Zeitgenossen geradezu als ein Wahrzeichen bürgerlicher Freiheit (libertas). Schon mit der Rezeption der Titulatur dieser Verfassung wurde deshalb ein unüberhörbarer und grundsätzlicher Anspruch auf Freiheit und Eigenständigkeit dokumentiert, der jenen älteren Formen der Konsiliarverfassung von Hause aus keineswegs eigen war.«³⁴⁵ Angesichts einer nicht eindeutig festgelegten Terminologie ist jedoch nicht unbedingt davon auszugehen, dass bürgerschaftliche Ratsbildungen nur durch den neuen Begriff der consules und nicht auch durch die älteren und allgemeineren Bezeichnungen consiliarii und consilium erfasst wurden und diese Ausdrücke sich nicht nur auf eine formierte Teilnahme am stadtherrlichen Rat oder auf ein vom Stadtherrn bestimmtes Beratergremium für städtische Angelegenheiten, sondern auch auf einen bürgerschaftlichen Rat beziehen können. In einigen Städten (Er-

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furt, Soest) ist der Wortgebrauch chronologisch schwankend, ohne dass dahinter prägnante Verfassungsänderungen zu vermuten sind. So handelt es sich wohl um einen bürgerschaftlichen Rat, wenn König Philipp von Schwaben 1198 der Bischofsstadt Speyer die Freiheit erteilt, die Belange der Gemeinschaft (universitas) durch zwölf gewählte Bürger in Obhut nehmen und die Stadt durch dieses consilium leiten zu lassen. Am frühesten scheint in Basel 1185/90 unter der Bezeichnung consilium ein autogener bürgerschaftlicher Rat bezeugt zu sein. König Friedrich II. privilegierte den Basler Rat 1212, doch musste er aufgrund eines Fürstenspruchs den ohne den Willen des Bischofs gebildeten Rat 1218 wieder aufheben. Der Bischof setzte nun als Stadtherr von sich aus einen bürgerschaftlichen Rat ein, der für das Jahr 1225 nachzuweisen ist. In der Bischofsstadt Konstanz ist für die Mitte des 12. Jahrhunderts eine allgemeine Zusammenkunft (generalis conventus) der Bürger und ein Zustimmungsrecht der Bürger bei Hausverkäufen bezeugt. Friedrich II. gestattete der Stadt, für die 1213 nicht mehr der Bischof, sondern der König einen Vogt bestellte, im Jahre 1225 einen Rat der Stadt (concilium civitatis) mit zehn Mitgliedern neben dem Ammann. Dieser Rat, der ausdrücklich der Stadtgemeinde (communitas civitatis) gegenübergestellt wurde, war in engem Zusammenwirken mit dem Bischof tätig. Andererseits kann mit dem Ausdruck consilium civitatis die beratende Bürgerversammlung und nicht die Institution des regierenden Rats gemeint sein. 2.5.2.2 Stadt und Ministerialität Entsprechend einer Stadtentstehungstheorie, die auf eine überragende Rolle der Fernhändler und ihres eidgenössischen Zusammenschlusses bei der Entstehung der Stadtgemeinde abhebt, wurde das spätere Patriziat auf diese Fernhändler als die ursprüngliche Führungsschicht (»Meliorat«) zurückgeführt. In jüngerer Zeit wurden ältere, von der Fernhändlertheorie als lei-

345 H. R, Der Rat der niederschwäbischen Reichsstädte, S. 98; zur Ausbreitung der Ratsverfassung siehe S. 87 ff., 98 ff. Siehe auch H. P, Die deutsche Stadt (Einleitung), S. 302 ff.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

tender eorie der Patriziatsentstehung abgedrängte Forschungsansätze wieder aufgenommen und zu einer Auffassung verdichtet, die in vielen Städten, insbesondere solchen entlang der Rheinlinie, den stadtherrlichen Ministerialen einen maßgeblichen oder entscheidenden Anteil an der kommunalen Emanzipation und an der Herausbildung eines Patriziats zuerkennt.³⁴⁶ Die stadtherrlichen Ministerialen übten im Namen der Stadtherrn gegenüber den Bürgern herrschaftliche Funktionen aus, indem sie als Schultheißen, Zöllner, Münzmeister und Burggrafen in der Stadt amtierten und den Gerichtsvorsitz innehatten, den Marktverkehr und Handel beaufsichtigten und regelten, die Finanzverwaltung leiteten, dem Rat vorsaßen und den militärischen Schutz organisierten. Daneben nahmen Ministeriale aber auch als Händler, Financiers und Grundbesitzer am städtischen Wirtschaftsleben teil. Durch ihre zunächst hofrechtliche, dann nur noch spezielle dienstrechtliche Bindung an den Stadtherrn waren die Ministerialen rechtlich unfrei, ragten aber durch ihren quali zierten Dienst, den sie schließlich als ein Recht beanspruchten, aus dem Kreis der übrigen Angehörigen des Hofverbandes, der familia des Stadtherrn, heraus. Während sich ihre dienstrechtliche Bindung abschwächte, wurden sie zugleich passiv und aktiv lehensfähig und verfügten daneben gelegentlich auch über ›freies Eigen‹ (Allod) und über Eigenleute. Belehnung und Lehenshuldigung bildeten die Voraussetzung für die Aufnahme in den Ritterstand. Aus dieser Ministerialität gingen im 12. und 13. Jahrhundert die ritterlichen Geschlechter der Stadt hervor, die sich seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert gelegentlich mit dem Landadel versippten und zahlreiche Lehensbindungen mit ihm eingingen, dadurch aber verschiedentlich in Kon ikt mit den Interessen und der Politik

der Stadt gerieten und sich in der Lebensführung von weiten Kreisen der Stadtbevölkerung abhoben. Die sich emanzipierende Ministerialität in rheinischen Bischofsstädten nutzte die Autoritätskrise des Investiturstreits und versuchte, die ihr übertragenen Rechte und Funktionen selbständig zu übernehmen. Sie stellte dem Stadtherrn schließlich die Machtfrage. Teile der stadtherrlichen Ministerialität verbanden sich in anderen Fällen mit der Bürgerschaft und unterstützten deren Unabhängigkeitsbestrebungen. Die stadtherrlichen Ämter gingen in gemeindliche Führungspositionen über; die Ministerialen waren für diese Positionen wie keine andere städtische Gruppe qualiziert. Bei der Wendung gegen den Stadtherrn spaltete sich in einigen Fällen die Ministerialität in Anhänger des Bischofs und in jene Ministerialen, die sich als milites et cives (Ritter und Bürger) in den kommunalen Verband eingliederten.³⁴⁷ Für die Städte Regensburg und Augsburg, die unter bischö icher Stadtherrschaft und königlicher Vogtei standen, wobei im Falle Regensburg noch Rechte des bayerischen Herzogs hinzukamen, stellt Karl Bosl fest, dass ein ministerialisches »Dienst- und Amtspatriziat« dem bischö ichen Stadtherrn erste Rechte städtischer Autonomie abtrotzte, ehe die Gesamtbürgerschaft um die Mitte des 13. Jahrhunderts eine fortgeschrittene Autonomie erlangte.³⁴⁸ Erst zu Beginn des 14. Jahrhunderts vermischten sich die Ministerialen mit den Fernhändlern, die im 13. Jahrhundert durch Handel und Geldgeschäfte zu einem kraftvollen »Kaufmannspatriziat« herangewachsen waren. In Regensburg brachte der Auer-Aufstand (1330–1334) den Sieg der Fernkau eute über die Ministerialen in der Auseinandersetzung um die Herrschaft in der Stadt.

346 E. M/J. S (Hg.), Stadt und Ministerialität; P. D; J. F; C.-H. H (Vorund Frühformen); H. M; H. N; K. S. 347 Der von K. Schulz gebrauchte Kunstbegriff »bürgerliche Ministerialität« ist umstritten und wird neuerdings verschiedentlich abgelehnt. Vgl. die Diskussion in E. M/J. S (Hg.), Stadt und Ministerialität, und insbesondere die Arbeiten von M. P, S. H und H. R. D. Siehe auch 7.7. 348 K. B, Die Sozialstruktur der mittelalterlichen Residenz- und Fernhandelsstadt Regensburg.

Die Stadtverfassung

In Straßburg, wo zahlreiche Hofstätten in der Hand bischö icher Ministerialen bezeugt sind, rückten die Ministerialen aufgrund ihrer gemeinsamen Tätigkeit mit Bürgern im Rat, dem die städtische Gerichtsbarkeit oblag, in eine Zwischenstellung zwischen dem Stadtherrn und der Bürgerschaft ein. Obwohl die Ministerialen auch nach der um 1200 durchgesetzten Ratsverfassung im Namen ihres Herrn amtierten, neigten sie häu g zu größerer Selbständigkeit und zur Bürgerschaft hin, mit der sie wirtschaftliche, soziale und politische Interessen verbanden. Ein Teil der Ministerialität stellte sich schließlich auf die Seite der Stadt und half 1262 in der entscheidenden Schlacht bei Hausbergen, das bischö iche Stadtregiment zu beenden. Ministerialität und Stadt sind keineswegs wesensverwandt, sondern über den Stadtherrn herrschaftlich aufeinander bezogen. Die dienstrechtliche Bindung der ursprünglich unfreien Ministerialen und deren Gerichtsstand vor dem Dienstherrn, nicht vor dem Stadtgericht, standen im Widerspruch zu den bürgerlichen Begriffen der Freiheit und der Gleichheit vor dem Gericht. Während die Ministerialen in Freiburg im Breisgau ihre dienstrechtliche Bindung an den Stadtherrn beim Eintritt in den kommunalen Verband aufzulösen und rechtlich in den Bürgerstand überzuwechseln hatten, mussten in rheinischen Bischofsstädten wie Basel, Trier oder Worms nichtministerialische Bürger bei Aufnahme in die wirtschaftlich privilegierte, ministerialisch geprägte Führungsschicht und in das an den Bischof gebundene Beratungsgremium ein quasi-ministeriales Rechtsverhältnis zum Bischof eingehen und sich rechtlich der Ministerialität angleichen. In Basel geschah dies hinsichtlich der im Geldwechsel, Geld- und Kreditgeschäft tätigen bürgerlichpatrizischen Achtburger durch einen förmlichen Rechtsakt, bei dem der Aufzunehmende als Berittener mit drei Pferden und Knechten am bi-

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schö ichen Hof erschien, mit Kniefall vor dem Bischof die Bitte um die Aufnahme ins Burgerrecht vorbrachte und vom Bischof einer Stubengesellschaft zugewiesen wurde, dadurch die Gleichstellung mit Rittern und Edelknechten, den bischö ichen Ministerialen, sowie die Ratsfähigkeit erlangte. In Trier erfolgte die Aufnahme in der Regel durch Eintritt in ein Dienstverhältnis; in Koblenz konnte dies unter anderem durch eine Dienstp icht zur Lieferung von Tischtüchern für den bischö ichen Hof für die Zeit der Anwesenheit des Trierer Bischofs geschehen, in Worms unter anderem durch den Kauf des Totengräberamtes. Ministerialität und vermögendes Bürgertum wurden nicht unmittelbar im frühen Meliorat oder Patriziat zusammengeführt, sodass es auch keine direkte Kausalkette zwischen Ministerialität und Patriziat gibt, sondern es liegt gleichsam als »Sozialkatalysator« und vermittelnde dritte Kategorie das Rittertum als von beiden Seiten angestrebtes Ziel sozialen Aufstiegs dazwischen.³⁴⁹ Charakteristisch ist aber zugleich die Offenheit der grundbesitzenden Ministerialen für erwerbswirtschaftlichen Handel. Wirtschaftlich betrachtet, arbeiteten nach dem Aufstieg der Ministerialen zunächst seit längerem ansässige Kau eute und niederadlige, ritterliche Kau eute zusammen. Der weitaus größte Teil der Straßburger Patrizier, die seit der Mitte des 13. Jahrhunderts Ritter (milites) wurden, war bürgerlicher Herkunft. Für den Zuzug in die Stadt bemerkenswert ist das Schicksal der bayerischen Ministerialenfamilie Rehlinger, die um 1322 ihren Landsitz um Scherneck verkaufte, in das Patriziat der benachbarten Stadt Augsburg eintrat und mit dem Erlös aus dem veräußerten Grundbesitz Kaufmannsgeschäfte trieb. Im 16. Jahrhundert, als sie zu Kapital gekommen waren, erwarben Mitglieder der Familie wiederum Landbesitz und wurden erneut landsässig.³⁵⁰

349 J. F, Die Problematik von Ministerialität und Stadt, S 10 ff.; C.-H. H, Vor- und Frühformen, S. 17. 350 F. B in: E. M/J. S (Hg.), Stadt und Ministerialität, S. 162.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

Außer im rheinischen Raum wurde eine große Bedeutung der Ministerialität für die Entstehung des Patriziats in Städten des südwestdeutschen Raumes, insbesondere mit einer starken bischö ichen Stadtherrschaft, aber auch in Franken mit Nürnberg festgestellt. Ministeriale und ritterbürtige Bürger mit Häusern in der Stadt und ländlichem Grundbesitz, die mit den alten Kau euten wirtschaftlich und politisch kooperierten und Heiratsverbindungen eingingen, nden sich um und nach 1200 auch in Braunschweig, Bremen oder Lübeck. Nach Nordosten hin nahm der Ein uss der Ministerialität jedoch in den Städten mit später siedlungsmäßiger Entwicklung und ohne Anknüpfung an ältere Herrschaftsmittelpunkte ab. Insbesondere bei Gründungsstädten des hochmittelalterlichen Landesausbaus spielte die freie Kaufmannschaft eine überragende Rolle. 2.5.2.3 Die Entstehung bürgerschaftlicher Räte und ihrer Befugnisse Der genaue Vorgang der Entstehung früher Stadträte liegt weitgehend im Dunkeln. Man kann sich den Rat als rasche und bewusste Einrichtung eines handlungsfähigen Ausschusses der bürgerlichen Schwurgemeinschaft gegen den Stadtherrn oder aber als Schöpfung mit dessen Billigung vorstellen. Den Gründungsakt eines Rats stellt etwa das Privileg Philipps von Schwaben von 1198 für die Bürger Speyers dar, wonach die Stadt fortan von zwölf Personen aus der Bürgerschaft regiert werden sollte. Vermehrt erwähnt wurde der Speyrer Rat aber erst nach 1226. Vielfach handelte es sich aber um einen länger gestreckten Vorgang, bei dem sich bürgerliche Führungsgruppen zur Bewältigung bestimmter vom Stadtherrn zugewiesener oder in eigener Regie an sich gezogener Aufgaben enger organisierten und sodann weitere Aufgaben sowie damit verbundene Befugnisse als nunmehr von der Bürgerschaft gewählter, eidlich verp ichteter (geschworener) Rat akkumulierten. Anfänglich war der Kreis der Befugnisse, die der bürgerschaftliche Rat selbständig ausübte, vielfach noch beschränkt.

Grundfunktionen der in den Ratsgremien vertretenen Führungsgruppen waren im nicht genau zu xierenden Übergang von der Stellung als stadtherrliche consiliarii zu bürgerschaftlichen consules zunächst das Bezeugen von Rechtsgeschäften und das Besiegeln von Urkunden sowie die Ratserteilung gegenüber dem Stadtherrn in städtischen Angelegenheiten verbunden mit der Herbeiführung eines bürgerschaftlichen Konsenses in wichtigen kommunalen Belangen. Daneben erlangten sie vom Stadtherrn und eventuell vom König, der mit dem Stadtherrn konkurrierte, für Bürgerschaft und Stadt rechtliche Verbesserungen und Privilegien. Die aus der Führungsgruppe rekrutierten Mitglieder des bürgerschaftlichen Rates nahmen sodann ältere Aufgaben als nunmehr eigene Handlungsbereiche wahr, erhielten selbständig ausgeübte Herrschaftsbefugnisse gegenüber der Bürgerschaft, insbesondere solche zur Friedenssicherung, und die Verfügung über gemeinstädtische nanzielle und wirtschaftliche Ressourcen wie das Ungeld. Auf bestimmten Feldern hatte der Rat noch einige Zeit mit den stadtherrlichen Amtsträgern zu konkurrieren, bis er sich deren Befugnisse aneignen konnte und als die Gewalt in den Vordergrund trat, welche die städtischen Geschicke insgesamt maßgeblich bestimmte. Der Ursprung der Ratsverfassung lässt sich nicht allgemein auf bestimmte Ausgangspunkte zurückführen, wie dies die ältere Forschung mit ihren Entstehungstheorien zur Stadt und Stadtgemeinde versucht hat. Es sind in den Städten neben generellen Strukturen und Faktoren die jeweiligen Besonderheiten und die bewegte kommunale Vorgeschichte in Rechnung zu stellen. Besonderheiten ergeben sich aus der Figur und der individuellen Statur des Stadtherrn, der als bischö icher Stadtherr im Unterschied zum weltlichen noch über geistliche Gerichte und Amtsgewalten verfügt, aber für bestimmte Vollstreckungsmaßnahmen den weltlichen Vogt benötigt; sie ergeben sich durch die Ausprägung, Organisation und Intensität der Herrschaft des nahen oder fernen Stadtherrn und durch die Persistenz seines uneingeschränk-

Die Stadtverfassung

ten Herrschaftswillens, ferner aus der Form und dem Ausmaß der Kooperation zwischen Stadtherrschaft und städtischen Führungsgruppen, aus den herrschaftlichen Besitzverhältnissen in der Stadt und aus dem Ausmaß der fördernden und entgegenkommenden Privilegierung der Bürgerschaft durch den Stadtherrn. Faktoren der Ratsbildung auf Seiten der Bürgerschaften sind die erwerbswirtschaftlichen Ausrichtung der Stadtbevölkerung, die daraus und aus der Belastung durch die Stadtherrschaft sich ergebenden gemeinschaftlichen Bedürfnisse und Probleme und die Notwendigkeit ihrer organisierten Bewältigung sowie der Freiheitsund Autonomiewille der wirtschaftlich und sozial führenden Kreise. Die Realisierung bürgerschaftlicher Selbstregierung war auch von externen Faktoren abhängig wie der Verstrickung des Stadtherrn in territorial- oder reichspolitische Kon ikte. Nicht zuletzt spielten der stau schwel sche ronstreit und Kon ikte zwischen Königtum und Papsttum sowie das sogenannte Interregnum eine Rolle. Die Bürgerschaften konnten Momente der Schwäche der Herrschaft ausnützen oder waren auf sich selbst gestellt und gewannen dadurch an Selbstbewusstsein, oder sie wurden von Konkurrenten mit fördernden Maßnahmen umworben, um sie mit ihren Ressoucen als Anhänger zu gewinnen. Der städtische Rat stellte nicht sofort eine allgemeine und umfassende bürgerliche Stadtregierung dar, sondern war – in einer Abfolge von kommunaler Selbstverwaltung (Autokephalie) und Rechtsetzung (Autonomie) – in vielen Städten zunächst neben den stadtherrlichen Instanzen und deren Wirkungsbereich auf friedenssichernde, polizeiliche, vor allem administrative Teilbereiche wie die Aufsicht über Maß und Gewicht, die Kontrolle über Lebensmittel und Markt, Mitsprache in Münzangelegenheiten, Verteidigung und Steuererhebung beschränkt, ehe, wie dies in den um 1225 gefälschten Teilen des Barbarossaprivilegs von 1188 für Lübeck angestrebt und von Kaiser Friedrich II. bestätigt wurde, die Rechtsetzungsbefugnis des Rates und dessen Jurisdiktion zunächst über die eigenen Statuten hinzukamen. Nürnberg erhielt

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1313 von Kaiser Heinrich VII. durch Privileg das Recht, Satzungen zum Friedensschutz und zur Marktpolizei zu erlassen. Ausgeübt wurde es zunächst durch den gemeinsamen Rat von stadtherrschaftlichem Schultheißen, bürgerschaftlichem Rat, Schöffen und Genannten. In einigen rheinischen und lothringischen Bischofsstädten lag die Sicherung von Frieden und Recht vor der Ratsentstehung in den Händen von Geschworenen (iurati pacis); in Worms entwickelte sich das 1198 erstmals sicher bezeugte städtische Friedensgericht von 40 Urteilern oder Richtern (iudices) bis um 1200 zum Rat. Im selben Jahr ist in einer weiteren Urkunde von 40 consiliarii die Rede, woraus die noch ießenden Grenzen zwischen Gericht und Rat erkennbar werden. Andernorts stellten große organisatorische und nanzielle Aufgaben wie der Mauerbau und die Umlage der stadtherrlichen Steuer oder vielleicht auch die Beurkundungstätigkeit in der freiwilligen Gerichtsbarkeit, insbesondere das Au assungswesen, Kristallisationspunkte für die Ratsbildung dar. In vielen rheinischen Städten spielten die ministerialisch-bürgerlichen Schöffen des stadtherrlichen Gerichts, die vom Bischof bestimmt wurden oder sich in einigen Fällen (Köln) schon früh aus führenden Bürgern selbst ergänzten, auch für kommunale Belange der Stadtverwaltung eine wichtige Rolle und bildeten später zusammen mit der Gruppe gewählter bürgerlicher Ratsherren den städtischen Rat, bestanden aber als Schöffenkollegium fort. In der ursprünglichen Bischofsstadt Augsburg fungierten die consules als Zwölfer, dann erweitert als Vierundzwanziger in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts einmal als bürgerschaftlicher Rat, dann wiederum als Schöffen im Stadt- und Vogtgericht. Klarer tritt der Rat dann hervor, wenn seine Einrichtung eine stadtherrliche Rechtsgewährung darstellt oder wenn nach Verboten eines älteren Rates durch Kompromisse mit dem bischö ichen Stadtherrn ein neuer Rat schriftlich in bestimmter Zusammensetzung und unter Angabe von Aufgaben konstituiert wird. In Freiburg im Breisgau, wo gemäß dem Privileg

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

Konrads von Zähringen von 1220 der Markt durch eine Schwurgemeinschaft oder Eidgenossenschaft (coniuratio) der ›herbeigerufenen freien Kau eute‹ gebildet werden sollte³⁵¹, etablierte sich indessen schon zu Zeiten Friedrichs II. eine lebenslang amtierende Geschlechterherrschaft, die 1248 eine Verfassungsänderung provozierte. Aber auch der Erzbischof von Bremen nahm als Stadtherr Anstoß an der Selbstergänzung des 1225 erstmals erwähnten Rates und schritt 1246 gegen die vom Rat ohne Erlaubnis des Bischofs ausgeübte Gesetzgebung ein. In Köln gab es vor der Einrichtung eines Rates und danach als Sondergenossenschaften ein mit dem erzbischö ichen Hochgericht verbundenes Schöffenkollegium, die Amtleutekollegien der Sondergemeinden und die um 1185 belegte, aber schon früher existente, von zwei jährlich wechselnden ›Bürgermeistern‹ (magistri civium) geleitete Richerzeche, die als Bruderschaft der gewesenen Bürgermeister der Gesamtstadt entstand und zur Genossenschaft des Meliorats mit wirtschaftlichen Zuständigkeiten ihrer Amtleute (officiales) wurde. Die Richerzeche, die zwischen 200 und 350 Mitglieder erreichte, verlieh das Zunftrecht und den Zunftzwang, führte die Aufsicht über Zünfte, Handel und Gewerbe, verlieh das Bürgerrecht und besaß eine mit ihren Rechten verbundene Strafgewalt. Die Amtleutekollegien waren Bruderschaften der amtierenden und gewesenen, von den Parochianen gewählten Burmeister (magistri) der Sondergemeinden, die sich zumeist an Kirchspielbezirke anlehnten. Die Richerzeche (Bruderschaft der Reichen), die vermutlich zwischen 1114 und 1119 entstand, war wie die parochialen Amtleutekollegien und die Schöffen in verdiente Mitglieder und unverdiente (Amtsanwärter wie die Schöffenbrüder) organisiert.

Sie war mit dem zunächst in kommunalen Belangen noch führenden Schöffenkollegium in der Weise verbunden, dass stets einer der beiden Bürgermeister der Gesamtstadt ein Schöffe war. Im Jahre 1216 wurde dann in Konfrontation mit dem Schöffenkollegium ein von den Kirchspielen getragener, dem Erzbischof nicht durch einen Treueid verbundener Rat gebildet, den dieser noch im selben Jahr au öste. Die Geschichte des Kölner Rats zeigt verschiedene Aspekte der Entstehung und Behauptung eines Rates gegenüber älteren konkurrierenden Institutionen sowie des Anwachsens von Kompetenzen in einem langgestreckten Vorgang, der seit der ersten Erwähnung bis zum Aufstieg zum dominierenden regierenden Gremium fast ein Jahrhundert dauerte.³⁵² Legten die 1216 in einer einzigen Urkunde erwähnten consules gegenüber den dem Erzbischof geschworenen und von ihm mit Regierungs- und Verwaltungsaufgaben betrauten Schöffen sofort einen autoritativen Anspruch an den Tag, so erscheint der bürgerschaftliche Rat bei seinem erneuten Erscheinen vermutlich 1229 als untergeordneter Ausschuss der Kirchspiele, der an einer städtischen Anleihe mitwirkte und irgendwelche Kompetenzen im Hinblick auf die städtischen Finanzen besaß. Die Amtleute der Kirchspiele spielten bereits eine wichtige Rolle im niederen Gerichtswesen, bei der Eintreibung von Steuern und der Organisation von Umlagen. Die Existenz des Rats wurde im Großen Schied von 1258 anerkannt, der Rat vom Erzbischof und nachfolgend von den Schöffen als Institution des Stadtregiments akzeptiert. Der Aufstieg des Kölner Rats zur führenden Institution begann nach dem turbulenten und kriegerischen Jahrzehnt von 1258 bis 1268, in dem die Erzbischöfe mit der Hilfe wechselnder

351 Mercatoribus itaque personatis circumquaque convocatis conjuratione id forum decrevi incipere et excolere. Damit keinerlei Zweifel aufkommt, schwört der Herzog am Schluss zur Sicherstellung mit zwölf seiner angesehensten Ministerialen, dass er und seine Nachkommen stets die gegebenen Zusagen (promissiones) erfüllen werden, und gelobt dem ›freien Kaufmann‹ (liber homo) und den Eidgenossen des Marktes mit einem Treuegelöbnis, den Schwur nicht aufgrund irgendeiner zwingenden Notwendigkeit (necessitas) zu brechen. B.-U. H, Quellen zur Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 22, S. 126/127. 352 Zum Folgenden siehe M. G, Köln im 13. Jahrhundert, S. 160–315; W. H, Die politische Führungsschicht der Stadt Köln im Spätmittelalter. Zu den Aufgaben der parochialen Sondergemeinden siehe auch unten, S. 633.

Die Stadtverfassung

Verbindungen mit Schöffen, Geschlechtergruppen und Zünften versucht hatten, die Stadtherrschaft wieder zu festigen. Ein entscheidender Faktor war die Neuformierung der Geschlechter nach der Vertreibung der Partei der Weisen zu einer homogenen, ritterlicher Lebensführung zuneigenden Führungsschicht von außerordentlicher Konstanz, deren ein ussreiche Geschlechter sowohl im Schöffenkolleg und in der Richerzeche als auch im Rat gleichermaßen vertreten waren, sodass sich die drei Institutionen personell nur noch geringfügig unterschieden. Zwei Drittel der Geschlechter, die Ratsherren stellten, waren auch im Schöffenkollegium vertreten. Um 1300 war der Kreis der Ratsgeschlechter fast völlig geschlossen. Die Konkurrenz zwischen den Institutionen war damit zugunsten der Entwicklungsmöglichkeiten des Rats entschärft. Der Rat, der seine ersten erkennbaren Zuständigkeiten in der Finanzverwaltung gehabt hatte, begann nun mit den beiden Rentmeistern eigenständig Ratsämter auszuformen. Er führte von nun an die neu gestalteten Stadtsiegel, bereits 1269 hatte er seine erste bekannte Satzung unter dem Ausdruck ›Morgensprache‹ erlassen. Um 1300 entstand unter seiner Ägide der ihm untergeordnete ›Weite Rat‹ als Repräsentation der Kirchspiele. Die Schöffen, deren Geschlechter auch im Rat vertreten waren, wurden mit der Zeit ganz auf die Rechtsprechung beschränkt, und die Richerzeche verlor gegenüber dem Rat zunehmend an Ein uss und administrativer Bedeutung. 2.5.2.4 Ausbreitung der Ratsverfassung und stadtherrliche Widerstände Insgesamt ging der mittel- und niederdeutsche Raum dem oberdeutsch-süddeutschen bei der Etablierung bürgerschaftlicher Räte voran. Das liegt zum Teil daran, dass die stau schen Städtegründungen in Schwaben und im Elsass jünger und die stau schen Reichslandstädte erheblich intensiver stadtherrlich organisiert waren. Hier fand das Konsulat vor dem Tode Friedrichs II. kaum irgendwo Eingang. Auch Städte

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von Territorialherren am Niederrhein waren bis dahin ohne weiterreichende gemeindliche Autonomierechte geblieben, während Gründungen Heinrichs des Löwen und der Welfen im Hansebereich mit solchen ausgestattet worden waren. Andererseits drang, abgesehen von den Bischofsstädten Oberdeutschlands, in anderen Gründungen des 12. Jahrhunderts wie den Zähringerstädten die Ratsverfassung recht früh durch. Die schwäbischen, fränkischen, elsässischen und mittelrheinischen Reichsstädte gelangten dann in der Zeit des Interregnums und während der Regierung Rudolfs von Habsburg zügig zum Konsulat; gegen Ende des 13. Jahrhunderts hatte sich auch in Oberdeutschland mit ganz wenigen Ausnahmen die Ratsverfassung durchgesetzt. Indem der König auch in unbedeutenderen Reichsstädten die Ratsverfassung zuließ, stärkte er deren Autonomie und ihre Fähigkeit, ihre Reichsunmittelbarkeit angesichts der Gefahren, die sowohl von der königlichen Verpfändungspolitik als auch vom Ausbau der Territorialherrschaften ausgingen, aufrechtzuerhalten. Es darf aber nicht vergessen werden, dass eine Vielzahl von Land- und Territorialstädten gleichfalls, teilweise sogar noch früher als verschiedene Königs- oder Reichsstädte, bürgerschaftliche Räte erhielt. Für die Reichsstädte galt allerdings die Ratsverfassung seit dem 14. Jahrhundert »als selbstverständliche und unabdingbare Verfassungsform«.³⁵³ Eine erste Phase zur Verankerung städtischer Führungsschichten in gewählten Ratsgremien erfolgte in der Zeit des ronstreits zwischen Philipp von Schwaben und dem Welfen Otto IV. 1197–1208, während sich danach die Entwicklung mit Schwankungen fortsetzte, diese Ratsbildung aber 1231/32 nach dem städtefreundlichen Zwischenspiel während der Regierung Heinrichs (VII.) in den Bischofsstädten zunächst durch die Sprüche oder Weistümer von Fürsten auf königlichen Hoftagen (sog. »Reichssprüche«) zurückgenommen wurde. Als Kaiser Friedrich II. 1250 starb, sollen jedoch bereits in über 100 Städten consules amtiert haben.

353 H. R, Stadt und Stadtherrschaft im 14. Jahrhundert (3.1–3.5), S. 310.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

Nach 1250 bis um 1300 setzte, teilweise befördert durch die herrschaftliche Schwäche und Desorganisation während des sogenannten Interregnums, eine weitere schubartige Phase der Ratsbildung in weiteren etwa 250 Städten ein, bei der erst jetzt in wirtschaftlich aufsteigenden Städten wie Nürnberg, Frankfurt am Main und Augsburg, in der Mehrzahl der schwäbischen Reichsstädte und in Städten der Ostexpansion wie Halle, Leipzig, Stralsund oder Breslau bürgerschaftliche Räte entstanden. Dem naheliegenden Gedanken, dass das Konsulat mit einer Verzögerung von etwa hundert Jahren als spätere Erscheinung der europäischen Kommunebewegung über die Ursprungsregion Oberitalien nun auch nach Norden vordrang, steht der Sachverhalt entgegen, dass sich von der Mitte bis zum Ende des 12. Jahrhunderts in den Städten der Romagna und der Lombardei fast ausnahmslos die eigentümliche Regierungsform des Podestats³⁵⁴ durchgesetzt hatte. Denkbar wäre eine Verbreitung des Konsulats von Südostfrankreich (Provence) aus Rhone aufwärts nach Burgund und von dort aus in die rheinischen Bischofsstädte oder von Flandern aus in den Norden. Neben Rezeptionsvorgängen sind jedoch vor allem auch eigenständige Parallelentwicklungen aus genossenschaftlichem Denken heraus anzunehmen, wie dies die frühen Ratsbildungen im Norden nahelegen. Bis sich die Ratsverfassung endgültig durchsetzte, unterlagen die bürgerschaftlichen Räte vor allem in Bischofsstädten dem wechselvollen Schicksal von autogener Bildung, stadtherrlichem und reichsrechtlichem Verbot sowie nachfolgenden Kompromisslösungen eines mit dem Stadtherrn vereinbarten oder von ihm konzessionierten Rates, bis dann ein kommunaler Rat unumkehrbar etabliert war.³⁵⁵

König Friedrich II. gewährte 1212 den Baslern einen Rat, doch musste er aufgrund eines Fürstenspruchs den ohne den Willen des Bischofs gebildeten Rat 1218 wieder aufheben und den Bürgern die Einsetzung eines Rats ohne Willen und Zustimmung des Bischofs untersagen. Der Bischof schuf nun als Stadtherr von sich aus einen bürgerschaftlichen Rat, der für das Jahr 1225 nachzuweisen ist. Bereits Friedrich Barbarossa hatte kraft kaiserlicher Autorität in einem Schiedsurteil zwischen dem Erzbischof Hillin von Trier und dem Pfalzgrafen Konrad bei Rhein am 1. September 1161 die Grundlage einer Ratsverfassung, die Gemeinschaftsbildung (communio) der Trierer Bürger, die Verschwörung (coniuratio) genannt wurde, aufgehoben. Nachdem die Straßburger Bürger ohne Einwilligung ihres bischö ichen Stadtherrn einen Rat eingerichtet hatten, der erstmals um 1201/1202 urkundlich auftaucht, wurde ihnen durch Fürstenspruch und königliche Verbriefung für den Bischof vom 7. März 1214 verboten, ohne Zustimmung, guten Willen und Erlaubnis des Bischofs einen Rat einzurichten und die weltliche Gerichtsbarkeit auszuüben. Vermutlich noch im gleichen Jahr kam es zu der Kompromisslösung, dass der Rat aus bischö ichen Ministerialen und Bürgern zu bilden sei, dass ferner aus dem Kreis der Ratsmitglieder ein oder zwei Bürgermeister gewählt werden konnten. Die consules hatten zu schwören, die Ehre von Kirche, Bischof und Stadt in jeder Hinsicht zu fördern, die Stadt und alle Bürger umfassend gegen jedes Übel zu verteidigen und als Gericht auf der Grundlage des städtischen Rechts und secundum veritatem, d. h. unter Ermittlung der materiellen Wahrheit, zu urteilen. Auf eine Anfrage des Bischofs von Lüttich hin verkündete König Heinrich (VII.) am 23. Januar 1231 auf dem Wormser Hoftag den

354 Weil die italienischen Kommunen die inneren familialen Rivalitäten um die Herrschaft nicht bewältigen konnten, engagierten sie damals für jeweils halb- oder ganzjährige Amtszeiten einen ortsfremden berufsmäßigen Podestà als Richter und exekutiven Amtsträger. Der besoldete Podestà brachte eigenes Regierungspersonal mit, wurde eidlich auf die städtischen Statuten verp ichtet und zog nach der routinemäßigen Überprüfung seiner Tätigkeit durch einen Syndikatsprozess am Ende der Amtszeit wieder ab. 355 Zum Folgenden sind insbesondere die in der Einleitung genannten Quellensammlungen von F. K, B. D, L. W und B.-U. H heranzuziehen.

Die Stadtverfassung

gerichtsförmigen Spruch der Fürsten zur Frage der Errichtung von Genossenschaften (communiones), Übereinkünften (constitutiones), Bündnissen (colligationes) oder Schwurgemeinschaften (coniurationes) in den Städten, wie immer sie auch genannt würden. Der König war demnach nicht berechtigt, Städten ohne Zustimmung ihrer Herren die Befugnis (auctoritas) einzuräumen, solche Vereinigungen einzugehen, während andererseits der Stadtherr ohne Zustimmung des Königs Gleiches nicht erlauben durfte. Damit wurde eine gemeinsam und im Einvernehmen auszuübende hoheitliche Gewalt von König und bischö ichen Stadtherren über die Städte konstatiert. Von der Entscheidung des Königs ließen sich auch der Erzbischof von Mainz und die Bischöfe von Würzburg und Worms eine Ausfertigung herstellen. Die Bitte des Bischofs von Besançon um Bestätigung des von Heinrich (VII.) verkündeten Spruchs führte mit zu dem neuerlichen Spruch auf dem Hoftag zu Ravenna von 1231. Friedrich II. selbst widerrief und kassierte im Dezember 1231 und im April 1232 in Aquileja nunmehr in genauerer verfassungsrechtlicher Terminologie alle Vereinbarungen, die in den Städten (civitates, oppida) Deutschlands von der Gemeinde der Bürger (universitas civium) ohne Zustimmung der Erzbischöfe oder Bischöfe über die Einsetzung von Gemeindevertretungen (communia), Räten (consilia), Bürgermeistern oder Rektoren (magistri civium seu rectores) oder sonstiger Amtleute (officiales) getroffen wurden. Außerdem hob er alle Bruderschaften (confraternitates) oder Gesellschaften (societates) von Handwerkern auf. Er verkündete als verfassungsrechtlichen Grundsatz, dass die ordnungsgebende Leitung (ordinatio) der Städte und der Güter der Gesamtheit den Bischöfen und den von ihnen dazu eingesetzten Amtleuten für alle Zeit verbleiben solle. Die kommunalen und genossenschaftlichen Einrichtungen werden polemisch und den bürgerschaftlichen Standpunkt zurückweisend als Ungeheuerlichkeit (enormitas), Unsitte (abusus) und verabscheuungswürdige Gewohnheiten (consuetudines detestandae) bezeichnet, die den Anschein des Guten er-

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wecken und das Unrecht mit einem falschen Deckmantel verhüllen, die Recht und Ehre der Reichsfürsten beeinträchtigen und deshalb das kaiserliche Ansehen schwächen. Die kaiserliche Urkunde ist ein hocharti zielles, dabei mehrdeutiges und vielseitig zu interpretierendes Produkt. Es ergibt sich eine Rechtslage, die das bestehende Recht der Stadtherren auf jeden Fall sichert, aber für die Zukunft doch kommunale Entwicklungen im Einvernehmen mit diesen zulässt. Der Kaiser stützt sich zwar auf ein Fürstenweistum, setzt es aber als eigene Willensentscheidung aus sicherem Wissen der tatsächlichen und rechtserheblichen Sachverhalte (ex certa scientia) in Kraft und bezeichnet die bischö iche Stadtherrschaft als eine von ihm abgeleitete Gewalt. Von der kaiserlichen Entscheidung ließen sich zehn geistliche Stadtherren, die Erzbischöfe und Bischöfe von Besançon, Bremen, Hildesheim, Köln, Mainz, Metz, Regensburg, Trier, Straßburg und Worms eine Urkundenausfertigung geben. Als sich die Wormser Bürger 1232 mit dem Bischof wegen ihres von ihm angefochtenen Rates und der städtischen Bruderschaften vor dem königlichen Hofgericht auseinandersetzten, konnten sie der Berufung des Bischofs auf den Ravennater Spruch nichts entgegensetzen. Der Kaiser verbot im Mai 1232 den Wormser Rat und verhängte gegen die widerspenstigen Bürger die Reichsacht. Der Bischof erhielt den Auftrag, das Rathaus, nunmehr funktionsloses Zeichen der bürgerschaftlichen Selbstregierung, zu zerstören, doch zogen es die Bürger vor, an ihr Rathaus selbst Hand zu legen und es abzubrennen. Unter Vermittlung König Heinrichs (VII.) kam es am 27. Februar 1233 zu einer Übereinkunft zwischen Bischof, Geistlichkeit und Bürgern, wonach ein unter dem Vorsitz des Bischofs tagender Rat aus neun vom Bischof ausgewählten Bürgern und sechs von diesen neun Bürgern ausgewählten bischö ichen Ministerialen eingerichtet werden sollte und die Räte den Amtseid auf den Bischof zu leisten hatten. Friedrich II. reduzierte den Rat 1238 auf vier bischö iche Ministeriale und acht Bürger.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

In Regensburg erscheinen trotz des kaiserlichen Spruchs vom April 1231 im Juli 1232 iudices und das consilium der Stadt als Verhandlungspartner König Heinrichs (VII.); bereits für 1243 sind ein Bürgermeister und für 1244 ein Rathaus, früher schon eine körperschaftliche Gemeinde (communitas, universitas civium) mit Stadtsiegel und eine städtische Kanzlei bezeugt. Und als sich der exkommunizierte Friedrich II. im schweren Kampf mit dem Papst befand, gestand er den Regensburger Bürgern, um sie auf seiner Seite zu halten, 1245 die Freiheit zu, kommunale Instanzen und Ämter einzurichten. In der Bischofsstadt Mainz war es bereits 1244 der bischö iche Stadtherr selbst, der den Mainzer Bürgern ein großzügiges Stadtrechtsprivileg ausstellte und dabei den Rat anerkannte. Die Bürgergemeinde erlangte die Anerkennung der kommunalen Verfassungsentwicklung, indem sie den Kon ikt zwischen dem Erzbischof und den Staufern ausnutzte. Die noch junge Konstanzer Ratsverfassung fand zunächst 1248 ein Ende, weil die Stadt dem 1239 gebannten Friedrich II., der in Konkurrenz zu dem bischö ichen Stadtherrn die Grundlagen der städtischen Freiheit gelegt hatte, die Treue hielt und der im päpstlichen Lager be ndliche Bischof Heinrich von Konstanz diese Situation ausnutzte, um mit Hilfe Papst Innocenz IV. Rat und Ratsgerichtsbarkeit in seiner Stadt zu beseitigen. Der Papst untersagte 1248 den Bürgern, künftig consules zu wählen. Dabei wurde gleichzeitig beanstandet, dass die ›Bürger‹ Gesetze (statuta) erlassen hätten, während doch die weltliche Gerichtsbarkeit über die Stadt dem Bischof zugehöre. Hier wird in einem frühen Beleg für die bürgerschaftliche Rechtsetzung in dem päpstlichen Mandat zugleich die Herleitung der Befugnis zur Gesetzgebung aus der Gerichtsbarkeit (iurisdictio) als rechtsgelehrtes eorem geltend gemacht. Der Bischof gebot den Bürgern von Konstanz bei Vermeidung von Kirchenbann, Ehrlosigkeit und Verlust ihrer Kirchenlehen, künftig keinen Rat mehr zu wählen, und entband die Bürger von ihren dem Rat geleisteten Eiden. Obwohl König Wilhelm von Holland, zu dem die Bürger 1249 überge-

gangen waren, 1255 den Bürgern von Konstanz das Recht der Ratswahl verbrieft hatte, wurde der langwierige Streit mit den Bischöfen im selben Jahr durch einen Schiedsspruch des Abtes von St. Gallen dahingehend entschieden, dass die Bürger auf den Rat, der vor vierzig Jahren etabliert worden war, verzichteten, es sei denn, der Bischof gestattete ihn. Es ist durchaus möglich, dass ein Rat bald wieder tagte; und 1273 traten die consules civitatis Constantiensis wieder als Aussteller einer Urkunde auf. Der Siegeszug der Gemeindebildung und der Ratsverfassung ließ sich trotz derartiger gelegentlicher Rückschläge auf Dauer nicht mehr aufhalten. 2.5.2.5 Die Durchsetzung und Etablierung des bürgerschaftlichen Rats In den allmählich gewachsenen Städten musste der Rat seine zentrale Stellung erst in Auseinandersetzungen nicht nur mit der Stadtherrschaft, sondern auch mit einer Vielzahl bereits vorhandener kommunaler Gewalten und Einrichtungen durchsetzen. Zu diesen gehörten – die Geschworenenausschüsse (iurati, coniurati), denen die Sorge um den Rechtsfrieden nach innen und außen oblag, die Sühneverhandlungen führten, Sühneverträge zu Stande brachten und die der Stadtgemeinde als Friedenseinung zu Gebote stehenden Rechtsund Zwangsmittel handhabten; – die Schöffenkollegien, die im stadtherrlichen Gericht die Urteile fanden, aber auch Verwaltungsaufgaben wahrnahmen; – die Sondergemeinden mit eigenen Vorstehern, gerichtlichen und außergerichtlichen Versammlungen auf kirchlich-parochialer oder weltlicher Grundlage (Bauerschaften, Geburschaften); – die Kau eutegilden und frühe Handwerkerzünfte, denen über die Korporation hinaus Aufgaben in den Stadtvierteln zukamen; – die Stadtgemeinde mit Mitwirkungsrechten oder eine sie repräsentierende Gruppe (Genannte, Discreti, Wittigheit). Wo verschiedene, rechtlich gesonderte Siedlungsbereiche (Weichbilde) bestanden, in Braunschweig waren es nicht weniger als fünf,

Die Stadtverfassung

gab es verschiedene eigenständige Sonderräte, die durch einen übergreifenden Gesamtrat überwölbt werden mussten. Eine außerordentliche Vielfalt derartiger älterer Gewalten neben dem Rat besaß Köln mit seinen ursprünglichen, mehr oder weniger mit den Parochialbezirken übereinstimmenden Sondergemeinden, ferner mit dem Schöffenkolleg und der Richerzeche (bis 1391) mit ihren Amtleuten. Das Hochgericht blieb vom Erzbischof abgeleitet. In Köln und in niederrheinischen Städten gelangten Angehörige der Schöffenkollegien lange Zeit neben anderen in den Rat. In Nürnberg verschmolzen 1320 oder 1323 die 13 Schöffen (scabini) des Schöffenkollegs, die dem königlichen Schultheißen eidlich verbunden waren und als Urteilsweiser zusammen mit ihm als Richter im Stadtgericht die Gerichtsbarkeit ausübten, daneben auch noch Verwaltungsaufgaben erfüllten, und die 13 Consules, die als außergerichtlich tätige Ratsmannen, als Ausschuss der Bürgerschaft, die Stadt gegenüber dem Stadtherrn vertraten und denen die Verwaltung der Stadt oblag, zum umfassenden Rat. Dennoch wurden bei der Ratswahl bis ins ausgehende 18. Jahrhundert in Aufteilung des 26 Angehörige zählenden Kerns des Kleineren Rats in zwei Ratsgängen 13 Consules und 13 Scabini gewählt. Beide Gruppierungen entstammten der gleichen kleinen Führungsschicht der Geschlechter. Im Rat gab es grundsätzlich keine Funktionsunterschiede zwischen Consules und Schöffen, da das Stadtgericht formell vom Rat getrennt war, doch fällten, als die Blutgerichtsbarkeit vom Rat ausgeübt wurde, die Schöffen des Rats nach vorausgegangenem Urteil des Gesamtrats formell die Bluturteile. Einfacher waren die Verhältnisse in Lübeck und in den Städten lübischen Rechts als kolonialen Gründungsstädten, in denen viele der traditionalen Gewalten fehlten. In Lübeck »standen sich der Rat und die Bürgerschaft unvermittelt gegenüber, zumal seit es dem Rat gelungen war, die nur persönlichen, lockeren und

356 W. E, Lübisches Recht, S. 291.

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mehr ephemer organisierten Genossenschaften des menen kopmans als Gewerbegilden in die Bürgerschaft einzugliedern. Die dritte Gewalt, der Vogt, schied ebenfalls in den größeren (und typischen) lübischen Städten bald als selbständiger Machtfaktor aus, nachdem er anfangs die den beiden anderen Faktoren übergeordnete Gewalt dargestellt und jedenfalls im jährlich dreimal statt ndenden Echteding allen sichtbar ausgeübt hatte«.³⁵⁶ Bereits gegen Ende des 13. Jahrhunderts hatte der Lübecker Rat die Gestalt und die Funktion gefunden, die er bis ins 17. Jahrhundert unverändert beibehielt. 2.5.2.6 Das Bürgermeisteramt Wie bei der Einführung des bürgerschaftlichen Rats gingen auch beim Amt des ›Bürgermeisters‹ – magister civium, Ammeister, Stettmeister, Ratsmeister – die rheinischen Bischofsstädte und eine Vielzahl niederdeutscher Städte voran. Einen oder zwei, gelegentlich auch drei oder vier Bürgermeister als gewählte bürgerschaftliche Amtsträger, die den stadtherrlichen Schultheiß oder Ammann aus dem Vorsitz im Rat verdrängten, gab es in den rheinischen Bischofsstädten schon im zweiten und dritten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts, so 1220 in Worms, bis zur Regierung König Rudolfs von Habsburg (1273–1291) in Soest, Lippstadt, Wesel, Hannover, Hildesheim, Hamburg, Lübeck, Schwerin, Wismar, Fritzlar und Regensburg; in Augsburg 1266 – später stattdessen zwei P eger (1294 erstmals erwähnt) – und ebenfalls in den beiden letzten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts in Rottweil, Schwäbisch Gmünd, Reutlingen, Ulm, Esslingen und Überlingen, während in der Mehrzahl der schwäbischen Reichsstädte das Amt des Bürgermeisters erst im 14. Jahrhundert, häu g im Zusammenhang mit der Zunftverfassung, erschien. Wenn der Stadtherr keinen Amtsträger als dienstrechtlich gebundenen Vertrauensmann mehr im Rat sitzen hatte, konnte dieser zu einem autonomen Gremium mit grundsätzlicher Freiheit der Beratung und Entscheidung aufsteigen.

228

Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

Um 1230/40 sind als herausragende Mitglieder des Rats Bürgermeister in Lübeck erwähnt. Ursprünglich waren es zwei, doch wurde ihre Zahl um 1330 auf vier erhöht und die lebenslängliche Amtsdauer eingeführt, sodass die Bürgermeister nicht mehr in die jährliche Konstituierung des Rats (Ratssetzung) einbezogen waren. Zwei Bürgermeister waren die wortführenden, der dritte hatte ein Freijahr und pausierte, musste jedoch zu den Ratssitzungen erscheinen, während der vierte und jüngste in seinem Aufgabenbereich dem Rat zugerechnet wurde und bereitstand, im Falle des Ablebens eines der Bürgermeister sofort Amtsgeschäfte zu übernehmen. Jedes Jahr wurden die Bürgermeister formell neu gewählt; die Position des ersten Bürgermeisters, der die Verteilung der mit zwei Ratsherren besetzten Großen Ratsämter vornahm, ging der Reihe nach unter den drei ältesten um. Die Bürgermeister leiteten die äußere Politik und befehligten im Kriegsfall das aufgebrachte Heer und die zusammengestellte Flotte. In Bremen gab es an der Spitze des regierenden Ratsdrittels seit 1344 zunächst einen Bürgermeister, seit 1398 je einen aus den Vierteln (Kirchspielen). In Köln amtierten magistri civium schon vor der Einrichtung eines Rats, und zwar als Vorsteher der Richerzeche. Zwei Bürgermeister standen für ein Jahr der Richerzeche vor und gehörten anschließend dem Kreis der verdienten Amtleute an, denen die Wahl der Bürgermeister oblag. Einer der Bürgermeister entstammte der Richerzeche, der andere den Schöffen. Die Bürgermeister hatten die Aufsicht über Handel und Gewerbe mit Jurisdiktionsrechten, die sie spätestens seit dem 14. Jahrhundert in den drei Bürgermeistergerichten auf dem Bürgermeisterhaus, dem Korn- und dem Fleischmarkt ausübten. Der Richerzeche hatten sie von ihren Einkünften Abgaben an Wachs, Wein und anderen Naturalien zu leisten. Weiterhin vertraten die Bürgermeister die Stadt nach außen. Mit der Au ösung der Richerzeche 1370 im Zuge des Weberaufstands und endgültig 1391 ging

die Wahl der seit der Ratsentstehung gemeinstädtischen Bürgermeister auf den Rat über. Die Bürgermeister gehörten nicht zum Rat, nahmen aber an Ratssitzungen teil, die von den beiden Ratsmeistern (Meister zur Bank) geleitet wurden. Sie gingen aus einem engen Kreis neuer Familien hervor und wurden bereits im 15. Jahrhundert alle drei Jahre wiedergewählt. Im 16. Jahrhundert bildeten die beiden amtierenden Bürgermeister zusammen mit ihren vier Vorgängern ein Sechsmännergremium, das maßgeblich die städtische Politik bestimmte.³⁵⁷ In Nürnberg wechselten sich die 26 Ratsherren während des Geschäftsjahres reihum im Bürgermeisteramt ab. Jeweils zwei Bürgermeister, der die Ratssitzungen leitende und politisch bedeutender Ältere Bürgermeister und der Jüngere Bürgermeister, amtierten 28 Tage. Bevor sich der 1382 erwähnte Ausdruck Bürgermeister einbürgerte hatte, war vom Frager, der die Umfrage leitete, und seinem Gesellen die Rede. In Lübeck hatten die zwei, dann vier Bürgermeister ihre mit großen Kompetenzen ausgestatteten Ämter trotz jährlicher eidlicher Entlastung und Neuwahl praktisch auf Lebenszeit inne. Wo gewählt wurde, besaßen in der frühen Zeit die Bürgerschaft oder engere Kreise von meliores das Wahlrecht, später die Ratsgremien auch selbst. In Rottweil wählte die Bürgergemeinde den Bürgermeister auf der Grundlage eines Wahlvorschlags mit drei Kandidaten, der von dem Gremium der Siebener vorgelegt wurde. In oberschwäbischen Städten erfolgten im Zeichen der Zunftherrschaft die Nominierung der Kandidaten und die jährliche Wahl der Bürgermeister durch die Zünfte und die Zunftgemeinde. Die Stadt Basel hatte mit dem Bürgermeister, der bis 1515 stets ein Ritter aus dem städtischen Patriziat sein musste, und dem Oberstzunftmeister, dem seit 1305 vom Bischof aus dem Kreis der Patrizier ernannten Vorsitzenden des Zunftmeisterkollegs, zwei kollegiale, wenn auch im verfassungsrechtlichen Status und in der Funktion etwas verschiedene Häupter, die

357 W. H, Zur Rekonstruktion und Edition der Kölner Bürgermeisterliste.

Die Stadtverfassung

gemeinsam den Vorsitz im Rat führten, die Geschäftsordnung handhabten und die auswärtige Korrespondenz führten. Der Oberstzunftmeister nahm darüber hinaus speziell jährlich den Treueid der Gemeinde auf den Zunfthäusern ab, fungierte als Mittler zwischen Bürgerschaft und Ratsobrigkeit, indem nur er Anliegen aus dem Kreise der Bürger vor den Rat bringen durfte, und führte den Vorsitz im Dreizehnerkolleg, das seit der Mitte des 15. Jahrhunderts als vorberatender und entscheidender Ratsausschuss die politische Schlüsselstellung einnahm. Zwei Häupter gab es auch in Zürich. In Straßburg, wo es immer wieder verfassungs- und sozialgeschichtliche Verschiebungen gab, standen zwei auf Lebenszeit gewählte patrizische Stettmeister (Stadtmeister) aus den Geschlechtern, die jeweils ein Vierteljahr amtierten, dem Rat vor. Nach dem Einzug der Zünfte in den Rat 1332/33 wurde ihnen ein Ammeister, der bis dahin Vorsteher (Meister) der Ammänner oder Schöffel als einer Art rudimentärer Gemeindevertretung war und sie versammelte, als Vorsteher und Exponent der Zünfte zur Seite gestellt. Seit 1349 musste der Ammeister den Zünften zugehören. Die zwei, seit 1349 vier sich im Jahr abwechselnden Stettmeister, die den Vorsitz im Ratsgericht innehatten, und der zunächst gleichfalls lebenslang, dann ein Jahr amtierende Ammeister bildeten die Regierungsspitze und leiteten die Sitzungen des Rats und der verschiedenen Kollegien. Der zünftige Ammeister stieg durch Zuwachs von Kompetenzen zum wichtigsten exekutiven Amtsträger auf; nur der Ammeister durfte bei einem Tumult (geschelle) die Mordglocke läuten lassen und die bewaffneten Zünfte und alle anderen vor dem Münster versammeln. Die Stettmeister und der Ammeister amtierten zunächst lebenslang (1334), dann für ein Jahr (1349), zeitweise für zehn Jahre (1371) und schließlich wiederum für ein Jahr. Die Ersatzwahl von verstorbenen Stett- oder Ammeistern wurde von den noch lebenden Meistern, den 25 zünftigen Ratsherren und 14 Burgern im Rat vorgenommen. Mit dem Übergang des Ammeisteramts an die Zünfte 1349 wählten die 28 zünftigen Ratsher-

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ren und der Ammeister, die abtraten, den neuen Ammeister, während die Wahl der Stettmeister durch den ganzen abtretenden Rat aus dem Kreis der Edlen (Ritter und Knechte), der Burger und der Handwerksleute zu erfolgen hatte. Nach dem Schwörbrief von 1482 wählten gemäß dem nunmehr zweischichtigen Rat die zehn Handwerker des alten und die zehn des neuen Rats den Ammeister. Zwei Stettmeister aus dem alten Rat verblieben, während die abtretenden Consto er zwei Stettmeister aus dem neuen Teil der Consto er wählten, die der Stube der abgetretenen Stettmeister angehörten. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts war es üblich, dass der Ammeister ein Jahr amtierte und nach der vom Schwörbrief des Jahres 1420 vorgeschriebenen Karenzzeit von fünf Jahren wiedergewählt wurde, sodass es neben dem regierenden Ammeister fünf ledige (freie) Ammeister oder Altammeister gab. Diese insgesamt sechs Ammeister mussten verschiedenen Zünften angehören. Gelegentlich nahm auch ein Patrizier das Amt des Ammeisters ein. Regensburg holte sich in einem Einzelfall sogar, ähnlich dem italienischen Podestà, einen Bürgermeister von außen. 2.5.3 Spätmittelalterliche Verfassungsordnungen 2.5.3.1 Übergeordnete Wertvorstellungen und die politische Ordnung der Stadt Die Stadt hat eine eigene Ehre (honor), eine eigene Raison d’être (notdurft, necessitas) und spezi sche Erfordernisse des Gemeinwohls, für das es mit gemeiner Nutz, gemeines Bestes, Wohlfahrt, bonum commune und utilitas publica verschiedene Begriffe im gelehrten Diskurs und in der politischen Alltagssprache gibt. Gemeinschaften und politische Verbände vergewissern sich ihrer Existenz, ihres Zusammenhalts und ihrer Handlungsfähigkeit, indem sie von sich als Gesamtheit politische Grundbegriffe und bildhafte Vorstellungen, auf gelehrter Ebene theologische, philosophische und juristische Konzeptio-

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

nen sowie regulative Ideen entwickeln³⁵⁸, aus denen rechtliche und politische Konsequenzen hergeleitet werden können. Die Stadt besitzt für das Zusammenleben und Verhalten der Bürger sowie für das Handeln der Regierung einen in sich konsistenten Kanon von Wertvorstellungen, die den politischen Verband der Bürger begründen und erhalten und an denen sich der Zustand der städtischen Gemeinschaft (communitas) und die Qualität der Regierung messen lassen: Gerechtigkeit (iustitia), Friede (pax), Ruhe und Gemach (tranquillitas) sowie Sicherheit (securitas), gemeiner Nutzen (bonum commune, utilitas publica), Ehre (honor), Freiheit (libertas) – Einheit (unio, unitas) und (brüderliche) Eintracht und Einigkeit (concordia) – Freundschaft (amicitia), Brüderlichkeit (fraternitas) und (brüderliche) Liebe (caritas, fraterna dilectio). Das Stadtregiment, aber auch die Zünfte propagieren diese Werte und Normen, die sich im Übrigen auch in anderen europäischen Städten, insbesondere in Italien nden³⁵⁹, und stellen ergänzend die Rechtsgleichheit von Arm und Reich bei der Rechtsdurchsetzung vor Gericht wie auch die unterschiedslos Arm und Reich zu widmende Fürsorge von Bürgermeister und Rat heraus. Hinzu kommt, wie etwa in Köln, ein Begriff der Freiheit, der von den vielen konkreten, vom Stadtherrn verliehenen Privilegien und Freiheiten (libertates), die eine Freistellung oder Ermächtigung bedeuten, seinen Ausgang nimmt und sich, ausgedrückt durch den Wandel der Pluralform Freiheiten zum Singular Freiheit, zu einer besonders quali zierten rechtlich-politischen Freiheits- und Autonomievorstellung von Stadt und Bürgern verdichtet. Diese können sich nach außen und insbe-

sondere gegen den Stadtherrn sowie im Innern gegen den herrschenden Rat richten.³⁶⁰ Über die politischen Grundbegriffe hinaus spricht Felix Fabri von der Harmonie des Stadtregiments, und es wurden Metaphern für das funktionale Zusammenwirken der verschiedenen Teile der Bevölkerung gefunden wie der Wagen mit seinen Rädern in dem »Radbuch« Hermann Botes (†1520).³⁶¹ Der Eisenacher Ratsschreiber Johannes Rothe in seinen »Ratsgedichten«³⁶² um die Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert und Felix Fabri in seiner »Abhandlung über die Stadt Ulm« von 1488³⁶³, aber auch die Redaktoren der Freiburger Rats- und Gerichtsordnung von 1476³⁶⁴ bemühen das bekannte, von Livius aus der römischen Geschichte mit der Rede des Menenius Agrippa überlieferte Bild vom Zusammenwirken der verschiedenen Stände analog dem der Körperteile mit Haupt und Gliedern und dem der inneren Organe des Menschen, die etwa von Rothe von der Lunge und den Beinen bis hin zu Magen, Leber und Blase den Berufsgruppen zugeordnet werden. Der Konsens und die Eintracht unter den Bewohnern und das Ziel der Einheit der Stadt galten als ideelle und normative Grundlage städtischer Existenz; in größeren Städten wurden sie angesichts einer sozial differenzierten, fragmentierten und segregierten sowie durch wirtschaftliche Krisen und Interessengegensätze kon iktanfälligen, teilweise auch in den festen Einheiten der Zünfte entsolidarisierten Stadtgesellschaft emphatisch beschworen. Die Idee christlicher Brüderlichkeit, einer christlichen Liebes-, Friedens- und Rechtsgemeinschaft war ein treibendes religiöses Element der Gottesfriedensbewegung und im ausgehenden 11. Jahrhundert

358 U. M, Mensch und Bürger (1.1). 359 H.-C. R, Grundwerte in der Reichsstadt; J. R, Für den Gemeinen Nutzen (4.1); P. B, Der gemeine Nutzen; E. I; Norms and Values; ., e Notion of the Common Good. 360 G. S, Die goldene Freiheit der Bürger; K. S, Iura et libertates. Siehe vor allem 2.5.3.5. 361 W. W (Hg.), Hermen Botes Radbuch. Mit einer Übersetzung von H.-L. W, Göppingen 1985, S. 101. 362 H. W (Hg.), Johannes Rothes Ratsgedichte, Berlin 1971, F 275–282. Siehe dazu V. H, Die Stadt bei Johannes Rothe und Hermann Bote (1.1). 363 Siehe dazu 7.1.5.2. 364 T. S, Die Freiburger Enquete (4.1–4.3), S. 55.

Die Stadtverfassung

der italienischen Kommunebewegung.³⁶⁵ Bereits Max Weber hat von einer Wahlverwandtschaft zwischen der Christengemeinde und der bürgerlichen Gemeinde gesprochen und auf die in beiden Gemeinschaften zutage tretende Brüderlichkeitsethik hingewiesen, die eine Ausbildung universaler Rechts- und Moralvorstellungen gefördert und in einem Vorgang der Individualisierung die traditionalen Sippenbindungen zugunsten einer Verbrüderung der bürgerlichen Individuen in einer Schwurgemeinschaft mit übergeordneten gemeinsamen Interessen, gleichem Recht und Ethos abgeschwächt habe.³⁶⁶ Die Brüderlichkeitsethik prägte auch noch in spätmittelalterlichen Städten die politische Semantik der bürgerlichen Vereinigung.³⁶⁷ Während der Reformationszeit erlangte die mittelalterliche Vorstellung von der christlichen und brüderlichen Gemeinde in reformierten Städten eine Vertiefung durch den intensivierten Bezug auf das Evangelium und vermittelte kurzfristig dem verfassungspolitischen Denken angesichts der ausgeprägt obrigkeitlichen Stellung des Rats zugleich durch Rückerinnerung an die Ideale der Zunftbewegung des 14. Jahrhunderts neue genossenschaftliche und partizipatorische Impulse. Die Reformation führte allerdings durch eine enge Verbindung von politischer und kirchlicher Gemeinde und menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit im Zürich Zwinglis und im Genf Calvins auch zu dem Extrem einer Art von eokratie sowie zu dem ephemeren Täuferreich in Münster

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von 1534/35, das durch soziale Umgestaltung mit Gütergemeinschaft und die Einführung des mosaischen Gesetzes das unmittelbar bevorstehende Reich Gottes vorbereitenden wollte. 2.5.3.2 Ungeschriebene Verfassungen In den dauerhaft aristokratisch regierten Reichsstädten Nürnberg und Lübeck gab es im Wesentlichen nur eine ungeschriebene, auf eingeübten und zum Recht gewordenen Gewohnheiten und sozialständischen Herrschaftsansprüchen sowie auf einzelnen unentbehrlichen, zunehmend verschriftlichten Amtseiden und Ratsbeschlüssen beruhende Verfassung. Der Nürnberger Rat bekundete 1476 allerdings gegenüber dem Freiburger Stadtschreiber, dass regiment und ordnung der Stadt geänderten Verhältnissen angepasst würden.³⁶⁸ Als der Nürnberger Ratskonsulent Dr. Christoph Scheurl (1481‒1542) auf die Bitte des befreundeten Generalvikars des Augustinerordens Dr. Johannes Staupitz in einem Zug binnen etwa zehn Stunden einen vom 15. Dezember 1516 datierenden Abriss der Verfassung der Stadt Nürnberg in 26 Kapiteln und in lateinischer Sprache zu Papier brachte, ungeschliffen durch die federn herauß geschütt, wie er dem Empfänger seiner so genannten Epistel mitteilte, da sprach er von einem eigentlich vermessenen Unternehmen.³⁶⁹ Vermessen konnte Dr. Scheurl seine Arbeit schon deshalb nennen, weil bis dahin keine Darstellung der Nürnberger Stadtverfassung vorlag, auf die er sich hätte stützen können, mehr noch,

365 H. K, Die Entstehung der italienischen Stadtkommunen als Problem der Sozialgeschichte, in: Frühmittelalterliche Studien 10 (1976), S. 204 f. 366 M. W, Wirtschaft und Gesellschaft (1.2), S. 747. Siehe dazu auch K. S, Die mittelalterliche Stadt in Webers Analyse (1.1), S. 134 f. 367 Siehe 1.1. 368 T. S, Die Freiburger Enquete (4.1–4.3), S. 27. 369 »Epistola ad Staupitium de rei publicae Norimbergensis regimine«. Die möglicherweise nicht von Scheurl stammende zeitgenössische Übersetzung ist mit einer Einleitung (S. 781–784) herausgegeben von K. H, in: Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 11 (Nürnberg Bd. 5), S. 785–804. Die lateinische Fassung ndet sich in A. W, Conrad Celtis (1.1), Anhang IV, S. 212–227. Dr. iur. utr. Christoph Scheurl (*1481 in Nürnberg) hatte acht Jahre lang in Bologna die Rechte studiert und promoviert und war auf Empfehlung seines Studienfreundes Dr. Johann Staupitz 1507 als Professor der Jurisprudenz an die neue Universität Wittenberg berufen worden. Dort lehrte er fünf Jahre lang, bis er 1512 in seiner Vaterstadt das Amt eines Ratsjuristen übernahm, das er bis zu seinem Tode 1542 bekleidete. Zu Person und Werk Dr. Scheurls siehe den Artikel von F. F in F. J. W (Hg.), Verfasserlexikon. Deutscher Humanismus 1480–1520, Bd. 2, Lfg. 3, Berlin/New York 2012, Sp. 840–877.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

weil es überhaupt keine kodi zierende Zusammenfassung von Verfassungsgesetzen und für weite Bereiche überhaupt kein schriftliches und positiviertes Verfassungsrecht gab, wie wir heute sagen würden. Im Zusammenhang mit der Ämterverteilung, dem von Alter und Ansehen der Geschlechterfamilien sozial determinierten cursus honorum, kommt Dr. Scheurl auf diesen nicht gesetzlich xierten Kernbereich der Verfassung mit folgenden Worten zu sprechen: wiewol von den dingen allain kain außtrucklichs gesetz gemacht ist, würt es doch gemaingclich, so vil mir bewust, also gehalten. Die Nürnberger Verfassung beruht demnach ganz überwiegend auf Gewohnheitsrecht, auf sozialen und politischen, herrschaftsständischen Prätentionen der wirtschaftlich starken patrizischen Führungsschicht in Verbindung mit sonstigen Rechtsgewohnheiten, institutioneller Kontinuität und stadtherrlichem Privilegienrecht. Dass die Nürnberger Verfassung zu keinem Zeitpunkt vollständig oder in seinem zentralen und genuin bürgerlichen Teil, der Ratsverfassung, schriftlich xiert wurde, liegt daran, dass die Herrschaft des Patriziats mit der Ausnahme der rasch bewältigten Irritation des wenig gewalttätigen Aufruhrs von 1348/49, der jedoch in einer Spaltung auch des Patriziats im Hinblick auf das Doppelkönigtum Ludwigs des Bayern und Karls IV. eine wesentlich exogene Ursache hatte, unangefochten blieb.³⁷⁰ Es handelte sich um einen nach dem Tod Ludwigs ausgebrochenen prowittelsbachischen Aufstand eines Teils der Geschlechter und von Ehrbaren aus der Kau euteschicht unter Beteiligung von Handwerkern, vor allem Schmieden und Waffenhandwerkern. Der Au auf richtete sich gegen den Rat, der mit dem im Reich noch nicht allgemein anerkannten Karl IV. sympathisierte. Die luxemburgische Partei des Rats wurde exiliert, erhielt aber von Karl IV. 1349 eine eigene Ratsverfassung bestätigt. Zwar wurde den politischen Bestrebungen der Handwerker, die den Anstoß gegeben hatten, durch den Aufruhr-

rat insoweit Rechnung getragen, als nunmehr in Nürnberg Zünfte als gewerbliche Vereinigungen zugelassen wurden, doch nicht als an der Ratsherrschaft beteiligte politische Zünfte. Bereits nach 16 Monaten wurde der neue Rat gestürzt und der alte wieder eingesetzt; und König Karl IV. verbot am 13. Juli 1349 die Zünfte in Nürnberg. Erst später, im Jahre 1370, wurden wohl unter dem Eindruck der radikalen Umgestaltung der Augsburger Verfassung von 1368 acht Vertreter der bedeutendsten Handwerke in den Rat aufgenommen, der dadurch von 26 auf 34 Mitglieder erweitert wurde. Nimmt man die Aufnahme der acht Genannten aus den Geschlechtern in den Rat um 1400 als weitere interne Veränderung im Ämterwesen hinzu, so kann die Ratsverfassung um 1450 oder mit der Einrichtung des Rugamts 1470 über zwei Jahrhunderte nach der ersten Erwähnung des Rats als abgeschlossen gelten. Ähnlich verlief die Entwicklung in Frankfurt am Main, das wie Nürnberg enge Bindungen an König und Kaiser aufwies. Der erstmals 1266 erwähnte und seit 1311 fester organisierte Rat war seit 1328 in drei Bänke gegliedert. Die älteste und erste Ratsbank war die Schöffenbank, die sich aus 14 patrizischen Schöffen zusammensetzte, die zweite Bank war die der Gemeinde – von der gemeyn oder ab 1534 von der gemeyn und junghern – mit 14 fast ausschließlich von Patriziern besetzten Ratssitzen. Seit 1320 waren die neun wirtschaftlich und sozial führenden Zünfte mit jeweils zwei Sitzen oder nur einem Sitz auf der Handwerkerbank vertreten, die vor den Zunftunruhen wie die erste Bank 14, danach 15 Sitze aufwies, aber keine wirklichen Mitregierungsrechte besaß. Die Stadt erlebte 1349/50 im Zusammenhang mit Pest und Judenpogromen Zunftunruhen und einen Handwerkeraufstand unter Beteiligung und Anführung nichtzünftiger und nichtpatrizischer vermögender Teile der Bevölkerung. Die Zünfte forderten, dass aus ihren Reihen acht neue Ratsmitglieder gewählt werden sollten, die mit den

370 H. L, Der Kaiser und die Zunftverfassung, S. 216–224; W. . S, Die Metropole im Aufstand gegen Karl IV.

Die Stadtverfassung

gleichen Rechten wie die alten Ratsmitglieder Zutritt zu allen Ämtern haben sollten. Der patrizische Rat ging unter Vermittlung des Landvogtes Ulrich von Hanau mit den Zünften einen Verfassungskompromiss ein, gestattete ihnen eine begrenzte Partizipation von sechs Ratssitzen, bis er wieder die Oberhand gewann und Kaiser Karl IV., der zunächst den neuen Rat bestätigt hatte, im Jahre 1366 die alte Ratsverfassung wiederherstellte. Anführer des Aufstands wurden hart bestraft und der Stadt verwiesen, die Zünfte aufgelöst, indem man ihre Siegel zerbrach und die Zunftbriefe zerschnitt. Erst 1377 gab der Rat den Zünften neue Urkunden und erlaubte ihnen, Zusammenkünfte zu halten. Die Zünfte fungierten fortan als Korporationen mit bestimmten Verwaltungsaufgaben, waren aber der strengen Kontrolle des Rats unterworfen. Eine größere politische Rolle spielten sie nur kurzfristig 1408 nach der verlorenen Schlacht von Kronberg (1389). Sie waren im Rat vertreten, aber an dessen Entscheidungen kaum beteiligt. Die »Epistel« Dr. Scheurls über die politische Ordnung Nürnbergs vermittelt einen zeitgenössischen und zugleich gelehrten, auf die politische Ordnung und die Regierung (regimen) abzielenden Verfassungsbegriff, wenn angekündigt wird, sie handle von polliceischer ordnung und gutem regiment der Stadt. Im Einzelnen befasst sich Dr. Scheurl mit der Ratsverfassung und ihren Gremien, Ausschüssen, Ämtern, der Ämterhierarchie und den Leitungspositionen, mit den Wahlen und den Verfahren zur politischen und gerichtlichen Entscheidungs ndung sowie mit der Amtsbesoldung und den Amtsgefällen, den Dienstämtern der Kanzlei und der Ratskonsulenten, ferner mit dem Stadtgericht als dem ursprünglich stadtherrlichen Gericht, der Appellationsgerichtsbarkeit des Rats, den gerichtlichen Ratsdeputationen und als Besonderheit mit dem Bauerngericht, das in Streitigkeiten zwischen den bäuerlichen Hintersassen

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der patrizischen Grundherren mit einem beisitzenden Ratsjuristen da Recht spricht. Nach eigenem Bekunden sparte er das Stiftungs- und Almosenwesen aus.³⁷¹ Mit dieser Auswahl aus dem Gesamtbestand des Stadtrechts, das ursprünglich kaum nach Rechtsbereichen gegliedert ist und eine unsystematische Einheit darstellt, löst Scheurl in rechtlicher Differenzierung einen Bereich des Verfassungsrechtes heraus. Da es sich bei dem Stadtregiment im Wesentlichen um eine Herrschaft der Geschlechter, in gelehrtem Latein der patricii, patres oder in anderen Quellen der nobiles, handelt, erörtert Dr. Scheurl das Wesen und die Binnengradation des Patriziats nach Alter und Würde und der entsprechenden gestuften Amtsfähigkeit der Geschlechterfamilien. Die Darstellung des Nürnberger Juristen ist deshalb gegenüber den Verfassungsurkunden der Sühneund Schwörbriefe von besonderer Bedeutung, da Scheurl nicht nur den normativen Gehalt der Verfassung wiedergibt, sondern immer wieder auch Einblicke in die tatsächliche Funktionsweise, in die Gep ogenheiten der politischen Organisation und in die soziale Fundierung und Differenzierung des Verfassungslebens und der Regierung gibt. Trotz ihres privaten Ursprungs erfuhr die von Dr. Scheurl skizzierte Darstellung der Verfassung »amtliche Wertschätzung« (Karl Hegel) und gewann einen zumindest halboffiziellen und insoweit normativen Charakter, als wenig später eine teilweise den Text sachlich bearbeitende deutsche Übersetzung vermutlich von anderer Seite angefertigt wurde und im 16. Jahrhundert von den dreißiger Jahren an als Einleitung und Übersicht städtischen Rats- und Ämterbüchern vorangestellt wurde. Nicht zufällig, sondern wegen verschiedener Affinitäten zur venezianischen Verfassung, wurde die Darstellung von Valerio Faenzi ins Italienische übersetzt und 1558 in Venedig gedruckt, wo sie auch Eingang in das statistische, d.h. sich mit Tatsachen

371 Zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Verfassung Nürnbergs siehe P. S, Die reichsstädtische Haushaltung (4.8), S. 41–68, 79–114; G. S, Nuremberg, S. 57–115; R. E, Grundzüge der Verfassung der Reichsstadt Nürnberg, S. 405–421; P. F, Rat und Patriziat (7.7).

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

des Gemeinwesens befassende Werk Francesco Sansovinos fand.³⁷² Der venezianische Gesandte bei Kaiser Karl V., Alvise Mocenigo, berichtete 1548 in seiner Finalrelation an den Senat, dass Nürnberg im Gegensatz zur Gewohnheit aller anderen Städte Deutschlands von Adligen (nobili) regiert werde. Diese Stadt stehe in dem Ruf, besser als jede Stadt Deutschlands regiert zu werden, deshalb werde sie von vielen ›das Venedig Deutschlands‹ genannt.³⁷³ Der französische Jurist und Staatstheoretiker Jean Bodin nennt in seinen »Six livres de la République« von 1576 die Stadt Nürnberg, mit Verweis auf die »Norimberga« des Konrad Celtis, in der die Nürnberger Regierungsform bereits ›in Anlehnung an die Griechen‹ als eine »Aristokratie« bezeichnet wird, la plus grande, la plus illustre & la mieux ordonnée de toutes les villes imperiales, qui est establie en forme Aristocratique.³⁷⁴ Die Stadt Lübeck und die anderen Städte mit lübischem Recht, die von sich selbst ergänzenden und auf Lebenszeit kooptierten, allerdings wenig stabilen Kaufmannsaristokratien regiert wurden, besaßen mit wenigen Ausnahmen, so etwa Greifswalds seit 1451, »bis in die Neuzeit hinein keine auch nur die Grundsätze normierende geschriebene Verfassung«; ihre Verfassungsgeschichte ist daher, vor allem was »die Struktur und Funktion des Rats betrifft, weniger aus normativen Sollensordnungen als aus den geschichtlichen Vorgängen und Tatsachen abzulesen«.³⁷⁵ Die Verfassung war weitgehend offen, sodass die Befugnisse des Rates und sein Verhältnis zu der sich in Versammlungen

politisch formierenden Bürgerschaft, sieht man von einzelnen temporären sogenannten Bürgerverträgen ab, »nicht verfassungsrechtlich festgelegt, vielmehr dem freien Spiel der Kräfte überlassen waren« und Kon ikte, da sie nicht nach xierten normativen Vorgaben jenseits der Rechtsbehauptungen und Ansprüche der Parteien zu entscheiden waren, »von Zeit zu Zeit in einen offenen Kampf ausarten« konnten.³⁷⁶ 2.5.3.3 Städtische Verfassungsurkunden Dort, wo das Herrschaftsmonopol von Patriziaten oder kaufmännischen Aristokratien erfolgreich von Handwerker- und Krämerzünften in Verbindung mit einer jüngeren, wirtschaftlich erfolgreicheren Kau euteschicht infrage gestellt und häu g mit Gewalt eine Neuverteilung der Macht unter den nunmehr für herrschaftsberechtigt betrachteten politisch-sozialen Gruppen und Korporationen erzwungen wurde, kam es zu einer schriftlichen Fixierung der neuen Herrschaftsverhältnisse in Sühne-, Friede-, Schwör- oder Verbundbriefen. Zu ersten Verfassungsänderungen, die den Zünften eine Mitwirkung am Stadtregiment eröffneten, kam es in Esslingen (1291), Reutlingen (1299), Überlingen (1308), Rottweil (1314), Straßburg und Mainz (1332), Basel (1337), Worms (1340/1366), Schwäbisch Gmünd (1333), Schwäbisch Hall (1340), Konstanz (1342), Reutlingen (1343), Ulm und Lindau (1345), Memmingen, Ravensburg und Wangen (1347), Speyer und Nördlingen (1349) und in Kaufbeuren (1350). Bei der Einführung

372 Italienische Übersetzungen (ohne Praefatio und Conclusio): Valerio Faenzi, I dieci circoli dell’ imperio… con una particolar descrittione della Republica di Norimbergo […], Venedig 1558, fol. 26r -35r , danach bei Francesco Sansovino, Del governo et amministratione di diversi regni et repvblice, cosi antiche come moderne, Venedig 1578, fol. 176v -181v (Buch 21) (Nachdrucke: Venedig 1583 und 1607). 373 Alvise Mocenigo, Relatione di me Aluise Mocenigo K. ritornato de la Cesa[re] M[aiesta] di Carlo V., in: J. F (Hg.), Relationen venetianischer Botschafter über Deutschland und Österreich im sechzehnten Jahrhundert, Wien 1870, S. 69 f. Zu den Erkenntnissen der venezianischen Botschafter Alvise Mogenico (1548) und Marino Cavalli (1543) über Nürnberg und Augsburg (vor der Regimentsänderung von 1548), das wie alle anderen Städte Deutschlands vom Volk (da populo) regiert werde (Mocenigo), siehe C. M, Die Stadt als ema (1.1), S. 337-341. 374 Livre 2, chap. 6; Ausgabe Paris 1583, ND Aalen 1961, S. 327. A. W, Conrad Celtis (1.1), cap. 13, S. 182. 375 W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 227 f.; vgl. auch B.  E, Studien zur Verfassungsgeschichte Lübecks im 12. und 13. Jahrhundert; in teilweise eigentümlicher Begrifflichkeit und Diktion E. P, Bürgereinung und Städteeinung (2.5.1). 376 W. E, Lübisches Recht, S. 295.

Die Stadtverfassung

späterer Zunftverfassungen wurden in einzelnen Fällen bereits bestehende zum Vorbild genommen. Der konstruktive Wille zur zünftigen Neufundierung des Stadtregiments zeigt sich in Augsburg, wo 1368 nach einer unblutig verlaufenen Machtübernahme der Handwerker von diesen gemeinschaftlich mit dem Kleinen und dem Großen Rat der Schwur geleistet wurde, eine Zunft mit allem was dazugehörte, zu haben, die nach einem späteren Ratsbeschluss auf ewig bestehen sollte, was auch für den späteren Kölner Verbundbrief von 1396 gelten sollte. Unter Zunft verstand man einen Schwurverband mit politischer Zielsetzung, der die nichtpatrizischen Kau eute und die Handwerker mit den Geschlechtern im Stadtregiment zusammenführen sollte. Vor Abfassung der neuen Zunftverfassung des Zunftbriefs zog man durch Gesandte in Speyer, Worms, Mainz, Konstanz, Basel, Straßburg und Ulm Erkundigungen über die dortigen Verfassungen ein. Mit Ausnahme von Ulm waren dies alles, wie ursprünglich auch Augsburg, Bischofsstädte, die sich mehr oder weniger der bischö ichen Stadtherrschaft entzogen hatten. Von Worms, Speyer und Mainz übernahm man etwa die Bestellung jeweils eines zünftigen und eines patrizischen Bürgermeisters, von Ulm die Zunftmehrheit im Kleinen Rat und die Wahl der patrizischen Ratsherren durch die gewählten zünftigen Ratsmitglieder.³⁷⁷ Wie sich der Kölner Verbundbrief von 1396 einerseits in weiträumige verfassungspolitische Bestrebungen und Bewegungen einfügte, die nach Vorstufen in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts dann 1370/1384 in Lüttich und in Utrecht die politisch berechtigte Stadtgemeinde auf der Grundlage politischer Zünfte und einer obligatorischen Zunftzugehörigkeit konstituierten, ohne dass für Köln direkte Rezeptionsvorgänge nachgewiesen werden können³⁷⁸, so diente er andererseits offensichtlich dem so ge-

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nannten Gaffelbrief der Reichsstadt Aachen als Vorlage, der 1450 nach Unruhen zwischen dem Rat und der in elf Gaffeln gegliederten Gemeinde vereinbart wurde.³⁷⁹ Die Neuverteilung der politischen Machtbefugnisse erfolgte vielfach auf der Grundlage der korporativen Gliederung der Gemeinde durch die bestehenden Gewerbszünfte oder meist neu konstituierte politische Zünfte oder Gaffeln (Köln) und im Rahmen der bestehenden oder institutionell veränderten Ratsverfassung. Gelegentlich wurden neue erweiterte bürgerschaftliche Repräsentations- und Mitregierungsgremien eingeführt. Der Ausdruck Zunft konnte, wie in Ulm und Augsburg, die Bedeutung von Zunftverfassung annehmen. Zugleich veränderte sich der politische Gemeindebegriff. In Ulm, Augsburg oder Konstanz trat nunmehr die Gemeinde als Gemeinschaft der Zunftgenossen (Zunftgemeinde) mit eigenen politischen Zustimmungs- und Mitregierungsrechten neben dem regierenden Rat den nicht in die Zunftordnung einbezogenen Patriziern, die etwa in Ulm in Fortführung der alten Bezeichnung Bürger genannt wurden, gegenüber. In anderen Städten wurde unter Gemeinde die Gesamtbürgerschaft oder aber nur eine Residualkategorie von nicht an der Ratsherrschaft beteiligten Einwohnern verstanden. 2.5.3.4 Die Verteilung und Bündelung der Gewalten An herrschaftlichen und politischen Gewalten gibt es in den Städten den Stadtherrn mit Zustimmungs-, Bestätigungs- und Interventionsrechten. In Fällen intensiverer Stadtherrschaft setzt dieser noch Recht und übt bestimmte Jurisdiktionsrechte aus. Ferner gewährt er weiterhin Privilegien. Das Stadtgericht rührt vom Stadtherrn her und gerät mehr oder weniger unter kommunalen Ein uss, was die personelle Besetzung, die Ordnung der Gerichtsverfassung und des Prozessrechts und die An-

377 F. B, Die Zunfterhebung von 1368, S. 80 f. 378 K. S, Die politische Zunft (8.4), S. 6 f. 379 E. M, Der gesellschaftliche Hintergrund der Aachener Verfassungskämpfe; C. v. L-C, Unruhen, S. 90.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

wendung kommunalen Satzungs- oder Statutarrechts betrifft; dennoch erlischt das Bewusstsein nicht, dass es sich um eine eigentümliche Institution mit einem gesonderten Gerichtszwang handelt. Neben dem Stadtherrn und dem Stadtgericht stehen die Ratsverfassung mit Ratsgremien, Ratsämtern und der Ratsgerichtsbarkeit sowie die Bürgerschaft und Gemeinde. Der Rat versucht administrative, legislative und judikative Gewalten zu bündeln, doch verbleiben grundsätzlich die Rechtsfälle um Eigen und Erbe und Hochgerichtsfälle in der Regel beim Stadtgericht, und der Stadtherr kann, wie etwa in Würzburg mit einer starken bischö ichen Stadtherrschaft oder hinsichtlich kleinerer Städte, der Stadt noch Gesetze geben.³⁸⁰ Ausnahmen machen Lübeck, wo die Vogtei und die ganze Vogtgerichtsbarkeit als städtische Gerichtsbarkeit im 13. Jahrhundert in die Hand der Stadt und in die Verfügung des nunmehr allzuständigen Rats geriet, oder Straßburg, wo der Rat mit seiner Etablierung sofort das bürgerliche Stadtgericht bildete und später der Große Schöffenrat hinzutrat. Die Ausweitung der Ratsgerichtsbarkeit gegenüber dem älteren Gericht wird noch in der Reformschrift des Stralsunder Ratsherrn Balthasar Prütze von 1612/14 deutlich, in der dieser – ohne der Unabhängigkeit der Justiz das Wort zu reden – doch geltend machte, nicht in der Jurisdiktion bestehe das Höchste des Rates, sondern im Regieren, verstanden als raten, anordnen, beschließen, setzen.³⁸¹ Auch wenn vielfach und weitgehend der Rat die verschiedenen Gewalten in sich vereinigt, können dennoch durch Konkurrenzverhältnisse bestimmte Formen einer zumindest rudimentären Teilung von Gewalten bestehen, so hinsichtlich des Stadtgerichts und des Ratsgerichts oder der einseitigen Gesetzgebung des Rats und derjenigen, in die der Große Rat

oder die gesamte Gemeinde einbezogen sind oder diese selbst als letztlich entscheidende Gesetzgeber auftreten können (Straßburg). Weitere Ansätze kommen ins Spiel, wenn der Magdeburger Schöffenstuhl Ratssatzungen als Entscheidungsgrundlage ignoriert oder wenn, wie in Ulm im ausgehenden 15. Jahrhundert, bestritten wird, dass bestimmte in das herkömmliche Privatrecht übergreifende Satzungen des Rats vor dem Stadtgericht Geltung beanspruchen können.³⁸² Nun hat bereits Montesquieu in seinem Werk »De l‘Esprit des Lois« von 1748 am Beispiel der Verfassung Venedigs dargelegt, dass eine Gewaltentrennung nicht vorliegt, wenn zwar eigenständige Institutionen mit entsprechenden Befugnissen vorhanden sind, die Angehörigen der Institutionen sich jedoch aus einem identischen Personenkreis rekrutieren.³⁸³ Allerdings können Institutionen eine eigene Räson und einen eigenen Impetus entwickeln, wie dies in Köln trotz gleicher familialer Rekrutierungsgrundlage die Konkurrenz von erzbischöflichem Schöffengericht, Richerzeche und bürgerschaftlichem Rat zeigt. In einigen Städten sind Stadtgericht und Rat personell weitgehend verschränkt, in anderen aber nicht; in einigen wählt der Rat die Gerichtsschöffen oder die bestehende personelle Verbindung des Rats mit den Schöffen wird gelöst wie in Köln kurz vor 1396. Darüber hinaus gibt es Gremien der Mitwirkung und Kontrolle, deren Mitglieder bewusst personell vom Rat geschieden sind. Johann von Soest sah in seinem Gesetzgebungsprogramm, das er in seiner Abhandlung über die Stadtregierung von 1495 unterbreitete, eine satzung der gewalten mit der Festlegung der amtsrechtlichen Befugnisse des regierenden Rats vor, ferner eine weitere Satzung, welche die Zuständigkeiten der städtischen Amtsträger regelte, damit der Amtsbereich des Stadtgerichts

380 E. I, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht, S. 72–74. Zum Würzburger Rat siehe D. W, Bischöfliche Stadtherrschaft und bürgerliches Ratsregiment (3.1–3.5). 381 H. L, Die »Ungefährliche Reformation oder Regimentsordnung«, S. 211. 382 J. W, Der Rechtsbegriff der Magdeburger Schöffen, S. 76 f.; E. I, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht (2.2–2.4), S. 243–252. 383 Livre XI, chap. VI; éd. G. T, Paris 1961, S. 164.

Die Stadtverfassung

und der des Rathauses, d. h. des Ratsregiments, gegeneinander abgegrenzt waren. 2.5.3.5 Auf dem Wege zur Konstitution: Der Kölner Verbundbrief von 1396 und der Trans xbrief von 1513 Wenn auch die schriftlichen Verfassungsdokumente im Unterschied zu den Konstitutionen seit dem späten 18. Jahrhundert nur Teilordnungen darstellen und auch nicht – was die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 für die Erfüllung des Begriffs einer Konstitution fordert – das Prinzip der Gewaltenteilung kennen oder einen Katalog von Menschen- und Bürgerrechten enthalten³⁸⁴, so nden sich doch komplexere Formen der Verfassungsgebung, die bereits wesentliche Elemente einer modernen Konstitution enthalten. Das avancierteste Beispiel für eine vor- oder quasikonstitutionelle Verfassungsgebung sind der Kölner Verbundbrief von 1396 und seine Ergänzung durch den Trans xbrief von 1513.³⁸⁵ 2.5.3.5.1 Der Verbundbrief von 1396 Die Verfassungsgebung erfolgte in Köln 1396 nach vorausgegangenen innerstädtischen Kämpfen durch einen speziellen Ausschuss, eine in der Zusammensetzung wohlkalkulierte Konstituante, die sich aus einer dreizehnköp gen Deputation des provisorischen Rates und 25 Vertretern der Kau eutegaffeln und Handwerkerzünfte zusammensetzte. Dieser verfassungsgebende Ausschuss de nierte Werte und Prinzipien der neuen Verfassung und legte Regeln fest, auf der die Gemeinde und die Ratsregierung gründen sollten. Redigiert wurden der eidliche Verbund zwischen Rat und Gaffelgemeinde und die Verfassung wohl vom zweiten Kanzleischreiber (Sekretär) Gerlach vanme Ha-

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we, der später 1396/97 in seinem »Neuen Buch« die Neuordnung durch eine Darstellung der Übergriffe der Geschlechter und ihre Verstöße gegen das Gemeinwohl in der Vergangenheit rechtfertigte. Die Prinzipien der Schriftlichkeit und urkundlichen Gesetzesform (Positivität) sind insoweit erfüllt, als in der Präambel des Verbundbriefs das Erfordernis und der Sinn der Schriftform, nämlich den authentischen Text gegen irdische Vergänglichkeit und menschliches Vergessen unverbrüchlich zu sichern, explizit dargelegt werden und die Verfassungsgebung als Rechtsetzungsakt verstanden wird, der hier in der Form der autonomen Rechtsetzung unter Gleichgeordneten als Schwureinung (Verbund) von Bürgermeistern, Rat und der Gesamtheit der Gaffelgesellschaften und Zünfte als Gemeinde vollzogen wird. Ziel des in Liebe und Güte eingegangenen Verbunds mit Gottesbezug ist es, die Ehre und Freiheit der Stadt zu erhalten, in allen Angelegenheiten das gemeine Beste voranzustellen, stets Zwietracht, Streit, Hass und Feindschaft zu verhüten sowie eine völlige und allgemeine freundliche Eintracht herzustellen und zu erhalten. Der Verbund soll gewährleisten, dass alle Beteiligten miteinander in Frieden und Ruhe unangefochten und ehrenhaft für ewige Zeiten leben, ansässig sind und regieren. Damit ist das Ideal einer mittelalterlichen Zivilgesellschaft umschrieben und de niert. Der Eid des Verbunds bezieht sich auf die gesamte Urkunde und die dann folgenden Verfassungsbestimmungen. Der Verbundbrief errichtet in einer Art von »Verbandsdemokratie« (Max Weber) eine neue korporative Grundlage der Gemeinde, die weiter als in anderen Städten konzipiert ist und alle in die neu eingerichteten 22 Gaffeln oder ein Amt eingeschriebenen und dort auf den Ver-

384 In der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. April 1789, die in die Verfassung von 1791 eingeht, wird im Vorgriff auf die zu errichtende Verfassung in Art. 16 eine Konstitution durch inhaltliche Grundprinzipien mit Gültigkeit bis heute de niert: Toute société dans laquelle la garantie des droits [de l’homme et du citoyen] n‘est pas assurée, ni la séparation des pouvoirs déterminée, n‘a point de constitution. 385 Verbundbrief (1396 Sept. 14): W. S, Akten zur Verfassung und Verwaltung der Stadt Köln (2.2–2.4), Bd. 1, Nr. 52, S. 187–198; J. D/J. H (Hg.), Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, Bd. 2, Nr. 1, S. 1–28 (M. Huiskes). Trans xbrief (1513 Dez. 15): B. D, Texte zur Kölner Verfassungsgeschichte, Nr. VIII, S. 70–77.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

bundbrief vereidigten männlichen – und mündigen – Einwohner umfasst.³⁸⁶ Die Gaffeln stellen jeweils in homogener oder heterogener Zusammensetzung einen inneren Verbund der Angehörigen der vier alten Gaffelgesellschaften der Kau eute – Eisenmarkt, Schwarz(en)haus, Windeck und Himmelreich – und der beru ich-gewerblichen Zünfte (Ämter) sowie weiteren zum jeweiligen Gaffelverbund hinzutretenden Einzelpersonen dar. Zu einer heterogenen Gaffel wurden etwa die Ämter der Harnischmacher (sarworter), Schwertfeger, Taschenmacher und Bartscherer vereinigt, zu einer beru ich und sozial homogenen die Hersteller von grobem Sackleinen (ziechenwevere), die Decklaken- und die Leinenweber. Der Ausdruck Gaffel ist von der Bezeichnung der Kaufleutegenossenschaften übernommen und meint in seinem Ursprung möglicherweise die bei Festmählern benutzte große Tranchiergabel. Das Stadtregiment im Sinne öffentlicher Gewalten wird in der Weise neu konstituiert, dass an die Stelle der älteren Ratsverfassung mit den beiden ständisch und sozial unterschiedlich besetzten Räten, dem Engen und dem Weiten Rat, nunmehr – nach der Ausschaltung der patrizischen Schöffen aus dem Rat und der endgültigen Au ösung der patrizischen Richerzeche, d.h. nach der Beseitigung privilegierter Positionen – ein neuer, einheitlicher Rat eingesetzt wird. Die politisch mächtige und die Wirtschaftsordnung beherrschende Richerzeche war bereits 1370 und dann endgültig 1391 aufgelöst worden. Die Gemeinde verp ichtet sich eidlich, dem jeweils gewählten Rat beizustehen, ihm treu und hold zu sein und ihn – in einer Art negativer Ermächtigung – mit seinen Befugnissen ›machtvoll und mächtig‹ (moegich und mechtich) bleiben und ihn zu Rate sitzen zu lassen über alle Angelegenheiten, ausgenommen – wie in anderen Städten mit Zunftverfassung – bestimmte für das Wohl der Stadt existentiell wichtige

Fälle, für die nach Information der Gaffeln durch den Rat die Mitwirkung der Gemeinde, vertreten durch 44 Vertreter aus den Gaffeln, und ein gemeinsamer Beschluss von Rat und Gemeinde erforderlich sind. Bis 1479 besaßen die Vierundvierziger auch Kontrollrechte bei der Rechnungslegung. Das Wahlrecht erfährt auf der Grundlage der Gaffeln eine Erweiterung, insoweit dort nicht nur die allein wählbaren Bürger, sondern auch die Eingesessenen ein aktives Wahlrecht besitzen. Der Grund für die Erweiterung des Wahlrechts lag vermutlich darin, dass für die Zugehörigkeit zu gewerblichen Zünften, den Ämtern, nicht wie in verschiedenen anderen Städten der Bürgerrechtserwerb obligatorisch war und der in den Gaffeln abzulegende Eid auf den Verbundbrief eine ähnliche Loyalitätsbindung an die Stadt wie der Bürgereid bewirkte. Zudem stellen alle Gaffeln in der Gemeindevertretung der Vierundvierziger dieselbe Anzahl von zwei Vertretern im bewussten Unterschied zum Rat, wo einige durch Mitgliederzahl und sozial herausragende Gaffeln über eine etwas höhere Anzahl von Ratssitzen verfügen. Die Verfassungsgeber und die Schwurparteien sind im Verbundbrief von der Richtigkeit und besonderen Werthaftigkeit der neugeschaffenen politischen Ordnung so überzeugt, dass sie ihr eine unbefristete, ewige Dauer zuerkennen.³⁸⁷ Mit dem Ewigkeitsanspruch setzte sich der Verbundbrief als Normenordnung besonderer Art von den früheren Eidbüchern und den vielfach zunächst nur für jeweils zehn Jahre gültigen verfassungsrechtlichen Einzelstatuten des Geschlechterrates ab. Hilfsverp ichtungen der Ämter, Gaffeln und der Gemeinde gelten nicht nur dem Schutz der Regierungsgewalt des Rats und der Abwehr von Aufruhr gegen Rat und Gemeinde, sondern auch (wie in Ulm 1397) dem aktiven Schutz der Verfassung gegen konspirative und gewaltsame Veränderungen –

386 H. S, Gemeinde in Köln im Mittelalter (2.5.1), S. 1025–1100. 387 Intentional ist diese Bestimmung als konstitutionelles Element der »Ewigkeitsklausel« Art. 79 Absatz 3 Grundgesetz nicht unähnlich.

Die Stadtverfassung

gegen Verfassungshochverrat, wie wir heute sagen.³⁸⁸ Eidliche Versicherungen gegen Veränderungen der Verfassung und entsprechende Unterdrückungsmechanismen gab es etwa auch im Augsburger Zunftbrief von 1368, im Ulmer Schwörbrief von 1397 und noch später in Konstanz. Außer Betracht bleibt allerdings das noch immer letztlich vom Kölner Erzbischof herrührende und daher der grundsätzlichen institutionellen Disposition entzogene Hohe Gericht, das Stadtgericht, das aber für seine Tätigkeit verschiedentlich Ordnungen vom Rat erhielt. Die Verfassungsordnung war präsent, was sich daran zeigt, dass in einschlägigen Satzungen des Rats auf den Verbundbrief Bezug genommen sowie in den politischen Auseinandersetzungen zwischen dem Rat und der sich zu Handlungsfähigkeit formierenden Opposition aus der Gemeinde in den Jahren 1477, 1481/82 und 1512/13 auf beiden Seiten in dichter Argumentation mit Zentralbegriffen und Bestimmungen des Verbundbriefs operiert wurde. 2.5.3.5.2 Die Kölner Bürgerfreiheiten Ein weiteres Element des späteren Konstitutionalismus, die Deklaration von Bürgerrechten, ndet sich zunächst noch außerhalb des Kölner Verbundbriefs. Umfängliche bürgerliche Freiheitsrechte im Sinne des Schutzes von Person und Eigentum gegenüber Rat und Mitbürgern, die in einigen Fällen Menschenrechten nahekamen, galten auch für die Eingesessenen ohne Bürgerrecht; sie wurden in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts von privater Seite mit juristischer Hilfe in 36 Artikeln schriftlich niedergelegt und im 16. Jahrhundert gedruckt.³⁸⁹ Es handelt sich um Rechts-

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sätze, die als herkömmlich galten, in einigen Fällen im älteren Recht wurzelten, in anderen aber mit geschärftem Rechtsbewusstsein auf der Grundlage jüngerer Verfahrensgrundsätze und im Hinblick auf Missstände differenziert formuliert wurden. Diese Rechte waren noch keine individuellen, subjektiven Rechte, sondern wurden durch die Freiheit und Rechtsordnung der Stadt Köln vermittelt, aber es waren, dies ist ein wichtiger Gesichtspunkt, Freiheiten und Rechte, die teilweise zugleich im Rahmen allgemeiner gültiger Rechtsnormen, Rechtsprinzipien und Rechtsüberzeugungen angesiedelt, auch Bestandteil des römischen und kanonischen Rechts sowie speziell des mittelalterlichen Naturrechts waren und daher auch als universale Rechte gelten konnten.³⁹⁰ Das gewaltsame Vorgehen gegen Bürger, Bürgerinnen und Eingesessene wird – ähnlich wie in Kapitel 39 (29) der englischen Magna Carta von 1215, aber ohne selektive ständische Ausrichtung – konsequent an rechtliche Verfahren und an das Vorliegen gerichtlicher Urteile oder eines dringenden, unabweisbaren öffentlichen Interesses geknüpft. Die ›Freiheit der Bürger‹ besteht in der Gewährleistung des Rechtsschutzes durch den Anspruch auf rechtliche Verfahren gegenüber unmittelbar ausgeübter, außergerichtlicher Gewalt sowie gegen Willkür und Zwang. Zur Freiheit der Bürger und Eingesessenen gehört aber auch die Verp ichtung des Rates auf den gemeinen Nutzen, ferner der Grundsatz, dass weltliche Sachen vor dem weltlichen Gericht und nicht vor dem geistlichen ausgetragen werden. Kein Bürger und Eingesessener darf ohne rechtliches Verfahren ergriffen oder in den

388 §§ 81, 82 StGB; Art. 20 IV Grundgesetz. Patrizier und Zunftbürger mussten in Konstanz schwören, nicht nach Änderungen der Verfassungsordnung (›Neuerungen‹) zu streben, vielmehr derartige Bestrebungen unverzüglich dem Bürgermeister und dem Rat anzuzeigen, in Fällen von Unfrieden, Streit und ›Zerwürfnissen‹ dem Bürgermeister und dem Rat bei der Unterdrückung der Friedensstörungen zur Seite zu stehen. Die Zunftgenossen hatten sich nach ihnen zu richten, falls ihr Zunftmeister dabei eine dem kommunalen Regiment nicht konforme Haltung einnahm. O. F (Hg.), Vom Richtebrief zum Roten Buch (2.2–2.4), S. 151, 153. 389 W. S, Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung I (2.2–2.4), Nr. 335, S. 716–723; Nr. 336, S. 723–726; B. D, Texte zur Kölner Verfassungsgeschichte, Nr. VII, S. 67–77. 390 E. I, Kann das Mittelalter modern sein? (1.1) S. 53–57; so gegen die abwertende Argumentation bei G. S, Die goldene Freiheit der Bürger, S. 108. Vgl. auch W. H, Freiheitsrechte in Köln von 1396 bis 1513.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

Turm gelegt werden, außer Missetäter haben das Leben verwirkt, sind dem Rat zu dieser Zeit ungehorsam, verstoßen gewalttätig gegen Recht oder sind gerichtlich überführt. Generell darf niemand ohne rechtliches Verfahren an Person (Leib) und Vermögen beschwert oder genötigt werden, sondern man soll jedermann das Recht der Stadt und die Freiheit der Bürger zukommen lassen; wenn jemand mit einem anderen Auseinandersetzungen hat, soll er ihn nach Recht und Gewohnheit der Stadt und an zuständigen Stellen rechtlich belangen. Jedem steht der Richter zu, der hinsichtlich der Sache zuständig ist – der ordentliche Richter.³⁹¹ Niemand darf mit Gewalt zu etwas gezwungen werden, denn ›das Recht‹, der Rechtsweg, ›soll für jedermann offen sein‹, wie eine bemerkenswerte Formulierung lautet. Niemand darf zu rechtlichen Handlungen wie zur Ausstellung von Urkunden und zu ihrer Besiegelung oder zu einer Eidesleistung genötigt werden, wenn diese Gott, den geschriebenen geistlichen und weltlichen Rechten oder dem Recht der Stadt und der Freiheit der Bürger zuwider sind. Niemandem darf der notwendige rechtliche Beistand und Rat durch gelehrte Juristen, Notare, Verwandte und Freunde genommen werden. Jeder darf frei und ungehindert die Rechtsmittel der Protestation, Appellation oder Berufung in Anspruch nehmen. Niemand darf gezwungen werden, sich in einer Streitsache mit seiner Gegenpartei ausschließlich vor dem Gericht und auf keine andere (gütliche) Weise auseinanderzusetzen. Kein Richter darf auf der Grundlage eines auswärtigen Urteils Personen- oder Güterarrest verhängen, denn das wäre in Köln Gewalt und kein Recht. Voraussetzung für eine Pfändung sind ein Urteil eines Gerichts in Köln, ein Schuldanerkenntnis oder eine rechtliche Überantwortung (Einantwortung). Wird jemand zum Tode verurteilt, dürfen der Ehefrau und den Kindern das vom Delinquenten verwirkte Grundeigentum (Erbe) und Vermögen nicht genommen werden, und kein Gericht

soll aufgrund solcher Vergehen darüber be nden und urteilen, sondern die Angehörigen sollen von der Liegenschaft und den Gütern ›nach ihren Erfordernissen, ruhig und in Frieden sowie ohne Behinderung und Besitzstörung‹, Gebrauch machen können; dasselbe soll für Frauen gelten. Auch wer für ehrlos erklärt wurde, darf dennoch sein Hab und Gut nach seinen Erfordernissen ungestört in Anspruch nehmen. Stadtverweis – der ja den Menschen seiner Rechts- und Lebensbezüge beraubt – darf nur bei beabsichtigtem oder tatsächlichem Aufruhr gegen den Rat und bei Schädigung der Stadt verhängt werden. Man darf in einer Sache, in der es um die Person geht, niemanden an das Gericht anderer Herren oder Städte nötigen oder weisen; wenn es hingegen um einen Rechtsstreit um Erbe und Erbteile geht, die im Gebiet anderer Herren und Städte gelegen sind, können diese Gerichte von Rechts wegen bemüht werden, doch vorbehaltlich dessen, dass der Rat der Person mächtig bleibt, d. h. sie weiterhin in seiner obrigkeitlichen Gewalt behält. Wenn ein Leibeigener Jahr und Tag mit Haus und Hof in Köln wohnt und in dieser Zeit von seinem Herrn nicht aufgefordert wird, zu ihm zurückzukehren, soll ihn der Rat als seinen Eingesessenen rechtlich verantworten. In die Immunität, den Frieden des Hauses darf nur eingedrungen werden, wenn es die Belange des Rats und der ganzen Gemeinde erfordern oder wenn der Bewohner dem Gericht unbillig Widerstand leistet oder auf andere Weise ungehorsam ist; doch soll man dann darüber be nden, dass es in gebührlicher und angemessener Weise geschieht. Wenn ein unbekannter Fremder bei Nacht und Nebel in ein verschlossenes Haus eindringt, darf der Hausherr auf ihn einschlagen, ihn verwunden oder totschlagen, ohne dass er sich deswegen vor Gericht verantworten muss: ›denn ein Hausherr soll in seinem Haus so frei sein wie es der Kaiser in seinem Land ist‹. Niemand darf zur Zeit des Kindbetts, wenn das Haus mit seinem ganzen Zubehör rechtlich frei

391 Vergleichbar ist dieses Anspruch in der Rechtsschutztendenz dem heutigen Grundrecht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 I Grundgesetz und entsprechenden Bestimmungen der Landesverfassungen.

Die Stadtverfassung

ist, eine Immunität darstellt, ergriffen werden, denn das wäre gegen jedes Recht und jede gute Gewohnheit und würde nach den kaiserlichen Rechten, dem römischen Recht, hart bestraft. Der Hausherr kann einem Missetäter, der sein Leben verwirkt hat, Asyl gewähren, außer eine ehafte Not, d. h. eine rechtlich begründete Notwendigkeit des Rates oder der Gemeinde stehen dem entgegen. Als eine der höchsten Freiheiten gilt der von der Stadt gewährte Eigentumsschutz durch den – nicht obligatorischen – Eintrag ins Schreinsbuch, die Kölner Form eines Grundbuchs. Niemand, der mit Grundeigentum oder einem Anteil daran im Schreinsbuch eingetragen ist, darf ohne gerichtliches Urteil oder ohne Wissen und Willen der dort Eingetragenen ausgetragen werden. Zu den Freiheitsrechten gehören ferner der Anspruch auf Eintrag ins Schreinsbuch bei testamentarischen Verfügungen und Vermächtnissen zwischen Mann und Frau, der Anspruch auf Urkundenauszüge aus den Gerichts- oder Schreinsbüchern zur weiteren Verwendung, der Schutz vor Personen- oder Güterarrest selbst bei einer Schuld von 1 000 Gulden und mehr, wenn nur ein kleiner Hausrat vorhanden ist, oder das Verbot, bei Forderungen Geld oder anderes bewegliches Vermögen eigenmächtig abzunötigen (abschätzen), was eine große Freiheit sei. 2.5.3.5.3 Die Verfassung mit Bürgerfreiheiten: Der Trans xbrief von 1513 Verfassungsmäßig integrierte bürgerrechtliche Artikel enthält dann unter dem Ausdruck ›Bürgerfreiheit‹ der nach vorausgegangenen Unruhen und den Aufständen von 1512 und 1513 von Rat und Gaffeln vereinbarte und beschworene Trans xbrief vom Dezember 1513, der als

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›Ordnung, Reformation, Satzung und Vertrag‹ dem Verbundbrief, der in Vergessenheit geraten sei, beigegeben wurde und ihn bestätigt, deklariert und durch Maßnahmen gegen Willkür, Amtsmissbrauch, Bestechlichkeit, Korruption, Verschwendung und Verwaltungsschlendrian zum Schaden des gemeinen Gutes und gemeinen Nutzens der Stadt ergänzt. Vorangestellt sind den 49 Bestimmungen des Trans xbriefs allgemeine Ausführungen über Gerechtigkeit, Friede und Einheit und den gemeinen Nutzen, die wörtlich der Wormser Stadtrechtsreformation von 1498 entnommen wurden. Alle Bürger und Eingesessenen sind in ihren Bürgerfreiheiten zu schützen. Niemand darf auf eine Klage oder Anzeige (anbringen) hin weder bei Tag noch Nacht mit Gewalt aus seinem Hausfrieden (Burgfriede) fortgeführt noch auf der Straße festgenommen werden, wenn nicht zuvor eine Vernehmung wegen des Vergehens einen offenkundigen Anschein oder Beweis erbracht hat oder das Vergehen stadtkundig und notorisch ist. Sodann soll man niemanden gewaltsam zum Turmgefängnis führen, sondern einer solchen Person zuerst bei ihrem Eid gebieten, dorthin zu gehen, außer es handelt sich um eine Sache, die Leib und Leben oder eine offenkundige Straffälligkeit betrifft oder wenn jemand bei frischer Tat und offener Gewalttätigkeit angetroffen und sodann vom Gewaltrichter festgenommen wird. Wird ein Bürger in den Turm befohlen oder dort in Haft gelegt, soll man ihn dort – im Sinne des Grundsatzes des Habeas corpus – nicht auf unbestimmte Zeit sitzen lassen, sondern unverzüglich am nächsten Ratstag durch die Turmmeister verhören, die über das weitere Verfahren in der Sache entscheiden, wie es billig und recht ist.³⁹²

392 B. D (Hg.), Texte zur Kölner Verfassungsgeschichte, Nr. VIII, Art. 27 f., S. 73 f. Vgl. die ähnliche Intention bei der Neuordnung des Straßburger Stadtregiments von 1405, Art. 32; K. T. E (Hg.), Verfassungs-, Verwaltungsund Wirtschaftsgeschichte der Stadt Straßburg (2.2–2.4), Nr. 24, S. 97. Das ist das Prinzip des Habeas corpus, das in England 1679 gesetzlich in dem Habeas Corpus Amendment Act (Habeas-corpus-Akte) verankert wurde. Es untersagte, nunmehr auch mit Zustimmung des Königs (Karl II.), in verschärfter Form willkürliche königliche Haftbefehle, nachdem bereits das Parlament den Grundsatz in der Petition of Right von 1628, aber ohne dauerhaften Erfolg, festgelegt hatte. Zuvor lag dem Habeas corpus, das in einem Kurzbefehl in einfacher Form (writ, lat. breve) ausgesprochen wurde, die gegenteilige Bedeutung eines unbeschränkten Verhaftungsrechts des Königs zugrunde. Die spätere Bedeutung zugunsten bürgerlicher Freiheit galt in den Kommunen Köln und etwa auch Hamburg auf die moderne Festlegung vorausweisend bereits im Mittelalter. Vgl. die weitere Ausformulierung des Prinzips in Art. 104 Grundgesetz.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

Verfassungsrechtlich werden die Bildung von informellen inneren Zirkeln (Kränzchen) von dominanten Ratsherren zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen und die Zuziehung von Ratsfreunden verboten. Außerdem werden die Vierundvierziger aus den Gaffeln, deren Mitwirkungsrechte in Finanzangelegenheiten weiter spezi ziert sind, personell eindeutig vom Rat gesondert, nachdem sie im 15. Jahrhundert zu einem vom Rat dominierten, separat in einer besonderen Kammer im Rathaus tagenden und um die Meinung gefragten Gremium geworden waren. Ebenso dürfen Gaffeldeputierte, die an der Rechnungslegung in der Rentkammer beteiligt sind, nicht zugleich dem Rat angehören. Einige Bestimmungen des Trans xbriefes gelten dem Schutz des einzelnen Bürgers und der Bürger gegenüber dem Rat sowie der Gewährleistung des Rechtswegs für den Einzelnen, damit zugleich der Wahrung des städtischen Rechtsfriedens und des Schutzes der ganzen Gemeinde vor Schaden. Wenn ein Ratsherr in der Ratssitzung einem Mitbürger die Ehre abschneidet oder ihn mit unwahren Behauptungen schmäht, die er nicht beweisen kann, darf, entsprechend einer früheren Bestimmung in den Eidbüchern, im Rat nicht Geheimhaltung in der Sache geboten werden. Wird ein Ratsherr derartiger haltloser Äußerungen überführt, soll er als Meineidiger bestraft und auf Lebenszeit seiner Ehre verlustig gehen. Wird ferner im Rat etwas vorgebracht und weder dem herkömmlichen Verfahren noch der Rechtsförmlichkeit gemäß, sondern – vergleichbar den decreta ambitiosa der rechtswissenschaftlichen Lehre – ›parteilich‹ beschlossen, woraus den Mitbürgern unverschuldet eine Bedrängnis und Belastung entstünde, hat das ein von der Gaffel gewählter Ratsherr zu verhindern. Wenn er seine gegenteilige Meinung offen in der Sitzung vorgetragen hat und sich nicht durchsetzen konnte, ist er bei Strafe eidlich verp ichtet, seinen Genossen in der Gaffel davon zu berichten, damit Schaden verhütet wird. Dazu soll jeder Gaffelvorsteher (Gaffelmeister) auf Begehren der Gesellschaft die übrigen Gaffelgesellschaften versammeln, damit gemeinsam das notwendige Vor-

gehen vereinbart werden kann. Dies war eine heikle Bestimmung, da der Verbundbrief Versammlungen gegen den Rat als Aufruhr bei hohen Strafen untersagte. Deshalb werden die auf diese Weise einberufenen Gaffelversammlungen stra os gestellt, doch sollte die Strafbestimmung wieder in Kraft treten, wenn jemand mutwillig und böswillig Klage gegen den Rat erhob und die Gaffelgesellschaft versammelte, um ohne rechtlichen Grund Aufruhr zu machen. Damit wurde der prekäre schmale Grat zwischen verfassungsmäßigem Widerstand mit nicht genau bezeichneten Mitteln und todeswürdigem Aufruhr vage markiert. Eingehender noch ist die Garantie des Rechtswegs und des gerichtlichen Rechtsschutzes geregelt. Bürger und Eingesessene hätten sich noch zuletzt aufs höchste beklagt, dass sie – von Seiten des Rats – mit Gewalt, Drohungen oder Turmhaft am weiteren Beschreiten des angefangenen Rechtswegs gehindert worden seien oder man ihnen diesen verlegt habe. Jeder der Recht begehrt und vor Gericht einen Anspruch erhebt, soll ungehindert dabei gelassen werden. Wenn jemandem durch Anordnung des amtierenden Rats oder von weiteren Angehörigen (Verwandten) des Rats das ›Recht‹, der gerichtliche Austrag, verwehrt wird, wenn ferner jemand vom angefangenen Rechtsweg abgedrängt oder durch eine Urkunde, ein Gebot oder Verbot daran gehindert wird, kann er sich darüber in einer schriftlichen Eingabe beim Rat beschweren. Wird ihm nicht endgültig geholfen, darf er sich in der Sache, ohne deswegen eine Strafe gewärtigen zu müssen, an seine Gaffelgesellschaft wenden, die unverzüglich durch eine Deputation beim Rat vorstellig werden und verlangen soll, dass der Betreffende bei seinen Rechten belassen werde. Gibt der Rat dann die Blockade immer noch nicht auf, sind die Gaffeln und Zünfte der Stadt berechtigt, sich zu versammeln und gegen den Rat mit den von ihnen gemeinsam beschlossenen notwendigen Maßnahmen vorzugehen. Damit wurde den Bürgern und Eingesessenen ein formelles Verfahren zum Rechtsschutz und den Gaffeln ein Widerstandsrecht gegen ei-

Die Stadtverfassung

ne rechtswidrig handelnde Ratsobrigkeit eingeräumt. Denn ein solches obrigkeitliches Handeln fördere, abgesehen vom individuellen Fall, p ichtwidrig nicht die bürgerliche Einigkeit und den gemeinen Nutzen, sondern – entgegen dem Gesellschaftsideal des Verbundbriefs – Hass, Neid [Feindschaft] und Zwietracht und sei dem gemeinen Gut abträglich. Mit dieser Regelung verfassungsmäßigen Widerstands wurden das Versprechen der Gemeinde, den Rat möge und mächtig sein zu lassen und ihm gegen Umsturz beizustehen sowie der Verfassungsschutz des Verbundbriefs durch ein Widerstandsrecht gegen den Rat ergänzt. Den Belangen einer bürgerlichen Öffentlichkeit soll durch die Anordnung Rechnung getragen werden, beraten von den Rechtsgelehrten die Statuten der Stadt sobald wie möglich im Druck zu verbreiten, damit jeder Ratsherr und Bürger sich danach verhalten und wissen könne, wie er seinen Mitbürger und die Bürger (rechtlich) verteidigen (verdadingen) und bei ihrer ›Bürgerfreiheit‹ erhalten kann. Die städtischen Freiheiten und Privilegien sowie der Trans xbrief sollen in einem Kopialbuch registriert, durch ein Schloss gesichert, mit einer Kette an das Lesepult im Sitzungszimmer des Rats angeschlossen und nur während der Sitzung geöffnet werden. 2.5.3.6 Die Bestandsdauer städtischer Verfassungen Die Machtverhältnisse zwischen den politischsozialen Gruppen und ihre Fixierung in den ausgehandelten Verfassungsordnungen änderten sich in Städten wie etwa Braunschweig, Straßburg, Basel oder Konstanz im Zusammenhang mit Kon ikten und Aufstandsbewegungen immer wieder, bis seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts oder erst im 15. Jahrhundert stabilere Verhältnisse, in Oberdeutschland vielfach zugunsten einer deutlich zünftig geprägten Ordnung, eintraten. Das weitere Schicksal der Kölner Verfassung, die auf den – 1562 und 1580 von privater Seite gedruckten –

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Fundamentalordnungen des Verbundbriefs, des Trans xbriefs und der Bürgerfreiheiten beruhte, ist bekannt. Der normative Gehalt der Verfassungsordnung wurde gegen seine Intention durch soziale Tatbestände mit Wirkung einer Oligarchisierung überwuchert; Bürgerfreiheiten wurden missachtet. Dennoch existierte die Verfassung, deren tatsächliche Geltung immer wieder von der Bürgerschaft eingefordert wurde, 400 Jahre bis nach dem Einmarsch der Franzosen 1794/97, so gut wie eine Ewigkeit. In Straßburg blieb der Schwörbrief in der Fassung des Jahres 1482 bis zur Französischen Revolution in Kraft. Eine ähnliche oder noch längere Bestandsdauer besaß die im Wesentlichen ungeschriebene aristokratische Verfassung Nürnbergs, die bis zum Übergang der Stadt an Bayern 1806 Geltung hatte. Allerdings erfolgte mit dem Grundvertrag von 1794 eine von den Genannten und dem Handelsvorstand betriebene und mit der Hilfe einer kaiserlichen Kommission ausgehandelte Verfassungs- und Verwaltungsreform zugunsten einer Mitregierung der Kau eute. Die ungeschriebene Verfassung Lübecks reichte bis ins 19. Jahrhundert hinein. Hingegen wurden die Zunftverfassungen von 27 südwestdeutschen Reichsstädten mit Augsburg und Ulm an der Spitze nach der Niederlage des Schmalkaldischen Bundes gegen Kaiser Karl V. durch kaiserlichen Oktroi 1548 nach über 200 Jahren aufgehoben. Die Stadtregierungen wurden im Zusammenhang mit der Zerschlagung der politischen Zünfte in dem Zeitraum von 1549 bis 1558 rearistokratisiert, doch blieben einige wenige latente Zunfttraditionen erhalten.³⁹³ Obwohl die kaiserlichen Intentionen im Detail vielfach nur teilweise verwirklicht werden konnten, wurden insgesamt betrachtet die obrigkeitlichen Züge der Ratsregierung weiter verstärkt. Den großen Reichsstädten Augsburg und Ulm wurde das patrizische Regiment der Stadt Nürnberg, die, obschon protestantisch geworden, dennoch kaisertreu geblieben war, als Muster empfohlen.

393 Zu den Einzelheiten siehe E. N (Hg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung (4.1–4.3); E. I, Obrigkeit und Stadtgemeinde (4.1–4.3), S. 95–98, 106–108, 115–117.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

In kleinen Reichsstädten, die sich nunmehr die 1549 in Augsburg vollzogene, zuvor von den dortigen Geschlechtern gegenüber König Ferdinand angeregte und erhoffte Regimentsänderung zum Vorbild nehmen sollten, scheiterte die Zielsetzung schon daran, dass der in den Jahren 1551/52 mit der Durchführung beauftragte kaiserliche Rat Heinrich Haß (Haas, Hase) für die neuen Räte, die bald spöttisch Hasenräte genannt wurden, nicht genügend geeignete Personen, die möglichst patrizisch, nicht zu nahe miteinander verwandt und katholisch sein oder wenigsten dem alten Glauben nahestehen sollten, rekrutiert werden konnten. Die Verwandtschaftsverbote mussten gelockert werden; in Augsburg wurde ein alter und gebrechlicher Patrizier, der krankheitsbedingt schon seit einiger Zeit aus dem Rat ausgeschieden war, wieder in den Ratsstand befohlen. Vor allem musste in den oberschwäbischen Reichsstädten auf Leute aus den aufgelösten Zünften zurückgegriffen werden. Kleine Städte verfügten ohnehin kaum über festgefügte Patriziate, und die Knappheit an geeigneten Amtspersonen wurde daran erkennbar, dass bei einer Musterung der bisherigen Ratsmitglieder notorische Alkoholiker, unangenehme Choleriker, hemmungslose Schwätzer, notorische Ehebrecher und Bürgermeister und Geheime Räte, die angeblich weder schreiben noch lesen konnten, angetroffen wurden. Die Neufassung des Ulmer Schwörbriefs von 1558 in Anlehnung an einige Formulierungen des spätmittelalterlichen von 1397 räumte zwar den Handwerkern das Recht ein, Vorsteher selbst zu wählen, restaurierte aber nicht die alten Zünfte mit ihren Rechten. Die gleichfalls zugestandene Befugnis, bei kleineren Vergehen und beschränkt auf eine Höchststrafe von zwei Gulden eine Strafgewalt auszuüben, wurde nicht in den Schwörbrief aufgenommen, sondern in einer gesonderten Ordnung festgehalten. Die Gewerbetreibenden, die im Rat in die Minderheit gerieten, verloren ihr aktives Wahlrecht; die neuen Ratsmitglieder aus den ›Gewerben und Handwerkern‹, der Ausdruck

»Zunft« wurde peinlichst vermieden, wurden fortan vom Gremium der Ratsherren gewählt. Die Handwerksordnungen wurden vom Rat gemacht, und der Ratsausschuss der Handwerksherren mit zwei Patriziern und einem Gewerbetreibenden, in der Regel ein wohlhabender Kaufmann, besaß weitreichende Kompetenzen. Bis zum Ende der Reichsstadt war der Schwörbrief von 1558 die geltende Verfassung. 2.5.4 Herrschafts- und Regierungsformen: Aristokratie und Oligarchie – Politie und Demokratie – gemischte Verfassung Die frühen Ratsgremien wurden in den Bezeichnungen der Überlieferung aus Kreisen der Reichen und Mächtigen (divites et potentes), der Besseren oder Besten (meliores, optimates) besetzt und stellten, sofern diese zudem wenigstens grundsätzlich im Sinne des gemeinen Nutzens regierten, nach gelehrter Begrifflichkeit Aristokratien dar. Spätere nichtaristokratische Verfassungen wie die Kölner von 1396 und 1513 oder etwa auch die Rottweiler Verfassung – mit Zunftbefragungen und dem vom Rat getrenntem Gemeindeausschuss der Zwanziger – weisen im Hinblick auf Wahlen, Mittel der Reduktion oder Minimisierung von institutioneller, persönlicher und familialer Herrschaft und Macht und das Ausmaß von politischer Partizipation weiter Kreise in ihrem normativen Gehalt durchaus demokratisierende Züge auf.³⁹⁴ Es ist selbstverständlich, dass es sich nicht um eine moderne Parteiendemokratie mit der regulativen Idee der Volkssouveränität und dem Prinzip der Gewaltenteilung handeln kann, doch ist der Demokratiebegriff älteren Ursprungs, ein historischer und nicht absoluter Begriff, nicht eindeutig und fest, sondern unscharf, offen und wandelbar. Die sozialgeschichtliche Forschung hat über die Klagen der mittelalterlichen Zeitgenossen hinaus statistisch zeigen können, wie sehr städtische Verfassungen nach der Erweiterung der po-

394 Zum Folgenden eingehend E. I, Zur Modernität der kommunalen Welt des Mittelalters (1.1), S. 106–126.

Die Stadtverfassung

litischen Partizipation im Zuge der Zunft- und Verfassungskämpfe durch Selektion der Ratsmitglieder aus den Kreisen der wenigen Vermögenden eine Verengung erfuhren. Diesen verengten Kreisen wird weitergehend Machtwille und eine Herrschaftspraxis zu ihrem eigenen Nutzen und zu dem ihrer gesellschaftlichen Kreise unterstellt, sodass man pauschal den Vorgang der Verengung als »Oligarchisierung« und die Ratsregime allgemein als »Oligarchien« bezeichnet. Eine wirtschafts- und sozialgeschichtliche Betrachtung kann zunächst nur zur Charakterisierung eines Ratsregimes als »Plutokratie«, einem Unterfall der Oligarchie, gelangen, wenn die politische Berechtigung der Bürger und die Regentenstellung wesentlich durch die politische Prätention des nackten Besitzes begründet sind. Es kann sich aber nur um Züge einer faktischen »Plutokratie« (oder »Timokratie«) handeln, da die politische Amtsfähigkeit nicht verfassungsmäßig an Vermögen (oder Vermögensklassen) gebunden ist, sondern allein durch das Bürgerrecht vermittelt wird. Das Bürgerrecht wiederum ist nicht grundsätzlich und strikt an Vermögen gebunden, wohl aber kann verschiedentlich ein nicht allzu hohes Mindesvermögen Voraussetzung für den Erwerb sein. Die »Aristokratie« ist als Regierung einer kleiner Gruppe Auserwählter mit besonderer individueller Befähigung, als Herrschaft der »Besten« (Optimaten) gekennzeichnet, wobei die Befähigung geburtsständisch vermittelt wird und den Edlen oder Adeligen eignet. Dies sind die Kriterien, mit der Dr. Scheurl die aristokratische Nürnberger Ratsherrschaft de niert.³⁹⁵ Für die Kategorisierung derartiger Herrschaftsformen im Hinblick auf die konkreten städtischen Verfassungs- und Regierungsformen bedarf es aber darüber hinaus der Erörterung des Wahlrechts, der Kooptations- und Wahlverfahren, der Berücksichtigung weiterer bürgerschaftlicher Mitwirkungsgremien und einer genaueren Untersuchung von Regierungs-

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praxis und politischen Inhalten. Erfolgte die Verengung der politischen Partizipation aus vordergründigem, gewissermaßen naturhaftem Machtwillen, unter Missachtung von vorgegebenen Verfassungsprinzipien und Institutionen, durch Wahlmanipulationen und zum eigenen Nutzen, wird man es bei dem negativ belasteten, in der Forschung aber oft zu bequem gehandhabten Ausdruck der »Oligarchisierung« belassen können. Ist dies jedoch weitgehend nicht der Fall, ergeben sich begriffliche Schwierigkeiten. Es gab jedoch immer wieder Aufstandsbewegungen gegen eine für oligarchisch und autokratisch erachtete Ratsherrschaft, die sowohl die Existenz demokratisierender Prinzipien als auch den vehementen Wunsch nach Rückkehr zu ihnen manifestierten. Die Kategorisierung der Herrschafts- und Regierungsformen sind eine Sache gelehrter oder wissenschaftlicher Erörterung, Gegenstand der Staatsphilosophie, der Allgemeinen Staatslehre und der Politologie, so auch im Mittelalter. Es ist daher sinnvoll, dazu die mittelalterlichen Gelehrten unterschiedlicher Herkunft zu befragen. Es zeigt sich dabei sofort, dass die bloße (plutokratische) Verengung der sozialen Kreise, aus denen Ratsmitglieder rekrutiert wurden, noch nicht für die Erfüllung des Begriffs der »Oligarchie« ausreicht, denn zur Oligarchie gehört begrifflich und de nitorisch auch, dass sich die Ausübung der Herrschaft nicht am übergreifenden Gemeinwohl, sondern an den einseitigen Eigeninteressen der Wenigen und Reichen orientiert.³⁹⁶ Andernfalls handelt es sich eher um eine Aristokratie. So wurde auch im Mittelalter die Oligarchie verstanden. Nach omas von Aquin ist die Oligarchie die Herrschaft weniger Leute, die durch ihren Reichtum das Volk niederhalten, und deshalb eine ungerechte Herrschaft und eine Form der Tyrannis.³⁹⁷ Eine Tyrannis de niert omas maßgeblich als eine Regierungsweise, die sich am eigenen Nutzen der Regierenden

395 Siehe 4.1–4.3. 396 Zum Oligarchiekonzept siehe E. I, Obrigkeit und Stadtgemeinde (4.1–4.3), S. 90–98 (mit Literatur). 397 omas von Aquin, De regimine principum, I, 1.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

und nicht am Gemeinwohl (bonum commune) orientiert. Die begrenzte Ausdehnung des städtischen Territoriums und Größe der Bevölkerung ermöglicht nach spätmittelalterlicher staatsphilosophisch-politischer und juristischer Verfassungstheorie je nach Größe der Bevölkerung und impliziter Ausdehnung des Gebiets als adäquate Regierungsform eine nichtmonarchische Regierung: bei einer (1) geringeren Größe der Bevölkerung eine Regierung durch das Volk, eine politia oder ein regimen politicum in der mittelalterlichen Übersetzung der Terminologie des Aristoteles, ein regimen ad populum in der von dem Juristen Bartolus de Saxoferrato bevorzugten neuen, gewissermaßen modernen Terminologie, bei einer (2) großen Stadt eine Regierung der Wenigen, zugleich der Reichen, Guten und Klugen, eine Aristokratie oder ein regimen senatorum. Die Verfallsformen dieser guten Regierungen der Vielen und der Wenigen, die Demokratie und Oligarchie, kommen dadurch zustande, dass die Regenten in jedem der Fälle nicht das Gemeinwohl (bonum commune) intendieren, sondern auf den eigenen Nutzen und Gewinn (commodum, lucrum) aus sind und dabei andere unterdrücken.³⁹⁸ Was in der Antike polis und im Mittelalter politia heißt, erscheint erst in der Neuzeit in positiver begrifflicher Umwandlung als Demokratie, deren Verfallsform dann die Pöbelherrschaft oder Ochlokratie ist. Johann von Soest de niert entsprechend in seinem Traktat über die Stadtregierung von 1495 die Oligarchie in aristotelischem Sinne als die Regierung von Wenigen, die schlecht regieren und nicht tugendhaft sind, welche die Armen zu unterdrücken p egen, den eigenen Vorteil (proprium lucrum) anstreben und das Gemeinwohl (bonum commune) vernachlässigen.³⁹⁹ Sämtliche Stadtregierungen, seien es patrizisch-aristokratische oder auf Zünften basierende, bekennen sich in ihren Regierungshandlungen in Permanenz zur politischen Zielvorstellung des gemeinen Nutzens,

die dann auch von Gegnern zur Beurteilung des Charakters des Regimes genommen wird. Der Verfasser der im oberrheinischen Umfeld entstandenen »Reformatio Sigismundi« von 1439 führt die konkretisierte Form einer Oligarchie oder Verfallsform der Politie vor, wie sie sich seiner Auffassung nach in Städten mit Zunftverfassung und einer Mehrheit der Handwerkerzünfte im Rat ausgebildet hat. Er denunziert die herrschenden Zünfte als schädliche, der Ehre und dem gemeinen Nutzen der Stadt abträgliche egoistische Einrichtungen, die Wirtschaftsvergehen deckten, sich komplizenhaft wechselseitig begünstigten und autonom viele weder der Stadt noch der Allgemeinheit nützliche Gesetze machten, und fordert deshalb vehement ihre Entpolitisierung zu reinen beru ichen Zusammenschlüssen (Gesellschaften) nach dem Beispiel einiger großer Städte.⁴⁰⁰ Hermann Bote, ein Parteigänger des Rats, spricht in seinem 1514 verfassten Braunschweiger »Schichtbuch« davon, dass unter den regierenden Familien in den Städten Eigennutz und Zwietracht – anstelle des Freundschaft bewirkenden gemeinen Nutzens – gängig seien, sodass sie sich parteiisch verhielten. Eine derart auf den eigenen Nutzen bezogene oligarchische Regierungsweise wurde den Räten von bürgerlichen Oppositionsbewegungen tatsächlich immer wieder zu Recht oder zu Unrecht vorgeworfen, sie ist aber unabhängig davon vom Historiker, der das Verdikt der Oligarchie verhängt, nachzuweisen. Ein lediglich sozialgeschichtlich durch die Zusammensetzung des Rats de nierter Oligarchiebegriff ist angesichts des differenzierten mittelalterlichen Diskurses anachronistisch. Sicherlich sind Verfassungen auch sozialgeschichtlich zu interpretieren und in ihrer tatsächlichen Handhabung zu betrachten, doch sind zunächst ihr normativer Gehalt und ihre Intention darzustellen. Da gilt die unbezweifelbare absolute Vorrangstellung des gemei-

398 Bartolus, Tractatus de regimine civitatis, hg. von D. Q, S. 150 f., 162–165. 399 Wie men wol eyn statt regyrn sol (1.1), cap. 8, Declaracio; gedruckt in E. I, Ratsliteratur und Ratsordnungen (4.1–4.3), S. 304 Anm. 267. 400 H. K (Hg.), Reformation Kaiser Siegmunds (5), S. 266 f.

Die Stadtverfassung

nen Nutzens, der von jeder Form städtischer Ratsregierung wenigstens propagiert wird. Es ist gleichfalls – für Aristoteles wie für moderne Verfassungsjuristen – selbstverständlich, dass Verfassung und Verfassungswirklichkeit in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen und mehr oder weniger divergieren können. Jede Herrschafts- und Regierungsform nimmt daher mehr oder weniger breite Toleranzbereiche in Anspruch. Das heißt aber auch, dass Städten nicht unter Verabsolutierung einer sozialgeschichtlichen Interpretation – und Ausblendung historischer und gegenwärtiger Verfassungswirklichkeiten – mit einem Hinweis auf oligarchische Züge, genauer aber zunächst nur auf eine plutokratische Verengung der Ratskreise, wichtige demokratisierende Elemente abgesprochen werden dürfen. Denn deutliche oligarchische Erscheinungen weisen bei entsprechender Argumentation auch moderne Parteiendemokratien auf, insbesondere durch die trotz Vollalimentierung der Mandatsträger keineswegs soziologisch repräsentative beru ichpersonelle Zusammensetzung der Versammlungen und Institutionen, ferner durch die Vorselektion eines Teils der Kandidaten durch Wahllisten nach der jeweiligen Räson der Parteien, den in der Verfassung nicht vorgesehenen Fraktionszwang, schließlich den ausgeprägten Widerstreit von Parteieninteressen und Gemeinwohl sowie durch eine eifrig betriebene Ämterpatronage.⁴⁰¹ Einem mustergültigen Gremium wie dem 1377/78 anlässlich einer Verfassungsänderung eingerichteten, vom Rat personell geschiedenen Rottweiler Zwanzigerkollegium, das vom Rat gehört werden musste und dessen Aufgabe es war, Anregungen, Forderungen und Beschwerden aus der Bürgerschaft entgegenzunehmen

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und beim Rat einzureichen, wird jedoch apodiktisch das Prädikat »demokratisch« verweigert, weil »von einer Vertretung im Sinne einer Teilhabe an den Ratsgeschäften« kaum gesprochen werden könne.⁴⁰² Dabei vertrat das Gremium die ihm vor allem aus der Zunftgemeinde zugehende öffentliche Meinung gegenüber dem regierenden Rat. Der Graben zu demokratischen Formen wird ferner mit der Feststellung unüberwindlich gemacht, dass der mittelalterlichen Stadt das Prinzip der Volkssouveränität fehle, wobei unter der zugleich geforderten »wirklichen« Volkssouveränität die »Ausübung des Stadtregiments durch die Individuen, die das Volk bilden«, verstanden wird.⁴⁰³ Damit wäre die Bundesrepublik Deutschland zweifellos keine Demokratie, da das Volk seine Souveränität laut Grundgesetz lediglich durch »Wählen und Abstimmen«, in Wirklichkeit gegenwärtig in Ermangelung von Plebisziten, die lediglich in Länderverfassungen vorgesehen sind, nur durch Wählen zur Geltung bringen kann. Volkssouveränität ist zwar ein positiviertes und nicht hintergehbares Verfassungsprinzip, aber zugleich eben keine unmittelbare reale Vollgewalt, sondern eine regulative Idee mit allerdings prozeduraler Verwirklichung und insoweit auch empirisch. Zur Erfüllung unseres Demokratiebegriffs ist zwar das Wahlrecht des Souveräns unabdingbar, unmittelbare Sachentscheidungen durch das Volk oder andere Elemente direkter Demokratie sind aber nicht zwingend gefordert. Dabei gibt es in nichtaristokratisch verfassten spätmittelalterlichen Städten durchaus Formen der Ermächtigung des regierenden Rates durch die Gemeinde, und gerade diese Städte weisen, bezogen auf den engeren Kreis der Wahlberechtigten, einen relativ hohen Grad unmittelbarer Partizipation im Kleinen Rat so-

401 Zum »ehernen Gesetz der Oligarchie« oder der »Oligarchisierung« und zur Annahme, dass jeder menschlichen Zweckorganisation oligarchische Züge immanent sind, sowie zu den oligarchischen Tendenzen und Erscheinungen der modernen Parteiendemokratie siehe bereits R. M, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, hg. mit einem Nachwort von W. C, bes. S. 13, 25, 29. Zur heutigen Problematik des Parteienstaates siehe M. M/U.  A/H. M (Hg.), Gemeinwohl und politische Parteien, Baden-Baden 2008. 402 So K. G, Die deutschen Städte in der frühen Neuzeit (Einleitung), S. 71. 403 So B. K, Bürgerkämpfe und Friedebriefe, S. 148 f.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

wie in den mitwirkenden oder Konsens erteilenden Großen Räten, Gemeinde- und Bürgerversammlungen auf. Mittelalterlichen Zunftverfassungen boten mit ihrer Verteilung von Ratssitzen an die politischen Zünfte Berufen und Menschen wie etwa den Lebensmittelkleinhändlern, Angehörigen agrarwirtschaftlicher Berufe oder den Transportarbeitern wie den Fassziehern, in Köln allen in eine Gaffel eingeschriebenen Ansässigen, grundsätzlich Wahlrecht, Partizipation und Repräsentation, wie es ihnen außerhalb der Stadt und in späteren Epochen nicht mehr zukam. Hinsichtlich des mittelalterlichen Wahlrechts fehlen, da arme Zunftgenossen wählen durften, die Ausschlusskriterien des Zensus- und Klassenwahlrechts des 18./19. Jahrhunderts mit seinen Maßgaben von Besitz und Bildung, während auf das Wahlrecht der Frau, das gegen das mittelalterliche Wahlrecht angeführt werden könnte, ohnehin in der Regel noch bis ins 20. Jahrhundert gewartet werden muss. Selbstverständlich ist es methodologisches Gebot für den Historiker, sich vor Anachronismen zu hüten, ganz vermeiden wird er sie jedoch nicht können, da er, um verstanden zu werden, hin und wieder historische Sachverhalte mit ähnlichen Erscheinungen in seiner Gegenwart vergleichen muss, außer er betrachtet mittelalterliche Geschichte zu Unrecht lediglich als etwas gedanklich Erledigtes und Antiquarisches.⁴⁰⁴ Aber er kann die aus der eigenen Zeitgebundenheit zwangsläu g resultierenden Anachronismen kontrollieren; und er muss die Differenzen zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem herausstellen. Hinsichtlich der Frage nach demokratisierenden Elementen spätmittelalterlicher Stadtverfassungen verhält es sich ohnehin anders, denn sie ist insofern keineswegs anachronistisch, als es historische Formen

von Demokratie gibt, von denen ausgegangen werden kann, städtische Verfassungen durchaus neue Formen schaffen, die wegen der relativen Unschärfe, Offenheit und Wandlungsfähigkeit des Demokratiebegriffs nicht unserem als einem verabsolutierten Konzept entsprechen müssen. Dazu sind aber die zeitgenössischen Überlegungen zu den Verfassungsformen zu berücksichtigen und ernst zu nehmen. Anachronistisch und sachlich wenig sinnvoll ist es allerdings, Anforderungen an mittelalterliche Verfassungen zu stellen, die so geartet sind, dass nicht nur diese ihnen nicht genügen, sondern auch bei genauerer verfassungsrechtlicher und politologischer Betrachtung unsere demokratische Gegenwart sie nicht erfüllt.⁴⁰⁵ Es ist nicht sinnvoll, mittelalterliche Stadtverfassungen, wenn vor allem Vermögende den Rat bilden, in einem weiten Umfang einfach auf die Oligarchie und damit auf eine Verfallsform der Aristokratie festzulegen, ferner eine Erweiterung der politischen Partizipation begrifflich nicht als demokratisierend in Erwägung zu ziehen, dafür aber, darin liegt das zentrale Problem, auch keinen anderen positiv konnotierten Begriff bereitzuhalten. Das mittelalterliche Königtum wird trotz vieler Fehlleistungen, politisch motivierter Urteile und seines unverkennbaren Fiskalismus auch nicht grundsätzlich und durchgehend als Tyrannis bezeichnet. Wenn wir für die Erweiterung der politischen Partizipation einen positiven Gegenbegriff zur Aristokratie suchen und dabei auf die im Spätmittelalter geläu ge Begrifflichkeit rekurrieren, so entspricht ihm die Regierung der Vielen, die Politie (politia, von politeia), da der Begriff Demokratie noch wie bei Aristoteles die Abweichungsform der Politie darstellt⁴⁰⁶ und etwa von omas von Aquin als Tyrannei der Vielen, die Unterdrückung der Reichen durch

404 Eingehender dazu E. I, Kann das Mittelalter modern sein? (1.1). 405 Eigentümlich mutet in diesem Zusammenhang die Bemerkung an, dass in der mittelalterlichen Stadt neben den Frauen »auch diejenigen von gleichberechtigter [!] Teilnahme an Herrschafts- und Kontrollfunktionen ausgeschlossen« wurden, »denen die Teilhabe an Recht und Ehre verwehrt wurde, den Bettlern, ›Randgruppen‹ und gefährdeten Einzelpersonen«. B.-U. H (Hg.), Quellen zur Verfassungsgeschichte (Einleitung), S. 3. 406 Aristoteles, Politik, IV, 2 (1289a). Bei omas von Aquin ist es das regimen politicum. 407 omas von Aquin, De regimine principum, I, 1.

Die Stadtverfassung

die breite Masse vermöge ihrer Überzahl aufgefasst wird.⁴⁰⁷ Das begriffliche Problem, das in dem analytischen Sachverhalt besteht, dass eine auf korporativer Grundlage zweifellos demokratisierende Elemente aufweisende Verfassung, wie es eine Zunft- oder Gaffelverfassung ist, zugleich vor allem durch engere vermögende Kreise gehandhabt wird, könnte positiv im Rückgriff auf die aristotelische Begriffsbildung einer Politie im engeren Sinne gelöst werden. Diese Form der Politie besteht aus einer Kombination mit vielen denkbaren Mischungsverhältnissen aus Demokratie – der Regierung der Freien und Unbemittelten als Mehrheit – und Aristokratie – der Regierung der Minderheit der Reichen und Vornehmen – mit einer insgesamt zur Demokratie hinneigenden Form und dem Prinzip von Freiheit und Reichtum.⁴⁰⁸ Oligarchie wäre dann eine missbräuchliche Abweichung von dieser Form der Politie zugunsten der Wenigen und des Prinzips des Reichtums. Verfassungspolitische Auseinandersetzungen insbesondere in der frühen Neuzeit wurden mit den Schlagworten Aristokratie und Oligarchie, Politie und (hochschädliche) Demokratie und Pöbelherrschaft geführt. Ferner griff man in der frühen Neuzeit, um autokratische Regime zu kennzeichnen, zu den Begriffen »Dominat«, »Absolutismus« und »Despotie«. Die Bürgerschaft Frankfurts am Main wandte sich 1612, die Ratsopposition in Hamburg 1699 gegen den patrizischen und ratsherrlichen Dominat. In Lübeck, wo man bereit war, die Verfassung als aristokratisch zu akzeptieren, rückte die Bürgeropposition die Ratsherren in die Nähe von domini absoluti. Nürnberger Finanzund Großkau eute, die im Verfassungsstreit des ausgehenden 18. Jahrhunderts die freie Bürgerschaft zu repräsentieren versuchten, sprachen von einem Patriziatsdespotismus, und in Ulm wurde die Despotie der patrizischen Regime in den Reichsstädten angeprangert und

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der Verlust des reichsstädtischen Republikanismus beklagt. Unter dem Eindruck der Französischen Revolution und in Übereinstimmung von aufklärerisch-rousseauistischer Terminologie und neuer Verfahrensform erklärte 1798 der Bürgerausschuss in Ulm gegenüber dem Magistrat, er werde zur Veröffentlichung seiner Vorstellungen in Zukunft nicht mehr die einzelnen Zünfte, sondern immer die gesamte Bürgerschaft einberufen, damit sich der allgemeine Wille besser bestimmen lasse. Aus der mittelalterlichen Korporationstheorie und dem Konziliarismus des 15. Jahrhunderts stammt hingegen die im 17. und 18. Jahrhundert etwa in Frankfurt am Main, Stralsund und Ulm verwendete, logisch unwiderlegbare Formel, dass ›der Rat um der Bürgerschaft willen und nicht die Bürgerschaft um des Rates willen da sei‹.⁴⁰⁹ Eine andere Variante der Lehre von den Staats- und Herrschaftsformen bot die Idee der gemischten Verfassung. Der Dominikaner Felix Fabri preist am Ende des 15. Jahrhunderts in seiner Interpretation die in ihrer patrizischzünftischen Zusammensetzung kunstvoll austarierte Zunftverfassung der Reichsstadt Ulm, das ›Ulmer Regiment‹, unter Bezugnahme auf das dritte Buch der aristotelischen »Politik« sowohl normativ im Sinne einer Sollensordnung als auch in politologischer Analyse als gemischte Verfassung (politia) und Regierung (regimen). Soweit ein Bürgermeister der ganzen Stadt und Gemeinde (communitas) vorsteht, handelt es sich um ein königliches Regiment (regimen regni), soweit aber Vornehme (maiores) als Richter (iudices) im Sinne von Schöffen und Beisitzern (assessores) mit ihm – als Kleiner Rat – regieren, kann von einem (aristokratischen) Optimatenregiment gesprochen werden, soweit aber Personen aus der Bürgergemeinde (communis populus) und aus allen Zünften als Vertreter des ganzen Volkes (totus vulgus) im (gesamten) Rat zusammen mit dem Bürgermeister und den Op-

408 Aristoteles, Politik, IV, 8 und 9 (1293b–1294b). Siehe dazu C. M, Art. »Politeia«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Basel 1989, Sp. 1036; E. I, Zur Modernität der kommunalen Welt des Mittelalters (1.1), S. 112 f. 409 E. I, Obrigkeit und Stadtgemeinde (4.1–4.3), S. 90 f., 110 f., 126; ., Die Reichsstadt in der Frühen Neuzeit (3.1–3.2), S. 78 f.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

timaten für das Gemeinwesen sorgen, hat das Ulmer Regiment etwas an der Form der Volksherrschaft (politia populi) teil. Eine aus diesen drei Formen gemischte Herrschaft (principatus) sei Aristoteles zufolge deshalb die beste, weil jeder in der Gemeinde auch an der Herrschaft etwas teilhabe und deshalb sein Gemeinwesen noch glühender liebe, die Satzungen sorgfältiger beachte und seinen Besitz zugunsten des Gemeinen Nutzens (rei publicae utilitas) williger einsetze. Zugleich hebt Fabri die strenge Bindung der exekutiven Spitze des Regiments hervor. Der Bürgermeister, der keiner Zunft angehört, aus dem Kreis der vornehmen Geschlechter gewählt wird und an dem sich alle orientieren, wird dennoch durch zwingende Satzungen (certa statuta) so eingeengt gehalten, dass er als Vorsteher (praefectus) gleichsam nur das tun kann, was die ihn einsetzende Gewalt (prae ciens) will. Seine Regierung dauert nur ein Jahr, danach kann er erst wieder nach zwei Jahren im dritten Jahr, wenn es der Gemeinde gefällt, erneut in das Amt gewählt werden, was meistens geschieht. Daher sind es im Allgemeinen drei Bürgermeister, die aufeinander folgen, und auf diesen dreien lastet die gesamte Geschäftstätigkeit. Dadurch dass die Gemeinde in den Zünften die Ratsherren, Richter (Urteiler des Stadtgerichts) und die Zunftmeister wählt und diese sodann zu gegebener Zeit den Bürgermeister wählen, der alle leitet, ergibt sich für Fabri in der Ulmer Gemeinde ›ein höchst angenehmer Einklang des Regiments‹ (suavissima regiminis harmonia).⁴¹⁰ Fabri überhöht die von ihm rational analysierte Ulmer Verfassung überdies noch religiös, indem er sie in Analogie zum göttlichen und himmlischen Hof (curia) setzt, der von einem einzigen Herrn (princeps) und einem dreieinigen allmächtigen Gott regiert wird. So gibt es in der Ulmer Verfassung einen Bürgermeister, der aktuell regiert, und einen dreieinigen, weil drei aus den Optimaten einander in der

Regierung nachfolgen. Und wie Christus zwölf Apostel und – als ein Sechsfaches von zwölf – 72 Schüler hatte, so hat der Bürgermeister zwölf Richter (des Stadtgerichts und Ratsmitglieder) und – aus dem Kleinen Rat (32) und Großen Rat (40) zusammengesetzt – 72 Beisitzer und Ratsherren. Auf empirischer Ebene sind viele der spätmittelalterlichen Städte an rationaler und kreativer politisch-institutioneller Experimentierfreudigkeit und an Er ndungsreichtum kaum zu überbieten, wenn sie im Zuge der Beilegung von Verfassungskämpfen und inneren politischen Kon ikten nicht selten wiederholt vor der Notwendigkeit standen, das politischsoziale Machtgefüge in Verhandlungen neu zu bestimmen und entsprechend institutionell zu xieren, neue Lösungen der politischen Organisation zu nden, damit Frieden und Einheit künftig gewährleistet werden konnten. Komplizierte Prozeduren der Wahl der Ratsmitglieder und Amtsträger wurden ersonnen, neue Gremien und Verfahrensweisen der bürgerschaftlichen Mitbestimmung und Kontrolle geschaffen, Kompetenzen aufgeteilt, und das Zusammenspiel verschiedener Ratsgremien mit Kommissionen und Gemeinde- oder Bürgerversammlungen wurde geregelt.⁴¹¹ Dabei ging es im Grundsätzlichen um politische Partizipation und um die Schaffung von Freiheitsräumen. Wer dies eindringlich ins Bewusstsein gehoben hat, war kurz vor der Mitte des 16. Jahrhunderts angesichts der Gefährdung der Augsburger Zunftverfassung der Chronist Clemens Jäger mit seiner Konzeption der freien bürgerlichen Republik auf der Grundlage des Antagonismus zwischen Patriziat und Zunftgemeinde mit Analogien der Augsburger Stadtverfassung zur Verfassung der römischen Republik⁴¹², während verallgemeinernd und schärfer etwas früher schon Niccolò Machiavelli in seinen »Discorsi« (1532) am Beispiel der römischen Geschichte zu der politischen Erkenntnis

410 Felix Fabri, Tractatus de civitate Ulmensi (1.1), S. 129 (dt.Übersetzung, S. 88). 411 Vgl. auch B.-U. H (Hg.), Quellen zur Verfassungsgeschichte (Einleitung), S. 21. 412 Siehe 2.6.4.1.

Verfassungs- und Zunftkämpfe, Bürgeropposition und Unruhen

gelangt war, ›dass in jedem Gemeinwesen das Sinnen und Trachten des Volks und der Großen verschieden ist und dass alle zu Gunsten der Freiheit entstandenen Gesetze nur diesen Auseinandersetzungen [loro disunione] zu danken sind‹.⁴¹³

2.6 Verfassungs- und Zunftkämpfe, Bürgeropposition und Unruhen Wie in anderen Städten Europas brachen auch in deutschen Städten in Mittelalter und früher Neuzeit immer wieder Unruhen unterschiedlicher Formen und Größenordnungen aus. In einer vorläu gen Bilanz kommt Erich Maschke für den Zeitraum von 1301 bis 1550 auf mindestens 210 Unruhen in über 100 Städten des Reichs.⁴¹⁴ Hinzu kommen Unruhen in mindestens weiteren zehn Städten, doch sind alle Auflistungen nur vorläu ger Art. Gliedert man in einem größeren Zeitraum, so ergeben sich zwischen 1250 und 1550 über 250 Kon ikte und Auseinandersetzungen in etwa 150 Städten.⁴¹⁵ Gliedert man enger, so sind es zwischen 1301 und 1500 etwa 150 Unruhen in annähernd 100 Städten, zwischen 1301 und 1400 über 80 Erhebungen und Kon ikte, doch gelangt eine spätere Au istung für diesen Zeitraum auf über 160 (167) Kon ikte, sodass die älteren Zahlen um mindestens 80 erhöht werden müssten.⁴¹⁶ Betroffen war im Vergleich zum Gesamtbestand der Städte eine kleine Gruppe vorwiegend wirtschaftlich und politisch bedeutender Mittel- und Großstädte. Dabei lassen sich Massierungen von Unruhen um 1300, 1400, nach 1480 und 1510–1530 sowie städtelandschaftli-

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che Verbreitungen feststellen, doch müssen diese Zusammenhänge vorsichtig interpretiert werden. Als 1374 die Braunschweiger Schicht ausbrach, die erst 1386 beendet war, ereigneten sich um 1375 und kurz danach auch Aufstände in Hamburg, Lüneburg, Nordhausen, Danzig, Stade und Anklam sowie die (aufgedeckte) Verschwörung der Knochenhauer in Lübeck, was neben örtlichen Ursachen auch Auswirkungen der Ereignisse in Braunschweig nahelegt. In einigen Städten gehörten Unruhen und bewaffnete Au äufe, allerdings in bestimmten engeren Zeitabschnitten, gewissermaßen zum Lebensrhythmus der Kommune. In der städtisch bestimmten Reformationsphase der 1520er Jahre sind 1521 für sechzehn Städte Unruhen nachweisbar, 1522 für 52 Städte, 1523 für 44, 1524 für 40 und 1525 für 51 Städte.⁴¹⁷ In einem Zeitraum von 1285 bis 1471 ließen Könige, angefangen von Rudolf I. bis zu Friedrich III., in 67 Fällen mit insgesamt 54 betroffenen Königs- oder Reichsstädten, Städten geistlicher Reichsfürsten und Territorialstädten gerichtlich in städtische Unruhen eingreifen und forderten teilweise enorme Strafsummen wegen des Friedensbruchs und der Verletzung königlicher Rechte, darüber hinaus nach Ächtungen den Achtschatz für die Lösung aus der königlichen Acht und Aberacht. Dabei elen 36 Verfahren am Königshof bis 1400 an, weitere 31 bereits im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts. In diesem Zusammenhang entstanden neue Handwerks-, Rats- und Schöffenordnungen. Im 13. und 14. Jahrhundert handelte es sich ganz überwiegend um Städte der Region südlich der Mainlinie, die als königsnah gilt, während im 15. Jahrhundert Eingriffe auch im

413 Niccolò Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, übersetzt von R. Z, Stuttgart, 2. A. 1977, I. Buch, 4. Kap., S. 19. 414 E. M, Deutsche Städte am Ausgang des Mittelalters (Einleitung), S. 20 ff. Siehe auch W. E, Hanse und spätmittelalterliche Bürgerkämpfe; B.-U. H, Gesellschaftliche Veränderungen; A. H, »Innerstädtische Auseinandersetzungen«; B. K, Bürgerkämpfe und Friedebriefe; P. J, Bürgerkämpfe und Verfassung; E. E, »und den alten rat wider in ire stule, huser, er und gut setzen«; V. T, Unruhehäufungen. 415 W. E, Hanse, S. 88. 416 E. E, Die deutsche Stadt des Mittelalters (Einleitung), S. 129 f., 328 (Anm. 27). B.-U. H, Gesellschaftliche Veränderungen (S. 39, 51 f.): 1360–1430 etwa 80 Kon ikte; E. E notiert von 1360 bis 1400 bereits 70 Kon ikte und Unruhen. 417 G. B, Martin Luther (5), S. 299.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

königsfernen Norden und Nordosten stattfanden.⁴¹⁸ Nach den Emanzipationsbewegungen der sich formierenden Stadtgemeinden gegen den Stadtherrn seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts kämpften im ausgehenden 13. Jahrhundert, teilweise auch noch im Zusammenhang mit der Abwehr stadtherrlicher Herrschaftsansprüche, und vor allem im 14. Jahrhundert in einer Reihe von Städten einige Handwerkerzünfte in Allianzen mit nichtpatrizischen oder jüngeren Kau eutegruppen um politische Partizipation gegen das Ratsregime der alten Ratsgeschlechter oder einer etablierten, Handwerker ausschließenden Kau eutearistokratie. Auf Seiten der Kau eute waren es vor allem wirtschaftlich prosperierende, aktive Kau eute, darunter Neubürger, die nach ihrem sozialen Aufstieg – in den aparten einfühlsamen Worten Max Webers – »den Ausschluss von der Macht ideell nicht mehr ertrugen«⁴¹⁹ oder ihre wirtschaftliche Position politisch absichern wollten. Einen günstigen Anlass, die Initiative zu ergreifen, boten verschiedentlich erbitterte Feindschaften und Fraktionsbildungen innerhalb der Geschlechter oder die Solidarität sprengende Rivalitäten innerhalb des alten Rates. Auf der anderen Seite versuchten derartige Parteien oder einzelne Patrizier mit ihrem Anhang für ihre politischen Ambitionen Zünfte und Kau eute auf ihre Seite zu ziehen und sie für ihr Ziel einer autokratischen Regierung oder einer entfernt einer italienischen Signorie ähnlichen Stadttyrannis einzuspannen. Sofern das alte Ratsregime sich nicht behauptete oder seine Herrschaft nicht wie in Nürnberg und Frankfurt am Main unter Aufnahme einer kleinen Anzahl von Zunftbürgern in den Rat zurückgewann, kam es zur Aufteilung der Ratssitze und Ämter zwischen Patriziat und Zunftbürgertum nach bestimmten, gelegentlich paritätischen Quotierungen. In nicht wenigen Städten, wie etwa in Ulm 1345 und

1397, in Basel, Straßburg oder Konstanz vom 14. bis 16. Jahrhundert wechselten die Mehrheitsverhältnisse wiederholt. Selten wurde das Patriziat ganz aus dem Stadtregiment verdrängt, aber häu g doch in eine Sonderexistenz neben der verfassungsrechtlich und politisch dominierenden Zunftgemeinde geschoben. In einigen wenigen Städten Oberdeutschlands und etwa in Speyer durch den Friedebrief von 1340 musste es sich die Eingliederung als Zunft – »Geschlechterzunft« oder »Zunft der Hausgenossen« in Speyer – in die korporative Gliederung der politischen Gemeinde oder Gesamtbürgerschaft gefallen lassen. Östlich der Elbe erreichten in Städten wie Berlin, Frankfurt an der Oder, Rostock oder Greifswald nur einige Zünfte wie die Bäcker, Fleischer, Schuster, Tuchmacher oder Weber, Schneider oder Schmiede eine Beteiligung am Rat oder gelegentliche Mitwirkung an politischen Entscheidungen. In Territorialstädten des Südens und Südostens, in Altbayern, Österreich, Mähren, Böhmen und Teilen Schlesiens kamen Zünfte über bruderschaftliche Aktivitäten und beru iche Rechte kaum hinaus, sondern unterlagen der gewerblichen Gerichtsbarkeit und Gewerbepolizei des Rats. In den norddeutschen, wirtschaftlich vom Handel dominierten Hansestädten konnten das Patriziat oder die Kau eutearistokratie fast überall ihr Regime aufrechterhalten oder ihre Herrschaft zurückgewinnen, während in einer Vielzahl anderer Städte die Zünfte sich eine Ratsmehrheit erstritten. So nden sich Zünfte im Rat im Niederrhein- und Maasgebiet, den Rhein abwärts im Mittel- und Oberrheingebiet und in der Schweiz, im Bodenseeraum, in Schwaben sowie in Teilen Frankens, Hessens, üringens, Niedersachsens und Westfalens. Das Ergebnis von erfolgreichem Aufruhr war, obschon keineswegs stets unmittelbar intendiert, vielfach über den Friedensschluss hinaus eine Verfassungsneuordnung, die nunmehr

418 H. L, Der Kaiser und die Zunftverfassung; R. M, Das Eingreifen Friedrichs III. in innerstädtische Kon ikte; B. D, Bürgerunruhen vor dem spätmittelalterlichen deutschen Königsgericht; N. J, Die Hanse vor den obersten Reichsgerichten. 419 M. W, Wirtschaft und Gesellschaft (1.2), 170 f. Dass bloßer Reichtum ohne entsprechende gesellschaftliche Rangstellung und Macht den Menschen nicht glücklich mache, konstatierte schon Felix Fabri (siehe 7.1.5.2).

Verfassungs- und Zunftkämpfe, Bürgeropposition und Unruhen

die Zünfte an der Ratsherrschaft beteiligte, oder es wurde durch einen Schwurverband eine neue Verfassungsordnung – mit dem Augsburger und Ulmer Ausdruck eine Zunft haben oder setzen – vereinbart, die auf bestehenden und teilweise neu organisierten Zünften als nunmehr politischen Korporationen basierte. Die Forschung gewinnt aus dieser politischen Gliederung der Gemeinde in politische Zünfte und der darauf beruhenden Verfassung der Gesamtbürgerschaft den wissenschaftlichen Ordnungsbegriff der »Zunftverfassung«. Das Patriziat, das nur gesellschaftlich in Trinkstuben seinen kommunikativ-politischen Mittelpunkt hat und politisch nicht den Zünften vergleichbar durchorganisiert ist, tritt als Stand der Gemeinde der Zünfte gegenüber und bildet gemeinsam mit den kommerziellen und handwerklichen Zünften den Rat. Man spricht von einer »reinen Zunftverfassung«, wenn auch das Patriziat eine politische Zunft bildet oder wie in Köln 1396 als Gruppe aus der Verfassungskonstellation ausscheidet, die entpolitisierten Geschlechter sich in eine der vorhandenen politischen Zünfte (Gaffeln) einschreiben müssen und dadurch in dem politischen Gesamtverband der Gemeinde aufgehen. In Augsburg kam allerdings die 1368 analog zu Speyer vorgesehene Zunft der Geschlechter nicht zustande, und die Handel treibenden Geschlechter traten nur zu einem geringeren Teil in die Kau eutezunft ein. Auch nach den Verfassungskämpfen und der Klärung der grundlegenden Verfassungsverhältnisse und Machtpositionen der verschiedenen Gruppen blieben Spannungen zwischen den Regenten der Stadt und den Bürgern erhalten, nur beruhten sie nicht mehr auf dem Gegensatz zwischen den von der Regierung Ausgeschlossenen und den exklusiv regierenden, sozial herausgehobenen Ratsfamilien, sondern nunmehr auf dem Misstrauen der bürgerlichen Gemeinde und des ›gemeinen Mannes‹ gegen vermutete Misswirtschaft einer repressiven, für oligarchisch erachteten und ihnen entrückten Obrigkeit. Ursachen für den Sturz des alten Rates waren in vielen Fällen eine hohe Verschuldung der Stadt und in deren Gefolge eine steu-

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erliche Belastung der Bürger, die als hoch und ungerecht verteilt beanstandet wurde. Eine umfassende und eindringliche Rechtfertigung eines blutig verlaufenen Umsturzes gaben die Aufständischen – der neue Rat, die Vierer und die Handwerksmeister – der thüringischen Stadt Nordhausen, wo am Abend vor St.Valentins-Tag (14. Februar) des Jahres 1375 ›viele enthauptet, aus der Stadt vertrieben und deren Güter kon sziert wurden‹. Die Aufständischen stellten ihr Vorgehen gegen den Rat im Zuge eskalierender Ereignisse in einem Schreiben an den Rat von Duderstadt als eine mit Gottes Hilfe erfolgreiche ›gerechtfertigte Notwehr‹ (rechte notwere) gegen die ›große Gewalt‹ derjenigen dar, die ihnen ›Leib und Gut‹ nehmen wollten, und verwiesen darauf, dass der Rat wenig zuvor – zur Zerstörung der wirtschaftlichen Selbstorganisation – das Fleischerhandwerk aufgelöst, ohne deren erkennbares Verschulden acht ehrbare Leute im Turm jämmerlich zu Tode habe kommen lassen und andere auf ewig aus der Stadt gewiesen habe. Die Aufständischen in Braunschweig hatten 1374 angegeben, aufgrund gerichtlicher Urteile vorgegangen zu sein. Einem zeitgenössischen chronikalischen Bericht zufolge hatte der Nordhäuser Rat der Geschlechter, der gefrunten burgere, gegen den Ratseid verstoßen, der dazu verp ichtete, im Rat dazu zu raten, was dem gemeinen Nutzen und dem Wohlergehen der Stadt diente, und dem Armen wie dem Reichen gleichermaßen auf das beste und gerechteste seine Urteile zu sprechen. Stattdessen hätten die Geschlechter ihre Verwandten und sich selbst begünstigt und die gemeinen Leute und die Handwerker mit mancherlei großen Beschwerungen und mit Überheblichkeit bedrückt, die Stadt in eine große Verschuldung und in den Ruin getrieben und als Folge ihrer Misswirtschaft der Gemeinde und den Handwerkern vielerlei hohe Steuern auferlegt. Das Rechtfertigungsschreiben spricht konkret von einer hohen Verschuldung infolge der auswärtigen Politik und einer Fehde mit dem Grafen von Honstein, dem die Ratsherren ein Darlehen gegeben hatten und an das sie auf dem Umweg über eine

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

ohne Wissen und Willen der Gemeinde vorgenommene städtische Zahlung an den Grafen von 1 500 Mark Silber und die Freilassung der Gefangenen wieder kommen wollten. Niemand wisse, welche Verwendung die Summen fanden, die von ihnen, den Angehörigen der Gemeinde, zur Schuldentilgung auf das Rathaus gebracht wurden. Ferner würden – in einer ungerechten Steuerpolitik – den Angehörigen der Gemeinde untragbare Steuern auferlegt, während die Ratsherren sich selbst unter ihrem Leistungsvermögen belasteten. Wer seinen Steuerbetrag nicht zahlen könne, so habe es von Seiten des Rats geheißen, solle wegziehen, wodurch die Betroffenen die Erwerbsgrundlage (Nahrung) verlieren würden, und man werde sich an seinem beweglichen Vermögen und seinen Immobilien (Erbe) schadlos halten. Als der Rat sich mit seinen Freunden bewaffnete, Tore und Pforten schließen ließ, um sie von Hilfe abzuschneiden und ihnen Leben und Gut zu nehmen, sei es in Notwehr zu einem bewaffneten Zusammenstoß gekommen.⁴²⁰ In diesem Nordhäuser Spektrum von Ereignissen, Beschuldigungen und Rechtfertigungsgründen sind nahezu alle wesentlichen Erscheinungen eingefangen, die zu Aufständen gegen etablierte, für oligarchisch erachtete Ratsregime geführt haben.⁴²¹ Im Zusammenhang mit den Unruhen und Religionsveränderungen der Reformation des 16. Jahrhunderts sollte sich die politische Gemeinde zugleich zu einer reformierten religiösen Gemeinde formieren. Gewalttätigkeiten hatten sich im Zuge der frühreformatorischen hussitischen Bewegung ereignet. Als es im hussitischen Prag am 30. Juli 1419 zu einer bewaffneten Prozession zu der den Katholiken zurückgegebenen Stephanskirche der Neustadt, dort zur demonstrativen Kommunion unter beiderlei Gestalt und zu einer angeblichen religiösen Provo-

kation der Kelchgläubigen durch einen Steinwurf gegen die Monstranz in der Hand des Priesters kam, erfolgte ein Sturm auf das Rathaus der Neustadt und ein erster Prager Fenstersturz mit der Ermordung der zwar tschechischen, aber altgäubig-katholischen Ratsherren. 2.6.1 »Zunftkämpfe« oder »Bürgerkämpfe«? Die mittelalterlichen Zeitgenossen bezeichneten Unruhen, Aufstände, oppositionelle Bewegungen, gewaltsame Kon ikte und Umsturz als Unwille (rumor), Zusammenrottung (samnung, stemperie), Au auf , Aufstand, Zweiung, Zwietracht, Schicht oder Stöße, feindliche Zusammenstöße oder Streit, auch als Verschwörungen. Alle diese Ausdrücke stehen, außer im Falle der Verschwörung gegen den Rat, begrifflich in einem übergreifenden und unspezi schen Sinne für mehr oder weniger gewaltsame Auseinandersetzungen als Ereignisse und Sachverhalte sowie für die Dissoziierung der Stadtgesellschaft, den Verlust der bürgerlichen Eintracht (concordia), verweisen aber noch nicht auf die Ursachen und tieferen sozialen und politischen Dimensionen, die eine Typisierung der Auseinandersetzungen zuließen. Um Derartiges zu kennzeichnen, bedarf es daher wissenschaftlicher Ordnungsbegriffe. Die Forschung neigte zeitweise dazu, ältere Ausdrücke insbesondere des 19. Jahrhunderts für den Kampf gegen das Herrschaftsmonopol der Geschlechter oder gegen sonstige ständischaristokratische oder oligarchische Herrschaftsansprüche, Bezeichnungen wie »Zunftrevolution«, »Zunftkämpfe« oder selbst »Verfassungskämpfe« durch den ursprünglich von Karl Czok geprägten Ausdruck »Bürgerkämpfe« zu ersetzen.⁴²² Dem stehen jedoch begriffslogische und historische Überlegungen entgegen. Der unspezi sche

420 P. J, Bürgerkämpfe und Verfassung, S. 65 f.; B. K, Bürgerkämpfe und Friedebriefe, S. 45–48. 421 Siehe dazu auch 4.3.6.1. 422 K. C, Zunftkämpfe; ., Die Bürgerkämpfe; W. E, Art. »Bürgerkämpfe«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. II, 1983, Sp.1046 f.; zustimmend, aber widersprüchlich in der Argumentation B. K, Bürgerkämpfe und Friedebriefe, S. 9–15; differenziert P. J, Bürgerkämpfe und Verfassung, S. 55 f., 60 f., 64 f., 72 f.; weitgehend ablehnend K. S, Die politische Zunft (8.4). Zu Typisierungsversuchen der Forschung siehe P. B, Unruhen in der ständischen Gesellschaft, S. 55–58.

Verfassungs- und Zunftkämpfe, Bürgeropposition und Unruhen

und für sich selbst nicht aussagekräftige Ausdruck »Bürgerkämpfe« meint mehr als die früheren Begriffe, die er ersetzen soll, guriert daher – wie etwa der Ausdruck Unruhen – als Oberbegriff, soll aber, was nicht sinnvoll ist, zugleich spezi sche Erscheinungen wie bürgerliche Oppositionsbewegungen gegen die Missregierung des Rats benennen. Der Begriff »Bürgerkämpfe« würde implizieren, dass an allen derartigen Auseinandersetzungen im Wesentlichen nur Bürger, d. h. nach zeitgenössischem Verständnis Stadtbewohner mit Bürgerrecht, beteiligt waren. Eine solche Annahme lässt sich jedoch auf Grund der Quellen, die über die Mitwirkung von nicht verbürgerten Unterschichten wenig Verlässliches aussagen, nicht beweisen, und sie ist insoweit nachweisbar nicht zutreffend, als sich etwa in den Zünften, die maßgeblichen Anteil haben, zumindest längere Zeit oder generell auch Mitglieder ohne Bürgerrecht be nden. Bürger treten andererseits nicht als einzelne Bürger, sondern als Angehörige von Ständen, Geschlechterverbänden und Familiencliquen, Ratsgeschlechtern, Gilden, Zünften, Gaffeln, gemeindlichen Formationen oder neutraler als Gruppen auf. Schließlich besitzt der Ausdruck »Bürgerkämpfe« keine Zielrichtung und ist missverständlich, denn es handelt sich nicht einfach um bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen unter Bürgern, sondern um oppositionelle Bewegungen und Erhebungen aus Kreisen der Gemeinde gegen das bestehende Ratsregime, das nicht immer ein Regime der Geschlechter ist. Tatsächlich offenbaren sich die Schwächen der Begriffsbildung in der vagen und zugleich einseitig spezi zierten De nition und den nachgeschobenen heterogenen Erläuterungen, mit denen Czok seinen Ausdruck verdeutlichen will. »Bürgerkämp-

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fe« seien »Auseinandersetzungen um das Stadtregiment zwischen machthabenden Geschlechtern und bürgerlicher Opposition unter Beteiligung der Stadtarmut.«⁴²³ Der Ausdruck »Bürgerkämpfe« kann die älteren Bezeichnungen jedenfalls dann nicht ersetzen, wenn es um Auseinandersetzungen geht, an denen Handwerkerzünfte als korporative Einheiten mit bestimmten Graden der Organisation neben Gesellschaften und Gruppierungen von Kau euten maßgeblich beteiligt waren und wenn das neue Stadtregiment verfassungspolitischen Zielsetzungen entsprechend auf einer Zunftgliederung der Gemeinde oder Bürgerschaft aufbaute und – als absolut neue Erscheinung – die Handwerkerzünfte und damit der größte Teil der Stadtbevölkerung Zutritt zum Rat, vor allem zum Kleinen Rat, erhielten. Der Haupteinwand gegen den Ausdruck »Zunftkämpfe«, der von der »vielschichtigen Zusammensetzung der Aufständischen« ausgeht, verliert an Überzeugungskraft, wenn man beachtet, dass Aufstandsbewegungen in der Regel sozial nicht völlig homogen sind, eine Homogenität deshalb aus historischer Perspektive begrifflich nicht zu fordern ist. Die Unschärfen reichen noch weiter. Die Handwerke waren nicht alle in Zünften organisiert, und nicht alle Zünfte waren an den Aktionen beteiliget. Ferner wiesen die Zünfte untereinander und im Innern erhebliche wirtschaftliche und soziale Gefälle und Interessendivergenzen auf, auch gelangten nicht alle Zünfte zu einem gleichgewichtigen Mitregierungsrecht; einige blieben sogar ausgeschlossen. Mit dem ausgeweiteten Begriff des Bürgers und dem des sozio-ökonomischen »Bürgertums«, der künstlich geschaffen und sogleich wieder fraktioniert wird⁴²⁴, verhält es sich aber

423 K. C, Die Bürgerkämpfe in Süd- und Westdeutschland, S. 40. Die niedersten Schichten hätten sich zwar an den Kämpfen beteiligt, seien aber weder selbständig noch mit eigenem Programm aufgetreten (S. 44). 424 K. C will bei seiner Begriffsbestimmung nicht vom Bürger im Rechtssinne allein ausgehen: »Grundlage muss m. E. die sozialökonomische Stellung sein, die der Bürger im Gefüge der einfachen Warenproduktion und dem auf ihr beruhenden Handel einnahm. Er war Eigentümer von Produktionsmitteln, arbeitete in der Regel selbst mit und beschäftigte nur wenige Arbeitskräfte. So gesehen waren die Bürgerkämpfe Auseinandersetzungen verschiedener Fraktionen des Bürgertums um die Teilnahme am Stadtregiment« (S. 48). Mit dieser sozio-ökonomischen Festlegung des Bürgers erscheint indessen unter neuem Namen doch wieder die ältere Vorstellung von Kampf des kleinbürgerlichen, d. h. des durchschnittlichen Handwerkers, nur ist der charakteristische Verbandscharakter der Kämpfe eliminiert.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

nicht anders; diese Dehnungen und Umprägungen des mittelalterlichen Rechtsbegriff des Bürgers sind sogar noch weit problematischer. Mit dem Ausdruck »Bürgerkämpfe« kann man in eingeschränkter Bedeutung am ehesten Oppositionsbewegungen, auch gewaltsamen Aufruhr bürgerschaftlicher Kreise und die Bildung von Ausschüssen gegen bedrückende Willkür und Misswirtschaft einer oligarchischen Herrschaftspraxis des herrschenden Rats bezeichnen, wobei offen bleibt, ob damit unmittelbares Ziel und Resultat eine Verfassungsänderung war. Es erscheint fraglich, ob sich ein einziger präziser Oberbegriff nden lässt und ob ein solcher überhaupt erforderlich ist. 2.6.2 Zunft- und Verfassungskämpfe Die Ratsverfassung war für die Städte gewissermaßen ein universelles Modell, eine institutionelle Hohlform, die durch soziale Gruppen ausgefüllt und von diesen gehandhabt, aber auch signi kant verändert wurde. Die Verfassungskämpfe in der Stadt, nicht nur die Unruhen der lediglich mit der aktuellen Regierungsweise des Rates unzufriedener Gruppen, werden von den Zeitgenossen teilweise auf einen gleichfalls universellen Antagonismus, nämlich den sozialen und in seiner Konsequenz politischen Gegensatz zwischen den wohlhabenden und politisch mächtigen, den Rat besetzenden Reichen und den der Ratsherrschaft unterworfenen Armen zurückgeführt. Ein konservativer Chronist wie der Fortsetzer der »Magdeburger Schöppenchronik« spricht zu Beginn des 15. Jahrhunderts von einem alten Hass zwischen den Reichen und den Armen; er unterstellt den Armen eine auf Sozialneid gegründete Feindschaft gegenüber allen Vermögenden und eine größere Bereitschaft, den Reichen zu schaden, als dies umgekehrt der Fall sei. Deshalb emp ehlt er dem Rat eine Herrschaft der harten Hand, um von guder pol-

licie und guden regiment durch Zwang den Hass im Zaum zu halten, und spricht sich dafür aus, dem gemeinen Volk nicht mehr wie bisher seinen Willen zu lassen.⁴²⁵ Der Braunschweiger Zollschreiber Hermann Bote († 1520) rät in seinem »Schichtbuch« (»Dat schichtboik«) von 1514, in dem er durch seine Geschichten vor allem Exempel und Lehren vermitteln will, in konservativer und parteiischer Sicht den regierenden Obersten der Städte gleichfalls, die Untertanen unter Zwang zu halten und ihnen nicht ihren freien Willen zu lassen, denn der freie Wille und die ungestrafte Übeltat machten aus Untertanen schleichende Wölfe; wenn ihre Wolfsnatur nicht unterdrückt werde und die Bürger nicht unter Zwang und Herrschaft stünden, so führe das zu ›ungehorsamen Bürgern‹. Die Ursache für den 1445 in Braunschweig ausgebrochenen ›Ungehorsam‹ des Volkes sieht er allerdings verallgemeinernd darin, dass unter den regierenden Familien in den Städten anstelle der Beachtung des gemeinen Nutzens Eigennutz und Zwietracht verbreitet seien, die ein parteiisches Verhalten bewirkten und zwischen den Geschlechtern einen verborgenen, sich nach zehn, zwanzig oder dreißig Jahren in einer Zwietracht entladenden Hass bis hin zum Wunsch nach Aneignung des Besitzes und physischer Vernichtung der Gegner entstehen ließen. Durch Verbindungen (›Kumpaneien‹) mit Angehörigen der Handwerkerzünfte seien die Parteien der Geschlechter noch hochmütiger und aggressiver geworden.⁴²⁶ Eine Schiedsurkunde der Markgrafen von Brandenburg als den Stadtherrn bekundet bereits 1285, dass es in Stendal zwischen den Reichen (divites) und Armen (pauperes) zu einer Zwietracht über das Stadtrecht (jus civitatis), unter anderem über die Ratswahl und die Rechte der Ratsherren, das Satzungsrecht des Rats und die Steuererhebung, gekommen sei.⁴²⁷ Nachdem es in der Stadt Würzburg, die in harten Kämpfen zwischen 1353 und 1360 dem von

425 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 7, S. 313. 426 Ebd., Bd. 16, S. 299, 332 f. (Schicht der ungehorsem borger). Siehe dazu auch H. B, Eine Krise im Zusammenleben einer Bürgerschaft. 427 Urkunden zur Geschichte des Städtewesens I (Einleitung), S. 86–88, Nr. 86.

Verfassungs- und Zunftkämpfe, Bürgeropposition und Unruhen

Karl IV. unterstützten Bischof unterlag, 1361 innerhalb der Bürgerschaft zu einem Streit über die Beteiligung an der Tilgung der städtischen Schulden und an den von Bischof und Kaiser der Gemeinde aufgebürdeten Lasten gekommen war, spricht die bischö iche Schlichtungsurkunde von der Partei der Reichen und den Armen. Zu der Gruppe der 157 namentlich genannten Reichen gehörten die Patrizier und teilweise auch im Handel tätige Zunfthandwerker wie Wollweber, Metzger, Bäcker, Schuhmacher, Gerber, Weingärtner und andere, während die Armen, vertreten nur durch drei Namen, den kleinen Handwerkern und der weiteren Bürgerschaft zuzurechnen sind. In Augsburg schworen 1368 die 87 Ratsmitglieder des Kleinen und Großen Rates und die versammelten Handwerker, dass sie hundert Jahre und einen Tag eine Zunft, d. h. einen politischen Schwurverband, haben wollten und alle Feindschaft (Neid) und aller Hass unter den Reichen und Armen abgetan sein und künftig Freundschaft herrschen solle.⁴²⁸ Der Augsburger Kaufmann und Stadtchronist Burkard Zink (1396–1474), ein sozialer Aufsteiger, sah hingegen nach hundert Jahren rückblickend in den Zunfterhebungen eine Umkehr der natürlichen Ordnung und erachtete es für erschreckenliche ding, dass die minder weisen und die armen und die reichen regieren wöllen.⁴²⁹ Die soziale und daraus resultierende politische Teilung der Stadtgesellschaft in Reich und Arm ließ in den innerstädtischen Verfassungskämpfen des 14. Jahrhunderts die herrschenden Geschlechter und eine Koalition von Kaufleuten und Zunftgenossen in gegnerische militante Verbände auseinandertreten, die miteinander förmlich Frieden (Sühne) schlossen und sich auf eine neue Besetzung des gemeinsamen

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Rates einigten, eventuell auch die Einrichtung eines Großen Rates vereinbarten oder bestehende politisch-sozial determinierte Räte zugunsten eines einheitlichen Rates beseitigten wie in Köln 1396. Im Ulmer Schwörbrief von 1397, der angesichts der seit dem ersten Schwörbrief des Jahres 1345 fortdauernden tiefgehenden Spaltung der Bürgerschaft eine aufwendige Gemeinschaftssemantik bemüht, sichern sich die Patrizier (burger) und das Zunftbürgertum, die Gemeinde, als zwei schwörende Parteien⁴³⁰ vertraglich ihre jeweiligen Rechte und guten Gewohnheiten zu, ausgenommen die nunmehr abgeschaffte Vermögensteuerfreiheit der Patrizier, und verp ichten sich zu gegenseitigem Beistand in allen gerechten und redlichen Angelegenheiten. Der erste Schwörbrief hatte den Patriziern noch ihr privilegiertes Herkommen mit gericht, mit stiur und mit diensten zugesichert. Im beiderseitigen Verhältnis sind weitere bemerkenswerte Nuancen erkennbar. Die Patrizier garantieren den Zünften 1397 insbesondere die Rechte, die ihnen vormals vom Rat eingeräumt worden waren. Die Zünfte als Gemeinde gewähren den Patriziern einen gewissen Minderheitenschutz, indem sie ihnen, den ehemaligen alleinigen Herren der Stadt, in einseitigen Formulierungen versprechen, ihre Rechte nicht zu schwächen, sondern ihre Rechtssicherheit zu stärken, ihnen Friedensschutz zu gewähren und nicht zu veranlassen oder zuzulassen, dass gegen sie gewaltsame Angriffe (unluste) und rechtswidrige Gewalt verübt würden, nachdem der erste Schwörbrief von 1345 nach dem vorausgehenden förmlichen, aber auf fünf Jahre befristeten Friedensschluss der Parteien den Schutz vor Übergriffen noch auf beide Seiten bezogen hatte.⁴³¹

428 F. B, Die Zunfterhebung von 1368, S. 79. 429 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 5, S. 121. 430 Auch in Konstanz bildeten die Zünfte und die Patrizier (Müßiggänger) gesonderte Schwurparteien. O. F (Hg.), Vom Richtebrief zum Roten Buch (2.2–2.4), S. 150–154. In den Straßburger Schwörbriefen von 1349 und 1371 treten als drei Parteien das adelige Patriziat der Geschlechter (Edle, Ritter und Knechte), das nichtadelige, »bürgerliche« Patriziat (burger) und die Zünfte (antwerke) in Erscheinung. Später bildeten das adelige und das bürgerliche Patriziat eine Partei. Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 9, S. 936–950. 431 C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm (2.2–2.4), Nr. 192 (1345); Nr. 109 (1397).

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

Nach den Erfahrungen einer Reihe von Regimewechseln wurde in Ulm die Verfassungsordnung von 1397 unter strafrechtlichen Schutz gestellt, wie es bereits 1368 in Augsburg geschehen war und später in Konstanz erfolgte. Obwohl ein Verstoß gegen eidliche Vereinbarungen generell den Tatbestand des Meineides erfüllte und eine arbiträre Strafe an Leib und Gut durch den Rat nach sich zog, sah der zweite Ulmer Schwörbrief von 1397 zur Sicherung der Verfassungsordnung für die Zukunft ausdrücklich Instanzen vor, die über diejenigen urteilten, die innerhalb oder außerhalb des Rates verbal oder mit der Tat gegen Bestimmungen des Schwörbriefes agitierten, so dass Aufläufe oder feindliche Spaltungen der Bürgerschaft daraus erwachsen konnten. Doch während Delikte von Patriziern den Einungern, einer gerichtlichen Ratskommission, anzuzeigen und von diesen stufenweise über den Kleinen Rat dem Bürgermeister und dem Kleinen und Großen Rat zur Aburteilung vorzubringen waren, konnten Verstöße von Angehörigen der Zünfte und der Gemeinde – auch darin zeigt sich die Zweiteilung der Bürgerschaft – vom jeweiligen Zunftmeister und von der Zunft geahndet werden, es sei denn der zunftbürgerliche Delinquent wollte sich nicht der Gerichtsbarkeit der Zunft, sondern nur der kommunalen Gerichtsbarkeit des Rates unterwerfen.⁴³² Die Straßburger Schwörbriefe von 1334 bis 1482, die alle männlichen Bewohner im Alter von 20 Jahren (Knaben), dann von 18 Jahren an jedes Jahr beim Ratswechsel vor dem Münster beschwören mussten, sahen bei Verstößen gegen den Schwörbrief den Tatbestand des Meineids erfüllt und bestimmten als Rechtsfolgen den Verlust des Bürgerrechts, ewige Stadtverbannung, den Lehensverlust und die de nitive Kon skation der Güter in Stadt und Land vor; außerdem sollten Leib und Gut den Meis-

tern und dem Rat verfallen. Meister und Rat sollten, wenn sie den Verstoß nicht aburteilten, als amtsrechtlich meineidig und ehrlos gelten und niemals mehr Meister und Ratsherren werden.⁴³³ Der Schwörbrief von 1420 hatte Bündnisse von Bewohnern untereinander verboten und die Au ösung bestehender Bündnisse angeordnet. Durch eine gesonderte Bestimmung versuchte man in den Ulmer Schwörbriefen der drohenden Gefahr zu begegnen, dass die ehedem feindlichen, im Falle der Zünfte organisatorisch und politisch stark formierten Gruppierungen außerhalb des gemeinsamen Rates in Sonderräten auseinandertraten und dadurch die Einheit des Stadtregimentes gefährdeten oder sprengten. Der erste Schwörbrief von 1345 bestimmt, dass die Zunftmeister ohne die burger, d. h. die Patrizier im Rat, keinen sundern rat abhalten und nur im Rahmen des gesamten Rats tagen sollen. Das Verbot eines Sonderrates wurde 1397 wiederholt und zugleich auf die patrizischen Ratsherren ausgedehnt, wobei klargestellt wurde, dass gemeinsame Ausschüsse des Rats zur Vorberatung nicht darunter elen. In Zürich, Basel und Konstanz war den Zünften mit dem Kollegium der Zunftmeister unter einem Oberstzunftmeister eine Zeit lang eine konkurrierende Sonderrolle neben dem gemeinsamen Rat zugebilligt worden.⁴³⁴ In einer Zeit städtischer Unruhen vor allem im Norden, in Breslau (1418–1426), Halberstadt (1423–1425), Bremen (1424–1436), Stettin (1426–1439), Wismar (1427–1432), im Süden in Colmar (1423–1432) und Konstanz (1428–1431) ermahnte König Sigmund 1431 alle Reichsstädte zu Einigkeit und Gehorsam, untersagte den Zunftmeistern und anderen in den Zünften ihre unbeobachteten Gespräche und Beratungen und gebot ihnen, den Räten und Obersten gehorsam zu sein. Sigmund setzte

432 Ebd., S. 260 f., Nr. 109. Vgl. auch die statutarische Bestimmung, S. 27, Nr. 15. 433 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 9, S. 932–950. Es war eine sanktionierte eidliche Rügep icht, diejenigen bei Meistern und Rat anzuzeigen, die sich am Schwur nicht beteiligt hatten. 434 Zur beherrschenden Sonderstellung des Zunftmeisterkollegiums in Zürich nach 1370 siehe P. G, Verfassungszustände (4.1–4.3), S. 9–12. 435 E. E, »und den alten rat wider in ire stule, huser, er und gut setzen«.

Verfassungs- und Zunftkämpfe, Bürgeropposition und Unruhen

sich in den Städten für die alte Ordnung und die alten Führungsgruppen ein.⁴³⁵ In Memmingen beschuldigte 1471 die Patrizierzunft in einer – erfolglosen – Klage beim kaiserlichen Kammergericht das Zunftmeisterkollegium der konspirativen, gegen das Patriziat und die städtische Obrigkeit gerichteten Rechts- und Verfassungsmanipulationen durch willkürliches Abhalten von Gerichtstagen, widerrechtliche Abwahl patrizischer Bürgermeister und Ratgeben und durch Majorisierung der Gruppe der Ratgeben, die zusammen mit den Zunftmeistern den Rat bildeten.⁴³⁶ In Konstanz wurde 1342 das Herrschaftsmonopol der Geschlechter gebrochen und mit dem 1. Zunftbrief von 1343 wurden die politischen Zünfte geschaffen, doch eroberte ein Geschlechterverband noch vor 1345 die Stadtherrschaft weitgehend zurück. Die Ämter der Zunftmeister wurden abgeschafft und die Zünfte der Aufsicht des Rats unterstellt, bis es 1370 nach neuerlichen Zunftkämpfen zu einer Verfassungsänderung zugunsten einer zünftigen Dominanz kam. Die Zunftverfassungen brachten eine verfassungsrechtliche Unterteilung der Bürgerschaft in die Patrizier (geschlechter, müssiggenger) und das Zunftbürgertum als die Gemeinde oder auch das Volk. In der Periode der Zunftherrschaft von 1370 bis 1430 etablierte sich zeitweise eine Nebenregierung der Zünfte durch das Gremium der Zunftmeister, das für ihre gewerblichen Fragen die ausschließliche Gesetzgebung beanspruchte, aber auch auf Gebiete der allgemeinen städtischen Gesetzgebung übergriff.⁴³⁷ Seit 1421 schwelten Kon ikte zwischen den Geschlechtern und dem Zunftbürgertum, die dazu führten, dass bis 1429 etwa

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60 Geschlechter ihr Bürgerrecht aufgaben, und teilweise nach Schaffhausen auswichen. Nachdem 1428 die meisten Geschlechter die Stadt verlassen und die Stadt beim König verklagt hatten, kam es 1429/30 zu Verfassungskämpfen. In dem 1430 von König Sigmund urkundlich ausgefertigten Verfassungskompromiss wurde bestimmt, dass weder die Geschlechter noch die Gemeinde einen eigenen Rat oder eine eigene Versammlung haben durften.⁴³⁸ Die Zünfte, die in ihrer Zahl reduziert und in zehn größeren Zünften neu zusammengefasst wurden, hatten unter dem Hinweis, dass aus den Trinkstuben und Zünften viel Ungebührliches entsprungen sei, alle Rechtssachen vor den Bürgermeister und den rechten Rat zu bringen und durften keine Banner der Zunft neben dem der Stadt haben.⁴³⁹ Sigmund verbot das Gremium der Zunftmeister und untersagte zugleich der patrizischen Trinkstubengesellschaft »Zur Katz«, politische Fragen zu behandeln. Ansonsten war das Stadtregiment über die Besetzung des Rats zu gleichen Teilen hinaus paritätisch organisiert, wenn Vogt und Bürgermeister abwechselnd von den Patriziern und von der Gemeinde gestellt, auswärtige Ratsgesandtschaften gleichmäßig aus beiden Gruppen zu besetzen waren und die Sturmglocke, mit der Alarm geläutet wurde, durch je einen patrizischen und einen zunftbürgerlichen Ratsherrn in Obhut genommen werden sollte. Wo die Zünfte, so in Augsburg 1368, das eindeutige Übergewicht gewannen, gelangten die neuralgischen Sicherheitsbereiche sowie das Archiv, die Beglaubigungsinstrumente und der Regierungssitz – die Tore der Stadt, die Torschlüssel, der Perlachturm mit der Sturmglocke

436 P. E, Die oberschwäbischen Reichsstädte (3.1–3.5), S. 99 f. 437 O. F (Hg.), Die Statutensammlung (2.2–2.4), S. 34*–44*. 438 König Maximilian bestätigte und erneuerte 1510 den Verfassungskompromiss im Wesentlichen, änderte aber die 1371–1393 und wieder seit 1430 geltende paritätische Besetzung zugunsten einer Mehrheit der Zünfte im Kleinen (⅔) und Großen Rat (¾). Die Position der Patrizier war geschwächt, weil vor allem Patrizier einen Anschluss der Stadt an die den Habsburgern feindliche Schweizer Eidgenossenschaft angestrebt hatten und damit an der Haltung der Zünfte gescheitert waren. Eine Zweidrittel-Mehrheit im Rat hatten die Zünfte bereits 1393 bis 1430 erlangt. O. F (Hg.), Die Statutensammlung, S. 43*. 439 O. F, Statutensammlung, S. 41*–43*. In einer Konstanzer Rechtsmitteilung an den Rat Freiburgs i. Br. ist gleichfalls davon die Rede, dass die Zünfte keinen gesonderten Rat haben und ihre Streitfälle vor dem Kleinen Rat der Stadt austragen müssen. O. F, Vom Richtebrief zum Roten Buch, S. 127, Nr. 404 (nach 1430).

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

sowie das Stadtsiegel, das Stadtbuch, die Urkunden, das Rathaus (Dinghaus) und das Gewölbe (Archiv) – unter die Aufsicht und Verfügungsgewalt der zunftbürgerlichen Gemeinde und der zünftigen Ratsherren, die auf diese Weise die Stadt behüten sollten.⁴⁴⁰ 2.6.3 Der »revolutionäre« Charakter der Zunftkämpfe Das Bürgertum des 19. Jahrhunderts, zumal das revolutionäre von 1848, hat in seinem Kampf gegen den monarchischen Fürstenstaat in der mittelalterlichen Städtefreiheit und im Stadtbürgertum einen historischen Anknüpfungspunkt für seine verfassungspolitischen Zielsetzungen gefunden und dabei in den Zunftunruhen nicht nur Revolutionen der bürgerlichen Zunfthandwerker gegen adelige Patriziate entdeckt, sondern in ihnen auch den Sieg des demokratischen Prinzips oder den Abschluss einer demokratischen Verfassungsentwicklung gesehen⁴⁴¹, im Übrigen auch unabhängig von Karl Marx von Klassenkämpfen gesprochen. Der ideologische Gehalt dieser bürgerlichen Positionen erweist die Auffassungen des 19. Jahrhunderts allerdings noch nicht als völlig unzutreffend, zumal der Begriff »Demokratie« auch historisch zu de nieren ist und selbst in unserem heutigen Verständnis nicht als absoluter Begriff völlig eindeutig bestimmt werden kann. Der für die Auseinandersetzungen gebrauchte ältere Ausdruck »Zunftrevolution« wird von der Forschung weitgehend abgelehnt. Darüber hinaus werden verschiedentlich Angriffe gegen den alten Geschlechterrat nicht als Verfassungskämpfe, sondern lediglich als Machtkämpfe quali ziert. Der Ausdruck »Zunftrevolution« ist zunächst sicherlich so problematisch

wie der Revolutionsbegriff selbst. Es handelte sich zweifellos nicht um eine soziale Revolution mit grundstürzenden Veränderungen in Gesellschaft und Eigentumsstruktur, einer Umverteilung von Vermögen und Produktionsmitteln, so etwas haben erst die Russische Revolution von 1917 und die bolschewistisch-leninistische Regierung vollbracht. Auch die Französische Revolution von 1789 war, das sollte in Erweiterung der historischen Perspektive nicht vergessen werden, keineswegs eine fundamentale Revolution oder »Totalrevolution« (Friedrich von Gentz), sondern in erster Linie eine politische Revolution, und auch sie wurde, was für Einwände gegen die Ausdrücke »Zunftkämpfe« oder »Zunftrevolution« wichtig ist, keineswegs von einer Gruppierung allein, etwa vom Bürgertum, sondern zu einem guten Teil auch von einem handlungsbereiten liberalen Adel und unter dem Eindruck von Bauernrevolten gemacht. Immerhin wurden im Mittelalter in verschiedenen Städten einige Privilegien der Ratsgeschlechter beseitigt, oder es wurde im Zuge der neuen politischen Ordnung das Patriziat als privilegierter Stand und politische Formation aufgelöst. Der Ausdruck »Zunftrevolution« wird etwa von dem Sozialhistoriker Erich Maschke für falsch erachtet, »da es sich nicht um die Veränderung gegebener politischer Verhältnisse, sondern um die Beteiligung am Herrschaftssystem mit dem Ergebnis der sogenannten Zunftverfassung handelte«.⁴⁴² Es ist indessen sehr die Frage, ob die Partizipation weiterer Kreise an der Herrschaft nicht doch bei genauer und perspektivischer Betrachtung, worauf eigentlich die Benutzung des Ausdrucks »Zunftverfassung« für das Ergebnis der Kämpfe hinweist, eine intentional signi kante Änderung der Regierungs-

440 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 19, S. 135–139; F. B, Die Zunfterhebung von 1368, S. 82. Der Kölner Trans xbrief von 1513 ordnet in Art. 31 an, dass in Anbetracht des mit dem großen Siegel der Stadt betriebenen Missbrauchs das Siegel von nun an in einem Schrank mit 23 Schlössern verwahrt und jeder Gaffel ein Schlüssel überantwortet werden solle. B. D (Hg.), Texte zur Kölner Verfassungsgeschichte, Nr. VIII, S. 74. 441 Vgl. besonders K. S, »Kommunebewegung« und »Zunftrevolution«; ., Die Stadt des Mittelalters als Faktor bürgerlicher Identitätsbildung; P. J, Mittelalterliche Stadt und bürgerliches Geschichtsbild im 19. Jahrhundert (1.1); ., Bürgerkämpfe und Verfassung, S. 51–55. 442 E. M, Verfassung und soziale Kräfte (7.1–7.2), S. 20.

Verfassungs- und Zunftkämpfe, Bürgeropposition und Unruhen

form und der Regierungsgewalten, d. h. der Organisation und Verteilung von Befugnissen und politischer Macht, bedeutete, damit einhergehend aber auch eine neue ideologische Grundlegung, eine veränderte politische Kultur und einen neuen Regierungsstil mit sich brachte.⁴⁴³ Karl Czok, der die Auffassung vertritt, dass es nicht um Verfassungs-, sondern um Machtfragen gegangen sei⁴⁴⁴, beschreibt gleichwohl die Entwicklung, die in Köln zum Verbundbrief von 1396 führte, und die Neuordnung des Stadtregiments durchaus als Sturz der Geschlechterherrschaft und als markante Veränderung der verfassungsrechtlichen Grundlagen durch den Verbundbrief. Die Festlegung auf den amorphen Begriff »Macht« lässt nur zu leicht den Sachverhalt in den Hintergrund treten, dass es um institutionalisierte Machtausübung und rechtlich-politische Verfügungsgewalt, d. h. um Herrschaft und Regierung ging. Worin hätte denn, dies ist die einfache, aber fundamentale Frage, eine verfassungsrechtliche Alternative zur Ratsverfassung als kollektiver Regierungsform bestehen können? Das eigentlich Revolutionäre besteht aber in etwas anderem. Der alte emphatische Ausdruck »Zunftrevolution« bezeichnet tendenziell etwas durchaus Charakteristisches und Richtiges, wenn er auf die politische Revolution mit schwer direkt nachzuweisenden sozialen und ökonomischen Konsequenzen abhebt, die darin besteht, dass sich soziale Gruppen, denen bislang aus ständischen Gründen wegen des Fehlens einer quali zierten kollektiven ›Ehre‹ keine politische Berechtigung zuerkannt wurde, die Beteiligung an der Ratsherrschaft erstritten. Es steht außer Frage, dass die politische Partizipation quantitativ und qualitativ in einer revolutionären Weise erweitert wurde, als die Handwerkerzünfte den Eintritt in das Stadtregiment errangen und zusammen mit den kom-

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merziellen Zünften den Rat sogar in vielen Städten durch komfortable Mehrheiten dominierten. Dies war insofern revolutionär und ist in einer Perspektive bis heute grundlegend, als die Handarbeiter (mechanici), denen etwa die Nürnberger Geschlechter eine ständische Ehre absprachen, seit der Antike als grundsätzlich herrschafts- und regierungsunfähig galten. Bereits im Anfangsjahrhundert der oberitalienischen Kommunebewegung hatte Bischof Otto von Freising in seinen »Gesta Frederici« (1157/58) aus traditionaler herrenständischer Sicht bemerkt, dass es die lombardischen Kommunen, um Mittel für ihre expansive Unterdrückungspolitik im Territorium zu gewinnen, nicht verschmähten, junge Leute von niedrigem Lebenszuschnitt (conditio) und Werkleute verachteter Handwerke zum Rittergürtel und zu höheren Würden zuzulassen, während andere Völker solche Leute wie eine ansteckende Krankheit von den ehrenvolleren und freieren Tätigkeiten fernhielten. In mittelalterlichen Städten wurde jedoch der vielfach von den herrschenden Geschlechtern bedrückte Handwerker deshalb regierungsfähig, weil es den Zünften, darin liegt nach den gewichtigen Worten des Rechtshistorikers Otto von Gierke ihr großes »historisches Verdienst«, in einer feudalen Umwelt gelungen war, »zum ersten Mal das Recht und die Ehre der Arbeit« durchzusetzen.⁴⁴⁵ Gegen das gesellschaftlich-politische Ideal von Herkunft, Ehre und Reichtum und die in der Gesellschaft mit höchstem Prestige behaftete Existenzform des für die Politik prädestinierten Müßiggängers sang später, gestützt auf Genesis 3,19, der Nürnberger Spruchdichter Hans Rosenplüt († 1460) das Lob auf die gottgewollte, die Seele reinigende schweißtreibende Handarbeit.⁴⁴⁶ Auf der Grundlage der »formal« freien Arbeit

443 Zu den andrischen Städten siehe M. B, »Les anciennes démocraties des Pays-Bas?«. 444 K. C, Die Bürgerkämpfe in Süd- und Westdeutschland, S. 49, 70 f. Vgl. auch H. P, Die deutsche Stadt (Einleitung), S. 325. 445 O. . G, Das deutsche Genossenschaftsrecht I (2.2–2.4), S. 358 f. 446 H. S, Arbeit in der mittelalterlichen Gesellschaft (7.1–7.2), S. 180 f.; K. W, Arbeit und Bürgertum (7.1–7.2), S. 201–207.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

im Rahmen des Zunftsystems⁴⁴⁷ und ihres neu geschaffenen und prätendierten, nicht traditional vorhandenen ständischen Ehrbegriffs, ihrer Wirtschaftskraft, ihrer großen Zahl und der auch politisch effektiven Form der Zunft stellten die Handwerker – gemeinsam mit neuen Schichten und Gruppen erfolgreicher Kau eute, auch Financiers, Teilrentiers und Grundbesitzer – ihre Partizipationsforderungen. Vor allem seither, aber nicht zum ersten Mal, kommen repräsentative Große Räte in bestimmter Zusammensetzung auf, werden ferner in Ergänzung und Erweiterung dazu Bürger- und Gemeindeversammlungen in verfassungsmäßige Rechte gesetzt, entstehen aber auch engere eigenständige Kontrollgremien mit bestimmten Zustimmungs-, Anhörungs- und Anregungsrechten. Die Handwerkerzünfte und Kau eute brachen das Herrschaftsmonopol der Geschlechter und alten Ratsfamilien und kehrten seit längerem geplant und dann abrupt, wie etwa in Helmstedt⁴⁴⁸ und Augsburg, oder vielfach in einem langgestreckten, schrittweise vollzogenen Vorgang die politischen Machtverhältnisse der sozialen Gruppen um. In Basel herrschte bis etwa 1270 unangefochten der Zwölferrat der vier Ritter und acht bürgerlich-patrizischen Achtburger. Um 1270 kamen Vertreter der fünfzehn Zünfte hinzu, die jedoch nur gelegentlich mitwirkten, bis in den 1330er Jahren fünfzehn durch das Gremium der Ratskieser gewählte Ratsherren aus den Zünften den Zwölferrat beständig ergänzten, ohne dass die politische Dominanz des patrizisch-adligen Rates gebrochen wurde. In Fragen, welche die Zünfte unmittelbar betrafen und gelegentlich in städtischen Angelegenheiten wirkte das bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts gebildete Kollegium der fünfzehn direkt von den Zunftmitgliedern gewählten Zunftmeister mit,

das 1382 auf dem Höhepunkt der Bedrohung durch die Herrschaft Österreich in den Rat einzog, wodurch sich die Zahl der zünftigen Ratssitze verdoppelte und dieser Zuwachs eine Umkehrung der politischen Kräfteverhältnisse einleitete. Allerdings blieben die in der Hohen Stube vereinigten Geschlechter noch im Besitz der wichtigsten Ämter, doch verloren sie diese allmählich seit 1450, insbesondere im Jahre 1515 das Recht der Besetzung des städtischen Niedergerichts und politische Vorrechte wie die Mehrheit im Siebener- und im zentralen Dreizehnerrat sowie das passive Wahlrecht hinsichtlich des Bürgermeisteramts. Damit zeichnete sich in Basel ein Handwerkerregiment ab, das unter der Parole des gemeinen Nutzens und des wirtschaftlichen und sozialen Gleichgewichts von Handwerk und Handel, des Nahrungsprinzips und der Maßgabe, damit sich der Arme neben dem Reichen erhalten könne, in den Jahren 1491 bis 1495 und von 1521 bis zur Gewerbeordnung von 1526 wirtschaftspolitische Zielsetzungen handwerklichzünftischen Zuschnitts festschrieb.⁴⁴⁹ Grundzüge und leitende Prinzipien der vor allem gegen die handeltreibende Oberschicht gerichteten Ordnung von 1526 waren die Trennung von handwerklicher Produktion (werkende Hand) und Handel (werbende Hand ), die Segmentierung von Großhandel und Kleinhandel (Krämerei) in mehrere sich ausschließende Handelsbranchen, die Abgrenzung handwerklicher Betätigungsfelder und das Verbot der Doppelzünftigkeit und von Geschäftsgemeinschaften, um Konzentrationsprozessen im Handel entgegenzuwirken. Die breite Durchsetzung der Ordnung scheiterte jedoch endgültig 1540 an der Heterogenität der wirtschaftlichen Interessen auch der Handwerker und an dem Sachverhalt, dass Basel seit 1471 durch kaiserliches Privileg zwei Handelsmessen besaß und die Stadt

447 M. W, Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (1.2), S. 259. 448 Die Ratsmannen von Helmstedt eröffnen ihren Bericht über die Unruhen von 1340 mit der Feststellung, die Meister der Innungen seien schon lange damit umgegangen, dass sie den Rat vorwandelen vnde affsetten wollten. Henning Hagen, Chronik der Stadt Helmstedt, hg. von E. B/H. W, in: Niederdeutsche Mitteilungen 19/21 (1963/65), S. 113–280; 176–179. 449 H. F, Handwerksregiment, S. 272–294.

Verfassungs- und Zunftkämpfe, Bürgeropposition und Unruhen

immer noch ein Handelsplatz mit regem Transithandel war. Das Beispiel Basels kann zu Überlegungen anregen, inwieweit politische Umbrüche auch eine neue soziale und wirtschaftliche Prägung der Stadt nach sich zogen und das Bild der von Patriziern und Kau euten bestimmten Stadt ergänzen. Die politischen Zunftkämpfe waren von einem sporadisch greifbaren Kampf gegen Privilegien der Geschlechter und wirtschaftlichen Kampfmitteln begleitet. So verloren die Ulmer Patrizier 1397 ihre Steuerfreiheit und gerichtliche Privilegien; in Köln wurde 1391 die Richerzeche mit ihren wirtschaftlichen Befugnissen und Privilegien aufgelöst; die zur Alleinherrschaft im Rat gelangten Mainzer Zünfte forderten 1444 die Aberkennung alter Vorrechte der Geschlechter, insbesondere des Gaden- und Hausgenossenrechts, d. h. des Monopols des Gewandschnitts und des Geldwechsels; die Straßburger Consto er beklagten 1419, dass alle Macht bei den Handwerkern und beim zünftigen Ammeister liege, während die (patrizischen) Stettmeister deren Knechte seien und man ihnen die Ämter des Schultheißen, Burggrafen und Münzmeisters und die Münze genommen habe. Der Konstanzer Rat verknüpfte seine Maßnahmen zu Schwächung der Geschlechter 1425 mit einem Verbot der Handelsgesellschaften. Allerdings wurde durch den Auszug vieler Geschlechter, darunter die bedeutenden Muntprat, das Wirtschaftsleben massiv beeinträchtigt, sodass Handelsgesellschaften 1429 wieder zugelassen wurden. In die Kritik geriet in verschiedenen Städten die kostenträchtige Territorialpolitik der Oberschichten, die ihren eigenen Landbesitz vor der Stadt in die Formierung von städtischen Territorien einbrachten und durch ihre Politik sicherten.

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2.6.4 Politische und ideologische Positionen von Zünften und Patriziat 2.6.4.1 Die propagierten Vorzüge des Zunftregiments und der Zunftrepublikanismus Die zeitgenössischen Verfechter und Verteidiger von Zunftverfassungen hoben die auf Zünften beruhende und von diesen mitgetragene oder dominierte politische Ordnung angesichts innergesellschaftlicher Spaltungen und Kon ikte in eine besondere politisch-ethische Wertsphäre der ›Ehre‹, des ›Friedens‹ und der ›Gerechtigkeit‹ für alle. Auf der Ebene einer Verfassungsordnung wurde bereits im ersten Ulmer Schwörbrief von 1345 die Einführung einer Zunft, d. h. einer Zunftverfassung, mit ihrem großen Nutzen als einer allgemeinen Erfahrungstatsache begründet.⁴⁵⁰ Der Nutzen der Zünfte, die eine kollektive ›Ehre‹ beanspruchen und als ehrbar und gerecht, d. h. Gerechtigkeit verwirklichend, bezeichnet werden, besteht darin, dass sie sich allenthalben Reich und Arm, d. h. allen Bewohnern gleichermaßen, fürsorglich und schützend zuwenden, ferner mit ihrem Gerechtigkeitsstreben und ihren Zwangsmitteln einen bedeutsamen Faktor der Friedenswahrung und Sicherheit darstellen, indem durch gerechte Zünfte sich frid und gnad allenthalben meret und unzucht [Friedensstörungen] und unrechter gewalt von gerechten zuinften hin geleit und gedrukt wirt.⁴⁵¹ Der Schlüssel zum Verständnis dieser Formulierung liegt in dem vorausgegangen fünfjährigen geschworenen, von der Gemeinde der Handwerke einseitig verkündeten Frieden von 1345 zwischen den Geschlechtern (burger) und den Zünften. Darin hatte die ›Gemeinde‹ der Zünfte den ›Burgern, die nicht von den Handwerken sind‹, nach den vorausgegangen gewalttätigen Auseinandersetzungen die erstaunliche Feststellung abgerungen, ›dass ohne die vereinigten Vorsteher [meisterschaft] und die Gesetze der Gemeinde niemand Unfrieden und gewalt-

450 Im Großen Schwörbrief von 1397 lautet die Stelle folgendermaßen: […] als vor vil vergangen ziten und jaren unser vorfarenden von solichs besunders grosses nutze, fromen und ere wegen, der sie an gerechten zunften erkennet und verstanden hand, ain zunfte hie ze Ulme geordnot und gesetzet hand […]. C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm, S. 258. 451 Ebd., S. 108.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

tätige Friedensstörungen beilegen und schlichten könne‹. Auf dieser Feststellung fußend, legen die Burger aus freiem Willen und ungezwungen den Eid ab, alles beständig und ohne Arglist zu halten, was diese ersinnen, wovon Freundschaft, Gedeihen und Frieden für Reich und Arm kommt, während die Gemeinde der Handwerke schwört, alle die Wege zu suchen und zu erdenken, wovon für jedermann Friede und Gnade herkommt und damit alle ›vereinte Leute‹ und ohne Streitigkeiten bleiben.⁴⁵² Ähnlich wie im Ulmer Schwörbrief von 1345 heißt es im zweiten Augsburger Zunftbrief von 1368, Zünfte in den Städten des Reichs bewirkten ›Ehre und gute Freundschaft, Friede und gutes Gericht‹, während die aktuelle Vereinbarung der Zunft, die Errichtung einer Zunftverfassung, in Augsburg damit begründet wird, dass dadurch die in der Stadt angewachsenen Schulden und die daraus resultierenden Zwistigkeiten überwunden werden sollen.⁴⁵³ Die neue Verfassung begründete auf dem Hintergrund der Finanzprobleme und des innergesellschaftlichen Unfriedens eine neue politische Ordnung mit einer in die Verfassung integrierten Steuerordnung, die ausdrücklich auf indirekte Steuern, die vor allem die Armen mit ihren Kindern hart trafen, verzichtete und die direkte Vermögensteuer in Einzelheiten genau regelte. Dass die Augsburger Zunftverfassung auch eine – für die Frage nach ihrem demokratisierenden Charakter – wichtige Öffnung gegenüber der Bevölkerung anstrebte, zeigt sich darin, dass der Kleine Rat Ausgaben über fünf Pfund nur mit dem guten Wil-

len der Allgemeinheit (Reich und Arm) vornehmen durfte, ferner die Allgemeinheit jedes Jahr über die aktuelle und voraussichtliche Finanzlage, die Steuer-, Kapital- und Zinseinnahmen, ihre Verwendung sowie über die Verbindlichkeiten zu unterrichten war. Die Finanzen gehörten sonst zum Arkanbereich der Städte, der verschiedentlich einem Geheimen Rat anvertraut wurde. Die vereinbarten und beschworenen Gesetze und Artikel wurden gegen heimliche oder öffentliche Anschläge und Beeinträchtigungen, die Bürger wiederum gegen ›Kränkungen‹ wegen diesbezüglicher Gesetzestreue unter massiven strafrechtlichen Schutz mit Körperstrafen und Vermögenskon skation gestellt, der von einem Sondergericht des Rats ausgeübt werden sollte. Der Straßburger Schwörbrief von 1334 hob die Einigung von Rittern, Edelknechten, Burgern, Handwerken und der ganzen Gemeinde, Armen und Reichen, auf die unparteiische Gerichtsbarkeit für alle, das gemeine gerichte, dem armen als dem richen, hervor.⁴⁵⁴ Dies geschah auf dem Hintergrund der Willkür der Geschlechter. Wenn ein Handwerker, wie der Chronist Fritsche Closener – später gefolgt von Jakob Twinger von Königshofen – schreibt, aufgrund einer Dienstleistung oder eines Kaufs eine Forderung an einen Herrn aus den Geschlechtern hatte, beglich dieser die Schuld, wenn er wollte; wollte er aber nicht zahlen, wagte es der arme man nicht, ihn deswegen gerichtlich mit Arrest belegen (bekümmern) zu lassen. Forderte er zu oft, schlug ihn dieser und zahlte danach keine durch die Körperverletzung fällig

452 Als erste satzungsrechtliche Bestimmungen verkündet die Zunftgemeinde, dass alle Ulmer Bürger nach allen bisherigen Friedensbrüchen, Feindschaften und Streitigkeiten gute und aufrichtige Freunde sein sollen, allen Hass und alle Feindschaft beenden und diese wegen keiner Sache wieder au eben lassen sollen bei einer Strafe von 10 000 Mauersteinen für die Stadtbefestigung und einem Monat Stadtverbannung. Außerdem werden alle bisherigen und künftigen geheimen oder offenen Sonderbündnisse zwischen Bürgern bei einer Strafe von 50 000 Mauersteinen und einem Jahr Stadtverbannung verboten. B.-U. H (Hg.) Quellen zur Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 52, S. 352–357. 453 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 23, S. 135, vgl. S. 142 (er und wirdikait, frwntschaft, frid und gut gemach). Die Chroniken der deutschen Städte, Bd. 19, S. 135–139; F. B, Die Zunfterhebung von 1368 in der Reichsstadt Augsburg, S. 81 f. 454 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 9, S. 932; vgl. die späteren Schwörbriefe S. 936 (1349), 943 (1371), 946 (1482). Mit Gericht ist die Gerichtsbarkeit des Rats gemeint; wegen der im frühen Stadtrecht verankerten originären stadtherrlich-bürgerlichen Gerichtsbarkeit des Rats sind im Hinblick auf die Institution und seine Besetzung Gericht und Rat synonym. Die Meister und der Rat schwören, gliche zu richtende dem armen alse dem richen.

Verfassungs- und Zunftkämpfe, Bürgeropposition und Unruhen

werdende Buße. Solche Gewalttaten begingen die Herren an den (schutzlosen) armen Leuten, doch taten es nicht alle.⁴⁵⁵ Die partizipatorische Zunftverfassung fügt dem geläu gen Gedanken der Rechtsgleichheit im Sinne der Gleichheit aller bei der Rechtsdurchsetzung vor Gericht noch den der Gleichheit vor dem Stadtregiment, der politischen Gleichbehandlung aller in vergleichbaren, alle betreffenden Angelegenheiten hinzu, wie dies in den Ulmer Schwörbriefen von 1345 und 1397 vor allem in der Figur des Bürgermeisters als eines gemeinen Mannes für Reich und Arm zum Ausdruck kommt.⁴⁵⁶ Der Görlitzer Stadtschreiber Johannes Frauenburg greift später hinsichtlich der Forderung, dass der Bürgermeister in seinem Amtshandeln nicht einzelne, sondern alle Teile des politisch-gesellschaftlichen Körpers (leichnam) des Gemeinwesens zu fördern habe, in seiner »Anweisung« für den Bürgermeister von 1476 auf Platons »Politeia« (IV 420b) zurück. Der Franziskaner Johannes von Winterthur, der als Chronist für die Zünfte eintrat, behauptete mit Blick auf die Konstanzer Zunftunruhen des Jahres 1342, dass die damals zur Mitherrschaft gelangten Zunftbürger die städtischen Geschäfte erheblich vernünftiger (consulcius) geführt hätten als die alten patrizischen rectores civitatis.⁴⁵⁷ Am Beispiel der Städte Konstanz und Straßburg wird angenommen, dass »tatsächlich zünftische Kau eute entscheidend bei der Ausformung des modernen Haushaltes beteiligt« waren.⁴⁵⁸ Angenommen werden für Konstanz auch besondere Gesetzgebungs- und Verwaltungsstile des patrizischen Regimes und des »de-

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mokratischen Rates«, seitdem die Zünfte 1370 die Mitwirkung, später das Übergewicht im Rat erlangt hatten. Demnach regierten die Patrizier vorzugsweise ohne Bindung an allgemein verbindliche Gesetze und ohne laufende Aufzeichnung ihrer Tätigkeit und ihrer Entscheidungen. Die wenigen Gesetze sind in Urkundenform gefasst. Unter Beteiligung der Zünfte am Rat entstand eine ganze Reihe von Stadtbüchern – Ratsbücher, Vertragsbücher, Bürgerbücher, Steuerbücher – bis hin zum Verkündigungsbuch, das die bei der Vereidigung der Bürgerschaft zu verlesenden Gesetze enthält.⁴⁵⁹ Es muss allerdings beachtet werden, dass in Städten mit überwiegend patrizischem oder aristokratischem Regiment in Schriftlichkeit und Rechnungswesen geübte patrizische Kau eute an der Herrschaft beteiligt waren, und es eine allgemeine Fortentwicklung der Schriftlichkeit und des Bücherwesens gab, dass ferner Kontrolle durch Schriftlichkeit auch von Standesgenossen angestrebt wurde.⁴⁶⁰ Gegenüber dem ständisch-aristokratischen Ehrbarkeitsbegriff der Augsburger Geschlechter hebt in Fortführung älterer Lobpreisungen der Zunftverfassung der protestantische Schuhmacher, Zunftmeister, Stadtrat und Stadtarchivar Clemens Jäger in seiner »Weberchronik« von 1544/45 die Ehrbarkeit und die besonderen Leistungen der Zunftgemeinde hervor.⁴⁶¹ Dabei unterscheidet er die ehrbare Gemeinde als die Zunftgemeinde, die ehrbare Bürgerschaft, das sind die Geschlechter in der alten Bezeichnung als Bürger, und die gemeine Bürgerschaft als die Gesamtgemeinde auf der Grundlage des Bürgerrechts. Den Ausgangspunkt für die Legiti-

Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 8, S. 123; Bd. 9, S. 777. C. M (Hg.), Das rote Buch, Nr. 192, S. 109, 110; Anhang VII, S. 264. Johann von Winterthur, Chronica, MGH Scriptores N.S., Bd. 3, 1924, S. 190. B. K, Die Auswirkungen des Rheinischen Münzvereins (9.0), S. 254; K. S, »Kommunebewegung« (1.1), S. 141. 459 O. F, Vom Richtebrief zum Roten Buch, S. 34*–44*. Vgl. auch U. L, Stadtrecht als Ursache und Wirkung der Verwaltung (2.2–2.4), S. 133–160. 460 Siehe auch G. D, Oralität, die Verschriftlichung (2.2–2.4); ., Zum Verhältnis von Autonomie, Schriftlichkeit und Verwaltung (4.5). 461 C. Jäger, Der erbern zunft von Webern herkomen, Cronica vnd jarbuch (955–1545), in: Die Chroniken der deutschen Städte, Bd. 34, S. 39–185. Zum Folgenden siehe E. I, Obrigkeit und Stadtgemeinde (4.1–4.3), S. 119–122. Zu Clemens Jäger siehe auch G. R, Eines Erbaren Raths gehorsamer amtmann (4.5).

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

mation des Zunftregiments, das die Partizipation des Patriziats einschließt, bildet die Auffassung, dass die von der Stadt erworbenen Freiheiten und die libertas des reichs, die Reichsfreiheit und Reichsunmittelbarkeit, auf der die städtische Autonomie und Unabhängigkeit beruhe, bei der Gesamtgemeinde residierten.⁴⁶² Die zunftbürgerliche Gemeinde habe jederzeit in Diensten für Kaiser und Reich und zur Existenzerhaltung der Stadt willig ihr Blut vergossen, auch alle bürgerlichen Lasten getreulich mitgetragen. Von diesen Leistungen wird unmittelbar auf das Recht auf politische Mitwirkung (mitstimen) im Rat und in weiteren Regierungsämtern geschlossen. Was die erforderliche geistige Befähigung für das Ratsamt, vocation und beruff zu den burgerlichen regimenten auch der Angehörigen der zünftigen Gemeinde anlange, so gieße Gott seine Gnaden und Gaben nach seinem Gefallen gleichermaßen über Reich und Arm aus.⁴⁶³ Ein Zunftregiment gewähre anders als andere Regierungen dem Armen wie dem Reichen einen freien, personlichen, offnen zugang zu den Ratssitzungen, so dass sie dort nach Erfordernis in eigener Person gehört würden. Die Zunftmeister im Rat hätten dem einzelnen Bürger bei seinem Auftreten vor dem Rat beizustehen und die Zunftgemeinde vor allem zu bewahren, was ihr an Gewalttaten, Kriegszügen, öffentlichen Lasten und missbräuchlichem Verhalten im Wirtschaftsverkehr schädlich und untragbar sei. Clemens Jäger propagiert nicht mehr ein eindimensionales politisches Konsensmodell, sondern lässt Freiheitsräume im Sinne des Schutzes vor der jeweils anderen politisch-sozialen Gruppierung aus dem institutionell ver-

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ankerten Antagonismus von Patriziat und gegliederter Zunftgemeinde hervorgehen. Aus dem Umstand, dass beide Stände, das Zunftbürgertum und das besitzende, wohlhabende (habhafte) Patriziat, im Rat repräsentiert sind, erwächst Jäger zufolge ein Schutz vor Machtmissbrauch und Bedrückung, denn die Vertreter der Zünfte und die Vertreter der Geschlechter kontrollierten sich gegenseitig und ließen es auf keiner der Seiten zu, dass die Ihren von der anderen Ratspartei unterdrückt und diskriminiert würden.⁴⁶⁴ Auf verfassungsrechtlicher Ebene wiederum werden die Ratsherren aus den Zünften in schwierigen Angelegenheiten an die Beratung durch ein Zunftmeisterkollegium und weiter durch ihre Zunftgenossen rückgebunden. Alle Gebote und Verbote, die der Rat in Sachen von unterschiedlicher Bedeutung der Gemeinde und den Zünften auferlegt, werden eingedenk des Umstands, dass jede Zunft ihre gewählten Vertreter im Rat sitzen hat, im Sinne größerer Akzeptanz freundlicher und günstiger aufgenommen, auch bereitwilliger und ge issentlicher befolgt. Die durch ein solches Regiment korporativer Partizipation geprägte Verfassung nennt Jäger in vielfältigen Wendungen, den freien stand – d. h. Status im Sinne von Verfassung, Verfasstheit und Gemeinwesen – auch den freien standt und zunftliche regierung⁴⁶⁵; in präzisierender Umschreibung ist es angeblich wie im republikanischen Rom der zünftlich und burgerlich frei stand ⁴⁶⁶, und er de niert ihn in direkten Parallelisierungen Augsburger Verfassungsinstitutionen mit entsprechenden der römischen Republik, auch mit antimonarchischer Spitze, als gemaine burgerliche regierung⁴⁶⁷ oder gmaine freie regierung⁴⁶⁸ mit burgerlicher frei-

Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 34, S. 79. Ebd., S. 79 f. Ebd., S. 80, 104. Ebd., S. 69, 78 f., 81, 82, 93–96, 108, 109, 115, 116, passim. Ebd., S. 137. Ebd., S. 105, vgl. S. 95, 129, 136–138, 151. Ebd., S. 92. Freie Regierung heißt mit Bezug auf Rom, dass Volk und Senat die magistration und oberkait zu setzen und entsetzen macht haben und nicht jedem Tyrannen, so durch die gepurt zu dem regiment käme, gehorsamen.

Verfassungs- und Zunftkämpfe, Bürgeropposition und Unruhen

hait.⁴⁶⁹ Auf einer vornehmlich ideologischen Ebene nden wir nun tatsächlich das Modell eines korporativen Republikanismus, eines Zunftrepublikanismus und zwar in Auseinandersetzung mit dem vom Augsburger Patriziat mit verächtlicher Aggressivität und gestützt auf einen überlegenen ständischen Ehrbegriff gegenüber dem Zunftbürgertum propagierten Herrschaftsanspruch einer Geburtsaristokratie. 2.6.4.2 Der patrizisch-aristokratische Herrschaftsanspruch In Nürnberg wurden die Handwerkerzünfte bereits 1349 nach einem kurzen Intermezzo wieder aufgehoben und die Handwerker unter die strenge Aufsicht des Rates gestellt. Nicht einmal eine religiöse Bruderschaft durften sie bilden, doch hatten sie später eine Bruderschaft, für die eine Eintrittsgebühr von zwei Gulden zu entrichten war.⁴⁷⁰ Dr. Scheurls »Epistel« von 1516 zufolge sprach das Patriziat den Plebeji, dem gemeinen Völklein, die Befähigung zum Regieren und jedweden Anteil an der Regierungsgewalt ab.⁴⁷¹ Die Freiburger Rats- und Gerichtsordnung von 1476 stellt in anderer Weise der ›Obrigkeit‹ den gemeinen underwürffigen [unterworfenen] man gegenüber, der aus Widerspruchsgeist und Hang zur Eigenmächtigkeit – uff widersprechen und fryglebenden willen des regierens – Satzungen missachte.⁴⁷² In Darstellung des Berner Twingherrenstreits von 1470 durch den Stadtschreiber üring Fricker (Frickart) kommt dem Stadtadel wegen seiner und seiner Vorfahren seit alters für die Stadt geleisteten Dienste, seiner besonderen Befähigung zum Regiment und wegen seines Besitzes, der Uneigennützigkeit im Dienst der

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Stadt erlaubt, die Regierung der Stadt zu.⁴⁷³ Der schlecht [ einfache] gemein gewerb- und handtwerksmann, der die Masse der einfachen Bürger bildet, so lässt er den Exponenten des Stadtadels sagen, ist zu grossen dingen, für die Politik und Stadtregierung, weder geschickt noch gnugsam erfaren. Von der Erkenntnis des gemeinen Volks, dass in der Frage von Krieg und Frieden im Jahre 1445 die edlen geschickter und wyser waren dann sy, will ein gelehrter Basler Chronist wissen.⁴⁷⁴ Hinsichtlich der Nürnberger Patrizier war Dr. Scheurl zufolge die Befähigung zum Regieren keine individuelle Begabung, sondern eine den Familien der Geschlechter von Gott gegebene, dort vorhandene und weiter vererbte Eigenschaft. Die Augsburger Geschlechter ritten eine Generation später, kurz vor der Mitte des 16. Jahrhunderts, eine heftige ideologische Attacke gegen die Zunftverfassung und überwiegend zunftbürgerliche Regierung als eine Herrschaft des politisch unverständigen Pöbels, der politisch nach außen aggressiv sei und die ehemals orierende und wohlhabende Stadt ruiniert habe. In der Eingabe, mit der die Augsburger Geschlechter 1547 Kaiser Karl V. aufforderten, der zünftigen Gemeinde das Regiment zu entziehen und es wieder auf sie zu übertragen⁴⁷⁵, werden in kaum zu überbietender polemischer und ideologischer Schärfe der Herrschaftsanspruch und das ständische Selbstverständnis des Patriziats gegenüber der Gemeinde und dem handwerklichen Zunftbürgertum als dem in Wirklichkeit regierungsunfähigen groben, unverständigen Pöbel begründet. Das Zunftregiment besteht für die Geschlechter aus knechtischen Leuten, die zu Herren wurden, sich aufblähten, aber die Obrigkeit

Ebd., S. 135. T. S, Die Freiburger Enquete (4.1–4.3), S. 29. Siehe 4.1. T. S, Die Freiburger Enquete, S. 55 f. G. S (Hg.), üring Frickarts Twingherrenstreit, Basel 1877, S. 1–187; 33, 41, 50, 67, 69 f.; U. D, Merkmale des sozialen Aufstiegs (7.1–7.2), S. 84 f. 474 E. G-S, Henman Offenburg (1379–1459). Ein Basler Diplomat im Dienste der Stadt, des Konzils und des Reichs, Basel 1975, S. 135. 475 D. Langenmantel, Historie des Regiments in des heiligen römischen Reichs Stadt Augsburg, 1725, S. 68–83; Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 32, S. 115–149. E. I, Städtische Gemeinde (4.1–4.3), S. 244–255; ., Obrigkeit und Stadtgemeinde (4.1–4.3), S. 115–117.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

gar nicht ordentlich zu gebrauchen wüssten. Einem armen gewöhnlichen Handwerker, der weder Haus, Hof noch sonst etwas zu verlieren habe, liege viel weniger an gemeiner Wohlfahrt oder Verderben der Stadt. Im Übrigen ruinierten sich die armen Handwerker, wenn sie für längere Zeit in den Rat gingen, Ratsämter verwalteten und dadurch ihre eigene Arbeit vernachlässigten, von der ihr ganzer Lebensunterhalt abhänge. Sind sie einmal ruiniert, müsse man sie durch spöttliche niedere Stadtämter wie Zöllner oder Weinanstecher auf dem Markt oder unmittelbar durch Pfründen, Leibgedinge oder im Spital ernähren. Arme Leute im Rat seien anfällig für Bestechung und Veruntreuung kommunaler Gelder. In ihrem ideologischen Kampf entfalten die Geschlechter eindringlich ihren ständischaristokratischen Ehrbegriff, der sie als Herren und Ehrbarkeit in die herrenständische Sphäre von ›Würde, Ehre und Dignität‹ rückt. Ihre offenkundige und objektive ständische Ehrbarkeit vermittelt ihnen den Anspruch, der als Pöbel denunzierten Gemeinde im Regiment und in allen ehrlichen Sachen, d. h. ehrbaren, quali zierten Sachen, zu deren Erledigung es einer ständischer Ehre bedarf, voranzugehen. Lobliche Werke könne nur verrichten, wer über eine adäquate Ehre verfüge. Dem handwerklichen Zunftbürgertum, dem armen nidern Pöbel Volck und seinen Angehörigen konzedieren die Geschlechter keine kollektive objektive Ehre, sondern lediglich im Einzelfall eine individuelle Ehre im Sinne einer persönlichen moralischen Lebensführung. Wegen ihres dunklen, unbekannten Herkommens ist bei ihnen die (zugelegte) Ehrbarkeit ungewohnt (fremd), neu und nicht offenkundig wie die Ehrbarkeit der Geschlechter. Deshalb werden sie den seit langem als ehrbar bekannten Geschlechter nicht für ebenbürtig erachtet, denn die alten Geschlechter haben ihren Titel

der Ehrbarkeit seit unvordenklicher Zeit, seit einigen Jahrhunderten, überkommen und gleichsam präskribiert. Durch diese Präskription (Ersitzung), das ist die Bedeutung des juristischen Ausdrucks, ist der Titel zu einem Rechtsbesitz geworden; für die Geschlechter spricht daher eine Vermutung, dass sie ehrbar handeln. Von guter Herkunft, hüte sich die Ehrbarkeit der Geschlechter ferner – gemäß adligem Familienbewusstsein – vor unloblichen Handlungen, um ihren Vorfahren und ihrer ehrbaren Verwandtschaft keine Schmach und Unehre anzutun. Ihrer unvordenklichen geburtsständischen Qualität und ihrem Herrschaftsanspruch nach altem Herkommen fügen die Augsburger Geschlechter weitere, erworbene Elemente hinzu, die sie zur Regierung befähigen, nämlich Bildung insbesondere durch universitäres Studium der Rechte und der Artes liberales, Weltgeschicklichkeit, hö scher Dienst bei Kaisern, Königen, Fürsten und Herren sowie Besitz. Verfügten sie dazuhin über namhaftes Vermögen, so setzten sie sich für Nutzen und Wohlfahrt der ganzen Stadt ein, da dies in Sonderheit auch der Erhaltung ihres eigenen Vermögens diene. Gesandte aus den Zünften gereichten als grobe Menschen der Stadt bei Fürsten zum Spott und schüfen den Fürsten, die sich durch derart unquali zierte Personen brüskiert fühlten, Verdruss. In ihrer Geschäftstätigkeit seien sie unfähig, auf einen Bescheid der Gegenseite hin unmittelbar selbst zu antworten und müssten vorher Rückbericht beim Rat nehmen, oder es müsse ihnen einer von den Geschlechtern beigeordnet werden. Als Kaiser Karl V. in den Jahren 1548 bis 1556/58 in 27 südwestdeutschen Reichsstädten die Zunftverfassungen nach etwa zweihundert Jahren beseitigte, übernahm er das patrizische Verdikt von der Regimentsunfähigkeit der lebensfüllend körperlich arbeitenden Handwerker.⁴⁷⁶ Der Kaiser, der sich den Tenor der Ein-

476 Der Kaiser ließ am 3. August 1548 in Augsburg die Handwerker und ihre große Anzahl im Rat für die Fraktionierung der Bürgerschaft, Aufruhr, Missregierung, Regimentsänderungen, verhängnisvolle Praktiken, Beeinträchtigung des gemeinen Nutzens, unordentliches Regiment, unordentliche Handhabung der Obrigkeit und den Ungehorsam der ganzen Kommune gegenüber dem Kaiser verantwortlich machen. In umfassender Weise ließ er dabei auch das zentrale Problem der Abkömmlichkeit aufwerfen. Die Handwerker werden als ungeschickte, unerfahrene, für die Regierung völlig

Verfassungs- und Zunftkämpfe, Bürgeropposition und Unruhen

gabe zu eigen machte, verwies den Geschlechtern allerdings im Hinblick auf seine Stadtherrschaft den Anspruch, von Geburt an Herren der Stadt zu sein. Wie fundamental prägend das handwerkliche Element für die Zunftverfassung erachtet wurde, zeigt die mit der Verfassungsänderung verbundene konsequente Zerschlagung der politischen Zünfte und der Organisation der gewerblichen Zünfte.⁴⁷⁷ Augsburger Emissäre erkundigten sich beim Nürnberger Rat, wie die entpolitisierten Handwerker unter Kuratel des Rats gestellt und dabei friedlich gehalten werden konnten. 2.6.5 Die Dynamik der Ereignisse und die bewirkten Veränderungen Die ereignisgeschichtlichen Vorgänge, die Schichten, Au äufe, Zwietrachten und Stöße, entfalteten vielerorts eine gewaltsame revolutionäre Dynamik. Schwurgenossenschaften wurden gebildet; es kam zu Aufruhr, vor allem in niederdeutschen Städten wie Braunschweig, Bremen und Magdeburg, aber auch in Köln, zu bewaffneten Bannerläufen der Aufständischen, zu blutigen Straßenschlachten oder lediglich zu unblutigen Handstreichen wie in Augsburg. Man brachte Beschwerden vor, über die verhandelt wurde, erstürmte das Rathaus und brach-

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te Archiv, Stadtbuch, Siegel, Stadtkasse, Torschlüssel, Sturmglocke und Stadtbanner in seine Gewalt. Transitorische oder interimistische Ausschussregierungen wurden gebildet.⁴⁷⁸ Die alten Ratsgeschlechter versuchten, durch freiwilligen demonstrativen Auszug aus der Stadt Druck auszuüben, oder sie wurden gewaltsam vertrieben. Güter wurden kon sziert, Mitglieder des alten Rates oder gescheiterte Aufständische aus der Stadt verbannt oder hingerichtet. In Köln wurde nach 17 Monaten die Herrschaft der Weber (1369–1371), die das Ratsregime der Geschlechter gestürzt und Steuern auf Wein, Eisen und andere Handelswaren erhoben hatten, von Geschlechtern und Kau euten mit angeworbenen Söldnern und mit Hilfe einiger Handwerkerzünfte in der Weberschlacht blutig und grausam beendet. Viele der Weber wurden in Straßenkämpfen erschlagen, andere hingerichtet oder vertrieben. Die Sieger zerstörten ihre Zunfthäuser, hoben die Zunftprivilegien auf, beschlagnahmten Tuche, Waffen und Weberhäuser, erhoben eine Tuchsteuer, begrenzten die Produktion pro Webstuhl und erlegten den Webern Geldbußen auf. Im Zusammenhang mit Fraktionskämpfen innerhalb der Geschlechter zwischen den Greifen und den Freunden, die den Rat nach ihren Vorstellungen und für ihre Zwecke umgestalten wollten, gelang es

untaugliche und einfältige Leute bezeichnet, die sich viel besser auf ihr Handwerk und ihr tägliches Gewerbe als auf die Regierung und die Besorgung des gemeinen Nutzens verstünden. Der Kaiser gesteht zwar einem Teil der Handwerker lautere und ehrenwerte Absichten zu, erachtet aber ihre Befähigung und ihren Verstand (Einsicht) für zu gering, um hochwichtigen Angelegenheiten gewachsen zu sein. Daraus resultiere, dass die Handwerker in ihren Stellungnahmen von anderen Leuten abhängig seien, oder aber, auf sich gestellt, die Sachen schlecht ausrichteten. E. N (Hg.), Kaiser Karl V. (4.1–4.3), Nr. 2, S. 52 f.; vgl. Nr. 3, S. 57. 477 Siehe dazu 8.4.11.2, S. 829 f. 478 In vielen Fällen gab die Bürgerschaft dem Rat mit einem Bürgerausschuss eine »Nebenregierung« zur Seite, »deren Aufgaben von der Kontrolle des städtischen Haushalts bis zur vollständigen Ausübung der öffentlichen Gewalt reichen können. Nach Beilegung eines solchen Kon iktes wird dann ein Teil der Ausschussmitglieder häu g in die Stadtführung übernommen, während der Ausschuss selbst sich au öst. Es kommt auch vor, dass ihm klar umgrenzte Aufgaben verbleiben und er selbst zu einem Organ der Stadtverfassung wird«. W. E, Form und Bedeutung innerstädtischer Kämpfe am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, S. 116. Die Einbindung von Bürgerausschüssen in die Stadtverfassung ist eine Erscheinung vor allem der Reformationszeit. Vgl. auch R. P, Bürgerausschüsse und Reformation in Hamburg. Selbst in Lübeck wurde im Zuge der Durchsetzung der Reformation 1530 die bürgerschaftliche Partizipation erweitert, indem neben dem bestehenden Ausschuss der 64 ein weiterer Ausschuss der Bürgerschaft mit 100 Mitgliedern eingerichtet wurde. Dieser sollte ähnlich den Großen Räten anderer Städte in den zentralen Fragen der äußeren Politik, der Finanzen, der Stadtverteidigung, des Gerichtswesens und der Kirchenverwaltung mitentscheiden. Handwerker gelangten zwar in die Ausschüsse, nicht jedoch in den Rat. E. H, Lübeck im Hoch- und Spätmittelalter, S. 387 f.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

Kau euten und Zünften am 18. Juni 1396 die Geschlechterherrschaft zu beenden. Das Kölner Stadtregiment war mit der Ordnung des Verbundbriefes vom14. September 1396 keineswegs auf Dauer völlig konsolidiert. Immer wieder kam es im 15. Jahrhundert zu Beschwerden, Aufruhr und Aufständen gegen die Politik des Ratsregimes, das die Verfassung unterlief, zu Auseinandersetzungen über Form und Ablauf von Ratswahlen und zu oppositionellen Ausschussbildungen. Im Jahre 1481 wurden insgesamt 81 Beschwerden und Änderungsvorschläge formuliert. Nach dem Sturz des alten Rates und der Hinrichtung von zehn Personen erhielt der Verbundbrief 1513 verschiedene Erläuterungen und Zusätze, niedergelegt in einer Urkunde (Trans xbrief ), die ihm durch Durchstechen angeheftet werden sollte. Dem Bremer Bannerlauf von 1365/66 gingen Misserfolge des exklusiven Ratsregimes in Fehden, insbesondere die Niederlage gegen den Grafen von Hoya in der von 1351, ein Jahr nach der Pest, bis 1359 geführten Fehde, hohe Kriegskosten, die kostspielige Auslösung von 150 Gefangenen und Rückforderungen von ausgelegten Lösegelder durch den Rat, eine Finanznot und hohe Vermögensteuern sowie der von der Hanse erzwungene Flandernboykott voraus. Im Verlauf des Aufstands wurden einige Ratsherren misshandelt, nach der Niederschlagung des Aufstand aber viele Aufständische vom Vogt zum Tode verurteilt, mindestens 16 enthauptet, Vermögen eingezogen und Familien aus der Stadt verbannt. Während der Braunschweiger Schicht wurden 1374 acht Ratsherren enthauptet, andere gefangengenommen oder vertrieben; die Aufständischen plünderten und kon szierten ihren Besitz und brannten ihre Häuser nieder. Die Halberstädter Schicht von 1423 bis 1425, an der sich gegnerische Ratsherren, weite Kreise der Bürger, Schustergesellen und der lose Haufen beteiligten, wurde mit der Unterstützung König Sigmunds, der Hanse, des üringer Dreistädtebundes, der Städte Braunschweig, Magdeburg, Halle, Hildesheim, Quedlinburg, Aschersleben und des Bischofs von Halberstadt niedergeschlagen.

Kamp os erlangten die Zünfte hingegen eine Herrschaftsbeteiligung etwa in Augsburg 1468, Memmingen, Ravensburg und Wangen (1347), Nördlingen (1349) und Kaufbeuren (1350). Bei der Ablösung des exklusiven aristokratischen Ratsregimes zeigen sich bezogen auf die korporativ gegliederte Bürgerschaft oder wie in Köln die gesamte (männliche) Einwohnerschaft durchaus gewisse demokratische Ansätze, Veränderungen also der Herrschafts- und Regierungsform, die mit der Zahl der politisch Berechtigten zu tun hat. Dies gilt zunächst für die Durchbrechung des Prinzips der Kooptation bei der Ratsbestellung und die lebenslange Ratszugehörigkeit durch das auf korporativen Wahlverbänden beruhende Wahlprinzip und die meist jährlichen Wahlperioden, ferner für die Erweiterung des aktiven und passiven Wahlrechts auf die nichtpatrizischen Kau eute und das Zunftbürgertum, wobei dessen handwerklicher Anteil bislang für nicht herrschaftsfähig erachtet worden war. Gegenüber der abgehobenen Herrschaft des Kleinen Rates wurden – vorübergehend, wie man sagen muss – der Gedanke der Bürgergenossenschaft und die politische Berechtigung der Gesamtgemeinde wieder gestärkt, indem der Große Rat oder ein Bürgerschaftskollegium (Hamburg) wieder größere Mitwirkungs- und Kontrollrechte bei wichtigen Entscheidungen, insbesondere in Finanzund Steuerangelegenheiten erhielt. In einigen Städten wie Zürich und Rottweil trat der Große Rat gegenüber dem Kleinen Rat in den Vordergrund, oder es trat die Gemeinde als Gesamtheit der Zünfte oder Gaffeln formell selbständig auf. Außerdem wurde innerhalb des städtischen Herrschaftsverbandes die intermediäre Position der politischen Zünfte ausgebaut und gestärkt. Herrschte das alte Regime der Geschlechter weitgehend kraft ungeschriebenen Gewohnheitsrechtes, so wurden im Zuge der Verfassungskompromisse (Sühnebrief , Richtebrief ) und Verfassungsänderungen schriftliche Dokumente – Regimentsordnung, Verbundbrief, Schwörbrief, Bürgerbrief – ausgearbeitet, die, wie im Falle der süddeutschen Schwörbriefe,

Verfassungs- und Zunftkämpfe, Bürgeropposition und Unruhen

alljährlich öffentlich verlesen und beschworen wurden. 2.6.6 Wirtschaftlich-soziale und politische Erklärungsmomente Die Verfassungskämpfe gegen das etablierte Ratsregime lassen sich positiv mit dem wirtschaftlichen Aufstieg von Handwerkern, ihrer durch feste Korporationsbildung gewonnenen Solidarität und Handlungsfähigkeit nach außen und nach oben, der Einübung in organisatorische, politische und jurisdiktionelle Verfahrensweisen innerhalb ihres mehr oder weniger autonomen Verbandslebens, der Ausbildung eines kollektiven sozialen Selbstbewusstseins und Ehrbegriffs sowie mit ihrer militärischen und ordnungspolitischen Bedeutung erklären. Die Gründe für Zunftunruhen und Aufstände lagen wie etwa im letztlich gescheiterten Aufstand in Frankfurt am Main gegen die alleinige Herrschaft der Geschlechter im Rat und deren alleinige Besetzung der Schöffenstühle darin, dass die Zünfte ganz überwiegend die militärischen Lasten zu tragen hatten, ohne dass ihnen entsprechend das Recht der Vertretung im Rat zugebilligt wurde, dass ferner der Rat in gewerblichen Fragen häu g zum Nachteil der Handwerker zugunsten der Bürger entschied, neue Zusammenschlüsse und Trinkstuben untersagte und wie im Falle der Schmiede 1350 Preisabsprachen der Zünfte verbot. Mit dem Verfall der alten Bürgerversammlung infolge der sich im Grunde als unabgeleitet verstehenden Geschlechterherrschaft substituierten die Handwerker- und Krämerzünfte partiell Strukturen der Bürgergemeinde, sie wurden zum Kristallisationskern genossenschaftlicher Vorstellungen und zur Form der Interessenvertretung gegenüber dem Rat. Innerhalb der Zunfthandwerkerschaft strebten reiche und angesehene Meister nun auch nach politischer Berechtigung. Hierin trafen sie sich, selber meist durch Handelsaktivitäten oder eine verlegerische Positionen zu Reichtum gelangt oder als Angehörige kommerzieller Zünfte, mit einer Schicht wirtschaftlich starker,

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aber den Ratskreisen nicht zugehöriger Kaufleute und Teilrentiers, mit denen sie Aktionsbündnisse gegen den alten Rat und dessen inkriminierte Misswirtschaft schlossen. Bei den alten Ratsgeschlechtern korrespondierte nicht mehr durchgehend der exklusive Herrschaftsanspruch mit herausragender wirtschaftlicher Machtposition. Die Kölner Geschlechter etwa hatten sich um die Mitte des 14. Jahrhunderts weitgehend aus dem Fernhandel zurückgezogen und mit dem Rückzug aus dem aktiven Wirtschaftsleben ihre wirtschaftliche Führungsrolle in der Exportgewerbe- und Handelsstadt und zugleich ihre politische Position gegenüber neuen, wirtschaftlich dynamischen Familien und den Handwerkerzünften geschwächt. Begünstigt wurde der politische Aufstieg des handwerklichen Zunftbürgertums und der nichtpatrizischen Kau eute nicht selten durch ruinöse Fraktionskämpfe innerhalb der Geschlechter um gesellschaftlichen Vorrang und politischen Ein uss oder um den ausschließlichen Herrschaftsanspruch kleiner Geschlechtergruppen, gegen die sich die übrigen mit den Handwerkerzünften und Kau euten verbanden. In Köln kam es 1390/91 zu tiefgreifenden Kon ikten innerhalb der städtischen Oberschicht zwischen den Greifen und Freunden. Eine verfassungspolitische Zielsetzung ist insoweit zu erkennen, als die Greifen, die Partei der jüngeren patrizischen Ratsfamilien, den Weiten Rat stärken wollten, die Richerzeche au östen und die Wahl der Bürgermeister dem Rat übertrugen, während die Freunde mit ihren restaurativen Zielsetzungen die alten Ratsfamilien und Schöffengeschlechter um sich scharten. Beendet wurde die Stadtherrschaft der Geschlechter dann 1396 durch vor allem Kau eute und Zünfte, wobei die Kau eute der Gaffel Eisenmarkt und die Goldschmiede in dem unblutigen Aufstand die treibenden Kräfte waren. Zu den frühesten bekannten Auseinandersetzungen um die Macht im Rat innerhalb der führenden Geschlechter gehören die Kämpfe zwischen den Basler Psittichern und Sternern, die 1265 ausbrachen und eine Zeitlang immer

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

wieder aufflackerten. In den 1320er Jahren vertrieb in Ulm die Partei Ulrich Kunzelmanns und Heinrichs von Werdenberg wohl mit Hilfe von Zünften die Partei um Otto Rot, Ulrich Rot und Peter Stroelin aus der Stadt. In Straßburg führte die Feindschaft zwischen den ritterlichen Geschlechtern (Edlen) der Müllenheim und der Zorn nach einem Zusammenstoß und Tumult (geschöll) mit neun Toten auf einem Tanzfest in Straßburg 1332 zu einer Erhebung der Zünfte, weil die ehrbaren Bürger (Burger) und die Handwerksleute fürchteten, die verfeindeten Parteien würden zu ihrer Unterstützung den Landadel in die Stadt holen. Deshalb entwaffneten sie die beiden Geschlechterparteien, inhaftierten sie und besetzten die Tore und das Rathaus, um vorübergehend die Herrschaft zu übernehmen. Auf diese Weise kam, wie der Chronist Fritsche Closener, darin gefolgt von Jakob Twinger von Königshofen (1346–1420), in seiner 1362 vollendeten Chronik dreißig Jahre danach berichtet und das Ereignis post festum interpretiert, der gewalt us der herren [Geschlechter] hant an die antwerke, was für die Handwerke wegen der Gewalttaten von Herren gegen armen Leute eine große Notwendigkeit gewesen sei.⁴⁷⁹ Bereits für das Jahr 1308 berichtet Closener von einem Geschöll zwischen den edlen und dem gediegenen, d. h. der übrigen Bevölkerung, vor der Geschlechtertrinkstube »Zum Hohensteg« mit 16 erschlagenen Zunftgenossen, während sein Fortsetzer Twinger von Königshofen von einem Tumult zwischen den Edlen und den Hantwerken spricht. Die Spaltung der Geschlechter und ihre langjährige Rivalität hatten sich an der unterschiedlichen reichspolitischen Ausrichtung festgesetzt. Die Zorn vertraten mit ihrem Geschlechterverband die päpstliche Partei und unterstützten aktuell in der Doppelwahl von 1314 den Habsburger Friedrich den Schönen, die populäreren

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Müllenheim mit ihrem Anhang die königliche Richtung und Ludwig den Bayern. Die Mindener Schicht von 1405 wurde vermutlich durch die Rivalität zwischen den beiden Bürgermeistern Hermann Swarte und Albert Albrant ausgelöst.⁴⁸⁰ Daneben versuchten im 14. Jahrhundert, der älteren italienischen Signorie entfernt vergleichbar, einzelne Patrizier wie Siboto Stolzhirsch in Augsburg (1302/1303), der Bürgermeister Ulrich Kunzelmann in Ulm (1328–1330) oder die Auer in Regensburg (1330/34) ihre autoritären Ambitionen unter anderem mit der Hilfe unzufriedener Zünfte zu verwirklichen, doch nur die populare Tyrannis des Ritters Rudolf Brun in Zürich (1336–1360), der eigentlich die Herrschaft des ritterlichen Stadtadels stärken wollte, hatte bis zu dessen Tod Bestand.⁴⁸¹ In Speyer scheiterte der Ritter Berthold Fuchs 1330 beim SeverinsAufstand; in Lindau misslang 1390 ein Aufstand, den der Patrizier Rienoldt angezettelt hatte, um die Stadtherrschaft an sich zu reißen. 2.6.7 Stadtherrliche Intervention In einigen süddeutschen Reichsstädten verschärfte die Doppelwahl von 1314 mit der Frage, welchen der Könige man als Stadtherrn anerkennen sollte, die vorhandenen Gegensätze sowohl zwischen Ratsgeschlechtern und Zunftbürgertum als auch innerhalb des Patriziats bis zur Spaltung und Parteibildung. Während das Patriziat sich mehr dem Habsburger Friedrich dem Schönen (1314–1330) zuneigte, ergriff die Handwerkerschaft eher für Ludwig den Bayern Partei. Die Polarisierung blieb häu g auch nach dem Sieg Ludwigs 1322 bei Mühldorf bestehen, wie sie auch später im Falle der Absetzung Ludwigs (1346) und des Gegenkönigtums Karls IV. noch über den Tod des Wittelsbachers (1347) hinaus einige Zeit fortdauerte.⁴⁸²

Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 8, S. 123; Bd. 9, S. 777. P. J, Bürgerkämpfe und Verfassung, S. 62 f. A. L, Bürgermeister Rudolf Brun; H. B, Spätmittelalterliche deutsche Stadt-Tyrannen. H. L, Der Kaiser und die Zunftverfassung in den Reichsstädten (4.1); W. . S, Die Metropole im Aufstand gegen König Karl IV.

Verfassungs- und Zunftkämpfe, Bürgeropposition und Unruhen

Die städtischen Verfassungsänderungen durch Schwurverbände und die Schwörbriefe und Sühnebriefe bedeuteten eine autonome eidgenossenschaftliche Rechtsetzung unter grundsätzlich Gleichen ohne Ermächtigung durch die höhere Gewalt, die das Vorgehen als illegitim betrachten und den Aufruhr gegen den herrschenden Rat als Friedensbruch strafrechtlich verfolgen konnte. Die Könige griffen als Stadtherren in die innerstädtischen Auseinandersetzungen weniger nach einem vorgefassten doktrinären Verfassungskonzept ein als nach pragmatischen Gesichtspunkten und dem Verhalten gegenüber König und Reich, insbesondere aber begünstigten sie ihre Parteigänger. Ludwig der Bayer führte in einigen Fällen die Zunftverfassung formell ein oder bestätigte sie, hob aber in anderen Fällen Zunftverfassung und Zünfte wieder auf oder stärkte das Patriziat als Gegengewicht gegen die Zünfte. In seinen letzten Jahren ließ er die Einführung von Zunftverfassungen geschehen. In der mehrmals widerspenstigen Stadt Ulm hob er 1331 nach der Aussöhnung mit der Stadt alle Verfügungen auf, die Ulrich Kunzelmann zuungunsten der Gemeinde getroffen hatte, beseitige aber 1333, nachdem sich die Stadt erneut unterwerfen musste, die Mitwirkung der Zünfte an der Stadtregierung, reduzierte die Selbständigkeit der Stadt und setzte den Grafen von Graisbach als P eger ein. Die Geschlechter konnten bis zum Tod des Kaisers 1345 ihre Vorherrschaft behaupten, verloren sie dann jedoch an die Zünfte durch den Schwörbrief von 1345. Karl IV. verlieh einigen Städten wie Augsburg, Ulm und Nördlingen das Recht, bei Verfassungsstreitigkeiten ein Schiedsgericht zu bestellen. In Nürnberg (1349) und Frankfurt (1366) griff er zugunsten des Patriziats ein und beendete die Beteiligung von Zünften am Rat, während er sonst durch Schlichtung und Verfassungsänderungen für einen unblutigen Ausgleich sorgte.

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Eigenmächtige und gewaltsame Verfassungsänderungen verursachten wegen des Eingriffs in stadtherrliche Ordnungsbefugnisse in einigen Fällen erhebliche Kosten. Die Augsburger Zunftverfassung wurde von Karl IV. erst 1374 bestätigt, nachdem die Stadt dem Kaiser in nanziellen Angelegenheiten entgegengekommen war. Ähnlich verhielt es sich mit der Kölner Verfassungsänderung von 1396, die gegen die Zahlung der enormen Summe von 11 000 Gulden von König Wenzel 1397 in Prag nur indirekt durch die Bekundung anerkannt wurde, dass er gegen Bürgermeister, Rat, gemeine Bürger und Eingesessene wegen des ersten und des folgenden Aufruhrs keinerlei Ansprüche mehr habe und sie durch königliches Gebot straffrei stellte.⁴⁸³ Der frühere Stadtherr und Herr des Stadtgerichts (Hohes Gericht), der Erzbischof von Köln, erhielt weitere 8 000 Gulden.⁴⁸⁴ Dabei hatte Köln bereits 1363 an Kaiser Karl IV. 14 000 Gulden, etwa die Hälfte der städtischen Einkünfte in einem Normaljahr, für den Widerruf eines von der Stadt kurz zuvor erbetenen und vom Kaiser gegen Einkünfte aus anderen Zöllen gewährten Zolls am Rhein auf Kaufmannsgüter gezahlt, gegen den einige Ämter einen Verbund zur Abschaffung gebildet und den Rat zum Verzicht genötigt hatten.⁴⁸⁵ Auch der Trans xbrief von 1513 verursachte hohe Kosten. Da im Verlauf der vorausgegangenen Unruhen Bürgermeister und einige Ratsherren hingerichtet worden waren, musste die Stadt König Maximilian I. wegen der eigenmächtigen Gerichtsbarkeit beschwichtigen und seine Zustimmung zum neuen Rat und zum Transxbrief durch eine Zahlung von 11 400 Gulden erkaufen. Territorialherren wie der Erzbischof von Köln um die Mitte des 13. Jahrhunderts, der Bischof von Straßburg, der Erzbischof von Bremen und der Deutsche Orden hinsichtlich der Städte Danzig und Königsberg im 15. Jahrhundert setzten sich zeitweise zugunsten der

483 L. E (Hg.), Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, Bd. VI, Köln 1879, Nr. 306–308. Allerdings hatte der neue Rat Strafgelder gegen entmachtete und verbannte Geschlechter verhängt. 484 Ebd., Nr. 313. 485 L. E (Hg.), Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, Bd. IV, Köln 1870, Nr. 428.

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Handwerker ein, um die Städte wieder unter ihre eigene Botmäßigkeit zu bringen. Auch zwiespältige Bischofswahlen konnten zu innerstädtischen Auseinandersetzungen führen wie in Minden. Benachbarte, befreundete oder verbündete Städte übernahmen bei innerstädtischen Kon ikten vermittelnde oder schiedsgerichtliche Funktionen, um einen Ausgleich und Frieden zwischen den Geschlechtern und ihren Gegnern zustande zu bringen. 2.6.8 Unruhen in Hansestädten – Hansische Verfassungssolidarität Eine Reihe von Hansestädten, vor allem die sächsische Gruppe, traf seit dem frühen 14. Jahrhundert in regionalen landfriedensrechtlichen Sonderbündnissen Vorkehrungen nicht nur gegen äußere und landesherrliche Übergriffe, sondern auch gegen innerstädtischen Aufruhr.⁴⁸⁶ Die vorgesehenen Maßnahmen reichten von Vermittlung, gütlicher oder rechtlicher Schiedsgerichtsbarkeit bis hin zu bewaffneter Intervention. Hansestädte und Stadtherren unterstützten auch militärisch die alten Ratsregime, die vertrieben worden waren, in Rostock (1314), Bremen (Bannerlauf von 1365/66) und Halberstadt (1425). Die Hanse reagierte in den Fällen Braunschweig (1375), Stettin (1420), Bremen (1426) und Rostock (1435) auf innerstädtische Unruhen mit vorübergehendem Ausschluss dieser Städte aus der hansischen Gemeinschaft, mit der Verhansung, die den Boykott und die Beschlagnahme von Waren und Gütern sowie ein Verkehrsverbot mit den Bürgern und Einwohnern nach sich zog. In anderen Fällen genügten die Androhung der Verhansung, Versorgungsboykotts oder Vermittlungsaktionen benachbarter Städte, um den innerstädtischen Frieden wiederherzustellen. Aufrührer sollten im gesamten hansischen Raum verfestet, d. h. friedlos gelegt, geächtet werden. In den Fällen Minden (1407), Lübeck (1410) und Rostock (1431/32) verhängten Kö-

nig Ruprecht und König Sigmund nach Klagen des alten Rates gegen den neuen vor dem königlichen Hofgericht die Reichsacht, die ein Verkehrsverbot mit der Stadt beinhaltete. Im Falle Rostock kam noch der päpstliche Kirchenbann hinzu. In Braunschweig, das wegen seiner stark entwickelten handwerklichen und kaufmännischen Gewerbe nicht dem Typus der vom Fernhandel dominierten norddeutschen Handelsstadt entsprach, hatte sich bereits 1292/93 im weiteren Zusammenhang mit Herrschaftsstreitigkeiten innerhalb des Welfenhauses, die in der Stadt zu Parteibildungen führten, die gewalttätige Schicht der Gildemester in der Terminologie Hermann Botes ereignet, bei der jedoch 1294 die alten Ratsgeschlechter, die sich mit Herzog Albrecht von Braunschweig verbunden hatten, die Oberhand behielten. Fast drei Generationen später kam es in der zweitgrößten Stadt Nordostdeutschlands, die eine regionale Führungsrolle in der Hanse besaß, im Jahre 1374 im Zusammenhang mit einer schweren Finanzkrise, die durch einen verlorenen Kriegszug gegen das Erzstift Magdeburg und Lösegeldzahlungen verschärft worden war, und einer Zwietracht unter den etwa 50 Ratsfamilien erneut zu einem Aufstand, der Großen Schicht oder Schicht des Rats, in deren Verlauf sofort einige Ratsherren hingerichtet wurden und die Geschlechter aus der Stadt ohen. Um den erhobenen Mordvorwurf abzuwehren, betonte der neue Rat, alles sei öffentlich mit Urteil und vor Gericht geschehen. Es wurde eine neue Verfassung eingeführt, die auf den Gilden aufbaute. Der 1375 verhängte Ausschluss aus der Hanse wurde 1380 wieder aufgehoben, die fortbestehende unsichere Lage 1386 abschließend durch einen Verfassungskompromiss mit der Etablierung eines mitgliederstarken Rats konsolidiert. Vierzehn Gilden, darunter neun Handwerkergilden, wurden ratsfähig. Von den 103 Ratssitzen ent elen 47 auf die Handwerker, diesen standen mit einer spürbaren Mehrheit 25 Angehörige der Geschlech-

486 W. E, Bürgertum und Obrigkeit in den hansischen Städten (4.1); ., Hanse und spätmittelalterliche Bürgerkämpfe.

Verfassungs- und Zunftkämpfe, Bürgeropposition und Unruhen

ter, die sich 1384 in der Gesellschaft der »Lilienvente« enger zusammengeschlossen hatten, und 31 Ratsherren aus den kommerziellen Gilden der Gewandschneider und Geldwechsler sowie der auch am Handel mit ihren hochwertigen Materialien beteiligten sozial und wirtschaftlich prominenten Goldschmiede gegenüber. Wegen eines erfolglosen kostenträchtigen Kriegszugs mit nachfolgender angekündigter Verdoppelung der Vermögensteuer kam es 1444/45 erneut zu Unruhen, nun unter anderem durch ratsfähige handwerkliche Gruppen. Hermann Bote nennt sie die Schicht der ungehorsamen Bürger. Im Großen Brief von 1445 mit seinen 40 Artikeln als einem Vertrag zwischen Rat, Gilden und der restlichen Gemeinde (›Meinheit‹) wurden Bürgerhauptleute institutionalisiert und das Kooptationsrecht der alten Geschlechter endgültig zugunsten einer einheitlichen indirekten Wahl mit Wahlmännern durch die Gemeinde abgeschafft. Gildemeister und Hauptleute erhielten Zustimmungsrechte bei wichtigen Angelegenheiten, wie sie etwa die Großen Räte anderer Städte besaßen. Außerdem sollte der Rat in seiner Gerichtsbarkeit auf stärkere Rechtssicherheit der Bürger und ein zügiges Verfahren festgelegt werden, wie es auch der Rechtssicherheit dienen sollte, dass der Erwerb von Grundbesitz und die Konstituierung von wiederkäu ichen Renten in das Stadtbuch einzutragen waren. Zur Demonstration der wiedergewonnenen Eintracht wurde zudem, nunmehr zum dritten Mal, ein neues Fest des Stadtheiligen St. Auctor inauguriert. Die Unruhen beschäftigten mehrere Versammlungen der sächsischen Hansestädten in den Jahren 1446 und 1447 und den Hansetag zu Lübeck im selben Jahr; 25 namentlich genannte Aufrührer aus Braunschweig wurden in allen Hansestädten proskribiert (verfestet). Die von Hermann Bote selbst erlebte Schicht Hollandes, des Ludeke Holland, von 1488 bis 1490 resultierte aus der Abwertung umlaufender minderwertiger Münzen gegenüber dem schweren ewigen Pfennig Braun-

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schweigs mit der Folge von Vermögensverlusten in der Bevölkerung und führte zur Herrschaft des Kollegiums der 24 Männer, das den Rat faktische entmachtete, aber nach einem Stimmungsumschwung in der Bevölkerung bald aufgeben musste. In der Zeit von 1412 bis 1418 wurden verstärkt gemeinhansische Bemühungen unternommen, um städtischen Aufruhr und Umsturz zu verhindern. Vorausgegangen waren in Lübeck, dem ›Haupt der Hanse‹, die beiden sogenannten Knochenhaueraufstände von 1380 und 1384 und der Aufstand von 1408.⁴⁸⁷ Lübeck befand sich im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts infolge der Waldemarischen Kriege, des Unterhalts der fünfzehn Jahre besetzten schonischen Schlösser und der Bekämpfung des umsichgreifenden Seeräuberunwesens in einer prekären nanziellen Lage, die der Rat mit erhöhten Steuern (Vorschoss und Schoss) zu verbessern trachtete, woraus bereits 1374 und 1376 Spannungen mit der Stadtgemeinde (meenheit) resultierten. Im ersten Knochenhaueraufstand von 1380, der an der Solidarität sich bewaffnender Kau eute mit dem Rat scheiterte, ging es um die gewerbliche Gängelung durch den Rat. Die zahlenmäßig starken Knochenhauer, die auch einen lukrativen Viehhandel betrieben, wollten sich vom Marktzwang, dem sie wie die Bäcker im Unterschied zu anderen Gewerben unterlagen, und von der gebührenp ichtigen Zuteilung der sich in städtischem Eigentum be ndlichen Verkaufsplätze (Litten) an Meister auf Lebenszeit durch den Rat befreien. Bei dem zweiten Aufstand von 1384 handelt es sich um eine wohl von langer Hand geplante und zu äußerster Gewalt bereite Verschwörung von etwa 60 Personen gegen den Rat unter Anführung des ehrgeizigen Kaufmanns Hinrich Paternostermaker, der sich wie viele der Mitverschwörer in misslichen Vermögensumständen befand. Die Verschwörung wurde entdeckt, 18 Verschwörer wurden des Verrats für schuldig befunden und hingerich-

487 A. . B, Die Lübecker Knochenhaueraufstände; E. H, Lübeck im Hoch- und Spätmittelalter, S. 242–261.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

tet, ihr Vermögen und dasjenige von 28 weiteren Beteiligten wurde zugunsten der Stadt eingezogen; ihre Familien mussten die Stadt verlassen. Da unter den Verschwörern neben weiteren Handwerkern mehr als die Hälfte Knochenhauermeister waren, wurde das Amt zunächst aufgelöst, dann erhielt es nach Wiederzulassung eine neue Amtssatzung (Amtsrolle). Darin wurde die Zahl der Meister von 100 auf 50 herabgesetzt, die Älterleute wurden nun vom Rat bestimmt und Zusammenkünfte jeder Art, auch religiöse und gesellige Festlichkeiten, bedurften jedes Mal der Zustimmung des Rats. Die übrigen Handwerksämter hatten 1385 dem Rat lediglich einen Treueid zu schwören. Infolge der Lasten der zurückliegenden Kriege, der Befriedung von Umland und See, der Territorialpolitik entlang des Lübeck-Hamburger Handelswegs, des Erwerbs von Stützpunkten im Lauenburgischen, der Errichtung und Unterhaltung des Stecknitzkanals, der Ausrichtung von Hansetagen und der wachsenden Kosten des diplomatischen Verkehrs mit auswärtigen Mächten im Interesse Lübecks und der Hanse geriet Lübeck in eine schlechte nanzielle Lage, die den Rat 1403 und 1405 im Zusammenhang mit Steuererhöhungen zwang, den Schuldenstand der Stadt (1403: 26 000 Mark lübisch) der Stadt zu offenbaren, ferner zunächst für das vergangene Jahr, dann für zwölf Jahre zurück Rechnung zu legen, zuerst mündlich, dann ›um guter Eintracht willen‹ in schriftlicher Form. Die Gemeinde, de gantze menheit, borger unde amte, setzte für Verhandlungen mit dem Rat einen Sechziger-Ausschuss ein, der die Rechnungslegung überprüfte und wiederum schriftlich auch Einzelheiten über die Kriegszüge der letzten zwölf Jahre wissen wollte. Der Ausschuss, der zum überwiegenden Teil aus reichen Angehörigen der bisherigen Führungsschicht der Verwandten von Ratsmännern und Zirkelbrüdern, vermögenden Kau euten und handeltreibenden Handwerkern und einer geringeren Anzahl gewöhnlicher Handwerker bestand, legte darüber hinaus 100 Beschwerdeartikel vor, in denen die Rechtsaufsicht des Rats über Handwerk und Handel, die undurchsich-

tige Rechnungsführung, die Verschuldung infolge schlechter Planung und Nutzung städtischer Einkünfte und verschiedene Belange der auswärtigen Politik beanstandet wurden. Was die Stadt insgesamt anging, das sollte fortan den Bürgern bekanntgegeben werden, und die Sechziger sollten an den Verhandlungen darüber beteiligt werden. Ausgaben für die Stadt waren genau zu begründen; die Kämmerei und andere Verwaltungsämter sollten zur Kontrolle zwei von der Bürgerschaft bestimmte Beisitzer erhalten. Der Rat sollte der Bürgergemeinde gegenüber eidlich verp ichtet werden, doch berief sich dieser in der Folgezeit auf seinen Eid gegenüber dem Reich und dem König als dem Stadtherrn. Vor allem wurde von dem Ausschuss die Etablierung einer engen Ratsoligarchie von fünf oder sechs Personen gerügt, die allein über die Einkünfte der Stadt Verfügungen trafen und auch den größten Teil des Regiments im Rat in Händen hielten, was nicht dem gemeinen Besten diene. Es handelte sich um einen Kreis von Bürgermeistern und Ratsherren, darunter Jordan Pleskow, die sich allerdings in der Kriegsführung sowie in Vermittlungsaktionen und diplomatischen Verhandlungen mit auswärtigen Mächten bewährt hatten. Als es 1408 während Verhandlungen des Ausschusses mit dem Rat über eine Änderung der Ratswahl mit dem Ziel einer Abschaffung der reinen Kooptation zugunsten einer Beteiligung der Bürger über Wahlmänner zu Tumulten kam, sah sich der Rat in seiner Mehrheit gezwungen, die Stadt zu verlassen, worauf durch Wahlmänner ein neuer Rat gewählt und eine entsprechende Wahlordnung beschlossen wurden. Der neue Rat setzte sich in seinem sozialen Pro l abgesehen von einem noch höheren Anteil von Angehörigen der Führungsschicht ähnlich wie der Sechziger-Ausschuss zusammen. Der emigrierte Teil des alten Lübecker Rates erhob 1409 erhob gegen die Aufständischen und den neuen Rat Klage beim königlichen Hofgericht, das den alten Rat zum rechtmäßigen Rat erklärte; in einem zweiten Verfahren erreichte er, dass die über ihn und seine Anhänger vom neuen Rat ausgesprochene Friedloser-

Verfassungs- und Zunftkämpfe, Bürgeropposition und Unruhen

klärung und die Kon skation ihrer Güter für ungültig erklärt und den Klägern erlaubt wurde, sich aus dem Eigentum und den Einkünften der Stadt zu entschädigen. Als der neue Rat eine Frist für eine Schlichtung mit dem alten verstreichen ließ, verhängte König Ruprecht 1410 die Reichsacht über die Stadt, während König Sigmund als sein Nachfolger zunächst die Hansestädte zur Anerkennung des alten Rats aufforderte, dann aber für die Summe von 26 000 Gulden bereit war, die Acht aufzuheben, die Stadtrechte wieder zu bestätigen und zugunsten des neuen Rats ein Rückkehrverbot für die Emigranten, allerdings mit Anweisungen für ihre Entschädigung, auszusprechen. Schließlich widerrief Sigmund seine Zusagen und forderte den neuen Rat auf, sich mit dem alten zu vergleichen. In dieser Situation, in der auch die Wirtschaft Schaden nahm, gab der neue Rat auf und trat unter Vermittlung von sieben wendischen und pommerischen Städten die Regierung 1416 wieder an den alten Rat ab, der 1415 zurückgekehrt war. Die übriggebliebenen fünfzehn Mitglieder des alten Rates wählten fünf Kau eute, zwei Mitglieder der Zirkelgesellschaft und fünf Mitglieder des ehemaligen neuen Rats hinzu. Die Handwerksämter (Zünfte) mussten wieder wie 1385 dem Rat einen Treueid leisten und zudem einer Bürgerabgabe zustimmen, mit der die auf 13 000 Gulden ermäßigte Forderung König Sigmunds beglichen werden sollte. Auch in den benachbarten Städten Hamburg, Wismar und Rostock wurden nach einem Umsturz die alten Verhältnisse wiederhergestellt. Auf Betreiben der alten Lübecker Ratsfamilien und ihres Wortführers Jordan Pleskow wurde 1417 ein Hansetag einberufen, der in seinem Rezess Maßnahmen gegen künftige Umsturzversuche vorsah, die auf einem nachfolgenden Hansetag 1418 in 32 Statuten enthalten waren, die zu Fragen des Bürgerrechts, der Handelspolitik sowie des Schutzes des Wirtschaftsverkehrs und der Seefahrt im Rahmen der hansischen

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Gemeinschaft ausgearbeitet und von 35 Städten der drei hansischen Drittel verabschiedet und veröffentlicht wurden.⁴⁸⁸ Die Städte verp ichteten sich, Aufruhr, gefährliche Zusammenrottungen und Bündnisse gegen den Rat in keiner Hansestadt zu dulden, sondern mit allen Mitteln zu verhindern. Wenn der Rat oder ein Teil von ihm durch die Gewalt und den Ungehorsam der Bürger oder Einwohner gestürzt, des Ratsstuhls entwäldigt wurde, soll die Stadt mit allen Folgen aus der hansischen Gemeinschaft so lange ausgeschlossen werden, bis er wieder in die vorherige ›Macht und Würdigkeit‹ eingesetzt ist. Wenn der Rat oder ein Teil von ihm hingegen in den Freiheiten und Herrlichkeiten (Herrschaftsrechte) seines Regiments durch Gewalt und Nötigung beschnitten und unmächtig gemacht wurde, sollen die Ratssendeboten der Stadt, da der Rat so unmächtig ist, von der Tagfahrt der anderen Städte, dem Hansetag, ausgeschlossen sein. Bürger und Einwohner sollen zur Restitution des Rats in seine vollen Herrschaftsrechte und in sein Regiment aufgefordert werden, da in der Hanse Rechtsbruch (overtrede) und Eigenmacht (sulfwold) verboten seien. Geschieht dies nicht, folgt die Verhansung. Flüchtige Aufrührer und Mitwisser sind überall zu ergreifen und zu bestrafen bis hin zur Verhängung der Todesstrafe. Jeglicher Au auf vor dem Rat wird verboten. Wer etwas vor dem Rat zu verhandeln hat, soll es dort bei Strafe mit nicht mehr als sieben Personen vorbringen. Die Bestimmungen wurden in der Folgezeit jedoch sehr pragmatisch gehandhabt. Eine 1447 in Lübeck vereinbarte zehnjährige gemeinhansische Tohopesate, die eine Beistandsp icht der Nachbarstädte bei innerstädtischen Kon ikten enthielt, wurde nicht wirksam. Die Verfassungsänderungen in Köln, Dortmund, Soest und Münster nahm die Hanse hin.

488 Hanserezesse I (Einleitung), Nr. 557, S. 554–557, 559; R. S (Hg.), Quellen zur Hanse-Geschichte (Einleitung), Nr. 11, S. 308–312 (Auszüge).

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

2.6.9 Ungleichheiten und politische Spannungen innerhalb der Zünfte Wo Zunftverfassungen mit Ansätzen einer Art von »Verbandsdemokratie«⁴⁸⁹ eingeführt wurden, war die entscheidende Frage, auf welche Weise der vorgegebene rechtliche Rahmen sozial und politisch ausgefüllt wurde. Zunftverfassung heißt zunächst, dass die Zünfte als berufsspezi sche politische Korporationen zugleich Einheiten der politischen Organisation und Willensbildung darstellten. Nur einzelne große Gewerbe bildeten eine in sich geschlossene, homogene Zunft. Kleine Gewerbe wurden zu einer heterogenen Zunft zusammengefasst oder hatten sich einem größeren Gewerbe anzuschließen. Zunftregierung heißt nun nicht einfach Regierung der Handwerker, da zwischen kommerziellen Zünften, Zünften mit einer starken Handelskomponente und den vorwiegend manuell tätigen Handwerkerzünften zu unterscheiden ist. So gab es in Basel ohne ganz stringente Trennung vier Herrenzünfte und elf Meisterzünfte. Gelegentlich wurde in anderen Städten terminologisch und verfassungsrechtlich zwischen höheren und niederen Zünften unterschieden. Die niederen Zünfte durften nur einen Vertreter in den Rat entsenden; da sie meist zusammengesetzt waren, hatten nicht alle Gewerbe einen Repräsentanten im Rat. Die höheren Zünfte stellten zwei oder bis zu vier Ratsmitglieder. Politisch dominierten die reicheren, vielfach händlerisch bestimmten Kreise des Zunftbürgertums, die den eventuell nicht zünftigen und nicht patrizischen Kau euten und den fernhändlerischen Patriziern wirtschaftlich und sozial näher standen als den reinen Handwerkern. In Basel waren die vier kommerziell bestimmten Herrenzünfte der Kau eute, der im Wechsel- und Kreditgeschäft tätigen Hausgenossen, der Krämer und der Weinleute schon recht früh zum Rat zugelassen worden. Auf dieser sozialen Grundlage setzte sich die Aristokratie der alten Ratsgeschlechter in einem Regime un-

tereinander verwandter, verschwägerter und befreundeter Vermögender fort, die immer wieder in den Rat gelangten und reihum die wichtigsten Ämter besetzten. Auch in Städten mit Zunftverfassung kam es deshalb zu einem Bedeutungsverlust des Großen Rates und zur Herausbildung beherrschender Ratsausschüsse und geheimer Stuben. Die personelle Verengung der Zunftverfassung und möglicherweise eine »Schwäche genossenschaftlicher Verfassungsprinzipien«⁴⁹⁰ hatten einen wesentlichen Grund in der Frage der »Abkömmlichkeit«, die bereits für die Übernahme von Funktionen im Verbandsleben der Zunft eine entscheidende Rolle spielte. Nur wer nicht auf seine tägliche Arbeit in der Werkstatt angewiesen war, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, d. h. nur die reichsten Zunftgenossen, konnten sich zu Zunftmeistern wählen lassen und in der Regel zugleich in den Rat eintreten, Ratsämter und diplomatische Missionen übernehmen. Nur vereinzelt gab es schon Diätenzahlungen in bescheidener Höhe im 15. Jahrhundert als allenfalls nominellen Ausgleich für den Arbeitszeit- und Erwerbsverlust. Aus naheliegenden Gründen sprachen sich die Patrizier zunächst gelegentlich gegen die Einführung von Diäten aus, doch wurden sie etwa in Nürnberg wie in anderen Städten im späteren Mittelalter gezahlt. Auch in Städten mit Zunftmehrheit im Rat wurden aus Gründen der Abkömmlichkeit, auch der Bildung, militärischer, diplomatischer und verwaltungstechnischer Fähigkeiten und Erfahrung Patrizier zu Bürgermeistern gewählt. Insbesondere im diplomatischen Verkehr mit der adlig-fürstlichen Umwelt empfahlen sich Patrizier wegen ihres ständischen Ranges. Daher rührt die Kontinuität der städtischen Außenpolitik und vielfach auch der Verwaltungspraxis, der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Die Ratssitzungen wurden von den Zunftvertretern nicht selten schlecht besucht; deren Kenntnis der Satzungen und der Geschäftslage

489 M. W, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 784. 490 H. R, Der Rat der niederschwäbischen Reichsstädte (2.5), S. 257.

Verfassungs- und Zunftkämpfe, Bürgeropposition und Unruhen

ließ Klagen zufolge häu ger zu wünschen übrig. Um die Meister in ihrer Mehrzahl von Ratsgeschäften zu verschonen, drangen die Zünfte auf eine proportionale Verkleinerung des Rates. In Rothenburg ob der Tauber gaben die Handwerker ihre 1450 errungene Beteiligung am Rat nach fünf Wochen freiwillig wieder auf, weil sie nicht abkömmlich waren. Die Verengung, möglicherweise auch Oligarchisierung des Stadtregimentes auf plutokratischer Grundlage korrespondierte mit einer Ausweitung der obrigkeitlichen Befugnisse des Rates durch den Übergang von Rechten des Stadtherrn und des Reiches hinsichtlich des Marktes und der Gewerbeaufsicht sowie polizeilicher und nanzieller Aufgaben auf Stadt und Rat. Dadurch rückte der Rat in eine abgehobene obrigkeitliche Distanz zur Stadtgemeinde, aus deren Mitte es immer wieder zu Erhebungen gegen die Herrschaft und Politik des Rates auch in Städten mit Zunftverfassung wie Köln, Aachen, Augsburg oder Konstanz kam. Zunftkämpfe können aber auch, wie dies die Aufstandsbewegungen und Auseinandersetzungen in Konstanz der Jahre 1389, 1421 und 1429 zeigen, von politisch benachteiligten Zünften ausgehen und sich gegen oligarchischplutokratische Tendenzen der größeren, an der Ratsherrschaft beteiligten Zünfte oder gegen eine soziale und politische Assoziierung von herrschenden Zunftbürgern mit den Geschlechtern richten.⁴⁹¹ Insbesondere waren an solchen Aufständen niedere Zünfte beteiligt. Auch zeigten sich Spannungen innerhalb der Zunfthierarchie. In Köln wurde 1482 eine von Johann Hemmersbach aus der Gaffel der Gürtelmacher geleitete Verschwörung niedergeschlagen. In Augsburg gab es große und ehrbare Zünfte, die gegenüber den kleinen zwei Ratsherren in den Rat entsenden durften, und nicht nur einen. Im 15. Jahrhundert unterschied man die habhaften und die nichthabhaften Zünfte, wobei die ein höheres Ansehen genießenden habhaften der Kau eute, Salzfertiger, Kramer und Metzger vielfach in verwandtschaftlicher Verbindung mit den Geschlechtern standen und

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die höchsten städtischen Ämter bekleideten. Innerhalb der Zunftverfassung kam es seit 1466 zu Auseinandersetzungen um eine veränderte Ausgestaltung. Der Bürgermeister Ulrich Schwarz aus der Zunft der Zimmerleute wollte gegen die etablierten Führungsgruppen die Herrschaft der Zünfte vor allem durch verbesserte Partizipationsmöglichkeiten untergeordneter und weniger angesehener Zünfte im Geheimem Rat, Kleinem Rat, Großem Rat und im Stadtgericht erweitern, die Stadtregierung dadurch wieder stärker an die Gemeinde rückbinden und zugleich sich und seinen Anhängern eine eigene Machtbasis für ein auf ihn zugeschnittenes persönliches Regiment schaffen. Als der Bürgermeister aus den Geschlechtern Hans Vittel, der Exponent des alten Regimes, den Stadtherrn Kaiser Friedrich III. um ein Eingreifen bat, wurde er deswegen als eidbrüchiger Verleumder belangt und 1477 zusammen mit seinem Bruder hingerichtet. Ein Jahr später ereilte allerdings Schwarz, der auf den Widerstand der Geschlechter und der Handelszünfte stieß, das gleiche Schicksal. Er wurde 1478 durch den Stadtvogt im Auftrag des Kaisers inhaftiert und kurz darauf seinerseits hingerichtet. Ulrich Schwarz hatte sich 1476 gegenüber dem Freiburger Stadtschreiber freimütig zu den vorgenommenen tiefgreifenden Verfassungsänderungen geäußert und 107 Jahre einer kurzsichtigen Politik seit der Einführung der Zunftverfassung im Jahre 1368, insbesondere die hohe Verschuldung mit einem gegenwärtigen Zinsendienst von mehr als 15 000 Gulden im Jahr und den Schlendrian der nicht im Sinne des gemeinen Nutzens besetzten Ämter und die bekannte kurze Geltungsdauer der städtischen Maßnahmen kritisiert. Während bisher Gebote und Verbote in Augsburg nur zwei oder drei Tage gegolten hätten, habe man nach langen Vorüberlegungen im laufenden Jahr einen mächtigen Durchbruch und [eine mächtige] Änderung beschlossen, um nicht nur kurzfristig zurande zu kommen, sondern ein konsolidiertes gemeines Gut zu schaffen, die Stadt von der schwe-

491 K. D. B, Zunftbürgerschaft und Patriziat (7.1–7.3), S. 130–160.

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Stadtbürger, Stadtrecht und Stadtverfassung

ren Zinslast zu befreien, ein besseres Regiment zu etablieren und in allen Ständen Gehorsam durchzusetzen, und zwar durch eine Verfassungsumgestaltung, welche die Zünfte gegenüber den Geschlechtern weiter stärkte und alle Zünfte, auch die bislang zurückgesetzten, an allen Gremien gleichermaßen beteiligte. Zu der entscheidenden Änderung zählte Schwarz die gegen den Widerstand der Geschlechter vorgenommene Erweiterung des vorberatenden Geheimen Rates der Dreizehn, des Hohen Rats, der bislang von einer Mehrheit von acht alten Bürgern (Patrizier), den Bürgermeistern und wichtigsten Amtsinhabern sowie fünf weiteren Mitgliedern aus zwei oder drei Zünften

492 T. S, Die Freiburger Enquete (4.1–4.3), S. 21 f.

gebildet worden sei. Den Vertretern der alten Bürger hätten die anderen als Minderheit stets Folge geleistet. Der neue Hohe Rat der Achtzehn bestehe nunmehr – umgekehrt – aus je einem Vertreter der siebzehn Zünfte unter Beiziehung von zwei oder drei Vertretern der alten Bürger. Den politischen Effekt der neuen Verhältnisse sah Schwarz darin, dass dadurch aus jeder Zunft eine Person vertreten sei, welche die Angelegenheiten der Stadt kenne, was einen gar guten Frieden mache, und die Achtzehn sich durch keinen Unwillen in der Sache beirren ließen. Ferner entsendeten jetzt alle Zünfte jeweils drei Vertreter in den Rat, dem die Achtzehn ihre Beratungsergebnisse vortrügen.⁴⁹²

3

Bischofsstädte, Freie Städte, Reichsstädte – Landstädte (Territorialstädte) – grundherrschaftliche Städte – Städtebünde

3.1 Stadtherrschaft, Stadttypus und politische Autonomie 3.1.1 Städtetypen und ihre Bezeichnungen Die (wissenschaftlichen) Begriffe »Reichsstadt« und »Landstadt« oder »Territorialstadt« geben die Zugehörigkeit von Städten zu den übergreifenden Herrschafts- und Ordnungssystemen Reich, Land oder Territorium wieder, wobei das Land als offeneres herrschaftliches Gebilde dem gebietshoheitlichen, straffer beherrschten Territorium, das sich auf dem Wege zum Territorialstaat be ndet, entwicklungsgeschichtlich vorangeht.⁴⁹³ Auf unterer Ebene gibt es von geistlichen Korporationen (Stifte, Klöster) oder von adligen Kleindynasten und Grundherren gegründete Städte. Der älteste und zunächst wichtigste Städtetypus ist die civitas in der Bedeutung von Bischofsstadt (Kathedralstadt), die durch Emanzipationsbestrebungen der Bürgerschaft zur Freien Stadt werden kann oder als prominente Stadt in die entstehende geistliche Landesherrschaft integriert wird. Im österreichisch-habsburgischen Südosten fehlen die alten Bischofsstädte, außerdem mangelt es an königlichen Pfalzorten als Ansatzpunkten für eine reichsstädtische Entwicklung. Verbreitet sind hingegen vor allem Stadtbildungen im Zentrum hochstiftlicher Immunitätsbezirke und adlig-patrimonial geprägte Städte, die im Spätmittelalter zunahmen. Verfassungsgeschichtlich grundlegend ist für die Stadt die unmittelbare Beziehung zu ihrem Stadtherrn. Allerdings waren in einigen Städten die stadtherrlichen Verhältnisse angesichts mehrfacher Beziehungen nicht klar und verschoben sich bis zur endgültigen Klärung. Auch bestand ein häu g politisch begründetes

Konkurrenzverhältnis zwischen dem unmittelbaren Stadtherrn und dem König, der privilegierend in städtische oder schutzherrschaftliche (vogteiliche) Verhältnisse eingriff, um Städte in temporären Kon ikten, insbesondere auch in solchen mit dem Papst, oder dauerhaft auf seine Seite zu ziehen. Eine Stadt wie Regensburg, die im 13./14. Jahrhundert mit vielleicht 15 000 Einwohnern nach Köln – zusammen mit Wien, dem Regensburg zeitweise als Vorbild im Ausbau diente – eine der bevölkerungsreichsten Städte im Reich und führende Handelsmetropole im Süden war, beherbergte eine Königspfalz und eine herzogliche Klosterpfalz sowie einen Bischofssitz und hatte es mit einer mehrpoligen, von ständigen Machtverschiebungen gekennzeichneten Stadtherrschaft von König, Herzog von Bayern und ortsansässigem Bischof zu tun. In Augsburg stand die bürgerliche Gemeinde dem Bischof als dem Stadtherrn gegenüber, doch setzten die Könige seit 1231 nach dem Aussterben der Grafen von Schwabeck, in deren Familie sich die Augsburger Vogtei vererbt hatte und jetzt an das Reich zurück el, den Stadtvogt ein, der seine gerichtliche Zuständigkeit immer weiter auf Kosten des bischö ichen Burggrafen als des Stadtrichters erweiterte und dadurch die Stadtherrschaft zugunsten des Königs umprägte. Am Beginn der Regierung des Bischofs Hartmann von Dillingen (1248–1286) erhoben sich die Augsburger gegen den bischö ichen Stadtherrn, zerstörten Häuser und Domkurien, behaupteten sich siegreich in der Schlacht am Hammelberg und nötigten den Bischof zu einem Vergleich, der die Bürger von verschiedenen Lasten befreite, ihnen die Ungelderhebung überließ und sämtliche Tore der Stadt den

493 J. S, Zur verfassungsgeschichtlichen Stellung von Reichsstadt, freier Stadt und Territorialstadt; P. M, Reichsstadt, Reich und Königtum; E. I, Reichsstadt und Reich; ., Die Reichsstadt.

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Bischofsstädte, Freie Städte, Reichsstädte – Landstädte

Bürgern überantwortete. Die Vogtei ging zwar, nachdem sie der 1266 damit belehnte Staufer Konradin zwei Jahre später an Herzog Ludwig den Bayern verpfändet hatte, wieder in die Hand des Bischofs über, doch nahm sie König Rudolf von Habsburg an das Reich zurück. Im Jahre 1257 traten urkundlich consules der Stadgemeinde auf, 1260 ist ein Rathaus bezeugt und 1266 ein magister civium. Die Entwicklung Augsburgs zur Reichsstadt erreichte ihren Abschluss 1316 durch das Privileg Ludwigs des Bayern, das die Unveräußerlichkeit der Stadt vom Reich garantierte und die Geschlechter mit den Ministerialen des Reichs in Gerichtsbeisitz und Rechtsprechung ständisch gleichstellte. Im Falle der Reichsstadt ist der König (Kaiser) der Stadtherr, im Falle der Land- oder Territorialstadt kann es ein weltlicher oder geistlicher Landesherr sein. Die Freien Städte zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich als ehemalige Bischofsstädte weitgehend der Herrschaft ihres bischö ichen Stadtherrn entzogen haben und im Hinblick darauf frei sind. Da sie der königlichen Oberhoheit unterstehen und den allgemeinen Rechts- und Friedensschutz des Königs genießen, können sie insoweit den Reichsstädten zugeordnet werden. Auch als im 16. Jahrhundert der Status der Freien Städte dem der Reichsstädte in verschiedener Hinsicht weitgehend angeglichen war, wurde im amtlichen Sprachgebrauch weiterhin genau zwischen Freien Städten und Reichsstädten unterschieden, und die Kollektivbezeichnung Frei- und Reichsstädte gibt diese Differenzierung wieder. Der Ausdruck freie Reichsstadt ist seit dem 16. Jahrhundert eine Kontamination aus Freie Stadt und Reichsstadt, bei der unter Aufgabe der Unterscheidung die Autonomie, die gelegentlich ideologisierte Freiheit beider Städtegruppen als Angehörige des Reichs im Gegensatz zu der geringeren Autonomie und Dignität der mediaten Territorialstadt herausgestellt wird. Der Ausdruck Freie Reichsstadt kommt im Spätmittelalter in der Bedeutung von Reichsstadt im Kanzleigebrauch in der Regel nicht vor. Wenn ihn etwa die Stadt Basel am Ausgang des 15. Jahrhunderts gebraucht, so ist damit die

Freie Stadt gemeint. Der Kölner Rat bezeichnete damals seine Stadt gleichfalls als eine ›freie Reichsstadt‹. Felix Fabri nennt die Stadt Ulm im Hinblick auf ihr erfolgreiches politisches Autonomiestreben jenseits der von der königlichen Kanzlei für eine Reichsstadt gebrauchten Begriffe eine ›freie kaiserliche Stadt‹ (libera civitas imperialis). Im Hinblick auf den Stadtherrn wurde eine Reichsstadt gelegentlich noch im 15. Jahrhundert als königliche oder kaiserliche Stadt bezeichnet. Im Osnabrücker Friedensinstrument (§29) des Westfälischen Friedens von 1648 erscheinen die reichsunmittelbaren Städte als ›freie Städte des Reichs‹ (liberae imperii civitates) mit der Zuordnung zu dem übergreifenden, politische Rechte beinhaltenden Begriff der ›Reichsstände‹ (status imperii), aber getrennt von der Kategorie der fürstlichen ›höheren Reichsstände‹ (status imperii superiores). Der Begriff »Territorialstadt« ist bezogen auf das Spätmittelalter lediglich ein – zudem ungenauer – wissenschaftlicher Ordnungsbegriff. Gleiches gilt für die Bezeichnungen »Landstadt«, »landesherrliche Stadt« oder »landsässige Stadt«, doch gibt es keine besseren. Die Bezeichnungen Freie Stadt und Reichsstadt sind Quellenbegriffe, doch wird der seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts als feststehender Begriff erscheinende Ausdruck Reichsstadt (civitas imperii) für sich allein selten gebraucht. Der König und seine Kanzlei verwenden die Bezeichnung unsere und des Reiches Stadt (nostra et imperii civitas), die sowohl die königliche Stadtherrschaft als auch die Zugehörigkeit der Stadt zum Reich ausdrückt. Reichsstädte und Land- oder Territorialstädte unterscheiden sich in ihren Grundstrukturen kaum. Der Stadtherr ist der Vogt der Stadt, d. h. ihr Schutz- und Gerichtsherr, dem sie huldigt, die jährliche Stadtsteuer entrichtet und darüber hinaus noch zu Rat und Hilfe verp ichtet ist. Der Stadtherr kann die Stadt oder einzelne Ämter und Rechte verpfänden. Gemeinsam ist den beiden Stadttypen, dass sie das Privilegium de non evocando erwerben, ein städtisches Territorium aufbauen und Bündnisse schließen können. Beide haben einen Rat und

Stadtherrschaft, Stadttypus und politische Autonomie 283

kennen Zunftbewegungen. Unterschiede liegen eher in graduell unterschiedlichen Ausprägungen einzelner Institute und Sachverhalte, wobei der Größe der Stadt eine erhebliche Bedeutung zukommt und alle abgestuft entwickelten Elemente zusammen betrachtet doch eine verschiedene Qualität ergeben. Verschieden ist im Allgemeinen die Entwicklung der städtischen Autonomie, die bei vielen Territorialstädten am Ausgang des Mittelalters bereits wieder zurückgenommen wird. Dadurch wurden die Territorialstädte in die landesherrliche Gesetzgebung mit ihren Landesordnungen und in die landesherrliche Jurisdiktion und Gerichtsverfassung eingebunden. Reichsstädte, durchaus nicht alle, treten auf Hof- und Reichstagen auf, Territorialstädte auf landständischen Versammlungen. Reichsstädte sind hier vorgegangen, doch haben einige Territorialstädte im Rahmen der landständischen Verfassung eine bedeutendere politische Rolle zu spielen vermocht als dies den Reichsstädten im Rahmen der Reichsverfassung möglich gewesen ist. Bei aller Gleichheit struktureller Merkmale führen doch die königliche Stadtherrschaft und die darauf gegründete Reichsunmittelbarkeit die Reichsstädte, bedingt auch die Freien Städte, in eine andere übergreifende und übergeordnete Verfassungsordnung, in ein anderes politisches Bezugssystem und in andere Handlungszusammenhänge, als es hinsichtlich der Territorialstädte und ihres territorialen Bezugsrahmens der Fall ist. Durch ihre Reichsunmittelbarkeit, die sie teilweise mit hohen Aufwendungen für ihre Verteidigung gegen ausgreifende Territorialherren zu wahren hatten, waren die Reichsstädte von reichspolitischen Problemen und Krisen wie Interregnum, ronstreitigkeiten, kirchenpolitischen Fragen, den Bemühungen um einen Reichsfrieden, Reichshilfen gegen auswärtige Feinde und dem belastenden Dauerproblem des Türkenkrieges und der Türkensteuern in viel unmittelbarer Weise betroffen. Andererseits elen für die Reichsstädte, die mit der Erosion und Au ösung des umge-

benden Reichslandes insulare Existenzen wurden, bestimmte Verwaltungs- und Raumordnungsfunktionen weg, die für viele Territorialstädte spezi sch sind. Schließlich gibt es im Norden bedeutende Städte wie Hamburg, Bremen, Braunschweig, Lüneburg, Erfurt, Magdeburg, Wismar oder Rostock, die nicht wie Lübeck, Goslar und Dortmund Reichsstädte waren, sich aber auch nicht in den Bezugsrahmen des Territoriums einfügen ließen, sondern eine außerordentliche Selbständigkeit beanspruchen konnten. Beispiel für eine Zwischenstellung ist Bremen, das sich zwischen dem bischö ichen Stadtherrn und dem Reich bewegte, im 15. Jahrhundert manchmal Ladungen zum Reichstag nachkam und im Einzelfall (1474/75) Reichshilfe leistete, ohne jedoch eindeutig nach einer gefestigten Reichsstandschaft, d. h. der Zugehörigkeit zum Reichstag mit Sitz und Stimme, zu streben, die eine kontinuierliche Übernahme von nanziellen Lasten des Reichs bedeutet hätte. Wie Hamburg wurde auch Bremen erst im 17. Jahrhundert durch kaiserliches Privileg formell zur Reichsstadt erklärt. Nicht nur Freie Städte und Reichsstädte, sondern etwa auch Hansestädte des königsfernen Ostseeraums, die Kommunen selbst, städtische Räte und Bürger, wandten sich nachweislich vor allem im 15. Jahrhundert an den König nicht in dessen Eigenschaft als des Stadtherrn, sondern des Reichsoberhaupts und obersten Richters. Sie suchten in Rechtsstreitigkeiten den Königshof mit dem Hofgericht und späteren Kammergericht auf, erhielten wegen der geograschen Ferne jedoch weit häu ger vom König einen örtlich näheren kommissarischen Richter im Wege der delegierten Gerichtsbarkeit zugewiesen, wurden aber auch wegen Verletzung von Reichsrecht, Landfriedensbruch, Bruch des Stadtfriedens und gewaltsamen Umsturzes in der Stadt vor das königliche Gericht zitiert.⁴⁹⁴ Alle Städte − mit Ausnahme der von der ehemals bischö ichen Stadtherrschaft völlig oder überwiegend emanzipierten Städte, der Freien

494 B. D, Königsferne Regionen und Königsgerichtsbarkeit.

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Bischofsstädte, Freie Städte, Reichsstädte – Landstädte

Städte − hatten grundsätzlich einen unmittelbaren Stadtherrn, dem bei Herrschaftsantritt nach seiner ersten feierlichen Einholung und seinem Einzug (adventus) in die Stadt durch Repräsentanten der Kommune der Huldigungseid geschworen wurde, mit dem, gelegentlich nur bedingungsweise, Treue und Gehorsam versprochen wurde.⁴⁹⁵ Es gab zwar weitgehend autonome und sich selbst regierende und verwaltende Städte wie etwa die Reichsstädte oder bedeutende Territorialstädte, aber diese Städte waren nicht souverän, sondern erkannten einen Oberen an, waren nach der Ausdrucksweise der mittelalterlichen Juristen superiorem recognoscentes. Sie blieben einem grundsätzlichen, insbesondere bei innerstädtischen Kon ikten wahrgenommenen Interventionsrecht sowie einem generellen Aufsichtsrecht des Stadtherrn ‒ in dessen Eigenschaft als Erbherr (dominus haereditarius) oder hinsichtlich der Freien Städte des Königs in seiner Eigenschaft als des Reichsoberhauptes – ausgesetzt. Parteien in der Stadt riefen in inneren Kon ikten den Stadtherrn auch als Schiedsrichter (arbiter) an. Während der Ausdruck »Freie Städte« als verfassungsgeschichtlich engerer Begriff die vom Stadtherrn emanzipierten ehemaligen Bischofsstädte meint, gibt es daneben in seltenen Fällen die allgemeinere und nicht wirklich klassi katorische Bezeichnung der libera civitas, die sich an einer unbestimmten Qualität der vom Stadtherrn erteilten städtischen Freiheiten und

Privilegien oder an einem unbestimmten hohen Freiheitsstatus orientiert.⁴⁹⁶ Territorialstädte vor allem im niederdeutschen Bereich konnten im Mittelalter eine den Freien Städten oder den Reichsstädten durchaus vergleichbare Autonomie genießen. Für sie wird gelegentlich zur Typisierung der Hilfsbegriff »Autonomiestädte« gebraucht. Als Militärund Verwaltungsstützpunkte (Amtsstädte) oder fürstliche Residenzen blieben aber viele Territorialstädte stärker herrschaftlich gebunden, entwickelten keine autonome eigene Ratsgerichtsbarkeit neben dem stadtherrlichen Gericht, wurden in die Verwaltungseinteilung des Landes in Ämter eingefügt und vor allem mit indirekten Steuern zugunsten des Landesherrn belegt, oder sie gerieten nach einer Periode weitgehender Autonomie durch die Territorial- und Staatsbildung energischer Landesherren seit der Wende vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit unter die verstärkte Aufsicht und Vormundschaft der landesherrlichen Regierung, sodass die Räte mehr oder weniger zu Befehlsempfängern und Amtleuten des Fürsten wurden.⁴⁹⁷ Dabei kam es vor, dass Städte, wie Konstanz nach seiner Mediatisierung durch die österreichische Landesherrschaft im Jahre 1546, ihre Gemeindeversammlung verloren⁴⁹⁸, ihre politische Stellung auf den Landtagen einbüßten, teilweise unter militärischem Einsatz unterworfen wurden und ihr Recht nunmehr vom stadtherrlichen Fürsten nehmen mussten. Die

495 W. R (Hg.), Stadt und Stadtherr im 14. Jahrhundert; A. N, Königseinritt; G. J. S, Zeremoniell und Politik; P. J/A. L (Hg.), Adventus. Zur nur bedingungsweisen Huldigung der Braunschweiger Bürger siehe F. K, Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 401, S. 499 (1279), Nr. 402, S. 499 f. (1345). 496 Als Herzog Wilhelm von Lüneburg 1209 die Stadt Löwenstadt (Bleckede) gründete, übertrug er ihr ein solches jus libertatis […] quale libere civitates habere solent, quale etiam Bardewig, dum esset in statu suo, dinoscitur habuisse. B. D (Hg.), Quellensammlung zur Frühgeschichte der deutschen Stadt (Einleitung), S. 176, Nr. 109. Weil Braunschweig ›durch die Güte Gottes eine freie Stadt‹ sei, sollte die Stadt den Herzögen durch die Huldigung nur unter der Bedingung verp ichtet sein, dass diese die Bürger belehnten, Stadt und Bürger bei ihrem Recht und ihrer Gewohnheit beließen und ihnen gnädig gesonnen waren. F. K, Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 402, S. 500. Siehe auch Felix Fabris Bezeichnung der Reichsstadt Ulm als libera civitas imperialis (1.1). 497 H. J. Q, Die Unterwerfung der Stadt Braunschweig im Jahre 1671; K. F, Der Kampf der Stadt Lüneburg mit ihren Landesherren; K. E, Stadtfreiheit und Landesherrschaft in Koblenz; J. T/K. A (Hg.), Landesherrliche Städte in Südwestdeutschland; L. W-S, Von der autonomen zur beauftragten Selbstverwaltung; G. D, Bürgerrecht und Stadtverfassung (2.0), S. 358–369; R. H, Der Magistrat als Befehlsempfänger; H. S, Die Stadt in der Frühen Neuzeit, S. 72–80. 498 P. M, Die Verfassung und Verwaltung der Stadt Konstanz im 16. Jahrhundert, S. 39–41.

Stadtherrschaft, Stadttypus und politische Autonomie 285

Selbstregierung und Selbstverwaltung durch einen Rat, der sich durchaus auch in diesen Städten als abgehobene Obrigkeit verstand, wurde von einer weitgehend autonomen und als eigenrechtlich aufgefassten Befugnis in eine beauftragte Selbstverwaltung umgewandelt, der Rat verlor die herrschaftlichen Elemente der Rechtsetzung und Jurisdiktion. Der Stadtherr, dessen Herrschaft durch die Kommunalisierung des Stadtregiments reduziert worden war, baute seine verbliebenen, teilweise nur virtuellen Vorbehalts- und Interventionsrechte wieder zu einer Stadtherrschaft aus, die nunmehr von der landesherrschaftlichen Regierungszentrale aus amtsrechtlich und bürokratisch organisiert wurde. Verfassungsrechtlich wurde der Rat unter die landesherrliche Obrigkeit mediatisiert; er besaß im Hinblick auf den landesherrlichen Souverän nur noch eine delegierte Gewalt und Amtmann und Schultheiß waren, wie dies im Spätmittelalter bereits in der römischrechtlichen Konzeption des Nikolaus Wurm in dessen »Liegnitzer Stadtrechtsbuch« deutlich wird, nichts anderes als Vertreter des Landesherrn und Stadtherrn. Eine lediglich delegierte Gewalt besaßen auch die Reichsstädte⁴⁹⁹, doch wurden sie nicht einer generellen und behördlich organisierten Herrschaft des Königs unterworfen. Die landesherrlichen, bischö ichen oder adeligen Städte der österreichischen Territorien kannten »keine revolutionäre Phase der kommunalen Entwicklung«, sondern »unterstanden einer festgefügten Herrschaft, die weitgehend den Grad ihrer Autonomie bestimmte«. Es »fehlte eine konsequente kommunale Autonomiebewegung mit dem Ziel der Abschüttelung der herzoglichen (oder bischö ichen) Stadtherrschaft schon zufolge der frühen Festigung der landesherrlichen Gewalt, der geringeren Größe der Städte sowie des Mangels an ökonomischen Potenzial. Wenn es auch in Wien ver-

schiedentlich zu Kämpfen zwischen Bürgertum und Stadtherrn kam, so entsprangen sie aktuellen politischen Anlässen, insbesondere – wie aufbrechende soziale Gegensätze innerhalb der Bürgerschaft – dynastischen Erbstreitigkeiten, und waren nicht von grundsätzlicher Natur wie etwa in rheinischen Bischofsstädten.«⁵⁰⁰ 3.1.2 Autonomie und Autokephalie Sucht man nach zeitgenössischen Quellenbegriffen, die dem wissenschaftlichen Ordnungsbegriff der »Autonomie«, der in der Regel eigene Rechtsetzung (Autonomie) und Selbstverwaltung oder Selbstregierung (Autokephalie) umfasst, nahekommen oder ihn zu umschreiben vermögen, so ndet man sie vor allem seit dem 15. Jahrhundert bezogen auch auf Städte in den Begriffsfeldern von Rechtsmacht, Herrschaft und Obrigkeit. Es handelt sich überwiegend um Übersetzungslehnwörter aus der Begriffswelt des römisch-kanonischen Rechts und der Rechtswissenschaft, die von gelehrten Stadtschreibern, Syndici und Ratskonsulenten gebraucht, auch zur Beanspruchung städtischer Autonomie geradezu propagiert werden. Im Einzelnen sind es die Begriffe Macht, Gewalt und Gewaltsamkeit (gewaltsami) im Sinne von Rechtsmacht (potestas) und Verfügungsgewalt (dominium), der von der Rechtswissenschaft entfaltete Begriff des merum et mixtum imperium, d. h. der mit der Strafgewalt verbundenen, die Gesetzgebungskompetenz einschließenden herrschaftlichen Vollgewalt, die auch im Begriff der iurisdictio zum Ausdruck gebracht werden kann, ferner der besitz- und eigentumsrechtliche Begriff des dominium mit dem Übersetzungslehnwort Herrlichkeit als Steigerung von »Herrschaft«, der Begriff des ius magistratus und der Begriff Oberkeit (superioritas).⁵⁰¹ Diese Begriffe werden in erster Linie dem handlungsfähigen Rat zugeordnet.

499 E. I, »Plenitudo potestatis« und Delegation (4.1). 500 H. K, Die österreichische Stadt im Spätmittelalter, S. 189, 196, 195–202. 501 Mit weiteren Quellenbelegen und Literaturhinweisen F. E, Rechtsgeschichtliche Anmerkungen zum Stanser Verkommnis von 1481, S. 157 ff.; E. I, Reichsrecht und Reichsverfassung in Konsilien reichsstädtischer Juristen (4.4), S. 570 ff.; ., Città di Germania.

286

Bischofsstädte, Freie Städte, Reichsstädte – Landstädte

Die Reformation im Reich rief die Frage hervor, ob das Reformationsrecht (ius reformandi) – und damit eine Kompetenzerweiterung über das spätmittelalterliche ratsherrliche Kirchenregiment hinaus – außer den Landesherren auch den Freien und Reichsstädten zukomme, während die Territorialstädte dem ius reformandi und dem Prinzip des cuius regio eius religio des Landesherrn ausgesetzt waren. Doch einige Territorialstädte konnten bis weit ins 17. Jahrhundert ihre kirchliche und konfessionelle Eigenständigkeit bewahren. Das im Augsburger Religionsfrieden von 1555 xierte ius reformandi der Landesherren schwächte jedoch die Position der Landstädte und gab den Landesherren die Handhabe, die Städte im Zuge der Konfessionalisierung noch nachhaltiger ihrer Herrschaft zu unterwerfen. Den Hansestädten und den mit ihnen verbündeten protestantischen Fürsten gelang es in Augsburg nicht, in den Frieden einen Artikel bezüglich der Hansestädte zu inserieren, der Städte wie Münster, Osnabrück oder Paderborn vor der Unterwerfung unter ihre katholischen Landesherren hätte schützen können. Anders sah es bei den Freien Städten und Reichsstädten aus. Bereits 1533 beanspruchte ein Straßburger Stadtadvokat mit Blick auf das ius reformandi für die Stadtobrigkeit eine ins Mittelalter zurückgehende Rechtsparömie – rex est imperator in regno [territorio] suo – aufnehmend eine kaisergleiche Herrschaftsgewalt des Rats im Stadtgebiet: Was nun der Kaiser zethun hat im Reich, das hat ain yede Oberkait nach mas yres gewalts auch macht in yrem territorio oder gebiet. Die mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 aufgeworfene Frage des reichsstädtischen ius reformandi ließ erneut die grundsätzliche Frage der obrigkeitlichen Qualität der Ratsherrschaft virulent werden. Die Freien- und Reichsstädte erhoben den Anspruch, auch als ›die geringsten Stände des hl. Reichs‹ gleich wie die übrigen Reichsstände ›des Friedstands fähig‹, d. h. als Rechtssubjekte

in den Augsburger Religionsfrieden einbezogen zu sein und auch künftig wie die höheren Stände das ius reformandi ausüben zu können. Im Frieden selbst war nur der Status der bikonfessionellen Reichsstädte festgeschrieben worden. König Ferdinand hingegen vertrat die – in Nürnberg schon früher geäußerte – Auffassung, dass die Stadträte keine selbständigen Obrigkeiten zwischen dem König und der Bürgerschaft darstellten, sondern die Bürger ihm unmittelbar unterworfen seien. Für die Tübinger Juristenfakultät war jedoch die Stadt Ulm einem Gutachten von 1571 im Zusammenhang mit dem Reformationsrecht zufolge eine selbmechtige, d. h. autonom handlungsfähige, Kommune.⁵⁰² Im Westfälischen Frieden von 1648 (IPO § 29) wurden die reichsunmittelbaren Städte zu den Reichsständen gezählt, und es wurde ihnen förmlich ein ius reformandi zugebilligt. Angesichts des Stadtherrn waren auch die tatsächlich autonomen Städte im Mittelalter nicht völlig autonom, geschweige denn souverän. Die Freien Städte waren es nicht, weil teilweise stadtherrschaftliche Relikte fortbestanden und sie der Reichsgewalt des Königs unterstanden. Die Autonomie der Städte war im Einzelfall unterschiedlich stark ausgeprägt, teilweise eingeschränkt und rechtlich prekär; sie wurde verschiedentlich zurückgenommen, wenn sich die Stadt nicht erfolgreich politisch-militärisch behaupten konnte. Konstitutive Merkmale einer rechtlichpolitischen Autonomie der Stadt sind:⁵⁰³ – als Grundlage die Existenz einer rechtlichpolitischen Bürgergemeinde und der Korporationscharakter der von Bürgermeister und Rat vertretenen Stadt, d. h. deren Rechts-, Handlungs-, Delikts- und Verp ichtungsfähigkeit; – eine eigene Rechtsetzungsgewalt (Satzungsrecht); – der eigene Friedens-, Rechts- und Gerichtsbezirk (mit Geleitshoheit);

502 E. I, Zur Frage der Reichsstandschaft der Frei- und Reichsstädte, S. 100–102. Siehe auch 4.1.1.1. 503 Siehe auch 1.2.2.4. H. S, Mittelalterliche Stadtfreiheit (2.1–2.4); H. W, Die Stadt der Städtehanse, S. 38; E. E, Zur Autonomie der brandenburgischen Hansestädte im Mittelalter, S. 45–49.

Bischofsstädte und Freie Städte 287

– eigene Gerichtsinstanzen und Verwaltungsbehörden; – die Herrschaft über Gebiet (Stadtraum, Stadtmark, Landgebiet) und Bewohner; – weitgehende Finanz- und Steuerhoheit mit Münz- und Zollrecht; – weitgehende Wehrhoheit mit Mauerbau, Bürgeraufgebot, Fehderecht; – die Fähigkeit, Verträge und Bündnisse zu schließen, d. h. äußere Politik zu betreiben; – politische Standschaft mit Sitz und Stimme auf Land- oder Reichstagen; – die Inanspruchnahme eines Widerstandsrechts gegen rechtswidriges Handeln des Stadtherrn.

3.2 Bischofsstädte und Freie Städte 3.2.1 Bischofsstädte Der Ausdruck civitas für Stadt meint in der Frühzeit die alte Bischofsstadt mit römischer Tradition, deren sich ausbildende bürgerliche Gemeinde Trägerin der ersten Autonomiebestrebungen gegen den Stadtherrn war. Der Bischofssitz war seit der Spätantike kirchenrechtlich an eine möglichst bevölkerungsreiche civitas gebunden, sodass die Bischofsstadt ein Residenzort mit mehrgliedrigem bischö ichem Hof war. Kern der Bischofsstadt war die ummauerte Domburg mit Bischofskirche, Bischofspfalz und Kapitelgebäude, an die sich ein Markt und sakraltopogra sch eine Vielfalt an Kirchen mit Anlage zu einem strahlenförmig ausgehenden Kirchenkranz oder in kreuz- oder linienförmiger Anordnung anschlossen. Die Besonderheit der Bischofsstadt besteht darin, dass ihr Stadtherr die geistliche Jurisdiktionsgewalt und die weltliche Herrschaftsgewalt miteinander vereinigte. In den alten Städten wurden die bürgerliche Freiheit und Rechtsgleichheit in einem Emanzipationsvorgang erlangt, der sich vom 12. bis ins 13. Jahrhundert hinein erstreckte. Vor und

in dieser Zeit veränderte sich vielfach auch der bauliche Zustand dieser Städte durch kirchliche Baumaßnahmen, Stifts- und Domkirchen sowie den Mauerbau der bischö ichen Stadtherren. Deren Position in der Stadt wurde in der Zeit der Ottonen und der frühen Salier nachhaltig gestärkt, um sie in die Lage zu versetzen, die den Bischöfen zugedachten Aufgaben im Rahmen der Königsherrschaft und Reichspolitik bis hin zu militärischen wahrzunehmen. Der König übereignete dem Bischof mit Markt, Münze und Zoll eine Reihe von Regalien, die diesem wirtschaftliche Einnahmen und Aufsichtsrechte einbrachten. Ferner übertrug er dem Bischof die Grafenrechte in der Stadt, sodass die Stadt aus dem älteren, noch Stadt und Land umfassenden Gerichtsbezirk ausgegliedert wurde und nunmehr in Fällen der Hochgerichtsbarkeit allein dem bischö ichen Stadtherrn unterstellt war. Die Hochgerichtsbarkeit musste jedoch von einem Vogt ausgeübt werden, dem der König die dazu erforderlichen Bannrechte verlieh. Schließlich zog der Bischof auch die Wehrund Befestigungshoheit an sich. Die Konzentration dieser Rechte in der Hand des Bischofs trug dazu bei, Stadt und Land noch stärker wirtschaftlich, rechtlich und militärisch zu sondern. Alle Amtsgewalten (magistratus) in der Stadt waren in einer Devolutionskette von den großen Ämtern hinab zu den kleinen von der Gewalt (potestas) des Bischofs abgeleitet, wie es das erste Straßburger Stadtrecht vom Ende des 12. Jahrhunderts geltend macht. Kaiser Friedrich II. hielt aber 1232 auf dem Hoftag zu Aquileja daran fest, dass die Stadtherrschaft des Bischofs und der vom Bischof eingesetzten Amtleute nicht völlig eigenberechtigt war, sondern die Leitung (ordinatio) hinsichtlich der Stadt und aller ihre Güter vom Kaiser als übertragen und damit abgeleitet zu gelten hatte, dass der Bischof seine stadtherrlichen Rechte kaiserlichen Privilegien (libertates) und freiwilligen Verleihungen oder Geschenken (dona) verdankte.⁵⁰⁴ Die originäre Position des Kö-

504 L. W, Quellen zur deutschen Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis 1250 (Einleitung), Nr. 113, S. 430.

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Bischofsstädte, Freie Städte, Reichsstädte – Landstädte

nigs und Kaisers und die für geistliche Herren erforderliche weltlich-königliche Vogtei führten dazu, dass der König verschiedentlich mit dem Bischof mehr oder weniger erfolgreich um die Stadtherrschaft konkurrierte, eine Mitherrschaft beanspruchte oder einzelne Bischofsstädte zu Reichsstädten machte. Außerdem konnte das Domkapitel mit seiner starken Stellung neben dem Bischof, der verschiedentlich an eine Wahlkapitulation gebunden wurde, eine Mitherrschaft ausüben. Die Bürgerschaft erwuchs aus der hofrechtlichen Hausgenossenschaft (familia) des Bischofs mit Arbeits-, Dienst- und Zinsp ichtigen (Zensuale) und unfreien, aber als Ritter (miles) in den niederen Adel aufsteigenden Ministerialen, die sich aus dem hofrechtlichen Verband lösten, der Ansiedlung freier Kau eute und dem für das Städtewachstum unentbehrlichen Zuzug von weiteren Gewerbetreibenden, ferner von einigen Adligen und von unfreien grundherrschaftlichen Hintersassen vornehmlich aus dem Umland. Einblick in eine bischöfliche Hausgenossenschaft mit den abgestuften Formen des personenrechtlichen Status der Zugehörigen, den Abgaben und Diensten sowie den eigenen strafrechtlichen, besitz-, familien-, erb- und schuldrechtlichen Regelungen gewährt das Hofrecht des Bischofs Burchard von Worms von 1024/25.⁵⁰⁵ Der Bischof erst soll die Stadt ›verschönert und vergrößert‹, ihr urbanen Charakter verliehen haben. Dem Verfasser der »Vita Burchardi« zufolge soll der Bischof bei seinem Amts- und Herrschaftsantritt im Jahre 1000 die Stadt in einem völlig desolaten Zustand angetroffen haben: ›Er fand sie verwüstet und fast verödet. Nicht mehr zu menschlichen Wohnungen, sondern als Schlupfwinkel wilder Tiere und besonders der Wölfe war sie geeignet.‹ In Worms gab es jedoch nicht nur die große familia des Bischofs, sondern mindestens neun Hofrechtsverbände der Klöster und Großkirchen. Es war ein weiter Weg, der von den rechtlich gestuften Hörigenverbänden der Wormser Kirchen zu

505 Ebd., Nr. 23, S. 88–104. 506 Siehe 5.2.

grundsätzlich freien Stadtbewohnern mit einem für alle geltenden bürgerlichen Recht führte. Die Formierung der Bürgerschaft und die bürgerliche Emanzipationsbewegung ging von reichen ein ussreichen Familien und kleineren Personenverbänden aus, bevor sie in größere Schwureinungen mündete, die wie Zünfte und bürgerschaftliche Ratskollegien auf Betreiben der bischö ichen Stadtherren zunächst verboten wurden. Bürger (cives) suchten zunächst durchaus die Nähe zum Bischof, indem sie Lehen und bischö iche Dienstämter übernahmen, in das bischö iche Schöffengericht eintraten oder dem Kreis der Münzerhausgenossen angehörten. Die bürgerlichen Autonomiebestrebungen erwuchsen aus einer wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit, aus der Herausbildung einer eigenen Interessenlage und aus fortlaufenden Machtkompromissen mit der bischö ichen Seite; sie wurden in einzelnen Fällen durch Konfrontationen bis hin zu militärischen Auseinandersetzungen vorangetrieben oder entschieden. Zu frühen Kon ikten zwischen der entstehenden Stadtgemeinde und dem Stadtherrn kam es in Cambrai (1076/77), Worms (1073), Köln (1074) und Mainz (1077), während etwa die Bischofsstädte des östlichen Sachsens keine zu verzeichnen hatten. Eine bedeutende Rolle spielten die Auseinandersetzungen zwischen Königen und Päpsten sowie die vom Hochmittelalter (1198‒1215) bis ins späte Mittelalter hineinreichenden Rivalitäten um den Königsthron, wobei die Streitparteien die Bürgerschaften durch Privilegienerteilung für ihre Seite zu gewinnen suchten. Hatte sich eine Bürgergemeinde mit Leitungsgremien formiert, so entstanden durch den weiteren Ausbau der Stadt gemeinsame bürgerliche Lasten und entwickelte sich ein Gemeinwohlverständnis, dem der fortschreitende Grundbesitzerwerb des Klerus und dessen Wirtschaftstätigkeit verbunden mit der beanspruchten Steuerfreiheit als eine massive Beeinträchtigung der eigenen Lebensinteressen erschien.⁵⁰⁶

Bischofsstädte und Freie Städte 289

Der Dom war während der Formierung der Stadtgemeinde und darüber hinaus in einer Stadt wie Worms Zentrum geistlicher, aber auch weltlich-kommunaler Handlungen. Nicht nur sollten auf dem öffentlichen Platz einer geweihten Kirche (Domvorhof ) nach kanonischem Recht seit dem 12. Jahrhundert die Ehen geschlossen werden und wurde im Domvorplatz öffentlich das bischö iche Gericht gehalten; dort und im Innern des Doms fanden auch Versammlungen der Bürger und Ratswahlen statt und wurden Verträge beschworen. Die Glocke des Doms rief Versammlungen der Bürger zusammen und diente als Sturmglocke. Die bedeutenden kaiserlichen Privilegien, die 1111 in Speyer und 1184 in Worms Elemente personenrechtlicher Unfreiheit beseitigten und den Rechtsstatus der Bewohner anglichen, wurden in beiden Städten in Inschriften an Domportalen angebracht. In Mainz ließ Erzbischof Adalbert I. den Text eines Gerichts- und Steuerprivilegs, das er 1135 erneuerte, marktseitig am Dom anbringen, und an der Fassade des Trierer Doms wurden in einer Inschrift aus den 1140er Jahren Zollsätze im Handel mit Köln festgehalten. In Worms verlagerte sich das öffentliche kommunale Geschehen erst angesichts ständiger Kon ikte zwischen Geistlichkeit und Rat gegen 1400 vom Dombezirk zum Bürgerhof hin. Meist nur noch Ratssitzungen mit Wahlen und Einführung von Amtsträgern, oder wenn der Bischof im Rat saß, wurden wie herkömmlich im Saal des Bischofshofes abgehalten, die anderen fanden im Bürgerhof statt, der ansonsten Ort von Beratung und Beschlussfassung wurde. Am Ende des 15. Jahrhunderts wurden eigenmächtig auch die Ratsbesetzung in die neue Münze und das Hochgericht vom Bischofshof in das Rathaus verlegt.⁵⁰⁷

3.2.2 Freie Städte 3.2.2.1 Von der Bischofsstadt zur Freien Stadt Als Bischofsstädte, die sich weitgehend von der bischö ichen Stadtherrschaft emanzipiert hatten, konnten sich die Freien Städte⁵⁰⁸ frei nennen, weil sie keinen unmittelbaren Stadtherrn über sich hatten oder anerkannten, unmittelbar dem Reich zugehörten, aber nach ihrer Auffassung König und Reich nur eingeschränkt verp ichtet waren. Die Beziehungen zu König und Reich manifestierten sich in königlichen Privilegien und Bestätigungen der städtischen Rechte und Gewohnheiten sowie in einigen Fällen in Huldigungs- und Treueiden, die dem König geleistet wurden. Die Emanzipationsprozesse blieben über längere Zeiträume hinweg insoweit unvollständig, als Bischöfe noch nominelle Bestätigungsrechte beanspruchten, und insoweit rechtlich prekär, als sie die kommunale Autonomie nicht anerkannten, sondern formell auf der Stadtherrschaft bestanden und die Huldigung von Rat und Bürgerschaft verlangten. Die Stadt Basel lavierte zwischen Bischof und König und versuchte sich Freiräume zu verschaffen, indem sie sich gegenüber dem einen jeweils auf die Rechte des anderen berief. Während dem Straßburger Bischof seit 1263 keinerlei Bestätigungsrechte mehr blieben, setzte in Basel bis 1521 der Bischof formell die Häupter (Bürgermeister und Oberstzunftmeister) und den Rat ein. Der Kölner Erzbischof betrachtete das Hohe Gericht der Schöffen, das Stadtgericht, weiterhin als von seiner Gerichtsgewalt abgeleitet, und zwar auch nach der kaiserlichen Feststellung der Reichsunmittelbarkeit Kölns im Jahre 1475. Dramatische Etappen zur Befreiung von der Stadtherrschaft waren siegreiche militärische Auseinandersetzungen wie die der Straßburger in einer Koalition mit dem Grafen Rudolf von

507 G. B, Dom und Stadt. 508 A. M. E, Untersuchungen über die Frage der Frei- und Reichsstädte; J. S, Zur verfassungsgeschichtlichen Stellung von Reichsstadt, Territorialstadt und freier Stadt; G. M, Bischofsstadt und Reichsstadt; ., Zur Problematik des Terminus »freie Stadt«, S. 84–94; E. I, Reichsstadt und Reich, S. 20–31, 190–201 (mit Quellenbelegen); P. M, Zur Verfassungsposition der Freien Städte, S. 11–39.

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Bischofsstädte, Freie Städte, Reichsstädte – Landstädte

Habsburg gegen den Bischof Walter von Geroldseck bei Hausbergen 1262 und die der Kölner beginnend mit dem kurzfristig erfolgreichen Aufstand gegen Erzbischof Anno II. (1074) bis hin zu den Schlachten an der Ulrepforte (1268), als der Erzbischof Engelberg von Falkenburg die Stadt zurückerobern wollte, und von Worringen (1288) im Zusammenhang mit dem limburgischen Erbfolgestreit. Die Kölner engagierten sich 1288 mit einem Aufgebot in einer niederrheinischen territorialpolitischen Koalition an der Seite des Herzogs Johann von Brabant gegen den Erzbischof Siegfried von Westerburg, der als Anhänger des Luxemburger Grafenhauses in Gefangenschaft geriet. Über Köln wurde 1290 das Interdikt verhängt, weil die Kölner Bürger, die ›mächtig geworden seien‹ und daher ›keinen Herrn über sich ertragen‹ wollten, sich weigerten, eine Buße von 200 000 Mark zu zahlen, die eine päpstliche Kommission unter Leitung der Erzbischöfe von Mainz und Trier verhängt hatte. Erst der nachfolgende Erzbischof Wikbold von Holte hob 1298 nach einem Vergleich mit der Stadt das Interdikt auf bestätigte die Kölner Privilegien, während die Kölner in einem noch im 15. Jahrhundert üblichen Huldigungseid ›als freie Bürger von Köln‹ dem Erzbischof ›als ihrem Herrn‹ Treue gelobten. Nach derartigen Auseinandersetzungen folgte die vorübergehende oder de nitive Vertreibung der Stadtherren aus der Stadt. Die Bürgerschaft der Stadt Metz konnte ihre erreichte Autonomie mit der Hilfe adliger Bündnispartner im Krieg mit dem Bischof (1307–1309) und ihre Erwerbungen im Umland zu Beginn des 14. Jahrhunderts im Vierherrenkrieg (1324–1326) behaupten und zur Freien Stadt aufsteigen, während das benachbarte Trier stärker in bischö icher Hand blieb, aber in der Reichsmatrikel des 15. Jahrhunderts geführt wurde und schließlich als bischö iche Territorialstadt endete. Im Zuge der Auseinandersetzungen musste der Erzbischof von Köln seinen Sitz

nach Bonn verlagern, der Straßburger Bischof nach Zabern, der Basler nach Pruntrut und der Metzer nach Vic ausweichen. Die Würzburger unterlagen hingegen im Jahre 1400 in der Schlacht von Bergtheim gegen den Bischof, auf dessen Seite der größte Teil des fränkischen Adels focht. Das siegreiche bischö iche Heer hatte der Dompropst Johann von Egloffstein angeführt, der wenig später Bischof wurde. Der bürgerschaftliche Rat der Stadt (Niederer Rat) blieb wegen der die Zukunft bestimmenden Niederlage in seiner Handlungsfähigkeit im Gegensatz zu den Räten der emanzipierten rheinischen Bischofsstädte äußerst eingeschränkt und stand unter der Dominanz von Bischof, Domkapitel und bischö ichem Rat (Oberer Rat); die Zünfte bildeten keine politischen Korporationen mehr, sondern nur noch Handwerkervereinigungen.⁵⁰⁹ Andere Schritte zur Klärung der Verhältnisse waren Verhandlungen und Schiedsurteile wie zunächst der Kleine Schied der Kölner (Schöffen und Bürger) mit dem Erzbischof Konrad von Hochstaden von 1252 in Münz- und Zollangelegenheiten.⁵¹⁰ Er kam unter Mitwirkung eines päpstlichen Legaten und des gelehrten Dominikaners Albertus Magnus zustande und wurde von Papst Innocenz IV. bestätigt. Nachdem der Erzbischof bereits 1257 wieder den Kampf aufgenommen hatte, aber 1258 in einem Treffen bei Frechen unterlegen war, folgte bereits 1258 der Große Schied⁵¹¹, der wiederum den Lesemeister Albertus als Schiedsmann nennt. Dieser umfasst 53 Artikel, die auf 53 Klagen des Erzbischof und 21 der städtischen Seite beruhen und eine 1,77 Meter lange Urkunde füllen. Der Erzbischof, der sich als ›höchsten Richter sowohl in geistlichen als auch in weltlichen Sachen‹ (summus iudex tam spiritualium quam temporalium) und ›höchsten Richter und Herrn (dominus) der Stadt Köln‹ bezeichnet, beschuldigt die von den Geschlechtern beherrschten Gremien, das Schöffenkollegium und die

509 H. H (Hg.), Würzburger Polizeisätze (2.2.–2.4), Nr. 9, 107, 299a , vgl. S. 7; D. W, Bischö iche Stadtherrschaft und bürgerliches Ratsregiment. Siehe auch 2.4.2. 510 D. S, 750 Jahre Kleiner Schied. 511 D. S, Der Große Schied von 1258.

Bischofsstädte und Freie Städte 291

Richerzeche als dominante Institutionen der bürgerlichen Selbstregierung massiv der Korruption und der eigenmächtigen, willkürlichen Unterdrückung und Ausbeutung der Gemeinde, der Armen und Machtlosen. Die Bürger erheben Klagen, die hauptsächlich die Verletzung wirtschaftlicher Rechte wie Zoll, Stapel und Münze sowie gerichtlicher Privilegien und das geistliche Gericht betreffen. Der Große Schied bedeutete mit der Anerkennung der kommunalen Selbstverwaltung aufgrund der alten Gewohnheiten und der fortdauernder Stadtherrschaft und Jurisdiktionsgewalt des Erzbischofs jedoch nur einen Zwischenstand in der wechselvollen Entwicklung zur Selbstregierung. Es folgte von 1258 bis 1268 ein Jahrzehnt von Fehden und der unter beidseitiger Beteiligung des Adels begleitete Versuch der Erzbischöfe, gestützt auf wechselnde Verbindungen mit Schöffen, Geschlechtergruppen und Bruderschaften (Zünften), die Stadtherrschaft wieder zu stärken. Bereits 1259 entfernte Erzbischof Konrad von Hochstaden mit der Hilfe der nicht dem Meliorat der Geschlechter zugehörigen Wohlhabenden aus den Bruderschaften und den Gemeinden der Kirchspiele gewaltsam die führenden Geschlechter aus den führenden Machtpositionen in Münzerhausgenossenschaft, Schöffenkolleg und in den Kirchspielen und ordnete die Stadtverfassung durch Beiziehung der Bruderschaften, deren Meister sich zu einem Kollegium der Geschworenen (iurati) formierten, auf breiterer Grundlage neu. Ein Aufstand der Geschlechter 1260 scheiterte an deren innerer Spaltung. Nach der Rückkehr der geächteten und vertriebenen Angehörigen der Geschlechter unter Erzbischof Engelbert von Falkenburg, der kurzfristigen Inhaftierung des Erzbischofs und einem von den Geschlechtern siegreich bestandenen Kampf mit den vom Erzbischof angestifteten Bruderschaften (1265) verlagerten sich zunächst die Konikte in die Geschlechter selbst, doch bildete sich nach der Vertreibung der mit dem Erzbischof verbundenen Partei der Weisen 1268 eine homogene Führungsschicht der Geschlechter aus, und der bislang untergeordnete Rat

stieg zur beherrschenden Institution des Stadtregiments auf. Der Stadtschreiber und Dichter Gottfried Hagen († 1299) formte in dieser Zeit in seiner Reimchronik einen auf Autonomie abzielenden Freiheitsbegriff und bezog sich dabei anachronistisch auf die Zeit vor der Christianisierung, als Köln angeblich ein städtisches Gemeinwesen war, das sein Regiment mit einem führenden Rat selbst wählte und keiner fremden Herrschaft unterworfen war. Als das freie Gemeinwesen Agrippina den christlichen Glauben annahm, änderte sich, wie Hagen meint, an der Verfassung nichts. Die erzbischö iche Stadtherrschaft wird nicht geleugnet, doch ist die Stadtfreiheit in der freien und heiligen Stadt Köln das ursprüngliche und setzt ihr Grenzen. Alle Kölner Bürger sind trotz der Statusunterschiede freie Bürger. Hinsichtlich der Stadt Worms gab es sei 1233 mehrere Rachtungen, wie die schiedsgerichtlich zustande gekommenen Vereinbarungen zwischen der Wormser Bürgerschaft und dem Bischof genannt wurden. Die Rachtungen im ausgehenden 15. Jahrhundert und Interventionen Kaiser Friedrichs III. gegen diese Vereinbarungen, wodurch der Kaiser seine Stellung als rechter Herr und die Reichsunmittelbarkeit der Stadt wahren wollte, hatten insbesondere den Huldigungseid der Stadt zum Gegenstand. Die verfassungsrechtlichen Kon ikte mit dem Bischof waren mit Auseinandersetzungen um die von bürgerlichen Lasten freie Wirtschaftstätigkeit (Weinschank) des Klerus verbunden. Wie die Kölner Bischöfe unternahmen auch die hoch verschuldeten Straßburger immer wieder Versuche, die Stadtherrschaft oder wenigstens Teile ihrer stadtherrlichen Befugnisse wieder zu erlangen. Nach dem Dachsteiner Krieg anerkannte Bischof Wilhelm in der Speyrer Rachtung von 1422 den Status Straßburgs als Freie Stadt gegen hohe Zahlungen, und 1452 erfolgte eine Bestätigung durch das Domkapitel. 3.2.2.2 Der Begriff der ›Freien Stadt‹ Mit Freiheit von der bischö ichen Stadtherrschaft verband sich aus königlicher Sicht eine Verbindung zum Reich (Speyer 1267), da es

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Bischofsstädte, Freie Städte, Reichsstädte – Landstädte

eine völlige Freiheit von einer übergeordneten Gewalt nicht geben konnte und auch die Freien Städte des Schutzes ihrer Rechte bedurften. König Ludwig der Bayer nannte die Städte Mainz, Worms und Speyer ›unsere und des Reichs freie Städte auf dem Rhein‹. Worms huldigte König Rudolf von Habsburg als ›freie Stadt, die vom Reich gefürstet ist‹ (1273), doch wies König Sigmund 1414 den Ausdruck gefürstet zurück, mit der vielleicht metaphorisch eine hervorgehobene, fürstengleiche Stellung ohne unmittelbaren vogteilichen Stadtherrn bezeichnet werden sollte. Basel zählte sich 1362 zu den fryen stetten und wurde 1387 in einer Urkunde König Wenzels neben Regensburg als ›Freie Stadt‹ vor einer Reihe von Reichsstädten genannt. Einer Frankfurter Mitteilung von 1461 zufolge bezeichneten sich Straßburg, Worms, Mainz, Speyer und Köln als ›gefürstete freie Städte‹. Basel nannte sich 1461/1462 eine ›des heiligen römischen Reichs freie Stadt‹ und ›freie Reichsstadt‹; Köln bezeichnete sich 1470 als eine ›freie Stadt des Reichs‹. Zu den Freien Städten können neben den rheinischen Bischofsstädten und Regensburg im Hinblick auf stadtherrliche Verhältnisse auch die im französischen Grenzraum gelegenen Bischofsstädte Besançon, Metz, Toul, Verdun und Cambrai gezählt werden. Freie Städte stellten, da der König nicht ihr Stadtherr war, auch diesem gegenüber grundsätzlich eine Huldigungsp icht in Abrede. Dennoch wurde dem König verschiedentlich als rechtem Herrn, aber von des Reichs wegen gehuldigt. Nachforschungen, die 1439 von Konrad von Weinsberg für König Albrecht II. und 1473 im Anschluss an eine Umfrage Straßburgs in der Frage der Huldigung angestellt wurden, ergaben, dass Straßburg, Basel, Mainz und Regensburg dem König noch nie gehuldigt hätten, wohl aber Köln, Worms und Speyer, wobei sich Worms und Speyer ausdrücklich in der Eigenschaft als Freie Städte die Freiheit der Stadt und ihrer Bürger vorbehalten hätten. Es handelte sich möglicherweise um eine Art von Hoheitshuldigung, eine Anerkennung des Königs, nicht des Stadtherrn. Regensburg huldigte erst 1492 mit der Rücknahme von Bayern ans

Reich. Worms huldigte 1494 König Maximilian, Straßburg wurde 1547 zur Huldigung veranlasst. Das Bedeutungsspektrum des Ausdrucks ›Freie Stadt‹ von der Freiheit von bischö icher Stadtherrschaft über den Status als spezi sch privilegierte Stadt bis hin zu dem der Reichsunmittelbarkeit wurde am eingehendsten seit 1483 entfaltet, als der Bischof von Worms den Huldigungseid verlangte, schiedsgerichtliche Lösungen versucht wurden und Kaiser Friedrich III. sich in die Auseinandersetzungen einschaltete. Pfälzische Räte empfahlen, den Ausdruck gefürstet aus der Eidesformel wegzulassen, der Bischof wollte den gegen ihn gerichteten Ausdruck ›Freistadt‹ (frystatt) nicht hinnehmen, allenfalls sollte es ›gefreite Stadt‹, aber ›nicht ganz frei‹, heißen. Die Wormser behaupteten, der Bischof habe sie gezwungen, ihm als ihrem Eigenherrn, was Leibherr bedeuten kann, zu schwören, und habe verlauten lassen, dass die Stadt ihm unmittelbar zugehörig sei. Pfälzische Räte wiederum befanden, dass die Stadt dem Reich nur in der Form einer ›Freien Stadt‹, also eingeschränkt, verbunden und verp ichtet sei. Friedrich III. annullierte 1489 alle Rachtungen, die seiner Obrigkeit und seinen Herrschaftsansprüchen, die er 1487 unter den Eigentumsbegriff subsumiert hatte, sowie dem Reich schädlich waren, insbesondere verwarf er den dem Bischof geleisteten Huldigungseid. Als König Maximilian 1494 nach Worms kam, leisteten ihm Rat und Gemeinde als ihrem rechten Herrn einen untertänigen Huldigungseid, und zwar als gehorsame Untertanen und ›freie Bürger‹, doch zog sich der Kon ikt mit den Bischöfen bis ins 16. Jahrhundert hinein. Da die Freien Städte nicht der vogteiherrlichen Gewalt des Königs als Stadtherrn unterstanden, zahlten sie keine Jahressteuern an den König und hielten daran fest, dass sie auch nicht dem Mannschaftsaufgebot im Falle eines Reichskriegs unterlagen. Die Stadt Basel begründete dies 1461/62 gegenüber Kaiser Friedrich III. im Reichskrieg gegen Herzog Ludwig von Bayern-Landshut mit ihrem gefreiten Wesen, die Städte Regensburg und Straßburg da-

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mit, dass sie gefürstete freie Städte seien, und die Freien Städte insgesamt erklärten 1461 auf einem Städtetag, dass sie dem Reich nicht so hoch verbunden und verp ichtet seien wie die Reichsstädte. Eine Hilfsverp ichtung wollten sie nur in zwei Fällen anerkennen: Wenn der König ›über den Berg zog‹, d. h. sich nach Rom zur Kaiserkrönung begab, und im Falle eines die Christenheit betreffenden Krieges gegen Ungläubige (Türken) und Ketzer (Hussiten), dem sich kein Christ entziehen konnte. Für diesen Fall beanspruchten sie aber das Recht, ohne fremde Veranschlagung ihr Aufgebot nach eigenem Ermessen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit festlegen zu dürfen. Diese Rechtsposition vertraten die Freien Städte im 15. Jahrhundert, tatsächlich wurden sie aber gegen ihren Widerstand in den Reichsmatrikeln zu bezifferten Kontingenten veranschlagt, und zwar auch hinsichtlich von Kriegen, die im engeren Sinne das Reich und nicht nur die Christenheit betrafen. Die Stadt Straßburg erwirkte im Hinblick auf ihre Leistungen, damit diese nicht präjudizieren sollten, letztlich nutzlose kaiserliche Schadlosbriefe, in denen ihr Status vorbehalten war und ihre Leistung als freiwillig bezeichnet wurde. Im 16. Jahrhundert bestand vielfach Unklarheit darüber, was der Status einer Freien Stadt im Unterschied zu dem der Reichsstadt bedeutete. Bonifacius Amerbach, der Syndicus der Stadt Basel, die sich kaiserliche Freistadt nannte, befragte 1542 den Stadtschreiber Straßburgs, der seinerseits Erkundigungen einzog und einen Bescheid übermittelte, den sich Amerbach zu eigen machte. Demnach waren angeblich jene Städte freie Städte, die den freien Zug, die Abzugsfreiheit der Bürger, und das merum et mixtum imperium, die hohe und niedere Gerichtsbarkeit, besaßen, ferner – das sind die eigentlich de nitorischen Kriterien – lediglich ihrem gemeinen Nutzen verp ichtet, nicht dem Kaiser oder sonst jemandem von des Reichs wegen schworen sowie zu keinen Reichssteuern

und keinen Reichsdiensten außer dem Romzug zur Kaiserkrönung verp ichtet waren.⁵¹²

3.3 Städte geistlicher Korporationen: Abtei- oder Klosterstädte und Stiftsstädte Zu den Bischofsstädten treten Städte geistlicher Korporationen, der Abteien, Klöster und Stifte als den topogra schen Keimzellen hinzu, auf deren Areal präurbane Siedlungen und in weiterer Entwicklung Städte entstanden, die unter geistlicher Stadtherrschaft standen, aber einen weltlichen Vogt benötigten. Die Vogtei war häu g Ausgangspunkt für den Übergang an einen weltlichen Stadtherrn. Vielfach ergaben sich komplizierte Verhältnisse. Abteien, d. h. die von einem Abt geleiteten Klöster, waren weniger städtebildend als die mächtigeren Bischofssitze, und ihre Städte blieben im Wachstum beschränkt. Aus der präurbanen Siedlung mit Markt und Zoll des Reichsklosters der Benediktiner erwuchs um 1250 die Stadt Kempten mit einem stiftischen Ammann, doch entzog König Rudolf von Habsburg 1289 dem Abt die Gerichtsbarkeit über das oppidum und unterstellte es dem ostschwäbischen königlichen Landvogt. Stadtherr St. Gallens, das sich seit dem 10. Jahrhundert als Siedlung neben dem Benediktinerkloster entwickelte, war der Fürstabt, der Amtleute und den Richter einsetzte und der Stadt 1272/73 und 1291 Handfesten gewährte, doch setzte König Heinrich VI. 1180 einen Reichsvogt aus der Bürgerschaft ein, der an seiner Stelle Recht sprach, und König Rudolf von Habsburg untersagte 1281 dem Abt, die Stadt zu verpfänden. König Sigmund verlieh der Stadt 1415 den Blutbann und ein eingeschränktes Münzrecht. Nachdem die Stadt 1454 einen eigenen Bund mit der Eidgenossenschaft geschlossen hatte, verzichtete die Abtei 1457 gegen Entschädigung von 7 000 Gulden weitge-

512 R. H, Die Rechtsgutachten des Bonifacius Amerbach. Basler Rechtskultur zur Zeit des Humanismus, Basel/Frankfurt a. M. 1997, S. 76.

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Bischofsstädte, Freie Städte, Reichsstädte – Landstädte

hend auf ihre stadtherrlichen Rechte gegenüber der Stadt. Schaffhausen wurde 1080 von Graf Burkhard von Nellenberg dem grä ichen Kloster Allerheiligen geschenkt; 1190 wurden Kloster und Stadt reichsunmittelbar. Keimzellen der Siedlungsentwicklung Gents waren die alten Abteien St. Peter und St. Bavo. Hinzu trat Mitte des 10. Jahrhunderts der Graf von Flandern mit einer Befestigungsanlage. Eine nicht unbedeutende, aber nicht klar fassbare Rolle spielte in Aachen das Marienstift auf dem Weg von der Pfalz hin zur Reichsstadt über das wichtige Barabarossaprivileg von 1166 mit dem inserierten gefälschten, vom Kaiser bestätigten Karlsprivileg. Die Altstadt Herford unterstand der Äbtissin des reichsunmittelbaren hochadligen Damenstifts, die selbständige Neustadt wurde noch vor 1224 von der Äbtissin gemeinsam mit dem Kölner Erzbischof gegründet, auf den im 13. Jahrhundert die Vogtei über die Doppelstadt überging. In Quedlinburg wurde das alte Kanonissenstift St. Servatius mit der reichsfürstlichen Äbtissin Trägerin der Stadtentwicklung. Die selbständige Neustadt gelangte 1300 aus den Händen der Äbtissin an die Grafen von Regenstein, von dem der Rat der Altstadt 1327 die Vogtei erwarb, worauf beide Städte vereinigt wurden. Die Äbtissin verzichtete 1358 auf ihre Herrschaftsrechte über die Stadt, doch unterwarf die Äbtissin Hedwig (1458–1511), Tochter des Kurfürsten Friedrich II. von Sachsen, mit militärischer Hilfe ihrer Brüder die Stadt, entzog ihr das Befestigungsrecht, die freie Ratswahl und die Vogtei, die 1479 an die Wettiner gelangte. In Essen hatten das hochadlige Kanonissenstift und die Äbtissin, die von Heinrich (VII.) 1228 als Reichsfürstin bezeichnet wurde, die Herrschaft über Ort (locus) und Markt inne, die in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts ein Mönch in Werden als ›Stadt der Äbtissin‹ (civitas abbatissae) bezeichnete. Das Damenstift band sich 1308 in einem Erbvogteivertrag an den Grafen von Mark, 1495 an den Herzog von Kleve-Mark. In einer mit einem Stadtsie-

gel beglaubigten Urkunde von 1244, in der unter anderem die Ummauerung der Stadt allein durch die Bürger vereinbart wird und der Äbtissin und Konvent ihre Zustimmung erteilen, treten Ministeriale und Bürger als Gemeinde (gemeynheit) auf. Kon ikte hatte ein paritätischer Ausschuss, ein Ansatz für eine Ratsbildung, von sechs Ministerialen des Stifts und sechs Bürgern zu schlichten. Ein aus zwölf Mitgliedern gebildeter Stadtrat ist 1272 erkennbar. Er tagte unter dem Vorsitz des stiftischen Schulten oder Richters, der erst vor der Mitte des 14. Jahrhunderts durch einen gewählten Bürgermeister ersetzt wurde. Die Stadt entledigte sich 1335 des stiftischen Stadtrichters. Von Karl IV. erlangte die Stadt Essen 1377 formell die Reichsunmittelbarkeit und einige Selbstregierungsrechte, nachdem dieser fünf Jahre zuvor die Rechte des Stifts an der Stadt bestätigt hatte. Im Jahre 1379 anerkannte das Stift die Autonomie Essens als königlicher Stadt und Reichsstadt, doch anerkannte die Stadt nach längeren Streitigkeiten 1399 in einem Vertrag (Scheidbrief ) mit dem Stift wiederum die Äbtissin als »Herrin und rechte Landesherrin« und erhielt beschränkte Autonomie. Nach weiterem Hin- und Her in der frühen Neuzeit blieb die Stadt bis zur Säkularisierung 1803 in einem umstrittenen und ungeklärten Rechtszustand zwischen Äbtisin und Reich. Maastricht entstand aus dem Zusammenwachsen des Liebfrauenstifts des Bischofs von Lüttich mit der Grundherrschaft des Reichs mit Fiskalbereich im Besitz des St. Servatiusstifts, doch blieb die Bevölkerung in zwei auf die Stiftspfarreien verteilte Nationen geteilt. In der ›Alten Charta‹ (Alde Caerte) von 1284 wurde das bis zur Französischen Revolution andauernde Kondominat, die gemeinsame Herrschaft über Bürger und Stadt, zwischen dem Lehnsträger des Reichs, dem Herzog von Brabant, dessen Vorgänger Maastricht 1204 das Stadtrecht verliehen hatte, und dem Bischof von Lüttich festgelegt, doch konnte die Stadt eine beachtliche Autonomie bewahren.

Reichsstädte – Freie- und Reichsstädte 295

3.4 Reichsstädte – Freie- und Reichsstädte Im Hinblick auf Grundherrschaft und Vogtei lassen sich im Wesentlichen vier Stadttypen unterscheiden, wobei die Zuordnung einzelner Städte nicht immer eindeutig ist:⁵¹³ 1. Königsstädte auf Reichsgut. Der Begriff Reichsgut bezeichnet dabei einen allmählich anwachsenden, in sich heterogenen Komplex aus königlichen Pfalzorten, Grund und Boden des Reichs, stau schem Hausgut, das Allodialgut und Lehen umfasst, wel schen Besitzungen in Schwaben sowie Zähringerstädten und anderen Städten, die nach dem Aussterben der Stadtherrengeschlechter oder durch Kauf, Tausch und Einziehung für das Reich erworben wurden. Die auf dynastischem stau schem Hausgut gegründeten Städte etwa können erst von dem Zeitpunkt an als Reichsstädte gelten, zu dem sie durch Rudolf von Habsburg energisch dem Reichsgut zugeschlagen und der Herrschaft von König und Reich unterstellt wurden. Der König war Grundherr und Stadtherr zugleich. 2. Königsstädte auf Kirchengut. Eine Reihe von Städten wurde von Königen auf kirchlichem, insbesondere klösterlichem Grund und Boden gegründet. Das Recht zur Stadtgründung leitete der König aus der Vogtei über das Kloster und dessen Besitzungen her. Diesen Städten waren zwei Herren übergeordnet, einmal der kirchliche Grundherr, dem sie den Grundzins schuldeten, und der königliche Stadtgründer als Vogteiherr, dessen Gerichtsbarkeit sie unterstanden und der Huldigung und Steuerleistung beanspruchte. Im Laufe des Mittelalters wurden vielfach die Rechte des kirchlichen Grundherrn fast völlig verdrängt, sodass der König als alleiniger Stadtherr betrachtet wurde. 3. Reichsvogteistädte. Hier waren die kirchlichen Grundherren nicht nur Inhaber grund-

herrlicher, sondern auch hoheitlicher Rechte an den auf ihrem Boden entstandenen Städten. Der König war hier nur Vogt, Schutzund Gerichtsherr, in weltlichen Belangen über die Stadt und das sonstige Kirchengut. Den Charakter von Reichsvogteistädten hatten die Bischofsstädte Augsburg, Konstanz, Basel und Chur. 4. Freie Städte. Der Bischof war Grundherr und alleiniger Stadtherr. Auf friedlichem Wege, häu g jedoch in einem langwierigen Ringen mit teilweise blutigen Kämpfen gelang es diesen Städten, sich der bischö ichen Stadtherrschaft zu entledigen, sich Freiheitsrechte zu sichern und stadtherrliche Befugnisse an sich zu ziehen. Auseinandersetzungen um Reste stadtherrlicher Befugnisse des Bischofs konnten sich bis in die Neuzeit hineinschleppen. Freie Städte waren Regensburg, Straßburg, Speyer, Worms, Mainz, Köln sowie weiter im Westen Besançon, Toul, Metz, Verdun und Cambrai. Auch Basel rechnete sich zu den Freien Städten. Das hoch verschuldete und dadurch instabile Mainz wurde 1462 von Erzbischof Adolf von Mainz, einem Parteigänger Kaiser Friedrichs III., erobert und dauerhaft mediatisiert. Friedrich III. erklärte die Stadt Köln, die dem römischen König von alters her gehuldigt habe, 1475 im Rahmen eines Generalprivilegs im Hinblick auf ihre großen nanziellen Opfer im Reichskrieg gegen Herzog Karl von Burgund mit allen ihren Obrigkeiten, Herrschaftsrechten, Freiheiten und Gerechtsamen formell als Kaiser und Reich auf ewig ›unmittelbar zugehörig und verbunden‹ und untersagte dem Erzbischof, von ›seinen Bürgern und Getreuen‹ und von ›seiner Stadt‹ zu sprechen.⁵¹⁴ Köln wurde dadurch aber keine echte Reichsstadt, da die Stadt keine Jahressteuern als Vogteiabgabe an den Kaiser zu entrichten hatte. Köln war Freie Stadt des Reichs, keine Reichsstadt. Regensburg wurde

513 G. L, Die Verpfändung der deutschen Reichsstädte im Mittelalter, S. 102–139. 514 A.-D.   B (Bearb.), Köln 1475, Nr. 84; B. D, Texte zur Kölner Verfassungsgeschichte (2.5.1–2.5.2), Nr. V, S. 52–54.

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Bischofsstädte, Freie Städte, Reichsstädte – Landstädte

1492, nach der Mediatisierung durch Herzog Albrecht IV. von Bayern im Jahre 1486, von Kaiser Friedrich III. wieder an das Reich genommen. In der Stauferzeit kam es in dem Zeitraum von 1170 bis 1232/35 mit Perioden unterschiedlicher Dichte zu einer eindrucksvollen Reihe von Städtegründungen und zum Ausbau von Städten. Wie viele Städte – Marktorte und Festungen – Friedrich II. selbst anlegen ließ, ist nicht mit Bestimmtheit zu ermitteln. Etwa 40 bis 50 mögen es im deutschen Südwesten gewesen sein, bei höheren Schätzungen waren es etwas mehr als 40 in Schwaben und etwa zehn im Elsass, dessen Landschaft Friedrich II. in Deutschland bevorzugte. Von diesen königlichen Städten wurden 18 auf kirchlichem Grundbesitz errichtet. Etwa zwei Drittel der königlichen Städte be nden sich südlich des Mains in Franken, Schwaben und im Elsass. Weiter nördlich ragen Städte wie Aachen, Duisburg, Dortmund, Goslar und Lübeck hervor. Ein Beispiel königlicher Städtepolitik und Raumkonzeption von eindrucksvoller Geschlossenheit bietet das Elsass mit seinen zehn königlichen Städten, deren Hauptzentren Hagenau, Colmar, Schlettstadt und Mülhausen waren, und den auf die Städte bezogenen stauschen Burgen und Klöstern. Mit Ausnahme Hagenaus, einer Pfalzstadt jüngerer Art, wurden alle diese Städte auf Reichskirchengut gegründet, und zwar unter Berufung auf die königliche Kirchenvogtei oder auf der Grundlage eines erzwungenen Kirchenlehens an den König. Dies ging hauptsächlich auf Kosten der Bischöfe von Straßburg und Basel. Aus der Reichssteuerliste von 1241/42 lässt sich ermitteln, dass die elsässischen Städte und Dörfer sowie der Breisgau und die Ortenau mit einem Steuerbetrag von nahezu 1 700 Mark Silber wesentlich zu den nanziellen Grundlagen der Herrschaft der Staufer in Deutschland beitrugen. Mit dem Hagenauer Reichsschultheißen Albin Wölfelin, einem Amtsträger nichtadeliger Herkunft, tritt zudem seit 1214/15 ein tatkräftiger, mit großen Befugnissen ausgestatteter und unentbehrlicher Helfer Friedrichs II. im

Elsass ins hellere Licht. Wölfelin half bei der Reorganisation des elsässischen Hausguts, organisierte den Mauerbau in elsässischen Städten, sorgte durch Umsiedlungsaktionen für das Bevölkerungswachstum der Städte, fungierte als Richter und Urkundenzeuge und bewährte sich im politischen Kampf mit den bischö ichen und fürstlichen Gegnern der Staufer. Nachdem Friedrich II. 1220 Deutschland verlassen hatte, musste Wölfelin bald danach das Amt an einen adeligen Ministerialen abgeben, wurde jedoch 1227 von Heinrich (VII.) wieder eingesetzt und erlangte erneut seine frühere Geltung. Nach dem Sturz des Königs 1235/36 wurde er wegen hemmungsloser Bereicherung angeklagt und von Friedrich II. aller seiner Ämter enthoben. Aufgrund eines Prozesses verlor er seine Güter durch Kon skation. Nach dem Interregnum, d. h. nach dem Regierungsantritt Rudolfs von Habsburg, gab es etwa 105 Reichsstädte und Freie Städte. Mit 80 Städten liegt die überwiegende Zahl im Süden einschließlich der Schweiz, des Elsass und Lothringens; nur 25 Städte be nden sich nördlich der Mainlinie. Die Wormser Reichsmatrikel von 1521 führt noch 85 Freie und Reichsstädte auf, doch dürften es in Wirklichkeit nur noch etwa 68 gewesen sein. König Sigmund hatte im frühen 15. Jahrhundert noch einen Teil der bedeutenden und selbständigen Hansestädte wie Hamburg, Bremen, Rostock, Stralsund, Lüneburg, Stade, Göttingen und Braunschweig in die Reichsmatrikel aufgenommen. 3.4.1 Die Reichsstädte: Königliche Stadtherrschaft und Reichsunmittelbarkeit 3.4.1.1 Königliche Vogtei Das unmittelbare stadtherrliche Gewaltverhältnis des Königs gegenüber der Königs- und Reichsstadt, die ja nicht in jedem Fall aus Reichsgut hervorgegangen ist, beruht primär nicht auf der königlichen Grundherrschaft, sondern auf der königlichen Gerichts- und Schutzherrschaft, der Vogtei über die Stadt und ihre Bürger, und zwar unabhängig davon, ob ein

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grundherrliches oder leiherechtliches Obereigentum des Königs am städtischen Areal bestand oder sich die Bürger auf Grund und Boden anderer Herren angesiedelt hatten. In ihren Wurzeln ist die Reichsstadt »die vom König bevogtete Stadt«.⁵¹⁵ Die an den König zu entrichtenden ordentlichen Jahressteuern sind nicht Hofstättenzinsen, sondern Vogteiabgaben. Wie die Steuern resultiert auch das Mannschaftsaufgebot für Feldzüge aus der vogteilichen Gewalt. Die Steuern der königlichen Städte und Dörfer beliefen sich ausweislich des Steuerverzeichnisses von 1241/42 auf wenig mehr als 7 000 Mark Silber, weitere 875 Mark wurden von den Juden eingezogen.⁵¹⁶ Es handelt sich um eine ›Bede‹ (precaria), die König Konrad IV. von Städten und Verwaltungsämtern, in geringerem Umfang von Grundherrschaften des stau schen Haus- und Reichsguts sowie von den Juden erhoben hat. Rechtsgrundlage der Besteuerung war die königliche Schutz- und Gerichtsherrschaft gegenüber Städten, Bürgern, Juden und ländlichen Hintersassen. In dem Verzeichnis der Steuereingänge fehlen allerdings Städte wie Lübeck und Nürnberg. Regelmäßigkeit der Besteuerung und gleichbleibende Höhe des Steuerbetrags werden im Falle der ursprünglichen Bischofsstadt Konstanz erkennbar, zu der vermerkt wird, sie gebe ›üblicherweise‹ 60 Mark, von denen die Hälfte dem Bischof überlassen wurde. Aus der Liste werden bereits einige nanzwirtschaftliche Praktiken des Königs ersichtlich wie die Zahlungsanweisung zugunsten einzelner Vögte und fremder Herren, die Deckung bestimmter königlicher Ausgaben durch einzelne Steuern und die Verrechnung mit Leistungen wie etwa den Rückkauf einer verpfändeten Vogtei durch die Stadt Wesel. Zugunsten des städtischen Mauerbaus wurden vielfach Steuernachlässe und Steuerbefreiungen gewährt; eine ganze Reihe von Städten und Bürgern erhielt nach Brandkatastrophen Steuerbefreiungen. König Rudolf von Habsburg erhöh-

te die Steuern bis etwa um ein Drittel. Zürich und St. Gallen waren angesichts einer drohenden Verpfändung bereit, eine erhöhte Stadtsteuer zu zahlen. Die Steuerbeträge wurden in Einzelfällen zeitweise als Strafe erhöht, in anderen Fällen auch ohne einen solchen Grund. Zugunsten der Berechenbarkeit der Leistungen waren Städte bestrebt, ihren Steuerbetrag durch königliche Privilegien für die Zukunft zu xieren. Dies geschah vor allem im 14. Jahrhundert, wobei in einzelnen Fällen der Betrag sogar gesenkt wurde. Der König konnte dadurch am weiteren Wirtschaftsaufschwung der Stadt nicht durch höhere Steuern partizipieren. Außerdem verlor er bis ins 15. Jahrhundert hinein viele Städtesteuern durch Verpfändung und Usurpation durch Dritte.⁵¹⁷ Hinzu kamen aber zahlreiche außerordentliche Steuern (contributiones), die teilweise auf Widerstand stießen. Die Stadt Nürnberg hatte um 1300 ausweislich des »Reichssalbüchleins« an König und Reich jeweils 2 000 Pfund an der jährlichen Stadtsteuer (Steuer der Bürger) und Steuern von den Juden, 200 Pfund an Zoll, 100 Pfund vom Schultheißenamt und 500 Pfund von der Münze zu entrichten. Als Stadtherr übt der König durch die von ihm bestellten Amtleute die Gerichtsbarkeit aus. Die niedere Gerichtsbarkeit wird in der Regel dem Schultheißen (scultetus, causidicus), der in manchen süddeutsch-alemannischen Städten auch Ammann genannt wird, übertragen, die Hochgerichtsbarkeit dem Vogt oder dem Reichslandvogt. Andere Zuständigkeiten kommen durchaus vor. Die Vogtei begründet ein unmittelbares persönliches Treueverhältnis zwischen dem König und der Bürgerschaft. Die Bürgerschaft leistet dem König den Huldigungseid, mit dem sie ihm Treue und Gehorsam schwört. Den König verp ichtet das Treueverhältnis zum Schutz der Stadt und ihrer Bürger, die Stadt und Bürgerschaft zu Rat und Hilfe. Bürger von Reichsstädten nannten sich

515 G. P, Stadtherr und Gemeinde in den spätmittelalterlichen Reichsstädten, S. 201 ff. 516 E. I, Art. »Reichssteuerverzeichnis v. 1241«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. VII, 1995, Sp. 640. 517 E. I, Reichs nanzen und Reichssteuern, S. 10–24.

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Bischofsstädte, Freie Städte, Reichsstädte – Landstädte

gelegentlich ›Bürger des Heiligen Reichs‹, und das kommunalisierte Stadtgericht rmierte verschiedentlich immer noch als Gericht von ›König und Reich‹ oder ›königliches (kaiserliches)‹ Gericht. 3.4.1.2 Königliche Stadtherrschaft, Reichszugehörigkeit und Reichsunmittelbarkeit Wenn hinsichtlich von Städten wie Lübeck, Nürnberg und anderer Städte, die später als Reichsstädte rmieren, von einer Erhebung zur Reichsstadt gesprochen wird, gibt dies die Vorgänge und die Terminologie nicht genau wieder. Eine Sonderstellung nimmt schon hinsichtlich verschiedener Gründungsvorgänge Lübeck ein. Sicher ist, dass Lübeck nicht auf Reichsboden gegründet wurde und weder eine bischö iche noch klösterliche Stadt war. Nach dem Sturz Heinrichs des Löwen el die Vogtei 1181 an das Reich. Lübeck wurde nun dem Reichsgut zugerechnet und 1226 durch Friedrich II. zur Stadt und zum Ort des Reichs erklärt. Die unmittelbare Reichszugehörigkeit bedeutet in einer singulären Formulierung in dem Privileg für Lübeck von 1226 zugleich ein spezi sches städtisches Freiheitsmoment gegenüber anderen Herrschaftsgewalten, wenn Friedrich II. seinen Willen bekundet, dass Lübeck für immer frei sein soll, freilich eine besondere Stadt und ein Ort des Reichs und in besonderer Weise der kaiserlichen Herrschaft zugehörig und zu keiner Zeit von dieser besonderen Herrschaft zu trennen.⁵¹⁸ In dem 1219 für Nürnberg, einer Gründung auf Reichsboden mit einer Kaiserpfalz, ausgestellten Privileg ist zwar allgemein von ›den Rechten aller Getreuen des Reichs‹ und von der ›besonderen Huld und Liebe‹ Friedrichs II. zu der ›hochgeliebten Stadt Nürnberg‹ die Rede, die unmittelbare Beziehung zwischen König und Bürgern wird jedoch nur mit der Bestimmung ausgedrückt, dass die Bürger des Or-

tes keinen anderen ›Vogt‹ haben sollen außer König Friedrich II. und die ihm nachfolgenden Könige und Kaiser.⁵¹⁹ Von der königlichen Schutzherrschaft ist in den Privilegien für Annweiler (1219) und für das auch vom Bischof von Straßburg beanspruchte Molsheim (1220) die Rede. Ausdrücke, welche die Herrschaftsgewalt bezeichnen, wie ditio und potestas von Kaiser und Reich, erscheinen in dem Privileg für Wien (1237), hingegen dominium, defensio (Schutz) und potestas in dem Privileg für Bern (um 1218), das verändert in die hinsichtlich Echtheit und Datierung umstrittene Berner Handfeste aufgenommen wurde. Reichsunmittelbarkeit, der Vorzug, König und Reich ohne Mittel unterworfen und als Kategorie in der Verfassungsordnung des Reichs anerkannt zu sein, bedeutet für die Reichsstädte Freiheit von intermediärer Herrschaft, wie sie von Territorialherren über ihre Städte ausgeübt wird. Der König ist ihr rechter (natürlicher) Herr und ordentlicher Richter. Ihre Rechte und ihre Regierungsgewalt haben die Reichsstädte unmittelbar von König und Reich. Eindringlich wird die besonders enge Bindung der Reichsstädte an den König von schwäbischen und fränkischen Reichsstädten auf dem Esslinger Städtetag vom September 1481 dargelegt: Der Kaiser (König) sei ihr ayniger [alleiniger] ordentlicher und rechter herre, sie seien ihm mit gelupten und aiden hoch verwandt [verp ichtet], von ihm hätten sie all regalia, handfest, fryhaiten und gewaltsame irer regierung.⁵²⁰ Daraus erwachse ihnen eine besondere Verp ichtung zur Hilfe für den Kaiser. Auf der anderen Seite hat der König eine besondere Schutzverp ichtung gegenüber den Reichsstädten, die ihn als ihre einzige Zu ucht anrufen. Der König hat sie in ihren Rechten gegen Übergriffe Dritter zu schützen, sie in ihrer reichsunmittelbaren Stellung zu erhalten und zu verhindern, dass sie durch Dritte vom Reich entfremdet wer-

518 […] ut predicta civitas Lubicensis libera semper sit, videlicet specialis civitas et locus imperii et ad dominium imperiale specialiter pertinens, nullo umquam tempore ab ipso speciali dominio separanda. L. W (Hg.), Quellen I (Einleitung), Nr. 105, S. 412; B.-U. H (Hg.), Quellen (Einleitung), Nr. 39, S. 268. 519 B.-U. H (Hg.), Quellen (Einleitung), Nr. 37, S. 256. 520 E. I, Reichsstadt und Reich, S. 41, vgl. 33–47.

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den. Die königliche Seite hingegen sah sich bei Gelegenheit veranlasst, den Reichsstädten gegenüber ihre besondere Bindung an den König klarzustellen, indem sie darauf hinwies, dass die Reichsstädte – aufgrund der vogteilichen Gewalt des Königs – mehr als andere Reichsunmittelbare König und Reich unterworfen und zu Gehorsam verp ichtet seien, und der König, von dem sie Freiheiten und Herkommen hätten, ihnen diese auch wieder entziehen könne. Der vom König üblicherweise gebrauchten umständlichen Bezeichnung unsere und des hl. Reichs Stadt liegt im Spätmittelalter jedenfalls die reichsrechtliche Formel ›König und Reich‹ zugrunde⁵²¹, wie der König auch von den Kurfürsten als unseren und des hl. Reichs Kurfürsten etc. spricht. Mit ›König und Reich‹ wird die subjektive Herrschaft des Königs in Beziehung zum Reich als einer objektiven Größe in Beziehung gesetzt. Der Begriff Reich besitzt hierbei ein Spektrum von Bedeutungsnuancen und lässt sich kaum ganz präzise festlegen. Er meint den Inbegriff der Rechte des Reichs, dessen Raison d‘être (notdurft, necessitas, gemeiner nutz) und zielt auf eine transpersonale Staatsvorstellung. Die Berufung auf eine übergeordnete, unaufhebbare Verp ichtung gegenüber dem Reich bot den Reichsständen wie den Reichsstädten ein Argument, das ›Reich‹ gegen einen König auszuspielen, von dem behauptet wurde, dass er mit seinen Handlungen gegen das Recht und die Interessen des Reichs verstoße. Man berief sich, wie dies auch der Schwäbische Städtebund in seinem Kampf gegen Karl IV. tat, gegen den König auf das ›Reich‹. In Bündnissen wurde der König in den Vorbehaltsklauseln vielfach nur bedingt, nur in Sachen, die unmittelbar das Reich betrafen, ausgenommen. Die reichsstädtische Chronistik identi zierte gelegentlich in ideologischer Zuspitzung die Reichsstädte mit

dem Reich selbst, von dem ihre Rechte herrührten. Übergriffe gegen die Reichsstädte von Seiten der Fürsten und des Adels, aber auch von Seiten des Königs, wurden von Chronisten als Übergriffe gegen das Reich selbst erachtet.⁵²² Durch die Reformation geriet das Verhältnis zwischen dem altgläubigen Kaiser und den protestantischen Städte trotz fortdauernder Treuebekundung in eine folgenreiche Krise, als die Gefahr heraufzog, dass der Kaiser gegen diese Städte vorgehen und den lutherischen oder zwinglianisch geprägten Glauben gewaltsam unterdrücken würde. Daher wurde die Frage eines Widerstandsrechts diskutiert und dem Kaiser grundsätzlich eine Amtsgewalt in Religionsangelegenheiten bestritten. Im Hinblick auf den Glauben und die Religionsausübung wurde der Kaiser in juristischen Kreisen als eine amtslose »Privatperson« erachtet, sodass ihm im Kon ikt die traditionale mittelalterliche Funktion als ›Vogt der Kirche‹ (advocatus ecclesiae) bestritten wurde.⁵²³ Einige südwestdeutsche Städte suchten Rückhalt bei den protestantischen Fürsten und traten dem Schmalkaldischen Bund von 1531 bei und wurden nach dessen Niederlage im Schmalkaldischen Krieg (1546–1547) von Kaiser Karl V. mit der Abschaffung ihrer Zunftverfassung bestraft. 3.4.2 Verpfändung Aufgrund seiner königlichen Herrschafts- und Hoheitsgewalt, als Herr über das Reichsgut und als Stadtherr verpfändete der König ganze Reichsstädte oder einzelne stadtherrliche Ämter und Steuern sowie nutzbare Regalien.⁵²⁴ In ihrer Gesamtheit konnten nur Reichsstädte, nicht aber Reichsvogteistädte und Freie Städte verpfändet werden, da in diesen Städten dem König außer dem Judenschutzgeld und Regalien – Münz-, Markt-, Zoll-, Geleit- und Forstrech-

521 Zur den verschiedenen Interpretationen der Formel ›König und Reich‹ siehe K.-F. K, König, Reich und Reichsreform, 2. A., München 2005, S. 103 f. 522 H. S, Die deutschen Städtechroniken als Spiegel des bürgerlichen Selbstverständnisses (4.5); H. H, Nürnberg und das Reich des Mittelalters; E. I, Reichsstadt und Reich, S. 9–16. 523 E. I, Widerstandsrecht und Verfassung (4.1–4.3), S. 55 f. 524 G. L, Die Verpfändung der deutschen Reichsstädte.

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Bischofsstädte, Freie Städte, Reichsstädte – Landstädte

te – keine Rechte zustanden, die verpfändet werden konnten. Die Könige verpfändeten in nanziellen Notlagen oder um politische Anhänger an sich zu binden neben ländlichem Reichsgut auch ihrer Herrschaft unterworfene Städte. Friedrich II. versetzte Dörfer, Marktorte, Burgen und Klostervogteien, aber auch die Stadt Düren (1241) und die Stadt Altenburg zusammen mit dem Land Pleißen (1246); ferner versprach er die Pfandsetzung Esslingens zur Sicherung einer Schuldsumme (1246). Nach ihrem Höhepunkt im 14. Jahrhundert unter Karl IV. gingen die Verpfändungen drastisch zurück. Von der Regierung König Ruprechts an wurde keine Stadt insgesamt mehr verpfändet, es blieb bei einzelnen nutzbaren Rechten. Unter Friedrich III. erfolgte keine Neuverpfändung mehr. Die Gefahr von Verpfändung drohte den Reichsstädten erst wieder unter Maximilian I., doch konnte sie abgewehrt werden. Etwa ein Drittel der 105 Reichsstädte verlor durch Verpfändung die Reichsunmittelbarkeit. Es bedeutete einen großen Unterschied, ob eine Stadt an einen Reichsfürsten verpfändet wurde, der versuchte, sie seinem werdenden Territorium einzuverleiben, oder etwa wie die Reichsstadt Giengen an den Nürnberger Großkaufmann Otto Heiden. Auch wurde in einigen Fällen eine Reichsstadt an eine andere verpfändet. Es kam auch vor, dass zwei oder mehrere Fürsten die Pfandgewere innehatten. Es handelt sich um Nutzpfandschaften, bei denen die Nutzungserträge – im Gegensatz zur Totsatzung – nicht auf die Pfandsumme (Pfandschilling) angerechnet wurde. Im Allgemeinen hatte die Bürgerschaft einer verpfändeten Stadt dem Pfandherrn eine bedingte, die Rechte des Reichs vorbehaltende Huldigung zu leisten, oder die Bürgerschaft huldigte dem König vorbehaltlich der Rechte des Pfandherrn. Der Pfandherr war verp ichtet, die Stadt bei ihren Rechten und Freiheiten zu erhalten. Die verpfändete Reichsstadt wurde weiterhin vom König privilegiert, der auch Dienste für das Reich von ihr erwartete. Die Lösung

525 E S P, Deutschland (1.1), S. 111 f.

aus der Pfandschaft erfolgte durch Erlegung der Pfandsumme. Dazu war der König nur in seltenen Fällen willens oder in der Lage. Unterblieb die Pfandlösung langfristig, drohte die Gefahr einer Mediatisierung. Meistens beteiligten sich die verpfändeten Städte deshalb nanziell an der Lösung. Wenn die Reichsstadt stadtherrliche Ämter oder Steuern und königliche Rechte auslöste, erlangte sie selbst den Pfandbesitz daran. War die Stadt insgesamt verpfändet, trat sie durch ihre Selbstauslösung wieder unter die Herrschaft von König und Reich, erhielt aber in der Regel dafür eine mehrjährige Steuerbefreiung. In Anbetracht der nanziellen Opfer, die eine derartige Pfandlösung bedeutete, und um der Gefahr einer schließlichen Entfremdung vom Reich zu entgehen, bemühten sich viele Reichsstädte um Privilegien, wonach sie der König nicht verpfänden oder sonst wie veräußern werde. Derartige Nichtverpfändungsprivilegien wurden jedoch gelegentlich nicht beachtet. Da es vorkam, dass sich Gläubiger des Königs wegen dessen Schulden an Reichsstädte als Pfandobjekte halten wollten, brachten die Reichsstädte auch Privilegien aus, wonach die Stadt, die Bürgerschaft oder einzelne Bürger nicht für Schulden des Königs gepfändet werden durften. 3.4.3 Reichsstädtische Autonomie und Selbstregierung Mit der spätmittelalterlichen Reichsstadt ist in besonderer Weise die Vorstellung von der rechtlich und politisch autonomen Stadt verbunden. In seiner »Germania« (1457/58) schreibt Aeneas Silvius: ›Es gibt überaus reiche und volkreiche Städte, die man Freie Städte [Freie und Reichsstädte] nennt, weil sie nur dem Kaiser untertan sind, dessen Joch so gut wie Freiheit ist.‹⁵²⁵ Geht man aber in die stau sche Zeit zurück, so ndet man eine völlig andere Situation vor. Für die stau schen Städte auf Königsgut und stau schem Allod oder auf Grund und Boden, der durch Vogtei, Lehen und Pfandschaft in die Hand des Königs gelangt war, hat Heinz

Reichsstädte – Freie- und Reichsstädte 301

Stoob den Ausdruck »Reichslandstädte«⁵²⁶ geprägt und diese Städte von den älteren Bischofsund Abteistädten abgehoben, deren Autonomie die stau schen Herrscher im Einvernehmen mit den Fürsten einzudämmen versuchten. Die jüngere Gruppe der Reichslandstädte zeichnet sich dadurch aus, dass sie nur eine sehr begrenzte Autonomie zugestanden erhielt, straff durch die königliche Ortsherrschaft, durch eine adlig-ministerialische Dienstmannschaft mit Reichsvögten und Schultheißen an der Spitze organisiert und in den Dienst der königlichen Raumherrschaft und der stau schen Reichslandpolitik gestellt wurde. Als ältere, vorstau sche Schicht von Städten, deren Stadterweiterung von den Staufern großzügig gefördert wurde, kommen – zugleich Reichsstifte umfassende – Pfalzorte wie Aachen, Dortmund, Goslar, Zürich, Ulm, Nürnberg und Frankfurt hinzu. Es ist die Frage, ob man den Gestaltwandel, den die Städte mit königlicher Stadtherrschaft zwischen dem 13. Jahrhundert und den folgenden Jahrhunderten vollzogen haben, terminologisch an Bezeichnungen wie »königliche Städte« oder »Reichslandstädte« auf der einen und eigentliche »Reichsstädte« auf der anderen Seite binden kann. Von welchem Zeitpunkt an und unter welchen Voraussetzungen wird dann die Königsstadt zur Reichsstadt? Gemeinsam sind die königliche Stadtherrschaft und die dadurch vermittelte Reichsunmittelbarkeit. Die Ausübung der Stadtherrschaft durch den fernen König wird zunehmend auf sporadische Interventionen in Kon iktfällen und auf die Wahrung skalischer Interessen reduziert. Die Reichsstadtqualität aber von einem bestimmten Umfang der Selbstverwaltung, dem Erwerb stadtherrlicher Ämter und Rechte abhängig zu machen, bereitet kaum auszuräumende Schwierigkeiten. Die Schwäche der königlichen Gewalt während des Interregnums, der Zeitspanne zwischen dem Tode Friedrichs II. (1250) und dem Regierungsantritt Rudolfs von Habsburg

(1273), hat den Reichsstädten nicht nur größere Eigenständigkeit gewährt, sondern ihnen zugleich größere Selbständigkeit abverlangt, da sie den Rechts- und Friedensschutz mehr noch als zuvor in die eigenen Hände nehmen mussten. Dazu bedienten sie sich zunehmend einungsrechtlicher Formen (Rheinischer Bund 1254), die von den Staufern und der Herrenschicht des Reiches noch als Verschwörungen (conspirationes) verboten worden waren, und nahmen mit dem Schutz von Reichsrechten und Reichsgut königliche Aufgaben wahr. Der wirtschaftlich schwache Rudolf von Habsburg benötigte dringend die Finanzkraft der Reichsstädte, durch die er Anschluss an die Geldwirtschaft gewann.⁵²⁷ Er zog die städtischen Jahressteuern wieder mit Nachdruck ein und erhöhte die Steuerbeträge. Bereits 1274 belastete er die Reichsstädte mit zwei außerordentlichen Steuern. Für seinen Kampf gegen Ottokar II. von Böhmen schrieb er 1276 erneut zur Erhaltung des Reichs (pro conservacione rei publicae) eine allgemeine Städtesteuer aus, 1277 folgte eine Besteuerung der Städte des Elsass und Österreichs. Im Jahre 1279 legte er eine Steuer von 12,5 Prozent auf das Handelskapital der reichsstädtischen Kau eute. Bereits 1274 hatte der König im Elsass und in Schwaben ohne großen Erfolg versucht, anstelle der Gesamtbesteuerung der Städte eine direkte Vermögensteuer einzuführen. Zehn Jahre später löste er mit erneuten Bestrebungen, die pauschalierte und kontingentierte Gesamtbesteuerung durch eine direkte und proportionale Vermögensteuer zu ersetzen, Unruhen aus (1284/85), worauf er diese Versuche aufgab und die städtische Finanzhoheit und Finanzverwaltung anerkannte. Die direkte Besteuerung hätte vermutlich einen höheren Steuerertrag erbracht und die vermögenden Kreise stärker belastet. Um die nanzielle Leistungsfähigkeit der Städte zu erhöhen, bekämpfte Rudolf die steuerliche Exemtion der ritterlichen und geistlichen Besitzungen und Güter in der Stadt, indem er – auch

526 H. S, Formen und Wandel stau schen Verhaltens zum Städtewesen, S. 62 ff. 527 T. M, Die Städtepolitik Rudolfs von Habsburg.

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Bischofsstädte, Freie Städte, Reichsstädte – Landstädte

im Interesse der Kommune – den Rittern und dem Klerus (Tote Hand) Bodenerwerb in den Reichsstädten untersagte und vorhandene Güter der Steuerp icht unterwarf. Rudolf von Habsburg gewährte den Städten neue Rechte und Freiheiten wie etwa das Privilegium de non evocando, das die Exemtion von den Landgerichten und vom königlichen Hofgericht bedeutete. Bürgern verlieh er die Lehensfähigkeit. Er beließ die Ratsverfassung oder gestattete ihre Einführung. Er anerkannte das Satzungsrecht des Rats, bestand aber auf einer starken Stellung des Schultheißen und Ammanns, der die niedere Gerichtsbarkeit innehatte, das Markt- und Gewerbewesen kontrollierte, die Polizeigewalt ausübte und den Vorsitz im Rat führte. Die hohe Gerichtsbarkeit und das militärische Oberkommando im Kriegsfall lagen noch in Händen des Reichsvogts. König Rudolfs erfolgreiche Landfriedenspolitik und sein Kampf gegen die seit 1245 unrechtmäßig errichteten Zölle kamen dem Interesse der Bürger an einem weiträumigen und befriedeten Wirtschaftsraum entgegen. Städtebünde, die seine Bündnishoheit nicht infrage stellten, akzeptierte er. Der pleißenländische Städtebund (1290) wurde von ihm zur Stärkung des Reichs im mitteldeutschen Raum ins Leben gerufen. Vor allem nahm er die stau schen Städte und die Reichsvogteistädte (wieder) ans Reich (Revindikation), während er hinsichtlich der Bischofsstädte die geistlichen Stadtherrn nicht gegen bürgerliche Autonomiebestrebungen unterstützte. Im Norden förderte er die dem Reich integrierten Städte Goslar, Dortmund und Lübeck. Nach 1273 gewann die Bezeichnung ›Stadt des Reichs‹ (civitas imperii) in der Doppelform allgemeine Verbreitung. Während des Spätmittelalters beriefen sich einige Reichsstädte zu Recht oder zu Unrecht auf ihre Lage auf Reichsboden oder auf ihre Zugehörigkeit zur Reichskammer (Frankfurt a. M.), um eine besondere Schutzverp ichtung des Kö-

nigs zu reklamieren; im Allgemeinen hatten die Reichsstädte jedoch Teil an der Objektivierung des Reichsbegriffs. Wenn auch die Unmittelbarkeit der königlichen Stadtherrschaft als konstitutiv für die Reichsstadt seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert angesehen werden kann, so schloss sie keinesfalls jegliche nicht bei König und Reich liegenden stadtherrlichen Rechte völlig aus.⁵²⁸ Viele Elemente einer geistlichen Stadtherrschaft wurden in einigen Reichsstädten erst im 14. Jahrhundert oder noch später (Kempten) abgebaut. Zeigt sich hier schon wie hinsichtlich unterschiedlicher Privilegierung eine Differenzierung der Reichsstädte, so unterscheiden sich diese weiterhin durch den zu je verschiedenen Zeiten erreichten Grad kommunaler Autonomie. Für die schwäbischen Reichsstädte, die überwiegend stau sche Gründungen mit straff herrschaftlich organisierter Verfassung waren, sind seit dem 14. Jahrhundert folgende Entwicklungsmerkmale kennzeichnend, die in ähnlicher Form auch für andere Reichsstädte zutreffen:⁵²⁹ 1. Die Befugnisse des Vogts und des Reichslandvogts werden zurückgedrängt. Die Landvogteien waren nach dem Interregnum für die Verwaltung des Reichsguts eingerichtet worden, nahmen aber eine sehr unterschiedliche Entwicklung und konnten im Einzelfall erblich und territorialisiert werden. Unterschiedlich war deshalb auch ihre Bedeutung für die Wahrnehmung stadtherrlicher Rechte des Königs. Umfangreiche Befugnisse hatte die elsässische Landvogtei gegenüber den 1354 im Zehnstädtebund (Dekapolis) zusammengeschlossenen elsässischen Reichsstädten. Es ndet eine Kompetenzverschiebung statt, indem die hohe Gerichtsbarkeit und – vielfach etwas später – die Blutgerichtsbarkeit an den Schultheißen (Ammann) übertragen werden. Die Städte erhalten Befreiung von

528 H. R, Der Rat der niederschwäbischen Reichsstädte (2.5.2), S. 187 ff.; ., Stadt und Stadtherrschaft im 14. Jahrhundert, S. 302 ff. 529 G. P, Stadtherr und Gemeinde, S. 204 ff.; H. R, Stadt und Stadtherrschaft, S. 311 ff.

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fremdem Gerichtszwang und das Recht, dass vom Stadtgericht nur unmittelbar an das Gericht des Königs appelliert werden darf. Das königliche Hofgericht verliert an Zuständigkeit für die Stadt, doch enthalten noch die Exemtionsprivilegien Karls IV. einen Vorbehalt für Klagen gegen die Stadt als Korporation, der erst an der Wende zum 15. Jahrhundert entfällt. Als Appellationsinstanz scheint das Hofgericht zuständig geblieben zu sein. Vor allem im 15. Jahrhundert erhalten einige Reichsstädte das Privileg, bei Klagen gegen die Korporation Stadt andere Reichsstädte zum Gerichtsstand in erster Instanz machen zu dürfen. 2. Die Stadt verstärkt ihren Ein uss auf das Amt des Schultheißen. Sie erhält das Recht zur Besetzung des Amtes oder – bis zum Ausgang des 14. Jahrhunderts hinsichtlich der Mehrzahl der Reichsstädte – den Besitz des Amtes durch Pfandschaft oder für alle Zeiten durch Kauf. Als Pfandnehmer oder Käufer treten neben den Kommunen auch einzelne reiche Bürger auf. Dem Erwerb des Amtes selbst gingen als grundlegende Veränderungen die vom König verliehenen Rechte der Wahl, Einsetzung und eventuell auch der Entlassung des Schultheißen, der Blutbannleihe an den Schultheißen durch den Rat und die eidliche Bindung des Schultheißen als Stadtrichter an den Spruch der bürgerlichen Schöffen voraus. 3. Rat und Bürgermeister erweitern ihre Zuständigkeit auf Kosten des Schultheißen. Sie verdrängen ihn aus der Leitung der städtischen Verwaltung und der Ratsversammlung und bauen die Ratsgerichtsbarkeit neben und über dem vom Schultheißen geleiteten Stadtgericht aus. Für Nürnbergs innere Autonomie und äußere Unabhängigkeit waren Privilegien Kaiser Heinrichs VII. von 1313 von besonderer Bedeutung. Der Reichsschultheiß wurde ver-

p ichtet, jährlich einen Eid hinsichtlich unparteiischer Rechtsp ege zu leisten. Zugleich wurde die kommunale Friedens- und Marktpolizei, die beim Schultheißen gelegen hatte, anerkannt. Die Stadt wurde in weltlichen Sachen vom geistlichen Gericht in Bamberg unabhängig und von der Zuständigkeit des Landgerichts befreit. Die Reichsstädte waren trotz aller Autonomie nicht souverän, sondern erkannten nicht zuletzt zu ihrem Schutz und zur Bewahrung ihrer Reichsunmittelbarkeit den König ausdrücklich als die höhere Gewalt an.⁵³⁰ Aber die Stadt recognoscirt keinen Superiorem als Kaiser und Reich, wie es in Anlehnung an die italienische Ausdrucksweise des 14. Jahrhunderts von deutschen Juristen ausgedrückt wird.⁵³¹ Erhalten blieb das Recht des Königs, in die Verfassung und die inneren Verhältnisse der Stadt einzugreifen, wie er es vor allem im Zusammenhang mit Verfassungskämpfen im 14. Jahrhundert und später vielerorts durch Kommissare in autoritativer Weise, häu g jedoch auch von Streitparteien angerufen, vermittelnd und schiedsgerichtlich wahrgenommen hat. Zunächst ging es dem König um die Herstellung geordneter und stabiler Verhältnisse, die ihm vielfach durch die alten Geschlechter am besten gewährleistet schienen. In Kon ikten zwischen den Ratsgeschlechtern und den Zünften förderte er nicht immer das etablierte Ratsregime, sondern bestätigte auch Verfassungen, die den Zünften eine erhebliche Beteiligung an der Ratsherrschaft einräumten. Das grundsätzliche, aber nur punktuell wahrgenommene Kon rmations- und Interventionsrecht, dessen berechtigte Ausübung durch städtische Juristen in konkreten Einzelfällen verschiedentlich infrage gestellt wurde⁵³², bezog sich ferner auf die Art und Weise der Wahrnehmung des Stadtregiments und seiner Ämter, auf die Gesetzgebung, die Finanzwirtschaft im Hinblick auf Rechnungswesen und Überschuldung, Kredit- und Steuerpo-

530 In Italien fand der Jurist Bartolus de Saxoferrato Mitte des 14. Jahrhunderts für die Städte, die keinen Höheren über sich anerkennen, die Formel civitas sibi princeps (est). 531 E. I, Die Reichsstandschaft, S. 101 (1555). 532 E. I, Reichsrecht und Reichsverfassung (4.4), S. 563–578.

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litik und Veräußerung von kommunalem Besitz, auf spektakuläre politische Prozesse und Hinrichtungen und seit dem 16. Jahrhundert auch auf die Wahrung der konfessionellen Verhältnisse.⁵³³ 3.4.4 Beziehungen zwischen dem König und einzelnen Reichsstädten und Freien Städten Mit der Benennung der allgemeinen verfassungs- und nanzgeschichtlichen Grundelemente des Verhältnisses zwischen dem königlichen Stadtherrn und der Reichsstadt ist noch nichts über die konkrete Ausgestaltung und Intensität der beiderseitigen Beziehungen ausgesagt. Es zeigt sich sehr rasch, dass diese Beziehungen zu verschiedenen Zeiten hinsichtlich einzelner Städte in unterschiedlicher Weise realisiert wurden.⁵³⁴ So gibt es Reichsstädte, die dem Königtum und einzelnen Herrschern – ungeachtet von Dynastiewechseln – besonders nahe standen, für sie wichtige Funktionen erfüllten und entsprechend hoch privilegiert wurden, während andere lediglich ihre Steuern entrichteten, die zudem in vielen Fällen an Herren verpfändet waren. Der Grad der Intensität der Beziehungen zwischen König und Reichsstadt wurde durch die Finanzkraft der Stadt und ihre geogra schpolitische Lage bestimmt. Lag der Herrschaftsmittelpunkt Rudolfs von Habsburg noch im oberen Rheintal mit Basel, so verschob sich das königliche Herrschaftszentrum im 14. Jahrhundert unter den Luxemburgern nach Osten (Böhmen) und rückte im 15. Jahrhundert unter den Habsburgern an die Südostgrenze des Reichs und damit völlig an die Peripherie. Der

König konnte sich seit dem 14. Jahrhundert kaum mehr auf alte Kernlande des Reichs stützen und hatte seinen Rückhalt in seinem eigenen Hausterritorium und dessen Hegemonialbereich sowie im Reich in königsnahen Landschaften (Franken, Hessen) und in königsnahen Reichsstädten zu suchen. Dabei elen die Reichsstädte des niederdeutschen und unteren niederrheinischen Raumes fast völlig aus. Von einer prinzipiengeleiteten Städtepolitik der Könige kann im 14. Jahrhundert kaum die Rede sein. Die königliche Politik gegenüber den Städten bestand überwiegend aus Einzelaktionen, sie war wesentlich pragmatisch und skalisch, vielfach am Nutzen für die Dynastie orientiert. So mussten die Reichsstädte zur Finanzierung des Erwerbs der Mark Brandenburg durch Karl IV. im Jahre 1373, der indirekt auf die Sicherung der luxemburgischen ronfolge abzielte, insgesamt 140 000 Gulden beisteuern, von denen auf Nürnberg dank der guten Beziehungen zum König nur 20 000, auf Ulm jedoch 40 000 und auf Augsburg 36 000 Gulden ent elen. Augsburg hatte bis zur Zahlung 60 Bürgen zu stellen. Bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts wurden die Reichsstädte immer wieder gesondert mit hohen außerordentlichen Steuern belastet, die allerdings nicht ausschließlich dynastischen Zwecken gewidmet waren. Die Beziehungen des Königs zu einzelnen Städten galten einmal den Kommunen (Rat und Bürgermeister) selbst, zum andern nanzstarken Familien des Großbürgertums⁵³⁵, die zugleich einen maßgeblichen Anteil am Stadtregiment hatten. Die Stadt wie einzelne Bürger, vor allem der Städte Nürnberg, Frankfurt und Mainz, das sozial eng mit Frankfurt verbunden war, wurden vom König um Kredite und zumindest um Steuervorauszahlungen angegan-

533 H. L, Der Kaiser und die Zunftverfassung (2.6); R. M, Das Eingreifen Friedrichs III. in innerstädtische Kon ikte; L. F, Die Verfassungsänderungen in den oberdeutschen Reichsstädten; E. N, Obrigkeitsgedanke, Zunftverfassung und Reformation (2.6). Siehe auch 2.6. 534 Siehe dazu die Monographien von T. M, F. B. F, P.-J. H und E. H, ferner die Untersuchungen zu einzelnen Städten von W. K, P. F. K, und A. N sowie die Studien von P. M und E. I. Zum Folgenden siehe insbesondere P.-J. H. Reichsstädte, freie Städte und Königtum 1389–1450. 535 P. M, Deutsches Königtum und bürgerliche Geldwirtschaft um 1400; ., Königtum und Hoch nanz in Deutschland 1350–1450; W. . S, Oberdeutsche Hoch nanz 1350–1450 (9.3).

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gen. Derartige Wünsche konnten am wenigsten dann abgelehnt werden, wenn sie bei Gelegenheit der persönlichen Anwesenheit des Königs in der Stadt vorgetragen wurden. Zum Zweck der Kreditsicherung verpfändete der König Nürnberger Großbürgern im Einzelfall die Krone. Von den Städten bezog der König modernes Kriegsgerät wie Artillerie und Feuerwaffen samt den Fachleuten, die es bedienen konnten, und Luxuswaren. Die Leistungen der Städte und der Bürger wurden vielfach mit Handelsprivilegien, Herrschafts- und Hoheitsrechten und stadtherrlichen Ämtern abgegolten. Wenn der König in Ausübung der Reichsherrschaft in Reichsstädten Aufenthalt nahm oder dort – bevorzugt in Nürnberg, Regensburg und Frankfurt – Hof- und Reichstage abhielt, wartete der Rat mit Geschenken in Form von Geld- und Naturalleistungen für den König selbst sowie für wichtige Räte und Amtsträger des Hofes und des Reichs auf. Die Stadt genügte jedoch nicht wie die Königspfalz einer Gastungsp icht; sie subventionierte den Aufenthalt, übernahm aber nicht die Kosten. Es ist nicht nur zu fragen, welche Städte häu ger vom Itinerar des Königs erfasst wurden, sondern auch, welche Städte in regelmäßigere Beziehung zum häu g reisenden Hof des Königs traten, um dort Privilegienwünsche vorzutragen, königliche Reskripte und Mandate auszubringen und vor dem königlichen Hofgericht oder vor dem königlichen Kammergericht, das seit der Mitte des 15. Jahrhunderts in Erscheinung trat, Rechtsstreitigkeiten auszutragen. Nicht nur Freie Städte und Reichsstädte, sondern auch Hansestädte des Ostseeraums suchten das königliche Gericht als oberstes Reichsgericht auf. Von diesen Besuchen protierten der König, der für Privilegienbestätigungen und für erbetene Privilegien einen Preis forderte, der je nach veranschlagter Bedeutung eines neuen Privilegs in einigen Fällen 2 000 oder 6 000 Gulden betragen konnte und den die städtischen Geschäftsträger zu drücken versuchten. Protonotar und Kanzleipersonal, Ho eute,

Räte und Türhüter erhielten für ihre Dienste gebührenähnliche Zahlungen (Taxen), Ehrungen, Geschenke und andere Zuwendungen, auch so etwas wie Bestechungsgelder.⁵³⁶ Wie der Rat und einzelne Bürger den König mit Nachrichten versorgten, so bezogen die Städte über Vertrauensleute für sie wichtige Informationen vom königlichen Hof. Für den König erfüllten Reichsstädte Verwaltungsfunktionen, indem sie königliche Finanztitel einzogen, Zahlungen an den König in Empfang nahmen, vom Depositum Zahlungen an Gläubiger des Königs leisteten und Gelder an den Hof transferierten. Durch die Beförderung von königlichen Mandaten an Adressaten leisteten sie Postdienste. Reichsstädte wurden zur Exekution von Gerichtsurteilen herangezogen, mit der Wahrnehmung von Landfriedensfunktionen, dem Schutz von Reichsangehörigen und dem Schutz sonstiger privater Dritter beauftragt. Der König befahl Reichsstädten Bündnisse einzugehen oder bestehende Bündnisse aufzulösen. Aus den Reichsstädten rekrutierte der König Kanzleipersonal, gelehrte Räte und Diener. Bürger von Städten mit umliegendem Reichsgut wie Ulm, Frankfurt, Straßburg und vor allem Nürnberg waren Lehensleute des Königs. Eine Statistik nennt für die Jahre 1378 bis 1450 insgesamt 131 Nürnberger Familien, die in diesem Zeitraum Lehensträger aufwiesen. Als Lehensleute waren diese Bürger besonders geeignet, Dienste für den König zu übernehmen, außerdem konnten sie im Kriegsfalle wie andere Lehensleute zum Militärdienst aufgeboten werden. Bürger erhielten vom König zu ihrer Standeserhöhung Wappenbriefe verliehen und wurden von ihm nobilitiert. Konstante Beziehungen zum Königtum unterhielten aufgrund ihrer geopolitischen Lage und des Kreditvolumens ihrer führenden großbürgerlichen Kreise Nürnberg und Frankfurt am Main. Andere Städte wie Mainz, Straßburg, Ulm oder Regensburg traten zeitwei-

536 E. I, Reichs nanzen und Reichssteuern im 15. Jahrhundert, S. 38–69.

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se in Erscheinung, seit dem späteren 15. Jahrhundert tat dies vor allem Augsburg. Nürnberg war die königsnahe Reichsstadt des Spätmittelalters par excellence; in idealtypischer Weise waren die Beziehungen der Reichsstadt zum Königtum ausgestaltet und verdichtet. Ludwig der Bayer war in seiner Regierungszeit von 33 Jahren insgesamt 74 Mal in Nürnberg und verlieh oder bestätigte 34 Privilegien. Als Dank für die Unterstützung im Kampf gegen den Habsburger Friedrich den Schönen nach der Doppelwahl und die Hilfe bei der Eroberung und dem Niederbrennen Herriedens (bei Ansbach) schenkte er den Nürnbergern 1316 insgesamt 39 Partikel der Gebeine des Deocarus, der um 800 Abt von Herrieden und Beichtvater Karls des Großen war. Karl IV. brachte es auf etwa 40 Aufenthalte in der Stadt, teilweise verweilte er über Monate. Er war nomineller Bauherr der Nürnberger Frauenkirche; in Nürnberg wurde sein Sohn Wenzel geboren. Für Wenzel sind 19, für Ruprecht von der Pfalz in zehn Regierungsjahren elf Besuche in der Stadt belegt, für Sigmund in 27 Regierungsjahren nur noch fünf oder sechs, für Friedrich III. in 43 und Maximilian in 33 Regierungsjahren jeweils sechs Aufenthalte. Friedrich III. dotierte in Nürnberg St. Sebald und stiftete dort ein Glasfenster. Doch war es noch vor der Krönung Friedrichs zu Spannungen mit dem Nürnberger Rat gekommen, da dieser das Privileg Sigmunds von 1423, das die Stadt für ewige Zeiten zum prestigeträchtigen Aufbewahrungsort der Reichskleinodien bestimmte, nicht bestätigen, sondern diese in seine Verfügungsgewalt bringen wollte. Dadurch gewarnt, schlug der Nürnberger Rat mehrfache Bitten des Königs ab, ihm Krönungsgewänder und Insignien auszuhändigen. Erst als er sich in einem weiteren Schreiben verp ichtete, die Kleinodien umgehend den bei der Krönung anwesenden Nürnberger Ratsherren wieder auszuhändigen, ließ sie der Rat unter größter Geheimhaltung durch den Rats-

schreiber nach Aachen bringen. Zwei Nürnberger Ratsmitglieder postierten sich bei der Krönung im Chor in nächster Nähe zum Krönungsaltar, reichten für die Zeremonie die Kleinodien aus ihren Händen dar und nahmen sie nach Gebrauch sofort wieder zu ihren Händen. Nur noch zweimal, bei feierlichen Belehnungen von Kurfürsten und Fürsten in Aachen und in Köln wurden sie ausgehändigt, nach Gebrauch aber sofort wieder zurückgegeben, sodass sie, wie es im Nürnberger Bericht heißt, nie über Nacht in den Händen des Königs blieben. In der Folgezeit befahl Friedrich III. die Übereignung der Heiligtumskleinodien, weil sie ihm als König von des heiligen Reichs wegen zustünden. Sie sollten über Regensburg nach Wiener Neustadt zur Aufbewahrung überführt werden. Um den Nürnberger Rat gefügig zu machen, verweigerte er dem Rat die Belehnung der Stadt mit den Reichslehen. Der Rat widersetzte sich jedoch, holte 1443 zur Frage der Verwahrung der Kleinodien gemäß dem Privileg Sigmunds bei den Professoren der Paduaner Rechtsfakultät Rechtsgutachten ein, welche Nürnberg in der Angelegenheit unterstützen sollten, und versuchte die Kurfürsten in dem Kon ikt für sich zu gewinnen. Der Nürnberger Berichterstatter fasst zusammen: ›Denn niemand dachte daran, dass das würdige Heiligtum, das mit großer Mühe und Arbeit von den Ketzern, die damals im Königreich Böhmen waren, nach Ungarn geführt und danach mit großer Mühe und Gefahr aus Ungarn wieder in deutsche Lande und nach Nürnberg gebracht wurde, wieder aus den oberen Landen des Reichs hinab nach Österreich oder in die Steiermark geführt und dem Reich dadurch entfremdet werden sollte.‹⁵³⁷ Seit Sigmund (1410–1437), der am Rande des Reichs in Böhmen oder außerhalb in Ungarn gebunden war, wurde für die Städte der Besuch des entlegenen, fremdartigen Königshofes zunehmend schwieriger. Vollends seit der Regierung Friedrichs III. (1440–1493) wurden die Beziehungen selbst Nürnbergs zum Königtum

537 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 3, Beilage VIII. Zu den Paduaner Konsilien siehe E. I, Reichsrecht und Reichsverfassung (4.4), S. 597–603.

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ausgedünnt, zugleich wurde der von der Stadt bereitgestellte Kreditrahmen reduziert. Der königliche Hof lag nunmehr zu sehr und dauerhaft an der Peripherie und büßte seine Attraktivität auch für die Städte ein. Dennoch lassen sich mindestens 137 Gesandtschaften Nürnbergs an den Hof Friedrichs III. ermitteln.⁵³⁸ Allmählich und vollends unter Maximilian I. rückte der Finanzplatz Augsburg an die Stelle Nürnbergs. Der Bezugspunkt war jedoch weniger das Königtum als vielmehr das immens kreditbedürftige Haus Habsburg. Besonders ausgezeichnete Reichsstädte und Freie Städte waren Frankfurt am Main als Ort der Königswahl, das in der Reformkonzeption des Nikolaus von Kues als Reichsmittelpunkt fungieren sollte, Aachen als Krönungsort, Köln, das der König im Anschluss an die Krönung aufsuchte, und Nürnberg, wo nach einer Bestimmung der Goldenen Bulle Karls IV. von 1356 die erste Reichsversammlung eines Königs stattnden sollte und wo seit 1424 die Heiltümer des Reichs aufbewahrt und jährlich vom Rat gezeigt wurden. Rottweil erlangte eine überregionale Bedeutung als Sitz des königlichen Hofgerichts, bei dem es sich um ein königliches Landgericht handelt, das aus dem Gericht der Reichsvogtei hervorgegangen war. Städte, in denen Reichsversammlungen stattfanden, waren vor allem Nürnberg, Frankfurt und Regensburg, daneben Augsburg, Eger, Wien, Wiener Neustadt, Ulm, Speyer, Worms, Köln und Freiburg im Breisgau. 3.4.5 Der Besuch von Hof- und Reichstagen Zum ersten Mal wurden Städte – in Sachen Landfrieden – 1255 von König Wilhelm von Holland (1248–1256) zu einem Hoftag berufen. Es handelte sich um Städte des Rheinischen Bundes, unter denen sich auch Städte befanden, die später nicht zu den Reichsstädten gerechnet wurden. Dass diese Städte beru-

fen wurden, verdankten sie den Wirren des Interregnums und der politischen Bedeutung des Bundes, der sich die Friedenswahrung zum Ziel gesetzt hatte. Wenn seit 1495 Versammlungen des Königs mit den Reichsständen und Freien und Reichsstädten als Reichstage bezeichnet wurden, so ging dem eine verfassungsgeschichtliche Entwicklung voraus, die von den Hoftagen mit der Form der individuellen Umfrage des Königs zu den Reichstagen führte, auf denen Stände und Städte dem König gegenübertraten und in verschiedenen, zuletzt drei Kurien, Räten oder Ständen,wie die synonymen Bezeichnungen lauten, organisiert, dem König ihre kollektiven kurialen Voten kundtaten. Die entscheidende Formierungsperiode war das letzte Drittel des 15. Jahrhunderts.⁵³⁹ In dieser Zeit entstand allmählich in semantischen Vorstufen der Quellenbegriff Reichstag, der in dieser Prägung in Worms 1495 aktenkundig wurde.⁵⁴⁰ Bis Ende des 14. Jahrhunderts war der sogenannte »tägliche Hof« des Königs Mittelpunkt von Regierung, Verwaltung und Politik des spätmittelalterlichen Königs gegenüber dem Reich. Stetig wurde der Hof von Interessenten verschiedenen Ranges mit Privilegienwünschen und in Streitsachen vor dem älteren Hofgericht und dem späteren Kammergericht aufgesucht. Wenn allgemeinere, das Reich betreffende Angelegenheiten zu behandeln waren, weitete sich die Besetzung des Hofes durch Ladung von Seiten des Königs aus. Dann konstituierte sich – eventuell mit einer Ortsveränderung verbunden – der sogenannte »tägliche Hof« zur großen Versammlung, zum Hoftag, dem speziellere, von den täglichen Regierungsgeschäften abgehobene Beratungsgegenstände zugrunde lagen. Die Krisen des Königtums seit König Wenzel und die fortgesetzte Reichsferne des Königs führtenzu einem Bedeutungsverlust des seit der Regierung der Luxemburger und schließlich der Habsburger peripher gelegenen Hofs sowie

538 Mit einer tabellarischen Au istung F. F/R. S, Nürnberger Gesandte am Hof Kaiser Friedrichs III. 539 P. M, Versuch über die Entstehung des Reichstags; E. I, Kaiser, Reich und deutsche Nation; G. A, Hoftag – Gemeiner Tag – Reichstag. 540 Zur semantisch-politischen Entwicklung hin zum Quellenbegriff Reichstag siehe E. I, Kaiser Reich und deutsche Nation, S. 185–194.

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Bischofsstädte, Freie Städte, Reichsstädte – Landstädte

zur Dominanz der Kurfürsten auf den Reichsversammlungen mit oder ohne persönlicher Anwesenheit des Königs. Friedrich III. blieb während seiner langen Regierungszeit in den Jahren 1444 bis 1471 insgesamt 27 Jahre dem Binnenreich fern und entsandte von seinen Erblanden aus zu den Reichsversammlungen bevollmächtigte Vertreter. Die Reichsstände und Reichsstädte mussten sich 1455 nach Wiener Neustadt und 1460 nach Wien, bequemen, obwohl sie die Auffassung vertraten, nur zum Besuch von Versammlungen im außerösterreichischen Binnenreich verp ichtet zu sein. Die Herausbildung des politischen Begriffs der deutschen Nation zur Mitte des 15. Jahrhunderts hin und die Herausforderungen des Reichs durch die Hussiten, dann nach dem Fall Konstantinopels im Jahre 1453 durch die Türken, 1474 durch den Herzog von Burgund, vor allem aber seit 1480 durch die Könige von Ungarn und von Frankreich sowie die in diesem Zusammenhang geäußerte verfassungspolitische Vorstellung, dass die ausreichend besuchte gemeine Versammlung der Stände in Angelegenheiten des Reichs von der Nation wegen Beschlüsse fassen könne, welche alle Reichsstände und die Freiund Reichsstädte verp ichteten, alles das führte schrittweise zur Herausbildung des Reichstags als einer verfahrensmäßig institutionalisierten Versammlung ständischer Mitregierung. Seit König Rudolf von Habsburg wurden Reichsstädte immer wieder zu Hoftagen berufen, vor allem um dort ihre Vertreter die Landfrieden beschwören zu lassen. Die Ladung von Reichsstädten gewann den Charakter einer Gewohnheit während der Regierung Ludwigs des Bayern (1314–1347), dessen Geldgeber und getreue Helfer sie in seinem Kampf mit der Kurie und dem Gegenkönigtum waren. Aus städtischen Akten geht hervor, dass die auf Hoftagen vertretenen Städte regelmäßig weder in die – verfahrensrechtlich noch nicht normierten – Beschlussfassungs-, noch in die entscheidenden Beratungsvorgänge einbezogen waren, sondern lediglich in einigen Fällen zum nachträglichen Beitritt zu bereits gefassten Beschlüssen aufgefordert wurden. Wenn sie in Urkun-

den dem Kreis derer zugerechnet werden, die Rat und Konsens erteilten, so besagt dies über ihre tatsächliche Mitwirkung noch nichts. Andererseits gibt es kaum Anhaltspunkte dafür, dass die Reichsstädte von sich aus aktive politische Mitwirkungsrechte anstrebten. Die Städteboten hatten in Einschätzung der Kräfteverhältnisse auf den Hoftagen vom Rat regelmäßig die Weisung, sich über Verlauf und Ergebnisse der Versammlung zu informieren – zu sehen und zu hören – und darüber zu Hause Bericht zu erstatten. Im 15. Jahrhundert bezog König Sigmund die Reichsstädte in ungewöhnlicher Weise in seine Überlegungen für eine Friedensordnung des Reichs ein. Er legte 1415 den Städten nahe, sich zu einem großen Städtebund zu vereinigen, dem er seine königliche Autorität zur Verfügung stellen wollte. Unter einem königlichen Hauptmann sollten die Städte mit ihrer Militärmacht jedem Friedensbruch entgegentreten. Im Jahre 1422 forderte er die Städte erneut zum Abschluss eines Friedensbündnisses auf, doch sollten die Städte zugleich auch ein Bündnis mit der Ritterschaft eingehen. Die Reichsstädte versagten sich jedoch den Plänen Sigmunds, sie neben dem niederen Adel als Widerlager zu den Fürsten zu einem gewichtigen Faktor der Reichsordnung zu machen. Deutlich ist indessen auf einigen Versammlungen während der Regierung Sigmunds und der nachfolgenden kurzen Regierung Albrechts II. (1438/39) erkennbar, dass die Städteboten in die Verhandlungen und Beratungen stärker einbezogen wurden. Gelegentlich geschah dies auf besonderen Wunsch des Königs. Ein feststehend geregeltes Verfahren gab es noch nicht. Die Kurfürsten und in ihrem Gefolge die Fürsten, Prälaten und Herren teilten den Städten ihre Stellungnahme zu der königlichen Proposition als der Tagesordnung der Versammlung mit, gelegentlich sogar, um sich mit den Städten in Beratungen abzustimmen, und nahmen Vertreter der Städte in die Ausschüsse auf. Die Hussitenkriege (1420–1436) und seit 1454 der Türkenkrieg, die Fragen einer Reichsreform, welche die Reichsgerichtsbarkeit, den

Reichsstädte – Freie- und Reichsstädte 309

Landfrieden und die Exekution betrafen, und kirchenpolitische Ereignisse wie das Basler Konzil (1431–1449), das während des Konzils entstandene neuerliche päpstliche Schisma und die Neutralitätspolitik von Reichsfürsten bildeten die hauptsächlichen Materien dieser Versammlungen. Friedrich III. knüpfte während der ersten Jahre seiner Regierung an die älteren Verhandlungsformen nicht unmittelbar an. Die Frankfurter Landfriedensordnung von 1442 (königliche Reformation) kam in Anwesenheit von Städten, aber ohne deren Mitwirkung zustande. Eine Reihe von Tagen, auf denen es vorwiegend um die Kirchenfrage ging, waren fast ausschließlich Zusammenkünfte von königlichen Räten und Kurfürsten. Die Städte gewannen in diesen Jahren die Auffassung, dass der König mehr den Fürsten und dem Adel als den Städten zugeneigt sei. In dieser Zeit machten die Freiund Reichsstädte jedoch auf der Grundlage des früheren Ladungsherkommens den Anspruch geltend, als die nicht geringsten Glieder des Reichs, d. h. als Kategorie der Reichsverfassung, zu den Reichsversammlungen geladen zu werden. Als einigermaßen geschlossener politischer Machtfaktor vermochten sie aber nach dem zweiten Fürsten- und Städtekrieg um die Mitte des 15. Jahrhunderts nicht mehr in Erscheinung zu treten. Seit den 70er Jahren verfestigten sich auf den Reichsversammlungen allmählich kuriale Beratungsformen. Auf dem Nürnberger Reichstag von 1480 wurden die drei Kurien der Kurfürsten, der Fürsten (mit Adel und Prälaten) und der Städte bereits als herkömmlich bezeichnet. Vorberatungen bestimmter Gegenstände der kaiserlichen Proposition mit dem Ziel, Vorlagen für die weiteren Verhandlungen und die Beschlussfassung des Reichstags auszuarbeiten, fanden in interkurialen Ausschüssen statt, in die

unter anderem gelehrte Räte der Fürsten und städtische Juristen als Sachverständige abgeordnet wurden. Seit 1471 riefen die Reichstage ganze Serien von allgemeinen Städtetagen hervor, auf denen die Städte ihre Politik zu koordinieren versuchten.⁵⁴¹ Auf den Hof- und Reichstagen des 15. Jahrhunderts verfolgten die Frei- und Reichsstädte im Wesentlichen die folgenden Zielsetzungen: 1. Sie waren bestrebt, eine Friedensordnung zu verhindern, die sie fürstlicher Gewalt unterwarf. Dies galt insbesondere für die Reformverhandlungen der ersten Jahrhunderthälfte, aber auch schon für die Landfriedensdiskussion des 14. Jahrhunderts. 2. Die Friedensordnung sollte Fürsten, Adel und Städte gleichstellen. Entsprechend dem städtischen Rechts- und Friedensverständnis sollte jedermann ungeachtet seiner Standesqualität im Falle des Friedensbruches nach gleichem Recht, d. h. auch peinlich gestraft werden. 3. Es galt zu verhindern, dass die Städte hinsichtlich der Reichshilfen gegen Hussiten, Türken und fremde Mächte autoritativ durch Kurfürsten und Fürsten veranschlagt und übermäßig belastet wurden. Grundsätzlich machten die Städte ein Recht auf Selbstveranschlagung außerhalb der Reichsversammlung geltend. Da sie damit nicht durchdrangen, verlangten sie eine Zuziehung zu den Ausschüssen, in denen die Reichsmatrikeln gefertigt wurden, damit sie sich dort zu ihrer Leistungsfähigkeit äußern und bei der Festsetzung ihrer Quoten mitwirken konnten. Die Reichsstädte waren bestrebt, auf den Hof- und Reichstagen selbst keine Selbstbindung eingehen zu müssen. Sie wollten die Reichsversammlung für sich nur als Ort der Beratung und Information, nicht aber zugleich der

541 Hierzu und zum Folgenden E. I, Reichsstadt und Reich, S. 48–189; ., Zur Frage der Reichsstandschaft der Frei- und Reichsstädte; ., Die Städte auf den Reichstagen des ausgehenden Mittelalters; H. G, Bemerkungen über Reichsstädte und Reichspolitik auf der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert; E. E, Berlin, Lübeck, Köln. Für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts: G. S, Der Städtetag in der Reichsverfassung; M. M, Die Haltung der Vertreter der Freien und Reichsstädte auf den Reichstagen 1521 bis 1526; H. R. S, Reichsstädte, Reich und Reformation. Zur Haltung der Städte in der Reichsreformfrage des 15. Jahrhunderts vgl. auch B. B und A. L.

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Bischofsstädte, Freie Städte, Reichsstädte – Landstädte

Entscheidung gelten lassen. Die de nitive Entscheidung sollte im heimischen Ratskollegium oder in einem weiteren Schritt in Verbindung mit einem Städtetag als gemeinstädtische Antwort getroffen werden. Der Grund dafür lag zunächst in dem Sachverhalt, dass die kollegiale Ratsverfassung notwendigerweise die Entsendung bevollmächtigter und instruierter Vertreter erforderlich machte. Da der Rat aber nach Möglichkeit absolut Geschäftsherr bleiben wollte, erteilte er in der Regel lediglich eine limitierte Handlungsmacht auf dem Wege der Instruktion und gestattete seinen Vertretern (Ratsboten), auch wenn sie Ratsmitglieder (Ratsfreunde) und nicht nur bestallte Juristen waren, nur Stellungnahmen, die ihm unvorgrei ich waren. Die Städteboten hatten deshalb auf der Versammlung auf Hintersichbringen zu gehen, sie sollten die Beschlüsse in der lateinischen Ausdrucksweise ad referendum nehmen, d. h. für die de nitive Stellungnahme des Rats eine Erklärungsfrist beantragen. Eine Einigung der Reichsversammlung kam in der Regel auf diese Weise ohne die Reichsstädte zustande. Dies gilt vor allem in Sachen Reichshilfe. Eine generelle Hilfszusage konnten die Städteboten aufgrund rechtlicher P ichtbindungen kaum umgehen. Wegen ihrer von Kurfürsten und Fürsten festgelegten Matrikelquoten traten sie aber häu g in Verhandlungen mit dem Reichsoberhaupt ein, wie sie für die 70er und 80er Jahre gut zu belegen sind. Friedrich III. berief sich aber auf die Beschlüsse der Reichsversammlungen. Nominell hatten die Frei- und Reichsstädte etwa ein Viertel der Reichshilfe zu übernehmen. Im Einzelfall wurden Städte, wenn sie ihre Qoten nicht erfüllten, wegen bei Ungehorsams zur gerichtlichen Verantwortung geladen und für straffällig erklärt, worauf sie die herrscherliche Huld zurückkaufen mussten. Die Städte machten gelegentlich sogar ein herkömmliches Recht auf Hintersichbringen geltend. Friedrich III. verlangte im Gegenzug mehrfach unter Strafandrohung, aber ohne durchschlagenden Erfolg, eine formelle und zugleich nicht limitierte Handlungsvollmacht für

die Städteboten, damit sie unter dem Druck kaiserlicher und fürstlicher Autorität noch auf dem Reichstag zu bindenden Erklärungen veranlasst werden konnten. Zweifellos trug das notorische Hintersichbringen der Städteboten stark obstruktive Züge, es muss aber auf dem Hintergrund einer fast allgemeinen Leistungsunwilligkeit und ähnlicher Verhaltensweisen weiter Kreise der Reichsstände gesehen werden. Zu einem Teil ndet das Verhalten der Städte seine Erklärung darin, dass sie nur eine sehr untergeordnete, keine mitgestaltende Rolle spielen konnten und Kaiser, Kurfürsten und Fürsten im Grunde nur an ihrer formellen Selbstverp ichtung interessiert waren. Die Städte konnten sich nicht darauf verlassen, dass sie von den Kurfürsten und Fürsten um ihre Meinung gefragt wurden. Das war verschiedentlich der Fall, in einigen anderen Fällen mussten die Städte die Meinung der Kurfürsten und Fürsten in der Form einer submissen ehrerbietigen Bitte (Supplikation) erfragen. Nachdem die Städte 1485 und 1486 wegen ihres üblichen Hintersichbringens überhaupt nicht mehr zu den Reichstagen geladen worden waren, bemühten sie sich nun um eine stärkere Integration in das Reichstagsgeschehen. In den Jahren 1487–1492 skizzierten sie ein verfassungspolitisches Konzept, das folgende Gesichtspunkte enthielt: 1. Vom Kaiser sind grundsätzlich alle Reichsstädte zu den Reichstagen zu laden. 2. Die Städte sollen diese Tage dann auch zahlreicher als bisher besuchen und die beträchtlichen Kosten nicht scheuen, um durch den Reichstagsbesuch größere Nachteile abzuwenden. Die Ratsboten sollen volle Vertretungs- und Handlungsmacht (volle Gewalt, plena potestas) erhalten. 3. Die Städte sollen sich nicht von den Beratungsgremien fernhalten lassen, ohne beim Kaiser dagegen vorstellig zu werden. Sie sollen insbesondere Vertreter in die Ausschüsse entsenden dürfen, in denen die Reichsmatrikeln gefertigt werden. Die Frei- und Reichsstädte selbst bildeten keine politisch oder korporativ geschlossene

Landstädte und grundherrschaftliche Städte 311

Einheit. Kleine Städte ließen sich auf den Städtetagen von größeren Städten wie Ulm, Augsburg und Nürnberg mitvertreten. Köln und Lübeck erschienen nur gelegentlich. Letztlich nicht zu überbrückende politische Divergenzen traten zwischen den rheinischen Städten unter Führung Straßburgs, die den Forderungen der höheren Stände und des Kaisers schrofferen Widerstand entgegensetzen wollten, und den vorsichtigeren, dem Kaiser mehr entgegenkommenden schwäbisch-fränkischen Städten auf. Auch die Gründung des ständisch heterogenen Schwäbischen Bundes (1488) wirkte sich zunächst nachteilig auf die gemeinstädtische Solidarität aus, da die Bundesstädte, darunter Ulm und Augsburg, untereinander ihre Politik koordinierten und gewisse Rücksichten auf die Politik des Bundes zu nehmen hatte. Insgesamt wurde aber in dem Zeitraum von 1487 bis 1492 der Grund für die Verfassungspolitik der Frei- und Reichsstädte seit dem frühen 16. Jahrhundert gelegt, als die Städte als der dritte Stand des Reichs Stand, Session und Stimme und damit volle ständische Mitwirkungsrechte auf dem Reichstag forderten. Der Streit ging um die Frage, ob den Städten als einem Reichsstand nur eine beratende Stimme (votum consultativum) oder eine mitentscheidende Stimme (votum decisivum) zukam. Die Städte wurden seit dem 16. Jahrhundert üblicherweise während der Verhandlungen und im Zuge der Beschlussfassung des Reichstags um ihre Meinung gefragt, doch hatten zuvor die höheren Stände der Kurfürsten und Fürsten (mit Herren) untereinander im Vorgang der so genannten Re- und Correlation ihre Voten verglichen und bei Diskrepanzen einander angepasst, sodass die Städte ständig majorisiert wurden, weil ihr Votum später nur hinzutrat und den Städten die Chance verwehrt war, mit ihrem Votum den Ausschlag zu geben. Als die Städte im Westfälischen Frieden von 1648 (IPO Art. VIII § 4) endlich verfassungsrechtlich ein votum decisivum zugestanden erhielten, erachteten sie es nicht als ein wirklich decisives, mitentscheidendes Votum, weil

nicht zugleich das Beschlussfassungsverfahren des Reichstags auf einen gleichzeitigen und einheitlichen Akt, eine simultane Re- und Correlation aller drei Kurien, festgelegt wurde.

3.5 Landstädte (Territorialstädte) und grundherrschaftliche Städte Der wissenschaftliche Hilfsbegriff »Landstadt« oder »Territorialstadt« setzt das Land oder Territorium als eine mehr oder weniger geschlossene Gebietsherrschaft voraus und weist der Stadt eine bestimmte politisch-administrative, militärische und nanzielle Funktion zu. Als Amtsstadt – wie etwa im württembergischen Territorium – ist sie Sitz des landesherrlichen Amtmannes oder Vogts, ein untergeordneter, nunmehr von der Burg in die Stadt verlagerter Verwaltungssitz, der die Verbindung zwischen der herrschaftlichen Zentrale und einem Landesteil herstellt.⁵⁴² Das Stadtgericht ist Hochgericht für die Städte und Dörfer des Amts. Hochgericht, Steuereinzug, Geleit und Wehrwesen liegen in der Hand des stadtherrlichen Vogts, der ein Adliger oder Angehöriger der bürgerlichen Oberschicht ist. Verwaltung und Niedergericht des Schultheißen können an ihn übergehen. Ein Ratskollegium, unabdingbar für die Reichsstadt des Spätmittelalters, kann fehlen. An dessen Stelle wirkt dann ein Richterkollegium an der Verwaltung mit. Andere Territorialherrschaften weisen freilich keine derart konsequente Amtsgliederung und Integration der Städte auf. Als Großburg dient die Territorialstadt der Raumherrschaft und Grenzsicherung. Aus der Wirtschaftseinheit Stadt, die sich erst im frühneuzeitlichen Fürstenstaat in eine territorialstaatliche Handels- und Gewerbepolitik einfügt, bezieht der Landesherr durch ordentlich gewordene Steuern (Bede) und außerordentliche Steuerforderungen (Bede, Schatzung) sowie Arealzinse, Markt- und Münzgelder, Zolleinnahmen und Gerichtseinkünfte Bargeldmittel, derer er angesichts einer wachsenden Geld-

542 W. G, Stadt und Amt in Altwürttemberg; W. J, Stadt und Stadtherr am Niederrhein.

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Bischofsstädte, Freie Städte, Reichsstädte – Landstädte

wirtschaft und steigender Ausgaben für Hofhaltung, Verwaltung und Söldner und im Falle der Verschuldung dringend bedarf. Um die Stadt nanziell leistungsfähig zu erhalten, fördert sie der weltliche oder geistliche Landesherr durch Privilegien, gewährt ihr einen Spielraum zur Selbstverwaltung. Vielfach gehen das Niedergericht des Schultheißen und das Hochgericht des Vogts auf die Stadt über. In anderen Fällen übt der Landesherr durch den Rat eine strenge Kontrolle über die Stadt aus. Der Landesherr ist Grundherr und zugleich Herr über jede Stadt seines Herrschaftsbereichs, wie dieser sich im Prozess der Territorialisierung herausgebildet hat. Infolge einer unfertigen, nicht geschlossenen Territorialbildung, vor allem in fränkischen und südwestdeutschen Gebieten, kam es vielfach zu einer Auffächerung von Herrschaftsrechten in der Stadt, an denen mehrere Herren teilhatten, während im Kolonialland im Osten die Herrschaftsverhältnisse einfacher und einheitlicher waren. Nun sind nicht nur weltliche und geistliche Landesherren mit großen Territorien Stadtherren, sondern auch Adlige unterhalb der Stufe von Landesherren bis hinunter zum Kleinadel, der eine grundherrliche Obrigkeit über seine Stadt ausübt. Derartige grundherrliche Städte sind kaum dör ichen Verhältnissen entwachsen und besitzen vielfach keine Ratsverfassung.⁵⁴³ Der adlige Ortsherr kontrolliert das innerstädtische Leben und behält die Gerichtsbarkeit in Händen. Der einzelne Bürger, der nicht von einem Kollegialorgan vertreten wird, untersteht unmittelbar dem Grund- und Stadtherrn und verbleibt weitgehend in feudaler Abhängigkeit, die ihn zu Leistungen verp ichtet. Eine Vielzahl von Landstädten hatte im 12./13. Jahrhundert ein distanziertes, emanzipiertes Verhältnis zum Landesherrn gesucht und eine weitgehende, den Reichsstädten vergleichbare Autonomie erlangt. Seit dem späten 14. Jahrhundert ist namentlich bei klei-

neren Städten eher eine Wiederannäherung zu beobachten. Sie gewannen »ein aktives, mitwirkendes Verhältnis zum Land und zu dessen Fürsten«. Gemeinsam mit den Landständen konnten größere Städte den fürstlichen Steuerforderungen entgegentreten und auf eine Bekämpfung des Fehdewesens im Lande dringen. Große Städte wie Lüneburg oder Soest, das im 15. Jahrhundert zur Grafschaft Mark übertrat, »gelangten zeitweilig sogar über die Beherrschung der Ständeversammlung zu einer hegemonialen Machtstellung im Lande«.⁵⁴⁴ Dies ist jedoch ein Sonderfall, wie auch die Stellung der württembergischen Ehrbarkeit auf den Landtagen. Regelmäßiger spielten die Städte (und Märkte) neben den Grafen, Herren, Rittern und Prälaten eine eher untergeordnete Rolle auf den Ständeversammlungen. Im Verfassungsgefüge des »Landes« werden sie der Sphäre des Kammergutes, des engeren Herrschaftsund Gebotsbereiches des Landesherrn zugeordnet. Mit dem Fortschreiten des Territorialisierungsprozesses vor allem seit dem 15. Jahrhundert wurden viele Städte zunehmend der Herrschaft und Kontrolle des Landesherrn unterworfen und in ein territoriales Konzept integriert. Dieser Vorgang verstärkte sich im 16. und 17. Jahrhundert erheblich und auf breiterer Ebene. Die Stadt Wien, die um 1200 als größte Stadt im Reich nach Köln gelten konnte und im 15. Jahrhundert mit etwa 20 000 Einwohnern zu den großen Städten zählte, besaß im Spätmittelalter immer nur eine begrenzte Autonomie und war auch nicht bestrebt, sie durch eine aktive Politik zu erweitern.⁵⁴⁵ Im 13. Jahrhundert hatten die Erbbürgergeschlechter die Unabhängigkeitsbestrebungen getragen, im 14. Jahrhundert aber durch die Gesetze Rudolfs IV. zur Ablösung der Grundzinse ihren überragenden Anteil am städtischen Grundbesitz, auf dem ihre soziale und politische Vorrangstellung beruhte, eingebüßt; eine neue vergleichbar stabi-

543 K. B, Städte und Stadtherren im meißnisch-lausitzischen Raum während des 14. Jahrhunderts, S. 69. 544 Ebd. 545 P. C, Art. »Wien«, in Lexikon des Mittelalters, Bd. IX, 1998, Sp. 82 f.; P. C/F. O (Hg.), Wien. Geschichte einer Stadt, Bd. I, Wien/Köln/Weimar 2001.

Landstädte und grundherrschaftliche Städte 313

le Oberschicht entstand mit der großen Zahl von 88 Ratsbürgerfamilien nicht. Kaiser Friedrich II. nahm die Stadt im Kon ikt mit Herzog Friedrich von Österreich 1237 an das Reich und privilegierte sie, doch geriet sie sofort wieder unter landesfürstliche Herrschaft. König Rudolf von Habsburg beanspruchte Wien erneut für das Reich und bestätigte die Reichsunmittelbarkeit, zugleich wuchs durch Erweiterung der Privilegien die Zuständigkeit des seit dem Stadtrecht von 1221 belegten, vermutlich erheblich älteren Rates der 24 Geschworenen über die Regelung des Marktwesens hinaus, doch erneut war dies nur von kurzer Dauer. Die Stadt musste 1288 auf ihre Privilegien verzichten, und das Stadtrecht König Albrechts I. von 1296 wies Wien wieder als Landstadt aus. Wien wurde Residenzstadt und beherbergte landesfürstliche Amtsträger und Adelige. Das Stadtregiment erließ autonom nur in Markt- und Policeyangelegenheiten Satzungen; alle anderen Bestimmungen wurden vom Landesfürsten bestätigt oder rührten von ihm her. Das Stadtgericht befand sich in der Hand des Landesfürsten, der die Stadt mit direkten jährlichen und außerordentlichen Steuern sowie mit Verbrauchs- und Verkehrsabgaben belegte. Seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts ist ein »Stadtanwalt« nachweisbar, der den Herzog im Rat der Stadt vertrat. Die Stadt und einzelne Bürger waren verschiedentlich in dynastische Kon ikte verwickelt, die etwa 1408 zur Hinrichtung prominenter Bürger führten. Nach Belagerung wurde Wien 1485 von König Matthias Corvinus von Ungarn erobert, der bis zu seinem Tod 1490 dort Hof hielt. Nach dem Tode König Maximilians I. 1519 schloss sich die Stadt der ständischen Bewegung gegen das noch von Maximilian eingesetzte Regiment an und wurde dafür 1522 bestraft. Das Stadtrecht Ferdinands I. von 1526 machte den Rat zu einer den landesfürstlichen Zentralämtern untergeordneten Exekutivbehörde mit genau umschriebenen Verwaltungsaufgaben.

In der Mark Brandenburg wurde die relative Autonomie der Städte bereits im 15. Jahrhundert mit harter Hand durch die Kurfürsten Friedrich II. und Johann gebrochen, die bei ihren Bemühungen um eine Festigung der Territorialherrschaft auf den Adel setzten.⁵⁴⁶ Gegen Bestrebungen des Landesherrn, sie stärker seiner Herrschaft unterzuordnen, hatten die märkischen Städte, die zudem innerstädtischen Oppositions- und Aufruhrbewegungen gegen das Regime der alten Ratsgeschlechter ausgesetzt waren, in den 30er Jahren neue Bündnisse untereinander abgeschlossen. Dem Bund der Doppelstädte Berlin-Cölln, Brandenburg an der Havel und Frankfurt an der Oder von 1431 folgten 1434 der mittelmärkische, 1436 der altmärkische Bund, 1437 der Bund der Städte der Prignitz, und 1438 vereinigten sich die alt- und mittelmärkischen Städte. Die Bünde dienten wie früher der gemeinsamen Abwehr des Raub- und Fehdewesens, jetzt aber auch der Abwehr von landesherrlichen Eingriffen in die städtische Gerichtsbarkeit und 1436 und 1438 der Bekämpfung innerstädtischer Aufstände gegen das Ratsregime. Hinzu kommt, dass 1430 ein Hansetag den Beschluss gefasst hatte, den in ihrer Freiheit von fürstlichen Landesherren bedrohten Bundesmitgliedern Hilfe zu gewähren. Kurfürst Friedrich II. nutzte 1442 Auseinandersetzungen zwischen Zünften und Rat in den Spreestädten Berlin und Cölln, die sich 1432 zu einer Gesamtgemeinde unter einem gemeinsamen Rat zusammengeschlossen hatten, um die Gesamtstadt wieder aufzulösen, ihre Autonomie zu brechen, ihr das Bündnisrecht abzusprechen und eine Stadtburg zu errichten. Städtische Unruhen, die vor allem in altmärkischen Städten der Einrichtung einer Bierakzise im Jahre 1488 gefolgt waren, nahm Kurfürst Johann zum Anlass, in Strafgerichten nunmehr die Autonomie weiterer Städte, unter anderem Stendals und Salzwedels, zu beseitigen, indem er ihnen die Gerichtsbarkeit und das Münzrecht entzog und den Rat seiner Bestätigung und Kon-

546 F. P, Die Hohenzollern und die Städte der Mark; H. H, Die brandenburgischen Städte des 15. Jahrhunderts; S. 235 ff.; E. E, Zur Autonomie brandenburgischer Hansestädte.

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Bischofsstädte, Freie Städte, Reichsstädte – Landstädte

trolle unterwarf. Außerdem mussten sie ihre Bünde au ösen; auch die weitere Zugehörigkeit von märkischen Städten zur Hanse wurde verboten. Ein markantes Beispiel für das Schicksal einer Territorialstadt bietet Lüneburg, das als steuerliche Geldquelle und Geldgeber für die Herzöge von Braunschweig-Lüneburg unentbehrlich war, sich in die Pfandherrschaft von Stadtvogtei, Burgen und des Salzzolls setzte und im Verlaufe des Erbfolgekrieges zwischen den Welfen und Askaniern (1369–1388) wichtige, territorial erweiterte gerichtliche und wirtschaftliche, ein Verkaufsverbot für Waren herzoglicher Mannen sowie Korn- und Holzausfuhr und Stapelrecht betreffende Privilegien erlangte. Als wichtigste Stadt des Landes trat Lüneburg dann an die Spitze der Landstände und spielte eine beherrschende Rolle in der Lüneburger Sate von 1392, einem die städtischen und ständischen Privilegien sichernden Herrschaftsvertrag zwischen dem wel schen Herzog und den Ständen mit einem institutionellen Schiedsgericht und einer Widerstandsklausel.⁵⁴⁷ Die Sate, die den Herzog auf den Landfrieden verp ichtete und seine Herrschaftsund Gerichtsrechte beschränkte, blieb allerdings weitgehend folgenlos, wurde aber erst 1520 formell aufgelöst. Im Jahre 1639 wurde dann Lüneburg mit militärischer Gewalt unter die Botmäßigkeit ihres wel schen Stadt- und Landesherrn gebracht. Die bedeutende Hansestadt Soest mit ihrem ausstrahlenden Stadtrecht, deren Kau eute Lübeck mitbegündet hatten und die als Vorort im westälischen Hanseviertel fungierte, befand sich ursprünglich unter der Stadtherrschaft Philipps von Heinsberg, ging an den Kölner Erzbischof über, dessen Pfalz die Bürger aber bereits 1225 gewaltsam entfestigten. König Wilhelm von Holland nahm Soest 1252 in den besonderen Schutz des Reichs, ohne dass die Stadt dadurch zu einer Reichsstadt wurde. Als Erzbischof Dietrich von Köln (1414–1463) im Zuge seiner territorialherrschaftlichen Bestrebun-

547 M. R, Die Lüneburger Sate.

gen als Herzog von Westfalen seit 1439 die autonome Stadt erneut unter seine Stadt- und Landesherrschaft bringen wollte, unterstellte sich Soest 1444 durch Erbhuldigung dem mit dem Haus Burgund verwandten Herzog Johann I. von Kleve-Mark, der ihr die alten und weitere Freiheitsrechte zusicherte. Die deswegen ausbrechende Soester Fehde, während der die Stadt von König Friedrich III. geächtet wurde und in der die Reichsstadt Dortmund auf der Seite des Erzbischofs beteiligt war, dauerte bis 1449. Der Kölner Erzbischof belagerte Soest 1447 mit einem von etwa 15 000 überwiegend aus böhmischen und sächsisch-meißnischen Söldnern gebildeten Heer, musste sich aber aus nanziellen Gründen zurückziehen. Die Stadt konnte im Frieden von Maastricht 1449, der unter Vermittlung von Gesandten Herzog Philipps von Burgund und päpstlicher Legaten zustande kam, ihre großen Freiheitsrechte und die Börde als städtisches Territorium (Soester Börde) behaupten. Doch verlor die äußerst verkehrsgünstig am Hellweg als Ost-West-Achse und an einer Nord-Süd-Straße gelegene Handelsstadt, die mit ihrer Salz- und Eisenproduktion sowie örtlich hergestellten Tuchen und Metallfertigwaren die Seestädte im Osten und Novgorod sowie die westeuropäischen Handelszentren erreichte, infolge territorialer Einschnürung längerfristig ihre bedeutende Rolle im Handel und nahm Züge einer Ackerbürgerstadt an. Im 16. Jahrhundert gab die Mehrzahl der landesherrlichen Städte freiwillig oder unter Druck Teilbereiche ihrer Autonomie auf und fügte sich in die Verwaltungsstruktur des zentralistisch ausgerichteten fürstlichen Territorialstaats und in dessen Wirtschaftsraum ein, wo manche Stadt neue Möglichkeiten wirtschaftlicher Prosperität fand. Andere selbständige Territorialstädte wurden in der frühen Neuzeit militärisch unterworfen, so etwa Koblenz (1562), Münster (1660/61), Erfurt (1664), Magdeburg (1666) und, nachdem die Stadt bereits in den 1490er Jahren in der ›Großen Stadtfehde‹ gegen den Herzog längere Zeit belagert worden

Städtebünde 315

war, Braunschweig (1671). Eine Reihe süddeutscher Reichsstädte suchte seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, nachdem die Zeit der großen Städtebünde vorbei war, ihrer isolierten und wenig komfortablen Insellage zu entgehen und fand durch Bündnisbeziehungen Anlehnung bei benachbarten Territorialherren.

3.6 Städtebünde 3.6.1 Gründe, Ziele und Formen städtischer Bündnisbeziehungen und Einungen Die Städte blieben vielfach nicht in isolierter Vereinzelung unter ihren Stadtherren, sondern suchten landschaftlich oder an der Richtung ihres Handels orientierte zwischenstädtische Verbindungen herzustellen. Seit dem 13. Jahrhundert trafen Städte untereinander in verschiedenen Formen und mit vielfältigen Inhalten meist kürzer befristete und dann häu g mehrfach verlängerte Vereinbarungen: Münzverträge, Justizgewährungs- und Gerichtsstandsvereinbarungen, Schiedsinstanzen für zwischenstädtische Streitfälle, Verträge über das Pfändungsrecht, Burgrechtsverträge – mit denen sich Städte wechselseitig als Mitbürger (concives) in ihr Bürgerrecht aufnahmen – Schutzund Hilfsbündnisse im Kriegsfall, Bündnisse zur Aufrechterhaltung bestehender Landfrieden und Landfriedensbündnisse. Es handelte sich um zwei- oder mehrseitige Bündnisse in nachbarschaftlichem, regionalem, aber auch in weit ausgreifendem überregionalem Rahmen.⁵⁴⁸ Die einungsrechtlich-schwurgenossenschaftliche Gemeindebildung der Kommunen und die einungsrechtlichen Großformen der Städtebünde stehen in einem gewissen inneren Zusammenhang kommunalen Autonomiestrebens, auch wenn nicht wenige Städtebünde im Hinblick

auf ihre landfriedensrechtliche Zielsetzung keine reinen Städtebünde waren. Für den Satzungs-, Einungs- und Bündnischarakter waren nach zeitgenössischem Verständnis zunächst lediglich die Gleichberechtigung der Parteien und die Leistung eines promissorischen Eides, eines Versprechenseides, entscheidend, wie wir ihn aus der Kommunebewegung kennen. Zur organisatorischen Ausgestaltung gehörten Schiedsgerichte und Bundesversammlungen, zu denen die Mitglieder Gesandte (Boten) mit umfassenden oder limitierten Handlungsvollmachten und mit politischen Verhaltensinstruktionen schickten, eventuell auch eine gemeinsame Kasse oder eine Matrikel, welche die Leistungsquoten der Mitglieder xierte. Es war die Frage, wieweit die allgemeine Verbindlichkeit von Bundesbeschlüssen durchgesetzt und deren Durchführung auch gegenüber Widerstrebenden erzwungen werden konnte. Einige Städte fungierten als Vororte, welche die Beschlüsse ausfertigten, mit Nachrichten künftige Agenden anregten und die erforderlichen Kommunikationswege und –netze für Ladungen der Bündnispartner bedienten. Die Bezeichnungen für die Bündnisse sind außerordentlich vielfältig und lassen kaum sichere typologische Rückschlüsse auf die inhaltliche oder organisatorische Eigenart zu.⁵⁴⁹ Erst im Hinblick auf organisatorische Ausgestaltung sowie landfriedens- und reichsrechtliche oder politische Zielsetzungen können typologische Unterscheidungen getroffen werden. Die Städtebünde waren häu g keine rein städtischen Verbindungen, denn vielfach beteiligten sich auch Fürsten, Grafen, Herren oder Ritter, oder diese traten später hinzu. Die Bezeichnung »Städtebund« meint in diesen Fällen, dass die Initiative im Wesentlichen bei den Städten lag. Die städtischen Schutz-, Hilfs- und Landfriedensbündnisse dienten bei unterschiedlich

548 Siehe etwa K. R (Bearb.), Die Urkunden und Akten der oberdeutschen Städtebünde vom 13. Jahrhundert bis 1549. 549 Confoederatio, colligatio, communio, conexio, unio, pactum, compromissum, promissio, ordinatio, foedus, con rmatio, coniuratio, conspiratio, amicicia – Einung, Verbündnis, Bündnis, Landfrieden, Gesellschaft, Freundschaft. E. E, Städtebünde im Reich von 1226 bis 1314, S. 202; K. R, Die Urkunden und Akten I, S. 10; G. P, Die Bedeutung der Einung in Stadt- und Landfrieden. H. Angermeier (Die Funktion der Einung, S. 478) will nur im Landfriedensbund aufgrund seines Bezugs zum Reichsrecht eine Einung sehen.

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Bischofsstädte, Freie Städte, Reichsstädte – Landstädte

ausgerichteten oder akzentuierten Bündniszwecken den wirtschaftlichen, friedensrechtlichen und politischen Interessen, im Einzelnen – der Sicherung der Handelswege zu Land, auf den Wasserstraßen und zur See, insbesondere der Bekämpfung von Land- und Seeräubern sowie allgemein der Verbrechensbekämpfung; dem Schutz der Städte und der reisenden Kau eute gegen Unrecht und Gewalt im Sinne der Landfriedensfälle Mord, Raub, Brand, Gefangennahme, rechtswidrige Pfändung und unrechtes Widersagen (rechtswidrige Fehde) sowie dem wechselseitigen Beistand bei Fehden, die einzelne Adlige, Ganerben und Adelsbünde oder Rittergesellschaften gegen Bundesstädte führten; – der Aufrechterhaltung territorialer Landfrieden; – dem Versuch, in Verbindung mit Fürsten und mit Stoßrichtung gegen Niederadlige Wirtschaftsräume zu befrieden und friedensrechtlich die Fehde als Rechtsmittel auszuschalten; – der Handhabung von Zoll- und Abgabeprivilegien sowie der Beseitigung rechtswidrig erhobener Zölle, Durchgangs- und Geleitgelder; – der Behauptung der errungenen Autonomie; der Wahrung der Rechte und Privilegien gegen Eingriffe von Stadt- und Landesherren; – dem Schutz vor einer Integration in die sich konsolidierenden und abschließenden Territorialherrschaften; – der Aufrechterhaltung der etablierten Ratsherrschaft bei innerstädtischem Aufruhr und gegen Umsturzversuche durch Streitschlichtung oder Intervention von Bundesstädten sowie durch Vertreibung der vom Rat Verbannten und Verfolgung und Bestrafung der Verfesteten (Proskribierten, Geächteten) im Bereich der Bündner.⁵⁵⁰ Vor allem für die süd- und südwestdeutschen Reichsstädte, die in der politischen Reich-

weite des Königtums lagen, ergab sich über die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen hinaus eine besondere politische Ausrichtung ihrer Bündnisse durch ihre Stellung zu König und Reich.⁵⁵¹ Die Reichsstädte hatten einen Stadtherrn, der von den Kurfürsten gewählt wurde. ronwechsel, ronvakanzen, Doppelwahlen und Au ehnungen von Fürsten bedeuteten für sie Zeiten reichspolitischer Desorganisation und gesteigerter Unsicherheit, in denen sie des stadtherrlichen Schutzes entbehrten, zugleich aber zur Entfaltung größter Eigenständigkeit und Eigenmacht herausgefordert waren und sich sogar zur Übernahme von Funktionen einer Reichsgewalt gedrängt sahen. Sie verbanden sich deshalb zur Wahrung ihrer Reichsfreiheit, d. h. Reichsunmittelbarkeit, und vereinbarten gemeinsames Handeln, um eine Doppelwahl durch die Kurfürsten zu verhindern, denn nur ein einhellig gewählter und handlungsfähiger König konnte ihre Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität garantieren. Doch wie sie den Schutz durch den König suchten, so versuchten sie auch, dessen herrschaftliche Verfügungsgewalt einzuschränken und legten deshalb Bedingungen für die Anerkennung eines Königs fest. Sie machten ihre Anerkennung von der Bestätigung ihrer Privilegien abhängig und von der verschiedentlich gegebenen und doch immer wieder nicht eingehaltenen Zusage, sie nicht zu verpfänden. Außerdem waren sie bemüht, willkürliche Schatzungen durch den König, d. h. außerordentliche und nur sie betreffende Abgaben über die ordentlichen Jahressteuern hinaus, abzuwenden. In einigen Fällen waren sie bereit, ihr Bündnis nach der Anerkennung eines Königs wieder aufzugeben oder es nur mit königlicher Erlaubnis weiterzuführen. In anderen Fällen verbündeten sie sich auch gegen den König zur Wahrung ihrer Privilegien, die sie als Reichsrecht schlechthin erachteten. Die Reichsstadt Rottweil suchte Anlehnung bei der Schweizer Eidgenossenschaft und

550 E. E, Städtebünde im Reich; J. S, Charakter und Funktion der Städtebünde. 551 Zum Folgenden siehe H. A, Königtum und Landfriede, S. 37 ff., 130 ff., passim; ., Städtebünde und Landfrieden; ., Die Funktion der Einung; J. S, Der Schwäbische Städtebund.

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schloss mit ihr erstmals 1463 ein Bündnis. Sie kämpfte 1476 an der Seite der Eidgenossen in der Schlacht von Murten gegen Herzog Karl den Kühnen von Burgund und trat nach dem Ablauf des Bündnisses 1519 im ›Ewigen Bund‹ auf Dauer als zugewandter Ort mit Bündnisverp ichtungen der Eidgenossenschaft bei und blieb mit diesem Status Mitglied bis 1802. In der frühen Neuzeit traten eidgenössische Gesandtschaften als Vermittler und Schiedsrichter in innerstädtischen Verfassungskon ikten auf und waren in dieser Eigenschaft mit ihrem Schiedsspruch (Laudum) an der Rottweiler Verfassungsentwicklung beteiligt. Im Reich entstand um die Mitte des 15. Jahrhunderts die Befürchtung, weitere Reichsstädte könnten bei der Eidgenossenschaft wegen ihrer politischen Attraktivität Zu ucht suchen und Schweizer werden, wie der formelhafte Ausdruck lautete. Die reichunmittelbare Stadt Schaffhausen, die durch die Verpfändung durch Ludwig den Bayern 1330 an die Habsburger österreichische Landstadt und durch Kaiser Sigmund wieder Reichsstadt geworden war, verband sich 1454 mit einer Reihe eidgenössischer Orte auf 25 Jahre, erneuerte das Bündnis 1479 mit allen Orten und trat nach dem 1499 beendeten Schwabenkrieg zwischen König Maximilian I. und den Eidgenossen im Jahre 1501 als volles Mitglied auf ewig der Eidgenossenschaft bei. Die Freie Stadt Basel, die sich in ständigen Auseinandersetzungen mit der Territorialmacht Österreich befand und sich an verschiedenen Städte- und Landfriedensbündnissen beteiligte, schloss sich gleichfalls nach dem Schwabenkrieg und dem anschließenden Frieden von Basel von 1499, der die faktische Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft besiegelte, unter Aufgabe ihrer in der Stadt umstrittenen Neutralitätspolitik im Jahre 1501 der Eidgenossenschaft an. So sehr den Städten an einer weiträumigen Befriedung gelegen war, so misstrauten sie doch den territorialen Landfrieden, den vom König initiierten, ständisch heterogenen Landfriedenseinungen mit Fürsten und Herren, da diese die

Gefahr bargen, dass die Städte den fürstlichen Landfriedenshauptleuten unterstellt und einer von Fürsten bestimmten Landfriedensgerichtsbarkeit unterworfen, dadurch aber schließlich in die fürstliche Landesherrschaft integriert wurden. Von diesem Misstrauen war auch noch die Haltung der Freien und Reichsstädte gegenüber einer durchorganisierten Reichsfriedensordnung im Zusammenhang mit den Reichsreformbestrebungen des 15. Jahrhunderts beherrscht. Psychologisch beruhten dieses Misstrauen und die städtische Bündnispolitik zuweilen auf Fürstenangst und Adelshass. Die Städte waren deshalb bemüht, die Wahrung ihrer Rechte und ihrer Sicherheit durch eigene Bünde ohne und sogar gegen die territorialen Landfriedenseinungen zu erreichen. Die Bündnisse der Städte waren reichsrechtlich prekär. Auf dem Wormser Hoftag König Heinrichs (VII.) von 1231 verneinten die anwesenden Fürsten in einem Spruch die Befugnis der Städte, irgendwelche Einungen, Satzungen, Bündnisse oder Eidgenossenschaften einzugehen. Weder König noch fürstliche Stadtherren dürften ohne gegenseitige Zustimmung solche Einrichtungen zulassen oder selbst anordnen. Die Goldene Bulle Karls IV. von 1356 verbot alle Bündnisse der Städte untereinander oder mit Fürsten und anderen Ständen, soweit sie nicht der Erhaltung des Landfriedens in den Bezirken und Gebieten dienten und von ihm genehmigt waren. Namentlich die süddeutschen Reichsstädte begründeten deshalb ihre Bündnisse ostentativ mit der Dienlichkeit für den Frieden im Lande, auch mit dem Nutzen für das Reich und ferner mit der durch das Bündnis gewonnenen Fähigkeit, König und Reich besser dienen zu können. Der Nürnberger Rat ließ sich um 1467 zur Frage des Bündnisrechts von einem seiner Juristen ein Rechtsgutachten erstatten.⁵⁵² Die Könige duldeten Städtebündnisse, bestätigten sie, lösten verschiedene auf oder geboten den Zusammenschluss mit Fürsten und Herren zur Wahrung des Landfriedens. In ihrem oft kurzfristig wechselnden Verhalten ließen sie sich von

552 E. I, Reichsstadt und Reich, Anhang Nr. 4, S. 206 f.

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politischer Opportunität oder von städtefeindlicher Einstellung leiten, sie gaben häu g fürstlichem Drängen nach, versuchten aber auch, in den Reichsstädten und ihren Bünden eine Stütze in ronstreitigkeiten und für ihre Politik in Auseinandersetzungen mit den Fürsten zu gewinnen. 3.6.2 Die Anfänge der städtischen Bünde und Einungen Städtebünde entstanden in den verschiedensten Regionen und Landschaften, in Westfalen, im hansischen Küstenraum, in Niedersachsen, in der Oberlausitz, in üringen, in der Wetterau, am Mittel- und Oberrhein, im Elsass, am Bodensee, im Gebiet der Eidgenossenschaft, in Schwaben und in Franken. Zweiseitige Bündnisse, kleinere stabile Gruppierungen bildeten die Grundlage für regionale und überregionale Bündnisse mit geringerer Bestandsdauer.⁵⁵³ König Heinrich (VII.) löste 1226 wegen seiner Schädlichkeit für die Mainzer Kirche einen umfassenden Städtebund auf. Dieser bestand auf der einen Seite aus einer Kerngruppe, den drei rheinischen Bischofsstädten Mainz, Worms und Speyer sowie Bingen, auf der anderen Seite aus den hinzugetretenen jüngeren königlichen Pfalz- und Reichsstädten der Wetterau, Frankfurt, Friedberg und Gelnhausen. Diese mittelrheinisch-wetterauischen Städte bildeten später die Grundlage für den großen Rheinischen Städtebund. Die elsässischen Städte verbündeten sich 1227/28 und mit weiteren Städten erneut 1246/47 in der Zeit des Gegenkönigtums. Um 1229/30 bestand im Bistum Lüttich ein Städtebund gegen den bischö ichen Stadt- und Landesherrn, den König Heinrich (VII.) nach einem Fürstenspruch 1231 untersagen musste. Dennoch wurde er 1234 erneuert, und der König, der gegen seinen Vater rebellierte, nahm sowohl zu dem Lütticher Bund als auch zum Zweiten Lombardenbund Verbindung auf. Spätestens seit 1243 und 1245 war

Bern mit Freiburg im Üchtland und Murten verbündet. Weitere Städtebünde gab es vor oder um 1250 am Oberrhein und mit dem Ladbergener Städtebund von 1246 und dem Werner Städtebund von 1235 in Westfalen. In Lothringen vereinigten sich Toul, Metz und Verdun zur Unterstützung der Staufer gegen Wilhelm von Holland, während es Wilhelm gelang, die miteinander verbündeten Städte Goslar, Hildesheim und Braunschweig auf seine Seite zu ziehen, indem er ihren Bund anerkannte. In der Städtelandschaft des Elsass gingen in dem Zeitraum von 1342 bis 1346 die Reichsstädte Oberehnheim, Schlettstadt, Colmar, Kaysersberg, Münster, Türkheim und Mülhausen ein mehrseitiges, zweimal vier Jahre dauerndes Städtebündnis ein. Auf Geheiß König Karls IV. schlossen sich 1354 die zehn kleinen elsässischen Reichsstädte, die vorigen Städte zuzüglich Hagenau, Weißenburg und Rosheim zum Zehnstädtebund (Dekapolis) unter maßgeblicher Leitung des Reichslandvogts zusammen, 1358 kam Selz hinzu. Karl IV. hob 1378 den Bund auf, doch nach seinem Tod verbündeten sich 1379 ohne Zustimmung des Königs und des Landvogts sieben der Dekapolisstädte und Selz auf fünf Jahre. Der Bund bestand mit leicht veränderter Zusammensetzung bis zur Reunionspolitik König Ludwigs XIV. im 17. Jahrhundert. Die Bischofsstadt Straßburg stand außerhalb des Bundes und unterhielt Beziehungen zu Freiburg im Breisgau und Basel sowie zu den mittelrheinischen Bischofsstädten. Im norddeutschen Hanseraum verbanden sich Hamburg und Lübeck 1230 burgrechtlich und 1241 gegen ihre Schädiger und alle öffentlichen Räuber. Städte wie Hamburg, Lübeck, Rostock, Wismar, Greifswald und Stralsund gingen in verschiedenen Gruppierungen immer wieder Bündnisse mit Territorialherren wie den Herzögen von Lauenburg, Schleswig und Mecklenburg sowie den Grafen von Holstein und von Schwerin ein. Die Städte zielten dabei in erster Linie auf die exekutori-

553 M. P, W. E, K. C, W. M, W.-D. M, J. F, L. S, K. R (Bearb.), B. B, B. K, E.-M. D.

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sche Sicherung der Handelswege gegen Räuber, sie trafen sich aber auch mit den Fürsten und deren territorialen Interessen in der Auseinandersetzung mit dem mittleren und niederen Adel, dessen Fehderecht häu g einfach ignoriert wurde, sodass militärische Aktionen gegen den Adel auf der Grundlage von Verfestungen die Form einer Verbrechensbekämpfung annehmen konnten. Seebünde zur Bekämpfung von Seeraub und Piraterie waren regelmäßig rein zwischenstädtische Angelegenheiten. Den Ostseeraum weit umspannende Landfriedensbündnisse waren nur der große Ostseelandfriede von 1338 und das Prenzlauer Landfriedensbündnis von 1374. Das letzte überterritoriale hansische Landfriedensbündnis zwischen Städten und Fürsten wurde 1414 von Hamburg und Lübeck mit den Herzögen von Lauenburg und von Schleswig und den Grafen von Holstein geschlossen. Im 14. Jahrhundert dienten regionale Städtebünde insbesondere dem Kampf um die städtische Autonomie. Eine große Anzahl niederdeutscher Städte wie etwa die Städte des Ordenslandes Preußen und die sächsischen Städte befanden sich in weit größerer Abhängigkeit von ihrem Stadt- und Landesherrn als etwa die autonomen Städte Hamburg, Wismar, Rostock und Stralsund. Auch im Norden machte sich eine bisweilen feindselige Polarisierung zwischen Städten und Fürsten breit, doch kam es nicht wie im Süden zu einem Fürsten- und Städtekrieg. Im 15. Jahrhundert richtete sich die wenig erfolgreiche, tendenziell auf ein gemeinhansisches Bündnis abgestellte Tohopesatebewegung – beginnend 1417 mit dem Bündnis zwischen Lüneburg, Lübeck, Stralsund, Wismar und Greifswald – gegen den verstärkten Zugriff der Landesherren auf ihre Städte sowie gegen innerstädtische Oppositionsbewegungen, wie dies in einzelnen Bündnissen schon des ausgehenden 13. Jahrhunderts der Fall war. Dem Goslarer Bund der Sachsenstädte von 1426 schlossen sich für kurze Zeit auch die wendischen Städte (1427) und der üringische Dreistädtebund (1430) an. Die Tohopesatebewegung erreichte 1451 ihren Höhepunkt, als sich alle drei han-

sischen Drittel miteinander verbanden und die Städtehanse dadurch einen festeren organisatorischen und politischen Zusammenhalt erreicht zu haben schien, doch gaben die Städte bald wieder ihren festeren traditionellen Bündniskonstellationen gegenüber dem labilen großräumigen Gebilde den Vorzug. Die großen oberdeutschen Bünde der Freien und Reichsstädte – und die eidgenössischen Bünde – zeichneten sich durch eine dichtere Organisation und größere Festigkeit aus. Konstitutive rechtliche und organisatorische Elemente eines durchorganisierten Bündnisses sind (1) der Vertragsschluss mit Eidesleistung, (2) das bedingte Selbsturteil, d. h. die Unterwerfung unter die vereinbarten Strafen für Bündnisverletzungen, (3) das Ausnehmen (exceptio) von König und Reich und Papst und Kirche vom Bündniszweck, (4) die Bundesversammlung, (5) das obligatorische und institutionelle Schiedsgericht für Streitigkeiten der Mitglieder untereinander sowie (6) das Mahnund Hilfsverfahren. 3.6.3 Der Rheinische Bund (1254–1256) Das umfassendste Bündnis des 13. Jahrhunderts war der aus einem zweiseitigen Vertrag der Städte Mainz und Worms und der nachfolgenden Verbindung der mittelrheinischen Städte Mainz, Worms, Oppenheim und Bingen im Frühjahr 1254 hervorgegangene, im Juli 1254 auf einem Tag zu Mainz im Namen der Städte Mainz, Köln, Worms, Speyer, Straßburg, Basel und ungenannter weiterer Städte auf zehn Jahre abgeschlossene sogenannte Rheinische Bund als ›Bund heiligen Friedens‹ (foedus sanctae pacis). Der Friede wurde zugleich von den drei rheinischen Kurfürsten, den Bischöfen von Worms, Straßburg, Metz und Basel sowie Grafen und Niederadligen beschworen. Im Jahre 1255 umfasste der Friedensbund, der ostentativ von einem christlichreligiösen Friedensverständnis getragen und legitimierend zur Ehre Gottes, der Kirche und des Reichs sowie zum gemeinen Nutzen von Reich und Arm geschlossen worden war, be-

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reits mehr als 60 rheinische, westfälische, wetterauische und thüringische Städte, Nürnberg und Bremen, ferner eine Reihe von geistlichen und weltlichen Fürsten, Grafen, Herren und Rittern.⁵⁵⁴ Bald gehörten ihm über 70 Städte zwischen Aachen, Lübeck, Regensburg, Nürnberg und Zürich an; auch Dörfer waren als Eidgenossen vorgesehen. In seiner Hochzeit umfasste der Bund, der eine erstaunliche und im Hinblick auf die Ausdehnung des Bündniswillens eine innovative politisch-organisatorische Leistung darstellt, etwa 100 Städte unterschiedlicher Größe und Bedeutung sowie etwa 30 Adlige und Bischöfe, wies eine denkbar heterogene Zusammensetzung der Mitglieder mit unterschiedlichen Interessen und Handlungsmöglichkeiten auf und besaß eine außerordentliche räumliche Ausdehnung mit entsprechenden Kommunikationsproblemen. Mainz und Worms fungierten als organisatorische Vororte. Der Bund prägte dem Reich auf dem Wege der Selbstorganisation eine landfriedensrechtliche und politische Bundesstruktur auf, die jedoch überdehnt und im Hinblick auf geschlossene Willensbildung und Durchsetzungsvermögen nicht mehr handhabbar erscheint. Der Rheinische Bund entstand in einer äußerst unsicheren Zeit der politischen Desorganisation nach dem Zusammenbruch der Stauferherrschaft und war, wie es auf dem Tag der Städte zu Worms vom Oktober 1254 maßgeblich formuliert wurde, der Wahrung des allgemeinen Friedens (pax generalis), der Sicherung der Straßen, der Erhaltung der städtischen Rechte und Freiheiten, insbesondere mit dem Ziel der Abschaffung unrechtmäßiger Zölle, und generell der Wahrung des Rechts gewidmet. Ohne reichsrechtliche Autorisation übte er Funktionen einer Reichsgewalt aus. Im Bestreben, den Bund zu erweitern, sollten Eidverweigerer unter Herren, Rittern und Städten, die sich dem Befriedungsprogramm nicht anschließen wollten, völlig vom Frieden ausgeschlossen sein, sodass gewaltsames Vorgehen

gegen ihre Person und Habe keine Verletzung des Friedens darstellte. Sie sollten mit Zwang und Gewalt zum Anschluss genötigt werden. Kriegszüge des Bundes sollten nach gemeinsamem Ratschlag der Städte und mit wechselseitiger Hilfe unternommen werden. Gegen Herren, die sich dem Frieden widersetzten, waren Unterstützungs-, Lieferungs- und Verkehrsverbote sowie Kreditsperren zu verhängen. Auf dem Rhein sollten die Städte eine schlagkräftige Kriegs otte von 600 mit Bogenschützen bewaffneten Schiffen unterhalten. In weiteren Regelungen wurde die Sicherheit während der Geiselhaft geboten, die Aufnahme neuer Pfahlbürger in den Städten und die Fehdeführung einzelner Bürger auch gegen Feinde des Friedens verboten. Später wurde ein Höchstzinssatz für jüdische Darlehen, danach eine generelle Verurteilung der Zinsnahme beschlossen. Zu einer Versammlung des Bundes (colloquium) sollten Herren und Städte je vier Vertreter mit Vollmacht entsenden. Nach einem späteren Beschluss sollte die Versammlung viermal im Jahr tagen; sie hatte die Politik des Bundes und die entsprechenden Statuten festzulegen und den inneren Frieden zwischen den Mitgliedern zu erzwingen. Streitigkeiten zwischen Angehörigen des Bundes mussten durch ein institutionelles Schiedsgericht auf dem Wege des gütlichen Ausgleichs (amicabilis compositio) oder der rechtlichen Entscheidung (iustitia) ausgetragen werden. Wurde ein Mitglied von außen angegriffen, hatten die Nachbarn auf eine Mahnung hin Hilfe zu leisten. Der Kreis der zur Hilfe Verp ichteten wurde dann schrittweise erweitert, oder es wurde eine Bundesexekution beschlossen. König Wilhelm bestätigte zwar 1255 den Bund, ordnete ihn aber zugleich seiner Gerichts- und Exekutionsgewalt unter, indem er die obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit zugunsten seiner königlichen Gerichtsbarkeit beseitigte und die eigenmächtige Bundesexekution aufhob. Er bot jedoch dem Bund einen integrativ wirksamen Rückhalt.

554 E. B, Der Rheinische Bund; E. E, Beziehungen zwischen Königtum und Städtebürgertum; A. B, Der Rheinische Bund; E. V, Der Rheinische Bund.

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Nach dem Tode König Wilhelms 1256 beschloss der Bund verstärkte Rüstungen und Kriegsbereitschaft und übernahm für die königslose Zeit der ronvakanz den generellen Schutz des Reichsguts. Die Bundesversammlung wollte durch eine Gesandtschaft die Wahlfürsten zu einer einhelligen Königswahl drängen, damit das heilige Werk des Friedens nicht zerstört werde, und nur einen einhellig präsentierten König, der von Rechts wegen die Reichsherrschaft zu übernehmen in der Lage war, anerkennen. Bei zwiespältiger Wahl wollten die Städte keinen der Gewählten in irgendeiner Form unterstützen, diesen keine Treueide und Dienste leisten, sondern ihnen den Zugang zu den Städten verwehren, ihnen keine Lebensmittel zuführen und keine Kredite gewähren. Der Bund überstand jedoch die Bewährungsprobe der Doppelwahl von 1257 mit Richard von Cornwall und Alfons von Kastilien nicht und zer el wieder in regionale Bündnisse, welche die Ausgangssituation gebildet hatten. Mainz, Worms und Oppenheim erneuerten 1259 ihren engeren Bund; und ein engeres mittelrheinisches Bündnisnetz der Region zwischen Mainz und Straßburg, das aber nur zeitweise und bedingt dazu gehörte, erwies sich bis zum Ende des 14. Jahrhunderts als funktionstüchtig. 3.6.4 Die Schwäbischen Städtebünde des 14. und 15. Jahrhunderts, der Rheinisch-Schwäbische Städtebund (1381–1389) und der Schwäbische Bund (1488–1534) Von herausragender Bedeutung unter den süddeutschen Bündnissen waren im 14. Jahrhundert die Schwäbischen Städtebünde, die teilweise auf ständisch heterogenen Landfriedensbündnissen (1307, 1330, 1333), rein städtischen Landfriedensbündnissen und auf dem 1331 von Kaiser Ludwig dem Bayern seinen Söhnen und bayerischen Amtleuten, dem Bischof von Augsburg und 22 schwäbischen Reichsstädten gebotenen Landfriedensbündnis fußten, dem 1340 Graf Ulrich von Württemberg und weitere Grafen und Herren beitraten.

Während der Geltungsdauer der Bündnisse von 1331 und 1340 versprach der Kaiser, keine der Städte in ihren Rechten zu beeinträchtigen oder zu verpfänden. Nach dem Tode Kaiser Ludwigs 1347 hatten sich die süddeutschen Reichsstädte sowohl mit dem Königtum (Karl IV., Wenzel) als auch mit Fürsten und Adel, insbesondere mit der Territorialpolitik der Grafen von Württemberg und der Herzöge von Bayern auseinanderzusetzen. Im Jahre 1349 verbündeten sich 25 schwäbische Reichsstädte auf vier Jahre zur Bewahrung ihrer Reichsfreiheit gegenüber dem schwäbischen Adel, stellten jedoch die Au ösung des Bundes in das Belieben Karls IV. Dieser war in der Folgezeit darum bemüht, die städtischen Bündnisse in allgemeine Landfrieden, die Adel und Städte zusammenführten, unter seiner Gewalt und Kontrolle einzugliedern. Allerdings initiierte der Kaiser 1370 ein Landfriedensbündnis, dem 31 Städte unter der Hauptmannschaft des Grafen von Helfenstein angehörten. Den verbündeten Reichsstädten sagte der Kaiser Schutz und Hilfe zu, da er sie gegen die Herzöge von Bayern einzusetzen gedachte. Obwohl die Reichsstädte 1372 bei Altheim eine vernichtende Niederlage gegen den Grafen Eberhard von Württemberg erlitten hatten, verlangte Karl IV. noch im selben Jahr von ihnen die Summe von 140 000 Gulden für den Erwerb der Mark Brandenburg für das Haus Luxemburg. Mit dem Einzug der Gelder beauftragte er den Grafen von Württemberg. Außerdem verlangte er von den Städten die Bereitschaft, in ein Landfriedensbündnis einzutreten, zu dessen Hauptmann Graf Eberhard von Württemberg bestellt wurde. Neue Schatzungen standen bevor, da Karl IV. die Wahl seines Sohnes Wenzel zum römischen König im Juni 1376 durch Schenkungen an die Kurfürsten zu bezahlen hatte. Die Reichsstädte befürchteten auch Verpfändungen durch den Kaiser, die sie unter fremde Herrschaft und in die Gefahr einer schließlichen Mediatisierung brachten. Derartige Besorgnisse führten – nach einem Schub neuer Verpfändungen von Städten in den Jahren 1373 und 1376 – im Juli 1376,

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kurz nach der Königswahl Wenzels, 14 fast ausschließlich oberschwäbische Reichsstädte unter der Führung der Stadt Ulm in einem schwäbischen Städtebund zur Erhaltung ihrer Rechte, Freiheiten und Gewohnheiten, aber auch zur Abwehr einer territorialen Integration zusammen.⁵⁵⁵ Bald traten weitere Städte hinzu. Kaiser Karl IV. verhängte über die damals 18 Bundesstädte die Reichsacht und zog im Oktober 1376 mit starken Heeresverbänden vor Ulm, verwüstete die Umgebung und belagerte erfolglos die Stadt. Er konnte mit militärischer Gewalt weder den bezogen auf die Goldene Bulle illegalen Städtebund au ösen noch erreichen, dass die Städte König Wenzel huldigten. Stattdessen mussten Karl IV. und Wenzel einlenken, zumal die Städte im Mai 1377 Ulrich von Württemberg, dem Sohn Graf Eberhards, vor Reutlingen eine schwere Niederlage beigebracht hatten. Sie hoben am 31. Mai 1377 die Reichsacht über die Bundesstädte auf und gaben diesen die Zusicherung, sie nicht mehr zu versetzen, zu verkaufen oder als Reichspfand zu verpfänden. Die Zahl der Bundesmitglieder wuchs infolge des Beitritts vornehmlich niederschwäbischer Reichsstädte bis zum Jahresende 1377 auf 27 an, bei der vorgezogenen Bundeserneuerung 1382 waren es bereits 34 Mitglieder, und 1385 erreichte der Bund mit 40 Angehörigen seine größte Ausdehnung.⁵⁵⁶ Auch einige Adlige und Fürsten traten ihm bei. Mit Kern in Ober- und Niederschwaben griff der Schwäbische Städtebund nun noch stärker auf Franken (Nürnberg), ferner auf das Elsass und den Oberrhein (Basel) und bis ins Bayerische (Augsburg, Regensburg) aus. Im Jahre 1381 war es in Speyer zu einer Vereinigung mit dem Rheinischen Städtebund gekommen, der kurz zuvor im selben Jahr von Mainz, Worms, Speyer, Frankfurt am

Main, Straßburg, Hagenau und Weißenburg gebildet worden war und bald 14 Städte umfasste.⁵⁵⁷ Der Rheinische Städtebund richtete sich in erster Linie gegen die in großer Zahl im Rheingebiet, aber auch im Elsass, in Lothringen, Franken und Schwaben entstandenen Rittergesellschaften, die Städte mit Fehden überzogen, Warenzüge von Kau euten über elen und plünderten, Lösegelder erpressten und Zölle und Durchgangsgelder verlangten. Der Rheinische Städtebund näherte 1384 seine zunächst vordringlich auf militärische Aktionen ausgerichtete Organisation der komplexeren Struktur des Schwäbischen Städtebundes an. Schließlich schloss der Schwäbische Städtebund 1385 in Konstanz noch ein Bündnis mit der Schweizer Eidgenossenschaft. Der Schwäbische Städtebund bedeutete den Höhepunkt des Selbstbehauptungswillens und der politisch-militärischen Machtdemonstration des Städtebürgertums im 14. Jahrhundert gegenüber Königtum, Territorialgewalten, niederem Adel und speziell auch gegenüber den adelig-fürstlichen Inhabern der ober- und niederschwäbischen Reichslandvogteien. Die Städte bekundeten in deutlicher Wendung gegen Karl IV. und Wenzel, mit ihrem Bund das Reich zu stärken und zu mehren und ihm seine Rechte zu wahren, wobei sie die städtischen Rechte und Privilegien mit den Rechten des Reichs gleichsetzten. Die Hilfsverp ichtung richtete sich ausdrücklich gegen jedermann, auch der Kaiser war als möglicher Gegner nicht ausgenommen. Außerdem forderten die Städte den Kaiser auf, sie bei ihrem geschworenen Bund zu belassen, damit sie nicht meineidig werden müssten. Die Organisation und Verfassung des Schwäbischen Städtebundes geht aus den überlieferten, in einigen Artikeln voneinander ab-

555 W. V, Geschichte des Schwäbischen Städtebundes; J. S, Der Schwäbische Städtebund; K. S, Reichsgewalt – Schwäbischer Bund – Augsburg. 556 1376: Ulm, Konstanz, Überlingen, Ravensburg, Lindau, St. Gallen, Buchhorn, Reutlingen, Rottweil, Memmingen, Biberach, Isny, Leutkirch. 1377 hinzu: Esslingen, Weil, Kempten, Kaufbeuren, Wangen, Schwäbisch-Gmünd, Schwäbisch Hall, Heilbronn, Nördlingen, Dinkelsbühl, Bop ngen, Wimpfen, Weinsberg, Aalen. 1382: Regensburg, Augsburg Pfullendorf, Rothenburg o. T., Giengen, Wyl (i. urgau). Bis 1385: Windsheim, Weißenburg, Basel, Nürnberg, Mülhausen i. E., Schweinfurt. 557 W. M, Der Rheinische Städtebund von 1381–1389.

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weichenden drei Bundesbriefen der Jahre 1376, 1377 und 1382 hervor. Die Bundesversammlung – auch Bundestag und im 15. Jahrhundert mit dem Ausdruck der Einberufung Mahnung genannt – sollte jährlich mindestens einmal tagen und entschied über die Politik des Bundes, über Bundesexekutionen, die Aufnahme neuer Mitglieder, Satzungsänderungen und -erweiterungen; sie fungierte als institutionelles und obligatorisches Schiedsgericht bei Streitigkeiten zwischen Bundesgenossen, die sich der vom Gericht gewählten Verfahrensart – gütlicher Ausgleich (Minne) oder Entscheidung nach strengem Recht – und dem Urteil bei Strafe der Verletzung der Bundesp ichten zu unterwerfen hatten. Im Bundesbrief von 1382 ist eine Untergliederung des Bundes nach Vierteln (Gesellschaften) erkennbar, innerhalb derer ein vorgeschalteter Versuch der Kon iktbereinigung unternommen werden sollte. Jede Stadt hatte einen Ratsgesandten als Vertreter in den Bundestag zu entsenden; nur die großen Städte Ulm, Konstanz, Esslingen, Augsburg, Regensburg und Nürnberg waren durch je zwei Gesandte vertreten und verfügten über je zwei Stimmen, ohne dass dadurch eine Majorisierung möglich gewesen wäre. Der Besuch der Tage war eine sanktionierte P icht. Einen Bund im Bunde bildete die Vereinigung der Bodenseestädte. Die Versammlung fasste ihre Beschlüsse nach dem Mehrheitsprinzip mit einfacher Mehrheit, nur für eine Besserung, d. h. Erweiterung der Bundesartikel, war seit 1382 eine quali zierte Zweidrittelmehrheit erforderlich, während eine Minderung der Artikel einen einhelligen Beschluss verlangte. Ulm spielte die Rolle eines Vororts; hier fanden die meisten Versammlungen statt und wurden die Bundesakten aufbewahrt. Die Stadt lud ein und gab Abwesenden die Beschlüsse zur Kenntnis. Wurde eine Bundesstadt angegriffen, so sollte an die drei nächstgelegenen Städte eine Mahnung zur Hilfeleistung ergehen. Große Kriegszüge sollten auf einem einberufenen Bundestag beschlossen werden. Die Kosten für die rasche Hilfe im engeren Umkreis, die auf alle Städte umgelegt werden sollten, die Festsetzung der städti-

schen Kontingente an Fußknechten und Gleben oder Gleven (Spießen), wobei eine Gleve einen Schwerbewaffneten zu Pferd und zwei berittene Begleiter umfasste, für Bundesexekutionen und die Strafzumessung bei Verletzungen von Bundesp ichten erfolgten nach einem Quotenschlüssel, der sich an den jeweiligen Jahressteuern der Städte ausrichtete. Sonderregelungen gab es für Regensburg, das als Freie Stadt dem König keine Jahressteuer entrichtete, und für Nürnberg. Forderungen (Mutungen) des Königs an einzelne Bundesstädte sollten nur nach gemeinsamem Beschluss des Bundes beantwortet werden. Bei seiner Verlängerung im Jahre 1382 nahm der Bund die vier Landfriedensfälle Raub, Mord, Brand und unrechtes Widersagen in die Hilfsverp ichtung auf und gab sich dadurch den Charakter eines Landfriedensbundes. Außerdem sicherten sich die Bundesstädte 1384 wechselseitige Hilfe bei innerstädtischen Au äufen, Erhebungen gegen den Rat zu. Sie wollten üchtige Aufrührer verfolgen, aufgreifen und bestrafen; von fremden Städten sollte ihre Auslieferung erzwungen werden. Von König Wenzel erlangte der Bund nie eine formelle Anerkennung, auch wenn dieser sich kurzfristig mit den Städten gegen die Fürsten arrangierte. In Nürnberg errichtete Wenzel 1383 einen Reichslandfrieden, den Nürnberger Herrenbund, der aus Fürsten, Grafen und Herren bestand. Die Reichsstädte waren dem Nürnberger Tag ferngeblieben und traten dem Bund auch dann nicht bei, als ihnen verboten wurde, einem anderen Bund anzugehören. Die Herren sollten aus Verbindungen mit Städten austreten und ihr Bürgerrecht aufgeben, soweit sie es eingegangen waren. Durch Stallungen, d. h. Landfriedensvereinbarungen zwischen Fürsten und den Städtebünden mit dem Charakter eines Waffenstillstandes, konnte ein offener Konikt vermieden werden. Zum Krieg, dem ersten großen Fürsten- und Städtekrieg, kam es dann doch 1388, nachdem die bayerischen Herzöge Überfälle auf reisende Bürger und Übergriffe auf Städte des Bundes verübt und – dies war der kriegsauslösende Vorfall – den mit den Städ-

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Bischofsstädte, Freie Städte, Reichsstädte – Landstädte

ten verbündeten Erzbischof Pilgrim von Salzburg gefangen genommen hatten. Der Schwäbische Städtebund erklärte den Herzögen Stephan und Friedrich von Bayern den Krieg, in den auf Seiten der Herzöge die Grafen Eberhard und Ulrich von Württemberg eingriffen. Die schwäbischen Städte erlitten noch im selben Jahr gegen Graf Eberhard bei Döffingen eine vernichtende Niederlage, während Pfalzgraf Ruprecht wenig später die rheinischen Städte bei Worms besiegte. Die Fürsten hatten ihre militärische Überlegenheit bewiesen. Im Reichslandfrieden zu Eger von 1389, dem die Reichsstädte beitraten, verfügte König Wenzel friedensrechtlich die Au ösung der Bünde und statuierte ein künftiges Bündnisverbot (Art. 35). Die Städtebünde erklärte er als gegen Gott, König, Reich und jegliches Recht gerichtet. Der Bodenseebund blieb jedoch bestehen und wurde von Wenzel sogar bestätigt. Bereits 1390 verbanden sich wieder zwölf schwäbische Reichsstädte unter der Führung Ulms zu einem Bund, allerdings nur zur Aufrechterhaltung des Landfriedens. Doch nahm der 1392 verlängerte und erweiterte Bund Elemente des Schutzes der städtischen Freiheiten wieder auf. Auch im 15. Jahrhundert setzten die schwäbischen Reichsstädte ihre Bundespolitik fort und bemühten sich seit 1437 um einen durchgehenden, möglichst alle Städte erfassenden Bund.⁵⁵⁸ Trotz einer neuerlichen Blüte in den 40er Jahren konnte der Schwäbische Städtebund seine alte Macht nicht zurückgewinnen. Allerdings hatte König Sigmund 1415 mit antifürstlicher Zielsetzung den Reichsstädten die Errichtung eines großen Städtebundes unter seiner Führung angetragen und seinen Vorschlag 1422, um einen großen Ritterbund erweitert, erneuert, doch entzogen sich die Städte wohl vernünftigerweise den Plänen des Königs und zugleich einer Konfrontation mit den Fürsten. Der zweite süddeutsche Fürsten- und Städtekrieg von 1449/50, der aus einem Konikt zwischen dem Markgrafen Albrecht von Brandenburg-Ansbach und der Stadt Nürnberg

resultierte, führte an seinem Vorabend, als sich Spannungen und eine Dynamik zwischen den Lagern der Fürsten und Städte aufbaute, dem Schwäbischen Städtebund weitere Mitglieder zu, während sich Kurfürst Dietrich von Mainz, Kurfürst Friedrich von Brandenburg und sein Bruder Markgraf Albrecht, die Pfalzgrafen Otto und Stephan, Herzog Ludwig von BayernIngolstadt, Markgraf Jakob von Baden, Graf Ulrich von Württemberg-Stuttgart und Erzherzog Albrecht von Österreich, der Bruder des Königs, 1445/46 auf zehn Jahre zu einem Fürstenbund formierten. Der Kern des Schwäbischen Städtebundes betrug 1443 die üblichen 15 Mitglieder mit Ulm an der Spitze, bis zur Erneuerung des Bundes 1446 waren mit den sonst politisch eigenständig agierenden großen Städten Nürnberg und Augsburg, den Reichsstädten des Bodenseegebiets und den fränkischen Reichsstädten Rothenburg, Weißenburg und Windsheim weitere 16 Städte beigetreten. Die Bundesstädte schlossen ferner Landfriedens- und Schutzbündnisse mit Pfalzgraf Ludwig IV., Graf Ludwig von Württemberg-Urach, dem Bischof von Augsburg, Herzog Albrecht von BayernMünchen und dem Bischof von Würzburg. Graf Ulrich von Württemberg eröffnete nach vorausgegangenen Rechtsstreitigkeiten mit Esslingen 1449 die Fehde gegen die Stadt; Erzherzog Albrecht von Österreich über el 1448 die oberrheinische Stadt Rheinfelden und versuchte 1449, Schaffhausen wieder an das Haus Österreich zu ziehen. Die entscheidende Kriegsfront eröffnete Markgraf Albrecht (Achilles) von Brandenburg-Ansbach im Juni 1449 mit seinem Fehdebrief an die Stadt Nürnberg, deren konkurrierendes territoriales Ausgreifen auf dem Lande mit dem Erwerb von Besitzund Herrschaftsrechten ihm ein Dorn im Auge war. Der Markgraf nahm Anstoß an der Indienstnahme seines Lehnsmannes Konrad von Heideck durch Nürnberg, sah sich in seinem Bergregal verletzt und erhob Anspruch auf eine Reihe älterer Rechte, obwohl sein Vater 1427 die Burggrafenveste mit einer Reihe von Rech-

558 H. B, Der Schwäbische Städtebund; B. B, Überregionale Städtebundsprojekte.

Städtebünde 325

ten an die Stadt verkauft hatte. Als der sogenannte Erste Markgrafenkrieg (1449/50) ausbrach, erweiterte sich die Fürstenpartei, deren Kopf Markgraf Albrecht war, um weitere Angehörige bis in den norddeutschen Raum hinein. Von Seiten der Fürsten wurde der Krieg propagandistisch-ideologisch zugespitzt als Verteidigung des Rechts, der fürstlichen Ehre, des von den Städten unterdrückten Adels sowie der gesamten ständisch-hierarchischen Rechts- und Sozialordnung gegen städtische Gleichmacherei, Anmaßung und territoriale Übergriffe ausgegeben, während sich in den Städten Angst vor der Feindschaft der Fürsten und vor dem Hass des Adels verbreitet hatten.⁵⁵⁹ Die städtische Bündnissolidarität und Hilfe für die Stadt Nürnberg, bei der etwa 7 000 Fehdeankündigungen von Fürsten und Angehörigen des Niederadels eingingen, blieben aber weit hinter den Erwartungen zurück. Allerdings hatte Nürnberg, was die Bündnispolitik des Rats anlangt, in der Vergangenheit eher eine isolationistische Politik mit einem gewissen sacro egoismo betrieben. Die am Krieg beteiligten Städte erlitten dieses Mal zwar keine entscheidende Niederlage, doch war der Zerfall des Bundes trotz weiterer Bemühungen um eine Erneuerung⁵⁶⁰ nicht mehr aufzuhalten. Die Reichsstädte verfolgten in der Folgezeit letztlich ihre Einzelinteressen und suchten als isolierte Existenzen ohne bündischen Rückhalt verstärkt das Arrangement mit den umliegenden Territorialfürsten. Der Augsburger Chronist Burkard Zink, um einen Zeitgenossen zu hören, kritisierte, dass Nürnberg zwar zu einer unnachgiebigen Haltung, Krieg zu führen und keinen schiedsgerichtlichen Streitaustrag (Richtung) einzugehen, ermutigt worden sei, viele Städte aber, darunter Augsburg, die versprochene Hilfe nicht geleistet hätten. Im Zusammenhang mit einem Städtetag zu Ulm

1458 riet er in seiner Chronik zu einem erneuten Bündnis der schwäbischen Reichsstädte angesichts der gefährlichen politischen und kriegerischen Verhältnisse, da die Städte derzeit ohne jeden Rückhalt (Rücken), ohne jegliche fremde Hilfe und Rat dastünden, ihnen der Adel so gar gehaß und untreu sei, der Kaiser als ihr – eigentlich zum Schutz verp ichteter – rechter Herr auf sie nicht achte und die Adligen mit ihnen umgehen lasse, wie diese es wollten, keine von den Städten sicher sei und man den Städten gegen Gott, Ehre und Recht nehme was man wolle. Wegen des Scheiterns der Bundesbemühungen gab er den Städte daran eigene Schuld und tadelte schließlich pessimistisch den Anschluss von Städten an Herren und die dadurch bewirkte Entsolidarisierung der Städte, die einander nicht mit Hilfe und Rat beistünden und einander weder Ehren noch Gut gönnten, alles zum Gelächter des Adels.⁵⁶¹ Was die ausbleibende Hilfe durch den Kaiser anlangte, so war die Auffassung Zinks nicht unbegründet, wurde doch dem Nürnberger Gesandten am Kaiserhof Hans Pirckheimer im Jahre 1458, als er gegenüber einem ein ussreichen Rat Friedrichs III. auf die Okkupation der Reichsstadt Donauwörth durch Herzog Ludwig von Bayern-Landshut zu sprechen kam, beschieden, der Kaiser könne in Ermangelung von Finanzmitteln aus dem Reich nicht alle Sachen ausrichten; die Städte müssten einander selbst helfen, derartige gewaltsame Übergriffe abzuwehren.⁵⁶² Der Schwäbische Bund (Bund im Lande Schwaben), dessen Gründung Kaiser Friedrich III. durch Mandat von 1487 mit Spitze gegen das territorialpolitische Ausgreifen Bayerns formell zur Handhabung und zum Schutz des Reichsfriedens von 1486 gebot, führte dann viele süddeutsche Städte mit Fürsten, Grafen, Herren, Rittern, Edelknechten und Prälaten in einer hochentwickelten, von einem stadtbürgerli-

559 E. I, Reichsstadt und Reich (3.1–3.5), S. 51 f.; K. G, »Der adel dem burger tregt Hass«. 560 Zur Haltung süddeutscher Reichsstädte auf den Städtetagen in dem von Markgraf Albrecht Achilles als kaiserlichem Hauptmann geführten Reichskrieg Friedrichs III. gegen Herzog Ludwig von Bayern-Landshut 1459–1463 siehe E. I, Kaiserliche Obrigkeit (3.1–3.5). 561 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 5, S. 188, 228, 231. 562 E. I, Reichs nanzen und Reichssteuern (3.1–3.5), S. 75.

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Bischofsstädte, Freie Städte, Reichsstädte – Landstädte

chen und einem adligen Hauptmann geleiteten Bundesorganisation mit Ulm als Hauptort zusammen. Der Bund wurde 1488 auf einer Versammlung reichsunmittelbarer adliger Stände und Städte in Schwaben in Esslingen mit einer Dauer von zunächst acht Jahren ins Leben gerufen. Zu seiner institutionellen Ausgestaltung gehörten neben den Hauptleuten des Bundes ein gewählter Bundesrat, die Vollversammlung (Mahnung) des Bundestags, seit 1500 ein Bundesgericht und eine durch Matrikularumlagen gespeisten Kasse, aus der für Militäraktionen zur Landfriedenswahrung ad hoc zusammengestellte Bundesheere und – nur kurze Zeit tatsächlich agierende – streifende Rotten von Söldnern gegen fehdeführende Niederadlige, Räuber und landschädliche Leute nanziert werden konnten.⁵⁶³ Kern des Bundes bildeten 26 schwäbische Reichsstädte, die Adelsgesellschaft mit dem St. Georgenschild (Jörgenschild) und Prälaten. Wegen des ständischen Prinzips der Ebenbürtigkeit gingen Fürsten als Bundesverwandte nur Verträge mit dem Bund ein, und Adel und Städte tagten bei Vollversammlungen gesondert. Die Fürsten traten jedoch anlässlich der Erneuerung des Bundes und Neuordnung der Verfassung von 1500 dem Bund nunmehr als Vollmitglieder bei und bildeten neben der Adels- und Prälatenbank und der Städtebank eine Fürstenbank. In der ersten achtjährigen Periode von 1488 bis 1496 umfasste der Bund 586 Mitglieder, deren Zahl bei weitgehend konstanter Beteiligung der

Städte bis zum Ende des Bundes im Jahre 1534 auf Seiten der Adels- und Prälatenbank stetig und schließlich drastisch abnahm. Das Bundesheer ging verschiedentlich, so vor allem 1523 in Franken, gegen adlige Friedensbrecher vor und beteiligte sich im Landshuter Erbfolgekrieg von 1504/05 auf Seiten Herzog Albrechts IV. von Bayern-München. Herzog Ulrich von Württemberg, der sich mit dem Haus Habsburg in territorialer Konkurrenz im Hegau befand, gründete 1512 einen Gegenbund. Als der Herzog nach der Anstiftung zum Mord an Ulrich von Hutten weitere Übergriffe gegen die württembergische Ehrbarkeit beging und die Reichsstadt Reutlingen angriff, vertrieb ihn der Bund 1519 aus seiner Herrschaft. Der Schwäbische Bund schlug aber auch 1525 durch ein Bundesheer unter dem Truchsessen von Waldburg-Zeil den Bauernaufstand nieder. Er wurde um die Jahreswende 1528/29 sogar zu einem Kriegszug gegen die Reichsstadt Memmingen aufgerufen, weil dort im Zuge der reformatorischen Bewegung die Messe abgeschafft worden war. Für das Ende des lange Zeit funktionsfähigen und erfolgreich agierenden Bundes waren nicht zuletzt infolge der Reformation die verschiedene konfessionelle Ausrichtung der überwiegend protestantischen Reichsstädte und des altgläubigen Adels sowie die Gründung des Schmalkaldischen Schutzbundes der Protestanten im Jahre 1531 von Bedeutung.

563 E. B, Der Schwäbische Bund; H. H, Die Anfänge des Schwäbischen Bundes; grundlegend jetzt H. C, Der Schwäbische Bund.

4 Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen Rat und Gemeinde – Organisation der Ratsregierung – Gefahrenabwehr und gute Ordnung – Gerichtsbarkeit – Finanzen – Bildungs- und Fürsorgeeinrichtungen

4.1 Rat und Ratsverfassung 4.1.1 Die herrschaftliche und obrigkeitliche Stellung des Rats 4.1.1.1 Die Begründung und Legitimation der Ratsgewalt Neben dem Stadtherrn übt der Rat in der Stadt die Herrschaft aus. Die Kompetenzen des Rats erweitern sich mit der Übernahme stadtherrlicher Ämter und Befugnisse durch die Stadt in den ursprünglichen Herrschaftsbereich des Stadtherrn hinein, doch tritt der Rat nicht völlig an dessen Stelle. Seine autogene, nicht vom Stadtherrn hergeleitete Legitimation bezieht der Rat aus dem genossenschaftlichen Einungs- und Gemeindegedanken. Anfänglich ist der Rat ein aus dem Kreis der Reichsten, Vornehmsten und Mächtigsten gebildeter Ausschuss der Bürgergemeinde, in deren Auftrag er handelt. Seine Gebots-, Zwangs- und Strafgewalt wird durch den genossenschaftlichen Eid der Bürger konstituiert. In Straßburg hatten gemäß den Schwörbriefen von 1334 bis 1482 alle männlichen Einwohner im Alter von 18 Jahren zu schwören, ›dem Ammeister, den Stettmeistern und dem Rat und Gericht, auch ihren Geboten und Verboten, gehorsam zu sein und ihnen getreulich gegen alle, die sich ihnen widersetzen, zu raten und zu helfen‹, während diese sich gegenüber ›den Rittern und Edelknechten, Burgern und Handwerken‹ als den politisch-sozialen Ständen und verallgemeinernd gegenüber ›der Gemeinde, Arm und Reich‹, eidlich verp ichteten, sie ›getreulich zu behüten und zu bewahren soweit sie es können und vermögen, mit Leib und Gut,

sowie allen, dem Armen und dem Reichen, gleiches Urteil zu sprechen‹.⁵⁶⁴ Der Rat ist Beschirmer, Schützer (defensor) der Gemeinde und des Stadtfriedens mit entsprechenden friedensrechtlichen und ordnungspolitischen Aufgaben, die eine Satzungsgewalt bedingen und die Durchsetzung der Satzungen mithilfe einer einfachen Rügegerichtsbarkeit. Seine zentrale Legitimation erwächst aus der Maxime des gemeinen Nutzens als Endzweck seines Handelns. Der Rat verfügt – mit einer gewissen Ausnahme etwa des Straßburger Rats – über keine genuine und originäre Gerichts- und Rechtsprechungsgewalt (iurisdictio) im traditionalen Sinne, denn diese liegt ursprünglich beim stadtherrlichen Gericht und geht auf das kommunalisierte Stadtgericht über. Mit dem allmählichen Erwerb der stadtherrlichen Ämter erlangt der Rat über diese eine Dispositionsmacht und erweitert zugleich den Gegenstandsbereich seiner statutarischen Rechtsetzung und seiner neuen eigenen Gerichtsbarkeit. Die genossenschaftliche Verbandsgewalt, die der Rat innehat, erhält dadurch einen Zuwachs von außen mit neuer Qualität und verselbständigt sich im Laufe des Mittelalters in begrifflicher Abstraktion zur einseitigen obrigkeitlichen, eine Fülle von Amtsbefugnissen beinhaltenden und Gehorsam beanspruchenden höchsten Herrschafts- und Regierungsgewalt; im ausgehenden 14. Jahrhundert ist diese Entwicklung vielfach schon weit fortgeschritten. Willkür, d. h. satzungsrechtliche Übereinkunft, wandelt sich zum Rechtsgebot des Rates, der Bürgereid zur Beeidung dieses Rechtsgebots. Genossenschaft und Herrschaft bilden keine ab-

564 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 9, S. 932–950.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

soluten Gegensätze, sondern sind Unterscheidungen relativer Natur, die sich im Verhältnis zueinander verschieben können. Indem die Genossenschaft das herrschaftliche Prinzip in sich aufnimmt, gewinnt sie an Handlungsfähigkeit, muss sich aber dem herrschaftlichen Verband unterordnen.⁵⁶⁵ Die fürstliche und königliche Stadtherrschaft, die genuin stadtherrlichen Ämter und Befugnisse und deren Ausübung unter der Ägide des Rats bilden eine zweite, jedoch abgeleitete Rechts- und Legitimationsgrundlage der Ratsherrschaft. In den Reichsstädten wird die obrigkeitliche Herrschaftsgewalt des Rats in erster Linie von der Stadtherrschaft des Königs und aus den Bindungen an König und Reich hergeleitet. Was der Rat gebietet und verbietet, geschieht – wie es 1491/92 in Speyer heißt – im Namen des Reichs und des Kaisers. Der Rat regiert als ein Vogt des Reichs von des Kaisers wegen. Die Obrigkeit des Rats ist zwar nur eine abgeleitete und deshalb nach modernen Begriffen keine souveräne Gewalt, dennoch handelt es sich um eine Obrigkeit (oberkeit), welche die Bürger und Einwohner mit ihren Anordnungen zu Gehorsam verp ichtet. Der Lübecker Rat wird in seinen Auseinandersetzungen mit der Bürgeropposition zu Beginn des 15. Jahrhunderts des hilligen rikes rat genannt. Die schwäbischen und fränkischen Reichsstädte bekennen 1481, sie hätten alle ›Regierungsgewalt‹ vom Kaiser als ihrem alleinigen, ordentlichen und rechten Herrn. Der Rat besaß im Hinblick auf den Landesherrn, dem gleichfalls geschworen wurde, nur eine delegierte Gewalt, und Amtmann und Schultheiß waren, wie dies im Spätmittelalter bereits in der römischrechtlichen Konzeption des Nikolaus Wurm in dessen »Liegnitzer Stadtrechts-

buch« deutlich wird, nichts anderes als Vertreter des Landesherrn und Stadtherrn. Rat und Gemeinde sind beide Untertanen des königlichen oder kaiserlichen Stadtherrn, wenn dieser als übergeordnete Gewalt in die Verhältnisse der Stadt eingreift, wie dies um 1530 in Nürnberg der Ratsschreiber Lazarus Spengler und der Ratsjurist Dr. Johann Müllner ihrem Dienstherrn in Gutachten erläuterten.⁵⁶⁶ Der Rat besaß nach ihrer Auffassung keine eigenständige, sondern nur eine delegierte und widerrufbare obrigkeitliche Gewalt, die in Konkurrenz zum Stadtherrn erlosch. Er war dann nur noch eine kollektive amtslose Privatperson (sondere Person). Dem 1548 wieder etablierten Stadtregiment der Augsburger Geschlechter machte Kaiser Karl V. unmissverständlich klar, dass der Rat auf der Grundlage seiner eidlichen Ratsp icht nur kraft kaiserlichen Auftrags (Befehl) mit einer lediglich delegierten Gewalt regierte, dass der Rat Regiment und Verwaltung der Oberkait nur an Statt und im Namen des Kaisers ausübe.⁵⁶⁷ Im Innenverhältnis freilich, gegenüber der Stadtbevölkerung, beanspruchten die Geschlechter durchaus, was der Kaiser ihnen verwies, von Geburt an Herren der Stadt zu sein.⁵⁶⁸ Dem landesherrlichen Stadtherrn konnte an einer starken Herrschaft des städtischen Rates gelegen sein. Der Stadtherr festigte die obrigkeitliche Stellung des Rates, der sein Vertrauen besaß, und schützte ihn, damit dieser die innerstädtische Ordnung gewährleistete. So gab der Markgraf von Meißen 1343 dem Rat zu Torgau die volle Zwangsgewalt (plenum mandatum coercendi et compellendi) über alle Einwohner der Stadt mit der Maßgabe, sie einzusetzen, wie es dem Rat jeweils im Interesse der Stadt geboten erschien. Auf diese Weise wurde auch in anderen Städten der Rat vom ursprünglichen Ver-

565 O. . G, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. III, S. 305, 332 f.; P. S, Feudalstaat und bürgerliche Verfassung, Berlin 1906, S. 44–47. 566 E. I, Ratsliteratur und städtische Ratsordnungen, S. 223 f. 567 E. N (Hg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung, S. 58. 568 I. B, Das Patriziat der deutschen Stadt (7.7), S. 29. Die übliche Selbstbezeichnung der Ratsmitglieder als herren der stat van Colne erregte noch 1419 den Zorn des Erzbischofs von Köln, der, obschon nur noch nominell Stadtherr, den Ausdruck Herr ausschließlich für sich beanspruchte. W. J, Städtische Statuten (2.2–2.4), S. 285.

Rat und Ratsverfassung

treter der gesamtstädtischen Interessen gegenüber dem Stadtherrn zu einem vom Stadt- und Landesherrn beauftragten Inhaber obrigkeitlicher Gewalt, die im gegebenen Fall auch gegen die Stadtgemeinde zu gebrauchen war.⁵⁶⁹ Der Rat besaß eine doppelte Legitimationsgrundlage mit unterschiedlichen Konsequenzen, ohne dass beide Vorstellungen harmonisiert waren: eine autogen-genossenschaftliche, die in der Wahl zum Ausdruck kam und ihn an die Gemeinde zurückband, und eine zweite, die seine Gewalt vom Stadtherrn ableitete und die es dem Rat erlaubte, in herrschaftliche Distanz zur Gemeinde zu treten. Zunehmend stand der Rat in einem herrschaftlich-obrigkeitlichen Innenverhältnis gegenüber der Gemeinde und zugleich grundsätzlich in einem subordinierten Außenverhältnis gegenüber dem Stadtherrn. In vielen Reichsstädten geriet im Innenverhältnis die genossenschaftliche Rückbindung des Rats an die Bürgerschaft nie in Vergessenheit und wurde bis zum Ende der reichsstädtischen Zeit in Auseinandersetzungen bürgerlicher Oppositionsbewegungen mit der Ratsobrigkeit immer wieder gegenüber dem Kaiser durch Supplikationen an den Reichshofrat und Klagen beim Reichskammergericht geltend gemacht.⁵⁷⁰ Selbst der Papst konnte in Fragen der verfassungsrechtlichen Ordnung des Rates, wenn sie eidlich beschworen war, wie in Bremen die parochiale Grundlage der Ratswahl, um Entbindung vom Eid ersucht werden⁵⁷¹, oder es appellierten bei innerstädtischen Auseinandersetzungen vertriebene und ihrem Besitz (possessio) entfremdete Ratsmitglieder, wie in Rostock um 1289, an den Papst.⁵⁷² Über die Kölner verhängte der Papst in den Auseinandersetzungen der Bürger mit dem Erzbischof um städtische Autonomie zwischen 1258 und

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1268 wegen kurzzeitiger Arrestierung des Erzbischofs mehrfach das Interdikt, von dem sich die Bürger durch erniedrigende Demutsbekundungen und beträchtliche Sühnezahlungen auslösen mussten. Der neue Rat Lübecks erlangte 1411 die Aufhebung der von König Ruprecht 1410 über die Stadt wegen des Umsturzes verhängten Reichsacht durch Papst Johannes XXIII., doch erklärte König Sigmund die Aufhebung für ungültig. In den zahlreichen rechtlich, skalisch und ökonomisch motivierten Auseinandersetzungen zwischen Klerus und Rat und Bürgerschaft, den verschiedentlich so genannten ›Pfaffenkriegen‹, war der Papst zudem als oberstes Haupt der Kirche betroffene Partei. Außerdem verlieh er Städten Privilegien hinsichtlich des Gerichtsstandes der Laien bei Rechtsstreitigkeiten vor dem geistlichen Gericht. 4.1.1.2 Gebundene Herrschaft im Auftrag, Gemeinwohl und obrigkeitliche Ratsgewalt Trotz aller späterer oligarchisch-familialer Überformungen, patrizisch-herrenständischer Herrschaftsattitüden und paternalistischer Obrigkeitsvorstellungen war die Ratsherrschaft allein schon wegen der beiden Legitimationsgrundlagen doch keine Herrschaft kraft eigenen Herrenrechts. Je nach Ausformung und Handhabung der jeweiligen politischen Ordnung handelte es sich mehr oder weniger oder in Teilen – durch ursprüngliche, einmalige oder periodische Wahl konstituiert – um eine rationale alltägliche Herrschaft durch Verwaltung⁵⁷³ und eine »Verwaltung kraft amtlicher P icht«⁵⁷⁴, die verschiedene verfassungsrechtliche und technische Mittel der Reduktion oder gar »Minimisierung« von Herrschaft und Macht wie Kollegialität, kurze Amtszeiten, gelegentliche Doppelbe-

569 K. B, Städte und Stadtherren im meißnisch-lausitzischen Raum (3.1–3.2), S. 68 f. 570 E. I, Obrigkeit und Stadtgemeinde, S. 111–113 (mit Literatur); ., Die Reichsstadt in der Frühen Neuzeit (3.1–3.2), S. 73–79. 571 Urkunden zur Geschichte des Städtewesens II ( Einleitung), Nr. 70, S. 63 (Bonifatius IX. 1392). 572 Urkunden zur Geschichte des Städtewesens I (Einleitung), Nr. 87, S. 88 f. 573 M. W, Wirtschaft und Gesellschaft (1.2), S. 126. 574 M. W, Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, hg. von M W (1924), ND Tübingen 1988, S. 261.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

setzung von Ämtern, Losverfahren, Turnus und Rotation oder Karenzzeiten für die Wiederwahl kannte. Es war eine Herrschaft, die im »Dienst« und »kraft Vollmacht der Verbandsgenossen« fungierte⁵⁷⁵, wenigstens intern rechenschaftsp ichtig blieb und sich an objektiven Verbandszwecken, dem gemeinen Nutzen und der Notdurft der Stadt, orientierte.⁵⁷⁶ Zumindest das Postulat, dass es so sein sollte, blieb im Bewusstsein der Bürgerschaft stets erhalten und führte immer wieder zu oppositionellen Bewegungen und Aufständen. Aristokratische Ratsregime wandten gleichfalls bestimmte Mittel der Reduzierung von Herrschaft durch Turnus an und bekannten sich ohnehin wie alle Stadtregierungen zur Aufgabe und P icht, das unbestritten übergeordnete gemeine Beste zu verwirklichen. Erweiterte Formen bürgerlicher Partizipation wie repräsentative Große Räte und bürgerschaftliche Ausschüsse sowie Gemeinde- und Bürgerversammlungen konnten in wichtigen Belangen den maßgebenden Willen der Stadtgemeinde zum Ausdruck bringen oder erfüllten eine nur akklamatorische Funktion. Die Fürsorge für das Gemeinwohl (gemeiner Nutz), die Wahrung der für die Existenz der Stadt unbedingt erforderlichen Belange (notdurft, necessitas) und der Ehre der Stadt sowie die Herstellung guter Ordnung (policey von lat. politia) und eines guten Zustands und einer guten Verfassung (gemeiner stand, gutstand ) der Stadt, bewirkt durch Regierung (regimen, regiment) und Verwaltung (administratio), waren die genuinen Handlungsfelder und die zentralen Handlungsmaximen des Rats und begründeten seine spezi sche Rechtsmacht. Der Ulmer Rat behielt sich hinsichtlich der städtischen Satzungen die amtsrechtliche Befugnis (gewalt) vor, stets alles das zu tun, was er künftig zu diesen Gesetzen erdenken könne und wovon Reich und Arm Zucht und Friede erwachse. Niemand

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dürfe dem widersprechen, sondern jedermann solle darin folgen und gehorsam sein. König Karl IV. bekundete 1348, dass alles, was der Ulmer Rat mehrheitlich um des Friedens willen und was ihm und dem Reich zu Nutzen und Ehre gereiche, verfüge, dass das mit seinem guten Willen und seiner Gunst geschehe und er in keiner Sache Widerspruch dagegen einlegen und nichts ändern werde.⁵⁷⁷ Der Rat beanspruchte zwar, jederzeit in Angelegenheiten, die den gemeinen Nutzen betrafen, alte Satzungen zum Teil oder ganz aufzuheben und neue zu machen, war aber in seinem Handeln grundsätzlich an das bestehende städtische Recht gebunden. In Ulm wurde das Satzungsbuch jedes Jahr am Schwörtag zu Georgi (23. April) vor der Gemeinde, nachfolgend vor Kleinem und Großem Rat verlesen. Änderungen hatten daher bis zwei Wochen vor Georgi zu erfolgen. Der Rat wurde auf die Satzungen vereidigt, und Bürgermeister und Ratsherren konnten jederzeit wegen offensichtlicher Verstöße gegen das Stadtrecht aus dem Rat ausgeschlossen werden.⁵⁷⁸ Das in Rottweil jährlich vom Anfang bis zum Ende vor dem Rat zu verlesende Rechtsbuch war in Rat und Gericht strikt und aufrichtig, ohne Widerspruch und Beeinträchtigung einzuhalten.⁵⁷⁹ Ein verwickeltes Überwachungssystem sollte das gewährleisten. Zwei Kontrollinstanzen, die Zunftmeister allgemein und das Zweiundzwanziger-Gremium gegenüber dem Stadtgericht, hatten darüber zu wachen, dass die Satzungen gegenüber jedermann angewandt wurden, und Verstöße zu ahnden. Kam eine Kontrollinstanz ihren P ichten nicht nach, hatte sie für jeden versäumten Fall eine Geldstrafe in komplizierter Verschränkung an die andere Instanz zu zahlen, wobei den Fünfern der Zünfte eine Kontrolle der Kontrollinstanzen zukam. In Straßburg wachten zunächst vier Kustoden, zwei aus den Consuln und zwei aus

M. W, Wirtschaft und Gesellschaft (1.2), S. 169 f. E. I, Die städtische Gemeinde, S. 191–205. Zur Gemeinwohlkonzeption siehe 2.5.3.1. C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm (2.2–2.4), S. 91 f., Nr. 173 f. Ebd., Anhang VII, S. 263 (1397). H. G (Hg.), Das ältere Recht der Reichsstadt Rottweil (2.2–2.4), Nr. 231, S. 180 f.; Nr. 377, S. 224.

Rat und Ratsverfassung

den Schöffen, die beim jährlichen Ratswechsel gewählt wurden, über die Einhaltung der Statuten, später hatte das Gremium der Fünfzehner dafür zu sorgen, dass sich der Rat an das städtische Recht hielt. Die Gemeinwohlbindung des Rats führte aber auch zu einer diskretionär ausgeübten obrigkeitlichen Fürsorge. Der Augsburger Rat sah es 1515 als seine P icht an, alle neuen Satzungen und Ordnungen der Zünfte und der Herrentrinkstube, die dem gemeinen Nutzen zuwider waren, aufzuheben, damit der Eigennutz nicht dem gemeinen Nutzen vorangehe.⁵⁸⁰ Gemeinwohl und pollicey miteinander verbindend stellte er seine Berechtigung als ordentliche Obrigkeit heraus in Fällen, die den gemeinen Nutzen, die eidlich begründete bürgerliche Ordnung und pollicey, die Erhaltung guter friedsamer Einigkeit, den allgemeinen Ordnungszustand und die Regierung der Stadt betrafen, außerhalb rechtsförmlicher, gerichtlicher Verfahren (ausserhalb rechtens) sowohl in Belange der Geschlechter als auch der Zünfte und Zunftgenossen gebietend einzugreifen und Streitigkeiten bürgerlich zu entscheiden.⁵⁸¹ Es sei seine Aufgabe, für das Wachstum und Florieren der Stadt, seiner Bürger und Untertanen zu sorgen, den gemeinen Nutzen zu fördern, Frieden und Einigkeit, gute ehrbare Zucht und bürgerliche Sitten und Gehorsam, der einem beständigen Regiment diene, herzustellen, auf der anderen Seite Aufruhr, Streitigkeiten, Uneinigkeit und Zerstörung zu verhindern. Auf diesen Handlungsfeldern könne er kraft seines Amtes, seiner Obrigkeit und Regierungsgewalt nach erfolgter Unterrichtung ohne lange Rechtfertigung, Form- und Verfahrensanforderungen das – durch einfachen Beschluss – vornehmen, was ihm gut, gleich und billig und dem gemeinen Nutzen dienend dünke. So werde es auch von anderen Regierungen gehalten, und so sei

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es in Augsburg Brauch, von altem Herkommen und noch in täglicher Übung.⁵⁸² 4.1.1.3 Ratssolidarität und Sonderstellung Einzelner Allerdings versuchten immer wieder, auch in Städten mit Zunftverfassung, reiche Einzelne, sich aus der Solidarität der Regierenden herauszulösen, sich durch besondere Zeichen von Prestige eine soziale, auch zu landadliger Lebensform tendierende Sonderstellung zu verschaffen und gesonderte Macht zu akkumulieren, so etwa in Augsburg seit dem frühen 15. Jahrhundert der Kaufmann Ulrich Arzt, insbesondere der Kaufmann Peter Egen, der Landgüter besaß und bischö iche Regalien sowie ländliche Gerichtsrechte innehatte und 1442 vom König geadelt wurde, oder von anderem sozialem Zuschnitt der Zunftmeister Ulrich Schwarz. Ein solcher Einzelner wie Egen war nach dem Zeugnis des Chronisten Burkard Zink ein gewaltiger Mann, der für seine im Rat vertretenen Ansichten Gefolgschaft beim gemeinen Volk fand, zum eigenen Nutzen mehr effektiven Ein uss und besondere verbriefte Freiheiten (mer gewalt und freihait) innerhalb der Stadt beanspruchte und zeitweise auch vom Rat zugestanden erhielt.⁵⁸³ Damit sind noch nicht einmal die ritterlichpatrizischen Autokraten oder Stadttyrannen des 14. Jahrhunderts wie Stolzhirsch, die Auer, Kunzelmann oder Brun bezeichnet. Von dem 1478 hingerichteten mehrjährigen Bürgermeister, Ratsherrn der Zimmerleute und von Berufswegen Mitglied der Salzfertigergesellschaft Ulrich Schwarz sagt der Chronist Hektor Mülich, er sei so gewaltig gewesen wie sonst nie jemand zuvor in Augsburg; was er wollte, das geschah.⁵⁸⁴ Zu den Personen, welche die von den Standesgenossen gesetzten Schranken der Gleichheit nicht respektierten, aus Leistungsund Verantwortungsbereitschaft oder nur aus

J. R, Für den Gemeinen Nutzen, S. 205. Schreiben des Rats vom 26. Juli 1515; J. R, Für den Gemeinen Nutzen, S. 196. J. R, Für den Gemeinen Nutzen, S. 207 (Mandat vom 13. Okt. 1515). R. K , Zum Augsburg-Bild in der Chronistik des 15. Jahrhunderts, in: J. J/W. W-K (Hg.), Literarisches Leben (4.5), S. 203–213. 584 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 22, S. 260.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

persönlichen Ambitionen die herkömmlichen Grenzen überschritten und eine herausgehobene, privilegierte Stellung innerhalb der ratsherrlichen Führungsgruppe erlangten, gehörten neben Peter Egen etwa der Rothenburger Bürgermeister Heinrich Topler, der Greifswalder Bürgermeister Dr. iur. Heinrich Rubenow oder – von geringerer Statur und rasch gestürzt – der Kölner Ritter Hilger Stesse zu Quattermat. Der reiche und mächtige Heinrich Topler, der in Rothenburg ob der Tauber zwischen 1383 und 1408 mehrfach das Bürgermeisteramt innehatte, wurde nach einer militärischen Niederlage der Stadt 1408 von seinen Gegnern verhaftet und kam wenige Tage später im Keller des Rathauses unter ungeklärten Umständen zu Tode. Dr. Rubenow wurde 1461 von zwei Bürgern mit dem Beil auf dem Rathaus erschlagen, Ulrich Schwarz 1478 gehängt, der Zürcher Bürgermeister Waldmann 1489 auf einem Gerüst vor der Stadt enthauptet. Ein aristokratisches Ratsregime wie das Nürnberger drang innerhalb seines Kreises auf Gleichheit, duldete – abgesehen vom hierarchischen Amtsprestige und der damit verbundenen verfassungsmäßigen Machtstellung – bei aller Konkurrenz, bei allen Familienrivalitäten und Machtkämpfen keine interne und nach außen hin sichtbare übermäßige Sonderstellung Einzelner. Die überstürzte Hinrichtung durch unehrenhaftes Erhängen des mächtigen Vordersten Losungers Niklas Muffel im Jahre 1469 nach einem durch Folter erzwungenen, aber widerrufenen Geständnis, kann auch im Hinblick auf die Wahrung des Machtgleichgewichts innerhalb der politischen Führungsgruppe betrachtet werden. Muffel war der Fälschung einer kaiserlichen Urkunde, der Unterschlagung städtischer Gelder, des Bruchs des Ratseids durch

Verrat von Ratsgeheimnissen an den Abt des Egidienklosters und an den Markgrafen Albrecht Achilles von Brandenburg-Ansbach sowie der Konspiration mit dem Feind beschuldigt worden.⁵⁸⁵ Das rigorose Verfahren, dem Fehlverhalten und wohl auch Unterstellungen zugrunde lagen, war umstritten, und es kam der Verdacht eines Justizmordes auf. Der Humanist Johannes Cochlaeus preist in seiner »Brevis Germaniae Descriptio« (1512) die Eintracht des Nürnberger Patriziats, weist aber auch auf dessen Diskretion nach außen hin, wenn er schreibt, dass Akten zu Prozessen gegen Ratsmitglieder unter Verschluss gehalten, Urteile gnadenhalber ausgesetzt oder im Geheimen vollstreckt würden. In zeitlichen Abständen kommen Vorfälle zum Vorschein, so die 30 Jahre lang währende Gefangenschaft der Patrizier Hans Haller und die Sebold Tetzels im berüchtigten Lochgefängnis in den späten siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts aus nicht bekannten Gründen, ferner der durch Beugehaft und Folter erzwungene Verzicht des Kaufmanns, Bankiers und Genannten des Größeren Rats Christoph Scheurl des Älteren auf eine Appellation vom Stadtgericht an das kaiserliche Kammergericht in einem Rechtsstreit im Jahre 1503 oder die Haft des Zweiten Losungers Anton Tetzels von 1514 bis zu seinem Tod im Jahre 1518. Der wohl hochfahrende und streitsüchtige Tetzel war beschuldigt worden, wegen Bestechlichkeit den Amtseid verletzt und anlässlich eines Rechtsstreits zwischen den beiden Familienzweigen um Rechte in Gräfenberg die vom Rat geheim gehaltenen Privilegien in der Stadt verraten zu haben. Der notorische Gegner Nürnbergs Markgraf Friedrich von Brandenburg-Ansbach war von seinen Räten begleitet vor dem Nürnberger Rat erschie-

585 G. F, Die Affäre Niklas Muffel; V. G, Ratsinteressen; P. F, Rat und Patriziat (7.7), S. 280–304; C. M, Die Stadt als ema (1.1), S. 416–427. Ein Nürnberger Ratsjurist verfasste vermutlich im Zusammenhang mit der Affäre Muffel ein kurzes Gutachten zu der Frage, ob man Ratsherren (consules) foltern dürfe, oder ob sie den Status römischer Decurionen hätten und nur im Falle eines crimen laesae maiestatis die Anwendung der Folter zulässig sei. Er kam zu dem Schluss, dass die Consules der Stadt den Decurionen nicht vergleichbar seien, weil sie im Unterschied zu diesen ihr Amt nicht auf Dauer innehätten, sondern jedes Jahr bei der Ratswahl zur Disposition stünden und ein neuer Rat gewählt würde, und außerdem heutzutage auch Plebejer Räte seien. Staatsarchiv Nürnberg, Ratschlagbücher, Nr. 6*, fol. 356r‒358r.

Rat und Ratsverfassung

nen und hatte die Freilassung seines Lehensmanns verlangt, doch hatte Tetzel danach unter Folter ein umfassendes Geständnis abgelegt. 4.1.1.4 Ratsobrigkeit und ratsherrliches Gottesgnadentum Der Rat ist in der Stadt gemäß einer sich im ausgehenden 15. Jahrhundert zunehmend ausbreitenden Terminologie die Obrigkeit, doch gibt es begrifflich und inhaltlich verschieden akzentuierte Obrigkeitsvorstellungen. Die aus Obrigkeit und Regiment ießende Rechtsmacht des Rates zur Gesetzgebung und Ausgestaltung der Policey wird in der Nürnberger Stadtrechtsreformation (1479) und nachfolgend in der Wormser Reformation (1498) auf den römischrechtlichen Begriff des ius magistratus gebracht und – so auch im Kölner Trans xbrief (1513) mit Einschluss der päpstlichen Privilegien – mit dem gemeinen, dem römisch-kanonischen Recht und mit königlich-kaiserlichen Rechtsverleihungen (Freiheiten) begründet. In Nürnberg ist von der Obrigkeit des Rats, in Worms von der Obrigkeit des Regiments und in Köln von der Obrigkeit der Stadt und des Regiments (des Rats) die Rede. Diese Obrigkeit galt in vielen Städten keineswegs uneingeschränkt und war keine unteilbare innere Souveränität. Die aus der Gesamtheit der Gaffeln bestehende Kölner Gemeinde verp ichtete sich in einer negativen Form der Ermächtigung, den Rat zwar in allem ›mächtig und machtvoll‹ (moegich und mechtich) sein zu lassen, doch mit Ausnahme politischer und nanzieller Belange von existentieller Bedeutung für die Stadt, in denen die Vierundvierziger aus den Gaffeln verfassungsrechtlich ein Mitwirkungsrecht besaßen, wie auch die Gesetzgebung gelegentlich formell wenigstens mit Wissen und Willen aller Gaffeln und der Gemeinde erfolgte. Auch in anderen hansischen Städten

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hatte nach dem Beschluss des Lübecker Hansetags von 1418 der Rat ungeachtet der Rechte der Gemeinde prinzipiell ein vollmächtiger Rat⁵⁸⁶ zu sein, ein Rat mit eigenständiger voller Handlungsmacht. Ein solcher Rat war Bedingung für die Zugehörigkeit einer Stadt zur Hanse, und Städte, in denen der rechtmäßige Rat gestürzt wurde, sollten aus der Hanse ausgeschlossen werden. Die ›Obrigkeit‹ des Rats erscheint begrifich-abstrakt in einer Hierarchie von Gewalten als höchste innerstädtische Gewalt, so wenn in Rottweil eine interne Zunftgerichtsbarkeit bestätigt, aber von einem Streitwert von zwei Gulden an eine Berufung an den Rat eröffnet wird: Jedem soll seine Hand offen sein für die Oberkeit, die ein Rat ist (1498). Es handelt sich aber wie in Köln nicht um eine autokratisch und unumschränkt konzipierte obrigkeitliche Gewalt, denn der Rottweiler Rat soll ungehindert regieren, handeln, tun und lassen und alle oberkait und gewaltsami haben. Doch soll das verfassungsrechtlich bedeutende Gemium der Achtzehner (Zwanziger) in wichtigen Angelegenheiten dazu raten und reden, davon Kenntnis erhalten oder konstitutiv seinen Willen äußern, und zwar bei Bündnissen, Fehden, in Strafsachen, bei Verkaufsofferten an die Stadt, die Herrschaftsland und Leute betreffen, und beim kommunalen Verkauf von Ewigrenten.⁵⁸⁷ Der Ulmer Rat bezeichnet sich um die Mitte des 15. Jahrhunderts gelegentlich der Anlage eines neuen Gesetzbuches als ›Obrigkeit‹, die ›ihre Untertanen und den gemeinen Mann in aller Ehrbarkeit und Billigkeit zu regieren‹ habe.⁵⁸⁸ Am schärfsten stellte der Berner Rat seine umfassende, als ›natürliche Herrschaft‹ fürstengleiche Herrschaftsgewalt heraus, als er sich 1477 von allen Männern über vierzehn Jahren in Stadt und Land Treue und Gehorsam schwören ließ, und zwar als de-

586 Siehe 2.6.8. Zum Kölner Trans xbrief (1513), der die rechtsgelehrte Begründung der Rechtsetzungsbefugnis enthält, siehe 2.5.3.5.3. 587 H. G (Hg.), Das ältere Recht der Reichsstadt Rottweil, Nr. 324, S. 213, Nr. 409, S. 229. 588 Zu ratsherrlichen Obrigkeitsvorstellungen siehe E. M, »Obrigkeit«; E. V, Reichsstadt und Herrschaft; R. B, Argumentation und Selbstverständnis der Bürgeropposition (4.1); S. 78; E. N, Obrigkeitsgedanke, S. 15; H. R, Der Rat der niederschwäbischen Reichsstädte (2.5.2), S. 185 f., 282 ff.; E. I, Die städtische Gemeinde; ., Obrigkeit und Stadtgemeinde.

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ren rechte natürliche herschaft, die in allen sachen ganzen und vollen gewalt und macht habe.⁵⁸⁹ Die Zuspitzung der Ratsherrschaft zum obrigkeitlichen Regiment ging mit einer fortschreitenden sozialen Distanzierung einer mehr oder weniger abgekapselten aristokratischen, oligarchischen oder plutokratisch-zünftigen Ratsherrschaft gegenüber der Bürgerschaft und insbesondere dem gemeinen Volk einher. Für Ratsmitglieder wurde oft schon seit der Mitte des 13. Jahrhunderts der Titel Herr (dominus) üblich, der sonst dem Adel, Geistlichen und einzelnen Patriziern vorbehalten war. Selbst Karl IV. redete 1375 in Lübeck die Ratsmitglieder in freundlicher Courtoisie bei seiner Begrüßung als Herren an. Wahl auf Lebenszeit, Kooptation und kooptationsähnliche Wahlvorgänge grenzten das Ratsregime und die ratsfähigen Kreise nach unten gegenüber der Bürgerschaft ab. Der Rat besaß einen auf Disziplin und Solidarität abzielenden Ehren- und Verhaltenskodex. Satzungsrechtliche Strafnormen sollten die Ratsmitglieder und die Autorität des Rats nach außen gegenüber der Bürgerschaft vor Beleidigungen, Misshandlungen, Zusammenrottungen und Tumulten, Verfassungsartikel gegen Entmachtung und Umsturz schützen. Unter Vernachlässigung der übergeordneten Bindungen an den Stadtherrn konnte das obrigkeitliche Ratsregiment einen Herrschaftsanspruch erheben, der – gestützt auf Römerbrief 13,1 – einem ratsherrlichen Gottesgnadentum sehr nahe kam. In einer Nördlinger Ratsordnung des Jahres 1480 ist davon die Rede, dass alle Gewalt von Gott dem Herrn, von obnen herab sei. Wer zu Gewalt erwelt wirt, der soll die Herrschaftsgewalt ordentlich gebrauchen, weil

sie von Gott ist, doch müssen die Untertanen ihren Oberen gehorsam sein als denen, die sorg umb sie tragen, und rechnung [Rechenschaft] für sie werdent tun, das sie mügen getun mit fröden, one seüfzgen, das ist ihr nutz.⁵⁹⁰ Der Nürnberger Ratsjurist Dr. Christoph Scheurl fasste 1516 die Legitimation der aristokratischen Herrschaft der Geschlechter in die Worte, dass alle Gewalt von Gott herrühre und das gute Regieren nur wenigen und allein denen verliehen sei, die der Schöpfer aller Dinge und der Natur mit besonderer Weisheit begabt habe.⁵⁹¹ In seiner 1544/45 fertiggestellten »Weberchronik« sprach eine Generation später der Augsburger Protestant, Schuhmacher, Zunftmeister, Stadtrat und Stadtarchivar Clemens Jäger aus der Perspektive der Zunftverfassung von der vocation und beruffs zu den burgerlichen regimenten, d. h. bürgerlich-republikanischen Regierungen, wandte sich aber gleichfalls unter Berufung auf Gottes Ordnung gegen exklusive Ansprüche und machte zugunsten einer sozialständisch offenen Auswahl der Regierenden geltend, dass diejenigen, die von Gott mit Verstand, Weisheit und Ehrbarkeit versehen worden seien, von der Regierung nicht ausgeschlossen werden dürften. Gott aber gieße seine Gnaden und Gaben nach seinem Gefallen gleichermaßen über Reich und Arm aus.⁵⁹² Das Hamburger Stadtrecht in der vom rechtsgelehrten Bürgermeister Dr. Hermann Langenbeck überarbeiteten Fassung von 1497 bezieht sich in einer Art Devotionsformel und im Sinne der Bindung der Herrschaft an Recht und Gerechtigkeit, auf Römer 13 und nennt den vierundzwanzigköp gen Rat, dargestellt in der Bilderhandschrift im Ratsgestühl mit Eidre-

589 H. R, Grundzüge der bernischen Rechtsgeschichte, I. Teil, 1928, S. 35 f.; R. F, Geschichte Berns, 1. Bd., 1946, S. 432 ff. 590 H.-C. R, Eine bürgerliche Reformation: Nördlingen, Gütersloh 1982, S. 41. 591 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 11, S. 791. Bei der Eröffnungssitzung des jährlich neu in einer Bestätigungswahl gewählten Rats trug der Vorderste Losunger in der frühen Neuzeit in einem langen Gebet vor, dass Gott die Ratsherren durch ordentliche Wahl in den Stand der Obrigkeit dieses löblichen Regimentes wiederum gesetzt und ihnen Gewalt über ihre Untertanen und Mitbürger, sie zu regieren, gegeben habe, dass sie diese Gewalt nicht von sich selbst hätten und Amtleute des Reiches Gottes seien, Gott mit ihnen in Gericht und Rat sitze und alles beobachte und dereinst gar ein scharfes Gericht über die Obrigkeit gehen werde, so ihr Amt nicht recht führen und tun, wie es der Herr geboten und befohlen hat. P. F, Rat und Patriziat in Nürnberg (7.7), S. 155. 592 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 34, S. 79 f.

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liquiar und Stadtrechtsbuch, die höchste Obrigkeit (hogesten ouericheit). Dr. Langenbeck glossiert den Ausdruck ›der Rat und die Weisesten (wittygesten)‹ gleichfalls mit Bezug auf Römer 13, wenn er sagt, dass die Obrigkeit und Gerichtsgewalt in peinlichen und bürgerlichen Sachen vom Landesfürsten verliehen worden sei, alle Macht aber von Gott herrühre, und schließt eine Mahnung zum fürsorglichen und verständigen Gebrauch der verliehenen Rechtsmacht an.⁵⁹³ Trotz seiner Stellung als von Gott verordnete Obrigkeit, an der sich nach lübischem Recht niemand mit Worten oder Werken eigenmächtig vergreifen dürfe, suchte der Rat von Anklam eine rituelle gerichtliche Entlastung, indem sich der Sprecher des Rats öffentlich vor dem Echteding gegenüber jedermann, der ihn wegen seiner Amtsführung beschuldigen wollte, zu lübischem Recht zu Recht erbot. Nach dreimaligem erfolglosem Aufruf durch einen Fürsprecher an die Bürger und Einwohner wurde der Rat von jeder Beschuldigung freigesprochen.⁵⁹⁴ Im lübischen Recht war das Echteding ursprünglich eine Gerichtsversammlung für dingp ichtige Bürger mit Grundbesitz zu freiem Eigen (torfacht egen) und damit voller Zeugnisfähigkeit, die in Angelegenheiten entschied, die den städtischen Grundbesitz, Belange der Gemeinde und hinterlassene Grundstücke betrafen. Die Berufung zum Echteding wurde später auf Besitzer eines zu Zinsrecht besessenen Grundstücks ausgedehnt und schließlich zu einer Versammlung, die alle Bürger, auch solche ohne Hausbesitz, betraf. Vor dem Echteding wurden in Lübeck durch Urteil die Un-

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verjährbarkeit städtischen Eigentums, die Gültigkeit der Freiheiten und Gerechtigkeiten der Stadt und die Berechtigung der städtischen Gerichtsbarkeit festgestellt. Durch einen weiteren Urteilsspruch erfolgte die gerichtliche Entlastung des Rats hinsichtlich der Wahrnehmung seiner Amtsaufgaben und der Rechtswahrung. Der Rat war eine weltliche Regierungsgewalt und Obrigkeit, zugleich aber auch eine christliche Obrigkeit, der in Gesetzgebung, Regierung und Aufsicht über religiös-kirchliche Belange auch die Fürsorge für das Seelenheil der Stadtbewohner oblag. Deshalb setzte sich der Rat in vielfältigen kirchlichen Prozessionen – wie etwa der zu Fronleichnam, die in Köln Gottestracht hieß – im öffentlichen Raum repräsentativ in Szene und suchte ferner in seinem Handeln sakrale Nähe durch gemeinsamen Besuch der Messe in der Ratskapelle oder Ratskirche vor Sitzungen. Immer wenn wichtige und große Angelegenheiten zur Beratung anstanden, p egte der Nürnberger Rat, wie Dr. Scheurl zu Beginn des 16. Jahrhunderts berichtet, deswegen der Priesterschaft den Auftrag zu besonderen Gebeten, Fürbitten und Prozessionen gegen gott zu geben.⁵⁹⁵ Der Rat wiederum konnte seit 1424 bei der jährlichen Heiltumsweisung zwei Wochen nach Karfreitag, der öffentlichen Präsentation der von ihm im Heilig-GeistSpital verwahrten geheiligten Reichskleinodien, den Reliquien und Reichsinsignien mit der Heiligen Lanze als herausragender Reliquie, seine autoritätssteigernde Nähe zu Sakralität und zu bedeutenden Symbolen des Heiligen römischen Reichs demonstrieren.⁵⁹⁶ Zu diesem Großereignis, das mit einer Handelsmesse verbunden war,

593 Dewyle den alle macht kameth vnde vorlenet wert van Gade, darvan men sweret vnd schuldich wert recht tho donde, szo ys ock van noden, dat sulkent myth sorchfoldyger vorsichticheyt wol gebruket werde. J. M. L, Die ältesten Stadt-, Schiff- und Landrechte Hamburgs (2.2–2.4), S. 181. 594 W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 327. 595 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 11, S. 786. 596 Die Reichskleinodien hatte König Sigmund wegen der Hussiten durch Privileg von 1423, das von Papst Martin V. 1424 kon rmiert wurde, der Stadt Nürnberg zu ewiger Verwahrung gegeben, wo sie bis 1796 blieben. Sie bestanden aus Reichskrone, Reichsapfel und Zepter, dem Reichs- oder Mauritiusschwert, dem Zeremonienschwert sowie dem Krönungsmantel und anderen Krönungsgewändern. Reliquiencharakter hatten die folgenden Objekte: Die Heilige Lanze, das Reichskreuz mit Kreuzpartikeln im Schaft, verschiedene Reliquiare mit einem Span von der Krippe des Herrn, einem Gewandstück des Evangelisten Johannes, mit Kettengliedern Johannes des Täufers und der Apostel Petrus und

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passierten 1463 insgesamt 1 266 Wagen und 608 Karren die Stadttore. Mit der Durchsetzung der Reformation (1525) wurde die Heiltumsweisung wegen der Reliquien und ihrer für abergläubisch erachteten Verehrung folgerichtig abgeschafft. In Köln stiftete der Rat 1482 und 1513 nach schweren politischen Krisen, bei denen 1481 Aufrührer und 1512 auch Ratsherren hingerichtet worden waren, Prozessionen der ganzen Stadtregierung bis hinunter zu den Subalternämtern, die in einer Messe ihren Abschluss fanden. Der Rat, der in Verantwortung für das Seelenheil der Einwohner Sittengesetze erließ und schon vor der Reformation durch Einrichtung von Predigerstellen, das Drängen auf Klosterreformen und die Verwaltungsaufsicht über die Kirchen ein obrigkeitliches Kirchenregiment ausübte, nahm in Reichsstädten und autonomen nieder- und mitteldeutschen Territorialstädten im Zuge der Reformation seit den 1520er Jahren das Recht zur Veränderung der Religion, genauer der Glaubenslehre und Religionsausübung, das später so genannte ius reformandi in Anspruch.⁵⁹⁷ Das reformatorische Geschehen bewegte sich im Spannungsfeld zwischen Ratsobrigkeit und Bürgergemeinde, sodass es wegen der Anstöße aus verschiedenen Richtungen kaum eine eindeutige begriffliche Zuordnung zu einer »Ratsreformation« (Nürnberg, Bern) und »Volksoder Gemeindereformation« (Straßburg) zulässt. Unentschiedene reformatorische Situationen und die Regelungen der Religionsfrage des Augsburger Religionsfriedens von 1555 führten in den oberdeutschen Reichsstädten Augsburg, Biberach, Dinkelsbühl, Kaufbeuren und Ravensburg zur dauerhaften Etablie-

rung bikonfessionell-paritätischer Räte. Die Reformation stärkte zwar vielfach durch eine christliche Vertiefung den genossenschaftlichbürgerschaftlichen Gemeindegedanken, doch wurde auf längere Sicht mit Bezug auf Römer 13,1 der Obrigkeitsgedanke weiter gefestigt und der Kompetenzbereich des Rats, darin der territorialstaatlichen Gewalt vergleichbar, erweitert. Der Rat urteilte nun über die konfessionelle Rechtgläubigkeit, übte eine verstärkte Sittenzucht aus und verfügte über kirchliches Stiftungsvermögen zugunsten kommunaler Zwecke der Armenfürsorge, in protestantischen Städten auch der Pfarrerbesoldung sowie des Bildungs- und Erziehungswesens. In protestantischen Reichsstädten säkularisierte er Klostervermögen, erließ im Zuge seines Kirchenregiments (ius episcopale) Kirchenordnungen, übte über das Patronatsrecht das Pfarrbesetzungsrecht aus und beschränkte kirchliche Institutionen auf rein innerkirchlich-religiöse Angelegenheiten. Ferner wurde im Zusammenhang mit dem umstrittenen städtischen ius reformandi in den Reichsstädten der Satz auf Stadt und Rat angewandt, dass jede Obrigkeit eine kaiserliche Gewalt in ihrem Gebiet besitze. Die Räte der Reichsstädte blieben jedoch de iure nachgeordnete, delegierte Obrigkeiten, diejenigen der meisten Territorialstädte waren es de iure und de facto.⁵⁹⁸ 4.1.1.5 Der Gehorsamsanspruch des Rats – Opposition und Widerstand Das stabile aristokratische Regime Nürnbergs, das sich grundsätzlich denselben Aufwandsund Kleiderordnung unterwarf, die es für sämtliche Bewohner und selbst für Fremde statuierte, bekundete 1476 gegenüber dem Freibur-

Paulus, einem Zahn Johannes des Täufers, einem Armbein der Heiligen Anna, einem Stück vom Tischtuch des letzten Abendmahles und mit einem Stück vom Schürztuch Jesu von der Fußwaschung. 597 B. M, Reichsstadt und Reformation; H. R. S, Reichsstädte, Reich und Reformation; T. A. B, Ruling Class, Regime and Reformation at Straßbourg; P. B, Die Gemeindereformation; ., Die Reformation im Reich, S. 102–105; H. S, Die Stadt in der frühen Neuzeit (Einleitung), S. 94–103; A. G , Weltliche Kirchenhoheit und reichsstädtische Reformation; P. W, Zwei Konfessionen in einer Stadt; G. D, Die Rechtsgeschichte der Stadt (2.0), S. 698–711. Siehe auch 5.9. 598 E. I, »Plenitudo potestatis« und Delegation, S. 236–238; H. S, Die Stadt in der frühen Neuzeit (Einleitung), S. 78–80.

Rat und Ratsverfassung

ger Stadtschreiber als Maximen, dass der Rat in Steuerfragen und anderen Belangen der Stadt unerbittlich eine harte Ordnung mit Strafen halte, vorab ohne Schonung gegenüber Ratsmitgliedern selbst, wodurch alle anderen in Gehorsam gehalten würden und keiner sich mit dem Verhalten des Andern entschuldigen könne. Die Stadtrechnung werde, wie der Stadtschreiber weiter mitteilt, nur gegenüber dem Rat gelegt und darüber hinaus nicht weiter erörtert (gerechtfertigt), denn der Rat behalte die gewalt in seiner Hand. Die Ämter würden mit wenigen streng vereidigten Personen besetzt; wer Untreue begehe, werde, er sei, wer er wolle, an Person und Vermögen gestraft.⁵⁹⁹ Dass Gebote und Verbote strikt befolgt und alle Bewohner in Gehorsam gehalten würden, behauptete aber auch der Rat der vergleichsweise kleinen oberschwäbischen Stadt Kempten mit Zunftverfassung.⁶⁰⁰ Der Augsburger Chronist Burkard Zink sprach sich im Hinblick auf die Erhaltung von Frieden, Eintracht und brüderlicher Liebe unter den Bürgern dafür aus, die widersetzlichen, untreuen und ungehorsamen Bürger zu strafen und gehorsam zu machen.⁶⁰¹ Der ›ehrsame, weise und fürsichtige, würdige, strenge und feste‹ Rat war als Obrigkeit jedoch in der Regel auf die Akzeptanz seiner Entscheidungen und die Loyalität der Bürger angewiesen, da er, anders als die großen italienischen Stadtstaaten, über nur geringe Machtmittel zur Unterdrückung von Widerstand und Oppositionsbewegungen verfügte. Außerdem sah er sich im Regierungsalltag nicht nur Einzelnen, sondern auch Familienverbänden, Sozialgrup-

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pen oder gut organisierten Zünften mit bewaffneten Mitgliedern und Waffenarsenalen gegenüber. Mochte sich das Ratsregime noch so autoritär und selbstherrlich gebärden, angesichts der vergleichsweise geringen Ordnungskräfte, die ihm zu Gebote standen, und der organisierten Schlagkraft der korporativen bürgerlichen Verbände konnte es binnen weniger Stunden gestürzt werden. Deshalb reagierte es bereits emp ndlich auf Gerüchte, Bekundungen des Unwillens oder Schmähungen, die zu Aufruhr führen konnten. Aber auch der Kleine, Alte und Große Rat Augsburgs erklärten 1385 als größerer konsensueller Kreis gemeinsam, nachdem er von dem im Schwörbrief von 1368 ausgesprochenen Ungeldverbot abgegangen war, diejenigen, die in Räten oder nachweislich andernorts heimlich oder öffentlich gegen indirekte Steuern redeten oder sich in Wort und Tat an etwas beteiligten, das gegen die Verbrauchssteuern (ungeld) war, für öffentlich meineidig und drohte Strafen nach Ermessen an Person und Vermögen an. Die Augsburger Räte bekundeten 1468 in einem weit weniger schwerwiegenden Fall, dass die neue Ordnung hinsichtlich der Aufgabe des Bürgerrechts und der dabei fälligen Nachsteuer um der Notdurft der Stadt willen einhellig beschlossen worden sei, damit Arm und Reich in guter Einigkeit bleiben könnten. Zugleich forderten sie dazu auf, diejenigen zunächst gütlich zu belehren, die wegen der Sache Ungebührliches gegen den Rat verbreiteten, und stellten warnend Beleidigungen durch unfreundliche Worte unter Strafe, die der rechtsetzende Große und Kleine Rat ohne Gnade ver-

599 T. S (Hg.), Die Freiburger Enquete, S. 30–32. Als Friedrich III. nach seiner Kaiserkrönung (1452) wieder nach Nürnberg kam (1471), soll er nach Konrad Celtis (»Norimberga«, cap. 13) einen der Älteren Herren angesichts der sint utartigen Menschenmenge bei seinem Einzug und danach auf den Plätzen und Dächern gefragt haben, mit welcher Klugheit und Kunst sie eine solche Vielzahl von Menschen ohne Aufruhr und Tumult regierten und in Schranken hielten. Mit Worten und schweren Geld- und Körperstrafen werde das bewirkt, erhielt er zur Antwort, und der Humanist kommentiert die Aussage, der Ältere Herr habe damit gemeint, dass ehrbare Bürger mit Worten und milden Ermahnungen zurechtzuweisen seien, damit sie sich besserten, das gewöhnliche Volk (plebs) aber wie der knechtische, unbändige Pöbel (vulgus) nur durch Leibesstrafen oder Geldbußen von Vergehen abgehalten werden könne und dass bei diesem die Furcht mehr als das Ehrgefühl vermöge, um Missetaten zu verhindern. A. W, Conrad Celtis (1.1), S. 186. 600 T. S (Hg.), Die Freiburger Enquete, S. 15. 601 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 5, S. 289.

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hängen würden.⁶⁰² In Nürnberg wurden 1435 und 1440 zwei Patrizier wegen Kritik an Ratsentscheidungen mit kurzer Turmhaft bestraft; 1435 wurde sogar der Losunger, Ältere Herr und Ratsherr Erhard Schürstab wegen heftiger Unmutsäußerungen im Falle der Inhaftierung seines Knechts zu viertägiger Turmhaft verurteilt. In Köln wurden im 15. Jahrhundert einige Bürger wegen ehrverletzender Reden gegen den Rat festgenommen, aus der Stadt verbannt oder für längere Zeit inhaftiert. Der Rat verp ichtete 1480 jeden Einwohner bei Strafe der Stadtvertreibung, sofort Mitteilung zu machen, wenn er etwas von Worten oder Werken gegen den Rat erfahren habe. Disziplinierende Vorkehrungen gegen Widerstand wurden vom Rat aber auch für die zunächst eher undramatische Geschäftsroutine getroffen. Wer in Bern vor dem Stadtgericht, dem Rat und dem Rat der Zweihundert auch nur äußerte, ›mir ist Unrecht geschehen‹ oder ›mir ist ein ungerechtes Urteil gesprochen worden‹, sollte in Staffelung nach dem Tatort zu einem, zwei oder drei Monaten Stadtverbannung mit einer entsprechenden Geldbuße bestraft werden (1385). Der Züricher Rat verhängte 1384 eine Geldbuße gegen einen Bürger, der vor offenem Rat den gesamten Rat bezichtigt hatte, ihm Unrecht zu tun.⁶⁰³ Jedoch wurde, wie in Wismar 1338 und in einem Statut des 16. Jahrhunderts, auch damit gerechnet, dass Ratsherren selbst vor den Bürgern einen Ratsbeschluss öffentlich angriffen und dadurch in der Stadt Unruhe, die Verringerung der städtischen Freiheit und die Verachtung des Rates hervorriefen.⁶⁰⁴ Ratsherren waren vielfach speziell zu Friedegeboten verp ichtet, wenn sie in der Stadt aufkeimender Streitigkeiten gewahr

wurden; sie hatten Vergehen (Frevel) anzuzeigen, und sie umgab, wie etwa in München, die Aura erhöhten Friedens, wenn Gewalttätigkeiten, die in ihrer Gegenwart verübt wurden, mit einer Strafe in doppelter Höhe geahndet werden sollten.⁶⁰⁵ Der Kölner Verbundbrief von 1396 verp ichtete die Gaffeln mit Einsatz von Person und Vermögen zum widerspruchslosen Beistand für den Rat, falls sich eine Gaffel oder sonst jemand dem Rat in verbrecherischer Weise gewalttätig widersetzte und ihn nicht im ganzen Umfang seiner Regierungsgewalt ›mächtig und machtvoll‹ zu Rate sitzen ließ. Er stellte aber auch jeden mit Parteiung, Arglist und Heimtücke herbeigeführten Aufruhr, darüber hinaus jeden öffentlich ausgetragenen Zwist, Streit, Zorn, Hass oder jede Feindseligkeit mit Worten und Werken sowie jeden den Streit ausweitenden bewaffneten Zulauf zu einer solchen Störung von Ordnung, Frieden und Eintracht und schließlich jede Parteiung, jedes Bündnis und jede Übereinkunft, die gegen den Verbundbrief verstießen, unter Strafe. Es handelte sich damit nicht nur um eine einseitig ratsherrliche, sondern um eine mit der Gemeinde vereinbarte gemeinschaftliche Abwehr von Friedensstörung, Aufruhr, Spaltung und Anarchie, die von allen gefürchtet wurden. Der Ulmer Rat setzte Strafen für diejenigen fest, die mit Worten und Werken gegen mehrheitliche Ratsbeschlüsse agitierten und verp ichtete die Gemeinde zum solidarischen Beistand gegen Ungehorsame, um sie zum Gehorsam zu zwingen und zu bestrafen. Im Bewusstsein der Gefährdung ging der städtische Rat gelegentlich mit der Beschuldigung des Ungehorsams gegen Ratsentscheidungen und Bruchs des Bürgereides als möglichen

602 E. I, Ratsliteratur und städtische Ratsordnungen, S. 235, Anm. 48. In Nürnberg wurden zwischen 1432 und 1434 insgesamt 162 Personen vom Rats- und Fünfergericht wegen Vergehens gegen die Obrigkeit verurteilt. Darunter befanden sich insbesondere Handwerker, deren Autonomiebestrebungen vom Rat unterdrückt wurden. A. B/ U. H, Zur Monopolisierung des Strafrechts, in: H. S u.a. (Hg.), Herrschaftliches Strafen (4.8), S. 311-329. 603 F. E. W/H. R (Bearb.), Die Rechtquellen des Kantons Bern. Das Stadtrecht von Bern I und II (2.2–2.4), S. 87, Nr. 26; S. 221, Nr. 17; S. 650, Nr. 180. H. Z-W/H. N (Hg.), Die Zürcher Stadtbücher I (2.2–2,4), S. 276, Nr. 78. 604 W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 246. 605 F. A (Hg.), Das Stadtrecht von München, S. 129 f., Nr. 332 (Stadtrechtsbuch von 1347).

Rat und Ratsverfassung

Ausgangspunkt für Zusammenrottungen, vermutete Verschwörung und Aufruhr gegen Rat und Verfassungsordnung gegen einzelne opponierende Bürger mit äußerst harten Strafen bis hin zur rasch vollstreckten Todesstrafe vor. Ein Bürger, der dem Bürgermeister auf dem Bürgerhaus widersprochen und das Bürgermeistergericht gerügt hatte, wurde 1389 in Köln nach einem Urteilsspruch der Bürgermeister öffentlich – wie bei politischen Verbrechern üblich – auf dem Heumarkt hingerichtet.⁶⁰⁶ Weil er gegen die neue, unter autoritativer Mitwirkung König Sigmunds als Richtung zustande gekommene Verfassungsordnung geredet hatte, wurde 1431 in Konstanz Uli Lenz, der Säckler der Stadt, aufgrund eines Ratsurteils enthauptet. Das gleiche Schicksal widerfuhr zwei weiteren Zunftbürgern, die nach dem Tod Sigmunds 1437 an die Türe des Münsters einen Brief geheftet hatten, in dem sie von der weiteren Einhaltung der Richtung abrieten.⁶⁰⁷ In Augsburg wurde der Weber Matthias Sandauer, weil er gegen die Einfuhr fremden Garns und die Politik des Kleinen Rats in dieser Frage in einer Schrift protestiert und agitiert hatte, wegen Verachtung des Rats, Verletzung seiner geschworenen bürgerlichen Gehorsamsp icht und dadurch erfolgter Verursachung von Aufruhr und Uneinigkeit in der Stadt 1496 zum Tode verurteilt und hingerichtet.⁶⁰⁸ In Ulm wurde 1517 ein Weber wegen aufrührerischer Reden enthauptet.⁶⁰⁹ Rechtlich gedeckt, sofern es sich überhaupt um ordentliche Verfahren handelte, war die Verhängung der Todesstrafe durch den Bürgereid und Verfassungsbestimmungen zum Schutz des Rates gegen Aufruhr, die eine arbiträre Strafgewalt des Rats begründeten, und von einem anderen Ansatz her durch das römische Recht, da juristisch der Tatbestand des Majestätsverbrechens inzwischen auch auf die unteren Herrschaftsebenen und auf Verstöße gegen das Ge-

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meinwohl übertragen worden war. Im »Klagspiegel« aus dem 15. Jahrhundert heißt es, wer in einer Stadt, in einem Schloss oder Dorf (öffentliche) Zwietracht und Au äufe macht, soll sterben, denn er handelt gegen den gemeinen Nutzen und ist daher in die Strafe der laesae maiestatis verfallen. In der Wormser Stadtrechtsreformation von 1498 wird dann bestimmt: Wer gegen den Rat oder die Stadt eine Versammlung oder einen Au auf macht und damit gegen den gemeinen Nutzen und den Magistrat handelt, begeht ein crimen laesae maiestatis und soll mit dem Schwert gerichtet werden.⁶¹⁰ Der Straftatbestand führte im römischen Recht neben der Todesstrafe auch zur Kon skation der Güter des Verurteilten, von der auch die Familie betroffen war. Die vom Lübecker Rat 1385 in Auftrag gegebene Detmar-Chronik will wissen, dass das Vermögen der in der Stadt gebliebenen Empörer des Knochenhaueraufstands (1384) nach Kaiserrecht zugunsten der Stadt eingezogen worden sei. Selbstbewusste, wortgewaltige und furchtlose, aufgrund privilegierter klerikaler Rechtsstellung kaum antastbare Opponenten mit Einuss auf die Stadtgemeinde erwuchsen dem Rat jedoch – erkennbar im ausgehenden 15. Jahrhundert – mit mächtigen Pfarrern wie dem Ulmer Münsterpfarrer Dr. iur. utr. Ulrich Krafft und Inhabern von Predigerstellen (Prädikaturen) wie dem Straßburger Münsterprediger Dr. Johannes Geiler von Kaysersberg oder dem Würzburger Domprediger Dr. Johann Reyß. Diese übten durch Gutachten und in Predigten teilweise mit massiven Drohungen und in heftiger Polemik auf den Rat Druck aus, Wucher-, Sitten- und Aufwandsgesetze zu erlassen, bessere Maßnahmen zur Wohlfahrtsp ege zu ergreifen und Satzungen, die angeblich gegen göttliches, natürliches oder auch kaiserliches Recht verstießen, wieder zurückzunehmen. Dabei handelte es sich um Gesetze, die ihrer Ansicht nach

Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 14, S. 735. K. D. B, Zunftbürgerschaft und Patriziat (7.1–7.2), S. 147, 151. J. R, Für den Gemeinen Nutzen, S. 107–118. G. G, Die Reichsstadt Ulm vor der Reformation (5), S. 41. Tit. XV. W. T, Strafprozeß (4.7), S. 198* f./73 f.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

Privilegien und Besitzrechte der Geistlichkeit verletzten, aber auch in weltlichen Belangen Ungerechtigkeiten darstellten. Ein berühmter und beliebter, aber auch rigoroser Prediger wie Geiler von Kaysersberg ging so weit, die Regenten in die Nähe des Teufels zu rücken und ihnen zu drohen, indem er zu ihrer Abwahl für den Fall fortgesetzter Untätigkeit aufrief. Den Stadtfrieden infrage stellend, forderte er Arme in Zeiten des Getreidemangels und der Teuerung im Notfall zur eigenmächtigen und gewaltsamen Requirierung von Korn in den Häusern der Reichen und der Gläubiger bei langwierigen Prozessen um Schulden zu gewaltsamer Selbsthilfe auf. Die geistlichen und weltlichen Obrigkeiten und Regenten sollten Diener und Knechte der Gemeinde sein, denn die Gemeinde sei nicht um der Regenten willen da, sondern es gebe sie und sie würden gewählt um der Gemeinde willen. Die Regenten sollten aber auch nicht allzu nachgiebig und gütig sein. In Görlitz etwa griffen Pfarrer und Prediger im Schutz ihrer geistlichen Stellung in einzelnen Fällen im 14., 15. und 16. Jahrhundert den Rat wegen der für die Armen nutzlosen Ausgaben für Stadtbefestigung und Wächter, wegen der übermäßigen Besteuerung der Armen und des Verdienstes des Rats am Weinschank sowie den Bürgermeister persönlich wegen seiner spekulativen privaten Geschäfte mit Tuch an.⁶¹¹ Als Obrigkeit hatte sich der Rat streng, aber auch gnädig zu zeigen, sodass er statt rigide und mit Härte vorzugehen, was er auch tat, im Rahmen seiner arbiträren Gewalt immer wieder Delinquenten gegenüber den Weg der Verhandlung einschlug und Nachsicht übte oder nicht nach strengem Recht, sondern nach Gnade richtete.⁶¹² Der Kölner Trans xbrief von 1513 räumte als Ergebnis einer erfolgreichen Erhebung gegen den Rat auf der anderen Seite in bestimmten Fällen rechtswidrigen Handelns des Rats gegenüber einzelnen Bürgern und Eingesessenen der Gesamtheit der

Gaffeln als der ehrbaren und würdigen Gemeinde ein Versammlungs- und Widerstandsrecht ein. 4.1.1.6 Bürgerschaftlicher Konsens und obrigkeitliche Autokratie In einem allgemeinen Sinne kann von einer Herrschaft des Rates gesprochen werden. Nach mittelalterlichem Verständnis war Herrschaft zunächst Gerichtsbarkeit (iurisdictio), Schutzgewährung und die Rechtsmacht, im Gerichtsbezirk der Stadt bei Strafe zu gebieten und zu verbieten, was außerhalb der Stadt im Hinblick auf Stadtgemarkung und städtisches Landgebiet in Oberdeutschland und in der Schweizer Eidgenossenschaft auch als Zwing und Bann bezeichnet wurde. Nicht alle Städte verfügten jedoch sowohl über die niedere als auch über die hohe Gerichtsbarkeit, die beide zusammen als merum et mixtum imperium nach juristischer Lehre auch zur Gesetzgebung berechtigten; diese konnte weiterhin dem Stadtherrn als dem ursprünglichen Inhaber der Jurisdiktionsgewalt vorbehalten sein. Die Kommunen trafen aber in der Regel in unterschiedlichem Umfang gegenüber der Rechtsetzung des Stadtherrn satzungsrechtliche Entscheidungen in eigenen Ordnungs- und Verwaltungsangelegenheiten. Der Rat hatte in größeren Städten vielfach an der Rechtsprechung neben dem Stadtgericht teil oder beherrschte sie; dennoch standen bei seiner Tätigkeit die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung durch Regierung und Verwaltung und der Schutz nach außen begrifflich im Vordergrund. Wenn gegen eine Tendenz sozialgeschichtlicher Forschung, Ratsregime mehr oder weniger durchgehend als Oligarchien zu kennzeichnen, in einem Gegenentwurf von »konsensgestützter Herrschaft« gesprochen wird⁶¹³, so kann dies auf verfassungsrechtlicher und politischempirischer Ebene nur für die Partizipation größerer und repräsentativer Gremien an der Gesetzgebung, an satzungsrechtlichen Verwal-

611 R. V, Wie der Wächter auf dem Turm (5), S. 403, 405, 549–551, 563. Siehe auch 5.1.3. C. S, Frömmigkeit und Politik (5), S. 70. 612 M. G, Im glückseligen Regiment. 613 U. M/K. S, Regimen civitatis, S. 15–18.

Rat und Ratsverfassung

tungsentscheidungen sowie an Verwaltung und Politik im weiten Sinne gelten, nicht jedoch für die Gerichtsbarkeit, den mittelalterlichen Inbegriff von Herrschaft. Es handelt sich also genau genommen um eine konsensgestützte Regierung, wie der bereits im Mittelalter neben regiment, gubernatio, administratio und policey gebräuchliche umfassende Ausdruck für die Gestaltung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung lautet. Streben nach Autokratie oder Partizipation, Konsens und Kon ikt gehören zu den Grundkategorien einer Interpretation von Regierung und Politik. Die fundamentale und konkurrenzlose gesellschaftlich-politische, auf den inneren Frieden und die Einheit des Verbandes abzielende Konsensmaxime, die jedoch dazu führen kann, dass offen zutage tretende Opposition und Fraktionsbildung nicht als legitimes und das Gemeinwohl förderndes politisches Prinzip anerkannt, sondern als die Stadt gefährdende Zwietracht verurteilt wird, ist auf verfassungsrechtlicher und ideologischer Ebene anhand der Konsensrhetorik leicht nachzuweisen. Was jedoch bürgerschaftlicher Konsens im politischen Leben bedeutete, ist für jede Stadt verfassungsrechtlich und auf der politischen Ebene empirisch zu konkretisieren. Konsensbildung wie sie vor allem in Satzungen von Städten mit Zunftverfassung erwähnt wird, kann in wechselnden Konstellationen mit Versammlungen der Zunftgemeinde und Bürgerund Gemeindeversammlungen erfolgen, während Große Räte gemeinsam mit dem Kleinen Rat tagen, sodass hier eher von Mitwirkung zu sprechen ist. Daneben gibt es Kontrollfunktionen von bürgerschaftlichen Ausschüssen oder Beigeordneten in Ratsämtern. Konsens kann latente Akzeptanz oder förmliche Zustimmung sein oder in materielle Mitwirkung übergehen, andererseits aber auch, soweit Konsensgremien nicht einfach übergangen wurden, bloße Hinnahme von Entscheidungen des Kleinen Rats, bloße Akklamation ohne Möglichkeit der Artikulation eines eigenen Willens oder vom Rat manipulativ bewerkstelligte Zustimmung bedeuten. Ein zentrales Problem ist der Sach-

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verhalt, dass Große Räte oder Gemeindeversammlungen, denen Mitwirkungs- und Konsensrechte in den existentiellen Angelegenheiten der Stadt zukamen, in der Regel jedoch kein Selbstversammlungsrecht besaßen und deshalb mit der Zeit von dem initiativen und allzuständigen Kleinen Rat, der seinerseits von einem Geheimen Rat präjudiziert sein konnte, immer seltener einberufen und übergangen wurden. Die zunehmend obrigkeitliche Ausformung der Herrschaft und Regierung des Rats ging vielfach mit dem Bedeutungsverlust repräsentativer Gremien und Versammlungen einher. Es ist ferner zu fragen, ob und inwieweit verweigerter Konsens, Widerspruch, Dissens oder Opposition gegen Meinungen, Entscheidungen und Gesetze des Rats nicht unter Umständen prekär waren, leicht als illegal betrachtet und vom Ratsregime als existenzgefährdende Störung von Frieden und Eintracht in der Stadt oder als Verschwörung gegen den Rat diskreditiert und als Hochverrat und crimen laesae maiestatis kriminalisiert werden konnten. Erst im späteren 18. Jahrhundert wurde in England allmählich die Vorstellung einer quasi-institutionellen legalen Opposition entwickelt. Die Meinungsfreiheit blieb in der mittelalterlichen Stadt außerhalb des Rats und der approbierten bürgeschaftlichen Ausschüsse prekär und riskant, sodass es in der Konsequenz leichter zum Äußersten, d. h. zu Aufruhr, Aufständen und zum widerstandsrechtlich begründeten Umsturz kam. Anders verhielt es sich sich in den Reichsstädten des 18. Jahrhunderts, als oppositionelle bürgerliche Kreise ein Syndikat für eine Klage gegen den Rat beim Reichskammergericht oder für eine Supplikation beim Reichshofrat bilden durften. Die Regierung der Städte lässt sich nicht auf einen einheitlichen Nenner bringen. Sie ist je nach Stadt und der jeweiligen Periode ihrer Geschichte stärker partizipatorisch oder autokratisch geprägt, konsens- und harmoniebedacht wie andererseits in der Realität im Hinblick auf soziale Gruppierungen und Korporationen antagonistisch und kon iktreich. Kon ikte entladen sich in oppositionellen Bewegungen, Auf-

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ruhr und Umsturz des alten Regimes; sie werden bereinigt durch Rückkehr und Wiedereinsetzung des alten Rats oder durch förmlichen Friedensschluss und partizipatorische Verfassungsneuordnungen in Friede-, Sühne-, Verbund- und Schwörbriefen. Dadurch aber bringt die mittelalterliche Stadt eine außerordentliche Vielzahl von Facetten des Politischen zum Vorschein. 4.1.2 Die Struktur der Ratsgremien Das organisatorische Grundmodell der Ratsverfassung erscheint in seinen Grundzügen über Jahrhunderte hin bis weit in das 18. Jahrhundert hinein als ziemlich einförmig, doch gibt es bei genauer Betrachtung zahlreiche signi kante Varianten hinsichtlich der Entstehung, der rechtlichen Ausgestaltung und der Ausfüllung der Verfassungsordnung durch wirtschaftliche, soziale und politische Kräfte. Nach internen Auseinandersetzungen gab es immer wieder markante Veränderungen in der Verteilung der Ratssitze und in den Wahlordnungen. Die Vielgestaltigkeit der Ratsverfassungen in ihren Detailregelungen war Resultat eines bemerkenswerten politischen Gestaltungswillens und konstruktiven Einfallsreichtums bei der Lösung örtlicher Kon iktsituationen in der für die Stadtverfassungen formativen Zeit vom ausgehenden 12. Jahrhundert bis zum Ende des 14. Jahrhunderts. Die Neuordnung örtlicher Verfassungsverhältnisse war inhaltlich auch Ergebnis eines Austauschs zwischen Städten und, wie etwa in Augsburg 1368, eine Konstruktion auf der Grundlage von Verfassungsordnungen mehrerer rheinischer und schwäbischer Städte, über die man zu diesem Zweck Erkundigungen eingezogen hatte. Verursacht wurden Auseinandersetzungen, die zu Neuordnungen führten, (1) durch den fortbestehenden Herrschaftswillen des Stadtherrn gegenüber der sich politisch emanzipierenden Bürgergemeinde, (2) durch Kon ikte der Bürgergemeinde mit den führenden Ratsgeschlechtern, (3) durch wirtschaftliche und soziale Dynamik, die zu politischen Partizipationsbestrebungen von Kau euten und Handwerker-

zünften führte, oder auch in der Frühzeit der Ratsentstehung (4) durch von außen auf die Stadt einwirkende Kon iktkonstellationen wie die Auseinandersetzungen zwischen Papst und Kaiser oder ronkämpfe zwischen Prätendenten und Gegenkönigen. In Reaktion auf Tendenzen einer Oligarchisierung und wachsende Verwaltungs- und Regierungsaufgaben kamen im Einzelfall nach der Mitte, sodann am Ende des 13. Jahrhunderts und verstärkt im 14. Jahrhundert Große Räte auf, die aus einem weiteren Kreis wohlhabender und ehrbarer Bürger, in Städten mit Zunftverfassung insbesondere aus Angehörigen der Zunftbürgerschaft gebildet wurden und in Form und Umfang unterschiedlich am Stadtregiment teilhatten. Derartige Große Räte neben dem Kleinen Rat oder Inneren Rat wurden auch als Weiterer Rat, Äußerer Rat oder die Genannten (nominati) bezeichnet. In Wien wurde der 1355 nachweisbare Äußere Rat mit 40 Mitgliedern, der einen Ausschuss der Vollversammlung der Gemeinde darstellte, zu Beginn des 15. Jahrhunderts von dem Gremium der auf Lebenszeit amtierenden, vom Inneren Rat ernannten Genannten abgelöst. Die Genannten waren angesehene Bürger, Honoratioren (Ehrbare), die als Urkundspersonen private Rechtsgeschäfte bezeugten. In Nürnberg bildeten die 1276 erwähnten Genannten seit dem frühen 14. Jahrhundert den Großen Rat. Die Einführung von Zunftverfassungen hatte vielfach die Bildung von Großen Räten unmittelbar oder in zeitlichem Abstand (Ulm) im Gefolge, doch konnten die Bürgerschaft und Gemeinde repräsentierende Räte auch schon lange vor den zünftischen Verfassungsänderungen bestehen wie in Freiburg im Breisgau 1248, Augsburg 1276/1290 oder Köln um 1300. Unter anderem wurden mit der Bildung eines Großen Rats die politischen Ansprüche neuer, wirtschaftlich aufgestiegener Familien oder des Zunftbürgertums im Sinne ihrer Integration und Bindung an das Stadtregiment durch Repräsentation und Regimentsfähigkeit befriedigt. Die Einführung von Großen Räten führte zu einer weiteren konstruktiven Austarierung

Rat und Ratsverfassung

der Machtverhältnisse und Sitzverteilung zwischen den beteiligten sozialen Gruppen im Rahmen der neuen Gesamtverfassung mit nunmehr Kleinem und Großem Rat. 4.1.2.1 Die Zahl der Ratssitze in Kleinen Räten und Großen Räten Die Zahl der Ratssitze war örtlich verschieden und schwankte; weit verbreitet war jedoch die Zwölfer-Zahl, die vielerorts auch die ursprüngliche Zahl gewesen sein dürfte und als Zahl der Apostel gedeutet wurde. In einigen Städten wie Lübeck, Basel, Straßburg und Augsburg war die Zahl der Ratsmitglieder zunächst nicht numerisch bindend festgelegt und änderte sich verschiedentlich. Weitere häu g vorkommende Zahlen sind die Vierundzwanzig, eine Idealzahl aus der Apokalypse, die Zweiunddreißig und die Sechsunddreißig. Aber auch dazwischen liegende Mitgliederstärken kamen vor. In Worms gab es anfangs 40, dann 15 consules, in Köln 15 sitzende und je 15 vor- und nachgesessene Räte (13./14. Jh.), in Schwäbisch Gmünd 39 (15. Jh.) und in Augsburg 12, dann 24, seit der Zunftverfassung von 1368 44 und ab 1476 nominell 59 Ratsmitglieder. Der Kleine Rat Basels war im ausgehenden Mittelalter mit etwa 70 Mitgliedern außerordentlich groß und in seiner Gesamtheit für die Wahrnehmung der Führungsaufgaben und Routinegeschäfte wenig geeignet, sodass sich die Entscheidungsprozesse in die ständigen und ad hoc gebildeten Ausschüsse verlagerten und sich mit deren Mitgliedern engere Führungsgruppen herausbildeten. Die Zahl der Ratssitze in den Großen Räten der niederschwäbischen Reichsstädte schwankte stark zwischen 52 (Heilbronn), 40 (Ulm), 80 (Rottweil) und 184 (Reutlingen) oder 195 (Schwäbisch Gmünd). Da der Große Rat in Ulm stets gemeinsam mit dem Kleinen Rat (32 Ratsherren) tagte, bestand er aus insgesamt 72 Mitgliedern, was von Felix Fabri in Bezie-

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hung zu einem Mehrfachen der Zahl der Jünger Christi gesetzt wurde. In Zürich hatte der Große Rat über 200, in Augsburg 233/236, in Basel zeitweise 284 Mitglieder. In Köln waren es 82 Sitze im älteren Weiteren Rat vor 1396. Nicht genau xiert war die Zahl der ›Genannten des Größeren Rats‹ in Nürnberg, sie betrug etwa 250, später 300 bis 400 Mitglieder. Insgesamt reicht die Bandbreite Großer Räte von etwa 40 bis zu 300 Sitzen (Straßburger Schöffenrat). Es ist zu beachten, dass der Große Rat in der Regel auf die Berufung durch den Kleinen Rat hin gemeinsam mit diesem tagte, so dass sich eine noch größere Versammlung ergab, doch stimmte der Große Rat in einigen Fällen auch als eigenständiges Gremium ab. Die regierenden Räte hatten Mitgliederzahlen, die zwischen zwölf und vierzig schwankten, während die vor allem im 14. Jahrhundert aufgekommenen Großen Räte 40, 80, 200, 300 und bis zu 400 Mitglieder aufweisen konnten. Da die Städte vergleichsweise niedrige Bevölkerungsziffern hatten und nur die männlichen Einwohner und auch nur solche, die das Bürgerrecht besaßen, grundsätzlich wählbar waren, ergab sich durch die Großen Räte eine hohe politische Partizipation der Bürgerschaft. Bestimmungen über die Größe des Rates und die Verfahren zur Wahl der ›Besten‹, ›Ehrenhaftesten‹ und ›Nützlichsten‹⁶¹⁴, der magis ydonei et perfecti oder ydonei et utiles, zu Ratsherren⁶¹⁵ wurden zunächst vom Stadtherrn als dem Erbherrn (dominus hereditarius) festglegt oder als angerufenem Schiedsrichter (arbiter) entschieden⁶¹⁶, später zwischen dem Stadtherrn und der Bürgerschaft, sodann innergemeindlich zwischen altem Rat und Bürgerschaft sowie nach Verfassungskämpfen zwischen Patriziat und Zunftbürgertum oder im Zuge von Reformbestrebungen auf der Grundlage von Problemen und Missständen ausgehandelt.

614 W. S (Hg.), Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung I (2.2–2.4), Nr. 52, S. 191. 615 Urkunden zur Geschichte des Städtewesens I. (Einleitung), Nr. 76, S. 75 (Soest 1260); Nr. 70, S. 63 (Bremen 1392). 616 Die Markgrafen von Brandenburg hinsichtlich Stendals 1285. Urkunden zur Geschichte des Städtewesens I, Nr. 86, S. 87. Erzbischof Dietrich von Köln 1460 auf Grund einer Petition von Bürgermeister, Schöffen, Rat und gemeinen Bürgern der Stadt Neuss. Urkunden II, Nr. 79, S. 73 f.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

Die Zahl der Ratssitze im arbeitsintensiven Kleinen Rat wurde vielfach, aber nicht nur dann erhöht, wenn nichtpatrizische Kreise, vor allem die Zünfte, in den Rat gelangten. Auf der anderen Seite musste die Zahl der Ratsherren etwa in Straßburg reduziert werden, weil wegen der erwerbswirtschaftlichen Belastung der Zunfthandwerker die Abkömmlichkeit für den Kleinen und den mitgliederstarken Großen Schöffenrat generell oder saisonal ein Problem darstellte. So hatte man, wie dies ein undatiertes Gutachten der XVer aus dem 15. Jahrhundert nunmehr verboten wissen will, den Ratsherren der Schiffszimmerleute und der Fasszieher gegen die Ordnung im Herbst angesichts starker saisonaler Beanspruchung im Gewerbe zugestanden, ihrem Handwerk nachzugehen und dem Rat fernzubleiben.⁶¹⁷ Von der schwäbischen Reichsstadt Überlingen, die einen stark ackerbürgerlichen Einschlag aufwies, wurde Mitte des 16. Jahrhunderts geltend gemacht, dass im Herbst während der Weinlese und der kommunalen Rechnungslegung eine prekäre personelle Situation eintrete.⁶¹⁸ Der Ratsbesuch wies nicht nur in solchen Städten saisonale Schwankungen auf. Die Ulmer Zunftmeister wünschten 1526 insgesamt eine Verkleinerung des regierenden Kleinen Rats.⁶¹⁹ Die Straßburger Zünfte (hantwerke) brachten nach der Mitte des 15. Jahrhunderts nachdrücklich vor, dass sie einen Abgang an verständigen Leuten zu verzeichnen hätten, sodass es für sie schwer sei, Ratsherren zu stellen und zugleich auch die Wachtdienste zu versehen, und dass viele zunftbürgerliche Ratsherren klagten, es sei ihnen die Tätigkeit im Rat zu belastend, insbesondere angesichts der Amtsdauer von zwei Jahren. Man war der Auffassung, dass der Rat tatsächlich zu groß und verkleinert

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sogar funktionsfähiger und effektiver sei. Die XVer schlugen daher vor, vier der Zünfte nach dem Grundsatz der Ähnlichkeit der Gewerbetätigkeit auf die übrigen zu verteilen, nämlich die Weinrufer und Weinmesser, die Ölleute, Müller und Tuchscherer, die Schiffszimmerleute und die Fasszieher. Auch die Consto er, die bislang 14 Ratsherren stellten, sollten – zur Wahrung der Zweidrittelmehrheit der Zünfte – auf 12 Sitze reduziert werden. Man war sich einig, dass diese Maßnahmen nach eingehender Erläuterung möglichst mit Konsens aller Betroffenen vorgenommen werden sollten. Durch die Einsparungen an jährlichen Zuwendungen in Höhe von 28 Pfund Pfennigen infolge der Verminderung der Sitze könnte der Jahressold des Rates von 3 Pfund (6 Gulden) pro Mitglied als Anreiz für besseren Besuch erhöht werden.⁶²⁰ Etwas später war man in Straßburg der Auffassung, dass der Rat angesichts der personellen Schwierigkeiten der Zünfte immer noch zu groß sei und ein nunmehr auf 30 Ratsherren verkleinerter Rat durchaus die Geschäfte bewältigen könne. Erneut sollten als institutionelle Konsequenzen vier Sitze der Zünfte und zwei der Consto er entfallen und die eingesparten Kosten für eine Anhebung des Jahressoldes verwendet werden. Namentlich die Zimmerleute hatten sich nicht in der Lage gesehen, einen Ratsherrn zu stellen. Deshalb sollten die Hauszimmerleute den Wagnern, die Schiffszimmerleute – die ohnehin wie die Fasszieher während der herbstlichen Saisonarbeit vom Rat fernblieben – den Schiffsleuten zugeschlagen werden. Ein weiterer Sitz sollte durch die Vereinigung der Tucher und der Weber eingespart werden. Dabei wurde argumentiert, dass zwischen Tuchern und Webern viele Kon ikte bestünden, beide jedoch im Grunde ein Gewerbe und eine Zunft (ein han-

K. T. E (Hg.),Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte (2.2–2.4), Nr. 281, S. 528. E. Naujoks (Hg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung, S. 288. E. N, Obrigkeitsgedanke, S. 34 f. K. T. E(Hg.), Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte (2.2–2.4), Nr. 206, S. 440 f. (zwischen 1462 und 1470). Der zweischichtige Rat sollte dem Schwörbrief von 1456 zufolge aus insgesamt 48 Mitgliedern, jeweils zweimal 7 Consto ern, 2 Stettmeistern, 1 Ammeister und 14 Ratsherren aus den Handwerken bestehen; 1462 gab es 40 Ratssitze (13 Consto er, 1 Ammeister, 26 aus den Handwerken), 1470 nur noch 37 (12 Consto er, 1 Ammeister, 24 Handwerker). Ebd., Nr. 56, S. 173 f.; Nr. 67, S. 212; Nr. 90, S. 242.

Rat und Ratsverfassung

tierunge und ein antwerk) darstellten und durch ihre Vereinigung die bisherigen Streitigkeiten abgestellt würden. Bader und Bartscherer sollten auf andere Zünfte aufgeteilt werden, da sie in anderen Städten keine eigene Zunft bildeten und selten einen Sitz im Rat hätten. Für eine neue Zuordnung kamen auch die Grempler (Lebensmittelkleinhändler), Seiler und Altgewender (Altwarenhändler) infrage. Bei diesen heiklen Operationen war die Frage, ob mit den betreffenden Zünften sofort auch deren Stubengesellschaften aufzulösen waren oder ob die Stuben zunächst noch fortbestehen sollten.⁶²¹ Aber nicht nur in Städten mit Zunftverfassung war die Abkömmlichkeit für die Arbeit im Rat und in seinen Kommissionen und Ämtern ein Problem, das sich in nicht zu besetzenden Ratssitzen und in schwankendem und gelegentlich niedrigem Sitzungsbesuch niederschlug. Schwierigkeiten zeigten sich auch auf Seiten der Geschlechter. Die Basler Ritter und Achtburger und die Straßburger Consto er konnten die ihnen reservierten Ratssitze meistens nicht alle besetzen. In Freiburg im Breisgau rückten bis zum Jahr 1500 Zunftangehörige in einige von den Patriziern nicht mehr in Anspruch genommene Ratssitze ein.⁶²² Der Kleine Rat Berns war mit seiner nominellen Stärke von 27 Mitgliedern in der Regel nur zu einem knappen Drittel versammelt, manchmal waren es sogar nur vier oder fünf Ratsherren.⁶²³ Die adligen Berner Twingherren hatten häu g im Sommer und Herbst auf ihren Besitzungen auf dem Lande zu tun, so dass es ihnen schwerer als den stadtsässigen Ratsherren aus Handel und Gewerbe el, die Routinesitzungen zu besuchen. Kölner Ratsherren blieben indessen wegen ihrer Handelsgeschäfte gelegentlich zur Zeit der Frankfurter Messen dem Rat fern. Schließlich war in den häu gen Seuchenzeiten der Rat schlecht besucht. Während der Ausnahmesituation der der Pest in Nürnberg im Jahre 1437 nahmen von den 41 Ratsherren nach der Anga-

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be des Endres Tucher oft keine zwölf oder vierzehn an den Sitzungen teil.⁶²⁴ 4.1.2.2 Politisch-soziale Zusammensetzung und Mehrheitsverhältnisse Der Rat wurde anfänglich von den Meliores oder – in rechtlich-sozialer Ausdrucksweise – den Erbbürgern gebildet, welche die frühen Autonomiebestrebungen getragen hatten, bis neue Kreise deren Vorrecht der Ratsbesetzung durchbrachen und ratsfähig wurden. Das Ratswahlprivileg Herzog Wilhelms von Österreich für Wien vom Jahre 1396 etwa bestimmte, dass der Rat zu je einem Drittel aus Erbbürgern, Kau euten und Handwerkern zu bestehen habe. Ein solcher politisch-sozialer Schematismus ließ sich jedoch nicht durchhalten. Tatsächlich wurde der Rat später aus einer Oberschicht der Vermögenden und Angesehenen gebildet, die sich, ohne wirtschaftlich Schaden zu nehmen, die Ratsfähigkeit leisten konnten und über Geschäftserfahrung verfügten. Es handelte sich um eine Oberschicht, die sich vor allem aus Resten der alten Erbbürger und sozial aufgestiegenen Kau euten zusammensetzte, durch Aussterben alter Familien und Zuwachs neuer relativ rasch umgebildete wurde. In anderen Fällen konnten Quotierungen weitgehend erfüllt werden, weil jede der Gruppen über eine ausreichende Anzahl von Vermögenden verfügte und der politische Wille dazu bestand. Bei den Straßburger Zünften etwa wuchs im 15. Jahrhundert die Erkenntnis, dass die soziale Mobilität, das Überwechseln reicher und leistungsfähiger Mitglieder ins Patriziat eng begrenzt sein musste, damit die politische Stellung der Zünfte nicht geschwächt wurde. Vor allem mit dem Eintritt der Zünfte in den Rat und der Ausbildung von Zunftverfassungen änderte sich in den jeweiligen Städten die Zahl der Ratssitze, und es wurde ihre Verteilung unter den nunmehr herrschenden sozialen Kräften, den Patriziern und dem Zunftbür-

Ebd., Nr. 207, S. 441 f. (zwischen 1470 und 1482). T. S (Hg.), Die Freiburger Enquete, S. XV. A. E, Alltag der Entscheidung, S. 17; R. S, Reden, Rufen, Zeichen setzen, S. 181–198. P. S, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs (4.8), S. 69.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

gertum, nach einem feststehenden Proporz erforderlich. Auch innerhalb der Zünfte gab es große und angesehene, die über eine etwas höhere Anzahl von Sitzen verfügten als kleinere, und wegen ihrer beru ichen Zusammensetzung oder wirtschaftlichen Bedeutung weniger angesehene. Ferner konnten die Sitzverhältnisse angesichts einer politisch-sozialen Dynamik neuen Kräfteverhältnissen angepasst werden. Als sich in Straßburg, das von einem Geschlechterrat beherrscht wurde, 1332 die Zünfte (Handwerke) in Koalition mit den Burgern endgültig politische Rechte sicherten, bildete nach der Verfassungsänderung durch den Schwörbrief von 1334 die Dreiheit von 8 Rittern und Knechten (Edle), 14 nichtzünftigen ehrbaren Burgern und 25 Vertretern der Zünfte einschließlich der Handelszünfte den Rat.⁶²⁵ Dazu war es, wie der Chronist Fritsche Closener berichtet, erforderlich, aus dem Kreis der Consto er, hier noch im Sinne von nichtzünftigen Gewerbetreibenden, durch Ausgliederung die neuen zünftigen Handwerke der Schiffsleute, Kornkäufer, Seiler, Wagner, Tischler, Krämer, Makler, Weinhändler und Obsthändler zu bilden; im Jahre 1362 kamen noch die angesehenen Gewerbe der Tuchscherer und Goldschmiede hinzu. Dem Rat standen nunmehr zwei statt vier nichtzünftige Stettmeister (Stadtmeister) auf Lebenszeit vor, die von den noch lebenden zwei Meistern, den 25 Handwerkern und 14 Burgern des Rats zu wählen waren. Der Ammeister (Ammannmeister) fungierte seit 1334 als Vorsteher der Zünfte. Er wurde nun von den Burgern, die nach 1332 einen bedeutenden Zuwachs aus den führenden Familien der Handelszünfte erhielten, aus ihrem Kreis auf Lebenszeit gewählt. Hatte der Ammeister zuvor lediglich die mit Aufgaben der freiwilligen und in gewissem Umfang der streitigen Gerichtsbarkeit betrauten Schöffel (Schöffen) oder Ammänner versammelt, so stieg er als Vorsteher der Zünfte und in der Folge durch weiteren Kompetenzzuwachs zum wichtigsten exekutiven Amtsträger und Re-

präsentanten der Stadt auf und überragte an Bedeutung die dem Rat und Gericht vorsitzenden Stettmeister. Die Verfassungsänderung wurde mit dem Schwörbrief von 1334 abgeschlossen, den nur die Ritter und Edelknechte unterzeichneten, den aber auch die Straßburger Bündnisstädte Mainz, Worms, Speyer, Freiburg und Basel siegelten. Die leichte Mehrheit der Zünfte an Ratsherren wurde 1349 in eine paritätische Besetzung mit 11 Rittern und 17 Burgern als (patrizische) Consto er auf der einen und 28 Zunftvertretern auf der anderen Seite umgewandelt. Die Burger stellten, nunmehr mit den Edlen unter der gemeinsamen Bezeichnung der Consto er vereinigt, den »bürgerlichen« Teil des Patriziats dar. Das Ammeisteramt (Ammeistertum) ging jetzt an die Zünfte, genauer an die ein ussreichsten und mächtigsten unter ihnen über; das Amt der jetzt vier Stettmeister, die einander vierteljährlich in der Amtsführung ablösten, wurde nicht mehr strikt sozialständisch gebunden, doch stellte sich ein Proporz von zwei Edlen und zwei Burgern ein. Der Ammeister aus den Handwerken und die vier Stettmeister amtierten nur noch ein Jahr. Die 28 Handwerker des Rats hatten den Ammeister zu wählen; die Wahl der vier Stettmeister oblag hingegen dem ganzen Rat. Der neue Rat wurde nicht mehr von einem Wahlmännergremium, sondern vom gesamten abtretenden Rat gewählt. Nach dem Auszug von 8 Rittern, 28 Edelknechten und verschiedenen Burgern aus der Stadt im Jahre 1419 am Vorabend des dadurch ausgelösten Dachsteiner Kriegs beschworen die in der Stadt verbliebenen Burger 1420 einen Schwörbrief, der die Parität in eine kompakte Zweidrittel-Mehrheit der Zünfte umwandelte. Edle und Burger stellten nur noch 14 Ratsherren, während die Zahl der zünftigen Räte von 28 erhalten blieb. Dieses Mehrheitsverhältnis blieb erhalten, als in den Schwörbriefen von 1462 und 1470 die Gesamtzahl der Räte etwas abgesenkt wurde und 1482 nach einer Umstruktu-

625 Die Straßburger Schwörbriefe von 1334 bis 1482 nden sich in den Chroniken der deutschen Städte, Bd. 9, Beilage I, S. 932–950.

Rat und Ratsverfassung

rierung der politischen Zünfte im Schwörbrief von 1482 die Zahl der Räte auf 10 Vertreter der Consto er und 20 der Zünfte festgelegt wurde. Diese Regelung hatte bis zur Französischen Revolution Bestand. Hinzu kommt, dass der in Fragen, die ihm vorgelegt wurden, letztlich entscheidende Große Rat der Schöffen mit seinen 300 Mitgliedern ausschließlich aus den Zünften gebildet wurde. Gemäß der Augsburger Verfassung des zweiten Zunftbriefs von 1368 entsandten die neu aus allen Handwerken und den Kau euten gebildeten 18 Zünfte (1403 nur noch 17) die Zunftmeister in den Kleinen Rat; hinzu kam aus den elf ›großen und ehrbaren‹ Zünften bei nicht exakter Abgrenzung im Unterschied zu den sieben kleinen Zünften jeweils ein weiterer Ratsherr. Gegenüber den ursprünglich 29 Zunftvertretern wurden den Geschlechtern 15 Sitze eingeräumt, sodass sich eine Gesamtzahl von 44 Ratsherren ergab, doch wurde die Zahl der Ratsherren aus den Geschlechtern noch im 14. Jahrhundert auf 12 reduziert. Von 1479 an hatten alle Zünfte das Recht, zwei Vertreter in den Rat zu entsenden, sodass die Zahl der Ratsherren auf 59 Mitglieder anstieg, doch wurden nicht stets alle Sitze besetzt. Daneben gab es den Alten Rat, der aus bewährten Ratsherren bestand, die schon im Kleinen Rat gesessen hatten. Die Konstellation von Bürgermeistern, Kleinem Rat, Großem Rat, politisch berechtigter Zunftgemeinde und Gesamtgemeinde, die in Bürgerversammlungen zusammentrat, ergab ein komplexes politisches System, das in seinen einzelnen Teilen und nach seinen politisch-sozialen Kräften in einigen Städten in den Verfassungsordnungen höchst rational und kunstvoll austariert war. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist die Verfassung der Reichsstadt Ulm auf der Grundlage des Schwörbriefs von 1397 mit patrizischem Bürgermeister, Zunftmehrheit im Kleinen Rat, Parität im Geheimen Rat, Zunftmehr-

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heit im Großen Rat und Mitwirkung der Zunftgemeinde in wichtigen Angelegenheiten.⁶²⁶ In den oberschwäbischen Reichsstädten mit Zunftverfassung gab es hingegen keine festen Paritäten, nur in Überlingen einen gewohnheitsmäßigen Anteil der Patrizier. In Konstanz führte ein Handwerkeraufstand 1342 erstmals zur Aufnahme von Zünftigen in den von den Geschlechtern beherrschten Rat ohne Mitwirkungsrechte, bis ein zweiter Aufstand von 1371 eine Verfassungsänderung erzwang und eine paritätische Vertretung von Zünften und Patriziern festlegte. Paritätische Verhältnisse gab es etwa auch in Heilbronn und Hagenau. In Nürnberg wurde das Herrschaftsmonopol der Patrizier nur kurzzeitig 1348/49 gefährdet, blieb dann jedoch bis zur Entmachtung des Kleinen Rats zugunsten eines repräsentativ aus Patriziern, Kau euten, Handwerkern, Gelehrten und Beamten besetzten Genanntenkollegiums mit 250 Mitgliedern durch den Grundvertrag von 1794 unangefochten. Der mittelalterliche Rat bestand zunächst aus 26 amtsfähigen Mitgliedern (13 Ratsherren oder Bürgermeister und 13 geschworene Schöffen) aus den Geschlechtern, die alle zusammen auch Bürgermeister genannt wurden, weil nur sie für die während des Jahres reihum gehenden Ämter des Älteren und des Jüngeren Bürgermeisters infrage kamen. Seit 1370 traten als außergewöhnliche Konzession des patrizischen Rats acht Genannte aus den Handwerken (Handwerksherren), Vertreter von Gewerben mit unverhältnismäßig vielen Meistern oder von Nahrungsmittelgewerben, hinzu.⁶²⁷ Anstoß zu dieser außergewöhnlichen Konzession des patrizischen Rates hatte vermutlich die Erhebung der Zünfte in Augsburg im Jahre 1368 gegeben, deren Fernwirkung man exibel entschärfen wollte, nachdem bereits 1360 ein Schneider als dritter Losunger zur Kontrolle der städtischen Finanzen beigezogen worden war. Die Genannten aus den Hand-

626 C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm (2.2–2.4), S. 259 f., 263 (1397). Sie 4.2.1. 627 Zu diesen Gewerben gehörten die Bäcker, Bierbrauer, Blechschmiede, später die Goldschmiede, Kürschner, Rotgerber, Rindsmetzger, Schneider und Tuchmacher.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

werken wurden bereits bei der Ratswahl vom neuen Rat auf Lebenszeit ausgewählt und eingesetzt. Da ihre Gewerbebetriebe dringend ihre Anwesenheit in den Werkstätten erforderten, baten sie 1502 und erneut 1509 erfolgreich um eine Lockerung des Sitzungszwangs und Freistellung von Sitzungen (Lüftung). Sie mussten nur noch erscheinen, wenn es ihnen ausdrücklich geboten wurde; ferner war es ihnen freigestellt, ob sie im Rat votieren wollten oder nicht. Der neu konstituierte Rat wählte gleichfalls um 1370 in seiner ersten Sitzung nach Vorschlag der Älteren Herren sechs bis sieben, seit 1445 durchgängig acht hervorragende Vertreter aus dem Kreis der Genannten des größeren Rats die Alten Genannten. Ursprüngliche und einzig wichtige Aufgabe war ihre Beteiligung bei der Ratswahl, bei der sie drei der fünf Wahlmänner (Kurherren) stellten. Die Alten Genannten stammen aus dem Patriziat, doch handelte es sich um solche Angehörige, denen die Zugehörigkeit zum Kreis der Bürgermeister wegen zu naher Verwandtschaft, weil bereits ein Bruder im Rat saß, verwehrt war oder weil sie aus Familien stammten, deren Vorfahren noch nie regiert, im Regiment noch kein Amt von den Bürgermeistern aufwärts bekleidet hatten. Sie verwalteten kein Ratsamt, allenfalls stieg gelegentlich einer zum Jüngeren Bürgermeister oder zum Ratsbaumeister auf. Im sitzenden Rat besaßen sie Stimmrecht und votierten bei der Umfrage, wenn sie es wollten. Die Alten Genannten können als aktive Führungsreserve aus nachgeordneten patrizischen Kreisen betrachtet werden, die quali zierten Genannten aus den Handwerken bedeuten eine Berücksichtigung der an sich nicht regierungsfähigen, auch nicht politisch-organisatorisch formierten handwerklichen Gemeinde (gemain), doch fehlen die Kennzeichen einer wirklichen Repräsentation. Mit dem Hinzutreten der acht Ratsmitglieder aus den Handwerken und den acht Alten Genannten erhöhte sich die Zahl der Mitglieder des Kleinen Rates auf nominell 42, doch nur das Kollegium der 26 und die acht Alten Genannten, die 34 patrizischen Ratsmitglieder, waren an der Gesetzgebung beteiligt. Soziolo-

gisch, nicht was die politische Berechtigung im Rat und die Amtsfähigkeit anlangt, handelte es sich Dr. Scheurl zufolge um 34 Ratsmitglieder aus den patricii; in der deutschen Übersetzung ist von den alten Geschlechtern oder den edeln geschlechten der alten wappens genossen die Rede. 4.1.2.3 Mehrschichtige Ratsgremien Die langen Amtszeiten durch Wiederwahl oder die lebenslange Ratszugehörigkeit waren häug mit einer turnusmäßigen Entlastung jeweils eines Teiles der Ratsherren verbunden. Beim zweischichtigen turnusmäßig wiedergewählten oder lediglich wiedereingesetzten Rat traten jährlich die Hälfte oder ein Drittel des Rats (Lübeck) für ein Jahr zugunsten der eigenen Erwerbstätigkeit als Alter Rat in den Hintergrund und wurden allenfalls zu wichtigen Entscheidungen beratend herangezogen, während die andere Hälfte oder die verbleibenden zwei Drittel als sitzender Rat aktiv die Geschäfte führten und die Ratsämter bekleideten. Beim dreischichtigen Rat blieb jeder Ratsherr nach seinem Amtsjahr für zwei Jahre von den laufenden Geschäften fern und kehrte im dritten Jahr wieder, sodass es drei Teilräte gab, die turnusgemäß und meist in corpore wieder gewählt wurden. Fiele die turnusgemäße Wiederwahl weg, so handelte es sich bei Ratsgremien, die je zur Hälfte ausgetauscht wurden, um zweischichtige Räte in unbestimmter Zusammensetzung. In Bremen standen der Meenheit (Gemeinde) der Bürger seit 1304 drei Ratsdrittel als die Wittheit gegenüber: das amtierender Drittel im Eide und die pausierenden zwei Drittel. Von den 36 Ratsherren, je 9 aus jedem Stadtviertel, waren jeweils 12 für ein Jahr im ausübenden Amt. Die Ratsherren entstammten einer exklusiven, aber instabilen wirtschaftlichen Oberschicht von etwa 30 Familien, ergänzten sich in der Regel selbst und amtierten lebenslang. Gelegentlich gab es für kurze Zeit Wahlen durch die Gemeinde. Seit 1398/1433 gab es vier Ratsviertel mit insgesamt 4 Bürgermeistern und 20/24 Ratsherren; zwei Viertel waren immer im Amt, halbjährlich wurde ein amtierendes Viertel ausgetauscht.

Rat und Ratsverfassung

In Köln amtierten jeweils 15 Ratsherren ein Jahr lang und konnten nach einer Pause von zwei Jahren im dritten Jahr in den Rat zurückkehren. Dadurch gab es einen amtierenden sitzenden Rat sowie einen vorgesessenen und einen nachgesessenen Rat, wobei die beiden pausierenden Räte bei wichtigen Entscheidungen zugezogen wurden. Jeder der abtretenden 15 Ratsherren hatte einen Nachfolger aus seinem Geschlecht vorzuschlagen, den der gesamte Rat wählen oder ablehnen konnte. Da es sich insgesamt um einen engen Kreis von nur 15 ratsfähigen Geschlechtern handelte und in einem Zyklus von drei Jahren insgesamt 45 Ratssitze zu besetzen waren, kam man nicht umhin, auch Kandidaten aus einem anderen Ratsgeschlecht oder aus einem etwas erweiterten Kreis von Familien zu nominieren.⁶²⁸ Gegen Ende des 14. Jahrhunderts kamen mit kurzzeitigen Umgestaltungen des Rats zugleich andere Wahlund Rekrutierungsverfahren auf. Ein auf der Grundlage der parochialen Sondergemeinden gewählter zweiter, sozial erweiterter ›Weiter Rat‹ war bereits um 1300 dem ursprünglichen, dem nunmehr ›Engen Rat‹ an die Seite gestellt worden. Seit dem Verfassungsumbruch durch den Verbundbrief von 1396 gab es hingegen nur noch einen ›einzigen, ungeteilten und gemeinsam tagenden Rat‹ mit 49 Mitgliedern. Da der Rat bereits innerhalb eines Jahres im Juni und Dezember je zur Hälfte gewählt wurde und eine Wiederwahl erst nach einer Pause von zwei Jahren zulässig war, erhöhte sich die Zahl der Ratsherren, die am Turnus beteiligt waren. In Augsburg amtierte zunächst ein Zwölferrat, der später auf 24 Mitglieder anwuchs. Der Rat trat anfänglich jedes Jahr vollständig ab, nachdem er zuvor einen neuen Rat an seine Stelle gesetzt hatte. Im ausgehenden 13. Jahrhundert schieden nur noch zwölf Mitglieder aus, die anderen kooptierten zwölf neue Ratgeben. Die zwölf verbliebenen Ratsherren bildeten den alten Rat, gemeinsam mit den zwölf neu-

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en das Plenum des Kleinen Rats. Dieser wählte aus seiner Mitte den vorberatenden Ausschuss der Vierer, die beiden P eger und aus der Bürgerschaft den Großen Rat. Aus einem Ratsdekret von 1340 ist zu entnehmen, dass die ausgeschiedenen zwölf Mitglieder drei Jahre hindurch nicht mehr gewählt werden konnten. Die Zunfterhebung von 1368 stellte dann die Ratsverfassung auf eine neue Grundlage. In Straßburg wurde 1456 die Amtszeit des Rates im Anschluss an ein Gutachten der XVer von dem meist üblichen einen Jahr auf insgesamt zwei Jahre erhöht.⁶²⁹ Es sollte jedoch innerhalb der zwei Jahre jedes Jahr die Hälfte des Rates ausgetauscht werden, während die andere Hälfte ein weiteres Jahr sitzen blieb. Die abtretende Hälfte der Ratsherren sollte die neue Hälfte wählen. Die Mehrheit der XVer hatte die Verlängerung der Amtszeit mit der Notwendigkeit einer Kontinuität der Geschäftskenntnis und Geschäftsführung und mit der Entscheidungssicherheit begründet sowie zudem erhöhte Zuwendungen an die Ratsherren angeregt. Es sollte vermieden werden, dass Angelegenheiten, die der alte Rat behandelt und abgelehnt hatte, von einem völlig neuen Rat erneut behandelt wurden und nun Sachen gegen das allgemeine Interesse der Stadt durchgingen, dass ferner Sachen, die vom alten Rat vorgenommen worden waren, in Unkenntnis der Auffassung des alten Rates nun in einem anderen Sinne entschieden wurden und solche, die vor dem alten Rat rechtshängig waren, nun in arglistiger Weise in den neuen Rat gezogen wurden, wodurch in der Vergangenheit viele ihr Recht verloren hätten.⁶³⁰ Diese Argumentation hat zwar eine organisatorische Logik für sich, lässt aber die durch Schriftlichkeit zu gewährleistende Kontinuität des Verwaltungshandelns außer Betracht. Eine Minderheit hatte die Neuorganisation zugunsten des alten Herkommens mit dem pauschalen Hinweis abgelehnt, dass sie weder notwendig noch nützlich sei. Die Vorfahren hätten die

628 W. H, Wahlrecht und Wahlen, S. 17–23. 629 K. T. E (Hg.), Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte (2.2–2.4), Nr. 56, S. 173 f. (Schwörbrief von 1456). 630 Ebd., Nr. 196, S. 433–435.

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jährliche Ratswahl, wäre sie nicht von Nutzen gewesen, sehr wohl ändern können. In Ulm wurde nach Maßgabe des Schwörbriefs von 1397 jährlich die Hälfte des Kleinen Rates erneuert, wobei Wiederwahl erst nach der Karenzzeit von zwei Jahren möglich war, doch durften die ausgeschiedenen Räte zwischenzeitlich in den Großen Rat gewählt werden. Der Große Rat hingegen wurde jedes Jahr zur Gänze neu gewählt, wobei ausdrücklich bestimmt wurde, dass Kandidaten die bisherigen Mitglieder des Großen Rats, ferner die ausgeschiedenen Angehörigen des Kleinen Rates sowie Bürger sein sollten, die bislang keinem der beiden Räte angehört hatten. 4.1.3 Ratswahlen und Amtsdauer der Ratsherren 4.1.3.1 Voraussetzungen der Wählbarkeit und Amtsverlust In den Rat gewählt wurden ursprünglich ›ehrbare Männer‹, das waren mit Grund und Boden angesessene vollfreie Bürger, die von ihren Grundrenten lebten, allenfalls Großhandel, aber kein handwerkliches Gewerbe trieben, die bürgerlichen Lasten mittrugen und in keinem dienstrechtlichen Verhältnis zu einem anderen standen, ›niemandes Amtmann waren‹.⁶³¹ Unabdingbare Voraussetzung für das Ratsamt waren überall das Bürgerrecht und männliches Geschlecht. Kein aktives und passives Wahlrecht hatten neben den Frauen auch die Geistlichen und die Juden. Die anderen Bedingungen für das passive Wahlrecht wurden unterschiedlich festgesetzt, waren auch in derselben Stadt nicht konstant und wurden erweitert. Das Mindestalter lag in Köln bei 20 Jahren, in Straßburg 1303 bei 30, für das Bürgermeisteramt bei 35 Jahren. Im Jahre 1481 wurde wegen der Besetzungs- und Nachwuchsprobleme bei den Consto ern das Wahlalter bedingt herabgesetzt. Verheiratete konnten bereits mit ei-

nem Alter von 25 Jahren gewählt werden, Unverheiratete, die über Vermögen verfügen mussten, erst mit 30 Jahren. Verehelichung war in Nürnberg, Rottweil und Dortmund Voraussetzung. In Nürnberg wurde dies damit begründet, dass nur ein verheirateter Ratsherr diejenigen, die in unordentlichen außerehelichen Verhältnissen zusammenlebten, bestrafen könne, und damit, dass sich niemand mit dem schlechten Beispiel von Ratsmitgliedern herausreden könne. In Bremen einigten sich der amtierende Rat und die übrigen Ratsherren der Wittheit sowie die Gemeinde 1330 auf die Einführung kompakter, insbesondere hoher wirtschaftlicher Wahlvoraussetzungen. Zu ihnen gehörten eine freie Geburt, ein Mindestalter von 24 Jahren, der Besitz einer Liegenschaft im Wert von mindestens 32 Mark, der Beitrag von einer Mark zur Abtragung der städtischen Rentenschuld, im Amt der Unterhalt eines Pferdes im Wert von mindestens drei Mark für die Stadt und eine standesgemäße Lebensführung. Ein Zunftmeister musste für die Dauer der Amtszeit im Rat die Ausübung seines Handwerks aufgeben. Einige Städte verlangten für das passive Wahlrecht fünf oder zehn Jahre haushäbliche Stadtgesessenheit mit Bürgerrecht. In Augsburg war für die Wählbarkeit in den Großen Rat ein fünähriger Besitz des Bürgerrechts Voraussetzung; um in den Kleinen Rat gewählt zu werden, musste man jedoch zehn Jahre als Bürger in der Stadt gelebt haben. Im Jahre 1476 wurde Unverheirateten die Teilnahme an Wahlen untersagt. Weitere Voraussetzungen für dass passive Wahlrecht waren eheliche und freie Geburt, Erbgesessenheit, Besitz von freiem Eigen und seltener ein Mindestvermögen, von dem bei außerordentlich Befähigten abgesehen werden konnte wie in Dinkelsbühl und München. Ehebrecher, im Konkubinat Lebende und Wucherer waren nicht wählbar oder wurden, falls sie

631 Zu den Ratswahlen siehe B. S, Ratswahl; K. S, Wahlen und Formen der Mitbestimmung; W. H, Wahlrecht und Wahlen; D. W. P, Rituale der Ratswahl; E. I, Élections et pouvoirs politiques; H. S, Geschichte der Freien Hansestadt Bremen, Bd. 1, 1975, S. 69 f., 93, 114.

Rat und Ratsverfassung

bereits im Rat saßen, wieder ausgeschlossen. Nicht wählbar waren auch solche, die sich im Ratsamt als bestechlich erwiesen hatten. Ferner konnten Eigenleute, im Hörigenstatus Geborene, Pfaffenkinder, verschiedentlich so genannte Unehrliche durch Beruf wie teilweise die Barbiere und Leinenweber in Niederdeutschland sowie in Acht oder im Kirchenbann be ndliche Personen nicht gewählt werden. Aus politischen Gründen wurde nicht zugelassen, wer im Rat eines Herrn saß, so in Köln, Ulm und Bern, oder als Gastwirt Herren, Edelleute und Kriegsleute beherbergt hatte (Ulm), in Städten mit lübischem Recht, wer amts- und lehnrechtlichen Bindungen zu auswärtigen Herren unterlag. Inkompatibilität oder die mögliche Kollision spezieller wirtschaftlicher Interessen mit dem ›gemeinen Besten‹ und mehrfache eidliche Gebundenheit waren in Köln Gründe, wenn seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts die erzbischö ichen Salzmesser und Fährunternehmer, Inhaber städtischer Dienst- und Verwaltungsämter, städtische Werkleute und Bedienstete mit städtischer Kleidung, ferner Steuerpächter, Makler, Münzer und Geldwechsler oder Viehschreiber, d. h. Makler und Kreditvermittler im Viehhandel, für die Zeit ihrer Tätigkeit von der Wählbarkeit ausgeschlossen waren. In Städten mit lübischem Recht galten vielfach Handwerker und ihnen gleichgestellte Gewerbe als ratsunfähig. In Wien wurde erst 1526 durch das Stadtrecht Herzog Ferdinands die Bestimmung eingeführt, wonach nur jene Bürger in den zwölfköp gen Rat gewählt werden durften, die kein Handwerk ausübten und ein Haus besaßen. Darüber hinaus durften nicht mehrere nahe Verwandte zugleich im Rat sitzen. Wo es doch missbräuchlich vorkam oder in kleinen Städten gelegentlich nicht zu vermeiden war, sprach man von einem ›Vetternrat‹. Im patrizisch regierten Nürnberg wurde der Grundsatz, dass nie mehr als zwei Angehörige aus einer Familie, Va-

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ter und Sohn oder zwei Brüder, gleichzeitig im Rat vertreten sein durften, streng gewahrt. In einigen Städten wie Augsburg und Köln behielt sich der Rat das Recht vor, jeden einzelnen der Gewählten zu bestätigen und notfalls ungeeignete oder missliebige Ratsherren doch noch auszuscheiden.⁶³² Eine Überprüfung bezog sich vor allem auf die Erfüllung von gesetzlichen Quali kationsanforderungen, auf ungebührliches und ehrloses Verhalten in der Vergangenheit, die Verwicklung in schuld- oder strafrechtliche Prozesse sowie auf Bestimmungen, wonach eine gleichzeitige Ratsmitgliedschaft enger oder naher Verwandter nicht zulässig war. Erwies es sich in Osnabrück, dass wissentlich oder unwissentlich Ratsherren gewählt wurden, die nach der Ordnung von 1348 nicht wählbar waren, mussten diese aus dem Rat ausscheiden, und die Wahlmänner hatten andere Personen an ihrer Stelle zu wählen. In Bern, der ehemaligen Reichsstadt, führte nach Zeugnissen um 1450 der Stadtschreiber die Listen derer, die für die Wahl zum Großen Rat, dessen Mitgliederzahl damals zwischen knapp 300 und 400 Personen schwankte, nominiert wurden. Er entschied aufgrund seiner Kenntnis der geltenden Satzungen, ob die Personen tatsächlich wählbar waren, holte auch Erkundigungen ein und befragte die Nominierten zu bestimmten Punkten.⁶³³ Die Wahl musste in der Regel angenommen werden. Wer die Annahme grundlos verweigerte, wurde in Köln nach dreimaliger Ermahnung mit einjähriger Turmhaft, in München hinsichtlich des Bürgermeisteramtes und anderer Ratsämter mit hohen Geldstrafen bedroht. Schwerwiegende Amtsdelikte wie Untreue, Unterschlagung und Geheimnisverrat, die auch in internen Auseinandersetzungen der Führungsgruppen als Beschuldigung vorgebracht wurden, konnten als Eidbruch der Ratstätigkeit dann recht abrupt, in Einzelfällen durch Enthauptung oder Erhängen, ein Ende setzen.⁶³⁴

632 J. R, »Ir freye wale zu haben«, S. 253; M. H (Hg.), Beschlüsse des Rates der Stadt Köln (4.5), S. 523 f. 633 R. S, Wahlen in Bern, S. 244–252. 634 G. F, Die Affäre Niklas Muffel; J. R, Für den Gemeinen Nutzen, S. 48–98 (Ulrich Schwarz).

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

Delikte wie Ehebruch und Wucher wie etwa auch hohe nanzielle Verschuldung sollten zur Entfernung aus dem Rat führen. 4.1.3.2 Wahlmodi und Wahlvorgänge Wahl und Amtsdauer der Stadträte bewegten sich zwischen der Wahl eines jährlich wechselnden Rates durch die Bürgergemeinde, wobei Wiederwahl generell oder nach Karenzzeiten nicht ausgeschlossen oder sogar vorgesehen war, und der reinen Kooptation auf Lebenszeit im Rat sitzenden Patrizier oder Angehöriger einer Kaufmanns- und Rentiersaristokratie. Vor allem in der Anfangszeit des Konsulats erfolgte die Wahl vielerorts durch die gesamte Bürgerschaft oder einen von ihr gebildeten Wahlausschuss und nur für eine kurze Amtsdauer. In Lübeck wird eine entsprechende Entwicklungslinie sichtbar. Die zunächst wählende Bürgerversammlung wird dem wirtschaftlichen Zuschnitt der Stadt entsprechend den Vorschlägen prominenter Fernhändler gefolgt sein und diesen dann gewohnheitsmäßig die Auswahl der Ratsmitglieder überlassen haben. Vermutlich schon im dritten oder vierten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts wählten nicht die Bürgerschaft oder ein Ausschuss der Gemeinde die Ratsmitglieder, sondern der verbliebene amtierende Rat selbst füllte nach dem Ausscheiden eines Drittels des Rats diesen durch Kooptation wieder auf. Bis zum Ende des 13. Jahrhunderts wurde rein formell der Rat jährlich am Tage von Petri Stuhlfeier (22. Februar) neu gewählt, wobei Ratsherren, die sich nicht bewährt hatten oder aus anderen Gründen nicht mehr als geeignet erschienen, übergangen werden konnten. Seit dem 14. Jahrhundert bürgerte sich die lebenslängliche Zugehörigkeit zum Rat ein, sodass reguläre Neuwahlen im Allgemeinen nur noch bei körperlicher Amtsunfähigkeit oder nach Todesfällen stattfanden. In Wien behauptete die Gemeinde die Ratswahl als ihr Recht bis in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts hinein, dann ging das Wahlrecht an das Gremium der Genannten über,

die ihrerseits vom Rat ernannt wurden und lebenslang amtierten. In der Mehrzahl der rheinischen Bischofsstädte, in den elsässischen Städten, in Zürich und Freiburg im Breisgau sowie in den niederschwäbischen Reichsstädten, die das Konsulat relativ spät übernommen hatten, blieben die Ratsherren hingegen durchweg lange, wenn nicht überhaupt auf Lebenszeit im Amt. In den Rat gelangten sie auf dem Wege der Kooptation oder durch kooptationsähnliche Wahlverfahren, bei denen meistens der abtretende Rat den neuen ganz oder zu einem Teil wählte. In Köln gab es seit 1396 eine Mischung aus Wahl und Zuwahl einer bestimmten Quote durch die bereits gewählten Ratsherren. Manche Städte gingen von einer jährlichen Wahl und Erneuerung des Rates aus unbestimmten Gründen der Nützlichkeit ab und führten die Wahl der Ratsmannen auf Lebenszeit ein, wobei allerdings die Ratszugehörigkeit grundsätzlich an die fortbestehende körperliche und geistige Fähigkeit, das Amt auszuüben, gebunden wurde.⁶³⁵ Die Wahl auf Lebenszeit setzte sich in einigen Fällen selbst hinsichtlich Großer Räte durch, die deshalb gleichfalls zur Obrigkeit werden konnten. Das Spektrum an Verfahrensmöglichkeiten bei den Ratswahlen reicht von der eher seltenen Wahl durch die gesamte Bürgergemeinde oder – nicht nur in der kommunalen Frühzeit – durch den abtretenden Rat selbst über die später regelmäßige indirekte Wahl durch ein- oder mehrstu g gewählte, ausgeloste oder kooptierte Wahlmännergremien bis hin zur Kooptation oder zu der Mischform, bei der ein Teil des Rates gewählt wurde und dieser sich dann selbst ergänzte. Außerdem konnte die Wahl der Vertreter im Rat durch die Sozialgruppen und in den einzelnen Zünften erfolgen. Zunftverfassungen zogen in der Regel die direkte Wahl der Vertreter in den einzelnen politischen Zünften nach sich. Die Ratswähler oder Wahlmänner waren in Süddeutschland überwiegend korporativ, weiter nach Norden hin häu ger auch topogra sch nach Kirchspielen und Vierteln ge-

635 Urkunden zur Geschichte des Städtewesens II (Einleitung), Nr. 79, S. 73 (Neuss 1460).

Rat und Ratsverfassung

gliedert. Abgestimmt wurde offen durch mündliches Votum und durch Handzeichen oder geheim in schriftlicher Form oder mittels farbiger Bohnen und Ähnlichem. Es galt die einfache Mehrheit. Die Wahlverfahren wurden in einigen Städten anlässlich von Verfassungsänderungen und Reformen wiederholt verändert. So erfolgte etwa die Straßburger Ratswahl seit 1333 durch ein Wahlmännergremium, wobei die Ritter und Edelknechte kein aktives Wahlrecht besaßen, bis seit 1349 der neue Rat durch den abtretenden gewählt wurde und von 1433 an die Schöffelkollegien der Zünfte die jeweiligen Ratsherren wählten. Überall und hinsichtlich der verschiedensten Verfahren hatten sich die Wähler aber eidlich zu verp ichten, die Besten, Geeignetsten und Ehrbarsten, die für das Gemeinwohl zu sorgen am besten befähigt waren, zu wählen. In Ulm, wo die Patrizier nur ein passives Wahlrecht besaßen, war eine Aussprache über Personen in der Wahlkommission mit der Maßgabe, ob sie für die Stadt nützlich seien, durch städtische Satzung ausdrücklich angeordnet. Aber auch bei dem in Hamburg geübten Kooptationsverfahren hatte jeder Vorschlagende auf seinen Eid zu versichern, dass er den Vorgeschlagenen für den Besten für die Stadt erachte. Wahlhandlungen sowie Ratsumsetzungen und Ratseinsetzungen erfolgten in mehreren Schritten an bestimmten Heiligen- und Feiertagen und an bestimmten Orten. Sie waren bis hin zur Eidesleistung und Niederlassung der neuen Ratsherren im Ratsgestühl von vielfältigen Zeremonien, Ritualen und Prozessionen, wie bei der Königswahl von Messen zum Heiligen Geist in den Kirchen und Gebeten mit der Bitte um göttlichen Beistand begleitet, in die auch die Öffentlichkeit einbezogen wurde. In Nürnberg galten zum Zeitpunkt der schriftlichen Fixierung der Wahlherren bis zur Neuwahl und Vereidigung des neuen Rats alle anderen Ratsherren für amtslose einfache Bürger und daher alle Ämter und alle Regierungsgewalt für suspendiert. In Osnabrück hatten sich bei Strafe alle

636 Siehe 2.5.2.4.

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Bürger, die einen eigenen Haushalt besaßen, als Gemeinde auf dem Rathaus zu versammeln, um den Wahlvorgängen beizuwohnen. Die Mitte des 13. Jahrhunderts erweist sich für die Entstehung und Entwicklung der Ratsverfassung in mehrerer Hinsicht als Achsenzeit. Bis etwa 1250 wurden frühe autogene bürgerschaftliche Räte vom bischö ichen Stadtherrn und durch Weistümer der Reichsfürsten mit Hilfe des Königtums immer wieder verboten, wobei nicht nur die Einrichtung eines bürgerschaftlichen Rates an sich, sondern vor allem auch die Wahl durch die Stadtgemeinde (universitas civium) als anstößig betrachtet wurde. Es kam nach den Verboten aber bald zu Kompromissen, in denen bischö iche Ministeriale und Bürger in einem vom Stadtherrn zugestandenen Rat vereint wurden, bis sich schließlich rein bürgerschaftliche Räte durchsetzten.⁶³⁶ Seit 1250 jedoch wurde die Ratsverfassung in den deutschen Städten zur unwiderstehlichen und unumkehrbaren Erscheinung und etablierte sich bis 1300 in etwa 250 Städten. Ferner sind, allerdings noch sehr vereinzelt, zwei weitere wichtige Erscheinungen zu beobachten. In Freiburg im Breisgau erfuhr die noch junge Ratsverfassung 1248 eine einschneidende Korrektur, weil die Angehörigen des 24köp gen Rats, die den führenden Ratsfamilien entstammten, bereits auf Lebenszeit amtierten, den Rat selbst ergänzten und sich auf diese Weise gegenüber der Gemeinde abgeschlossen hatten. Diesem Rat wurde nun ein gewähltes Gremium in gleicher Größe an die Seite gestellt, das die Gemeinde repräsentieren, mitentscheiden und dabei die Orientierung am Gemeinwohl gewährleisten sollte. In Bremen, wo sich eine ähnliche Kooptationspraxis etabliert hatte, wurde das Recht der Gemeinde, den Rat zu wählen, für einige Zeit wiederhergestellt, bis sich schließlich die Selbstergänzung auf Lebenszeit, unterbrochen von nur kurzfristig praktizierten Gemeindewahlen, durchsetzte. Außerdem traten nach 1250 bereits vereinzelt Zünfte als politische Kräfte in Erscheinung, allerdings mit

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noch beschränkten oder nur vorübergehenden Mitwirkungsrechten, doch wurden die Handwerker faktisch noch im Verlauf des 13. Jahrhunderts, spätestens 1330 infolge der neuen hohen wirtschaftlichen Wahlvoraussetzungen aus dem Rat ausgeschlossen. In Augsburg ist für 1290 anlässlich der Bewilligung des Badhauses der Juden ein Großer Rat sicher belegt. Ganz zu Beginn der noch wenig fassbaren kommunalen Emanzipations- und Autonomiebestrebungen im römisch-deutschen Reich stellte Bischof Otto von Freising, der Onkel Kaiser Friedrich Barbarossas, in seinen »Gesta Frederici« von 1157/58 in einer bemerkenswerten Analyse die Grundprinzipien der älteren lombardischen Kommunebewegung für seine mittelalterlichen Zeitgenossen heraus. Neben den Motiven der virulenten Freiheitsliebe und des Strebens nach Selbstregierung nennt der Bischof die wesentlichen Elemente der neuen politischen Ordnung: Konsuln regieren jetzt die Städte; diese werden durch Wahl aus allen drei Ständen bestellt, doch als Sicherung gegen Herrschsucht (libido dominandi) lässt man nur kurze Amtsperioden von einem ganzen oder nur einem halben Jahr zu.⁶³⁷ Mit dem Wahlprinzip und den kurzen Amtszeiten ist auch für die Ratsverfassung deutscher Städte ein idealtypischer entwicklungsgeschichtlicher Ausgangspunkt gegeben. Ferner sieht das rechtliche Modell der Körperschaft (universitas) die Bestellung einer leitenden Instanz im Wege der Wahl durch die Gesamtheit ihrer Mitglieder oder durch eine repräsentative Versammlung vor. Wenn jedoch die Realität in generalisierender Perspektive beschrieben werden soll, muss man zu unentschiedenen Formulierungen Zu ucht nehmen. Wahl und kurze Amtsperioden als Grundelemente galten in verschiedenen Stadtverfassungen, in anderen galten sie nicht oder nicht mehr, sollten jedoch gelten; und es gab dort, wo nicht mehr jährlich gewählt wurde, durch Karenzzeiten, Rotation und Turnus Unterbrechungen einer lebenslan-

gen Amtstätigkeit. Ferner gibt es keine eindeutige entwicklungsgeschichtliche Abfolge von der jährlichen Wahl hin zur Bestellung auf Lebenszeit, beides kommt in großer zeitlicher Nähe zugleich vor. Die Schöffenkollegien etwa, die in einigen rheinischen und andrischen Städten eine Leitungsfunktion für die Gemeinde beanspruchten und auch an dem später gebildeten Rat Anteil hatten, waren festgefügte Gremien und wurden nicht von der Gemeinde durch Wahl beauftragt. Wenn ferner von einer Wahl durch die Gemeinde die Rede ist, handelte es sich um einen Kreis von Bürgern, das heißt von Bewohnern mit Bürgerrecht. Dieser konnte zunächst auf die divites, potentes und meliores der Stadt beschränkt sein. Zunehmend kamen auch Handwerker und Zunftmitglieder, die das Bürgerrecht erworben hatten, hinzu. In Köln besaßen seit 1396 neben den Bürgern auch die in den Gaffeln eingeschriebenen und auf den Verbundbrief vereidigten bloßen Eingesessenen das aktive, nicht aber das passive Wahlrecht. Bevor die variierenden Formen der Ratsbestellung im 13. Jahrhundert knapp skizziert werden, sollen beispielhaft Übergangserscheinungen beim Wandel von der stadtherrlich regierten hin zur kommunalen und autonomen Stadt dargestellt werden. Solange der Rat aus bischö ichen Ministerialen und Bürgern zusammengesetzt war, wie es im Straßburger Stadtrecht von 1214 der Fall war, kam nur eine Wahl der bürgerlichen Ratsherren durch die Bürgergemeinde infrage. Der in Worms nach dem Verbot des autogenen bürgerlichen Rats im Jahre 1233 erzielte Kompromiss zwischen Bischof und Bürgerschaft schuf eine überaus komplizierte Ordnung für die Wahl des Rates und der kommunalen Amtsträger. Die neue Ordnung sah zwar keine bischö ichen Amtsträger im kommunalen Rat vor, erkannte jedoch dem Bischof als dem Stadtherrn unter Beiziehung eines Vertreters der hohen Geistlichkeit das Recht zu, unter den Wormser Bürgern neun geeignete Rats-

637 Otto von Freising et Rahewin, Gesta Frederici seu rectius Cronica, hg. von F.-J. S, übersetzt von A. S, Darmstadt 1965, Buch II, Kap. 14, S. 308.

Rat und Ratsverfassung

herren zu erwählen, die dann ihrerseits sechs Wormser Ritter hinzu wählten. Die Ratsherren werden auf Lebenszeit bestellt, notwendige Ergänzungswahlen in derselben Weise wie die ursprüngliche Wahl vorgenommen. Der Bischof und der fünfzehnköp ge Rat wählen sodann die städtischen Amtsträger einschließlich des Schultheißen, diese jedoch für lediglich jährliche Amtsperioden. Ferner soll vom König einer der Bürgermeister aus den neun bürgerlichen Ratsherren ausgewählt werden. Der König kann ihn jährlich auswechseln oder im Amt belassen, während der Bischof den anderen Bürgermeister jährlich aus den sechs ritterlichen Ratsherrn auswählt. Ein solches äquilibristisches rationales Konstrukt konnte nicht für längere Zeit praktikabel sein und erfüllt werden. Abstrakt zusammengefasst, hat sich in den kon iktreichen und wechselnden Verhältnissen des 13. Jahrhunderts für die Ratsbestellung und Wahl, damit auch für die spezi sche Form des Rates, bereits ein breites Repertoire von Gestaltungsmöglichkeiten entwickelt. Dazu gehören: 1. die jährliche Wahl durch die Gesamtgemeinde; 2. die indirekte jährliche Wahl durch ein Kollegium von Wahlmännern; 3. die Bestellung der Ratsherren auf Lebenszeit und die Ergänzung des Rats durch Kooptation; 4. damit in Verbindung die Existenz von zwei oder drei sich abwechselnden Ratskörpern sowie das Ausscheiden aus dem amtierenden Rat und der Wiedereintritt nach einer Karenzzeit und einem bestimmten Turnus; 5. Wahlen auf korporativer Grundlage; 6. Wahlen auf der Grundlage einer topogra schen Einteilung der Stadt; 7. die Trennung von aktivem und passivem Wahlrecht und das lediglich passive Wahlrecht der Geschlechter; 8. die Bindung des passiven Wahlrechts an Voraussetzungen, die über das Bürgerrecht hinausgehen wie etwa die Distanz zu adeligen

638 T. S (Hg.), Die Freiburger Enquete, S. 19.

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Herren und der Erwerb des Lebensunterhalts ohne handwerkliche Tätigkeit; 9. feste Quoten an Sitzen im Rat für Zünfte und bestimmte Stände wie Ritter und nichtadlige Geschlechter; 10. die Einrichtung eines jährlich gewählten Gemeindeausschusses neben einem Rat mit lebenslanger Zugehörigkeit. Die Kooptation und verwandte Verfahren, vor allem die Wahl durch engere Wahlmännergremien, setzten sich im Verlauf des 13. Jahrhunderts fast überall durch, und zwar aufgrund des sozialen Unterschieds zwischen den reichen, grundbesitzenden Kau euten, Rentiers und Geschlechtern auf der einen Seite und den von diesen weitgehend abhängigen, nicht für ratsfähig erachteten Handwerkern und Kleinhändlern auf der anderen. Bemerkenswert ist die Ratswahl im bayerischen Landsberg, wo die Gemeindeversammlung sowie der Innere und Äußere Rat jeweils einen Wahlmann wählten. Dieses Dreierkollegium wählte die acht Mitglieder des Inneren Rats, doch setzte die Gemeinde einen weiteren Ratsherrn ein, der stets die Angelegenheiten der ganzen Gemeinde beim Rat vorzubringen hatte.⁶³⁸ In Osnabrück galt nach der Wahlordnung von 1348, die vom sitzenden und alten Rat mit Zustimmung der Gesamtheit der wahlberechtigten Bürger (meinheit) beschlossen wurde, ein mehrstu ges Verfahren für die Wahl der Wahlmänner und Ratsherren in den Stadtteilen und Quartieren. Die Wahlen sollen in Anwesenheit aller bei einer Geldbuße zum Erscheinen verp ichteten Bürger mit eigenem Haushalt (rock/Rauch) auf dem Rathaus statt nden. Zunächst erwürfeln die abgehenden sechzehn Ratsherren (Schöffen) zwei Wahlmänner, die aus den fünf Stadtquartieren jeweils vier oder zwei, insgesamt sechzehn Wahlmänner wählen. Diese erste Gruppe von sechzehn Wahlmännern begibt sich gemeinsam in die Quartiere und wählt dort wiederum aus den Quartieren dieselbe Anzahl von Wahlmännern, die daraufhin als zweite Gruppe nunmehr die Mitglieder des neuen Rats entsprechend dem Schlüssel für die Quar-

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

tiere einmütig oder nach dem Mehrheitsprinzip wählen.⁶³⁹ Wo die Zünfte schon im 13., vor allem aber im 14. Jahrhundert eine Beteiligung am Rat erstritten hatten und eine Zunftverfassung errichtet wurde, war eine Gesamtwahl durch die Bürgergemeinde kaum mehr möglich. Die Zünfte entsandten in der Regel die nach Zünften und in den Zünften direkt gewählten Zunftmeister und eventuell weitere hinzugewählte Zunftmitglieder in den Rat. In Ausnahmefällen waren die Zünfte bei ihrer Wahl an eine Vorschlagsliste eines Wahlkollegiums gebunden (Rottweil), oder es nahm ein Wahlmännerkollegium die Wahl vor wie in Basel und Speyer. Die Amtsdauer der Zunftmeister betrug meist ein Jahr, doch kamen auch zwei- und dreijährige Amtsperioden vor, wenn jährlich nur die Hälfte oder ein Drittel der Zunftmeister neu gewählt wurde. Vielerorts durften Zunftmeister nicht unmittelbar wiedergewählt werden. Patrizier und Zunftangehörige wählten in verschiedenen Wahlgremien und meist nach verschiedenen Wahlverfahren. In den rheinischen Bischofsstädten Basel, Straßburg und Worms blieb es zunächst bei einer einheitlichen Ratsbesetzung, ebenso dort, wo – wie in Frankfurt und den Wetteraustädten, in Nürnberg und Rothenburg ob der Tauber – das patrizische Übergewicht fortbestand. Das Kooptationsprinzip der neben den Zünften im Rat sitzenden Patrizier blieb jedoch nur ausnahmsweise erhalten. In Städten, in denen die Zünfte die Oberhand gewonnen hatten, versuchten diese, auf die Wahl der patrizischen Ratsmitglieder unmittelbar Ein uss zu nehmen, indem sie sich in den Wahlgremien, die für die Patrizier zuständig waren, die Mehrheit sicherten oder den Patriziern zwar das passive, nicht jedoch das aktive Wahlrecht beließen. Wo die Patrizier wie in Memmingen, Ravensburg, Lindau und Überlingen keine Zunft, sondern nur eine Gesellschaft bildeten, besaßen sie kein aktives Wahlrecht. Die Zunftmeister bildeten regelmäßig einen festen Teil des Rats

mit einer eigenen Bank, hinzu kam eine gleiche Anzahl frei bestimmbarer Mitglieder, die Ratgeben genannt wurden. Dieser Teil wurde vielfach nach Vorschlägen von Kandidaten durch die einzelnen Zünfte von einem mehr oder weniger großen Ausschuss der Bürger- oder Zunftgemeinde gewählt, den auch die Zunftmeister und der Große Rat bilden konnten (Überlingen). Erreichte der von einer Zunft vorgeschlagene Kandidat keine Mehrheit, musste sich die Zunft auf einen neuen Kandidaten einigen. In Memmingen wurde 1496 in einer Wahländerung bestimmt, dass die einzelnen Zünfte ihren Kandidaten nicht aus ihrer Mitte, sondern aus einer anderen Zunft nehmen mussten. Damit sollte gewährleistet werden, dass die Zünfte wirklich den Besten und Geeignetsten zum Kandidaten erhoben. Obwohl die Zünfte die Wahlen beherrschten, wurden Patrizier überall wegen ihrer wirtschaftlich-sozialen Vorrangstellung, ihrer Abkömmlichkeit und ihres Ansehens, auch wegen ihrer familialen Beziehungen zu Nachbarstädten bevorzugt und mit einem verhältnismäßig hohen Anteil in den Rat gewählt. Die den Zünften an die Hand gegebene Möglichkeit, unerwünschte Patrizier vom Rat fernzuhalten, bedeutete zusammen mit einem Übergewicht der Zünfte im Großen Rat ein verfassungsrechtliches Korrektiv und eine Absicherung, wenn die Zünfte im entscheidenden Gremium, dem Kleinen Rat, keine kompakte Mehrheit hatten. Die Mitregierung der Patrizier war auch wegen ihren Beziehungen zur adlig-fürstlichen Umwelt und zum Königshof, insbesondere hinsichtlich äußerer Politik, Diplomatie und des Besuchs der Hof- und Reichstage kaum zu entbehren. Auch in einigen elsässischen Städten, unter Beiziehung des patrizischen Bürgermeisters in Ulm, in Esslingen und Augsburg wählten die Zünfte die patrizischen Ratsherren. In Ulm wurden, nachdem der Kleine Schwörbrief von 1345 den Patriziern noch ein aktives Wahlrecht in einer freilich zünftig dominierten Wahlkommission von 17 Zunftmeistern des Rats, 7 Patri-

639 B.-U. H (Hg.), Quellen zur Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 54, S. 360–363.

Rat und Ratsverfassung

ziern und dem patrizischen Bürgermeister eingeräumt hatte, gemäß dem Großen Schwörbrief von 1397 die jährlich wechselnde Hälfte der patrizischen Ratsherren des Kleinen Rats (7) und die patrizischen Mitglieder des hinzugekommenen Großen Rats (10) durch eine Kommission gewählt, die nur noch aus der Gesamtheit der zünftigen Vertreter im Kleinen Rat (17) und im Großen Rat (30) sowie dem neugewählten patrizischen Bürgermeister bestand. In Augsburg wählten die beiden alten Bürgermeister und die neugewählten 27 (34 ab 1376) zünftigen Mitglieder des Kleinen Rats vier von den acht neuen Vertretern der Geschlechter (Herren), in einem weiteren Schritt die neuen Bürgermeister und die Räte des Kleinen Rats weitere vier Vertreter der Geschlechter; weitere vier amtierten als Besonderheit zwei Jahre. Aus den Zünften gelangten die 17 Zunftmeister (ursprünglich 18) und 12 weitere Angehörige der großen Zünfte, seit 1476 jedoch aus jeder Zunft ein Mitglied, insgesamt weitere 17 Angehörige in den Kleinen Rat. Einer der Bürgermeister war zünftig, der andere wurde den Geschlechtern entnommen, wobei nach einfacher Mehrheitswahl grundsätzlich die wahlberechtigten beiden älteren Bürgermeister und die Mitglieder des Kleinen Rats Personen aus dem Rat und solche außerhalb des Rats wählen konnten. Anschließend wurden die wichtigsten Ratsämter nach einem Proporz zugunsten der Zünftigen gewählt. In Speyer, wo die Geschlechter eine Zunft bilden mussten, wählten diese ihre Ratsherren analog zu den Zünften. Die Schwörbriefe Straßburgs weisen markante Änderungen in der Wahlordnung auf. Der erste Schwörbrief von 1334 konstituiert für die Ratswahl ein Wahlmännergremium. Der Ammeister und die beiden Stettmeister wählen aus den 25 abtretenden Vertretern der Handwerke im Rat sechs Personen, diese sechs und die drei Meister wählen aus der Gruppe der Burger vier Personen aus und die drei Meister und die zehn Wahlmänner wählen schließlich den neuen Rat, ohne dass die Ritter und Edelknechte auf irgendeiner Stufe an der Wahl beteiligt werden. Der lange Zeit maßgebende

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zweite Schwörbrief von 1349 sieht vor, dass der abtretende Rat den neuen wählt, bis nach dem nach der Wahlordnung von 1433 und dem Schwörbrief von 1482 der 15köp ge Schöffenrat (Schöffel) der jeweiligen Zunft deren Ratsherrn wählt und die abtretenden Ratsherren der Consto er und Handwerker die neuen Consto erräte aus den Rittern und Edelknechten und den Burgern wählen. In Köln wurde kurz vor der Verfassungsänderung von 1396 die Richerzeche als Vereinigung der Geschlechter aufgelöst. Die eingerichteten 22 Gaffeln, auf die die bestehenden Kau eutegesellschaften und Ämter (Zünfte) in nicht veränderbarer Zusammensetzung verteilt wurden, waren alleinige Wahlkörper und wählten entsprechend der ihnen zuerkannten Anzahl ihre Vertreter im Rat, insgesamt 36 Ratsmitglieder (Gaffelherren). Diese hatten daraufhin unabhängig von den Gaffeln die bis zur Zahl von 49 noch fehlenden weiteren 13 Ratsherren, das Gebrech oder die Gebrechsherren, zu kooptieren. Damit war die Möglichkeit gegeben, unabhängig von einer Bindung an eine Gaffel geeignete oder amtserfahrene Bürger vor allem aus den Kau eutegaffeln, darunter eventuell solche aus den alten Geschlechtern, in ihre Reihen aufzunehmen. Alle Wähler in den Gaffeln und die kooptierenden Ratsherren mussten sich verfassungsgemäß eidlich verp ichten, diejenigen ehrbaren und verständigen Bürger zu wählen, die für Stadt und Gemeinde ehrenvoll, nützlich und am besten geeignet waren. Zumindest in den größeren Gaffeln schlug wohl ein Ausschuss einige Kandidaten vor. In einigen Gaffeln wurde seit der Mitte des 15. Jahrhunderts von einigen wenigen Berufsgruppen Widerstand gegen die Vorauswahl laut; andererseits wird man auch mit einem Mangel an wählbaren Kandidaten rechnen müssen. Wenn trotz grundsätzlicher egalitärer Tendenzen die mitgliederstarke Wollenweberzunft vier Sitze und die angeseheneren Gaffeln, in denen sich vor allem die Kau eute konzentrierten, zwei Ratssitze und damit einen Sitz mehr als die weniger angesehenen erhielten, mag dies neben deren Reputation auch daran gelegen haben,

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dass die Kau eute abkömmlicher und eher in der Lage waren, geeignete Ratsherren zu stellen. Allerdings verlangten die opponierenden Gürtelmacher und andere 1481/82 einen Ratssitz mehr für diejenigen Gaffeln, die bisher nur einen hatten. In anderen Städten mit Zunftverfassung gab es gleichfalls ein Gefälle an Ratssitzen von den Handels- und Krämerzünften bis hin zu den agrarischen Zünften. Die etwa 50 Handwerkerzünfte Kölns wurden zu einem Teil als einzelne in gewerblich homogene Gaffeln eingeteilt, zum andern mit eher fremden Gewerben in einer Gaffel zusammengefasst. Außerdem konnten Kau eute und andere nicht zünftig gebundene Personen einer jeden der Gaffeln beitreten und gewählt werden. Bewirkten diese Möglichkeit, ferner die unterschiedliche Zuteilung von Ratssitzen und das kooptierte Gebrech, die Frage der Abkömmlichkeit und die Fähigkeit und Eignung, an der Regierung einer Großstadt mit ihren komplexen Aufgaben teilzunehmen, eine Vorherrschaft der Kau eute und Rentiers im Rat und eine Unterrepräsentation der Handwerker, so sei vorsorglich auf die keineswegs sozial und beru ich repräsentative Zusammensetzung moderner Parlamente verwiesen. Es wurde im Verbundbrief ausdrücklich mit der Möglichkeit gerechnet, dass eine Gaffel über keine für den Rat geeigneten Bürger verfügte oder dass sie aus redlichen Gründen niemanden aus ihren Reihen in den Rat wählen wollte. In diesem Fall sollte der neugewählte und vereidigte Rat durch den Verbund ermächtigt sein, in dessen Auftrag ersatzweise aus anderen Gaffeln geeignete Kandidaten zu wählen, ohne dass die betroffene Gaffel deshalb für die Zukunft ihr Wahlrecht verlor.⁶⁴⁰ Aktives Wahlrecht hatten nicht nur – wie in anderen Städten – üblicherweise die Bürger, sondern auch die nicht verbürgerten Eingesessenen, schätzungsweise etwa 30 Prozent der männlichen Gesamtbevölkerung, wurde doch 1455 (spätestens 1468) offiziell das Wahlrecht der Eingesessenen, nicht aber der Bürger, auf Haushaltsvorstände beschränkt, so dass etwa die nicht verheirate-

ten Handwerksgesellen und Hausknechte, wie früher schon die Dienerschaft der Geistlichen, ausschieden, wie dies auch in anderen Städten der Fall war. In die mitwirkende Gemeinderepräsentation der Vierundvierziger indessen hatte jede Gaffel ungeachtet der Differenzierung bei den Ratssitzen gleichermaßen zwei Vertreter zu entsenden, wobei genau genommen nur von ›Männern‹ und nicht von Bürgern die Rede ist. 4.1.3.3 Bestätigungs- und Ergänzungswahlen War in Lübeck bei lebenslanger Ratszugehörigkeit eine Ergänzungswahl notwendig, so schlug der erste, der worthaltende Bürgermeister, den Namen eines Kandidaten vor und zog sich dann zusammen mit den Ratsherren, die mit dem Vorgeschlagenen verwandt oder verschwägert waren, zurück, damit eine freie Wahl statt nden konnte. Die verbliebenen Ratsmitglieder hatten nur die Wahl, den Vorschlag anzunehmen, was sie meist taten, oder ihn abzulehnen. Schlug die Wahl fehl, ging das Vorschlagsrecht an den nächsten Bürgermeister über oder schrittweise bis in den Kreis der Ratsherren hinein. In Frankfurt am Main fanden in der Regel Ergänzungswahlen auf Lebenszeit statt, wenn ein Mitglied verstorben war. Die Schöffenbank entschied autonom über neue Mitglieder, die der zweiten Bank, der Jungherrenbank (Gemeindebank), entnommen wurden, während die neuen Ratsherren der zweiten patrizischen und der dritten zünftigen Bank vom dem Gesamtrat der beiden ersten Bänke gewählt wurden, sodass die Patrizier auch die politisch völlig untergeordneten zünftigen Ratsherren bestimmten. Die Sitze der ersten und zweiten Bank wurden teilweise regelrecht vererbt, doch durften nach einer Bestimmung von 1399 keine zwei Brüder zugleich in einer Bank sitzen. In Nürnberg lag die Durchführung der Ratswahl in der Regie der Sieben älteren Herren mit dem Vordersten Losunger an der Spitze. Die Genannten des Größeren Rates hatten bei der alljährlichen Ratsbesetzung nach dem Ab-

640 W. S (Hg.), Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung I (2.2–2.4), Nr. 52, Artikel 4, S. 192.

Rat und Ratsverfassung

schluss der Rechnungslegungen an den beiden Ostertagen, einem vergleichsweise späten Termin, ohne weitere Öffentlichkeit aus den Mitgliedern des abtretenden Rats, um 1500 vorzugsweise aus den Sieben älteren Herren oder den Älteren Bürgermeistern, einen Konsul und einen Schöffen, vermutlich bereits nominierte Kandidaten, zu Wählern (electores, Wahlherren) des neuen Rates zu küren, sodass es sich letztlich nur um eine Akklamation handelte. Daraufhin wählte der abtretende Kleinere Rat aus der Mitte der fünf von den Acht alten Genannten, die bei der letzten Wahl nicht tätig gewesen waren, drei weitere Wahlmänner. Voraus ging der Wahl der beiden Wahlmänner durch die Genannten des Größeren Rats eine Revision des Genanntenbuches und eine Überprüfung seiner etwa 300, später 500 Angehörigen durch die Älteren Herren im Hinblick darauf, wer verstorben war und ob Genannte Ehebruch oder andere Delikte begangen hatten, ob sie sich gegenüber Gläubigern säumig gezeigt oder sich unstandesgemäß verhalten hatten. Danach wurde im Rat erneut durch Verlesung der einzelnen Namen der Genannten und eine Umfrage ermittelt, ob Einzelne gegen Sitte und Recht verstoßen hatten und deshalb nicht an der Wahl beteiligt sein sollten. Auf diese aufwendige Weise wurde das Wahlmännergremium der fünf ›Kur- oder Wahlherren des ganzen Rats‹ gebildet, das die 26 Bürgermeister zu wählen hatte. Die acht Alten Genannten und die acht Handwerker wurden hingegen danach vom neuen Rat in einem Kooptationsverfahren gewählt. Die Wahlmänner hatten dem abgetretenen Rat angehört und würden in der Regel dem neuen wieder angehören. Die 1458 aufgezeichnete Wahlordnung enthält wie auch spätere Mitteilungen über die Wahlen keine Hinweise darauf, wie die Wahlentscheidungen der Wahlmänner, die zu absoluter Verschwiegenheit verp ichtet waren, zustande kamen.⁶⁴¹ Es ist davon auszugehen, dass die Sieben älteren Herren die Personalentscheidungen

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vorher untereinander abgesprochen hatten und die beiden Älteren Herren im Wahlmännergremium dort das Wort führten. Das Gremium war zwar rechtlich ungebunden, doch galt schon im 14. Jahrhundert der Brauch, die Mitglieder des abtretenden Rates wieder in den neuen Rat zu wählen, sofern nicht im Einzelfall besondere Umstände vorlagen. Die Wahlmänner hatten daher lediglich aus den übertragenen Listen des Vorjahres diejenigen Ratsherren auszuscheiden, die aus Gründen des öffentlichen Interesses oder aus privaten Gründen dem Rat in der neuen Amtsperiode nicht mehr angehören sollten, oder durch Tod frei gewordene Sitze zu besetzen. Die fünf Wahlherren hielten dabei über jeden der bisher amtierenden Älteren und Jüngeren Bürgermeister Umfrage. Zugleich mit der Ergänzung musste entschieden werden, wer von den Jüngeren Bürgermeistern in den Rang eines Älteren Bürgermeisters erhoben werden sollte. Das Ergebnis wurde den Genannten des Größeren Rats verkündet. Es folgte die Vereidigung der 26 Bürgermeister, denen sodann zwei der Wahlmänner, in der Regel Ältere Herren, ihre Plätze in der Ratsstube zuwiesen (Setzung). Die komplizierten und umständlichen, seit spätestens etwa 1300 in den Grundzügen festgelegten und Jahrhunderte hindurch genau beachteten ritualisierten Prozeduren, die hier nur zum Teil wiedergegeben werden, verliehen der Wahl und den Gewählten ihre Legitimität. Sie standen aber, nachdem im 14. Jahrhundert noch eine stärkere Auswahl und ein häu gerer Wechsel, allerdings innerhalb eines Kreises von etwa 30 Familien, stattgefunden hatte, seit dem 15. Jahrhundert in einem Widerspruch zu dem im Grunde stets gleichen und vorhersehbaren Ergebnis. Ergänzungswahlen zu den höheren Ratsämtern der Sieben älteren Herren und der Losunger, die dann Sache des Rats waren, wurden in der Weise vollzogen, dass die Obersten Hauptmänner fünf Ratsherren damit beauftragten, vier geeignete Kandidaten für die Wahl vor-

641 Staatsarchiv Nürnberg, Amts- und Standbuch Nr. 267, fol. 52r–56r; P. F, Rat und Patriziat in Nürnberg (7.7), Bd. 1, S. 137–160.

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zuschlagen. Gewählt war, wer bei der Umfrage die Stimmenmehrheit erzielte. Obwohl in Nürnberg der Rat und die Ratsämter in den Händen der Geschlechter lagen und es sich in beiden Fällen um Bestätigungs- und Ersatzwahlen handelte, formulierte Dr. Scheurl 1516 die Maxime der Amtstauglichkeit aphoristisch so, dass bei der Wahl nach Maßgabe von Weisheit, Verstand und Gottesfurcht der Bewerber die Ämter auf die Männer und nicht die Männer auf die Ämter verteilt werden sollten.⁶⁴² Zugleich macht er aber deutlich, dass es eine große Schmach bedeutete, wenn jemand ohne wichtigen Grund gegen seinen Willen aus dem Rat entfernt, d. h. nicht wiedergewählt würde. Gewählt wurden nach der Darstellung Dr. Scheurls in der Regel diejenigen, die zuvor im Rat gesessen hatten, doch kam es gelegentlich vor, dass man einen Jüngeren überging oder einen Alten zu Hause ließ, der wegen altersbedingten Unvermögens oder aus einem sonstigen gerechtfertigten Grund ausscheiden wollte. Im Allgemeinen traten neue Ratsherren nur an die Stelle von verstorbenen, und es geschah ganz selten, dass jemand wegen begangener Verfehlungen seinen Ratssitz verlor. Die Wahlherren legten nach der Ratswahl vor allem die Reihenfolge der amtierenden Bürgermeister und die ehr- und prestigebehaftete Sitz- und Umfrageordnung im Rat fest. Wenig geeignete Ratsherren blieben gewissermaßen als Hinterbänkler stets auf ihrem Kissen am alten Platz sitzen.⁶⁴³ Auch für eine kleine Reichsstadt mit Zunftverfassung wie Kempten galt, dass für gewöhnlich trotz der jährlichen Neubesetzung des Ratsgremiums die alten Ratsherren im Rat blieben.⁶⁴⁴ In Konstanz hingegen ließ angesichts interner Spannungen ein Angehöriger der Zunftgemeinde 1433 seine polemische Aussage ins

Ratsbuch eintragen, wonach keiner aus der Zunftgemeinde zehn Jahre im Rat sitze, sondern vorher in Laster [Schmach] und Unehren entlassen werde.⁶⁴⁵ Eine besondere Kon iktlage ergab sich in Heilbronn, wo es einen zweischichtigen, einen sitzenden und einen ruhenden Rat gab und jede Ratshälfte weiter in eine Hälfte mit ›Bürgern‹ und die andere mit Ratsherren ›von der Gemeinde‹ aufgeteilt war, sodass es insgesamt vier ›Viertel‹ gab. Es kam nun mehrmals vor, dass ein abgetretener Ratsherr von seinem Viertel bei der neuen Wahl ausgelassen und nicht wiedergewählt wurde, dann aber von einem anderen Viertel wieder in den Rat gewählt wurde. Um künftigen Aufruhr und Unwillen zu vermeiden, wurde 1472 bestimmt, dass derjenige Ratsherr, der von seinem Viertel nicht mehr gewählt wurde, ohne Wissen und Zustimmung dieses Viertels von keinem anderen Teil des Rats gewählt werden durfte. Außerdem durfte ein Ratsherr, der von beiden Hälften des Rats nicht mehr gewählt wurde, von keinem Teil des Rats ohne Erlaubnis beider Ratshälften wiedergewählt werden.⁶⁴⁶ In Köln, wo die Wiederwahl nach einer Pause von zwei Jahren gemäß der Ordnung von 1396 möglich war, wurde im 15. Jahrhundert die Hälfte der Ratsherren tatsächlich wiedergewählt. Dabei ist in Rechnung zu ziehen, dass Ratsherren verstorben waren oder durch Krankheit oder altersbedingt nicht mehr kandidierten. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde die Wiederwahl vollends zur Regel; die Quote stieg auf 80 Prozent, blieb im 17. Jahrhundert leicht erhöht erhalten und wuchs im 18. Jahrhundert auf 87 Prozent an.⁶⁴⁷ Die Folge von Bestätigungswahlen war vermutlich keineswegs ein außerordentlich hohes Durchschnittsalter der Ratsgremien. Das hohe Alter gilt vor allem für die Gruppe der

642 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 11, S. 786. Latein.: ut magistratus distribuantur viris, non viri magistratibus. 643 Ebd., S. 788 f. 644 T. S (Hg.), Die Freiburger Enquete, S. 12. 645 K. B, Zunftbürgertum und Patriziat (7.1–7.3), S. 149. 646 B.-U. H (Hg.), Quellen zur Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 66, S. 428 f. 647 W. H, Wahlrecht und Wahlen, S. 51–53.

Rat und Ratsverfassung

amtserfahrenen Inhaber hoher und ein ussreicher Ratsämter, während das statistische Durchschnittsalter des Rats entsprechend niedriger lag. Allerdings setzte man im Mittelalter das Greisenalter mit seinen Beschwerlichkeiten und seinen De ziten früher als heute an, körperliche Gebrechen wie Schwerhörigkeit, mangelnde Sehkraft und Bewegungsfähigkeit waren schwerer oder überhaupt nicht auszugleichen und die durchschnittliche Lebenserwartung lag ganz erheblich niedriger. Ratsherren baten von sich aus um Entlastung von Ratsgeschäften wegen fortgeschrittenen Alters und unumkehrbarer Krankheit. In der frühen Neuzeit mehrten sich etwa in Ulm und Luzern polemische Stimmen, die Züge einer Gerontokratie hervorhoben und den Rat wegen körperlicher Gebrechen vieler Mitglieder in Teilen nur noch für bedingt geschäftsfähig erachteten.⁶⁴⁸ Den Ratsherrn repräsentierte sein ihm zugeordnetes Kissen – oder ein Namensschild mit Großbuchstaben (Kempten) – auf der Ratsbank. Wenn nun ein Ratsherr tatsächlich aus dem Rat entfernt wurde, so ließ man ihm zum Zeichen seines Amtsverlustes sein Kissen nach Hause zustellen. Wie sehr die Ratswahl trotz formeller Wahlakte zu einer Verengung und faktischen Perpetuierung des Stadtregiments führen konnte, zeigt auch die Praxis in Basel seit dem Spätmittelalter. Das Monopol der Geschlechter auf die Stadtregierung wurde 1330 durch den nunmehr beständigen Eintritt der Zünfte in den Rat ge-

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brochen, der einer Ratsliste von 1357 zufolge aus einem Bürgermeister, vier Rittern, acht Patriziern (Burger) und fünfzehn Zunftangehörigen als Vertretern der fünfzehn Zünfte bestand. Der Rat wurde zwar durch ein aus zwei Rittern, vier Patriziern und zwei Domherren zusammengesetztes Gremium der Kieser, das im Rahmen der indirekten Wahl eigentlich eine Garantie gegen familiale Macht darstellen sollte, gewählt, doch wurden in einem lediglich formalen Akt regelmäßig die im Vorjahr abgetretenen Ratsherren wiedergewählt, sodass sich der alte Rat und der neue Rat permanent abwechselten. Daraus ergab sich seit dem Ende des 14. Jahrhunderts die Gewohnheit, dass der amtierende neue Rat nicht immer autark verfuhr und den abgetretenen alten zu wichtigen Beschlüssen, insbesondere zur Gesetzgebung, hinzuzog und mit ihm temporär einen erweiterten Gesamtrat bildete. Der Grundzug zur Abschottung lässt sich ferner daran ermessen, dass auch in den Zünften, die den korporativen Unterbau des Regiments abgaben, die Wahl der Zunftmeister, die seit 1382 als Kollegium dem Rat zugehörten, nicht mehr den Zunftgenossen, sondern nur noch dem Vorstand zukam, der aus dem Zunftmeister und dem Ausschuss der Sechser bestand.⁶⁴⁹ 4.1.3.4 Der politische Charakter der Wahlen Wahlrecht und Wahlordnung geben einen Hinweis auf den Zuschnitt und Charakter des Rats-

648 E. I, Obrigkeit und Stadtgemeinde, S. 80 f.; K. M/P. H, Luzerner Patriziat, S. 55; E. I, Ratsliteratur und städtische Ratsordnungen, S. 367 f. Eine Statistik auf der Grundlage der Nürnberger ›Ämterbüchlein‹ ergibt, bezogen auf das Jahr 1600, folgende Befunde: Die 13 Älteren Bürgermeister des Kleineren Rates wiesen ein durchschnittliches Lebensalter von nahezu 55 Jahren auf und eine Ratszugehörigkeit zwischen 14 und 38 Jahren (durchschnittlich 22,7), die rangniedrigeren und erst am Anfang der Karriere stehenden 13 Jüngeren Bürgermeister ein signi kant niedrigeres mittleres Lebensalter von 40 Jahren und Ratserfahrung zwischen einem Jahr und 18 Jahren (durchschnittlich 9,9 Jahre). Die gleichfalls dem Rat angehörenden acht Alten Genannten hatten ein mittleres Lebensalter von 44,2 Jahren und eine durchschnittliche Ratserfahrung von 9,25 Jahren. Das Durchschnittsalter der Ratsherren lag bei 47,5 Jahren. P. F, Professionalisierung oder Ausschluß von Führungseliten in der Reichsstadt Nürnberg? in: G. S (Hg.), Sozialer Aufstieg. Funktionseliten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, München 2002, S. 63 f. Für den Lübecker Rat im 13. und 14. Jahrhundert mit Kooptation auf Lebenszeit ergeben sich in Abschnitte unterteilt teilweise ähnliche statistische Werte. Präzise Vergleiche lassen sich aber nicht ziehen. In den Jahren 1351 bis 1400 etwa lag das Durchschnittsalter der Ratsherren bei 46 bis 51 Jahren, die Mitgliedschaftsdauer bei durchschnittlich 18 Jahren und das Alter beim Eintritt in den Rat rein rechnerisch bei 28 bis 33 Jahren. M. L, Der Rat der Stadt Lübeck, S. 37–42. 649 H.-R. H, Basler Rechtsleben im Mittelalter I (2.2–2.4), S. 14.

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regimes. Die Ratszugehörigkeit auf Lebenszeit und formelle Ratswahlen, welche den abtretenden Rat sofort oder nach einer Karenzzeit als neuen Rat grundsätzlich wieder bestätigten, kamen im Effekt zweifellos einander sehr nahe. Und dennoch gab es einen wesentlichen Unterschied. Wer durch jährliche Wahl im Amt bestätigt wurde, stand trotzdem grundsätzlich und regelmäßig zur Disposition, wurde auf Eignung und bisheriges Verhalten überprüft und konnte ohne Absetzungsverfahren ausgeschieden werden. Bestätigungswahlen ohne wirkliche Auswahl aus einem größeren Kandidatenkreis erschienen deshalb gleichwohl als ordentliche freie Wahlen. Den in der Realität kaum greifbaren, aber gedanklich erheblichen Unterschied zwischen jährlicher Wahl und ordentlicher lebenslanger Ratszugehörigkeit, wie ihn Zeitgenossen wahrnahmen und politologisch begründeten, lehrt eine Denkschrift des Geheimen Rates der Stadt Ulm von 1548, mit der dieser Einwände gegen die von Kaiser Karl V. verordnete lebenslange Perpetuierung der Spitzenämter – ohne jährliche Wahlen – vorbrachte. Wie in Nürnberg wurden die hohen Amtsträger auch in Ulm herkömmlicherweise wiedergewählt. Am Beispiel der drei patrizischen Bürgermeister, die sich im Amt turnusgemäß abwechselten, wird erläutert, dass, obwohl ihr Amt für beständig und gleichsam perpetuiert erachtet werden könne, habe man dennoch jährlich und jedes Mal nichtsdestoweniger eine freie unverstrickte (unverbundene) Wahl abgehalten. Der tiefere Grund für die jährliche Wahl wird eindringlich in dichter Semantik als eine von den Vorfahren im Stadtregiment getroffene Maßregel gegen die fatalen Schwächen der menschlichen Natur und ihre Auswirkungen auf das politische Verhalten gedeutet: Das menschliche Gemüt ist häu g also affectioniert und geartet, dass es bisweilen wankelmütig, unbeständig, heute so und morgen anderen Sinnes ist, sich durch Gunst und Freundschaft oder aber durch Hass, Feindschaft und Widerwillen, aus unersättlicher Gier durch Geschenke, Mie-

te (Vorteilsgewährung), Gaben, Verheißungen und auf andere Weise leicht korrumpieren, bewegen und vom Weg der Ehrbarkeit auf die Straße des Eigennutzes ableiten lässt. Außerdem bewirkt der üppige Ehrgeiz im Menschen, dass er sich seiner Amtsgewalt, Autorität und seines Ansehens, besonders wenn er lebenslang keine Absetzung zu befürchten hat, zu sehr überhebt und diese missbraucht, um, wie es ihm nur möglich ist, durch überraschend und schnell (geschwinde) ausgeführte Coups (›Anschläge‹) und Praktiken, auch frevelhaft, vermessen und aus Begierde, durch Furcht und ohne Liebe zu herrschen, alle Angelegenheiten zu seinem Nutzen und Vorteil ausrichtet. Dadurch werden eine ganze Stadt oder einzelne Personen durch Einführung beschwerlicher Neuerungen, Aufhebung der alten Freiheiten und lobenswerten Herkommens oder auf andere Weise schwer bedrückt und geschädigt. Die jährlichen Wahlen und die Möglichkeit einer Amtsentsetzung bauen dem vor und halten zu einer redlichen und eifrigen Amtsführung an. Auch im Falle einer Perpetuierung sollte man indessen Amtsträger und Ratsherren, die dem gemeinen Nutzen offenkundig und beweisbar Schaden zugefügt oder sich durch Taten ehrwidrig verhalten hatten, auch künftig während des Jahres jederzeit absetzen können. Dies soll jeden Ehrliebenden dazu bringen, sein Amt zur Förderung des Gemeinwohls umso sorgfältiger, ernsthafter und eißiger wahrzunehmen und es nicht durch hochmuetige Herschung und Gewaltsame zu missbrauchen, weil er sich und den Seinen durch eine Absetzung wegen unloblicher Handlungen immerwährende Schmach und Unehre zuziehen würde.⁶⁵⁰ Es ist im Hinblick auf die mittelalterlichen Bestätigungswahlen zu bedenken, dass mittelalterliche Amtsperioden von einem halben oder ganzen Jahr erheblich kürzer als heutige von vier oder fünf Jahren waren und erst eine mehrmalige Wiederwahl Amtszeiten dieser Länge ergab, zumal vielfach Karenzzeiten hinzukamen. Um eine heutige einfache Wahlperiode von vier Jah-

650 E. N (Hg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung, Nr. 18, S. 119.

Rat und Ratsverfassung

ren zusammenzubringen, bedurfte es in Köln bei einer Karenzzeit von zwei Jahren bis zur Wiederwahl rechnungsmäßig insgesamt einer Zeitdauer von zehn Jahren. Heute gibt es durchaus eine durch Wahllisten der Parteien gesteuerte unmittelbare Wiederwahl in repräsentative Versammlungen mehrere Legislaturperioden hindurch trotz potentiell erheblich größerer Kreise geeigneter Kandidaten.⁶⁵¹ Angesichts des vergleichsweise hohen Lebensrisikos und der niedrigeren Lebenserwartung kamen im Mittelalter längere Amtsperioden nicht in jedem Falle zustande. Ferner erfüllten mittelalterliche Ratsherren neben ihrer politischen Rolle zugleich die Kontinuität erfordernde Funktion von Verwaltungsfachleuten, die heute in der Regel lebenslang amtierende Verwaltungsbeamte wahrnehmen. Hinzu kommt schließlich, dass in den Städten das Reservoir an geeigneten und zugleich abkömmlichen Kandidaten begrenzt war und sogar Mangel herrschte, die fortgesetzte Amtstätigkeit daher eine bindende Verp ichtung und Bürde darstellte. Seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert ist die Herausbildung eines plutokratischen Zunftregimes unter Vorherrschaft der kommerziellen Zünfte und damit verbunden eine Tendenz zu lebenslanger Ratszugehörigkeit auch der zünftigen Mitglieder zu beobachten. Nur die reicheren Zunftgenossen waren abkömmlich und möglicherweise von ihren Bildungsvoraussetzungen her geeignet. Wiederwahlsperren wurden ignoriert oder zurückgenommen. Wenn zweijährige Karenzzeiten wirksam blieben, kam es auch zur Entstehung dreier immer wieder bestätigter, nur eben in jährlichem Turnus wechselnder Ratskollegien. Patrizische und zünftige Vertreter arrangierten sich in ei-

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ner neuen Ratselite. Die Verengung der führenden Zunftkreise bildete die sozialgeschichtliche Voraussetzung dafür, dass sich auch in Städten mit Zunftverfassung eine obrigkeitliche Ratsherrschaft über der untertänigen, zu Gehorsam verp ichteten Bürgerschaft einrichtete. In Augsburg und Köln wurde in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gelegentlich gegen eine starke Vorselektion bei der Nominierung der Kandidaten, aber auch gegen größere Einschränkungen der Wiederwahl die Forderung nach freier Wahl laut, d. h. hier der Möglichkeit, stets die Geeignetsten zu wählen. Die Sicherung einer kontinuierlichen Politik durch regelmäßige Wiederwahl amtserfahrener, häu g im Ämtergefüge durch soziale Vorzugsstellung in der Rangfolge fest etablierter Ratsherren war in ruhigen Zeiten in der Regel wichtiger als die Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Kandidaten, die sich im Hinblick auf das überragende Ziel der Einheit und Eintracht der Bürger ohnehin nicht in der Öffentlichkeit kämpferisch als personelle Alternativen mit bestimmten politischen Richtungen und Programmen pro lieren durften. Kurze Amtsperioden waren am Anfang der europäischen Kommunebewegung Ausdruck eines grundsätzlichen Misstrauens gegen Machtausübung. Das sachliche Dilemma bestand aber auf Dauer darin, dass man zur Gewährleistung politischer Stabilität und Verwaltungskontinuität tüchtiger, geschäftserfahrener Ratsherren bedurfte, denen man vertraute. Die kurzen Amtszeiten legten daher eine unmittelbare Wiederwahl nahe. Die Kompromisslösung bestand zunächst in der Einführung von Karenzzeiten, die aber eine ambivalente Bedeutung hatten. Karenzzeiten von einem Jahr oder von

651 Die durchschnittliche Mandatsdauer der Abgeordneten des Deutschen Bundestages betrug in den letzten Jahrzehnten zwischen neun und zehn Jahren, also etwa zweieinhalb Wahlperioden. Datenhandbuch Deutscher Bundestag 1994–2003, S. 848 f. Angesichts der von modernen demokratischen Gesichtspunkten aus zu Recht beargwöhnten mittelalterlichen Wahlen ist doch auch zu beachten: Von den Bürgern unmittelbar gewählt werden heute nur die Direktkandidaten der Wahlkreise, die den mittelalterlichen Wahlkörpern der Zünfte oder den topogra schen Wahlbezirken entsprächen, während die Listenkandidaten durch das Verhältniswahlrecht über die Positionierung in den von der Bürgerschaft nicht beein ussten Wahllisten der Parteien ihr Mandat erhalten, sodass die Wahlentscheidung der Bürger in dieser Hinsicht genau genommen durch Vorselektion und indirekte Wahl, was vielleicht den mittelalterlichen Wahlmännergremien gleichkäme, im Ansatz fremdbestimmt ist.

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zwei Jahren für die Wiederwahl und turnusgemäßes Ausscheiden aus dem Rat dienten sowohl der politisch gewünschten Rotation und Vermehrung des Kreises der zur Verfügung stehenden bewährten Ratsmitglieder als auch der Entlastung der Ratsherren, die sich zwischenzeitlich wieder verstärkt ihren erwerbswirtschaftlichen Belangen widmen konnten. In Augsburg wandte man sich im 15. Jahrhundert gegen Karenzzeiten, weil sie es unmöglich machten, erfahrene und bewährte Ratsherren und Zunftmeister, die sich in den städtischen Angelegenheiten auskannten und in den Geschäften des Rats geübt waren, dem Wahleid und Gewissen gemäß als ›die Besten‹ kontinuierlich wiederwählen zu können. Dies erschien wichtiger als die Gelegenheit zu einer Wahl neuer Personen nach Wohlgefallen.⁶⁵² Bereits der zweite Augsburger Zunftbrief von 1368 hatte dem durch eine nachgiebige Norm Rechnung getragen. Die ausgeschiedenen Ratsherren durften in den beiden folgenden Jahren nicht Mitglieder des Kleinen Rates sein, es sei denn, sie würden dazu berufen oder einer Zunft ge ele ihr Zunftmeister so gut, dass sie ihn wieder abordnete. In Ulm wurde 1397 die Regelung getroffen, dass die Ratsherren nach Beendigung ihrer einjährigen Amtszeit im Kleinen Rat zwar zwei Jahre pausieren mussten, aber zwischenzeitlich in den Großen Rat gewählt werden konnten, wie der abtretende Bürgermeister das Amt eines Geheimen Rates oder ein sonstiges bedeutendes Amt übernahm. Die komplexe Problematik der freien Wahl wird vor allem durch die Augsburger Diskussion im Jahre 1457 um Karenzzeiten (Stillstehen) bei den Zunftmeistern, die zugleich als Ratsherren fungierten, und bei den wichtigsten Ratsämtern deutlich. Eine Verkürzung der Karenzzeit und eine schnellere Möglichkeit der Wiederwahl der geeigneten Personen bei den Steuermeistern wurde zur Förderung des gemeinen Nutzens für erforderlich gehalten, damit sich der Kreis der Amtsträger in dem Arkanbereich (der stat gehaimd ) der Finanzen verkleinerte.

Hinsichtlich der anderen Ämtern ergaben sich verschiedene Auffassungen: (1) Bürgermeister, Baumeister, Siegler und die gleichfalls dem Rat angehörenden Zunftmeister sollten mit Rücksicht auf ihre Belastung wie früher generell einige Jahre pausieren (feiern) dürfen. (2) Einige Zünfte hätten wegen der Karenzzeiten notwendigerweise häu g andere und neue Personen zu Zunftmeistern gewählt. Deshalb sei eine Einzelfallregelung besser als eine generelle Karenzzeit. Wenn es einem Zunftmeister zu schwer sei, weiter im Amt zu bleiben, solle ihm seinen Bedürfnissen entsprechend gestattet werden, eine gewisse Zeit seinen eigenen Belangen nachzugehen. Die anderen Zünfte hätten jedoch ›um des gemeinen Nutzens willen‹ weiterhin ihre freie Wahl. Denn ein kenntnisreicher Mann, der im Rat bleibe, könne die Stadt in einer Sache vor Schaden bewahren, sodass, wenn er pausieren müsste, vieles versäumt werden könnte. (3) Früher seien die Wahlen zu den Ratsämtern und diejenigen der Zunftmeister unbedingt gewesen, d. h. frei von Einschränkungen durch Karenzzeiten. Deshalb seien dieselben Personen oft wiedergewählt worden. Eine Einschränkung würde bedeuten, dass man nicht mehr diejenigen wählen könne, die man für geeignet halte, wenn die alten, die dem Rat und den Zünften von Nutzen wären, die Angelegenheiten der Stadt kennten und darin geübt seien, pausieren müssten. Deshalb sei es besser, unbedingt zu wählen, damit jeder seinem Gewissen Genüge tun und nach freiem Willen und Gefallen alte Amtsträger oder neue wählen könne. Kleiner und Großer Rat legten im Anschluss an die Diskussion die Karenzzeiten auf ein Jahr fest. Um 1470 wurde dann lediglich den beiden Bürgermeistern eine Karenzzeit von einem Jahr zugestanden; von den anderen Amtsträgern durfte der zuständige Kleine Rat in freier Wahl sofort wiederwählen, wen er für am tauglichsten und besten erachtete. In Köln wurde es seit Beginn des 15. Jahrhunderts üblich, dass ein Nominierungsausschuss in den Gaffeln nur eine begrenzte An-

652 C. M (Hg.), Das Stadtbuch von Augsburg (2.2–2.4), S. 299; J. R, Für den Gemeinen Nutzen, S. 265.

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zahl von Kandidaten, meistens drei, präsentierte. Dagegen brachten die Gürtelmacher 1464 in einer Beschwerde an den Rat vor, dass die Wahl gemäß dem Verbundbrief frei sein solle. Der Rat erklärte eine beschränkte Anzahl von Kandidaten für rechtens, war aber bereit, die Zahl von drei auf vier zu erhöhen. Im Jahre 1481 sah er von einer Beschränkung zugunsten einer freien Kur in allen Gaffeln ab. Über die Wahlvorschläge und die Kandidatenkür ganz am Anfang des langgestreckten Wahlvorgangs wissen wir in vielen Fällen wenig, doch ist mit der Präzedenz von Personen mit Amt und Ein uss zu rechnen. Wandel oder Neuorientierung in Politik und Verwaltung, verbunden mit personellem Wechsel, wurden angesichts eines korporativen Selbstverständnisses des Rats, ökonomisch und sozial angenäherter Ratskreise und von Wahlmännern aus ratsverwandten Schichten weniger durch die Abwahl von Ratsherren als vielmehr in zugespitzten Kon iktlagen durch Umsturz bewirkt. Es gab zwar keine formellen politischen Programme und Wahlkämpfe, wohl aber etwa im Textilbereich grundlegende wirtschaftliche Interessenkon ikte zwischen produzierenden Handwerkern und vermarktenden Kau euten, die zu politischen Präferenzen, Erwartungen an die gewählten Ratsherren und zu Enttäuschungen führten. In einer solchen Situation, in der sich Kon ikte zuspitzten, konnte es geschehen, dass sich, wie in Augsburg 1495 auf der Zunftebene, vor Wahlen Gruppierungen zusammenfanden und drohten, bisherige Amtsträger nicht wie üblich wiederzuwählen, sondern sie durch neue zu ersetzen. Hinzu kommt Unzufriedenheit mit der Ratspolitik, die zu Unruhen, Zunftversammlungen und Protesten auf der Straße führten, wenn Steuern erhöht oder Missregierung und Korruption vermutet wurden.⁶⁵³ Eine selten erkennbare Situation des politischen Kampfes trat offen zutage, als der Große Rat der Stadt Bern 1470 während des Streits mit den adligen Twingherren

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anstellte des traditionell adligen Schultheißen in einer Kampfabstimmung einen Metzgermeister in das Amt wählte, nach einem Jahr jedoch wieder auf einen Adligen zurückgriff. In Konstanz fasste die Wollweberzunft 1427 den Beschluss, eine bestimmte Person nicht zum Zunftmeister und damit auch nicht zum Ratsherrn zu wählen. In Köln sind für das 16. Jahrhundert gelegentlich Kampfabstimmungen mit knappen Mehrheitsentscheidungen überliefert. Der Straßburger Schwörbrief von 1334 stellt jegliche Vorteilsgewährung (miete) bei der Wahl des Ammeisters, der Stettmeister und der Ratsherren unter dieselben außerordentlich harten Strafen für Eidbruch wie beim Verstoß gegen den Schwörbrief selbst. Gemäß der Wahlordnung von 1433 hatte der abtretende Ratsherr der Zunft die Mitglieder des Schöffenrats vor der Wahl bei ihrem Eid zu befragen, ob mit ihnen daheim jemand geredet habe, dass eine bestimmte Person gewählt werden solle. Wer etwas verschwieg und wenn es über kurz oder lang doch entdeckt wurde, dass jemand über eine Person geredet oder für sie geworben hatte, sollte der Betreffende meineidig und ehrlos sowie mit Leib und Gut der Stadt verfallen sein.⁶⁵⁴ In Köln durfte gemäß dem Verbundbrief von 1396 und nach Ordnungen seit der Mitte des 15. Jahrhunderts bei eidlicher Verp ichtung niemand hinsichtlich der Ratswahl oder der Wahl zu Ratsämtern für sich werben lassen oder mit Machenschaften seine Wahl betreiben. Verstöße dagegen galten als Meineid und Eidbruch und sollten lebenslange Ratsunfähigkeit nach sich ziehen. Jegliche Vorberatungen und Wahlabsprachen waren verboten. Niemand durfte dem anderen offen oder geheim eingeben, den einen oder den anderen zu wählen. Die Wahl hatte am Wahltag frei, unbeein usst, nach bester Überlegung, niemandem zu Liebe oder zu Leid, nicht aus Freundschaft oder wegen der Verwandtschaft, keiner Sache wegen und auf keine Bitte hin zu erfol-

653 J. R, Für den Gemeinen Nutzen, S. 116, 260–263. 654 Zu den Wahlverfahren für den Rat und die Ämter des Ammanns und der Stettmeister siehe Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 9, S. 932–950; K. T. E (Hg.), Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte (2.2–2.4), Nrr. 23 f., S. 83–92.

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gen. Ähnliches galt in Osnabrück nach der Ordnung von 1348 bereits für die Wahl der Wahlmänner in den Stadtquartieren. Zu wählen war in Köln unter Berufung auf den Verbundbrief von 1396 ausschließlich derjenige, der am ehrenhaftesten, nützlichsten und geeignetsten für den Rat und die Ämter war. Neben Bitten und Vorabsprachen wurden später mit wachsender Deutlichkeit auch ein Wettbewerb mit Gelagen auf den Gaffelhäusern, in Tavernen, Badestuben und andernorts, mit Vorteilsgewährungen, Geschenken, Gaben sowie die Beein ussung durch Bestechung (Miete) und Nötigung mit Drohungen verboten. Schließlich musste der Aufwand angesichts dessen beschnitten werden, dass der Gewählte üblicherweise auf dem Gaffelhaus mehrere Gulden für ein Gelage zahlen musste und nachfolgend am Abend zwischen 50 und 80 Personen, die bei der Wahl waren, in seinem Haus zu bewirten hatte.⁶⁵⁵ Auch in anderen Städten wurden Wahlwerbung und Stimmenfang verboten, aber auch Wahlbetrug durch Manipulation von Stimmzetteln. In der frühen Neuzeit wurden zunehmend Wahlumtriebe und Bestechung zur Sicherung fortwährend gleicher Wahlergebnisse selbst bei Verfahren mit Losentscheid beklagt. 4.1.4 Etablierung und Organisation der Ratsherrschaft 4.1.4.1 Die Ratsgewalt Der Rat war als ursprünglich einziger oder später als Kleiner Rat das Kernstück der spätmittelalterlichen Stadtverfassung; in erster Linie bildete er den Willen der Stadt. Seine voll ausgebildete Herrschafts- und Regierungsgewalt vereinigte die nicht gewaltenteilig geschiedenen und weithin nicht scharf unterschiedenen Befugnisse der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung sowie die Leitung der äußeren Politik und die Kriegsführung. Einzelne dieser Befugnisse hatte der Rat, soweit es sich nicht um autogen geschaffene Kompetenzen –

Friedensschutz, Satzungsrecht, Ratsgerichtsbarkeit –, sondern um stadtherrliche Rechte handelte, schrittweise kommunalisiert, indem er sie in der Ausübung seiner Aufsicht unterstellte oder aus den Händen des stadtherrlichen Vogts und Schultheißen (oder Ammanns) an sich brachte. Einzelne Ämter und Befugnisse wurden durch stadtherrliches Privileg, pfandweise oder durch Kauf erworben oder aber stillschweigend usurpiert. Vom Stadtherrn etwa durch einen Rechtsakt geschaffen und zugleich mit umfassenden Rechten ausgestattet wurde der Rat nicht; allenfalls gab der Stadtherr die Erlaubnis, einen Rat zu haben. Vogt, Schultheiß, Rat und Bürgergemeinde traten in Urkunden und politischen Bekundungen zunächst noch gemeinsam auf, bis sich der Rat in den Vordergrund schob. Nachdem der Rat von der Vertretung der Gemeinde immer stärker zur Herrschaft über sie aufgestiegen war, etablierte er sich zwischen der Bürgerschaft und dem Stadtherrn. Der Rat setzte die Gemeindebildung durch eine Schwurgenossenschaft oder in anderer Form voraus; er fungierte als leitender Ausschuss der Gemeinde, die ihn wählte und ermächtigte. Andererseits erhielten sich in manchen Städten Präsentations- und Bestätigungsrechte des Stadtherrn. Die Entfaltung städtischen Lebens, insbesondere der Wirtschaftstätigkeit, machte eine Vielzahl von Regelungen allgemein polizeilicher, gewerblicher und skalischer Art erforderlich. Die Befugnisse des Rats wurden dadurch weitreichender und intensiver, als es der beschränkte Aufgabenkreis der stadtherrlichen Amtsträger gewesen war. Durch die Verbindung ehemals stadtherrlicher Befugnisse und Rechte mit autonom geregelten kommunalen Zuständigkeiten entstand eine Herrschaft und Obrigkeit neuer Qualität.⁶⁵⁶ In der eindrucksvoll geschlossenen, von Denkformen des Rechts und dem lübischen Recht ausgehenden Konzeption Wilhelm Ebels gründet die Ratsgewalt letztlich in dem un-

655 W. S (Hg.), Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung I (2.2–2.4), Nrr. 196, 227, 257, 279, 303. 656 H. R, Der Rat der niederschwäbischen Reichsstädte, S. 249. G. D, Rechtsgeschichte der Stadt (2.0), S. 537–568.

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abgeleiteten Recht jeder Gemeinschaft, durch Verwillkürung Recht (Satzungsrecht) zu setzen, dessen Verwirklichung zugleich durch vereinbarte Strafsanktionen zu gewährleisten, darüber die polizeiliche Gerichtsbarkeit auszuüben und geeignete Exekutionsmittel zu ergreifen. Die autonome Rechtsetzung reagierte auf spezi sche Bedürfnisse der Stadtgemeinde, die aus der Entfaltung und Sicherung der städtischen Lebensformen und Interessen unter bestimmten Zeitumständen resultierten. Diesen Interessen, die außerhalb des vogteilichen Gerichtsbereiches lagen, wurden die stadtherrlichen Amtsträger nicht gerecht. Mit Rückgriff auf einen kategorialen Herrschaftsbegriff resümiert Ernst Pitz in seiner Untersuchung über die Entstehung der Ratsherrschaft in Nürnberg: »Die Gewalt der Consules war eine autochthone, in Immunitätsart aus der einfachen Existenz der Bürgergemeinde hervorgegangen; in ihr schuf sich ein soziales Phänomen die Formen Rechtens, deren es zum Leben in dieser rauhen Welt bedurfte. Diese Geschichte beginnt daher in der Mitte des 13. Jh., weil damals der Schutz der Bürger durch die erschütterte Stadtherrschaft unzulänglich ward; so gewährten ihn die Bürger sich selbst, und damit entstand die Tätigkeit der Consules: Sie wurden die Schützer der Gemeinde.«⁶⁵⁷ Aus diesem Schutz – des Rechtsfriedens – entwickelten sich Gerichtsrechte des Rates, der als höchste Strafe die Stadtverbannung aussprach, sowie die P ichten der Bürger als Untertanen, die Steuer-, Wehr- und Wachtp icht. Die Stadt schuf sich damit einen eigenen Rechtsbereich, aus dem sie den Schultheißen, der seine alten Rechte behalten konnte, gar nicht zu verdrängen brauchte, sondern sie verwehrte ihm nur den Zutritt. An ältere Literatur anknüpfend, hat Burchard Scheper für eine Reihe norddeutscher Städte die Verwaltungstätigkeit des Rates als entscheidendes konstitutives Element der

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Ratsgewalt betrachtet und – am Beispiel Bremens – die Beurkundungstätigkeit, vor allem die freiwillige Gerichtsbarkeit mit dem Auflassungswesen, mithin die Sphäre der Schriftlichkeit als Ausgangspunkt für die Entfaltung des Rates namhaft gemacht, da die Friedensund Rechtssicherung in den Händen der älteren Geschworenen (iurati) lag und die Gemeinde bei wichtigen Angelegenheiten immer wieder nichtständige Bürgerausschüsse einrichtete, die aus den discreti, Bürgern besonderen Ansehens und Reichtums, bestanden.⁶⁵⁸ Man wird jedoch fragen müssen, ob vermehrte Schriftlichkeit in der Verwaltung als einziger Grund für die Einführung der Ratsverfassung angenommen werden kann. In Halberstadt etwa war es das gewaltige Unternehmen des Mauerbaus, das im 13. Jahrhundert die Einführung der Ratsverfassung förderte, denn zur Bewältigung der auf Jahrzehnte hinaus anstehenden enormen Verwaltungs- und Finanzierungsprobleme musste ein neuer Ausschuss, eben der Rat, eingerichtet werden. Außerdem erlangte die Stadt durch den Mauerbau – wie auch andere Städte – die Wehrhoheit und das Besteuerungsrecht über die Bürger.⁶⁵⁹ 4.1.4.2 Der Ratseid Die Ratsgewalt war bei aller Vielfalt der Ratsämter eine einheitliche Gewalt. Die Inhaber der Ratsämter handelten nicht in eigenem Namen, sondern stets im Namen des gesamten Rates, den sie nach außen nur als Deputierte vertraten. Diese Einheit war die einer durch Eide verbundenen Sondergenossenschaft. Ihre Grundlage war in Lübeck der von jedem in die Gemeinschaft neu Aufgenommenen auf die Eideskapelle, d. h. den Eidesschrein des Rats in Gestalt einer Kirche, zu leistende Ratseid, der nicht den Bürgern, sondern allein dem Rat selber geschworen wurde. Der Stadtherr und die Bürgerschaft waren nur »Objekte oder Nutznießer

657 E. P, Die Entstehung der Ratsherrschaft in Nürnberg, S. 163. 658 B. S, Frühe bürgerliche Institutionen norddeutscher Hansestädte; ., Über Ratsgewalt und Gemeinde in nordwestdeutschen Hansestädten; ., Anmerkungen zur Entstehung des Rates in Deutschland (2.5.2). 659 K. M/P. P, Bürgertum und Rat in Halberstadt und Quedlinburg (2.5.2), S. 52 ff., 178. 660 W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 241. Vgl. auch E. P, Schrift- und Aktenwesen, S. 446.

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der eidlichen Versprechungen«.⁶⁶⁰ Der lübische Rat war zudem eine geistliche Bruderschaft mit Totengedächtnis (Memoria) sowie mit eigenem Gestühl und Altar in der Ratskirche; die frühesten Ratsversammlungen dürften überhaupt in der Kirche abgehalten worden sein. Erst wer seinen ihm zugewiesenen Platz im Ratsgestühl eingenommen hatte, war endgültig Ratsherr geworden. Es war eine Frage des Verfassungsverständnisses und des Verhältnisses zur Bürgerschaft, wem der Ratseid geschworen wurde, ob der Eid den Rat nur der abstrakten Korporation Stadt oder darüber hinaus unmittelbar auch der Bürgerschaft verp ichtete und die Ratsherrschaft daher als eine Herrschaft im Auftrag begründete, oder ob der Ratseid, wie in Lübeck und anderen Städten mit lübischem Recht im Unterschied zu anderen deutschen Städten, allein dem Rat geschworen wurde und nicht den Bürgern. Ferner wurde er vielfach auch noch dem Stadtherrn geleistet. Der allgemeine, vom Ratsherrn beim Amtsantritt zu schwörende Ratseid erfuhr als grundlegender Eid in den Städten vielfältige Ausgestaltungen.⁶⁶¹ Inhaltlich sind die Eide Verfassungs- und Ratsordnungen in nuce. Ratseide legen die Treue- und Gehorsamsp icht des Ratsherrn fest, bezeichnen mit der Förderung des Gemeinwohls sowie mit der Bewahrung der Ehre und der Freiheit der Stadt das überragende und absolute Ziel der Amtsführung. Sie umschreiben – worin Schöffen- und Richtereide vorangingen – das personale, auf die psychisch-affektive Konstitution und Disposition abzielende Amtsethos und formulieren Maximen einer verantwortungsvollen und optimalen Urteilsbildung und Ratserteilung sowie einer unparteiischen und unbestechlichen Amtsführung. Sie erinnern an die P icht zum getreulichen Ratsbesuch und erlegen die P icht zur Verschwiegenheit auf, verlangen das Verharren im Amt bis zum Ratswechsel, verp ichten zur Gerechtigkeit gegenüber jedermann,

heben einzelne Verfassungsprinzipien wie den Mehrheitsgrundsatz hervor, führen grundlegende amtsrechtliche Zuständigkeitsbereiche auf, nennen einzelne spezielle Aufgaben und P ichten und binden an Stadtrecht, städtische Freiheiten und Statuten. Keiner der vor ndlichen Ratseide gibt freilich alle diese Elemente wieder. Viele der Bestandteile sind universeller Natur, mit grundlegenden Treuevorstellungen, dem Vorgang des Richtens und Ratens sowie mit einem rationalen und überpersönlichen Amtsverständnis verknüpft. Sie fußen auf herkömmlichen originären Vorstellungen, stellen eine Rezeption auch gelehrten Rechts dar und wurden im städtischen Milieu als besonders adäquat aufgenommen, fortentwickelt und in einen systematischen Zusammenhang des Ämterwesens gebracht. Der körperlich auf einen sakralen Gegenstand abzulegende Eid war metaphysisch begründet und mit dem Seelenheil verbunden. Eidbruch konnte in schweren Fällen die Ehre und die gesellschaftliche Achtung, Person und Vermögen vernichten. Der Eid war jedoch auch ein Mittel, um unter Berufung auf den Amtseid ein Gebot mit höchstem Zwang und letztlich mit arbiträrer Strafsanktionierung ausstatten zu können. Diese Funktion kommt darin am besten zum Ausdruck, wenn Ratsherren einzelne satzungsrechtliche, formelle und materielle verwaltungsrechtliche Bestimmungen ›auf ihren Eid zu nehmen‹, diese zum Gegenstand ihres künftigen sachlichen Handelns oder Verhaltens im Amt zu machen hatten. Grundsätzlich tat der Ratsherr in seinem Amt alles, seien es Ratserteilung, Urteils ndung und Beschlussfassung oder exekutorische Aufgaben, ›bei seinem Eide‹ oder ›bei seiner Ehre und seinem Eide‹, sodass alle Verletzungen von Amtsp ichten sofort als Eidbruch gewertet werden und als arbiträr an Leib und Gut strafwürdig erscheinen konnten. Der Kölner Rat legte einzelne Verfassungsbestimmungen über die Gestalt der Ratsgremien, die Sitzungstage, P ichten und Aufgaben

661 Zum Folgenden mit einzelnen Nachweisen und Literatur E. I, Ratsliteratur und städtische Ratsordnungen, S. 337–352.

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der Ratsherren sowie Verhaltensvorschriften seit dem 14. Jahrhundert – im Unterschied zu anderen Städten – regelmäßig in den Eidbriefen, den Eiden der Ratsherren, und in den umfassenderen Eidbüchern fest, die entsprechend der beschränkten Zeitdauer des noch höchst personengebundenen Willkürrechts grundsätzlich zunächst nur für zehn Jahre Geltung besaßen und deren Artikel danach zu überprüfen, eventuell zu revidieren, förmlich neu zu vereinbaren und von den Ratsherren zu beschwören waren. Das älteste bekannte Eidbuch stammt aus dem Jahr 1321. Die Eidbücher betrafen, vergleichbar den wiederholt erneuerten und modi zierten Straßburger Schwörbriefen, nicht nur die Kompetenzen und Aufgaben des Engeren Rates und des Weiten Rates sowie der speziellen Ratsämter, disziplinarische Vorschriften, die Modalitäten der Ratswahl und die Aufwandsentschädigung der Ratsherren, sondern auch die P ichten der Schöffen, einzelner städtischer Dienstämter und halboffizieller Marktämter sowie einige für die Stadt wichtige Entscheidungen, insbesondere den kommunalen Rentenverkauf und die Verpachtung der indirekten Steuern. Abgelöst wurden die zehnjährigen Verfassungsperioden der Eidbücher durch den Verbundbrief von 1396, der ewige Geltung beanspruchte. Das erste Eidbuch des neuen Rates stammt aus den Jahren von etwa 1398 bis 1400 und füllt ergänzend die neue Verfassung durch Bestimmungen im Sinne einer Ratsordnung aus. Zu dem Grundeid der Ratsherren und bezogen auf ihn traten die jeweiligen Sondereide, die Ratsherren zu leisten hatten, wenn sie ein spezielles Ratsamt antraten, und die Eide der Bürgermeister. Gleichfalls auf den Grundeid bezogen waren die Ledigungseide, die bei der Beendigung der Amtstätigkeit abzulegen waren und in denen die Ratsherren versicherten, dass sie nicht gegen ihren Eid gehandelt und sich keiner Verfehlung im Amte schuldig gemacht hatten, ins-

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besondere keine Zuwendungen und Geschenke, Vorteilsannahmen nach heutigen Begriffen, und Bestechungszahlungen angenommen hatten in Angelegenheiten, die Freiheit, Gerechtigkeit, Gericht und Recht der Stadt betrafen, während die Bürgermeister versicherten, der Stadt Freiheit und Gerechtsame nicht vergeben, verkürzt oder geschwächt zu haben.⁶⁶² 4.1.4.3 Das Mehrheitsprinzip Der Rat fasste seine Beschlüsse mit Mehrheit und im Namen des ganzen Rates; die Unterwerfung des Einzelnen unter den Mehrheitswillen war Eidesp icht.⁶⁶³ Nach außen wahrte er Geschlossenheit und ließ seine Beschlüsse vielerorts auch dann als einhellig (unanimiter) gefasst erscheinen, wenn in internen Meinungskämpfen nur eine knappe Mehrheit zustande gekommen war. In anderen Städten wurden Ratsbeschlüsse regelmäßig als Mehrheitsentscheidungen ausgewiesen. Es ist eine bemerkenswerte Besonderheit, dass in Straßburg im 15. Jahrhundert gelegentlich Minderheitsvoten oder sogar die Äußerungen dreier Meinungsgruppen aufgezeichnet wurden und das Würzburger Ratsprotokoll Gegenstimmen wiedergibt. Das formale Mehrheitsprinzip als grundlegendes Element von Kollegialität und Demokratie billigt jeder Stimme des rechtlich Gleichen, des Rechtsgenossen, dasselbe Gewicht zu. Während anfänglich auch in der Stadt die meliores,potiores, discretiores oder wittigsten den Gesamtwillen vorgaben und die geringeren Leute dem folgten oder im Vorhinein eine Ermächtigung erteilten, wurde später, vermutlich nicht ohne Ein uss der zu numerischem Denken voranschreitenden Entwicklung im kirchlichen und kanonischen Recht, »Quantitätsbegriff, was vorher in Qualitätsbegriffen erschienen war«.⁶⁶⁴ Etwas anderes ist das substantielle Votum des Ratsherrn bei der Umfrage, denn hier kamen in festgelegter Reihenfolge der Vo-

662 W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4) , S. 242. 663 E. I, Ratsliteratur und städtische Ratsordnungen, S. 344–347; H.-J. B, Art. »Mehrheitsprinzip«, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3, Berlin 1983, Sp. 431–438; F. E, Zur Geschichte des Majoritätsprinzips. 664 W. E, Geschichte der Gesetzgebung (2.2–2.4), S. 22.

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tierenden die soziale und amtliche Rangstellung und der politische Ein uss zur Geltung; hier hatten die einzelnen Voten unterschiedliches, vielfach autoritatives oder entscheidendes Gewicht, doch am Ende wurden die Stimmen gezählt. Streng geahndet wurden Beratungsverrat, der den einzelnen Ratsherrn mit seinem Votum bloßstellen konnte, und Geheimnisverrat. Der korporative Charakter des Rats kam dadurch zum Ausdruck, dass kein einzelner der Ratsherren etwas ân gemainen rat, ohne die Willenserklärung des ganzen Rates, verfügen durfte, wie es im Stadtrecht von München heißt. Die Unterwerfung unter den Mehrheitswillen, und damit speziell auch unter die vom Rat beschlossenen Statuten, war eidliche P icht; wer dagegen verstieß, war meineidig und wurde auf Lebenszeit aus dem Rat ausgeschlossen. Der Speyerer Rat statuierte 1265, dass Mehrheitsbeschlüsse auch für Ratsherren bindend sein sollten, die trotz Ladung nicht zu der Sitzung gekommen waren. Später wurde dieser Grundsatz bei Antritt des neuen Rates verlesen und von diesem beschworen. In einer Funktionsbeschreibung des Äußeren Rates der Stadt Wien, die 1397 in das Stadtbuch eingetragen wurde, heißt es, dass alles, was seine Mitglieder zugunsten des gemeinen Nutzens zusammen mit dem Inneren Rat beschließen, gegenüber jedweder Widerrede beständig und unverrückt bleiben solle. Das Mehrheitsprinzip, dessen Geltung seit dem Anfang des 13. Jahrhunderts belegt ist, erwächst aus der Folgep icht der unterlegenen Minderheit, der Widerrede und Obstruktion nach der Beschlussfassung untersagt werden. Einige Zeit wird noch die Fiktion der Einmütigkeit und Einstimmigkeit durch die Gleichsetzung des Mehrheitswillens mit dem Gesamtwillen bemüht, bis dann die Mehrheitsentscheidung als unmittelbarer Ausdruck des Gesamtwillens als selbstverständlich anerkannt wird. In der Stadtordnung für die kurpfälzische Landstadt Neustadt von 1493 wurde mit Bezug auf den Bürgermeister, aber für alle Mitglieder des Rates gültig, auf dem Hintergrund möglicher tiefgehender Zerwürfnisse oder Kon ikte die

innere und äußere korporative Solidarität eingeschärft, die es nicht erlaubte, sich von Ratsbeschlüssen mit Hinweis auf die anderen arglistig zu distanzieren, auch nicht, wenn man an dem Beschluss selbst nicht mitgewirkt hatte, sondern es wurde verlangt, die Beschlüsse nach außen positiv als die des Rates zu vertreten. In den Städten, in denen die Zünfte an der Ratsherrschaft beteiligt waren, wurde das Mehrheitsprinzip angesichts kunstvoll austarierter Verteilungsproportionen hinsichtlich der Ratssitze in den Kleinen und den Großen Räten unentbehrlicher Bestandteil des verfassungsrechtlichen und politischen Systems und seiner Funktionsweise. In Einzelfällen kamen noch technische Regelungen hinzu, die ein Quorum für die Geschäfts- und Beschlussfähigkeit festlegten, während das Erfordernis unterschiedlicher quali zierter Mehrheiten für Agenden, die nach ihrer Bedeutung unterschiedlich klassi ziert wurden, der oberitalienischen kommunalen Welt vorbehalten blieb. 4.1.4.4 Geheime Räte Die konzeptionelle und modellhafte Geschlossenheit der Ratsverfassung, die unter sozialen und politischen Gesichtspunkten nach den spätmittelalterlichen Verfassungskämpfen teilweise erst allmählich wieder erreicht wurde, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Rat vielfach in sich fragmentiert war und Hierarchien hinsichtlich der ständischen Qualität seiner Mitglieder sowie der politischen Bedeutung und Machtpositionen von Ämtern und Kommissionen aufwies. So bildete der Rat in einigen Städten seit dem 14. oder 15. Jahrhundert beherrschende engere Ratsausschüsse, geheime Stuben oder einen Geheimen Rat, in Braunschweig einen geheimen Küchenrat aus. Es handelt sich dabei um Gremien, in denen kontinuierlich oder häu g auf Lebenszeit gewählte, geschäftserfahrene Ratsherren unter Leitung des Bürgermeisters nanzwirtschaftliche, militärische und außenpolitisch-diplomatische Aufgabenbereiche wahrnahmen. Diesen Gremien war, daraus bezogen sie meist ihren Namen, das Geheimnis der Stadt anvertraut. Als Ge-

Rat und Ratsverfassung

heimnisträger unterlagen die ›heimlichen Räte‹ keiner ständigen Rechenschaftsp icht gegenüber dem Rat. Sie traten häu ger auch täglich zusammen und trafen unter Umständen im Namen des Kleinen Rates wichtige Entscheidungen, ohne diesen oder noch weniger den Großen Rat zu befragen. Felix Fabri spricht von der großen Amtsgewalt des Ulmer Gremiums der Fünfer, das sich aus zwei Patriziern und drei Zünftigen zusammensetzte. Sie seien insbesondere für unvorhergesehene, dringende und geheime Fälle gewählt, wenn der ganze Rat nicht mehr ordnungsgemäß einberufen werden könne, unverzüglich Entscheidungen zu treffen seien oder es nicht ratsam sei, eine Sache vor den Ohren Vieler zu verhandeln.⁶⁶⁵ Auch wenn ein solches Gremium nur Entscheidungen vorbereiten sollte, präjudizierte es den Rat in der Sache kraft der in ihm vereinigten Informationsfülle, seiner zugewachsenen Autorität und, nach einem Ausdruck Max Webers, seines »sekretierten Dienstwissens«.⁶⁶⁶ Eine vorberatende und häu g vorentscheidende sowie exekutive Funktion im Auftrag des Kleinen Rats besaßen die seit 1436 fassbaren, wohl aus Sonderausschüssen mit bestimmten Aufgaben im Kriegsfall entstandenen Augsburger Dreizehner, die als Ausschuss des Rats aus den wichtigsten Amtsträgern, den Bürgermeistern, Baumeistern, Einnehmern (seit 1476), Sieglern und einer kleinen Anzahl von Mitgliedern des Kleinen Rats (3 Patrizier/ 6 Zunftvertreter) ohne prominentes Amt bestand. Im Zuge der Intensivierung der Zunftherrschaft (1476–1478/79) traten an die Stelle der Dreizehner die Achtzehner, denen neben den zwei Bürgermeistern ein alter Bürgermeister aus den Geschlechtern und die 17 Zunftmeister aus dem Kleinen und Großen Rat angehörten. In Basel nahm seit der Mitte des 15. Jahrhunderts der Dreizehnerausschuss des Rats die beherrschende Stellung in der Ratsregierung ein. Ursprünglich ein Kriegsrat und für Aufgaben der Finanzverwaltung zuständig und 1445

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für die Dauer des Krieges damit betraut, das Notwendige für die Stadt (gemeiner Stadt Nothdurft) sicherzustellen, wurden die Dreizehner zum permanenten vorbereitenden und ausführenden Ausschuss des Rates, dem mit dem Bürgermeister und Oberstzunftmeister auch die beiden Häupter der Stadt angehörten. Eine Ordnung von 1457 bevollmächtigte sie, in allen Angelegenheiten, die den Stadtfrieden und das Regiment betrafen, selbständig zu handeln, ohne den Rat konsultieren zu müssen. Sie waren befugt, eigenständig Geheimhaltung nach außen anzuordnen, und besaßen weitgehende Strafkompetenzen. Durch das so genannte Hehlbieten, die hinsichtlich wichtiger Traktanden ad hoc vorgenommene Statuierung einer Geheimhaltungsp icht, konnten sich auch andere Kommissionen gegenüber anderen Bereichen des Stadtregiments abschotten. In Nürnberg bildeten die Älteren Herren den wichtigsten Ausschuss des Rats. Obwohl erstmals 1401 erwähnt, waren sie vermutlich bereits früher tätig, und von 1414 bis 1806 ist die Zusammensetzung des zahlenmäßig begrenzten Gremiums der Sieben älteren Herren (Septemvirn) namentlich vollständig überliefert. Es handelt sich um ein Gremium der ältesten und erfahrensten Ratsherren. Entstanden ist es aus der Finanzwirtschaft. Von Zeit zu Zeit deputierte der Rat vier bis sechs der angesehensten Älteren Bürgermeister und einen Genannten aus den Handwerken als Rechenherren, die sich von den drei Losungern, den Verwaltern des städtischen Vermögens und der Finanzen, Rechnungen über deren Einnahmen und Ausgaben legen ließen. Die Deputierten wurden regelmäßig wiedergewählt. Sie und die Losunger hatten genauen Einblick in die Vermögens- und Finanzverhältnisse der Stadt; zusammen mit dem regierenden Älteren Bürgermeister, der die Sitzungen leitete, bildeten sie eine Art geheimen Finanzrat, der nach außen hin Stillschweigen wahrte. Die patrizischen Mitglieder genossen eine besondere Vertrauensstellung und Autorität

665 Felix Fabri, Tractatus de civitate Ulmensi (1.1), Principale V, S. 130 (dt.Übersetzung S. 89). 666 M. W, Wirtschaft und Gesellschaft (1.2), S. 169.

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und ein entsprechend hohes Ansehen. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts wurden die infrage kommenden Personen schon bei der Ratswahl durch die Wahlmänner zu Älteren Herren ernannt und durch einen besonderen Eid verp ichtet. Dem Kollegium der Älteren Herren gehörten jetzt sechs Ältere Bürgermeister und ein Jüngerer Bürgermeister an; darunter befanden sich die beiden patrizischen Losunger, die von 1415 an auch Oberste Hauptleute waren. Geschäftsführend war der jeweils regierende Ältere Bürgermeister, auch wenn er nicht die Würde eines Älteren Herrn besaß. Die Älteren Herren bildeten eine Art engeren, geheimen Rat. Viele wichtige, geheime Anbringen wurden zunächst zum Zwecke der Sondierung an sie herangetragen; sie führten im Vorfeld Verhandlungen, ehe der Rat eingeschaltet wurde. Die Älteren Herren waren berechtigt und verp ichtet, in allen Fällen, in denen es das Wohl der Stadt zu erfordern schien, nach eigenem Ermessen und auf eigene Verantwortung zu handeln. Daneben übergab ihnen der Rat wichtige Angelegenheiten zur Begutachtung und Vorlage an den Rat oder zur de nitiven Entscheidung. Die Entscheidungen der Älteren Herren besaßen eine hohe Verbindlichkeit, fast Gesetzescharakter, sodass die übrigen Ratsherren sie rati zierten und ausführten. Lediglich Angelegenheiten von geringerer Bedeutung wurden dem Kleineren Rat unmittelbar zur Beschlussfassung übergeben. Die Älteren Herren spielten eine überragende Rolle in der Finanzpolitik, in der äußeren Politik und bei allen sonstigen wichtigen Belangen der Stadt. Die oberste Finanzkontrolle war insofern als ein besonderer Arkanbereich ausgewiesen, als bei der Rechnungslegung, zu der zwar der Losunger und der Genannte aus den Handwerken zugezogen wurden, auch der regierende Ältere Bürgermeister die Würde eines Älteren Herrn besitzen musste. Dies war sonst nicht der Fall. Die Geschäftsführung durch den regierenden Älteren Bürgermeister wahrte die Einheit des Stadtregiments. Im Einverständnis mit den Älteren

Herren konnte er zu den Sitzungen auch noch andere Ratsherren, insbesondere die Mitglieder des nunmehr zehnköp gen Finanzausschusses, beiziehen. Die Älteren Herren amtierten auf Lebenszeit. Ehe man im Todesfalle im Rat Ergänzungswahlen vornahm, ließ man die Zahl auf fünf absinken, um dann aus vier Kandidaten, die ein Wahlausschuss von fünf Ratsherren vorgeschlagen hatte, zwei neue Herren zu wählen. 4.1.4.5 Informelle Ratskreise Etwas anderes als die Geheimen Räte sind informelle Ratszirkel, die gesondert vom Rat und abseits eine Machtposition erstrebten. Die Neuordnung des Straßburger Stadtregiments von 1433 verbot heimliche oder geteilte Räte, Abspaltungen von Ratsfraktionen, die sich zu verschiedenen Zeiten am Tage oder in der Nacht außerhalb der ordentlichen Rats- oder Kommissionssitzungen heimlich trafen und die, wie es die Ordnung andeutet, vermutlich ihren Ursprung in früheren Zeiten im Zusammenhang mit den Verfassungskämpfen – wie in Ulm, Konstanz und Zürich – in zünftischen und patrizischen Sonderräten hatten. Außerdem wurde klargestellt, dass die Gruppe der Älteren Herren und die Dreizehner des beständigen Regiments nur auf Geheiß des Rates oder des Ammeisters gesondert tagen durften.⁶⁶⁷ Allerdings gab es seit der Verfassungsneuordnung von 1425 neben dem wechselnden amtierenden Rat als beständiges Regiment die drei geheimen Stuben, die aus ehemaligen geschäftserfahrenen Ratsmitgliedern gebildet wurden. Das Speyrer Ratsstatut von 1375 untersagt die Erscheinung, dass Bürger, die nicht in den Rat gewählt waren und keinen Ratseid abgelegt hatten, vom Rat aufgefordert oder unaufgefordert an Ratssitzungen teilnahmen und sich an der Urteils ndung beteiligten. Dadurch sei bei den Leuten und in der Gemeinde der Argwohn entstanden, dass diejenigen, welche die Agenden und Urteile des Rats betrafen, von diesen Personen behindert oder gefördert wurden. Deshalb durfte der sitzende Rat künftig nur

667 K. T. E (Hg.),Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte (2.2–2.4), Nr. 24, Art. 34, S. 97.

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noch die beiden anderen Räte des dreischichtigen Rates geschlossen zu seinen Beratungen beiziehen.⁶⁶⁸ In Köln wurde die selbstherrliche kleine Gruppe im Rat (Kränzchen), die wichtige Entscheidungen ohne den übrigen Rat traf, 1512/13 zusammen mit dem Rat durch einen Aufstand der Gaffeln gestürzt. Der Trans xbrief von 1513 verbot dann jegliche Form eines heimlichen Rats, sei es als Kommission (Schickung) oder als Treffen im Hause eines Ratsherrn, gesonderte Versammlungen und Kränzchen, auch Vorberatungen in Angelegenheiten von Stadt und Gemeinde. Alle Angelegenheiten durften, dem Verbundbrief von 1396 gemäß, nur noch in gemeinsamer offener Ratssitzung behandelt werden. Verboten wurde auch die Beiziehung von Ratsfreunden, die der Rat aus dem Kreis derzeit nicht amtierender Ratsherren ausgewählt hatte, anstelle der verfassungsmäßigen Vierundvierziger aus den Gaffeln. Die Korrespondenz von Fürsten, Herren und Städten musste in der nächsten Ratssitzung verlesen werden. Erforderte sie eine Eilentscheidung, so hatten die beiden Bürgermeister ein spezielles Gremium zur Behandlung der Sache einzuberufen, das, falls erforderlich, den Rat versammelte. Wer vom Rat zu Verhandlungen mit einer Partei abgeordnet wurde, musste sich an den erteilten Auftrag halten und durfte sich nicht weiter als im Rahmen des Notwendigen bewegen, sich auch keiner anderen Sachen annehmen.

4.2 Rat und Gemeinde Das städtische Verbandsleben bewegte sich in vielfältigen Situierungen in einem Gravitationsfeld zwischen den Polen Herrschaft und Genossenschaft. In einer gewissermaßen skalierbaren Bandbreite mit zunehmender Partizipation bürgerlicher Kreise bildeten die populare bürgermeisterliche Stadttyrannis (Zürich), der Geheime Rat als Ausschuss des Kleinen Rats, der Kleine Rat, Gruppen von Genannten (nomina-

ti) und Geschworenen (iurati), der Große Rat, ständige oder temporäre Ausschüsse der politischen Zünfte (Gaffeln) oder Bürgerausschüsse, schließlich die Versammlung der Zunftgemeinde und allgemeine Bürgerversammlungen das Spektrum der institutionellen und politischen Tatbestände. Das Erscheinungsbild des jeweiligen Stadtregiments wird bestimmt durch den aristokratischen Zuschnitt, den Grad der Oligarchisierung oder das Ausmaß der demokratisierenden Partizipationsmöglichkeiten sozialer Gruppen, korporativer Verbände oder der Gesamtbürgerschaft. Rat und Ämter können gegenüber der Bürgerschaft eher als eigenberechtigte aristokratische Herrschaft wie die der Geschlechter oder eher als repräsentativ-gebunden wie hinsichtlich der Zunftverfassung in Erscheinung treten. Die Attitüde der Herrschaftsausübung erscheint eher der Bürgerschaft verp ichtet und fürsorglich, eher paternalistischvormundschaftlich oder eher betont amtsrechtlich und obrigkeitlich-distanziert. Neben Bürgermeister und Rat waren häu g zugleich die Korporation Stadt, die Bürgerschaft oder die Gemeinde Empfänger von stadtherrlichen Privilegien und Adressaten eingehender Schreiben politischen Inhalts. Solange entgegen der grundsätzlichen Forderung nach überpersönlicher Amtsführung ein erträgliches Maß an Verknüpfung von sozialer Position, politischer Macht, persönlicher Vorteilsnahme und Interessen teilweise untereinander eng versippter Familien nicht überschritten und – im Übrigen auch von den konkurrierenden oder auf Solidarität bedachten Ratsgenossen – nicht als anstößig empfunden wurde und der innergesellschaftliche Friede, Gerechtigkeit und die Maxime des gemeinen Nutzens im Großen und Ganzen gewährleistet blieben, nahm die Bürgerschaft – auch innerhalb der Zunftkreise – die ursprüngliche und traditionale Führungsrolle der Reichen und zugleich Mächtigen oder die Regierung durch neue Honoratiorengruppen hin. Ein Esslinger Kürschner und Chronist drückte es nach der Mitte des 16. Jahr-

668 E. V, Reichsstadt und Herrschaft, S. 256, Anm. 327.

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hunderts in genereller und einfacher Weise aus: Darumb wenn es recht zugett, wer wollt etwas darwider reden?⁶⁶⁹ Zu Ratsherren gewählt werden sollte ja eine Elite der Ehrbarsten und Weisesten sowohl der Geschlechter als auch des Zunftbürgertums, die den Gehorsam der Gemeinde verlangen durfte. Diese Qualitäten bedingten unvermeidlich in bestimmtem Umfang Besitz, Bildung und Erfahrung. Im Rahmen der Zunftverfassung wurde noch die Forderung laut, dass auch die kleineren, weniger angesehenen Zünfte angemessen vertreten sein sollten. 4.2.1 Bürgerschaftliche Partizipation: Großer Rat, Gemeinde- und Bürgerversammlungen Das Bild einer immer autokratischer regierenden Ratsobrigkeit bedarf auch für das Spätmittelalter der Einschränkung. Für Lübeck hat Wilhelm Ebel dargelegt, dass zur Erteilung von Prozessvollmachten für städtische Prokuratoren, die vor geistlichen Gerichten auftreten sollten, häu g die durch Glockenläuten versammelten Bürger beigezogen wurden, ohne dass dies rechtsnotwendig war. Die Bürger akklamierten in diesen Fällen zu den vom Rat getroffenen Entscheidungen als Bürgergemeinde (meenheit, communitas). Vor allem p egte der Lübecker Rat kein Bündnis einzugehen und keinen Krieg zu erklären, ohne sich vorher mit der Bürgerschaft zu beraten und auf diese Weise seine Maßnahmen durch bürgerliche Mitwirkung nach innen abgesichert zu haben. Ähnlich verhielt er sich bei der Entscheidung über Währungsfragen, über die jährliche Festlegung des Schosses (Vermögensteuer), den Verkauf von Renten aus städtischen Grundstücken sowie über den Erwerb oder die Veräußerung von Grund und Boden. Bei weniger wichtigen oder weniger grundsätzlichen Angelegenheiten begnügte er sich damit, sich mit den discretiores der Stadt zu besprechen, d. h. mit Gemeinde-

mitgliedern, die ein Amt in der gemeindlichen Organisation wie in den Gilden und Ämtern (Zünften) innehatten und als Repräsentanten der Gemeinde gelten konnten, anstatt dass er ›die Tausende berief‹, wie man in Rostock und Stralsund die Initiierung einer Bürgerbefragung nannte. Bei den Versammlungen der Gemeinde, die nach Gutdünken des Rates einberufen wurden, unterschied man in Lübeck die ›kleine Zahl‹ von der ›großen Zahl‹, wobei die Wortführer als die discretiores oder die ›Obersten von den Bürgern‹ bezeichnet wurden. Die Gemeinde der Bürger erscheint in den überlieferten lübischen Quellen keineswegs als eine Bürgerversammlung (civiloquium, borgertal), in der eine Vielzahl von Bürgern das Wort ergriff, sondern es waren stets nur wenige Männer, die für die große Menge der vertrauenswürdigen Bürger, die multi cives dedigni, sprachen. Förmliche Abstimmungen und Beschlussfassungen nach Stimmenmehrheit waren bei diesen Beratungen mit dem Rat nicht üblich. Die Übereinstimmung zwischen Rat und Bürgerschaft wurde als gegeben angenommen, wenn die Versammlung, welche die Bürgerschaft repräsentierte, die Ratsbeschlüsse ohne weitere Diskussion oder unter ausdrücklicher Zustimmung erkennbar bejahte. Bei einem großen Teil der Willkürbeschlüsse, d. h. bei der Rechtsetzung, wurde in Lübeck entweder die gesamte Bürgerschaft oder wenigstens die kleinere Gruppe der discretiores aufgeboten, auch wenn es in den Augen des Rates immer er selbst war, der die Willküren setzte.⁶⁷⁰ Jahrhunderte hindurch wahrte der Lübecker Rat abgesehen von kurzfristigen Ausnahmen den Abstand zur meenheit, die ihm zu Treue und Gehorsam verp ichtet war, berief sich auf die eidliche Verp ichtung gegenüber König und Reich und leistete den Treueid nur der Stadt und nicht auch den Bürgern, wie es in einigen Fällen gefordert wurde. Allerdings wies der Lübecker Rat 1340 den Hamburger darauf hin, es sei in den wendischen

669 D D, Esslingische Chronik (1548–1564), hg. von A. D, Tübingen 1901, S. 106; J. R, Für den Gemeinen Nutzen, S. 5. 670 W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 293–303, 176 f.

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Städten schon immer Recht und Gewohnheit gewesen, dass der Rat für die Stadt hochbeschwerliche Geschäfte (negotia ardua et magna) nur nach Beratung und Zustimmung der Amtsmeister (Zunftmeister) und der Gesamtbürgerschaft entscheiden dürfe. Es kam jedoch in Lübeck 1375 zu Handwerkerunruhen und zu Beginn des 15. Jahrhunderts zu offenen Kon ikten, die in Lübeck zum zeitweiligen Sturz des Rates und in Rostock, Wismar und Hamburg über mehrere Jahre hindurch zur Einsetzung von bürgerschaftlichen Ausschüssen der Mitsprache führten. Die erweiterte Partizipation der Bürger und eventuell auch der bloßen Einwohner (Köln 1396) umfasste verschiedene institutionelle Formen und politische Abschattierungen und weist eine gedankenreiche Vielfalt städtischer Verfassungsbildung auf. In Freiburg im Breisgau erreichte der Rat noch zu Zeiten Kaiser Friedrichs II. das Stadium eine Geschlechteroligarchie, sodass 1248 durch Schultheiß, Rat und Bürgerschaft mit Zustimmung des Stadtherrn eine Änderung der Verfassung vorgenommen wurde. Den nicht mehr durch bürgerschaftliche Wahlen bestimmten, sondern sich selbst ergänzenden 24 Ratsherren wurde ein Gremium von gleichfalls 24 Mitgliedern zur Seite gestellt, das die Gemeinde repräsentierte und von ihr jährlich gewählt wurde. Die Entscheidungen des Rats sollten nur mit Zustimmung (consensus) und Rat (consilium) des neuen Gremiums erfolgen, damit gewährleistet war, dass die gemeinsame Sache oder das ›gemeine Gut‹ (negotium universale sive res publica) nicht mehr nach Willkür verwaltet werde, sondern gemäß der Ehre und dem gemeinen Nutzen – secundum honestatem et utilitatem communem.

Der Kleine oder Innere Rat konnte zu seinen Beratungen vor- und nachgesessene Räte oder sonstige nicht amtierende ›Ratsfreunde‹ beiziehen. In Augsburg wiederum wurde zur Beratung des Kleinen Rats (42 Mitglieder) ein eigener verengter, jährlich vom amtierenden neuen Rat bestätigter Alter Rat (26 Mitglieder) mit vier Vertretern aus den Geschlechtern und 22 aus den Zünften eingerichtet. In ihm saßen bewährte Ratsherren, die bereits Mitglieder des Kleinen Rats gewesen waren. Das Stadtregiment setzte sich aus vier Institutionen, dem Kleinen Rat, den von ihm als Ausschuss gewählten Dreizehnern (1476-1478/79 Achtzehner), dem konsultativen Alten Rat und dem Großen Rat (229 Mitglieder) zusammen. Wenn in Kommunen der Große, Äußere oder Weite Rat in Erscheinung trat, versammelte er sich auf die Einberufung des Kleinen, Inneren oder Engen Rats hin, mit dem er dann gemeinsam tagte. Der Große Rat konnte aber auch, wie die Zunftgemeinde, von Ratsdeputierten befragt werden. Während der Kleine Rat das Zentrum der Herrschaft und Regierung war und die Geschäfte besorgte, sollte der Große Rat, dem kein Selbstversammlungsund Initiativrecht zukam, bei Entscheidungen über lebenswichtige Belange herangezogen werden, welche die res publica, das gemeine Gut, und die politische Existenz der Stadt betrafen. Die repräsentative Funktion des Großen Rates tritt dann am deutlichsten in Erscheinung, wenn seine Entscheidung – im Sinne der gelehrten spätmittelalterlichen ›Identitätsrepräsentation‹ – durch ktive Gleichsetzung mit der Gemeinde als Zunftgemeinde oder der ganzen Bürgerschaft diesen zugerechnet werden kann, zumal wenn die Funktionen der Gesamtbürgerschaft praktisch erloschen waren.⁶⁷¹

671 In seiner eigentümlich apodiktisch dekretierenden Verfassungsgeschichte mit dem Zentralkapitel »Autonome Gemeinde und vollmächtiger Rat« operiert E. Pitz in einem heterogenen Bezug auf hansische Ratssendeboten und den Rat selbst mit einem hypostasierten ontologischen Substanzbegriff der »Identität«, der sich so in den Quellen nicht ndet und keiner empirischen verfassungsgeschichtlichen Betrachtung mehr zugänglich ist, aber auch auf theoretischer Ebene kaum diskutiert werden kann. Pitz ist, ohne entwicklungsgeschichtliche Konsequenzen zu ziehen, für die hansischniederdeutschen Städte der Auffassung, dass das Verhältnis von Rat und Bürgerschaft auf der Rechts gur der Identität und einer – nahezu rousseauistischen – »Identität der Willen« (S. 228) beruhe, die aus dem Einungsrecht stammten, und der Rat daher keine obrigkeitliche Stellung in der Stadt gehabt habe. E. P, Bürgereinung und Städteeinung (2.5.1).

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Die Gemeinde konnte wie in München mit der Repräsentation durch den Großen Rat aber auch unzufrieden sein. In einer Übereinkunft (Einung) mit dem Rat erreichte es die handlungsfähige und zum Gegenspieler des patrizisch bestimmten Inneren und Äußeren Rats aufgestiegene Gemeinde im Jahre 1377, dass der Große Rat aufgelöst wurde und an seine Stelle eine Gemeindeversammlung, dann ein repräsentatives Gremium von bis zu 300 Gemeindemitgliedern trat, dem durchaus auch Patrizier angehörten. Diese neue Repräsentation der Gemeinde wurde einberufen, wenn der Rat eine breite Zustimmung zu wichtigen Entscheidungen brauchte. Die Gemeindevertreter waren der allgemeinen Gemeindeversammlung, die sie delegierte, kontinuierlich rechenschaftsp ichtig und gewannen gegenüber dem Rat dadurch eine noch größere Selbständigkeit, dass ihnen 1397 während innerstädtischer Auseinandersetzungen das geforderte Amt eines Sprechers zugestanden wurde, doch trat 1403 der Bürgermeister des Äußeren Rates an dessen Stelle. Die Einung von 1377 beruht auf Petitionen, die eine paritätische Kommission aus Vertretern der Räte und der Gemeinde zu Fragen der Stadtverfassung, vor allem aber zu Steuerordnung und Steuererhebung sowie zu Rentengeschäften angesichts der Währungsreform formulierte und die von den beiden Räten bestätigt, genehmigt, vermittelnd abgewandelt oder verworfen wurden. Andere Punkte wurden hingegen in einer Antwort der beiden Räte inhaltlich ausgeführt und entschieden, andere wiederum der Gemeinde vorgelegt.⁶⁷² Nach der Ordnung von 1403 gehörte zur Gemeinde, wer in München Haus und Hof hatte oder ein halbes Pfund Münchner Pfennige als Steuer entrichtete. Ohne Einberufung einer mitwirkenden Gemeindeversammlung durfte der Rat keine Steuer erheben, keinen Kriegszug unternehmen, keine Ewig- und Leibrenten verkaufen, der Herr-

schaft kein Gut geben, keine Ausgaben über zehn Pfund tätigen, wohl aber alle Schuldverp ichtungen erfüllen. Der Gemeinde hatte der Kämmerer den Schuldenstand (Geldschuld) der Stadt und seine Entwicklung darzustellen und mit der Gemeinde darüber zu beraten, wie die Schulden mit dem geringsten Schaden zu begleichen waren.⁶⁷³ Die gesamte Bürgerschaft wurde jedes Jahr auf das Rathaus berufen, um die Erhebung einer Steuer zu bewilligen. Der Rat ließ durch den Stadtschreiber die Gründe für die Steuererhebung darlegen und Vorschläge über die Höhe des Steuersatzes machen. Die Gemeinde gab durch Handaufheben die Zustimmung und durfte einen der Steuereinnehmer (Steuerer) stellen. Die Abrechnung der Vermögensteuer (Widerraitung) der Steuereinnehmer erfolgte bis 1500 durch Vertreter der beiden Ratskörper und der Gemeinde unter Mitwirkung der Kämmerei. Die Leistung des Steuerminimums der Habnitsteuer war Voraussetzung für das Redeund Stimmrecht in der Bürgerversammlung. Abgesehen von der politisch und sozial integrativen Funktion aufgrund des Prestiges, das bereits eine formale Teilhabe am Stadtregiment vermittelte, reichte die Spannweite der Bedeutung der Großen Räte, wenn sie tatsächlich nach Maßgabe der Verfassungsordnungen einberufen wurden, von unentbehrlicher artikulierter Mitwirkung und Mitentscheidung in wichtigen Angelegenheiten, lediglich akklamatorischer Zustimmung zu Entscheidungen des Kleinen Rats, der Funktion einer mitwissenden Kontrollinstanz im Hinblick auf die vom Kleinen Rat vorgebrachten Informationen bis hin zu legitimatorischen und sogar instrumentellen Aspekten, wenn der Rat für seine Politik ostentativ Rückhalt suchte, Verantwortung abschob und die Mitglieder des Großen Rats mit Wirkung auf die Gesamtbevölkerung an seine Entscheidungen band. In Straßburg ging außerdem der Rechtszug vom Rats- und Stadtgericht zum Großen Rat der Schöffen.

672 Als Beispiel siehe P. D, Denkmäler des Münchener Stadtrechts (2.2–2.4), 1. Bd. 1158–1403, S. 594–603; F. S, München im Mittelalter, München/Berlin 1938, S. 205 f. 673 P. D, Denkmäler, S. 606 f.

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In prägnanter Formulierung sind die repräsentative Funktion des Äußeren Rates der Stadt Wien und dessen Verhältnis zum Inneren Rat 1397 im Stadtbuch erläutert. Die Ratstätigkeit in dem nur 40 Mitglieder umfassenden Äußeren Rat erscheint mit der Maßgabe, dass die Mitglieder ihr Amt an Stelle der ganzen Gemeinde zu Wien mit voller Gewalt daz recht gemaynes nuczes besitzen sollen. Ihre Rechtsmacht in Bezug auf den gemeinen Nutzen sollen sie gemeinsam mit dem Inneren Rat und insoweit ›mit ganzer und vollkommener Macht‹ ausüben. Zusammen mit weiteren ehrbaren Personen werden die Mitglieder des Äußeren Rats wegen ihrer Zeugenfunktion, wie in Nürnberg, als die Genannten bezeichnet und sollen alle wichtigen Geschäfte mit einem Wert von über drei Pfund bezeugen. Sie sollen aber immer so verfahren, dass der Innere Rat nicht in seinen Amtsbefugnissen beeinträchtigt wird, sondern bei den Befugnissen (Gewalten) bleibt, die ihm von Rechts wegen zukommen.⁶⁷⁴ Die Mehrheitsverhältnisse in den verschiedenen Räten konnten in den Zunftverfassungen sehr unterschiedlich xiert werden. Während es sich im Kleinen Rat der Stadt Ulm um eine knappe Mehrheit des Zunftbürgertums, das von Kau euten und Handwerkern gebildet wurde, gegenüber den Patriziern von drei Sitzen handelte, verfügte das Straßburger Zunftbürgertum nach der Beseitigung der Parität über eine überaus komfortable Zweidrittelmehrheit. Die knappe Mehrheit der Zünfte im geschäftsintensiven Kleinen Rat (17:14), der zudem im Hinblick auf die Außenbeziehungen zu Adeligen, Fürsten und König ein stets patrizischer Bürgermeister entgegenstand, war in Ulm im Schwörbrief von 1397 allerdings eingebettet in ein bemerkenswert ausgeklügeltes politisches System. Sie war zunächst dadurch mit einer Sicherung gegen unerwünschte Patrizier versehen, dass die patrizischen Ratsherren durch die Zunftvertreter im Kleinen und Großen Rat und den Bürgermeister gewählt wurden, die Pa-

trizier also kein aktives Wahlrecht mehr hatten.⁶⁷⁵ Im späteren Geheimen Rat saßen drei zünftige Mitglieder des Kleinen Rats und zwei patrizische, doch kommt der patrizische Bürgermeister hinzu, sodass hier Parität bestand. Im Großen Rat hatten die Zünfte hingegen eine Zweidrittelmehrheit (30:10), die sich bei der üblichen gemeinsamen Sitzung von Kleinem und Großem Rat auf ein Verhältnis von 47 Zunftbürgern zu 24 Patriziern etwas reduzierte. Die Zuständigkeit des Großen Rats war indessen nicht als eigener Bereich de niert, sondern wurde nur mit der Zunahme der städtischen Geschäfte und Belange und der Unterstützung bei der Friedenswahrung angedeutet. Wenn sich der Kleine Rat um den Großen Rat erweiterte, handelte es sich angesichts der relativ kleinen Mitgliederzahl des Großen Rats immer noch um ein überschaubares, handlungsfähiges Gremium, woraus möglicherweise seine häu ge Mitwirkung an Satzungen des 14. Jahrhunderts resultiert. Die Mitwirkungsrechte, die in anderen Städten den Großen Räten üblicherweise zukamen, lagen in Ulm in anderen Händen. In einer Generalklausel wird im Schwörbrief von 1397 die Entscheidung in schwerwiegenden und existentiellen Angelegenheiten (›starken heftigen Sachen‹), insbesondere Verfügungen über städtisches Vermögen, Bündnisse und Kriegszüge, an das Wissen und den Willen der Gemeinde gebunden, womit jedoch nicht die bürgerliche Gesamtgemeinde, sondern die Zunftgemeinde gemeint ist. In den städtischen Statuten erscheinen in verschiedenen Konstellationen neben Bürgermeister und Kleinem Rat als Mitwirkende häu g der Große Rat, die Gemeinde und auch die gesamte Bürgerschaft als rechtsetzende Gewalten. In Straßburg kam gemäß dem Schwörbrief von 1482 zur Zweidrittel-Mehrheit des Zunftbürgertums im geschäftsführenden Rat hinzu, dass der Große Rat der Schöffen mit seinen 300 lebenslang amtierenden Mitgliedern ausschließlich aus den Zünften gebildet wurde. Die

674 W. B/G. J (Hg.), Die Wiener Stadtbücher (2.2–2.4), Bd. 1, Nr. 105, S. 81. 675 C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm (2.2–2,4), S. 259 f., 263 (1397).

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

vom Rat getrennten Kommissionen des ›beständigen Regiments‹ hinzugenommen, bedeutete dies, dass das hohe Maß an unmittelbarer Herrschafts- und Regierungsbeteiligung und erweiterter politischer Partizipation und Gerichtsbarkeit vom Zunftbürgertum, worüber geklagt wurde, nur unter wirtschaftlichen Opfern erfüllt werden konnte. Der Große Rat Augsburgs wurde auf der Grundlage des zweiten Zunftbriefs vom 16. Dezember 1368 von den Zünften und den Geschlechtern gebildet. Er bestand aus den 18, dann 17 in den Zünften gewählten Zunftmeistern, die in personeller Ver echtung zugleich im Kleinen Rat saßen; ferner wählte jede Zunft 12 weitere Angehörige, die ›Ehrbarsten‹ aus den Zünften als Zunftvorstand (Zwölfer), die gleichfalls die Zunft im Großen Rat vertraten. Zu diesen 221 zünftigen Mitgliedern kamen 15, noch im 14. Jahrhundert auf 12 reduzierte Vertreter der Geschlechter des Kleinen Rats hinzu, so dass sich ein Gremium von 236 oder 233 Mitgliedern ergab. Im Grunde war der Große Rat eine Versammlung der 17 Zunftregierungen, d. h. der Zunftmeister und der Zunftvorstände. Die bis 1548 gültige Augsburger Verfassung zeigt bemerkenswerte abgestufte Übergänge von einer repräsentativen Vertretung hin zu einer solchen, die an Konsultationen oder Entscheidungen eines engen Zunftgremiums (Vorstand) gebunden war bis hin zu einem imperativen Mandat der Vollversammlung in äußerst wichtigen Angelegenheiten. Der in den Kleinen Rat kraft seiner Stellung im Regiment der Zunft entsandte Zunftmeister sollte 12 der ehrbarsten Männer seiner Zunft zur Seite haben, die – wegen ihrer konsultativen Funktion auch in städtischen Angelegenheiten – dem Rat zu schwören hatten. Nichts Wichtiges durfte in der Zunft ohne die Zwölfer verhandelt werden. Der Große Rat Augsburgs besaß kein Selbstversammlungsrecht, sondern wurde von den beiden Bürgermeistern einberufen. Wollte man einen Großen Rat abhalten, sollten die Zunftmeister, so lautet die pragmatische Bestim-

mung, nach den Zwölfern schicken, so oft man ihrer bedürfe und so wichtig die Sache sei. Wollten die Zunftmeister mit ihren Zwölfern im Rat etwas beraten und verkünden, so sollten sie dieses mit den Vorständen einen Tag vor der Sitzung des Großen Rats besprechen. War die Sache jedoch so wichtig, dass die Zwölfer sie nicht entscheiden konnten, sollte jeder Zunftmeister sein gesamtes Handwerk zusammenrufen, ihm die Sache vorlegen, beraten lassen, eine Entscheidung herbeiführen und diese dann – mit imperativem Mandat ausgestattet – vollziehen, d. h. im Rat vorbringen. Auf diese konstruktive Weise wurde die politische Partizipation des Zunftbürgertums in wichtigen Angelegenheiten nicht nur institutionell durch das Gremium des Großen Rats, sondern zusätzlich durch Vorberatungen und Vorentscheidungen in größeren korporativen Kreisen außerhalb des Gremiums außerordentlich erweitert. Feste Termine für das Zusammentreten des Großen Rats waren nur der Ratswahltag am 6. Januar und der St.-Gallen-Tag (8. Oktober), an dem der Rat und seine Amtsträger alljährlich ›allen Reichen und Armen‹ der Stadt Rechenschaft über Einnahmen und Ausgaben abzulegen hatten. Der Große Rat nahm stellvertretend für die ganze Bürgerschaft den Bericht der Bürgermeister zur Finanzlage entgegen und erörterte vermutlich zugleich die Frage, wie im Hinblick darauf die städtischen Steuern zu gestalten waren. Ansonsten trat der Große Rat in unregelmäßigen Abständen zusammen. In oberschwäbischen Städten wurde der Kleine Rat durch je zwei Vertreter aus den Zünften zum Großen Rat erweitert (Memmingen), oder die Versammlung der Zunftvorstände bildeten den Großen Rat, der vom Kleinen Rat hinzugezogen wurde. Die Großen Räte wurden mit wichtigen Statuten, gewerberechtlichen und wirtschaftspolitischen Fragen befasst und wirkten beim Beschluss über den jährlichen Steuersatz mit. Außerdem konnten sie zusammen mit den Zunftmeistern als Wahlkörper an den Wahlen der Bürgermeister, des Am-

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manns, der Ratsherren (Ratgeben) und der Urteiler (Richter) des Stadtgerichts beteiligt sein. In Köln gab es zunächst einen Rat von 15 Mitgliedern aus den Geschlechtern, der aber mit vor- und nachgesessenem Rat drei Körper mit insgesamt 45 Mitgliedern aufwies, die in wichtigen Angelegenheiten zusammen berieten. Hinzu kam, nachdem der Rat von einer Vertretung der Bürgerschaft ohne eigene Exekutivgewalt – gegenüber Schöffen und Richerzeche – zum regierenden Gremium aufgestiegen war, um 1300 ein Weiter Rat (consilium generale), der gegenüber dem jetzt Engen Rat (artum consilium) die Repräsentation der Sondergemeinden übernahm. Der Weite Rat hatte 82 Mitglieder (1321), die gemäß dem Eidbuch von 1341 den zwölf sondergemeindlichen Kirchspielen nach einem ungleichen, offensichtlich die Geschlechter begünstigenden Verteilungsschlüssel entnommen wurden. Im Weiten Rat saßen mit einem beträchtlichen Anteil (44%) weitere Angehörige der Geschlechter, die auch im Engen Rat saßen, ferner Angehörige einer neuen wohlhabenden nichtpatrizischen Kaufleuteschicht und nur zu einem geringen Teil Handwerker. Gewählt wurde er in der Weise, dass die ausscheidenden Ratsherren unter Aufsicht des Engeren Rats, der die Wahl veranlasste und die Mitglieder vereidigte, ihre Nachfolger bestimmten. Der Weite Rat war auf den Engen Rat bezogen, mit dem er gemeinsam tagte, und hatte diesem in jeder Hinsicht Folge und Beistand zu leisten; seine Bedeutung wuchs aber in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts an. Er besaß jedoch nur eine eingeschränkte Eigenverantwortlichkeit in städtischen Angelegenheiten, sollte für städtische Renten bürgen, daher bei Ratsantritt einen Überblick über die Finanzlage erhalten und ganz allgemein zu wichtigen Entscheidungen beigezogen werden. Als 1370 von einer Koalition des mitgliederstarken Wollenamtes (Weberzunft) mit der um 1350/60 von reich gewordenen, oft zuge-

wanderten Kau euten gegründeten Gaffel Eisenmarkt die Richerzeche erstmals aufgelöst und die Schöffen aus dem Engen Rat entfernt wurden, gelangten 1371 zugleich 50 Vertreter der Zünfte in den Weiten Rat. Dieser erhielt das Zustimmungsrecht bei Verfügungen über 10 Mark Silber und war in der Lage, die Geschlechter mit Steuern auf Grundbesitz zu belasten. Nach dem neuerlichen Umsturz von 1371 (›Weberschlacht‹) wurden die Zünfte durch ein Bündnis der Geschlechter mit Gaffeln der Kaufleute entmachtet. Der 1372 auf 31 Mitglieder reduzierte Weite Rat wurde nicht mehr den Sondergemeinden, sondern unabhängig davon dem Kreis der Bürger, insbesondere den wohlhabenden Kau eutefamilien, entnommen. Der Eidbrief von 1372 wies nach dem Ausscheiden der Zünfte dem Engen und dem Weiten Rat unterschiedliche Sitzungstage in der Woche zu.⁶⁷⁶ Der Enge Rat der Geschlechter und der infolge von nur 31 (revidiertes Eidbuch von 1396: 21) Mitgliedern gut geschäftsfähige Weite Rat sollten ohne geregelte Kompetenzabgrenzung gesondert ihre verbindlichen Beschlüsse in städtischen Angelegenheiten ohne Hintersichbringen, d. h. ohne Rückfrage in einer Sache bei jemand anderem, treffen und sich nur in besonderen großen Notsachen zu gemeinsamer Beschlussfassung vereinen. Zu den großen Notsachen gehörten in der Festlegung von 1382 neue Bündnisse, Heerfahrten, die Einführung oder Abschaffung von indirekten Steuern (Akzisen), die Belastung der städtischen Schuld mit Erb- und Leibrenten oder Veränderungen im Eidbuch, d. h. Verfassungsänderungen.⁶⁷⁷ Im Jahre 1395 wurde diese Liste um ablösbare Erbrenten und Verausgabungen von städtischem Vermögen über 500 Gulden Bargeld hinaus und die Verhängung schwerer arbiträrer Leibes- oder Vermögensstrafen, längerer Turmstrafen und den Ausschluss aus dem Rat erweitert.⁶⁷⁸ Zum Verfahren wurde präzisierend bestimmt, dass für den Fall, dass beide

676 W. S (Hg.), Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung I (2.2–2.4), S. 79–84, Nr. 28. 677 Ebd., S. 119 f., Nr. 38. 678 Ebd., S. 151, Nr. 49.

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Räte zu fragen waren, beide nicht zu verschiedenen Zeitpunkten, sondern auf eine gleiche Zeit zu laden waren. Wenn sich der oben im Rathaus tagende Enge Rat und der unten tagende Weite Rat samt beigezogenen ›Ratsfreunden‹ zunächst unter sich besprachen, so sollten sie dennoch in der Sache keinen gesonderten Teil (part) bilden oder sich zu einem gesonderten Teil verbinden, sondern sie sollten vor allen Räten ihre Meinungen eröffnen und mit allen Räten als Gesamtheit übereinkommen.⁶⁷⁹ Die Willensbildung und Entscheidungsndung sollte nach einer Regelung kurz vor dem Sturz der Geschlechterherrschaft im Jahre 1396 zugunsten der ungewöhnlichen Form eines Zweikammersystems mit der Meinungsführung und bedingten Prärogative des referierenden Engen Rates und einem Einigungszwang bei diskrepanten Voten der Räte modiziert werden und nunmehr so vonstattengehen, dass der Enge Rat in seiner oberen Kammer und der Weite Rat in seiner unteren Kammer über die städtischen Angelegenheiten zunächst getrennt beraten sollten. Sodann sollte – in Form einer Relation und Korrelation wie später auf den Reichstagen – der Enge Rat dem Weiten Rat seine Meinung (syn) eröffnen. Wenn der Enge Rat mit seinem Gutdünken auf Zustimmung stieß, erhielt er durch die Zustimmung des Weiten Rates in der jeweiligen Sache volle Handlungsmacht (moege ind macht). Fand der Weite Rat an der Meinung des engen Rates kein Genügen, so hatten beide Räte in einer Plenarversammlung eine - verfahrensrechtlich nicht erläuterte – Einigung zu erzielen (eyns partz oeverdragen).⁶⁸⁰ Mit dem Verbundbrief von 1396 gab es erklärtermaßen nur noch einen ungeteilten gemeinsamen Rat, so dass die Gemeindevertretung neu geregelt wurde. Die Gaffelgemeinde verspricht, nach ihrer vorausgegangenen Ermächtigung des Rats diesem beizustehen, ihm treu und hold (günstig gesonnen) zu sein und

ihn ›machtvoll und mächtig‹ bleiben zu lassen, d. h. seine Handlungsmacht anzuerkennen, und zwar in allen Angelegenheiten, doch wird in Fortführung älterer Bestimmungen Folgendes seiner alleinigen Disposition entzogen: Ohne Wissen, Willen und Zustimmung der ganzen Gemeinde durfte der Rat keinen Kriegszug unternehmen oder anordnen, mit irgendwelchen Herren oder Städten keine neuen Bündnisse und vertragliche Verp ichtungen eingehen, die Stadt nicht mit Erb- und Leibrenten belasten und – ähnlich älteren Bestimmungen – innerhalb eines Jahres nicht auf einmal mehr als 1 000 Gulden verausgaben, versprechen oder verbriefen. In diesen Fällen hatte der Rat die Angelegenheit allen Gaffeln als Gemeinde vorzutragen, damit die Gaffeln je zwei Vertreter, insgesamt 44, in den Rat entsenden konnten, um mit diesem gemeinsam zu beraten und einträchtig einen Mehrheitsbeschluss zu fassen, gegen den dann kein Widerspruch möglich war. Von einem formellen imperativen Mandat der Gaffelvertreter ist nicht die Rede, doch werden die einzelnen Gaffeln mit den Angelegenheiten befasst, so dass Vorberatungen in den Gaffeln anzunehmen sind, an denen wohl auch bloße Einwohner neben den verbürgerten Angehörigen teilnehmen konnten. Während die Gaffeln insoweit ungleich behandelt wurden, als die im Hinblick auf die gewerbliche Zuweisung angesehenen Gaffeln zwei und die der mitgliederstarken Wollenweber als Sonderfall sogar vier Ratsherren stellen durften, die weniger angesehenen zusammengesetzten oder auf nur einem Gewerbe beruhenden Gaffeln nur einen, war die Zahl der Vertreter in dem die Gemeinde repräsentierenden Ausschuss der Vierundvierziger mit zwei Vertretern für alle Gaffeln gleich. Die Vierundvierziger waren dem Verbundbrief nach kein festes Gremium wie andernorts die Großen Räte, sondern eine ad hoc gebildete Gemeindevertretung. In den Ratsmemorialbüchern, in die vor allem Ratsbeschlüsse von be-

679 Ebd., S. 152. 680 Ebd., S. 167, Nr. 49, III (Eidbuch 1394–1395); F. K, Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 169, 227.

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sonderer Bedeutung eingetragen wurden, nden sich nicht wenige Beschlüsse, die mit den Vierundvierzigern zustande gekommen sind, doch ließ deren Beteiligung später zu wünschen übrig. Der Trans xbrief von 1513 bekräftigte daher die Mitwirkungsrechte der Vierundvierziger und fügte mit Ausgaben für päpstliche und königliche Privilegien und mit der Erhebung neuer und der Erhöhung bestehender Akzisen und der Verpachtung der indirekten Steuern weitere, teilweise sogar schon ältere zustimmungsbedürftige Materien hinzu. Der patrizische Nürnberger Kleine Rat ernannte auf Lebenszeit die Genannten (nominati) des bald nach 1300 gebildeten Größeren Rats aus den Patriziern und dem sozial quali zierten, gehobenen, aber dem Patriziat nachgeordneten kaufmännische Kreis jener, die, wie Dr. Scheurl erläutert, über eine ständische Ehre verfügten und ihren Lebensunterhalt nicht durch disreputierliche, ständisch disquali zierende Handarbeit verdienten. Hinzu kamen seit 1357 als Ausnahme Angehörige einiger weniger herausragender Handwerke. Zugleich konnten nur Angehörige des Größeren Rates jemals in den Kleinen Rat gewählt werden.⁶⁸¹ Die sozial hervorgehobenen Genannten, deren Zahl jedes Jahr schwankte und 250, 300 und im 17. Jahrhundert 500 Mitglieder betrug, hatten einen aus 14 Artikeln bestehenden Eid zu schwören, der sie zur Förderung der Ehre der Stadt mit Worten und Werken verp ichtete, den Mehrheitsentscheidungen des Rates und der übrigen Genannten unterwarf, Geheimhaltung verlangte, die Mitwirkung an bestimmten Rechtsgeschäften und die Vornahme inkriminierter Käufe untersagte sowie ein bestimmtes Verhalten gegenüber dem Gericht vorschrieb. Die Genannten wurden zuvor schon, nachweislich seit 1276, in der freiwilligen Gerichtsbarkeit, bei der Bezeugung und Beglaubigung von Testamenten und Verträgen, tätig, da ihre Siegel großes Ansehen und öffentlichen Glauben besaßen. Ferner waren Genannte an

der Ratswahl beteiligt, im Stadt- und Bauerngericht tätig und fungierten auf Bitte beider Parteien als besonders quali zierte Zeugen vor Gericht und Rat hinsichtlich der Rechtsgeschäfte, die vor ihnen abgeschlossen worden waren. Ferner übten sie teilweise die militärisch-logistischen Ämter der Viertelsmeister und Gassenhauptleute sowie der Pfänder aus und waren in besonderer Weise zum Friedegebot und zur Anzeige (Rüge) von Ordnungsverstößen aufgefordert. Die Gemeinden selbst wie auch die sie repräsentierenden Großen Räte besaßen eine Reihe von Mitwirkungs-, Konsens- oder gar Entscheidungsrechten in gewichtigen Angelegenheiten und Existenzfragen der Stadt.⁶⁸² Dazu gehören, wie auch früher schon in italienischen Städten und in der juristischen Korporationslehre vorgesehen, als fester Kernbereich wichtige, insbesondere die Verfassungsordnung betreffende Gesetze, die Entscheidung über Krieg und Frieden sowie den Abschluss von Bündnissen, ferner der Erwerb, die Veräußerung oder die Nutzung kommunaler Güter und ländlicher Herrschaften, nanzwirksame Verfügungen, die eine bestimmte Summe überschritten, die Festsetzung der Steuersätze und die Erhebung neuer Steuern, die Aufnahme von Anleihen und der Verkauf kommunaler Renten zur Kredit nanzierung des Haushalts. Ein weiterer Bereich betrifft die Bürgerrechtsverleihungen und die Mitwirkung an der Wahl von Ratsherren und Bürgermeistern, Vögten und Amtleuten, an der Bestellung und Instruktion von städtischen Gesandten. Während der Reformation war der Große Rat in einigen Städten auch mit Entscheidungen in Glaubens- und Religionsfragen befasst. Wenn es in Straßburg in einer Streitsache den Rechtszug vom Kleinen Rat an den Großen Rat gab, so bestand der Kleine Rat nur aus 18 Ratsherren als Schöffen, während der Große Rat der vollständige Rat war und nicht der große zünftige Schöffenrat. Die Aufzählung der Mitwirkungs- und Entscheidungsbereiche der Gemeinde oder der

681 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 11, S. 787 f. E. N (Hg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung, Nr. 10, S. 81. 682 Überblick über die Zusammensetzung, Zuständigkeiten und Tätigkeiten von Großen Räten verschiedener deutscher und schweizerischer Städte: E. I, Die städtische Gemeinde, S. 214–243, 249 f., 254 f.

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Großen Räte könnte den Eindruck vermitteln, als träfen diese die politischen Grundentscheidungen und der Kleine Rat besorgte eigenständig lediglich die alltäglichen Routinegeschäfte. Tatsächlich aber war der Kleine Rat die Obrigkeit und besaß die überlegene Geschäftskenntnis. Die Einberufung von Gemeindeversammlungen oder des Großen Rates hing trotz aller gewohnheitsrechtlichen oder statutarisch festgelegten Zuständigkeitsbereiche der beiden Versammlungen von seinem Gutdünken oder dem Antrag einzelner Ratsherren ab. Die Gemeindeversammlung und der gemeinsam mit dem Kleinen Rat tagende Große Rat waren als große Versammlungen, die sich bei großen Mitgliederzahlen nur schwer artikulieren konnten, vom Kleinen Rat, der ihnen seinen Beschluss oder seine Meinung vorlegte, im Allgemeinen leicht lenkbar und manipulierbar, wurde doch auch der Kleine Rat durch seinen Geheimen Rat nicht selten gleichfalls präjudiziert. Der Kleine Rat berief den Großen Rat oder die Gemeinde vor allem ein, um für seine unangenehmen Entscheidungen wie Steuererhebungen und für riskante Unternehmen wie Kriege Rückhalt zu suchen oder sich den inopportunen Wünschen fremder Herren und Mächte unter Hinweis auf die Zuständigkeit von Großem Rat und Gemeinde zu entziehen. Vielfach wurden Große Räte über lange Zeiträume hinweg überhaupt nicht einberufen. Es gibt aber durchaus Beispiele für eine verfassungsgemäße Kooperation zwischen dem Kleinen Rat und dem Großen Rat.⁶⁸³ Und die nominell hin und wieder mehr als zweihundertköp ge Menge einer Versammlung des Großen Rates konnte durch ihre schiere physische Präsenz durchaus das Häu ein der Mitglieder des Kleinen Rates beeindrucken oder in Besorgnis versetzen, auch über tumultuöses Geschrei, Rufen und Murren hinaus zu geordneter Diskussion und stichprobenartiger Umfrage unter Leitung des Schultheißen oder Bürgermeisters nden.⁶⁸⁴

Die Großen Räte befriedigten, wie stark auch immer ihre Mitwirkungsrechte ausgeprägt waren, immerhin die politischen Ansprüche neuer, wirtschaftlich erfolgreicher Familien und des Zunftbürgertums in dem Sinne, dass diese zu einer politischen Gemeinde zusammengeführt und wenigstens durch formelle, das Selbstwertgefühl hebende Teilhabe an das Stadtregiment gebunden wurden. Sie hielten die demokratisierenden, mit einigen Verfassungsurkunden des Spätmittelalters substantiell zu belegenden Vorstellungen wach, wonach eine irgendwie verfasste Bürgerschaft und weitere Öffentlichkeit existierte, ein autokratisches Ratsregiment nicht von Anfang an bestanden hatte und auch nicht das letzte Wort sein musste. Insgesamt ist die Tätigkeit Großer Räte noch nicht hinreichend untersucht, doch liegt dies vor allem, bedingt durch das Fehlen einer Protokollführung und eigenständiger Beschlussakten der Gremien, an der Quellenlage. In Städten mit Zunftverfassung wie Ulm und Rottweil waren gemäß den Formulierungen in den erlassenen Satzungen im Spätmittelalter häu g der Große Rat oder die Gemeinde zusammen mit dem Rat und den Bürgermeistern an der Gesetzgebung beteiligt.⁶⁸⁵ Verschiedenartig und häu g unklar sowie einem Wandel ausgesetzt war die Bedeutung der Äußerung oder Willensbekundung seitens des Großen Rates. Während etwa der Schöffenrat Straßburgs, wurde er tatsächlich einberufen, im Spätmittelalter dann auch die letzte Entscheidung in der ihm vorgelegten Sache traf, geriet er im Verlauf der frühen Neuzeit immer mehr unter die manipulative Herrschaft des Kleinen Rates, der die einheitliche Versammlung verschiedentlich durch die ersatzweise vorgenommene Befragung der einzelnen Zünfte fragmentierte. In Basel hingegen musste in der Ära der Zunftherrschaft der Kleine Rat mit Handwerkermehrheit jeden wichtigen Antrag dem gleichfalls von den Handwerkern mehrheitlich

683 J. R, Für den Gemeinen Nutzen, S. 231–246. 684 R. S, Reden, rufen, Zeichen setzen, S. 173–180. 685 E. I, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht (2.2.–2.4), S. 59 f.

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beherrschten Großen Rat mit seinen 250 bis 282 Mitgliedern vorlegen. Dazu gehörten neben den üblichen Agenden auch Gesandteninstruktionen, Verfassungsgesetze, Stadtfriedensordnungen, neue Steuern und allgemein Geschäfte mit ewigem, d. h. zumindest längerfristigem Charakter. In Nürnberg war der Größere Rat der Genannten dem Kleinen Rat völlig untergeordnet. Zwar nden sich seit 1302 Satzungen, in denen die Mitwirkung der Genannten neben Rat, Schöffen und Schultheiß erwähnt ist, doch drängte der Rat den Schultheißen und die Genannten bis zum späteren 14. Jahrhundert aus der Gesetzgebung heraus, nachdem zeitweise kurzfristig und unbestimmt die Mitwirkung der Gemeinde aufgetaucht war. Seit 1370 wirkten die acht Alten Genannten innerhalb des Kleinen Rates gewissermaßen als Ausschuss der patrizischen Genannten mit. Dr. Scheurl spricht 1516 unbestimmt davon, dass man die ›Sentenz, Meinung und Stimme‹ der Genannten des Größeren Rates nur dann erforsche, wenn man eine Steuer auferlegen, einen Krieg beginnen und die Untertanen vor bevorstehenden Gefahren warnen wolle. Er sieht die Hauptaufgabe des Großen Rats jedoch darin, dass die Mitglieder für die Bevölkerung ostentativ in vorbildlicher Weise die Gesetze des Kleinen Rates befolgen. Regelmäßig erfolgte die Einberufung etwa zur Verkündigung der Regelung des Geleits zu den beiden Frankfurter Messen und zur Bekanntgabe des Steuersatzes der zumindest seit Beginn des 14. Jahrhunderts erhobenen Vermögensteuer (Losung). Kurz nach der Mitte des 15. Jahrhunderts ist von einer Einwilligung in die Steuer (1460) die Rede, doch fasste der Rat demzufolge seinen Beschluss, um ihn dann den Genannten mitzuteilen.⁶⁸⁶ Tendenziell wurden die Mitwirkungsrechte des Großen Rates im Laufe der Zeit immer mehr ausgehöhlt. Gemäß einer Auskunft des Geheimen Rates von der Mitte des 16. Jahrhunderts war es nicht Brauch und entsprach

auch nicht dem speziellen Amtseid der Genannten, dass der Große Rat in den ihm vorgelegten wichtigen Sachen einen förmlichen Beschluss fasste oder gar mit seinen Stimmen den Kleinen Rat majorisierte. Vielmehr p egten die Genannten des Größeren Rats, wenn sie nach dem Gutbedünken des Kleinen Rates tatsächlich um Rat gefragt wurden, ohne Votum die Sache dem Kleinen Rat nach dessen bestem Ermessen, was dem Nutzen und der Notwendigkeit der Stadt entsprach, zur Entscheidung anheimzugeben. Sie bekundeten durch Akklamation oder einen Sprecher regelmäßig ihre Zustimmung.⁶⁸⁷ Vermutlich hütete sich der Rat davor, Maßregeln vorzuschlagen, die bei den Genannten auf ernsthaften Widerstand stoßen konnten, wie es auch genügte, dass aus der Menge kein größerer Widerstand zu kommen schien. Ähnlich verhielt es sich nach Auskunft gegenüber dem Freiburger Stadtschreiber im Jahre 1476 in Nördlingen, wo der Rat mit seinen 32 Mitgliedern in wichtigen Angelegenheiten die Gemeinde mit 200 Angehörigen einberief, ihr die Not darlegte und seine Meinung in der Sache vortrug; dabei beließ es die Gemeinde und redete dem Rat gar wenig in sein Vorhaben hinein.⁶⁸⁸ Auch wenn man annehmen kann, dass der Große Rat Augsburgs nach seiner Etablierung im ausgehenden 13. Jahrhundert und im 14. Jahrhundert, als die Zunftverfassung eingeführt wurde, die größte Bedeutung besaß, so spielte er auch im 15. Jahrhundert nachweislich eine nicht unbedeutende Rolle. Routinemäßig befasste sich der Große Rat mit den vom Kleinen Rat ausgearbeiteten Vorschlägen zur Steuererhebung, zur Höhe der indirekten Steuern und zur städtischen Schuldenaufnahme durch Leibund Erbrenten. Die Beschlussfassung erfolgte in Form einer Umfrage mit offener Abstimmung durch Handzeichen, die angesichts der autoritativen Vorlage und der rangmäßig festgelegten Prozedur seitens der Angehörigen des Großen

686 K. S, Die Genannten, S. 148 f. Staatsarchiv Nürnberg, Ratsbuch 1c, fol. 162. 687 P. S, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs (4.8), S. 57. 688 T. S (Hg.), Die Freiburger Enquete, S. 34.

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Rates den Charakter einer formellen Kontrolle und Mitwirkung hatte. Neben der Vereidigung der Steuermeister und von städtischen Bediensteten war auch das Ausrufen und Austreiben straffällig gewordener Personen aus der Stadt ein Tagesordnungspunkt. Darüber hinaus gab es weitere Fälle, in denen sich der Kleine Rat der Mitwirkung des Großen Rates versichern musste, so als er sich im Jahre 1457 nach einem entsprechenden Beschluss des Kleinen und Großen Rats von 1456 verp ichtete, ohne Wissen des Großen Rates keine Schulden zu machen, oder 1466, ohne Zustimmung des Großen Rates die Verfassungsmodi kationen des SechzehnerAusschusses nicht zu verändern. Der Große Rat untersagte die Aufnahme von Dingbürgern mit speziellen vertraglichen Abmachungen über die Steuerleistung zugunsten der allgemeinen Steuerp icht und regelte die Aufgabe des Bürgerrechts, ferner 1457 die Karenzzeiten für die Wiederwahl von Ratsherren. Mit einer ausgewiesenen Mehrheit von 14 oder 16 Stimmen verbot der Große Rat 1457 die Aufnahme von bäuerlichen Eigen- und Muntleuten durch Patrizier. Er beschloss 1456 Kosteneinsparungen bei Gesandtschaften und Amtsbesoldungen. Ferner fasste der Große Rat 1479 mit wenigstens kurzfristigem Erfolg den verfassungspolitischen Beschluss, den zünftigen Dreizehnerausschuss, der den Kleinen Rat beriet, durch einen größeren Ausschuss (Achtzehner) zu ersetzen und den kleinen Zünften jeweils einen zweiten Sitz im Kleinen Rat einzuräumen, dadurch die Partizipation der Zunfthandwerker gegenüber den Honoratioren zu stärken. Ferner war der Große Rat am Beschluss zur Abschaffung des Ungelds im Jahre 1466 sowie zur Einführung der wöchentlich zu erhebenden ›Zuschlagsteuer‹ von 1475 beteiligt und sollte auch bei Änderung seine Zustimmung geben, ferner bei den Veränderungen des Vermögensteuersatzes (›Steuerverrufe‹) von 1479, 1489, 1500, 1507 und 1509. Außerdem beschloss er zusam-

men mit dem Kleinen Rat 1468 eine Regelung der Höhe der Nachsteuer bei Aufgabe des Bürgerrechts, 1479 eine Ordnung für den Bürgerrechtserwerb und 1505 ein Mandat gegen Missbrauch bei der Aufgabe des Bürgerrechts.⁶⁸⁹ Vermittelte der Große Rat zwischen dem Kleinen Rat als Obrigkeit auf der einen und der Zunftgemeinde sowie der Gesamtbürgerschaft auf der anderen Seite, so ist die Tendenz ersichtlich, dass der Kleine Rat sich in Angelegenheiten, die Kon iktstoff bargen, beim Großen Rat zunehmend die Rückendeckung für seine Entscheidungen suchte, um Unruhen, Protesten und Aufruhr in der Bürgerschaft entgegenzuwirken. In diesen Fällen standen weniger die einzelnen verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Großen Rates im Vordergrund als vielmehr die durch gemeinsame Tagung sinnfällige Funktion, als Einrichtung mit erweiterter mittelständischer Partizipation zur Stabilität der inneren politischen Verhältnisse beizutragen. Die zünftigen Mitglieder des Großen Rates waren als Zwölferausschuss der Zunft insoweit eingebunden und zu Loyalität verp ichtet, als sie hinsichtlich der Voraussetzungen für ihre Wahl dem Rat und der Zunft von Nutzen sein und ihrem Eid gemäß dem Zunftmeister, der zugleich Ratsherr war, mit Rat und Hilfe beistehen, seinen Aufträgen und Geboten in Angelegenheiten von Rat und Zunft sowie den von Rat und Zunft erlassenen Gesetzen und Ordnungen gehorsam Folge leisten mussten. Darin zeigt sich auch die enge Verklammerung von Ratsbelangen und Zunftinteressen. In Wien nahm die Vollversammlung der Gemeinde immer wieder an der Führung der städtischen Geschäfte teil, stellte selbst Anträge und bildete für bestimmte Zwecke einen Ausschuss aus Mitgliedern des Rat, des Äußeren Rats der Genannten und der Gemeinde, der für seine Beschlüsse die Zustimmung der Vollversammlung einholte. Die Durchführung der Beschlüsse oblag dem Rat. Die häu ge Berufung von Vollversammlungen wurde von den Bür-

689 J. R, Für den gemeinen Nutzen, S. 237 f. Zum Ablauf der Verhandlungen und zur Abstimmung im Großen Rat im Jahre 1500; ebd., S. 235 f. Siehe auch die Beschlüsse im Stadtbuch.

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gern als Belastung für ihre erwerbswirtschaftliche Tätigkeit gewertet, sodass Versammlungen auch auf den Sonntag gelegt werden sollten. 4.2.2 Bürgerschaftsausschüsse und Zunftkollegien Große Räte wurden in den Städten primär unter dem Gedanken der repräsentativen Mitregierung eingerichtet; Kontrollfunktionen in Steuer- und Finanzangelegenheiten traten gelegentlich hinzu. Einrichtungen mit Kontrollfunktion waren vor allem temporäre oder ständige Bürgerausschüsse, während andere Ausschüsse wie die auf Lebenszeit bestellten und daher unabhängigen, zudem personell vom Rat getrennten XVer in Straßburg eine Instanz waren, die gesetzgeberische Initiativrechte besaß sowie über die Rechtsordnung und die Verfassung wachte, über Klagen gegen das Amtsgebaren von Ratsherren zu entscheiden und Gutachten zur Revision von Stadtordnungen zu erstatten hatte. Die zünftigen Zweiundzwanziger in Rottweil gestalteten seit 1378 das politische Leben mit, indem sie zwischen der Gemeinde und dem Kleinen Rat informativ und vermittelnd tätig waren und auf diese Weise auf den Rat einwirkten. Mit diesem Kollegium, das aus je zwei Vertretern der Zünfte bestand und sich mit der Anzahl der Zünfte verkleinerte, wurde neben der Zunftgemeinde eine weitere Zunftvertretung geschaffen, um autokratischen Tendenzen des Rats, in dem die 18 Zunftvertreter mehr als eine Zweidrittelmehrheit besaßen, politisch entgegenzuwirken. Auch für dieses Gremium gilt wie für die Straßburger XVer, dass es, obschon wie der Rat in seiner zünftigen Majorität aus der Zunftgemeinde hervorgehend, vom Rat personell gesondert war. Das Rottweiler Kollegium, das bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bestand, hatte die Auf-

gabe, über den Verfassungs- und Friedenszustand der Stadt zu wachen. Es musste vom Rat, dem Obrigkeit und Regierungsgewalt vorbehalten blieben, gehört werden und besaß wie die Gemeinde selbst in wichtigen Angelegenheiten wie Krieg und Frieden oder Rentenverkauf Zustimmungsrechte. Die Zünfte, die als Gemeinde vom Rat gelegentlich auch befragt wurden, gaben den Mitgliedern des Kollegiums die Zusicherung, für sie einzustehen, falls sie wegen der Verteidigung irgendwelcher Rechte von irgendjemandem angegriffen würden. Das hauptsächliche Aufgabenfeld des Kollegiums bestand darin, Anregungen, Forderungen und Beschwerden aus der Bürgerschaft entgegenzunehmen und beim Rat einzureichen. Dadurch wurde es auch zum Mitgesetzgeber und dann als solcher formell in städtischen Satzungen ausgewiesen. Bis zum Jahre 1579 hatte das Kollegium das Recht, die Zunftmeister des Rats so oft und so viel zu befragen, wie es ihm erforderlich erschien. Es kam jedoch auch vor, dass der Rat das Kollegium in Ratssitzungen vortragen und mitberaten, ganz selten sogar mitbeschließen ließ. Gegenüber den zum Bestandteil der Obrigkeit gewordenen Zunftmeistern im Rat avancierte das Kollegium zum eigentlichen Repräsentanten der Zunftgemeinde und spielte vom ausgehenden 16. Jahrhundert an immer wieder eine wichtige Rolle bei Auseinandersetzungen zwischen Gemeinde und Bürgerschaft und dem Magistrat.⁶⁹⁰ Eine ähnliche Funktion besaß in Zürich die 1498 anlässlich einer Verfassungsrevision eingeführte Institution der vier Statthalter, die aus den vier obersten Zunftmeistern gebildet wurde.⁶⁹¹ In Erfurt waren die von der Gemeinde und den Zünften jährlich bestellten Vierherren (1310), die ständigen Sitz im Rathaus hatten und 1322 in den Rat aufgenommen wurden⁶⁹², und in Braunschweig die 28 nicht den Gilden zugehörigen Bürgerhauptleute (1445)⁶⁹³

690 J. L, Reichsstadt Rottweil (2.5.2–2.5.4), S. 53 ff., 79 ff.; A. L, Die Verfassung und Verwaltung der Stadt Rottweil 1650–1806, Stuttgart 1963, S. 57 ff.; E. I, Die städtische Gemeinde, S. 234–237. 691 P. G, Verfassungszustände der Stadt Zürich, S. 39–41. 692 W. G (Hg.), Geschichte der Stadt Erfurt, 2. A., Weimar 1989, S. 66 ff. 693 H. L. R, Unruhe und Aufruhr im mittelalterlichen Braunschweig, Braunschweig 1962.

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Instanzen, die über das politische Leben und die Verfassung wachten und zwischen der Gemeinde und dem Kleinen Rat informativ vermittelten. Die vier von den Zünften gewählten Gemeindeherren (Vierer) Marburgs (1428) sollten zusammen mit den Schöffen und den Ratsherren im Rat Satzung verkünden, Kenntnis von allen Einnahmen und Ausgaben der Stadt erhalten und bei der Rechnungslegung sowie der Festsetzung der Vermögensteuer mitwirken, einen Unterbürgermeister stellen und an der Wahl von Amtsträgern beteiligt sein.⁶⁹⁴ Ähnliche Einrichtungen gab es auch in Mainz mit häu gen Modi kationen im 14. und 15. Jahrhundert. Köln verfügte mit seinen seit dem frühen 15. Jahrhundert belegten Bannerherren als den Vorstehern der Gaffeln über Hüter der Verfassung und Mittler zwischen Rat und Gemeinde, doch kam ihnen diese Rolle, nachdem sie zunächst lediglich Frieden und Eintracht im Rat zu wahren und dadurch das Ratsregime zu stabilisieren hatten, erst seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu. Die Bannerherren durften jedoch zugleich Ratsmitglieder sein, wie auch die spätere Rechnungsdeputation mit dem Rat personell und familial ver ochten, daher nicht strikt unabhängig war.⁶⁹⁵

4.3 Ratsverfassung und Organisation der Ratsregierung 4.3.1 Ratsämter und Ratskommissionen Der Rat hatte in der weitgehend autonomen Stadt nach seinen Aufgabenbereichen differenziert, tatsächlich aber gebündelt, die Regierung und Verwaltung, Gesetzgebung und einen Teil der Rechtsprechung inne. Die Verwaltung war in erster Linie eine politische, weil aus dem Rat selbst heraus gebildete Verwaltung. Der Ratsherr bekleidete ein multifunktionales Amt. Vom Mittelalter bis zum Ende des Ancien Régime war die Regierungs- und Verwaltungsstruktur

der Städte dadurch gekennzeichnet, dass es eine Vielzahl von speziellen Ratsämtern und Ratskommissionen gab, auch eine Vielzahl niedriger städtischer Dienstämter oder halboffizieller Ämter, aber nur wenige höhere Dienstämter, deren Inhaber speziell geschulte, durch Dienstvertrag gebundene und besoldete Fachleute waren. Das waren der Stadt- oder Ratsschreiber und dort, wo es ihn gab, der Stadt- oder Ratsjurist. In wenigen Städten stand auch die Finanzverwaltung außerhalb des Rates. Es war aber ein Charakteristikum der umfassenden städtischen Regierung und Verwaltung, dass sie als Honoratiorenverwaltung dennoch relativ früh den Zustand einer bloßen »Gelegenheitsverwaltung« überwand und »Betriebscharakter« im Sinne kontinuierlichen Zweckhandelns erlangte.⁶⁹⁶ Der im Rat gefasste Beschluss wurde einem der Ratsherren zur Vollstreckung überwiesen. Der deputierte, verordnete Ratsherr, der damit ein ›Amt‹ mit Obliegenheiten und Kompetenzen erhielt, konnte zur weiteren Erledigung der Sache dann auf Hilfspersonal des Rates zurückgreifen, eigenes engagieren oder eventuell auch Bürger aufgrund ihrer Bürgerp icht in Anspruch nehmen. Da auf verschiedenen Handlungsfeldern des Rats immer wieder gleichartige Maßnahmen erforderlich wurden, entstanden ständige behördliche Sonderämter, die jedoch gegenüber dem Rat, der die Regierungsgewalt und prinzipiell alle Geschäfte bei sich konzentrierte, keine Selbständigkeit erlangten. Daneben gab es Aufgabenbereiche, die Ratsherren als Diplomaten nach außen führten und aus denen sich keine festen Ämter herausbildeten, die aber einzelne Ratsherren wegen ihrer besonderen Fähigkeiten, ihrer erworbenen Sachkenntnis und wegen besonderer Beziehungen zu Königtum und Königshof oder zu umliegenden Fürsten, Herren und Städten längere Zeit hinweg bevorzugt ausübten, so etwa im 15. Jahrhundert

694 B.-U. H (Hg.), Quellen zur Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 61, S. 406–411. 695 G. S, Apud populum potestas? 696 M. W, Wirtschaft und Gesellschaft (1.2), S. 597, 28.

Ratsverfassung und Organisation der Ratsregierung

der Nürnberger Jobst Tetzel oder der Frankfurter Walter von Schwarzenberg. Die Fragmentierung des Rates in bedeutende ständige Kommissionen mit geschäftserfahrenen und sozial hervorgehobenen Mitgliedern, die mangelnde Eignung einer größeren Anzahl von Ratsherren und die Überweisung einer Vielzahl von Traktanden an Ausschüsse konnten zur Folge haben, dass der gesamte Rat als Plenarversammlung nur relativ selten, nur noch bei wichtigen Angelegenheiten oder in Fragen der Gesetzgebung in Erscheinung trat, aber auch in diesen Fällen gingen in der Regel mehr oder weniger präjudizierende Vorberatungen in Ausschüssen voraus. In Ulm wurde der Ratsausschuss der Neunherren gebildet, der auch mehr Mitglieder haben konnte. Er stellte zuweilen den ganzen Rat dar und ihm übertrug der Rat viele Sachen zur eigenständigen Erledigung. Die strukturelle Aufteilung des Stadtregiments in einen regierenden Kleinen und Großen Rat bei mehrschichtiger Umsetzung des Kleinen Rates und andererseits in Kommissionen mit lebenslanger Amtstätigkeit als beständiges Regiment führte in Straßburg zu gewissen Ressorteinteilungen, ergab aber auf der Ebene des Rates durch das Zusammenwirken von Kommissionen und Rat eine komplexe Willensbildung. Die Befähigung der Ratsherren war zunächst durch die herrschaftliche Tätigkeit der Ministerialen und die erwerbswirtschaftliche Berufserfahrung begründet. Dadurch, dass bestimmte Amtsträger länger oder auf Lebenszeit im Amt blieben, ergab sich auf empirischer Grundlage eine Professionalisierung. Hinzu kommen einige Ratsherren, die ein Studium der Rechte absolviert hatten. Die umfassende Zuständigkeit des Rates verlangte vom Ratsherrn ungeachtet gewisser Spezialisierungen grundsätzlich Kenntnisse im Rechtswesen, in unterschiedlichen Bereichen der Verwaltung, im Städtebau, in Diplomatie und Militärwesen und bedeutete eine tendenzielle Überforderung, die in der frühen Neuzeit dadurch noch verschärft wurde, dass vielerorts die Zahl der Rats-

697 W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 236–238.

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herren reduziert wurde, und dies bei gleichzeitiger Ausweitung der Kompetenzen und Aufgaben der Magistrate und lebenslanger Amtstätigkeit. Begleitet von einer erhöhten Besoldung und lukrativen Amtsgefällen bedeutete dies einen Übergang zur Professionalisierung und zur Politik als Beruf. Eine weitgehend lebensfüllende Tätigkeit und nicht nur Nebenberuf war Politik für einzelne wichtige Ratsherren bereits im Spätmittelalter. Die Ratsämter und Ratskommissionen – Herren, Deputationen, Schickungen, Boten – die ad hoc, jährlich oder auf Dauer unter den Ratsmitgliedern verteilt wurden, trugen lokal verschiedene Bezeichnungen und waren teilweise unterschiedlich zugeschnitten. Die ad hoc gebildeten Ratskommissionen sollten für den Rat Vorlagen erarbeiten und dadurch helfen, die Ratssitzungen zu verkürzen, gelegentlich eigenständige Entscheidungen treffen. In Lübeck⁶⁹⁷ wurden bei der jährlichen Ratsumsetzung die fünf Großen Ratsämter (Ofzien), welche unter den Ratsaufgaben die älteste Tradition besaßen, und weitere kleine Ämter, die aber deshalb nicht durchgehend unwichtig waren, durch den ersten Bürgermeister verteilt und mit je zwei Ratsherren besetzt. Die kollegiale Besetzung sollte eine Kontrolle gewährleisten. Da die Aufteilung der Ämter unter den Mitgliedern des sitzenden Rates erfolgte, die Zahl aller Ratsmitglieder bei der Idealzahl von 24 tatsächlich zwischen 32 (1301) und 13 (1535) schwankte, standen nicht allzu viele Ratsherren für die Übernahme von Ämtern zur Verfügung. Die führenden fünf Großen Ämter sind 1. die Kämmereiherren, die die zentrale Finanzverwaltung innehatten; mit der im ausgehenden 13. Jahrhundert zunehmenden Delegation der Verwaltung städtischer Einnahmequellen an andere Ämter, die nur die Überschüsse ablieferten, wurden sie zu einer Institution, die für den außerordentlichen Haushalt zuständig war und bankähnliche Funktionen wahrnahm;

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

2. die Weinherren, die den Ratsweinkeller in Ausübung des städtischen Weinhandelsmonopols verwalteten; 3. die Gerichtsherren (Richteherren), die dem Vogt- oder Niedergericht vorsaßen; 4. die Wetteherren, die ursprünglich die Strafgelder und Bußen (Wedden) im Rahmen der Marktgerichtsbarkeit einzogen, sich später zur Gewerbebehörde entwickelten und Aufsicht und Gerichtsbarkeit über Handel, Handwerk, Markt, Handwerksämter, Hafen und Straßen sowie die städtische Polizei in Luxus-, Sitten- und Bausachen sowie in Angelegenheiten des Feuerschutzes ausübten, sofern nicht spezielle Ratsdeputationen wie die Mühlenherren und Bauherren oder Weinherren bestanden; 5. die Marstallherren, die mit der Aufsicht über die Pferde des städtischen Marstalls, über Waffen, Kriegsgerät und die reitenden Söldner betraut waren und im 14. Jahrhundert noch die Polizei und die Gerichtsbarkeit im Landgebiet (Feldmark) der Stadt übernahmen. Die späteren Kleinen Offizien waren die Münzherren, die die städtische Münze kontrollierten, die – seit 1433 vier – Schossherren, die Akziseherren, die Bierherren, die Brotherren, die das Brotgewicht und damit den Preis kontrollierten, die Ziegelhofherren und die vier bis zehn Waisenherren, die zur Kontrolle der Vormünder eingesetzt waren. Neben den fünf Großen Ratsämtern gab es insgesamt etwa 40 mit je zwei Ratsherren zu besetzende kleinere Ämter, sodass Ämter kumuliert werden mussten. In Straßburg gab es unter anderem die Stallund die Allmendherren. Die Aufsicht durch Ämter und Kommissionen konnte sich dabei, wie in Köln, in eine Vielzahl einzelner und kleiner Tatbestände wie das Blaufärben der Stoffe mit Waid (Herren zu der bösen Farbe), den Holzhandel, den Wucher, Spekulation (Meinkauf ), Bußen

für das Zücken von Messern und andere kleinere Gewalttaten (Messerherren) und vieles Ähnliche aufsplittern. Die quantitativen Dimensionen der Honoratiorenverwaltung des Rates sind eindrucksvoll. In Köln waren pro Jahr über 100 derartiger Ämter (1514: 117 Ämter) zu vergeben, damit weit mehr Ämter, als es Ratsherren gab, sodass Ratsherren mehrere Ämter wahrnehmen mussten. Immerhin konnten auch abtretende Ratsherren und Bürgermeister bis zu ihrer Wiederwahl Ämter übernehmen und den sitzenden Rat entlasten.⁶⁹⁸ Augsburg hatte etwa 40 Ratsämter zu besetzen. In Nürnberg umfasste in ausgehender reichsstädtischer Zeit die gesamte Gerichts- und Verwaltungsorganisation von Stadt und Landgebiet 24 zentrale Ämter und 95 Ratsdeputationen. Sämtliche Führungspositionen in diesen Ämtern und Deputationen wurden von den 34 Mitgliedern des Inneren Rates besetzt, »die in einer vielfachen Ämterhäufung alle Schaltstellen der Macht fest in Händen hatten und alle wichtigen Fragen im Rat behandelten«.⁶⁹⁹ In Zürich können 1730 etwa 70 Kommissionen ermittelt werden, 88 waren es im Jahre 1798. In diesen Kommissionen saßen nur wenige Fachleute aus der Bürgerschaft. Die ›Standeshäupter‹ waren durchschnittlich in 12 Kommissionen vertreten, die Angehörigen des Kleinen Rates in drei bis sechs und die Großräte selten in mehr als zwei Kommissionen.⁷⁰⁰ Die Amtszeiten waren in Ulm unterschiedlich. Es gab Ämter, die jährlich oder monatlich wechselten, und solche, die der Amtsträger so lange innehatte, als er das Amt gut versah. Solche Ämter waren Geheime Räte, Stadtrechner, Spital- und Kirchenp eger, Baumeister und Herrschaftsp eger für die Verwaltung des städtischen Territoriums. In Nürnberg nahm man während eines Geschäftsjahres des Rats, das zu Ostern begann, aus dem Kreis der patrizischen Ratsherren insgesamt 26 Bürgermeister, von denen je zwei je-

698 M. G (Bearb.), Beschlüsse des Rates der Stadt Köln 1320–1550, Bd. 2: 1513–1520, S. XI–XX. 699 R. E, Verfassung und Verfassungswirklichkeit in Nürnberg (2.5.3–2.5.4), S. 213 f. 700 P. G, Verfassungszustände der Stadt Zürich, S. 43 ff.

Ratsverfassung und Organisation der Ratsregierung

weils vier Wochen lang amtierten. Hinsichtlich der Geschäftsverteilung unterschied man, grundsätzlich ktiv, aber auch weitgehend real an den im Mittelalter so stark betonten Altersunterschied anknüpfend, zwischen dem Jüngeren Bürgermeister, der aus einer nachgeordneten Familie stammen und älter sein konnte, und dem Älteren Bürgermeister, dem die Erledigung der wichtigen Angelegenheiten und die größere Autorität zukam. Dr. Scheurl stellt ein gewachsenes, aber dennoch ausgeklügelt verschachteltes Herrschafts- und Regierungssystem dar, bei dem Alter und Vornehmheit der Geschlechter, die Regimentsfähigkeit der Familie im Unterschied von der bloßen Ratsfähigkeit, die Amtsfähigkeit im versäulten cursus honorum, der von der Basis eines Amtes in ein weiteres zusätzliches hinaufreicht, sowie Ehre und Prestige korreliert sind. Aus den 26 Bürgermeistern werden 13 zu Älteren und 13 zu Jüngeren Bürgermeistern gewählt, die nach einer zuvor festgelegten Reihenfolge amtieren, wobei zu Scheurls Zeit die Differenz zwischen beiden Gruppen nur noch geringfügig ist. Doch den 13 Älteren Bürgermeistern entnimmt man die sieben obersten Regenten, die man die Sieben älteren Herren nennt, aus diesen wiederum werden die drei Obersten Hauptleute der Stadt gewählt, aus diesen wiederum werden zwei zu Schatzmeistern gemacht, die im Hinblick auf die als Losung bezeichnete Vermögensteuer Losunger genannt werden. Wer von den beiden Losungern als erster ins Amt gelangt, wird im ganzen Rat als der Vornehmste und Oberste erachtet. Die zuletzt ratsfähig gewordenen Familien können es zu keiner höheren Würde als der des Jüngeren Bürgermeisters bringen. Die anderen können an Ehren durch Aufstieg in höhere Ämter ständig zunehmen. Aber es gibt Geschlechter, die nur das Amt des Älteren Bürgermeisters erreichen können. Der Kreis der Geschlechter, die das nächsthöhere Amt bis

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hinauf zu den Losungern erlangen können, verengt sich von Stufe zu Stufe.⁷⁰¹ 4.3.2 Tätigkeitsbereiche und Arbeitsweise Über die Tätigkeit der beiden geschäftsführenden Nürnberger Bürgermeister sind wir dank der Mitteilungen Dr. Scheurls von 1516⁷⁰² und der Befragung des Geheimen Rates der Stadt durch Emissäre des Augsburger und des Ulmer Stadtregiments im Jahre 1548 recht gut informiert. Scheurl zufolge werden die Bürgermeister ›aufs ernsthafteste darauf verp ichtet, ihre Amtszeit dem gemeinen Nutzen zu widmen‹. Der Ältere Bürgermeister hat den arbeitsreicheren Part zu übernehmen. Deshalb kommen die Bürgermeister zu nur wenig Schlaf und haben den größten Teil des Tages auf dem Rathaus und davor auf dem Markt zuzubringen, um Klagen zu hören, Streitfälle beizulegen, bekennende Schuldner zur Zahlung anzuhalten und in Injuriensachen (hedrische sachen) Frieden herzustellen. Der Ältere Bürgermeister hat fremde Gesandtschaften zu empfangen, ihnen Reverenz zu erweisen und ›Verehrungen‹ zukommen zu lassen, ferner eingegangene Schreiben zu öffnen und unabhängig vom Rat zu lesen. Wenn erforderlich, hat er bei Tag und Nacht den Rat einzuberufen. Im tagenden (sitzenden) Rat obliegt es dem Älteren Bürgermeister als Frager in den anliegenden Sachen die Umfrage zu veranstalten, die Stimmen zu sammeln und den Beschluss herbeizuführen, sodann den Ratsbeschluss in eine schriftliche Fassung zu bringen und am Ende der Sitzung den Rat formell zu entlassen. Ohne Erlaubnis des Älteren Bürgermeisters darf niemand im Rat eine Umfrage vornehmen oder initiativ werden – ›etwas auf den Weg bringen‹. Wenn der Geheime Rat der Sieben älteren Herren in wichtigen Angelegenheiten, was häu g geschieht, allein berät, muss stets der Ältere Bürgermeister anwesend sein. Der Jüngere Bürgermeister hat die Aufgabe, in der Zwischenzeit

701 P. S, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs (4.8), S. 79 ff.; Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 11, S. 791 f. 702 Die Chroniken der deutschen Städte, Bd. 11, S. 790 f.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

und während der Ratssitzung öffentlich auf dem Rathaus umherzugehen, Briefe und Bittschriften anzunehmen, sie dem Rat zu übergeben und vorgefallene einfache Streitfälle zu entscheiden. Der Ulmer Gerichtsschreiber Johann Wick erhielt in Nürnberg Ende August 1548 die folgenden Auskünfte. Der Ältere Bürgermeister gehört dem Kreis der Älteren Herren, dem Geheimen Rat, an. Er öffnet alle Schreiben, bringt die an ihn gelangten Beratungsgegenstände vor den Rat, nimmt die Umfrage vor und stellt dann die Mehrheit fest. Ein Stimmrecht hat er nicht, darf aber, wenn er Sachkenntnis hat, Bericht erstatten und sein Gutbedünken äußern.⁷⁰³ Der Jüngere Bürgermeister übernimmt den Verkehr zwischen rechtsuchenden Parteien und dem tagenden Rat und geht zu diesem Zweck im Ratssaal aus und ein. Er hört die Parteien an und entscheidet die Sache, oder er bringt ihr Anliegen dem Rat vor und übermittelt den Entscheid des Rates wieder den Parteien. Wichtige Gesandte (Botschaft) empfängt der Ältere Bürgermeister und übernimmt für sie die Verhandlung mit dem Rat, es sei denn der Gesandte wird auf sein Ersuchen hin vor den Rat gelassen, wo er dann selbst zu reden hat. Außerdem verfügt der Ältere Bürgermeister, ersatzweise einer der Älteren Herren, je nach Delikt die Einweisung von Rechtsbrechern in das Stadtgefängnis. Kleinere Tätlichkeiten und Beleidigungen werden in der Regel von den (fünf ) Herren der Haderstube abgeurteilt, andere Streitfälle oder zweifelhafte Fälle gelangen an den Bürgermeister oder an den Rat. Gegenüber den Informationen, die der Ulmer Gerichtschreiber Wick erhielt, zeigt die schriftliche Stellungnahme der Nürnberger Älteren Herren zu den Fragen Wicks einige Akzentverschiebungen.⁷⁰⁴ Hinsichtlich der Amtsverwaltung werden die beiden Bürgermeister in

ihren Kompetenzen stärker aneinander angeglichen. Dies gilt für die Befugnis und Aufgabe (Macht und Bevelch) durch die Stadtknechte den Rat zu Sitzungen einzuberufen, wie für die Verhandlungen mit fremden Gesandtschaften und das Öffnen der eingegangenen Schreiben. Der Amtsauftrag (Befelch), Rechtsbrecher festnehmen und in Eisen legen oder sonst wie verwahren zu lassen, liegt in erster Linie beim Rat, wie auch sonst deutlich gemacht wird, dass stets der Rat als korporatives Kollegium und originärer Gewalthaber die Entscheidungen trifft und Bürgermeister oder Ratsdeputierte mit der Exekution seiner Beschlüsse beauftragt. Nur bei Fluchtgefahr oder anderen Gefahren haben die Bürgermeister unter Abwägung der Umstände und der Notwendigkeit die Befugnis, den Stadtdienern die Festnahme und Verwahrung zu befehlen, und zwar bis auf die weitere Entscheidung des Rates.⁷⁰⁵ Die Ratsbeschlüsse wurden grundsätzlich den Bürgermeistern mit ihrem zunächst ungegliederten und umfassenden Amtsbereich als den obersten Exekutivbeamten zur Vollstreckung anheimgegeben. Sie führten sie selbst durch, übergaben sie anderen Ratsherren zur Ausführung oder überwachten diejenigen, denen sie vom Rat übertragen wurden. Sie sorgten für die Durchsetzung der städtischen Polizeiverordnungen und Satzungen, verhängten bei geringfügigen Ordnungswidrigkeiten und Delikten die Geldstrafen und ließen sie beitreiben. Ferner oblag ihnen die Aufsicht über die Vollstreckung der Gerichtsurteile, die Leitung der peinlichen Exekutionen und die Aufsicht über die städtischen Gefängnisse. Bei Gefahr im Verzuge trafen die Bürgermeister in eigener Verantwortung die erforderlichen militärischen oder sonstigen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr oder zur Verfolgung von Rechtsbre-

703 Vor allem dann und jederzeit, wenn die Voten des Rates zwiespältig sind. E. N (Hg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung, Nr. 11, S. 87. 704 Ebd., Nr. 11, S. 87–91. 705 Ebd., Nr. 11, S. 89 f. Dr. Scheurl teilt mit, dass das Hadergericht am Montag, Mittwoch und Freitag nachmittags jeweils drei volle Stunden alle schmachsachen und injurien verrechtet und die Gesetzesbrecher bestraft. Die Chroniken 11 (5), S. 796 f. Nach Scheurl gehörten dem Gericht die beiden amtierenden Bürgermeister und die beiden Bürgermeister der vorausgegangenen Amtsperiode sowie ein weiterer Ratsherr an.

Ratsverfassung und Organisation der Ratsregierung

chern, bis der Rat Beschlüsse fasste. Weniger wichtige Angelegenheiten durften sie eigenverantwortlich erledigen. Sie schlichteten kleinere Marktstreitigkeiten, verhängten auf Antrag der Gläubiger die Schuldhaft über geständige Schuldner und erteilten stadtfremden Personen gerichtliches Geleit. Die Bürgermeister wurden in Sachen, die ihnen zur weiteren Vorbereitung oder zur de nitiven Erledigung überwiesen waren, von dem ständigen, aber alle vier Wochen in der personellen Zusammensetzung wechselnden Kollegium der Fünf Herren unterstützt. Es wurde aus den beiden Bürgermeistern selbst und weiteren drei Ratsherren gebildet, zu denen regelmäßig der Jüngere Bürgermeister nach Ablauf seiner Amtsperiode gehörte. Das Kollegium fungierte bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts immer mehr als ein Polizei- und Gewerbegericht. Im Jahre 1470 wurden dann Friedensgerichtsbarkeit und Gewerbepolizei getrennt. Die Fünfer blieben als Gericht für Hadersachen (Injurien) für die Aburteilung geringfügigerer Friedensdelikte (niedere Strafsachen) in mündlicher Verhandlung zuständig, während die Gewerbesachen unter die Kompetenz des neu eingerichteten, aus den städtischen Pfändern aus dem Kreis der Genannten und vier Ratsherren bestehenden Rugamts elen. Ein Ratsausschuss von sechs oder sieben Ratsherren, der sich im 15. Jahrhundert stärker formierte, erörterte einmal in der Woche mit den Bürgermeistern die Geschäftslage sowie die dem Rat zu unterbreitenden Materien und traf wohl auch einige Verwaltungsentscheidungen. Die Losunger nahmen die städtische Vermögensteuer (Losung), ein, verwahrten und verwalteten die Gelder. Zugleich war ihnen die Verwaltung aller übrigen städtischen Einkünfte übertragen. Aus ihrer Kasse bestritten sie auf Anweisung des Rats oder eigenverantwortlich die städtischen Ausgaben. In der Losungstube im Obergeschoss des Rathauses, einem großen Raum am Eingang des Rathaussaals hat-

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ten sie ihr Amtszimmer. Eine doppelte, in der Holzvertäfelung verborgene Geheimtüre führte zu einem schmalen Gang und über eine steinerne Wendeltreppe hinab in einen fast meterdick ummauerten Raum im unteren Erdgeschoss (›untere Losungstube‹), in ein ebenerdig nicht zugängliches feuer- und diebstahlsicheres Gewölbe. Dort war alles verwahrt, was die Stadt an Bargeld und Geldwerten besaß; ferner befand sich dort das Archiv mit den teuer erkauften Privilegien der Stadt, mit Aufzeichnungen der Gesetze und Ordnungen, Schuldverschreibungen, Verträgen, Quittungen, Rechnungen, Briefen und mit den sonstigen Dokumenten, die für die Verwaltung der Stadt von Belang waren, darunter das von den Losungern selbst sorgfältig geführte registrum receptorum et expositorum, in dem alle Ein- und Ausgaben verzeichnet waren. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts beginnend, wurden die wichtigsten Urkunden, an erster Stelle die Privilegien der Könige und Kaiser, in zwei Schränken mit geräumigen Laden untergebracht. Die ›39 Laden‹ des ersten Schranks enthielten die wertvollsten und rechtlich bedeutendsten Urkunden; sie wurden durch ›35 neue Laden‹ des zweiten Schranks mit nachrangigem Schriftgut ergänzt. In einem dritten Behältnis wurde eine größere Menge an Schriftgut seit dem 14. Jahrhundert aus der eigenen amtlichen Tätigkeit der Losunger wie Reverse, einfachere Verträge und Akten untergebracht. Es waren dies die ›153 Laden des 7 farbigen Alphabets‹. Die Bezeichnung kommt von der 1457 angelegten Systematisierung, für die man nicht Zahlen, sondern 21 Buchstaben des Alphabets (ohne J, U, W) nutzte und diese siebenfach durch die Farben Weiß, Grün, Rot, Gelb, Braun, Blau und Schwarz erweiterte.⁷⁰⁶ Die Zahl der Losunger war seit 1386 auf drei festgelegt. Sie wurden wie alle Inhaber von Ratsämtern jährlich durch den Rat gewählt, doch führte die regelmäßige Wiederwahl zu lebenslanger Innehabung des Amtes. Zwei der

706 Norenberc – Nürnberg 1050 bis 1806 (4.5), S. 19, Nr. 68, S. 166 f. Nach dieser Systematik ist heute noch ein Teil des reichsstädtischen Archivguts des Nürnberger Staatsarchivs geordnet.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

Losunger gehörten als die Vorderen Losunger dem Kreis der 26 Bürgermeister an, der dritte war ein Genannter aus den Handwerken, der an der Geschäftsführung nicht teilnahm, sondern als Kontrollinstanz der Masse der Steuerzahler die Korrektheit der patrizischen Finanzverwaltung verbürgen sollte. Der dritte Losunger hatte deshalb während der Geschäftszeiten seinen Sitz in Türnähe, von wo aus er alle Vorgänge im Raum überblicken konnte. Seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts scheint die Kontrollfunktion allerdings zu Repräsentationsfunktionen wie die Begrüßung Eintretender verkümmert zu sein. Die Losunger kannten wie niemand sonst im Rat die Finanzlage nach liquiden Barmitteln, Außenständen und Verbindlichkeiten. Sie waren in der Lage, die ausgabenwirksame Tätigkeit aller Amtsträger der Stadt zu kontrollieren und hatten durch das Archiv einen vollständigen Überblick über die Verwaltung der Stadt. Das Losungeramt war das höchste Vertrauensamt des Rates, zu dem nur Personen von Geschäftserfahrung, Zuverlässigkeit und sozialem Ansehen gelangten, zugleich war es das arbeitsintensivste Amt. Deshalb durften die Losunger in eigener Person nicht erwerbswirtschaftlich tätig sein und erhielten kompensatorisch die höchste Besoldung. Sie verwahrten auch das Gerichtssiegel, der Erste Losunger und der Siegelherr die beiden Stadtsiegel, das große Siegel und das kleine Sekretsiegel, das bevorzugt zum Verschluss von Briefen des Rats gebraucht wurde. Nach den Angaben Dr. Scheurls besaßen sie unter den Amtsträgern die ›höchste Gewalt‹ und Würde; es gab im gesamten Stadtregiment keinen Arkanbereich, der ihnen nicht zugänglich gewesen wäre. Die Losunger waren die maßgeblichen Amtsträger des Rats, die Sieben älteren Herren, denen die beiden patrizischen Losunger angehörten, waren das maßgebende Kollegium. Im 15. Jahrhundert zeigt sich folgende Verschachtelung der höchsten Ämter: Die beiden patrizischen Losunger gehörten zu den Älteren Bürgermeistern, sie nahmen seit 1430 auch zwei Stellen der insgesamt drei Obersten Hauptleu-

te ein, die für die Sicherheit der Stadt zuständig waren, und saßen im Gremium der Sieben älteren Herren. Dr. Scheurl erläutert, dass von der Position der Losunger abgesehen ›alle Gewalt des ganzen Nürnbergischen Regiments‹ in der Hand der Älteren Herren liege, weil durch sie alle geheimen Angelegenheiten (geheimnuß ) erledigt und alle schweren Fälle beratschlagt werden, bevor sie an die anderen Ratsherren gelangen. Dadurch liegt bei ihnen allein die ›höchste Macht‹, während die anderen im Vergleich zu ihnen wenig wissen oder vermögen. Doch macht er eine bemerkenswerte Einschränkung. Obwohl man den Älteren Herren jährlich über alle Einkünfte und Ausgaben Rechnung legen muss, wissen sie dennoch nicht, wie ›reich und mächtig‹ die ›gemeine Schatzkammer‹ oder die Losungstube ist. An weiteren ständigen Ratsämtern, denen teilweise eigene Schreiber zugeordnet waren, gab es die Ämter der Kriegsherren, der Zeugherren, der Landp eger (16. Jahrhundert), der Obersten Vormünder, der Kirchen- und Stiftungsp eger, des Zinsmeisters, der die Nutzungsentgelte für die städtischen Wohnungen und Zinsgüter, der ausgeliehenen Gewerbebetriebe und Verkaufsstätten einzog, des Kornmeisters, der die Vorratshaltung organisierte, und des Baumeisters, der die Verwaltung und Leitung der auf Kosten der Stadt ausgeführten Bauten innehatte. In Nürnberg durfte, wie der Freiburger Stadtschreiber 1476 berichtet, der Baumeister, der sämtliche Bauten betreute, alle großen Vorhaben im Rat vortrug und alle Bauten selbst aufsuchte, als einziges Ratsmitglied im Rat ein- und ausgehen, wann er wollte. Die Sonderämter waren zugleich mit der Gerichtsbarkeit über Verletzungen ihrer Amtsakte betraut. Wahrte in Lübeck – trotz des Umsturzes von 1408 und des Ausgleichs von 1416 – und in Nürnberg der Rat am geschlossensten seine einheitliche Gewalt, musste in Köln der Rat Kompetenzen von den Amtleutekollegien der Sondergemeinden und von der – 1391 endgültig aufgelösten – Richerzeche abziehen, so gibt Straßburg mit seinem schließlich mehrheitlich zünftigen Rat ein Beispiel dafür, wie

Ratsverfassung und Organisation der Ratsregierung

der jährlich wechselnde, seit 1456 zweischichtige Rat und mit ihm die zünftigen Ammeister von ständigen, teilweise völlig verselbständigten Sonderbehörden in den Hintergrund gedrängt wurden und Funktion nach Funktion verloren. Dies geschah durch eine Verfassungsund Verwaltungsreform, die im Wesentlichen 1405 begann und bis 1448 durchgesetzt war.⁷⁰⁷ Im Jahre 1425 wurde eine Kommission mit 84 Mitgliedern zur Revision des Stadtrechts und verschiedener Ordnungen eingesetzt. Ergebnis der Reformen, die im verlorengegangenen so genannten 84er Buch festgehalten wurden, war 1433/34 neben einer Reform der Ratswahl die Einsetzung von drei geheimen Stuben, der XIIIer, XVer und XXIer, die das beständige Regiment aus ehemaligen Ratsmitgliedern bildeten:⁷⁰⁸ 1. Das Kollegium der Neuner, das später zu den Dreizehnern wurde und 1448 eine Ordnung erhielt. Für Kriegsführung, äußere Politik und Diplomatie geschaffen, hatte es sich der Ein ussnahme durch den Rat entzogen und allmählich die Leitung der äußeren und allgemeinen Politik, der gesamten Exekutive in die Hand genommen. Die XIIIer amtierten auf Lebenszeit; die Wahl neuer Mitglieder stand dem Rat, später dem Rat und den XXIern zu. Das Kollegium setzte sich in der Regel zusammen aus vier Consto ern (Patriziern), vier Altammeistern und weiteren vier Zunftangehörigen. Hinzu kamen als Vorsitzende der regierende Ammeister und der jeweils ein Vierteljahr amtierende patrizische Stettmeister (Richter). 2. Das Kollegium der Fünfzehner als eine verfassungsgeschichtlich höchst bemerkenswerte Schöpfung des Jahres 1433. Das Kollegium hatte die Geltung der Privilegien und der Verfassung zu sichern und verwahrte das Original des Schwörbriefs. Es hatte ausweislich seines Amtseides die Ammeister und Ratsherren, die Träger von Gerichts- und Ver-

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waltungsämtern, die Zunftmeister, sämtliche Amtsträger und Diener der Stadt zur Rechenschaft zu ziehen und zu bestrafen, falls sie gegen Ordnungen der Stadt verstoßen hatten. Alle Ratsherren und Amtleute waren verp ichtet, bei den XVern jegliche Verletzung des Buches der Ordnungen zu rügen, und jeder Bürger war dazu berechtigt. Gustav Schmoller spricht deshalb von einem selbständigen »Staats- und Verwaltungsgerichtshof«. Folgerichtig bestand eine vollständige Trennung von der laufenden Verwaltung. Kein Ratsherr oder Amtsträger durfte dem Kollegium angehören, dessen Mitglieder – fünf Consto er und zehn Zunftbürger mit einem Mindestalter von 33 Jahren – auf Lebenszeit amtierten und das sich selbst ergänzte. Die zweite Funktion des Kollegiums war die einer Gesetzgebungskommission mit Initiativrecht. Wenigstens einmal im Jahr sollte das Kollegium die Statutenbücher zur Hand nehmen und sich über Revisionen oder nützliche neue Gesetze unterreden. Bei Anträgen im Großen Rat wurde zunächst das Gutachten der XVer gehört, denen man auch die Redaktion, d. h. die formelle Fassung, des Gesetzes überließ. Andererseits brachte ihr einstimmiges Votum jeden Gesetzesantrag zu Fall. Beim Übergang zur frühen Neuzeit erlangten die XVer anhand der entsprechenden Ordnungen und Gesetze die Leitung der gesamten inneren Verwaltung, des Finanzwesen, der Wirtschafts- und Handelspolitik und der Baupolizei; sie hatten ferner die Oberaufsicht über die Selbstverwaltung der Zünfte, indem sie die Einhaltung der Zunftstatuten überwachten, die zahlreichen Zusätze zu den Zunftbüchern genehmigten und die höchste Instanz der Zunft- und Gewerbegerichtsbarkeit bildeten. 3. Seit Anfang des 15. Jahrhunderts war es Übung geworden, dass der dreißigköp ge so

707 G. S, Straßburg zur Zeit der Zunftkämpfe und die Reform seiner Verfassung und Verwaltung im 15. Jahrhundert, S. 213 ff.; M. A, Gruppen an der Macht, S. 123, 137, 144–148, 244. 708 K. T. E (Hg.),Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte (2.2–2.4), Nrr. 24–26.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

genannte Große Rat seine alten Freunde, d. h. einen Ausschuss verdienter, in Geschäften der Stadt erfahrener Männer, berief, um in zweifelhaften Fällen ihre Meinung zu hören. Zuerst auf fünf Jahre gewählt, wurde jedes wiedergewählte Mitglied als lebenslänglicher Angehöriger dieses Rates der Alten erachtet. Das Kollegium trug den Namen XXIer, die Mitgliederzahl belief sich 1448, als seine Ordnung xiert wurde, bereits auf 32. Damals war es auch bereits üblich, dass ihm sowohl die XIIIer als auch die XVer angehörten, sodass nur wenige Mitglieder noch hinzukamen. Der Ammeister konnte jederzeit die Beiziehung der XXIer verfügen; fünf Mitglieder des Rates konnten sie verlangen. Die Ordnung von 1448 legte fest, dass die XXIer im Rat nicht nur gehört wurden, sondern auch mitstimmten, sodass die Beschlüsse im Namen der Räte und der XXIer ergingen. Damit hatte sich der Große Rat grundlegend verändert. Die Mehrheit bestand aus lebenslänglichen Mitgliedern, deren überwiegender Teil den beiden höchsten Regierungskollegien angehörte. Der ältere Große Rat hatte für sich allein keine wichtigen Beschlüsse mehr zu fassen, auch war er kein Regierungskollegium mehr. Die Ratswahl wurde insoweit reformiert, als nicht mehr die abgehenden Ratsherren ihre Nachfolger bestimmten. Jede Zunft sollte für die Ratswahl fünfzehn Schöffel (Schöffen) haben, die als Wahlgremium den Ratsherrn der Zunft wählten, oder für die Wahl ihre geringere Anzahl an Schöffeln durch geeignete Personen ergänzen. Die neuen Consto er hingegen hatte der abtretende Rat zu wählen. Auf der Verwaltungsebene gab es ferner eine Vielzahl spezieller Ausschüsse, die jeweils mit einem XIIIer, XVer und einem amtierenden Ratsherrn gebildet wurden. Insgesamt ergab sich ein verwirrendes und teilweise konkurrierendes, in Einzelheiten wohlüberlegtes Ge echt von Kompetenzen, das in verschiedenen Fällen die Entscheidungsverfahren in die Länge zog, vielleicht aber in der zeitgenössischen Praxis, die auch von nichtgeschriebenen Gewohnheiten lebte, hand-

habbar erschien. Der Rat wurde aus seiner ursprünglich beherrschen Stellung zugunsten der Geheimen Stuben verdrängt, die wesentlichen Entscheidungen elen vielfach bereits in Ausschüssen. Nur als Gericht betätigte er sich selbständig unter der Bezeichnung Großer Rat. Zur eigentlichen Vertretung der Gemeinde wurde die zünftige Versammlung der 300 Schöffen, wobei jede der 20 Zünfte je 15 Schöffen stellte. Die Schöffen amtierten lebenslänglich und ergänzten sich durch Kooptation. Die Schöffenversammlung war keine beständig amtierende Einrichtung, sondern wurde auf Antrag des Rates zusammengerufen, was nicht häu g geschah, und konnte nur über die vom Rat vorgelegten Gegenstände beraten. Doch traf sie dann – in den wichtigsten Fragen – die letzte Entscheidung, die analog zum Richterspruch Erkenntnis hieß. Der Begriff »Ratsverfassung« deckt, wie die eingehender dargestellten Beispiele zeigen, trotz des Grundmodells recht unterschiedliche Verfassungsentwicklungen und institutionelle Lösungen, auch solche, die bereits die Einheitlichkeit der Ratsgewalt infrage stellten oder sprengten. Hinzu kommen verschiedenartige Formen gemeindlicher und bürgerschaftlicher Repräsentation. 4.3.3 Arbeitsbelastung und Abkömmlichkeit Für den einzelnen Ratsherrn konnten sich vielfältige P ichten und Belastungen anhäufen. Zu den ordentlichen, meist vormittäglichen Ratssitzungen kamen Kommissionssitzungen häu g an Nachmittagen und die Übernahme von sitzungsunabhängigen, selbständig wahrgenommenen Ratsämtern, eventuell Gerichtssitzungen im Stadtgericht, ferner Ritte im diplomatischen Dienst nach auswärts, die in einzelnen Fällen wochen- und monatelang in die Fremde führten und erhebliche Gefahren bedeuteten, militärische Kommandos oder die Aufsicht über das städtische Kontingent, das dem Stadtherrn gestellt wurde. Der Oberstzunftmeister Rieher etwa hatte in Basel im Jahre 1495 neben

Ratsverfassung und Organisation der Ratsregierung

seinem Zunftamt noch weitere dreizehn Ämter in Kollegien und P egschaften inne.⁷⁰⁹ Der Ratseid verp ichtete das Ratsmitglied, die ihm übertragene Aufgabe gewissenhaft zu erledigen und sich dabei durch keine anderen Geschäfte hindern zu lassen; der Dienst für die Stadt hatte absoluten Vorrang. Die Ratstätigkeit war ein Ehrenamt; der Ratsherr hatte grundsätzlich unentgeltlich zu dienen. Das ökonomisch-soziale Ideal einer solchen Honoratiorenverwaltung ist der Müßiggänger, der von täglicher Erwerbsarbeit weitgehend freigestellte Bezieher von Grund- oder Kapitalrenten, der vielleicht nebenher noch Gelegenheitshandel betreibt. In diesem Bereich angesiedelt ist auch noch der Kaufmann, der seine Geschäfte von dem Kontor aus dirigieren und sich trotz seines Erwerbslebens Abkömmlichkeit verschaffen kann und seine Einkünfte durch Rentenbezug abrundet. Der einfache Handwerksmeister, der nur von seinem Arbeitsertrag lebte oder allenfalls einen Gesellen beschäftigte, konnte sich die Ratszugehörigkeit bei starker Beanspruchung in größeren Städten kaum leisten. Dem Streben nach Amt und Würden stehen Amtsverweigerung, die seit dem 13. Jahrhundert mit dem Verlust des Bürgerrechts (Worms) oder mit Beugestrafen bedroht war, und regelrechte Amts ucht aus der Stadt entgegen. Das Stadtregiment bedurfte in Zeiten beschränkter und schwer zugänglicher Bildungsmöglichkeiten und grundsätzlich unbesoldeter Amtstätigkeit einer Honoratiorenverwaltung durch Personen, die, wie Max Weber darlegte, kraft ihres Reichtums ökonomisch in der Lage waren, »kontinuierlich nebenberuflich« die Stadt zu regieren, für die Stadt »leitend und verwaltend ohne Entgelt oder gegen nominalen oder Ehren-Entgelt tätig zu sein«. Da die Amtsträger in einer Honoratiorenverwaltung, »um für die Politik leben zu können,

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ohne von ihr leben zu müssen«, notwendigerweise einen »spezi schen Grad von ›Abkömmlichkeit‹ aus den eigenen privaten Geschäften« besitzen müssen⁷¹⁰, kommt es fast zwangsläug zu einer plutokratischen Selektion der Amtsträger und zu einer sozialen Verengung des Zugangs zum Amt, die zunächst insoweit als politisch unanstößig erscheinen, als die gewählten oder bestätigten, auch lebenslang agierenden Amtsträger eine »soziale Schätzung derart genießen, dass sie die Chance haben, bei formaler unmittelbarer Demokratie kraft Vertrauens der Genossen zunächst freiwillig, schließlich traditional, die Ämter inne zu haben«.⁷¹¹ Im Hinblick auf die beträchtlichen materiellen Belastungen, die sich mit der Amtsführung in einer Honoratiorenverwaltung ergeben, können die plutokratische Selektion und gewisse oligarchische Züge von den Beherrschten ertragen werden und stellen unter derartigen Bedingungen insoweit noch nichts grundsätzlich Verfassungspathologisches dar. In seinem Traktat über die Regierung der Stadt von 1495 widmet Johann von Soest ein Kapitel dem Lohn, den diejenigen verdienen, die eine Stadt und den gemeinen Nutzen gut regieren.⁷¹² Eine geldwerte Vergütung erwähnt er nicht, hingegen stellt er plastisch die hohe und immerwährende Arbeitsbelastung heraus. Der Regierende muss zu allen Zeiten und für jedermann bereitstehen. Er ndet keine Ruhe, zuweilen muss er des Nachts aufstehen und zu den Bürgern hinausgehen. Zuweilen kann er nicht in Ruhe essen, denn wenn er sich gerade niedergesetzt hat, trifft eine Botschaft ein und er muss wieder hinaus, da ihm keine Vertretung aushilft. Er widmet sich der vielen Arbeit mit dem gleichen Eifer, als beträfe sie seine eigenen Angelegenheiten. Dennoch kann er sich bei den groben Mitmenschen, die seine saure Mühe bei Tag und Nacht nicht erkennen, keinen Dank verdienen. Den Lohn erhält er nur vom

709 A. M, Die Ratsverfassung der Stadt Basel von 1521 bis 1798, S. 39 ff., 60 ff. 710 M. W, Wirtschaft und Gesellschaft (1.2), S. 170 f.; E. M, Verfassung und soziale Kräfte, S. 330 ff.; E. I, Obrigkeit und Stadtgemeinde, S. 114 f. 711 M. W, Wirtschaft und Gesellschaft (1.2), S. 170, vgl. S. 546–548. 712 Johann von Soest, Wie men wol eyn statt regyrn sol (1.1), 12. Kapitel, S. 38 f.

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gerechten Gott, der keine gute Tat unbelohnt lässt und der ihn mit der Krone der Seligkeit krönt, die für alle Tüchtigen bereitgehalten wird, die auf Erden gut regieren. Johann Frauenburg spricht in seinen Anweisungen für den Bürgermeister von der Arbeitslast, die diesem keine Ruhe lasse, aber auch von der Befriedigung, die ihm aus seiner Tätigkeit erwachse, und wiederum davon, dass Gott ihm mit einem Sitz im Himmel einen achtbaren Lohn im ewigen Leben geben werde. Die Kölner Ratsherren kamen auf der Treppe, die sie zu ihrem Sitzungsraum führte, an acht Propheten guren vorbei, die jeweils ein Band mit einem Sinnspruch trugen. Auf der letzten Figur heißt es: Qui pro re publica perierunt perpetuo vivere intelligungtur. Die deutsche Übersetzung erläutert: deghene, de hyer vergenclich syn umb des gemeynen besten wille, de sullen alweige leven by goede in ewicheit ind in vroeuden.⁷¹³ Die Windsheimer Rechtsreformation von 1521 zitiert, mit irrtümlichem Bezug auf Platon, Ciceros »De re publica« mit den Worten, ›dass diejenigen, die den gemeinen Nutzen [Cicero: patria] getreulich fördern, erhalten und verwalten, einen sicheren Ort im ewigen Frieden erlangen, den sie mit dem ewigen Gott in ewiger Glorie für immer geniessen werden‹.⁷¹⁴ Diese immaterielle Belohnung, die eine Universalie und zeitgenössische Vorstellung zugleich darstellt, und der Dank für öffentliche Tätigkeiten werden auch von Ratsherren selbst re ektiert. Im ›geheimen Rechenschaftsbericht‹ (hemelik rekenscop) des Braunschweiger Rats von 1406 über die Finanzlage der Stadt

wird dazu ausgeführt: ›Um Gottes willen soll jeder auf die Erhaltung und Besserung der Stadt und der Allgemeinheit (dem gemeynen) sein Sinnen richten, um Gottes und seiner selbst willen, auf dass er den rechten Lohn empfangen werde, das ist das ewige Leben. Wer einer Allgemeinheit dient, der dient niemandem insbesondere, deshalb lohnt ihm hier im zeitlichen Leben auch niemand gesondert, und die Allgemeinheit kann wegen ihrer Mannigfaltigkeit niemandem lohnen. Da keine gute Tat (woldat) vergeblich sein soll, der Dienst an der Allgemeinheit (gemeyne denst) hier aber nicht belohnt wird, wird ihn zweifellos Gott, von dem jegliche gute Tat ausgeht, mit der Freude des ewigen Lebens belohnen.‹⁷¹⁵ Entgelte für geleistete Dienste im Rahmen von Herrschaft und Politik wurden im Mittelalter gestützt auf Heilige Schrift, Vernunft, positives menschliches Recht und Naturrecht jedoch durchaus gerechtfertigt, zunächst als Entschädigung für den Aufwand im Amt und für Erwerbsverluste, in dem Sinne, dass niemand auf seine eigenen Kosten der Allgemeinheit dienen müsse⁷¹⁶, sowie des Rechts auf Lohn für aufgewandte Mühe und Arbeit, nicht zuletzt im Sinne der Heiligen Schrift und des Paulus, dass jeder für seine Arbeit seines Lohnes würdig sei.⁷¹⁷ Daneben gab es den Gedanken der Gesamtalimentierung, wie er für die besoldeten städtischen Dienstämter galt. In einigen Städten waren die regierenden Geschlechter zunächst im Hinblick auf ihre Herrschaftsfunktionen von Vermögensteuern

713 W. S (Hg.), Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung I (2.2–2.4), S. 718, Nr. 335 (Mitte des 15. Jahrhunderts). E. I, Ratsliteratur und städtische Ratsordnungen, S. 305–306, 326. 714 H. H (Bearb.), Die Rechtsreformation des Stadtschreibers Johann Greffinger (2.2–2.4), S. 21; C, De re publica, l. VI, c. 13. 715 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 6, S. 193 f. 716 Vgl. E. I, Reichs nanzen und Reichssteuern (3.1–3.2), S. 57; ., Medieval and Renaissance eories (4.8), S. 30. 717 Dignus est enim operarius mercede sua. Lukas 10, 7; vgl. Matthäus 10, 10; unmittelbar auf das Amt der Vorsteher gemünzt: Timotheus 5, 18. Als die Stadtp eger und Geheimen Räte Augsburgs den Kaiser im Jahre 1551 ersuchten, städtische Einnahmen für die Besoldung der Ratsämter entsprechend der jeweils aufgewendeten Arbeit und Mühe der Amtsträger in Anspruch nehmen zu dürfen, konzedierte ihnen Karl V. die Besoldung, die Augsburger Supplikenmotivation übernehmend, mit dem zusätzlichen Hinweis, dass pillich ain jeder seiner Muehe und Arbait Belonung gewarten möge. E. N (Hg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung, Nr. 16, S. 107 f.; Nr. 15, S. 105 f. Vgl. Nr. 22, S. 137, 139 (Ulm).

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und sonstigen kommunalen Lasten befreit, verloren aber dieses Privileg mit der Herrschaftsbeteiligung der Zünfte.⁷¹⁸ Das Münchener Stadtrechtsbuch von 1347 enthält die Bestimmung, dass die Ratsherren und die Kämmerer zu allen Lasten, wie sie die Bürger trugen, verp ichtet sein sollen, seien es Zölle oder andere Abgaben.⁷¹⁹ In Städten des lübischen Rechts bestand zunächst keine Steuer- und Lastenfreiheit, doch wurde die Befreiung von bürgerlichen Lasten, insbesondere von der Schoss- und Wachtp icht, später eine allgemeine Erscheinung und dauerte bis ins 19. Jahrhundert hinein an.⁷²⁰ Die Diskussion in Straßburg um eine Erhöhung des ›Jahreslohnes‹ oder die Einführung von Sitzungsgeldern macht deutlich, dass es sich darum handelte, Anreize für pünktliche P ichterfüllung zu schaffen und zu verhindern, dass sich Ratsherren aus dem Regiment zurückzogen und Außenstehende sich überhaupt nicht zur Verfügung stellten.⁷²¹ Die Räte und die mit ihnen tagenden XXIer wollte man geneigter machen, überhaupt in der Stadt zu bleiben und an Gerichts- und Ratstagen in den Rat zu gehen. Im Zusammenhang mit der nur von kleinen Kreisen zu tragenden Belastung ist auch der Antrag der Zünfte auf Reduzierung der Ratssitze zu sehen. Karenzzeiten hinsichtlich der Wiederwahl sollten eine Entlastung zugunsten der erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit bringen. Aber selbst Angehörige reicher Nürnberger Geschlechter klagten bisweilen, dass sie über den Geschäften der Stadt ihr eigenes Hauswesen vernachlässigen müssten. Der Berner Kürschner und Fernkaufmann Hans Fränkli klagte um 1470, dass seine langjährigen Dienste für den Stadtstaat als Säckelmeister und Vogt von Lenzburg einen Erwerbsausfall und Schaden von etwa 15 000 Schildtalern verursacht hätten, dass

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er ›um diese Summe reicher wäre, wenn er bei seinem Gewerbe geblieben wäre‹.⁷²² Für zünftige Ratsherren kam hinzu, dass es sich vielfach um die Zunftmeister handelte, die bereits in ihrer Zunft Leitungsaufgaben zu erfüllen hatten. Überbelastungen führten zur Flucht vor dem Amt, und zwar auch bereits auf der Ebene der Zunft. Bereits im 14. Jahrhundert war auf der unteren Ebene der Zünfte im Ulmer Zunftbürgertum die Flucht vor Zunft- und Ratsämtern durch Wechseln der Zunft, begrifflich bereits als Zunftfahren benannt, eine verbreitete Erscheinung, die man zeitweise konzedierte, aber statutarisch wenigstens einzudämmen versuchte.⁷²³ Spektakulär ist die Amts ucht des angesehenen und mächtigen Augsburger Kaufmanns Peter Egen, der Güter in Merdingen besaß und bischö iche Rechte wie das Waagerecht, den Zoll und die Münze sowie vogteiliche und gerichtliche Rechte innehatte und 1442 von Friedrich III. mit dem Titel von Argon geadelt wurde. Im Alter von 24 Jahren wurde er bereits Bürgermeister und hatte fast sieben Jahre ununterbrochen verschiedene Ratsämter inne, als er 1444 nach Ulm zog und von dort aus sein Bürgerrecht in Augsburg aufsagte. Egen begründete seinen Weggang, der wohl auch durch private Streitigkeiten bedingt war, mit der großen Belastung durch städtische Ämter, die dazu geführt habe, dass er in vielen Angelegenheiten seine notwendigen eigenen Belange (nucz und notdurft) und die seiner Kinder habe zurückstellen müssen.⁷²⁴ Erst nachdem ihm der Augsburger Rat, dem der erfahrene und über Augsburg hinaus bekannte und ein ussreiche Politiker unentbehrlich erschien, zahlreiche materielle und bürgerrechtliche Vergünstigungen als Paktbürger und eine Entlastung im Amt in Aussicht gestellt hatte, kehrte er 1445 zurück und wurde in den Jah-

C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm (2.2–2.4), S. 259. F. A (Hg.), Das Stadtrecht von München (2.2–2.4), S. 178, Art. 466. W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 239 f. K. T. E (Hg.), Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte (2.2–2.4), Nr. 125. 126, 289; 206, 207. A. E, Alltag der Entscheidung, S. 17. C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm (2.2–2.4), Nr. 49, S. 47, Nr. 185 c, S. 101, Nr. 265, S. 146. Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 5 (Burkard Zink), S. 403.

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ren 1447 und 1450 nach jeweils zweijährigen Karenzzeiten wieder Bürgermeister, verließ jedoch noch vor Ablauf seiner Amtszeit erneut die Stadt.⁷²⁵ 4.3.4 Aufwandsentschädigungen, Honorierungen und Amtsbesoldung Im Spätmittelalter kamen bestimmte nominelle oder veritablere Entgelte als Entschädigungsleistungen, Teilkompensation für die Vernachlässigung der eigenen Erwerbstätigkeit und Aufwendungen für die Amtsrepräsentation auf: Präsenzgelder (Präsencien, Diäten) oder alternativ Jahresbesoldungen (Lohn, Sold, solarium), Teilhabe an Amtsgefällen (Sporteln), Naturalreichungen, Geldablösungen alter Naturalbezüge, Nutzungen an städtischen Rechten, Vergütungen aus der Tätigkeit im speziellen Amt und in der der freiwilligen Gerichtsbarkeit, die Zuwendung von Anteilen an den vom Ratsamt oder vom Ratsgericht verhängten Strafgeldern.⁷²⁶ Sie erleichterten vielleicht dem Ratsherrn ein Leben für die Politik, die in größeren Städten für herausragende Amtsträger nahezu lebensfüllender Alltag wurde; von der Politik zu leben war, auch wenn die Gesamtbeträge der Bezüge (lübisch ›Emolumente‹, ›Kompetenzen‹) nicht unerheblich waren, keinesfalls möglich. In späterer Zeit wurde die unzureichende Besoldung von Ratsherren und Amtsträgern als Ursache von Korruption betrachtet. In den meisten Städten mit lübischem Recht waren die Ratsmitglieder kompensatorisch von den bürgerlichen Lasten, insbesondere von der Schoss- und Wachtp icht befreit. Daneben wurden die direkt im Dienste der Stadt aufgewendeten Kosten aufgrund von Spesennachweisen ersetzt; bei Ritten nach auswärts gewährte man auch pauschale Tagegelder (Reitgelder). Angesichts der außergewöhnlichen Lebensgefahren, die auswärtige Missionen mit sich

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brachten, wurde etwa in Basel auch die Frage der Versorgung der Hinterbliebenen im Todesfall des Ratsherrn aufgeworfen. Ungewöhnliche oder erfolgreiche Dienste honorierte man mit außerordentlichen Geldgeschenken als Liebungen oder Ehrungen. Die Amtsvergütungen des Ammeisters und der vier Stettmeister in Straßburg sind in ihrem Reversalbrief von 1371 folgendermaßen nach Gruppen differenziert geregelt.⁷²⁷ Damit die fünf Meister die in der Urkunde enthaltenen Artikel über ihre Amtsausübung einschließlich eines Verbots der Vorteilsannahme (miet) ›desto besser einhalten können und desto williger einhalten‹, bekommt jeder von ihnen für die Ratstätigkeit ein Jahresgeld von fünf Pfund Straßburger Pfennigen (10 Gulden). Die vier Stettmeister erhalten zusätzlich als ›Beihilfe für ihre Kosten‹ wöchentlich ein Pfund (2 Gulden) und ferner für ihre aktive Amtstätigkeit von einem Vierteljahr, auf diese Zeit begrenzt, weitere zwei Pfund (4 Gulden) pro Woche ›von der Stadt wegen‹ für ihre erhöhten Kosten während der Amtstätigkeit. Der Ammeister, der das ganze Jahr hindurch sein Amt ausübt, erhält zusätzlich ›als Beihilfe für seine Kosten‹ wöchentlich 30 Schillinge (3 Gulden). Ferner stehen allen fünf Meistern weiterhin die herkömmlichen Amtseinkünfte (Gefälle) zu. Für den Dienst stehen jedem ein Hengst im Wert von mindestens 80 Gulden und ein Pferd von mindestens 40 Gulden sowie zwei Dienstknechte zur Verfügung. In den außergewöhnlich eingehenden und häu g drei unterschiedliche Meinungen referierenden Straßburger Ratschlägen zur Besoldung von Meistern, Ratsherren und Angehörigen der Kommissionen des beständigen Regiments im 15. Jahrhundert⁷²⁸ war Ausgangspunkt die Überlegung, dass die Regierungstätigkeit eine erhebliche Mühe und Arbeit darstelle und große Arbeit ohne Lohn und Dank

J. R, Für den Gemeinen Nutzen, S. 264 f. W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 238–240; H.-J. G, Stadtverwaltung und städtisches Besoldungswesen. Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 9, S. 941 f. K. T. E (Hg.),Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte (2.2–2.4), Nrr. 38, 61, 75, 125, 126, 152, 200–203, 206, 212, 214, 281.

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verdrießlich sei und unwillig mache, wobei unter Lohn kein wirkliches Arbeitsäquivalent zu verstehen ist. Die Mitglieder des Rates, die am meisten beansprucht waren und allein schon drei ordentliche Ratssitzungen in der Woche zu absolvieren hatten, erhielten eine Jahresvergütung von drei Pfund zuzüglich von Gebühren (Ratsgelder) vor allem aus der gerichtlichen Tätigkeit, während die Angehörigen anderer Gremien mit zwei Pfund (4 Gulden) besoldet wurden. Die Alternative war nun eine Erhöhung des Jahressolds auf fünf, sechs oder gar acht Pfund (16 Gulden), oder aber als höhere Remuneration und Anreiz die Einführung von Sitzungsgeldern in Höhe von jeweils einem Schilling. Dem Sitzungsgeld sollte dann ein Strafgeld, das williger und gehorsam machen sollte, in gleicher Höhe bei unentschuldigtem Fernbleiben entgegenstehen. Man wollte die Stadt nicht durch hohe Besoldungen für die Ratsherren belasten, wie dies in anderen Städten geschehe; die Stadt sei auch nicht in der Lage, derart hohe Mittel aufzubringen. Allerdings hatte ein Teil der Straßburger Ratsherren im Jahre 1460, als auf Vorschlag der XVer, denjenigen der XXIer, die nicht zugleich dem Rat angehörten, einen Jahressold von einem oder zwei Pfund zu gewähren, die Auffassung vertreten, dass eine derartige kleine Gabe niemandem, der dazu nicht geneigt sei, einen Anreiz bieten könne, ernsthafter dem gemeinen Nutzen der Stadt zu dienen und seinen Amtseid zu erfüllen, dass sich aber die kleinen Beträge – bei einer damaligen Zahl von etwa 32 Mitgliedern – für die Stadt zu einer großen Summe au aufen würden, denn für die Fundierungen der regelmäßigen Jahreszahlungen von insgesamt etwa 60 Pfund (120 Gulden) seien bei einem Rentenkauf ein Kapital von 1 200 Pfund (2 400 Gulden) mit einer Verzinsung zu 5 Prozent erforderlich. Im Jahre 1482 wurde eine Er-

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höhung des Jahressolds der Ratsherren auf sechs Pfund beschlossen, während später eine Umstellung auf Sitzungsgelder erfolgte und 1506 eine Erhöhung der Gelder von einem Schilling auf sechs Schillinge bei einem Strafgeld von einem Schilling erwogen wurde. Der Straßburger Ammeister, von dem man in der Besoldungsdiskussion von 1460 sagte, dass er Tag und Nacht mit Angelegenheiten der Stadt beladen sei und dabei sein eigenes Geld verzehren müsse, sollte zu seinen drei Pfund (6 Gulden) pro Jahr weitere 5 Pfund (10 Gulden) erhalten, damit er williger seinen Amtsgeschäften nachging. Andere Größenordnungen wurden erreicht, wenn im 14. Jahrhundert der Bürgermeister in Zürich 60 Mark Silber⁷²⁹, in Ulm 40 Gulden⁷³⁰ und in Konstanz sogar 50 Gulden erhielt.⁷³¹ In Basel erhielten die Ratsherren, die bereits im Spätmittelalter täglich außer Samstag und Sonntag Sitzungen abhielten, jährlich 6 Gulden und ein Osterlamm.⁷³² Die Frankfurter Ratsherren und Bürgermeister erhielten für jede Ratssitzung ein Präsenzgeld (presencie), das laut Ratsordnung von 1380 und 1417 einen Turnos (20 Heller) betrug. Bei zwei Sitzungen pro Woche (Dienstag und Donnerstag) konnte ein Ratsmitglied rechnerisch auf maximal 104 Turnosen im Jahr kommen, die bei einem Wertverhältnis von 216 Hellern auf einen Gulden nur etwas mehr als 9½ Gulden entsprachen. Ein Handwerker verdiente im Jahr nicht ganz 60 Gulden. Dabei ist aber zu beachten, dass ein Ratsherr, der zu spät zur Sitzung kam oder sie vorzeitig ohne Erlaubnis verließ, seinen Turnos verlor und einen weiteren als Buße zu zahlen hatte. Falls er ganz ausblieb, wurden sogar zwei Tournosen fällig, während ein Bürgermeister, der die Ratsglocke nicht rechtzeitig läuten ließ, mit drei Tournosen büßen musste. Musste die Zahlung der Buße angemahnt werden,

729 Wie es heißt seiner Treue und Mühsal (arebeit) wegen aus Nutzungen, Zinsen und Vermögen der Stadt. H. ZW/H. N (Hg.), Zürcher Stadtbücher I, 130, Nr. 277 (Bürgermeister Rudolf Brun 1340). Die Besoldung des Bürgermeisters wurde 1383 wieder abgeschafft. Ebd., S. 276, Nr. 77. 730 C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm (2.2–2.4), Nr. 119, S. 71. 731 O. F (Bearb.), Vom Richtebrief zum Roten Buch (2.2–2.4), Nr. 34, S. 10. 732 H.-R. H , Basler Rechtsleben im Mittelalter I (2.2–2.4), S. 15.

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wurde pro Mahnung ein Gulden fällig und ab drei Gulden setzte der Rat die Höhe der Buße fest. Außerdem wurden bei Fehlverhalten während der Ratssitzung kleinere Bußen von jeweils drei Hellern fällig. Für ihre Gerichtssitzungen erhielten die Schöffen pro Sitzung gleichfalls einen Tournos, falls die Sitzung zwei Stunden und länger dauerte.⁷³³ In Köln wurden im Jahre 1341 an Jahresbesoldungen 20 Kölner Mark, später 16 Gulden für den Engen Rat bei drei ordentlichen Sitzungen pro Woche und 8 Gulden für den Weiten Rat bei zwei Sitzungen, zuzüglich eines Quantums an Wein festgelegt, bis 1382 eine Umstellung auf Präsenzgelder in Höhe von 6 Schillingen pro Sitzung erfolgte.⁷³⁴ Jeder der beiden Bürgermeister erhielt immerhin 200 Gulden im Jahr (um 1400).⁷³⁵ Es blieb auch später grundsätzlich bei maßvollen Entschädigungen oder Teilalimentierungen. Ein Maßstab für die Amtsbesoldung von Ratsherren mit häu ger Sitzungstätigkeit und großen Amtsbereichen im 15. Jahrhundert bietet die Bargeldentlohnung der Dienstämter des Stadtschreibers und des Ratsjuristen mit etwa 200 oder 250 Gulden im Jahr. Angesichts der hohen kommunalen Verschuldung beschlossen Kleiner und Große Rat Augsburgs 1456 auf Widerruf, die von Ratsherren wahrgenommenen Ämter der Bürgermeister, Baumeister, Siegler, Steuermeister und Ungelter nicht mehr zu besolden.⁷³⁶ Dr. Scheurl teilt zur Nürnberger Besoldungsstruktur und ihren Prinzipien 1516 mit, dass den Inhabern eines Ratsamtes als Anreiz für eißige Diensterfüllung grundsätzlich ein gleicher Lohn bestimmt sei.⁷³⁷ Ausnahmen betreffen die beiden Losunger und die Sieben älteren Herren. Die Losunger erhalten, wie Scheurl ohne Angabe der Höhe sagt, die beste Besoldung und zwar mit dem zusätzlichen Charakter ei-

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ner Kompensation, weil sie neben ihrer – lebenslangen – Amtstätigkeit sonst kainen handel oder gewerb treiben dürfen. Damit wollte man die Arbeitskraft der wichtigsten und mächtigsten Ratsmitglieder und Amtsträger für das Gemeinwohl reservieren, vielleicht auch als Nebenzweck einen Einsatz öffentlicher Gelder für private Spekulationsgeschäfte verhindern. Tatsächlich erhielten die drei Losunger, die sich in einem vorgerückten Alter befanden, zuzüglich mehrerer Zulagen 1431 ein jährliches Salär von 120 Gulden, das innerhalb von 27 Jahren auf 142 Gulden (1437), 192 Gulden (1445), 242 Gulden (1453) und mit einem beträchtlichen Sprung auf 342 Gulden (1458) anstieg, währen nach einem Ratsbeschluss von 1468 die Besoldung des Losungers aus den Handwerken wegen seines enormen Bedeutungsverlusts auf nur noch 52 Gulden abgesenkt wurde.⁷³⁸ Allerdings erbaten und erhielten die meisten Losunger im 16. Jahrhundert Dispens, um neben ihrem Amt noch Kaufmannsgewerbe treiben zu können. Von den gleichfalls in der Regel lebenslang amtierenden Älteren Herren bezieht nach Angaben Dr. Scheurls jeder jährlich 50 Gulden, außerdem werden ihnen wegen ihres überragenden Ansehens als mächtigste Amtsträger, ›viele gute Amtstätigkeiten wie das Siegeln der Urkunden und Testamente und anderes verliehen, wovon sie großen Nutzen und Gewinn haben‹. Jeder, der sich in Geschäften der Stadt auf Reisen begibt, erhält pro Tag den pauschalen Satz von einem halben Gulden; dieser Tagessatz habe vor Jahren noch einen ganzen Gulden betragen. Die Kriegsherren werden mit 100 Gulden im Jahr besoldet, die 1514 als Amt eingerichteten fünf Landp eger im ländlichen Herrschaftsgebiet mit je 25 Gulden. Der Ältere Bürgermeister erhält für seine Amtszeit von 28 Tagen 8 Gul-

A. W (Hg.), Die Gesetze der Stadt Frankfurt (2.2–2.4), S. 135, 239 (Ratsherren); S. 81, 173 (Schöffen). W. S (Hg.), Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung I (2.2–2.4), S. 32, 41, 87 f., 118 (1382). Ebd., S. 221. C. M (Hg.), Das Stadtbuch von Augsburg (2.2–2.4), Nr. XXXIII, S. 291–293. Zur Besoldung der Ratsherren und Inhaber von Ratsämtern siehe Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 11, S. 793, 797 f., 800–803. 738 P. F, Rat und Patriziat (7.7), S. 86, 133.

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den, der nach Amtsbefugnis, Geschäftstätigkeit und Dignität untergeordnete und weniger belastete Jüngere Bürgermeister 4 Gulden. Die spezielle höhere Besoldung der Älteren Herren und der Bürgermeister begründet Dr. Scheurl mit ihrer außerordentlichen Arbeitsbelastung: dagegen ist fürwar die mühe und arbait so ietlicher haben muß, auch seer groß. Auch wenn sie täglich fast drei ganze Stunden ununterbrochen Rat halten, fallen oft schwere Sachen vor, über die dann die Älteren Herren nach Abtreten der übrigen Ratsherren einen ganzen halben Tag noch beraten müssen. Die Mitglieder des Injuriengerichts der Fünf Herren und die für die Handwerke zuständigen fünf Rugsherren erhalten pro Sitzung 25 Pfennige, die Schöffen des Bauerngerichts 60 Pfennige, die Schöffen des Stadtgerichts 63 Pfennige in Form einer einlösbaren Marke (zaichen). Als Grundentgelt erhält jeder Ratsherr pro Sitzungsbesuch eine Marke, die am Monatsende für 50 Pfennige pro Stück eingelöst wird. Mitte des 16. Jahrhunderts bezogen die Ratsherren vier Schillinge in Gold oder zwölf Kreutzer.⁷³⁹ Kommt ein Ratsmitglied jedoch zu spät zur Sitzung, so hat es jedes Mal zugunsten der Findelkinder vier Pfennige einzulegen; versäumt es die Sitzung, hat es jedes Mal eine früher erworbene Marke wieder herauszugeben. Die acht Handwerker im Rat, von denen ein regelmäßiger Sitzungsbesuch nicht erwartet wurde, erhielten die gleiche Besoldung, doch ging ihnen einer Auskunft im Jahre 1548 zufolge, eine besondere Verehrung in nicht dargelegter Höhe zu, vermutlich wegen ihres Verdienstausfalls, der sie besonders hart traf.⁷⁴⁰ Für den Ratsherrn und Älteren Herrn Christoph Kress lassen sich für das Jahr 1529 zusammengesetzte Einkünfte in der Gesamthöhe von 286 Gulden ermitteln.⁷⁴¹ Die auf eine Gesamtalimentierung angelegte Grundbesoldung der Dienstämter der

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fünf bis sechs nur für den Rat tätigen Ratskonsulenten und der beiden obersten Kanzler lag zur Zeit Scheurls bei je 200 Gulden, die sechs unteren Kanzleischreiber und die Schreiber der Kriegsherren und der Landp eger erhielten je 100 Gulden. Die wirtschaftliche Belastung und die Beeinträchtigung des Erwerbslebens durch das Ratsamt wuchsen, wenn sich eine lebenslange Ratszugehörigkeit bei ständig anwachsenden Aufgaben durchsetzte. In diesem Falle wurde eine Erleichterung der politischen Bürde durch die Mehrschichtigkeit des Rates gesucht, die es dem einzelnen Ratsherrn erlaubte, im Turnus für ein oder zwei Jahre zu pausieren, mit der Einschränkung, dass er dennoch vom amtierenden Rat zu wichtigen Fragen beigezogen werden konnte. Erleichterung konnte dadurch geschaffen werden, dass Entschuldigungsgründe, die unabweisliche Geschäftstätigkeiten betrafen, von Bürgermeister und Rat akzeptiert oder toleriert wurden. Es ist in Nürnberg der Fall vorgesehen, dass sich ein Ratsherr mit Erlaubnis des Bürgermeisters ›eine Zeit lang in seinen Geschäften und Angelegenheiten als Kaufmann‹ aus Nürnberg entfernt.⁷⁴² Die von Kaiser Karl V. geforderten Verfassungsänderungen schrieben den betroffenen süddeutschen Städten 1548 die Perpetuierung der Spitzenämter ohne jährliche Wahlen vor.⁷⁴³ In Ulm sprach der Geheime Rat davon, dass man sich dadurch ein Leben lang gleichsam in ein bürgerliches Gefängnis verstricken ließe. Damit wüchsen die ohnehin vorhandene Neigung und der Brauch von Bürgermeistern und Ratsherren, beim Rat die Erlaubnis einzuholen, sich unter Beibehaltung des Bürgerrechts und Stellung eines Bürgen oder Treuhänders sowie bei fortdauernder Leistung der Steuerp icht auswärts in den Dienst adliger Herren zu begeben oder andernorts dem Erwerbsleben nachzuge-

E. N (Hg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung, Nr. 11, S. 88. Ebd., S. 88. P. F, Rat und Patriziat in Nürnberg (7.7), S. 205. E. N (Hg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung, Nr. 11, S. 89. E. I, Obrigkeit und Stadtgemeinde, S. 96 f.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

hen, um sich und der Familie auf zuträglichere Weise Nutz und Wohlfahrt zu sichern.⁷⁴⁴ Die Augsburger Stadtp eger und der Rat der Stadt machten geltend, dass durch die vom Kaiser verlangte Neuordnung auf eine geringe Anzahl von Personen eine Vielzahl an Ämtern und Geschäftstätigkeiten, eine lebenslange beschwerliche Mühe und Arbeit entfalle, so dass diese wegen der Amtsgeschäfte ihre eigenen Sachen und Geschäfte, letztlich den Khaufmanshandel und Narung, das ganze Erwerbsleben, aufgeben müssten, wofür sie keine Belohnung, sondern nur den Undank des gemeinen Mannes zu gewärtigen hätten. Man befürchtete, dass künftig die Vermögendsten und wirtschaftlich Aktiven die Stadt, ihr geliebtes Vaterland, verlassen würden, um der Amtsbürde mit ihrer unaufhörlichen Dienstbarkeit zu entgehen. Eine rechenschaftsfreie, auf die Ämter zu repartierende Gesamtbesoldung des Regiments aus städtischen Einnahmen bis zu 4 000 Gulden sollte Anreize schaffen, dass die Ratsherren umso williger die Geschäfte der Stadt erledigten und sie und andere ehrbare Bürger darüber hinaus veranlasst würden, ire Kinder in kunftig Zeyt zu dem Studieren und andern Sachen zu dem Regieren dißer Stat dienstlich zu erziehen. Dazu hätten sie keine Ursache, wenn sie nur Mühe und Arbeit und als Ausgleich keine Belohnung zu gewärtigen hätten.⁷⁴⁵ Der qualitative Sprung von dem Gedanken der Entschädigung für Ausfälle im Erwerbsleben hin zur Grundalimentierung für das nunmehr lebenslänglichen und nahezu tagfüllenden Amt zeigt sich daran, dass der Stadt Augsburg von Kaiser Karl V. im Jahre 1551 eine auf die Spitzenämter gemäß der jeweiligen Arbeitsleistung zu repartierende Gesamtbesoldung bis zu jährlich 4 000 Gulden zugestanden wurde⁷⁴⁶, König Rudolf II. (1576-1612) diese Summe 1598 auf 12 000 Gulden erhöhte, von de-

nen 3 000 Gulden anteilig auf die beiden Stadtp eger und 9 000 Gulden auf die übrigen Ratsherren entfallen sollten. Nimmt man denselben Verteilungsschlüssel, so erhielten die Stadtp eger gemäß der Besoldungsbewilligung Karls V. jeweils 500 Gulden. 4.3.5 Ratsordnungen, Ratsliteratur und politisch-rechtliche Ikonogra e 4.3.5.1 Ratsordnungen Der regierende Kleine Rat erlegte sich selbst rigide disziplinierende Ordnungen auf; seltener war daran auch der Große Rat beteiligt. Ansonsten gab es bestimmte Rechtsgewohnheiten.⁷⁴⁷ Die kasuistisch aufgefächerten Verstöße gegen Ratsordnungen waren mit festen Bußen belegt; über schwerwiegendere Verletzungen und Eidbruch urteilte der Rat arbiträr entsprechend der Schwere der Sache. Die Ratsmitglieder waren verp ichtet, auf das Läuten der Ratsglocke hin, nachdem üblicherweise zuvor eine schriftliche oder mündliche Ladung ergangen war, in angemessener Kleidung und pünktlich zur Sitzung zu erscheinen und diese nicht eher zu verlassen, als bis sie ordnungsgemäß aufgehoben wurde. Unpünktlichkeit, unentschuldigtes Fernbleiben, Nichteinhaltung der Sitzordnung und unerlaubtes Verlassen der Sitzung wurden – wie andere Verstöße gegen die Disziplinarordnung – mit Geldbußen bestraft, die rasch die Sitzungsgelder wieder aufzehrten. Wer in eigenen Geschäften außerhalb der Stadt tätig war und deshalb Sitzungen nicht besuchen konnte, musste formellen Urlaub, die Erlaubnis dazu, einholen. In Nürnberg und ähnlich in anderen Städten unterschied man Ladungen beim Gelde, bei denen Säumigen eine Geldstrafe angedroht wurde, und in besonders wichtigen Fällen Ladungen beim Rechten unter Berufung auf die be-

744 E. N (Hg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung, Nr. 18, S. 117, 119; Nr. 20, S. 127. 745 Ebd., Nr. 15, S. 105 f.; vgl. Nr. 16, S. 107 f. 746 Dem Bürgermeister und dem Geheimen Rat in Ulm wurden eine umzulegende Gesamtbesoldung von jährlich 2 500 bis 3 000 Gulden gewährt. Ebd., Nr. 22, S. 137–139; Nr. 15, S. 105 f. 747 Eingehend dazu mit den Quellenbelegen E. I, Ratsliteratur und städtische Ratsordnungen, S. 337–443, 461–479.

Ratsverfassung und Organisation der Ratsregierung

schworene Ratsp icht. Wer eine solche Ladung beim ratsherrlichen Eid versäumte, machte sich des Treubruchs schuldig. Ordentliche Sitzungen wurden in einer großen Stadt wie Nürnberg vormittags an drei Tagen in der Woche – Montag, Mittwoch, Freitag – abgehalten, später täglich. Nachmittags fanden Kommissionssitzungen statt. Die Anzahl der Sitzungen pro Woche variierte nach der Größe der Stadt und dem wachsenden Umfang der Geschäfte. In der kleineren kurpfälzischen Landstadt Neustadt war zu Beginn des 15. Jahrhunderts noch kein fester Sitzungstag bestimmt; Versammlungen sollten zu jeder Zeit und so oft es erforderlich war stattnden. Am Ende des 15. Jahrhunderts wird mit dem Freitag ein fester Sitzungstag mit Sitzungsbeginn im Sommer um sieben und im Winter um acht Uhr festgelegt. Daneben können außerordentliche Sitzungen einberufen werden. Hundert Jahre später erscheinen zwei feste Sitzungen pro Woche erforderlich, die in der Regel jeweils zwei Stunden von acht bis zehn Uhr dauern sollen, damit danach die Ratsherren ihrem Erwerbsleben nachgehen können.⁷⁴⁸ Wer in Nürnberg eine Sache zur Sprache oder zur Beschlussfassung bringen wollte (Anbringen), hatte sich der Vermittlung des die Sitzung leitenden Bürgermeisters zu bedienen (1446), wenig später bedurfte es dazu der förmlichen Erlaubnis des Bürgermeisters, der auch die Umfrage entsprechend der Sitzungsordnung auf den Ratsbänken leitete. Wer abgewiesen wurde, konnte wie jeder, den die Sitzungsleitung nicht zu Wort kommen ließ, einen Ratsbeschluss darüber herbeiführen, ob er gehört werden solle oder nicht. Ein förmliches Quorum für die Beschlussfassung gab es in der Regel nicht, doch galt für wichtige Beschlüsse die vage Bestimmung, dass der Rat ausreichend und mit den maßgeblichen Persönlichkeiten besetzt war. Die mittelalterlichen Amtseide banden Bürgermeister und Ratsherren an die Gesetze der Stadt, sie verp ichten sie zur Wahrung des Gemeinwohls, zur Wahrhaftigkeit, zur unparteiischen und unbestechlichen Amtsführung, zur

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Gerechtigkeit gegen Arm und Reich. Ratsherren und städtische Amtsträger mussten in städtischen Angelegenheiten nach bester Erkenntnis das Beste raten und mit dem Vermögen der Stadt getreulich umgehen. Es war ihnen etwa in Ulm ausdrücklich verboten, sich für Einzelinteressen, für andere als allgemeine Belange einzusetzen. Die Ratsherren hatten die Ordnungen und Gesetze der Stadt zu vollziehen und ihre Amtsaufgaben zu erfüllen, wie es in Straßburg insistierend heißt, ›in allen Teilen, Punkten und Artikeln getreulich, fest, in Ehren und redlich, ohne Verzug, ohne Ansehen der Person, nicht um Ehre und Gut wegen, niemandem zu Liebe oder zu Leide, nicht aus Freundschaft, Feindschaft, Hass oder Neid, nicht um Gewinns oder Verlusts, sondern ausschließlich um des Nutzens und der Lebensinteressen der ganzen Stadt willen‹. Einzelne Bestimmungen der Verfassungsund Ratsordnung galten dem Verbot, dass Vater und Sohn oder zwei Brüder zugleich im Rat saßen, und regelten Fragen der Inkompatibilität zwischen Ratsamt und gewissen städtischen, nicht dem Rat zugehörigen Funktionen wie etwa des Maklers oder Steuerpächters. Wer hinsichtlich bestimmter Agenden aus Gründen der Verwandtschaft und Schwägerschaft, von P egschafts- und Vormundschaftsverhältnissen oder geschäftlicher Beziehungen wegen betroffen war, hatte vor dem entsprechenden Tagesordnungspunkt (Frage) die Sitzung zu verlassen. Befangenheit spielte eine geringere Rolle. Den Ratsherren wurde Verschwiegenheit auferlegt; und es wurde ihnen hinsichtlich bestimmter Angelegenheiten und Entscheidungen strenge Geheimhaltung befohlen und speziell verboten, Insider-Wissen, wie wir heute sagen, an Verwandte, Freunde oder sonstige Interessierte weiterzugeben. Bestechlichkeit und Vorteilsannahme wurden als Verbot in die Amtseide der Ratsherren und sonstigen Amtsträgern aufgenommen und als Eidbruch und Meineid unter harte Strafen gestellt. Die Ausdrücke dafür sind in Straßburg

748 P. S , Verfassungsentwicklung der Stadt Neustadt (2.5.3–2.5.5), S. 77 f.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

und anderen Städten miete und mietwon, die Annahme von Bestechungsgeldern oder Vorteilsgewährungen (miet) und die Erwartung oder das Versprechen von derartigen Gewährungen (mietwan/-won). Zuwendungen speziell an Ratsherren werden ratsmiet, in Ulm ratschatz genannt. Der Ausdruck miet ist der Oberbegriff für die inkriminierten Gaben, Schenkungen und Leistungen jeglicher Art, seien sie groß oder klein. Kaum unterschieden werden so wie im heutigen Strafgesetzbuch (§§ 331–334) Bestechung und Bestechlichkeit für eine Verletzung der Dienstp icht und Vorteilsannahme für eine rechtmäßige Dienstausübung. Anlässlich der Neuordnung des Stadtregiments im Jahre 1433 wurden in Straßburg Bestechung und Vorteilsgewährung nunmehr genauer de niert und in ihren vielfältigen Erscheinungen dargelegt. Bestechung oder Vorteilsgewährung bestehen demnach darin, dass man eine Person durch Zuwendungen, wie es bildhaft heißt, erweicht, d. h. sie gegen ihre ursprüngliche (p ichtgemäße) Absicht für etwas anderes zugänglich macht, sie veranlasst, etwas gegen die Interessen der ganzen Stadt zu tun oder Privatpersonen – zum Nachteil der Allgemeinheit – in ihren Angelegenheiten zu fördern oder ihnen – in fremdem Interesse – hinderlich zu sein. Bestechlichkeit und Vorteilsannahme (miet) bestanden nicht nur in der Annahme von Geld, geldwerten Gegenständen wie Pferde, wollene oder seidene Kleidung oder Harnisch und Nahrungsmitteln wie Salz, Wildbret oder Speisen in welcher Größenordnung auch immer, sondern als mietwon über direkte Zuwendungen hinaus darin, dass man jemandem mit Vorbedacht (mit geverden) etwas zu einem erheblich geringeren Preis zu kaufen gibt, obwohl dieser weiß, dass die Sache von besserer Qualität oder wertvoller ist, oder dass etwas zu einem Preis über Wert gekauft wird. Zu derartigen Gegenständen von Kauf und Verkauf zählen Höfe, Häuser, Äcker Wiesen, Zinse, Pferde, Kleinodien und dergleichen. Unter Bestechung wird auch ein Versprechen künftiger Zuwendungen und Vorteile ver-

standen. Verboten waren auch indirekte Zuwendungen an den Haushalt des Amtsträgers, an dessen Ehefrau und Kinder oder an das Gesinde, an Verwandte oder sonst jemanden. Passive Bestechung sollte als Meineid mit einem Strafgeld von 100 Pfund (200 Gulden) an die Stadt, Verlust des Schöffelamtes und der Ratsfähigkeit und fünährige Stadtverbannung in einer Meile Umkreis geahndet werden; wer nicht in der Lage war, das Geld aufzubringen, sollte von Meister und Rat mit Leib und Gut in Beschlag genommen werden, bis er das Strafgeld bezahlt hatte. Aktive Bestechung war mit 5 Pfund (10 Gulden) und einem Jahr Stadtverbannung zu bestrafen, außerdem sollte der Täter seine Sache vor Rat und Gericht verloren haben.⁷⁴⁹ Der Ammeister durfte nach einer Bestimmung des Schwörbriefs von 1482 seine Amtsstellung nicht dazu ausnutzen, dass er in seinem Haus, auf seiner Stube oder in einem anderen Gebäudeteil auf Kosten der Stadt Baumaßnahmen vornehmen ließ, sondern er hatte auf eigene Kosten fremde Werkleute zu beschäftigen und durfte nicht städtisches Material verwenden. Angesichts von Saumseligkeit in der Behandlung städtischer Angelegenheiten wurde in Straßburg 1456 im Zuge einer Verwaltungsreform angeordnet, dass derjenige, dem eine Sache als Vorsitzender einer Kommission zur Behandlung übergeben wurde, bei Strafe innerhalb von 14 Tagen die Kommissionsmitglieder einberufen, die Sache beraten, erledigen und an den Auftraggeber zurückgeben musste. In Köln hatten die Geschickten, die Angehörigen von Ratskommissionen, widerspruchslos ihren Auftrag anzunehmen und möglichst umgehend, spätestens jedoch gleichfalls binnen 14 Tagen auszuführen, doch überdauerten manche der Schickungen ganze Ratsperioden und wechselten in der Mitgliedschaft. Andere Straßburger Reformmaßnahmen versuchten, die schleppende Behandlung von Rechtssachen im Ratsgericht zu beschleunigen, indem die Zuständigkeiten der gerichtlichen Instanzen streng beachtet, die

749 K. T. E (Hg.),Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte (2.2–2.4), Nr. 24, S. 92–94.

Ratsverfassung und Organisation der Ratsregierung

Zahl der Sitzungen erhöht und die Disziplin der Ratsherren bei der Urteils ndung eingeschärft werden sollten. Eine Reduzierung der Ratssitze sollte die Umfrage verkürzen und die Erledigung der Sachen beschleunigen. In Konstanz wurde dem Rat 1434 zur Förderung einer konzentrierten, intensiven und zügigen Behandlung der städtischen Angelegenheiten strengste Klausur verordnet, so dass er in der Stube eingeschlossen nahezu unter Haftbedingungen tagen sollte. In der Ratssitzung sollte der Ratsherr objektiv, unbefangen, gerecht und ohne affektive Trübung votieren und abstimmen. Er durfte sich im Übrigen nicht in zänkischer, streitsüchtiger Weise äußern, mit provozierenden Ausdrücken, die Groll und Zwietracht hervorriefen; ferner durfte er den anderen nicht Lügen strafen oder dessen Worte verdrehen und abwerten, auch nicht handgrei ich werden. Schwerwiegende ehrverletzende Äußerungen, strä iche Worte im Rat gegenüber anderen Ratsherren sollten in Köln in einigen Fällen mit Turmstrafe und Entzug des Bürgerrechts bestraft werden. Der Ratsherr sollte unmittelbar im Rat, ohne Vorerwägungen außerhalb des Rats, bei seinem Eid und seiner Ehre sowie ohne Arglist votieren, und zwar völlig frei, wie er es gemäß der ihm verliehenen Geistesgaben, nach Herz und Verstand zu erkennen vermochte, nach bestem Gutbedünken, wie er es verstand und Gott es ihm wies und wie es in der Sache gerecht, richtig, redlich und rechtens war. Als zeitloses Gremienproblem erscheint die in nahezu allen Ratsordnungen auftauchende Bestimmung, dass bei Strafe niemand dem Kollegen, der mit seinem Votum an der Reihe war, ins Wort fallen durfte, generell nicht und damit dieser nicht aus dem Konzept geriet. Wer mit der Meinung eines Vorredners übereinstimmte und keineswegs eine andere und neue Auffassung vertrat, sollte sich einer weit ausholenden Begründung enthalten und sich einfach dessen Meinung anschließen, damit die Geschäfte des Rates ohne unnötige Verzögerung vorangebracht werden konnten. In Nürnberg wurde die Umfrage nicht selten nach den substantiellen oder ergänzenden Wortmeldungen der gemäß ihren Äm-

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tern ranghöchsten Ratsmitglieder abgebrochen und abgestimmt. Allerdings wurde jedem Ratsmitglied sein Votum vorbehalten. Um wichtige Entscheidungen gegen nachträglichen Protest abzusichern, mussten durch eine allgemeine Umfrage (gemeine Frage) alle Anwesenden befragt werden. Der Ratsbeschluss kam durch Abstimmung und, falls keine Einmütigkeit erzielt wurde, zunehmend durch die Ermittlung der einfachen Mehrheit zustande; in weniger wichtigen Angelegenheiten und bei einem eindeutigem Meinungsbild konnte die Abstimmung entfallen. Wenn ein Ratsherr nach einer Kölner Ordnung von 1443 und ihrer Bestätigung durch den Trans xbrief von 1513 (Art. 29) innerhalb einer Ratssitzung etwas äußerte, das die Ehre und den Leumund eines Bürgers berührte, sollte man die Worte schriftlich xiert dem übergeben, der sie gesprochen hatte, und auf der Stelle denjenigen kommen lassen, über den sie gesprochen wurden. Der Wortlaut sollte sodann dem Betroffenen vorgelesen, der Urheber zum Wahrheitsbeweis innerhalb dreier Monate aufgefordert werden. Konnte er den Beweis nicht erbringen, sollte er durch die Ratsherren sein Leben lang vom Rat, von allen Ämtern und Amtsaufträgen ausgeschlossen werden. 4.3.5.2 Regierungslehren und Ratsspiegel Die Herrschaft und Regierung des Rats blieb nicht unre ektiert. Elemente der satzungsrechtlichen Ratsordnungen erfuhren nach verschiedenen Seiten hin eine gedankliche Vertiefung. Gebildete oder gelehrte Zeitgenossen de nierten das Wesen der Stadt, charakterisierten die besondere menschliche Species des Stadtbürgers und beschrieben die Amtsaufgaben von Rat und Bürgermeister. Sie benannten die Amtsp ichten, stellten Amtsdelikte heraus, richteten Verhaltensanforderungen an die Amtsträger und erörterten die Zusammenarbeit im Rat und das Verfahren, wie man durch vernünftige, affektfreie und methodische Überlegungen zu Beschlüssen im Sinne des Gemeinwohls gelangen konnte. Es handelte sich dabei um universale Fragen der Beratung, Entscheidungs ndung

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

und des Richtens, für die es aus unterschiedlichen Quellen vielfältige Antworten gab. In den Blick genommen wurden auch die erforderlichen charakterlichen Voraussetzungen und die erforderliche Befähigung für das Amt, das richtige Alter, die gesundheitliche Konstitution und die materiellen Verhältnisse der Amtsinhaber, die von mittlerem Zuschnitt sein sollten, sowie Erscheinungsbild und Verhalten der Regierenden in der Öffentlichkeit. Die Autoren entfalteten ihre Politologie, Soziologie, Psychologie und Verantwortungsethik für das Stadtregiment auf der Grundlage breiterer frühumanistischer Lektüre oder von Florilegiensammlungen sowie anhand eines Leitkompendiums wie des aristotelisch geprägten und außerordentlich erfolgreichen Fürstenspiegels »De regimine principum« (um 1280) des Aegidius Romanus, der aber mit der civitas und res publica das Gemeinwesen schlechthin in den Blick nimmt. Hervorzuheben sind die Ratsgedichte (1399) des Johannes Rothe, mehr noch seine in »Johann Purgoldts Rechtsbuch« eingegangene Abhandlungen über den Rat (um 1485), einzelne Ratsspiegel, die Anweisungen des Görlitzer Stadtschreibers Johannes Frauenburg für den Bürgermeister (1476), der Verstraktat mit umfangreichen gelehrten Prosaerläuterungen (declarationes) des Johann von Soest »Wie men wol eyn statt regyrn sol« (1495) oder auch das Liegnitzer Stadtrechtsbuch des Juristen Nikolaus Wurm (nach 1399), der städtisches Recht des sächsisch-magdeburgischen Rechtskreises mit dem römisch-kanonischen Recht zu harmonisieren versucht und dabei auch Funktionen des Stadtregiments erörtert. Die Autoren fußen auf der politischen Weisheit vornehmlich des Alten Testaments und der Kirchenväter, der antiken griechisch-römischen Staatsphilosophie und Ethik hauptsächlich des Aristoteles, Platons, Ciceros und Senecas sowie den viel gelesenen historischen Denkwürdigkeiten des Valerius Maximus (»Facta et dicta

memorabilia«), auf dem römisch-kanonischen Recht und auf Fürstenspiegeln des omas von Aquin (»De regimine principum«) und nachfolgend des Aegidius Romanus und Petrarcas. Gelehrte Erkenntnisse und Maximen waren mehr oder weniger in die empirische städtische Lebenswelt und in städtische Verfassungsverhältnisse eingebettet. Das Verhalten der Ratsherren in Rat, Gericht, in der Öffentlichkeit und gegenüber den Mitbürgern sind auch Gegenstände der Ständedidaxe und scharfen Satire wie etwa in des »Teufels Netz« (um 1420), das von bestechlichen Richtern, parteiischer und schikanöser Rechtsprechung zugunsten Reicher sowie von inkompetenten, opportunistischen, habgierigen, bestechlichen, rachsüchtigen und aufgeblasenen Ratsherren handelt.⁷⁵⁰ 4.3.5.3 Politisch-rechtliche Ikonogra e Den Ratsherren wurden in Gerichtsstuben und Ratssälen durch Fresken mit bezeichnenden Tituli und erläuternden Inschriften, durch Wandteppiche, Glasfenster, Tafelbilder und plastische Figurenprogramme Beispiele tugendhaften Lebens und Verhaltens, Maximen eines gerechten Regierens und Urteilens (audiatur et altera pars), Mahnungen zu Barmherzigkeit und Milde, Beispiele für Opferbereitschaft, der Vorrang des Gemeinwohls, die Sorge für die Einheit und Eintracht der Bürger sowie für die Erhaltung der Ehre der Stadt vor Augen geführt, oder es wurde ein Bezug zu König, Kurfürsten und Reich hergestellt. Quellen für die Ikonogra e sind die Bibel, Historien, das Recht, Philosophie und auch Figuren aus der hö schen Literatur wie die »Neun guten Helden« aus einer französischen Alexanderromanze, die bildlich neben dem Kölner Ratssaal aber auch die Zunftstube der Augsburger Weber zierten. Weltgerichtsdarstellungen erinnerten die Ratsherren und Richter daran, dass sie wegen ihrer gerichtlichen Tätigkeit dereinst selbst vom höchsten Richter am Jüngsten Gericht zur Rechenschaft gezogen würden. Im Hinblick darauf, dass sie sowohl nach der

750 E. I, Ratsliteratur und städtische Ratsordnungen, S. 236–337, 445–460. Quellenkundlich: H. B/J. van L, Wie man eine Stadt regieren soll.

Ratsverfassung und Organisation der Ratsregierung

Strenge des Rechts als auch ›nach Gnade‹ richten konnten, verwiesen Deesis-Gruppen mit Christus als dem Weltenrichter zusammen mit Maria und Johannes dem Täufer darauf, dass der Mensch der Fürbitte und Gnade bedurfte. Hinzu kommen als Gerechtigkeitsbilder Gerichtsszenen, Schwurbilder und Darstellungen richterlichen Urteilens wie dem Salomons oder des Kambyses über den bestechlichen Richter, des Falles der Susanna im Bade und historiographisch oder mythologisch überlieferte Gerechtigkeitstaten von Herrschern und Heroen in Antike und Mittelalter.⁷⁵¹ 4.3.6 Ratselite oder Ratsoligarchie? Der verfassungsrechtliche, soziale und politische Charakter von Ratsregimen Angesichts fehlender, geringer oder maßvoller Entgelte und des Sachverhalts, dass es keines größeren Apparats an vollalimentierten Verwaltungsfachleuten bedurfte, im Hinblick auf penible Spesenabrechungen und die immer wieder anzutreffenden Bemühungen um Einsparung von Kosten war die mittelalterliche Honoratiorenverwaltung vergleichsweise preisgünstig. Steuerfreiheit als Entschädigung für Ratstätigkeit wurde abgeschafft. Erst im Verlauf der frühen Neuzeit wurden die Besoldungen auch inationsbereinigt lukrativer. Aufwandsentschädigungen sowie die vielfältige eidliche P ichtbindung, das Votieren und Handeln beim Ratseid und die angedrohte Ahndung von Fehlverhalten als arbiträr zu bestrafenden Eidbruch sowie strenge strafbewehrte Disziplinarvorschriften sollten den immanenten Konsequenzen und Erscheinungen der Honoratiorenverwaltung entgegenwirken, die darin bestanden, dass bedingt durch die Erfordernisse eines für viele doch unabweisbaren Erwerbslebens in bestimmtem Umfang Amtsp ichten vernachlässigt wurden, Ratssitze immer wieder leer blieben.

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Geringe Entgelte und das Problem der Abkömmlichkeit, das die Ratskreise verengte, als Grundtatsachen machten für Korruption und Unterschlagung anfällig, die jedoch vom Rat selbst kriminalisiert und bekämpft wurden, weisen aber nicht den Weg in eine systembedingt oligarchische Ratspolitik, die eine individuelle und zugleich kollektive Ausbeutung des Ratsamtes zum eigenen Nutzen bedeuten würde.⁷⁵² Die Regenten gaben sich in der Regel selbst strenge Disziplinarordnung, begrenzten im Rahmen einer Ausgabenrestriktion und Haushaltskonsolidierung den im Amt zulässigen nanziellen Aufwand, kürzten ihre Aufwandsentschädigungen, schafften Amtsbesoldungen ab und schränkten die auf Kosten der Stadt eingenommenen Mahlzeiten ein. Ratsordnungen untersagten den Ratsherren den Einsatz für partikulare Interessen. Wo bei verschiedenen Gruppen und Schichten oder im Einzelfall über Machtbewusstsein und Zugewinn an Ehre und Prestige durch die herrschaftliche und obrigkeitliche Stellung des Rates hinaus die Motive lagen, eine zeitraubende und grundsätzlich das Erwerbsleben beeinträchtigende Amtstätigkeit zu übernehmen, ist schwer zu sagen. Auf der anderen Seite stand der erfolgreiche frühkapitalistische Homo oeconomicus, der, wie etwa die Fugger, im Interesse des rastlosen Erwerbs bewusst eine zumindest relative Abstinenz vom politischen Amt übte. Hinzu kommt, dass von den Oberschichten, aus denen sich die Ratskreise rekrutierten, analog zu den antiken Leiturgien bestimmte Leistungen zugunsten der Stadt wie das Halten von Kriegspferden oder unverzinsliche Zwangsanleihen verlangt, Investitionen und Überbrückungskredite von Amtsträgern im eigenen Amtsbereich sowie die Übernahme von Repräsentationskosten des Amtes erwartet wurden. Das individuelle und familiale Prestige erforderte es, dass Stiftungen zur Wahrnehmung bestimmter kommunaler Auf-

751 E. I, Ratsliteratur und städtische Ratsordnungen, S. 317–328 (mit Literatur). 752 Zu Frage von Aristokratie und Oligarchie siehe 2.5.4. Die Frage einer Oligarchie wird in der neueren englischen Forschung lediglich äußerst knapp und unentschieden gestreift bei S. H. R/E. E, Government, power and authority 1300–1540, in: e Cambridge Urban History of Britain, vol. I, hg. von D. M. P, Cambridge U. P. 2000, S. 291. Gleiches gilt für die deutsche Forschung.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

gaben und Sozialstiftungen unterschiedlichster Art für Bedürftige außerhalb des eigenen Standes gemacht wurden. Ulmer Regentenkreise sahen angesichts der von Karl V. oktroyierten Rearistokratisierung der Stadtregierung Mitte des 16. Jahrhunderts in anthropologischen Re exionen die Neigung zu Korrumpierbarkeit und Machtmissbrauch zum eigenen Nutzen in der menschlichen Disposition des Einzelnen, waren jedoch der Ansicht, dass die jährlichen Wahlen und die Möglichkeit der Amtsenthebung eine Sicherung dagegen böten. Das Konzept der städtischen Ratsoligarchien, wenn es über die bloße Verengung von Regentenkreisen hinaus etwas bedeuten soll, hat zur Voraussetzung, dass eine Mehrheit des Rats mit einer weitgehend homogenen Klassenlage oder entsprechende Ratskreise zur Bedrückung der übrigen Bevölkerung ihre Klasseninteressen zum eigenen Nutzen gegen das Gemeinwohl durchsetzten, wie im Mittelalter die Oligarchie de niert wurde und wie die »Reformatio Sigismundi« von 1439 polemisch die Politik der Zünfte im Rat diskreditierte. Dass Räte so handeln und das Amtsprestige ausbeuten konnten, ist unbestritten, doch gehört zur Vorstellung, dass mittelalterliche Stadtregierungen Oligarchien seien, dass sie nicht nur hin und wieder, sondern überwiegend so handelten. Jede politische Ordnung hat es mit Spannungsverhältnissen und gelegentlichen Widersprüchen zwischen Sollen und Sein zu tun und bedarf bei der wertenden Betrachtung und Klassi zierung ihrer Form angesichts von Erscheinungen wie Ämterpatronage und Klientelpolitik gewisser Toleranzen hinsichtlich von Abweichungen. Die Beurteilung der Politik der mittelalterlichen Ratsregime bewegt sich angesichts nur eingeschränkter Erkenntnismöglichkeiten und Parteienbehauptungen zwangsläu g unsicher in einer engen Zone zwischen Idealisierung und abwertendem Verdikt. Die Maxime des gemeinen Nutzens ist nicht in den Städten erfun-

den worden, aber keine Gesellschaft des Mittelalters hat wie die städtische mit ihrem dichten wirtschaftlichen und sozialen Verkehr und ihrem ordnungspolitisch-administrativen Denken und Handeln in unermüdlicher Semantik das Gemeinwohl als absolutes Ziel weltlichen politischen Handelns propagiert und damit erstmals zum umfassenden Programm erhoben. Die Maxime des gemeinen Nutzens erforderte eine stärker herausgehobene Stellung des Rates über der Stadtgesellschaft mit ihren partikularen Interessen und forcierte dadurch die obrigkeitlichen Züge des Ratsregimes, das vor allen anderen das Gemeinwohl interpretierte und de nierte. Die Stellung eines Ratsherrn ermöglichte politische, wirtschaftliche, steuerpolitische und rechtspolitische Gestaltungsmöglichkeiten, die als richtig oder falsch wahrgenommen wurden, die interessengeleitet oder Interessen und Sachverhalte abwägend sein konnten. Es ist indessen nicht zulässig, ohne konkrete Anhaltspunkte vom ökonomischen und sozialen Zuschnitt einer Führungsschicht in gleichsam gesetzmäßiger Unmittelbarkeit auf eine eigennützige Interessendurchsetzung ohne Rücksicht auf das sachlich Richtige und Gebotene zu schließen. Dazu sind die institutionellen politischen Prozesse zu kompliziert, ndet auch in manchen Verfassungen eine Rückbindung an die politische Öffentlichkeit, d.h. die Zünfte und die Gemeinde statt, die eine Politik zugunsten des gemeinen Nutzens verlangen, der auch der Nutzen einer Sozialgruppe sein konnte. So mussten etwa die in oberrheinischen Städten in starkem Maße kaufmännisch geprägten Stadträte den engen wirtschaftlichen Interessen der Schiffsleutezünfte nachgeben und damit Entscheidungen treffen, die gegen ihre eigenen Interessen gerichtet waren⁷⁵³, während der mehrheitlich zunftbürgerliche Stadtrat in Straßburg wie andere Stadtregierungen im Interesse einer gesicherten und preisgünstigen Versorgung der Bevölkerung mit den kollektiv preistreibenden Bäckern

753 K. S, Rheinschiffahrt und städtische Wirtschaftspolitik (9.8), S. 141–189.

Ratsverfassung und Organisation der Ratsregierung

oder den Metzgern einen harten und zähen politischen Kampf führte.⁷⁵⁴ Die wirtschaftliche Ordnungspolitik des Rates war ausweislich der Semantik der Gesetzgebung bei lebensnotwendigen Gütern zweifellos weitgehend am gemeinen Nutzen orientiert. Dies gilt auch für andere Bereiche der guten Policey, die der Sicherung der Verkehrsinteressen und der Gefahrenabwehr gewidmet sind bis hin zu Kleider- und Luxusordnungen, denen sich etwa in Nürnberg alle, auch die Regenten selbst, zu unterwerfen hatten. Wo konnte es zu spezi schen Interessenkon ikten kommen, die einer oligarchischen Politik Spielräume eröffneten, ohne dass die Kon ikte sachlich unvermeidbar waren? Wirtschaftliche Kon iktlinien verliefen im Textilbereich zwischen Kau euten, die im Interesse des Fernhandels vermarktungsfähige Produktionsmengen und diese zu niedrigen Einkaufspreise mithilfe von Importen von Halbfertigwaren wie Garn und Leinwand sichern und erzwingen wollten, und Zünften, die bestrebt waren, innerstädtische Erwerbsmöglichkeiten zu erhalten und Preiskonkurrenz von außen abzuwehren, doch pro tierten Exportgewerbe wiederum von den Marktchancen des Fernhandels. Der aus Patriziern und Zunftmeistern zusammengesetzte Augsburger Rat war derartigen Interessenkon ikten, aber auch sachlichen Dilemmata, ausgesetzt. Er musste auch, wie Burkard Zink berichtet, in der In ation der Jahre 1458 bis 1460 gegen die Interessen der Weber und anderer Kreise, die zunächst von der Preissteigerung zu pro tieren schienen, die währungspolitisch richtige Entscheidung nicht zuletzt im Interesse der elementar im Lebensnotwendigen betroffenen kleinen Leute treffen.⁷⁵⁵ Der aus Grundbesitzern und aktiven Kau euten bestehende Nürnberger Geschlechter-Rat wies im Interesse des Exports und freier Handelstätigkeit protektionistische zünftische Wirtschaftsrestriktionen zurück wie auch der patrizische Frankfurter Rat, der den Zünften keine politische Mitsprache gewährte, zur Förderung der beiden inter-

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national ausgerichteten Messen auf einen freien Handel und offenen Markt bedacht war. Zumindest während der Messen sollten den Waren Fremder ohne Rücksicht auf die tendenziell auf Ausschluss gerichteten Absatzinteressen der heimischen Zünfte ungehinderten Zugang gewährt werden. Auch wurde in Frankfurt im Unterschied zu anderen Städten den Zünften der Zunftzwang vorenthalten, sodass Handwerker innerhalb und außerhalb der Zünfte arbeiteten.⁷⁵⁶ Kartellartige Preisabsprachen und Angebotsverknappungen bei Lebensmittelzünften ließen auch Ratsgremien mit zünftiger Mehrheit im Interesse des gemeinen Nutzens nicht zu, sondern bekämpften sie konsequent und nachdrücklich durch partielle Marktöffnungen. Oberschichten und Ratskreise konnten Kapitalien beim städtischen Rentenverkauf, der im Rat zur Finanzierung von Haushalt und Politik nach Umfang und Modalität beschlossen wurde, unterbringen. Im Jahre 1440 war in Nürnberg beinahe, aber doch auch nur der dritte Teil der gesamten öffentlichen Schuld in den Händen der 31 Familien konzentriert, die damals die Ratsherren stellten. Dies war nicht ungewöhnlich, da sie zu den reichsten gehörten. Sie investierten aber bei den kommunalen Renten nicht die höchsten Einzelbeträge. Der Rat war aber darum bemüht, die Rentenfüße im Interesse der Begrenzung der kommunalen Schuld möglichst niedrig zu halten. In vielen Stadtverfassungen verlangte zudem der kommunale Rentenverkauf breiten Konsens durch Mitentscheidung von Gemeindevertretungen. Interessengegensätze rief die Steuerpolitik des Rats hervor, wenn dieser zu Ungunsten wirtschaftlich schwächerer Schichten indirekte Steuern erhöhte oder das schwer zu treffende sowohl sozial gerechte als auch den erforderlichen Ertrag gewährleistende Mischungsverhältnis zwischen Verbrauchs- und Vermögensteuern verfehlte. Die reichen Kölner Ratsherren zogen wie die weiteren vermögenden Kreise zunächst einen unmittelbaren Nutzen daraus, dass

754 Siehe 9.8. 755 Siehe 9.9. 756 M. R, Die Frankfurter Messen (9.3–9.4), S. 57–59.

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sie die kurzfristigen Darlehen und Zwangsanleihen zur Finanzierung der exorbitanten Kosten des Neusser Krieges von 1474/75 nicht durch Vermögensteuern, sondern durch die Erhöhung der in Köln üblichen Verkehrs- und Verbrauchsabgaben und vermehrten Rentenverkauf (Leibrenten) zu tilgen versuchten, dadurch allerdings nach verdecktem Stadtbankrott, ausbleibenden Rentenzahlungen, Münzverschlechterung, steuerlicher Belastung der unteren Schichten und Erschwerungen der Bedingungen für den Handel durch die Zollpolitik 1481/82 einen Aufstand provozierten.⁷⁵⁷ Für die Stadt Nürnberg und ihr Exportgewerbe war es wohl von Vorteil, dass das Nürnberger Patriziat als Regentenstand auch das Spätmittelalter hindurch seinen beherrschenden Reichtum nur zum Teil aus der konsolidierten Quelle großen Grundbesitzes bezog, sondern im Groß- und Fernhandel sowie über den Handelskapitalismus hinaus im gewerblichen Unternehmertum in Metallverarbeitung und Montanwesen große Kapitalien erwirtschaftete. Diese wurden in Grundbesitz und Grundherrschaften im Umland und damit in indirekte städtische Territorialbildung angelegt, aber auch in den Handel und in großgewerbliche, in verschiedenen Fällen ausgesprochen innovative Unternehmungen der Papierproduktion, der Metallverarbeitung und des Montangewerbes reinvestiert. Die großräumigen wirtschaftlichen Aktivitäten der regierenden Ratsherren und Kau eute mit einem weitgespannten privilegierten Handelsnetz von Ungarn und Polen bis zur spanischen Küste und von Lissabon, Genua und Venedig über Lyon bis nach Antwerpen, der Welthandel nach mittelalterlichem Maßstab und nanzielle Potenz ermöglichten die Verbindung von Kapital und technischem Wissen, öffneten den Zugang zur großen Poli-

tik mit Kreditbeziehungen zu Fürsten und Königen, rückten die Stadt in internationale Zusammenhänge und konzentrierten vielfältig verwertbare wirtschaftliche und politische Informationen in Nürnberg. Diese Verbindung von Reichtum und Ratswürde⁷⁵⁸, von wirtschaftlichem Interesse, praktischer Erfahrung und Verankerung im Erwerbsleben, nanziellem Rückhalt, persönlicher Weltläu gkeit und politischem Ein uss zumindest in einzelnen Fällen, kam bei allem Interessenegoismus der Geschlechter auch den nichtpatrizischen Kau euten und dem politisch rigide untergeordneten handwerklichen Bürgertum und seinem örtlichen Exportgewerbe zugute. Der Nürnberger Verwaltung attestierte noch in Zeiten des wirtschaftlichen und nanziellen Niedergangs der Stadt die Rechnungsprüfung am Wiener Kaiserhof 1754 eine korrekte Rechnungsführung. Der von dem wirtschaftlich aktiven Regentenstand im Spätmittelalter gewahrte Zusammenhang von Erwerbsleben und Politik, führte zu einer von kaufmännischem Denken und Gemeinwohlorientierung bestimmten, sowohl interventionistisch-lenkenden als auch zugleich vergleichsweise liberalen und zünftlerischen Kontingentierungs- und Reglementierungsbestrebungen wenig entsprechenden Wirtschaftspolitik, die bis zum Ende des 15. Jahrhunderts die Freizügigkeit nicht durch hohe Abzugsgelder behinderte, um diese Zeit immerhin Zölle drastisch senkte und ohnehin grundsätzlich auf Zollfreiheit bei Gegenseitigkeit setzte. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts gaben einige Nürnberger Ratsherren mit ihren Angehörigen und Familienzweige der um sich greifenden und früher schon die Patriziate anderer Städte wie Ulm erfassenden Adelsideologie nach, die kaufmännisches Erwerbsleben neben den

757 C. v. L-C, Unruhen und Stadtverfassung in Köln an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, in: W. E (Hg.), Städtische Führungsgruppen, S. 57 f., 63–71. Die Kriegskosten sollen sich nach Angaben der Stadt auf die kaum vorstellbare Summe von 800 000 Gulden belaufen haben. Der Ratsherr Gerhard von Wesel versuchte später in den 80er und 90er Jahren, die Schwankungen der Münzwerte für eine Sanierung der Stadt nanzen auszunützen, scheiterte jedoch an seinen Ratskollegen, »da eine solche Finanzmanipulation zu einer Verringerung der Einnahmen der Erbrentenempfänger aus der Oberschicht geführt hätte.« Ebd., S. 58, vgl. S. 60. 758 P. S, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs (4.8), S. 892–899. W. . S, Reichtum und Ratswürde.

Ratsverfassung und Organisation der Ratsregierung

Herrschaftsfunktionen nicht mehr als standesgemäß duldete und den ständisch ambitionierten Patriziern den in größeren Umfang beschrittenen Weg ins Grund- und Kapitalrentnertum verbunden vielleicht mit stillen Teilhaberschaften in Handelsgesellschaften wies. Für andere Familien begann allerdings erst ihre große Zeit. Die Grundrente gewährte zwar eine relativ sichere Kapitalverzinsung, schloss aber eine raschere Kapitalvermehrung aus, sodass wirtschaftlich aktive kaufmännische Kreise das Patriziat an Reichtum, der früheren materiellen Grundlage für den nunmehr stärker ideologisierten Herrschaftsanspruch, über ügeln konnten. Der durch Grundrenten zwar wirtschaftlich sichergestellte Stadtadel war hingegen vielfach auf sparsame Lebensführung und Teilalimentierung durch das Amt angewiesen. Auf der anderen Seite resorbierte die umfassende, die Gewalten bündelnde Herrschaft und wesensmäßig politisch konzipierte Verwaltung des Rates, die wenige Bereiche an eine reine Bürokratie abgab, durch Geschäftszunahme die Zeit in einem Maße, dass für ein Erwerbsleben der aus wenigen exklusiven patrizischen Familien rekrutierten Ratsherren ohnehin immer weniger Raum blieb. Schließlich legten die im 15. Jahrhundert stark gewachsene Bedeutung des römisch-kanonischen Rechts und die Wertschätzung humanistischer Gelehrsamkeit und Bildung eine juristische oder allgemein universitäre Ausbildung für die Mitglieder des Stadtregiments nahe oder machte sie erforderlich, sodass sich für die jungen Patrizier mit ihrer auf eine Tätigkeit im Stadtregiment verengten Perspektive die Persönlichkeitsprägung, der Erfahrungs- und Wissenserwerb weg von den Handelskontoren und den Welthandelsplätzen, nunmehr subventioniert durch Stiftungen und Stipendien, in die Universitäten, aus Sparsamkeitsgründen schließlich in die provinzielle, von Nürnberg im Landstädtchen Altdorf gegründete Universität verlagerte. Der Verlust der wirtschaftlichen Führungsposition und die Abkoppelung vom Erwerbs-

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leben führte in Kreisen des Regiments zu einem Verlust originären wirtschaftspraktischen Wissens und zu einer Trübung der Erkenntnis, dass seit alters Zwischenhandel und Exportgewerbe die hauptsächliche wertschöpfende wirtschaftliche Lebensgrundlage der Stadt bildeten. Mit Bildungsgut gestützte, dem Handel skeptisch gegenübertretende Ressentiments werden erkennbar, wenn ein amtliches Gutachten von 1623 der von der Kaufmannschaft vertretenen Auffassung, wonach die mercatura salus populi sein müsse, mit dem Hinweis begegnete, dass – der handelsfeindliche – Aristoteles und andere Autoren einen durchaus entgegengesetzten Standpunkt einnähmen.⁷⁵⁹ Die Professionalisierung der Regierung durch juristische und akademische Ausbildung war für eine große, weitgehend autonome Stadt, die ihre Unabhängigkeit gegenüber Territorialherrschaften zu behaupten hatte, ein eigenes Territorium und Reibungs ächen mit Nachbarn besaß, sich mit der Kirche auseinanderzusetzen hatte und seit der eingeführten Reformation ein intensiviertes weltliches Kirchenregiment ausübte, die ferner auf Kreis- und Reichsebene etabliert war und vielfältige Außenbeziehungen hatte, in einer zunehmend juridi zierten Umwelt vielleicht unumgänglich. Sie führte aber auch zu einem formalisierten und umständlichen bürokratischen Gebaren und einer autokratischen Regierungsweise, was umso schwerer wog, als sich ein geschlossener, in seiner Lebenserfahrung reduzierter und wenig exibler, teilweise überalterter Regentenstand einem von der Herrschaft weitgehend ferngehaltenen kaufmännischen Kapitalistenstand gegenübersah, der seine Reformbegehren artikulierte. Wenn nichtaristokratische Ratsgremien des Spätmittelalters sich angesichts des Erfordernisses der Abkömmlichkeit und familialer Ambitionen nach anfänglicher Erweiterung plutokratisch unter spezi schen Bedingungen der Wahlverfahren, der Kooptation und lebenslanger Ratszugehörigkeit verengten, kann man bezogen auf diesen Vorgang und in Verbin-

759 P. S, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs, S. 897 mit Anm. 1.

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dung mit eigennützigem politischem Machtstreben von einer Ratsoligarchie, bezogen auf eine am Gemeinwohl orientierte Politik und Verwaltung verbunden mit Opfern der Amtsträger für die Allgemeinheit von einer meritokratischen Ratselite sprechen. Hebt man den verfassungsgeschichtlichen Zug zur obrigkeitlichen Sonderung des Kleinen Rates von der Gemeinde und die Bedeutungsschwäche oder den herbeigeführten Bedeutungsverlust größerer repräsentativer Gremien und Versammlungen hervor, handelt es sich um eine Ratsautokratie. Regiert diese mit Mitteln der Repression weitgehend zu ihrem eigenen Nutzen und im Gegensatz zum gemeinen Nutzen, liegt nach mittelalterlichem Verständnis eine Oligarchie und sogar Tyrannis vor. Der Vorwurf der Tyrannis wurde von einzelnen städtischen Juristen des ausgehenden 15. Jahrhunderts durchaus gegen einen Rat erhoben, der rechtswidrig Bürger mit Strafzahlungen belegte und die Sphäre privatrechtlicher Autonomie verletzte.⁷⁶⁰ Das Ergebnis einer erfolglosen, Schuldenkrisen und steuerliche Belastungen verursachenden autokratischen Regierungsweise sind in schwereren Fällen gewaltsame Aufstände von Opponenten aus der Bürger- oder der Zunftgemeinde. Es ist aber in jedem Fall zu fragen, ob es bei innerstädtischen Kon ikten mehr um die Korruption einzelner Ratsmitglieder und eine verfehlte Ratspolitik als um grundlegende politische Prinzipien geht, um die Revision politischen Fehlverhaltens oder um den Wunsch nach einer strukturellen Änderung des Stadtregiments. 4.3.6.1 Oppositionelle Bewegungen, Unruhen und Aufstände Neben Verfassungskämpfen, insbesondere in der spezi schen Form der Zunftkämpfe⁷⁶¹, gab es immer wieder soziale Proteste und politische Revolten gegen einzelne Maßnahmen und die Politik des Rates, gegen Missstände und eine dem Rat angelastete Misswirtschaft. Gefor-

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dert wurden wie etwa bei Ungeldrevolten die Rücknahme einzelner Entscheidungen, die Abstellung umfangreicher Beschwerden, die Ausweitung der Rechenschaftsp icht des Rates, die Einrichtung bürgerschaftlicher Mitwirkungsund Kontrollgremien oder der Sturz einer für korrupt erachteten Ratsclique, ohne dass prolierte verfassungspolitische Zielsetzungen erkennbar wären, doch sind Abgrenzungen in einzelnen Fällen äußerst schwierig. In den Zusammenhang der innerstädtischen Unruhen gehören auch die Auseinandersetzungen mit Teilen der nichtbürgerlichen Bevölkerung, so etwa mit dem Klerus um das Schulwesen, um Besitz und Wirtschaftstätigkeit der Geistlichkeit in den so genannten ›Pfaffenkriegen‹, wobei es im Falle des Lüneburger Prälatenkrieges zur Absetzung des Rates durch den Papst kam, ferner an Juden verübte Pogrome um die Mitte des 14. Jahrhunderts und schließlich Unruhen und Arbeitsniederlegungen im Gefolge der Gesellenbewegungen. Die Zunftkämpfe, die in Oberdeutschland zur Hauptsache in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts einsetzten, auten zur Mitte des 15. Jahrhunderts hin deutlich ab. Setzten die Zunftkämpfe in Niederdeutschland später ein, so mündeten sie »im hansischen Bereich viel weitgehender in die religiös-sozialen Unruhen der Reformationszeit ein als im Süden«.⁷⁶² Am Ausgang des Mittelalters und zu Beginn der frühen Neuzeit gab es zwar noch Kämpfe bislang ausgeschlossener Gruppen um den Zutritt zum Rat, also primär politische Auseinandersetzungen, doch »die im genauen Sinne sozialen Motivationen der Unruhen und des Protestes gegen die Reichen und die Abhängigkeit von ihnen sind ein neues, bald dominantes Element. Beides, Teilhabe am Rat und sozialer Protest verbanden sich mit der Reformationsbewegung.«⁷⁶³ Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts erfuhr der soziale Protest in den jüngeren Bergstädten eine scharfe Zuspitzung auf

E. I, »Liberale« Juristen? S. 300–312. Siehe 2.6. E. M, Deutsche Städte am Ausgang des Mittelalters (Einleitung), S. 21. Ebd., S. 20. Vgl. auch A. L, Die Volksbewegungen in Deutschland von 1470 bis 1517.

Ratsverfassung und Organisation der Ratsregierung

den Gegensatz von Kapital und Arbeit, personi ziert in den kapitalstarken Montanherren, die in fernen Städten saßen, und der abhängigen, teilweise proletaroiden Lohnarbeiterschaft der Bergknappen, bei denen sich ein Kollektivbewusstsein abzuzeichnen begann. Die Zahl der innerstädtischen Unruhen nahm nach stets zu modi zierenden Statistiken mit 18 in der Zeit von 1511 bis 1520 schubartig zu, stieg dann 1521 bis 1530 erneut auf weitere 45 im Jahrzehnt an und el 1531 bis 1540 abrupt auf vier, während für die Zeit von 1541 bis 1550 keine weiteren Unruhen ermittelt wurden. Die unruhigste Zeit stellten die Jahre vor und während der Reformation von 1511 bis 1530 dar.⁷⁶⁴ Unruhen und Aufstände von Bürgern brachen – soweit sie angesichts einer schwachen chronikalischen Überlieferung in kleinen Städten überhaupt zu ermitteln sind – in der Regel in Mittel- und Großstädten mit ihrer differenzierten, gegensätzlichen und spannungsreichen Sozialstruktur, mit einem erheblichen Vermögensgefälle zwischen den Zünften und innerhalb dieser und einer breiten nichtzünftigen Unterschicht und Stadtarmut aus. Betroffen waren wiederholt Städte mit hoch entwickelten Textilgewerben wie Augsburg, Ulm, Konstanz, Köln und Aachen. Der Ulmer Dominikaner Felix Fabri schreibt 1488, die Weberzunft mit ihren vielen Gesellen sei in der Lage, das ganze Gemeinwesen in Verwirrung zu bringen, wenn sie Aufstände machte.⁷⁶⁵ Zu den Unruheherden gehörten auch Straßburg, Braunschweig, Erfurt, Hamburg, Magdeburg und Rostock. Kleinstädte wurden infolge der Ver echtung von Stadt und Land und ihrer ackerbürgerlichen Ausrichtung später in den Bauernkrieg (1524–1526) verwickelt. In Mittel- und Süddeutschland spielten städtische Gruppen eine wichtige Rolle im Bauernaufstand und in der Führung der Haufen.⁷⁶⁶ Einige Städte wie Speyer, Rothenburg ob der Tauber, Bamberg,

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Weißenburg und Heilbronn schlossen sich den Aufständischen an, vielfach aber gezwungenermaßen und gegen den Willen des Rates wie in Kitzingen und Würzburg. Der ›Bundschuh‹ hatte bereits 1513 in einigen größeren Städten Süddeutschlands Erhebungen ausgelöst. Im Gefolge des Bauernkrieges kam es dann in zahlreichen Städten, in Frankfurt am Main, Speyer, Worms und im niederrheinisch-westfälischen Raum zu Erhebungen, die jedoch isolierte städtische Erscheinungen ohne Verbindung zum platten Land blieben. Sie griffen vielfach von den Armen der Vorstädte – Tagelöhnern, Hilfsbedürftigen, Bettlern – auf die Zünfte über. In der Programmatik der Zünfte, die sich jedoch von radikalen kommunistischen Zielsetzungen der Stadtarmut absetzten und sie gemeinsam mit dem Besitzbürgertum bekämpften, ossen antiklerikale und »neue reformatorische, wirtschaftlich-soziale und die alten politischen Forderungen nach mehr innerer Autonomie« zusammen.⁷⁶⁷ Neben dem Streben wirtschaftlicher und sozialer Aufsteiger und der Zünfte nach Interessenvertretung, politischer Berechtigung und Mitherrschaft gegenüber einer relativ geschlossenen Ratsaristokratie sowie der wachsenden Differenzierung und Polarisierung der Gesellschaft mit dem daraus resultierenden sozialpsychologischen Hass der wirtschaftlich Abhängigen und Armen gegen die Reichen gehörten kommunale Finanzkrisen vor allem infolge von Verteidigungsmaßnahmen und Kriegen zu den wichtigsten Ursachen und bereits zu den Anlässen von Opposition und Aufruhr. Pestzüge, Seuchen und Teuerungen, sofern diese nicht durch Steuererhöhungen verursacht wurden, schufen zwar ein allgemeines Krisenbewusstsein, standen jedoch nicht in einer nachweislichen direkten Kausalbeziehung zu den Aufständen.

764 E. M, Deutsche Städte am Ausgang des Mittelalters (Einleitung), S. 40 mit Anm. 206. Sieht man von der statistischen Dekadeneinteilung ab, so entfallen auf die Zeit von 1509 bis 1514 Unruhen in 19 Städten. 765 Felix Fabri, Tractatus de civitate Ulmensi (1.1), S. 137 (dt. Übersetzung S. 93). 766 R. E, Zünfte und Unterschichten (2.6), S. 168 f. 767 Ebd., S. 169.

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Die Beschwerden gegen das herrschende Ratsregime in verschiedenen Städten im Spätmittelalter und darüber hinaus lassen sich etwa wie folgt summieren:⁷⁶⁸ – Schlechte Finanzverwaltung; unsoziale und untragbare nanzpolitische Maßnahmen zur Finanzierung von Schuldendienst und Schuldentilgung durch Verbrauchssteuern auf lebensnotwendige Güter, durch Erhöhung der Vermögensteuer, außerordentliche Steuern und Einfuhrzölle sowie durch Münzmanipulationen und Währungsreformen; – schlechte Amtsführung und Schädigung der Stadt; Missbrauch von Amt und Macht, Vettern- und Cliquenwirtschaft; Arroganz der Herrschenden; Bildung eines engeren geheimen Rates und Umgehung der Gemeinde in wichtigen Fragen; geheime Bündnisse mit dem Stadtherrn; Geheimniskrämerei im Finanzgebaren; Parteiungen und P ichtvergessenheit; Korruption und Bestechlichkeit; Veruntreuung von Steuermitteln und städtischem Vermögen; Verschwendung durch öffentliche Bauten und zu hohe Besoldung von Ratsbediensteten; Nachlässigkeit in der Verwaltung von kommunalen Einkünften sowie der Aufsicht über Siegel und Stadtprivilegien; Rechts- und Verfassungsverletzungen; Unregelmäßigkeiten bei der Ratswahl; rechtswidrige Gewaltakte gegen Bürger; Begünstigungen durch einseitige Handhabung der Gesetze; Säumigkeit und Parteilichkeit der Rechtsprechung; – verfehlte Außenpolitik sowie kostspielige Kriege, teure und nutzlose Diplomatie; Territorialpolitik über den Bereich der Landwehr hinaus. Gefordert wurden neben der Abstellung der vorgebrachten Beschwerden und Missstände eine Reihe von gewerbe- und handelsrechtlichen Verordnungen, größere Autonomie für

die Zünfte, Maßnahmen für eine funktionsfähigere Verwaltung, eine bessere Information der Bürger über Ratsentscheidungen und städtische Angelegenheiten, Rechnungslegung gegenüber Gemeindevertretungen, die Einrichtung bürgerschaftlicher Mitwirkungs- und Kontrollausschüsse, die Bestellung gemeindlicher Beisitzer zu Ratsämtern und die Beachtung der Bürgerrechte. 4.3.7 Zwischenstädtische Kommunikation über Verfassung, Regierungspraxis, Recht und Polizeigesetzgebung 4.3.7.1 Einzelne Anfragen und informative Rundreisen Städte waren über die Bewidmung mit fremden Stadtrechten hinaus immer wieder in bestimmten Situationen bemüht, die Verhältnisse in anderen, teilweise geogra sch weit gestreuten Städten kennenzulernen, um aus ihnen Anregungen für die Lösung ihrer Probleme zu schöpfen.⁷⁶⁹ Das Interesse an gelungenen Regelungen anderer Städte wurde schon von Zeitgenossen re ektiert. Felix Fabri schreibt in seiner ›Abhandlung über die Stadt Ulm‹ von 1488, die Ulmer durchforschten die Gesetze fast aller Städte und reihten die für sie nützlichen und passenden in die ihrigen ein.⁷⁷⁰ Auf der Grundlage von Erkundigungen über die Zunftverfassung verschiedener Städte kam die Augsburger Zunftverfassung von 1368 zustande. Der um 1251 entstandene Zürcher Richtebrief, der zum Satzungsbuch mit straf-, zivil- und verfassungsrechtlichen sowie baurechtlichen und polizeilichen Regelungen anwuchs, gelangte in den 1280er Jahren nach Konstanz und bildete dort die Grundlage des Konstanzer Richtebriefs, der 1304 eine neue Fassung erhielt. Schaffhausen übernahm 1291 wörtlich den den ersten Teil des Konstanzer

768 Zusammengestellt vor allem nach R. B, P. D, K. M, W. H, C. v. L-C und der Literatur zu 2.6. Zu den ähnlichen Beschwerden gegen Misswirtschaft und autokratisches Gebaren des Rats in der frühen Neuzeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts siehe E. I, Obrigkeit und Stadtgemeinde (4.1–4.3), S. 123–126; ., Die Reichsstadt in der Frühen Neuzeit (3.1–3.2), S. 73–79. Zu Köln siehe noch unten, S. 536. 769 Einzelne Beispiele nden sich auch in N. B, Normative Texte. 770 Felix Fabri, Tractatus de civitate Ulmensi (1.1), Principale V, cap. 1, S. 139 (dt. Übersetzung S. 94).

Ratsverfassung und Organisation der Ratsregierung

Richtebriefs, wobei der Stadtschreiber vergaß, die Ortsbezeichnung Konstanz zu ändern, den zweiten Teil aus der Zürcher Version. Der Rat der Stadt Freiburg im Breisgau wandte sich mit Rechtsanfragen 1353 und 1391 an Köln. Nachdem Karl IV. der Stadt Ulm 1360 das Privileg erteilt hatte, entsprechend dem Privileg für Frankfurt am Main landschädliche Leute nach dem Mehrheitsbeschluss des Rats hinzurichten, bat der Ulmer Rat den Frankfurter um eine Abschrift der Freiheit. Dieser teilte jedoch mit, über keine spezielle Freiheit hinsichtlich der Behandlung verbrecherischer Leute zu verfügen, sondern Übeltäter nach des Reichs, des Gerichts und des Rats Recht und Herkommen, die Könige mit allgemeinen Worten in anderen Privilegien bestätigt hätten, zu bestrafen: ›einen Mörder mit dem Rad, einen Räuber mit dem Schwert, einen Dieb mit dem Galgen, einen Fälscher mit dem Kessel, einen Nachtbrenner und Ketzer mit dem Feuer, bei anderen Verbrechen entsprechend der Tat und mit Mehrheit des Rats‹.⁷⁷¹ Bürgermeister, Schultheiß und Rat der Stadt Esslingen teilten auf Anfrage dem Reutlinger Rat 1331 die Namen ihrer 13 Zünfte, deren beru iche Zusammensetzung, die Grundzüge ihrer Organisation, den Zusammenhang zwischen Bürgerrechtserwerb und Eintritt in eine Zunft sowie das Verhalten der Zunftgenossen bei Au äufen in der Stadt mit.⁷⁷² Tübingen ließ sich die Formulierung von Judeneiden aus Konstanz und Reutlingen übersenden, Amberg und Rothenburg ob der Tauber 1347 von Nürnberg. Von dort erhielt Rothenburg 1407 auch die Steuerordnung. Als der Konstanzer Rat (nach 1430) den Rat der Stadt Freiburg im Breisgau über die Verfassung und Verwaltung der Stadt unterrichtete, teilte er unter anderem mit, dass man in Sachen Erbe und Eigen kein eigenes Stadtrecht habe, sondern auf der Grundlage des römischen (kaiserlichen) Rechts urteile, auf dem Lande nach Landrecht. Bürger und

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Rat der Stadt Wolfach sandten 1404 ihre Gesetze zur Einsichtnahme nach Rottweil. Im Zusammenhang mit Bemühungen um eine Neuordnung der Amortisationsgesetzgebung wollte man in Straßburg 1501 erreichen, dass der Klerus wenigstens die Ewigzinse belasteter Häuser veräußerte und war der Meinung, dass dies in Städten wie Augsburg, Basel, Bern, Speyer, Frankfurt, Nürnberg und Ulm gelungen sei. Der Rat ordnete einen Ratsherrn ab, der in Augsburg mit der Versicherung der Geheimhaltung um Auskunft, Rat und Abschriften von Dokumenten bitten sollte. Von Augsburg erhielt man Kopien königlicher Privilegien Rudolfs von Habsburg (1273–1291) und Albrechts I. (1298–1308) sowie einer Ordnung des Rats von 1315. Frankfurt sandte mit der Bitte um Geheimhaltung gleichfalls Abschriften von Privilegien und Statuten sowie eine päpstliche Bestätigung, Basel Abschriften eines Privilegs Kaiser Friedrichs III. von 1488, einer darauf bezogenen Ordnung hinsichtlich der Modalitäten einer Ablösung ewiger Zinse und eines Rechtsgutachtens zu unberechtigten Erbansprüchen von Geistlichen.⁷⁷³ Die Nürnberger Rechtsreformation gelangte nach Windsheim und Tübingen, aber auch nach Hamburg und Solothurn. Im Zusammenhang mit der Ausarbeitung der Reformation hatten Nürnberger Juristen mit Kollegen in Frankfurt konferiert. Ingolstadt erkundigte sich 1435 in Nürnberg nach der Handhabung des Erbrechts im Falle von Selbstmördern, Ulm ließ sich 1474 in der Frage der Exemtion der Geistlichkeit beraten. Die Nürnberger Ratsjuristen erstatteten für verschiedene Stadträte und Stadtgerichte Rechtsgutachten zu einer Vielzahl von Rechtsfragen.⁷⁷⁴ Als der Landshuter Rat im Jahre 1400 gegen den Luxus hinsichtlich von Kleidung, Hochzeiten und Taufen vorzugehen trachtete, da dieser Arme und Reiche ruiniere, berief er sich auf das Vorbild von Städten wie Straubing, Nürn-

C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm (2.2–2.4), S. 97–99, Nrr. 181–183. B.-U. H (Hg.), Quellen zur Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 49, S. 336–343. U. I, Johannes Geiler von Kaysersberg (5), S. 211–213, Anhang S. 331–336. Siehe dazu 4.4.2.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

berg, Wien und Prag, wo derartiger Luxus längst verboten sei, obwohl diese Städte zehnmal reicher seien.⁷⁷⁵ Der Friedberger Rat erbat 1494 von Frankfurt Informationen zum Fleischverkauf, Brotbacken und Wucher der Juden sowie über das Vorgehen bei der Einrichtung eines Ghettos.⁷⁷⁶ Das Straßburger Stadtregiment informierte sich nach dem Auftreten der Syphilis 1495 bei befreundeten Städten, welche Maßnahmen diese trafen, erbat Ordnungen zum Bettelwesen und erhielten 1482 von Nürnberg eine Weinordnung. Die Nürnberger Bettelordnung von 1478 gelangte nach Frankfurt am Main und Köln und wurde für einige Städte zum Vorbild. Augsburg erbat 1477 von Nürnberg die Plattnerordnung, Frankfurt erhielt 1482 auf Anfrage hin die Kleider- und Hochzeitsordnung. Nürnberg selbst erhielt aus Venedig eine Apothekerund eine Vormundschaftsordnung. Der Straßburger Rat sandte sein um 1464 erstelltes Verzeichnis von Betrügereien von Bettlern mit einer Warnung nach Basel, der dortige Rat vermittelte es weiter nach Bern. Der Züricher Rat erkundigte sich in der Krisenzeit von 1438 bei der Stadt Basel nach deren neuer Bäckerordnung und den Lohnfestsetzungen für Bäcker und Müller, der Ulmer Rat 1439 in Augsburg nach der Regelung des Brotgewichts, d. h. der Berechnung des Brotpreises, Nürnberg um 1440 bei den Städten Ingolstadt, Augsburg, Ulm und Brügge nach deren Brot- und Backordnung. Auch lebensmittelpolizeiliche Verordnungen waren Gegenstand überörtlicher Anfragen. In Straßburg war man sich bewusst, dass die Stadt mit ihren Ordnungen beispielhaft auf die elsässischen Städte ausstrahlte. Aber in Basel, Freiburg und Zürich achtete man gleichfalls aufmerksam auf das, was in Straßburg vor sich ging. Neben einzelnen Anfragen kam es auch zu größeren gebündelten und außerordent-

lich weiträumigen Nachforschungen. So sandte der Rat Freiburgs im Jahre 1476 den Stadtschreiber Gottschalk nach Schaffhausen, Konstanz, Ravensburg, Isny, Kempten, Meran, Bozen, Landsberg, Augsburg, Nürnberg, Nördlingen, Ulm, Rottweil, Villingen, Straßburg und Breisach, um in diesen 16 Städten anhand eines Fragebogens systematisch Erkundigungen über Steuerordnungen und Besteuerungspraxis, Ratsbesetzung und Ratswahl, Gericht, Ämterbesetzung und Besoldung, das Verfahren in Schuldsachen hinsichtlich der Auswärtigen, Ehegüterrecht im Todesfalle, Vormundschaft, das Verhältnis von Rat und Zünften, Grenzen der internen Zunftgerichtsbarkeit, geistliche und karitative Institutionen, Kriegsund Botendienst, Kleider-, Fest- und Hochzeitsordnungen, das Zoll-, Markt- und Münzwesen, über Landhandwerk und Verlag, ferner über die Vereinbarungen mit den außerhalb des normalen Bürgerrechts stehenden ›Satzbürgern‹ und den außerhalb der Stadt lebenden ›Ausbürgern‹ sowie die Abzugs- und Nachsteuerregelungen einzuziehen.⁷⁷⁷ Je nach Auskunftsfreudigkeit des Bürgermeisters und von Ratsherren erfuhr der Stadtschreiber auch Details zu verfassungspolitischen und politischen Interna, so etwa aktuell vom Augsburger Bürgermeister Ulrich Schwarz in der Zeit des verfassungspolitischen Umbruchs in der Stadt zugunsten der stärkeren Beteiligung auch der bislang zurückgesetzten Zünfte.⁷⁷⁸ Der Straßburger Almosenaufseher Alexander Berner wurde 1531 vom Rat der Stadt mit der Untersuchung der Armen- und Almosenordnungen verschiedener oberdeutscher Städte beauftragt. Er zog Erkundigungen ein in Nürnberg, Augsburg, Ulm, Memmingen, Isny, Lindau, St. Gallen, Konstanz, Zürich, Basel, in der Markgrafschaft Baden (Baden, Ettlingen, Pforzheim) und im Herzogtum Württemberg (Stutt-

775 J. K, Die Juden und andere Randgruppen. Zur Frage der Randständigkeit im mittelalterlichen Landshut, Landshut 1988, S. 195. 776 G. G, Haltungen zum Judeneid (7.6), S. 145. 777 T. S (Hg.), Die Freiburger Enquete. 778 Siehe 2.6.9.

Ratsverfassung und Organisation der Ratsregierung

gart, Cannstatt), in Schwäbisch Gmünd und Ansbach.⁷⁷⁹ Im Hansebereich sorgten die zwischenstädtische familiare Vernetzung, wie in allen Städten der amtliche Briefverkehr oder die Hansetage für einen Austausch. Orte städtischer Kommunikation waren ferner die Hof- und Reichstage und die überregionalen Städtetage des 15. Jahrhunderts sowie die Versammlungen der Städtebünde. Eindrucksvolle kommunikative Ereignisse waren aber auch die vermittelnden Aktionen verschiedener Städte der Hanse und oberdeutscher Städte bei inneren Kon ikten. So vermittelten Schiedsleute aus Mainz, Straßburg, Worms, Frankfurt und Oppenheim 1330 einen Sühnebrief zwischen Hausgenossen und Gemeinde in Speyer, Vertreter der Städte Mainz, Worms, Speyer, Basel und Freiburg 1334 einen Schwörbrief in Straßburg zwischen Consto ern und Zunftbürgern. In den Auseinandersetzungen in Mainz zwischen Zünften und Geschlechtern 1430 und 1437 übernahmen Ratsfreunde aus Worms, Speyer, Frankfurt und Oppenheim die Vermittlung, erneut nach 1444 Ratsvertreter aus Köln, Straßburg, Nürnberg, Ulm, Augsburg, Worms, Speyer und Frankfurt. 4.3.7.2 Das Interesse an der Nürnberger Verfassung und Regierungspraxis Wichtige Erkenntnisse zum Nürnberger Stadtregiment sind Auskünften zu verdanken, die nahezu in einer Generationenabfolge der Nürnberger Rat 1476 dem Freiburger Stadtschreiber, der Ratsjurist Dr. Christoph Scheurl 1516 seinem Freund, dem General des Augustinerordens Dr. Johannes Staupitz und der Nürnberger Geheime Rat 1548 Gesandten Augsburgs und dem Ulmer Gerichtsschreiber Johannes Wick erteilten.

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Als Kaiser Karl V. im August 1548 nach der Niederlage der Protestanten im Schmalkaldischen Krieg in 27 süddeutschen Reichsstädten die Zunftverfassungen beseitigte⁷⁸⁰ und für die verlangte Veränderung des Regiments die führenden Städte Augsburg und Ulm zur weiteren Ausfüllung der ihnen oktroyierten Rahmenordnung an das Vorbild der Nürnberger Ratsorganisation und Gewerbereglementierung verwies, zogen beide Städte mit Hilfe umfangreicher, zugleich auf detaillierte Interna ausgerichteter Fragenkataloge durch Gesandte Erkundigungen über die Nürnberger Verhältnisse bei den dortigen Älteren Herren, dem Geheimen Rat, ein.⁷⁸¹ Eine besondere Pointe besteht darin, dass Nürnberg seinerseits im Jahre 1370 unter dem Eindruck der Augsburger Zunfterhebung von 1368 acht Vertreter der angesehensten Handwerke, die allerdings nur eine ganz untergeordnete Rolle im Stadtregiment spielen konnten, in den nach wie vor patrizischen Rat aufgenommen hatte.⁷⁸² Die Beantwortung der Augsburger und Ulmer Frageartikel erschien dem Nürnberger Geheimen Rat deshalb als schwierig und weitläu g, weil viele Regelungen – noch immer wie zu Zeiten Dr. Scheurls – mehr im Geprauch, dan in ordentlichen Verfassungen stünden⁷⁸³, also noch immer auf nicht schriftlich xierter Gewohnheit und nicht auf gesetzlicher und schriftlicher Statuierung beruhten. Die Frageartikel der beiden Städte geben eine plastische Vorstellung davon, was zeitgenössische Fachleute unter Verfassung verstanden und welche institutionellen Sachverhalte sie mit welchen Fragestellungen auf Grund der eigenen Verfassungssituation und im Hinblick auf die verfassungspolitische Neuordnung für wichtig oder prekär erachteten, auch worüber der Nürnberger Geheime Rat in Verhandlungen mit den städtischen Emissären Auskunft sowie in Anbe-

779 Siehe 4.10. 780 L. F, Die Verfassungsänderungen; E. N (Hg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung; B. R, Eine Stadt in Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte der Reichsstadt Augsburg zwischen Kalenderstreit und Parität, Bd. 1, Göttingen 1989, S. 201–269. 781 E. N (Hg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung, S. 67–96. 782 R. E, Verfassung und Verfassungswirklichkeit in Nürnberg (2.5.3–2.5.5), S. 208 f. 783 E. N (Hg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung, Nr. 12, S. 93.

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tracht der Autorität des Kaisers und der Intervention König Ferdinands I. (1531–1564) Auskunft geben wollte.⁷⁸⁴ Die 27 Fragen des Augsburger Stadtregiments⁷⁸⁵ sowie die Fragen des Ulmer Rats und die damit verknüpften Bitten um Übermittlung entsprechender Ordnungen, die teilweise durch einige Vorkenntnisse hinsichtlich der Nürnberger Verfassung gesteuert wurden, beziehen sich auf die Rats- und Ämterverfassung, das Stadtgericht, auf Fragen der Herrschaftssicherung und der Verwaltung sowie auf die Abschaffung der Zünfte und die Reglementierung der Handwerke. Dabei sind Fragen nach institutionellen und die Geschäftsordnung betreffenden Sachverhalten, nach technischen und nanziellen Details und politologische Fragestellungen zu unterscheiden. Durch die Eigenart dieser Fragestellungen und der daraufhin erteilten Antworten lassen sich in Verbindung mit dem Verfassungsabriss Dr. Scheurls Einblicke in das Verfassungsleben einer Stadt gewinnen, wie sie sonst auch für das 16. Jahrhundert bei bloßem Rekurs auf einmal xierte Verfassungen nicht möglich sind. Die Fragen nach der Ratsverfassung richten sich auf die Ratswahl, die Differenzierung der Ratsämter nach Anzahl, Kompetenzen und Aufgaben, auf Hilfspersonal und Amtseide, Session und Votum im Rat, das Stimmrecht des die Sitzung leitenden Bürgermeisters und die Auszahlung von Sitzungsgeldern. Man wollte wissen, welche Parteien nicht vor das Ratsgericht gelassen würden und wer sie dann höre und abfertige, ob alle Supplikationen im Rat verlesen würden oder welche nicht, ob fremde Gesandtschaften und welche auf ihr Ersuchen hin vor

dem Rat gehört würden. Insbesondere wurde um Auskunft darüber gebeten, ob bei der Umfrage im Rat vor der formellen Abstimmung jedes Mal alle Ratsmitglieder gefragt werden oder nur einige und in diesem Falle wie viele, ferner ob jeweils nur eine Sache für sich oder ob mehrere Sachen gebündelt zur Umfrage gestellt werden. Interesse erweckte das spezielle Ratsgericht in Injuriensachen (Hadersachen). Hinsichtlich des Großen Rates erkundigte man sich nach der Zahl seiner Mitglieder und nach ihrem Amtseid⁷⁸⁶ und warf die Frage auf, ob diese ein Stimmrecht besäßen und nach dem Mehrheitsprinzip ihren Rat erteilten oder nicht. Die vom Kaiser verlangte Perpetuierung von städtischen Spitzenämtern und Rearistokratisierung der Verfassung nach einer 180 Jahren währenden Zunftverfassung veranlasste zur Frage, ob die Losungsherren, die beiden für die Finanzwirtschaft zuständigen Steuerherren, auch jährlich gewählt würden oder auf Dauer im Amt blieben, auch welche Amtsfunktion der dritte Losunger, der aus der Gemeinde genommen werde, besitze.⁷⁸⁷ Auch die Frage nach den Kosten, die der Rat und der Ratsschreiber verursachten, wurde angeschnitten. Über das Nürnberger Stadtgericht wollten die Augsburger wissen, ob die Beisitzer jährlich neu gewählt wurden und wer für eine solche Position infrage kam, welche Kosten man für den Gerichtsschreiber und seinen Substituten aufwandte, ob man dem Gericht auch rechtsgelehrte Doctores beigab und wie man es mit den Appellationssachen hielt. Der Ulmer Gerichtsschreiber erkundigte sich nach der Verfassung und Verfahrensordnung des Stadtgerichts.

784 Ebd., Nr. 12, S. 92–96. 785 Ebd., Nr. 6, S. 70 f. 786 Das Ersuchen um eine Kopie des Eides der ›Genannten‹, wie in Nürnberg der Große Rat hieß, wurde in Nürnberg für etwas unhö ich erachtet; der Eid sei bisher streng geheim gehalten worden und werde weder den Mitgliedern des Rates noch anderen abschriftlich mitgeteilt. Ebd., Nr. 12, S. 95 f. 787 Darauf wurde nicht geantwortet. Dr. Scheurl äußert sich indessen, nach der bearbeitenden deutschen Übersetzung, zu dem Losunger aus den Handwerken, dem ursprünglich eine gegenüber dem handwerklichen Bürgertum ostentative, wenn auch vermutlich nicht wirklich effektiv gemeinte Aufsichts- und Kontrollfunktion zukam, recht geringschätzig und charakterisiert ihn als besseren Türsteher: Es wird den beiden Losungern auß den acht handwerkern der ansehenlichst zugeordnet für ein mitgesellen [qui nomine plebis quaesturam agit], wiewol desselben ampt allain in dem steet, das er in der loßungstuben die thüer auf und zu, auch die ein und auß geenden belaiten thut. Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 11, S. 794.

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Weitere Fragen bezogen sich auf Verwaltungspraktiken wie die Finanzwirtschaft (Einnemen und Ausgeben des Gelts) und die Gestaltung der Rechnungsführung und Rechnungslegung, das Verhör der Gefangenen durch Ratsdeputierte, die Verwahrung der Urkunden und geheimer Dokumente (Geheimnus), die Siegelführung, die Verwaltung von Gebäuden, Munition und Proviant durch Personen innerhalb und außerhalb des Rats, auch auf die Handhabung der Sturmglocke bei Feuersnot und ›Feindesnot‹. Nachgeschoben wurden die Fragen nach den Kosten für den Erwerb des Bürgerrechts und nach der Entscheidungsinstanz für bauund besitzrechtliche Streitigkeiten im Hinblick auf Bauwerke und Häuser. Auch im Hinblick auf die Entpolitisierung der Zünfte zu reinen Handwerken, die für die Beseitigung der alten Zunftverfassung von kaiserlicher und königlicher Seite sowie von Seiten der gegen die Zünfte polemisierenden Augsburger Geschlechter⁷⁸⁸ für unabdingbar, aber für den Ordnungszustand und Frieden für nicht ungefährlich gehalten wurde, erhoffte man sich Orientierung und Maßregeln, und zwar von der Beseitigung der Zünfte und der Neuordnung der Gewerbe in Nürnberg vor mehr als sechs Generationen. So erkundigte man sich, durch welche Vorkehrungen und Maßnahmen die gewesenen Zunftigen damals angesichts der neuen Situation bey Ruhe und Fride erhalten worden seien, welcher neuen Verwendung die Zunfthäuser zugeführt wurden, ob nach Abschaffung der Zünfte die Handwerke ganz oder teilweise bei ihren alten Ordnungen blieben oder ob eine völlige Neuordnung vorgenommen werden musste, welches Ratsamt oder welche Stelle sonst für die Überwachung der Handwerker und die Einhaltung ihrer Ordnungen zuständig gemacht und mit welcher Art von Personen be-

setzt wurde. Nicht vergessen wurde schließlich die Frage, ob den Handwerken in Nürnberg erlaubt sei, sich eine eigene materielle Grundlage und damit eine gewisse wirtschaftliche und soziale Handlungsfähigkeit zu verschaffen, indem sie über Getreidevorräte, Grundrenten oder Kapitalrenten (angelegt Gelt) verfügten.

4.4 Städtische Dienstämter Die Inhaber von Dienstämtern wurden vom Rat besoldet, sie waren vom Rat abhängig und hatten jederzeit dessen Befehlen und Aufträgen nachzukommen. Dienstvertrag und Diensteid legten die P ichten und Aufgaben fest. 4.4.1 Ratsschreiber (Stadtschreiber) und Kanzlei Die mit dem Umfang der Regierungs- und Verwaltungstätigkeit wachsenden Schreibarbeiten führten unter Aufsicht der Bürgermeister zunächst fallweise engagierte Schreiber aus, bis kontinuierlicher tätige geschworene Rats- oder Stadtschreiber amtierten.⁷⁸⁹ Das Amt des Stadtschreibers, Ratsschreibers oder Ratsnotars war in der Regel das am höchsten besoldete Dienstamt. Der Ausdruck Schreiber kann zu Missverständnissen hinsichtlich der Bedeutung des zentralen Amtes führen; in seiner Funktion als Leiter der Kanzlei erhielt der Ratsschreiber den Titel Protonotar oder Oberster Schreiber, gelegentlich war die Bezeichnung auch Kanzler. In Köln konnte der bewährte Protonotar zum Kanzler und geschworenen Rat aufsteigen. In dieser Funktion nahm der Kanzler an Ratssitzungen teil, stellte dem Rat seine im langen Dienst erworbenen Rechtskenntnisse und politischen Erfahrungen zur Verfügung und übernahm vor al-

788 Siehe 2.6.4.2. 789 G. B, Die südwestdeutschen Stadtschreiber; F. L, Entwicklung der kommunalen Verfassung und Verwaltung der Stadt Köln, S. 273 ff.; M. J. S, Die Ratsschreiber der Reichsstadt Nürnberg; F. T, Die Freiburger Stadtschreiber; P.-J. S, Geschichte des südwestdeutschen Notariats; W. S, Deutsche Stadtschreiber im Mittelalter; K. W, Das gelehrte Personal in der Verwaltung und Diplomatie der Hansestädte; E. P, Schrift- und Aktenwesen der städtischen Verwaltung im Spätmittelalter; E. I, Funktionen und Leistungen gelehrter Juristen, S. 250–262.

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lem diplomatische Aufgaben als Gesandter der Stadt, während die Leitung der Kanzlei an den neuen Protonotar überging. In Lübeck wurde zunächst aus dem Kreis der Ratsherren der Kanzler oder Siegelherr für das Urkundenwesen und ein weiterer Ratsherr für die Verwaltung des Archivs in der Trese (in der Marienkirche) eingesetzt. Als seit dem 14. Jahrhundert drei oder vier die Unterschreiber leitende Notare tätig waren, stieg der angesehenste unter dem Titel des Protonotars zum Leiter der Kanzlei und der Verwaltung der Stadtbücher auf und benötige den Siegelherrn nur noch für die Besieglung der Urkunden, doch el die Leitung der Kanzlei am Ausgang des Spätmittelalters an den rechtsgelehrten Ratssyndikus. Verschiedentlich erhielten Ratsschreiber neben Barlohn und anderen Besoldungsbestandteilen – wie auch Ratsjuristen – eine teilweise Steuerbefreiung. Anfänglich und verschiedentlich bis ins 15. Jahrhundert hinein fungierten angesichts der mittelalterlichen Bildungssituation (bepfründete) Kleriker als Stadtschreiber, darunter wohl vielfach Kleriker mit niederen Weihen ohne Zölibatsgebot, tonsurierte Minoristen und verheiratete Kleriker (clerici coniugati), die in die kirchliche Hierarchie eingeordnet und, vom Laienstand geschieden, durch die Kirche privilegiert waren. Geistliche waren auch für Kau eute als Schreiber tätig. Die Bedeutung, die für die Stadt der Rechtsverkehr und die rechtlichen und gerichtlichen Auseinandersetzungen mit der Kirche, mit dem Weltklerus auf verschiedenen Ebenen, Orden und Kongregationen und der römischen Kurie besaßen, führte dazu, dass die großen norddeutschen Städte, aber auch in Köln, kanonistisch gebildete Kleriker zu ihren Stadtschreibern, zu so genannten clerici civitatis, Stadtklerks oder Stadtpfaffen, bestellten, die auch Rechtsgutachten erstatteten, doch konnten ›Stadtkleriker‹ auch Juristen sein.⁷⁹⁰ Johann von Boizenburg in Hamburg (1236) scheint der erste Laie unter den Stadtschreibern (Notaren) gewesen zu sein. Die Wie-

ner Stadtschreiber waren vermutlich seit der ersten Nennung des Amtes 1276 stets Bürger weltlichen Standes. In Bischofsstädten stammte das Kanzleipersonal wegen der unmittelbaren Nähe zur kirchlichen Gerichtsbarkeit und zu kirchlichen Beurkundungsstellen aus diesem Umkreis, während in anderen Städten Welt- und Ordensgeistliche zu den frühen Stadtschreibern gehörten. Vor der Mitte des 15. Jahrhunderts forderte der Verfasser der »Reformatio Sigismundi« (1439) in Übereinstimmung mit Reaktionen von Bürgerschaften in verschiedenen Städten mit einer gewissen antiklerikalen Tendenz, dass nur noch Laien mit dem Amt betraut werden sollten.⁷⁹¹ Ferner sollte der Stadtschreiber zugleich ein ›öffentlicher Notar‹ (notarius publicus) sein und Notariatsinstrumente anfertigen, damit man nicht auf weniger vertrauenswürdige andere, fremde Notare angewiesen sei. Die Abschließung gegen fremde Notare und solche der bischö ichen Gerichtshöfe (Offizialate) zugunsten des Stadtschreibers mit notariellen Befugnissen war von besonderer Bedeutung für den Kampf gegen die Tote Hand, das Überhandnehmen kirchlichen Grundbesitzes. Testamente durften nur noch vor dem Stadtnotar gefertigt werden, der Schenkungen und Vermächtnisse, die nach den städtischen Satzungen verboten waren, verhindern musste. Auch die Jahrzeitbücher der Stadtkirchen mit den für die Jahresgedächtnisse gestifteten Zinsen und Grundstücken wurden in der städtischen Kanzlei verzeichnet und im Archiv aufbewahrt. Dank seiner Lateinkenntnisse und Kenntnisse im kanonischen Recht wurde der Stadtschreiber Berater des Rats und Anwalt der Stadt in kirchenrechtlichen Fragen, intellektuell ebenbürtiger Verhandlungspartner mit geistlichen Institutionen. Im 12. Jahrhundert, bevor in den Städten ein festes Amt des Ratsschreibers eingerichtet wurde, ist davon auszugehen, dass je nach aktuellem Bedarf geistliche Notare oder Schreiber für städtische Dienste herangezogen wur-

790 W. S, Deutsche Stadtschreiber, S. 44–46, 48. 791 H. K (Hg.), Reformation Kaiser Siegmunds (5), S. 308. W. S, Deutsche Stadtschreiber, S. 68 f.

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den. Das Amt des Ratsschreibers wurde seit dem 13. Jahrhundert zum Ausgangspunkt für den Ausbau der Schreibstube (Kanzlei) zur zentralen Institution. Ratsschreiber erhielten mehrjährige Dienstverträge oder wurden formell jährlich zusammen mit dem gesamten Regiment gewählt. Der Augsburger Stadtschreiber konnte gemäß der Ordnung von 1363 bei Verstoß gegen seine Amtsinstruktion und bei Fehlleistungen vom Kleinen Rat durch Mehrheitsentscheid entlassen werden. Der Ratsschreiber, der vielfach den Titel Protonotarius oder Notarius civitatis trug, leitete die Kanzlei, in der in größeren Städten oft mehrere ständige Schreiber (Sekretäre) als Gehilfen und von ihm angewiesene Sachbearbeiter sowie einfache Ingrossisten, die Reinschriften anfertigten, und Kopisten oder Lohnschreiber tätig waren. Der Rottweiler Stadtschreiber, der dem Patriziat und dem wohlhabenden Zunftbürgertum, der Führungsschicht der Stadt, entnommen wurde, amtierte zugleich als Hofschreiber des überregionalen königlichen Hofgerichts, das in Rottweil amtierte. Der Ratsschreiber oder Protonotar verwahrte das Sekretsiegel, das er auf Anweisung des Rates, in Köln auch der Briefmeister, gebrauchte. In der Kanzlei wurden die Ratsbeschlüsse und alles, was dem Rat der Aufzeichnung bedürftig und würdig erschien, in den dafür bestimmten speziellen Büchern registriert. Außerdem wurden dort die Korrespondenz des Rats und die Niederschrift der Beurkundungen, um die Interessenten den Rat ersuchten, gefertigt und gesiegelt. Daneben hatten das Stadtgericht und bei entsprechendem Geschäftsanfall verschiedene Ratsämter eigene Schreiber. Im Steuer- und Finanzwesens oblag dem Schreiber die Führung der Stadtrechnungen, die Anlage von Steuerlisten und die Fertigung der Urkunden bei kommunalen Rentenverkäufen. In Augsburg waren in späterer Zeit dem leitenden Stadtschreiber mit politischem Ein uss noch Ratsschreiber mit Beschränkung auf ausführende Verwaltungsaufgaben bei Ratsämtern zu- und nachgeordnet. Verschiedene Amtsinhaber beschäftigten auch private Schreiber. Es kam auch vor, dass der Ratsschreiber persönliche Gehilfen bestellte, die

er aus eigenen Einkünften bezahlte. Ratsschreiber fungierten oft noch als öffentliche Notare. Dem Augsburger Stadtschreiber war es erlaubt, neben seinen städtischen Aufgaben für die Bürger Privatbriefe und Urkunden zu verfassen, doch schrieb ihm der Rat die Gebührensätze für Briefe, rechtserhebliche Urkunden und Leibrentenbestellungen vor. Außerdem durfte er alle Schriftstücke, auch solche für Bürger, nur auf Pergament, nicht auf Papier schreiben, hatte aber für Pergament und Tinte selbst aufzukommen, wie auch für seinen Schüler. Der Ratsschreiber führte während der Ratssitzungen das Protokoll und hielt die zu erledigenden Geschäfte im Ratsmanual fest; er verlas im Rat die eingegangenen Schreiben oder fasste sie in ihrem Tenor schriftlich oder mündlich zusammen. Rederecht oder ein Votum hatte er im Rat nicht. Bei wichtigen Schreiben des Rates unterstützte er den damit betrauten Ratsherrn oder verfasste die Entwürfe selbständig. Er brachte Rechtsgeschäfte von Rat und Stadt, Akte der freiwilligen Gerichtsbarkeit, Beglaubigungen des Rats (Breven) im privaten Güterverkehr und Ratsurteile in urkundliche Form, führte die Listen der aus der Stadt Verbannnten (›Verfestete‹), hielt den Wortlaut der Satzungen fest und redigierte sie, stilisierte formgerecht die Korrespondenz des Rats (Missiven) mit Städten, Herren, Fürsten, Königen und anderen ausländischen Machthabern und war etwa an der Abwicklung städtischer Fehden mit der Fertigung von Verwahrungen, Fehdebriefen und Urfehden beteiligt. Politische Krisenzeiten verlangten einen besonders leistungsfähigen Betrieb, da der Briefverkehr sprunghaft anschwoll, umfangreichere Nachrichtenmengen und Bitten in kurzen Abständen mitzuteilen und ganze Serien gleichoder ähnlich lautender Briefe herzustellen waren. Der Stadtschreiber legte die vielfältigen städtischen Bücher, Kopiare, Statutensammlungen und Formelbücher an und führte sie. Der Augsburger Stadtschreiber hatte nach der Ordnung von 1363 allerdings nur das Rechtsbuch, nicht auch andere Bücher unter seiner Obhut. Er hatte es auf Verlangen in Gericht und

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Rat zu verlesen; er durfte es andernorts nur im Beisein des Bürgermeisters anderen vorlesen, niemanden abschreiben lassen und auch selbst nicht abschreiben. Die Ratsbücher und städtische Urkunden waren für Ratsschreiber gelegentlich auch Grundlage für eine Stadtchronistik. Stadtschreiber konnten bei Wahlen der Räte und Amtsträger, des Regiments für das neue Jahr bei zunehmender Schriftlichkeit eine leitende Funktion wahrnehmen (Bern). Ferner vertrat der Ratsschreiber als Mitglied größerer Ratsgesandtschaften oder alleine die Stadt in Geschäften am Königshof, an Fürstenhöfen, an der römischen Kurie, bei Städte- und Reichstagen oder bei Schiedsverhandlungen und als Prokurator vor fremden Gerichten. Sprachkenntnisse in Latein und Deutsch mit seinen erheblichen sprachräumlich-dialektalen Besonderheiten mussten vorhanden sein, vor allem wenn im überregionalen Schriftverkehr zum besseren Verständnis eine Empfängerorientierung angestrebt wurde. In Grenzräumen oder für diplomatische Missionen waren Fremdsprachenkenntnisse sicherlich von Nutzen. Der Stadtschreiber war gelegentlich zugleich Schulmeister. Lateinkundig und gebildet, gehörte er als homo literatus zu den intellektuellen Köpfen der Stadt und war verschiedentlich Wegbereiter des Humanismus. Soweit der Ratsschreiber spezi sche Rechtskenntnisse besaß, konnte er auch mit der Abgabe gutachtlicher Stellungnahmen beauftragt werden. Für viele dieser Tätigkeiten bedurfte es zumindest empirischer, eventuell in der Kanzlei selbst während der Ausbildung erworbener Rechtskenntnisse und einer gewissen Schulung,

die befähigte, von der zur Verfügung stehenden und auch für den juristisch Gebildeten unentbehrlichen rechtswissenschaftlichen Hilfsliteratur Gebrauch zu machen.⁷⁹² Für beträchtliche Summen ließ der Braunschweiger Rat 1412 und 1416 durch seine beiden Ratsschreiber die Bücher des römischen Rechts, den »Liber Sextus« samt Glosse des Johannes Monachus, den »Liber pauperum« (des Nepos de Montealbano?), die Summe (»Tabula utriusque iuris«) des Johannes von Erfurt, die Konkordanz des römischen und kanonischen Rechts und die »Quaestiones« des Bartholomaeus von Brixen beschaffen, ferner 1417 und 1418 in Erfurt ein Rechtsbuch abschreiben. Im Jahre 1424 kam ein »Speculum« – das »Speculum iudiciale« des Durantis oder das »Speculum abbreviatum« des Johannes von Stynna – hinzu.⁷⁹³ Durch gebildete und ihre Gelehrsamkeit vorzeigende Stadtschreiber und Notare gelangten wiederum durch den Gebrauch von Termini und Klauseln in lateinischer Sprache, aber auch ins Deutsche übertragen, Elemente des römisch-kanonischen Rechts in Urkunden⁷⁹⁴ und städtische Bücher als gelehrter Aufputz oder als rechtliche Notwendigkeit und Zeichen der Rezeption römisch-kanonischen Rechts. Andererseits wurden die im Amt wechselnden Stadtschreiber in ihrer Gestaltungsfreiheit eingeschränkt und, wie 1494 in Freiburg im Breisgau, durch einen Diensteid mit 27 Artikeln dienstrechtlich in ihren Geschäften unter anderem – vorbehaltlich abweichender Verfügungen des Rates – an den unveränderten alten stilus der Stadt hinsichtlich der Missiven, Urteile, Testamente und Titel gebunden.⁷⁹⁵ Die-

792 Zur vermittelnden »Klasse der Halbgelehrten und Halbwissenden«, d. h. »zwischen den gelehrten Doctoren und den volksthümlichen Schöffen, zwischen der gelehrten Jurisprudenz und dem Wissen des Rechts aus eigener Erfahrung«, siehe R. v. S, Geschichte der populären Literatur des römisch-kanonischen Rechts in Deutschland, S. XXII, XXVI f. Vgl. dazu W. T, Anfänge des gelehrten Rechts, S. 125‒134; K. W, Gelehrte in Gesellschaft, Kirche und Verwaltung, S. 443 f. Ablehnend gegenüber dem Ausdruck »Halbgelehrte« ist U. M. Z, Studium und Kanzlei, S. 466. Der wissenschaftliche Ausdruck erscheint immer noch brauchbar, wenn er auf keinem Werturteil beruht, sondern juristisches Fachwissen konstatiert und ferner auf den fehlenden universitären Bildungsgang oder formalen Abschluss bezogen ist. 793 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 6, S. 254. 794 L. R, Über Formelbücher; H. S, Die Rechts- und Einredeverzichtsformeln; D. W, Zum Ein uß gelehrten Rechtsdenkens in Urkunden. 795 F. T, Die Freiburger Stadtschreiber, S. 82 f., Anhang Nr. I, Art. 21, S. 108.

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ser Geschäftsstil konnte vor allem dann gewahrt werden, wenn sich in Städten regelrechte Dynastien von Stadtschreibern herausbildeten, wie etwa die Dynastie der Neidhart in Ulm, die von 1378 bis 1477 ununterbrochen und auch später noch gelegentlich amtierte. In Basel hingegen kamen die Stadt- und Ratsschreiber und Unterschreiber von außen und wurden oft spät in die Bürgerschaft aufgenommen, weil die Stadt ihre Sekretäre von allen die Amtsführung hemmenden Sozialbeziehungen und Parteibildungen frei haben wollte. Daraus ergab sich zunächst eine Diskrepanz zwischen der Sprechsprache der Schreiber und der offiziellen Kanzleisprache. Auch in anderen Städten wie Luzern, Bern und Freiburg im Breisgau waren Stadtschreiber oft Zugezogene, was aber auch für ihre Mobilität und die Nachfragesituation spricht.⁷⁹⁶ Als Bern im späten 15. Jahrhundert wegen seiner politischen und militärischen Einbindung in die europäische Politik seine Kanzlei ausbaute, bezog die Stadt seine Schulmeister und Stadtschreiber, beide Funktionen elen oft zusammen, vornehmlich aus dem süddeutschen Raum. Durch ihre Tätigkeit gewannen die Ratsschreiber einen tiefen Einblick in die komplizierten Rechts- und Herrschaftsverhältnisse der Stadt, in die Verwaltung und äußere Politik, besaßen daher und angesichts teilweise langer Amtszeiten eine Vertrauensstellung, sorgten für Kontinuität und konnten in begrenztem Umfang auch reformerisch tätig sein. Daraus resultierte aber auch ein Bedürfnis des Rats, den unentbehrlichen Kanzleivorsteher zu kontrollieren. Die Ratsschreiber waren in der Lage, das Stadtregiment technisch, rechtlich und politisch zu beraten, und nahmen in unterschiedlichem Maße Ein uss auf den Gang der Geschäfte. Sie konnten sogar zu politischen Drahtziehern und grauen Eminenzen aufsteigen, wurden aber auch des politischen Verrats oder der Veruntreuung beschuldigt, vor Gericht gestellt und in Einzelfällen wie des Kölner Kanzleischreibers Ger-

lach vom Hawe und des Rapperswilers Johannes Hettlinger hingerichtet. Dr. Scheurl nennt die Nürnberger Ratsschreiber gleichsam der obrigkait augen.⁷⁹⁷ Der Schreiber bei der Steuer- und Finanzverwaltung führte nicht nur die Steuerlisten, sondern avancierte vielfach auch zum Finanzsachverständigen. Dem Rat konnten Stadtschreiber in Nürnberg und anderen Städten nicht angehören, doch machen Berner Stadtschreiber mit ihren intensiven Sozialbeziehungen ein Ausnahme und nden sich sowohl im Kleinen als auch im Großen Rat. Auch der Wiener Stadtschreiber wurde seit Beginn des 14. Jahrhunderts regelmäßig bald nach Amtsantritt als stimmberechtigtes Mitglied in den Rat gewählt. Der Ratsschreiber war in bestimmtem Umfang auch Rechtsberater der Stadt. Einige der Ratsschreiber hatten die Rechte studiert, vielfach jedoch hatten sie sich – später zunehmend auch die Sekretäre – in der Artistenfakultät im Rahmen der Rhetorik mit der Ars dictandi (dictaminis) beschäftigt und den Grad eines Magisters erlangt. Die Ars dictandi vermittelte mit den Regeln des Brief- und Urkundenstils zugleich einige juristische Elementarkenntnisse. Die Wiener Stadtschreiber absolvierten die städtische Bürgerschule von St. Stephan und erlernten dort Latein; praktische Erfahrung war die wichtigste Grundlage für ihre Geschäftsführung, bis nach der Mitte des 15. Jahrhunderts die Reihe akademisch gebildeter Juristen im Amt einsetzte. In Städten wie Braunschweig, Lübeck oder Nürnberg wurde zeitweise in verschiedenen Dienstverträgen ausdrücklich die Doppelfunktion im Amt als Stadtschreiber und Jurist ausgewiesen.⁷⁹⁸ In einigen Städten wie Erfurt, Mühlhausen i. . und Hildesheim nahmen die Protonotare aufgrund ihrer juristischen Fachbildung im 15. Jahrhundert häu g zugleich die Funktion des Syndikus wahr. Seit der Mitte des Jahrhunderts waren in Erfurt die meisten Proto-

796 Für die Eidgenossenschaft zusammenfassend M. J, Gesandte, Schreiber, Akten, S. 110–129. 797 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 11, S. 803. 798 W. T, Anfänge des gelehrten Rechts, S. 224, 227; M. J. S, Die Ratsschreiber der Reichsstadt Nürnberg, S. 27 f.

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notare zugleich Doctores der Juristischen Fakultät an der Universität. In Köln wurden mehrere Protonotare nach meist langjähriger Kanzleitätigkeit zu Rechtsberatern, geschworenen Räten, bestellt. In Nürnberg waren die Funktionen des Ratsschreibers und des Ratsjuristen bereits seit 1377 getrennt, sodass nunmehr dem Juristen die Aufgabe zu el, den Rat und die Bürger in der Stadt zu beraten, während sich der Ratsschreiber auf die Kanzleigeschäfte und auswärtigen Aufgaben (›Reise- und Reitp icht‹) konzentrierte. Eine Herauslösung der juristischen Beratung aus dem Amt des Protonotars oder Stadtschreibers lässt sich in Oberdeutschland etwa auch in Ulm beobachten, wo es rechtsgelehrte Stadtschreiber gab und das separierte Amt des Ratsadvokaten erst im frühen 16. Jahrhundert eingerichtet wurde.⁷⁹⁹ Schon im 14. Jahrhundert hielten die Städte Lindau und Konstanz einen Advokaten, der sie in kirchlichen Fragen und in Auseinandersetzungen mit dem Konstanzer Bistum beriet. Die mit dieser Entwicklung zur intensiven Rechtsberatung und Rechtsvertretung verbundenen gesteigerten Anforderungen, die an rechtliche Ausbildung und Rechtskenntnisse gestellt waren, lassen sich an der Graduierung von Amtsinhabern vom Baccalaureus bis zum Licentiaten und in einer Vielzahl von Städten zum Doktor der Rechte ablesen.⁸⁰⁰ In Freiburg im Breisgau hatte 1494 bis 1496 für kurze Zeit der rechtsgelehrte Ulrich Zasius, der spätere berühmte Schöpfer der Stadtrechtsreformation von 1520, als Baccalaureus und dann als Dr. legum Professor der Frei-

burger Universität das Amt des Stadtschreibers inne und wurde danach verp ichteter Doctor des Rats.⁸⁰¹ In den Jahren 1489–1493 war Zasius Stadtschreiber von Baden im Aargau gewesen. Gleichfalls um die Jahrhundertwende amtierten in Augsburg Dr. Konrad Peutinger⁸⁰², der in Padua und Bologna die Rechte studiert hatte, als Nachfolger des gleichfalls rechtsgelehrten Licentiaten Valentin Eber, in Ulm Peter Neidhart, in Schwäbisch Hall 1413 bis 1436 der studierte Jurist Conrad Heyden († 1444), der Verfasser des um 1436 entstanden ersten wichtigen Werks der praktischen Rechtsliteratur, des auf römisch-kanonischem Recht beruhenden »Klagspiegels«, in Nördlingen Dr. Ulrich Tengler († 1510/11), der Verfasser des »Laienspiegels«, der als wichtigstes und umfassendstes Werk dieser Literatur gelten kann, in Straßburg von 1503 bis 1521 Dr. iur. utr. Sebastian Brant, Verfasser der »Expositiones sive declarationes omnium titulorum juris tam civilis, quam canonici« (1500). Der Braunschweiger Rat subventionierte 1417 das weitere Studium des Kirchenrechts des Baccalaureus decretorum Henning von Goslar in Bologna, das auf sechs oder acht Jahre veranschlagt wurde, mit jährlich zehn Gulden. Henning war zuvor vom Rat als Schreiber angenommen worden und versprach, als Gegenleistung künftig dem Rat, wenn er es verlangen werde, gemäß dessen Anstellungs- und Besoldungsofferten zu Diensten zu sein.⁸⁰³ Der Kölner Protonotar und Verwalter der Schreibstube Johannes Frunt erwarb, nachdem er diese Position bereits seit sechs Jahren innehatte, auf Geheiß

799 G. G , Die Ratsadvokaten und Ratskonsulenten, S. 19–27. 800 K. W, Bürgertum und Studium, S. 507 f. (Hildesheim, Mühlhausen/ür., Goslar, Göttingen). Der Lüneburger Rat nahm seit der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts römisch-rechtlich gebildete Syndici in seinen Dienst. E. T, Die Geschichte des Lüneburger Stadtrechts (2.2–2.4), S. 62. Allerdings lassen sich bereits 1305 Lüneburger Studenten an Juristenfakultäten nachweisen, und seit Ende des 14. Jahrhunderts sind auch einige Ratsherren und Bürgermeister römisch-rechtlich gebildet, doch streben sie nicht nach einer Umformung des Lüneburger Rechts gemäß dem römischen Recht. Im Süden sind Doktoren der Rechte und Licentiaten etwa in Augsburg, Esslingen, Ulm, Schwäbisch Hall, Rottweil, Schweinfurt, Straßburg, Zürich, Bern oder Linz nachzuweisen. G. B, Die südwestdeutschen Stadtschreiber, S. 61; W. T, Anfänge des gelehrten Rechts, S. 229; M. J. S, Die Ratsschreiber der Reichsstadt Nürnberg, S. 66. 801 R. . S, Ulrich Zasius, S. 44, 383; P. R, Ulrich Zasius. 802 H. L, Conrad Peutinger; U. M, Ad incrementum rectae gubernationis. 803 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 6, S. 254 f.

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des Rates 1448 den Doctor in geistlichen Rechten. Gleichfalls auf Wunsch des Rates promovierte der Berner Stadtschreiber üring Frickart († 1519), der in Heidelberg, Freiburg, Basel und Pavia juristische Studien betrieben hatte, 1473 an der Universität Pavia dank der Fürsprache der Eidgenossen beim Herzog von Mailand etwas außerhalb der Ordnung zum Doctor in decretis. Er amtierte mit einer kurzen Unterbrechung von 1465 bis 1492 als Stadtschreiber und war anschließend mehrere Jahre Mitglied des Kleinen Rats. Verschiedene Besoldungsbestandteile und Konzessionen weisen die Verträge auf, mit denen die Stadt Braunschweig Hans von Hollege als Ratsschreiber in Dienst nahm. Hollege erhielt 1397 den herkömmlichen Jahreslohn von 4 Mark Silber zuzüglich zweier Kleider und freier Wohnung in der ›Schreiberbude‹, ferner die Befreiung vom Vorschoss. Außerdem musste er Schreibgebühren für Eintragungen ins Bürgerbuch nicht mit dem Rat teilen. Im Jahre 1410 wurde sein Barlohn auf 6 Mark Silber erhöht, das Kleidungsgeld auf 2 Mark weniger ½ Lot festgesetzt. Hinzu kamen bemerkenswerte Versorgungsleistungen zur sozialen Absicherung, die einer modernen beamtenrechtlichen Regelung nahekommen. Im Falle krankheitsbedingter Dienstunfähigkeit oder einer Kündigung von Seiten des Rats wurden ihm auf Lebenszeit die Zahlung von jährlich vier Mark, in Höhe des alten Lohns, versprochen. Ferner gewährte ihm der Rat im Hinblick auf seine bevorstehende Heirat eine Beihilfe von 50 Gulden. Wenn er verstarb, sollte die kommunale Leibrente in Höhe von 6 Mark, die der Ratsschreiber gekauft hatte, für ein weiteres Leben auf seine Witwe übergehen, sodass auch sie dadurch abgesichert war. Kurz zuvor hatte der Rat Verständnis dafür gezeigt, dass Hollege umständehalber keine Geschäfte mehr außerhalb der Stadt besorgen wollte. Im Jahre 1415 versprach der Rat eine Beihilfe zur Stadtsteuer (Schoss), doch wurde diese Bestimmung 1420 zugunsten einer Regelung aufgehoben, die

804 Ebd., S. 251–253.

den Ratsschreiber nicht von der Schossp icht, aber auf Lebenszeit von allen übrigen Bürgerp ichten wie Wacht- und Militärdienst, Verfolgung von Feinden und Räubern (utjacht), Bewaffnung, Halten von Pferden für städtische Dienste und der Zahlung von außerordentlichen Steuern (Schatzungen) freistellte. Neben Hollege amtierte als weiterer Ratsschreiber Diderik Fritze, der früher Lehrling eines Ratsschreibers gewesen war und seit 1390 selbständig amtierte. Die Besoldungsstruktur war ähnlich, einschließlich der Lohnfortzahlung bei Berufsunfähigkeit. Während eines Geschäftsauftrags am Konstanzer Konzil von 1414 bis 1418 erhielt er verschiedentlich zweckbestimmte Zuwendungen, speziell für Kleidung und Miete, eine Trennungszulage von 12 Mark und 20 Gulden, ›weil er Frau und Tochter zuhause ließ‹, größere Summen zur Tilgung der Schulden für Aufwand und Miete, eine Grati kation für die Ausbringung von Kaiserurkunden für die Stadt und am Schluss allgemein für seine Dienste eine kommunale Jahresrente von 5 Mark, die nach seinem Tode für 50 Mark wiederkäu ich war, falls er Frau und eheliche Kinder hinterließ.⁸⁰⁴ Der Straßburger Oberste Schreiber Wernher Spatzinger richtete nach 22½ Jahren Dienstzeit im Jahre 1407 mit leicht polemischem Unterton ein Gesuch an den Rat, ihm den Jahreslohn zu erhöhen, mit dem Hinweis, dass verschiedene Vorgängern, die einen erheblich geringeren Arbeitsanfall zu bewältigen gehabt hätten, einen Jahreslohn von 100 Pfund Straßburger Pfennigen ohne Amtseinkünfte (Gefälle) bezogen hätten. Von sich sagte er, dass er, sein unmittelbarer Vorgänger ausgenommen, seit hundert Jahren der einzige in Straßburg geborene und aufgewachsene Stadtschreiber sei. Er verdeutlichte seine Unterbezahlung mit dem Hinweis, dass er Kinder zu versorgen habe und für seinen Lebensunterhalt sein Vermögen angreifen müsse, und beantragte einen Wochenlohn von einem Pfund, wie ihn ein berittener Söldner mit zwei Pferden beziehe, der jedoch noch Nachtgeld, Beutegeld, Trinkgeld und Vergütun-

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

gen für Botenritte erhalte. Davon wollte er Steuern zahlen und zwei Unterschreiber unterhalten, die teurer als zwei Pferde seien. Außerdem beanspruchte er die gleichen Amtseinkünfte wie sein Vorgänger, ferner wie die Oberschreiber bei allen Herren und in allen Städten jährlich ein repräsentatives Gewand oder 15 Gulden, da ein Oberschreiber stets mehr als andere Amtleute mit Herren verkehre und zur Ehre der Stadt gehöre; wenigsten sollte es ein Gewand sein, wie es der Koch erhalte. Außerdem bat er um Holz, da er die Schreibstube erwärme, in der die Schreiber arbeiteten und viele der Ehrbarsten von Straßburg aus- und eingingen. Die Erhöhung um ein Pfund pro Woche ergäbe im Jahr 52 Pfund, davon gingen 24 Pfund für die von ihm unterhaltenen zwei Schreiber ab, sodass ihm 28 Pfund blieben, wie sie der Büchsenmeister erhalte. Schließlich verlangte er eine Versorgung durch die Stadt, falls er im Dienst blind, lahm oder krank würde. Er bezeichnete dies alles als Mindestforderung und deutete eine Quittierung des Dienstes an, falls man ihr nicht entsprechen wollte. Der Rat bewilligte die jährlichen 52 Pfund, dazu Holz und Wohnung. Ferner legte er die dem Schreiber zustehenden Taxen für Urkunden verschiedener Art, die Bürger schreiben und ausfertigen ließen, in einer Staffelung von 5 Pfennigen bis zu 8 Schillingen fest, überließ ihm aber die angemessene Gebührengestaltung für lateinische und deutsche Schreiben, die in ferne Lande zu fremden Herren und Städten gingen oder für verschiedene Arten von Urkunden sowie für Kaufurkunden, die vor dem Rat gefertigt wurden. Für eine Reihe von Urkunden für die Stadt durfte er ein Geschenk verlangen. Von diesen Einkünften sollte er die beiden in seinem Hause wohnenden Unterschreiber unterhalten, deren Lohn übernahm die Stadt.⁸⁰⁵ In Augsburg erhielt der Stadtschreiber 1363 für alle Geschäftsanfälle jährlich 26 Pfund Pfennige Lohn und hatte davon seine Kosten zu decken. Allerdings hatte er erlaubte Zweiteinnah-

men durch Dienste für Bürger. Weil aber alles teurer geworden sei und damit er den Bürgern und der Stadt ›desto gehorsamer‹ sei, bewilligte ihm der Rat nachträglich pro Jahr noch weitere 5 Pfund für Kleidung und seinem Schüler Rock und Kappen. Seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts konnten die ausdrücklich zur Beratung des Rats verp ichteten rechtsgelehrten Stadtschreiber Valentin Eber, der von 1457 bis 1497 amtierte, und nachfolgend Dr. Konrad Peutinger (1497–1547) ihre Jahresbesoldung von anfänglich 100 Gulden bis auf steuerfreie 240 Gulden steigern. Peutinger war ferner nachweislich in den Jahren 1507–1545 für jährlich 24 Gulden ständiger Rechtsgutachter der Reichsstadt Nördlingen, erstattete für einen weit gestreuten Klientenkreis Konsilien und war immer wieder als Rat von Königen und Kaisern tätig. Er arbeitete seit 1490 zunächst auf vier Jahre mit einem Gehalt von 100 Gulden als Gehilfe des alternden und zuletzt auf Lebenszeit bestallten Valentin Eber und übernahm dessen Dienstreisen, erhielt bei der Vertragsverlängerung 150 Gulden und übernahm 1497 nach Ebers Tod dessen Stelle. Formelle Bedingung für das Amt war ein Universitätsstudium kaum. In vielen Fällen blieben Ratsschreiber geschickte, sprachbegabte und schreiberfahrene Empiriker, die vor ihrem Aufstieg in einer Kanzlei geschult worden waren und sich juristische Kenntnisse im Kanzleibetrieb angeeignet hatten. Speziell für diesen Typus des »Halbgelehrten« in dem nicht abwertenden Sinne, dass er kein ordentliches Studium absolviert hatte, zu dem noch Notare, Advokaten der Niedergerichte und Kleriker gehörten, entstand Ende des 15. Jahrhunderts eine spezielle, früher »populär« genannte praxisorientierte Rechtsliteratur.⁸⁰⁶ Felix Fabri macht für die Ulmer Kanzlei geltend, dass sie nach Art der königlichen Kanzleien eingerichtet sei und laufend Betrieb habe. Der Vorsteher beziehe eine große Besoldung und habe mehrere Unterschreiber (sub-

805 K. T. E (Hg.),Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte (2.2–2.4), Nrr. 11 f., S. 59–62. 806 H. C, Römisches Recht in Deutschland (2.2–2.4), S. 137 f.

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notarii). Aus einem weiten Umkreis schickten ehrbare Familien junge Leute nach Ulm, damit sie dort in der Kanzlei wie auf einer Universität studierten und dann Karriere machten. Die in Ulm Geschulten würden in anderen Städten für erprobte Stadtschreiber erachtet.⁸⁰⁷ Eine Schule bildete etwa auch der Kanzleibetrieb des Esslinger Stadtschreibers Nikolaus von Wyle (1448–1469). 4.4.2 Ratsjuristen (Stadtjuristen), Syndici und Prokuratoren Das wachsende Bedürfnis des Rats nach juristischer Fachberatung führte in einigen Städten zur Verp ichtung gelehrter, üblicherweise graduierter Juristen in unterschiedlicher Bezeichnung als Rats- und Stadtjuristen, Ratskonsulenten, Stadtadvokaten oder Syndici.⁸⁰⁸ Der Ausdruck ›Syndicus‹ ist mehrdeutig, da er sowohl den Juristen als auch den prozessbevollmächtigten Prokurator bezeichnen kann. Die Aufgabe der Rechtsberatung wurde als spezieller Tätigkeitsbereich vom Amt des Ratsschreibers abgetrennt und dem neu geschaffenen Amt des Rats- und Stadtjuristen oder Syndicus zugewiesen. Anstoß dazu gaben zunächst vor allem Auseinandersetzungen der Stadt mit geistlichen Gewalten und Rechtsstreitigkeiten vor geistlichen Gerichten, die kanonisches und ersatzweise römisches Recht anwandten und nach dem römisch-kanonischen Prozess verfuhren. Die umfangreichen Akten der großen und langwierigen Prozesse, die der jeweilige örtliche hohe Klerus um 1300 gegen die Stadt Lübeck und um 1350 gegen Hamburg vor delegierten päpstlichen Richtern und an der päpstlichen Kurie in Rom und Avignon führte, zei-

gen bereits die Einübung auch der Weltlichen in den hochentwickelten kanonischen Prozess, der nur noch mithilfe entsprechend rechtskundiger Stadtschreiber und Prokuratoren oder gelehrter Juristen geführt werden konnte⁸⁰⁹, dies schon zwei Jahrhunderte bevor seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert verstärkt Elemente des römisch-kanonischen Prozesses auch in das traditionale landrechtlich-mündliche Verfahren der Stadtgerichte aufgenommen wurden. Doch vor allem seit dem 14. und 15. Jahrhundert drang auch in den Städten römisch-kanonisches Recht als gemeines Recht (ius commune) insbesondere befördert durch die städtischen Juristen, die grundsätzlich und damit antizipatorisch vom römisch-kanonischen Prozessrecht als Verfahrensnorm ausgingen⁸¹⁰, auf weiten Gebieten des Rechtslebens vor. Der Rat der Stadt Lübeck, wo trotz einiger Ein üsse das römische Recht noch im 16. Jahrhundert grundsätzlich abgelehnt wurde, versuchte im Hinblick auf Auseinandersetzungen mit der Kirche, geistlichen Institutionen, ihren Gerichten und der weiteren Umwelt bereits um 1250, in der Lombardei einen im römischen und kanonischen Recht kundigen Juristen anzuwerben, doch verhinderte dies Ezzelino da Romano, der Statthalter König Konrads. Im Jahre 1270 verp ichtete der Rat neben dem Ratsschreiber einen auch rechtskundigen Magister Heinrich von Wittenborn für die Rechtsberatung, und 1310 eröffnete der Bürgermeistersohn Wilhelm von Bardewik die bis 1851 nicht mehr unterbrochene Reihe der rechtsgelehrten Syndici, die sogar Sitz und Stimme im Rat erhielten. Erfurt konnte 1275 mit Heinrich von Kirchberg einen in Bologna ausgebildeten und promovierten Doktor des Kirchenrechts als

807 Felix Fabri, Tractatus de civitate Ulmensi (1.1), Principale V, S. 131 (dt.Übersetzung S. 89 f.). 808 W. T, Anfänge des gelehrten Rechts in Deutschland; F. W. E, Die Juristen der Reichsstadt Nürnberg; H. W, Nürnberger Bürger und Juristen; G. N, Lübecker Syndici des 15. Jahrhunderts; K. W, Das gelehrte Personal; ., Bürgertum und Studium; ., Stadtrat – Bürgertum – Universitäten; D. W, Juristen im mittelalterlichen Franken; E. I, Reichsrecht und Reichsverfassung; ., Recht und Verfassung; ., Aufgaben und Leistungen; ., Zur Rezeption des römischen Rechts; ., Funktionen und Leistungen; ., Gelehrte Juristen und das Prozeßgeschehen; ., »Pares curiae«; ., »Liberale« Juristen? 809 Siehe 5.5. 810 E. I, Gelehrte Juristen und das Prozeßgeschehen.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

Syndicus verp ichten. Der Speyrer Rat bestallte 1322 für drei Jahre den Magister Heinrich von Fulda, utriusque iuris professor, für die Wahrnehmung von Angelegenheiten der Stadt im geistlichen Gericht. In Köln nahmen seit Anfang des 14. Jahrhunderts geschworene rechtsgelehrte Kleriker, die Stadtpfaffen (clerici civitatis), die juristische Beratung und die gerichtliche Vertretung als Prokuratoren wahr. Seit der Gründung der Universität (1388/89) wurde es zudem üblich, von der Stadt besoldete Universitätsprofessoren damit zu betrauen, wie auch das höhere Kanzleipersonal oft der Universität angehörte. In Nürnberg ist seit 1366 das Amt des Ratsjuristen belegt, seit 1413 wurde dem Stadt- und Ehegericht ein Ratsjurist beigegeben. Rat und Gericht ließen sich als Entscheidungshilfe oder Entscheidungsgrundlage häu g Gutachten ihrer am römischen und kanonischen Recht geschulten Juristen erstatten. Seit 1431 ist das Amt des Syndicus oder Prokurators belegt, der die Stadt und ihre Bürger vor auswärtigen Gerichten vertrat, daneben auch den Rat in diplomatischen Verhandlungen juristisch beriet und Gesandtschaften im Dienste der Stadt unternahm. Der Syndikus war in der Regel Magister, das Amt war erheblich niedriger besoldet als das des Ratsschreibers. Prokuratorische Aufgaben wurden seit der Mitte des 15. Jahrhunderts immer mehr von der anwachsenden Zahl der Ratsjuristen wahrgenommen. Schließlich gab es zwei Gruppen von Stadtjuristen. Die erste Gruppe, Dr. Christoph Scheurl gibt 1516 ihre Zahl mit fünf bis sechs Doctores beider Rechte an, erstattete dem Rat in allgemeinen städtischen Angelegenheiten schriftlich und mündlich Gutachten und durfte ohne besondere Erlaubnis des Rats niemandem als Rechtsbeistand dienen. Die zweite Gruppe bildeten juristische Doctores, etwa vier an der Zahl, die gleichfalls von der Stadt besoldet wurden, daneben aber auch von den Bürgern gegen Bezahlung als Schriftsätze ausarbeitende Advokaten in Anspruch genommen werden durften. Auch in einigen anderen Städten wurden im Übergang zum 16. Jahrhundert mehrere Rechtsgelehrte gleichzeitig in Dienst genommen. Hingegen waren juristische Docto-

res in der Eidgenossenschaft, wo das römische und kanonische Recht nach anfänglichem Eindringen über Schiedsgericht, Notariat und Offizialat im 15. Jahrhundert wieder an Bedeutung verlor, eine Seltenheit. Das Bedürfnis, sich Rechtssicherheit durch Rechtsberatung zu verschaffen, und zwar anhand der ›gelehrten geschriebenen Rechte‹, des römisch-kanonischen Rechts, wird früh schon durch die Einholung von Rechtsgutachten manifest. Die preußische Stadt Elbing mit Lübecker Recht ließ sich 1300 ein Konsilium zweier Pariser Kanonisten, zwei weitere Gutachten von rechtsgelehrten Lübecker Kanonikern und eines vom rechtskundigen Lübecker Syndicus Heinrich von Wittenborn erstatten. Köln erhielt 1348 zwei Rechtsgutachten von Professoren aus Montpellier, wo auch Kölner studierten. Über die Konsiliartätigkeit und die anderen Aufgaben städtischer Juristen sind wir derzeit am besten hinsichtlich der Rechtsprofessoren der Universität Köln und der Nürnberger Ratsjuristen unterrichtet. Kölner Universitätsjuristen waren nicht nur für die Stadt Köln tätig, sondern erstatteten auch Gutachten für die niederrheinischen Städte Wesel, Duisburg und Dortmund sowie für Nürnberg. Nürnberger Ratsjuristen verfassten im 15. Jahrhundert Konsilien und Urteilsvorschläge auch für Rothenburg ob der Tauber, Schwäbisch Hall, Nördlingen, Dinkelsbühl, Ulm, Augsburg und Frankfurt am Main. Für seine eigenen Belange verließ sich der Nürnberger Rat aber nicht nur auf seine eigenen Juristen, sondern holte mehrfach Gutachten von der Paduaner Rechtsfakultät, wo Nürnberger studierten, darunter spätere Ratsjuristen und bayerische Räte, und derjenigen Bolognas ein, ferner von Rechtsprofessoren der 1472 gegründeten Universität Ingolstadt und weiterer deutscher Universitäten, von Juristen der Stifte Eichstätt und Freising und des Regensburger und Würzburger Domkapitels, der Stadt Augsburg und von den ehemaligen Nürnberger Ratsjuristen und bayerischen Räten Dr. Martin Mair und Dr. Johannes Pirckheimer. Dr. Mair bezog auch als bayerischer Rat bis zu seinem Le-

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bensende von Nürnberg ein Gehalt in Wartestellung. In einem Kammergerichts- und nachfolgenden Schiedsprozess, in dem der Kaufmann und frühere prominente Ratsherr Anton Paumgartner als Kläger mit einer Schuldforderung gegen den Rat auftrat, erhielt der Nürnberger Rat im Jahre 1467 nicht weniger als 30 Rechtsgutachten. Unter den Gutachtern befanden sich Rechtsprofessoren und Fakultäten der Universitäten Erfurt, Heidelberg, Köln, Padua und Bologna, der Kanzler des Erzbischofs von Mainz, Rechtsgelehrte verschiedener geistlicher Institutionen, darunter der römischen Kurie, und einzelne namhafte Juristen. Konsilien aus Padua und Bologna hatte Nürnberg schon zuvor in anderen Rechtsfragen erhalten. Auch Lüneburg bezog Mitte des 15. Jahrhunderts im Streit um die P icht der Sülfbegüterten, der Stadt in nanziellen Notlagen Beisteuern zu leisten, ein Gutachten aus Padua. Städte, die keinen festen Ratsjuristen in ihrem Sold hatten, liehen sich in Rechtsstreitigkeiten, insbesondere für Schiedsgerichtsverhandlungen, Juristen aus. Während der Nürnberger Rat einen Juristen wie Dr. Mair fränkischen und schwäbischen Städten zur Verfügung stellte, lieh er sich dennoch auf der anderen Seite etwa vom Bischof von Würzburg den rechtsgelehrten Domherrn Dr. Kilian von Bibra aus. Der Augsburger Stadtschreiber Dr. Konrad Peutinger erstattete für Stadträte, Gerichte und Bürger einer Vielzahl nieder- und oberschwäbischer und fränkischer Reichsstädte Rechtsgutachten, daneben in deutlich geringerer Anzahl im Umfang etwa eines Viertels noch für Adlige, Klöster und territorialherrschaftliche Gemeinden sowie für König Maximilian I. (14931519), insgesamt in mindestens 73 Fällen.⁸¹¹ Augsburg hatte zwar in der Zeit von 1480 bis 1499 mit dem Magister Ulrich Schaller einen Ratskonsulenten mit einem Jahressold von 120 Gulden beschäftigt, doch wurde nach dem 1497 zum Stadtschreiber bestallten Dr. Peutin-

ger erst 1511 mit Dr. Johann Rehlinger wieder ein promovierter Jurist mit einem Jahressold von 200 Gulden in Dienst genommen. Mit dem Straßburger Stadtadvokaten, dem Doctor in kaiserlichen Rechten Jacob Wetzler, vereinbarte der Rat 1489 ein jährliches Salär von 140 Gulden und Zollfreiheit; für auswärtige Missionen erhielt er Pferde, Spesen und ein Reitgeld wie die Ratsherren. In Nürnberg wurden in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts Grundgehälter bis zu 200 und 260 Gulden bezahlt; in einem Ausnahmefall vereinbarte der Rat für das Jahr 1450 mit Dr. Gregor Heimburg 500 Gulden. Den gut besoldeten und gelegentlich zusätzlich mit speziellen Ehrungen und Liebungen für besondere Leistungen honorierten Ratsjuristen oblag es, den Rat umfassend in allen rechtlichen und politischen Angelegenheiten zu beraten. Nürnberger Juristen analysierten etwa die Form und Rechtswirkung von Mandaten des königlichen Stadtherrn und Reichsoberhaupts, die beim Rat eingegangen waren, und sorgten dafür, dass die vom König erbetenen Privilegien die notwendigen Klauseln der königlichen Willensentscheidung und Rechtsmacht enthielten, damit die rechtsbeständig waren und Einwendungen Dritter standhielten. Juristen wurden in einige der vom Rat ad hoc eingerichteten Kommissionen entsandt, wo sie die Ratsdeputiertenbei der Erledigung der Geschäftsaufträge berieten, unter anderem in Fragen der Gesetzgebung. Ferner entwarfen sie für den Rat Prozessstrategien, vertraten Rat und Stadt als Prokuratoren vor auswärtigen Gerichten und waren an diplomatischen Missionen zur Wahrung städtischer Interessen beteiligt. Die Bestallung des Straßburger Stadtadvokaten Dr. Wetzler fasst dessen Aufgaben knapp zusammen: Er hatte den Meistern und dem Rat auf deren Begehren in ihren Angelegenheiten ›zu raten, zu reden, zu schreiben, zu richten und zu Tagsatzungen zu reiten‹. Er durfte keine anderen Dienstverp ichtungen oder Verp ichtungen eingehen, wohl aber ein-

811 R. K , Strukturen südwestdeutscher Städtelandschaften zwischen Dominanz und Konkurrenz, in: H. T. G/ K. K (Hg.), Städtelandschaft (6), S 83–85.

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zelnen Bürgern gegen Stadtfremde mit Erlaubnis des Rats für ein angemessenes Entgelt dienen. Stand zunächst die Rechtsberatung des Rates im Vordergrund, so erstatteten die Ratsjuristen später Gutachten und Urteilsvorschläge für Schiedsgerichtsverfahren, relativ spät im 15. Jahrhundert auch für das Ratsgericht als Appellationsinstanz (Nürnberg) und das mit Schöffen und Rechtshonoratioren besetzte Stadtgericht (Nürnberg, Frankfurt a. M.). Während in Frankfurt am Main einzelne Juristen, wie erstmals der Patrizier Dr. Ludwig Marburg zum Paradies 1468/69, Mitglieder des Schöffengerichts wurden, saßen in Nürnberg, wie wir durch die Mitteilung Dr. Scheurls von 1516 wissen, Juristen regelmäßig als Rechtsberater im Stadtgericht, hatten dort die Rechtslage nach römisch-kanonischem Recht aufzuzeigen, durften aber nicht bei der Urteils ndung votieren. In wichtigen und schwierigen Fragen hatten in Nürnberg mehrere Juristen, ohne sich untereinander zu vergleichen, getrennte Gutachten zu erstatten. Falls es dem Rat erforderlich erschien, holte er zu diskrepanten Gutachten weitere gutachtliche Stellungnahmen ein, die nicht selten über Nacht oder im Falle auswärtiger Gutachter bei wartendem Boten verfasst werden mussten. Je nach Umfang, Bedeutung und Schwierigkeit der Ratsgeschäfte konferierten zwei deputierte Ratsherren drei- bis fünfmal in der Woche am frühen Morgen mit den Ratsjuristen, um dann am folgenden Tag darüber im Rat zu berichten oder die von den Juristen verlangten Gutachten entgegenzunehmen. Die Beauftragung mehrerer Juristen in derselben Sache diente auch einer gewissen Kontrolle der Juristen durch den Rat. Juristen, die vom Rat in wichtigen oder heiklen Angelegenheiten vorzugsweise beschäftigt wurden und daher in die Interna eingeweiht waren, genossen, wie der Stadtschreiber, eine besondere Vertrauensstellung. So setzte der Nürnberger Rat alles daran, Dr. Seyfrid Plaghal, als er 1470 vom Mainzer Erzbischof umworben wurde, mit Hinweis darauf durch großzügige Gegenangebote zu binden und wenigstens zum Verbleib in der Stadt zu

veranlassen, auch wenn er nur noch nach eigener Entscheidung weiterhin juristisch tätig sein wollte. Auch in Köln verordnete der Rat zwei seiner Mitglieder (meistere van recht) immer wieder zu Beratungen mit Rechtsgelehrten über einzelne Fälle und Verfahren und entsandte darüber hinaus dem Rat verp ichtete Juristen der Universität in Ratskommissionen (Schickungen), denen vielfältige rechtliche und politische Aufgaben übertragen wurden. Wichtige Gutachten und solche, von denen man annahm, dass sie exemplarischen Charakter besaßen und auch in anderen Fällen von Nutzen sein konnten, wurden in Nürnberg seit dem 15. Jahrhundert in die Sammlung der Ratschlagbücher aufgenommen. Es handelt sich dabei um mehrbändige Sammlungen von Konsilien, die aber darüber hinaus Kompendien darstellten, die auch Exzerpte aus der rechtswissenschaftlichen Literatur verschiedenster Art, italienische Konsilien und Prozessakten, auch solche zu fremden Fällen, und andere Rechtsmaterien wie Reichsgesetze und Gerichtsordnungen enthielten. Für ihre Arbeit stand den Ratsjuristen des Weiteren außer eigenem Besitz an Pergament- und Papierhandschriften und späteren Drucken – wie in einigen anderen Städten – die Ratsbibliothek mit einem wachsenden, von ihnen durch Anschaffungsvorschläge vermehrten Bestand an Juridica zur Verfügung. Die Ratsbibliothek wurde in Nürnberg schubartig durch die Schenkung inter vivos des Ratsjuristen Dr. Konrad Konhofer († 1452) im Jahre 1443, in Frankfurt am Main durch das testamentarische Vermächtnis des Stadtadvokaten, Schöffen und Schultheißen Dr. Ludwig Marburg zum Paradies († 1502) grundgelegt. Der Nürnberger Ratsjurist Dr. Seyfrid Plaghal ließ in seinem Hause eine Konsiliensammlung des italienischen Juristen Ludovicus Pontanus abschreiben. Die Konsilien für Städte können in vier grobe Gruppen eingeteilt werden: Rechtsgutachten (1) zu Rechtsstruktur und Verbindlichkeit kaiserlicher Mandate, zu reichspolitischen und zugleich hochpolitischen Angelegenheiten wie

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Reichshilfe für den Kaiser, zu Bündnisrecht, Freiheit der Reichsstraßen oder Landfriedensrecht, (2) zu Fragen der städtischen Privilegien, der Stadtverfassung und Stadtregierung, (3) Konsilien, Unterweisungen (informationes) und Urteilsvorschläge für städtische Gerichte sowie Gutachten und Schriftsätze für Prozessparteien, wobei grundsätzlich alle aus Streitigkeiten resultierenden prozess-, zivil- und strafrechtlichen Fragen beantwortet werden, und (4) Rechtsauskünfte zu Fragen, die das geistliche Gericht und den Klerus betreffen. Durch ihre Gutachten förderten die Stadtjuristen die Rezeption des römisch-kanonischen Rechts und bereiteten den großen Rechtsreformationen des ausgehenden 15. Jahrhunderts den Boden, die mehr oder weniger das Ortsrecht an das gemeine Recht anglichen, es äquiparierten. Zu den herausragenden Leistungen gehören die juristische Begründung des städtischen Gesetzgebungsrechts und des kommunalen Selbstverwaltungsrechts mit Satzungsautonomie⁸¹², die Grundlegung eines juristischen Besteuerungs- und Steuerstrafrechts auch für Städte mit eingeschränkter Gerichtsbarkeit, die Sicherung des städtischen Privilegienrechts gegen stadtherrlichen Widerruf und der für die Behauptung städtischer Autonomie wichtige Aufweis, dass Einreden gegen Gebote der höheren Gewalt des Königs und des Papstes, die rechtswidrig waren, auf unwahrer Unterrichtung beruhten, Rechte beeinträchtigten und Beschwerungen (gravamina) verursachten, von Rechts wegen zulässig und sogar vom Oberen gewünscht waren. Juristen wie Dr. Martin Mair und Dr. Wilhelm von Werdena setzten um 1475 dem Nürnberger Rat die komplexe Lehre vom Recht des Besitzes nach römischem Recht auseinander, und zwar mit denselben Allegationen des römischen Rechts, auf die sich im 19. Jahrhundert Friedrich Carl von Savigny und Friedrich Georg Puchta stützten, deren Begrifflichkeit und System auf die späte Pandek-

tistik und das Bürgerliche Gesetzbuch (1900) einwirkten.⁸¹³ Gelehrte Juristen setzten sich für eine grundsätzlich gewaltfreie und friedliche, »zivile« Rechtsordnung ein, sprachen sich deshalb für ein reichsgesetzliches Fehdeverbot und ein vom Kaiser ausgehendes obrigkeitliches Gewaltmonopol aus. Sie forderten die Einhaltung der ordentlichen Prozessverfahren (ordo iudiciarius), hoben den naturrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör und rechtliche Gegenwehr hervor, stellten quali zierte Ansprüche an den Beweis heraus, erläuterten die Rechtsmittel der Protestation und Appellation und begründeten auf diese Weise frühe Formen von Rechtsstaatlichkeit. Noch bis weit in das 15. Jahrhundert hinein wurden entsprechende Dienstämter, auch die der Ratsjuristen, überwiegend mit Klerikern besetzt, die mit Kirchenpfründen versorgt werden konnten. Einige Städte bemühten sich um eigenen Nachwuchs für wichtige Ämter, indem die Kommunen oder Private Stipendien für das Universitätsstudium einrichteten. Studiert wurde seit dem 13. Jahrhundert zunächst an prestigeträchtigen italienischen und französischen Universitäten, bis dann seit der Mitte des 14. Jahrhunderts beginnend mit Prag (1348) auch im Reich Universitäten gegründet wurden. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts etwa rückten Laien in die Stellen des Ratsschreibers (Protonotars) und des Ratsjuristen (Syndikus) ein, darunter zunehmend Söhne aus ratsfähigen Familien, die ein Studium auf sich genommen und mit einem akademischen Grad abgeschlossen hatten. Vereinzelt gelangten nun auch ausgebildete Juristen in den Rat; die eigentliche Zeit der rechtsgelehrten Ratsherren begann jedoch erst später um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Der aus Buxtehude stammende Doktor beider Rechte Heinrich Langenbeck wurde 1479 in den Hamburger Rat gewählt und 1482 mit noch nicht 30 Jahren Bürgermeister. Der aus Lüneburg stammende Licentiatus legum Hein-

812 Insbesondere dazu im Vergleich mit Art. 28 Abs. 2 Grundgesetz und Grundgesetzkommentaren siehe E. I, Zur Modernität der kommunalen Welt (1.1), S. 93–105. 813 E. I, »Pares curiae«, S. 264–280.

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rich Brömse gelangte 1477 in den Lübecker Rat und 1487 in das Bürgermeisteramt. Beide entstammten Ratsfamilien ihrer Herkunftsorte. In Ulm gelangte um 1500 Dr. Matthäus Neidhart ins Bürgermeisteramt. Eine bemerkenswerte prinzipielle Ausnahme machte Nürnberg, das sich wie keine andere Stadt um die Verp ichtung graduierter Rechtsgelehrter bemühte. In Nürnberg bedeutete der Erwerb des juristischen Doktorgrades, nicht etwa das Rechtsstudium an sich, auch für Angehörige prominenter Ratsfamilien den Verzicht auf eine Ratskarriere, denn hier galt Dr. Scheurl zufolge, dass kain doctor, er sei vom geschlecht wie edel er im[m]er woll, in rat gesetzt würt. Der Nürnberger Hans Pirckheimer studierte um die Mitte des 15. Jahrhunderts in Padua die Rechte, promovierte aber nicht und war Ratsherr, sein Sohn Johannes wurde graduierter Jurist und blieb außerhalb des Rats, erstattete für den Rat Rechtsgutachten, trat jedoch in bayerische Dienste ein.⁸¹⁴ Das geburtsständische Prinzip des Patriziats, wonach die Berechtigung zu unmittelbarer Herrschafts- und Amtsausübung im Rat ausschließlich in der Herkunft begründet sein sollte, wurde rigoros selbst gegen Standesgenossen gewendet, um jeder Au ösung durch eine auf spezielle Kenntnisse gestützte Noblesse de robe zu begegnen, kam doch den Doctores der Jurisprudenz nach römischem Recht und italienischer Kommentatorenlehre Adelsrang zu. Aus entsprechenden Gründen durfte der Nürnberger Ratsschreiber nicht in Rechtswissenschaft promoviert haben, da er von Amts wegen notwendigerweise Zutritt zu den Ratssitzungen haben musste. Wenn man Dr. Scheurl glauben kann, genossen die juristischen Doctores in Nürnberg ungeachtet dessen und ihres Amtes als eines Dienstamtes ein Sozialprestige, das dem der Älteren Herren des Rates und der Älteren Bürgermeister gleichkam. Im hansischen Raum standen die Syndici und Doctores dem Rang nach unmittelbar hinter den Bürgermeistern und noch vor den Ratsherren. Nach der Mitte des 15. Jahrhunderts waren

mit Dr. Gregor Heimburg und Dr. Martin Mair zeitweise Ratsjuristen tätig, die nach ihrem Ausscheiden in den Fürstendienst gingen und reichspolitische Bedeutung erlangten. Städtische Gesandtschaften bestanden häug aus einem bevollmächtigten und instruierten Ratsherrn (Ratsfreund), der die politisch verantwortliche und entscheidende Instanz des Ratskollegiums repräsentierte, und entweder einem gelehrten Juristen, einem Prokurator (Syndicus) oder dem Stadtschreiber mit juristischer Sachkompetenz. 4.4.3 Weitere Dienstämter Neben den bedeutenden und prominenten Dienstämtern gab es der Größe und dem Verwaltungsstandard der Stadt entsprechend eine Vielzahl weiterer kleiner Dienstämter bis hinunter zu den subalternen Diensten. Ihre Inhaber bezogen Geld- und Naturalentlohnungen, waren vielfach aber auch auf Gebühren, Anteile von Strafgeldern oder Einzelvergütungen angewiesen und teilweise in den Stadtfarben gekleidet. Höhere und subalterne Dienstämter gab es in folgenden Bereichen: 1. Dienstpersonal im Rathaus: Hausknechte, Stadtkoch, Spielleute, Briefboten. 2. Verteidigung und Militärwesen: Befehlshaber der Soldtruppen, reitende Söldner, Infanteristen (Trabanten), Büchsenmeister, Wagenführer; Turm- und Außenwächter. 3. Öffentliche Ordnung: Stadtknechte, patrouillierende Scharwächter und Söldner, Personal der Gewerbe- und Marktaufsicht, Eichmeister. 4. Vollstreckung im Gerichtswesen: Büttel, Stadtknechte, Gefängnishüter, Henker, Folterknecht. 5. Polizei und Wohlfahrtsp ege: Schulämter, Spitalp eger, Stadtärzte, Stadtapotheker, Hebammen; Bedienstete der Feuerwehr und des Abfuhrwesens, Abdecker, Stadthirten. 6. Steuer- und Finanzverwaltung: Steuereinnehmer, Personal für Waage, Zoll und Mün-

814 F. F (Hg.), Die Pirckheimer; mit einem Beitrag von F. F zu Hans Pirckheimer († 1492), S. 9–44.

Städtische Dienstämter 433

ze, Einnehmer der Verkehrs-, Verbrauchsund Gewerbesteuern sowie der Vogteiabgaben (der Juden), Geldzinse und Korngülten. 7. Entsprechendes Personal besaßen das Bauamt, die Verwaltung der gewerblichen Eigenbetriebe der Stadt oder die Forstverwaltung. Das mit mit subalternem Dienstpersonal relativ gut ausgestattete Augsburg, das aber kein Landgebiet zu verwalten hatte, beschäftigte um 1500 bei vielleicht 30 000 Einwohnern insgesamt 24 Scharwächter, 35 Wächter auf den Türmen und vier Stadtknechte, insgesamt 63 Ordnungskräfte, zu denen durchschnittlich 34 Söldner kamen. Insgesamt waren es einschließlich der Söldner 160–190 Bedienstete in verschiedenen Funktionen, die an Personalkosten, die wegen der Gebührenanteile kaum exakt zu berechnen sind, in der Zeit von 1481 bis 1525 etwa zwischen 9 und 15 Prozent der Gesamtausgaben der Stadt verursachten. Nürnberg mit seinem Territorium beschäftigte nach dem Amtsbuch von 1516 etwa 250 bis 260 Personen mit ähnlichen Aufgaben, das viel kleinere Rothenburg ob der Tauber etwa 65 Personen.⁸¹⁵ Der Rat beschäftigte für seinen Nachrichtenverkehr je nach Größe der Stadt und Korrespondentennetz in schwankender Zahl bis zu fünf festangestellte und vereidigte Ratsboten, daneben nach Bedarf weitere Gelegenheitsboten (zubotten).⁸¹⁶ Bereits für das 15. Jahrhundert sind Läufer- oder Botenordnungen in Straßburg (1405, 1443, 1484), Köln (1479) oder Nürnberg (1484) überliefert. Die Boten trugen städtische Kleidung und gingen zu Fuß, wurden aber auch als reitende Boten eingesetzt. Die Ratsboten, die ihre Briefe und andere Dokumente in Botenbüchsen mit dem städtischen Wappen beförderten und in Köln ›Boten mit der silbernen Büchse‹ genannt wurden, fungierten als Überbringer schriftlicher Nachrichten, aber auch als Informanten und mündliche Berichterstatter. Boteneide verp ichteten die Boten, unterwegs Informationen und Nachrich-

ten aller Art, die der Stadt zum Nutzen oder Schaden gereichen konnte, aufzunehmen und zu Hause dem Bürgermeister oder Rat zu melden. Die Boten warteten in der Botenstube auf Aufträge und durften in vielen Städten neben ihren amtlichen Diensten auch Briefe von Bürgern befördern. Das Meilengeld war der Basisverdienst, der für entferntere Zonen oder durch sonstige Zulagen erhöht werden konnte; daneben gab es auch den Wochen- oder einen Jahreslohn. Auf der anderen Seite konnten Pilger, Ordensleute oder Kau eute mit städtischem Briefverkehr beauftragt werden. Nürnberg verbuchte in den zehn Jahren zwischen 1431 und 1440 über 430 Ratsgesandtschaften, welche die Stadt verließen, und rechnete 855 Botengänge ab. In den Stadtrechnungen Wesels sind zwischen 1428 und 1432 nicht weniger als 500 Botschaften der Stadt an den Landesherrn und an über 50 Städte verzeichnet, von denen etwa die Hälfte weiter als 50 Kilometer entfernt waren. Aussagekräftig ist die Aachener Überlieferung. Im Jahre 1354 unternahmen fünf Boten 63 Reisen, 1346 jedoch 19 Boten nur 72 Reisen, während 1370 im Zeichen einer Fehde mit erhöhtem Nachrichtenumsatz in nur drei Monaten fünf Boten 190 Reisen durchführten. Die Kölner Stadtrechnungen ergeben zwischen 1370 und 1380 eine Gesamtzahl von etwa 600 Ortsnennungen. Dabei steht Aachen mit 120 Nennungen an der Spitze, doch nden sich auch 8 Reisen nach Avignon und mindestens 16 nach Rom. Im Kölner Haushalt schlugen 1379 die Botengänge zu mehr als 100 Empfängern, darunter zwei Gänge nach Rom, mit über 700 Mark (540 Gulden) zu Buche, das waren mehr als 3 Prozent der Gesamtausgaben.

815 J. R, Für den Gemeinen Nutzen, S. 155 f. Vgl. auch G. S, Köln im Kreuzverhör (4.7), S. 61. Der Rottweiler Rat beschloss, in Friedenszeiten nur noch zwei Söldner zu unterhalten. H. G (Hg.), Das ältere Recht der Reichsstadt Rottweil (2.2–2.4), Nr. 388, S. 226. 816 H.-D. H, Brievedregher; P. M, Villes d‘Allemagne (Einleitung), S. 214–227.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

4.5 Schriftwesen und Geschichtsschreibung 4.5.1 Das Schriftwesen: Kanzlei und Schriftgut Das Schriftwesen war Teil des neuen avancierten Verwaltungsstils und der Verwaltungstechnik der Stadt.⁸¹⁷ Schriftgebrauch wie Rechnungswesen gehörten zu den intellektuellen Fertigkeiten der gebildeten und kaufmännischen Oberschicht. Das städtische Schriftwesen begann bei einem West-Ost-Gefälle in der Überlieferung mit der Ausstellung städtischer Urkunden und lediglich vereinzelten Belegen seit der Mitte des 12. Jahrhunderts, sodann nach dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts mit dem Rats- oder Stadtbuch (liber civitatis), das individuelle Namen erhalten konnte⁸¹⁸, und mit Akten der Finanzverwaltung. Die Gerichtsakten des Stadtgerichts und dessen Siegel blieben als stadtherrliches Element außerhalb der Ratskanzlei. Die Urkunden wurden mit dem großen Stadtsiegel (sigillum civitatis), dem zunächst einzigen Siegel, beglaubigt, bis später für die Vielzahl der anfallenden Rechtsgeschäfte als Spezial- und Nebensiegel das Geschäftssiegel (sigillum ad causas) und das Sekretsiegel (›heimliches Siegel‹) für Briefe des Rats aufkamen. Der Siegelabdruck konnte auch mithilfe einer Presse mit Schraubgewinde erfolgen; auf den Teller der Presse legte man den negativ gearbeiteten Siegelstock (Typar) und drückte darauf dann vorgeformtes oder erwärmtes Wachs. Ein kleineres persönliches Siegel führten verschiedentlich die einzelnen Schöffen und später herausgehobene bürgerliche Honoratioren wie die Genannten (nominati) Nürnbergs, die damit vor allem in der freiwilligen Gerichtsbarkeit beglaubigten.

Die Sprache der Urkunden und (frühen) Bücher war lateinisch, bis sich um die Mitte des 14. Jahrhunderts rasch fortschreitend die deutsche Volkssprache durchsetzte. Das Stadt- oder Ratsbuch, das in Lübeck auch liber memorialis, denkelbok oder liber notandum, in Köln Eidbuch (1321) und in Nürnberg Satzungsbuch (1302) heißt, war ein vermischtes Buch, das alle aufzeichnungswürdigen, vor dem Rat als zentraler und ungegliederter Behörde verhandelten Angelegenheiten enthielt. Das älteste deutsche Stadtbuch war der verloren gegangene liber civitatis Lübecks von 1227. In Köln kamen neben den statutarischen Eidbüchern seit den frühen zwanziger Jahren des 14. Jahrhunderts die heute so genannten Ratsmemoriale oder Memorial- und Beschlussbücher hinzu, von denen sich mit Einträgen 1396 beginnend vier Bände erhalten haben, bis dann 1513 die Ratsprotokolle eingeführt wurden. In die Memorialbücher wurden nur die wichtigsten Beschlüsse und Sachverhalte eingetragen, die nach Auffassung des Rats für die Zukunft ›im Gedächtnis zu halten‹ waren, in memorien blieven sollten, und insbesondere nicht diejenigen, die man geheim halten wollte. Verordnete des Rats, in Köln waren es zwei ›Memorialmeister‹ (magistri memorialium), führten den Registrierungsbefehl aus und teilten der Kanzlei die Beschlüsse mit, die in das Memorialbuch (register) eingetragen werden sollten. Die Bücher hielten die Disposition des aktuellen Tagesgeschäfts fest, bewahrten die Erinnerung daran und sicherten damit zugleich Informationen für zukünftige Entscheidungen: Providere futura, ordinare presencia, preterita recordari, so heißt es – an die politische Klugheitsregel anknüpfend – im Vorspruch zum ältesten Prager Stadtbuch von etwa 1280.⁸¹⁹

817 E. P, Schrift- und Aktenwesen; H. P, Neue Typen des Geschäftsschriftgutes; K. K / A. C / K. N- S, Deutsche Rechtsgeschichte 2 (2.0), S. 57–73; A. P, Mittelalterliche Stadtbücher; T. H, Anfänge kommunaler Schriftlichkeit. 818 Die ältesten Ratsbücher: Lübeck (1227–1284; verloren), Rostock (1258–1323), Stralsund (1270–1310), Kiel (1264–1289), Greifswald (1291). Hissuta Hilla (struppige Hilde) wegen des rauen Schweinsledereinbands und Nudus Laurentius (nackter Lorenz) wegen des fehlenden Einbands wurden in Breslau die beiden ältesten Stadtbücher (1328–1360; 1361–1373) genannt. Zu einzelnen Editionen von Stadtbüchern siehe Quellen und Literatur zu 4.5, zu den Stadtbüchern im Bereich der neuen Bundesländer vom Mittelalter bis etwa 1800 siehe den Index Librorum Civitatum; www.stadtbuecher.de. 819 Zitiert nach A. P, Schriftorganisation, S. 49.

Schriftwesen und Geschichtsschreibung 435

Die Nürnberger Ratsverlässe (Ratsmanuale, Ratsprotokolle) sind Schmalfoliohefte, in die einer der beiden Ratsschreiber vermutlich noch im Verlauf der Sitzung des Kleinen Rates stichpunktartig Einträge zu allen Tagesordnungspunkten in der verhandelten Reihenfolge vornahm. Für jede der vierwöchigen Amtsperioden der beiden Bürgermeister wurde ein Heft angelegt, das in Form eines Beschlussprotokolls knapp die Inhalte der Ratsentscheidungen (Verlässe) festhielt und diejenigen Ratsherren, Ratsämter oder städtischen Amtsträger nannte, die mit der Ausführung der jeweiligen Beschlüsse beauftragt wurden und in einer späteren Sitzung darüber Bericht zu erstatten hatten. Für die Jahre 1449–1451 und 1471 haben sich Hefte erhalten, von 1474 an lückenlos bis 1808. Diejenigen Beschlüsse, von denen man annahm, dass sie später als Präzedenzentscheidungen wieder herangezogen werden konnten, wurden ausformuliert und erweitert in die von 1400 bis 1415 und 1441 bis 1619 überlieferten Ratsbücher eingetragen. Die 1432 einsetzende Serie der Würzburger Ratsprotokolle, die Protokolle des bürgerschaftlichen Unterrats, die seit 1462 außerordentlich dicht und intensiv geführt und mit veranschaulichenden Randskizzen des Stadtschreibers versehen sind, gibt durch das Medium der Agenden des Rats ein in vielfältigen Facetten widergespiegeltes, ungemein lebendiges Bild des städtischen Lebens und einer Bevölkerung, die sich im 15. Jahrhundert in krisenhaften, schwierigen und teilweise bedrückenden wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen unter der Herrschaft des Bischofs und der grundbesitzenden Geistlichkeit befand.⁸²⁰ Zunächst waren es vor allem die Satzungen, die als längerfristig gültige Ratsbeschlüsse des Gedächtnisses und der Aufzeichnung bedürftig erschienen. Spezielle Rechts- und Satzungsbücher tragen häu ger den Namen Rotes Buch, weil einzelne Satzungen rubriziert, d. h. die Initialen oder Überschriften rot eingefärbt

wurden, oder weil sie mit rot gefärbtem Leder (Hamburg, Rottweil) eingebunden sind. Daneben gibt es weitere nach Farbe des Einbands, Format, Größe und Alter benannte Kopialbücher, wie etwa in Nürnberg das Alte Schwarzbuch, das Weißbuch, das Kleine und das Dicke Rotbuch, das Blaubuch und das Kleine Grünbuch. Das zwischen 1457 und 1461 angelegte Nürnberger Große Grünbuch ist ein kostbarer Pergamentcodex, der in Holzdeckel eingebunden ist, die mit Schweinsleder überzogen und mit acht vergoldeten maßwerkverzierten Eckbeschlägen mit Lilienmotiv, zwei hoch relie erten Mittelbeschlägen in Form von Sonnenmasken und mit Schließen versehen sind. Der Codex enthält als Kopialbuch – mit der Funktion auch eines Findbuchs für die Originale – Abschriften von bedeutenden Urkunden, die Friedrich III., Maximilian I. und Karl V. in den Jahren 1440 bis 1540 ausgestellt haben.⁸²¹ Neben Ratsbeschlüssen nden sich im alten gemischten Ratsbuch Privilegien- und sonstige Urkundenabschriften, Neubürgeraufnahmen, Eintragungen über Bürger, die als Geächtete aus der städtischen Friedensgemeinschaft ausgestoßen (verfestet) wurden, und Urfehden, Aufzeichnungen über den Mauerbau, die Anschaffung von Stadtsiegeln, die Verpachtung und Vermietung städtischer Grundstücke und Marktbuden, vor allem im Norden Eintragung von Rechtsgeschäften von Bürgern, die vor dem Rat vollzogen wurden, wie Au assungen und Verpfändungen im Grundstücksverkehr, Schuldgeschäfte (Bürgschaften, Gesellschaftsverträge) oder Erbauseinandersetzungen, Ratsurteile, ferner Rats- und Ämterlisten, Stadtrechnungen, chronikalische Notizen, Waffenverbote, Totschlagsühnen, Urfehden u. Ä. Stadtrechnungen, die wohl aus Registern über regelmäßige Einnahmequellen hervorgingen, standen vielfach neben dem Ratsbuchwesen, sei es, dass sie unabhängig von ihm etwa aus Wortzinsregistern entstanden waren oder sich die Finanzverwaltung – der Losunger (Nürnberg),

820 R. S, Das Würzburger Ratsprotokoll. 821 Norenberc – Nürnberg 1050 bis 1806, Nr. 62, S. 154 f. (mit Abbildung).

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

Kämmerer (Lübeck), Rentmeister (Köln) – schon frühzeitig als erstes Sonderamt aus der vermischten Zuständigkeit des Rats gelöst hatte. Den Übergang zu einer Aufgliederung des allgemeinen Ratsbuchs zeigt das älteste Stadtbuch Stralsunds der Jahre 1270–1310, in das ab 1288 gesonderte Lagen als Schuldbuch, als Register der Verfestungen (Ächtungen) von Straftätern (1277–1310) und als Einnahmenregister (ab 1278) eingeheftet sind. Das folgende Ratsbuch der Jahre 1310–1342 ist bereits in drei Abteilungen, ein Pfandbuch, ein Au assungsbuch und ein Buch der Ratssatzungen, gegliedert. Zugleich wurde daneben ein eigenes Verfestungsbuch eingerichtet (1310–1472). Nur kleinere Städte sind über längere Zeit mit dem Ratsbuch als Amtsbuch im Wesentlichen ausgekommen. In größeren Stadtgemeinden, in denen sich ein komplexes Rechts-, Wirtschafts- und Finanzleben mit stark anwachsenden Verwaltungsaufgaben sowie ein bedeutendes Militärwesen entfaltet hat und ständige Ratsämter mit bestimmten Funktionen aus der Verwaltung von Bürgermeister und Gesamtrat ausgegliedert wurden, spalteten sich aus dem vermischten Ratsbuch gesonderte Amtsbücher der einzelnen Ratsämter ab. Gesetzgeberische Ratsbeschlüsse wurden in vollständigem Wortlaut nunmehr in den Büchern der Sonderämter, im Ratsbuch oft nur noch in kurzer Inhaltsangabe oder als Tatsache der Beschlussfassung aufgezeichnet, sodass das Ratsbuch und die Akten der Sonderämter in Verbindung miteinander gesehen werden müssen. In Lübeck fehlt ein in der Nachfolge des Ratsbuches stehendes, gleichfalls vermischtes Ratsbeschlussprotokollbuch, da die Aufzeichnung der Beschlüsse auf die einzelnen Ratsämter und ihre Bücher übergegangen ist. Der Lübecker Rat war rasch zu einer Spezialisierung seiner Verwaltungstätigkeit fortgeschritten, sodass er einer Aktenführung für allgemeine Ratssachen nicht mehr bedurfte; er hatte aber den Zusammenhang der Ämter, durch die er handelte, gewahrt. Mit neuen

Funktionen konnte ein Amt weitere Bücher hervorbringen. In Nürnberg führte die Ratskanzlei unmittelbar die Ratsverlässe (Ratsmanual) und das Ratsbuch, das Briefbuch für Briefausgänge, das andernorts Missivbuch genannt wurde, ferner das Briefeingangregister und das Privilegienbuch. In Nürnberg begann das überlieferte Schriftwesen nicht mit dem Ratsbuch (Satzungsbuch, 1302), sondern mit dem ältesten Achtbuch (1285–1337).⁸²² Die Schriftlichkeit hatte hier keinen rein kommunalen Ursprung, sie ging auf die königlich-stadtherrliche Gerichtsbarkeit zurück. Das Nürnberger Achtbuch wurde durch Beschluss von Schultheiß, Konsuln und Gemeinde eingerichtet und enthält Protokolle über Ächtungen, die im stadtherrlichen Schultheißengericht ausgesprochen wurden, zugleich aber auch, zunächst innerhalb des Buches getrennt, über Verbannungen, die von der autogenen kommunalen Friedensgerichtsbarkeit ausgingen. Das Achtbuch, das andernorts auch Liber proscriptorum oder Verfestungsbuch genannt wurde, war ein übersichtliches Beweismittel, um gegen aufgegriffene Geächtete (Ächter) und Verbannte vorgehen und die Dauer von Acht und Verbannung unabhängig vom menschlichen Gedächtnis kontrollieren zu können. In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts kamen in Nürnberg das Halsgerichtsbuch, das spezielle Verbannungsbuch und das Urfehdebuch auf. In den Urfehdebüchern wurden Täter oder Tatverdächtige verzeichnet, gegen die man gerichtlich vorgegangen war, die man bestraft oder gefangen gehalten hatte und die nun schwören mussten, sich dafür nicht zu rächen. Das wegen seiner Illustrationen berühmte Soester Nequambuch (lat. nequam, Nichtsnutz), das 1315 in Auftrag gegeben wurde und Aufzeichnungen bis 1421 enthält, ist ein Acht- und Schwurbuch mit bildlichen Darstellungen von Missetaten und ihren Strafen wie das Eintauchen mit einer Wippe oder das Rädern.

822 Eine Aufstellung über Ächtungsaufzeichnungen und Achtbücher deutscher Städte ndet sich bei W. S (Hg.), Acht-, Verbots- und Fehdebücher Nürnbergs, S. 16 ff.

Schriftwesen und Geschichtsschreibung 437

In manchen Städten wie etwa Göttingen oder Dortmund wurden die Fehden, in die die Stadt verwickelt war, im 14. und 15. Jahrhundert in Fehde-, Sühne- und Schadensbüchern (Liber dampnorum civibus illatorum) verzeichnet. Viele norddeutsche Städte richteten Schadensbücher ein, in die man die Schäden an Leib und Gut eintrug, die Bürger unterwegs durch See- und Straßenraub erlitten hatten. Geleitbücher dienten der Vollstreckung gegen auswärtige Schuldner. Städte ließen sich auch die Anlage von Büchern vom Stadtherrn genehmigen. König Rudolf von Habsburg gestattete 1276 der Augsburger Bürgerschaft um des gemeinen Nutzens willen (pro communi utilitate omnium) Urteile und Satzungen (sententiae) sowie Rechte (iura) zusammen mit früheren dem schriftlichen Gedächtnis zu übereignen und in einem Kodex, dem Stadtbuch als allgemeinem Stadtrechtsbuch, zu sammeln. Der Stadt Ulm erlaubte ein Privileg Kaiser Ludwigs des Bayern von 1346 die mit der Strafgerichtsbarkeit verbundene Führung eines Achtbuches. Kleinere Städte in Österreich ließen sich auch für andere Bücher vom Landesherrn die Befugnis zur Anlage erteilen. Die städtischen Privilegien, der vom König und Stadtherrn überkommene Grundstock städtischer Rechte, wurden zum laufenden Gebrauch abschriftlich in Privilegienbüchern festgehalten, andere wichtige Urkunden und Schriftstücke gleichfalls in Kopialbüchern. Dadurch schonte man die Originale, schützte sie vor Verlust und ersparte sich langwierige Sucharbeit im Urkundenarchiv. Die vom Rat erlassenen Willküren gingen in oftmals sehr umfangreiche Willkür- oder Satzungsbücher ein. Die Strafen, die der Rat nicht selten arbiträr – mit der Befugnis, aufgrund des Bürgereides an Leib und Gut zu strafen – oder in einem durch Höchststrafen vorgegebenen Rahmen bei Satzungsverstößen verhängte, wurden in den Buß -, Wette- oder Wandelbüchern aufgezeichnet. Entscheidungen des Rats in Strafsachen und auch in bürgerlichen Streitigkeiten wurden in Urteilsbücher eingetragen. Daneben gab es Gerichts-

bücher des ehemaligen stadtherrlichen Gerichts und anderer Gerichte, die als Niedergerichte dem Rat unterstanden, oder es wurden Verpfändungen in Pfandbüchern registriert. Auf dem Gebiet des Finanzwesens wurden nach und nach vor allem in größeren Städten verschiedene Einnahmen- und Ausgabenregister geführt. Die direkten Vermögensteuern wurden in Steuerbüchern verzeichnet, Verbrauchssteuern in Akzisenbüchern und Zolleinnahmen in Zollbüchern. Spezielle Register gab es für die von der Stadt zur Geldaufnahme verkauften Leibrenten und (wiederkäu ichen) Ewiggelder. Baubücher gaben Auskunft über die Wirtschaftsführung des städtischen Bauhofs und die Ausgaben für öffentliche Bauten. In Augsburg, Köln und Lübeck stand das Baumeisteramt in engem Zusammenhang mit der kommunalen Finanzverwaltung. Die Zusammenführung der jährlichen Einnahmen und Ausgaben und die zentrale Abrechnung zwischen den Ratsämtern erfolgten in Stadtrechnungen und Kämmereibüchern, die aber dennoch nicht immer einen vollständigen Überblick bieten. Die P ichten der städtischen Amtleute und Diener wurden in den Diensteiden festgelegt und in Eidbüchern gesammelt. Das Personal selbst wurde in Ämter- und Gesindebüchern registriert. Neubürger trug man in die Bürgerbücher ein. Nicht immer decken gleiche Büchernamen auch gleiche Inhalte, wie auch die Bücher nicht durchgehend konsequent geführt wurden, sondern auch Einträge unterschiedlicher Art aufweisen können. In den niederdeutschen Städten gewannen jene Bücher eine große Bedeutung, in denen vor dem Rat abgeschlossene bürgerliche Rechtsgeschäfte protokolliert wurden. Die am Geschäft beteiligten Parteien, die nach Rechtssicherheit strebten, suchten das Zeugnis des Rates, das den Beweis erleichterte oder unanfechtbar machte. Im Süden fehlten zunächst weithin die vor dem Rat vollzogenen privaten Rechtsgeschäfte, hier zog man offensichtlich für Beweiszwecke die Siegelurkunde oder die Notariatsurkunde vor. Im Süden erscheinen in den Büchern häu g nur Eheverträge und Testamente, doch seit der Mit-

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

te des 13. Jahrhunderts entstand auch dort ein differenziertes Bücherwesen mit Stadtbuch, Gewerbuch, Satzbuch oder Kaufbuch wie in Wien, mit den Konstanzer gesonderten Gemächtebüchern für letztwillige Verfügungen und Erbeinsetzungen oder dem Ulmer Pfandbuch. Im Norden wurde früh auch eine Vielzahl von Grundstücks- und Schuldgeschäften in Stadtbücher eingetragen. So legte man in Lübeck bereits 1277 ein Schuldbuch (liber debitorum) an, zwischen 1277 und 1286 vermutlich ein spezielles Ratsdenkelbuch (liber memorialis), während der alte liber civitatis 1284 zum reinen ›Erbebuch‹ (liber hereditatum) für Grundstücksgeschäfte wurde. Das Erbebuch wurde schon im 14. Jahrhundert Oberstadtbuch genannt, weil es im Obergeschoss der Kanzlei hinter dem Rathaus aufbewahrt wurde. Das – älteste erhaltene – Schuldbuch (1325–1363), das im Stockwerk darunter geführt und deshalb Niederstadtbuch genannt wurde, enthält neben Schuldgeschäften, Quittungen und Gesellschaften (societates) sowie – dem mittelalterlichen Rechtsbegriff der Verpfändung entsprechend – auch Verpfändungen von Grundstücken. Seit dem 14. Jahrhundert wurden hier zunehmend und im 15. und 16. Jahrhundert regelmäßig auch Ratsurteile in zivilen Streitsachen und Vergleiche (schedinge) eingetragen, die beide ein beweiswürdiges Schuldverhältnis begründeten. Das Interesse an der Eintragung von Geschäften des Handelsverkehrs ging zurück, als im Laufe des 14. Jahrhunderts die privaten Handelsbücher der Kau eute, denen eine begrenzte Beweiskraft zuerkannt wurde, und die Maklerbücher immer mehr in Gebrauch kamen.⁸²³ Der Ausdruck Stadtbuch kann demnach das vermischte Ratsbuch, das Buch einer bestimmten städtischen Behörde und ein Buch im engeren Sinne bezeichnen, »dem im Rechtsverkehr besondere Beweiskraft zukommt, das vom Bürger gebotenermaßen oder freiwillig in seinem eigenen Interesse in Anspruch genommen wird«. Entscheidend ist hier der »Beweisnutzen

823 W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 433. 824 Ebd., S. 427; zum Folgenden siehe S. 428–438.

für den Bürger«, der diesem mit privatrechtlicher Wirkung »aus dem Bucheintrag erwächst als eine vom Rat gewährte Rechtshilfe, die sich bis zum Formerfordernis steigern kann«.⁸²⁴ Solche Stadtbücher im engeren Sinne sind das ›Erbebuch‹, das ›Pfandbuch‹ (liber obligationum) und das ›Schuldbuch‹ (liber debitorum). Ein solcher Beweisnutzen kam auch einzelnen Eintragungen in das vermischte Einheitsstadtbuch zu, wo es spezielle Stadtbücher nicht gab. Ein Zwang zur Eintragung in das Stadtbuch (Buchungszwang) war nur gegeben, wenn für das Rechtsgeschäft die Vornahme vor dem Rat vorgeschrieben war. Das war nach lübischem Recht nur bei Grundstücksgeschäften bei der Au assung (Eigentumsübertragung) eines verkauften Erbes (Erbgut) und seiner Verpfändung der Fall und wohl auch bei der (letztwilligen) Vergabung. Der Buchungszwang war zunächst nur mittelbar, weil es lediglich auf die Vornahme des Rechtsgeschäfts vor dem Rat ankam. Die Eintragung in das Buch erfolgte des besseren Gedächtnisses der Sache wegen und als interne Maßregel des Rates, seit Einführung solcher Bücher automatisch und behördlich. Diente der Bucheintrag zunächst nur der Sicherung des Ratszeugnisses, das durch kein anderes Zeugnis widerlegt werden konnte, lag es angesichts des Buchungszwangs für Grundstücksgeschäfte nahe, die unwiderlegliche Beweiswirkung an den Bucheintrag selbst zu knüpfen. ›Niemand darf über der Stadt Buch zeugen‹, so lautet eine etwa ab 1300 häu g wiederholte Rechtsweisung des Lübecker Rats. Seit dem 15. Jahrhundert vollzog sich ein Wandel. Die wachsende Anzahl der sonstigen Aufgaben erlaubte es dem Rat nicht mehr, sich den gleichfalls anwachsenden Grundstücksgeschäften ausführlich in öffentlicher Sitzung zu widmen, bei welcher der Bestätigung der rechtsgeschäftlichen Erklärung durch den Rat Urteilscharakter zukam. Die Bürger erörterten nun vor dem rechtskundigen Ratsnotar als dem Buchführer die Einzelheiten ihrer Rechtsgeschäfte

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und baten um Beurkundung. Aufgrund einer bloß summarischen Ratsverfügung nahm der Buchführer den Bucheintrag vor, der ursprünglich eine Gedächtnisstütze darstellte und nun zur Hauptsache wurde. Der Buchungszwang wurde auf diese Weise unmittelbar. Seit dem 15. Jahrhundert schärfte man in Ratsverordnungen und Burspraken die P icht ein, Grundstücksgeschäfte nicht ohne Rat und Stadtbuch vorzunehmen, um der Praxis der römischrechtlich gebildeten Notare entgegenzutreten, über solche Geschäfte Notariatsinstrumente (Brief und Siegel) aufzunehmen. Denn dadurch drohte eine Verdunkelung der städtischen Grundbesitzverhältnisse, die durch den Bucheintrag ja verklart, jedermann offensichtlich gemacht und zudem vor einer übermäßigen Belastung durch Briefschulden bewahrt werden sollten. Außerdem wollte der Rat den Übergang von städtischem Grundbesitz an Nichtbürger – Kleriker, Bauern und Adel – unterbinden oder wenigstens kontrollieren. Ein im Stadtbuch eingetragenes Recht bedurfte keines weiteren Beweises und war einem durch rechtskräftiges Urteil festgestellten Recht gleichzuachten; Geschäftsmängel wurden durch die Eintragung unbeachtlich. Das Ratszeugnis konnte durch kein anderes Beweismittel widerlegt werden. Die Beweiskraft des Stadtbuchs reichte aber nur so weit wie der Wortlaut des Eintrags. Damit Bürger bei der Sicherung von Geldschulden durch Immobilien (liegendes Pfand) Einblick in vorhergehende Belastungen des Pfandobjekts zugunsten anderer Personen oder durch Zinse wie Leibrenten erhielten und nicht über dessen Belastbarkeit getäuscht wurden, mussten die Parteien durch eine Ordnung von 1401 die Pfandsicherung durch Häuser, Krambuden, Gärten, Zinse, Äcker, Wiesen und anderes in der Stadt Ulm und ihrer Gemarkung vom Stadtschreiber in das städtische Pfandbuch eintragen lassen. Der Eintrag besaß Macht und Kraft nach dem Recht der Stadt; Urkunden, die in Pfandsachen im Rahmen der freiwilligen Ge-

richtsbarkeit von den Gerichtsschöffen (Richter) gesiegelt wurden, sollten gegen das Buch weder Kraft noch Macht haben. Der Stadtschreiber und sein geschworener Schreiber hatten Auskunft über Voreinträge und Belastungen zu erteilen.⁸²⁵ Die Einträge in die Kölner und lübischen Grundbücher erfolgten in chronologischer Ordnung. Die Kölner Schreinskarten (Pergamentblätter) und die Schreinsbücher, die nach ihrer Aufbewahrung in einem Schrein (Truhe) benannt sind, haben als frühe Vorläufer des heutigen Grundbuchs ihren Ursprung in der Gerichtsbarkeit und Verwaltung der Kirchspielgemeinden, beginnend um 1130 in der Altstadtgemeinde St. Laurenz und 1136/37 im Kirchspiel Klein St. Martin mit zunächst sporadischen Aufzeichnungen. Als Gedächtnisstütze und notitia zur Beweiserleichterung wurden der Inhalt des Geschäfts sowie Angehörige oder Amtleute der Gemeinde aufgeführt, die es im Streitfall bezeugen konnten. Seit dem 13. Jahrhundert wurde dem Schreinseintrag, der seit 1230 in Bücher erfolgte, neben dem mündlichen Zeugnis selbst Beweiswirkung zuerkannt, und der Eintrag wurde schließlich zum Beweismittel höheren Rangs. Mit der Schreinsordnung von 1473 fand die Entwicklung des nicht zentralisierten, aber vom Rat als dessen obersten Herrn in Obhut genommenen Schreinswesens ihren Abschluss. Die Anschreinung erfolgte freiwillig, wurde aber zur Regel, die einige Ausnahmen kennt, und zählte schließlich zu den Rechten und Freiheiten des Kölner Bürgers und Eingesessenen.⁸²⁶ Das Realfoliensystem, das jedem Grundstück nach seiner Ortslage einen festen Platz im Grundbuch reserviert und auf dem das moderne Grundbuch beruht, ndet sich erst im 15. Jahrhundert in dem 1428 angelegten ›Hausund Verlassungsbuch‹ der Altstadt Hannovers, im Flensburger Grundbuch von 1436 und im Pressburger Grund- und Satzbuch von 1439. In dem 1401 angelegten Erbebuch (Grundbuch)

825 C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm (2.2–2.4), S. 132 f., Nr. 246. 826 K. M, Die Kölner Schreinsbücher.

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der Stadt Anklam war der Versuch eines Realfoliums unternommen, dann aber nicht durchgeführt worden.⁸²⁷ Das Hausbuch Hannovers ist nach Straßen eingeteilt und erfasst auf jeder Seite vier Hausgrundstücke, von denen je zwei nebeneinander auf der oberen und unteren Hälfte angeordnet sind. In jedem Viertel stehen oben die Bezeichnung des Hauses und der Name des Eigentümers, darunter und nach unten hin wurden die auf dem Haus lastenden Renten und Pfandrechte eingetragen, die man kanzellierte, wenn sie abgelöst wurden. Wechselte der Eigentümer, so strich man den alten aus und setzte den Namen des neuen darüber. Die seit dem 14. Jahrhundert zunehmende Schriftlichkeit drängte die mündliche, an Lebensdauer und Gedächtnis geknüpfte Kommunikation und Verwaltung zurück, bei der die Person des Amtsträgers für die Richtigkeit bürgte.⁸²⁸ Die Rechenschaftsp icht namentlich der Finanzverwaltung wurde durch Register- und Buchführung erfüllt. Die Buchführung ermöglichte eine Objektivierung der Verwaltung und löste die Ämter im Sinne einer Institutionalisierung aus der Gebundenheit und Bedingtheit durch die Person des jeweiligen Amtsträgers, sie verlieh der Verwaltung Dauerhaftigkeit und »Betriebscharakter« (Max Weber), der kontinuierliches Zweckhandeln gewährleistete. In der Form des Verwaltungsschriftguts ging man im 12./13. Jahrhundert von den Einzelblättern (Karten) und der aus diesen zusammengenähten langen Streifen als Rolle (Rotulus) zu dem in Lagen geordneten, besser benutzbaren und durch Blattzählung und Bindung gesicherten Heft oder Buch, im 15. Jahrhundert dann zur Aktenführung über. Die Aktenführung machte die Amtsbücher nicht über üssig, gestattete aber das Abweichen von der chronologischen Ordnung der Bücher und ersparte vielfach das Umschreiben in Bücher, das bei wachsendem schriftlichem Verkehr kaum mehr bewältigt werden konnte. Sie ließ den Wunsch zu, das gesamte Verwaltungshandeln festzuhal-

ten und damit das gesamte schreibfreudig produzierte Schriftgut wie Briefe, Entwürfe, Berichte, Instruktionen, Spezialrechnungen oder Notizen, alles, was nicht in die Amtsbücher umgeschrieben wurde, aufzubewahren, sodass nunmehr auch Vorakten in Form loser Einzelschriftstücke in größerem Umfang erhalten wurden. Manches blieb im Privateigentum des Amtsträgers zurück. Die früheste Registratureinrichtung war die tragbare Kiste (Schrein, Trese) für die Urkunden, insbesondere für die wertvollen Privilegien, und für andere städtische Wertgegenstände, dann auch für das Stadtbuch. Seit dem Aufkommen der Ratsverfassung wurden die Stadtkisten vielfach in einem feuer- und diebstahlsicheren Raum deponiert, wo zur Kiste dann Schränke mit verschiedenen Laden hinzukommen und die Reihen der Bücher untergebracht werden konnten. In Lübeck ist die Tresenkammer in der Marienkirche seit 1231 nachweisbar. In Nürnberg wurde für diesen Zweck ein Raum bei der Losungstube in dem seit 1332 entstandenen Rathaus bestimmt. In Köln fand der Schrein vor 1370 im Hause zur Stesse, 1406 dann im Rathausturm seine Unterbringung. Es entstand eine Registratur für die Urkunden und eine zweite für die laufenden Verwaltungsarbeiten, die in der Kanzlei untergebracht wurde. In Aachen wurden noch eine Zeit lang städtische Urkunden und das von der Stadt benutzte Karlssiegel in einem Kasten hinter dem Marienaltar der Kirche des Marienstifts unter der Obhut des Stiftsdekans verwahrt. In Nürnberg sammelte man die nicht buchförmigen Akten der jeweiligen vierwöchigen Bürgermeisterperiode (Frage) bereits im 14. Jahrhundert in besonderen Schachteln, den Fragschachteln, die zunächst in der Losungstube, dann aber in der Kanzlei aufbewahrt wurden. Zu diesen Schachteln legte man bereits im 15. Jahrhundert ein fortlaufendes Repertorium an. Alle Eingänge wurden mit dem Absender, später nach Absenderkategorien geschie-

827 K. K/A. C/K. N- S, Deutsche Rechtsgeschichte 2 (2.0), S. 70–73. 828 E. P, Schrift- und Aktenwesen S. 461; W. Ebel, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 436.

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den, und mit einem Stichwort über den Inhalt in der chronologischen Reihe der Schachteln in ein fortlaufendes Register eingetragen. Entsprechend bildete die Finanzverwaltung eine Registratur für Sonderrechnungen und Rechnungsbelege aus, die durch die Stadtrechnung zusammengehalten wurden. Für die Briefausgänge (Missiven) legte man, wie etwa auch in Köln, noch im 14. Jahrhundert chronologisch geordnete Briefbücher an, die im Falle der Ausgänge zugleich als Konzeptbücher benutzt wurden. Etwas später und nur zeitweise hielt man die eingegangenen Briefe in Regestenform in Briefeingangregistern fest. Damit besaß Nürnberg wohl die fortschrittlichste Registratur der Zeit. Bei bestimmten wichtigen und umfangreichen Materien konnten Sonderbriefbücher angelegt werden. Die mit dem bürgerlichen Verkehr wachsenden Verwaltungsaufgaben, der Herrschaftswille des Rates und die Differenzierung seiner Verwaltungsorganisation, ein rationales Verwaltungsdenken, das sich mit dem mündlichen Verkehr und der menschlichen Gedächtnisleistung nicht mehr begnügte und auf Rechenschaft drängte, Schreib- und Rechnungsgewohnheiten der kaufmännischen Oberschicht sowie die Schreibfreude und Schreibgewandtheit gebildeter und professioneller Schreiber führten in den Städten zu einer bislang nicht gekannten Verwaltungsintensität und zu einem avancierten, vorbildlichen Verwaltungsstil. Eine wesentliche Voraussetzung für die Extensivierung der Schriftlichkeit im Zusammenhang mit der Intensivierung der Verwaltungstätigkeit war der seit dem 13. Jahrhundert bekannte, von den städtischen Kanzleien seit dem 14. Jahrhundert benutzte Beschreibstoff Papier.⁸²⁹ Seit etwa dem Anfang des 15. Jahrhunderts einigermaßen billig produziert, stand Papier zu dem teuren Pergament in einem Kostenverhältnis von etwa 1:10. Wurde in den Schreibstuben zunächst italienisches Papier verwendet, so verbrauchte man seit der Gründung der Gleißmühlen des Ulman Stromer (1390) Nürnberger Papier bald auch

829 H. P, Neue Typen des Geschäftsschriftgutes, S. 61 f.

in den Kanzleien von Ulm, Nördlingen, Esslingen und Frankfurt. Bereits 1391 nahm Conrad Wist in Ravensburg die Papierproduktion auf, seit 1478 und 1482 arbeiteten Papiermühlen in Memmingen. Mit der Wahl des Beschreibstoffes, von Pergament oder Papier, konnte im Schriftverkehr, wie dies etwa der Basler Rat tat, bereits der Rang des Adressaten zum Ausdruck gebracht werden. Rationell und schnell waren die für die nüchternen, keinen gra schen Aufwand erfordernden Verwaltungsakte – wie für die gewöhnlichen Kaufmannsgeschäfte – verwendete gotische Kursivschrift und andere jüngere Kanzleischriften. Eine weitere Beschleunigung und Vereinfachung des ausgeweiteten Geschäftsbetriebes, an dem immer mehr Personen unterschiedlicher Bildung und Sprachfähigkeit teilnahmen, brachte der zu unterschiedlichen Zeitpunkten vollzogene Übergang von der lateinischen zur mittelhochdeutschen, frühneuhochdeutschen und niederdeutschen Sprache. 4.5.2 Städtische Geschichtsschreibung Die Überlieferung städtischer Geschichte als Zeichen bürgerlichen Selbstbewusstseins erfolgte vornehmlich durch Bettelordensgeistliche sowie geistliche und weltliche Stadtschreiber offiziell im Auftrag des Rats, offiziös durch Ratsmitglieder oder in völliger Eigeninitiative privat durch Personen, die dem Rat nahestanden, oder durch Ratsfremde. Geschichtsschreibung konnte sich aus (1) narrativ angereichertem städtischem Schriftgut durch zeitliche Anordnung oder durch historisch re ektierte Betrachtung von Sachfragen in Verknüpfung mit Ereignisgeschichte entwickeln, (2) die annalistische Form von Jahrbüchern annehmen, (3) als literarische Geschichtsschreibung an die traditionellen Formen der Weltchroniken anknüpfen und die Geschichte der Stadt in ihr Schema der Papst- und Kaisergeschichte einfügen, bis schließlich im 15. Jahrhundert (4) eine auf die Stadt konzentrierte eigenständige chronika-

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

lische Geschichtsschreibung entstand, die auch autobiographische Teile enthalten konnte. Hinzu treten (5) private Familienaufzeichnungen und Geschlechterbücher – vergleichbar den libri di ricordanze der ober- und mittelitalienischen Oberschicht –, die eingebettet in weiteres historisches Geschehen die ruhmreiche Geschichte der Vorfahren darstellen und die erfahrene Gegenwart der Verfasser festhalten.⁸³⁰ 4.5.2.1 Gedenkbücher und Jahrbücher Zu den aus städtischen Urkunden und Akten zusammengefügten »Gedenkbüchern« Braunschweigs mit unterschiedlicher ematik zählen das »Fehdebuch« (1377–1388), ferner die wahrscheinlich von dem mehrfachen Bürgermeister Hermen von Vechelde nach dem Beschluss der Ratsältesten verfasste »Heimliche Rechenschaft« (hemelik rekenscop) von 1406 und Hans Porners eher privates »Gedenkbuch« (1417–1426), die hauptsächlich im Sinne von Denkschriften und Memoranden über die Entwicklung der Finanzverhältnisse in Verbindung mit politischen Ereignissen Auskunft geben und – so die »Heimliche Rechenschaft« – als pragmatische Anweisungen für Finanzpolitik und Finanzverwaltung die künftige Amtsführung bestimmen sollen. Die »Heimliche Rechenschaft«, die auch die Vorgeschichte und wesentliche Züge der Ratsverfassung von 1368 beschreibt, wurde regelmäßig aktualisiert und vor den Ratsmitgliedern verlesen. Das »Pfaffenbuch« (Dat papen Bok) von 1418 berichtet über die Anfangsjahre des Braunschweiger ›Pfaffenkrieges‹ (1413–1420) zwischen Stadt und Geistlichkeit. Deutlicher thematisch und historiographischpolitisch geformt ist das »Schichtbuch« des Zollschreibers Hermann Bote, das, zwischen 1510 und 1513 entstanden, die verschiedenen Aufstände (Schichten) der Bürgeroppositionen seit 1292 als Empörungen gegen die Ratsobrigkeit darstellt, aber auch die Bedeutung innerpatrizischer Kon ikte würdigt. Der ratsnahe Lübecker »Bericht zu 1384« behandelt den erfolglosen, im Vorfeld aufgedeckten verschwörerischen

Aufstand der Knochenhauer und anderer Zünfte gegen den Rat. In Köln legitimierte das »Neue Buch« (nuwe boich) des Kanzleischreibers Gerlach vom Hawe den Umsturz von 1396 und rechtfertigte historisch die neue Herrschaft und die Verfassung des Verbundbriefs, den er redigiert hatte. Das »Neue Buch« wurde für den Gebrauch des Rats niedergeschrieben, im Rat vorgelesen und auch inhaltlich verändert. Gerlach wurde allerdings 1399 wegen angeblicher heimlicher Verbindungen zur entmachteten altpatrizischen Gruppe der Greifen hingerichtet. Der für derartige Schriften häu ger gebrauchte Ausdruck »Relation« ist für die vielfältigen und offenen Formen eigentlich zu festgelegt, da er üblicherweise den Bericht über den Vollzug eines offiziellen Geschäftsauftrages bedeutet. Es handelt sich um die Sammlung und Zusammenstellung historischer Nachrichten teilweise mit politisch-pragmatischer Zielsetzung, die nicht für ein größeres Publikum, sondern für Ratskreise oder den Gebrauch des Verfassers bestimmt sind, im Übergang zu einer gattungsmäßigen Chronistik. Auch in Nürnberg wurden Berichte zu einzelnen Ereigniskomplexen und Gegenständen wie zu den Adventusfeierlichkeiten beim Einzug König Friedrichs III. in die Stadt (1442), den Verhandlungen etwa über die Bestätigung der Privilegien und den Auseinandersetzungen über den Verbleib der Reichskleinodien in einer Darstellung zu den Jahren 1440 bis 1444 oder zum Ersten Markgrafenkrieg (1449/50) in Auftrag gegeben, um den städtischen Standpunkt herauszustellen. Über den Ersten Markgrafenkrieg informiert mit seinem Bericht der Rats- und Kriegsherr Erhard Schürstab, zum Zweiten Markgrafenkrieg (Bayerischer Erbfolgekrieg) von 1504 verfasste der Ratsschreiber Lazarus Spengler für ein Honorar von 200 Gulden einen großen Bericht. Hinzu kamen Berichte über die Fehden der Stadt mit Kunz Schott, Haintz Baum und Hans Geisling um und nach 1500 sowie die Auseinandersetzungen mit Götz von Berlichingen (1512–1514). Einzelne Ereignisse wie etwa

830 Siehe zum Folgenden das Quellen- und Literaturverzeichnis zu 4.5 und 7.7.3.

Schriftwesen und Geschichtsschreibung 443

die Schlacht am Pillenreuther Weiher im Ersten Markgrafenkrieg und Geschehnisse anderer Fehden mit Gewalthandlungen, Raub und Lösegelderpressung wurden durch historischpolitische Lieder, Dichtungen über politische Ereignisse, verbreitet. Für die Zeit um 1500 und die Auseinandersetzungen zwischen dem Bischof und der Bürgerschaft von Worms stellt das ›Tagebuch‹ des Bürgermeisters Reinhart Noltz eine der wichtigsten zeitgenössischen erzählenden Quellen dar. Das amtliche Gedenkbuch als allgemeines administratives »Stadtbuch« (liber memorialis), in dem alle für Rückgriffe in der Zukunft wichtigen Sachen und Ereignisse aufgezeichnet wurden, konnten den Zeitgenossen aber auch als Chronik zur Belehrung der Ratsmitglieder gelten, wie andererseits im Auftrag des Rats geschriebene, aus Urkunden und amtlichen Korrespondenzen gespeiste und wenig narrative Chroniken mit dieser Zwecksetzung als Amtsbücher für ratsinternen Gebrauch fungierten, im Rathaus deponiert und im Rat verlesen wurden.⁸³¹ Literarisch dürre Jahrbücher sind für verschiedene Zeitabschnitte in Augsburg mit den Annalen des Mönchs Johannes Frank von 1430 bis 1462, in Köln von der Mitte des 14. bis zur Mitte 15. Jahrhunderts und Nürnberg mit zwei Reihen bis 1469 und bis 1487 sowie mit Fortsetzungen bis 1499 und 1506 überliefert. Sie konzentrieren sich auf öffentliche Ereignisse und Neuigkeiten. 4.5.2.2 Chroniken und Annalen Der Lübecker Rat beauftragte nach der Verschwörung von 1384 im folgenden Jahr den Lesemeister (Lektor) der Franziskaner Detmar mit der Abfassung einer Stadtgeschichte. Detmar setzte die 1347 verfasste »Stadtchronik« (Stadeschronik) des Stadtschreibers Johannes Ruffus (Rode) bis 1386 und dann bis 1395 fort. In seinem zweiten Werk, der sogenannten Lübischen Weltchronik (bis 1386), erweiterte er die Chronik nach dem annalistischen Prinzip ›von Jahr

831 K. W, Bürgerliche Geschichtsschreibung, S. 30–33.

zu Jahr‹, nahm auch andere hansische Städte in den Blick und stellte die Lübecker Stadtgeschichte in einen weltchronistischen Rahmen. Historiographisches Vorbild für Detmar waren vor allem die in mehrere Volkssprachen übersetzte Weltchronik des Dominikaners Martin von Troppau († 1278) mit ihrem synchronen Schema der Papst-Kaiser-Geschichte und die gegen Ende des 13. Jahrhunderts verfassten »Flores temporum« eines schwäbischen Minoriten, Quellengrundlage die »Slavenchronik« Helmolds, das »Speculum historiale« des Vinzenz von Beauvais und des Haython von Courcy sowie die »Sächsische Weltchronik« des Eike von Repgow. In Straßburg knüpfte der wohl aus dem Patriziat stammende Fritsche (Friedrich) Closener (* um 1315, † um 1390/96) mit seiner 1350 begonnenen und 1362 vollendeten deutschen Chronik an das Schema an und verband damit die Geschichte seiner Stadt und des Bistums (bis um 1360), während der Straßburger Geistliche Jakob Twinger von Königshofen (1346–1420) in seiner seit 1382 verfassten Chronik (bis 1415), die eine weitere Verbreitung fand, den Akzent verlagerte und die Stadtgeschichte gleichberechtigt neben die vereinigte Kaiser-, Papst- und Kirchengeschichte stellte. Die von dem Schreiber des Schöffenstuhls und zeitweise als Ratsschreiber fungierenden Heinrich von Lammespringe begründete, nach 1360 bis zum Jahr 1372 verfasste »Magdeburger Schöppenchronik« lehnte sich gleichfalls an die Form der Weltchronistik an, benutzte ältere Chroniken, stellte die Geschichte der Stadt in den Vordergrund und orientierte sich am annalistischen Aufbau, schloss sich aber weitgehend an die Bistumsgeschichte an. Sie wurde mehrfach durch Schöffen- und Ratsschreiber bis 1468 fortgesetzt. Auch die »Agrippina« des Kölners Heinrich van Bee(c)k (zwischen 1469 und 1472), welche die Chronik Jakob Twingers benutzte, war noch der Weltchronistik verhaftet wie auch die etwas spätere Kölner Chronik eines Anonymus, die mit der Schöpfung der Welt begann. Von dem örtlichen Verleger und Drucker

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

Johann Koelhoff demJüngeren herausgebracht, war sie die erste gedruckte Chronik, erwies sich allerdings, auf einer verlegerischen Fehlkalkulation beruhend, als ein geschäftlicher Misserfolg. Die Wormser Annalen (1226–1297), die ihr Gegenstück in der Bischofschronik (1221– 1297) haben, können als eines der frühesten Beispiele der städtisch-bürgerlichen Geschichtsschreibung gelten. Das »Chronicon Wormatiense« handelt von der Versöhnung und der Wiederherstellung des Stadtfriedens 1233 nach den vorausgegangenen Auseinandersetzungen zwischen dem Bischof und den Bürgern. Der zwischen 1291 und 1299 zusammengestellte Straßburger Ellenhard-Codex enthält als gleichfalls frühes Beispiel stadtbürgerlicher Geschichtsschreibung das von dem Straßburger Bürger Ellenhard neben anderen von ihm veranlassten Geschichtsaufzeichnungen in Auftrag gegebene, nach seinen Erzählungen von einem Anonymus gestaltete »Bellum Waltherianum«. Es berichtet vom Kon ikt der Straßburger Bürger mit dem Bischof von 1261/62 und bringt das stadtbürgerliche Selbstbewusstsein zum Ausdruck. Der einer Ministerialenfamilie entstammende Ellenhard († 1304) hatte 1262 als Befehlshaber der Straßburger Vorhut an der Schlacht von Hausbergen teilgenommen, in der die Straßburger dem Bischof Walter von Geroldseck eine Niederlage zufügten, die eine entscheidende Etappe auf dem Weg zur kommunalen Autonomie darstellte. Ellenhard wurde, nachdem die Stadt das Bauwesen am Münsterbau an sich gezogen hatte und mit dem Weiterbau des Münsters ein markantes Zeichen der Ehre der Stadt setzte, bürgerlicher Leiter der Domfabrik. Der Ellenhard-Codex wurde noch von Fritsche Closener benutzt und von ihm nach 1362 in Teilen ins Deutsche übersetzt, außerdem stand er noch Jakob Twinger von Königshofen zur Verfügung. In Köln verfasste der Stadtschreiber und juristische Berater des Rats Gottfried Hagen um 1270 in seinem ›Buch von der Stadt Köln‹ (Boich von der stede Colne) im Anschluss an die Formen geistlicher und ritterlicher Dichtung eine Reimchronik mit 6 300 Versen über die Auseinanderset-

zungen zwischen der Bürgerschaft und dem erzbischö ichen Stadtherrn in den der Zeit von 1250 bis 1270, wobei er zugleich zugunsten der Geschlechter die inneren Kon ikte zwischen Geschlechtern und den Zünften (Ämter) in den Blick nahm. Mit der anonymen ›Weberschlacht‹ (Weverslaicht) fanden die blutigen Auseinandersetzungen zwischen der 1369 kurzfristig erfolgreichen Weberzunft samt weiteren Zünften und den Geschlechtern um das Stadtregiment und die 1371 beendete Weberherrschaft mit 500 Versen eine kurze, gleichfalls gereimte Darstellung, die wiederum für die Geschlechter Partei nahm. Die erste deutsche Chronik Augsburgs, verfasst von einem Anonymus, setzt mit dem Zunftaufstand von 1368 ein und reicht bis 1406; ihr folgte die Chronik des Erhard Wahraus für die Zeit von 1126 bis 1445. Der Augsburger Kaufmann Burkard Zink, aufgestiegen aus einfachen Verhältnissen und zugezogener Neubürger, bietet in seiner Chronik angelesene Vergangenheit aus fremder Erfahrung eines alten Mannes als Paraphrase dieser älteren Chronik (1. Buch: 1368–1406), seit seiner Ankunft in Augsburg von ihm gesammeltes Vergangenheitswissen (2. Buch) sowie selbst erlebtes und ihm zugetragenes Zeitgeschehen bis 1468 (4. Buch). Dazwischen sind als besonderes drittes Buch eine Familiengeschichte mit Memorialcharakter und eine Selbstbiographie einfügt. Die Chronik des Hektor Mülich reicht von 1348 bis 1487 und ist aus der Sicht des gehobenen Augsburger Bürgertums geschrieben. Reichsstädtische Chroniken legen zwar den Schwerpunkt auf die eigene Stadt und den näheren Umkreis, halten aber die Verbindung zum Königtum, Bischofsstädte zur Geschichte des Bistums. Einen weiten Blick über die Stadt hinaus eignet den Chroniken der Stadt Lübeck entsprechend ihrer Rolle als Haupt der Hanse. Monographischer und thematischer Art wiederum ist die Chronik des Konstanzer Konzils (1414–1418) des Bürgers Ulrich von Richental († 1437), der als Zeitzeuge die Chronik ohne offiziellen Auftrag 1420 verfasste. Lokalkolorit,

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Alltagsgeschehen, Stadt-, Sozial- und Rechtsgeschichte und politische Geschichte werden in stadtbürgerlicher Perspektive mit dem universalen, allerdings nicht tiefgehend erfassten kirchengeschichtlichen Ereignis verbunden. Die Handschrift wurde von Buchmalern mit kolorierten Federzeichnungen versehen. Der Berner Gerichtsschreiber Diebold Schilling der Ältere verfasste 1477 eine bebilderte Große Chronik des Burgunderkrieges, der Stadtschreiber üring Frickart (Fricker) eine Darstellung des Twingherrenstreites von 1470. Mit mehr als 600 künstlerisch nicht hochstehenden, aber kulturgeschichtlich bedeutsamen Illustrationen (Figuren) ist die Berner Chronik Diebold Schillings von 1483 ausgestattet. Die Luzerner Chronik Diebold Schillings des Jüngeren, die dieser 1513 dem Rat überreichte, weist 453 farbenprächtige, teilweise großformatige Illustrationen auf, die detailliert und eindrucksvoll das politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und religiöse Leben der Stadt widerspiegeln. Die Berner Chronik Schillings fußt auf den ausgeschriebenen älteren Chroniken Konrad Justingers und Hans Fründs. Der aus Rottweil stammende Berner Stadtschreiber Justinger verfasste 1415 eine Berner Chronik wohl aus eigenem Antrieb, ein zweites Mal begann er damit nach Beendigung seines Amtes 1420 im offiziellen Auftrag von Schultheiß, Rat und Bürgern eine Geschichte Berns ›von den Anfängen bis auf den heutigen Tag‹ zu schreiben. Seine Grundlagen waren fremde Erfahrung durch die ›Unterweisung alter Leute‹ und Dokumente aus der stat kisten, dem städtischen Archiv. Diebold Schilling erhielt 1474 vom Großen Rat den gleichen Auftrag wie zuvor Justinger. Seine 1483 in Form dreier pergamentener Bücher fertiggestellte Chronik wurde nach Schillings eigenen Worten zuvor vom Rat verhört und corrigiert, damit man in ihr nichts anderes als die blos warheit und Tatsachen nde. Die prachtvollen, repräsentativen Bilderchroniken Diebold Schillings wurden zusammen mit den Urkunden im Ratsarchiv verschlossen und nur zu bestimmten feierlichen Anlässen im Rat in einzelnen Lektionen ver-

lesen. Außerdem verfasste Schilling als Auftragsarbeit für den Berner Schultheißen Rudolf von Erlach 1484/85 eine Spiezer Chronik, die mit prägnant und im Detail fein durchgestalteten kolorierten Federzeichnungen künstlerisch wertvoll bebildert ist. Die Luzerner Chronik Diebold Schillings des Jüngeren hütete der Stadtschreiber wie ein Arkanum; sie war fast nur ratsfähigen Familien zugänglich. Allerdings erhielt üring Frickart 1487 den Auftrag, Diebold Schillings Darstellung der Schlacht bei Murten abschreiben zu lassen, damit sie jedes Jahr am Schlachtengedenktag in der Kirche ›eröffnet und verkündet werde‹. Das Interesse an einem autorisierten Geschichtsbild der Stadt wird daran erkennbar, dass in Bern im 15. Jahrhundert die Stadtschreiber mehrfach angewiesen wurden, Stadtchroniken zusammenzustellen, ältere Werke zu überarbeiten oder einzelne Partien aus Chroniken zu kopieren. In Nürnberg knüpften die unabhängig vom Rat privat und autonom entstandenen Chroniken an den historisch-politischen Teil von Ulman Stromers »Püchel von meim geslecht und von abentewr« (1349–1401), an eine sogenannte ›Chronik aus Kaiser Sigmunds Zeit‹, die bis 1434/41 reicht, und an die darauf folgende Annalistik an. Als Fortsetzer der annalistischen Reihen und Verfasser einer Chronik von 1469 bis 1506 trat der Bierbrauer und Beauftragte für das Bettlerwesen (Bettelherr) Heinrich Deichsler hervor, ein Mann des mittleren Bürgertums. Die große Masse der Nürnberger autonomen Chronistik setzte aber erst nach dem ersten Drittel des 16. Jahrhunderts ein und führte zu einem unvergleichlich großen Bestand an frühneuzeitlichen Chroniken. Zur Chronistik des von monastischen Kreisen getragenen »Frühhumanismus« oder »scholastischen Humanismus« (Paul Joachimsohn), die wenigstens in Ansätzen Quellenkritik betrieb und nach Quellen suchte sowie die Stadtgeschichte ohne Anschluss an die Gegenwart mit der Welt- und Reichsgeschichte verknüpfte, gehören die lateinischen, aber auch auf Veranlassung des jeweiligen Rates ins Deutsche übersetzten Chroniken Augsburgs (»Chrono-

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

graphia Augustensium«, 1456/57) und Nürnbergs (»Nieronbergensis cronica«, 1485/1488) des Augsburger Benediktinermönchs, Priesters, Pfarrers und Predigers zu St. Sebald in Nürnberg und an anderen Orten Sigmund Meisterlin. Die erste Chronik kam auf Wunsch des Augsburger Bürgermeisters Sigmund Gossembrot, die andere nach Meisterlins Angaben im Auftrag des Nürnberger Rats, namentlich durch das Interesse des Vordersten Losungers Ruprecht Haller zustande. Der Augsburger Rat hatte 1457 Meisterlin für die feierlich überreichte Chronik 30 Gulden verehrt, vom Nürnberger Rat, der allerdings dessen Bibliotheksrecherchen durch Reisebeihilfen in Höhe von 37 Gulden subventioniert hatte, erhielt Meisterlin lediglich kleinliche sechs Gulden, die Haller um weitere sechs Gulden aufstockte. Aber auch Konrad Celtis wurde vom Rat für die Stadtbeschreibung Nürnbergs (»Norimberga«) zu seinem Verdruss nur mit acht Gulden bedacht.⁸³² Allerdings war der Rat 1497 zunächst bereit, für eine gebesserte Fassung 30 bis 40 Gulden nachzulegen und verehrte Celtis schließlich nach 1500 für die Überarbeitung des nicht sehr umfänglichen Werks 20 Gulden. Meisterlins Augsburger Chronik wurde schon in frühen Abschriften mit umfangreichen und repräsentativ-prunkvollen Bilderzyklen ausgestattet. Vor Meisterlin hatte in Augsburg der Priester Küchlin, veranlasst durch den Bürgermeister Peter Egen, um 1440 eine auf der Grundlage eines Büchleins eine kurze Reimchronik über das »Herkommen der stat zu Augspurg« verfasst. Auf der Augsburger Chronik Meisterlins baute dann weitgehend, aber von kaufmännischer und politischer Rationalität geprägt, die um die eigene Zeitgeschichte er-

weiterte Chronik des Ratsherrn und städtischen Amtsträgers Hektor Mülich († 1490) auf. Diese wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts von Jörg Demer, Marx Walther und Wilhelm Rem abgeschrieben und eigenständig fortgesetzt. Seit dem späten 15. Jahrhundert stieg bei zunehmender Alphabetisierung der Stadtgesellschaft die Zahl der Chroniken merklich an, und es kamen Autoren außerhalb der engen Ratskreise, solche ohne gelehrte Bildung oder Kenntnisse aus quali zierter städtischer Amtstätigkeit, hinzu. In Nürnberg, wo der Bestand an überlieferten Chroniken ins Massenhafte (vielleicht 1 000 Chroniken) anwuchs, entstand, den patrizischen Geschlechterbüchern nicht unähnlich, um die Mitte des 16. Jahrhunderts für den Hausgebrauch eine Chronistik der Kau eute und Handwerker, die ältere Teile aus zugänglichen Vorlagen kopierte und in den aktuellen Teilen von Ereignissen der eigenen Familie, der Umgebung und des Alltags berichtet. Die Aufzeichnungen und Chroniken, die sich der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit widmen, berichten über mehr oder weniger Alltägliches und Außergewöhnliches wie über Wetterverhältnisse und Ernteergebnisse, Naturkatastrophen, die Pest und andere Seuchen, Löhne, Preise für Waren und Dienstleistungen, Währungsverhältnisse und Währungsreformen, Teuerungen und in ationäre Geldentwertung, Widerstand gegen die Erhebung oder Ausweitung indirekter Steuern (Ungeld), über Baumaßnahmen, Feste, Turniere, Prozessionen, das Auftreten berühmter Prediger wie des Franziskaners Johannes Capistran, über Herrschereinritte und Besuche von Königen und Kaisern, ferner über spektakuläre Ereignisse wie Unglücksfälle, Selbstmorde, Rechtsfälle und Gerichtsszenen, Verbrechen, öffentliche Hinrich-

832 Konrad Celtis hatte die »Norimberga« 1495 dem Wormser Bischof Johann von Dalberg und dem Nürnberger Patrizier Johann Löffelholz zur Prüfung vorgelegt und nach der Approbation durch die beiden censores dem Nürnberger Rat übersandt. Der Nürnberger Frühhumanist, Pelzhändler und Kirchenmeister von St. Sebald Sebald Schreyer (1446–1520), der auch sonst zwischen Autoren und Ratsangehörigen vermittelte, hatte sich für das Werk beim Rat eingesetzt, wie er auch Meisterlins historische Arbeiten förderte und Hartmann Schedels »Liber Chronicarum« anregte und mit nanzierte.

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tungen und Exekutionen von Kriminalstrafen, Kriege und Fehden.⁸³³ Gegenstand waren auch Auseinandersetzungen der Stadt mit König, Fürsten, Adel, Bischof und Domkapitel. Ausgelöst wurden chronikalische Berichte oft von Zunfterhebungen, innerstädtischen Unruhen und Kon ikten, gewaltsamen Ratsveränderungen, Auseinandersetzungen mit der Geistlichkeit und sonstigen Ereignissen der Zeitgeschichte; gelegentlich sind sie von pessimistischen Klagen über den Lauf der Welt begleitet. Aufruhr wird aus der Sicht der Regierenden als die städtische Existenz gefährdende Störung von Frieden und Eintracht, metaphysisch als Werk des Zwietracht säenden Teufels verurteilt, das Ratsregime wird in seiner Herrschaft und Politik gerechtfertigt. Es wird aber auch, wie in Köln nach dem Umsturz von 1396, die neue Ordnung durch Ausweis des gemeinwohlschädlichen Handelns des alten Regimes legitimiert. Die frühhumanistische Geschichtsschreibung seit der Mitte des 15. Jahrhunderts beschäftigte sich häu ger in gelehrten Konstruktionen mit der legendären Gründungs- und Frühgeschichte als Beweis für die ruhmreiche Größe der Stadt und die prominente Herkunft ihrer führenden Geschlechter. Dabei griff man auf die römische und römisch-christliche Zeit, aber auch auf die Zeit vor und nach der Zerstörung Trojas zurück. So wurde Augsburg bereits von den Vindelikern als Ureinwohnern besiedelt, von Drusus ummauert und so zur eigentlichen Stadt gemacht. Die Geschlechter Augsburgs und Ulms stammten angeblich von Trojanern nach der Zerstörung Trojas ab, die Kölner von römischen Senatoren der Zeit Trajans. Die Chroniken beruhen auf älteren Aufzeichnungen von Vorfahren oder älteren Chroniken, mündlicher Überlieferung und authentischen Dokumenten. Durch Inserierung von Urkunden, insbesondere von Privilegien, halten Chroniken Beweismittel für Besitzverhältnisse, Rechtsansprüche, Herkommen, rechtliche und

legitime politische Positionen bereit. Zusammen mit den Berichten und Denkschriften zu Ereigniskomplexen wurde konkret verwendbares, teilweise geheimes Handlungswissen für die Zukunft thesauriert; Exemplarisches diente als Vorbild oder zur Abschreckung. Die zunehmende Alphabetisierung der Stadtgesellschaft schuf grundsätzlich ein größeres Publikum für chronikalische Werke, zugleich schrieben an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert auch Personen außerhalb der engeren Ratskreise, darunter Ratsdiener und Handwerker, Stadtchroniken. Allerdings konnten in den Städten vermutlich nur 10 bis 30 Prozent der Bevölkerung überhaupt lesen. Da die Stadtchroniken im engeren Sinne, sofern sie ohnehin nicht bewusst zurückgehalten wurden, zunächst nur handschriftliche Verbreitung fanden, gab es auch bei der Annahme einer größeren Reproduktion kein offenes Lesepublikum, sondern die Handschriften kursierten innerhalb der ver ochtenen Führungs- und Oberschicht. Einige wurden im Rat oder in exklusiven Gesellschaften und Kreisen verlesen und gelesen. Selten wurden historische Episoden bei bestimmten Anlässen einer größeren Öffentlichkeit wie etwa der Kirchengemeinde vorgelesen. Die Chroniken und chronikalischen Aufzeichnungen waren daher trotz ihrer auf ein erweitertes Publikus zielenden Intention kaum in der Lage, eine sozial einigermaßen weite städtische »Erinnerungsgemeinschaft« (Peter Johanek) zu bilden; als das »verschriftlichte kollektive Gedächtnis« (Wilfried Ehbrecht)⁸³⁴, wenn man sie so metaphorisch nennen will, waren sie in der Regel nur wenigen zugänglich. Die meinungsbildende und propagandistische Wirkung war daher gleichfalls eng begrenzt. In der frühen Neuzeit verhielt es sich, auch hinsichtlich der Drucke, nicht grundsätzlich anders. Eine historische Bewusstseinsbildung durch Chroniken erfolgte allenfalls für kleine elitäre Kreise.

833 H. M, Verbrechen und Strafe (4.7); C. H u. a. (Hg.), Krieg und Verbrechen (4.7). 834 P. J, Städtische Geschichtsschreibung, S. VII; dort auch W. E, uppe dat sulck grot vorderffenisse jo nicht meer enscheghe, S. 52.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

Während der Berner Rat ein deutliches Engagement für die Chronistik der Stadt an den Tag legte, hat der Nürnberger Rat für die weitgehend durch Stiftungen zusammengekommene Nürnberger Ratsbibliothek (Librei) ausweislich der frühen Kataloge weder die 1459 von den Nürnbergern Ratsbediensteten Johannes Plattenberger und Dietrich Truchsess kompilierte Universalchronik »Excerpta chronicarum« von 1459 noch den »Liber Chronicarum« Hartmann Schedels noch Meisterlins »Nieronbergensis cronica« angeschafft und erst nach Heinrich Deichslers Tod (1506/07) dessen umfangreiche Chronikkompilation angekauft, diese aber dadurch der weiteren Verbreitung entzogen und zunächst ihrer Wirkungsgeschichte beraubt. Chronikalische Aufzeichnungen dienten nach dem Bekunden von Verfassern der Sicherung historischen und gegenwärtigen Wissens, das durch eigenes zeitgenössisches Erleben, mündliche Überlieferung der Vergangenheit, authentische Dokumente und bereits vorhandene Buchchronistik gewonnen wurde, durch schriftliche Fixierung angesichts der Unbeständigkeit des menschlichen Gedächtnisses: ›Vieles wird vergessen, was nicht geschrieben ist‹, heißt es bei Ulman Stromer. Die Chroniken sollten künftigen Zeiten Klugheit und bemerkenswerte Beispiele (wysheit und merke) vermitteln (Detmar), Exempel und Lehrstücke zum Nutzen aller Stadtbewohner, wie der Mindener Chronist Heinrich Piel im 16. Jahrhundert schreibt. Twinger von Königshofen zielt durch den Gebrauch der deutschen Sprache auf die Unterrichtung und Unterhaltung der klugen und gebildeten Laien ab, damit sie wie die gelehrten Kleriker gerne lesen, stellt aber in Rechnung, dass die Menschen mehr Gefallen an neuen Dingen als an alten hätten. Mahnende Belehrung durch die historischen Exempla und zugleich Kurzweil, Ausgleich für Mühsal und erhebende Ermutigung (ergetzung und trost) der Zeitgenossen und ihrer Nachkommen (Diebold Schilling) waren die hauptsächlichen Motive für städtische Geschichtsschreibung.

835 Siehe dazu auch 2.5.3.1 (mit der Literatur).

4.6 Aufgaben und Befugnisse des Stadtregiments 4.6.1 Regiment und Policey Der Rat regulierte durch seine Satzungen das öffentliche Leben und das private, soweit es Folgen für die Öffentlichkeit hatte, unter den Maximen des gemeinen Nutzens, der Notdurft und der Ehre der Stadt. Seinen Handlungsbereich und seine Rechtsmacht umschrieb er seit dem 15. Jahrhundert mit Regierung oder Regiment und Policey. Der Schutz und die Aufrechterhaltung von Recht (iustitia, ius) und Frieden (pax), des Rechtsfriedens, waren elementare Aufgabe jeder herrschaftlichen Verbandsgewalt. Rechtsfriede meint den Zustand ungebrochenen oder wiederhergestellten, ›reformierten‹ Rechts. Aus ihm resultieren, wie das Wortfeld zum Begriff Frieden erläuternd akzentuiert, die Sicherheit (securitas) im unangefochtenen Recht, sozialer Friede und Ruhe (gemach, tranquillitas) mit den transzendierenden Werten von Seligkeit und Gnade (gratia), gegenseitiges Wohlwollen und Liebe (minne, caritas). Der Friede sichert dem Verband seine Einheit (unio) und die Eintracht (concordia) unter den Verbandsangehörigen; pax et concordia sind als Zentralbegriffe am Lübecker Holstentor in Stein gemeißelt. Friede ist Voraussetzung für eine gottgefällige Lebensführung und das Seelenheil, für das geistliche und materielle Wohlergehen der Bürger und für den gemeinen Nutzen (bonum commune, utilitas publica) der Stadt. Das Gemeinwohl wird weitgehend mit dem zentralen Wert des Rechtsfriedens und seinen sozialen Segnungen, der Wohlfahrt, identi ziert. Ein Regiment, das sich bemüht, Frieden und Eintracht zu schaffen, dient dem Lob und der Ehre Gottes. Dies waren normative politisch soziale Ordnungsvorstellungen, die grundsätzlich für alle Verbände Geltung besaßen.⁸³⁵ Die Stadt begann jedoch ungleich früher als etwa der Territorialverband damit, zur Verwirklichung des Rechtsfriedens und des gemeinen Nut-

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zens fürsorglich und intensiv die verschiedensten Lebensbereiche des Bürgers mit administrativen Reglementierungen zu durchdringen. Das Stadtrecht in der Form des Satzungsrechts brachte, worauf Wilhelm Ebel hingewiesen hat, »auch insoweit einen neuen Stil in die deutsche Rechtsgeschichte, als die Idee der Rechtsverwaltung vielfältige Gestalt gewann«. Darunter werden »die Einrichtungen verstanden, die, als Handhabe obrigkeitlicher, in diesem Falle bürgergenossenschaftlicher Fürsorge, die Erhaltung, Förderung und Sicherung des bürgerlichen Rechts und Rechtsfriedens innerhalb der bürgerlichen Gemeinschaft zum Zweck haben. Was Jahrhunderte später im absoluten Staat mit seiner reglementierenden landesväterlichen Fürsorge wieder auftaucht und auch der Rechtsordnung des liberalen Staates von heute nicht ganz fremd ist, war in der mittelalterlichen Stadt, diesem Treibhaus des modernen Verwaltungsstaates, nicht etwa bloß vorgeformt, sondern schon viel intensiver ausgestaltet.«⁸³⁶ Erst später fanden die Humanisten für diesen Gestaltungsbereich den Ausdruck ›Polizei‹ (policey), der vornehmlich dem Territorialstaat zugeordnet wird, aber schon im 15. Jahrhundert in den städtischen Sprachgebrauch als Regierung/Regiment und Policey, d. h. gute Regierung und Ordnung, Eingang gefunden hat. Die ältesten Satzungsbücher enthalten Bestimmungen zur Erhaltung des Stadtfriedens und zur rechtlichen Ordnung des Marktes, d. h. strafrechtliche und strafprozessuale Normen sowie schuld- und sachenrechtliche Vorschriften. Die zunehmende Ausweitung und Dichte der Regelungen zeugt von der Entfaltung bürgerlichen Lebens.⁸³⁷

4.6.2 Friedensschutz im Innern und nach außen 4.6.2.1 Der innere Friede Zunächst konnte der Rat kaum viel mehr tun, als den Versuch zu unternehmen, innerstädtische Fehden und Friedensstörungen durch vorbeugende Maßnahmen einzudämmen, indem er für die Beweissicherung begründeter Rechte in Stadtbüchern, für gütliche Verhandlungen und schiedsgerichtlichen Streitaustrag sorgte. Die Strafgewalt des Rates war, wie dies für Nürnberg die Achtbücher zeigen⁸³⁸, auf die Selbstverbannung beschränkt, wobei die Stadt auf den Täter nur dadurch Zwang ausüben konnte, dass sie ihn vor die Wahl zwischen Verbannung und die Gefahr stellte, in einem Prozess vor dem Schultheißen zu Leibes- oder Lebensstrafen verurteilt zu werden. Ein Privileg von 1313 band den Schultheißen, der sich alljährlich eidlich dem Rat verp ichten musste, an den Spruch der bürgerlichen Schöffen. Durch Privilegien Ludwigs des Bayern von 1320 und 1323 erwarben dann Rat und Stadt eine konkurrierende Landfriedensgerichtsbarkeit mit dem Schutz der Landstraßen und der Blutgerichtsbarkeit über landschädliche Leute, die sie in Verhaft nahmen, und drängten zugleich das Hochgericht des Schultheißen über die Bürger zugunsten einer eigenen Sühnegerichtsbarkeit zurück. Das Schultheißenamt gelangte von seinen Inhabern, den zollerischen Burggrafen, durch Verpfändung 1339 in die Hand eines Nürnberger Bürgers, 1385 als Pfand an die Stadt, die es dann 1427 mit dem Kauf des Amtes der Veste des Burggrafen endgültig zu eigenem Recht erwarb. Damit besaß die Stadt die ordentliche, vom Stadtherrn herrührende Gerichtsbarkeit und emp ng selbst den regulären Blutbann, den sie durch einen Stadtrichter (iudex civitatis) ausüben ließ, während

836 W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 382. 837 W. B, Die Anfänge der Sozialdisziplinierung; E. I, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht, S. 5–23; R. D, Obrigkeitliche Normierung; A. J, Kontrolle mit Konsens; L. B, Städtische Obrigkeit und soziale Kontrolle. 838 E. P, Die Entstehung der Ratsherrschaft in Nürnberg, S. 17 ff.; W. S (Hg.), Acht-, Verbots- und Fehdebücher Nürnbergs (4.5).

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

sie den Schultheißen immer mehr auf repräsentative Aufgaben beschränkte. Obwohl das gesamte Stadtgebiet einen Sonderfriedensbezirk darstellte, wies der Nürnberger Rat einen strafrechtlich besonders geschützten Friedensbezirk um Rathaus und Marktplatz aus und erließ ein generelles Verbot des Waffentragens; nur stumpfe Brotmesser durften mitgeführt werden.⁸³⁹ Unter erhöhtem Friedensschutz stand ferner die eingeschrankte Hallerwiese, die als Festwiese und Belustigungsplatz diente. Aber auch Wirtshaus und Frauenhaus (Bordell) waren als in ihrem Frieden gefährdete Örtlichkeiten strafrechtlich durch erhöhte Strafen für Friedensbruch in besonderer Weise geschützt. Gasthauswirte hatten in Rottweil binnen einer Frist dem Rat verübte Gewalttätigkeiten zu melden. In München begründeten die Ratsherren und der Stadtrichter in ihrer Gegenwart und unmittelbaren Umgebung einen potenzierten Frieden, einen personell-räumlichen Sonderfrieden, wenn das Stadtrecht bestimmt, dass handgrei icher Streit (chrieg), friedensstörende Gewalttätigkeiten (unzucht) und Schädigungen, insbesondere Messer- und Schwertzücken, die in ihrem Beisein verübt wurden, mit der doppelten Buße zu belegen waren. Zutrinken war auch deshalb verboten, weil es den bürgerlichen Frieden gefährdete. Friedensrechtlich geschützt war vor allem die Nacht. Ohne brennendes Licht durfte man sich von einer bestimmten Abendstunde an nicht mehr auf die Straße begeben. In verschiedenen Städten galt dann aber von einer bestimmten Stunde an, etwa 11 Uhr nachts (Köln), ein absolutes Ausgehverbot und das Gebot, die Haustüren zu verschließen (Ulm). In Ulm wurde bestimmt, dass ein Bürgermeister und die Einunger mehrmals in der Woche nachts in Häusern Razzien nach bösen Leuten durchführen sollten.⁸⁴⁰ Zur Aburteilung von Verbal- und Realinjurienhändeln richtete der Nürnberger Rat ei-

ne fünfköp ge Ratsdeputation (Fünfergericht) ein. In schwäbischen Städten waren die Einunger, andernorts die Unzüchter, in Straßburg die Siebenzüchter dafür zuständig. Unter Unzucht verstand man leichtere, nicht mit Leibesstrafen zu ahndende Vergehen, insbesondere Gewaltdelikte. Um den Grundsatz zu verwirklichen, dass jedes Kriminalunrecht geahndet werden müsse, und aus Gründen der Generalprävention verbot der Rat bei Strafe jegliche Fürbitte für Totschläger und andere Verbrecher und bekannte sich zur Offizialmaxime, zur Strafverfolgung von Amts wegen, auch dann, wenn sich die Täter und die Partei des Opfers außergerichtlich verglichen hatten, oder er übte auf den Verletzten einen Klagzwang aus. Vermutlich 1314/1314 hatte Nürnberg eine Halsgerichtsordnung erlassen. Im 14. Jahrhundert drang über die Landfrieden das Inquisitionsverfahren mit den Grundsätzen der Amtsermittlung (Inquisition), der Klage von Amts wegen (Offizialmaxime), der Folter und der quali zierten Leibes- und Lebensstrafen in das städtische Strafrecht ein.⁸⁴¹ In Fällen von Körperverletzung und Totschlag waren bei handhafter Tat alle männlichen Einwohner auf das Gerüfte oder Zetergeschrei hin bei Strafe zur Nacheile, zur Verfolgung des Verbrechers und seiner Gefangennahme, eidlich verp ichtet, damit sich niemand der Strafe durch Flucht entziehen konnte. In Köln sollten um den Tatort sofort die Straßenketten eingelegt und die Tore zum Rhein und zum freien Feld geschlossen werden. In Nürnberg waren insbesondere die Gassenhauptleute für die Gefahrenabwehr zuständig. Einzelne unverzüglich vorgenommene Handlungen wurden von der Stadt belohnt.⁸⁴²

839 J. B (Hg.), Nürnberger Polizeiordnungen, S. 42 ff. 840 C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm, Nr. 99, S. 64 f. 841 W. L, Nürnbergs Rechtsleben, in: G. P (H.), Nürnberg – Geschichte einer europäischen Stadt, München 1971, S. 172 f. 842 F. K, Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 347, S. 442.

Aufgaben und Befugnisse des Stadtregiments 451

In Straßburg⁸⁴³ war die Nacheile und Verfolgung von Rechts- und Friedensbrechern zu frischer Tat unter lautem Geschrei und den Rufen gerichtjo und helo durch Bürger, deren Söhne, Knechte, Gesinde oder andere Einwohner mit geeigneten Waffen bis in topogra sche Einzelheiten hinein genau geregelt: Dem Täter ist sofort von Besuchern und Anwohnern von Stiftsgebäuden, Kirchen, Klöstern, Kapellen und Freihöfen durch unverzügliches Blockieren der Eingänge der Zutritt zu den kirchlichen Asylbereichen zu verwehren. Flüchtet der Täter in ein Haus oder in einen Hof eines Bürgers, haben ihn der Bürger selbst oder sein Gesinde unverzüglich gewaltsam zu ergreifen und auszuliefern. Sobald der Ammeister glaubwürdig von dem Geschrei in den Gassen unterrichtet wird, soll er dem Turmwächtern des Münsters befehlen, an vier Stellen des Münsters dreimal das öffentliche Geschrei und Rufen zu erheben, dreimal die Hauptglocke zu läuten und sodann noch einmal oben das gleiche Geschrei wie zuvor zu erheben. Der Ammeister, hat als höchster exekutiver Amtsträger dazu die Befugnis, doch wenn er angesichts der gebotenen Eile nicht bald aufzu nden ist, können an seiner Stelle vier oder sechs Mitglieder der beiden Ratsgremien diese Maßnahme beschließen und anordnen. Die männlichen Anwohner der zu den Toren führenden Gassen haben sich bewaffnet an den Toren zu versammeln und ihnen verdächtig erscheinende Personen, die versuchen, zu Fuß oder zu Pferd aus der Stadt hinauszueilen, zu ergreifen und sie ohne Geheiß des Ammeisters nicht aus den Händen zu lassen. Die Bewohner der Gassen an den Gewässern nach dem Eingang der Ill in die Stadt bei den gedeckten Brücken, den oberen und unteren Ufern haben bei Tag und Nacht dafür zu sorgen, dass niemand zu Schiff hinwegfährt oder zu Fuß entweicht. Was auch immer dem Täter, der sich gegen die Festnahme wehrt, widerfährt, soll nicht gerichtlich geahndet werden. Bleibt er am Leben, soll er vor Gericht gestellt und wegen Friedensbruchs als des höchsten Frevels verurteilt

werden. Wird er zum Tode verurteilt, soll er zur Abschreckung anderer zusätzlich zuvor eine Leibesstrafe erleiden. Die kleinen Tore der Stadtmauer müssen verschlossen und von denjenigen bewacht werden, die eidlich dazu verp ichtet sind. Fremde haben während des Läutens der Münsterglocke und des Geschreis in ihren Herbergen zu bleiben oder diese aufzusuchen, damit sie nicht in den Gassen zu Schaden kommen. Alle Geistlichen und das geistliche Personal sowie alle Frauen sollen bei Strafe während dieser Zeit nicht herumgehen und herumstehen, sondern nach Hause gehen und die Bürger bei ihrem Einsatz nicht behindern. Wenn nur das Geschrei vom Münster erhoben wird und nur die große Glocke ertönt, dürfen die Zünfte noch nicht in Harnisch und Waffen unter ihre Zunftbanner ziehen, sondern erst, wenn man wegen eines ausgebrochenen Feuers die Glocken auf dem Münster Sturm läutet oder der Tumult (geschelle) so groß wird, dass man die Mordglocke, die bei Aufruhr gebrauchte Sturmglocke, läutet. Der Wächter auf dem Münster soll Tag und Nacht Ausschau halten und horchen, wo in der Stadt ein Geschrei und Laufen entsteht, und bei Tag eine große weiß-rote Fahne und bei Nacht eine brennende Fackel in die Richtung halten, in der es sich ereignet, sodass man erkennen kann, in welche Richtung oder zu welchem Tor die Täter iehen, und man ihnen den Weg abschneiden kann. Der Stadthauptmann und die städtischen Diener sollen den Tätern gleichfalls zu Pferd oder zu Fuß nacheilen und sie notfalls auf dem Feld vor der Stadt ergreifen. Die Zöllner auf der Rheinbrücke und der Zöllner auf dem Wickehüsel (Kriegshaus) sind angewiesen, wenn sie die Münsterglocke hören und ein Signal des Wächters erkennen, sofort ihr Glöckchen zu läuten, die Schranke herunterzulassen und niemanden, der aus der Stadt kommt, wer er auch sei, über die Brücke zu lassen, außer er hat eine schriftliche Genehmigung des Ammeisters. Außerdem sollen die Glockensignale von einer Stelle zur anderen weitergegeben werden und kleinere Gruppen sich an der neuen Warte

843 J. B, Straßburger Zunft- und Polizei-Verordnungen, S. 23–30 (15. Jh.).

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

und Zollstelle vor der Stadt und in den Orten Keule, Illkirch und Grafenstaden bewaffnet bereithalten. 4.6.2.2 Stadtverteidigung und Kriegswesen Wehrhaftigkeit prägt das Erscheinungsbild der mittelalterlichen Stadt.⁸⁴⁴ Mauern und Türme schützen die Existenz einer wachsamen und bewaffneten Bevölkerung, ihre Gewerbe-, Handels- und Markttätigkeit, aber auch die erworbene Autonomie und politische Selbständigkeit der Kommune, wenn notwendig auch gegen den Stadtherrn. Krieg und Gewalt in verschiedensten Formen gehörten nahezu zur Alltagswirklichkeit und erzwangen ständigen Wachtdienst und ständige Verteidigungsbereitschaft. In Zeiten des Krieges empfahl sich die Stadt dem Schutz des Stadtpatrons, und das städtische Aufgebot scharte sich im Feld um den kommunalen Fahnenwagen. Militärisch starke Städte waren aber auch entschlossen, Friedensbrechern in Kriegszügen offensiv entgegenzutreten, sie aggressiv aufzuspüren und zu verfolgen, adelige Raubschlösser zu brechen und zu schleifen. Einzelne Niederadlige wurden als Placker – die durch Drohen und Quälen etwas abnötigen (placken) – verurteilt und hingerichtet. Vor allem mit den Helfern machte man kurzen Prozess. Das Befestigungsrecht, ein Regal (Königsrecht), das auch auf die Fürsten übergegangen war, wurde von der Stadtgemeinde auf stadtherrliches Gebot hin, infolge stadtherrlicher Privilegierung oder eigenmächtig wahrgenommen. Die kommunalen Autonomiebestrebungen zielten auch auf Selbstbestimmung im Verteidigungs- und Kriegswesen (Wehrhoheit) und verlagerten mit der Ausbildung der Ratsverfassung die Zuständigkeit, Organisations- und Befehlsgewalt vom stadtherrlichen Vogt oder Burggrafen auf den Rat, die Kriegsherren des Rates und die Bürgermeister. Der durch militärische Stärke gestützte Autonomie- und Selbstbehauptungswille verlangte der Stadtbevölke-

rung jedoch erhebliche persönliche und nanzielle Leistungen ab. Die Verteidigungsfähigkeit beruhte letztlich auf der Wirtschafts- und Finanzkraft der Stadt, die in großem, nicht selten ruinösem Umfang beansprucht wurde. Allerdings hatten die Bauern der umliegenden Dörfer vielfach im Rahmen des Burgrechts oder als Hintersassen der stadtbürgerlichen Grundherrschaft einen mehr oder weniger großen Anteil an den Bau- und Kriegslasten mitzutragen. Auch waren adelige Ausbürger, adelige Bundesgenossen und adelige Söldner in das städtische, nicht lehnrechtlich fundierte Verteidigungs- und Kriegswesen einbezogen. Die persönlichen P ichten der Stadtbevölkerung umfassten – Dienstleistungen (Hand- und Spanndienste) als Bürgerfron bei Bau, Erweiterung und Instandhaltung von Mauern und Gräben, deren Reinigung und Befreiung von Eis im Winter, wobei Handwerker entsprechend ihrer beru ichen Fähigkeit eingesetzt wurden, – den durchgehenden Wachtdienst bei Tag und Nacht im Reihensystem, später auch rottenweise auf Türmen, Mauern, Kirchtürmen und Bergfrieden sowie nächtlich Patrouillen in den Gassen, – Kriegsdienste bei der Stadtverteidigung und im Aufgebot für auswärtige Kriegszüge. Die Figur des bewaffneten und wehrhaften Bürgers darf jedoch nicht heroisiert oder gar ideologisiert werden, sie erfordert zeitliche und sachliche Modi kationen. Der Wachtdienst bei Tag und Nacht und häu ge militärische Einsätze kollidierten mit den Erfordernissen des aktiven bürgerlichen Erwerbslebens. Eine dem Adel entsprechende soziale Idealisierung der Waffenfähigkeit und des lebensfüllenden Waffendienstes bedurfte der ökonomischen Grundlage eines arbeitslosen Grundrentenbezugs. Allenfalls das Patriziat und Teile der Oberschicht boten dafür einige Voraussetzungen; sie hatten auch teure Kriegspferde zu unterhalten. Unter den Pa-

844 V. S, Das Wehr- und Wachtwesen niedersächsischer Städte; P. S, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs, S. 130–199; siehe ferner die übrige Literatur zu 4.6.2.2 und 1.5.4.1.

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triziern befanden sich allerdings auch bekannte Kriegsleute. Bürgerliches Selbstbewusstsein und Bürgerstolz resultierten jedoch auch aus der eigenen Wehrhaftigkeit, solange sie sich gegen Adel und Fürstentum – gestützt auf Städtebünde – bewährte und nicht eine Fürstenangst übermächtig wurde. Die Unzuträglichkeit persönlicher Dienstleistungen für das Erwerbsleben führte dazu, dass spätestens seit dem 14. Jahrhundert Bürgerfronen, Wachtdienste und militärische Einsätze außerhalb der Stadt teilweise durch Stellvertreter und Ablösungszahlungen abgegolten werden durften, sodass sich die Vermögenderen von diesen Diensten befreien konnten. Durch den Ausbau des kommunalen Finanzwesens konnte die Stadt zunehmend auf persönliche Dienste der Bürger verzichten und die Aufgaben bezahlten Arbeitskräften und besoldeten Dienstleuten übertragen. Finanziert wurden die Ausgaben durch die Ablösungsgelder, ferner durch spezielle Wehrsteuern, Ungeld, Zölle, allgemeine Vermögensteuern, Schatzungen auf die Bauern, außerordentliche Steuern – wie die Nürnberger Hussitensteuer von 1431 oder die Augsburger Zuschlagsteuer von 1475 – und durch Kreditaufnahme. So wurden im inneren Sicherheitsdienst bald für die besonders hinderliche Tagwache, später auch für die Nachtwache besoldete Turmwächter, Nachtwächter und patrouillierende Stadtknechte angestellt, die teilweise daneben noch anderen Beschäftigungen nachgingen. Zur Zeit erhöhter Kriegsgefahr lebte die allgemeine Wachtp icht zur Verstärkung der Soldwächter wieder auf. Für die Stadtverteidigung reichte die wehrfähige Bevölkerung angesichts der weitläu gen Befestigungsanlagen häu g nicht aus, sodass der Rat kriegserfahrene Söldner zur Verstärkung anwerben musste. Große Städte wie Nürnberg konnten es sich leisten, für Geleitdienste zum Schutz von Reisenden und Gütertransporten, für Streifzüge gegen Strauchritter und Räuber in die Umgebung, polizeiliche Aufgaben, Boten- und Nachrichtendienste eine kleine Truppe von berittenen Söldnern (Reisige) ständig im Dienst zu halten.

Auch für auswärtige Kriegszüge bei Fehden, ferner zur Unterstützung landesherrlicher Truppen, zur Reichshilfe der Reichsstädte und zur Einlösung von Bündnisverp ichtungen wurden zunehmend Söldnerkontingente eingesetzt. Zu Feldzügen rückte vielfach eine kombinierte Formation aus Bürgerwehr und einem Gros an kampferfahrenen Söldnern aus, denn ein militärisch wenig trainiertes Bürgeraufgebot war allein kaum in der Lage, professionellen Ritterheeren und Soldtruppen des Feindes erfolgreich Widerstand zu leisten. Zudem schädigten sowohl eine längere Unterbrechung der Erwerbstätigkeit als auch ein Ausfall aktiver Erwerbspersonen durch Tod oder Invalidität die städtische Wirtschaft nachhaltig, sieht man von der Mentalität der durchschnittlichen Städter, die im Vergleich zum Adel wenig kriegerisch war, einmal ab. Zwischen Stadt und Söldner wurde ein Dienstvertrag abgeschlossen, der die Höhe des Soldes häu g nach Maßgabe des Eigenbesitzes an Waffen und Pferden, den Anteil an Beute und Lösegeldern von Gefangenen und einen Schadensausgleich regelte und der durch den Treueid des Söldners und die erste Soldzahlung Rechtskraft erhielt. Im Falle der in großer Anzahl benötigten Fußknechte schloss man mit unternehmerischen Söldnerführern Gruppenverträge ab. In Friedenszeiten besaß Nürnberg eine Bewerberliste, in der Adlige aus der Umgebung vorgemerkt waren. Aber auch aufgebotene städtische Wehrp ichtige erhielten teilweise eine nanzielle Entschädigung, wie andererseits häu g Stadtbewohner in den Sold ihrer Stadt traten, in einer Übergangsphase zur Professionalisierung aber noch nicht von der Wehrp icht befreit waren und auf eigene Kosten einen Ersatzmann zu stellen hatten. Die städtischen Söldner wurden aus der Stadtbevölkerung und aus den Adligen der Umgebung mit ihren Dienstmannen rekrutiert und von Kriegsunternehmern auf dem Söldnermarkt angeworben, auf dem ausgesprochene Elitefußtruppen wie die Schweizer angeboten wurden. Eine besondere Gruppe stellten die adligen ›Aussöldner‹ oder ›Edelbürger‹ dar, die

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

durch Bestallungsbrief generell für den Kriegsfall zum Zuzug verp ichtet waren. Hinzu kamen die adligen ›Ausbürger‹, die kraft Bürgerrechts mit Bündnischarakter die Stadt militärisch zu unterstützen, ferner Klöster, Bauern und ganze Dörfer, die gleichfalls als Ausbürger und als Pfahlbürger Fußsoldaten, Pferde und Wagen zu stellen hatten. Bündnisse, Ausbürgerrechts- und Soldverhältnisse mit Adligen gewährten der Stadt vielfach das Öffnungsrecht für deren Burgen und Schlösser, die den städtischen Truppen als Stützpunkte dienten und ihren Aktionsradius über den Tagesritt im Umkreis der Stadt hinaus erweiterten. Der Wacht- und Wehrp icht mit persönlichem Einsatz und nanziellen Abgaben unterlagen alle arbeits- und kriegsfähigen männlichen Einwohner der Stadt, ob sie das Bürgerrecht besaßen oder nicht, doch lässt die Bürgerrechtspolitik gelegentlich erkennen, dass man im Hinblick auf besondere Gefahrenlagen weitere Kreise der Bewohner durch abgestuftes Bürgerrecht an die Stadt zu binden versuchte. Von P ichten ausgenommen als Vergünstigung oder Kompensation für andere Dienste in unterschiedlicher Handhabung waren städtische Amtsträger und Bedienstete wie Ratsherren, Richter, Syndici, Schreiber, ferner Waffenschmiede, Apotheker, Ärzte und der exemte Adel. Geistliche nden sich gelegentlich im Wacht- und Mauerdienst, oft hatten geistliche Institutionen Ablösezahlungen zu leisten und einen Teil der Kriegskosten zu übernehmen. Den Juden, denen das Waffenrecht keineswegs förmlich aberkannt wurde, unterlagen grundsätzlich der Wehrp icht, die sie jedoch nanziell ablösen mussten; lediglich zu Wacht- und Schanzarbeiten wurden sie zunächst noch herangezogen, bis sie auch diese persönlichen Leistungen abzulösen hatten. Der Dienstp ichtige hatte grundsätzlich für Arbeitsgeräte, Bewaffnung und für Proviant bei kürzeren Einsätzen selbst zu sorgen. Nur für Verluste gab es Entschädigungen, wie auch die Stadt Kriegsgefangene auslöste. Dem Schutz dienten Harnisch, Panzer oder Kettenhemd, Helm oder Eisenhut, Eisenhandschuhe und

bei den Berittenen (Reisige) noch Halskragen, Arm- und Beinschienen, ferner Schilde. Zu den Trutzwaffen gehörten Schwert, Langspieß, Axt oder Hellebarde. Die Fernwaffen bestanden aus Armbrust und mit dem Aufkommen von Feuerwaffen in Europa seit dem ersten Drittel des 14. Jahrhunderts noch aus Handbüchsen und den in Anschaffung, Wartung, Transport und Bedienung durch Büchsenmeister teuren Büchsen (Geschütze, Kanonen) mit ihrer wenngleich nicht zielgenauen, so doch erschreckenden Wirkung. Die Handfeuerwaffen, die schon 1431 im Nürnberger Reichsabschied hinsichtlich des Hussitenkrieges der Armbrust gleichgestellt wurden, aber erst seit dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts eine etwas größere Verwendung fanden, besaßen noch eine geringe Durchschlagskraft, waren wenig zielgenau und beanspruchten große Ladezeiten, sodass ihnen die technisch durch Spannhilfen (Winden) sowie die Hornschicht- und Stahlbogen weiterentwickelte Armbrust zunächst noch überlegen war. Der Nahkampf blieb noch lange die typische Form der Kampfhandlungen. Beim Erwerb des Bürgerrechts oder auch beim Eintritt in die Zunft wurde eine bestimmte, eventuell in Umfang und Qualität am Vermögen orientierte Bewaffnung verlangt, die in regelmäßigen Waffenschauen auf ihren Zustand überprüft wurde. Kriegspferde stellten Patriziat und Oberschicht, sodass militärisch verstärkte Standesgrenzen gezogen waren. Wo die Stellung von Kriegspferden an bestimmte Steuervermögen gekoppelt war wie in Straßburg und eine Form der Steuerleistung darstellte, drang auch das Zunftbürgertum in den Reiterdienst ein, oder es hatten mehrere Bürger gemeinsam ein Pferd zu nanzieren, das von einem Aufsitzer geritten wurde, der selbst kein Pferd besaß. Waffen und Kriegspferde durften nicht veräußert, verliehen oder verpfändet werden. Wer für seine Bewaffnung nicht selbst aufkommen konnte, erhielt für die Dauer des Einsatzes Waffen aus der kommunalen oder zünftigen Rüstkammer. Meist handelte es sich um Arme und Einkommensschwache, die als Fußvolk mit lediglich einem Spieß dien-

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ten oder zu Schanzarbeiten, zu Spanndiensten oder zu Trossdiensten herangezogen wurden. Die militärische Einteilung der wehrfähigen Bevölkerung, die zugleich Verwaltungs- und Polizeizwecken diente, erfolgte topogra sch nach Vierteln (Quartieren) – gelegentlich in Anlehnung an Kirchspiele, Nachbarschaftsverbände (Burschaften) oder Weichbilde –, untergliedert in Gassen und in Rotten oder Scharen als Einsatzverbände oder nach Zünften. Daneben gab es berittene Verbände der patrizischen Stallgenossenschaften (Constofeln). Da nicht die ganze Bevölkerung zünftig durchgegliedert war, nden sich häu g eine topogra sche und zünftige Gliederung des Aufgebots in Kombination. Wo in Süddeutschland im 16. Jahrhundert die Zünfte entpolitisiert wurden, kehrte man zur ursprünglichen topogra schen Einteilung zurück, doch geschah dies schon früher aus praktischen Gründen etwa in Basel, Straßburg und Augsburg. Die Einteilung nach Zünften hatte den Vorteil, dass eine bereits vorhandene Organisation und Hierarchie nutzbar gemacht werden konnte. Bei Gefahr im Verzug mussten sich jedoch die verstreut wohnenden Zunftgenossen erst an einem Sammelplatz ein nden, während bei der topogra schen Gliederung vertraute nachbarschaftliche und familiäre Einheiten rascher operieren konnten. Den Vierteln und den Zünften waren bestimmte Mauerabschnitte oder Tore für Bauleistungen, Wachen und Verteidigung zugewiesen. Bei Kriegszügen stellte die Zunft selbständig das von ihr verlangte Kontingent zusammen. Die Aufgebots- und Einsatzpläne der Stadt galten auch für die Brandgefahr, die der Kriegsgefahr gleichgeachtet wurde, da sie ebenfalls die Existenz der Stadt bedrohte. Die städtischen Armbrust- und Handbüchsenschützen vereinigten sich in vielen Städten zu Bruderschaften (Gilden) mit einer Schützenordnung, führten regelmäßige Schießübungen an der Mauer oder im Stadtgraben durch und veranstalteten Schützenfeste mit Preisschießen. In einigen Städten wie Nürnberg und Frankfurt am Main erteilten bruderschaftlich organisierte Fechtschulen mit teilweise überörtlicher Bedeu-

tung Unterricht und veranstalteten öffentliche Schaukämpfe. Der Rat stellte häu g ein selbständiges Schützenkorps zusammen, dessen Angehörige in der Regel einer beru ichen Tätigkeit nachgingen, sich aber ständig für den Einsatz im Kriegsund Brandfall bereitzuhalten hatten und dafür vielfach von Bau- und Wachtdiensten freigestellt waren. Für jeden Einsatz bekam das Schützenkorps Sold und Verp egung; in einigen Städten erhielten die Schützen ein Wartegeld oder bereits einen geregelten Sold und Anteile an der Kriegsbeute. Gelegentlich gab es auch eine berittene Reserve. Das Schützenkorps diente als jederzeit verfügbare Eingreiftruppe; es wurde zu Repräsentationszwecken aufgeboten, begleitete den Rat an Gerichtstagen und bei Hinrichtungen, fungierte als Polizeitruppe zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, gab in Gefahrenzeiten Geleit und bewachte die Landwehr, operierte bei Kriegszügen als geschlossener Verband und wurde als Kontingent zur Unterstützung des Landesherrn, zur Erfüllung des Reichsaufgebots oder von Bündnisverp ichtungen entsandt. Dieses Schützenkorps markierte eine Zwischenstellung zwischen Bürgeraufgebot und stehendem Berufsheer, das sich einige Städte in Gestalt einer kleinen ständigen Truppe berittener Söldner leisteten. Viertelsmeister, Gassenhauptleute und Zunftmeister hatten an den zugewiesenen Mauerabschnitten und Toren das Kommando. Der Befehl über mehrere zusammenhängende Abschnitte lag beim Rat, während Rat und Bürgermeister den Oberbefehl hatten und vom Hauptmann der Söldnermiliz unterstützt wurden. Im Falle von auswärtigen Kriegszügen ging die Befehlsgewalt auf die Kriegshauptleute der Waffengattungen – Reisige, Schützen, Fußknechte mit Spießen – und den für Tross und Geschütze zuständigen Wagenburgmeister über, wobei gelegentlich noch eine Oberleitung aus zwei oder mehreren Hauptleuten, die auch die Kriegskasse verwalteten, gebildet wurde. Zu Kriegshauptleuten wurden Patrizier, Angehörige der Oberschicht oder adlige Söldner bestellt. Die Entscheidung über Krieg und Frieden, über

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

die Art der Kriegsführung und den Einsatz der Mittel lag beim Rat, der auch die Hauptleute bestellte. Handelte es sich um größere und länger andauernde Kon ikte, so übertrug der Rat die Sorge für die Sicherheit der Stadt und die Kriegsführung mit ihren Einzelheiten einem Ausschuss, einem Kriegsrat (Kriegsherren) mit weitreichenden Vollmachten. Derartige Kriegsräte, die wegen der Häu gkeit militärischer Gefahrensituationen und Kon ikte zu behördlicher Verfestigung tendierten, besaßen gelegentlich fast diktatorische Vollmachten und waren, wie in Basel, unverantwortlich, d. h. sie konnten nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Die Rüstkammern reichten vielerorts im 15. Jahrhundert nicht mehr aus und wurden durch Zeughäuser ersetzt, weil man möglichst breite Schichten für den Waffendienst heranzog, eine möglichst einheitliche Bewaffnung durch eine zentrale Waffenbevorratung anstrebte und neuartige Waffen wie Handbüchsen und Geschütze samt Munition und Pulver, sofern nicht eigens ein Pulverturm vorhanden war, sowie Gerätschaften und Wagen für Kriegszüge untergebracht werden mussten. Die Lagerung der bürgerlichen Waffen im Zeughaus erleichterte die Überprüfung und Instandhaltung; auch stellte der bewaffnete Bürger bei innerstädtischen Kon ikten eine große Gefahr für den Rat dar. Es entstand ein Zeugwesen mit eigener Verwaltung für den Erwerb, die Reparatur und die Inventarisierung von Rüstungsgütern und die Rüstungsproduktion der Büchsenmeister, Harnischmacher, Armbrustschnitzer und Pfeilsticker. An der Spitze stand ein Zeugmeister, der Ratsmitglied oder von außen angeworben sein konnte. Im städtischen Marstall wurden die stadteigenen Pferde für Botenritte und Gesandtschaften sowie die von Bürgern gestellten und von den Söldnern gehaltenen Pferde untergebracht. Ein zeitweiser Verleih von Pferden an Private deckte einen Teil der Unterhaltskosten. Ferner wurden Verp egungswesen und Tross für größere Kriegszüge zu einer festen Einrichtung, wobei der Proviantmeister für Ankauf und Anlieferung der Verp egung sorgte, der Profoss den Lagerhandel überwachte

und der Trossweibel die unmittelbare Aufsicht und Befehlsgewalt über den Tross hatte. Ein aus den Hauptleuten der Truppenteile bestehender Ausschuss von Beutemeistern setzte die erbeuteten Gegenstände wie Vieh, Getreide, Hausrat und Waffen teilweise in Geld um und verteilte es nach festgelegten Quotenschlüsseln. Stockmeister sorgten für die Verp egung und Verwahrung der Gefangenen und setzten die Höhe des Lösegelds fest (Schatzung), das sie auch einzutreiben hatten. Die Frage der Schatzung war Gegenstand der Friedensverhandlungen. Adlige Reisige wurden deshalb häu g nicht geschatzt und für die Zeit ihrer Gefangenschaft in Bürgerquartieren und Herbergen untergebracht, während man gefangene Bauern ins Gefängnis legte und mit ihren Lösegeldern wenigstens zu einem geringen Teil den Krieg re nanzierte. Die Städte verfügten meist als die ersten über Artillerie und andere moderne Kriegstechnologie. Teure, meist im Wandergewerbe tätige militärische Spezialisten, denen die Stadt vielfältige Vergünstigungen einräumen musste, waren die Büchsenmeister und Festungsbaumeister. Die Büchsenmeister, die aus dem Schmiedeund Glockengießerhandwerk kamen, entwarfen und schmiedeten oder gossen mit ihren Gesellen die Geschütze, besorgten ihre Bedienung, stellten Pulver her und entwickelten daneben auch Belagerungs- und Sturmgeräte. Die Artillerie besaß eine eigene Gerichtsbarkeit unter dem Zeugmeister und eine Art von Asylrecht, das demjenigen, der sich zu den Geschützen üchtete, eine begrenzte Straffreiheit gewährte. Die Weiterentwicklung der Geschütze, die mit Eisen- statt Steinkugeln bestückt an Durchschlagskraft gewannen, erforderte im 15./16. Jahrhundert zum Schutz der Städte einen Umbau der mittelalterlichen Forti kation und die Anlage von zusätzlichen Wällen, ferner von Rondellen und Bastionen auch für die eigenen Geschützstellungen, die es ermöglichen, das Vorgelände besser unter überkreuzendes Feuer zu nehmen. Für diese Umbauten mussten spezialisierte Festungsbaumeister mit theoretischen und praktischen Kenntnissen in Dienst genom-

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men werden. Nur die nanzkräftigen Städte konnten dieser Entwicklung folgen. Das Militärwesen prägte ähnlich dem Wirtschaftsleben die Organisation der Stadtbevölkerung und wenigstens eine Zeit lang während des reinen Bürgeraufgebots auch die an sich auf Erwerbszwecke ausgerichtete Existenz des waffenfähigen Bürgers, der weder aufgrund des Lehnrechts noch eines Soldverhältnisses, sondern aufgrund der Treuep icht gegenüber dem eigenen Gemeinwesen und dem Rat Bau-, Wachtund Kriegsdienste leistete. Die Erfordernisse des Militärwesens mit seinem enormen Bauaufwand, mit der Ablösung persönlicher Dienste, der Anwerbung von Söldnern, der Fortentwicklung der Waffentechnik und der Kriegsführung selbst erzwangen den Ausbau des Finanzwesens und führten zur Einrichtung von Kriegsbehörden und zum organisatorischen Ausbau der Logistik. 4.6.2.3 Fehde und Landfrieden Berittene Söldner der Stadt gaben auch in friedlichen Zeiten aufgrund städtischen Geleitrechts, von Geleitsabkommen mit dem landesherrlichen Geleitherrn oder königlicher Ermächtigung An- und Abreisenden auf den Straßen Geleitschutz. Sie streiften auch in der Umgebung, um schädliche Leute und Straßenräuber, die von der Stadt mit ihrem Güterverkehr angelockt wurden, aufzubringen, zu vertreiben oder ihnen auf die Nachricht von einem Überfall hin nachzueilen. Von Straßenräubern oft kaum zu unterscheiden waren Niederadlige, die aus irgendeinem Grund sich von der Stadt in ihrem Recht verletzt behaupteten und im Wege der formellen Fehde, durch eigenmächtige Repressalien wie Wegnahme von Handelsgütern

und Bargeld, Gefangennahme von Bürgern und Lösegelderpressung (Schatzung), ferner durchFehdemaßnahmen im Sinne des Schadentrachtens, d. h. der Schädigung des ländlichen Besitzes von Stadt und Bürgern durch Raub von Pferden und Vieh sowie das Niederbrennen von Gehöften und Dörfern oder den Verzicht auf Brandstiftung gegen eine Geldzahlung (Brandschatzen) zu ihrem vermeintlichen Recht zu gelangen suchten oder einfach auf Beute ausgingen. Der Kreis der meist niederadligen Gegner der Städte erweiterte sich durch die Helfer und Helfershelfer des Fehdeführenden, sodass leicht 50 Gegner der Stadt durch Fehdebriefe, durch eine Absage oder Widersage (difdatio), die Feindschaft ankündigten, ohne jedoch stets auch in die Auseinandersetzungen einzugreifen. Frankfurt wurde im 15. Jahrhundert in drei Fällen von früheren Söldnerhauptleuten der Stadt befehdet; in einem Fall nahm es den Fehdegegner nach Friedensschluss wieder in den Dienst der Stadt. Im Falle des Ersten Markgrafenkrieges von 1449/50, an dem sich räumlich weit gestreut auch hochadlige Standesgenossen des Markgrafen Albrecht Achilles von Brandenburg-Ansbach beteiligten, gingen in Nürnberg, wie Erhard Schürstab in seinem Kriegsbericht mitteilt, etwa 7 000 Absagen namentlich aufgeführter Fürsten, Grafen, Freiherren und Herren samt deren Knechten (Söldnern) und Dienern ein. Der Nürnberger Hauptmann Hans Müller wurde nach der siegreichen Schlacht am Pillenreuther Weiher vom 11. März 1450 zu den Eidgenossen entsandt, um in den acht schweizerischen Orten 699 der allseits in Europa als Infanteristen begehrten Söldner (Knechte) anzuwerben.⁸⁴⁵ In einer nicht sonderlich bedeutenden Fehde gegen die Stadt Frank-

845 In dem als Chirograf (Kerbzettel) ausgefertigten beiderseitigen Vertrag vom 3. April 1450 verp ichtete sich die Stadt, pro Mann monatlich fünf gute Rheinische Gulden Sold zu zahlen, für die Bewaffnung mit Spießen zu sorgen und im Falle von Verwundung und Krankheit Arztkosten zu übernehmen, während die Söldner schworen, im Krieg keine Gotteshäuser und Kirchen zu berauben und anzuzünden, vorbehaltlich des Rechts auf Gegenwehr keine Geistlichen, Zivilpersonen, Frauen und Kinder zu berauben und zu misshandeln, keine Frauen mitzuführen, wegen des daraus entstehenden Streits nicht zu spielen, untereinander nicht Hass oder Feindschaft zu hegen, keine gewaltsamen Übergriffe mit Raub und Misshandlung gegenüber Freunden, in Herbergen und gegenüber anderen Leuten zu begehen, sondern sich zuchtvoll und friedfertig zu verhalten, keinen Aufruhr zu machen und Friedegebote zu befolgen. Norenberc – Nürnberg 1050 bis 1806 (4.5), Nr. 21, S. 68 f. (mit Fotogra e der Urkunde).

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

furt am Main wurden 250 Reiter und 50 Kämpfer für eine Gewaltaktion aufgeboten. Mit Kosten in Höhe von 800 Gulden nach eigenen Angaben, von fast einem Drittel der damaligen Jahreseinnahmen der Stadt, riss die insgesamt zehn Jahre dauernde Fehde gegen Frankfurt (1477–1489) aus nichtigen Anlässen ein beträchtliches Loch in die Haushaltskasse der Stadt, während die Kriegsjahre von 1396 bis 1389 mit der verlorenen Schlacht bei Kronberg ungeheuerliche 126 000 Gulden gekostet hatten. In den 45 Jahren von 1381 bis 1425 war die Stadt Frankfurt in mindestens 229 Fehdefälle verstrickt.⁸⁴⁶ Im Zeitraum von 1404 bis 1438 wurden der Stadt Nürnberg 107 nachweisliche Fehden erklärt, zusammen mit den ungesicherten waren es 145.⁸⁴⁷ Je mehr die Städte von Königen und Landesherren zur Wahrung des Landfriedens aufgefordert wurden, umso mehr nahmen die städtischen Feldzüge die Form strafprozessrechtlicher Verfolgungsmaßnahmen an, »bei denen die städtischen Exekutivorgane und Söldnerscharen kraft obrigkeitlichen Auftrages die ehemaligen Fehdegegner als tatverdächtige Beschuldigte verfolgten«.⁸⁴⁸ Mit ihren Verbündeten unternahmen die Städte immer wieder Verbrecherjagden auf Land- und Seeräuber, mit denen kurzer Prozess gemacht wurde, und größere Militäraktionen, um Raubschlösser, d. h. Burgen und Schlösser, von denen aus der Stadt oder ihren Bürgern Schaden zugefügt wurde, mit Gewalt zu brechen und zu zerstören. Die Städte Frankfurt, Mainz und Worms ließen als Fehdemaßnahmen 1382 durch Hauptleute zwei Dörfer in der Obergrafschaft Katzenellenbogen in der Gegend von Darmstadt plündern. Große Fehden und Kriege wie der süddeutsche Städtekrieg von 1449/50 mit Nürnberg und dem Markgrafen Albrecht Achilles von Brandenburg-Ansbach, führten zu Verwüstungen und Kriegsschäden im Umland, verursachten unter anderem durch die Rekrutierung von

Söldnern enorme Kriegskosten, die durch Sondersteuern, Zwangsanleihen und eine Verschuldung durch kurzfristige Kredite und Rentenverkäufe nanziert werden mussten, und verteuerten die Lebensmittel. Sie brachten zeitweise den Handelsverkehr zum Erliegen, minderten die Einkünfte aus Zöllen und ließen infolge eines Nachfragerückgangs die Gewerbetätigkeit stocken, sodass Einzelne erhebliche Vermögensverluste erlitten. Fehden, die sich verschiedentlich lange hinzogen, bedeuteten keine permanenten Kriegshandlungen, sondern örtlich begrenzte, überfallartige Schädigungen, organisierte sporadische Raubzüge, einzelne Treffen von Kriegshaufen und Eroberungen von Burgen und Schlössern im Umland, während in der Regel keine Städte belagert wurden. Die Fehde wurde häug durch einen Waffenstillstand (anstand, treuga) unterbrochen, um Bemühungen um Vermittlung oder einen schiedsgerichtlichen Streitaustrag zu ermöglichen. Städte versuchten angesichts drohender Fehden diese durch Anerbieten eines gerichtlichen oder schiedsgerichtlichen Streitaustrags abzuwenden; Reichsstädte boten ihren Gegnern an, vor umliegenden Grafen, Fürsten oder dem König als ihrem obersten Richter Recht zu geben und Recht zu nehmen, wiederholten solche Rechtgebote während der Fehde und baten Adlige und weltliche wie geistliche Fürsten um Vermittlung. Dazu sollte ein Rechtstag (tag) abgehalten werden; nicht selten wurden mehrere solche Tage erforderlich. Außerdem ersuchten sie den König, Friedegebote zu erlassen, die einen friedlichen Streitaustrag anordneten, oder königliche Kommissare als Richter einzusetzen. Der kommunikative Aufwand wurde dadurch gesteigert, dass Städte in wiederholten Ausschreiben an befreundete Städte oder an Adlige, Fürsten und Städte in der Umgebung und sogar das ganzen Reich hindurch versuchten, die gegnerischen Behauptungen als unwahr zu entkräften und auch durch

846 E. O, Die Fehden der Reichsstadt Frankfurt am Main, S. 169 f.; R. F (Bearb.), Frankfurter Chroniken und annalistische Aufzeichnungen des Mittelalters. 847 T. V, Fehderecht und Fehdepraxis, S. 259. 848 W. E, Rostocker Urfehden (4.2.4–4.2.5).

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öffentliche Anschläge mit propagandistischen Mitteln für ihre Position zu werben. Der Nürnberger Rat erfasste im Ersten Markgrafenkrieg von 1449/50 mit seinen Schreiben auch ältere Reichsgebiete und die universitäre theologische und juristische Gelehrtenwelt und suchte die Internationalität. Am 8. Mai 1450 schrieb er in der Sache gleichlautend dem Grafen von Savoyen, an die Städte Gent, Brügge und Löwen sowie an die Universitäten Bologna, Padua, Pavia, Perugia, Köln, Heidelberg, Leipzig, Erfurt, Prag, Krakau und Wien und bat sie, gegenteiligen Berichten keinen Glauben zu schenken; ferner ersuchte er am 22. April König Karl VII. von Frankreich, den Gegnern der Stadt keinen Beistand, Rat, keine Hilfe oder Gunst zu gewähren.⁸⁴⁹ In der Fehde zwischen Frankfurt und dem Fürstabt Johann von Fulda als Nebenschauplatz der Fehde mit den Ganerben von Lindheim traten 1485 von den Reichsfürsten Erzbischof Berthold von Mainz, Erzbischof Hermann von Köln als Vormund für den Landgrafen Wilhelm von Hessen und der Pfalzgraf als Vermittler auf. Für den vom Erzbischof von Mainz für den auf 16. Juli 1485 nach Aschaffenburg zur Beilegung des Kon ikts anberaumten Tag erbat Frankfurt mit Erfolg von den Städten Nürnberg, Ulm, Straßburg, Worms und Speyer sowie vom Erzbischof von Köln Abgesandte, welche der Stadt in der Sache Rat erteilen und sie unterstützen sollten. Schließlich schaltete sich 1486 noch Kaiser Friedrich III. ein, der sich anlässlich der Wahl seines Sohnes Maximilian zum römischen König in der Stadt aufhielt. In anderen Fällen liehen Städte ihre gelehrten Juristen aus. Derartige Vermittlungsaktionen standen häu g in keinem Verhältnis zu der Bedeutung der Streitsachen, die den Fehden zugrunde lagen. Friedensschlüsse durch Sühneverträge und Richtungen (Rachtungen), die meist durch Vermittlung oder auf der Grundlage von Schiedsurteilen zustande kamen, konnten den Städten nanzielle Lasten und Güterverluste aufbürden.

Dabei kam es in der Regel zu einem beiderseitigen Verzicht auf Reparationsleistungen und noch nicht gezahlte Lösegelder.⁸⁵⁰ Zwei- und mehrseitige Bündnisse und regionale Landfriedenseinigen versuchten gewaltfreie Zonen mit der Vereinbarung von Schiedsgerichten zu schaffen und externe Gewalt abzuwehren, Gottes- und Landfrieden seit dem ausgehenden 11. Jahrhundert die Fehde und ihre Mittel einzuschränken oder zeitlich befristet zu verbieten. Der Mainzer Reichslandfriede von 1235 ließ Fehdehandlungen erst nach dem Scheitern des gerichtlichen Streitaustrags aus Rechtsnot zu. Die Goldene Bulle von 1356 verlangte für die gewissermaßen legale Fehdeführung als Voraussetzung eine formgerechte schriftliche Fehdeankündigung, die Einhaltung einer Frist von zwei Tagen vor Eröffnung der Fehdehandlungen und indirekt das Vorliegen eines gerechten Grundes. Gemäß dem Frankfurter Reichsfrieden von 1442, der auch königliche Reformation (d. h. der Goldenen Bulle) genannt wurde, musste vor einer Fehdeankündigung dem Gegner in der Form eines Rechtserbietens (Rechtgebot) ein schiedsgerichtlicher Streitaustrag unter Nennung geeigneter Schiedsleute angeboten werden. Solche Schiedsleute konnten vom Gegner jedoch leicht als nicht geeignet zurückgewiesen werden, sodass ein Streit entstand, ob es sich um ein rechtliches Rechtgebot handelte und die Fehde, vom Friedensrecht formell gedeckt, eröffnet werden konnte. Es blieb das Mittelalter hindurch angesichts der unzulänglichen Gerichtsorganisation auf verschiedenen Ebenen bis hinauf zum obersten Reichsgericht und herkömmlicher adlig-fürstlicher Eigenmacht schwierig, für einen friedlichen Streitaustrag ein geeignetes und unparteiisches Gericht zu nden und, wenn es zu Urteilen kam, diese auch durchzusetzen. Mit dem Reichsfrieden von 1467 beginnt die Ära des befristeten, aber mehrfach verlängerten absoluten Fehdeverbots, das eine Gene-

849 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 2, Beilage V, 4, S. 517-519. 850 G. Z, Lebensformen im Krieg.

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ration später im sogenannten ewigen Landfrieden von 1495 reichsgesetzlich unbefristet statuiert wurde. Vorausgegangen waren fünährige Reichsfrieden mit Fehdeverboten von 1471 und 1476 und 1486 ein zehnjähriges Fehdeverbot, das die Brücke zum daran angeschlossenen Wormser Reichsfrieden von 1495 bildete. Eine sofortige tatsächliche Befriedung des Reichs trat damit nicht ein, doch war die rechtliche Voraussetzung dafür geschaffen. Einzelne Fehden des frühen 16. Jahrhunderts zeichneten sich nun sogar durch eine exzessive Brutalität und Grausamkeit aus. Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts hin nahm die Zahl der Fehden jedoch immer rascher ab. Aus Frankfurter Fehdeakten des späteren 15. Jahrhunderts geht hervor, dass Frankfurt zwar die Verletzung der Goldenen Bulle wegen Gewalthandlungen vor der vorgeschriebenen Absage, der königliche Reformation von 1442 und des Reichsfriedens von 1486 geltend machte, alles mit Reichsacht, schwersten Strafen bis hin zur an sich existenzvernichtenden Strafe des crimen laesae maiestatis (1467) sanktionierte Reichsgesetze, diese bei den rechtlichen Auseinandersetzungen jedoch keine Rolle spielten. Die königlichen Friedegebote fanden keine Beachtung, die Rechtgebote der Stadt blieben ohne Wirkung, Gerichtsurteile wurden nicht akzeptiert. König Maximilian I., der 1495 in Worms auf dem Reichstag über ein ewiges Fehdeverbot verhandelte, übernahm, nachdem er zunächst den königlichen Reichs skal als amtlichen Strafverfolger auf die Sache angesetzt hatte, dann doch die Vermittlung in der Fehde des nicht einmal niederadligen Söldnerhauptmanns Jost Freund mit Frankfurt, während die Stadt diesen des brutalen dreifachen Mordes beschuldigte und ein hohes Kopfgeld auf seine Auslieferung oder Tötung ausgesetzt hatte. Nur weil der Rat dem König, der zeitweise selbst das Verhör der Parteien übernahm, trotz mehrfacher Bitten hartnäckig so lange die Auszahlung eines durch eine Obligation gesicherten Kredits in Höhe von 2 000 Gulden verweigerte, bis der Vertragsentwurf der Richtung zu Anfang 1496

umgestaltet war, erreichte er eine für die Stadt akzeptable vertragliche Beilegung der Fehde. 4.6.3 Öffentliche Ordnung und Policey 4.6.3.1 Wirtschaftsverwaltung: Überwachung von Marktordnung und Handelsverkehr Die vom stadtherrlichen Vogt oder Schultheißen an den Rat gelangte Marktgerichtsbarkeit betraf die Entscheidung von Streitigkeiten und Ahndung von Ordnungsverstößen, die Verwaltung des Münz-, Maß- und Gewichtswesens und die Überwachung aller dem Markt zugehörigen Wirtschaftsvorgänge. Darüber hinaus übernahm der Rat Fürsorge und Schutz durch Versorgungsmaßregeln, insbesondere bei Getreide, Salz und Honig, durch Reglementierung von Preisen und Löhnen sowie Kontrolle der Warenqualität. Besonders bei der Barchentproduktion gab es für die Qualitätsüberprüfung beginnend bei dem zugrundeliegenden Leinengewebe und nach der Fertigstellung durch Einschuss von Baumwollgarn eine Vielzahl von Kriterien angesichts der normierten und bezeichneten Qualitätsstufen und der zugelassenen Produkte minderer Qualität. Brotschauen wurden bewusst ohne Vorankündigung und Vorwarnung jetzt da, dann dort, so in Nürnberg von zwei Ratsherren unter Beiziehung von sechs Personen vom Handwerk und einem Stadtknecht nach Gutdünken morgens oder abends, in den Häusern oder auf dem Wagen vorgenommen. Straffällige Bäcker wurden zwei oder drei Wochen in den Turm gelegt oder erhielten ein Berufsverbot für die Dauer eines Monats. Der zunftbürgerliche Augsburger Bürgermeister Ulrich Schwarz bekannte im Jahre 1476, dass die beiden Bürgermeister mit den Brotbäckern ›große Mühe‹ hätten. Neben zwei Ratsherren, die einen Sold erhielten, damit sie umso bereitwilliger ihre Kontrollgänge durchführten, gehörte zu den Brotschauern noch ein armer heruntergekommener (verdorbener) Bäcker, der das Handwerk nicht mehr ausübte und sich daher von Un-

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gunst, die aus seiner Tätigkeit erwuchs, nicht beeindrucken ließ. Er erhielt einen Jahreslohn von immerhin 18 Gulden. Das beanstandete Brot wanderte in das Spital, und die Bäcker mussten ein emp ndliches Bußgeld zahlen. In Rottweil beanstandeten die Zweiundzwanziger, dass die Brotbeschau nicht mehr wie herkömmlich vorgenommen werde, und wenn sie tatsächlich statt nde, die Beschauer schlecht behandelt würden. Doch sollte der Rat jetzt, wie es ihm notwendig erschien, Kontrollen in der Brotlaube, in den Läden und Kellern anordnen. Dass es bei den Marktgeschäften redlich zuging, die polizeilichen Vorschriften und skalischen Interessen der Kommune erfüllt, Preistaxen eingehalten, die Warengüte kontrolliert, Hygienevorschriften beachtet, Quantitäten nachgemessen, Verpackungen überprüft, Geschäftsabschlüsse formell geprüft und beurkundet, Angebot und Nachfrage dem Publikum einigermaßen durchsichtig gemacht und schließlich die Kunden bedient wurden, dafür sorgten in größeren Städten Bürgermeister, Ratsherren und eine Vielzahl von amtlichen Bediensteten und halbamtlichem Personal (Ofzialgewerbe):⁸⁵¹ Unterkäufer (Makler), inspizierende Marktherren und Marktmeister spezieller Warenmärkte, Kaufhausherren, Münzmeister, Zöllner und Ungelder mit Hilfsbeamten und Schreibern, Kaufhaus- und Salzgrafen, Bierherren, Warenschauer, Waagemeister, Eichmeister – verschiedene Visierer und Röder, die Füllmenge, Warenqualität und Verpackung prüften und Fässer mit Brandzeichen versahen – Messer (müdder), Streicher und Wieger für Salz, Korn, Wein, Heu, Holz, Kohle und Brot, ferner Zählknechte im Holz- und Steinhandel – Ausrufer, Weinstecher mit Maklerfunktion, Träger und die auf- und umladenden, die Fässer in die Keller einlegenden Schröter. Vielfach bemaß sich die Entlohnung an der Warenmenge. Auch geschworene Messer, Träger und Schröter übten Kontrollfunktionen aus, gaben

Unterlagen für die Erhebung von Verkehrs- und Verbrauchssteuern oder halfen bei deren Einziehung. Den Lübecker Trägern etwa stand der Transport der Biertonnen aus den Brauhäusern zu den Krügern und Bürgern der Stadt sowie zu den Schiffen zu. Dabei hatten sie das Fass zu spunden und zu prüfen, ob die Qualität des Bieres tadelsfrei und die Tonne mengenmäßig richtig gefüllt war. Dazu zapften sie von jeder Tonne einige Pötte für sich ab. Die richtige Menge war gegeben, wenn sie mit dem ins Spundloch gesteckten Daumen das Bier erreichen konnten. Hinsichtlich der Träger bestand vielfach ein Benutzungszwang. Auch die Frachtgeschäfte der Schifffahrt unterlagen einer öffentlichen Zwangsregelung. Hier gab es die Älterleute des Kaufmanns, die Hafenvögte und die Arbeitsgenossenschaften der Stauer und der nach den Tragegurten benannten Litzenbrüder. Die Waage war in Lübeck auf ein oder mehrere Jahre verpachtet, wie es in Rostock die auf der Brücke angebrachten Fischmulden waren, die dem Nachmessen gekaufter Fische dienten. Eine wichtige Funktion el den Unterkäufern⁸⁵² zu, die für einzelne Warengattungen, für Geld-, Renten- und Grundstücksgeschäfte konzessioniert waren. Kauf und Verkauf hatten nach Möglichkeit auf dem Markt und in den kommunalen Kaufhäusern stattzu nden. Hier hatte der Verkauf im Beisein der speziellen Unterkäufer zu erfolgen. Zumindest für Waren, die nicht von dem ganzen Publikum nachgefragt wurden, und bei Großhandelsgeschäften übernahm der Unterkäufer die Vermittlung. Für den fremden Händler, der häu g weder die Geschäftsleute noch die Vorräte, die Situation von Angebot und Nachfrage, die örtlichen Verkehrsgewohnheiten und Handelsverordnungen kannte, war der Unterkäufer unentbehrlich. Den Bürgern zeigte der Unterkäufer den Eingang benötigter Waren an und vermittelte bei ihrem Handel. Der Unterkäufer hatte Wuchergeschäfte zu verhindern, Kau eute

851 B. K, Die städtischen Handels- und Verkehrsarbeiter; W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 382 f. 852 K. B, Die Bevölkerung von Frankfurt am Main (1.2), S. 251 ff; W. E, Lübisches Recht, S. 383; W. v. S, Oberdeutsche Hoch nanz (9.3–9.4). S. 387–435 (Finanzmakler); E. S; H. S.

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vor Betrügern zu warnen, Verstöße gegen die Marktordnung und gegen Preistaxen anzuzeigen, dem Käufer aus dem Vorrat des Verkäufers die erstandene Menge auszusuchen und dafür zu sorgen, dass der Bevölkerung nur gute Ware verkauft und richtig geliefert wurde. Der Makler durfte keinen Kauf vermitteln, von dem er wusste, dass aus ihm wegen schlechter Ware oder schlechter Bezahlung Schaden entstehen konne. »Die Lübecker Heringsmakler hatten bei ihrem Eide darauf zu sehen, dass die Fässer gleichmäßig voll und nicht nur an den beiden Fassböden, sondern auch in der Mitte mit guter Ware gefüllt waren; das Zeichen ihrer Güteprüfung war ein auf dem Fassboden eingebrannter doppelter Zirkel.«⁸⁵³ Viehmakler hatten auf die Gesundheit der vermittelten Tiere zu achten. In Köln, Basel und Lübeck mussten die Makler alle von ihnen vermittelten Geschäfte mit Angabe von Maß und Zahl in Geschäftsbücher eintragen, die zu bestimmten Terminen geprüft wurden. Es war ihnen streng verboten, eigene Handelsgeschäfte zu tätigen oder sich an Gesellschaften und am Kommissionshandel zu beteiligen. Es musste ihnen aber auch, wie den Straßburger Maklern 1494, verboten werden, zur Gefälligkeit zusätzliche Geschenke und Entgelte zu verlangen. Vielfach wurde der Unterkauf nur als temporäre Nebenbeschäftigung ausgeübt. Verschiedentlich nahmen Wirte für die beherbergten Gäste Maklerfunktionen wahr. Die administrative und gerichtliche Oberaufsicht über Markt und Handel lag in Köln – von der Stellung von Richerzeche und Rat abgesehen – bei den beiden Bürgermeistern als Amtsträgern des Rats und in Teilbereichen auch bei amtierenden und früheren Ratsherren, die vom Rat auf ein Jahr zu Herren warenspezi scher Märkte, seit 1439 nachweislich auch zu Verwaltern der städtischen Getreidevorräte (vier Kornherren) ernannt wurden.⁸⁵⁴ Marktmeister und Hallenmeister für die Kaufhäuser hatten unterstützt von Hilfsbediensteten für Frieden

und Ordnung zu sorgen, Maße, Gewichte, den Einzug der Akzisen und der Gebühren sowie der verhängten Bußen zu kontrollieren. Die Bürgermeister legten einen Diensteid auf die Bürgermeisterrolle ab, in der ihre wesentlichen P ichten verzeichnet waren. Unter anderem mussten sie schwören, betrügerischen Handel (Meinkauf ) zu unterbinden. Als Hilfspersonal standen ihnen die Bürgermeisterboten und Bürgermeisterschreiber zur Seite. Im Einzelnen oblag den Bürgermeistern – die Ausübung des Gerichts auf dem Bürgerhaus, auf dem Kornmarkt und Fleischmarkt; – die allwöchentliche Feststellung des Bescheids vom Kornmarkt, d. h. die Berechnung des mittleren Marktpreises für Getreide, den sie jeden Mittwoch dem Rat mitzuteilen hatten; – die Festsetzung des tabellarisch zu ermittelnden Brotbescheides, d. h. der Gewichts- und Preistaxen, sowie die Sorge für ihre Einhaltung; – die Überwachung von Broteinfuhr und Getreidehandel der Bäcker, Brauer und Müller; – die Oberaufsicht über den Fischmarkt und – seit 1480 – die Preisfestsetzung für gesalzenen Fisch; – die Oberaufsicht über den Hühnermarkt, nachdem 1469 das Amt der Herren vom Hühnermarkt abgeschafft worden war. Die Bürgermeister waren befugt, die Makler auf dem Fischmarkt, die Übertreter von Eichvorschriften, die Müdder und andere zur Rechenschaft zu ziehen und zu bestrafen. Ferner hatten sie Betrügereien im Weinhandel zu unterbinden und die Domwaage zu überwachen. Regelmäßig gehörten sie den Schickungen an, den vom Rat eingesetzten Kommissionen zur Entscheidung und Klärung von Unstimmigkeiten im Lebensmittelhandel und zur Preisregelung. Dass die Bekämpfung des Zins- und Warenwuchers in Köln sehr ernst genommen wurde, zeigen die wohl seit Anfang des 15. Jahrhun-

853 W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 383. 854 E. K, Geschichte der obrigkeitlichen Preisregelung ( 9.8), S. 76–89.

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derts bestehenden Einrichtungen der vier bis sechs Wucherherren aus dem sitzenden Rat und der drei Wuchermeister, die Wuchergeschäfte zu unterbinden und dem Rat anzuzeigen hatten. Die Wucherherren hatten die Befugnis, die Unterkäufer vor sich zu laden und ihre Bücher zu prüfen, bei Wucherverdacht zu ermitteln und das Ergebnis dem urteilenden Rat weiterzugeben. Die Wuchermeister zogen die Strafgelder ein. Nach dem Umsturz von 1481 kamen zwei Herren zu dem Meinkauf hinzu, die den Betrug im Handel zu bekämpfen hatten. Köln erhielt zwar erst 1474 das Recht zur Münzprägung, hatte sich aber schon früher gegenüber der großen Verschiedenartigkeit, der Neuprägung und Verschlechterung der umlaufenden Münzen wie etwa auch Nürnberg und andere Städte ein stabiles Wertmaß durch eine städtische Rechnungswährung geschaffen, durch die Pagamentsmark (12 Schillinge = 144 Pfennige), vergleichbar der Rechnungswährung der Messen (scudo di marco). Nach dieser Pagamentsmark wurde der Kurswert der in Köln zugelassenen Münzen fortwährend berechnet und gesetzlich festgelegt. Diese Berechnungen nahmen die beiden Pagamentsherren des Rates vor. Bereits im 14. Jahrhundert waren sie befugt, bei Münzvergehen zu ermitteln und zu judizieren. Ferner hatten sie alles zu gering gewichtige und vorsätzlich beschnittene Münzgeld einzuziehen und zu zerschneiden. In Rundgängen mit Hilfspersonal prüften sie stichprobenartig die kursierenden Münzen, bestraften Delikte und vernichteten Geräte für das streng verbotene Geldeinschmelzen. Neu aufgekommene Münzen durften von den Geldwechslern erst nach Approbation durch die Pagamentsherren oder den Rat ausgegeben werden. Hart bestraft wurde der spekulative Handel mit Devisen.⁸⁵⁵ Ein umfangreiches Personal, bestehend aus Ratsbediensteten, mehr oder weniger amtlichen, besonders konzessionierten Personen ei-

nes Offizialgewerbes und Angehörige der Zünfte, die alle eidlich verp ichtet waren, kontrollierten und überwachten Handel und Gewerbe. Nur in wenigen Fällen und nur an höhere Bedienstete wurde ein festes Gehalt bezahlt. Die Dienststellung wird vielfach nur aus dem Bezug von Ratswein und Kleidung auf Kosten der Stadt ersichtlich. Das meiste Personal erhielt am Umsatz orientierte feste Lohn- oder Gebührensätze. Der Diensteifer wurde dadurch angespornt, dass es an den verhängten Geldbußen, die aufgrund seiner Anzeige ausgesprochen worden waren, einen Anteil erhielt. 4.6.3.2 Kommunales Baurecht Baurecht und Baupolizei dienten dem feuerpolizeilichen Schutz und dem Schutz des öffentlichen Verkehrs, und sie wahrten den Anspruch des Nachbarn auf Licht, Luft und Aussicht.⁸⁵⁶ Sie regelten den Überhang des Dachtraufs und die Ableitung von Regen- und Brauchwasser (Tagwasser), die Anlage von ›heimlichen Gemächern‹ (Privet), zum Schutz der Straßenlinie das Vorkragen von Obergeschossen und Erkern und deren Anzahl, den Bau von Außentreppen zur Straße hin, von außen hochgeführten Kaminen, die Errichtung von Lauben (Gademe) und Altanen, von stockwerksweise übereinander gebauten Hofgalerien, sowie von Kellerhälsen, von gewölbten Kellereingängen, die auf die begrenzende Straße vorsprangen, und die Höhe der die Grundstücke einfriedenden Zäune. Wer in seinem Haus Mietparteien beherbergte, musste für diese ein Privet anlegen. Aus Gründen des Feuerschutzes wurden Brandmauern und die Höhe der Kamine, die regelmäßig zu kehren waren und kontrolliert wurden, vorgeschrieben. Es mussten in bestimmten Abschnitten feuerfeste Eisentüren eingebaut werden, und man untersagte, Mauern und gemauerte Stöcke teilweise oder ganz durch ›Holzwerk‹ zu ersetzen; schadhaftes Mauerwerk war auszubessern (Ulm 1410). Gemeinsame Wän-

855 T. D, Die Münzpolitik der Stadt Köln; N. K, Der Aachener Wechslerprozeß. Städtische Münzpolitik und Devisenschmuggler im Spätmittelalter. 856 H. K, Die städtische Gemeinschaft (1.4), S. 17 ff.; ., Das Alltagsleben im Hause der spätmittelalterlichen Stadt (1.4), S. 41 ff..

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

de aus Holz mussten beidseitig verputzt werden. Gelegentlich wurden nicht mit Lehm bedeckte Strohdächer verboten. Steinerne Schwellen oder Eichenschwellen, die mit einem gesetzlichen Seitenabstand zu legen waren, sollten die Bebauungsgrenze festhalten (Ulm). Fenster und Mauerdurchbrüche, die in Grundstück, Haus und Hof des Nachbarn einen unmittelbaren Einblick gewährten, mussten mit einem Laden geschlossen und mit Eisenstangen verriegelt werden (Worms, Windsheim). Giebel, die sich auf gleicher Höhe mit dem Nachbarn befanden, waren ohne Löcher und Schlitze aufzuführen. Vorgeschrieben wurden die maximale Gebäudehöhe und der Gebäudeabstand wie in Nürnberg 1479. In Nürnberg wurde die Zahl der Stockwerke (Gaden) auf vier, in Ulm auf drei beschränkt. Steinhäuser durften in Nürnberg – des Lichteinfalls wegen – nicht mehr als 50 Schuh (15,2 Meter) hoch sein, Fachwerkhäuser – wohl der Statik wegen – nur 40 Schuh (12,6 Meter). Besondere Regelungen hinsichtlich Gebäudehöhe und Unterkellerung sowie der Kostenverteilung waren erforderlich, wenn benachbarte Grundstücke verschiedener Grundbesitzer mit gemeinsamer Steinmauer gleichzeitig oder nur von einer Partei bebaut werden sollten. Bauten wurden in Nürnberg unter Aufsicht und Mitwirkung der beiden städtischen Baumeister errichtet. Endres Tuchers »Baumeisterbuch« verzeichnet die Fälle, in denen der Rat von gunst und keines rechten wegen Abweichungen von Bauvorschriften oder von der Baulinie, teilweise auf Widerruf oder vorbehaltlich einer späteren Abbruchsverfügung, mit oder ohne Gebühren, genehmigte. Bauvorhaben mussten dem Rat, Ratsdeputierten oder dem städtischen Baumeister erläutert und von ihnen gebilligt werden. Wer in Lübeck ein neues Haus bauen wollte, hatte vom Rathaus Maß und Schnur zu holen und im Beisein zweier Ratsherren die Fluchtlinie festzulegen, entging damit aber auch nachbarlichen Ansprüchen. Die Windsheimer Reformation von 1521 regelte als Musterord-

nung die P icht, Bauvorhaben den Anliegern formell anzuzeigen, das Einspruchsrecht der Anlieger während der Bauzeit, die Einstellung von Bauten und die Entscheidung baurechtlicher Streitigkeiten, ferner den Abriss schädigender, rasch und ohne Kenntnis des Nachbarn oder des Rats aufgeführter Bauwerke (Unbau). Der Kölner Rat ließ 1475 eingestürzte und vom Einsturz bedrohte Häuser niederreißen. Er verbot 1476 fest gegründete Krambuden auf dem Domhof und verfügte den Rückbau eines zu hohen Geschosses an einem dort errichteten Neubau, ferner 1479 den Abbruch eines Baus der Konventsschwester, der gegen ein Ratsgesetz aufgeführt worden war. Um die als wirtschaftliche Konkurrenz für die Bürger und Einwohner erachteten Beginen und Begarden an der weiteren Ausbreitung zu hindern, befahl der Rat 1486 den Steinmetzen und Zimmerleuten, für diese keine Neubauten und Arbeiten an bestehenden Häusern vorzunehmen.⁸⁵⁷ Andererseits verp ichtete der Rat 1469 in bestimmten Bereichen der Stadt Anlieger zu Fortsetzung des steinernen Wegebaus nach Maßgabe ihrer Grundstücksgröße. Hatte jemand in Nürnberg gegen den Willen des Rats einen Teil seines Hauses zu weit in die Straße hineingebaut, führte dies ohne Erbarmen zum Abriss. Abriss und eine zusätzliche beträchtliche Geldstrafe drohten dem, der mit seinem Haus nicht den gesetzlichen Mindestabstand zur Stadtmauer einhielt. Auch Zäune mussten gelegentlich entfernt werden. Die Liegenschaften wurden nach zulässiger Bebauungsart und Nutzung grundsätzlich in urbana (häusliche Güter) und landwirtschaftlich nutzbare rustica (Feldgüter) eingeteilt, Nutzungsänderungen untersagt. Mit der Begründung, dass der maist Tail der Menschen, besonder under den gemainen, wil und muß zu seinem Nutz gezwungen werden, stellt die Windsheimer Reformation die Vernachlässigung und Verwahrlosung privater Gebäude nach vorausgegangenen Beugestrafen unter die Strafe des Ei-

857 W. S (Hg.), Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung II (2.2–2.4), S. 529, Nr. 366; S. 539, Nr. 379; S. 594, Nr. 457; M. H (Bearb.), Beschlüsse des Rats der Stadt Köln I, S. 624, Nr. 54.

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gentumsverlustes zugunsten der Stadt.⁸⁵⁸ Weil durch ihn Handwerk und Handel und friedliches Wohnen befördert werden, erscheint der gute Zustand der Gebäude als Grund der bürgerlichen Ainigkait und Merung gemains Nutz, wie der Zustand des Gebäudes zugleich auf die sittliche Einstellung des Besitzers und Bewohners schließen lässt. Wer sein Haus verwahrlosen lässt, der zeigt damit, dass ihm mehr an Wirtshaus und Spiel als an der Erhaltung des Gebäudes gelegen ist, und verstellt sich den Weg zu Glück und Fridainigkait. Jede Obrigkeit hat deswegen mit guten, sittlichen Ordnungen dagegen vorzugehen. Der Stadtbaumeister kontrolliert – wie in anderen Städten – durch jährliche Umgänge mit Ortsbesichtigung (Untergang) gemeinsam mit einer Ratsdeputation den Zustand der Gebäude, rügt Schäden und verlangt Instandsetzung. Damit niemand zu Ausreden Zu ucht nehmen kann, stellt die Stadt zur Durchführung der Instandsetzungsarbeiten – auf Kosten des Besitzers – im gegebenen Fall Bauholz aus dem städtischen Forst und städtische Werkleute zur Verfügung. Niemand darf Häuser oder Scheunen verfallen lassen, um sie schließlich abzubrechen. Niemand darf deshalb Materialien aus Häusern kaufen, die abgebrochen werden sollen. Andererseits erhält derjenige lebenslange Befreiung von bestimmten Abgaben und Steuern, der eine alte verfallene Behausung wieder instand setzt und menschlichen Wohnraum schafft oder ein baufälliges Gebäude abreißt, um an derselben Stelle ein neues zu errichten. Auch in diesen Fällen hilft die Stadt mit stadteigenen Baumaterialien und Werkleuten aus. In anderen Städten mussten unbebaute Flächen bebaut, verfallene oder abgebrochene Häuser bei Strafe des Heimfalls an die Stadt wieder errichtet werden. Unter Berufung auf den gemeinen Nutzen und die Notdurft der Stadt konnte der Rat Liegenschaften und Bauten bei dringenden Bedürfnissen gegen Entschädigung und in Gefahrenlagen solche an der Stadtmauer, möglicherweise Behelfshütten, ohne Entschädigung (Rottweil)

enteignen. Außerdem beanspruchte er für die Stadt ein Vorkaufsrecht, um den vorhandenen kommunalen Gemeinbesitz, das gemeine Gut, zu arrondieren, auf dem Areal städtische Wege anzulegen oder die Allmende durch weitere Wiesen und Weide ächen zu vergrößern. 4.6.3.3 Gefahrenabwehr und Fürsorge – Sozialregulierung und Sozialdisziplinierung Unmittelbarer Friedensschutz und Wirtschaftsverwaltung als Bestandteile der öffentlichen Ordnung wurden im Hinblick auf Genese und Eigengewicht in den vorhergehenden Abschnitten erörtert. Hier geht es um weitere Gesichtspunkte der Gefahrenabwehr im öffentlichen Verkehr sowie um fürsorgliche Eingriffe des Rates in die individuelle Lebensgestaltung des Städters und um detaillierte Normierungen der sittlichen Lebensführung des Einzelnen, die nicht als rein privat, sondern auch unmittelbar für den gemeinen Nutzen der Stadt für bedeutsam erachtet wurde. Dieser umfassende Gestaltungswille des Rates charakterisiert das ältere Verständnis von Polizei (policey). 4.6.3.3.1 Öffentliche Ordnung: Straße und Sauberkeit Durch Feuer(wehr)ordnungen organisierte der Rat mithilfe der Zunft-, Viertels- und Feuermeister sowie der Wasser und Behältnisse beherbergenden Gewerbe den Feuerschutz, versuchte aber auch, durch Brandschutzverordnungen, die das Decken der Dächer mit genormten Ziegeln, die Bauweise, Reinigung und Inspektion der gefährlichen Kamine oder die Errichtung von Brandmauern und die Sicherungen der Herdstellen vorschrieben, Schaden vom Bürger und von der Stadt abzuwenden. Das Wiener Stadtrecht von 1221 belegt den, in dessen Haus Feuer ausbricht, mit schweren Strafen. Die Schadensabwendung reichte in Nürnberg bis zur P icht, jährlich die Raupen von den Bäumen und Hecken der Grundstücke zu

858 H. H (Bearb.), Die Rechtsreformation des Stadtschreibers Johann Greffinger (2.2–2.4), S. 188–192; 191. Vgl. die Wormser Reformation V 4, hg. von W. K ( 2.2–2.4).

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sammeln und zu vernichten. Auf der anderen Seite wurden in Zürich Singvögel geschützt, weil sie Schädlinge vertilgten. Ein wichtiger Bereich kommunaler Zuständigkeit⁸⁵⁹ waren die Versorgung der Stadt mit Wasser, die Beseitigung von Schmutz- und Abwässern, Fäkalien, gewerblichen und anderen Abfällen, Bauschutt und Mist sowie die Straßenreinigung.⁸⁶⁰ Man erkannte auf dem Stand der damaligen Medizin durchaus die Auswirkungen der Verunreinigungen von Luft und Wasser auf die menschliche Gesundheit. Dies gilt vornehmlich für die Luft, da entsprechend der überkommenen antiken Vorstellungen (Miasmenlehre) vergiftete Luft als Krankheits- und Seuchenursache betrachtet wurde. Durch Abbrennen von Holzstößen versuchte man, die Luft von den Giften zu reinigen. Beim Wasser wurde zwischen verschiedenen Wasserarten – Quell-, Grund-, Fluss-, Bach-, Regenwasser – und Trink- und Brauchwasser unterschieden. Man prüfte Farbe, Geruch und Geschmack des Wassers und versuchte, durch Vorkehrungen Wasserverunreinigungen zu vermeiden. Dazu gehörten Vorschriften über die Anlage von Abortgruben in Nachbarschaft von Gewässern und Grundwasserbrunnen. In Nürnberg und Augsburg wurde ein Grubensystem mit Leerung in den Fluss angeordnet, der bevorzugt Fäkalien aufzunehmen hatte, weil man von seiner Kraft überzeugt war, diese zu verzehren. Hingegen sollten feste Stoffe wie Steine, Hausmüll, Kehricht, Bauschutt und Mist außerhalb der Gewässer deponiert werden und durften nicht in Stadtbäche geschüttet werden, auch damit diese nicht versandeten und Miasmen aufstiegen. Aas war zu vergraben. Die nicht abgeleiteten Fäkalgruben wur-

den, verschiedentlich erst in einem Zeitraum bis zu 30 Jahren, in der Nacht oder nur zur Winterzeit geleert; den Inhalt schüttete man in den Fluss. Der Rat machte zur P icht, das gefallene und unreine Vieh zum Abdecker zu schaffen und tollwutkranke Hunde und rotzkranke Pferde zu beseitigen. Vor Verunreinigung besonders geschützt wurde in Nürnberg der Fischbach bis zum Spital, erst der Auslauf aus der Stadt durfte belastet werden. Zur Wasserversorgung bauten die Kommunen seit dem 13. Jahrhundert und zunehmend im Spätmittelalter Wasserleitungen, vornehmlich aus Holzröhren, und verfügten über ganze Leitungsnetze und zahlreiche Leitungsbrunnen. Grundwasserreiche Städte folgten mit Verzug. In einigen Städten gab es im 14. und 15. Jahrhundert gedeckte und offene Abzugskanäle, Rohre für Abwasser und unterirdische Latrinenleitungen. Die Lasten wurden wenigstens zu einem Teil von den Anliegern getragen. Der Rat ging gegen wilde Müllkippen vor, setzte Fristen für die Abfuhr von Schutt, wies Deponien an festen Plätzen innerhalb und vor der Stadt aus. Für Mist, der als Dünger wertvoll war und an Bauern verkauft wurde, bestimmte der Rat Fristen für Lagerung und Vergärung und legte den Verbringungsort fest. Häusliches Schmutzwasser sollte auf dem eigenen Grundstück versickern oder durch Rinnen und Kanäle abgeleitet werden. Mehrere Grundstücke bildeten gelegentlich Dohlengemeinschaften. Verboten wurde vielfach das einfache Ablassen von Schmutzwasser auf die Straße. Wo dies erlaubt war, durfte das Wasser keine Verunreinigungen wie Gedärme enthalten, und es musste so sorgfältig geschehen,

859 J. S (Hg.), Städtische Versorgung und Entsorgung im Wandel der Geschichte; U. D, Die kommunalpolitischen Zuständigkeiten und Leistungen; ., Obrigkeit und Untertan in den oberdeutschen Städten des Spätmittelalters; H. K, Die städtische Gemeinschaft (1.4), S. 49 ff.; ., Das Alltagsleben im Hause der spätmittelalterlichen Stadt (1.5.3), S. 51 ff. 860 Vor allem vor wichtigen Fest- oder Messetagen, wenn auswärtige Besucher erwartet wurden, fanden in einigen Städten spezielle große Reinigungsaktionen statt. In Nürnberg war seit dem Ende des 14. Jahrhunderts der P astermeister, später der Schüttmeister für die Entfernung von Kot und Mist zuständig. Würzburg, Nürnberg und Straßburg etwa legten vor der Stadt Mülldeponien an. In Göttingen wurden alle 14 Tage die Straßenrinnen mit dem Wasser eines oberhalb der Stadt gestauten Baches ge utet. Im 15. Jahrhundert wurde in Göttingen von jedem Bürger ein ›Dreckgeld‹ erhoben. Aus diesen Mitteln wurde zur zentralisierten öffentlichen Abfuhr ein ›Dreckwagen‹ in Dienst gestellt, der regelmäßig zu bestimmten Zeiten durch die Stadt fuhr. H. K, Die städtische Gemeinschaft (1.4), S. 62.

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dass Passanten nicht beschmutzt wurden. Unsauberes Wasser, das stand und faulte, Un at und Fäkalien an der Ober äche wurden gefürchtet, weil sie über die Geruchsbelästigung hinaus die Luft pestilent machten und Krankheiten verursachten. Der Kölner Rat untersagte 1362 den Fleischern, Blut und Unrat auf die Straße zu gießen. Der Göttinger Rat verbot zu Beginn des 14. Jahrhunderts das Schlachten auf der Straße. Zunehmend wurde seit dem 13. Jahrhundert das Schlachten zur Fleischgewinnung – eventuell durch Schlachtzwang – in städtischen Schlachthäusern zentralisiert, wo auch die Metzger mit ihren Fleischbänken besser kontrolliert werden konnten. Solche Schlachthäuser sind bereits für 1276 in Augsburg und für 1320 in Regensburg nachzuweisen. Köln errichtete 1362 ein städtisches Schlachthaus an der Mautgasse; 1407 erhielten Fleischhaus und Fleischmarkt eine feste Ordnung. Die Windsheimer Stadtrechtsreformation von 1521 enthält als Musterordnung einen ganzen Titel, der sich der Sauberkeit der öffentlichen Wege und Straßen widmet, da menschlicher Kot (des Menschen Durchgang) und andere Unsauberkeit diese ›vergifteten, Gestank und pestilente Luft und damit dem Menschen viele Krankheiten brächten‹. Bei Strafe verboten werden daher die Anlage von überirdischen Kloaken, die Leerung bei Tag und im Sommer, das Ausgießen von Fäkalien auf die Straße. Es wird verboten, Kehricht, Müll, Asche, zerbrochenes Geschirr, Mist oder Stroh, die sich im Haus angesammelt haben, auf das P aster zu werfen, insbesondere nicht vor dem Tanzhaus- und vor täglich frequentierten Orten. Für jeden Tag, an dem der Unrat auf der Straße liegen bleibt, wird das statuierte Bußgeld fällig. Vom Alter von sieben Jahren an ist die Verrichtung der menschlichen Notdurft in frequentierten Gassen und Straßen strafbar. Es wird verboten, tote Hunde, Katzen, Schweine, Gänse, Hühner oder andere Tiere innerhalb der Stadtmauer zu deponieren. Da

dies für gewöhnlich bei Nacht und im Verborgenen geschehe, wird sämtlichen Bewohnern eine P icht zur sofortigen Rüge geboten. Der Hausherr haftet für sein Gesinde, darf sich die Bußgelder aber wieder von den Delinquenten holen; Eltern müssen die Bußgelder ihrer Kinder bezahlen. Einen Teil der Buße erhält der Eigentümer, vor dessen Haus oder Scheune Fäkalien geschüttet und tote Tiere gelegt wurden.⁸⁶¹ Die Schweinehaltung, insbesondere ein Recht der Müller, Bäcker und Lebensmittelkleinhändler, wurde im Interesse der Autarkie der Fleischversorgung zwar geduldet, aber durch zahlreiche Verordnungen immer wieder reglementiert und eingeschränkt, weil die umherirrenden Schweine Schäden verursachten, die Straßen mit Mist, Kot und Harn verunreinigten und dadurch Krankheiten und Seuchen hervorriefen. Auch dachte man in Nürnberg an das Missvergnügen, das dadurch bei Fürsten, Herren und anderen fremden Besuchern erregt wurde. In Ulm ordnete der Rat 1410 an, dass Schweine nur noch mittags zwischen elf und zwölf Uhr auf die Straße gelassen werden durften; Frankfurt erlaubte die Schweinehaltung 1481 nur noch in den Stadtteilen Sachsenhausen und Neustadt. In häu g wechselnder Gesetzgebung wurde die Zahl der erlaubten Schweine für Bäcker und nichtgewerbliche Personen jeweils genau festgelegt. 4.6.3.3.2 Lebensmittelpolizei Lebensmittelpolizeiliche Verordnungen⁸⁶² regelten die amtliche Beschau von Fleisch und Wurstwaren, schrieben die Zusammensetzung und einwandfreie Beschaffenheit von Produkten vor, sonderten unverkäu iche Fleischstücke aus, schränkten die zeitliche Verkaufsfähigkeit von Fleisch ein und gaben Maßregeln für die Hygiene beim Verkauf von Fleischwaren und Brot. Es zielte auf krasse Fälle und den Schutz der armen Leute ab, wenn in Hannover Wirte eidlich verp ichtet wurden, kein Vieh vom

861 H. H (Bearb.), Die Rechtsreformation des Stadtschreibers Johann Greffinger (2.2–2.4), S. 183, 197 f. 862 E. S, Studien zur Geschichte der Lebensmittelwissenschaft; zum Folgenden siehe vor allem J. B (Hg.), Nürnberger Polizeiordnungen, S. 224 ff., 256 ff., 264 ff., 273.

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Henker zu kaufen. Generell galt, dass alles gefallene, d.h. aus unerklärlicher Ursache verendete Vieh dem Henker oder Abdecker zum Verscharren und der vorherigen gesundheitlich unbedenklichen Verwertung der Häute sowie der Nutzung des Unschlitts für Wagenschmiere und Kerzen übergeben werden musste. Wer im 13. Jahrhundert in Dortmund frisches Fleisch oder frischen Fisch kaufen wollte, durfte bei einer Geldbuße die Waren zur Prüfung nicht mit eigener Hand berühren, sondern musste den Verkäufer bitten, das ins Auge gefasste Stück für ihn umzudrehen.⁸⁶³ In Nürnberg hatte beim Verkauf ein Tuch unter dem Brot zu liegen. Im Übrigen mussten in Nürnberg und Augsburg Bäcker, Mägde und Knechte, die Brot oder Fleisch verkauften, strikt hinter dem Tisch bleiben und hatten sich aller Scheltworte zu enthalten. Schalt aber in Augsburg ein Bäckergeselle einen ehrenwerten Mann oder dessen Ehefrau, Sohn, Tochter oder Gesinde, zogen Handgrei ichkeiten gegen ihn mit Raufen und Schlägen ohne bewaffnete Hand keine Bußen nach sich. Es wurde verboten, verdorbenes Bier zu verkaufen und der Milch etwas Mehl unterzumischen, ferner Öl, Bier und Wein mit Wasser oder Milch zu strecken, mit anderen Sorten zu verschneiden oder mit fremden Stoffen zu versetzen. Vor allem ging man, teilweise in Anlehnung an die Reichsordnung von 1487, gegen das Verschneiden von Wein und gegen Weingemächte, das Versetzen von Wein mit fremden Zusätzen, vor. Makler hatten in Ulm darauf zu achten, dass nur reiner, gerechter Wein ohne jede Beschönung verkauft wurde. Verboten wurde die Zusetzung von Stoffen wie Waidasche, Branntwein, Senf, Senfkörner, Speck, Kalk oder Milch und vor allem die Schwefelung des Weins über die zur Schwefelung der Fässer erlaubte Höchstmenge an Schwefel hinaus. Die verbotenen Zusätze betrachtete man unter Berufung auf die Autorität hochgelehrter und erfahrener

Doctores der Arznei als generell gesundheitsschädlich, krankheitserregend und sogar lebensverkürzend, insbesondere für schwangere Frauen, und man machte die Zusätze für die Verhinderung von Konzeptionen und für den Abortus von Leibesfrüchten verantwortlich. Der Rat versuchte, den Verkauf und Konsum von Branntwein einzuschränken, weil er insbesondere für schwangere Frauen und arbeitsame junge Menschen gesundheitsschädlich sei und im Übrigen häu g aus üblen und schädlichen Substanzen gebrannt werde. Verboten wurde der Verkauf ganz jungen Honigs, den man gleichfalls für gesundheitsschädlich erachtete. 4.6.3.3.3 Aufwands- und Luxusgesetzgebung Die obrigkeitliche Motivation für Kleiderordnungen, Aufwandsbeschränkungen und Luxusverbote, die Gesetze von der Hoffart wegen, ist vielschichtig. Wirtschaftlich, skalisch und sozialpolitisch geht es um die Vermeidung unnützer Kosten, die den einzelnen nanziell belasten oder gar ruinieren, damit auch seine Steuerfähigkeit mindern oder ihn dem städtischen Almosen zur Last fallen lassen. Auch wandte man sich gegen eine selbstsüchtige Verwendung des Besitzes, mit dem man der Gemeinschaft und insbesondere den Armen verp ichtet war. Der Humanist Konrad Celtis unterstellte dem Nürnberger Rat sogar die ökologische Motivation der Schonung der Ressourcen: ›Es ist auch nicht gestattet, Fleisch und Fisch zugleich im Bauch zu begraben, denn man hielt es für ausreichend, wenn wir eines der vier Elemente in unserer Unersättlichkeit plündern und nicht alle Glieder der Natur.‹⁸⁶⁴ Der Nürnberger Rat, der dem Freiburger Stadtschreiber bereits 1476 von der Alternative Fisch oder Fleisch berichtet hatte, nannte als Motivation für die gesetzliche Beschneidung des Aufwands auf verschiedenen Gebieten, dass dadurch Kosten vermieden, soziale Konkurrenz und Überbieten des anderen sowie Hoffart unterdrückt werden sollten.⁸⁶⁵

863 F. K, Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 234, S. 329. 864 A. W, Conrad Celtis (1.1), cap. 15, S. 195. 865 T. S (Hg.), Die Freiburger Enquete, S. 32.

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Der Bischof von Lübeck Dr. iur. Johannes Schele steuerte in seinen Vorschlägen für eine kirchliche und weltliche Reform, die er 1433 auf dem Basler Konzil vorlegte, mit der Handelsbilanz und ihren monetären Folgen ein weiteres Argument gegen weit verbreiteten Luxus bei. Er beklagte, dass aus Hoffart selbst von Bauern kostbare Pelze getragen würden. Daher komme es, dass die geschäftliche Schlauheit der Russen und der Kau eute, die dieses teure Pelzwerk verkauften, fast alles Gold aus Frankreich und Deutschland herausgeholt habe und es unaufhörlich weiter herausschleppe. Jeder solle nur seinem Stand entsprechende Pelze tragen. Dabei billigte er wenig freundlich Bürgern und Bauern gemeinsam nur Schafspelze und kein besseres Pelzwerk zu.⁸⁶⁶ Hoffart (superbia) ist, wie ein dominikanisches Seelsorgehandbuch aus dem 14. Jahrhundert lehrt, nichts anderes, als dass sich der Mensch mit seinem eigenen Willen über das erhebt, was er ist, unter anderem, wenn er sich unter Verachtung anderer Leute mit seinen Gütern, die er besitzt, ostentativ über andere stellen will und sich dabei Dinge aneignet, die das Maß seiner Mittel überschreiten. Hoffart ist nicht nur Sünde, durch die sich der Mensch von Gott abwendet und den vergänglichen Gütern zuwendet wie zu Reichtum mit Habgier oder leiblicher Wollust mit Unkeuschheit. Sie ist vielmehr Todsünde und sogar die allergrößte Sünde unter allen Sünden, weil sich der hoffärtige Mensch – wie Luzifer – über das ihm von Gott Gesetzte erhebt und dadurch Gott abtrünnig wird, sich Gott widersetzt und sich nicht nur wie bei anderen Todsünden von Gott abkehrt. Freilich gebe es auch leichte (unvollkommene) und unbedachte Formen von Hoffart, die eher eine tägliche Sünde und keine Todsünde darstellten.⁸⁶⁷

Durch die Beschränkung des Aufwands sollen, wie der Nürnberger Rat in seiner Ordnung offiziell verlautbarte, die Laster der Hoffart und des Übermutes, die Gott unmittelbar durch Heimsuchungen straft, in der Stadt unterdrückt werden.⁸⁶⁸ Die Sünden des Ehebruchs und des Wuchers beleidigen Gott, wie es in einer Kölner Morgensprache des Rates aus der Mitte des 15. Jahrhunderts heißt, und erregen seinen Zorn; sie verursachen deshalb Sterben und Pestilenz in der Stadt.⁸⁶⁹ Die Wormser Reichsordnung von 1495 sieht insbesondere in dem Auftauchen der bis dahin unbekannten Seuche der Syphilis, der bösen Blasen oder der Blattern, eine Strafe Gottes für Blasphemie und frevelhaftes Schwören. Für den Nürnberger Rat hatten die Laster der Bürger gleichfalls einen öffentlichen Aspekt. Durch Hoffart und Ungehorsam sind manche reiche Fürstentümer und Kommunen zu Schaden gekommen, deshalb gilt es, durch Demut und ehrbare Sitten der Bürger Gott zum Schutz der Stadt und ihres löblichen Regiments geneigt zu machen. Dem dient die Unterdrückung von Hoffart, Eitelkeit und über üssigem Luxus durch die Verordnungen des Rates. In einer Ulmer Ordnung ist davon die Rede, dass Gott die Über üssigkeit der Hoffart und die Unmäßigkeit im Verbrauch vom Anfang der Welt an bis in die Gegenwart stets hart bestraft habe. Es galt, wie es in einer Ulmer Hochzeitsordnung heißt, große Hoffart niederzulegen und Neid und Hass, also die Antriebe und Folgen sozialer Konkurrenz, zu beseitigen. Luxusgesetze sollten verhindern, dass Leute ohne Nutzen und Notwendigkeit gegen Gott und das Recht zu ihrem Verderben um das Ihre kommen, sich selbst in Armut bringen und bisweilen für ihren Lebensunterhalt unziemliche Sachen treiben müssen, und zwar ihren Verwandten zu Schmach und Schande.⁸⁷⁰ Die Lebensführung des je Ein-

866 J. M/L. W, Quellen zur Kirchenreform im Zeitalter der großen Konzilien des 15. Jahrhunderts, Bd. 2: Die Konzilien von Pavia/Siena (1423/24), Basel (1431–1449) und Ferrara/Florenz (1438–1445), Darmstadt 2001, Nr. 11, Teil III, Art. 106, S. 232. 867 K. B/M. K (Hg.), »Das bůch der tugenden«, S. 437–440. 868 J. B (Hg.), Nürnberger Polizeiordnungen, S. 95 ff. 869 F. K, Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 217, Art. 30. 870 C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm, S. 22, 147.

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zelnen wurde daher im Sinne des Schutzes vor sich selbst und vor allem wegen der Auswirkungen auf die Gemeinschaft nicht als lediglich privat betrachtet, sondern zum Gegenstand der öffentlichen Ordnung gemacht. Der Görlitzer Stadtschreiber Johannes Frauenburg ist in seiner ›Anweisung‹ für den Bürgermeister von 1476 allerdings der Auffassung, dass dieser bei der Handhabung der Kleidungsund Aufwandsgesetze anders als eine grausame Regierung dem legitimen Bedürfnis der Bewohner nach Lebensfreude und Geselligkeit Rechnung tragen solle, da der Mensch nach der Bestimmung des Aristoteles ein geselliges Wesen sei. Die außerordentlich detaillierten Kleiderordnungen untersagen die Verarbeitung und Verwendung bestimmter kostspieliger Stoffe, von Pelzen, Verbrämungen und von Schmuckbesatz, ferner das Tragen bestimmter Kleidungsstücke und Schmuckgegenstände; sie legen den Aufwand und die zu verarbeitenden Stoffmaße bei Kleidungsstücken nach oben hin fest, reglementieren die Weite der Ärmel, die Lappen und Schlitze. Die Einhaltung der Kleiderordnungen sollte bereits dadurch erzwungen werden, dass der Rat die Schneider auf sie vereidigte. Aus Gründen der Sittenzucht wurde das weibliche Brust- und Rückendekolleté im 15. Jahrhundert auf züchtige Maße genau begrenzt, wie man bei der männlichen Kleidung gegen die unnötig ausladend gestalteten und unbedeckt gelassenen Hosenlätze und die tiefen Brustansätze vorging. Überhaupt wurden, mit zweifelhaftem Erfolg, neumodische Kleiderschnitte und insbesondere die langen Schnäbel an den Schuhen verboten. Der Sittlichkeit wegen mussten die Nürnberger Frauen, insbesondere die Bürgerinnen und Angehörigen der ehrbaren Geschlechter, stets verschleiert gehen. Das Straßburger Stadtregiment untersagte den Frauen das Schminken und das Tragen von fremden Haarteilen.⁸⁷¹ Der Münsterprediger

Johannes Geiler von Kaysersberg wetterte gegen Onduliergeräte, Halsbänder, Spangen, Diademe, bestickte Ärmel, Schmucknadeln, Ohrringe und Ohrknöpfe, Schleppen, farbig gestreifte und aufgeschlitzte Kleidung, breite Umschläge, modische Schuhe, falsche Zöpfe, Kosmetikartikel und Hüftpolster. Der Gebrauch dieser Gegenstände, die Krämer und Kau eute feil hielten, führte seiner Ansicht nach unweigerlich zur Todsünde der Unkeuschheit.⁸⁷² Derartige Luxusgegenstände, Brettspiele und sogar Schlitten wurden im Anschluss an die 1454 in verschiedenen deutschen Städten – Augsburg, Ulm, Nürnberg, Erfurt und andernorts – gehaltenen Predigten des italienischen Franziskaners Johannes Capistran von einer zerknirschten und von Reue bewegten Bevölkerung zusammengetragen und öffentlich verbrannt, später vermutlich in einer anderen Art von Reue erneut erworben. Ziemlich rigoros unterdrückte der Rat unnötigen Luxus (Köstlichkeiten) bei Leichentrauer, Leichenbegängnis und Begräbnis, bei Kindsbett und Kindstaufen, bei öffentlichem Verlöbnis und Hochzeit. Der Nürnberger Rat⁸⁷³ etwa verfuhr bei einzelnen Bräuchen wie Polterabend und nächtlichem Ständchen für die Braut restriktiv und unterband neue kostspielige Gebräuche. Nach Möglichkeit schränkte er Gäste und Besucher auf den engeren Familien- und Verwandtenkreis ein; die zulässige Anzahl weiterer Gäste wurde genau festgelegt. Sodann beschnitt er die Zahl der Gastereien, verbot für das zugelassene Mahl bestimmte teure Fleisch- und Fischsorten und erlaubte nur Weinsorten einer bestimmten Ungeldklasse. Ferner schränkte der Rat die Zahl der sonstigen Besuche im Hause ein und stellte für die zugelassenen Besuchstermine eine eher frugale Beköstigung mit im Einzelnen bestimmten zugelassenen Speisen und Weinsorten zusammen. Fast alle üblichen Kostenfaktoren, darunter Leichentuch, Kerzen, Gesang und Leichenschild beim Leichenbegräbnis, Löhne und Trinkgelder oder Ehrungen für be-

871 J. B (Hg.), Straßburger Zunft- und Polizei-Verordnungen, S. 292 f. 872 R. V, Krämer, Kau eute, Kartelle (9.1–9.2), S. 432. 873 J. B (Hg.), Nürnberger Polizeiordnungen, S. 59–86.

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rittene Tanzlader, Spielleute, Spaßmacher und Bedienstete, bei der Leichentrauer etwa für die beim Grab sitzenden Seelschwestern, wurden geldwert nach oben hin begrenzt. Nach Gattung und Geldwert wurden auch das Patengeschenk und die Geschenke des Bräutigams für die Braut festgelegt. Binnen zweier Monate nach dem Hochzeitsfest, das nur einen Tag zu dauern hatte, durfte niemand weitere Geschenke machen. Die Geldstrafen für die Übertretung der einzelnen Bestimmungen waren recht hoch. Im Übrigen galten die Luxusverbote in Nürnberg durchgehend für Reich und Arm, d. h. für alle Stände gleichermaßen, und es wurden auch prominente Patrizier bestraft, während in einigen norddeutschen Städten bereits standesgemäße Staffelungen anzutreffen waren. Nach eigener Auskunft verzeichnete der Nürnberger Rat Rügeurteile und Aufwandsordnungen im Wankelbuch, das seinen Namen, wie der Freiburger Stadtschreiber erläutert, daher habe, dass es viele Änderungen enthalte, weil stets auf ein Verbot hin in der Bevölkerung etwas Neues von der hoffart und listikeit erdacht werde. Deshalb würden zum jeweiligen Verbot alle Neuerungen eingetragen. Wenn ein neuer Brauch entstehe, achte man darauf, ob er sich zum Guten oder zum Ärgernis entwickle. Danach werde gehandelt und in derartigen Angelegenheiten niemandem etwas nachgelassen.⁸⁷⁴ Ein unmittelbares soziales und individuellfamiliäres Problem war die Verschwendung, dessen sich der fürsorgliche Rat anzunehmen hatte. In Rottweil sollte der Rat, unbeschadet des Artikels im städtischen Rechtsbuch, dass ein man seines gutz gewaltig ist, volles Verfügungsrecht über sein Vermögen besitzt, die Rechtsmacht haben, ›zu jedem Bürger, der übel Haus hält, zu sehen und zu bestellen, damit er bei dem Seinen bleibe‹. Bürger sollten, außer ein Gast sei gekommen, nicht in ein Wirtshaus oder in ein Weinschankhaus gehen, sondern Imbiss und Nachtessen zu Hause einnehmen, ansonsten in

Gesellschaften und auf den Zunfthäusern. Verheiratete sollten nicht in die Gesellschaften der Unverheirateten gehen, um dort zu spielen und Mahlzeiten einzunehmen. Der »Gesellschaft der Engel«, einer Vereinigung der patrizischen Bürgersöhne, sollten zwei Ratsdeputierte dabei helfen, dass Zucht und Ordnung gehalten werde. Der Ulmer Rat verbot 1394 neu aufgekommene Trinkstuben im Hinblick auf ihre in anderen Städten erwiesene Schädlichkeit, richtete um des Friedens willen für den Weinausschank eine Sperrstunde ein und regelte das Vorgehen des Wirts im Falle von Zechprellerei.⁸⁷⁵ Er bekannte sich zur Aufgabe jeder Stadtregierung gegenüber dem gemeinen Volk und den Untertanen, zu bedenken, was Reich und Arm, Jung und Alt am nützlichsten sei und der Existenzsicherung diene. Deshalb beschloss er 1431, auf Antrag der Verwandtschaft junge törichte, leichtfertige und ungeratene Menschen, die sich um ihre Habe brachten, bis zu ihrer erkennbaren Besserung unter Kuratel zu stellen. Der Nürnberger Rat ließ sich 1464 durch kaiserliches Privileg und Statut dazu ermächtigen, Bürgern und Bürgerinnen, die ihr Hab und Gut ungebührlich verbrauchten und dabei in Gefahr waren, es zu verlieren, einen Vormund zur Vermögensverwaltung zu geben, wenn ihre Eltern nicht mehr lebten. Dem Freiburger Stadtschreiber teilte der Nürnberger Rat 1476 mit, er halte verschwenderische Kinder Jahr und Tag in Haft und behandle sie hart. Ein Lübecker Ratsurteil von 1437 verlängerte die Vormundschaft wegen Verschwendung, ein weiteres von 1438 entzog einem unter Vormundschaft stehenden Erben das testamentarisch vom Vater überkommene Kapital von 400 Mark lübisch so lange, bis dem Erben ein ehrbares und vernünftiges Verhalten zu attestieren war.⁸⁷⁶ Ein Nürnberger Ratsjurist empfahl 1477 einer Ratskommission, einen verschwenderischen Erben durch das Gericht zum willensund geschäftsunfähigen, im Recht einem Narren gleichzuachtenden Verschwender (prodigus)

874 T. S (Hg.), Die Freiburger Enquete, S. 32. 875 C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm, S. 83, Nr. 154; S. 105 f., Nr. 189, S. 65, Nr. 100. 876 W. E, Lübecker Ratsurteile (4.7), Bd. 1, Nr. 6, S. 5; Nr. 9, S. 6 f.

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erklären, ihm den Gebrauch seiner Habe verbieten und ihm einen Vormund oder Kurator (Beisorger) geben zu lassen.⁸⁷⁷ Übertreter der Spielund Trinkverbote und der vom Rat immer wieder über namentlich genannte Personen verhängten Zechverbote sollten in Ulm, wie auch in Augsburg, ins Narrenhäuslein für geistig Behinderte gesperrt werden.⁸⁷⁸ 4.6.3.3.4 Verhaltensnormen und Verbote Der Rat⁸⁷⁹ stellte frevelhaftes Schwören unter weltliche Strafen, ordnete um des lieben Friedens willen die Besetzung der Kirchstühle, regulierte das Schlittenfahren, versuchte ungebärdiges und unanständiges Fastnachtstreiben zu domestizieren und erließ zu diesem Zweck Vermummungsverbote; er untersagte unsittliche Tänze und aufwendige Tanzvergnügungen, erlaubte den Frauen den Besuch der Badestuben nur in Gesellschaft mit drei Begleiterinnen (selbviert); er beschränkte das Spiel auf gängige Formen der Brett- und Kartenspiele mit allenfalls geringfügigem Geldeinsatz und verbot das Würfelspiel und andere Glücksspiele, und zwar zu Ehren der Mutter Gottes und der Heiligen, weil es dabei zu unmäßigem Schwören, aber auch zu Falschspiel und Betrug kam, Kinder ehrbarer Leute verführt und Familienväter samt Frau und Kindern ins Verderben gestürzt wurden. Wenigstens Kinder – und damit auch die Eltern – wurden durch das Verbot, ihnen etwas zu leihen oder ihnen etwas abzugewinnen, vor Spielschulden geschützt. Niemand durfte, ohne das Gericht einzuschalten, einen anderen wegen Spielschulden ergreifen. Geistlichen, die sich nicht an das Glücksspielverbot hielten, sollte der Friedensschutz entzogen werden. Da wiederholte Glücksspielverbote nichts gefruchtet hatten und der Spielbetrieb sich in die Dunkelzone von Hinterzimmern zurückzog, trat der Straßburger Rat die Flucht nach vorne an und

beschloss, das Glücksspiel in einem Spielhaus zu konzentrieren. Die von ihm konzessionierten Betreiber sollten die Spiele kontrollieren und an die Stadt und den Ammeister jährlich insgesamt 410 Pfund (820 Gulden) abführen. Frankfurt am Main unterhielt von 1396 bis zu ihrer endgültigen Schließung 1432 während der Messen in städtischer Regie unter Leitung und Aufsicht von sieben Ratsvertretern eine der Heißenstein genannte Spielbank mit Würfelspiel, deren Kosten und Gewinne der Rechenmeister verbuchte. Der Nürnberger Rat sah sich veranlasst, die Alchimie wegen der Kosten für die Versuche und der mit ihr verbundenen Betrügereien zu verbieten. Der Rat schritt gegen die Misshandlung von Eltern durch ihre Kinder ein, wofür es in der Nürnberger Kanzlei sogar ein Briefformular gab, ferner gegen die Entführung (minderjähriger) Kinder zu heimlicher Eheschließung. Die Windsheimer Rechtsreformation führt freventliches Handanlegen an Eltern als einen Grund von mehreren für eine Enterbung von Kindern an.⁸⁸⁰ Um das Straßburger Münster vor Entweihung und Profanierung zu schützen, wurde im 15. Jahrhundert den Advokaten verboten, im Kreuzgang, in den Kapellen oder auf dem Friedhof Parteien anzuhören oder Vermittlungsverhandlungen zu führen. Ähnliches galt für anderes Gerichtspersonal. Verboten wurde die Abwicklung von Kaufgeschäften; Werkleute und Tagelöhner sollten im Münster keine Arbeitsverträge abschließen und keine Arbeitsgespräche führen. Untersagt wurde das Spazierengehen während und außerhalb des Gottesdienstes in Form mehrmaligen Auf- und Abgehens ohne Gebetsverrichtungen. Den Prostituierten wurde verboten, wie bisher auf den Altarstufen zu sitzen, dabei dem Altar und dem Gottesdienst den Rücken zu kehren und die Leute anzusehen, als

877 E. I, Gelehrte Juristen und das Prozeßgeschehen, S. 316 (Anm. 43), 406 f. Der Lübecker Rat bestellte durch Urteil von 1522 einem prodigus und vorbrynger syner guder und renthe, die dieser in fremde Hände brachte, einen Beisorger. W. E, Lübecker Ratsurteile (4.7), Bd. 2, Nr. 944, S. 516 f. 878 G. G, Die Reichsstadt Ulm (5.0), S. 175. 879 Zum Folgenden siehe die Editionen von J. B (Nürnberg) und J. B (Straßburg). 880 H. H (Bearb.), Die Rechtsreformation des Stadtschreibers Johann Greffinger (2.2–2.4), S. 167 f.

Aufgaben und Befugnisse des Stadtregiments 473

ob sie den Gottesdienst nicht achteten oder auf dem Gimpelmarkt säßen, um zu schauen, welcher Kauf ihnen am liebsten wäre. Eine Kommission schlug vor, das Schwören und Fluchen im Münster auf die Glieder Jesu oder der Heiligen mit aller Strenge zu ahnden. Gerade dieser Vorschlag gibt Auskunft darüber, welche phantasievoll-vexatorische Gedanken bei der Straffestsetzung eine Rolle spielten. Wer die verhängte Geldbuße seiner Armut wegen nicht bezahlen konnte, den solle man zu summerzit so die mucken [Stech iegen] gern böse blut sugent, barbein und barhoubt in das halsisen stellen einen gantzen tag oder einen halben, je darnoch der swüre vil sint; were es aber winterzit, so sol man innen swemmen in der Brüsch [Breusch], das ime die kelte sin böse hitz des swerens etwas verlösche.⁸⁸¹ War der Fall so schwerwiegend, dass er eine Leibes- oder Gliedstrafe erforderte, so sollte er nicht mehr von der Ratsdeputation der Siebenzüchter verhandelt, sondern als Delikt (schwere Todsünde) an das Hochgericht von Meister und Rat gewiesen werden. Rat und XIIIer lehnten den Kommissionsvorschlag jedoch ab. Der Straßburger Rat wollte 1461 durch Vorsichtsmaßnahmen die Selbsttötung von verzweifelten und schwermütigen Personen verhindern, die zum Tode verurteilt waren und auf ihre Hinrichtung warteten. Denn mancher Delinquent hatte sich im Turmgefängnis erhängt und damit Leib und Seele verdammt. Beichte und Kommunion wollte der Rat allerdings nicht gewähren.⁸⁸² Erst 1485 konnte der Münsterprediger Geiler von Kaysersberg den Rat zu einem entsprechenden Statut bewegen. 4.6.3.3.5 Während kubinate fälschlich

Prostitution und Frauenhaus der Rat Bigamie, Ehebruch, Konund wilde Ehen, Kuppelei und behauptete Eheversprechen unter

Verbannungs-, Gefängnis-, Leibes- und sogar Lebensstrafen stellte, wenngleich sie weniger vollstreckt wurden, tolerierte er Prostitution, versuchte sie jedoch seiner Ordnung und Kontrolle zu unterwerfen.⁸⁸³ Der Nürnberger Rat untersagte Prostitution auf öffentlichen Straßen und Plätzen sowie in der Nähe von Waldungen und verlagerte sie ins Frauenhaus, das seiner Aufsicht unterstand und durch Verpachtung und Abgaben mit eher bescheidenen Beträgen skalisch für die Stadt genutzt wurde. Derartige Frauenhäuser entstanden vor allem in der Zeit von 1370 bis 1430, doch gab es auch danach noch zahlreiche Gründungen. Bei der Regulierung der Prostitution und in Frauenhausordnungen berief sich der Nürnberger Rat unmittelbar auf die Konzession der Kirche, die – auf die Schrift Augustins »De ordine« (II. Buch, 12. Gespräch) und die darauf fußende scholastische Auffassung gestützt – mit dem Argument, dadurch ›größeres Übel zu vermeiden‹, eine einigermaßen duldsame Haltung gegenüber der Prostitution an den Tag legte. In Nürnberger Frauenhausordnungen tritt das moralische Dilemma angesichts der unbestreitbaren Sündhaftigkeit der Prostitution in gewundenen Begründungen deutlich zutage. Der Rat bekundet in einer Frauenhausordnung von 1470, dass es herkömmlicherweise mehr seine Neigung und P icht sei, Ehrbarkeit und gute Sitte zu mehren als Sünde und strafbares Verhalten zuzulassen. Dennoch erlässt er – damit Prostitution legalisierend – die Frauenhausordnung, weil von der Kirche Prostituierte (gemeine Weiber) zur Vermeidung größeren Übels in der Christenheit geduldet würden, jeder Daseinsweise ein leidliches Maß und Ordnung gebühre, dem Rat verwer iches und eigennütziges Verhalten von Frauenwirten und ihren Beauftragten zu Ohren gekommen sei, das künftig

881 J. B (Hg.), Straßburger Zunft- und Polizei-Verordnungen, S. 387 f. Wer in Trient Gott schalt und bei den Gliedern Gottes böse Schwüre leistete, sollte an ein Seil gebunden vor der Öffentlichkeit dreimal in die Etsch geworfen und dadurch ›getauft‹ werden. T. S (Hg.), Die Freiburger Enquete, S. 18. Zum Delikt der Blasphemie siehe G. S, Zungen wie Schwerter. 882 J. B (Hg.), Straßburger Zunft- und Polizei-Verordnungen, S. 20–22; U. I, Hinrichtung in spätmittelalterlichen Städten, S. 677. 883 P. S, Das Frauenhaus; B. S, Die freien Frauen; P. K, Frauen, Bd. 1 (8.1), S. 309–334.

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verhindert werden müsse, und damit vor allem die gemeinen Weiber umso leichter ihr sündhaftes Dasein aufgeben könnten. Einfacher waren Verbote zu motivieren. Der Nürnberger Rat untersagte 1480 Prostitution in der Öffentlichkeit in der Stadt und innerhalb einer Meile davor, gestattete sie jedoch aus pragmatischen Gründen ausnahmsweise an einzelnen bezeichneten Örtlichkeiten im Vorstadtbereich unter der Voraussetzung, dass die leiblichen Werke der Unkeuschheit von den Gärten und Gartenhäusern aus nicht gesehen werden konnten. Er begründete das Verbot damit, dass durch das ganz unverhohlen und ohne Scham begangene Übel der Unkeuschheit die göttliche Rache und Strafe zu befürchten sei, Eheleuten und anderen frommen Menschen viel Ärgernis und ein Beispiel der Leichtfertigkeit gegeben werde und durch das Verbot, Gott zum Lobe, Sünden vermindert und Leichtfertigkeit und Übel verhindert werden sollten. Die Erlaubnis der Prostitution an den bezeichneten Örtlichkeiten wird wiederum mit der Vermeidung größeren Übels gerechtfertigt. Frauen und Jungfrauen sollten durch die Einrichtung des Frauenhauses, wie es heißt, geschützt werden, vor Nachstellungen und dabei vielleicht auch vor sich selbst, doch wollte man auch den Bedürfnissen unverheirateter und nicht zu Enthaltsamkeit verp ichteter Hausknechte und Handwerksgesellen oder den Umständen einer vielbesuchten Handelsstadt wie etwa Amsterdam Rechnung tragen. Der Straßburger Rat verbot Straßen- und Wirtshausprostitution sowie die Prostitution von Jugendlichen und Kindern, wobei er nicht etwa ein Mindestalter angab, sondern pragmatisch auf die – altersgemäß noch nicht gegebene – körperliche Eignung abhob.⁸⁸⁴ Er konzentrierte die offene Prostitution außerhalb des 1469 eingerichteten Frauenhauses auf nur noch wenige Gassen (1471), nachdem eine Ratsde-

putation verschiedene Häuser als geeignet empfohlen und die an verschiedenen Orten lokalisierten Dirnen – Freitöchter und gemeine Frauen – registriert hatte. Zu den damals 44 offen tätigen Prostituierten kamen noch weitere 23, die das Gewerbe nicht öffentlich betreiben wollten.⁸⁸⁵ In den großen Bischofsstädten im Westen wie Straßburg, Köln – dort 1527 aufgrund einer Forderung der Zünfte – und Mainz wurden Frauenhäuser erst spät oder überhaupt nicht eingerichtet. Mit ihren Frauenhausordnungen gingen Augsburg, Nürnberg, München, Nördlingen, Ulm und Regensburg gegen Mädchenhandel von Frauenwirten und die Verknechtung von Mädchen und Prostituierten durch Kauf – in Ulm wurden bis zu 20 Gulden für eine Prostituierte gezahlt – und als Gegenstand von Verpfändung und Leihe vor, da der Mensch von Natur aus frei sei, wie es in einer Nürnberger Ordnung vom ausgehenden 15. Jahrhundert heißt, in der anschließend Frauen, die zuvor in Bordellen gelebt hatten, von der Schutzbestimmung ausgenommen wurden. Damit die Frauen das sündhafte Leben aufgeben und das Frauenhaus wieder verlassen konnten, wurden Kreditbeziehungen zu dem Frauenwirt, weil eine Verschuldung Unfreiheiten und Zwangslagen schufen, besonders beachtet und geregelt. Wenn Frauen, die frei, unverkauft, unverpfändet und nicht in ein Schuldverhältnis verstrickt in das Frauenhaus eingetreten waren, dem Wirt oder der Wirtin wegen Kostgeld, Wochengeld oder Kleidung etwas schuldeten, sollten diese gemäß der Nürnberger Ordnung ihre redlichen Forderungen gütlich oder vor dem ordentlichen Gericht geltend machen, dann durften sie die Schuldnerin pfänden und ihre Kleider und anderes, das sie im Haus hatte, in Beschlag nehmen. Die Prostituierten sollten aber jederzeit die Möglichkeit haben, sich zu bekehren und ihr sündhaftes Leben aufzugeben. Wenn sie dies tun und wenn sie

884 Welches töchterlin funden wurt des libes halben zu dem werck nit geschicket, sunder zu junge ist, also das es weder brüste noch anders hette, das dorzu gehört, das soll mit der ruten darumb gestrofet und dorzu der stat verwiesen werden, by libs strofe, so lange bitz es zu sinem billichen alter kompt. J. B, (Hg.), Straßburger Zunft- und Polizei-Verordnungen, S. 466. 885 Ebd., S. 456. Zur Prostitution in Köln vornehmlich im 16. Jahrhundert siehe F. I/A. L, Bettler und Gaukler (7.3–7.5), S. 179–227.

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sich verehelichen wollten, durften sie vom Frauenwirt wegen einer Geldschuld oder einer anderen Sache am Verlassen des Hauses nicht gehindert werden. Die redlichen Forderungen waren dem Frauenwirt jedoch vorbehalten. Dies galt für jegliche Art von Schulden beim Frauenwirt, auch für solche außerhalb der redlichen, wenn eine Frau nur unter dem Schein der Bekehrung von sündhaftem Leben ausgetreten war, nicht dauerhaft dabei blieb und sich wiederum der Prostitution zuwandte. Der Rat regelte in Frauenhausordnungen gelegentlich sehr genau die gegenseitigen Ansprüche zwischen Frauenwirt (-wirtin) und Dirnen; der an die Stadt zu zahlende Pachtzins und die P ichten des Frauenwirts wiederum wurden im Eid des Frauenwirts festgelegt. Nach einer Nürnberger Ordnung hatten die Prostituierten, 1496 waren 26 Personen im Frauenhaus, für Verp egung wöchentlich 42 Pfennige zu zahlen, ob sie diese in Anspruch nahmen oder nicht; mindestens ein wöchentliches Bad sollten sie kostenlos erhalten. Für die Unterkunft in einer Kammer, Bettzeug und die Bereithaltung des Bades waren 7 Pfennige Wochengeld und nicht mehr zu entrichten. Allerdings war der Frauenwirt darüber hinaus am Umsatz beteiligt, und zwar mit einem Pfennig pro Geschlechtsverkehr (leibliches Werk) und mit 3 Pfennigen Schlafgeld, wenn der Freier über Nacht blieb. Der Verkehr kostete aufgrund von vereinzelten Angaben und Berechnungen im Allgemeinen am Tag zwischen 2 und 5 Pfennige, über Nacht für den Schlafmann 10 bis 15 Pfennige, sodass in Nürnberg der Bordellbesuch auch für Tagelöhner mit 8 bis 9 Pfennigen Lohn pro Tag und mehr noch für die besser bezahlten Handwerksgesellen mit einem Tageslohn von 16 bis 20 Pfennigen erschwinglich war. Der Frauenwirt durfte Insassinnen nicht zwingen, Speisen und Getränke von ihm zu beziehen, taten sie es freiwillig, hatte er beides zu angemessenen Preisen, in richtigem Maß und den Wein nicht teurer als zum amtlich taxierten Preis abzugeben; wenn sie Getränke ins Haus holen wollten, hatte er ihnen kostenlos Gefäße zu leihen. Prostituierte durften nicht eingesperrt oder genötigt werden, im Haus zu

bleiben. Sie durften vielmehr ungehindert an den heiligen Tagen in die Kirche gehen und zu anderen Zeiten nach ihren Bedürfnissen in die Stadt. Wenn der Frauenwirt allerdings fürchtete, dass eine Prostituierte wegen einer redlichen Schuld das Haus verlassen und sich ihrer Verp ichtung entziehen wollte, durfte er während ihrer Abwesenheit bis zur Wiederkehr ihre im Haus be ndlichen Kleider und andere Gegenstände wegsperren. Die Ulmer Frauenhausordnung von 1510 verlangt vom Frauenwirt die Gewährleistung eines kontinuierlichen Betriebs und verp ichtet ihn, angesichts des örtlichen Bedarfs und des Zuschnitts des Gebäudes eine Belegung mit mindestens vierzehn ›geeigneten, sauberen und gesunden Frauen‹ vorzuhalten. Schwangere muss der Wirt unverzüglich aus dem Hause weisen. Bis in genaue Speisenfolgen an bestimmten Tagen hinein wird die Verp egung vorgeschrieben, doch ist Frauen, die eine Mahlzeit nicht einnehmen wollten, der dafür vorgesehene Betrag zu erstatten. War dem Wirt eine Dirne gegen ihren Willen verpfändet (versetzt) worden, muss er diese auf ihren oder eines Verwandten (Freund) Wunsch hin ohne Einlösung der Pfandsumme wieder ziehen lassen. Wenn eine Frau, die beim Wirt Schulden hat, ihr sündhaftes Leben aufgeben will, muss sie der Wirt nach Entrichtung eines Guldens als Freikaufsumme in der Regel mit ihrer Kleidung, in der sie eingetreten ist, frei und ungehindert gehen lassen; erst wenn sie über kurz oder lang wieder in irgendein offenes Frauenhaus eintritt, darf der Wirt die erlassenen Schulden wieder einfordern. In der Augsburger Ordnung von 1428 fehlt ein Lösegeld, in München beträgt die Befreiung von den Schulden 1488 zwei Gulden, bei mittellosen ausstiegswilligen Frauen tilgte die Stadt deren Schuld. Wirt und Wirtin dürfen nach der Ulmer Ordnung einer Frau ohne Zustimmung oder Kenntnis des kommunalen Almosenherrn kein Kleidungsstück verkaufen. Was eine Prostituierte von einem Freier außer bei Nacht, in der sie alles behalten darf, über ihren Lohn hinaus einnimmt, soll sie alles in eine gesicher-

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te Lade legen. Der Wirt erhält, wenn samstags die Lade geöffnet und abgerechnet wird, unter Kontrolle der Lohnsetzerin und einer dazu gewählten Prostituierten von dem Betrag ein Drittel, von dem Rest werden die Schulden der Frauen beglichen. Geschenke von einem ›lieben Mann‹ oder ›guten Gesellen‹ (Freier) wie Schuhe, Kleider, Schleier, Geldbeutel und anderes darf jede Insassin für sich behalten. Das Frauenhaus erhält eine bruderschaftliche Komponente, wenn bestimmt wird, dass montags jede Frau einen Pfennig und der Wirt zwei Pfennige in die vom kommunalen Bettelherrn mitbeaufsichtigte Kasse (Büchse) einlegen sollen. Von dem eingegangenen Betrag sollen am Sonntag in der Nacht in der Pfarrkirche unserer Lieben Frau, dem Münster, zu Lob und Ehre Mariens und zur Hilfe für alle christgläubigen Seelen eine Kerze abgebrannt und arbeitsunfähige kranke Insassinnen des Frauenhauses beköstigt und mit anderem versorgt werden. Der Rat ordnete für die Prostituierten eine Pause während der Frauenkrankheit (Menstruation) sowie an Feiertagen und in der Karwoche an. Die Prostituierten durften keinesfalls zur Ausübung ihrer Tätigkeit genötigt werden, wenn sie schwanger oder mit ihren weiblichen rechten beladen waren oder wegen einer anderen Unpässlichkeit sich der leiblichen Werke enthalten wollten. In Ulm wurden die Dirnen vierteljährlich einer Gesundheitskontrolle durch Frauen und Hebammen unterzogen. Der Nürnberger Rat ließ 1498 den Bettelrichter von Syphilis in zierte umherschweifende Prostituierte im Strichgebiet am Pegnitzufer aufspüren und aus der Stadt weisen. Die Aussagen von neun Prostituierten des Nördlinger Frauenhauses beim Verhör durch die Gerichtssdeputation der Einunger und der Urfehdebrief des inhaftierten und bestraften Frauenhauspächters mit dem sprechenden Namen Freyermut aus dem Jahre 1472 geben einen Einblick in die trübe Realität des Lebens im Frauenhaus und belegen, dass Frauenwirt und Frauenwirtin die Prostituierten aus Geld-

gier ausgebeutet und teilweise mit Schlägen mit dem Ochsenziemer zu fast allem genötigt hatten, was der vom Frauenwirt eidlich beschworene Vertrag mit der Stadt und verschiedene fremde Ordnungen untersagten.⁸⁸⁶ Er hatte Insassinnen an geschützten Tagen der Menstruation und an den geheiligten Nächten des Samstags zur Ausübung ihrer Tätigkeit gezwungen, sie gelegentlich am Kirchgang gehindert, ihnen Arbeitsdienste durch Garnspinnen und Beträge, die ›gute Gesellen‹ über den Tarif von 2 Pfennigen hinaus bis zu 15 Pfennigen zahlten, abgenötigt, ferner Mahlzeiten nicht in der ihnen zustehenden Qualität gereicht, ihnen Wein und Kleidungsstücke um ein Vielfaches überteuert verkauft, ihre Kleider an Juden verpfändet und sie in hohe Schulden getrieben, die sie wegen ihrer geringen Einkünfte nicht abbezahlen konnten. Die Anna von Ulm war nach eigener Angabe mit 23 Gulden beim Frauenwirt verschuldet. Einige Frauenwirte brachten es zu einem beträchtlichen Vermögen. Der Nürnberger Frauenwirt versteuerte bei der Erhebung des Gemeinen Pfennigs 1497 eine Habe von 1 000 Gulden, der Freiburger wurde im Jahre 1500 in die höchste Steuerklasse der Stadt eingestuft, andere sollen dem Hörensagen nach ein großes Vermögen hinterlassen haben. Ursache für offene und heimliche Prostitution war vor allem die Armut von niedrig entlohnten Frauen wie Näherinnen und Tagelöhnerinnen und von Mädchen, die oft vom Land oder aus anderen Städten zugereist waren und schlecht bezahlte Tätigkeiten ausübten. Gassenvogt und Büttel hatten dafür zu sorgen, dass an kirchlichen Feiertagen und bereits am Abend davor, insbesondere vor Marienfesten, das Frauenhaus nicht besucht wurde. Bei Übertretung des Besuchsverbots drohten Geldbußen und Stadtverweis. Sperrstunde war in Nürnberg eine Stunde vor Mitternacht. Priester, andere Kleriker und Ehemänner durften vom Frauenwirt zu süntlichen wercken wissentlich nicht im Hause geduldet werden, wie auch der Frauenwirt und die Prostituierten grund-

886 P. S, Das Frauenhaus, S. 11 f.; ., Hinaus oder ins Frauenhaus, S. 20.

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sätzlich darauf zu achten hatten, dass nicht Ehebruch begangen wurde. Unverheiratete Handwerksgesellen waren die hauptsächlichen Besucher des Frauenhauses, doch musste der Ulmer Rat den Frauenwirt 1515 anweisen, Knaben notfalls mit Hilfe der Bettelherren zu entfernen, und noch 1527 forderte er ihn auf, junge Knaben im Alter von 12, 13 oder 14 Jahren oder darunter mit Ruten aus dem Frauenhaus zu jagen und ihnen keinesfalls zu gestatten, dort ein Werk zu treiben.⁸⁸⁷ Andererseits verbot der Nürnberger Rat den gemeinen Weibern aus Gründen des sozialen Friedens, bevorzugte oder mehr oder weniger exklusive feste Beziehungen zu unterhalten, und gebot ihnen bei Strafe, da sie frey und nach irem namen [all]gemein sein sollten, auf Wunsch unterschiedslos jedermann bei Tag und Nacht und ohne Berufung auf besondere Beziehungen Gemeinschaft zu leisten. Die Frauenwirte, deren Funktion gelegentlich Scharfrichter wahrnahmen, hatten für die Besetzung des Hauses mit geeigneten Prostituierten zu sorgen und einen Wochenzins an die Kommune abzuführen. Jungfrauen, Ehefrauen und Bürgerinnen durfte er seinem Eid gemäß nicht in das Frauenhaus aufnehmen, was der Rat auch kontrollierte. Es kam verschiedentlich vor, dass der Rat Prostituierte und alleinstehende Frauen, die wegen ihres sexuellen Verhaltens der Prostitution verdächtigt wurden, vor die Wahl stellte, die Stadt zu verlassen oder in das Frauenhaus zu gehen, wie es tatsächlich polizeiliche, teilweise dem Frauenwirt übertragene Zwangseinweisungen gab. Geduldet, geregelt, letztlich gefördert und vor heimlicher Konkurrenz geschützt wurde die Prostitution in offenen und allgemeinen Frauenhäusern. Die Prostituierten des Nürnberger Frauenhauses denunzierten in einer Eingabe an den Rat von 1491 als schutzbedürftige ›arme Töchter‹ die Wirtshausprostitution und eine Reihe mit Namen der Betreiber genannter Privatbordelle samt der Zahl der dort tätigen Frauen, weil sie durch diese Konkurrenz in ihren Erwerbsmöglichkeiten schwere Einbußen erlitten, und ersuchten ihn, ›um Got-

tes und der Gerechtigkeit willen‹ dieses Treiben nicht länger zu gestatten und zu bestrafen, damit sie nicht ›Hunger und Kummer‹ leiden müssten. Im Jahre 1505 gab der Nürnberger Bürgermeister den aufgebrachten Insassinnen des ›gemeinen Frauenhauses‹ auf ihre Bitte hin die Erlaubnis, ein heimliches ›Hurennest‹ in einem benannten Haus zu stürmen, wo diese dann Öfen und Fenster zerschlugen und plünderten. Seit der Mitte und stärker seit dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts sind Anzeichen für eine stärkere Ausgrenzung der Prostituierten sowie ihrer Ausweisung und Schmähung im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Ordnungsund Moralvorstellungen erkennbar, die etwa auch die Haltung zu den städtischen Bettlern und nicht häuslich Sesshaften bestimmten. Angriffe auf Frauenhäuser, allerdings aus verschiedenen örtlichen Motiven, sind seit dem Ende des 15. Jahrhunderts in München, Konstanz, Überlingen oder Würzburg belegt. Seit 1522 bis zum Ende des 16. Jahrhunderts wurden in jedem Jahrzehnt in mehreren Städten Frauenhäuser geschlossen, zuletzt 1591 in Köln und 1597 in München. Zwar gab es bereits um 1500 unter anderem die ätiologisch noch unzureichend begründete Vermutung, dass die Syphilis durch Geschlechtsverkehr und insbesondere durch Prostituierte auch der Frauenhäuser übertragen wurde, doch spielte dieser Gesichtspunkt für die Schließung der Bordelle so gut wie keine Rolle. Die christlichen Vorstellungen von Moral und Sittlichkeit hatten sich zugunsten der reinen Lehre der Heiligen Schrift und ihrer göttlichen Gebote verschärft, das jahrhundertelang geltende Rechtfertigungsargument des geringeren Übels wurde immer weniger akzeptiert. Protestantische Prediger forderten nun eine strengere und zugleich unnachsichtiger durchzusetzende Sittenzucht, agitierten gegen das Frauenhaus als Schandhaus und verlangten seine Schließung, doch verhielt sich der Rat angesichts der Haltung der Bevölkerung und fortbestehender Bedürfnisse sowie hinsichtlich seiner auf Frieden

887 G. G, Die Reichsstadt Ulm vor der Reformation (5), S. 173 f.

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ausgerichteten ordnungspolitischen Zielsetzung oft zögerlich, griff auf das Argument des geringeren Übels zurück und unterwarf, indem er sein Sozialmodell einer geordneten Prostitution nicht aufgab, anstelle der Schließung das Frauenhaus zunächst nur strengeren Au agen. Er setzte zunächst noch auf Ermahnung durch demonstratives Vorgehen in einzelnen Fällen, in denen er Prostituierte auswies, nicht auf strafrechtliche Verfolgung. Der Nürnberger Rat holte für seine Entscheidung in Sachen Frauenhaus und Prostitution 1562 bei neun Juristen und Prädikanten Gutachten ein. Andererseits erließen Stadträte als Verantwortliche für das Seelenheil der Gemeinde sowie Hüter der Sittlichkeit und der geordneten Ehe im 16. Jahrhundert Zuchtordnungen, in denen sie außereheliche Beziehungen und Konkubinate, die früher mit der Ehe konkurrierten, Kuppelei, Ehebruch und Promiskuität, Prostitution und alle sexuellen Vergehen unter dem allgemeinen Begriff der Hurerei zusammenfassten und unter Strafe stellten. Im Zusammenhang mit der Schließung von Frauenhäusern wurden Prostituierte, die ihren Lebenswandel nicht völlig ändern wollten, aus der Stadt vertrieben, zuvor aber gelegentlich noch einer Haftoder Ehrenstrafe ausgesetzt. Da sich das neue Sittenverständnis bereits vorreformatorisch angebahnt hatte, schritten auch beim alten Glauben verbliebene Städte, teilweise allerdings unter dem Druck protestantischer Vorbilder, mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung verstärkt seit etwa 1550, als auch die römische Kurie die tolerante Haltung gegenüber der Prostitution aufzugeben begann, zur Schließung ihrer Frauenhäuser. Die Klagen über das Überhandnehmen von Ehebruch und Hurerei rissen jedoch nicht ab. 4.6.3.3.6 Gesetzespublikation und Durchsetzung des Ordnungsrechts Satzungen des Rats wurden vom Büttel ausgerufen, vom Rathaus von einem Fenster, der Treppe oder der Vorhalle aus, in der Kirche

von der Kanzel oder Lettner herab öffentlich verkündet, ferner betroffenen Kreisen wie etwa Zünften durch Ratsverordnete oder zuständige Amtsträger übermittelt und auch schriftlich zugestellt. Ratskommissionen, die künftig damit befasst waren, registrierten die Satzungen in ihr Buch. Gelegentlich zitierte der Rat einzelne Berufsgruppen vor sich, verlas ihnen seine Verordnung und ermahnte die Versammelten bei ihren Eiden, die Ordnung zu vollziehen oder ließ Angehörige einschlägiger Berufe einzelne Verordnungen des Rats unmittelbar beschwören. In Köln wurden wichtige Ratsbeschlüsse seit Ende des 15. Jahrhunderts auch als gedruckte Edikte angeschlagen. Die süddeutschen Schwörtage waren mit dem Verlesen einer Reihe von Satzungen des Rats zur Regelung der öffentlichen Ordnung verbunden. Dazu gehörten in Ulm im 15. Jahrhundert unter anderem die gerechte Entlohnung von Tagelöhnern, die Ermahnung zur Achtung des Eigentums, das Verbot des Vogelfangens, insbesondere von Wachteln und Rebhühnern, Verbote des Glücksspiels, von betrügerischem Kauf und Verkauf, Regelungen des Waffentragens, des Alkoholausschanks und der Schließung der Stadttore.⁸⁸⁸ In norddeutschen Städten wurde gleichfalls ein weitgehend gleichbleibender Kernbestand an städtischen Willküren und Geboten, die der ständigen Einschärfung bedürftig erschienen, in den Burspraken schriftlich zusammengestellt.⁸⁸⁹ Bis zu viermal im Jahr wurden die Burspraken zu bestimmten Terminen in einer Versammlung, die gleichfalls Bursprake hieß und zu der die Bürger zu erscheinen hatten, öffentlich von der Laube oder Treppe des Rathauses herab der versammelten Menge verlesen. Anlässlich einer Bursprake erging in Lübeck auch die Aufforderung, den in seiner Höhe verkündeten Schoss zu zahlen, und es wurde nach der Ratssetzung die Zusammensetzung des sitzenden Rates bekanntgegeben. In Anklam, Wismar, Greifswald

888 D. R, Verfassung und Verfassungswirklichkeit im Spätmittelalter, in: H. E. S (Hg.), Die Ulmer Bürgerschaft auf dem Weg zur Demokratie, Ulm 1997, S. 136. 889 W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 308 ff.; J. B, Zur »Bursprake« im hansischen Raum.

Aufgaben und Befugnisse des Stadtregiments 479

und Rostock ließ der Rat nach der Verlesung der Burspraken zur Erinnerung hölzerne Becher in der Menge verteilen. Die Burspraken betrafen den Wachtdienst der Bürger, die Nachtruhe, grundloses Hilfsund Notgeschrei, Maßregeln des Feuerschutzes, die Straßenreinigung, die Beschädigung der Wälle und Gräben der Stadt, den Unfug auf den Straßen, den Handel und das Gästewesen, ferner Aufstand und Verschwörung gegen den Rat, das Verbot der Selbsthilfe und Eigenmacht und das Gebot, sich mit städtischem Recht und Gericht genügen zu lassen und keinen Mitbürger vor ein geistliches Gericht zu laden, das Gebot an die Bürger, dem Rat und seinen Verordnungen gehorsam zu sein, und die Bestätigung der alten Willküren und Gebote. Hinzu kamen je nach Umfang und Alter der Burspraken etwa das Verbot, Grundeigentum an Nichtbürger zu veräußern, Wohnungen an Fremde ohne Genehmigung des Rats zu vermieten, Vorschriften über Tauf- und Hochzeitsfeiern, Kleiderordnungen, das Verbot des Würfelspiels, der Vorkäuferei, Lohn- und Dienstbotenordnungen, Gewerberecht, Hafenordnung, Ordnungen der Schifffahrt, in Notzeiten die Ermahnung, sich mit Getreide und anderen Lebensnotwendigkeiten einzudecken und die Reisewarnung. Die Burspraken einzelner Städte konnten außerordentlich umfangreich werden, wie etwa die Bremer Kundige Rulle von 1489 zeigt, die 225 Artikel enthält. In Hamburg wurde die Bursprake, die lange in Rollen und auf einzelnen Zetteln verzeichnet war, 1479/80 erstmals in Buchform zusammengefasst. In Hamburg und Lübeck etwa wurden die immer wieder revidierten, ergänzten und aktualisierten, im 16. Jahrhundert aber allmählich erstarrten Burspraken bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts in Auszügen verlesen. In Köln hießen die besonders wichtigen oder die Bevölkerung unmittelbar und allgemein betreffenden Beschlüsse des Rats Morgensprachen. Die Bürgermeister kündigten die Verlesung auf einem Umritt durch die Stadt an; alle Ratsherren hatten sich zur Verlesung einzu nden. Seit dem Ende des

15. Jahrhunderts ließ der Rat die Morgensprachen durch angeschlagene Edikte ergänzen. In Nürnberg wurden die Bürgermeister bei der Exekution der Polizeiverordnungen des Rates vom Pfänder unterstützt, der aus dem Kreis der Genannten bestellt wurde. Bürgermeister und Pfänder überwachten die Vorgänge in der Stadt und schritten ein, wenn gegen Ratsverordnungen – Luxusgesetze, Statuten über Kauf und Verkauf, Vorschriften über die Gewerbebetriebe und den Marktverkehr, die Straßenordnung u. a. – verstoßen wurde. Dem Pfänder wurden von Amts wegen alle Polizeiverordnungen mitgeteilt; aufgrund seiner authentischen Gesetzeskenntnis gab er Auskunft darüber, was erlaubt und was verboten war. Geringere Verstöße durfte der Pfänder mit den vorgesehenen Geldbußen ahnden und bei Fehlen von Barmitteln zur Pfändung schreiten. In Streitigkeiten, die sich zwischen der Herrschaft und ihren Dienstboten, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern aus dem Dienstvertrag ergaben, war der Pfänder Richter in erster Instanz. Der Ulmer Rat setzte heimliche Schauer und Rüger zur Überwachung spezieller Aufwandsgesetze und zur Denunziation von Verstößen ein. In Straßburg gab es die heimliche Hut. Wie der Nürnberger Rat 1476 dem Freiburger Stadtschreiber mitteilte, engagierte der zuständige Nürnberger Pfänder eine große Anzahl geheimer Denunzianten (heimlich lüt), die ihn nur nachts aufsuchten, um ihre Anzeigen zu erstatten, damit niemand erfuhr, wer ihn anzeigte. Von den fälligen Bußgeldern erhielten die Denunzianten ein Drittel. Der Pfänder gab die Anzeige (rügung) in die Stube der drei für die städtischen Finanzen zuständigen Losunger weiter. Diese ließen die Verdächtigten kommen, benannten den Ordnungsverstoß und stellten sie vor die Wahl, im Falle des Leugnens einen Unschuldseid zu schwören oder das Bußgeld zu bezahlen. In Nürnberger Rechnungsbüchern, die unter den Einnahmen die Bußzahlungen mit den jeweiligen Tatbeständen verzeichnen, spiegelt sich ein Großteil der Polizeigesetze.⁸⁹⁰

890 E. I, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht, S. 15 f.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

Der Nürnberger Rat gab an, dass im Jahr etwa 1 000 Gulden an Bußgeldern aus Verstößen gegen Kleiderordnungen an elen.⁸⁹¹ In Köln wurden Ratsherren zur Kontrolle des Aufwands zu den Familienfesten geschickt.⁸⁹² In Lübeck, Braunschweig, Göttingen, Hamburg, Nürnberg und anderen Städten musste gelegentlich im Anschluss an Festlichkeiten die Einhaltung der Vorschriften durch einen Ledigungseid bezeugt werden.⁸⁹³ Es hat den Anschein, dass der Rat immer dann, wenn er ein Sittengesetz erließ oder erneuerte, zugleich die Büttel und andere anwies, die Einhaltung zu überwachen, sodass sich zunächst die Fälle von Verstößen häuften. Seine kasuistisch genau festgesetzten Bußen und Strafen und das Rügeverfahren machten das Ordnungsrecht einfach vollstreckbar. Dass es aus ordnungspolitischen Gründen möglichst strikt durchgesetzt werden musste, war sicherlich eine allgemeine Erkenntnis, die der Straßburger Oberp eger des Almosens 1523 in seinem Ratschlag über Maßregeln gegen das Überhandnehmen der Schultheißenbürger in folgende Formulierung kleidete: Dem könne etwas geweret werden, vorausgesetzt freilich, dass man die Satzung streng durchführe, denn nichts sei einer jeden Policey schädlicher und verächtlicher, als gute Ordnungen zu machen und sie nicht durchzusetzen. Es mache nur itel verwönt, liederlich und ungehorsame Bürger und führe zum Verderben und Untergang eines Gemeinwesens (eines gemeinen Nutzens), in dem zuletzt auch kein Regiment und keine Obrigkeit werden bestehen können.⁸⁹⁴ Man kann die mittelalterliche und frühneuzeitliche Polizeigesetzgebung des Rates sowohl »Sozialregulierung« als auch – repressiv gedeutet – »Sozialdisziplinierung« nennen, doch sind hinsichtlich der einzelnen Verordnungen stets die besonderen prinzipiellen und pragmatischen Motivationen der materiellen und immateriel-

891 892 893 894 895 896

len Schadensabwehr hinsichtlich der Einzelperson, des sozialen und wirtschaftlichen Verkehrs, der christlichen Gesamtgesellschaft und der unabweisbaren städtischen Ordnungsbedürfnisse einschließlich der skalischen Interessen zu beachten. Auch unser heutiges Ordnungsrecht hat zweifellos mit Sozialdisziplinierung zu tun, nur werden die Grenzen zwischen öffentlich und privat sowie für die disziplinierende und erzieherische Interventions- und Regelungsmacht von Obrigkeit und Staat historisch immer wieder anders gezogen. Es ist andererseits anzunehmen, dass der Bevölkerung selbst an der Aufrechterhaltung von Frieden und Ordnung, Gefahrenabwehr und Verkehrssicherheit gelegen war und es in Teilen der Bevölkerung ein Bedürfnis gab, durch obrigkeitliche Aufwandsgesetze einem ruinösen sozialen Konkurrenzverhalten zugunsten eines eindeutig begrenzten bürgerlichen Maßes enthoben zu sein. Augsburger Hochzeits- und Taufordnungen des ausgehenden 13. Jahrhunderts, die von vielen Kosten und von Schaden ohne entsprechendem Dank und Nutzen sprechen, wurden zu Nutzen und Ehren von Arm und Reich mit breitem Konsens vom Rat zusammen mit dem Großen Rat und der Gemeinde verabschiedet.⁸⁹⁵ Nicht zuletzt disziplinierte sich der Rat selbst durch seine peniblen, mit differenzierten und abgestuften Bußen und Strafen sanktionierten Ratsordnungen.⁸⁹⁶

4.7 Städtische Gerichtsbarkeit 4.7.1 Die Exemtion der Bürger von fremden Gerichten Die Stadt verp ichtete den Bürger und Einwohner, in Rechtsstreitigkeiten ausschließlich vor den Gerichten der Stadt Recht zu geben und zu nehmen, d. h. sich auf Klagen einzulas-

T. S (Hg.), Die Freiburger Enquete, S. 32. F. K, Quellen zur städtischen Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 356 (1476). W. E, Der Bürgereid (2.1), S. 126 f. O. W, Das Fürsorgewesen der Stadt Straßburg, Urkunden und Aktenstücke (4.10), Nr. 114, S. 166. C. M (Hg.), Das Stadtbuch von Augsburg (2.2–2.4), S. 240–244. E. I, Ratsliteratur und städtische Ratsordnungen (4.1–4.3), S. 374–385.

Städtische Gerichtsbarkeit 481

sen und Klage zu erheben. Dies war problematisch, wenn der Beklagte nicht stadtsässig war, denn der Kläger hatte eigentlich dem Beklagten vor dessen Gericht zu folgen – actor sequitur forum rei, wie es im römischen Recht heißt. Andererseits versuchten Kläger von außerhalb Bürger vor ein Landgericht oder, was teilweise auch Bürger untereinander taten, vor ein geistliches Gericht zu ziehen, und zwar selbst in einfachen Schuldsachen. Im Falle des geistlichen Gerichts, das wegen des modernen rationalen Verfahrensrechts und der geistlichen Zwangsmittel attraktiv war, versuchte der Rat, eine Trennung zwischen geistlichen und weltlichen Streitsachen zu ziehen und die geistliche Gerichtsbarkeit auf Wucher, Ehesachen und Meineid, worunter eidlich beschworene Verträge verschiedenster Art elen, zu beschränken. Die Städte waren bemüht, ihre Bürgerschaft von auswärtigem Gerichtszwang zu befreien. Die Stadt Ulm erlangte 1359 durch ein Privileg Karls IV. die Exemtion von Land- und Hofgerichten, musste sie aber gegen Vorladungen von Bürgern durch auswärtige Gerichte immer wieder verteidigen. Nürnberger Bürger erlangten vermutlich um 1273 die übliche Freiheit vom Landgericht und hatten dadurch einen privilegierten Gerichtsstand vor dem Stadtgericht, doch stammt das älteste erhaltene Privileg erst aus dem Jahre 1470. Sie hatten es mit den geistlichen Gerichten der Bistümer Bamberg, Würzburg und Eichstätt zu tun und wurden immer wieder von dem Landgericht des Burggrafentums Nürnberg, den Landgerichten von Bamberg, Sulzbach und Hirschberg, dem kaiserlichen Hofgericht und Kammergericht sowie den Heimlichen Gerichten Westfalens (Feme) geladen. Einen größeren Zuständigkeitsbereich besaß auch das Rottweiler Hofgericht als königliches Landgericht, das etwa auch von Kölnern aufgesucht wurde. Die Briefbücher des Nürnberger Rats enthalten für die Zeit von 1429 bis 1460 nicht weniger als 350 Schreiben in Fe-

mesachen und um die Mitte des 15. Jahrhundert liefen zahlreiche Femeprozesse der Freigrafen gegen einzelne Bürger und gegen die Stadtgemeinde selbst, bis gegen Ende der siebziger Jahre die Femeprozesse dank der Bemühungen des Rats um Exemtionsprivilegien und reichsrechtlicher Verbote fast völlig verschwanden. 4.7.2 Vielfalt der Instanzen – Stadtgericht und Ratsgerichtsbarkeit In der Stadt gab es zwei verschiedene Formen der Gerichtsbarkeit. Das Stadtgericht des Stadtherrn und die Ratsgerichtsbarkeit. Beide unterschieden sich im Verfahren, ergänzten sich hinsichtlich der Zuständigkeit, überschnitten sich jedoch auch, konkurrierten miteinander und bildeten vielfach einen innerstädtischen Instanzenzug. In größeren Städten gab es neben dem Stadtgericht und dem Ratsgericht mit den zahlreichen gerichtlichen Deputationen des Rats weitere gerichtliche Instanzen. In Köln waren die Verhältnisse besonders vielgestaltig und unübersichtlich; verständlich werden sie nur, wenn abgesehen von der Schöffen- und der Ratsgerichtsbarkeit aufsteigend zunächst von der begrenzten Gerichtsbarkeit der engeren herrschaftlichen und genossenschaftlichen Lebenskreise, den konkreten Ordnungen auf der unteren Ebene ausgegangen wird.⁸⁹⁷ Die Hochgerichtsbarkeit über schwere, seit dem Ende des 11. Jahrhunderts peinlich an Leib und Leben zu strafende Verbrechen auf der Grundlage des königlichen Blutbanns hatten gemeinsam der Erzbischof und der von ihm mit dem Amt belehnte Burggraf inne, der den Erzbischof bei Abwesenheit vom Gericht als höchster Richter vertrat. Der Burggraf gab 1279 sein Lehen gegen eine Geldzahlung an den Erzbischof zurück, der damit bis zum Einmarsch der Franzosen in Köln 1794 alleiniger Herr des Hochgerichts in Köln war und als Vertreter den von ihm jährlich ernannten Gre-

897 Übersicht mit Literatur: D. S, Kölnisches Gerichtswesen bis 1794: Die Ordnung des Hochgerichts, 14. bis 15. Jahrhundert, in: J. D/J. H (Hg.), Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, Bd. II, Köln 1996, Nr. 2, S. 29–62.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

ven in Nachfolge des Burggrafen als vorsitzenden Richter einsetzte. Dieses Hohe Gericht des Erzbischofs war das Stadtgericht, das auch in wichtigen Zivilsachen urteilte und im Schreinswesen tätig war. Es bestand neben dem vorsitzenden Richter aus 25 Schöffen als Urteilern aus dem Kreise der bis 1396 die Stadt beherrschenden Geschlechter, nach 1492 nur noch aus zehn Schöffen. Wurde ein Sitz frei, ergänzte sich das Schöffenkollegium durch Kooptation aus der Anwärtergruppe der verwandtschaftlich mit ihm ver ochtenen Schöffenbrüder, doch musste der neue Schöffe förmlich durch den Erzbischof, dem er eidlich verp ichtet wurde, eingesetzt (angewäldigt) werden. In seinem Schutzbrief für die Juden von 1252 beanspruchte der Erzbischof Konrad von Hochstaden auch die Gerichtsbarkeit bei Gewalttaten, Diebstahl, Falschmünzerei und Ehebruch der Juden untereinander und bei Ehen mit Christinnen, während die Niedergerichtsbarkeit beim jüdischen Gericht liegen sollte. Die mit dem Hochgericht konkurrierende gerichtliche Tätigkeit des Engeren Rats ist seit 1320 belegt, doch richtete bald nicht mehr das ganze Ratsgremium. Stattdessen setze man zwei Ratsmeistern ein oder ließ die Rechtsprechung durch besondere Ratsgerichte ausüben. Das 1326 erwähnte Gericht von den Gästen hinter der Tür war zunächst nur für auswärtige Kau eute, später auch für die bekannte Schuld und für Wuchersachen zuständig. Das etwa seit 1341 amtierende Gewalt und Polizeigericht urteilte über Friedensbrüche und befasste sich ferner mit Übertretungen der Polizeigesetze, Mietstreitigkeiten und Pfändungen. Durch Schöffengerichtsordnung von 1427 nahm der Rat auch offiziell das Verhaftungsrecht (Antastrecht) für sich in Anspruch und ließ es durch das Gewaltgericht ausüben. Der Erzbischof erkannte 1362 die Ratsgerichtsbarkeit an, die von derjenigen des Hohen Gerichts abgegrenzt werden musste, doch gab es Jahrhunderte hindurch deswegen Streitigkeiten. Nachdem die Amtleute der Sondergemeinden 1396 die streitige Gerichtsbarkeit verloren hatten, richtete der Rat anstelle des Bürgermeister- und Amtleutegerichts im Jahre 1400 das im 16. Jahrhundert

so genannte Amtsgericht ein, das aus sechs ausgeschiedenen Ratsherren und den beiden Bürgermeistern bestand und für größere Schuldklagen, Erbstreitigkeiten um Grundstücke und Berufungen in den grundbuchartigen Schreinssachen zuständig war. Die beiden Bürgermeister (spätestens seit 1375) und die Ratsherren, die als Meister oder Herren ein Ratsamt zur Aufsicht über die täglichen Märkte, die beiden Jahrmärkte (Messen) und über Handelszweige wie den Pferde-, Woll-, Tuch-, Färberwaid- und Weinhandel innehatten, erhielten für ihren Bereich richterliche Befugnisse hinsichtlich der Ordnungsverstöße und der Entscheidung von auftretenden Streitigkeiten zwischen Parteien. Zum Hochgericht und den Ratsgerichten kommen Gerichte verschiedener Lebenskreise kommunaler und anderer Genossenschaften wie die verschiedenen Burgerichte der Meister und Amtleute und der Verbände der Kleinbauern (Bauernbänke) in den Sondergemeinden, der Münzerhausgenossen und der Inhaber der Rheinmühlen (Mühlenerben), der Gaffeln und Zünfte (Ämter) sowie die korporative Gerichtsbarkeit der Universität des Rektors und der Dekane sowie der vom Papst bestellten drei Konservatoren der Universität für Streitigkeiten mit Außenstehenden, ferner Gerichte hofrechtlichen Ursprungs und schließlich noch eine Reihe von Lehngerichten. 4.7.3 Rechtsp ege und Rechtshilfe des Rates 4.7.3.1 Ratsgerichtsbarkeit Für das städtische Willkür- und Satzungsrechtrecht war nicht der vom Stadtherrn eingesetzte Richter, sondern der Rat die zuständige richtende, strafende und vollstreckende Instanz. In Lübeck wurde diese Zuständigkeit im Heinrichsprivileg von etwa 1163 festgelegt. Die Ratsherren, Ratsdeputationen, Inhaber spezieller Polizeiämter und sonstige Träger von Ratsämtern, städtische Bedienstete aller Art und aufgrund des Bürgereides die Bürger selbst hatten Ordnungsverstöße geeigneten Stellen oder dem Rat anzuzeigen und zu rügen. Für De-

Städtische Gerichtsbarkeit 483

nunziationen waren in den Satzungen gelegentlich Belohnungen ausgesetzt. Bei der Steuerleistung oder nach der Veranstaltung von Hochzeiten hatten die Bürger mancherorts einen Ledigungseid auf die Einhaltung der städtischen Ordnung abzulegen. Die städtischen Satzungen waren mit Hausarrest, Geldbußen – ersatzweise Körperstrafen oder Pranger – Körperstrafen, Gefängnis, Verbannungs- und Todesstrafen sanktioniert. Schweren Strafen waren gelegentlich leichtere Beugestrafen vorgeschaltet. In vielen schwereren Fällen, insbesondere bei Verletzung von eidlich bekräftigten Normen oder bei Bruch des Bürgereids drohte der Rat eine Bestrafung an Person und Vermögen nach Schwere der Sache und Ermessen an. Wie in den älteren Stadtrechten wirkte in den Satzungen der Affekt strafmindernd, Vorsätzlichkeit hingegen strafverschärfend. Die Verhandlung vor dem Rat erfolgte nicht nach einem gerichtsförmigen Verfahren wie beim Vogtgericht oder Stadtgericht des Schultheißen; es wurde nicht nach Klage, Antwort und Rechts ndung gerichtet. Es handelte sich um eine formlose Vernehmung, ohne dass ein Privatkläger vorhanden sein musste. Eine Vertretung der Parteien durch Anwälte war ausgeschlossen, wohl aber konnte ein Ratsmitglied einer Partei das Wort reden. Häu g wurde die Sache schon in Verhandlungen durch Gnade, Verwarnung oder Vergleich oder Rücknahme der Beschuldigung erledigt. Kam es zur Entscheidung, so trat der Beschuldigte nach seiner Anhörung ab, worauf der Rat die Sache erörterte und durch Umfrage mit einfacher Stimmenmehrheit einen Beschluss fasste. »Das Ganze war eher ein Verwaltungsakt als ein Gerichtsverfahren mit Recht ndung und Urteil«.⁸⁹⁸ In schwierigen Fällen holte der Rat ein Rechtsgutachten ein, sofern ihm Juristen zu Gebote standen, oder wandte sich an einen Oberhof. Leichtere Delikte, auf die Geld-, Freiheits- oder Ehrenstrafen standen, wurden in der Regel zur Entlastung des Rats von einem besonderen Ge-

richt, einer Ratsdeputation oder Ratskommission, in einem sehr einfachen Verfahren nach Verhören von Kläger, Beklagtem und Zeugen abgeurteilt. Wurde der Angeschuldigte nicht überführt, so wurde er zum Unschuldseid zugelassen, den er für sich, d. h. als Eineid ohne Eideshelfer, zu schwören hatte. In den oberschwäbischen Reichsstädten war die Ratsgerichtsbarkeit vor allem Strafrechtsp ege. Diese Städte gelangten zwar erst einige Jahrzehnte nach der Einführung der Zunftverfassung in den uneingeschränkten Besitz des Blutbannes, richteten aber auch zuvor schon über Leben und Tod, was aber die Blutbannleihe in irgendeiner Weise oder eine landfriedensrechtliche Privilegierung durch den König voraussetzte. Kaiser Friedrich III. (1440-1493) ließ den Reichskammerprokurator skal im Reich danach forschen, wo Todesurteile ohne erfolgte Blutbannleihe vollstreckt wurden, um aufgrund dieser Rechtsverletzung hohe Strafgelder auszuhandeln.⁸⁹⁹ In der Regel handelte es sich bei der Gerichtsbarkeit des Rats oder seiner Kommissionen um geringere Strafsachen wie Verbalinjurien, Körperverletzung durch Schläge oder das häu ge Messerzücken, die jedoch zahlreich waren, sodass die Ratsprotokolle in einigen oberschwäbischen Städten über weite Strecken hin Gerichtsprotokolle darstellten. In anschwellender breiter Kasuistik sammelte der Rat in immer neuen Satzungen die verschiedenen ortsüblichen und geschlechtsspezi schen Schmähworte und stufte die Bußen nach ihrer Heftigkeit, ließ sie gelegentlich straffrei, wenn sie der Wahrheit entsprachen, versah einzelne Gewalttätigkeiten vom Raufen, Niederwerfen und Treten, Stoßen und Schlagen mit verschiedenen Gegenständen oder Waffen bis hin zu Verwundung mit Blutaustritt mit gestuften Bußen und Strafen und bemaß diese bei Messerzücken danach, ob nur die Hand an die Waffe unter dem Rock gelegt und diese nicht gezückt, die Waffe – in Schädigungsabsicht – drohend erhoben

898 W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 354 f.; H. R, Der Rat der niederschwäbischen Reichsstädte (2.5.2), S. 247 f. 899 E. I, Reichs nanzen und Reichssteuern (3.0), S. 47–51, 49.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

oder schließlich auch zugestochen wurde. Wer sich in einem tätlichen Streit, den der andere angefangen hatte, wehrte, ging straffrei aus, doch waren dabei Verletzungen mit blutenden Wunden und Totschlag nicht erlaubt. In einigen Stadtrechten durfte man in begründeten Fällen sozial niedrigere Personen – bescholtene Leute, Spielleute, Possenreißer, Weinrufer, Sackträger, Bäckerknechte oder unehrliche Leute – mit bloßer Hand stra os schlagen oder an den Haaren ziehen. Bei Waffenverboten wurde verstecktes Waffentragen härter bestraft als offenes. Das Nürnberger Gericht der Fünf Herren für Schmachsachen und Injurien, das Dr. Scheurl aus rechtspolitischen Gründen als außerordentlich nützlich rühmt, urteilte in einem einfachen Rügeverfahren. Es nahm, wie der Jurist erläutert, keine schriftliche Klage an, ließ keine Prokuratoren oder Advokaten zu, hörte selten Zeugen und entschied die Mehrheit der Fälle durch Eidesleistung der Beschuldigten.⁹⁰⁰ Eine Appellation war nicht zugelassen, doch gingen die schweren Fälle an den Rat. Eine Ratsdeputation übernahm, sofern der Rat nicht größere Fälle selbst verhandelte, auch die Entscheidung in Baustreitigkeiten, die deshalb sehr häu g waren, weil eine öffentliche Auslegung der Pläne für Privathäuser nicht üblich war. Vergleichbar sind die Einunger, im Turnus unter den Ratsherren wechselnde Gerichtskommissionen des Rats in schwäbischen Städten, die Gebote und Verbote zu überwachen hatten, die der Rat um der ›bürgerlichen Einigkeit willen‹ erlassen hatte und deren wichtigste zu diesem Zweck im mehrfach erneuerten Einungsbuch verzeichnet waren. Die Einunger urteilten kleinere Delikte ab, vor allem Verbalinjurien und Körperverletzungen, nahmen Gelöbnisse zur Rückzahlung von Schulden entgegen und versuchten Streitfälle zu bereinigen, die erst weiter an den Rat gebrachten wurden, wenn ihre Beilegung gescheitert war.

In Rottweil sollten die Einunger am Monatsende das Unzuchtbuch mit den verzeichneten Delikten zur Hand nehmen, die Missetäter durch einen Stadtknecht vorladen lassen, ihnen ihre Missetat nennen und die satzungsgemäße Strafe ohne jeglichen Nachlass einziehen. Wer die Zahlungsfrist versäumte oder binnen einer Frist nicht vor den Einungern erschien, wurde in Beugehaft genommen und erst gegen die Zahlung der Strafsumme und weiterer zehn Schillinge zu rechter Strafe freigelassen. Wer einer Missetat beschuldigt wurde und sich nicht einfach von den Einungern bestrafen lassen wollte, sondern ein ordentliches Verfahren (rechts darumb) verlangte, hatte, wenn er mit recht fellig, d. h. vom Stadtgericht des Schultheißen bestraft wurde, gleichfalls zusätzlich noch eine Buße von zehn Schillingen zu zahlen, worüber er zu belehren war. Bei der Strafgerichtsbarkeit des Rats handelte es sich gegenüber der traditionalen Gerichtsbarkeit des Stadtgerichts um ein »gänzlich neues Gerichtsmodell«.⁹⁰¹ Es gab keine garantierte Gerichtsöffentlichkeit, und es fehlten alle Rechtsgarantien des Beschuldigten im Verfahren. Das Verfahren war freilich insoweit rational, als es auf die Ermittlung der materiellen Wahrheit gerichtet war. Es bildete in Anlehnung an das Kirchenrecht die Offizialmaxime aus und verband sie mit der Folter zum städtischen Inquisitionsprozess. Lediglich die Offizial- und Inquisitionsmaxime ohne Folter verwirklichte die Rottweiler Ordnung von 1401, wonach der Große Rat, wenn ihm Delikte zu Ohren kamen, die keine Todesstrafe nach sich zogen, oder wenn jemand eine Person vor einem Amtmann oder dem Rat eines todeswürdigen Verbrechens beschuldigte, aus seinem Kreis vereidigte Ratsherren mit der Zeugenbefragung und Untersuchung beauftragte. Wenn jemand einen anderen aus Feindschaft oder Hass zu Unrecht einer Sache beschuldigte

900 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 11, S. 796 f. Zur Form des Rügeverfahrens siehe auch P. S , Rüge und Einung; H.-R. H, Basler Rechtsleben I (2.2–2.4), S. 173–181; W S, Artt. »Rügegericht«, »Rügeverfahren«, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, 1990, Sp. 1201–1205; E. I, Ratsliteratur und städtische Ratsordnungen (4.1–4.3), S. 404–407. 901 J. W, Die Konstituierung der Gemeinde, S. 174–176.

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und das mit Eid bewiesen wurde, sollte er vom Großen Rat in aller Öffentlichkeit mit derselben Strafe belegt werden, mit ein Täter bestraft worden wäre.⁹⁰² Der Rat konkurrierte mit der Hoch- und Niedergerichtsbarkeit des zuständigen Stadtgerichts, indem er Straftaten, die eine schwere Verletzung des Stadtfriedens bedeuteten, und (erstinstanzlich) Interessen der Stadt berührende Zivilsachen an sich zog. Er konnte sie dann an seiner Statt anderen Instanzen und Ratsdeputationen zur Erledigung überweisen. Der Rat übte eine Zivilgerichtsbarkeit auch in Sachen aus, die wegen Rechtsunklarheiten an ihn geschoben wurden, und füllte durch seine Entscheidung oder eine klärende Satzung Lücken im Gewohnheits- oder Gesetzesrecht aus. Im Interesse des Rechts- und Stadtfriedens strafte der Rat auf der Grundlage seiner Satzungen an Person (Leib), Vermögen und mit Stadtverbannung unerlaubte Handlungen und deliktisches Verhalten im Privatrecht, in Ehesachen bei nicht eingehaltenen Eheversprechen und Ehebruch oder wenn jemand im Güterverkehr Eigen als Lehen und umgekehrt verkaufte, Zinsbelastungen von Immobilien und Fahrhabe bei Verkauf oder Verpfändung verschwieg, etwas verkaufte oder verpfändete, was ihm nicht gehörte, worüber er keine Verfügungsgewalt besaß oder was er bereits anderen Leuten verkauft oder verpfändet hatte, während es den Kontrahenten daneben vorbehalten blieb, ihre Rechtsansprüche gerichtlich geltend zu machen.⁹⁰³ Der Lübecker Rat, der ursprünglich über seine Willkürsetzung in Angelegenheiten der kommunalen Ordnung richtete, dehnte seine Gesetzgebung kraft der ihm im Barbarossaprivileg zugestandenen Befugnis zur Rechtsbesserung auf alle Bereiche des Rechts aus und wurde dadurch auch für diese Gegenstände gerichtlich zuständig, wie andererseits das Vogtgericht nach diesem vom Rat geschaffenen Recht zu judizieren hatte, andererseits aber keine Zuständig-

keit in Willkürsachen besaß.⁹⁰⁴ Dadurch wurde es aber auch möglich, Niedergerichtsurteile an den Rat zu schelten. Der Lübecker Rat beanspruchte, nachdem das Vogtgericht im 13. Jahrhundert auf die Stadt übergegangen und eine Behörde des Rats unter Vorsitz zweier Ratsherren (richtevogede, Gerichtsherren) geworden war, das richterliche merum et mixtum imperium, die Hoch- und Niedergerichtsbarkeit (iudicium supremum atque bassum). In Kriminalsachen urteilte der lübische Rat – auf der Grundlage des von ihm käu ich erworbenen oder ihm verliehenen iudicium maius oder iudicium colli et manus – nach Anklageerhebung und der von ihm gesteuerten Untersuchung beim Vogt- und Niedergericht, das auch das Urteilsdekret des Rats am endlichen Rechtstag verkündete. Das Urteil selbst war insoweit, wie vielfach auch in Städten außerhalb des lübischen Rechts, keine eigentliche gerichtliche Rechts ndung mehr, sondern ein hinter verschlossener Türe gefasster Beschluss des Rats. Auch Friedloslegungen (Verfestungen) mussten vom Vogtgericht verkündet werden. Eine andere Form von Kriminalgerichtsbarkeit wuchs dem Lübecker Rat wie anderen Städten, auch landesherrlichen, durch privilegial erteilte landfriedensrechtliche Verfolgungs- und Strafbefugnisse zu. Lübeck erwarb 1374 von Kaiser Karl IV. unter Ernennung der Bürgermeister zu Reichsvikaren das Recht, landschädliche Leute und Straftäter aller Art auch in Gebieten und Gerichtsbezirken von Fürsten, Grafen oder freien Herren zu ergreifen und sie ihren Straftaten entsprechend abzuurteilen. Die Streitparteien hatten in Städten mit lübischem Recht in zivilrechtlichen Auseinandersetzungen grundsätzlich die Wahl, ob sie ihre Streitsache dem Rat zur Entscheidung vorlegen oder vor dem Niedergericht klagen wollten. Dadurch entstand allerdings eine Zuständigkeitskonkurrenz, bei der sich der Beklagte präventiv, rechtzeitig vor einer Ladung vor das Nie-

902 B.-U. H (Hg.), Quellen zur Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 59, S. 400–403. 903 H. G (Hg.), Das ältere Recht der Reichsstadt Rottweil (2.2–2.4), Nr. 267, S. 199 (1443). 904 Zu den Lübecker Gerichten und denen im Bereich lübischen Rechts siehe insbesondere W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 318–381.

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dergericht äußern musste. Die Gerichtsbarkeit des lübischen Rats in privatrechtlichen Angelegenheiten hatte vermutlich ihren Ausgangspunkt in der Vermittlungs- und Schiedstätigkeit des Rates, die zur echten Gerichtsbarkeit gesteigert wurde. Es war eine im Ratseid verankerte P icht, im Interesse des kommunalen Friedens Zwietracht (schelinge, twist) zwischen den Bürgern zu schlichten und notfalls durch Erkenntnis (diffinitio) oder Beschluss (decretum), mit Auskunft über die Rechtslage nach lübischem Recht, zu entscheiden. Von dem Niedergericht konnte das Urteil an den Rat unter Hinterlegung eines Urteilspfandes, das im Falle einer Niederlage als unbegründete Urteilsschelte ver el, gescholten werden, da es verboten war, ein anderes Urteil von außen zu holen, und bessere Kenntnis, was das lübische Recht war, nur der Rat besaß. In Lübeck und in Städten lübischen Rechts fand die Verhandlung vor dem Rat unter Leitung des Worthaltenden Bürgermeisters statt. Streitgegner durften zur Sitzung eine Anzahl von Verwandten und Freunden mitbringen, die eine eingeschänkte Öffentlichkeit darstellten; deren Anzahl wurde aus Sicherheitsgründen verschiedentlich begrenzt. Die Beratung und die Entscheidungs ndung des Rats, die nach Stimmenmehrheit getroffen wurde, waren – anders als im Verfahren nach Landrecht – geheim, das Urteil wurde aber bei geöffneten Türen verkündet. Der Lübecker Rat befand ferner als Appellationsinstanz über Ratsentscheidungen der lübischen Tochterstädte und Urteile der hansischen Kontore. Die Sammlung Lübecker Ratsurteile zeigt, dass der Rat in allen Bereichen des bürgerlichen Rechts Entscheidungen fällte. Sie enthält für den Zeitraum von 1450 bis 1550 etwa 600 Urteile, die auf Urteilsschelte aus dem Niedergericht hin ergangen sind, ferner etwa 2 000 erstinstanzliche Entscheidungen. Wie im Falle der Verkündung von Bluturteilen und Friedloslegungen bedurften richterlichen Akte wie etwa die Besitzeinweisung (Einwältigung) bei der Grundstückspfändung und Pfändungsvollstreckung der öffentlichen Proklamation, die vor dem Vogtgericht zu erfolgen

hatte, doch konnte die zugrundeliegende materiellrechtliche Entscheidung, etwa ob dem Kläger ein zur Vollstreckung berechtigendes Pfandrecht zustehe, genauso gut der Rat treffen, der dann den Kläger zum Vollzug an das Niedergericht verwies. Der lübische Rat wirkte immer auf eine gütliche Beilegung des vor ihn gebrachten Streits hin und verwies die Sache, bevor er entschied, vor zwei Ratsherren als Schiedsleute (Schedesherren) in die Güte, der Nürnberger bot Streitparteien an, Ratsherren oder einen Ratsjuristen für eine schiedsgerichtliche Streiterledigung zur Verfügung zu stellen. In Rottweil wurden Ratskommissionen, Vertragsleute oder Schiedsleute, abgeordnet, um Streitigkeiten zwischen Eheleuten, etwa über den Verkauf von Gütern, zu schlichten. In Köln sollten die vier Ratsmitglieder, die Klageherren oder Klagemeister hießen, vor dem Beginn eines Prozesses den Versuch einer gütlichen Einigung der Parteien versuchen. Gerichtliche Verfahren wurden verschiedentlich ausgesetzt, um schiedsgerichtliche oder gütliche Streitbeilegungen zu ermöglichen, bei Scheitern dann wieder aufgenommen. Der Nürnberger Rat förderte in der Rechtsreformation von 1479 den schiedsgerichtlichen Streitaustrag, indem er zur Exekution von Schiedsurteilen Vollstreckungsmittel der ordentlichen Gerichtsbarkeit zur Verfügung stellte. Vor allem etablierte sich das Ratsgericht als Appellationsinstanz über dem Stadtgericht. Die dazu abgeordneten Ratsherren selbst be eißigten sich in den zivilrechtlichen Appellationssachen, die ja bei einem höheren Streitwert weiter bis an das königliche Kammergericht gelangen konnten, nach dem Urteil des Juristen Dr. Scheurl bei der Lektüre der Akten großer Mühe und Sorgfalt und zogen in schwierigeren Fällen zur Erörterung der Rechtslage und zur Abfassung der Urteile Ratsjuristen heran. Der Rat war in anderen Städten auch Appellationsinstanz über der von ihm zugestandenen Zunftgerichtsbarkeit. Er behielt sich aber auch vor, Fälle, in denen bereits ein Urteil des Zunftgerichts gesprochen war, dennoch selbst zu entscheiden. Zur Wahrung ihrer internen Gerichts-

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barkeit drohten gelegentlich Zünfte Bußen für den Fall an, dass ein Zunftgenosse vergeblich gegen eine von der Zunft verhängte Strafe an den Rat appellierte. In Fällen offenkundiger und eingestandener schuldrechtlicher Verp ichtungen (bekannte Schuld ) besaß der Bürgermeister Vollstreckungsbefugnisse. In Zivilrechtsstreitigkeiten hatten die appellierenden Streitparteien in Nürnberg im Unterschied zu anderen Städten keinen Zutritt zum Rat, sodass die Bürgermeister in den Appellationssachen den Verkehr mit den Parteien vermittelten und Ratsdeputierte die Zeugen verhörten und Schriftlichkeit ins Verfahren Einzug hielt. Das Straßburger Ratsgericht war insoweit ein Sonderfall, als der Rat unter der Doppelbezeichnung Rat und Gericht im Unterschied zum Regelfall der prinzipiellen Zweiteilung der Gerichtsbarkeit in eine solche des Stadtgerichts und des Rats schon zum Beginn der zusammengesetzten stadtherrlich-bürgerschaftlichen Ratsbildung mit Aufgaben der Rechtsprechung betraut wurde, die ansonsten grundsätzlich dem stadtherrlichen Stadtgericht oblagen und in Straßburg von den Gerichten des Vogts und des Schultheißen erfüllt wurden. Grundgelegt ist die Gerichtsbarkeit des Rates bereits im zweiten Straßburger Stadtrecht von etwa 1214, in dem der aus bischö ichen Ministerialen und Bürgern zusammengesetzte und jährlich eingesetzte Rat von zwölf oder falls notwendig mehr consules unter dem Vorsitz eines oder zweier Meister (magister) sofort entsprechend den stadtherrlichen Gerichten als Zivil- und Strafgericht ausgeformt ist. Der Rat hat ›die Stadt und alle Bürger – cives maiores ac minores, divites ac pauperes – nach seinem Vermögen gegen Übel zu verteidigen und allen gemäß der Wahrheit (veritas) gerecht Recht zu sprechen‹. Das Ratsgericht soll in den traditionalen, aber von magischen und irrationalen Formen und Beweismitteln befreiten und auf

die materielle Wahrheit abzielenden Formen der Rechts ndung, ferner nicht nach Landrecht, sondern nach den im Folgenden genannten städtischen Rechtssätzen (›Statuten‹), gemeint ist noch nicht speziell das kommunale Statutarrecht, zu bestimmten Terminen Recht sprechen. Der vorsitzende Meister hat als Richter das Urteil zu verkünden, das die consules als Beisitzer gefunden haben.⁹⁰⁵ In schwerwiegenden Fällen, die vor dem Bischof oder an anderer Stelle verhandelt werden, versammeln sich zunächst die consules untereinander; sie können aber, wenn notwendig, zu ihrer Beratung gut beleumundete gewählte Schöffel (Schöffen) aus der Gemeinde hinzuziehen. Diese haben bei ihrer Wahl zu schwören, stets hinsichtlich all dessen, was sie sehen oder hören würden, die Wahrheit zu bezeugen. Das angeschlossene städtische Recht ist eine Mischung von Prozess- und Zwangsvollstreckungsrecht, Zivilrecht, Strafrecht und typischem städtischem Friedens-, Ordnungs- und Polizeirecht. In der Folgezeit übernahm ein rein bürgerschaftlicher Rat diese zentralen, vor allem auch Eigen und Erbe betreffenden Zuständigkeiten der Rechtsprechung. Das Ratsgericht zog auch später, wenn es ihm erforderlich schien, gewählte Schöffel hinzu, die aber nicht Gerichtsschöffen im Sinne der ursprünglichen Gerichtsverfassung, sondern Vertreter der Zunftgemeinde waren. Die ursprünglichen stadtherrlichen Gerichte in Straßburg, das Burggrafen-, das Schultheißen- und das Stadtgericht, welche die Stadt an sich brachte, spielten als niedere Gerichte nur eine untergeordnete Rolle und waren in ihrer Konkurrenz zur Ratsgerichtsbarkeit teilweise zum Absterben verurteilt. Das bedeutendste von ihnen, das Stadtgericht, das durch Pfandnahme vom Bischof an die Stadt gelangt war, erkannte über Schuldsachen mit bestimmten Streitwerten, war aber vor allem Vollstreckungsgericht in Zivil- und Kriminalsa-

905 F. K, Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 127, S. 102 f. I. Art. 1: […] qui iurent […] per omnia secundum veritatem iuste iudicare; Art. 2: Magister vere iudicabit, consules dabunt sententiam; Art. 6: Consules autem non iudicabunt secundum ius provincie, quod dicitur landreht, sed secundum veritatem et statuta civitatis subscripta. Zu den spätmittelalterlichen Straßburger Gerichtsordnungen siehe E. I, Ratsliteratur und städtische Ratsordnungen (4.1–4.2), S. 407–411.

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chen. Darüber waren der (Kleine Rat) und für gewichtigere Fälle und als übergeordnete Instanz in einem Rechtszug der Große Rat positioniert, der wiederum mit dem Siebenergericht oder den Siebenzüchtern nach dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts ein Ratsgericht für Ordnungsverstöße und kleinere Injurien, vergleichbar dem Nürnberger Fünfer- oder Hadergericht oder den Augsburger, Ulmer und Rottweiler Einungern, einrichtete. Eine Ordnung des ausgehenden 15. Jahrhunderts, die auf dem Stadtrecht von 1322 fußt, konstituiert als Gericht den Kleinen Rat, bestehend aus sechs Consto ern und zwölf Zunftmitgliedern in der Eigenschaft von Schöffen sowie drei Stettmeister und den abgetretenen Ammeister, die nacheinander den Vorsitz als Richter übernehmen. Den Parteien werden Fürsprecher beigegeben. Die Ordnung legt die Zuständigkeit des Kleinen Rats für Streitigkeiten um Eigen und um Erbe mit Streitwerten bis zu 300 Pfund und ein Quorum für die Urteilsndung fest. Bei Streitwerten in einer Staffelung von unter 60 Pfund, über diese Summe bis zu hundert Pfund und Werten darüber müssen dem Richter mindestens neun, elf und dreizehn Ratsmitglieder als Schöffen beisitzen. Fällt ein Urteil zwiespältig aus, hat der vorsitzende Meister bei Streitwerten unter sechzig Pfund den Stichentscheid, bei höheren Streitwerten gehen beide Urteile innerhalb der nächsten drei Tage an den Großen Rat als das hohe gericht, welches das beste der beiden Urteile ermittelt und in Kraft setzt. Die im 15. Jahrhundert entstandene Kommission der XIIIer wurde zum Obergericht, und es gelang der Stadt, nach der Reform des Kaiserlichen Kammergerichts von 1495 für die XIIIer ein Appellationsprivileg mit einer relativ niedrigen Wertgrenze zu erlangen. Das Gericht galt nunmehr als Gericht von Kaiser und Reich; die XIIIer waren keyserlicher Maiestat delegierte Cammerrichter.⁹⁰⁶ Allerdings hielt sich Straßburg lange den gelehrten Rechten fern.

4.7.3.2 Freiwillige Gerichtsbarkeit In weitem Umfang zog der Rat die freiwillige Gerichtsbarkeit an sich, Nachlass-, Kindschaftsund Vormundschaftssachen sowie die Beurkundung von Grundstücksverkäufen oder schenkungen, wobei er gegenüber Nichtbürgern und geistlichen Institutionen im Einzelfall über das Privilegien- und Satzungsrecht hinaus die Steuerp icht des Grundstücks vertraglich xieren konnte. In Ulm wurde zur Entlastung des Stadtgerichts für Akte der freiwilligen Gerichtsbarkeit ein spezielles Gremium der Vierundzwanzig Genannten aus Zunftgemeinde (2⁄3) und Patriziat (1⁄3) eingerichtet. Dem Rat oblag der Schutz der Waisen, Witwen und Schwachen. Der Rat besaß die Obervormundschaft über alle Vormünder, die ihm anzuzeigen waren und die über die Verwaltung des Mündelvermögens Rechnung zu legen hatten. Der Nürnberger Rat erhielt auf seine Bitte von 1506 hin unter Vermittlung des Juristen und Humanisten Willibald Pirckheimer von Venedig die Vormundschaftsordnung der Serenissima und machte sie in einigen Punkten zur Grundlage des Amtes der Obersten Vormünder der Witwen und Waisen. Der Vorgang des Rechtstransfers im Jahre 1508 wurde am Ende des 16. Jahrhunderts in einem Ölbild von Carletto und Gabriele Caliari im Dogenpalast festgehalten. Dort nimmt der Nürnberger Ratsbote den Gesetzestext demütig vor dem hoch über ihm thronenden Dogen in Empfang.⁹⁰⁷ Dr. Scheurl spricht davon, dass das Amt von der Obrigkeit Venedigs ›entlehnt‹ worden sei, und sieht den hauptsächlichen Effekt des von drei Ratsherren – bei einer jährlichen Besoldung von 40 Gulden an wöchentlich drei Sitzungstagen – ausgeübten Amtes darin, dass damit der Unterdrückung von Testamenten, die nach dem Tode des Erblassers zweifellos täglich vorkämen, wirkungsvoll begegnet werde. Er erläutert zugleich den Unterschied zwischen der streitigen und der freiwilligen Gerichtsbarkeit⁹⁰⁸ und

906 U. C, Die Verfassung und Verwaltung Straßburgs, S. 62–64. 907 A. C, Transfer einer Rechtsidee (9.3‒9.4), S. 243 f. (nach einem Hinweis von Frau Karin Nehlsen- Stryk). 908 Iedoch haben sie [die Obersten Vormünder] kainen häderischen [streitigen] oder genotten [zwingenden] sondern ein willkürlichen [freiwilligen] gerichtszwang, das ist, sie urthailen in kainer sachen entlich [auch heute nur ›Beschluss‹ oder ›Ver-

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nennt die Amtsaufgaben. Die städtischen Vormünder nehmen Erbteilungen vor, vollstrecken den letzten Willen, geben den Unmündigen Vormünder, verfügen (›beschließen‹), dass das Geld der Mündel (›vogtbare Kinder‹) wucher, das ist zins trag, und die Mündel davon ehrbar und gut erzogen werden sollen; nur mit ihrer Bewilligung dürfen Immobilien, Renten und Zinse veräußert werden. Sie hören die Rechnungslegung der anderen Vormünder und entbinden diese von ihren Aufgaben. Ferner sorgen sie für die Erfüllung der Legate für fromme Zwecke. Dr. Scheurl hebt lobend hervor, und darin zeigt sich ein Aspekt des städtischen Kirchenregiments, dass sie auch die Fundierung aller geistlichen Pfründen, deren Einkünfte und Liegenschaften sowie alle Stiftungen guter Werke schriftlich festhalten und darauf achten, dass die Jahrtage, Messen und ›andere göttliche Ämter‹ davon ausgerichtet werden und das, was Gott einmal zugeeignet wurde, ungeschmälert in die Hände der Priester gelangt. Die Oberaufsicht des Rats galt auch für die Beisorger (Kuratoren), die bei Vaterlosigkeit vom 18. bis 25. Lebensjahr oder aus anderen Gründen über die Mündigkeit hinaus bestellt wurden, und für die Testamentsvollstrecker. Zwei Ratsherren mussten in der Eigenschaft als ›vollkommene‹, den vollen Beweis erbringende Zeugen bei der Errichtung von Testamenten, ihrer Einbringung in den Rat und ihrer Eröffnung mitwirken. Starb jemand ohne bekannte Erben, so nahm der Rat seine Habe auf Jahr und Tag in Verwahrung, um sie solange den Erben, die sich später meldeten, zu erhalten. Der Rat sah es auch als seine Aufgabe an, für ausgesetzte Kinder zu sorgen. Findelkinder wurden daher auch ›des Rates Kinder‹ genannt. Es sind Kinder, ›die niemanden haben‹, weder Eltern noch Vormünder, und aus Familie und Verwandtschaft und deren Rechten herausfal-

len. Der Konstanzer Rat erließ 1385 ein Statut, wonach jemand, der auf der Domtreppe ein ausgesetztes Kind als erster sah und dies nicht sofort dem Rat meldete, als Kindsvater in die Verantwortung zu nehmen war.⁹⁰⁹ Ansonsten gab der Rat ausgesetzte Säuglinge ins Spital, ins Waisenhaus oder ins Findelhaus, zu armen Familien oder Frauen, Beginen oder zu Ammen in der Stadt oder im Umland in der Regel so lange auf Kosten der Stadt in P ege, bis ein Kind mit acht oder zehn Jahren in der Lage war, sich seinen Lebensunterhalt zu erbetteln.⁹¹⁰ In Straßburg wurden 1482 auf Kosten des Waisenhauses 56 Kinder unterhalten, davon lebten 25 im Haus selbst, während weitere 31 in der Stadt von Ammen versorgt wurden. 4.7.3.3 Rechtshilfe des Rates Rechtshilfe gewährte der Rat auf vielfältige Weise.⁹¹¹ Bei auswärtigen Fehden eines Bürgers unternahm er Sühneversuche. Er half gefangene Bürger auszulösen, in städtischen Fehden zahlte er Lösegeld. In auswärtigen Streitsachen konnte der Bürger einen Ratsherrn anfordern, der für ihn reiten und raten musste. Mit breitem Konsens, weil die Angelegenheit einen wichtigen Anspruch der Bürger betraf, wurde in Augsburg 1363 durch den Kleinen Rat, Alten Rat, Großen Rat, Reich und Arm ohne Abweichungen auf ewig beschlossen, dass die Kosten für die Rechtshilfe, die der Rat seinen Bürgern außerhalb der Stadt gewährte, wegen der großen nanziellen Belastung hinfort nicht mehr aus Mitteln der Stadt bestritten werden sollten, sondern von den Bürgern selbst zu tragen seien. Der Rat bekannte sich aber weiterhin zu seiner P icht, auf Antrag in der erbetenen Form Rat und Hilfe zu leisten. Er half mit Schreiben, Ratsgesandtschaften und personeller Unterstützung bei Schiedstagen – mit Reiten und Gehen – in Sachen, die Person und Vermögen be-

fügung‹] sonder zaigen allain an, und vermanen gütlich zu dem das recht ist – lat.: non tamen habent jurisdictionem contentiosam, sed voluntariam h. e. nihil diffiniunt sed quod justum est judicant. Die Chroniken der deutschen Städte, Bd. 11 (Einleitung), S. 798. 909 O. F, Vom Richtebrief zum Roten Buch ( 2.2–2.4), S. 31, Nr. 91. 910 E. S, Erscheinungsformen der Armut (7.–7.5), S. 668–671 (mit Literatur). 911 W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 403–416.

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trafen, bei Totschlag (mord), Brand, Gefangennahme, Beschlagnahmung von Gütern, Lösegeldforderungen (Schatzungen), unrechtmäßigen Fehden, Drohungen und anderem. Handelte es sich um Rechtshilfe für mehrere Verwandte oder Gesellschafter, sollte der Kleine Rat bei internen Streitigkeiten über die jeweiligen Anteile an restituierten Gütern oder über die interne Kostenverteilung entscheiden. Zürich schloss 1439 im Zuge von Sparmaßnahmen die Rechtshilfe in geringfügigen Sachen aus, da sie unverhältnismäßige Kosten verursacht habe. Auf Ersuchen von Bürgern wandte sich der Rat mit ›Zuversichtsbriefen‹ (tovorsichten, literae respectivales) an andere Städte mit der Bitte, den Gesuchsteller bei seiner dortigen Rechtsverfolgung zu unterstützen oder diese zu erleichtern. Der Rat wurde vor allem bei Personenund Güterarrest oder bei Beschuldigungen gegenüber seinen Bürgern auch international tätig, so etwa der Kölner Rat im Kon ikt der Hanse mit England bei König Eduard IV. 1468/69 sowie bei den engsten königlichen Berater wie dem Kanzler, dem Bewahrer des Privy seal, dem Schatzkanzler und den Erzbischöfen von Canterbury und York. Er intervenierte ferner mehrfach im Hinblick auf den intensiven Handel der Kölner in Flandern beim Herzog von Burgund, wegen Bekümmerungen Kölner Kau eute seit 1453 beim König von Dänemark und Norwegen und Mitgliedern des Reichsrats sowie 1471 beim Vorsteher der Stadt Paris, bei König Ludwig XI. von Frankreich und dessen Kanzler.⁹¹² 4.7.4 Das Stadtgericht 4.7.4.1 Gerichtsverfassung Die Stadtgerichte waren örtlich und zeitlich unterschiedlich konstituiert und wandten ein sich wandelndes Verfahrensrecht an. Die Schöffen des Stadtgerichts, die auch Richter genannt wurden, konnten einen personell vom Rat getrennten Spruchkörper bilden, andererseits Mitglieder des Rats sein, ferner teilweise oder ganz aus den amtierenden Ratsmitgliedern, eventu-

ell einschließlich deren Vorgängern, stammen. Sie konnten von einem Kreis der Bürger, durch den Rat oder in den Zünften gewählt werden. Die Frankfurter Schöffen, welche die erste Bank des Rats bildeten, fungierten zugleich als Stadtgericht mit der Bezeichnung Gericht des Reichs. Für eine Gerichtssitzung waren mindestens drei Schöffen erforderlich, die sich jeden Sitzungstag abwechselten und die je nach Sache weitere Schöffen bei ihrem Eid hinzuziehen konnten, wenn es ihnen erforderlich erschien. Darüber hinaus konnte jeder Schöffe an das Gericht gehen, wie er es vor Gott verantworten wollte. In Nördlingen etwa hatte reihum ein Viertel der Ratsherren für einen Monat im Stadtgericht zu amtieren. Insoweit gab es vielfach personelle Verbindungen zwischen Stadtgericht und Rat. In Rottweil amtierten dreizehn Ratsherren, die Richter genannt wurden und zunächst aus dem Patriziat, dann auch aus den Zünften stammten, als Urteiler im Stadtgericht und zugleich zusammen mit einer Anzahl von Rittern als Urteiler (Beisitzer, Assessoren) unter dem Vorsitz des Grafen von Sulz in dem in Rottweil ansässigen königlichen Hofgericht, dem höchsten Reichsgericht in Schwaben, wie auch der Rottweiler Stadtschreiber zugleich Hofgerichtsschreiber war. Die Richter ergänzten sich vermutlich durch Kooptation, bis mit dem Eintritt der Zünfte in die Stadtregierung ein siebenköpger Wahlausschuss unter Beteiligung der Zünfte die Urteiler für eine Amtszeit von einem Jahr wählte. In Nürnberg wurden im ausgehenden 15. Jahrhundert die acht urteilenden Beisitzer des ehemals stadtherrlichen, immer noch nominell kaiserlichen Stadtgerichts vom Kleinen Rat aus dem Kreis der zuvor von ihm bestimmten Genannten, den Angehörigen des Großen Rats, ausgewählt. Das Gericht war in späterer Zeit in zwei Senate (Tische) eingeteilt, die jeweils unter Vorsitz eines Ratsherrn tagten. Es handelte sich um Rechtshonoratioren, die jedoch keinen geschlossenen und selbstbewussten, mit ihrer Spruchpraxis ein spezi sches Schöffenrecht

912 H. . L (Hg.), Die Kölner Zunfturkunden II (8.2–8.4), Nr. 602 b, S. 380 f.

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in sich bergenden Verband bildeten wie etwa die Angehörigen des Magdeburger Schöffenstuhls. Zugleich war jedem der Senate ein Ratsjurist beigeordnet. Klagen, Einreden (Auszüge, exceptiones), Reden und Gegenreden wurden in schriftlicher und mündlicher Form entgegengenommen, und in jeder Sache wurde nach der Prozessordnung verfahren. Der Stadtrichter hatte die Urteile zu vollstrecken, formell über das Blut zu richten und bei der peinlichen Frage (Folter) anwesend zu sein. In Zivilsachen war eine Appellation an den Rat und bei einem bestimmten Streitwert von dort aus an das königliche Kammergericht möglich. In Köln und in niederrheinischen Städten bestanden vom Rat getrennte und von der Oberschicht oder den Geschlechtern beherrschte Schöffenkollegien, die neben der Rechtsprechung zugleich und noch längere Zeit Verwaltungsaufgaben wahrnahmen. In Ulm existierte zwar ein Stadtgericht, das jedoch von zwölf Ratsherren (Richter) gebildet und in drei Spruchkörper (Teile) eingeteilt wurde und deshalb nach Zeugnissen des späten 15. Jahrhunderts von der Konkurrenz des Ratsgerichts, das die Fälle an sich zog, überspielt und weitgehend aufgesogen wurde. Schon früher ergab sich das Problem, dass am Stadtgericht urteilende Ratsherren sich während der Gerichtssitzungen im Rat befanden oder Aufträge des Rats wahrnahmen.⁹¹³ In Augsburg wiederum wählte der Kleine Rat seit 1368 nach einem Proporz aus den Geschlechtern (4) und Zünften (8) die zwölf urteilenden Mitglieder (Richter) des Stadtgerichts aus, die unter dem Vorsitz der beiden Bürgermeister, dann zweier Ratsherren und schließlich der alten Bürgermeister tagten. Die Vorsitzenden hatten die ersten Urteilsvorschläge zu machen und stimmten mit. Während des Regimes des Ulrich Schwarz wurde der Proporz wiederum zum Politikum und zugunsten der Zünfte, und damit

auch der kleineren unter ihnen, geändert. Die Geschlechter stellten nur noch einen Richter, die Zünfte nunmehr elf. Um 1480 erhielten die Geschlechter und die Kau eutezunft die Quote von jeweils zwei Richtern und die Weber von einem Richter zugewiesen, während die Zünfte die übrigen sieben in freier Wahl zu bestimmen hatten. Immer wieder wurde die mangelnde Amtsauffassung der Richter beanstandet, da sie Sitzungen vorzeitig verließen oder unentschuldigt fehlten. Eine Reformkommission unter dem Vorsitz Dr. Konrad Peutingers im Auftrag des Rats stellte 1507 fest, dass die alten Gebräuche am Stadtgericht völlig im Widerspruch zu den gemeinen geschriebenen kaiserlichen Rechten sowie den Ordnungen und Gewohnheiten des königlichen Kammergerichts stünden und die Parteien deshalb erhebliche Kosten und eine schlechte Behandlung (Verwahrlosung) ihrer Streitsachen erleiden müssten. Um Spott und Schaden vom Gericht zu wenden, machte die Kommission Vorschläge zur Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren.⁹¹⁴ Das Basler Stadtgericht, von dem es keine Appellationsmöglichkeit gab, war unter dem Regime der Zünfte seit 1385 so konstituiert, dass das Schultheißenamt mit Leuten aus dem Handwerkerstand und schließlich auch die Urteilerbank mit Zünftigen besetzt wurde, sodass jetzt Krämer und Handwerker, nicht mehr wie früher patrizische Achtburger und Großkaufleute Recht sprachen und das Gericht etwa in Handelssachen aus sich selbst heraus keine ausreichenden Rechtskenntnisse mehr besaß, sondern bei Kau euten Informationen über die Rechtsverhältnisse einholen musste.⁹¹⁵ Wie Mitte des 16. Jahrhundert ein kaiserlicher Kommissar ermittelte, waren in kleinen südwestdeutschen Reichsstädten das Stadtgericht und das Ratsgericht ohnehin ein Ding. In der kurpfälzischen Landstadt Neustadt bil-

913 C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm, Nr. 146, S. 79 f. 914 J. R, Für den Gemeinen Nutzen (4.1–4.3), S. 158–163. 915 Handwerker und Krämer waren den wachsenden Anforderungen der auf dem Hintergrund einer sozialen und wirtschaftlichen Differenzierung immer komplizierteren Rechtsfälle nicht immer gewachsen. Außerdem ging ihnen das für Rechtshonoratioren erforderliche soziale Prestige ab, und die handwerklichen Mitglieder konnten aus Erwerbsgründen nur mangelhaft ihre Präsenzp icht erfüllen. H. -R. H, Basler Rechtsleben im Mittelalter II (2.2–2.4), S. 19 f.

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deten der Schultheiß als Richter und die Ratsherren als Urteiler das Stadtgericht. 4.7.4.2 Urteiler, Verfahren und Rechtskultur Die Schöffen der ursprünglich stadtherrlichen Stadtgerichte oder die Lübecker Ratsherren als Richter des Ratsgerichts waren sozial geprägte Rechtshonoratioren⁹¹⁶, die sich durch Lebenserfahrung, persönliche Autorität und empirisch gewonnene Rechtskenntnisse auszeichneten und besonders im Falle der Magdeburger Schöffen durch kontinuierliche Rechtsprechung im gefestigten Spruchkörper ein kollektives Gedächtnis formten.⁹¹⁷ Prozessual wandten sie, abgesehen von den Ratsherren Lübecks, ein aus dem Landrecht stammendes formales, zunehmend jedoch auch ein nach materieller Wahrheit strebendes Beweisverfahren an oder nahmen dort, wo anders als in Magdeburg der Rat Ein uss nehmen konnte, sogar Elemente eines nach Grundsätzen des römisch-kanonischen Rechts reformierten Verfahrens auf. Diese Entwicklung förderten aber auch die noch seltenen rechtsgelehrten Mitglieder des Schöffenkollegs, Prozessparteien und ihr gelehrter Rechtsbeistand oder Stadtjuristen, welche ausweislich ihrer Gutachten die Geltung des gelehrten Prozesses längst voraussetzten. Die alten, für uns »irrationalen«, d. h. jedoch formalen Beweismittel und die Schöffensprüche besaßen ihre je eigene Rationalität.⁹¹⁸ Da es im mittelalterlichen Prozess keine Ur-

teilsbegründungen gab, bleiben die Entscheidungsgründe weitgehend verborgen. Im 13. und 14. Jahrhundert handelte es sich bei dem Urteil der Schöffen noch überwiegend um »die im Gericht gefundene Aussage über die Rechtslage, die Feststellung des in dieser Lage zu beachtenden Rechts«, d. h. um Beweisurteile mit prozessualem Charakter. »Das Urteil sagt nur aus, welche Partei ›nach Recht‹ ihre Darstellung durch Eid zu ›beweisen‹ hat, und was Rechtens ist, wenn sie den Eid geleistet hat bzw. wenn sie den Eid nicht leistet.«⁹¹⁹ Erst allmählich wurden Endurteile häu ger, die eine Sachentscheidung treffen. Die Urteile etwa der Magdeburger und der ins Landrecht wirkenden Ingelheimer Schöffen fanden dann zu einem prägnanten rechtlichen Ausdruck, auch wenn die angewandten Regeln nicht abstrakt formuliert wurden und das Recht unmittelbar und konkret in der Entscheidung eines bestimmten Falles zutage trat, die Begründungen in der ausführlichen Mitteilung des Sachverhalts aufgingen.⁹²⁰ Die formelhafte und autoritativlakonische Ausdrucksweise der Lübecker Ratsurteile wurde von den Ratsherren 1402 selbst charakterisiert: unse recht ist der worden kortlik,

916 Zu den Rechtshonoratioren und zur empirischen Lehre der Praktiker siehe M. W, Rechtssoziologie, S. 189–201; ., Wirtschaft und Gesellschaft (1.2), S. 456–468. 917 Zum Dualismus zwischen Richten und Urteilen und zum Übergang vom Spruchkörper bis hin zu dem selbst das Recht suchenden und urteilenden Richter und zur Rechts ndung ›nach Buchsage‹ siehe H. S, Spätmittelalterlicher Zivilprozeß, S. 392–411. Zum Streitverfahren am Basler Stadtgericht siehe H. -R. H, Basler Rechtsleben im Mittelalter II (2.2–2.4), S. 69–117. 918 K. N- S, Die Krise des »irrationalen« Beweises im Hoch- und Spätmittelalter. 919 W. E, Geschichte der Gesetzgebung (2.2–2.4), S. 15. 920 G. G, Die Begründung in den Schöffensprüchen des 14. und 15. Jahrhunderts, 1960; ., Der Oberhof Ingelheim, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 81 (1964), S. 267–297. »Das Recht erschien der älteren Auffassung nicht als Norm […], sondern als Sinngehalt des beurteilten Lebensverhältnisses; es ist, wie die aufgezeichneten Schöffensprüche erkennen lassen, nur in sehr geringem Maße begrifflich erfaßbar und theoretisch lehrbar.« F. W, Privatrechtsgeschichte (2.2.–2.4), S. 112. Zu den Kategorien des rationalen Rechtsdenkens und zur irrationalen Rechtschöpfung und Rechts ndung siehe auch M. W, Rechtssoziologie, S. 100–103, 217–223.

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der saken witsichtig – unser Urteil ist knapp an Worten, in der Sache weitsichtig.⁹²¹ Es ist aber die Frage, wie lange dort, wo es diese fest gefügten Spruchkörper nicht gab, die durch soziale Autorität der Schöffen abgestützte rechtliche Geschlossenheit, die darauf beruhte, »dass der streitige Tatbestand dem Urteiler sinnfällig und anschaulich blieb, und dass sein Rechtsbewusstsein dem seiner Rechtsgenossen überzeugend entsprach«⁹²², angesichts einer zunehmenden sozialen und wirtschaftlichen Differenzierung andauern konnte. Es handelte sich um eine ungelehrte Rechtsprechung von nebenamtlich tätigen Laien. Das Straßburger Ratsgericht wurde bereits im frühen 13. Jahrhundert zur Rechtsprechung aufgrund der ermittelten materiellen Wahrheit verp ichtet. Aber auch in anderen Gerichten schob sich im Prozessrecht das materielle Recht in Form der privilegialen Stadtrechte und der Satzungen zunehmend gegenüber dem das Verfahren beherrschenden formalen Beweisrecht in den Vordergrund. Dadurch mussten die Urteiler aber nicht mehr vornehmlich »Verfahrensregeln handhaben, sondern regelmäßig auch Sachentscheide treffen«, ohne dass ihnen wie den gelehrten Juristen »ein umfassendes System abstrakter materieller Normen« und die wissenschaftliche Arbeitsweise und Subsumtionstechnik der Juristen zur Verfügung standen. Wo sie sich nicht auf Gewohnheiten und Satzungen stützen konnten, urteilten sie nach ihrem Ermessen, ex aequo et bono und nach dem arbitrium judicum, woraus die Gefahr entstehen konnte, dass sich in der Rechtsprechung des Gerichts auf bestimmten Gebieten eine Abfolge heterogener Einzelentscheidungen ohne geschlossenen Zusammenhang ergab. Die Basler Handwerker und Krä-

mer entschieden im Stadtgericht (Schultheißengericht) etwa Streitigkeiten aus dem Ehegüterrecht »mit bemerkenswerter Folgerichtigkeit und Kontinuität«, waren jedoch Handelsprozessen, die etwa in Fragen einer schwer durchschaubaren Buchführung hineinführten, wenig gewachsen.⁹²³ Die Rechtskontinuität im ungeschriebenen Gewohnheitsrecht konnte aber auch durch einen personenbedingten Traditionsbruch gefährdet sein. In Ulm wurde der Rat bewogen, zwei herkömmliche Rechtssätze zum Erbrecht der Ehegatten und zum lehnrechtlichen Besitzrecht durch Satzung zu xieren, weil in kurzer Zeit viele weise und alte Richter (Urteiler) des Stadtgerichts und Ratsherren, die Stadtrecht und Herkommen kannten und es wiesen, wie es von den Vorfahren gehalten wurde, gestorben seien.⁹²⁴ Es handelte sich um eine Rechtsprechung von Laien, da die Richter und Urteiler nicht die Rechte studiert hatten, doch hatten diese durchaus Zugang zu juristischem Fachwissen insbesondere in Gestalt rechtspraktischer Literatur, welche die Ratsbibliotheken bereithielten, sofern sie sich nicht ohnehin durch rechtserfahrene oder studierte Stadtschreiber und gelehrte Juristen beraten lassen konnten. In den ein ussreichen Leipziger Schöffenstuhl drangen andererseits seit dem späteren 15. Jahrhundert Doctores iuris der Universität ein. Die Rechtsgelehrten versahen im 16. Jahrhundert als Besonderheit ihre Sprüche mit einer mehr oder weniger ausführlichen Darlegung der Entscheidungsgründe, wobei sich die Allegationen ganz überwiegend (88%) auf das römisch-kanonische Recht bezogen und zu einem geringen Teil (12%) auf das gemeine Sachsenrecht und Reichsgesetze. Entsprechend der Haltung des Reichskammer-

921 W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), Vorsatzblatt. 922 F. W, Privatrechtsgeschichte (2.2–2.4), S. 112. 923 R. H, Basler Rechtsleben II (2.2–2.4), S. 349 f. Gunter Gudian vertritt die Ansicht, dass sich in den Sprüchen der Ingelheimer Schöffen im frühen 15. Jahrhundert »ein geschlossenes, in sich folgerichtiges und so gut wie widerspruchsfrei gehandhabtes Recht« offenbare. G. G, Ingelheimer Recht im 15. Jahrhundert, Aalen 1968, S. 3. Die Auffassungen reichen in den Extremen von der Quali zierung von Schöffensprüchen als Orakel und Billigkeitsjustiz bis hin zur Wertschätzung als Produkt begrifflicher Gedankenarbeit mit einem festen und stets verfügbaren Bestand an Regeln. Siehe dazu K. K/A. C/K. N- S, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2 (2.0), S. 88 f. 924 C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm, Nr. 252, S. 135 f.

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gerichts akzeptierten sie unter dem Vorbehalt des Beweises seiner Geltung Partikularrecht in Form lokaler Statuten und Gewohnheiten.⁹²⁵ Die Stadtrechtsreformationen des ausgehenden 15. Jahrhunderts zeugen von einer Krise auch der Rechtsprechung auf der Grundlage einer schwerfälligen Verfahrensordnung und eines nicht mehr zweifelsfreien materiellen Rechts. Die Kritik des Basler Kanonisten Peter von Andlau richtet sich kurz nach der Mitte des 15. Jahrhunderts gegen eine ungelehrte Rechtsprechung, welche die gerechtesten Gesetze und das geschriebene Recht nicht beachte, sodass man stattdessen nach einem unsicheren Recht (ius incertum) lebe, und in der Vielzahl der Ungelehrten (illiterati) zeige es sich, dass jeder seinem Gutdünken Gesetzeskraft beimessen wolle. Daraus ergebe sich eine gefährliche und unbeständige Urteilssprechung. Der gute Richter urteile hingegen nicht nach seinem persönlichen Gutbedünken oder nach zu Hause gefassten Meinungen, sondern nach dem Sachverhalt und nach Recht und Gesetzen.⁹²⁶ Der durch einen archaischen und rituellen Rechtsformalismus gekennzeichnete, durch Statusdenken an der vollen Rechtsfähigkeit, an ständischer Ehre und Leumund orientierte landrechtliche Prozess, der dem beklagten unbescholtenen Freien das Recht zur eidlichen Reinigung und damit letztlich Verfahrensherrschaft einräumte⁹²⁷, erhielt in der nach Rechtsgleichheit der Bürger und Bewohner strebenden (größeren) Stadt die längerfristig unwiderstehliche Konkurrenz durch ein modernes Prozessrecht, das auf der Grundlage des römischen Rechts durch die Kanonistik und den geistlichen ordo iudiciarius⁹²⁸ geprägt war. Dies gilt auch für den auf die materielle Wahrheit ab-

zielenden strafrechtlichen Inquisitionsprozess, dem das Vorbild der Kirche im weltlichen Bereich, immanente Ansätze und Tendenzen verstärkend, zumindest zum Durchbruch verholfen hat, falls es sich nicht doch um einen eindeutigen und stringenten Rezeptionsvorgang handelte. Aber auch den weltlichen Zivilprozess bestimmte zunehmend, allerdings mehr oder weniger, der römisch-kanonische Prozess mit seinem schriftlichen und nichtöffentlichen, stufenweise voranschreitenden Verfahren, der Trennung zwischen dem Sachverhalt und seiner rechtlichen Würdigung, der Zulassung ausschließlich rationaler Beweismittel und schließlich auch der Einführung geordneter Instanzenzüge.⁹²⁹ Solche Entwicklungen wurden durch das Vorbild der auch von Bürgern gelegentlich bevorzugten geistlichen Gerichte und die Existenz gelehrter Juristen gefördert, die zunehmend auch in den alten Verfahren als Parteienvertreter und Advokaten tätig waren und den römisch-kanonischen Prozess, den ihnen das Studium vermittelt hatte, Generationen vor der Reform des kaiserlichen Kammergerichts von 1495 als den ordentlichen betrachteten. Der Nürnberger Rat bediente sich für die Urteils ndung sowohl im Ratsgericht als auch im Stadtgericht der Hilfe der Ratsjuristen, die auch zu einzelnen Verfahrensfragen wie Appellation, Zeugen und Beweis Gutachten erstatteten und ferner nach der Mitte des 15. Jahrhunderts die Bemühungen des Rats um Verfahrensbeschleunigung und Prozessökonomie am Stadtgericht durch Gutachten unterstützten.⁹³⁰ Da es im mittelalterlichen Prozess keine Urteilsbegründungen gab, können Entscheidungsgründe allenfalls im Hinblick auf positive Stadt-

925 J. P, Leipziger gelehrte Schöffenspruchsammlung (2.2–2.4). 926 P  A, Kaiser und Reich. Libellus de Cesarea Monarchia, hg. von R. A. M, Frankfurt a. M./Leipzig 1998, S. 286. Peter von Andlau allegiert das Decretum Gratiani C3 q.7 c.4: Bonus judex nichil ex arbitrio suo facit, et domestice proprie voluntatis, sed juxta jura et leges pronunciat, nichil paratum et meditatum de domo defert. 927 K. N- S, Die Krise des »irrationalen« Beweises im Hoch- und Spätmittelalter, S. 36 f. 928 L. F-M, Repertorien zur Frühzeit der gelehrten Rechte: Ordo iudiciorum vel ordo iudiciarius, Frankfurt a. M. 1984. 929 W. S, Zur Rezeption des römischen und kanonischen Rechts (2.2–2.4), S. 145. 930 E. I, Gelehrte Juristen und das Prozeßgeschehen (2.2–2.4).

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rechte und Aussagen über das Herkommen vage vermutet werden. Aufschlüsse über den Prozessverlauf geben überlieferte Prozessprotokolle mit Prozessreden und dem Rechtsatz, dem zu Recht setzen, d. h. der förmlichen Bitte um ein Urteil, oder Urteile, welche knapp die kontradiktorischen Tatsachenbehauptungen und Rechtspositionen referieren. Auf einem anderen Feld, in den mindestens seit dem 14. Jahrhundert stärker nachgefragten Rechtsgutachten und den Urteilsvorschlägen der Rechtsgelehrten, werden die prozessualen und materiellen Rechtsfragen von Prozessen argumentativ und diskursiv dargeboten und Entscheidungsgründe (rationes decidendi) erkennbar. Die Konsilien und Urteilsvorschläge geben Auskunft über die methodische Rationalität und intellektuelle Arbeit der Juristen für die Praxis der Rechtsprechung sowie über den Stand der Rezeption des römischkanonischen Rechts in Deutschland. Von hier aus lassen sich als weiteren Schritt die Urteilsbegründungen des Leipziger Schöffenstuhls im 16. Jahrhundert erklären. 4.7.4.3 Niedergerichtsbarkeit Das Stadtgericht war zunächst das Niedergericht des stadtherrlichen Schultheißen, Ammanns oder Burggrafen und entschied über Vermögen, Eigen und Erbe, Schuldklagen und Pfandsachen. Ursprünglich und solange die entsprechende Ratsgerichtsbarkeit noch nicht entwickelt war, hatte es die Markt- und Gewerbepolizei innen und urteilte über Straffälle, die dem Beklagten nicht an Leib und Leben gingen. Außerdem war es in der freiwilligen Gerichtsbarkeit tätig. Über schwere, peinlich zu bestrafende Delikte urteilte ursprünglich das Gericht des vom König mit Banngewalt belehnten Vogts. Die Stadt nahm bereits Ein uss auf die Besetzung des Stadtgerichts, als Schultheiß oder Ammann durch den Rat gewählt wurden. Im Falle Ulms ist die Wahl bereits 1296 in Stadtrechtsmitteilungen erwähnt; Karl IV. bestätigte das Recht zur Wahl durch ein Privileg von 1347.

In Augsburg verdrängte jedoch der vom König eingesetzte Vogt, der ursprünglich nur die hohe Gerichtsbarkeit besaß, schrittweise den bischö ichen Burggrafen und übernahm noch vor der Mitte des 13. Jahrhunderts dessen städtische Gerichtsbarkeit. Das lübische Vogtgericht (Vogtding) hingegen war das einzige, gleichfalls mit königlicher Autorität (Banngewalt) ausgestattete Gericht und besaß im 12./13. Jahrhundert eine unbeschränkte Zuständigkeit, auch für die Blutgerichtsbarkeit, für Sachen, die an Hand und Hals gingen. Mitte des 14. Jahrhunderts kam möglicherweise mit einer Einschränkung der Zuständigkeit durch das Ratsgericht für das Vogtgericht die Bezeichnung ›Niedergericht‹ auf. Im lübischen Gerichtswesen gab es keine Schöffenbänke. Der Vogt, der später im Vorsitz von den beiden vom Rat abgeordneten Gerichtsherren (Richteherren) abgelöst wurde, entbot eine kleine Anzahl geeigneter rechtskundiger Bürger als Urteiler zum Gericht. Deren Sprecher (rechtdeler, rechtvinder) machte einen Urteilsvorschlag, der, wenn er gebilligt wurde, von ihm dem Gericht eröffnet und von den Vorsitzenden als Urteil verkündet wurde. Spätestens um 1600 lag in Lübeck die Urteils ndung unter Vorsitz der beiden Gerichtsherren des Rats bei den etwa vier, nunmehr rechtsgelehrten Prokuratoren, die aus den alten Vorsprechern hervorgegangen waren, von denen die aktuell freien, die nicht als Parteivertreter fungierten, herangezogen wurden. Bei Einsprüchen gegen das Urteil des Niedergerichts ging die Sache an den Rat. Das Gericht tagte ursprünglich öffentlich unter freiem, blauem Himmel oder unter Wolken auf dem Markt, an das Rathaus angelehnt oder in einer ihm vorgebauten Laube. Als Vorsitzender des Stadtgerichts bannt der Schultheiß oder der Stadtrichter das Gericht, hegt es und bewirkt dadurch den Gerichtsfrieden.⁹³¹ Er verbietet das Auseinandergehen und im Innern jede Störung; er verbietet Unrecht und

931 F. W, Privatrechtsgeschichte (2.2.–2.4), S. 103; J. J. W. P, Das deutsche Gerichtsverfahren im Mittelalter, Bd. I, 1, S. 131 f.

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erlaubt das Recht. Sodann versieht er Aufgaben, die der Vorbereitung und der Durchführung des Gerichtsverfahrens dienen; insbesondere ist er mit der Beweisaufnahme, die sich auf den Zeugenbeweis stützt, befasst. Diese ndet im mündlichen und öffentlichen Prozess vor dem Richter und den Urteilern sowie im Beisein der Parteien statt, bis sie um 1500 im Zusammenhang mit der Rezeption und der Reform des Prozessverfahrens als Verstoß gegen die Form des Rechts erachtet und zur nichtöffentlichen, schriftlich festgehaltenen Einzelvernehmung vor Stadtrichter und Stadtschreiber umgestaltet wird. Schließlich nimmt der Richter zur Rechts- und Urteils ndung die Umfrage unter den ursprünglich amtslosen, dann amtsrechtlich fungierenden Schöffen vor. Mit dem Übergang des Schultheißenamtes oder der Vogtei an die Kommune wurde das Stadtgericht, so wie das lübische Vogtgericht, zur »Gerichtshalterei«, zum richterlichen Organ des Rates.⁹³² Es fällte Entscheidungen in vermögensrechtlichen Streitsachen und Injuriensachen in erster Instanz. Außer in Bagatellsachen war die Berufung an den Rat meist zulässig. In Rottweil wirkte der Schultheiß gelegentlich in Güteverfahren mit Vergleichsversuch mit, und zwar in einfacheren Fällen umb schult, lon, gelihen gelt oder zins. Mit dem Dreimannengericht gab es eine weitere Stufe unterhalb des ordentlichen Stadtgerichts.⁹³³ Das Stadtgericht war neben dem Rat weiterhin auch an der freiwilligen Gerichtsbarkeit, etwa in Vormundschaftssachen, beteiligt. Prozesse wurden nicht selten unterbrochen, um den Parteien eine gütliche oder schiedsgerichtliche Streiterledigung zu ermöglichen, und wieder aufgenommen, wenn diese gescheitert war. Das stadtherrliche Gericht war ein Gericht in herkömmlichem, landrechtlich bestimmtem

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Sinne und blieb es nach Verfassung und Verfahren auch dann noch, als der stadtherrliche Amtsträger zu einem solchen von Stadt und Rat geworden und das Gericht völlig in die Hand des Rates und unter die Leitung von deputierten Ratsherren (Gerichtsherren) gelangt war. Das Münchner Stadtrecht bestimmt 1347 und vorher, dass sich der Stadtrichter daran zu halten hat, was an Gesetzen von den Bürgern und dem Rat erlassen, verändert oder außer Kraft gesetzt wird.⁹³⁴ Dem Rat steht die authentische Interpretation des Stadtrechts zu. Wenn der Richter, der grundsätzlich nicht Bürger sein darf, mit jemandem über ein Gesetz der Stadt in einen Auslegungsstreit (chrieg) gerät, soll die strittige Rechtsnorm dem Rat in Gegenwart des Richters verlesen werden. Was der Rat dann ›für rechtens erkennt, ist für Recht zu erachten und stetiglich zu halten‹.⁹³⁵ Durch seine Entscheidungen füllte der Rat Lücken in der städtischen Rechtsordnung aus. Gemäß einer Satzung der Bürger sollen Klagen gegen den Stadtrichter wegen rechtswidriger Gewalt oder Unrecht, Hass oder Feindschaft vor den Rat, nicht vor den herzoglichen Stadtherrn gebracht werden. Ein Ratsherr braucht einer richterlichen Ladung nicht Folge zu leisten und verliert sein Recht nicht, wenn er zur gleichen Zeit an einer Ratssitzung teilnimmt, es sei denn, er wird in einem Rechtsstreit mit einem – reisefertigen – Gast vorgeladen.⁹³⁶ Schon der stadtherrliche Schultheiß als Richter leitete nur die Gerichtssitzung und war an das Urteil der bürgerlichen Beisitzer und Schöffen gebunden, die ihre Rechtsvorstellungen zur Geltung bringen konnten. Es handelte sich ursprünglich um eine sogenannte dinggenossenschaftliche Rechts ndung⁹³⁷ auf der Grundlage des Gewohnheitsrechts, insoweit Ratssatzungen berücksichtigt wurden, um

W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 328. J. L, Reichsstadt Rottweil (2.5.2–2.5.4), S. 180. F. A (Hg.), Das Stadtrecht von München (2.2–2.4), S. 278, Art. 39 (vor 1347). Ebd., S. 118, Art. 308. P. D (Bearb.), Denkmäler des Münchener Stadtrechts I (2.2–2.4), S. 157 f. F. A (Hg.), Das Stadtrecht von München, S. 215, II, Art. 45 (im Kundschaftsrecht); S. 278, 285, VII, Art. 41, 77; S. 279, VII, Art. 43. 937 J. W, Dinggenossenschaft und Recht.

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Rechtsanwendung, Richten nach dem Buch (Stadtbuch). Ein Schöffe wurde mit der Formulierung eines Urteils beauftragt, das sich dann die Gesamtheit durch Umfrage des Richters zueigen machte. Durch die Verkündigung wurde der gebilligte Urteilsvorschlag zum Urteil. Gerichte konnten sich von Oberhöfen Rechtsrat und Urteilsvorschläge erteilen lassen. Wenn sie sich an gelehrte Juristen, an die Ratsjuristen und Stadtadvokaten oder andere Rechtsgelehrte wandten, wiesen diese die Rechtslage nach römisch-kanonischem Recht auf und beurteilten den Geltungsanspruch von städtischem Herkommen und Statutarrecht nach Regeln des gemeinen Rechts. Das Verfahren war mündlich, doch drang mit der Übernahme von Elementen des gelehrten römisch-kanonischen Rechts auch Schriftlichkeit vor. Die Parteien bedienten sich, wenn sie es wollten, als Beistände für einzelne Prozessklagen gewerbsmäßiger Vorsprecher – Vorsprake, Fürsprecher, Redner, rhetor, prolocutor, causidicus – oder erhielten solche, häu g Ratsherren oder frühere Bürgermeister oder Verwandte und Freunde, vom Gericht. Diese standen neben ihren Auftraggebern vor dem Gericht und gaben ihnen Ratschläge, die von diesen gebilligt werden mussten oder eventuell abgeändert wurden. Die persönliche Vertretung erfolgte davon getrennt durch besondere prozessbevollmächtigte Prokuratoren. Der Rat gab verschiedentlich dem Stadtgericht eine Verfassungsund Verfahrensordnung und versuchte, die Gerichtsreden im Sinne der Prozessökonomie und -beschleunigung zu regulieren. In Orientierung an der im kanonischen Recht vor ndlichen Aufteilung der Anwaltsgeschäfte auf Prokuratoren und Advokaten und wegen der zunehmenden Schriftlichkeit des Verfahrens entstand im 15. Jahrhundert als weiterer Anwaltsberuf der des Advokaten. Der Advokat nahm die Informationen seiner Partei auf, verfasste die Schriftsätze und instruierte den Prokurator und eventuell einen Fürsprecher, welche die Sache dann, häu g gemeinsam mit dem Advokaten, anstelle der Partei vor dem Gericht vertraten.

4.7.4.4 Hoch- und Blutgerichtsbarkeit Die Hoch- und Blutgerichtsbarkeit über schwere Delikte, die mit Leibes- und Lebensstrafen geahndet wurden, d. h. in peinlichen Sachen (Hals- und Handsachen), lag samt der Vollstreckungsgewalt bei dem – unmittelbar oder mittelbar vom König – mit der Banngewalt, dem Blutbann belehnten Vogt als landrechtlichem Richter. Sie ging später vielfach an den Schultheißen oder Ammann über und gelangte über diese Station an den Rat; in anderen Fällen kamen vogteiliche Befugnisse unmittelbar an den Rat. Der Blutbann wurde auf Lebenszeit einem Mitglied des Rates verliehen (Nürnberg), das kraft Reichsrechts befugt und kraft seines Ratseids verp ichtet war, den Blutbann nach dem Willen und Befehl des Rates an einen Dritten – den Stadtrichter – weiterzuverleihen. In anderen Fällen wurde das Recht, den Blutbann zu erteilen, in der kommunalisierten Form einer ewigen Leihe dem Bürgermeister zuerkannt, so in Ulm durch Privileg König Wenzels von 1397. Das Frankfurter Schöffengericht war für straf- und zivilrechtliche Sachen zuständig, bis die Strafgerichtsbarkeit immer mehr auf den gesamten Rat überging, in dem die Schöffen eine eigene Bank hatten. Der alte Prozess war Anklageprozess (Akkusationsprozess) – »wo kein Kläger (ist), da (ist) kein Richter« –, der mit formalen Beweismitteln geführt wurde. Die Schöffen fällten ein Beweisurteil; wer durch Urteil zum Beweis zugelassen wurde, hatte gewonnen. Die Eideshelfer schworen, dass der geleistete Eid des Eidführers rein und nicht mein, lauter und nicht falsch sei. Von diesen konstitutiven Elementen war der Prozess noch lange geprägt, doch kamen unter dem Eindruck des römisch-kanonischen Rechts und des Verfahrens an den geistlichen Gerichten verstärkt neue Verfahrensregeln und Beweisformen auf, wodurch sich zunächst Mischformen bildeten. Im gelehrten Anklageprozess hingegen erkannte das Gericht auf der Grundlage einer rationalen Tatsachenermittlung und Beweiserbringung. Die Beweise musste grundsätzlich der

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Kläger vorlegen, während der Angeklagte sich durch Gegenbeweise entlasten konnte. Der Ankläger konnte auf die Durchführung des Prozesses dringen, unterlag aber insoweit einem Prozessrisiko, als er zu Schadensersatz verurteilt werden konnte, wenn er den Beweis schuldig blieb. Der Richter war streng an den vom Kläger eingebrachten Tatbestand gebunden, er hatte darauf zu sehen, dass sich die Fragstücke darauf bezogen, und die Gestaltung der Positionen beim Zeugenbeweis zu überprüfen und zur einwandfreien Klärung des Geständnisses auch zusätzliche Erkundigungen einzuziehen. Er war aber nicht an den Klageantrag gebunden, sondern entschied selbst. In dem neuen Akkusationsprozess durfte auch die Folter angewandt werden. Diese gelehrte Prozessform hatten die Stadtjuristen studiert; es war eine Frage, wieweit ihr Ein uss reichte, um sie sie auf dem Wege der Gesetzgebung und in der Praxis noch vor der »Constitutio Criminalis Carolina« von 1532 durchzusetzen. Im Zuge der Gerichtsherrschaft des Rates lagen die Erhebung der Anklage und die Untersuchung zwar beim Stadtgericht, doch steuerte der Rat in einem formfreien Vorverfahren durch Zwischendekrete die Fragstücke und die peinliche Befragung (Folter) und sprach durch interne Rechts ndung das Urteil. In Nürnberg war eine bestimmte Anzahl der bei der Ratswahl bestimmten, dem Rat angehörenden dreizehn geschworenen Schöffen, soweit sie nicht dem Gremium der Älteren Herren angehörten, bei der Folter anwesend und bezeugte das Geständnis (urgicht); alle Schöffen gemeinsam hatten schließlich förmlich und de nitiv über das Blut zu richten, wiewol sie nichts anders urthailen dann was zuvor durch ein gantzen rath beschlossen

ist. Dr. Scheurl, der dies mitteilt, begründet die Folgep icht der Schöffen mit dem Ratseid, der die Ratsherren verp ichte, der maisten stim, ungeacht welcher mainung er bei ime selbs sei, nachzufolgen.⁹³⁸ Der Nürnberger Rat bestand auch gegenüber fürstlicher Einwirkung von außen auf dem Herkommen, wonach das Geständnis allein zur Verhängung der Todesstrafe berechtige. Eine Augsburger Ordnung von etwa 1453 erwähnt knapp das Geständnis, die auf seiner Grundlage daraufhin vorgenommene Nachforschung und die Feststellung der Wahrheit. Die förmliche Verurteilung erfolgte ansonsten dann zum Endlichen Rechtstag vor dem Stadtgericht, wo das Geständnis wiederholt und das vom Rat bereits gefundene Urteil verkündet wurde. Der Endliche Rechtstag war deshalb nur noch ein unverzichtbarer Formalakt, ein öffentlicher Schauprozess.⁹³⁹ Das Urteil wurde in Augsburg mit ausdrücklichem Bezug auf Satzungen des Stadtbuchs gefällt, die ermittelt und verlesen wurden. Der Stadtvogt als Richter stellte drei Rechtsfragen: (1.) Ob der Angeklagte mit seiner gestandenen Tat des Todes schuldig sei oder nicht; (2.) welchen Todes er schuldig sei; (3.) war als de nitives Urteil darauf zu erkennen, ob der Angeklagte rechtens die ihm zugemessene Todesstrafe zu erleiden habe. Nach dem Urteilsspruch ordnete der Bürgermeister das Läuten der Sturmglocke an, der Stadtvogt ließ den Armen aus dem Gefängnis an den Stock bringen, das begangene Verbrechen wurde am Rathaus öffentlich ausgerufen, der Verurteilte sodann weggeführt und hingerichtet.⁹⁴⁰ Als öffentlicher Ankläger in Strafsachen, der auch entfallen konnte, trat in Lübeck der älteste Prokurator als procurator scalis auf, in Nürn-

938 Die Chroniken der deutschen Städte, Bd. 11, S. 796 (cap. 15). 939 W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 350 f. Siehe auch E. S, W. S, W. T. Der Endliche Rechtstag war insoweit kein leeres Relikt, als er gegenüber dem formfreien und nichtöffentlichen inquisitorischen Vorverfahren den Bürgern das legitimierende Parteiverfahren, die rechte Form des hergebrachten Akkusationsprozesses (Anklage-) vor Augen führte. Die Halsgerichtsordnungen von Ellwangen (1466) und Nürnberg (1485) handeln nur vom Endlichen Rechtstag; die Wormser Reformation (1498) normiert auch den Inquisitionsprozess und dabei erstmals im Reich die Indizien, die zur Folterung veranlassen, sowie Art und Ausmaß der Tortur. 940 C. M (Hg.), Das Stadtbuch von Augsburg (2.2–2.4), S. 266–268, Nr. XXV (erste Hälfte des 15. Jahrhundert). Todesurteile ergehen, ›damit der Stadt, Land und Leuten, Reichen und Armen, Witwen und Waisen Recht zuteilwerde und dem Ankläger ein Genügen geschehe‹.

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berg war es seit dem 13. Jahrhundert der Lebe, der zugleich selbständig die niedere Marktund Sittenpolizei ausübte. In Rottweil konnte es der Schultheiß sein; in diesem Falle übernahm der Unterschultheiß den Vorsitz im Stadtgericht. Ein Ratsdiener spielte in Bremen diese Rolle, die in anderen Städten der Marktvogt, ein Ratsbote oder sogar der Scharfrichter übernahm. Die Gebote des Rechts und des Gerichts setzte der Fronbote (vronen: arrestieren, pfänden), Büttel (mittellat. bedellus, bodellus) oder Weibel (Gerichtsbote) durch; er bestellte die Parteien vor das Gericht, rief das Urteil in der Stadt aus und brachte den Willen des Gerichts zur Geltung. Daneben erfüllte er kommunale Ordnungsfunktionen. Weiteres Vollstreckungspersonal waren der Henker (Nachrichter, Züchtiger), der die dem peinlichen Verhör unterworfenen Personen nach Anweisung des Richters folterte und die verhängten Leibes- und Lebensstrafen vollzog, und der Gefängniswärter, dem die Beschließung, Unterbringung und Beköstigung der ihm anvertrauten Gefangenen oblag. Wer sich einmal in der Gewalt des Rates und Gerichts befand, wurde aus dem Gefängnis nicht eher freigelassen, bevor er nicht Urfehde (iuramentum pacis) geschworen hatte. Die Urfehde war ein eidlich bekräftigter Fehdeverzicht und ein Friedeversprechen des unterlegenen, in seinem Recht verletzten oder gefangenen Fehdegegners beim Abschluss der Fehde (Sühne). Im spätmittelalterlichen Strafrecht wurde die Urfehde darüber hinaus zum eidlichen Versprechen gegenüber dem Rat oder dem Stadtrichter (Schultheiß) – als der Obrigkeit – bei der Haftentlassung, sich für den Angriff auf die Freizügigkeit und die Haft nicht an ihnen oder der Stadt und ihren Bewohnern zu rächen und sie zu schädigen, nach der Freilassung keine Ansprüche gegen den Rat vor auswärtigen Gerichten vorzubringen, sich an die – zunehmenden – individuellen Au agen der Besserung und Nichtwiederholung der Tat – Verbot des Mes-

sertragens und Gasthausverbot – als Bedingung für die Freilassung zu halten oder bei Verbannung nicht eigenmächtig vor der Zeit zurückzukehren. Eventuell mussten Bürgen gestellt werden. Der Name des Schwörenden wurde in besondere Urfehdebücher eingetragen, häug zusammen mit einem Vermerk, weshalb der Rat gewaltsam gegen ihn vorgegangen war, sodass Urfehdebücher den Charakter von Strafgerichtsprotokollen annehmen können.⁹⁴¹ 4.7.5 Verbrechensbekämpfung und Strafprozess 4.7.5.1 Raubzüge, landschädliche Leute und Kriminalität Die Kriminalität war im Mittelalter zunehmend zu einer Massenerscheinung geworden. Die Fehde, die – soweit ihr keine landfriedensrechtliche Bestimmungen entgegenstanden – als gewohnheitsrechtliche Form der gewaltsamen Rechtsdurchsetzung mit Raub und Brandstiftung betrachtet wurde, depravierte allzu leicht zur willkürlichen Repressalie gegen eine solidarisch haftbar genommene Stadtgemeinde und einzelne Bürger, die für die Stadt haften sollten, oder zu blankem Straßenraub und Wegelagerei, mit denen sich einzelne wirtschaftlich prekäre und sozial deklassierte Niederadlige und ein notorisches Strauch- und Raubrittertum durch den Überfall auf Warenzüge von Kau euten, Raub, Gefangennahme und Lösegelderpressung zu alimentieren versuchten. Der Kölner Kartäusermönch Werner Rolevinck führt in seinem 1474 erschienenen Werk über Westfalen die von ihm konstatierten Raubzüge westfälischer Ritter auf deren unglückselige Verarmung und tägliche Suche nach nackter Existenzsicherung zurück; andererseits gibt er einen umlaufenden westfälische Vers wieder: ›Auf Raub ausreiten ist keine Schande, das tun die Besten im Lande‹.⁹⁴² Es ist nicht davon auszugehen, dass die in ihrer Existenz um-

941 W. E, Rostocker Urfehden; A. B, Urfehde und ewige Gefangenschaft im mittelalterlichen Göttingen; A. B, Das Urfehdewesen im deutschen Südwesten. 942 Werner Rolevinck, De laude antiquae Saxoniae nunc Westfaliae dictae, hg. von H. B, 2. A., Münster 1982, S. 204, 206 f.

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strittene sogenannte Agrarkrise, d.h. Einkommensverluste durch gesunkene Agrarpreise, ferner die Minderung des Realwerts der seit längerem in Geldwert xierten Abgaben und ein gestiegener Aufwand für einen standesgemäßen Lebenszuschnitt zur Verarmung des Niederadels auf breiter Front geführt haben. Einkommensverlusten stehen Kompensationsmöglichkeiten im Fürsten- und Solddienst und durch Geldgeschäfte gegenüber. Auch gibt es keine Statistik der Überfälle, die sie als weit verbreitete, häu ge und im engen geogra schen Rahmen wiederholte Erscheinung belegen ließen. Es hat jedoch zweifellos reine Raub- und Beutezüge gegeben, und in Einzelfällen können sie mit einer gefährdeten wirtschaftlichen Lage erklärt werden, in anderen nicht. Für gewisse Adelige stellten der häu g unter Geleitbruch verübte Zugriff auf Kaufmannsgut und Lösegelderpressung eine Versuchung dar, einen Zugewinn zu machen. Hans von Rechberg raubte 1443 einen Kaufmannszug der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft aus. Im Jahre 1451 eröffnete er unter einem Vorwand eine Fehde gegen Ulm und nahm einen Ulmer Handelsherrn gefangen, um ein Lösegeld zu erpressen; später bereitete er 30 Ravensburger und 15 Buchhorner Bürgern das gleiche Schicksal. Ein Handlungsdiener des Augsburger Kaufmanns Ulrich Arzt wurde auf dem Wege nach Frankfurt, als er der ›Messe Freiheit‹ suchte, wie es heißt, von dem Niederadligen Bechtram von Vilbel gefangengenommen; mit einem Fardel Barchent der Güteklasse ›Traube‹ im Wert von 150 Gulden sollte er ausgelöst werden. Bechtram wurde wenig später in Frankfurt vor der Stadt hingerichtet. Im Jahr 1463 wurden von einem Schloss aus Kölner Kaufleute auf dem Weg zur Frankfurter Messe ausgeplündert. Ende 1487 über elen Ulrich von Habsberg, ein Diener Herzog Georgs von Bayern, und zahlreiche Helfer bei Giengen einen im Ulmer Geleit reisenden Kau eutekonvoi. Zwei Frankfurter Juden wurden von Jost Freund, einem Söldnerhauptmann Erzbischof Bertholds von Mainz, während dessen Fehde mit Frankfurt in den Jahren 1492 bis 1495 wegen ei-

ner Erbschaftsangelegenheit geringerer Bedeutung im Geleitsbereich des Mainzer Erzbischofs auf dem Rhein gefangengenommen und gegen ein Lösegeld von 680 Gulden freigelassen, nachdem 450 Gulden bar bezahlt worden waren. Gleichfalls gefangengenommen wurde der elfjährige Sohn eines Frankfurter Bürgers, für den 140 Gulden verlangt wurden. Die Summe wurde jedoch nicht gezahlt, da sich König Maximilian I. einschaltete und die Freilassung verlangte. Ein Teil der niederadligen Fehden gegen Reichsstädte mit Übergriffen gegen reisende Bürger und deren Landbesitz beruhte sicherlich auf vorgeschobenen Fehdegründen und stellte Beutezüge dar. Gewissermaßen gewerbsmäßige, nicht verwandtschaftlich verp ichtete Fehdeführer übernahmen gegen Gewinnbeteiligung als eine Art von Fehdeunternehmer fremde Forderungen und machten sie im Interesse ihrer Auftraggeber unter Androhung von Fehde geltend, um bei Nichterfüllung Repressions- und Gewaltmaßnahmen zu eröffnen und sich am Ergebnis zu bereichern. Andere stellten sich als Fehdehelfer zur Verfügung. Dabei wechselten in einem Netzwerk gegenseitiger Helfer in unterschiedlichen Konstellationen verwandte und befreundete Fehdehelfer und Kriegsknechte von einem Fehdeführer zum anderen. Auch einzelne Bürger benutzten in Streitigkeiten mit ihrer Stadt Fehdeführer aus dem Niederadel, die ihre Ansprüche verfochten. So engagierte der Nürnberger Heinz Baum in seiner Fehde gegen seine Heimatstadt von 1503 bis 1511 adlige Fehdehelfer, die nach zwanzig Überfällen dann im Jahre 1508 auf Kau eute aus Nürnberg, Augsburg, Ulm und Isny, die vom Leipziger Ostermarkt heimkehrten, einen großangelegten Überfall verübten. Der Kaufbeurer Stoffel Hauser führte 1512 mithilfe eines Adligen Fehde gegen seine Stadt, machte mit etwa 150 Konsorten das Gebiet zwischen Bodensee und Oberschwaben unsicher und über el Kaufbeurer Bürger. Der Lauinger Ratsherr Werner Roßhaupter führte 1433 bis 1439, um nach dem Konkurs des Georg Stromer 1431 investierte 3 000 Dukaten einzutrei-

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ben und sich die Stromersche Papiermühle zu sichern, Fehde gegen Nürnberg; der St. Galler Bürger Clemens Hör befehdete Nürnberg in den Jahren 1456 bis 1462. Der Nördlinger Simon Höchstätter verlor in der 1479 begonnenen Fehde mit seiner Heimatstadt 1483 das Leben; ein früherer Stadtknecht und Metzger befehdete kurz vor 1513 die Stadt Worms und brachte das Ratsregime wegen der Fehdekosten ins Wanken. Unter den Fehdeunternehmern befanden sich an der Wende zum 16. Jahrhundert prominente Figuren wie Franz von Sickingen und Götz von Berlichingen, der entgegen der reichsgesetzlichen Kriminalisierung der Fehde wie andere Adlige auch weiterhin ein adliges Recht der Fehdeführung beanspruchte und sich bei seinen Unternehmungen auf adliges Standesethos berief. Nachdem Götz von Berlichingen 1511 eine mehrjährige Fehde gegen Köln wegen einer Schuldsache beendet hatte, über el er 1512 in einer Fehde gegen Nürnberg mit 130 Reitern bei Forchheim 95 Kau eute aus Nürnberg, Augsburg und anderen Städten, die im Geleit des Bischofs von Bamberg von der Leipziger Messe heimkehrten. Die Frage, in welchem Umfang es ein »Raubrittertum« in der späteren Begriffsbildung des 19. Jahrhunderts gegeben hat, kann nur schwer beantwortet werden, da es außerordentlich schwierig zu ermitteln ist, ob die reichsgesetzlich obligatorische frist- und formgerechte Fehdeankündigung vorlag und ein wirklicher Rechtsgrund für die Fehde vorhanden war oder ob nur ein fadenscheiniger Grund vorgeschoben wurde, um blanken Raub zu bemänteln. Entsprechende Beschuldigungen der Städte und ihrer Chronisten lassen sich in vielen Fällen kaum überprüfen; Behauptung steht oft gegen Behauptung. Fehden, vermutlich auch unrechtmäßige (unrechte) und willkürliche (mutwillige), haben auch Fürsten und Städte geführt. Jedenfalls verfolgten Städte und voran Nürnberg einige ihrer meist niederadligen Fehdegegner als Verbrecher, versuchten adlige Placker oder Heckenreiter und ihre Helfer zu ergreifen, richteten manche von ihnen in der Ausdrucksweise Nürnbergs als Ungeziefer mit kurzem Pro-

zess oder ohne Prozess hin und brachen Raubschlösser und Raubhäuser, von denen Übergriffe ausgingen. Städte organisierten Streifzüge in der Umgebung und ließen wichtige, gelegentlich durch Burgenbesitz gesicherte Handelswege bewachen. Dabei nahmen sie durch Soldverträge kampferprobte Adlige gegen deren Standesgenossen in Dienst. Nachdem der Fehdegegner Frankfurts Jost Freund aus Rache für die Hinrichtung eines Helfershelfers, der des Straßenraubs beschuldigt und in Frankfurt enthauptet wurde, einen Boten der Stadt und Bürger eigenhändig niedergeschlagen und enthauptet hatte, setze der Rat in einem öffentlichen Ausschreiben ein Kopfgeld aus und schlug den Brief in Frankfurt an. Dieser hing fast ein Jahr lang aus, bis ihn König Maximilian I. im Zuge von Vermittlungsverhandlungen entfernen ließ. Wer den Täter den Frankfurtern lebend auslieferte, sollte 1 000 Gulden oder eine Leibrente von jährlich 100 Gulden erhalten, wenn er tot war, nur 600 Gulden oder eine Leibrente von 60 Gulden. Später ermordete Jost Freund nach Angaben des Frankfurter Rats eigenhändig noch zwei Frankfurter Fischer, die er gefangengenommen hatte. Die Fehde und die kriminellen Akte fanden statt, als das absolute Fehdeverbot des zehnjährigen Reichsfriedens von 1486 in Kraft war. Um 1500 und in den beiden Anfangsjahrzehnten des 16. Jahrhunderts setzten Kunz Schott, Götz von Berlichingen, Hans omas von Absberg, Melchior von Rosenberg und andere fränkische Adlige den Nürnbergern durch Fehden und Plackereien zu, während Augsburg und Ulm im Schutz des Schwäbischen Bundes von Übergriffen verschont blieben. Hinsichtlich einzelner Fehden ist gerade in dieser Zeit eine aus wechselseitiger Erbitterung resultierende exzessive, die Regeln sprengende Grausamkeit gegenüber dem Gegner oder Gefangenen wie etwa das Abhacken von Händen zu konstatieren. Eine in besonderem Maße befehdete Stadt wie Nürnberg setzte einzelnen Belegen zufolge in ihrer Bekämpfung von Plackern Spitzel und Provokateure ein. Der Rat demütigte einen Adligen, indem er ihn ins düstere Lochgefängnis warf, ließ in einzelnen Fällen Ergriffene foltern,

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erpresste ihr familiäres Umfeld und animierte durch Aussetzen eines Kopfgelds zur Tötung. In einigen Fällen unterstützten Könige mit ihrer Landfriedenspolitik die Städte. König Rudolf von Habsburg begab sich 1289 nach Erfurt, dessen Handel durch Übergriffe im Umkreis der Burg Ilmenau erheblich beeinträchtigt wurde, und verfolgte mit Gerichtsurteilen und Strafaktionen planmäßig Landfriedensbrecher. Unter Mithilfe der Erfurter Bürger ließ er 29 Raubgesellen (predones) festnehmen, aburteilen und vor den Mauern der Stadt enthaupten. Im März 1290 ließ er von städtischen Truppen unterstützt in üringen in kurzer Zeit fast 70 Burgen und feste Plätze, von denen Beute- und Raubzüge (rapina, latrocinia) ausgingen, stürmen und teilweise in Trümmer legen. König Karl IV. erteilte 1347 den Burggrafen von Nürnberg den Auftrag, Raubburgen zu bezwingen, und König Wenzel ordnete gegen Ende des 14. Jahrhunderts generell die Zerstörung von Raubburgen an und untersagte ihren Wiederaufbau. Im Umkreis von Freiburg im Breisgau wurden im Laufe des 14. Jahrhunderts Befriedungsaktion gegen verschiedene Burgen durchgeführt, die für Raubnester erachtet wurden; im Jahre 1388 eroberten Freiburger Bürger die Burg Falkenstein im Höllental.⁹⁴³ Der Landfriedensbrecher ist als Verbrecher der schädliche oder landschädliche Mann und wird als solcher im Gerichtsverfahren verkündet. Im Falle von Fehden ist es oft kaum zu ermitteln, ob es rechtmäßige Fehden oder lediglich räuberische Gewalttaten waren. Obwohl die Fehde seit 1467 bis auf eine kurze Unterbrechung und seit dem Wormser Reichslandfrieden (Ewiger Landfriede) von 1495 de nitiv verboten und eigenmächtige Gewaltausübung kriminalisiert war⁹⁴⁴, blieben Fehden als Ausdruck einer adligen Lebensform und Gewohnheit bis ins 16. Jahrhundert hinein eine verbreitete Erscheinung, fanden aber um die Mitte des Jahrhunderts im Wesentlichen ein Ende. Der auf der Grundlage des zehnjährigen Reichsfriedens von 1486 im Jahre 1487/88 gegründete Schwäbische Bund aus

Fürsten, Adel und Städten ging im Zuge der Landfriedenswahrung erfolgreich gegen den fehdeübenden Niederadel vor. Im Jahre 1523 brach er in einer großen Expedition mit 1 672 Reitern und 10 535 Fußknechten rücksichtslos 23 Schlösser fränkischer Adliger, die sich nicht von der Beschuldigung der Unterstützung des fehdeführenden Hans omas von Absberg durch einen Eid reinigen (purgieren) konnten oder wollten. Das später so genannte Purgationsverfahren, das es dem Geschädigten erlaubte, des Friedensbruchs und der Unterstützung von Friedensbrechern Verdächtigte vorzuladen und von ihnen einen Reinigungseid, eine Entschuldigung mit dem Eid, zu verlangen, war im Wormser Reichsfrieden von 1495 eingeführt worden. Neben den reisigen Haufen, den Gefolgschaften adlig-ritterlicher Schnapphähne, gingen herrenlose so genannte gartende Knechte, d.h. bettelnde und plündernde Söldnerhaufen ohne Dienstverhältnis, auf Beute aus und verunsicherten Dörfer und Landstraßen. Sie wurden in Landfrieden als typisierte Personengruppe aufgeführt und zählten gleichfalls zu den landschädlichen Leuten, gegen die man mit aller Härte vorging. In den Jahren 1439 bis 1445 elen die berüchtigten französischen Armagnaken ins Elsass, nach Lothringen und in die Schweiz ein. Hinzu kam, dass viele Menschen aus materieller Not versuchten, durch Raub und Diebstahl ihr Leben zu fristen. Bettler, fahrendes Volk wie Gaukler, Artisten, Musikanten, Wahrsager und Quacksalber, ferner Pilger, entlaufene Mönche und Nonnen, ge ohene Unfreie und aus der Gesellschaft ausgestoßene Rechtsbrecher bevölkerten die Landstraßen; sie wurden zur Landplage und suchten Zugang zu den Städten. Auf diesem Boden erwuchs in den städtischen Elendsquartieren ein Gaunertum und ein Gewohnheits- und Berufsverbrechertum, wobei es häu g zu Bandenkriminalität kam. Die hansischen Seestädte hatten sich zudem der Strand- und Seeräuber zu erwehren.

943 W. R, Spätmittelalterliches Raubrittertum, S. 478 f. 944 E. I, Weshalb wurde die Fehde im römisch-deutschen Reich seit 1467 reichsgesetzlich verboten? (4.6.1–4.6.2)

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4.7.5.2 Handhafte Tat, Übersiebnungs- und Leumundsverfahren Ein Mittel der Verbrechensbekämpfung ging vom Beweis und Verfahren der handhaften Tat aus. Wurde jemand auf frischer, handhafter Tat gestellt oder bei seiner Flucht eingeholt, so durfte der in seinem Recht Verletzte den Täter ursprünglich sofort töten. Da selten ein Tatzeuge unmittelbar zugegen war, musste derjenige, der den Täter getötet hatte, die Offenkundigkeit und damit die Unbestreitbarkeit der vorausgegangenen Tat herstellen, die Tat verklaren. Dies geschah dadurch, dass er das Gerüfte erhob und den darauf herbeieilenden Nachbarn (Schreimannen) die Sachlage aufwies. Als die unmittelbare Tötung des Ertappten nicht mehr zugelassen wurde, brachten Kläger und Schreimannen den Täter, dem man Beweisstücke wie etwa blutige Kleidungsstücke oder das Diebesgut auf den Rücken band, vor ein rasch einberufenes und gehegtes Gericht. Im Gegensatz zu dem alten Landgerichtsverfahren, das eher die Seite des Beklagten begünstigte, war es dem Beklagten in diesem Verfahren nun unmöglich, durch einen Reinigungseid die Klage abzuwehren. Die Verurteilung war angesichts der erdrückenden Beweise und des Eides der Schreimannen sicher; der Täter konnte getötet werden. Im Falle der Notwehr und des Ehebruchs der Frau war die unmittelbare Tötung, die sonst einer Tabuisierung des Tötens wich, noch länger erlaubt. Im alten Verfahren wurde dem Beklagten der Reinigungseid erschwert und die Möglichkeit, Entlastungszeugen anzubieten, genommen, später durch den Überführungseid des Klägers unmöglich gemacht. Vielerorts wurde der Reinigungseid durch den klägerischen Zeugenbeweis zurückgedrängt. Zwei gute Zeugen genügten, um dem Beklagten den Eid zu verlegen. Dem seit dem Ende des 13. Jahrhunderts verstärkt auftretenden professionellen Verbrecherwesen war immer weniger durch den langwierigen alten Prozess beizukommen. Außer-

halb des Hochgerichts rückte der Begriff der Landschädlichkeit dadurch in den Mittelpunkt, dass das Verfahren bei handhafter Tat auf alle landschädlichen Leute ausgedehnt wurde. Wurde die Landschädlichkeit des Täters nachgewiesen, so erfolgte die Verurteilung wie bei handhafter Tat. In dem daraus erwachsenen Übersiebnungsverfahren, das gegen fremde oder übel beleumundete Verbrecher, später auch bei allen todeswürdigen Verbrechen, also wohl auch beim Hochgericht, angewandt wurde, leisteten sieben Männer, der Kläger und sechs Eideshelfer oder Schreimannen, die Tatzeugen waren oder nur den landschädlichen Charakter des Täters kannten, einen Eid und überführten damit den Täter. Im Rahmen von Landfrieden oder durch Leumundsprivilegien erhielt der Rat das Recht, landschädliche Leute abzuurteilen und hinzurichten.⁹⁴⁵ Gegenüber dem Ulmer Rat drängte Karl IV. 1354 vermutlich auf Anregung des Rates selbst, zugunsten eines ›schnellen‹ Verfahrens gegen landschädliche Leute darauf, die üblich gewordenen verschleppenden Einreden, die der Fürsprecher des Beklagten gegen den Fürsprecher des Klägers und gegen Schöffen vorbrachte, sie seien in Kirchenbann oder in der Acht, nicht mehr zuzulassen.⁹⁴⁶ Das Verfahren nach Leumund, das etwa seit der Regierung Karls IV. praktiziert wurde, verschärfte das Übersiebnungsverfahren. Es war nicht einmal mehr notwendig, dem Beklagten eine bestimmte Tat nachzuweisen; es genügte der Nachweis seiner sozialen Schädlichkeit und Gefährlichkeit, der erbracht war, wenn der Kläger den üblen Leumund des Ergriffenen beschwor und sechs Eideshelfer ihn bekräftigten. Außerdem konnte der Richter nach Gutdünken dem Beklagten die Reinigung erschweren. Träger des Übersiebnungs- und des Leumundsverfahrens war meist nicht das Stadtgericht, sondern der Rat, der mit den entsprechenden erworbenen Verfahrensprivilegien und mit Folterprivilegien die ordentliche Gerichtsbarkeit überging; später schritt der Rat autonomer Städte als selbst-

945 H. R, Der Rat der niederschwäbischen Reichsstädte (2.5.2), S. 211 f., 245 f. 946 C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm, S. 98, Nr. 182.

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bewusster Gesetzgeber zu statutarischen Regelungen. Als Kläger trat, ohne dass man wie im traditionalen Akkusationsprozess auf einen privaten Kläger warten musste, ein eigens bestellter öffentlicher Ankläger auf. Im Rat wurde nur noch darüber abgestimmt, ob und wie man den Festgenommenen bestrafte. Es handelte sich damit nicht mehr um einen förmlichen Strafprozess, sondern um eine polizeiliche, der Wahrung der öffentlichen Sicherheit und der Bekämpfung der Kriminalität verp ichtete administrative Maßregel des mit diskretionärer Gewalt ausgestatteten Rats.⁹⁴⁷ Ein derart rigoroses Verfahren konnte zunächst gegenüber eingesessenen Bürgern kaum angewandt werden, doch scheint es etwa in Rottweil auch zu einem allgemeinen Verfahren gegenüber Stadtbürgern geworden zu sein. 4.7.5.3 Akkusations- und Inquisitionsprozess Die mit dem allmählichen Wegfall archaischer formaler Beweismittel notwendig gewordenen neuen Beweismittel – Zeugen-, (ärztlicher) Sachverständigenbeweis – und inquisitorische Verfahren, die alle grundsätzlich im kirchlichen und gelehrten Recht vor ndlich waren, wurden vom Rat aufgenommen. Im ausgebildeten Inquisitionsverfahren ging die gesamte Strafverfolgung auf amtliche Initiative und Tätigkeit über. Ein Verfolgungs- und Verhaftungsrecht des Rates trat in den Städten schon früh in Erscheinung; amtliches Einschreiten

und Ermitteln von Amts wegen (Offizialmaxime) wurden den Behörden und Amtsträgern im 14. Jahrhundert immer wieder zur P icht gemacht. Einige Delikte wie Vergehen gegen die Obrigkeit oder gegen die Religion kannten ohnehin von ihrer Natur her keinen privaten Kläger. Der Beweis wurde nicht mehr mit »formalen Beweismitteln unmittelbar mit Bezug auf Schuld oder Unschuld« – Überführungseid, Reinigungseid, Eideshelfer, Zweikampf, Gottesurteil (Ordal) –, »sondern mit rationalen Erkenntnismitteln bezüglich des in der Vergangenheit liegenden Sachverhalts geführt, und zwar ebenfalls durch amtliche Tätigkeit erbracht«. Es wurde nun nach der objektiven Wahrheit geforscht (inquisitio) und erörtert, ob der Verfolgte (inquisitus) aufgrund der ermittelten materiellen Tatsachen strafrechtlich haftbar zu machen war. Zwei Prinzipien, die Ofzialmaxime und die Instruktionsmaxime, d. h. die P icht amtlicher Stellen, »sich selbst über die materiellen Tatsachen und über die objektive Wahrheit ins Bild zu setzen und zu instruieren«, machen in ihrer Verbindung den ausgebildeten Inquisitionsprozess aus.⁹⁴⁸ Sozialgeschichtlich könnte man annehmen, dass der Anklageprozess dem Mächtigen und Ein ussreichen zu Gebote stand, die Offizialmaxime des Inquisitionsprozesses dem Schwachen zu Hilfe kam, der eine Anklage nicht wagen konnte. Es ist allerdings zu fragen, ob das weitgehend formfreie Verfahren des Rats insgesamt schon Inquisitionsprozess zu nennen ist.

947 Im Mainzer Reichslandfrieden von 1235 wurde angeordnet, Bücher anzulegen, in die nicht nur die Geächteten, sondern auch die ›landschädlichen Leute‹ (nocivi terre) eingetragen werden sollten. In Augsburg wurden in den 31 Jahren von 1338 bis 1368 in einem dem entsprechenden Buch etwa 420 Geächtete und über 360 Verbannte eingetragen. Sie wurden zum Teil jährlich am St. Gallentag (16. Oktober) zusammen der Stadt verwiesen. Von den 169 Totschlagsdelikten hat man 164 Täter nicht gefasst und als Geächtete festgestellt. Insgesamt wurden in den Jahren 1338 bis 1400 etwa 3 000 Übeltäter verzeichnet, was kaum aufgrund ernsthafter Ermittlungen erfolgte. Kehrten Verbannte während der Ausweisungszeit in die Stadt zurück, erhielten sie in der Regel ohne Gerichtsverhandlung eine schwere Leibes- oder Todesstrafe. A. B, Verbrechen und Verbrecher zu Augsburg in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 4 (1877), S. 172. W. T, Strafprozeß, S. 193* f./77 f. 948 E. S, Einführung, S. 86. Vgl. auch die neuere Lehrbuchdarstellung von H. R/G. J, Grundriss der Strafrechtsgeschichte. Wer heute diese mittelalterlichen strafrechtsgeschichtlichen Entwicklungen und im Folgenden auch die mittelalterliche Strafrechtspraxis betrachtet und beurteilt, hat die Implementierung von Absprachen (Deal) und Kronzeugenregelungen im gegenwärtigen Strafprozessrecht zu bedenken, die den Grundsatz der Erforschung der Wahrheit von Amts wegen oder auch das Legalitätsprinzip zumindest relativieren und einen ausgehandelten Konsensprozess mit Strafzumessung nach dem Tauschprinzip – (Teil-) Geständnis gegen Strafmilderung – und vereinbartem Urteil hervortreten lassen.

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Für die Sachverhalts- und Wahrheitsermittlung wurden im mittelalterlichen Strafprozess nunmehr zwar Wissenszeugen und der Augenschein herangezogen, doch rückte die Befragung des Tatverdächtigen und Beschuldigten in den Vordergrund. Das Geständnis erschien angesichts schwer zu bewerkstelligender Ermittlungen als das bequemste Mittel der Verfahrensbeschleunigung, als das sicherste Mittel der Wahrheitsfeststellung und die sicherste Grundlage der Verurteilung. Außerdem vollzog der Beschuldigte mit seinem Geständnis den ersten Schritt zu Umkehr und Reue. Lagen nur die fama, der schlechte Ruf, und das öffentliche Geschrei als Ausdruck der Offenkundigkeit (Notorietät) der Tat, ferner erhebliche Verdachtsmomente (Indizien) oder erdrückende Beweise – wenngleich nicht nach strengen gelehrten Beweisregeln der volle und unteilbare, nicht durch Teilbeweise akkumulierbare Beweis (probatio plena) – vor, die für eine Verurteilung nicht ausreichten und den Beschuldigten noch nicht von sich aus zum Geständnis veranlassten, so zwang man ihn zum Geständnis durch die peinliche Befragung, die Folter (Tortur, Marter). Das Geständnis machte die Sache beweisrechtlich offenkundig und heilte eventuelle Verfahrensfehler. Es musste dann vor dem in feierlichen Formen abgehaltenen ordentlichen Gericht wiederholt werden. Als das Gericht im Verfahren zur materiellen Wahrheit vorstoßen wollte, gefährdete es die Wahrheitsermittlung aufs Höchste durch eine zwar unterschiedlich gehandhabte, vielfach aber für unser Emp nden an bestialische Grausamkeit grenzende Methode, »die sich der brutalen Härte des peinlichen Strafensystems des Mittelalters ebenbürtig an die Seite stellt.«⁹⁴⁹ Eine brutale Behandlung von Gefangenen, um aus ihnen Informationen und Geständnisse herauszupressen, hat es wohl zu allen Zeiten gegeben, doch ist hier von Folter zur Erzwingung eines Geständnisses im Rahmen eines förmlichen Verfahrens die Rede. Mit der Verbreitung der

Folter als Teil eines neuen Beweisverfahrens verschwanden auf der anderen Seite die verschiedenen Formen des Gottesurteils. Der Richter erhielt für die Ermittlung des Schuldigen kein Zeichen mehr von Gott, sondern nunmehr vom Angeklagten selbst durch dessen Geständnis. Früh angewandt wurde die Folter im Ketzerprozess; die ersten Nachweise von Folter im weltlichen Bereich zwischen 1320 und 1322 stammen – noch als Ausnahmefälle – aus den Bischofsstädten Augsburg (1321), Straßburg (1322), Speyer und Köln (nach 1322) sowie Regensburg (nach 1338). Im Jahre 1354 fragte der Rat Freiburgs im Breisgau in Köln in einer Bitte um Rechtsbelehrung an, ob zur Anwendung der Folter ein Privileg erforderlich sei, und erwirkte ein solches 1361 bei Karl IV. für das Leumundsverfahren vor dem Rat. Köln selbst besaß zum Zeitpunkt der Anfrage eingestandenermaßen kein Privileg. Nürnberg erhielt 1371 ein Folterprivileg, Köln ein solches 1474 von Kaiser Friedrich III. Es ist denkbar, dass gelehrte Stadtjuristen in Speyer, Nürnberg und Frankfurt am Main auf die Einführung der Folter Ein uss nahmen, wie sie dann später für das Vorverfahren Fragstücke – in Nürnberg bis zu 100 – formulierten. Dieselben Stadtjuristen kannten aber auch die Bedenken gegen die Tortur, die in den Digesten des römischen Rechts angesichts der vielfältigen Gefahren für eine Wahrheits ndung enthalten waren. Der Nürnberger Rat ließ auf der Grundlage von Mehrheitsbeschlüssen im Lochgefängnis foltern, doch riet ein Ratsjurist 1483 in einem Gutachten für ein fremdes Gericht mit Bezug auf das römische Recht, wonach die Folter selten oder sogar nie anzuwenden sei, von der Folter abzusehen. Er räumte dem unter Folter oder Furcht vor der Folter erzwungenen Geständnis einen äußerst fragwürdigen Wert für die Wahrheits ndung ein und erachtete es vielmehr für irreführend.⁹⁵⁰ Außerdem lehnte er die Auffassung ab, wonach das Geständnis ein ohne förmliches richterliches Urteil sofort vollstreckbares Selbsturteil sei.

949 E. S, Einführung, S. 95 f. 950 Digesten 48.18.1. 23. Siehe dazu E. I, »Liberale« Juristen? S. 257–271.

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Noch lange vor der Bambergischen Halsgerichtsordnung von 1507 und der auf ihr fußenden, für die Zukunft maßgebenden »Constitutio Criminalis Carolina« von 1532 legte das Brünner Schöffenbuch aus der Mitte des 15. Jahrhunderts eine mit starken Kautelen versehene umfassende Folterlehre vor. Der »Klagspiegel«, der heftige Kritik an ungelehrten und unfähigen Richtern übte, äußerte sich zum Inquisitionsprozess, wandte sich gegen die rechtsund formlose Praxis und verlangte, als Sicherheit gegenüber willkürlichem Verfahren, nach gemeinem Recht als Voraussetzung der Inquisition den bösen Leumund (Geschrei, Infamie), eine Tat begangen zu haben, als Voraussetzung der Folter den schlechten Leumund und Indizien (indicia, Wahrzeichen) und für die Verwertbarkeit eines Geständnisses das Vorliegen von bewiesenen Indizien. In der deutschen Gesetzgebungsgeschichte wurden wohl zum ersten Mal in der Wormser Stadtrechtsreformation von 1498, die allerdings einen starken Lehrbuchcharakter besitzt, die von dem gelehrten Recht und der spätmittelalterlichen Jurisprudenz erarbeiteten prozessualen Sicherungen aufgegriffen wie die Anweisungen über die Voraussetzungen der Folter, eine Indizienlehre und Hinweise auf Entschuldigungs- und Rechtfertigungsmöglichkeiten des Angeklagten. Im Bereich des sächsischen Rechts, von den Schöffenstühlen von Magdeburg und Leipzig, wurde die Anwendung der Folter abgelehnt, während in Schlesien die Folter für das 15. Jahrhundert nachweisbar ist. Inquisitorische Verfahren entwickelten sich seit dem 13. Jahrhundert, vom Süden nach dem Norden fortschreitend, aus der Bekämpfung der Massenkriminalität landschädlicher Leute durch die Städte im weiteren Zusammenhang mit dem Landfriedensrecht, dem Recht der Kirche und der italienischen Rechtswissenschaft, ohne dass vor der Wormser Stadtrechtsreformation (1498), die auch den Akkusationsprozess – und zwar immer noch – als den ordentlichen Prozess behandelt, eine umfassende Übernahme des kirchlichen und gelehrten Inquisitionsprozesses anzunehmen ist. Der Rat war

für die nichtöffentliche Untersuchung im inquisitorischen Vorverfahren zwischen der Anzeige und der öffentlichen Anklage, die auch entfallen konnte, zuständig. Das Vorverfahren allein macht allerdings wie die Anwendung der Tortur allein noch keinen förmlichen Inquisitionsprozess aus. Der Rat war auch die entscheidende Instanz, die jetzt – für die Schöffen des Stadtgerichts – nicht wie im alten Prozess formale Beweisurteile, sondern Sachentscheidungen fällen sollte. Die vermeintliche Sicherheit der Wahrheitsermittlung durch das Geständnis legitimierte wohl das anschließende, zur bloßen Form gewordene landgerichtliche Verfahren mit vorgespielter Urteils ndung durch Schöffen in gehegtem Gericht und in öffentlicher Sitzung, den Endlichen Rechtstag, auf dem der Richter über dem Verurteilten den Stab brach. Leugnete der Beschuldigte das Geständnis, so konnte er mit dem eidlichen Zeugnis der Ratsmannen oder Schöffen, welche die Folterung geleitet hatten oder dabei zugegen waren, überwunden werden. Dabei galten in Nürnberg zwei Schöffen für sieben Personen. Das Schnellverfahren des Rats mancher Reichsstädte bot dem Angeklagten kaum Sicherungen gegen Willkür und Missbrauch der Amtsgewalt. Im Übergang vom alten Prozess und der wirksamen Anwendung der Vorschriften des gelehrten Prozessrechts konnte das durch Furcht vor der Folter und durch diese selbst erzwungene Geständnis gegenüber der materiellen Wahrheits ndung noch einen erheblich formalen Charakter haben, indem es etwa den Reinigungseid verlegte, sodass es sich um einen so genannten Geständnisprozess, noch nicht um einen wirklichen Inquisitionsprozess handelte. Es kam entscheidend darauf an, ob das inquisitorische Vorverfahren des in seinem Ermessen ungebundenen Rates tatsächlich, wie von dem gelehrten gemeinrechtlichen Prozessrecht verlangt, auf die Ermittlung der objektiven Wahrheit und der Gerechtigkeit abzielte und nicht dem polizeilichen Interesse einer raschen und rigorosen Verbrechensbekämpfung untergeordnet wurde. Davon aber zeugen Klagen über Verfahrenswillkür, Formlosig-

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keit und Mängel jenseits der normativen Ordnung und eines rechtmäßigen prozessualen Vorgehens. Andererseits ließ der Nürnberger Rat 1452 mehrere Fürsten, die an häu gen polizeilichen Aktionen der Stadt im Umland (Streifen) Anstoß nahmen, wissen, dass man aufgegriffene Personen, die sich als unschuldig erwiesen, auf Urfehde hin wieder gütlich ziehen lasse. Zudem wer uns auch lieber, das[s] zehen schuldig darvon komen, denn ein unschuldiger getöt werden sollt. Der Nürnberger Ratsjurist Dr. Peter Stahel drückte den gleichen Gedanken, dass lieber ein Schuldiger unbestraft bleiben solle als dass ein Unschuldiger bestraft werde, 1483 durch Rückgriff auf das römische Recht aus (Digesten 48.19.5). Er beanstandete zudem gängige rechtswidrige Praktiken von Gerichten im Strafverfahren und insbesondere beim Beweis und verlangte bei schweren Beschuldigungen dem römischen Recht und seiner Metaphorik gemäß einen Beweis, ›der heller ist als die Sonne am Mittag‹. Von missbräuchlichen Praktiken wollte er sich jedoch nicht beirren lassen und machte mit einem Satz des kanonischen Rechts geltend, ›man solle sich nicht nach dem richten, was geschehe, sondern nach dem, was geschehen solle‹ (Liber Extra 1.6.27). Der Ulmer Ratskonsulent Miller beklagte indessen 1802 kurz vor dem Ende der reichsstädtischen Zeit das formlose, auf bloßer Mehrheitsentscheidung beruhende selbstherrliche Verfahren des Rats auch in Sachen, die Ehre, Gut, Blut und Leben beträfen. Der Rat urteile nach eigenem Ermessen und setze sich über die auf Gesetzen gegründeten Rechtsgutachten und Urteilsvorschläge der Konsulenten hinweg. Erst seit zwanzig Jahren werde auf Drängen der Stadtjuristen dem Angeklagten in wichtigen Kriminalfällen ein Verteidiger zugestanden, ohne dass der Rat diese Neuerung förmlich genehmigt oder gar verordnet hätte.

4.7.6 Strafrecht und Strafrechtspraxis 4.7.6.1 Kompositionen und Sühne Einen tiefgehenden Umbruch in der Geschichte des materiellen Strafrechts brachte die allmähliche Abwendung vom germanisch-fränkischen Bußenstrafrecht (sog. Kompositionensystem), das auf dem Gedanken der Versöhnung von Sippenheil und -ehre und der Entschädigung der Verletzten, einem Täter-Opfer-Ausgleich, beruhte und für alle Arten von Gewalttaten bis hin zur Tötung einen nach Deliktgruppen und rechtlich-ständischer Position des Verletzten geordneten Bußenkatalog mit festen Taxen (Wergeld, Manngeld) aufstellte.⁹⁵¹Büßen und bessern (emendare) stehen in städtischen Statuten begrifflich lange Zeit anstelle von strafen. Außerdem wurden zwischen der Partei des Opfers und der des Täters selbständig Sühneverträge abgeschlossen. Das Hofrecht des Bischofs Burchard von Worms (um 1024) kennt im Falle von Gewaltdelikten sowohl das Wergeld als auch vorgelagerte Leibesstrafen, um mit diesen zugunsten des innergesellschaftlichen Friedens gegen gewaltsamen Kon iktaustrag vorzugehen. Die späteren Stadtfrieden zielten auf eine generelle Bekämpfung von Gewalt durch Recht und Gericht, allerdings konkurrierten in den Regelungen der Stadtrechte zunächst die friedewirkende (gewissermaßen »privatrechtliche«) Sühne (compositio, reconciliatio), an der Verletzte ein Interesse hatten, und die gerichtliche (»öffentliche«) und peinliche Strafe als Tatfolge, an der vor allem der Rechtsgemeinschaft lag, noch miteinander. Auch konnte auf die Parteien durch den Stadtherrn oder den Rat ein autoritativer Sühnezwang ausgeübt werden, während in schweren Fällen wie Totschlag ein Sühneverbot gelten konnte und in anderen minder schweren Fällen bereits im 13. Jahrhundert in verschiedenen Stadtrechten (Wien, Bern, Schlettstadt u. a.) eine heimliche Sühne (Hehlsühne), d. h. eine Sühne zwischen den Parteien ohne Erlaubnis

951 Zu Strafrecht, Verbrechensverfolgung und Strafpraxis siehe vor allem das klassische ältere Werk von R. H und die neueren Darstellungen von R. H, Basler Rechtsleben I (bereits methodisch wegweisend), S. B (Zürich), P. S (Konstanz), G. S (Köln), B. F sowie die von D. W und H. S herausgegebenen Sammelbände »Kon ikt, Verbrechen und Sanktion«.

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einer amtlichen Instanz oder eine Sühnevereinbarung hinter dem Rücken des Gerichts nach erfolgter Klage, unter Androhung des stadtherrlichen Huldentzugs oder einer Geldstrafe verboten wurde. Ein Statut des Nürnberger Rats von etwa 1320 ordnete an, dass Totschlag gerichtlich auch dann zu verfolgen war, wenn keine Klage erhoben wurde. Der in der Stadt intendierte absolute, dauerhafte Friede verlangte im de nierbaren, dicht besiedelten öffentlichen Raum mit seinen engen Sozialbeziehungen zunehmend eine Bekämpfung der Gewalt durch städtische Instanzen und eine autoritative strafrechtliche Zwangsordnung, die präventiv Gewalt konsequent kriminalisierte und Rechtsbrüche auch unabhängig von der Initiative oder gegen den Willen der Kon iktparteien verfolgte. 4.7.6.2 Peinliches Strafrecht Im Zusammenhang mit den Gottes- und Landfrieden erfolgte seit dem 12. Jahrhundert und insbesondere seit der Mitte des 13. Jahrhunderts im Stadtrecht eine entschiedene Wendung hin zu einem peinlichen Strafrecht, zu Strafen an Leib und Leben, Hand und Hals, Haut und Haar. Damit entwickelte sich die Hochgerichtsbarkeit zur Blut- und Kriminalgerichtsbarkeit fort. Es setzte sich die Auffassung durch, dass Verbrechen im Interesse der Allgemeinheit – nicht nur des Familienverbandes (Sippe) – zu bekämpfen und deshalb peinlich zu bestrafen seien. Deshalb wurde die Verfolgung von Straftaten nicht mehr allein der Initiative des in seinen Rechten Verletzten überlassen. Erschienen in älteren Zeiten Ehre und Eigentum als höchstwertige Rechtsgüter und wurde ihre Verletzung angesichts eines erstaunlichen Verständnisses der Zeitgenossen für offene Gewaltauseinandersetzungen höher bestraft als Körperverletzung und Totschlag, so wurde mit der allmählichen Tabuisierung des Tötens vor allem in den Städten die Lebensvernichtung nunmehr mit schärferen Strafen geahndet und mit der allerdings im Gegensatz zum Erhängen als ehrlich geltenden Enthauptung bestraft. Es kam jedoch bis ins 16. Jahrhundert vor, dass Gewaltdelikte und Totschlag in einzelnen Fällen im

primären Interesse der Kon iktlösung, so auch in Nürnberg, nicht peinlich bestraft, sondern durch Sühneverhandlungen der Parteien (Taidigung) vor dem Rat erledigt wurden. Vermögensleistungen an das Opfer und die Hinterbliebenen bildeten sicherlich den Kern der Sühne. Die Bußschuld ging als Vermögenswert auf Seiten des Täters und des Opfers auf die Erben über. Hinzu kamen die Errichtung eines Sühnekreuzes und Wallfahrten etwa nach Aachen, Einsiedeln oder Santiago de Compostela. Prozessgegner mussten in minder schweren Fällen zur Beilegung des Kon ikts vor Gericht Freundschaft geloben, Delinquenten sich durch Urfehde gegenüber dem Gericht dem Urteil unterwerfen. Bei Weigerung erzwang das Gericht den Schwur der Freundschaft mit Strafmaßnahmen und bestrafte den Bruch der gelobten Freundschaft. Freundschaft zwischen den Bürgern war ein den privaten Beziehungen der Einzelnen übergeordneter normativer Grundwert in der Stadt, der wie die bürgerliche Eintracht deren Existenz sicherte. Diebe, auch wenn sie durch geringfügigere Delikte die Eigentumsordnung verletzten, Betrüger, Falschmünzer, Ketzer, Verräter, Empörer und ›landschädliche Leute‹, die Verbrechen begangen hatten, wurden unnachsichtig und grausam hingerichtet. War Diebstahl das Kapitaldelikt schlechthin und Dieb das bevorzugte Schimpfwort, so spielte Raub im innerstädtischen Rechtsleben keine wesentliche Rolle. Tötungs- und Gewaltdelikte waren die hitzige Reaktion auf entehrende verbale und handgreifliche Beleidigungen und Angriffe sowie Rachehandlungen, bei denen häu g verletzte Ehre im Spiel war. Eine höhere Affektkontrolle scheint es in der Oberschicht in ihrem sozialen Umfeld kaum gegeben zu haben. Die Ehre musste in irgendeiner dem Verletzten möglichen Weise verteidigt werden, damit dieser nicht ehrlos dastand. Im Kampf um die Ehre benutze der Verletzte auch durch Klage die verschiedenen Instanzen der Ratsgerichtsbarkeit. Es ist die Frage, ob die in der der Forschung gelegentlich für das ganze Alteuropa hindurch – und nicht weiter? – gerne zum »sozialen Kapital« hypostasier-

Städtische Gerichtsbarkeit 509

te persönliche Ehre des Einzelnen nicht zu dessen Entlastung durch den konsequenten Strafverfolgungswillen der Obrigkeit in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung allmählich etwas relativiert wurde. Die Gewalttat wurde zum Verbrechen durch das Unwerturteil der Gesellschaft. Tatbestandsmäßig unterschied man zudem zwischen der mit verbrecherischer böser Absicht und in übler Gesinnung begangen Straftat und der ungewollten, unbeabsichtigten, nur gedanken- und sorglos begangenen Missetat (Ungefährwerk), ferner zwischen der milder bestraften ehrlichen Tat und der unehrlichen, nicht im Affekt, sondern heimtückisch und in böswilliger Absicht begangenen Tat (Meintat). Bei Mord werden Heimlichkeit und Hinterhältigkeit vorausgesetzt; als Mord galt auch die affektlose Tötung ohne Anlass oder wie in norddeutschen Rechten unter Gebrauch unehrlicher Waffen wie Stock und Messer oder mit Gift, ferner die Tötung aus Gewinnsucht. Erst die gemeinrechtliche Strafrechtsdoktrin entwickelte in der Zurechnungslehre mit Vorsatz (dolus directus), bedingtem Vorsatz (dolus indirectus/ eventualis), Fahrlässigkeit und bedingter Fahrlässigkeit subtilere Schuldgrade. Der im hamburgischen und lübischen Recht vor ndliche Begriff der Vorsate, die mit unserem »Vorsatz« verwandt, aber nicht identisch ist, bezeichnet Taten, die aufgrund eines ungelösten Kon ikts in feindlicher Gesinnung gegenüber dem Opfer mit Vorbedacht geplant und durchgeführt wurden, das Moment der Überraschung ausnützten. Die Vorsate ist nicht nur eine Begehungsart. Die Vorsatztaten waren über die bloße Begehungsart hinaus eine eigenständige Deliktgruppe mit eigener Strafandrohung für Eigenmacht und gewalttätige Selbstjustiz zusätzlich zu der Strafe wegen der Unrechtstat wie Hausfriedensbruch, Körperverletzung oder Beleidigung. Beschränkungen des Rechts, Waffen zu tragen, und Waffenverbote sowie mit harten peinlichen Strafen sanktionierte Friedegebote sollten mehr Sicherheit gewährleisten und die Eskalation von zunächst nur angedrohter Gewalt durch Messerzücken hin zur tödlichen Gewalt verhindern. Die harte bis brutale Ahndung von Dieb-

stahldelikten, selbst des nur versuchten Diebstahls, scheint durchaus bei der Bevölkerung auf Zustimmung gestoßen zu sein. Im ausgehenden 15. Jahrhundert kritisierte jedoch der Straßburger Münsterprediger Geiler von Kaysersberg scharf die Gewohnheiten und Statuten des Straßburger Rats, die in völligem Missverhältnis Totschlag im Vergleich mit Diebstahl milde bestraften: ›Schlägt ein Bürger einen Fremden tot, so zahlt er 30 Schillinge und ist dadurch von der Stadt wegen frei; schneidet er ihm die Geldbörse ab, hängt man ihn.‹ Dem Rat ging es bei Gewaltdelikten, wenn Bürger involviert waren, oft vorrangig um Koniktlösung, um Wiederherstellung verletzter Ehre, durch Sühne bewirkte Wiederherstellung des gemeinschaftlichen Friedens, insoweit auch um Wiedereingliederung von reuigen oder geläuterten Tätern. In anderen Fällen aber zielte er auf Abschreckung durch Strafe, Vernichtung des Verbrechers und die Demonstration seiner im Zuge eines sich wandelnden Herrschaftsverständnisses herausgehobenen obrigkeitlichen Stellung, indem er die Hoch- und Blutgerichtsbarkeit mit dem ius gladii, die obrigkeitlichamtliche Sorge für Gerechtigkeit durch Bestrafung des Übeltäters, die Generalprävention und einen im 15. Jahrhundert deutlich ausgeweiteten öffentlichen Strafanspruch der durch Gewalt verunsicherten Rechtsgemeinschaft herausstellte. Der Rat größerer Städte besaß in juristisch-gelehrter Terminologie die jurisdiktionelle Vollgewalt, das merum et mixtum imperium, strafrechtlich gewendet die Hoch- und Niedergerichtsbarkeit, die als Galgen und Stock begrifflich erläutert wurde. Verhalten und Taten des einzelnen Delinquenten wurden bis in die Luxus- und Sittengesetzgebung hinein als Bedrohung der gesamten Gesellschaft betrachtet. Der richtende Rat hatte die Ehre Gottes und den gemeinen Nutzen der Stadt zu wahren. Es kamen Zweifel auf, ob es der Gerechtigkeit entsprach, wenn rechtlich und zunehmend gesellschaftlich kriminalisierte Gewalttaten durch Sühneleistungen bereinigt werden durften. Der Basler Rat erklärte seit der Mitte des 15. Jahrhunderts verschiedentlich selbstkritisch,

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dass Körperverletzungen in der Vergangenheit nicht in erforderlicher Weise mit Strafen geahndet worden seien, wie es rechtens gewesen wäre, und dadurch – in einer Spirale der Gewalt – weitere Streitfälle zwischen Parteien einreißen konnten, dass ferner viele Totschläge ungestraft geblieben seien, woraus weitere Totschläge entstehen konnten. Auch der Nürnberger Rat bekannte sich 1482 zu seiner Aufgabe, Gewaltdelikte um des Friedens und der Eintracht unter den Menschen willen zu verhindern, und erklärte, dass Nichtbestrafung und Begnadigung nicht nur die Unrechtstaten ungestraft gelassen, sondern auch anderen als böses Beispiel gedient und schädliche Gewaltbereitschaft verursacht hätten. Der Nürnberger Rat, der bereits 1320 eine Strafverfolgung bei Totschlag auch ohne Privatklage angeordnet hatte, verfügte 1482, dass er künftig Totschlag ungeachtet eines vertraglichen Ausgleichs zwischen Täter und Opfer kraft seiner Obrigkeit und Regierungsgewalt gerichtlich verfolgen und bestrafen lassen werde. Und er bekundete 1485 gegenüber Kaiser Friedrich III., als er mehrere kaiserliche Gnadengesuche ablehnte, seine kaiserliche Majestät werde verstehen, ›dass man ohne Strafe nicht gut regieren könne‹. 4.7.6.3 Strafrechtspraxis Über die deutsche Stadt hinaus bestand in nahezu ganz Europa in der Strafpraxis ein Widerspruch zwischen Rigorosität, bisweilen Brutalität, und Milde auf dem Untergrund harter Strafnormen, der insgesamt zu einem uneinheitlichen, ober ächlich beliebig erscheinenden Vorgehen, zu einem verwirrenden Nebeneinander von Sühne und Strafe führte. Ob es sich in den Städten um eine ausgesprochene »Klassenjustiz« gehandelt hat, ist schwer zu beantworten. Als Ungleichheit in Strafverfolgung und Strafzumessung ist sie indessen, wie die Rechtssoziologie zeigt, in bestimmtem Umfang zu verschiedenen Zeiten immer wieder anzutreffen. Immerhin wurden

auch Angehörige der Oberschicht und Patrizier vor allem bei Empörung und Amtsdelikten gehängt, ausgepeitscht, verbannt, öffentlich entehrt und zu Geldstrafen verurteilt, und es erscheint ein nicht geringer Anteil von Ratsherren selbst zumindest im Niedergericht als straffällig. Aufgrund der Lebensverhältnisse waren die unteren Schichten überproportional mit Eigentumsdelikten vertreten, sodass Arme und Fremde die brutale Ahndung zu spüren bekamen. Ungleichheit vor Gericht spürten die machtlosen Menschen ohne schützendes soziales Netz und die Fremden ohne soziale Bindungen, obgleich etwa nach Hamburger Stadtrecht von 1270 die zu Gericht sitzenden Ratsmannen, denen der verfahrensleitende Vogt untergeordnet war, bei Eid Sorge zu tragen hatten, ›dass jedermann Recht widerfahre, sei es um Schuldforderungen, sei es um Körperverletzungen, oder um welche Sachen es sei, Armen und Reichen, Freunden und Fremden allen gleich‹.⁹⁵² Die grundsätzliche materielle Gleichbehandlung von Arm und Reich im Strafrecht wäre freilich erst dann erreicht, wenn peinliche Strafen, aber auch Schand- und Ehrenstrafen durch Geldzahlung nicht mehr abgelöst werden könnten. Einmal verhängte Geldbußen wurden auch von wirtschaftlich Schwachen, in diesen Fällen teilweise unter Gewährung von Abzahlungsmodalitäten, lange Jahre hindurch penibel eingetrieben oder durch äquivalente Arbeitsleistungen kompensiert. Die ältere juristisch orientierte, aber grundlegende Strafrechtsgeschichte litt unter einem modernen Systematisierungszwang und beschäftigte sich vornehmlich mit der Ermittlung strafrechtlicher Normen. Sie beschritt selten den Weg zu einer sozial- und mentalitätsgeschichtlich fundierten Kriminalitätsgeschichte, die zusätzliche Quellen erforderte, die allerdings erst für das spätere Mittelalter zur Verfügung stehen. Wenn im 19. Jahrhundert Strafrechtsgeschichte auf archivalischer Grundlage betrieben wurde, tauchten jedoch bereits durchaus Fra-

952 Stadtrecht J XXX; F. E, Das Hamburger Ordeelbook (2.2–2.4), S. 294.

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gestellungen im Sinne einer modernen Kriminalitätsgeschichte auf.⁹⁵³ In der Frühzeit einer oralen Gesellschaft, aber auch noch später, ist zudem häu g nur das Notwendige, Problematische und im Zweifelsfall zu Klärende verschriftlicht; das selbstverständliche Herkommen, das hinzugedacht werden müsste, ist für uns mangels Aufzeichnung nicht fassbar. Die Erweiterung der Quellengrundlage im späteren Mittelalter macht zudem deutlich, dass die in den Stadtrechtsprivilegien und Ratssatzungen normierten Sanktionen häu g nicht in der angedrohten Härte, in einzelnen Fällen überhaupt nicht vollzogen wurden. Keineswegs war der älteren Rechtsgeschichte die Differenz zwischen Norm und Wirklichkeit unbekannt, wie es gelegentlich von Historikern in ihrer Kritik suggeriert wird. Die Norm ist aber immerhin ein Teil der Wirklichkeit, indem der Gesetzgeber auf Probleme der Lebenswirklichkeit reagiert, eine Lösung für die Bewältigung des gesellschaftlichen Problems sucht, den zu regelnden Lebenssachverhalt als verwer ichen Tatbestand erfasst, eine Sanktion daran knüpft und für die gefundene Norm Geltung beansprucht. Das Urteil und dessen Vollstreckung, die im günstigen Fall anderen Quellengattungen zu entnehmen sind, stellen dann die anderen Teile der Lebenswirklichkeit dar. Der Rat stattete bereits in seinen strafrechtlichen Normen die Tatbestände exibel mit unterschiedlichen Rechtsfolgen aus, indem er insbesondere bei politischen Delikten – Ungehorsam, Zusammenrottung und Verschwörung – gegen den Rat, Amtsdelikten und schweren Friedensbrüchen eine arbiträre Strafzumessung ankündigte, vor allem bei geringeren Vergehen gegen den Frieden und Ordnungswidrigkeiten die Bußen kasuistisch xierte, Strafen zusätzlich für unabänderlich erklärte, Gnade ausschloss, ferner Fürbitten für den Delinquenten verbot oder sogar unter Strafe stellte. Andererseits ging der Rat von der Härte der Sanktion ab und richtete nach Gnade oder setzte die verhängte Strafe zu einem Teil oder zur Gän-

ze auf Gnade aus. Außerdem machte er in seltenen Fällen die Dauer einer Haftstrafe oder der zusätzlichen Stadtverbannung vom Wohlwollen des Opfers abhängig; dieses konnte auch die Annahme einer vom Rat festgesetzten Entschädigungszahlung verweigern. Der Rat milderte im Urteil oder außerhalb des Urteils die Strafen, um der konkreten Tat im Einzelfall oder gesetzlich noch nicht erfassten Tendenzen der Rechtsentwicklung gerecht zu werden, auch um politischen Umständen und Stimmungslagen in der Bevölkerung zu entsprechen, während die angedrohte Härte der Strafe die gewährte Gnade in ein helles Licht stellte. Gelegentlich verhängte harte exemplarische Strafen konnten bei den üblichen geringen polizeilichen Machtmitteln eine relative Machtlosigkeit angesichts der formierten Gruppen von Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft und genossenschaftlicher Gemeinschaften überspielen. Konrad Celtis konnte es wagen, in seiner »Norimberga« (cap. 14) kommentarlos und möglicherweise übertrieben von einer überaus unnachsichtigen und brutalen Strafpraxis des Rats zu berichten, der mit besonders grausamen Strafen gegen Räuber, Vatermörder, Diebe und Hochverräter vorgehe. Flexible Sanktionsdrohungen und Urteile korrelierten mit einem gleichfalls exiblen Gerechtigkeitsverständnis, das zwischen der notwendig harten Strafe zur Abschreckung, der die Rigorosität mildernden Billigkeit (aequitas) als Einzelfallgerechtigkeit und der religiöshumanitären Barmherzigkeit und Gnade oszillierte. Normen und Urteile können ferner von der Gesellschaft gefordert, gebilligt oder missbilligt werden; und die Gesellschaft und ihre verschiedenen sozialen Kreise können jenseits der Strafrechtsnormen und der gesetzlichen Kriminalisierung von Verhalten ihrerseits durch soziale Kontrolle aufgrund ihrer sozialen und ethisch-moralischen Normen abweichendes Verhalten (Devianz) verurteilen und mit sozialen Sanktionen oder Ausschlussmechanismen ahnden.

953 Vgl. etwa die Arbeiten von H. K zu Nürnberg und Regensburg.

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4.7.7 Materielles Strafrecht und Strafvollstreckung 4.7.7.1 Strafen an Leib und Leben Grausame Härte und Er ndungsreichtum kennzeichnen das Spektrum der mittelalterlichen Strafen, die nur rudimentär nach Deliktgruppen geordnet sind. Unter dem Ein uss alttestamentarischer Vorstellungen kam der Vergeltungsgedanke der Strafe vielfach im Talionsgedanken zur Geltung, wonach die Strafe dem Täter das gleiche Übel zufügen sollte, das dieser dem Verletzten angetan hatte, bei günstiger Auslegung des Gedankens aber auch nicht mehr. Für den Strafzweck war auch der Gedanke bedeutsam, dass die sündhafte Missetat die göttliche Ordnung verletzte und der dadurch beleidigte und zornige Gott durch die Bestrafung des Missetäters versöhnt werden musste, damit Unheil durch göttliche Strafen – Hungersnöte, Unwetter und Krankheiten – abgewendet wurde. Vor allem aber sollte die Strafe der Abschreckung dienen und den Verbrecher unschädlich machen. Diesen Zweck hatten neben der Todesstrafe auch die Leibesstrafen zu erfüllen, die im Falle der Verstümmelung zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Verkrüppelung führten, zugleich aber jedermann sichtbar machen sollten, dass er einen Rechtsbrecher vor sich hatte. Die Art der Verstümmelung verwies häu g als spiegelnde Strafe auf das begangene Delikt. Der (polizeilichen) Erkennung diente auch die Brandmarkung ins Gesicht, die den Delinquenten als Verbrecher gewissermaßen abstempelte. Machten die meisten Todesstrafen und Leibesstrafen, Friedlosigkeit und Acht an sich schon ehrlos, so gab es eine Vielzahl äußerst er ndungsreicher Ehrenstrafen im engeren Sinne. Todeswürdige Verbrechen waren Diebstahl, Raub, Kirchenraub, Totschlag, Mord, Mordbrand, Brand, Verrat, Landfriedensbruch durch unerlaubte Fehde, Heimsuchung (Hausfriedensbruch), Ehebruch, Bigamie, Notzucht, Blutschande, Sodomie, Zauberei, Vergiftung,

954 Siehe auch 5.10.

Unterschlagung, Fälschung, Münzfälschung. Bei Zauberei, wie sie etwa in Basel vom Rat geahndet wurde, handelte es sich um Liebeszauber, Schadens- und Vergiftungszauber. Zauberei ging wegen der Anrufung des Teufels oder gar der Verbindung mit einer Teufelsbuhlschaft später bei ießenden Grenzen in Hexerei über, die in Basel seit der Mitte des 15. Jahrhunderts verfolgt wurde. Aber erst seit der Mitte des 16. Jahrhunderts wurden Hexenverfolgungen im Reich zu einer Massenerscheinung.⁹⁵⁴ Todesstrafen waren Enthaupten und Hängen, Rädern (Zerstoßen der Glieder mit einem Rad), Pfählen, Spießen, Lebendigbegraben, Ertränken, Sieden in Wasser oder Öl, Verbrennen, Vierteilen (bei Verrat), Ausdärmen. Die Todesstrafen konnten dadurch verschärft werden, dass man den Delinquenten zum Richtplatz schleifen ließ oder seinen Körper auf dem Weg dorthin mit glühenden Zangen riss. Bei mehrfachen Verbrechen konnten Todesstrafen kumuliert werden. Die Entgelte für den Strafvollzug waren nach Leibesstrafen, leichteren Todesstrafen (Hängen, Enthaupten) und schweren (Rädern, Verbrennen, Ertränken) gestaffelt. Ehrenvoller als die Hinrichtung durch den Strang war diejenige durch das Richtschwert. Vor der Stadt befand sich als dauerhafte Baulichkeit die Richtstätte mit Galgen und Richtblock für die Enthauptung mit der Axt; dort wurden die Leibes- und Lebensstrafen vollstreckt. Spektakuläre Hinrichtungen mit politischem Hintergrund wurden gelegentlich auf dem Markt vollzogen. Zu den Verstümmelungsstrafen zählten Abhauen der Hand – bei gewalttätigen Friedensbrüchen –, Abhauen einzelner Finger oder Fingerglieder und Abschneiden oder Ausreißen der Zunge – bei Meineid und falschem Zeugnis, Gotteslästerung, Verleumdung, Verrat von Ratsgeheimnissen, kleineren Diebstählen – und Blendung, die manchmal den Todesstrafen gleichgestellt war. Die Ohren oder ein Ohr wurden bei nicht todeswürdigem Diebstahl abgeschnitten, um den Täter kenntlich zu machen,

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ferner bei Gotteslästerung, verbotenem Waffentragen und Meineid. Seltener waren das Abhauen eines Fußes, das Abschneiden der Nase und Kastration. Zu den Strafen zu Haut und Haar, d. h. den Leibesstrafen, gehörten Stäupen, Streichen mit Ruten, Schlagen, Haarabschneiden und Brandmarkung bei kleinen Diebstählen, Verwundung, Beleidigung, Schwören und Fluchen. 4.7.7.2 Schandstrafen und Freiheitsstrafe Schwere Delikte entehrten den Täter durch die begangene Tat selbst und die Art der verhängten Strafe. Die Schand- und Ehrenstrafen dienten der öffentlichen Beschimpfung und Demütigung durch schimp ichen Aufzug, wobei der Verurteilte barfuß, im Hemd oder weitgehend nackt durch den Ort gehen und einen ihn verächtlich oder lächerlich machenden Gegenstand, einen Schandstein, Schandmantel, räudigen Hund oder Strafwerkzeug, tragen musste. Vollzogen wurden sie ferner durch Stehen am Pranger (Schandpfahl, Kaak, Kax) auf dem Markt in seinen verschiedenen Formen mit sprechenden Hinweisen auf das begangene Delikt, durch Anschließen an ein Halseisen und einen Pfahl oder eine Staupsäule, durch Ausstellen in einem eisernen Kä g. An einem Tümpel oder Wasserlauf errichtet war die Schuppe (Schupfe), Wippe oder der Lasterkorb (Badekorb), mit denen Verurteilte – häu g traf es straffällige Bäcker – ins Wasser oder in einen Pfuhl getaucht oder geschleudert wurden. Abbitte und Widerruf mussten in schimp icher oder demütigender Form geleistet werden. Hinzu kamen öffentliches Ausstäupen und Hinausprügeln aus der Stadt. Verhängt wurden derartige Ehrenstrafen bei Gotteslästerung, weniger schweren Fällen von Meineid, Verbalinjurien, Lebensmittelfälschungen sowie sittlichen und sexuellen Verfehlungen verschiedener Art. Während bestimmte Schandstrafen, die auch durch Geldzahlung abgelöst oder durch

Fürbitte erlassen werden konnten, je nach Status in einem entsprechenden sozialen Umfeld eher keine dauerhafte gesellschaftliche Diskriminierung und Ausgrenzung nach sich zogen, bestimmte das Rottweiler Stadtrecht, dass diejenigen, die peinlich bestraft wurden, in den Zünften fortan mit keinen Aufgaben betraut werden und kein Stimmrecht mehr haben sollten.⁹⁵⁵ Doch konnte eine Prangerstrafe auch als unvereinbar mit der Ehre der Zunft und mit Zunftzugehörigkeit erachtet werden. Alltagskriminalität wurde von den Ratsgerichten auch im Falle von notorischen Wiederholungstätern oft sehr langmütig behandelt und gesellschaftlich kaum in der Weise moralisch verurteilt, dass sie stets zu sozialer Randständigkeit geführt hätte. Der Rat mahnte in solchen Fällen mehrfach und strafte härter, wenn das Maß des gesellschaftlich Erträglichen deutlich überschritten wurde. Die öffentliche Entehrung einer Amtsperson wie 1462 die des Augsburger Steuermeisters, Stadtbaumeisters und Bürgermeisters Ulrich Tendrich, der in die städtische Kasse gegriffen hatte, vernichtete dessen persönliche und ständische Ehre, Amtsfähigkeit und wirtschaftlichen Kredit. In einer spektakulären Inszenierung wurde der Delinquent in Anwesenheit einer großen Menge wie ein Dieb mit einem Strick um den Hals beim Läuten der Sturmglocke auf ein Gerüst geführt, um die Aberkennung seiner Ehre und der dazu gehörenden sichtbaren Zeichen durch Urteil entgegenzunehmen. Der Entehrte durfte sich künftig nicht mehr mit seinen Amts- und Ehrentiteln ansprechen lassen und nicht mehr die seinem früheren Stand und Rang zukommenden Insignien der sozialen Kleiderordnung, wertvolle Kleiderstoffe, Pelz und Schmuckgegenstände, tragen. Ferner verlor er die Waffenfähigkeit und durfte nur noch ein abgebrochenes kleines Brotmesser mit sich führen. Außerdem wurde Stadtarrest über ihn verhängt, damit er jedermann in der Stadt als abschreckendes Beispiel diene.⁹⁵⁶ Immerhin

955 H. G (Hg.), Das ältere Recht der Reichsstadt Rottweil, Nr. 375, S. 224. 956 K. S, Verletzte Ehre. Ritualisierte Formen sozialer, politischer und rechtlicher Entehrung im späteren Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit, in: D. W (Hg.), Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts, S. 278 f.

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wurde er nicht hingerichtet, was durchaus möglich gewesen wäre. Die Freiheitsstrafe hatte als Strafe zunächst nur eine geringe Bedeutung. Im römischen Recht war sie nach Auskunft von Stadtjuristen nicht vorgesehen, wohl aber im kanonischen Recht. Verhängt wurde sie etwa gegen zahlungsunfähige Schuldner. Die Gefängnisse in den oft zahlreichen Türmen der Stadttore und in den Rathauskellern dienten vorwiegend der Beugehaft und der Verwahrung der Gefangenen während des Prozesses und bis zur Hinrichtung oder um abzuwarten, ob bei Verwundung des Opfers Todesfolge eintrat oder nicht. Während des Vorverfahrens konnte die Verwahrung als eine Art Foltermittel erscheinen. Seit dem 14. Jahrhundert kamen in einigen Städten längere oder lebenslange Freiheitsstrafen auf, die aber angesichts der lichtlosen, kalten und feuchten und von Ungeziefer starrenden Gefängnisse, durch Einsperren in den Stock oder Anketten und des Hungers wegen ihrer Wirkung nach Leibesstrafen darstellten. Auch gab es im 15. Jahrhundert eine wachsende Vielfalt von Inhaftierungsarten für stadtsässige Straftäter, wie entsprechend Haftstrafen für geringere Delikte wie Beleidigungen, einfachere Körperverletzungen, Widersetzlichkeiten gegen Amtspersonen, kleine Betrügereien und Übertretung städtischer Polizeiverordnungen verhängt wurden. Für die Kosten hatte der Inhaftierte grundsätzlich selbst aufzukommen. 4.7.7.3 Stadtverweisung Die Stadtverweisung (abiurare civitatem) war eine genossenschaftliche und kommunale Strafmaßnahme der städtischen Friedensgemeinschaft und wurde häu g anstelle einer peinlichen Strafe für Diebstahl, Meineid, Notzucht, Totschlag und todeswürdige Verbrechen verhängt. Sie bedeutete gewissermaßen den zivilen Tod und hatte als zentrales, kaum Kosten verursachendes Stra nstrument der Ratsgerichtsbarkeit neben der Bestrafung den Sinn, den Täter dem Gesichtskreis des Verletzten, seiner Familie

und seiner Verwandten zu entziehen, um so Anlass zu Rachehandlungen, Streit und Aufruhr zu vermeiden und den Frieden zu sichern. Außerdem stellte der gefährliche oder nur lästige Delinquent für die öffentliche Ordnung keine Bedrohung mehr dar. Verbannung wurde vom Rat je nach Schwere der Tat auf lebenslänglich, auf unbestimmte oder gestaffelt auf bestimmte Zeit und in der Distanz gleichfalls unterschiedlich verhängt sowie mit oder ohne Rückkehrverbot. Sie wurde als exibles Instrument gehandhabt als unmittelbare und reguläre Strafe, in Verbindung mit Leibes- oder Geldstrafen, als Beugestrafe zur Erzwingung von Straf-, Sühne- und Schadensersatzleistungen, Verdachtsstrafe und Gnadenstrafe, ferner als Folge des Ungehorsams gegenüber dem Gericht (contumacia), oder nur als polizeilich-administrative Austreibung unerwünschter, einer asozialen Lebensweise beschuldigter Personen wie fremde Bettler, Prostituierte, fahrende Leute oder Kleinkriminelle. Entfernungszonen von der Stadt bildeten mit zunehmender Differenzierung die Gemarkung der Stadt, die Distanz von einer Meile bis drei Meilen, Zonen von 10 bis 20 Meilen, geogra schtopogra sche Grenzbestimmungen, das Herrschaftsgebiet der Stadt (Gericht und Gebiet) oder geogra sch mit Flüssen und Gebirgszügen bezeichnete Fernverweisungen.⁹⁵⁷ Die Folgen der Verbannung waren hart oder ruinös, wenn der Delinquent nicht andernorts Fuß fassen konnte oder durch überörtliche Verwandtschaftsbeziehungen aufgefangen wurde. So verlor der Verbannte seine durch die heimische Stadtrechtsordnung gewährten Rechte sowie seinen existenzsichernden Erfahrungsund Lebensraum; es zerriss die Verbindung mit der zurückgelassenen Familie und Verwandtschaft, die Ehe wurde faktisch suspendiert. Die Erwerbs- und Lebensgrundlage brach weg, und die Situation für Frau und Kinder verschlechterten sich bis zu Armut und Verelendung. Es gab aber die Möglichkeit gnädiger Wiederaufnahme des Täters, einen durch Gnadenbitten initiierten Gnadenhandel mit dem Rat. Andererseits wur-

957 Siehe die Beiträge von H. M und G. M in: G. M (Hg.), Grenzen und Raumvorstellungen.

Städtische Gerichtsbarkeit 515

den für unerlaubte Rückkehr – abgesehen von der Züchtigung mit Ruten, Prangerstehen und Ausschaffung aus der Stadt – drakonische Strafen bis hin zu Verstümmelung und Hinrichtung ohne vorheriges rechtliches Verfahren angedroht. Es sind Fälle belegt, in denen der Stadt verwiesene Diebe und andere Delinquenten zurückkehrten und geblendet oder verstümmelt wurden. Weltliche Gerichte verhängten neben der Verbannung auch Strafwallfahrten, die den Sühnegedanken in religiöser Form ausdrücken. 4.7.7.4 Richten nach Gnade und Gnadenbitten – Rigorosität des Strafens Das Richten nach Gnade – nicht nach strengem Recht – bot dem Rat im Sinne eines huldreichen und milden Regiments die Möglichkeit, die Härte des peinlichen Strafrechts zu mildern; gelegentlich wurde dies in Strafbestimmungen jedoch ausgeschlossen⁹⁵⁸, die Intervention von Ehepartnern, Verwandten und Freunden zugunsten des Delinquenten war gelegentlich sogar bei Strafe verboten. Es intervenierten mit Gnadengesuchen und -appellen aber auch umliegende Adlige, Fürsten und sogar der König. Angedrohte martialische Strafen konnten aufgehoben, in leichtere Strafen oder Geldbußen umgewandelt werden, wenn angesehene Freunde des Verurteilten Gnadenbitten an den Rat richteten oder der Verurteilte, seine Angehörigen oder Freunde bereit waren, die peinliche Strafe durch Geld abzulösen. So wurden Todesstrafen gegen eingesessene Bürger selten ausgesprochen; an ihre Stelle traten Stadtverweisung, Turmstrafen oder Geldbußen. Der Zürcher Rat begnügte sich etwa 1424 im Falle einer Kindsmörderin mit Stadtverbannung und wollte die Strafe des Ertränkens erst dann ohne Gna-

de an ihr als einer verurteilten Frau vollziehen lassen, falls sie in die Stadt zurückkehrte.⁹⁵⁹ Die Gewährung von Gnade, wenn der Rat bei Bürgern Gnade vor Recht ergehen ließ, förderte die Bereitschaft des Verurteilten, die Strafe anzunehmen, damit aber auch das Vertrauen in die Rechtsdurchsetzung und das friedliche Zusammenleben in der Stadt. Hinsichtlich der Bürger gab es gelegentlich einen ganz erheblichen Unterschied zwischen den rechtlich angedrohten und den tatsächlich verhängten oder schließlich vollzogenen Strafen. Häug vermittelte der Rat bei Totschlag oder Verwundung zwischen den beteiligten Seiten den Abschluss von Sühneverträgen.⁹⁶⁰ Auch begnadigte er, wenn sich Täter und Opfer im Anschluss an ein Strafverfahren außergerichtlich geeinigt hatten. Bei Totschlag und Körperverletzung konnte der Täter auch bei befristeter Stadtverbannung nicht auf Rückkehr hoffen, wenn er nicht einen vertraglichen Sühneausgleich mit der Familie des Opfers erreicht hatte. Der Rat konnte nach Gnade richten, d. h. ein mildes Urteil fällen, oder auf Gnadenbitten im Weg von Suppliken von Familienangehörigen, Verwandten oder Nachbarn reagieren. Die volle Härte des Strafrechts traf die häug im Schnellverfahren verurteilten Fremden und die zudem oft massenweise hingerichteten landschädlichen Leute und Seeräuber, aber auch die unvermögenden und ein usslosen Angehörigen der städtischen Unterschichten. In Hamburg etwa wurden in der Zeit von 1390 bis 1532 zwar über 330 Menschen hingerichtet, doch befanden sich darunter allein schon 306 Seeräuber, von denen am Tag vier Mal bis zu 75 Personen auf einmal enthauptet oder gehenkt wurden. Nimmt man die vielen Kirchendiebe des Jahres 1392 und die drei Aufrührer von 1483

958 W. S, Kriminalität und ihre Verfolgung, S. 142 f. 959 H. Z-W/H. N (Hg.), Die Zürcher Stadtbücher II, Nr. 166, S. 353. 960 R. H, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, S. 296–341. Es kam zu einer gütlichen Übereinkunft zwischen den Vertretern der Familien des Opfers und des Täters, wobei der Gerichtsherr am Verfahren nur als Leiter der Sühneverhandlungen beteiligt war. Ausgehandelt wurden umfangreiche liturgische Verp ichtungen, Wallfahrten, die Errichtung eines Sühnekreuzes am Ort der Tat, die Zahlung von Geldbeträgen für die Versorgung der Hinterbliebenen. Die eigentliche Strafe war dann die Verweisung aus der Stadt.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

hinzu, so bleiben, wenn die Statistik zutrifft, für den gesamten Zeitraum von 142 Jahren nur noch 6 sonstige Hinrichtungen übrig. Um Kriminalität und Strafpraxis im Hinblick auf die Todesstrafe richtig einschätzen zu können, müssen deshalb die Hinrichtungsstatistiken anderer Städte entsprechend differenziert und gewichtet werden. Außerdem sind eine hohe Dunkelziffer, quellenbedingt das Vorliegen von Untergrenzen, das Alter der Strafmündigkeit und die jeweiligen, vergleichsweise niedrigen Einwohnerzahlen, die eine hohe Verbrechensrate ergeben, in Rechnung zu stellen. In Augsburg wurden in den Jahren 1369, 1371 und 1373 jeweils 10, 13 und 5 Personen hingerichtet. Als 1471 die Grube unter den Galgen geöffnet wurde, fand man 250 Schädel von Gehenkten, während gleichzeitig noch 32 Diebe am Galgen hingen. In Nördlingen fanden von 1407 bis 1500 insgesamt 137 Hinrichtungen statt, in Frankfurt am Main 135 von 1366 bis 1400, 317 von 1401 bis 1560, in Lübeck 411 von 1371 bis 1460, sodann 252 zwischen 1461 und 1582. Das erheblich kleinere Stralsund brachte es zwischen 1310 und 1472 auf 684 Hinrichtungen, das noch wenig bedeutende Berlin auf 101 zwischen 1399 und 1448. In Breslau wurden von 1456 bis 1525 insgesamt 454 Menschen hingerichtet: 251 gehenkt, 103 enthauptet, 25 gerädert, 39 verbrannt, 31 ertränkt, 3 lebendig eingegraben und 2 gevierteilt. An Morden sind in einzelnen Jahren zu verzeichnen: 20 (1368), 12 (1370), 13 (1372) und 29 (1373). In Wien wurden in den zehn Jahren von 1470 bis 1479 insgesamt 44 Menschen gehängt, 11 ertränkt, 10 enthauptet, 5 gerädert und 3 verbrannt. Aus Basel sind im Zeitraum von 1450 bis 1510 zwischen 230 und 250 Todesurteile bekannt. Dort fanden in der Zeit von 1361 bis 1365 über 300 schwere und leichtere Verbrechen statt, davon ent elen 35 auf Totschlag, 185 auf Wundtat und 36 auf sonstige Friedbruchsdelikte wie Überfall oder Heimsuchung. Im Jahresdurchschnitt waren es

7 Fälle von Totschlag, 37 Wundtaten und etwas über 7 andere Friedensbrüche.

4.8 Die städtischen Finanzen 4.8.1 Haushalts- und Rechnungswesen Die mittelalterlichen Städte kannten, soweit wir wissen, noch kein elaboriertes Budget. Wie ein solches auszusehen hatte, erfahren wird jedoch aus den Instruktionen des Ritters L  E für den Kurfürsten von Brandenburg vom Ende des 15. Jahrhunderts.⁹⁶¹ Immerhin gab es nachweislich einzelne rudimentäre Budgetvoranschläge etwa in Schaffhausen (1409/10) mit geschätzten Einnahmen und Ausgaben und in Zürich (1424) mit einer Au istung von Guthaben, Einnahmen, Schuldenbestand, sehr pauschalen Ausgaben und einer nicht nachvollziehbaren Berechnung eines De zits, vor allem periodische Mittelzuweisungen an verausgabende Haushaltsstellen und eine laufende Rechnungskontrolle. Ratskommissionen hatten Vorschläge für eine Verringerung der Ausgaben und zum Schuldenabbau auszuarbeiten, die neben den Einnahmen- und Ausgabenkonten der Jahresrechnungen und dem erworbenen empirischen Wissen strukturelle Einsichten voraussetzten oder erbrachten. Das gilt auch für die Bildung von sachlichen Titelrubriken bei Einnahmen und Ausgaben und für die Führung von Passivschuldenbüchern, in denen die Schulden bei einheimischen und auswärtigen Rentengläubigern, die Zahlungsmodalitäten und Fälligkeitstermine verzeichnet wurden, sodass der jährliche Zinsendienst ersichtlich war. Ein detaillierter Ausgabenetat war angesichts des Gewichts außerordentlicher Ausgaben nicht möglich, allenfalls eine sehr grobe Schätzung. Insgesamt handelte es sich aber um eine Finanzwirtschaft und Finanzpolitik, die mehr auf Störungen und unvorhersehbare Ausgaben reagierte und weniger vorausplante. Die ständig an-

961 E. I, Medieval and Renaissance eories of State Finance, S. 39–41. Eine neue Edition der bemerkenswerten Vorschläge für die Territorialverwaltung ndet sich in M. T (Hg.), Ludwig von Eyb der Ältere (1417–1502). Schriften, Neustadt/Aisch 2002, S. 253–270.

Die städtischen Finanzen 517

fallenden Kosten dürften aber bekannt gewesen sein. Die Ausgaben dominierten die Einnahmen, sodass je nach Situation neue Mittel durch Kreditaufnahme, Steuererhöhungen oder Gewinne aus Veräußerungen zu beschaffen waren und die Finanzierungsprobleme bei Krediten auf spätere Zeiten einer Rückzahlung verschoben wurden. Als Folgewirkung der Aufstände des ausgehenden 14. Jahrhunderts entstand in Braunschweig die bemerkenswerte, 1406 dem Rat übergebene ›Heimliche Rechenschaft‹ über das ältere und jüngere Finanzwesen, die nach einem Ratsbeschluss alle drei Jahre vor dem engeren Ausschuss, dem ›Küchenrat‹, und einigen anderen Ratsherren, für die diese Instruktion nützlich und notwendig war, verlesen werden sollte. Das Buch enthält einen Kanon an Ratschlägen für den kommunalen Finanzhaushalt, der helfen sollte, Fehler in der Finanzwirtschaft und somit Anlässe für neuerliche Unruhen und Aufstände zu vermeiden.⁹⁶² Die ersten beiden Teile stellen in einem geschichtlichen Rückblick die Gründe für die Verschuldung der Stadt dar, wie die Schuld im Gefolge des Aufruhrs von 1374 den höchsten Stand erreichte und mit welchen Maßnahmen – Vermögensteuern, Zöllen, Kreditaufnahme, Senkung der Rentenzinsen, Minderung der Ausgaben – sie danach abgebaut wurde. Ein knapper dritter Teil macht Angaben zum damaligen Schuldenstand, und ein vierter spezi ziert eingehend die Außenstände und Forderungen (Aktivschulden) der Stadt sowie die in nutzbaren Rechten, Liegenschaften und gemeinnützigen Einrichtungen und Bauten investierten Gelder. In dem in den Abschriften des Buchs vorgesehenen Raum für Nachträge sollten alle drei Jahre die im Aktiv- und Passivbestand des städtischen Vermögens aufgetretenen Veränderungen festgehalten werden, damit der Rat wissen könne, ob die Vermögens- und Finanzlage der Stadt (der stad ding) in den großen Summen gegenüber dem Basisjahr 1406 konstant blieb,

sich besserte oder nicht. Da die jährliche Rechnungslegung nur einen kleinen Nutzen für das gemeine Gut der Stadt erbringe, wird im Kölner Trans xbrief von 1513 bestimmt, dass die an der Rechnungslegung beteiligten Vertreter der Gaffeln einen festgestellten Rückgang der Einkünfte ihrer Gaffelgesellschaft melden mussten, damit man für die Zukunft dagegen Vorkehrungen treffen konnte. An die Braunschweiger ›Heimliche Rechenschaft‹ schloss sich ein Jahrzehnt später das ›Gedenkbuch‹ des Kaufmanns, Ratsherrn und mehrmaligen Kämmerers Hans Porner an, der in einer Privatarbeit für die Jahre 1417 bis 1426 teilweise nach städtischen Regiebetrieben, Sachen und Titeln rubriziert eine detaillierte Übersicht über die vielfältigen Einnahmen und Ausgaben der Stadt zusammenstellte.⁹⁶³ Die Finanzen bildeten den Arkanbereich, das Geheimnis der Stadt, das von einem inneren Zirkel von Ratsherren gehütet und in der Vollständigkeit häu g nicht allen Ratsmitgliedern zugänglich war. Diese Geheimhaltung ließ in angespannten Finanzlagen und bei Verschuldung, die durch Steuererhöhungen und außerordentliche Steuern bewältigt werden sollten, in vielen Städten außerhalb der Ratskreise Vermutungen entstehen, dass Korruption, Unterschlagungen, Amtsmissbrauch zu eigenen Gunsten, Verschwendung, übermäßige Kosten der Verwaltung und allgemein Misswirtschaft im Spiele waren, und Forderungen nach Offenlegung der Finanzlage laut werden. Der Gemeindeausschuss der 300 verlangte 1397 in München als Gegenspieler von Innerem und Äußerem Rat, die Kammer- und Steuerbücher der zurückliegenden sieben Jahre offenzulegen, obwohl das verfassungsmäßige, aus Vertretern beider Räte und des Gemeindeausschusses bestehende Prüfungsgremium die Abrechnungen abgenommen hatte. Ein neuer, erweiterter Ausschuss, dem von Seiten der Gemeinde zum großen Teil Patrizier angehörten, prüfte 14 Tage lang, fand aber keine Fehler in der Buchführung. Dennoch drangen die

962 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 6, S. 121–207. 963 Ebd., S. 209–281.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

Gemeindevertreter im Ausschuss darauf, dass ein Auszug aus den Büchern hergestellt und sowohl dem Gemeindeausschuss als auch einer allgemeinen Gemeindeversammlung vorgelegt werde. Wenig später wurden erneut eine Buchprüfung und ein Auszug beschlossen. In Köln verlangte die Ratsopposition 1512 die Überprüfung der Rechnungsbücher der letzten 30 Jahre. Nicht wenige der Verdächtigungen und Beschuldigungen stellten sich als grundlos heraus. Andererseits bot die Kritik an der Finanzwirtschaft des Rates die Möglichkeit, oppositionelle politische Gruppen zusammenzuführen, und den Anlass, um das ursächliche und weiterreichende Ziel zu verfolgen, nämlich die bestehenden Machtverhältnisse in der Stadt zu verändern. Institutionell wurde die strikte Geheimhaltung durch die Regierungsbeteiligung der Zünfte und dadurch durchbrochen, dass Bürger zu Ämtern beigeordnet wurden und Großen Räten, Zunft- und Bürgerausschüssen vor allem die Finanzkontrolle und Mitwirkung an Entscheidungen über größere Ausgaben, die Veräußerung von Bestandteilen des städtischen Vermögens und die Kreditaufnahme durch den Verkauf von Erb- und Leibrenten zukam. Der Kölner Trans xbrief von 1513 spezi ziert die im Verbundbrief von 1396 verankerten Mitwirkungsrechte der Vierundvierziger aus den Gaffeln im Hinblick auf Ausgaben für den Erwerb kaiserlicher und päpstlicher Privilegien. Die Erhöhung oder Senkung der Akzisen und ihre Verpachtung, ferner die Kreditgewährung an Fürsten, Herren und Städte und der Verkauf von Erb- und Leibrenten sollten hingegen nur noch mit Wissen, Willen und Konsens aller Zünfte (Ämter) und Gaffeln und der ganzen Gemeinde erfolgen. Die Aufteilung in einen ordentlichen und außerordentlichen Haushalt sowie in eine Reserve (Schatz) taucht in eindeutiger Begrifflichkeit nicht auf, ndet sich aber im europäischen

Denkhorizont sowie in einigen Städten und kann für analytische Zwecke, um durch Zuordnung strukturelle Erkenntnisse zu gewinnen, vorgenommen werden wie auch die modernere, neben den nanzwirtschaftlich- skalischen vor allem auf volkswirtschaftliche Erkenntnisse zielende Gliederung des Haushalts in einen Verbrauchshaushalt mit den vermögensunwirksamen und in einen Investitionshaushalt mit den vermögenswirksamen Einnahmen und Ausgaben auf der Grundlage eines standardisierten Kontenplans.⁹⁶⁴ 4.8.2 Einnahmen und Ausgaben 4.8.2.1 Die Einnahmen Für das Nürnberger Haushaltswesen (1431–1440) kann Paul Sander aus den Titeleinteilungen und Buchungen der städtischen Einnahmeregister etwa 50 Einnahmetitel anführen. Fasst man die einzelnen Titel zu größeren Gruppen zusammen, so ergeben sich folgende Einnahmen und ihre prozentuale Verteilung nach jährlichen Durchschnitten:⁹⁶⁵ – Steuern: direkte Vermögensteuer (20,27%), Ungeld auf Bier und Wein (21,21%), Besteuerung von Einzelgewerben (2,07%), Grabengeld als Loskauf von der Festungsbaup icht (nur zeitweise); – Marktabgaben (Waage, Zoll) und Münze (2,67%); – Vogteiabgaben der Juden und Dörfer (3,17%); – Zinse von Liegenschaften, Korngülten und Verkauf aus städtischen Kornvorräten (5,84%); – Reichswald (0,99%); – Gewerbliche Eigenbetriebe: Mühlen, Schmelzhütte, Ziegelhütte, Marstall, Geldwechsel (2,70%); – Verkauf von Grundstücken und Häusern (0,30%);

964 M. K, Luzerner Staats nanzen; O. L, Der Finanzhaushalt der Stadt Schaffhausen. 965 P. S, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs, S. 705; siehe dazu im Einzelnen S. 334–418.

Die städtischen Finanzen 519

– Agiogewinn⁹⁶⁶ und Zinsen – deklariert als Verzugszinsen – für ausgeliehene Kapitalien (3,05%); – Rentenverkäufe (33,97%); – besondere Einnahmen (0,74%).⁹⁶⁷ Frankfurt am Main gestattet eine Momentaufnahme für das Finanzjahr 1428/29 anhand des Rechenmeisterbuchs. An Ausgaben konnten folgende Posten ermittelt werden: Übertrag aus dem Schatz als Rechnungsvortrag (32,2%), Verbrauchssteuern (30,9%), Vermögensteuern (12,1%), Handels- und Verkehrsabgaben (11,0%), Eigenbetriebe (6,5%), Messe (5,5%), Verwaltungseinnahmen (1,2%), Territorium (0,6%).⁹⁶⁸ Schaffhausen hatte im 15. Jahrhundert an durchschnittlichen anteiligen Einnahmen: Direkte und indirekte Steuern 54,7 Prozent, verspätet eingezahlte Steuern (Restanzen) 6,9 Prozent, Einnahmen aus Erwerbseinkünften (insbesondere im Salzhandel) 3,2 Prozent, Mietzinse, Gebühren und Bußgelder 4,7 Prozent. Damit wurden 69,1 Prozent der Gesamteinnahmen erzielt. Weitere 26,1 Prozent erbrachten Anleihen und 4,2 Prozent resultierten aus der Au ösung von Bargeldreserven.⁹⁶⁹ Die Stadt Köln bezog am Ende des 14. Jahrhunderts Einkünfte aus annähernd 150 verschiedenen Quellen; dabei hatte die Stadt kein nutzbares Territorium. Vor allem kleinere Ein-

nahmeposten variieren in den Städten, die hier ihre örtlichen Spezialitäten aufweisen, sehr stark.⁹⁷⁰ Regelmäßige Einkünfte brachten den Städten die vielen satzungsgemäß verhängten Bußgelder. Isolierte Beträge ergaben sich aus dem Zugriff auf erbenloses Gut oder aus einer Lotterie wie dem Wiener Glückshafen, mit dem 1474 und 1523 beträchtliche Gewinne erzielt wurden. Auch die Zulassungstaxen zu den Wiener Pferderennen konnten verbucht werden. Der Geldwechsel im städtischen Zahlungsverkehr brachte Kursgewinne, aber auch Verluste. Eigenbetriebe arbeiteten verschiedentlich nur für den städtischen Bedarf und warfen geringe privatwirtschaftliche Gewinne ab, senkten aber die Kosten. 4.8.2.2 Die Ausgaben Für Nürnberg hat Paul Sander die durchschnittlichen Ausgaben (1431–1440) in folgende Gruppen eingeteilt und anteilig ermittelt:⁹⁷¹ I Allgemeine Verwaltung (7,52%) – II Sicherung der Stadt und ihrer Interessen gegen auswärtige Mächte: Kriegsausgaben, Söldner, auswärtiger Dienst, Sicherheits- und Nachrichtendienst, Ehrungen für fremde Besucher usw. (29,25%) – III Rechtsp ege (0,81%) – IV Polizei und Wohlfahrtsp ege (0,88%) – V Bauwesen (17,96%) – VI Verzinsung der öffentlichen

966 Ein Agiogewinn wurde dadurch erwirtschaftet, dass die Stadt, wenn irgend möglich, ihre Forderungen in Gold (Gulden) geltend machte, ihrerseits aber Verbindlichkeiten aufgrund des gesetzlichen Umrechnungskurses in Silber einzulösen bestrebt war. Der gesetzliche Wert der silbernen Hellermünze (Umrechnungskurs) hinkte in der Regel dem marktgängigen Guldenkurs wohl um eine Kleinigkeit nach, sodass die Losunger in ihren Registern für jeden Gulden, den sie einnahmen oder ausgaben, einen etwas geringeren Wert zu verrechnen hatten, als dem Silberwert der ausgegebenen oder eingenommenen Goldmünzen entsprach. Die in Gulden geleisteten Einzahlungen wurden in gesetzlicher Silbervaluta in den Registern verrechnet, mithilfe des Wechslers der Stadt jedoch zu ihrem wahren Wert in Silber umgesetzt und in dieser Gestalt zur Deckung der im Ausgabenregister gebuchten Silberausgaben verwendet. P. S, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs, S. 326 f. 967 Für Frankfurt a. M. in den Jahren 1404–1406 hat K. B (Der öffentliche Haushalt, S. 341) folgende Werte ermittelt: I. Verbrauchssteuern: 38,8% – II. Handels- und Verkehrsabgaben: 23,3% – III. Schatzungen (Bede, Judensteuer): 22,8% – IV. Leibgedinge und Wiederkäufe: 3,5% – V. Verschiedenes (privatwirtschaftliche Einnahmen, Gebühren etc.): 11,6%. Vgl. auch die Positionen bei A. R, Der Basishaushalt der Stadt Lüneburg in der Mitte des 15. Jahrhunderts; M. K, Luzerner Staats nanzen 1415–1798; J. R (Basel). 968 G. F, Zahlen und Menschen, S. 128. 969 O. L, Der Finanzhaushalt der Stadt Schaffhausen, S. 104 f. 970 Wichtige Quelleneditionen: B. H, Der Stadthaushalt Basels im ausgehenden Mittelalter; R. K, Die Kölner Stadtrechnungen des Mittelalters; K. K, Kämmereirechnungen der Stadt Hamburg; R. V, Kämmereibuch der Stadt Reval. 971 P. S, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs, S. 701; vgl. S. 419–698.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

Schuld (35,73%) – VII Erwerb von Besitz- und Hoheitsrechten (7,77%) – VIII Unbestimmte Zwecke (0,08%). Die Ausgaben für Bauten können das Bild allerdings stark verzerren, da sie erheblich variieren. Im Anschluss daran bildet Sander den Zweckbegriff »Sicherung der Stadt gegen Vergewaltigung ihrer Interessen durch auswärtige Mächte« und durchleuchtet von Gruppe II ausgehend die einzelnen Gruppen danach, was unter diesen Begriff fallen würde. So diente das Bauwesen (V) – was nicht für alle Zeiten gilt – fast ausschließlich der Stadtbefestigung, der Erwerb von Besitz- und Hoheitsrechten (VII) der Abschließung der territorialen Interessensphäre der Stadt und der Verbesserung ihrer auswärtigen Beziehungen, die öffentliche Schuld und ihre Verzinsung (VI) wiederum der Finanzierung der Gruppen II, V und VII. Damit entfallen auf den konstituierenden Zweckbegriff 90,71 Prozent der jährlichen Durchschnittsausgaben. Werden die allgemeinen Verwaltungsausgaben gleichfalls weiter aufgeschlüsselt, so ergibt sich ein noch höherer Anteil. Für Schwäbisch Hall im 15. Jahrhundert errechnet D K hinsichtlich der Ausgaben für die äußere Sicherheit, d. h. für die Abwehr aller mit Waffengewalt verbundenen Beeinträchtigungen der Stadt von außen, einen Anteil von 19 Prozent. Hinzu kommen Ausgaben für die Leistung von Reichssteuern, die aber erst im 16. Jahrhundert stark zunehmen, für Beiträge zu Städtebünden u. Ä. weitere 8 Prozent. In der Interpretation Paul Sander folgend, kommt er unter dem Gesichtspunkt der »Sicherung der städtischen Interessen gegen Beeinträchtigung von außen« für das 15./16. Jahrhundert auf einen Anteil von über 90 Prozent der Gesamtausgaben.

Für Frankfurt am Main konstituiert Gerhard Fouquet für das Finanzjahr 1428/29 an Ausgaben folgende Posten: Verzinsung der öffentlichen Schuld (30,5%), Bauwesen (19,4%), innere und äußere Sicherheit (17,9%), Territorialpolitik (11,8%), Verwaltung (6,1%), König und Reich (5,9%), Außenvertretung (4%), Repräsentation (1,7%), Münze (1,65%), Mühlen (1,1%).⁹⁷² Für Schaffhausen ergeben sich für das 15. Jahrhundert diese durchschnittlichen Anteile: Zinsendienst (etwa 50%), Schuldentilgung (17%), unmittelbare Sicherung der Stadt nach außen – Wachmannschaften, Waffen, Nachrichten- und Botendienst, direkte Kriegsausgaben – (12%), Hoch- und Tiefbau (9%), Verwaltung (7%), Privilegien und Rechte (1%) u.a.⁹⁷³ Von eorien und Methoden der modernen Finanzwissenschaft ist der Standardkontenplan geleitet, den Martin Körner in seiner Untersuchung der Finanzen des alten Stadtstaates Luzern erstellt hat und dem an der Mittelverwendung orientiert eine Verbrauchsrechnung (Verwaltungsrechnung) und eine Investitionsrechnung (Vermögensrechnung) zugrunde liegt.⁹⁷⁴ Die Zeitgenossen wirtschafteten natürlich nicht nach diesen wissenschaftlichen Grundsätzen und vollzogen teilweise nur im Ansatz die ansonsten gebräuchlichen Untergliederung in einen ordentlichen und außerordentlichen Haushalt, doch kann der moderne analytische Ansatz entsprechend den Schwankungen der Einnahmen und Ausgaben die Konjunkturabhängigkeit des städtischen Finanzhaushalts und die vermögenswirksamen Entwicklungen erkennbar machen. Gegen die unscharfen Zweckbegriffe, die auf ihm beruhende Interpretationen und Anteilsberechnungen, wird man im Einzelnen Ein-

972 G. F, Zahlen und Menschen, S. 128 f. 973 O. L, S. 104, 277–401. 974 M. K, Luzerner Staats nanzen, S. 389–397. Ihm folgen mit Modi kationen B. F, Der Haushalt der Stadt Marburg, und weitgehend O. L, Der Finanzhaushalt der Stadt Schaffhausen.

Die städtischen Finanzen 521

wände erheben können.⁹⁷⁵ Außer Frage steht jedoch, dass der Erhaltung von Sicherheit und Unabhängigkeit der Stadt und ihrer Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt eine ganz überragende Bedeutung zukam und der Ausgabenetat darauf zugeschnitten war.⁹⁷⁶ Das ergibt sich auch aus der völlig marginalen Bedeutung der Ausgaben für Rechtsp ege, die auch Einkünfte abwarf, und für Polizei und Wohlfahrtswesen, worunter das P egschaftswesen, Schulen, Gesundheit, Feuerwehr, die Brunnenmeister, das Abfuhrwesen oder der Stadthirte fallen. In Nürnberg handelte es sich um etwa 1,7 Prozent, in Schwäbisch Hall um 0,1 bis 1,9 Prozent der Gesamtausgaben. In diesen Bereichen war der Rat nur verordnend und verwaltend, als Kirchen- und Stiftungsp eger tätig. Die Finanzierung erfolgte durch die Bürger in Form von Gebühren und Eigenbeiträgen der Interessenten, durch Stiftungsvermögen und kirchlichen Institutionen zugewendete Barbeträge, Renten und zinsbare Liegenschaften. Die Kosten für die Rechtsprechung waren grundsätzlich von den Parteien zu tragen. Die Instandhaltung der Brücken, der öffentlichen Kauf- und Lagerhäuser wurde aus dem erhobenen Brückengeld und aus den Platzmieten nanziert. Für Anlage, Ausbesserung und Reinigung des Straßenp asters und der öffentlichen Brunnen hatten im Wesentlichen Anlieger und Nachbarschaften aufzukommen. Die Schulen wurden aus kirchlichem und bürgerlichem Stiftungsvermögen und zusätzlich durch Schulgeld unterhalten. Die Armen- und Krankenfürsorge beruhte gleichfalls auf Stiftungsvermögen, wobei das Spital, in das sich zudem eine große Zahl von Pfründnern einkaufte, vielfach der größte Vermögensträger der Stadt war. Für die in Notzei-

ten vorgenommenen Lebensmitteleinkäufe der Kommune für die Bewohner wurde eine Deckung durch den Verkaufspreis angestrebt. Wo immer mit öffentlichen Aufgaben ein privater Nutzen verbunden war, versuchte man, Kosten auf die privaten Benutzer zu überwälzen. 4.8.3 Steuern und Abgaben 4.8.3.1 Die Entstehung der kommunalen Besteuerung und Abgabenerhebung 4.8.3.1.1 Stadtherrliche Steuerforderungen, städtische Solidarabgaben und kommunale Finanzautonomie In vorkommunaler Zeit erhob der Stadtherr von den grundherrlichen Hintersassen Kopfzinse und Grundzinse. In idealtypischer Bildung eines Verlaufsmodells verlief die kommunale Steuerentwicklung bei wachsenden städtischen Bedürfnissen von Grundsteuern und persönlichen Leistungen über die indirekte Besteuerung durch Zölle (teloneum) und Ungeld (indebitum), und wenn diese mit Rücksicht auf die ärmeren Schichten nicht beliebig den Ausgaben angepasst und gesteigert werden konnten, hin zu Vermögen- und Ertragsteuern. Kopfsteuern wurden als eigenständige Steuern oder als Sockelbetrag einer Vermögensteuer erhoben, wenn möglichst breite Bevölkerungskreise, auch solche, die für eine Vermögensteuer nicht infrage kamen, steuerlich erfasst werden sollten. Streng genommen besaß die Kopfsteuer eine progressive Wirkung nach unten. Es ist dies jedoch kein allgemeines genetisches Stufenmodell. Durch skalische Grundentscheidungen entstanden vereinfacht vier verschiedene Typen der Steuerpolitik, die teilweise vom öko-

975 Verteidigungs- und Kriegsausgaben im engeren Sinne sind bei Sander (1) »die Ausgaben für die bewaffnete Macht« (Söldner, Büchsenmeister, Waffen und Kriegsgerät, Bürger- und Bauernaufgebot), (2) »die Ausgaben für den Sicherheitsdienst der Stadt« (Turm-, Burg- und Torwachen; innerer und äußerer Sicherheitsdienst) und (3) »die Ausgaben für Kriegszüge und einzelne auswärtige Händel«. Ihr durchschnittlicher Anteil an den Gesamtausgaben beläuft sich auf 11,1% (1), 2,22% (2) und 6,01% (3), insgesamt auf 19,42%. J. R (Kriegsausgaben im Mittelalter) ermittelt für den Zeitraum von 1360–1535 einen durchschnittlichen Anteil von indirekten (5,13%) und direkten (4,61%) Kriegskosten von 9,74% an allen Ausgaben der Stadt. 976 K. B, Der öffentliche Haushalt der Stadt Frankfurt am Main, S. 341 f; K. S, Städtische Finanzen im Mittelalter, S. 15.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

nomischen und verfassungsrechtlichen Typus der Stadt bestimmt wurden. So gab es bezogen auf die Einnahmen (ohne Anleihen) (1) Städte, insbesondere Exportgewerbe- und Fernhandelsstädte, mit vorherrschenden hohen Verbrauchssteuern und Verkehrsabgaben bei niedrigen oder nur selten erhobenen Vermögensteuern, so vor allem Köln als größte Handelsstadt mit Stapelrecht, Basel, Bern, Zürich, Luzern oder die andrischen Städte (75–80% der Einnahmen), (2) Städte mit regelmäßigen Vermögensteuern bei wenigen Verbrauchssteuern (Braunschweig, Hildesheim, Schwäbisch Hall, Heilbronn, Esslingen, Konstanz, St. Gallen) und (3) solche mit niedrigeren Vermögensteuern und höheren Verbrauchssteuern oder insbesondere Handels- und Verkehrsabgaben (Messestadt Frankfurt a. M.). In Hamburg waren Zölle die wichtigste Einnahmequelle; auf direkte und indirekte Sterun ent elen etwas unter 30 Prozent der Einnahmen. In München waren nach den Zöllen mit absteigenden Anteilen die direkten und indirekten Steuern die wichtigsten Einnahmeposten. (4) Ausgewogen waren die Anteile in Schaffhausen, Schweinfurt und in Nürnberg, wo die indirekten Steuern und die Vermögensteuern zwischen 1431 und 1449 durchschnittlich je 21 Prozent der Einnahmen erbrachten, bis am Ende des 15. Jahrhunderts die Ungeldeinnahmen deutlich die Oberhand gewannen. Außer in Nürnberg gewannen auch in Nördlingen, München und Marburg indirekte Steuern an Gewicht. Bei Territorialstädten ist der wechselnde, in der frühen Neuzeit steigende Ein uss des Stadtherrn auf die kommunale Steuerpolitik in Betracht zu ziehen. Den Ansatz zur Erhebung städtischer Vermögensteuern und den Rechtsgrund gaben die ordentliche und außerordentliche Besteuerung durch den Stadtherrn, die jährliche Stadtsteuer und die Bede. Die Stadt erlangte, sofern nicht schon autogen entstanden, durch Privileg das Recht der Gesamtbesteuerung. Nicht mehr der einzelne Bürger war dem Stadtherrn steuerp ichtig, sondern die Korporation Stadt, die den fälligen pauschalierten, dann auch -

xierten Steuergesamtbetrag in Form einer Vermögensteuer auf die Bürger umlegte, die Steuern – anstelle stadtherrlicher Amtsträger – selbständig erhob und einen allmählichen Verzicht des Stadtherrn auf spezielle Steuern erwirkte. Im Zuge der Repartition durch eine Vermögensteuer erwirtschaftete die Bürgergemeinde einen Steuerüberschuss oder erhob einen Zuschlag; beides kam der Stadt zugute. Damit diente die Steuer sowohl stadtherrlichen als auch gemeindlichen Zwecken. Hier lag der Ausgangspunkt für die Umformung der Steuer zu einer genossenschaftlichen Abgabe und für eine kommunale Steuerhoheit und Finanzverwaltung. Deshalb wehrten sich die Reichsstädte gegen den Versuch König Rudolfs von Habsburg, die ihm zugehende städtische Jahressteuer durch eine direkte Vermögensteuer zu erheben. Es blieb aber etwa die Verordnung König Rudolfs von 1287 für Augsburg, dass die Steuer proportional vom Vermögen der Bürger zu erheben sei und alle Sachen und Besitztümer, bewegliche und unbewegliche, unter welchem Titel sie auch auf Personen transferiert wurden, dazu heranzuziehen seien. Der zentrale Gedanke für die Erhebung kommunaler Steuern, die den eigenen Bedürfnissen der Stadt und ihrem gemeinen Nutzen galten, lag darin, dass jeder, der den vielfältigen Schutz der Stadt genoss, auch die Lasten solidarisch mittragen, mitleiden, wie der weitverbreitete zeitgenössische Ausdruck lautet, oder mit der Stadt heben und legen sollte, wie es in Augsburg auch heißt. Mit diesem Grundsatz war die Bürgerschaft auch bestrebt, die Steuerp icht auf alle Kreise der städtischen Einwohnerschaft auszudehnen, wozu hinsichtlich der ärmeren Bevölkerungsteile Kopfsteuern dienten, während die Verbrauchssteuern ohnehin alle trafen. Auch ursprünglich königliche Rechte, aus denen Einnahmen ossen, wie das Marktregal mit Marktzöllen, Laubengeldern und Marktgerichtsgefällen, das Zollregal mit Einfuhr-, Ausfuhr- und Transitzöllen, das Münzregal, das Geleitrecht und eventuell der skalisch ausbeutbare Judenschutz als Bestandteil des Judenregals mussten vom königlichen Stadtherrn oder in weiterer Ableitung über den fürstlichen Stadt-

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herrn erworben werden. Vielfach waren einzelne dieser Rechte oder auch nur Teile an ihnen vom Stadtherrn an Dritte verpfändet oder verpachtet, bis sie schließlich in die Hand der Stadt gebracht wurden, falls dies – etwa den Territorialstädten – überhaupt vollständig gelang. Die indirekten Steuern fußten auf dem stadtherrlichen Zollregal und standen originär dem Stadtherrn zu, der sie meist als Getränkesteuer erhob und beibehielt, dabei der Stadt die Erhebung eigener Verbrauchssteuern gestattete oder auf sie verzichtete. Der König erhob in den Reichsstädten im Unterschied zu den fürstlichen Stadtherren auf Dauer keine Verbrauchssteuern. Die Erhebung von Verbrauchssteuern durch den Landesherrn wiederum wurde seit dem 16. Jahrhundert zum signi kanten Ausdruck einer erneuerten und intensivierten fürstlichen Stadtherrschaft. Eine weitere, aber außerordentliche und zweckgebundene Steuerquelle, die von der Stadt autonom aufgrund der Bürgerp ichten genutzt wurde, bildete schließlich die Möglichkeit, die P icht zum Kriegsdienst und die Bürgerfronen mit Geld abzulösen. Die städtische Finanzautonomie rundete sich in mehreren Schritten. So erkannte Ludwig der Bayer dem Rat der Stadt Frankfurt am Main 1333 durch Privileg das Recht zu, für die Dauer des damaligen Mauerbaus ein Weinungeld zu erheben, das zwischen Rat und König zu teilen und als allgemeine Steuer von allen Einwohnern, auch von Klerikern, zu entrichten war. Bereits Friedrich II. hatte im Mainzer Reichslandfrieden von 1235 allgemein die Erhebung von Ungeld von den Leuten innerhalb der Stadt zum Zweck der Stadtbefestigung erlaubt. Im Jahre 1372 gelang es dem Rat, die Hälfte des Königs am Weinungeld, die inzwischen dem Erzbischof von Mainz verpfändet war, aufzukaufen. Karl IV. legte den Grund für eine auf Dauer angelegte kommunale Finanzautonomie, indem er neben anderen Städten (Speyer) dem Rat Frankfurts 1348/49 durch Privileg die Erlaubnis erteilte, die städtischen Einkünfte nach eigenem Gutdünken festzusetzen. Ferner gestattete der Kaiser den Verkauf städtischer Renten

zugunsten der Bedürfnisse der Stadt. Der Bischof von Augsburg bewilligte seit 1254 den Bürgern der Stadt mehrmals die Erhebung einer Verbrauchssteuer, bis diese das Recht seit etwa 1300 ohne weitere Verleihung eigenständig ausübten. Kaiser Karl IV. erlaubte durch Privileg von 1360 zum Dank für militärische Leistung und zur Deckung der hohen Augsburger Kriegskosten die Erhebung eines Ungelds auf Met, Wein und Bier für die Dauer von zehn Jahren, doch machte der Rat wegen des Unwillens unter Handwerkern und einfachen Leuten davon zunächst keinen Gebrauch, verkündete aber 1363 auf der Grundlage des kaiserlichen Privilegs ein Statut über die Erhebung des Getränkeungelds. Dies war einer der Gründe für die Erhebung der Zünfte von 1368 und die Einführung einer Zunftverfassung. Eine volle Finanzhoheit erlangten die Städte nicht, denn bei Überschuldung oder Misswirtschaft konnte der Stadtherr in die städtischen Verhältnisse eingreifen. Fürstliche Stadtherren setzten je nach Intensität ihrer Herrschaft ihren Städten Grenzen im Finanzgebaren. Sie bestimmten gelegentlich durch Privileg sowohl den Kreis der Steuerp ichtigen, erteilten Steuerexemtionen, bewilligten außerordentliche Steuern und legten die Steuerart sowie die Höhe des Steuersatzes fest. In anderen Fällen hatte der Rat freiere Hand. Konsumsteuern, Sondersteuern und massive Steuererhöhungen in Zeiten drängender Finanzknappheit riefen die Gefahr von Unruhen hervor, sodass es dem Rat aus ordnungspolitischen Gründen opportuner erscheinen konnte, zunächst dilatorisch auf eine Kredit nanzierung durch Rentenverkäufe auszuweichen. 4.8.3.1.2 Besteuerungsrecht, Steuertheorie und zwischenstädtische Kommunikation in Steuerfragen Bereits im Mittelalter entwickelten Moraltheologen und Juristen eine ausgefeilte Steuertheorie und steuerrechtliche Grundsätze. Im Spätmittelalter begannen Stadträte vereinzelt, Juristen mit der Erstattung von Rechtsgutachten zu Steuerfragen zu beauftragen. Diese beurteil-

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ten die ihnen mitgeteilte örtliche Steuerpraxis nach Maßgabe des römischen und kanonischen Rechts und legten dadurch die Grundlage für ein gelehrtes Steuerrecht und Steuerstrafrecht. Juristisch erörtert wurden das Besteuerungsrecht der Stadt, die Steuerp icht von Stadtbewohnern im konkreten Einzelfall, die Erhebung von Objekt- oder Realsteuern von Geistlichen, die Steuerexemtionen bestimmter Personengruppen, die in die Stadt hineinwirkende Steuerbefreiung einzelner Personen durch den Kaiser und die Rechtsfolgen der Steuerhinterziehung. Dabei konnte es durchaus vorkommen, dass Juristen gegen Ansprüche von Rat und Stadt Stellung nahmen.⁹⁷⁷ Nürnberger Ratsjuristen erläuterten im 15. Jahrhundert auf der Grundlage des römischen und kanonischen Rechts und der Kommentare italienischer Rechtsgelehrter, insbesondere des Bartolus, dass das Recht zur Auferlegung von Steuern nur der höchsten Gewalt, dem Kaiser, zukomme, dieser aber die Befugnis durch Privileg verleihen könne, während die unangefochtene unvordenkliche Gewohnheit der Steuererhebung wenigstens eine solche Rechtsgewährung vermuten lasse. Steuern durften dann im Hinblick auf eine Gemeinschaft (universitas) sowohl im Falle der Notlage (necessitas) als auch darüber hinausgehend zugunsten des Gemeinwohls (utilitas publica) hinsichtlich anderer von der Gemeinschaft zu tragenden Lasten erhoben werden.⁹⁷⁸ Wie hinsichtlich des Stadtrechts, der Ratsverfassung und der städtischen Satzungen erkundigten sich Städte bei anderen über das Fiskalwesen und einzelne Maßnahmen, wenn sie sich mit strukturellen Problemen herumschlugen oder mit speziellen nanziellen Anforderungen etwa durch König und Reich konfrontiert wurden. Das Ulmer Verzeichnis der dortigen Steuern und Gefälle von 1381 sowie die Speyrer Steuerordnung vom selben Jahr gelang-

ten nach Frankfurt am Main, das sich nach der Schlacht von Kronberg von 1389 vorübergehend in großer Finanznot befand. Rottweil besaß die Abschrift eines Briefes aus Donauwörth an Ulm von 1448, in dem Einblicke in die nanzielle Lage gewährt wurden. Zürich, das wegen des Alten Zürichkriegs verschuldet war, wandte sich um die Mitte des 15. Jahrhunderts an Basel, Konstanz und Schaffhausen mit der Bitte, ihre Steuerordnungen mitzuteilen. Um diese Zeit ersuchte der Rat der Stadt Freiburg im Breisgau, die seit dem späteren 14. Jahrhundert nach dem Übergang an Habsburg 1368 verschuldet war, einen wirtschaftlichen Niedergang in Fernhandel und Textilgewerbe erlitt und immer wieder von politischen Krisen, Kriegswirren und Kriegssteuern, inneren Unruhen und Verfassungsumbildungen heimgesucht wurde, den Konstanzer Rat um Informationen zur dortigen Steuerpraxis und um Mitteilung der derzeitigen Ratsordnung. Im Jahre 1476 sandte der Freiburger Rat dann den Stadtschreiber Gottschalk in sechzehn Städte, um Erkundigungen unter anderem über die örtliche Steuererhebung und Steuerverwaltung einzuziehen. Der Fragenkatalog enthielt Fragen zur personellen Zusammensetzung der Steuerverwaltung, zum geltenden Steuereid, zum zeitlichen Abstand zwischen den Vermögensschätzungen, zu den steuerbaren Vermögensbestandteilen und zu den Möglichkeiten des Steuerabzugs, zu den Kopfsteuern der Habenichtse und Dienstboten sowie zur Steuerp icht der Klöster und des Klerus. Vereinzelt notierte der Stadtschreiber auch den aktuellen Steuertarif. Nach seiner Rückkunft setzte sich ein Ratsausschuss mit den festgehaltenen Informationen auseinander und erarbeitete in langen Diskussionen für Freiburg eine neue umfangreiche Steuerordnung mit 30 Artikeln zur Steuerverwaltung, zu den Steuertatbeständen, dem Intervall der Veranlagung und zum Steuerstrafrecht.⁹⁷⁹

977 E. I, Medieval and Renaissance eories of State Finance, S. 21–52; ., Recht, Verfassung und Politik (4.4), S. 172–187, 193–195. 978 E. I, Recht, Verfassung und Politik (4.4), S. 172–180; ., »Liberale« Juristen? (4.4), S. 293–312. 979 T. S (Hg.), Die Freiburger Enquete von1476.

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4.8.3.1.3 Indirekte und direkte Steuern Die für die städtischen Finanzen in unterschiedlichem Maße bedeutsamen und ausgebauten indirekten Steuern – Ungeld, Umgeld, indebitum, Akzise, tatz – und Zölle, die Umsatz-, Verbrauchs- und Verkehrsabgaben, standen ursprünglich dem Stadtherrn zu, der die Erhebung zugunsten der Stadt durch Privileg gestattete und sich einen Anteil daran reservieren konnte. Durch Privileg, Pfandnahme, Kauf oder durch stillschweigende Erhebung gelangten indirekte Steuern allmählich an die Städte. Das Ungeld hing eng mit dem Zoll zusammen und stellte ursprünglich zumeist eine Schankabgabe – insoweit eine Gewerbesteuer – oder ein Salzungeld dar. Die gedankliche Zweckbestimmung des Ungelds wie auch ursprünglich der Zölle, dass davon der Bau von Festungs- und Verkehrsanlagen, von Mauern, Wegen und Brücken, zu bestreiten sei, mag den Übergang an die Stadt erleichtert haben. Einige indirekte Steuern und Zölle wurden von der Stadt – gegen xe Jahressummen – an Private verliehen oder verpachtet, die sie in eigener Regie einzogen. Beide Abgabenarten waren gegenüber den Vermögensteuern schwerer berechenbar und stark konjunkturabhängig. Die Stadt München⁹⁸⁰ bestimmte, dass diejenigen, die Salz führen oder Wein ausschenken wollten, mindestens 100 Pfund zu versteuern hatten; damit erhob sie eine erhöhte Gewerbesteuer und regulierte zugleich den Zugang zu diesen Erwerbstätigkeiten. Eine ganz überwiegende Finanzierung kommunaler Ausgaben durch indirekte Steuern erscheint als wenig sozial, insbesondere wenn dadurch elementare Grundnahrungsmittel wie Wein und Bier, mit grundsätzlich härteren Folgen noch Brot oder andere Lebensmittel oder das Salz entweder direkt oder indirekt (Mehl) verteuert wurden.⁹⁸¹ In diesen Fällen drohten bei Ungelderhöhungen Revolten der ärme-

ren Bevölkerungsschichten, die ungleich belastet wurden, weil sie einen überproportionalen Teil ihres Einkommens auf Lebensmittel verwenden mussten. Die Problematik indirekter Steuern für ärmere und kinderreiche Bevölkerungsschichten wurde schon von einzelnen mit Steuerfragen befassten Moraltheologen herausgestellt und trat in grundsätzlichen Auseinandersetzungen über das kommunale Steuerwesen in der Praxis in Erscheinung. Etwas anders sah es aus, wenn Handelsstädte wie Köln und Frankfurt in erheblichem Umfang Fremde belasten und gegenüber den Einwohnern daher eine moderatere Steuerpolitik betreiben konnten. Ein skalisches und sozialpolitisches Ergebnis der Einführung der Zunftverfassung in Augsburg war, dass gemäß dem zweiten Zunftbrief von 1368 eine umfangreichere Vermögensteuer festgesetzt wurde, das bestehende Ungeld auf Getränke binnen eines Jahres abgeschafft werden sollte und für alle Zukunft keine indirekten Steuern mehr erhoben werden durften. Angesichts einer schwierigen Finanzlage der Stadt wurde bereits 1373 auf der Grundlage eines neuerlich von Karl IV. erworbenen Privilegs dennoch wieder ein Ungeld eingeführt, nunmehr unbefristet und nicht nur auf Getränke, sondern auch auf Getreide, importierte Wolltücher und Loden, Pfeffer, Salz und Eisen. Ein Ratsbeschluss von 1385 stellte jegliche Agitation gegen das Ungeld als öffentliches Delikt (offenlich maintot) unter Strafe. Im Jahre 1397 kam es, wie die Augsburger Chronik berichtet, wieder zu Unruhen unter den Handwerkern, die mehrheitlich jegliches Ungeld abgeschafft haben wollten. In dieser Situation beschloss der Rat einmütig, dass es ohne Widerrede bei den indirekten Steuern bleiben solle. Eine von ihm veranlasste Befragung aller Zünfte ergab, dass sich diese dem Beschluss des Rates um der Verbesserung der Finanzen der Stadt willen anschließen wollten.

980 Zu den Münchner Steuern und Abgaben siehe F. S, München im Mittelalter, München/Berlin 1938, S. 189–221, basierend auf der Dissertation von 1910, München 1919. 981 Bei Getränken konnte sich der Verbrauch durch skalische Belastung bis über 20% – zwischen 10 und 30% – verteuern, bei Brot wurden Verteuerungen von 14 bis 23% ermittelt. U. D, Untersuchungen zu Einkommensverhältnissen und Lebenshaltungskosten ( 9.5–9.6), S. 288, 281.

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Angestachelt durch verarmtes, pös unnütz folk bewaffneten sich aber die fünf Zünfte der Weber, Bäcker, Schuster, Fassbinder und Schmiede und zwangen Abgesandte aus der Zunftgemeinde zu der urkundlichen, von Patriziern mitgesiegelten Vereinbarung, dass jegliches Ungeld für alle Zeit abgeschafft sein solle und jeder, der künftig indirekten Steuern das Wort redete, mit Güterkon skation und Verbannung bestraft werden solle. Nach diesem taktischen Zugeständnis erließen jedoch der Rat und alle Bürger bereits 1398 durch Statut für zwei Jahre eine indirekte Steuer auf Wein, Barchent, Ausfuhrwaren und Wechsel.⁹⁸² Infolge von Kriegskosten wurde seit 1460 Ungeld auf Getreide und andere Waren erhoben, wobei man die Sätze mehrfach erhöhte. Die Besteuerung, die besonders die kleinen Leute schwer traf, rief den Protest mächtiger Zünfte wie der Weber und Bäcker hervor. Als in Wien 1466 angesichts der hohen Verschuldung der Stadt und von Entschädigungsforderungen vertriebener Anhänger des Kaisers und Söldnerführer in Höhe von 70 000 Pfund für sechs Jahre eine sowohl den Handel als auch den Verbrauch belastende breitgefächerte Umsatz- und Verbrauchssteuer, einer tätz mit Hinweis auf italienisches Vorbild (dazio consumo), erhoben wurde, rief dies eine starke Opposition unter Handwerkern und der breiten Bevölkerung hervor. In Köln führte die Tilgung der enormen Schulden aus dem Burgunderkrieg, die 1475 durch Zwangsanleihen aufgenommen worden waren, durch weitere indirekte Steuern zu Aufruhr (1481) und als längerfristige Folgeerscheinung zu einer Ergänzung der Verfassung im Trans xbrief von 1513. 4.8.3.2 Steuerordnungen: Steuerarten, Steuerformen und Tarife Steuereinnahmen aus außerordentlichen Steuern in Notlagen und für bestimmte Zwecke oder daraus entstandene periodische Steuern zur De-

ckung des allgemeinen Finanzbedarfs der städtischen Solidargemeinschaft bildeten eine der Hauptsäulen der kommunalen Finanzwirtschaft, doch ergeben sich hier beträchtliche Abweichungen in den steuerwirtschaftlichen Grundsätzen. Während eine Vielzahl von Städten zur Deckung der regelmäßigen Ausgaben den direkten Vermögensteuern⁹⁸³ neben oder noch vor indirekten Steuern eine große Bedeutung einräumte, beseitigte das Geschlechterregiment in Köln die ältere direkte Steuer und legte das Schwergewicht ganz auf die teilweise in Pacht gegebenen Akzisen, die indirekten Verbrauchs- und Verkehrssteuern, und erweiterte sie zu Anfang des 14. Jahrhunderts ausgehend von der Wein-, Bierund Salzsteuer zu einem äußerst differenzierten System. So erhob der Rat etwa 1401 als Finanztransaktionssteuer auch eine gestaffelte Akzise auf Wechselgeschäfte der Italiener. Wechselbriefe, die über die Alpen gingen, wurden mit 1 Prozent, solche über die Maas mit 0,25 Prozent besteuert. Steuerfrei blieben Wechsel, die sie von Kölner Bürgern und Gästen nahmen.⁹⁸⁴ Entsprechend der zentralen Rolle des Weinhandels der Bürger war die Akzise auf den Weinhandel ein wichtiger Einnahmeposten, mit dem man in Ansätzen einer Haushaltsplanung als Grundlage fest rechnete. Zunächst wurde eine 1206 erwähnte, seit 1240 gelegentlich und seit 1417 regelmäßig erhobene Akzise auf den Weinzapf erhoben, im Zusammenhang mit dem Weberaufstand 1370 als politisches Kampfmittel gegen die Weinhandel treibenden Geschlechter eine Weineinfuhrakzise auf den Weingroßhandel eingeführt, die nach dem Zusammenbruch der Weberherrschaft abgeschafft, 1376 als vorläu ge Sondersteuer wieder eingeführt, 1378 erhöht und schließlich zum festen Bestandteil des Steuersystems wurde. Die Weinakzise schwankte im Tarif zwischen 2,56 und 16,67 Prozent und wurde in der Samstagsrentkammer für die Schuldenverwaltung verwendet. Seit 1309 wurde der ›Rutenpfennig‹ als Zwangsgebühr für das Messen des

982 G. M, Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 76, S. 249–251. 983 M. E. H, Städtische Vermögensteuern im Mittelalter. 984 W. S (Hg.), Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung II (2.2–2.4), Nr. 92, S. 137 f.

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Fassinhalts durch städtische Röder erhoben; seit 1476 mussten Kölner ihr Eigengewächs versteuern und eine feste Gebühr für ihren Haustrunk entrichten. In den Jahren 1379 bis 1385 etwa betrugen die Abgaben aus dem Weinhandel 15 Prozent der Gesamteinnahmen an Steuern, in den Jahren 1432 bis 1513 durchschnittlich etwa 52 Prozent. Der Ertrag der Akzisen war an sich sehr schwankend, doch konnte Köln als Handelsstadt mit einem breiten Warensortiment Einbrüche in einzelnen Zweigen durch andere wieder ausgleichen. Eine direkte Besteuerung lässt sich für die Zeit von 1320 bis 1512 nur ein einziges Mal 1371, dann wieder 1513 nachweisen. Obwohl hier die Zünfte am Stadtregiment entscheidend beteiligt waren, verfuhr man in Basel ähnlich. Seine regelmäßigen Haupteinnahmen bezog die Stadt aus den Verbrauchsabgaben auf Wein, Mehl (übergewälztes Mühlenungeld) und Salz sowie etwa seit 1475 auf Fleisch.⁹⁸⁵ Eine direkte Steuer erhob Basel erstmals im Krisenjahr 1429, dann wieder 1446, 1451 und später noch mehrfach, doch nicht regelmäßig und mit längeren Unterbrechungen. Die direkte Besteuerung diente der Bewältigung außerordentlicher nanzieller Belastungen. Steuerordnung und Steuersatz wechselten ständig. Vermögensteuern wurden zunächst als außerordentliche Steuern, dann zwar nicht alljährlich, aber mit einer gewissen Periodizität erhoben, bis sie schließlich, am frühesten in niederdeutschen Kommunen wie Lüneburg, Braunschweig und Hildesheim, zu regelmäßig ießenden Einnahmen und Jahressteuern wurden. Sie nahmen eine Zeit lang eine Zwischenstellung zwischen ordentlichen und außerordentlichen Einnahmen ein. Die direkten Steuern waren im voraussichtlichen Ertrag erheblich berechenbarer als die indirekten, die jedoch zumindest alle konsumierenden Laien trafen. Bemessungsgrundlage der Vermögensteuer war der Nominalwert des aus den verschiedensten Teilen addierten Gesamtvermögens. In

Straßburg hatten als Besonderheit die Steuerp ichtigen 1360, 1395 und 1415 im Verhältnis zu ihrem Vermögen Pferde, bei denen Hengste mit 20 Pfund und andere Pferde mit 10 Pfund berechnet wurden, für den städtischen Dienst zu unterhalten, während 1397 eine Geldsteuer von 1 Prozent von Vermögen zwischen 10 und 40 Pfund (20 und 80 Gulden) erhoben wurde. Um 1533 wurde die Vermögensteuer mit dem bezeichnenden Namen ›Stallzusatz‹ von 2 auf 3 Schillinge für je 100 Gulden erhöht. Wer unter 10 Gulden Vermögen besaß, musste unterschiedslos 2 Schillinge geben. In Städten, in denen seit Ende des 13. Jahrhunderts direkte Steuern erhoben wurden, geschah dies in Form von Vermögensteuern mit proportionalen Tarifen, welche die Steuerbeträge im Verhältnis zu den Bemessungsgrundlagen linear ansteigen lassen, oder nach Tarifgruppen. Wer kein nennenswertes Vermögen zu versteuern hatte, dessen Arbeitseinkünfte (Lohn) wurden verschiedentlich ersatzweise herangezogen und mit einem Steuersatz oder einer Pauschale belegt. Einkünfte aus Renten wurden entweder kapitalisiert und dem Vermögen zugeschlagen oder mit einem höheren Steuersatz unmittelbar erfasst. Die Vermögensteuer wurde auf zwei unterschiedliche Weisen erhoben. Im ersten Fall wurde ein Tarif errichtet, nach dem von jedem einzelnen Vermögensobjekt oder von Objektgruppen ein bestimmter Satz erhoben wurde. Im andern Fall wurde das steuerlich relevante Vermögen in seinem Geldwert eingeschätzt und mit einer Abgabe in bestimmter Höhe belegt. Die Einschätzung konnte in Einzelteilen nach dem Verkehrswert erfolgen; häu g hatte der Steuerp ichtige aber insgesamt nach Bonität zu verfahren und das Vermögen in seinem Wert so zu deklarieren als es ihm selbst lieb, d. h. wert war. Für Lübeck wird eine Kombination von Vermögen- und Ertragssteuer angenommen. In der Regel wurden Einkünfte aus Zinsen (Gül-

985 G. S, Finanzverhältnisse der Stadt Basel; J. R, Verwaltung und Ungeld in Basel 1360–1535. Das Weinungeld wurde beim Weinzapfen, das Mühlenungeld beim Müller entsprechend der Menge des von ihm gemahlenen Getreides und die Fleischsteuer (›Metzgergeld‹) beim Metzger eingezogen.

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ten) und Renten mit einem bestimmten Koeffizienten (20) kapitalisiert und dem Vermögen zugeschlagen. In Freiburg im Breisgau wurde bei Leibgedingen unmittelbar das für den Kauf eingesetzte Kapital (Hauptgut) besteuert (1476). In Landsberg veranlagte man zur gleichen Zeit Liegenschaften und Häuser nicht nach einem geschätzten Kapitalwert, sondern nur, wenn sie Nutzungen abwarfen, nach ihrem Zinsertrag, der dann die Basis für eine Berechnung des Kapitalwertes bildete. Ansonsten wurden Immobilien und Leibrenten gegenüber werbendem Kapital und ewigen sicheren Zinsen nur mit der halben Steuer belegt.⁹⁸⁶ Bereits die um 1300 im Stadtrechtsbuch verzeichnete Schossordnung Freibergs besteuerte das Kapital von Leibrenten sowie Miet- und Pachteinnahmen im Unterschied zu Handelskapital nur zur Hälfte.⁹⁸⁷ Auch in Augsburg waren nach der Steuerreform von 1476 die höher verzinsten Leibrenten, deren Kapitalwert amortisiert wird und mit dem Leben des Käufers abstirbt, mit 8,3 Prozent nur halb so hoch wie die niedrigeren Ewigrenten mit 16,6 Prozent zu versteuern. Steuerbare Fahrhabe, Bargeld, gewerbliches Vermögen und das Kapital der Wiederkaufsrenten wurden zusammengezogen und mit 1,66 Prozent besteuert, Liegenschaften mit dem seit 1374 gültigen halben Steuersatz von 0,83 Prozent, doch wurde in der Vergangenheit dieser Steuersatz vom Großen Rat auch verändert. Auch in München, wo die Leibrente sogar um weniger als die Hälfte gegenüber der Erbrente belastet wurde, behandelte man das zinstragende, aber nicht mobile Rentenkapital schonender als das üssige Barvermögen, das viel ertragreicher in Spekulationsgeschäfte oder in gewerbliche und kommerzielle Unternehmungen investiert werden konnte. Eine besondere Feinheit der Münchner Rentenbesteuerung kommt darin zum Ausdruck, dass nach einem Beschluss der Bürgereinigung von 1377 die Rente nicht nach ihrem vollen, durch den Kaufpreis begründeten Kapitalwert besteuert wurde, son-

dern Risiken berücksichtigt wurden. Grundrenten auf dem Land, die der Schädigung der Landwirtschaft durch Hagelschlag und Misswachs und Häuser, die der Brandgefahr ausgesetzt waren, sollten mit einem Kapitalabschlag versteuert werden. Im Übrigen wurden selbstgenutzte Häuser zu ihrem Verkehrswert, die vermieteten nach ihrem Zinsertrag besteuert. Die verschiedenen mittelalterlichen Arten der direkten Steuern sind mangels einer durchgehenden klaren Abgrenzung nicht immer eindeutig nach heutigen, gleichfalls nicht immer völlig stringenten und mit pragmatischen Kompromissen behafteten Vorstellungen klassi zierbar. Besteuert wurden Vermögensobjekte nach Schätzung von Barwert oder Verkehrswert, vor allem aber auch nach den Vermögenserträgen, sodass es zu einer Mischung von Vermögen- und Ertragsteuern kommen konnte. Renten wurden grundsätzlich als Immobilien betrachtet. Wechselseitige Umrechnungskoeffizienten, die pauschal und rechnungsmäßig den konkreten Ertrag auf ein zugrundeliegendes immobiles Vermögen zurückführten oder den angenommenen Ertrag von konkretem Vermögen ermittelten, erlaubten es, für das Ganze einen einheitlichen Steuersatz festzusetzen. Meist wurde zugunsten der Form einer Vermögensteuer mit einem proportionalen Steuersatz, der im Mittelalter in Steuertheorie und Praxis als der gerechteste, der Leistungsfähigkeit angemessene Tarif galt, entschieden. Eine solche aus Realsteuern (Objekt-) zusammengesetzte Steuer konnte sich einer Einkommensteuer nach heutiger Auffassung etwas annähern, vor allem wenn durch Anreicherung durch weitere Steuerarten oder durch die Gewährung von Abzügen von der Steuerschuld in der Veranlagung letztlich die persönliche Leistungsfähigkeit zum Vorschein kam. Teilweise wurden auch Lohn, Arbeitsertrag und Gewerbeerträge besteuert. Eine besondere Form sind die Pfundzölle, wie sie etwa in Basel und Speyer erhoben wurden. Es handelt sich bei dem Speyrer

986 T. S (Hg.), Die Freiburger Enquete (4.1.‒4.3), S. 20. 987 G. M (Hg.), Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 137‒138.

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Pfundzoll von 1381 um Abgaben, die auf Vermögenseingänge, Erträge, Renten, Verkehrsgeschäfte und Umsätze gelegt sowie in Form von Makler- und Sieglungsgebühren erhoben wurden.⁹⁸⁸ In Nürnberg wurde die direkte Vermögensteuer (Losung) in den 30er Jahren des 15. Jahrhunderts einigermaßen regelmäßig in zwei- bis dreijährigen Perioden erhoben, so 1430, 1433, 1435, 1438 und 1440, seit der Jahrhundertmitte mit geringen Ausnahmen alljährlich. Chronikalisch ist ein Ratsbeschluss von 1480 festgehalten, wonach die Losung auf Dauer abgeschafft werden solle. Alle zu Hausrat und Kleidung gehörigen Gegenstände, einschließlich von Schmuck, und Werkzeuge, die in einigen Städten der Steuer unterlagen, blieben steuerfrei. Jeder Steuerp ichtige hatte als Voraussteuer eine feste Abgabe, eine Art Kopfsteuer, zu zahlen, die 1438/40 (1 Pfund) gegenüber 1427 (1 Schilling) auf den zwanzigfachen Betrag erhöht wurde und um 1476 einen halben Gulden betrug. Gesondert besteuert wurden Bargeld, geschätztes gewerbliches Kapital und sichere Außenstände (gewisse Schulden) als Vermögen mit einem Steuersatzvon 1,66 oder 1 Prozent, Ewiggelder und Wiederkaufsrenten (16,66%), Leibrenten (8,33%)⁹⁸⁹ und Naturalrenten (Korngülten, 5,55%), Wiesen und Weinberge nach ihrer Fläche, selbstgenutzte Häuser nach ihrem Kapitalwert und gegen Zins ausgegebene Häuser nach ihrem Mietertrag.⁹⁹⁰ Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts wurden Handelsgesellschaften besteuert, wobei Bürger die einfache, auswärtige Gesellschafter die zweifache Losung zu entrichten hatten. Die Losung erbrachte 1430 das Doppelte des Ungelds. Eingelagerte Mengen an Korn und Wein unterlagen einer Verbrauchs-

steuer. Der allgemeine Vermögensteuersatz betrug einen Gulden von 60 Gulden oder einen Pfennig von 60 Pfennigen; alle hatten die Vorabsteuer zu zahlen. Fremde, die in Nürnberg erbten, hatten die Vorabsteuer zu entrichten und eine Art von Erbschaftssteuer in Höhe von 1 Prozent, danach wurde die übliche Vermögensteuer fällig. Wer sein Vermögen aus der Stadt abzog, hatte davon eine Abgabe von 10 Prozent zu zahlen, die dem Abzugsgeld bei Aufgabe des Bürgerrechts entsprach. Verschiedene Steuerordnungen, wie die steuertechnisch etwas altertümliche Frankfurter Bedeordnung von 1475 mit ihren 95 Artikeln, weisen durch ihre vielgestaltige Kasuistik bei der Erfassung möglicher Steuerobjekte in der Stadt, ihre Tarifgestaltung und ihre Ausnahmetatbestände eine hohe Komplexität auf. Angesichts der Schwierigkeiten, die sich daraus für Deklaration und Steuerverwaltung ergeben mussten, ist der intensive skalische Wille, der durch die Ordnungen erkennbar wird, umso bemerkenswerter. Die kasuistischen Auffächerungen gewähren einen genaueren Einblick in den Zuschnitt der Haushalte und in die wirtschaftlichen Verhältnisse. Den Vermögensteuern wurden vielfach als – Mindeststeuern oder in Kombination mit einer Gesamtsteuer – entweder Kopfsteuern oder Steuern auf eigenen Herd- und Rauch (Herdschilling), d. h. Haushaltungs- oder Familiensteuern, vorgeschaltet. Dem Frankfurter Herdschilling von einem halben Gulden waren auswärts wohnende Frankfurter Bürger und vorübergehend anwesende Stadtfremde sowie in eine Hauswirtschaft eingegliedertes Gesinde und Kostgänger nicht unterworfen, wohl aber der Vermögensteuer.

988 Besteuert wurden, teilweise doppelt: (1) Natural- und Geldgülten, (2) der Eingang von Waren durch Kauf und von Geld durch Verkauf, (3) Eingänge von Feldfrüchten, Wein, Heu, Gartengewächsen aus selbstbewirtschaftetem Grundbesitz, (4) Mehl und gebackenes Brot, (5) Handwerkerlöhne, (6) Geldeinnahmen aus dem Weinschank von Bürgern sowie Gästen und Nichtbürgern, (6) dem Münzwechsel und (7) Rentenverkauf. 989 Die Kapitalisierungsfaktoren, mit denen Renteneinkommen in Vermögen umgewandelt wurden, waren entsprechend dem Rentenfuß unterschiedlich; sich richteten neben dem Rententypus vermutlich nach der aktuellen Verzinsung. Zu ermitteln ist für Esslingen der 20 fache Wert der Rente, für Nördlingen der 15–18 fache und für Rottweil der 30 fache Wert. 990 P. S, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs, S. 229 ff., 337 ff.

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Die Fremden, Ausmärker und Ausleute, waren gemäß der Frankfurter Bedeordnung von 1475 nur mit ihrem in der Stadt gelegenen Grundbesitz und diesem gleichstehenden Gülten und Renten, die auf städtischen Liegenschaften ruhten, steuerp ichtig, nicht jedoch mit dem in der Stadt be ndlichen beweglichen Vermögen. Besteuert wurde allerdings das in der Stadt angelegte Geld fremder Juden. Die Einheimischen wurden mit allem mobilen und immobilen Vermögen, das sie sowohl innerhalb als auch außerhalb der Stadt besaßen, zur Steuer herangezogen. Um jedoch eine Doppelbesteuerung zu vermeiden, blieben die auswärts gelegenen Liegenschaften und Renten, die dort bereits einer Besteuerung Steuer durch Dritte unterlagen, bis zum Betrag der auswärtigen Belastung von der städtischen Vermögensteuer frei. Herausgestellt wird die Haftung der Erben für Steuerschulden des Verstorbenen. Die Vermögensteuern wurden von beweglichem und immobilem Vermögen nach Abzug von Schulden erhoben. Nicht alle Steuerordnungen unterschieden ausdrücklich oder konsequent zwischen Gebrauchs- und Erwerbsvermögen. Steuerfrei waren in der Regel alle Vermögensteile, die der Ausstattung der Person, der Aufrechterhaltung der Hauswirtschaft und zum Unterhalt notwendig waren.⁹⁹¹ In der hochkomplexen Frankfurter Bedeordnung von 1475 zählten Werkzeuge ausdrücklich nicht zum Hausrat, sondern stellten steuerp ichtiges Erwerbsvermögen dar. Steuerfrei waren teilweise das Wohnhaus, von dessen Mietwert der dritte Teil für die Eigennutzung (Sitz) abgezogen werden durfte, und Lehen, von denen ein Drittel für die Mannschaftsstellung abging. Gewisse Abzüge (vom ursprünglichen Vermögen) wurden bei unsicheren Außenständen ein-

geräumt und bei offenkundigen größeren Vermögensschäden, die durch Brand, Raub, Gefangenschaft oder Warenverluste zu Wasser verursacht wurden. Außerdem blieb gekauftes Leinentuch oder Ähnliches nur steuerfrei, wenn es zu Kleidern und Hausrat verarbeitet war, während der Vorrat – als vermögenswerter totliegender Überschuss oder mögliches Handelsgut – steuerp ichtig war. Holz und Steine, die für ein Bauwerk gekauft wurden, mussten versteuert werden, solange sie nicht verbaut wurden. Voll zur Steuer herangezogen wurden hingegen diejenigen Bestandteile des Gebrauchsvermögens, die den Haushaltungsbedarf und die notwendige Wirtschaftsausstattung überstiegen, und das gesamte Erwerbsvermögen. Dabei wurde eine Vielzahl von Gegenständen besonders behandelt, sodass nicht, wie etwa bei der Wormser Schätzung oder seit 1495 auch in Frankfurt, das gesamte Vermögen in einer in Geld ausgedrückten Gesamtsumme zusammengezogen und dann einem einheitlichen Steuersatz unterworfen wurde. Zu unterscheiden sind Vermögensobjekte, die nach festen Steuersätzen belastet wurden⁹⁹², und solche, die proportionalen Steuersätzen unterlagen wie bestimmte Fahrhabe (1,4%), Renten und Gülten in Geld oder in natura (9,6%), diese aber nicht nach ihrem zugrundeliegenden Vermögens- und Kapitalwert, sondern nach dem Rentenbetrag selbst, der ein Einkommen darstellt. Wer einen Bargeldvorrat von 100 Gulden besaß, hatte ihn mit 300 Hellern zu versteuern. Eine andere, weit niedrigere steuerliche Belastung ergab sich, wenn er diese 100 Gulden in Häuserrenten und damit in Erwerbsvermögen transferierte. Dafür erhielt er eine Leibrente von 10 Gulden, die er pro Gulden mit 10 Hellern und insgesamt mit 100 Hellern zu versteuern hatte, oder eine Ewigrente

991 Steuerfrei waren in der Frankfurter Bedeordnung von 1475 Hausrat, Kleider und Schmuckgegenstände, soweit sie tatsächlich getragen und nicht als Vermögenswerte gehortet wurden. Ferner waren für jeden Mann und jede Frau ein silbernes Trinkgefäß frei, für den Mann auch ein Pferd und für die Frau eine Kuh. Hinzu kamen ein Jahresvorrat an Korn, Wein, Öl, Stock schen, Heringen, Lichtern, Salz eisch, Schmalz, Butter und Salz für die ganze Haushaltung einschließlich des Gesindes, ein Futtervorrat für das Gebrauchsvieh und die für das Jahr erforderliche Menge an Brennholz und Kohlen. Alle Vorräte waren nur dann steuerfrei, wenn sie nicht für Handelszwecke verwendet wurden. 992 Dazu gehören mit unterschiedlichen Steuersätzen Ackerland, Wiesen und Weinberge, Schafe, Kühe, Kälber, Bienenstöcke, ferner die Stände im Kaufhaus der Weber, Tuchrahmen und Pressen.

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von 5 Gulden, für die pro Gulden 20 Heller, also wiederum 100 Heller fällig wurden. Bei der Besteuerung des landwirtschaftlich genutzten Bodens wurde nach (1) Selbstbewirtschaftung, (2) Zeitpacht und Teilbau sowie (3) Erbpacht und der nur im Falle der Selbstbewirtschaftung des Eigentümers rücknehmbaren Landsiedelleihe unterschieden. Wenn die Steuerobjekte und ihre steuerliche Belastung als Indikatoren für den wirtschaftlichen Zuschnitt der Stadt genommen werden, so zeigt dies für die Messe- und Handelsstadt Frankfurt überraschende Ergebnisse. Nur zwei der insgesamt 95 Artikel der Bedeordnung von 1475 nehmen unmittelbar auf den Handel Bezug. Handelsgut war – ohne Zuerkennung einer wirtschaftlichen Sonderstellung als Kapital – zu dem geschätzten Barwert abzüglich von Schulden mit einem Vermögensteuersatz für Fahrhabe von 1,4 Prozent zu versteuern, nicht anders als Schweine und Pferde, Silbergerät, Getreide, Werkzeug und kostbare Bücher, Bargeld, Brennholz, Stroh, Heu und Wein. Von dem Frankfurter Kaufmann Bechtold Heller, der Ratsherr, Schöffe sowie erster und zweiter Bürgermeister war, ist die Steuererklärung für die halbe Bede des Jahres 1484 mit einer errechneten Steuersumme von 51 Gulden überliefert, die einen breiten Ausschnitt aus den Steuertatbeständen der Bedeordnung bietet, vor allem den landwirtschaftlichen. In den Jahren 1385 wurden in Frankfurt 3 405 Bedep ichtige verzeichnet, 1499 bei einer geringeren Einwohnerzahl noch 2 583; das war jeweils etwa ein starkes Drittel der nicht exakt zu beziffernden Gesamtbevölkerung. Im Jahre 1495 versteuerten auf der Grundlage der in Tarifgruppen gestaffelten Vermögensteuer 46 Prozent der Steuerp ichtigen ein Steuervermögen unter 20 Gulden, 27 Prozent zwischen 20 und 100 Gulden und 14 Prozent 100 bis 400 Gulden.⁹⁹³

Die Vermögensteuern setzten vielfach nach einer Vermögensuntergrenze ein; darunter war ein xer Steuerbetrag als eine Art von Kopfsteuer oder pauschalierter Mindestvermögensteuer zu entrichten.⁹⁹⁴ Die Zahler dieser Mindeststeuer wurden steuertechnisch Habenichtse (Habnits, Nüthabende) genannt, weil sie über kein steuerp ichtiges, d. h. über der Untergrenze liegendes Vermögen verfügten. Sie brauchten also nicht völlig vermögenslos zu sein. Geht man daher vom Gedanken der Vermögensteuer aus, so handelte es sich um eine Mindestvermögensteuer, die von einer bestimmten Vermögensuntergrenze an auf die proportionale Veranlagung zugunsten eines Fixums verzichtete, das sich an der Vermögensuntergrenze und dem Vermögensteuersatz orientierte. Augsburg erhob nach dem Bericht des Freiburger Stadtschreibers von 1476 eine Vermögensteuer auf Fahrhabe, Barschaft, Gewerbekapital und wiederkäu iche Renten. Kleider, Kleinodien, Silbergeschirr, Betten und Hausrat mussten nicht versteuert werden. Von 12 Gulden Leibgedinge war 1 Gulden zu entrichten, von Ewiggeld die Hälfte. Eine Steuer auf Immobilien, die den halben Steuersatz betrug, wird nicht erwähnt. Almosenempfänger und Habnits zahlten eine Kopfsteuer von 6 böhmischen Pfennigen, die zudem eine Habnit genannte allgemeine Voraussteuer darstellten. Der Vermögensteuersatz betrug einen Gulden pro 40 Gulden, den in der Regel alle Handwerker zusammen mit der Voraussteuer entrichteten; diejenigen mit einem Steuervermögen unter 60 Gulden, richtig sind jedoch 60 Pfund Pfennige⁹⁹⁵, zahlten eine Vermögensmindeststeuer von 1 Pfennig pro 40 Pfennigen und hatten dazu noch den Habnit von sechs böhmischen Pfennigen zu entrichten, mussten aber ihre Werkzeuge nicht versteuern. Hausknechte und Mägde gaben den Habnit.⁹⁹⁶ Die Stadt hatte 1472 anstelle der alten

993 K. B, Frankfurt im Spätmittelalter 1311–1519, in: Frankfurt am Main, Sigmaringen 1991, S. 67. 994 J. H (Augsburg), J. H (Lübeck), B. K (Konstanz, Esslingen). 995 Bei einem Pfund mit 60 Pfennigen und einer Währungsrelation von 210 Pfennigen pro Gulden sind dies 17,14 Gulden, doch wurde seit der Mitte des Jahrhunderts mit einem Rechnungsgulden gearbeitet. 996 T. S (Hg.), Die Freiburger Enquete, S. 24.

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Habnitsteuer im Rahmen der Vermögensteuer eine xe Voraussteuer (Voraus) eingeführt, die zur Vermögensteuer hinzutrat. Wer nur diesen Voraus als den neuen Habnit zahlte, der mit dem Vermögensteuersatz schwankte und 60, 45 oder nur 30 Pfennige betrug, hatte kein steuerp ichtiges Vermögen. Nichtbürger hatten die doppelte Voraussteuer, ab 1489 eine Kopfsteuer von 2 Pfund Pfennigen zu entrichten. In München betrug der Habnit 2 Schillinge, später in einem festen Verhältnis zum Steuersatz: 1 Schilling bei einem Steuersatz von 1 Heller pro Pfund. Ein Ratsbeschluss von 1431 ordnete an, dass die Steuereinnehmer den Habnit nur bei eidlicher Versicherung nehmen sollten und von den armen Leuten, bei denen ›bloße Armut‹ herrsche, nach Einschätzung ihrer wirtschaftlichen Lage. Die Steuerordnung Freiburgs im Breisgau von 1476 besteuert ausdrücklich jedermann, Reich und Arm, und konstituiert eine dreistuge, nach personalen und qualitativen Kriterien gestaffelte Steuer für die Armen, die generell durch ein Steuervermögen von unter 25 Gulden de niert werden. Der erste Tarif von 2 Schillingen zielt auf die Bettler, doch war der Steuermeister bevollmächtigt, den Betrag im Hinblick auf individuelle Armut, Krankheit und Notsituation zu ermäßigen. Den Betrag von 4 Schillingen hatten Tagelöhner und Holzhacker zu entrichten, die, obschon sie zünftig waren, kein Handwerk ausübten, das für den Lebensunterhalt einträglich und zureichend war. 5 Schillinge hatten schließlich alle besser situierten Handwerker mit einem Steuervermögen von unter 25 Gulden zu zahlen. Jenseits dieser Grenze setzt die degressive Vermögensteuer ein. Die Kopf- oder auch Leibsteuer (Personensteuer) konnte in anderen Städten als Mindeststeuer für das weibliche Geschlecht und für Knechte und Mägde herabgesetzt sein, in anderen war diese Gruppe von der Besteuerung ausgenommen. In München wurden jungen Leuten, die sich erst selbständig gemacht hatten, Witwen und unmündigen Waisenkin-

dern bei der Vermögensteuer zur Steuererleichterung Abschläge gewährt, woraus die Bezeichnung Gnadensteuer abgeleitet wurde. In einigen Städten hatten auch die Vermögensteuerp ichtigen vorab eine Kopfsteuer zu entrichten. Die Steuerpraxis konnte aber auch unterhalb der Vermögensteuergrenze exibel verfahren und zur Besteuerung des Gewerbeertrags, des Lohnes oder ähnlicher wirtschaftlicher Tatbestände übergehen. Als der Bürgermeister, der Rat, die Zunftmeister und der Große Rat der Zweihundert gemeinsam in Zürich 1417 für drei Jahre eine Vermögensteuer zum Abtrag der Schuldenlast erhoben, besteuerten sie Immobilien und Mobilien, Hausplunder, Kleidung, Harnische, sofern sie verkauft oder gegen Zins verliehen und nicht für den Kriegsdienst selbst benutzt wurden, nach ihrem Wert mit einem Pfennig pro Pfund (etwas über 0,4%). Sie führten ersatzweise eine weitere Kategorie ein, um andersgeartete steuerliche Leistungsfähigkeit nicht unberücksichtigt zu lassen. Die Steuerherren erhielten die Befugnis, von konsumfreudigen Leuten, die wertvolle Kleidung trugen oder gute Erwerbseinkünfte aus ihrem Handwerk oder anderen Tätigkeiten hatten und doch nur geringes Vermögen besaßen, nach Ermessen einen Betrag entsprechend dem Ertrag des Gewerbes einzuziehen.⁹⁹⁷ In Lübeck und anderen norddeutschen Städten zahlten die Wohlhabenden zusätzlich zum Hauptschoss (etwa 1,3‰) noch eine partielle Kopfsteuer, den Vorschoss, oder einen Teil davon. In anderen Städten führten die Zünfte einen teilweise erfolgreichen Kampf gegen den Vorschoss als feste Abgabe zu jedem steuerp ichtigen Vermögen, da er ärmere Bevölkerungsschichten – mit seinem progressiven Effekt nach unten – stark belastete. Nach erhöhten Sondertarifen wurden gelegentlich Gäste und Juden besteuert. In Konstanz gab es Sondertarife auch für Prostituierte. In Konstanz wurden gesondert und zusätzlich zum Vermögen die Natural- und Geldrenten mit 12,5 Prozent, einem Einkommen-

997 H. Z-W (Hg.), Die Zürcher Stadtbücher (2.2–2.4), II, Nr. 113, S. 86 f.

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steuersatz, belegt. Dort ging man ausgangs des 14. Jahrhunderts wie etwa auch in Augsburg dazu über, das Vermögen steuerlich nach liegender Habe und Fahrhabe zu trennen und das mobile Vermögen, vor allem soweit es am Wirtschaftsverkehr teilnahm oder daraus resultierte, sowie Kapitalerträge als werbendes Gut oder fahrende Mark (Ulm) mit einem Steuersatz in doppelter Höhe gegenüber dem Grundbesitz zu belasten.⁹⁹⁸ Dies ist auch für eine Reihe oberund niederschwäbischer Städte belegt, wobei sogar eine Besteuerung der Fahrhabe in dreifacher Höhe vorkam. Damit zog man die Konsequenz aus dem Sachverhalt, dass mit der neuen, in der Stadt eigenständigen Erwerbsform, der Tätigkeit in Handel und Gewerbe, im Gegensatz zur alten, dem Ertrag aus Grundbesitz, »die Führung im städtischen Erwerbsleben von der Verwaltung und Nutzung immobilen Besitzes endgültig auf die Nutzung mobilen Kapitals« übergegangen war.⁹⁹⁹ Deshalb wurden früh schon Kapitalrenten und das Handelskapital des Kaufmanns besteuert. Begünstigt war vermutlich der Kaufmann, der sein Warenlager rasch umschlug. Es zeigt sich auch schon eine deutliche Tendenz zur Ertragsbesteuerung, die reines, totliegendes Vermögen steuerfrei lässt.¹⁰⁰⁰ Teile des mobilen Vermögens wie einfacher Hausrat, Kleidung oder andere Bedürfnisse des täglichen Lebens, etwa eine Melkkuh und der Jahresverbrauch an Getreide und Fleisch, blieben steuerfrei. Silbergeschirr als Luxusgegenstand und Mittel der Wertaufbewahrung wurde regelmäßig besteuert, und zwar nach seinem Ge-

wicht und nicht etwa nach seinem künstlerischen Wert. Aus Gründen der Steuergerechtigkeit erlaubte der Ulmer Rat 1413, was er zuvor nicht getan hatte, von dem für eine gewisse Zeit nach der eidlichen Steuerdeklaration perpetuierten Steuerbetrag die Aussteuer für Kinder sowie Vermögensverluste durch Wechselfälle wie Brand, Raub oder Schatzung (Lösegeldzahlung) von der Steuerschuld gewissermaßen als Sonderausgaben abzuziehen. Hinsichtlich der Aussteuer gab er sich damit zufrieden, wenn innerhalb der Bürgerschaft entweder der zahlende Teil oder der Empfänger den Vermögenswert versteuerte. Die proportionalen Tarife der Vermögensteuer lagen etwa zwischen 0,1 und 1 Prozent, in der Regel eher zwischen 0,5 und 1 Prozent. In Augsburg schwankte der in letzter Instanz vom Großen Rat festgelegte Vermögensteuersatz im Zeitraum von 1389 bis 1471 zwischen 1,666 und 0,416 Prozent, von 1472 bis 1522 zwischen 1 und 0,5 Prozent. Der Steuersatz des Lübecker Schosses war maßvoll und lag 1376 und 1410 bei 1,04 Prozent, 1405 bei 1,56 Prozent, 1416 bei 0,52 Prozent und seit 1452 bei 0,13 Prozent. In Wien war der Steuersatz mit 1,66 Prozent höher, doch kommt es im Einzelfall auf die Gesamtheit der Steuertatbestände an. In politischen Krisenzeiten mit erhöhtem Finanzbedarf konnten die Steuersätze – bei gleichbleibender Bemessungsgrundlage – auf ein Mehrfaches erhöht, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten und genauso in Zeiten der Hochkonjunktur, wenn es sich die Stadt leisten konnte, hingegen nach

998 In der Augsburger Steuerordnung von 1368 waren Immobilien und Mobilien gleichermaßen nach eigener Wertbestimmung zu versteuern. Steuerfrei waren Hausrat, Kleidung, Bettzeug, Nahrungsmittel, zwei Milchkühe samt Futter und hinsichtlich der männlichen Bevölkerung zwei Hengste, die keine Einkünfte erbrachten. Bettzeug, das gewerblich eingesetzt wurde, war hingegen steuerp ichtig. Steuerp ichtig waren das selbstgenutzte Haus nach seinem Zinsertrag oder nach eigener Wertbestimmung, ferner Leibgedinge in Geld und in Naturalien. Hauszinse wurden für die Vermögensteuer mit dem Faktor zehn kapitalisiert (10% Ertrag), geldwerte Leibgedinge jedoch mit dem Faktor sechs (16,6% Ertrag). G. M (Hg.), Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 66, S. 232 f. 999 J. S, Zur Genesis des modernen Kapitalismus (7.1–7.2), S. 80. So verfuhren etwa Ulm, Memmingen und Ravensburg, während Überlingen den Steuersatz für mobiles Vermögen sogar auf das Dreifache erhöhte. 1000 In der Freiberger Steuerordnung um 1300 bleiben Verbrauchsgüter, eigengenutzes Vieh und Vermögen unter acht Mark steuerfrei. Kleinodien sowie Anteile an Bergwerken und Gruben müssen erst versteuert werden, wenn sie in den Verkehr gelangen. Steuerfrei sind ferner Schulden und Forderungen, auf die man verzichtet; außerdem können Schulden und Forderungen aufgerechnet werden. Besteuert werden hingegen zinstragende Güter, Handels- und Gesellschaftskapital, Renten sowie Pacht- und Mieteinkünfte. G. M (Hg.), Quellen, Nr. 23, S. 137–139.

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Bruchteilen bemessen gesenkt werden. Im Katastrophenjahr des Städtekrieges 1376 schnellte der Esslinger Steuersatz, der in der Mehrzahl der Jahre 0,4 Prozent betrug, auf 5 Prozent empor, während die Mindeststeuer der kleinsten Steuervermögen, von der mehr als ein Viertel der Steuerzahler betroffen war, sogar 10 Prozent betrug. In München betrug der Steuersatz 1369 bis 1386 21⁄2 Prozent, von 1387 bis 1419 31⁄3 Prozent, seit Mitte des 15. Jahrhunderts jedoch nur noch 0,41 Prozent und wiederholt nur 0,2 Prozent. Dieser Zeit geringer Anforderungen gegenüber hatte die Einwohnerschaft ein halbes Jahrhundert lang, vor und nach der Finanzkatastrophe der Jahrhundertwende, eine Steuerlast zu tragen, die in den schweren Zeiten 32mal höher lag, da verschiedentlich in kurzen Abständen Doppelsteuern erhoben wurden, so 1390, 1401, 1405 und 1410 Steuern mit Steuersätzen von 62⁄3 und 5,83 Prozent. Die seltene Ausnahme einer Steuerprogression macht die 1435 in Esslingen als Sondersteuer erhobene ›Bauabgabe‹ für den Befestigungsbau. Sie ist in drei progressive Tarifgruppen gegliedert, die in sich wiederum, vor allem in der letzten, nach oben offenen Gruppe, eine starke Degression aufweisen.¹⁰⁰¹ Ganz unbekannt war, wie eine vereinzelte Esslinger Steuer zeigt, die jedoch eine Sondersteuer war, die Progressivsteuer nicht. Aber nur der Stadtstaat Florenz verordnete in großem Stil

seit der Mitte des 15. Jahrhunderts progressive Steuertarife. In der Steuerdiskussion bei Francesco Guicciardini im frühen 16. Jahrhundert ist bereits in der Frage der Steuergerechtigkeit von der Gleichheit des Steueropfers durch die Progression die Rede.¹⁰⁰² Beispiele für eine degressive Vermögensteuer sind hingegen die außerordentliche Basler Personalund Vermögensteuer von 1429¹⁰⁰³, eine Reihe weiterer Basler Steuern des 15. Jahrhunderts und gleichfalls außerordentliche Kriegssteuern wie etwa die Augsburger Zuschlagsteuer von 1475 zur Finanzierung der militärischen Leistungen der Stadt im Reichskrieg gegen Burgund (1474–1476). Durch die Progression nach unten erhielten diese degressiven Steuern in der Form von Vermögensteuern in den unteren Tarifgruppen zugleich die Wirkung von Einkommensteuern.¹⁰⁰⁴ Der Straßburger Münsterprediger Johann Geiler von Kaysersberg beanstandete 1501 in einer Reformschrift unter anderem, dass die städtische Vermögensteuer (schatzung) mit einem Steuersatz von 0,4 Prozent (4 Gulden pro 1 000 Gulden) Vermögen nur bis zur Höhe von 16 000 Gulden besteuerte, was darüber lag nicht mehr steuerlich erfasste, sodass beispielsweise ein vorhandenes Vermögen von 32 000 Gulden realiter nur mit dem halben Steuersatz von 0,2 Prozent belastet werde. Dies sei ungerecht und verursache Unfrieden. Er schlug überdies vor, im ganzen Reich glei-

1001 (1) Bis 1 000 Pfund Vermögen 2 Schillinge, (2) zwischen 1 000 und 2 000 Pfund 6 Schillinge, (3) über 2 000 Pfund 10 Schillinge. 1002 E. I, Prinzipien, Formen und wirtschaftliche Auswirkungen von Besteuerung, S. 177–183 (IV. Proportionaloder Progressivsteuer). 1003 Die Vermögensteuer, die angesichts der Kosten zurückliegender Kriege vornehmlich zur Sicherstellung der verbrieften kommunalen Rentenzahlungen einmalig erhoben wurde, weist 26 Tarifgruppen mit absteigenden Vermögenswerten auf. Von der 1. Gruppe (10 000 Gulden) bis zur 16. Gruppe (2 500‒2 000 Gulden) bleibt es bei einem Steuersatz von 0,2%, dann setzt eine fortlaufenden Progression von der 17. Gruppe (2 000‒1 500 Gulden) mit 0,225% bis zur 25. Gruppe (50‒10 Gulden) mit 1% ein. Wer nur 10 Gulden oder weniger Steuervermögen hat (26. Gruppe), soll mit 4 Schillingen ebenso viel zahlen wie nicht in einem Dienstverhältnis stehende Personen ohne Vermögen an Personalsteuer entrichten müssen, führen diese nun einen Haushalt oder leben sie nur zur Untermiete in einer fremden Wohnung. Der Steuerertrag von 4 630 Pfund Pfennigen machte 11,5% der Gesamteinnahmen des Jahres 1429/30 aus, die vorwiegend aus indirekten Steuern und Rentenverkäufen bestanden. G. M (Hg.), Quellen, Nr. 87, S. 282–285 (mit einer Tabelle der Verteilung des Steuervermögens). Unter den insgesamt 2 536 Steuerzahlern befanden sich 89 Patrizier (Ritter und Burger), 1 315 Personen aus den Handwerkerzünften und 484 Nichtzünftige, jedoch fehlt in den Steuerlisten die Schuhmacher- und Gerberzunft. 1004 G. S, Finanzverhältnisse der Stadt Basel, S. 176 ff.

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che und gerechte Steuersätze festzulegen, damit niemand Anlass habe, wegen einer günstigeren Besteuerung den Ort zu wechseln.¹⁰⁰⁵ 4.8.3.3 Sondervereinbarungen über Abgaben In einigen Städten erhielten städtische Beamte oder Angehörige von Berufen, die für die Öffentlichkeit wichtig waren wie Ärzte, Büchsenmacher, Plattner Steinmetze oder Bleicher Ausnahmetarife oder als Freisitzer Steuerbefreiung. In Ravensburg gab es Abmachungen, die einzelne Steuerp ichtige mit der Stadt abschlossen und die auf einen bestimmten Steuerbetrag lauteten, wobei eine genaue Vermögensdeklaration ent el. Es konnte sich dabei um reiche oder einussreiche Personen handeln, denen die Stadt entgegenkommen musste, um ihren Wegzug zu verhindern, aber auch um Witwen und Waisen mit mittleren und kleineren Vermögen, die auf diese Weise von der Stadt geschont wurden. Gesondert besteuert wurden auch die Juden. Augsburg verstand sich gleichfalls zu Sonderabmachungen (Geding und Satz) mit reichen Kau euten, um deren Neigung entgegenzuwirken, mit ihrem Kapital aus steuerlichen Gründen die Stadt zu verlassen. Dabei wurden häug feste Steuerbeträge vereinbart, die weit unter der Steuerschuld gemäß der ordentlichen Vermögensteuer lagen. Weil diese Sonderstellung vielfach in Anspruch genommen wurde und daher Unwillen in der Bürgerschaft erregte, wurde das Satzbürgerrecht 1451 und 1459 aufgehoben und, um Bürger zu halten, ein hohes Abzugsgeld in Höhe von drei Vermögensteuern gefordert. Die zurückbleibenden zinstragenden Häuser blieben weiterhin steuerp ichtig. Erst 1516 wurde es wieder gestattet, dass Bürger mit dem Rat einen Steuervertrag abschlossen. Jakob Fugger hatte in diesem Jahr vertragsgemäß 1 200 Gulden zu zahlen, jeder seiner Neffen 500 Gulden, während Anton Fugger 1545 mit der Stadt eine Paktsteuer von 2 400 Gulden vereinbarte. In Görlitz erlangte der reiche Kaufmann Hans

Frenzel, der im Umland 9 Dörfer besaß, im Jahre 1519 gegen eine Ablösesumme von 3 200 ungarischen Gulden hinsichtlich seiner fahrenden Habe, die vor allem Handelswaren umfasste, den Freikauf von den direkten Steuern für die Zukunft.¹⁰⁰⁶ In anderen Städten kam es zu einer grundsätzlichen Ablehnung des Status von Gedingoder Satzbürgern, die nicht das Bürgerrecht erstrebten und steuerliche Sonderabmachungen aushandelten, dadurch aber die städtische Solidargemeinschaft hinsichtlich einer allgemeinen und gleichen Steuerp icht infrage stellten. In Nürnberg war man der Ansicht, dass derartige Abmachungen Unwillen erregten und gegen Einigkeit und Gleichheit verstießen, so wenn ein Vermögender durch die jährliche Zahlung von 20 oder 30 Gulden sich seiner P icht entledigte, der andere, dessen Vorfahren und er selbst ye und ye lieb und leid mit der statt gelitten hätten, sein ganzes Vermögen versteure und 100 oder 200 Gulden zahle. Wer bei ihnen sein wolle, der müß lieb und leid lyden, hieß es entsprechend in der kleinen Reichsstadt Isny, die wie auch Kempten einen vertraglichen Sonderstatus von Bewohnern ablehnte. Kempten verlangte im Übrigen von den Ausbürgern unter adliger Herrschaft sowohl eine Zahlung für den Erwerb des Bürgerrechts als auch eine jährliche Steuerleistung sowie Sondersteuern im Kriegsfall. In München durfte Steuerfreiheit nur im Einvernehmen von Innerem und Äußerem Rat und Gemeinde verbrieft werden (1377). 4.8.3.4 Spezielle Kriegssteuern, Steuern zur Entschuldung und für Baumaßnahmen Reichsstädte und Freie Städte legte 1427 und 1431 eine Hussitensteuer auf und kamen damit einer Steuererhebung des Reichs für den Kampf gegen die militärisch erfolgreichen ketzerischen Hussiten nach. Entsprechende Steuern in Form von Matrikularabgaben oder direkten Steuern wurden seit der Mitte des 15. Jahrhunderts zu-

1005 U. I, Johannes Geiler von Kaysersberg (5), S. 256. 1006 C. K, Bürger in Augsburg (2.1), S. 149–156. C. S, Frömmigkeit und Politik (5), S. 108.

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gunsten des Türkenkriegs oder der Reichskriege gegen die Könige von Ungarn und Frankreich von den Freien- und Reichsstädten erhoben; es blieb häu g aber nur bei Steuerprojekten. Die Stadt Köln, die durch den Burgunderkrieg von 1474/75 mit der fast einjährigen Belagerung der Stadt Neuss im Hinblick auf ein Bündnis Herzog Karls des Kühnen mit Erzbischof Ruprecht von Köln eine Unterwerfung unter den früheren Stadtherrn und eine Zerstörung nach dem Beispiel Lüttichs befürchtete, stellte nicht nur ein Aufgebot, sondern engagierte sich darüber hinaus mit der immensen Summe von 800 000 Gulden, von denen hauptsächlich ein Söldnerheer unterhalten wurde. Während des Krieges im Dezember 1474 schrieb der Gesamtrat in Übereinkunft mit den Vierundvierzigern eine Steuer von 5 Prozent auf bewegliches und unbewegliches Vermögen in jeder Höhe aus¹⁰⁰⁷, wobei er zur Begründung der unabweislichen Notwendigkeit der Steuer im Hinblick auf die Finanzlage beginnend mit den militärischen Abwehrmaßnahmen gegen die Armagnaken, die 1444 ins Reich einbrechenden französischen Söldner, bis hin zum Neusser Krieg in einem langen Bericht außerordentliche, teilweise bezifferte Aufwendungen in Kon ikten und gerichtlichen Auseinandersetzungen, ferner beim kostspieligen Besuch König Friedrichs III. im Jahre 1442, Ausgaben für Verteidigungsanlagen und den Bau des Gürzenich für 80 000 Gulden anführte. Zugleich setzte der Rat, wohl auch um die psychologische Akzeptanz der Steuer zu erhöhen, die städtischen Ausgaben für Präsenzgelder, Ratswein und Besoldungen aus. Außerdem wurde er im März 1475 generell ermächtigt, 10prozentige Leibrenten auf zwei Leben zu verkaufen. Nach Kriegsende versuchte er Ende Juni 1475 von einer Reihe von Bürgern und Eingesessenen eine Zwangsanleihe in der Höhe von 100 000 Gulden anstelle einer zunächst vorgesehenen Kreditaufnahme zu realisieren.¹⁰⁰⁸ Diese Schuldenlast zerrüttete die bis dahin stabi-

len kommunalen Finanzen; noch 1794 mussten die Kredite abgetragen werden. Der Rat versuchte nach 1476 die Schulden durch erhöhte Verbrauchssteuern auf Brot und Wein abzubauen¹⁰⁰⁹ und nicht etwa durch Vermögensteuern, welche die reicheren Schichten belastet hätten. Er scheiterte 1481 an einer Revolte bei dem Versuch, die immensen Schulden aus dem Neusser Krieg durch eine Erhöhung der Verbrauchssteuern zu tilgen. Folgen und Fernwirkungen der Schuldenprobleme waren erste Unruhen bereits 1477, Beschuldigungen der Wahlbeein ussung, des Amtsmissbrauchs und der Korruption angesichts eines repressiven Ratsregiments, ein Aufstand von Gaffeln gegen den Rat an der Jahreswende 1481/82, der niedergeschlagen wurde, weitere Unruhen 1493, gescheiterte Anschläge auf einen Bürgermeister und auf Ratsherren 1505 und 1507 und schließlich der Aufruhr gegen den Rat und dessen Überspielen durch bürgerschaftliche Ausschüsse (Schickungen) 1512/13 mit dem Resultat des Trans xbriefs von 1513, an den sich eine Zeit nachhaltiger Beruhigung anschloss. In Wien wurden für die Aushebung von Söldnern seit 1440 immer wieder außerordentliche Steuern erhoben. In Rottweil ließ der Rat zu Beginn des 16. Jahrhunderts ins Stadtbuch schreiben, dass im Falle künftiger Reichskriege und eigener Kriege oder der Bestellung von Söldnern die Kosten durch Steuern auf Bürger und Landleute des städtischen Territoriums gedeckt werden sollten, um eine Verschuldung durch Ewigrenten, die früher in solchen Fällen verkauft wurden, zu vermeiden. Der Basler Rat schrieb 1429 und 1446 verschiedener Kriege wegen kombinierte Vermögen- und Kopfsteuern aus, von denen die wöchentlich erhobene Kopfsteuer von 1446 direkt an die Söldnermeister ging. Um die hohen Kosten zu decken, die der Burgunderkrieg verursachte, wurden in Basel 1475 insgesamt drei Steuern ausgeschrieben: (1) die Fleischsteuer als Verbrauchssteu-

1007 W. S (Hg.), Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung II (2.2–2.4), Nr. 358, S. 517, 520–522. 1008 Ebd., Nr. 371, S. 533 f. 1009 W. S I, Nr. 247, S. 454, Nr. 261, S. 468–477; W. S II, Nr. 386, S. 544: Herabsetzung von Akzisen.

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er, aus der später eine ordentliche Steuer wurde, (2) auf sechs Jahre das Fronfastengeld (Schillingsteuer) als partielle Personalsteuer mit unterschiedlichen Steuerbeträgen und (3) eine Vermögensteuer (Margzalsteuer), die in den beiden letzten Erhebungsjahren mit reduzierten Tarifen erhoben wurde.¹⁰¹⁰ Durch solche Sonderabgaben, die bereits 1451, 1453 und 1470 teilweise für mehrere Jahre erhoben wurden, konnte nicht nur ein Haushaltsde zit vermieden, sondern auch ein Teil der Kriegskosten direkt bezahlt und die zuvor durch Verkauf von Ewigrenten erhöhte Kapitalrentenschuld wieder verringert werden. Solche außerordentlichen Steuern zur Schuldentilgung und Bestreitung von Kriegskosten – im Reich vor allem im Burgunderkrieg 1474/75 aufgrund kaiserlicher Hilfsforderungen – nden sich mit weiter Verbreitung nachweislich seit 1429 in Form von wöchentlichen Abgaben (Wochenpfennig) unter verschiedenen Bezeichnungen etwa in Straßburg, Speyer, Basel, Winterthur, Bern, Zürich, Freiburg im Üchtland, Schaffhausen, Rheinfelden, Konstanz, Schwäbisch Hall, Nördlingen, Augsburg und Hamburg. Es waren Kopfsteuern, aber auch nach Vermögen gestaffelte Abgaben oder kombinierte Kopf- und Vermögensteuern, oder die Abgaben orientierten sich an der regelmäßigen Vermögensteuer wie in Augsburg. In Zürich erwuchs daraus, wie aus der Basler Fleischsteuer, eine ordentliche Steuer.¹⁰¹¹ Als in Basel 1402 eine außerordentliche Steuer zur Minderung der städtischen Rentenschuld erhoben wurde, drohten Aufrührer mit dem Vorschlag, in die Häuser der Rentengläubiger einzudringen und ihre gesiegelten Rentenbriefe zu zerstören, um auf diese andere Weise Schulden abzuzahlen. Die Militärhilfe, die 1474/75 Kaiser und Reich gegen Herzog Karl von Burgund geleis-

tet wurde und in den Städte zur Erhebung von Kriegssteuern (Reißsteuern) führte, sowie generell Kriegssteuern unterlagen gesonderten Gesichtspunkten und ließen teilweise den Grundsatz der Steuergerechtigkeit im Sinne einer an der Leistungsfähigkeit orientierten Belastung etwas zurücktreten. Vor allem waren die Dauer des Krieges und damit die Dauer der Steuererhebung ungewiss. Der Kriegsdienst betraf die Person und damit alle gleichermaßen. Er konnte aber, wie dies vor allem die Armen taten, in eigener Person geleistet werden, während die Reicheren die Kosten trugen und mit ihrem Vermögen dienten. So lautete der Grundsatz in Nürnberg und Schaffhausen. Konstanz erhob hingegen – im Burgunderkrieg über 32 Wochen hindurch – grundsätzlich von ›jedem Menschen‹ einen Pfennig pro Woche, von dem ›ärmsten Almosenbezieher wie vom Reichsten‹, auch von den ansonsten nicht vermögensteuerp ichtigen Hausknechten und Mägden. In Kempten erhob man die Abgaben für Kriegszüge zunächst analog zur Vermögensteuer, war aber dann der Meinung, dass die Reichen bei einer solchen Besteuerung auf Dauer ihren Reichtum einbüßten. Auch der Nürnberger Rat ging von der Vermögensteuer aus, ermäßigte aber den Beitrag der Reichen, damit sie nicht zu sehr belastet würden. Die Modalitäten wurden geheim gehalten. In Augsburg wurde mit einer vergleichbaren Argumentation bei der Kriegsbesteuerung der Reichen der Steuersatz zum Ausgleich abgesenkt. Wer wie manche bei der jährlichen Vermögensteuer 200 und mehr Gulden entrichte, sei auf Dauer nicht in der Lage, zur Kompensation der vermögenslosen Armen veranlagt zu werden. Eine Kommission wurde eingesetzt, um Berechnungen mit einer Absenkung des Tarifs um ein Drittel oder ein Viertel anzustellen mit der Maßgabe, dass

1010 Sanierungsmaßnahmen des Jahres 1451 umfassten (1) die Margzalsteuer, (2) das neue Pfundzoll als Verkehrssteuer bei Warenkäufen und bei Geldanlagen sowie als Steuer auf verschiedene Formen von Renten, (3) die Fleischsteuer, (4) eine außerordentliche Weinsteuer und (5) eine spezielle ›Weinsteuer in den Häusern‹. J. R, Verwaltung und Ungeld, S. 175. 1011 O. L, Die Einführung neuer Steuermodelle als innovative Maßnahme zur Sanierung kommunaler Finanzhaushalte im Spätmittelalter. Beispiele aus dem oberdeutschen und schweizerischen Raum, in: H. . S/G. F/H.-J. G (Hg.), Städtische Finanzwirtschaft, S. 110–119.

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der Reiche neben dem Armen immer noch genug leistete. In Kempten fand man die Lösung darin, dass in vier Stadtquartieren ein Vertrauensmann nach Ermessen die Steuern festsetzte, wobei nunmehr wegen möglicher Ungleichheiten auch der Steuerzahler eidlich Verschwiegenheit versprechen musste. Im Falle des Burgunderkriegs unterhielten 400 Leinenweber und 300 Gesellen ein ganzes Jahr hindurch etwa 100 Mann im kaiserlichen Heer. Zur Kostendeckung wurden auch die Priester herangezogen, die trotz Widerrede nach der Höhe ihres Pfründeneinkommens eine wöchentliche Steuer zahlen mussten. In Kempten wurden auch die 600 Ausbürger nach vermögensorientierter Leistungsfähigkeit zur Kriegssteuer veranlagt. Schaffhausen führte 1415 eine außerordentliche Vermögensteuer ein, um die enorme Summe von 30 000 Dukaten an Verbindlichkeiten gegenüber Österreich abzutragen. Diese Steuerart wurde in der Folgezeit zur Finanzierung weiterer Haushaltsde zite beibehalten. Esslingen erhob 1435 eine progressive Vermögensteuer für den Befestigungsbau. Das stark verschuldete Zürich entschloss sich 1401, den Bau des dringend benötigten Rathauses durch eine allgemeine Vermögensteuer zu nanzieren und schrieb 1487 für drei Jahre eine Vermögen- und Personalsteuer aus, um die seit dem 12. Jahrhundert unvollendet gebliebenen Türme des Großmünsters für veranschlagte Baukosten von etwa 9 000 Gulden fertigstellen zu lassen. Landesherren legten ihren Städte Beden oder Schatzungen als Kriegsbeihilfen oder für andere Zwecke, vor allem für die Tilgung landesherrlicher Schulden auf, aber auch in der Form einer Fräulein- oder Heim- oder Braut-

steuer als Beisteuer zur Ausstattung von Prinzessinnen. Wurde den bayerischen Herzögen eine Notsteuer von der Stadt München verweigert, machten diese Anleihen bei der Stadt. Nach Jahresfrist erließ die Gemeinde gewöhnlich die Rückzahlung, die ohnehin nicht zu erhoffen war. 4.8.4 Veranlagung und Deklaration, Steuereid und Steuerstrafrecht 4.8.4.1 Steuerp icht Der Steuereid geht auf den Bürgereid zurück; die Steuerp icht war Bürgerp icht. Doch unterwarf die Stadt im Allgemeinen alle ihre Bewohner, Nichtbürger, Beisassen, Ausbürger, Juden und selbst Gäste der Steuerp icht, wenn sie Liegenschaften und Nutzungsrechte in der Stadt besaßen. Grundsätzlich begründete der eigene Hausstand, der haushäbliche Sitz, die Steuerp icht. Sobald jedoch ein Vermögen selbständig auftrat, wurde es steuerp ichtig.¹⁰¹² Deshalb wurden auch Frauen mit ihrem Vorbehaltsgut, Kinder und Stiefkinder mit Sondervermögen besteuert. Viele Städte stellten die Steuerexemtion des Klerus und der geistlichen Institutionen infrage. Sie untersagten die Veräußerung von steuerp ichtigen Grundstücken an die Tote Hand. Es wurde auch darauf geachtet, dass Liegenschaften, wenn sie an Kleriker übergingen, steuerp ichtig blieben, oder es wurde bei Strafe der Güterkon skation durch die Stadt bestimmt, dass Güter, die beim Klostereintritt dem Orden vermacht werden sollten, oder immobile Seelgerätstiftungen ein Jahr lang Bürgern zum Kauf angeboten werden mussten, wie dies in Privilegien König Albrechts von 1300 für

1012 B. K, Konstanz, S. 94 ff.; ., Esslingen, S. 74. In Überlingen wurden bei Lehen der Zins, den der Leiheherr für verliehenes Gut erhielt, mit dem Steuersatz für mobiles Vermögen und zugleich das liegende Gut des Belehnten mit dem Steuersatz für immobiles Vermögen besteuert. Bei Leibgedingen waren sowohl die Rente des Rentenempfängers als Kapitalertrag mit dem (hohen) Ertragsteuersatz von 10% als auch das ihr zugrunde liegende Kapital des Rentenschuldners als Vermögen mit dem (niedrigen) Vermögensteuersatz steuerp ichtig. Wie mobiles Vermögen veranlagt wurden auch – nutzbare – Pfandschaften und Geldforderungen (ansprächiges Gut), ferner Korn und Wein sowie Boote und Lastkähne der Fischer und Schiffer. Von der Steuer befreit waren Gerätschaften für die Ausübung eines Handwerks und Investitionen bis zu einem bestimmten Betrag, die der Instandhaltung oder Renovierung von Arbeitsgeräten oder Häusern dienten. Vermögen der Gäste, die Grundbesitz in der Stadt hatten, und der Stadtbewohner, die nur – schutzgeldp ichtiges – Aufenthaltsrecht und nicht das Bürgerrecht besaßen, wurde doppelt so hoch besteuert wie das der Bürger. P. E, Die oberschwäbischen Reichsstädte (3.1–3.2), S. 112–115.

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Ulm und Augsburg geregelt ist. In Esslingen etwa war das geistliche Vermögen bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts grundsätzlich steuerp ichtig, auch wenn es nicht an Versuchen fehlte, die Steuerfreiheit wieder au eben zu lassen. Verschiedene Klöster und Stifte zahlten allerdings eine günstige Steuerpauschale. Hingegen wurde das Spital, der wohl größte Vermögensträger, nicht besteuert. In anderen Städten konnte geistliches Vermögen erst nach heftigen Kämpfen im 15. Jahrhundert der Steuerp icht unterworfen werden. In Frankfurt wurden zeitweise die Renten und Gülten der Geistlichkeit bei ihren Schuldnern besteuert, wobei diese möglicherweise die von ihnen ausgelegten Steuerbeträge bei der Rentenzahlung abziehen durften. In Ulm durfte jede Belastung einer Immobilie durch Renten und Zinse, auch deren Weiterveräußerung, innerhalb der Ringmauer und in der Stadtmark nur unter dem urkundlich aufzunehmenden Vorbehalt erfolgen, dass die dem Reich und der Stadt zustehende Steuer bestehen blieb. Ein Zusammenhang zwischen Steuerleistung und Anspruch auf Besitzschutz durch die Stadt wird erkennbar, wenn Augsburg im zweiten Zunftbrief von 1368 bestimmt, dass Güter, die außerhalb der Stadt gelegen sind und dort der Besteuerung unterliegen, in der Stadt nicht versteuert werden müssen, aber im Falle von Streitigkeiten und Besitzstörungen auch nicht den Schutz der Stadt genießen. Hinsichtlich der Satz- oder Dingbürger blieb es bei den vertraglich ausgehandelten Abgaben. 4.8.4.2 Veranlagung und Deklaration Wer von den Steuerherren in das Steuerbuch mit Namen und Steuerbetrag eingetragen wurde, sollte nach übereinstimmender Auffassung der absoluten Diskretion, eventuell auch gegenüber dem weiteren Stadtregiment, gewiss sein. Kenntnisse über Reichtum oder Armut sollten nicht zum Leidwesen der Betroffenen nach außen gelangen. Die Steuerherren wurden bei Strafe eidlich verp ichtet, das Steuergeheimnis strikt zu wahren. Aus Gründen der Geheimhaltung, damit ihr Kreis nicht zu groß wur-

de und Erfahrungswissen verfügbar blieb, sollten sie längere Zeit amtieren, in Rottweil sieben Jahre hindurch, in Kempten auf Lebenszeit. In Augsburg bereitete es Schwierigkeiten, aus dem dafür zuständigen Zwölferrat die drei Steuermeister zu gewinnen, da niemand das Amt übernehmen wollte. Wer ein Jahr amtierte, sollte die nächsten drei Jahre befreit sein. In den Steuerbüchern einiger Städte wie etwa Esslingen, Konstanz und Schaffhausen ist neben dem zu entrichtenden Steuerbetrag auch die Höhe des deklarierten Steuervermögens vermerkt. In dem für den Historiker günstigsten, so aber kaum in der Vollständigkeit anzutreffenden Fall führen die Steuerlisten neben dem Namen und Beruf des Hauhaltsvorstandes auch steuerp ichtige Angehörige, die Hausparzelle, die Straße oder Gasse, das Viertel oder den topogra schen Steuerbezirk, sodann die einzelnen deklarierten steuerp ichtigen Vermögensteile mit Wertangabe, den Wert des Gesamtvermögens sowie den daraus errechneten Steuerbetrag (Soll) und den tatsächlich entrichteten Betrag (dedit) auf. Jeder Steuerp ichtige hatte sich zur Vermögensteuer aufgrund der ihm mitgeteilten Steuerobjekte, Bemessungsgrundlagen und Steuersätze selbst zu veranlagen und den Steuerbetrag zu ermitteln. Der Steuerp ichtige hatte eidlich sein Vermögen zu veranlagen wie es im lieb (und wert) war, so heißt steuertechnisch die Selbsteinschätzung vielerorts, d. h. nach dem von ihm geschätzten Geldwert, gelegentlich im Hinblick auf einen hypothetischen Verkauf. Insbesondere die Bewertung, die Schätzung der Vermögensgegenstände, dürfte in Konstanz wie nach 1429 in Basel von Seiten der Stadt unter Aufsicht oder Mitwirkung von Ratsbeauftragten oder durch die Steuerherren erfolgt sein. Wenn jemand in Nürnberg bei einigen Positionen nicht in der Lage war, sein Vermögen zu veranschlagen, konnte er dies, so lautet eine 1476 erteilte Auskunft des Rats, den Losungern zu erkennen geben, die dann einen angemessenen Betrag auferlegten. Die eidliche Veranlagung und Deklaration der geschworenen Steuer erfolgten häu g in Intervallen von zwei bis fünf Jahren, in Augsburg

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seit 1396 zwischen drei und sieben Jahren, von 1480 an im Abstand von sechs Jahren. Es ist dabei zu beachten, dass Vermögensteuern erst im Laufe des 15. Jahrhunderts jährlich erhoben wurden. Innerhalb dieser Zeiträume wurde grundsätzlich eine Vermögenszunahme durch wirtschaftlichen Erfolg nicht berücksichtigt, andererseits konnte Misserfolg nicht steuermindernd geltend gemacht werden. Ausnahmen bildeten jedoch eingetretene Wechselfälle wie die Aussteuer für Kinder sowie Feuersbrunst, Raub oder Schatzung (Lösegeldzahlung), die man im laufenden Jahr von der Steuerschuld abziehen durfte. In Landsberg war alle zehn Jahre eine eidliche Deklaration erforderlich, während jährlich nach eigener Wertbestimmung die Vermögensteuer entrichtet wurde. Die Ulmer Steuerherren gingen zur Zeit der Steuererhebung zur Veranlagung, wie Felix Fabri 1488 mitteilt, zu Fuß in der ganzen Stadt herum, notierten die Gassen mit allen Häusern, erfassten die dort wohnenden Familien und auch einzelne Personen, damit sie die Steuerbeträge ermitteln und Betrug verhindern konnten.¹⁰¹³ Eine Sechserkommission arbeitete in Augsburg im Steuerumgang pro Tag eine Gasse ab. Säumigen Steuerp ichtigen untersagte der Rat die Nutzung ihres Hauses aufgrund eines so genannten Zusperrrechts. Wurde die Steuer nicht gezahlt, ließ der Rat notfalls unter Zwang pfänden und verlangte über den fälligen Steuerbetrag hinaus zusätzlich den dritten Pfennig, ein weiteres Drittel der Steuerschuld. Um die Steuerp ichtigen besser erfassen zu können, ließ der Rat 1491/92 die zehn Gassenhauptleute Listen über die ihnen zugeordneten jeweils 10 Häuser anfertigen und die Namen der steuerp ichtigen Einwohner, die weder das Bürgerrecht noch das Zunftrecht besaßen, in einer Liste notieren. Von insgesamt 5 283 registrierten Steuerp ichtigen wurden 630 (11,9%) als Nichtbürger ausgewiesen. Davon leisteten nur 79 über die Voraussteuer hinaus auch die Vermögensteuer. In Frankfurt ent elen im Jah-

re 1380 auf 2 546 männliche Steuerzahler 202 Nichtbürger. In Nürnberg versammelte der Rat zu Lichtmess (2. Februar) die Gemeinde und teilte ihr die Ordnung mit, nach der die Steuer unter Eid zu leisten war. Danach sollten die Steuerp ichtigen mit ihren Hausfrauen, damit auch diese Angaben machten, zusammensitzen und ihr steuerp ichtiges Vermögen errechnen. Die Gassenhauptleute ermittelten in den vier Stadtquartieren mit jeweils vier Gassenhauptmannschaften durch Umgang die Häuser und die Personen mit steuerp ichtigem Vermögen und trugen sie in eine Namensliste, das Steuerbuch (Losungsbuch) ein. Die Steuerp ichtigen legten in der Woche vor Aschermittwoch nach Ankündigung der Schwörzeit durch Stadtknechte im Bezirk ihrer Hauptmannschaft gassenweise in dazu bestimmten, bequem situierten Häusern – in anderen Städten war es wie zeitweise in Nürnberg das Rathaus oder aber das spezielle Steuerhaus – den umgehenden Losungern gegenüber im Anschluss an die Verlesung der Schwurformel den promissorischen Steuereid (Gelöbniseid) ab; die Eidesleistung wurde im Losungsbuch durch ein dem Namen vorgesetztes Kreuz vermerkt; in anderen Städten erfolgte der Eintrag iuravit. Der Nürnberger Losungseid verp ichtete den Schwörenden, sein steuerbares Vermögen nach dem vorgeschriebenen Steuersatz bis zu einem bestimmten Termin auf dem Rathaus zu versteuern. Die Zahlung aufgrund der Selbstveranlagung erfolgte – jedenfalls in späterer Zeit – insoweit anonym, als der Steuerp ichtige den von ihm ermittelten Steuerbetrag auf die Losungstube im Rathaus brachte und ihn in einem geeigneten Geldsäckchen in einen Kasten warf, der mit einem Geldeinwurf versehen war, sodass auch den anwesenden Losungern die Höhe des Betrags verborgen blieb. In einer Quelle von 1476 ist von einem Tuch die Rede, unter das der Betrag geschoben werde. Erst im 17. Jahrhundert musste die Höhe des entrichteten Steuerbetrags angegeben werden.

1013 Felix Fabri, Tractatus de civitate Ulmensi (1.1), S. 131 f. (dt. Übersetzung S. 90).

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Die anonyme Selbstbesteuerung als Besonderheit in Deutschland war auch im weiteren Europa bekannt. Machiavelli äußert in seinen »Discorsi« (I, 55) die Ansicht, dass dieses Verfahren auf Rechtschaffenheit (bontà) und Frömmigkeit (religione), auf einem beispielhaften nichtadligen, genuin bürgerlichen Ethos beruhe. In Lübeck war die geheime Steuerleistung an das Mindeststeuervermögen von 768 Mark lübisch geknüpft. Diese Gruppe von Zensiten machte 1460 insgesamt 97 Prozent der Steuerzahler aus, die 56 Prozent des Steueraufkommens bestritten. Die Selbstveranlagung schloss gewisse Nachprüfungen nicht aus. 4.8.4.3 Steuerstrafrecht Steuerstrafen waren bei Säumnis der dritte Pfennig oder gar das Duplum, die Verdoppelung des Steuerbetrages, oder Ehrenstrafen durch öffentliches Verlesen des Namens des Steuerschuldners. Wer wiederholt nicht zahlte, dem wurde mancherorts die Türe ausgehängt, bis die Forderung beglichen war. Für Steuerhinterziehung waren die Strafen gelegentlich äußerst hart. Eine genaue Ermittlung des eidlich zu deklarierenden Steuervermögens war angeraten, denn das nicht angemeldete Vermögen, aber auch das gesamte Vermögen konnten eingezogen werden, oder es wurde, wie in Basel, mehr als das 100fache des defraudierten Steuerbetrags auferlegt. Außerdem war der Tatbestand des Meineids erfüllt, der eine Bestrafung durch den Rat nach Ermessen ermöglichte, wie auch der Verlust des Bürgerrechts zu den Rechtsfolgen zählen konnte. In mehreren Städten hatte der Rat das Recht (Zugrecht), bei Verdacht auf Steuerhinterziehung das Vermögen des Steuerp ichtigen zu dem Schätzwert anzukaufen, zu dem es dieser zur Steuer angemeldet hatte.¹⁰¹⁴ Es gibt verschiedene Hinweise, dass dieses Recht auch ausgeübt wurde. Erschien den Münchner Steuerherren die Selbsteinschätzung verdächtig, sollten sie den Betreffenden vor den Rat zur

Rechtfertigung weisen; war der Steuerp ichtige der Hinterziehung schuldig, musste er harte Bußgelder zahlen. Hinterzogene und nachträglich im Beichtstuhl dem Geistlichen übergebene Steuerbeträge bildeten eine ständige Rubrik in den allgemeinen Einnahmen der Stadt. Beichtiger wurden auf diese Weise zu Hilfsorganen bei der Steuereintreibung und durch Überlassung kleinerer Beträge zu erhöhtem Eifer angespornt. In Rottweil konnte der Rat bei nachgewiesener Steuerhinterziehung das gesamte Vermögen kon szieren, um dann davon den tatsächlich deklarierten Teil wieder herauszugeben.¹⁰¹⁵ Insbesondere bei Ehefrauen wurden verheimlichte Gelder vermutet, von denen der Ehemann keine Kenntnis hatte, sodass im Falle eines Verdachts auch die Ehefrau vereidigt werden sollte. Bei Zahlungsverzug wurde Beugehaft in Turm und Gefängnis angedroht. Der Rat sollte auch prüfen, ob aus verschiedenen Gründen ausstehende Steuerbeträge, die aufgrund des Steuerbuchs ermittelt wurden, nicht doch noch eingezogen werden konnten. Der Bürgereid konnte eine Bestimmung enthalten, die es dem Rat erlaubte, nicht versteuertes Vermögen zugunsten des gemeinen Nutzens der Stadt einzuziehen. Als Arglist und Meineid sollte nach Freiberger Stadtrecht (um 1300) bestraft werden, wer die Zahlung in minderwertigen (bösen) Münzen leistete und dabei nicht für den wertmäßigen Ausgleich durch eine höhere Summe sorgte. Als Steuerbetrug wurde auch gewertet, wenn jemand Zins von seinem Haus veräußerte, nur um die von der Höhe der Mieteinnahmen abhängige Steuer pro Haushalt (Feuerstelle) zu senken, und nicht aus irgendeiner Notwendigkeit. In Wien wurden den Steuerherren vielfach Pfänder anstelle der Barzahlung übergeben; wurden sie nicht eingelöst oder deckte der Veräußerungserlös die Steuerschuld nicht, führte die Stadt gegen den Schuldner eine gerichtliche Exekution durch. Auch wurden bei Steuerrückständen – Remanenz, versessene Steu-

1014 So etwa in Stendal, Hamburg, Frankfurt a. M., Augsburg, München, Schwäbisch Hall, Rottweil, Esslingen, Nördlingen, Konstanz, Freiburg im Üchtland. A. E, Bürgereid und Steuerp icht, S. 83 ff. 1015 H. G (Hg.), Das ältere Recht der Reichsstadt Rottweil, Nr. 58, S. 129 f.; Nr. 60, S. 130.

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er – in Abkommen mit dem Steuerp ichtigen gewisse Abschläge gemacht, oder man gestand von Seiten der Stadt eine mehrjährige Ratenzahlung zu, wobei die Forderung bei vorhandenem Grundbesitz durch Grundbucheintrag gesichert wurde. In München wurde für säumige Steuerzahlung eine Versäumnisstrafe eingeführt. Zunächst erhöhte man den Steuersatz bis zu 25 Prozent; wer den Endtermin nicht einhielt, dessen Steuerleistung wurde durch Pfandsatzung sichergestellt, indem man Gebrauchsund Wertgegenstände pfändete, deren Verkauf voraussichtlich die Steuerschuld deckte. In Frankfurt am Main hatte der Rat, bevor er auf den Hinweis der Bedemeister hin Zwangsmaßnahmen ergriff, den Steuerp ichtigen bei der Vermutung einer unvollständigen und zu knappen Deklaration gütlich zu ermahnen, sich eines Besseren zu besinnen, und ihm einen Eid abzunehmen, falls er bei seiner ersten Berechnung blieb. Wenn hingegen in Augsburg die Steuerkommission einen Verdacht hatte, dass keine vollkommene und lautere Berechnung des Steuervermögens erfolgt war, oder Bürgermeister und Rat aufgrund von Verdachtsgründen nach der Veranlagung einiger Personen fragten, wurde die betreffende Person im Auftrag des ganzen Rats ohne Vorwarnung aufgesucht. Man hielt sie fest, schloss ihr Haus ab, nahm das Vermögen in Beschlag und gab ihr dann dafür die Summe, die sie als Wert angegeben hatte. Ergab sich wegen der zu niedrigen Vermögensdeklaration des Steuerschuldners ein Veräußerungsgewinn, wurde er dem gemeinen Nutzen, dem kommunalen Vermögen, zugeschlagen. Außerdem belangte man den Defraudanten wegen Meineids.¹⁰¹⁶ Reiche Steuerp ichtige entzogen sich zeitweise durch Ausweichen aus der Stadt einer hohen Belastungen durch Sondersteuern oder ließen sich wegen eines hohen Niveaus der Vermögensteuer auf Dauer andernorts nieder. Um das Steuervermögen in der Stadt zu halten, verboten Städte zeitweise den Abzug wie Ulm 1396

1016 T. S (Hg.), Die Freiburger Enquete, S. 24.

oder erschwerten ihn durch außerordentlich hohe Abzugsgelder und Nachsteuern. 4.8.5 Das Schuldenwesen – Die öffentliche Schuld 4.8.5.1 Kreditbedürfnis, Kreditpolitik und Verschuldung War es für den Rat zu Beginn eines Finanzjahres nur sehr schwer möglich, die künftigen Einnahmen einigermaßen zutreffend einzuschätzen, so barg die Ausgabenseite noch erheblich größere Unwägbarkeiten, weshalb das Gebaren der meisten Finanzhaushalte ausgabenorientiert war. Dies gilt nicht nur für außergewöhnliche Ausgaben, die durch Wechselfälle wie Seuchen, Hungersnöte, innerstädtische Kon ikte, Krieg oder Bündnisverp ichtungen, ferner durch Investitionen wie den Erwerb von Privilegien, durch Kauf und Ablösung von Hoheits- und Herrschaftsrechten, den Erwerb von Grundbesitz und Herrschaften oder durch Vorratskäufe an Korn oder Salz für Notzeiten verursacht wurden, sondern auch für jährlich wiederkehrende Ausgabenposten. Zur Deckung des nicht vorhersehbaren Finanzbedarfs konnte der Rat die bestehenden Steuern erhöhen, neue einführen oder außerordentliche Steuern ausschreiben, auf angesammelte Finanzreserven zurückgreifen, städtische Vermögensbestandteile veräußern, Kredite kündigen oder eigene Kredite aufnehmen und Schulden machen. Stieg der Finanzbedarf sprunghaft an, so blieben nur die Erhebung von Sondersteuern und die Kreditaufnahme übrig, wobei in diesem Fall Kredite als Belastung neben den laufenden Ausgaben möglichst rasch wieder abgetragen werden und andere Einkünfte wie Steuern antizipieren sollten. Andererseits gehörte in Städten wie Nürnberg und Basel im 15. Jahrhundert die Kredit nanzierung des Haushalts mit etwas über einem Drittel der Einnahmen zum regelmäßig in Anspruch genommenen nanzwirtschaftlichen Mittel. In Schaffhausen ent e-

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len im 15. Jahrhundert bei den Gesamtausgaben etwa 50 Prozent auf den Schuldendienst und 17 Prozent auf die Schuldentilgung bei einem Schuldenstand in den 1450er Jahren von über 65 625 Gulden und noch 37 073 Gulden am Ende des Jahrhunderts; in Konstanz waren es um 1500 31 Prozent an Zinsen und 33 Prozent an Tilgung. Vor allem der Kredit gab der Stadt Handlungsspielraum und war eine Waffe im Kampf um Selbstbehauptung und Freiheit. Zur Überbrückung kurzfristiger nanzieller Engpässe nahm der Rat verzinsliche oder unverzinsliche einfache Darlehen auf, die ihm wohlhabende Bürger oder von diesen gebildete kleinere Konsortien gewährten oder die er im Wege der Zwangsanleihe aufbrachte, wie sie Köln 1475/1476 in einer Höhe von 100 000 Gulden erhob. Mit diesen Darlehen wurden künftige Einnahmen etwa durch Steuererhöhungen oder Rentenverkäufe vorweggenommen; sie bildeten die schwebende, nicht konsolidierte Schuld. Handelte es sich um Ausgaben, die nicht oder doch vermutlich nicht durch ordentliche Einnahmen gedeckt werden konnten, so schritt der Rat seit dem 13. Jahrhundert zum Verkauf von Ewig- oder Leibrenten, welche die fundierte und konsolidierte Schuld bildeten.¹⁰¹⁷ Mit den langfristigen Verbindlichkeiten legte der Rat nach heutigen Begriffen Kommunalanleihen auf. Darlehen und Rentenverkäufe nahmen künftige Steuereinnahmen vorweg. Dieselbe Stadt schloss übrigens nicht selten im gleichen Zeitraum passive und aktive Kreditgeschäfte ab. Nicht alle Rentenschulden wurden aus Liquiditätsmangel eingegangen. Ein Teil diente häu g dazu, bei einem Kapitalmarkt mit sinkenden Rentenzinsen im Wege der Rentenkonversion bestehende Rentenschulden zum Teil durch neue Rentenschulden mit niedrigerer Verzinsung abzulösen. Die Erhöhung der fundierten Schuld anstelle der Geldbeschaffung durch außerordentliche Steuern oder Steuererhöhungen erscheint – analog zu moder-

nen Haushaltstheorien – als sinnvoll, wenn es sich um produktive Investitionen, den Erwerb von nutzbaren Hoheitsrechten und Herrschaften oder um militärisch-politische Maßnahmen zur Wahrung der Selbständigkeit der Stadt handelte, die auch künftigen Generationen zu Gute kamen, der lieben Posteriorität, wie man im 16. Jahrhundert zu sagen p egte. Beim Erwerb von nutzbaren Besitzrechten standen der eingegangenen Schuld zudem Aktiva gegenüber. Wenn Nürnberg 1434 von Kaiser Sigmund die halbe Stadtsteuer um 25 674 Pfund Pfennige ablöste, so repräsentierte die Steuer einen ungebuchten Aktivbestand in Höhe eines sich mit 5 Prozent verzinsenden Kapitalwerts von 24 500 Pfund.¹⁰¹⁸ Zahlreiche äußere Kon ikte und die Ausweitung des städtischen Herrschaftsgebiets ließen die Verschuldung Berns in den 1480er Jahren auf mehr als 60 000 Gulden ansteigen, und bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts belief sie sich noch auf 47 300 Gulden, doch konnte sie bis zur Jahrhundertwende auf nur noch 9 000 Gulden zurückgeführt werden. Der Ausbau des Berner Territoriums mithilfe von Krediten führte langfristig zu einer äußerst markanten Umstrukturierung des ordentlichen städtischen Haushalts. Waren 1437 die Vermögensteuer (Telle), Zoll und Ungeld – als Belastungen von Vermögen, Handel und Konsum – mit 46 Prozent an den Einnahmen beteiligt, so betrug ihr Anteil 1568/70 nur noch 6 Prozent, während nun 70 Prozent der Einnahmen aus kommunalen Regiebetrieben und vor allem aus Zehnten und Grundzinsen des obrigkeitlichen Landbesitzes, also aus der Territorialwirtschaft stammten.¹⁰¹⁹ Schaffhausen brachte in den Jahren 1404 bis 1418 mindestens 221 892 Gulden für den Erwerb von Privilegien und Hoheitsrechten sowie für die Wiedererlangung der Reichsunmittelbarkeit (6 000 Gulden) auf, doch wurden die Ausgaben für den Erwerb von Hoheitsrechten für das restliche 15. Jahrhundert bedeutungslos,

1017 Zum Rentengeschäft und zum Rentenmarkt siehe auch 9.6.2 und die dortige Literatur. 1018 P. S, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs, S. 717. 1019 N. B, Von der Stadt zum Territorium, in: H. . S/G. F/H.-J. G (Hg.), Städtische Finanzwirtschaft, S. 75–93.

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und erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts konnte die Stadt einen großen Teil ihres späteren Territoriums kaufen. In Hamburg machten Rentenkredite¹⁰²⁰ in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts auf der Einnahmeseite des Stadthaushaltes durchschnittlich 4 Prozent aus, Rückzahlungen und Zinsendienst auf der Ausgabenseite 7 Prozent. Diese Quoten stiegen in den beiden letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts auf 15 Prozent (Einnahmen) und 28 Prozent (Ausgaben). Während des 14./15. Jahrhunderts beliefen sich die Rentenzahlungen Frankfurts am Main auf 16 bis 25 Prozent der Ausgaben. Rentenverkäufe machten in Köln 1392 die Hälfte der Einnahmen aus. In Nürnberg wurden mit abnehmender Tendenz die Einnahmen etwa zu einem Drittel aus Rentenverkäufen bezogen. In Basel waren es im Kriegs- und Krisenjahr 1473/74 sogar 71,34 Prozent des Haushalts. Nachdem Basel 1360/61 praktisch schuldenfrei war, betrug 1362/63 der Anteil der Zinszahlungen nur 0,85 Prozent der Ausgaben des gesamten Haushalts, bereits 1397/99 hatte er aber fast 44 Prozent erreicht, 1457/58 und 1458/59 jeweils etwa 54 Prozent; in den Jahren 1430/31, 1431/32 und 1493/94 betrug der Anteil 57–59 Prozent. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts schwankte die Geldaufnahme durch Rentenverkauf zwischen 3,5 und 34 Prozent der jährlichen Gesamteinnahmen. Während von 1393/94 bis 1403/04 etwa 4⁄5 der Zinsverp ichtungen auf Ewigrenten auf Wiederkauf und 1⁄5 auf Leibrenten ent elen, kehrten sich die Anteile in dem Stichjahr 1429/30 in das Verhältnis 1⁄4:3⁄4 und 1438/39 in das Verhältnis 3⁄10:7⁄10 um. Trotz dieser Verschiebungen blieb die durchschnittliche Gesamtverzinsung von etwa 7 Prozent konstant. Der Zinsfuß bei Wiederkaufsrenten sank in der Zeit von 1385/86 auf 1438/39 fast kontinuierlich von

91⁄6 auf 4,17 Prozent. Für Leibrenten sind etwa konstante 10 Prozent anzusetzen, mit leichter Tendenz nach unten in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. 4.8.5.2 Kommunaler Rentenverkauf 4.8.5.2.1 Rententypen und Kreditumfang Für Renten, die von der Stadt verkauft wurden, ent el bald die für die Rente an sich erforderliche spezielle Fundierung durch Immobilien;¹⁰²¹ sie wurden auf das städtische Vermögen und die städtischen Einkünfte ganz allgemein gelegt. Für einen Betrag an Kapital verkaufte die Stadt eine jährliche Rente in bestimmter Höhe. Aus der Relation des Kaufpreises oder Kapitals zum Betrag der auszuzahlenden Rente ergibt sich der Rentenfuß oder Rentensatz, die Höhe der Verzinsung des eingesetzten Kapitals. Für den öffentlichen Kredit war die Ewigrente nur in der Form der jederzeit oder nach vereinbarten Fristen ablösbaren Wiederkaufsrente tauglich, da sonst sehr rasch eine Überschuldung eintreten konnte, was aber geschah, wenn immer wieder neue Renten verkauft und alte nicht gelegentlich abgelöst, d. h. Schulden getilgt wurden. Bei den Leibrenten setzte sofort eine unsichtbare Amortisation ein, da die Rentenschuld beim Tode des Rentenberechtigten erlosch. Der höhere Betrag der Leibrente gegenüber dem der Ewigrente bei gleichem Kaufpreis ist als Amortisationsrate der Rentenschuld zu betrachten. Zeitweise wurden Leibrenten verkauft, um mit dem aufgenommenen Kapital Ewiggelder abzulösen, diese dadurch in höhere Leibrentenschulden umzuwandeln und auf diese Weise allmählich zu amortisieren. Viele Städte bevorzugten zunächst grundsätzlich den Verkauf von Leibrenten. Diese waren nanzwirtschaftlich nur dann sinnvoll, wenn ihre Laufzeit etwa 10 Jahre nicht überschritt. Die Goldene Re-

1020 Zum Folgenden siehe besonders R. S, Der städtische Rentenmarkt in Nordwestdeutschland (9.6); J. R, Zins und Zinsaufwand in Basel; R. K, Das Schuldenwesen der Stadt Köln; B. K, Das Schuldenwesen der deutschen Städte; P. S, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs, S. 405–415, 683 f.; H.-J. G, Die städtische Schuld Berns; H. . S/G. F/H.-J. G (Hg.), Städtische Finanzwirtschaft, mit den Beiträgen von B. F (Nürnberg), H.-J. G (Bern/Basel), M. R (Frankfurt a. M.); B. F, Die Rentenverkäufe der Reichsstadt Nürnberg. 1021 Zum rechtlichen und wirtschaftlichen Charakter des Rentengeschäfts siehe 9.6.2.

Die städtischen Finanzen 545

gel der Nürnberger Älteren Herren von 1463 warnte ausdrücklich vor der Ausgabe kommunaler Leibrenten auf zwei Personen (Leben). Von 1459/60 an verloren in Nürnberg Leibrenten ohnehin drastisch an Bedeutung, verschwanden aber nicht vollständig, sondern blieben wie in Bern und Basel neben den ablösbaren Ewiggeldern in Gebrauch. Außerdem erschienen 1458 erstmals abgelöste Leibrenten, während es in Regensburg bereits Ende des 14. Jahrhunderts wiederkäu iche Leibrenten gab. Köln verkaufte seit 1416 von der Stadt ablösbare Leibrenten zu 10 Prozent Zins und unablösbare zu 81⁄3 Prozent, beschränkte dann aber angesichts geringer nanzieller Spielräume für Ablösungen den Verkauf der höher verzinslichen ablösbaren auf junge Bürger. In Nürnberg musste der Rat 1458 für den Rückkauf von Leibrenten Beträge zahlen, die zwischen dem 41⁄2-fachen und dem gut siebenfachen des Kaufpreises lagen. Leibrenten auf mehrere Leben waren in der Regel teurer als auf nur ein Leben, d. h. die Verzinsung war geringer. Zur Bewältigung ihrer enormen Finanzprobleme verkaufte die Stadt Braunschweig im Jahre 1396 Leibrenten auf sogar vier Leben zu 10 Prozent, 1397 zu 10 Prozent für die ersten drei Berechtigten und 5 Prozent für den letzten sowie 1409 auf drei Leben mit einem Rentenfuß von 10 Prozent, der in der Abfolge der Berechtigten auf 8 und 6 Prozent el. Ewiggelder wurden in Nürnberg, soweit für begrenzte Überlieferungsperioden erkennbar, pro Geschäftsvorgang zwischen einem und 650 Gulden erworben; Renten von einem bis 3 Gulden waren selten, solche von mindestens 100 Gulden in 146 Fällen nachweisbar.¹⁰²² Eine außerordentlich hohe Kapitalinvestition nahm der Rat Herzog Ludwigs von BayernLandshut, der frühere Nürnberger Ratsjurist und immer noch für die Stadt tätige Dr. Martin Mair vor, als er 1469 beim Nürnberger Rat für 13 000 rheinische Gulden mit einer Verzinsung zu 5 Prozent eine wiederkäu iche Rente von

650 Gulden erwarb. Diese Rente war ein Mehrfaches des Jahresgehalts ohne Grati kationen von 225 Gulden, das er 1452 im Dienste Nürnbergs bezogen hatte. Zur Sicherheit konnte er ausbedingen, dass bei Zahlungsverzug vier Ratsmitglieder, Schöffen oder Genannte zum Einlager in einem Nürnberger Gasthaus verp ichtet waren. Eine Wiederkaufsrente von 30 Gulden für ein Kapital von 750 Gulden stellte die Untergrenze des Jahreseinkommens eines bei der Stadt beschäftigten Bauhandwerkers dar. Die Nürnberger Geschlechter hingegen legten selten mehr als 3 000 Gulden an; für Peter Rumel konnten allerdings 9 000 Gulden ermittelt werden. Vermutlich wollte sich der Rat nicht durch hohe Kapitalanlagen von einzelnen Bürgern und Ratsmitgliedern abhängig machen. Als der Augsburger Rat 1457 für 4 000 Gulden Leibrenten au egte, bestimmte er, dass Leibrenten nur an Personen von mindestens 40 Jahren und nur auf ein Leben verkauft werden durften. Der Zinssatz für Vierzigjährige sollte 10 Prozent betragen; er war aber von dem damit beauftragten städtischen Baumeister nach Ermessen individuell nach Alter und Gesundheitszustand festzulegen. Je älter und kränklicher der Käufer war, umso niedriger sollte der Kaufpreis liegen, d. h. umso höher war dann die Verzinsung. Für eine gleiche Summe von 4 000 Gulden sollten ferner ablösbare Ewigrenten zu 5 Prozent, falls es der Markt zuließ, zu nur 4 Prozent verkauft werden.¹⁰²³ Nicht immer und überall wurden derartige Individualisierungen des Rentenfußes zur optimalen Realisierung der Amortisationsrate vorgenommen. Nürnberg verkaufte zunächst Leibrenten offensichtlich zu einem gleichen Zinssatz auch an Jugendliche; erst 1460 bestimmte der Rat, dass Leibrenten nur noch an Interessenten verkauft werden sollten, die das 60. Lebensjahr überschritten hatten. Andererseits nahmen die Nürnberger Losunger, die kommunale Renten verkauften, die Offerten der Kau ustigen ein-

1022 Die in Nürnberg 1388 verkauften städtischen Leibrenten beliefen sich im Durchschnitt auf 556 Gulden bei einem – extrem abweichende Werte glättenden – Median von 450 Gulden. 1023 C. M (Hg.), Das Stadtbuch von Augsburg (2.2–2.4), Nr. XXXV, S. 296 f.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

zeln entgegen und verkauften am selben Tag an verschiedene Personen Renten zu unterschiedlichen Preisen. Auch konnte man in bestehende Verträge eintreten. In Hamburg verkaufte der Rat am Ende des 15. Jahrhunderts Ewigrenten an Einheimische zu einem Zins von 62⁄3 Prozent, an Auswärtige zu 4 bis 5 Prozent. Die aus skalischen Maßnahmen und Kreditaufnahmen des Rats zu schließende Verschuldung der Stadt war Anlass für Vorwürfe und Beschuldigungen gegen das herrschende Ratsregime, innerstädtische Auseinandersetzungen und für Forderungen nach Offenlegung der Finanzen. Andererseits mussten in vielen Städten Große Räte oder Gemeinderepräsentationen an der Beschlussfassung über die Kreditaufnahme beteiligt werden. Der Kölner Verbundbrief von 1396 band verfassungsgemäß die Emission von Leib- und Erbrenten an die Mitwirkung der Vierundvierziger aus der Gemeinde. Im Hinblick auf einen möglichen Krieg verkaufte der Rat 1468 im Zeichen äußerer Unsicherheiten Ewigrenten in Höhe von 51 600 Mark (12 900 Gulden) und ließ die Summe von der Samstagsrentkammer mit der Maßgabe aufbewahren, dass mit dem Geld, falls es doch nicht zum Krieg kam, nach einiger Zeit Renten konvertiert und abgelöst werden sollten.¹⁰²⁴ In Augsburg beschlossen Kleiner Rat und Großer Rat über eine Kreditaufnahme und über deren Höhe. Im Jahre 1457 waren es insgesamt 8 000 Gulden, je zur Hälfte Leibgedinge und Ewiggelder, doch ermächtigte der Große Rat den Kleinen in einem Vorratsbeschluss, bei einem höheren Finanzbedarf weitere 2 000 oder 3 000 Gulden aufzunehmen. War jedoch eine noch höhere Summe erforderlich, musste der Kleine Rat den Großen einberufen. Zugleich wurde angesichts der Verschuldung der Stadt beschlossen, ausschließlich zur Schuldentilgung und Deckung städtischer Ausgaben eingelagertes kommunales Korn für 2 000 Gulden zu verkaufen und befristet auf fünf Jahre für die Erlaubnis des freien Zugs und die Aufgabe des Bürgerrechts drei Nachsteuern zu fordern. Wer

1024 R. K, Stadtrechnung I, S. 141.

abziehen wollte, musste außerdem eidlich versprechen, in den nächsten fünf Jahren jährlich auf eigene Kosten in die Stadt auf das Rathaus zu kommen und wie die Bürger sein Vermögen zu versteuern. In Rottweil sollte der Rat um 1500 keine Ewigrenten mehr aufnehmen, jedenfalls nicht hinter dem Rücken des Achtzehnerausschusses, doch war er ermächtigt, Leibrenten zur Ablösung von bestehenden Ewigrenten zu verkaufen. In Mainz verlangten die Zünfte in den Auseinandersetzungen mit dem Patriziat in den Jahren 1411 bis 1413 angesichts einer sich langsam abzeichnenden Schuldenkrise, dass bei Rentenverkäufen durch den Rat künftig Vertreter der Zünfte beigezogen werden müssten. Die umfangreiche Kredit nanzierung des Haushalts konnte unter Umständen den Ratsfamilien dienen, die über die Fiskalpolitik entschieden, und weiteren wohlhabenden Kreisen, die für ihre überschüssigen Gelder verzinsliche Anlagen am sicheren Ort suchten. Während der Braunschweiger Schicht von 1374 drangen die Aufrührer, wie der Klageschrift der Vertriebenen angibt, in die Häuser der Gegner ein, brachen die Truhen auf, suchten nach kommunalen Rentenbriefen und zerrissen sie. 4.8.5.2.2 Rentengläubiger und Rentenmarkt Als Rentengläubiger der Stadt traten nicht nur einheimische Bürger und Einwohner, sondern auch andere Städte und deren Bürger sowie Fürsten und vor allem Adlige auf, ferner Stiftungen, Spitäler und geistliche Institutionen. Es war die Frage, ob eine Stadt Anlagen ihrer Bürger, örtlicher geistlicher Institutionen und Sozialstiftungen oder von Auswärtigen bevorzugte. Anleihen, die von entfernten Kreditgebern platziert wurden, verursachten der Stadt angesichts der meist üblichen Bringschuld größere Kosten für Verwaltung, Transfer sowie die Ermittlung und Kontrolle der Berechtigten, insbesondere bei Leibrenten. Eine gewisse kreditwirtschaftliche Autarkie der Stadt war indessen nur bei einer kapitalkräftigen Bevölkerung möglich.

Die städtischen Finanzen 547

Ansonsten trat das erreichbare Kapitalangebot in den Vordergrund, wobei städtische Vernetzungen in der Region und darüber hinaus durch Politik, Handelsbeziehungen und persönlichfamiliale Beziehungen eine Rolle spielten. Eine Umgehung politisch führender Städte in der Region hingegen erscheint nur plausibel, wenn Anleihen durch den Gläubiger bereits kündbar waren und deshalb ein Druckmittel darstellen konnten. Die Stadt Bern bevorzugte zwar einheimische Anleger, genoss aber bei diesen als säumige Zahlerin wenig Kredit und war auf Kapital aus Basel angewiesen; sie griff, als Basel zeitweise aus el, weiter aus, indem sie unter anderem beim Schwäbischen Städtebund im Jahre 1450 einen rasch zurückgezahlten Kredit aufnahm, den Ulm, der Ort der Bundeskasse, vermittelt hatte. Basel wiederum konnte den Hauptteil seiner Anleihen bei der eigenen Bevölkerung unterbringen und war selbst ein bedeutender regionaler Kreditmarkt, an dem für Schaffhausen ein Finanzagent tätig war, der den Rat laufend über die Entwicklung am Basler Rentenmarkt informierte und beauftragt war, zinsgünstiges Geld aufzutreiben. Nur in Fällen eines außergewöhnlichen Bedarfs wandte sich die Stadt Basel an überregionale Kapitalmärkte wie Straßburg, Frankfurt und gelegentlich Speyer und Mainz. Ähnlich verhielt sich in Notlagen Köln, das dann durch Rentenverkauf enorme Beträge aufnahm: 1370 bis 1393 insgesamt 177 840 Mark von Bürgern der Städte Lübeck, Frankfurt, Mainz und Augsburg, wobei man große Summen rasch zurückzahlte, und 1414 bis 1431 insgesamt 244 475 Mark, wovon 51 250 Mark von Frankfurter und Mainzer Bürgern aufgebracht wurden. Danach nden sich nur noch ganz selten Anleihen, die von Auswärtigen aufgenommen wurden. Während Schwäbisch Hall seine Kreditbedürfnisse bis etwa 1540 in erster Linie durch Anlagen der eigenen Bürger befriedigte, bevorzugte Schaffhausen erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts einheimische Rentenkäufer, und Schweinfurt stellte ab 1561 von der Finanzierung durch Auswärtige auf Kredite durch

Einheimische um. Nürnberg verkaufte bis kurz vor der Mitte des 15. Jahrhunderts Renten fast nur an einheimische Gläubiger, dann jedoch legten vor allem der fränkische Adel, Frankfurter, Augsburger und Münchner, aber auch Mainzer und Kölner Bürger als Gäste Kapital in Nürnberg an. Ausbezahlt wurde mit wenigen Ausnahmen in Nürnberg, aber hinsichtlich von Gläubigern aus Frankfurt, Köln und Dortmund auf den beiden Messen in Frankfurt, die auch für nanzielle Transaktionen bei der Liquidation von Handelsgesellschaften eine Rolle spielten. Lübecker Kapital oss nach Lüneburg, Hamburg, Bremen und Köln. In Braunschweig wurden Ende des 14. Jahrhunderts Gelder aus Göttingen, Lüneburg, Köln und Magdeburg angelegt. Bremer Renten kauften während des 15. Jahrhunderts Bürger aus Lüneburg, Braunschweig, Stade, Stendal, Buxtehude und weiteren Städten. Rentengläubiger deutscher Städte gab es auch auf internationaler Ebene den Handelsbeziehungen folgend in den Niederlanden, in Flandern, England und in den baltischen Gebieten. Die Frankfurter Patrizierfamilie Rohrbach hatten 1427 Kapital außer in Frankfurt diversi ziert in Gelnhausen, Mainz, Straßburg, Kassel, Eschwege, Homberg, Hersfeld und Dieburg in Renten investiert. In erhebliche Kommunikations- und Realisierungsprobleme führt der immense Rentenbesitz des Rothenburger Patriziers und Bürgermeisters Heinrich Topler hinein, der im Jahre 1408 Rentenansprüche in etwa 120 verschiedenen Orten hatte. Der in Zürich ansässige Heinrich Göldlin aus Pforzheim besaß Renten unter anderem in Dinkelsbühl, Esslingen, Giengen, Nördlingen, Ravensburg, Rothenburg, Schaffhausen, Weinsheim und Winterthur. 4.8.5.2.3 Umschuldung und Rentenkonversionen Die Kapitalaufnahme auf dem Rentenmarkt hatte das unzureichende Steuersystem, den im Vergleich mit dem Umfang kommunaler Aufgaben zu geringen Anteil der Stadt am Sozialprodukt und die vielen unvorhersehbaren und un-

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kalkulierbaren Anforderungen auszugleichen. Die Rückkaufbarkeit der Ewigrenten und gelegentlich sogar der Leibrenten ermöglichte es der Kommune, bei günstigen Finanzverhältnissen oder fallenden Marktzinsen Renten abzulösen oder in niedriger verzinsliche Renten zu konvertieren. Die Nürnberger Losunger beanspruchten nach der Ordnung der Losungstube von 1458 beim Weiterverkauf von kommunalen Ewigrenten ein Vorkaufs- und Genehmigungsrecht. Waren sie derzeit nicht in der Lage, bei Renten, die unter dem ursprünglichen Wert (Nennwert) weiterverkauft wurden, ihr Vorkaufsrecht wahrzunehmen, mussten die Renten bei dem genehmigten Kaufgeschäft jedoch urkundlich mit dem neuen niedrigeren Marktpreis xiert und so im Losungsamt registriert werden, damit die Stadt auch noch später bei einer Rentenablösung an dem Marktpreis partizipieren konnte. War der Rat in der Lage, Ewigrenten zur Entschuldung abzulösen, was der almechtig got genediclich fugen wolle, sollten daher, um auch kleinere Vorteile zu nutzen, in den Rentenregistern Posten für Posten geprüft werden, ob nicht in der Vergangenheit Ewigrenten zu einem niedrigeren Betrag (17 oder 16,5 Gulden) als dem Kaufpreis (18 Gulden) – bei ursprünglichen Rentenfüßen zwischen 4 und 6 Prozent mit einem Kursgewinn für den Zweitkäufer bis zu 0,56 Prozent– weiterverkauft worden waren und die Losunger diese Renten, da es sich um einen ursprünglichen Kauf bei den Losungern auf Wiederkauf handelte, auch zu diesem niedrigeren Marktwert ablösen konnten. Außerdem verkauften die Losunger Renten in Goldwährung und leisteten die Rentenzahlung in der demgegenüber etwas unterbewerteten Silberwährung.¹⁰²⁵ Die Losunger wandelten nachweislich bis 1459/60 26 Ewiggelder in Leibrenten um, danach wegen des generellen Rückgangs der Leibrenten nur noch wenige. In einer Reihe von Fällen wurde ein Teil des Kapitals in bar abgelöst, der restliche in Form einer Leibrente beglichen. Die höchste zu ermittelnde Summe investierte

in Nürnberg der im Ochsenhandel reich gewordene Adlige Ladislaus Swetkowitz aus Pettau an der Drau (heute Slowenien) im Erzbistum Salzburg. Im Zeitraum von 1461 bis 1466 kaufte er in drei Tranchen zu jeweils 300 Gulden Ewiggeld bei einem Zinssatz von 4,5 Prozent für insgesamt 19 800 Gulden an Kapital. Das erste Drittel der Kapitalsumme oss 1477 zurück. Bei Umschuldungen, die von den Losungern 1482 und beim Erbfall bei einem Kapital von zuletzt 15 000 Gulden vorgenommen wurden, gelang es, den Rentenfuß auf 3,57 Prozent und schließlich 3,33 Prozent zu senken. Der Verkauf von Leibrenten bedeutete in der Regel eine Verdoppelung des Zinsendienstes gegenüber Wiederkaufsrenten, hatte aber den Vorteil einer absehbaren Tilgung des Kapitals. Bern verzichtete im 15. Jahrhundert ganz auf den Verkauf von Leibrenten, Basel hingegen steigerte ihn. Wiederkaufsrenten konnten zur Schuldentilgung immerhin abgelöst werden, erforderten aber Kapital. Die Anteile der verschiedenen Rentenformen an der städtischen Schuld wurden immer wieder durch Umschuldung im Wege der Rentenkonversion gegeneinander verschoben, höherverzinsliche desselben Typs abgelöst und, wenn es der Markt zuließ, gegen solche ausgetauscht, die inzwischen zu einem niedrigeren Nennwert emittiert werden konnten. Städte verkauften Renten mit niedrigerem Rentenfuß, um mit dem aufgenommenen Geld ältere und höher verzinsliche Renten abzulösen. Bisherige Gläubiger der Stadt, die ihre Anlagen bestehen lassen wollten und eine Konversion ihrer Renten in solche mit der niedrigeren Verzinsung akzeptierten, konnten den entsprechenden Betrag zu ihrer bisher eingelegten Kapitalsumme zulegen und dadurch bei gleichem Rentenbezug den Zinssatz rechnerisch an das neue, niedrigere Niveau angleichen. Rentenkäufer, die mehr Wert auf eine stabile Kapitalanlage als auf eine hohe Verzinsung legten, kauften sogar Renten, die über dem Marktpreis lagen, damit die Stadt sie auch bei steigender Konjunktur, reichlich vorhandenem Kapital

1025 Staatsarchiv Nürnberg, Amts- und Standbuch, Nr. 267 (1458).

Die städtischen Finanzen 549

und fallenden Rentenpreisen nicht so rasch ablöste. Schaffhausen versuchte 1428 und 1429 in einer großen Rentenkonversion den hoch verschuldeten kommunalen Haushalt hinsichtlich des Zinsendienstes sogar durch niedriger verzinsliche echte Ewigrenten zu entlasten, die ansonsten außer Gebrauch gekommen waren. Die Stadt nahm große Summen, insgesamt 16 000 Gulden, bei Bürgern in Bern durch den Verkauf von Ewigrenten zu 2,86 Prozent auf und löste damit Wiederkaufsrenten mit einem Rentenfuß von 5 Prozent und höher in Basel, Freiburg im Breisgau und in Schaffhausen selbst ab. Die Kölner Rentenkonversion des Jahres 1486, die auf einen Abbau der zehnprozentigen Leibrenten abzielte, ließ dem konversionswilligen Gläubiger die Option, den Zinssatz durch Zuzahlung von Kapital auf den Fuß der neu emittierten Leibrenten von 8⅓ Prozent zu reduzieren oder die Leibrente in eine vierprozentige Erbrente umzuwandeln. Außerdem konnte Köln die fortschreitende Münzverschlechterung ausnützen, indem die Stadt die Renten nicht in den kursierenden Goldgulden, sondern in Rechnungsgulden verkaufte und die Zahlungen in dem verfallenden Silbergeld leistete. In geringem Umfang nahm die Stadt auch Depositengelder an, die sie, wenn sie von eigenen Bürgern stammten, bei langen Kündigungsfristen für eigene Zwecke verwendete. Die enorme schwebende Schuld in Gestalt kurzfristiger Anleihen, die Köln 1475 im Zusammenhang mit den Kölner Stiftswirren und dem Neusser Krieg aufnahm, konsolidierte die Stadt durch die Begründung einer fundierten Schuld durch Rentenverkäufe und schritt zur Tilgung durch eine – sozialund ordnungspolitisch gefährliche – Erhöhung indirekter Steuern. Im Jahre 1512/13 musste die praktisch bankrotte Stadt Rentenzahlungen durch Rentenverkauf nanzieren. Nach vorausgegangenen Unruhen beschlossen Rat und Gaffeln 1513, ausschließlich zur Tilgung der Kredite für fünf Jahre Vermögensteuern (1%) und gestufte Personalsteuern hinsichtlich der Armen, Dienstboten und jungen Leute zu erheben. Der Trans xbrief von 1513 gestattete dem Rat selb-

ständiges Handeln, wenn Gläubiger ihre Erbrentenbriefe erneuerten und statt des früheren Rentenfußes von 5 Prozent nur noch 4 Prozent akzeptierten, oder wenn es darum ging, für amortisierte Leibrenten neue in gleicher Höhe zu verkaufen, um damit Erbrenten abzulösen. Für den Verkauf neuer Erb- und Leibrenten war jedoch die Zustimmung aller Gaffeln und damit der ganzen Gemeinde erforderlich. Angesichts aufgelaufener Kriegskosten erhob Basel 1429 vorsorglich eine außerordentliche Vermögen- und Personalsteuer, um Liquiditätsproblemen bei Rentenzahlungen, wie sie von rheinischen Städten bekannt wurden, zu entgehen. Der Zinssatz der kommunalen Renten orientierte sich an dem Kreditbedarf der Stadt, an der von der Stadt angesichts der nanzpolitischen Ziele bevorzugten Aufteilung der Rententypen und der Konjunktur des Geldmarktes, am Volumen des bei den Bürgern und Auswärtigen vorhandenen Kapitals, das Anlagen suchte. So sank in Köln der Rentenfuß für Ewiggelder von 4 auf 3¼ (1443), 3½ (1472) bis auf 3 Prozent (1473); wegen der immensen Kosten des Neusser Krieges von 1475 stieg er trotz einer Zwangsanleihen auf 5 Prozent, doch bereits 1478 konnte er von der Stadt wieder auf 4 Prozent gedrückt werden. Leibrenten konnte Köln 1416 für 8⅓ statt für frühere 10 Prozent verkaufen; 1442 zwang der Rat die Bezieher zehnprozentiger Leibrenten zur Nachzahlung oder Ablösung, doch 1475 musste der Rentenfuß wegen der Kriegsausgaben auf 10 Prozent erhöht werden, während der Rentenfuß drei Jahre später wieder gesenkt werden konnte. In Nürnberg zeichnete sich nach 1477 eine deutliche Tendenz sinkender Zinssätze von 5 Prozent bis zu einer Relation von zwischen 24 bis 30 Gulden pro einem Gulden Rente (4,16%–3,33%) ab, während der Rentenfuß bei Leibrenten bei 10 Prozent lag, leicht absank, dann aber wieder das frühere Niveau von 10 Prozent erreichte. 4.8.5.3 Kommunale Überschuldung Einige Städte wie Zülpich, Duisburg, Düren, Andernach, Mühlhausen i. ., Wetzlar in den

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

1360er und 1370er Jahren, Mainz 1428/29 oder Weißenburg im Nordgau führte die Kreditwirtschaft in Überschuldung, zeitweise Insolvenzen oder Bankrott. Hohe Verschuldung und Überschuldung der Stadt und die dagegen unternommenen Tilgungs- und Sanierungsmaßnahmen mithilfe von Steuererhöhungen konnten den sozialen Frieden und die Stellung des herrschenden Ratsregimes gefährden. Hinsichtlich der Reichsstädte war man sich der Gefahr der Mediatisierung bei Überschuldung eindringlich bewusst. Der König setzte deshalb in einzelnen Fällen Kommissionen befreundeter oder politisch interessierter Städte ein, die ein geeignetes Sanierungsprogramm zu entwerfen und durchzuführen hatten. Nachdem Mainzer Bürger an herausragender Stelle durch Rentenkäufe der Stadt Frankfurt in deren Liquiditätskrisen der Jahre 1355–1370 während der Zunftunruhen und erneut 1400–1410 nach der Schlacht von Kronberg mit ihren enormen nanziellen Folgen Kredithilfe gewährt hatten, kehrte sich der Kapital uss völlig um, als Mainz im Zusammenhang mit Kon ikten zwischen Patriziat und Zünften seit 1411 immer deutlicher nach mehrfacher Zahlungsunfähigkeit auf einen völligen Bankrott zusteuerte, der dann 1445 mit der Einstellung des Schuldendienstes offen eintrat. Im Jahre 1429/1430 stellte der neue Rat die fälligen Rentenzahlungen an Frankfurter Gläubiger ein. Er erklärte, für die Schuldverschreibungen des alten Rates nicht haftbar zu sein, und war nur gegen die Minderung der Renten um ein Drittel zur weiteren Zahlung bereit. König Sigmund intervenierte 1430 und 1434 zugunsten der Stadt, indem er für sie Schuldenmoratorien erbat. Nach erneuter Zahlungsunfähigkeit sah sich der Mainzer Rat 1437 gezwungen, seine Bücher Ratsherren der Städte Frankfurt, Worms und Speyer zu eröffnen, die mit der so genann-

ten Mainzer Grundrechnung vom Oktober eine erschreckende Bilanz vorlegten. Demnach hatte die Stadt an jährlichen Erbrenten 9 404 Gulden mit Rentenfüßen von 3,5 bis 5 Prozent und einem Kapitalwert von 237 694 Gulden auszuzahlen und weitere 9 096 Gulden an Leibrenten; insgesamt belief sich die jährliche Zinsbelastung auf 18 500 Gulden. Hinzu kamen gestundete Rentenzahlungen von 12 000 Gulden und (zinslose) Darlehen von Bürgern in Höhe von 8 000 Gulden zu Deckung aktueller Ausgaben. Den gesamten ordentlichen Ausgaben von 24 463 Gulden standen geschätzte 16 297 Gulden an Einnahmen gegenüber. Daraus ergab sich ein strukturelles De zit von jährlich 8 000 oder 8 500 Gulden.¹⁰²⁶ Frankfurt gewährte der Stadt 1437 eine Anleihe von 4 000 Gulden mit einer Laufzeit von 14 Jahren und einem Zinssatz von 5 Prozent. Das Geld brachte Frankfurt bei seinen Bürgern auf. Der Mainzer Rat musste garantieren, dass jeder neue Rat die Verp ichtungen übernahm, und private örtliche Bürgen für Zinsleistungen und die Rückzahlung stellen. Der gegenüber den einheimischen Geldgebern persönlich haftende Frankfurter Rat wiederum hatte sich in einer Bürgschaft zu verp ichten, notfalls die jährliche Zinszahlung zu übernehmen, falls Mainz aus ele. Im Jahr darauf war Frankfurt zu einem weiteren Darlehen von 4 000 Gulden mit diesen Modalitäten bereit. Beide Sicherheitsleistungen wurden später abgefordert oder tatsächlich in Anspruch genommen. Eine erneute Bilanz durch die Städtedelegation im Jahre 1444 wies eine gesamte Zinsbelastung von 20 804 Gulden bei einem geschuldeten Gesamtkapital von 249 419 Gulden auf. Eine weitere Bilanz, die sämtliche Schuldtitel berücksichtigte, brachte eine Gesamtschuld von 373 184 Gulden zutage. Der Hauptteil der Rentenforderungen ent el auf die Mainzer Bürger

1026 G. M (Hg.), Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 92, S. 295–298. Dem gleichzeitigen Tilgungsplan der Gutachter zufolge sollte das De zit in den nächsten vier Jahren durch Kredite gedeckt werden, die wiederum in einem Zeitraum von vierzehn Jahren durch erhöhte Steuern zu tilgen waren. Nach vier Jahren verblieb nach dem Plan der Gutachter bei einer laufenden Verringerung der Rentenschuld ein De zit von 4 000 Gulden, das wiederum durch Rentenkredite gedeckt und in weiteren zehn Jahren bis auf 2 000 Gulden abgesenkt werden sollte. J. F, Frankfurt und die Bürgerunruhen in Mainz 1332–1462.

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selbst mit etwa 70 000 Gulden (27,5%), unmittelbar gefolgt von Frankfurt mit etwa 53 000 Gulden (21%) und mit erheblich geringeren Summen von Speyer (16 712 Gulden), Oppenheim (14 632 Gulden), Aachen (8 217 Gulden), Köln (6 500 Gulden) und Worms (3 850 Gulden). Die Gläubiger der Stadt Mainz verstanden sich, um Rentenzahlungen überhaupt wieder zu ermöglichen, 1456 zu einer Reduzierung des Rentenfußes für Wiederkaufsgülten auf 2,5 Prozent und der Leibgedinge auf ein Drittel. Erzbischof Adolf von Mainz, ein Parteigänger Kaiser Friedrichs III., eroberte im Kampf gegen den vom Papst abgesetzten Erzbischof Dieter von Isenburg 1462 die krisengeschüttelte Freie Stadt und mediatisierte sie unter die erzbischö iche Stadtherrschaft, unter der die Stadt auf Dauer blieb. Frankfurt forderte sofort erfolglos Schadensersatz für Vermögensverluste, die Frankfurter in Mainz bei der Erstürmung der Stadt erlitten hatten, und musste erleben, dass der Erzbischof sich nicht an die während der Auseinandersetzungen mit seinem Vorgänger gegebene Zusage hielt, die Verbindlichkeiten der Stadt zu übernehmen. Die Rentengläubiger der Stadt Mainz verloren ihre Ansprüche; die Frankfurter bezifferten ihre Verluste auf 80 000 Gulden. 4.8.6 Finanzwirtschaft und Haushaltspolitik »Jedes Wölkchen, das am politischen Horizont aufsteigt, verursacht ein Anschwellen der städtischen Ausgaben, und wie draußen ruhige und unruhige Zeiten miteinander wechseln, so fällt und steigt der öffentliche Geldbedarf.«¹⁰²⁷ Bereits die Dienstverträge mit Söldnern und Adligen der Umgebung und die mit Zahlungen verbundenen, politisch motivierten Bündnis- und Stillhalteverträge sowie baulichen Investitionen in die Verteidigungsbereitschaft erforderten beträchtliche Mittel, doch eine große Fehde verschlang immense Gelder, die ad hoc durch Kreditaufnahme im Wege von Zwangsanleihen und Rentenverkäufen aufgebracht und durch außer-

ordentliche Steuern sowie (erhöhte) direkte und indirekte Steuern re nanziert wurden. Der Braunschweiger Ratsherr Hans Porner gab in seinem ›Gedenkbuch‹ für das Jahr 1421 die Kosten des Basishaushalts mit 1 252 Mark an, ließ aber unmittelbar den Posten von 3 400 Mark folgen, den der Krieg mit dem Hochstift Hildesheim gekostet hatte. In den Kriegsjahren von 1386 bis 1389 erwuchsen Frankfurt am Main Kosten in Höhe von etwa 126 000 Gulden mit dem Einzelposten von 73 000 Gulden an Lösegeldern und Reparationen infolge der Niederlage bei Kronberg im Jahre 1389. Diese ungeheure Summe wurde auf dem Rentenmarkt aufgebracht, sodass die durch die Niederlage von 1389 verursachte Zahlung in Raten zügig abgeschlossen werden konnte. Die Verzinsung der öffentlichen Schuld wuchs 1407 auf den Höchststand von 20 348,5 Gulden an, doch gelang es dem Rat durch Sparmaßnahmen und die Erhebung von Vermögensteuern, die Zinslast bis 1448 auf 3 017 Gulden zurückzuführen. Dortmund war nach der Großen Fehde von 1388/89, mit der der Erzbischof von Köln und die Grafen von der Mark die Stadt unterwerfen wollten, angesichts der etwa 56 000 Gulden, die Fehde und Friedensschluss kosteten, bankrott. Die Schulden belasteten den Haushalt bis ins dritte Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts. Die Stadt Augsburg musste 1389 nach der Niederlage des Schwäbischen Städtebundes gegen die Fürsten 10 000 ungarische Gulden an die bayerischen Herzöge zahlen und für Reparationszahlungen nach dem Egerer Frieden weitere 31 070 Gulden Leibrentenschuld aufnehmen. Göttingen führte 1485/86 eine Fehde gegen den Stadtherrn Herzog Otto von BraunschweigLüneburg und den Bischof von Hildesheim, die etwa 10 890 Mark Silber kostete, verschuldete sich und ging aufgrund weiterer nanzieller Verp ichtungen 1513 in den Bankrott. Der Schuldenstand Straßburgs betrug 1432 nach dem vorausgegangenen Dachsteiner Krieg (1419–1422) zwischen der Stadt und ausgezogenen Consto ern und dem diese unterstützen-

1027 P. S, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs, S. 703.

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den Landadel etwa 350 000 Gulden. Straßburg hatte bereits 1392 in Auseinandersetzungen zwischen ihrem Ausbürger Brun von Rappoltstein und König Wenzel, der die Stadt mit der Reichsacht belegte, rasch große Summen an Kriegskrediten auf auswärtigen Finanzmärkten aufnehmen müssen, da der Bischof mit Unterstützung zahlreiche Verbündeter durch einen Krieg (›Bischof Friedrichs Krieg‹) seine stadtherrschaftliche Stellung zurückgewinnen und sich seiner Schulden bei der Stadt entledigen wollte. Dabei hatte die Stadt große Umrechnungsverluste erlitten, da der Stadtschatz in Rohsilber angelegt war und Straßburg eine Silberwährung hatte, Zinsleistungen und Rückzahlung der Kredite jedoch in Goldgulden zu erfolgen hatten. Im Jahre 1389 hatte der Haushalt noch einen Überschuss von 1 500 Gulden ausgewiesen. Zur Entschuldung wurden die Rechnungsführung verbessert, Ewigrenten in Leibrenten konvertiert, die Kapitalzinsen gesenkt und das Privileg der Münzerhausgenossen aufgehoben.¹⁰²⁸ In Schwäbisch Hall etwa unterlagen die Gesamtausgaben im 15. Jahrhundert von einem Finanzjahr zum anderen gelegentlich einer Schwankung von mehr als 100 Prozent. Gleiches gilt für Schaffhausen, wo sich das Haushaltsvolumen zwischen 3 500 Gulden und 13 500 Gulden bewegte, in den meisten Jahren aber zwischen 4 000 Gulden und 6 000 Gulden. In Nürnberg (1431–1440) differierten die Ausgaben in den einzelnen Jahren um nahezu 60 Prozent eines zehnjährigen Durchschnitts von 58 828 Pfund. Nimmt man jedoch einige der wichtigsten außerordentlichen Ausgaben – Kriegszüge, Erwerb von Besitzrechten, Darlehen (Aktivkredite) – heraus, so ermäßigt sich die Schwankung auf bereits 18 Prozent bei einem Durchschnitt von 52 345 Pfund neuer Heller. Das bedeutet, dass für das restliche Ausgabenvolumen, das man analytisch als ordentlichen Haushalt bezeichnen kann, eine relati-

ve Konstanz zu beobachten ist. Formal wurde im Rechnungswesen indessen kaum zwischen einem ordentlichen und außerordentlichen Haushalt unterschieden, doch hob man etwa in Basel seit den 1460er Jahren am Ende der Jahresrechnung zur Unterrichtung des Rats über die Ausgabenentwicklung einzelne wichtige Posten hervor, bildete Großrubriken wie Bau und Krieg und unterschied das gewonlich uszgeben von außerordentlichen Verausgabungen und teilte Kosten der Stadt in gewonlich und ungewonlich ein.¹⁰²⁹ Da in dem zugrunde gelegten Zeitraum die Verzinsung der öffentlichen Schuld von 14 400 Pfund (1431) stetig bis auf 25 600 Pfund (1440) stieg, ohne dass die ordentlichen Ausgaben infolge des höheren Zinsendienstes anwuchsen, heißt dies ferner, dass in ruhigen Zeiten ein Ausgleich durch eine Einschränkung auch der ordentlichen Ausgaben und dadurch erzielte Überschüsse eingeleitet wurde. Ein ziemlich konstantes Haushaltsvolumen hatte Konstanz mit 4 280–5 000 Gulden; und ein längerfristiger Ausgleich des ordentlichen Haushaltes, der regelmäßig wiederkehrenden Ausgaben und Einnahmen, wird auch für andere Städte, so etwa für Schwäbisch Hall oder Basel, festgestellt oder angenommen. Es gelang gelegentlich, innerhalb des ordentlichen Haushalts einen Überschuss zu erwirtschaften und – wie es ein weit verbreiteter zeitgenössischer Grundsatz forderte – Bargeldreserven, einen Schatz zu bilden, um in Notlagen, zur Wahrnehmung besonderer Gelegenheiten und bei Liquiditätslücken über genügend Barmittel verfügen zu können. Über diesen nanzwirtschaftlichen Grundsatz hinaus gibt es jedoch keine eindeutigen Quellenbelege für einen vorausplanenden Haushaltsvoranschlag mit Erwartung bestimmter Größen an Einnahmen und Ausgaben, ein Budget im modernen Sinne. Maßgaben setzten Erfahrung und Gewohnheit, aber auch gelegentliche Voranschläge für regel-

1028 J. C, Münz- und Geldgeschichte (9.0), Straßburg 1895, S. 141–145; M. A, Gruppen an der Macht (4.1–4.3), S. 31–34, 159–163. 1029 B. H (Hg.), Der Stadthaushalt Basels, Bd. 2, S. 428, 334. G. F, Zur öffentlichen Finanzverwaltung, S. 83.

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mäßige Einnahmen aus einzelnen Steuer- und Abgabentiteln wie etwa in Köln, zunehmend wohl auch kaufmännische Bilanzierungsbedürfnisse. Der Basler Ratsausschuss der Neuner erhielt 1498 immerhin den Auftrag, die Jahresrechnung vorzunehmen und zuerst Posten für Posten das Einnehmen und danach in gleicher Weise das Ausgeben durchzugehen, was nötig war zu korrigieren, die Ergebnisse zu erwägen und Möglichkeiten von Verbesserungen zu erörtern.¹⁰³⁰ Die Amts- und Geschäftsträger der Stadt erhielten für ihre Aufgabenbereiche und Aufträge regelmäßig penible Anweisungen zu äußerst sparsamer Mittelbewirtschaftung und zur Kostenvermeidung. Einen detaillierten Einblick in Maßnahmen zur Verminderung der städtischen Ausgaben gibt eine Verordnung der beiden Räte Zürichs vom Jahre 1439. Beschnitten wurden Besoldungen sowie Trinkgelder und Mahlzeiten von Amtsträgern. Amtleute, die sich bei ihren Geschäften gerne von ihren Kindern und eigenem Gesinde helfen ließen, durften diesen von den Einnahmen keinen Nutz mehr geben. Die Gesandten (Boten) hatten die Dauer der Dienstreise und ihre erlittenen Kosten transparent und genau gegenüber den Säcklern und offen vor dem Rat oder bei Säumnis vor dem Bürgermeister darzulegen, damit beurteilt werden konnte, ob sie angemessen waren oder nicht. Die Zahl der dem Bürgermeister und den Ratsherren beigegebenen Knechte wurde auf zwei begrenzt. Reparaturkosten am Pferdegeschirr durften von den Knechten nicht mehr bis zum Diensteinsatz für die Stadt aufgeschoben und dadurch auf diese abgewälzt werden. Seine Rechtshilfe für Bürger in auswärtigen Angelegenheiten durch Gesandte der Stadt, auf die Bürger Anspruch hatten, beschränkte der Rat auf erhebliche Sachen, die Ehre, Person und Vermögen betrafen, und nahm kleine Sachen mit geringem Streitwert, die in der Vergangenheit Kosten in doppelter Höhe verursacht hätten, davon aus.

Wachtdienste, die von der Stadt getragen wurden, sollten zur Kostenverlagerung von Constofeln und Zünften im Verhältnis zu ihrer Mitgliederzahl übernommen werden. Fremde, die Häuser in der Stadt hatten, sollten gleichfalls zu Wachen und Diensten herangezogen werden. Die Weinungelter sollten das Ungeld nachdrücklicher und effektiver als bisher einheben, Bußgelder verhängen, pfänden und ohne Gnade einziehen und so lange durch Gebot einfordern, bis das Ungeld entrichtet war.¹⁰³¹ In Augsburg wurde 1456 vom Kleinen und Großen Rat zum Schuldenabbau neben anderen Kostenreduktionen beschlossen, die Reitgelder als besoldungsartige Tagegelder für Ratsgesandte abzuschaffen, nur noch eine einfache angemessene Zehrung sowie die erforderlichen Geleitgelder und Botenlöhne zu erstatten. Grundsätzlich sollten Gesandtschaften, wenn möglich überhaupt vermieden werden. Damit Kosten für Zehrung und Schäden eingespart sowie das Risiko mit der Gefahr der Gefangennahme vermindert werden konnte, reduzierte man die Gesandtschaften für Bürger und für die Stadt hinsichtlich der Anzahl der Personen und Pferde. Außerdem wurden die Besoldungen für die von Ratsherren wahrgenommenen Ämter der Bürgermeister, Baumeister, Siegler, Steuermeister, Ungelter abgeschafft. Die Amtsträger sollten der Ehre und Notdurft der Stadt wegen ihre Mühe und Arbeit umsonst verrichten und dadurch der Stadt durch Kostenersparnis helfen, damit jedermann – im Sinne der Hebung der allgemeinen Steuermoral – williger sei, seinem Stand entsprechend mit zu leiden, d. h. durch Steuerund Dienstleistungen die Lasten der Stadt mitzutragen. Allerdings musste ein Jahr später die Diskussion geführt werden, welche Karenzzeit zur Entlastung den Amtsträgern für eine Wiederwahl eingeräumt werden sollte. Dem Kleinen Rat wurde ferner strikt untersagt, ohne Wissen und Willen des Großen Rats Schulden durch Verkäufe von Leib- und Ewigrenten auf-

1030 G. F, Zur öffentlichen Finanzverwaltung, S. 85. Vgl. die ähnlichen Maßregeln Ludwigs von Eyb für den fürstlichen Haushalt; E. I, Medieval and Renaissance eories of State Finance, S. 39–41. 1031 H. N (Hg.), Die Zürcher Stadtbücher III (2.2–2.4, Nr. 89, S. 81–86.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

zunehmen. Schließlich sollte eine Ratskommission Vorschläge für eine Minderung der Ausgaben machen.¹⁰³² Die Hauptschwierigkeit der Finanzpolitik bestand darin, die stark schwankenden Ausgaben durch Einnahmen auszugleichen; insoweit bestimmten die Ausgaben die Entwicklung der Einnahmen. In Hall deckten die ordentlichen Einnahmen durchschnittlich 65 bis 70 Prozent der Gesamtausgaben. Kredite betrugen durchschnittlich 24 Prozent der Gesamteinnahmen. Für Frankfurt am Main lassen sich im Rechnungsbuch des Rechenmeisters für 1428/29 Einnahmen in Höhe von 33 466 Gulden (einschließlich eines Rechnungsvortrags von 10 760 Gulden) und Ausgaben in Höhe von 23 433 Gulden summieren, sodass ein Überschuss von 10 033 Gulden ermittelt werden kann, der allerdings aus dem Rechnungsvortrag resultiert. Eine Einnahmen- und Ausgabenrechnung ohne den Vortrag aus dem städtischen Schatz ergibt einen ausgeglichenen Haushalt. An der Deckung der Ausgaben im Nürnberger Haushalt waren durchschnittlich beteiligt: – Ordentliche Einnahmen aus Grundherrschaft, Privatwirtschaft, Gebühren, Strafgeldern und indirekten Steuern (Ungeld) (39,8%); – direkte Vermögensteuer (Losung), die als außerordentliche Steuer ausgeschrieben wurde, mit deren periodischer Wiederkehr aber gerechnet wurde und die daher zwischen ordentlichen und außerordentlichen Einnahmen steht (17,5%); – Rentenanleihen (32,6%); – sonstige außerordentliche Einnahmen (6,1%); – Aktivbestände (4%). Die Verhältnisse in den einzelnen Jahren gestalteten sich sehr unterschiedlich, da nicht nur die Ausgaben außerordentlich schwankten, sondern auch die ordentlichen Einnahmen sich wegen der unterschiedlichen Ungelderträge beträchtlich veränderten. Die Anpassung der Einnahmen an den schwankenden Geldbedarf erfolgte in erster Linie durch Rentenverkäufe, falls

dies nicht ausreichte oder ein allzu großes Ausmaß zu erreichen drohte, durch die Losung. Nur gelegentlich wurden außerordentliche Einnahmequellen wie etwa durch den Verkauf von Korn aus den städtischen Magazinen, Sonderabgaben der Juden und mehr oder weniger zufällige Posten wie die Hussitensteuern, das Grabengeld oder den Gewinn aus dem Einsammeln (Kollektation) von Ablassgeldern erschlossen. Als letztes Mittel zur Deckung des De zits standen in den Vorjahren angehäufte Aktivbestände zur Verfügung. Die Aktivbestände setzten sich aus der übernommenen Bargeldreserve und überschüssigen Anleihen zusammen. Sie schwankten zwischen 82 694 Pfund (1433) und 28 759 Pfund (1440). Im Jahre 1431 wurden die Aktivbestände aus überschüssigen Rentenanleihen um 8 779 Pfund vermehrt, 1433 sogar um 19 727 Pfund, während sie 1443 mit 37 397 Pfund und erneut 1435 mit 2 880 Pfund, 1437–1440 mit 36 600 Pfund zur Deckung des De zits in Anspruch genommen wurden. Diese enormen Kassenüberschüsse verursachten zwar eine Vermehrung der Zinslasten, verschafften der Stadt jedoch einen wichtigen nanziellen Handlungsspielraum. Die Höhe der Aktivbestände war jedoch nicht mit der Bargeldreserve identisch, da ein Teil als produktives Kapital in städtischen Eigenbetrieben angelegt, den städtischen Wechslern oder Bürgern kreditiert war. Ferner leistete der Rat davon Fürsten oder anderen ein ussreichen Personen zur P ege der auswärtigen Beziehungen Bankiersdienste, indem er ihre Wechsel diskontierte oder ihnen zum Zweck der Zahlungsvermittlung kurzfristige Darlehen gewährte, die teilweise dann doch nicht fristgerecht zurückgezahlt wurden. Derartige Anlagen nahmen 1433 die Größenordnung von 14 200 Gulden (Landeswährung) an, gestalteten sich aber sehr unterschiedlich (1433 nur 3 000 Gulden). Dadurch verringerte sich der Bargehalt der Reserve doch erheblich. Hinzu kam allerdings noch der – 1486 aufgelöste – Agiogewinn, der den Losungern als

1032 C. M (Hg.), Das Stadtbuch von Augsburg (2.2–2.4), S. 291–294, Nr. XXXIII.

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rechenschaftsfreier Geheimfonds gedient hatte und aus dem gelegentlich Gelder (1 000–2 000 Pfund) an den Rat abgeführt worden waren. Vor allem die Kreditpolitik, die Aufnahme fundierter, zum Teil aber auch nicht konsolidierter, kurzfristig rückrufbarer Anleihen verschaffte dem Haushalt die erforderliche Elastizität. Wie für die Privatwirtschaft war der Kredit für die kommunale Finanzwirtschaft ein unentbehrliches, in reichem Maße genutztes Instrument. Zu einem guten Teil beruhten Selbständigkeit und Verteidigungsfähigkeit der Stadt auf dem nahezu unbeschränkten Kredit (Glauben) bei den eigenen und bei fremden Bürgern, Städten, kirchlichen Institutionen, Adligen und auf fremden Finanzplätzen. Die hohe Kreditfähigkeit zeigt sich auch daran, dass eine Stadt wie Nürnberg ihre Rentenanleihen zu niedrigeren Rentenfüßen unterbrachte als der Kurfürst von Brandenburg. Die Stadt Nürnberg konnte dank ihrer Finanzkraft immer wieder wichtige Herrschaftsrechte, Regalien, Territorialbesitz, Zinse und Wirtschaftseinrichtungen an sich bringen. Sie erpfändete vom Burggrafen Friedrich V. von Zollern 1385 Schultheißenamt und Zoll und kaufte von ihm Hofstätten-, Schmiede- und Schnitterzinse der Lorenzer Stadthälfte. Nürnberg verhängte 1422 aus politischen Gründen in Absprache mit König Sigmund eine Kreditsperre gegen Fürsten und Herren; sie war insbesondere ein Kampfmittel in der Auseinandersetzung mit Markgraf Friedrich I. von Brandenburg hinsichtlich verschiedener Rechte des Burggrafentums Nürnberg. Der Markgraf war 1424 gegen Erstattung von 4 000 Gulden Pfandablösung zum Verzicht auf die Nürnberger Reichsmünze bereit. Dabei war es ihm erst 1419 gelungen, die seit 1336 in Pfandbesitz der Nürnberger Bürger be ndliche Reichsmünze wieder in seinen Besitz zu bringen, und er hatte die restliche Pfandsumme nebst Zinsen gerade erst abbezahlt. Im Jahre 1427 kaufte die Stadt die Burggrafenburg Nürnberg, das Amt

der Veste mit der gewerbereichen TuchmacherVorstadt Wöhrd und weiteren Dörfern, vier Mühlen an der Pegnitz und in Nürnberg, seine Rechte an den beiden Nürnberger Reichswäldern mit Ausnahme der hohen Jagd, das Zeidelgericht zu Feucht und seine verbliebenen Rechte an Zoll und Schultheißengericht zu Nürnberg. Die Gesamtkaufsumme betrug 120 000 Gulden, doch mindestens 5⁄12 der Summe wurden mit alten Schulden der Markgrafen bei der Stadt, bei Nürnberger Bürgern und Juden verrechnet.¹⁰³³ Die Stadt Köln wurde dank einer günstigen Konjunktur- und Finanzlage in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts durch Aktivkredite zum bedeutendsten Gläubiger des durch Fehden verschuldeten Kölner Erzbischofs Dietrich von Moers († 1463), der es in dieser Situation unterließ, sich mit dem nicht aufgegebenen Anspruch der Erzbischöfe auf Stadtherrschaft in innerstädtische Belange einzumischen und mit der Stadt einen für sie günstigen Vertrag über den Rechtszug abschloss. Der zünftige Augsburger Bürgermeister Ulrich Schwarz gab 1476 an, die Stadt habe in 107 Jahren einer nicht vorausschauenden Politik seit der Einführung der Zunftverfassung von 1368 durch Kriegsnöte eine Schuldenlast angehäuft, die einen jährlichen Zinsendienst von über 15 000 Gulden erforderte. Tatsächlich weist die Baumeisterrechnung von 1473 Zahlungen an Zinsen und Leibgedingen in Höhe von 14 085 Gulden aus. Als skalisches Ziel nannte der Bürgermeister ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen den Einnahmen (Gefällen) der Stadt und ihren Verbindlichkeiten und Kosten, einen konsolidierten Vermögensstand (gemein güt) und eine Befreiung der Stadt von den hohen Zinsleistungen. Dazu und damit die Stadt unvorhergesehenen Kosten gewachsen sei, müsse aber, das ist die steuerpolitische Linie der ärmeren Zunftgenossen, die Vermögensteuer neu festgelegt werden.¹⁰³⁴

1033 W. . S, Oberdeutsche Hoch nanz (9.3–9.4), S. 287–293. 1034 T. S (Hg.), Die Freiburger Enquete, S. 21 f.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

4.8.7 Finanzverwaltung und Rechnungswesen Die Städte organisierten ihre Finanzverwaltung und das Rechnungswesen in unterschiedlicher Weise.¹⁰³⁵ Während sich in Nürnberg Finanzverwaltung und Kasse bei den beiden patrizischen Losungern konzentrierten, die zugleich aufgrund ihrer Geschäftskenntnisse eine beherrschende Stellung im engeren Rat der Älteren Herren besaßen, hatten in Lübeck verschiedene Offizien (Ratsämter) seit Ende des 14. Jahrhunderts eigene Kassen, sodass die Finanzverwaltung nicht bei den vom Rat deputierten beiden Kämmereiherren zentralisiert war. Deshalb konnten die Kämmereiherren auch keine den Nürnberger Losungern vergleichbare herausragende Position im Rat erlangen. Die selbständigen Kassen der Ämter führten entweder sämtliche Einnahmen oder nur Fixsummen an die Kämmerei ab, die für die meisten Ausgaben aufzukommen hatte. Der Schwerpunkt der Finanzverwaltung verblieb aber beim Rat, der über die Verwendung der Einnahmen nach seiner Zwecksetzung verfügte. Der Rat bestimmte, in welche Kassen die Einnahmen ossen und für welche Zwecke sie verausgabt wurden. Infolge der Vielzahl der Kassen mit selbständiger Buchung scheint es keine Rechnung gegeben zu haben, die auch nur annähernd den Gesamthaushalt umfasste. Die Kölner Rentkammer, die mittwochs geöffnet war und deshalb Mittwochsrentkammer genannt wurde, bildete die einzige Kasse der Stadt wie die Nürnberger Losungstube und nahm selbständig alle Ein- und Auszahlungen vor; nur für außerordentliche Ausgaben war ein Zahlungsbefehl des Rates erforderlich. Die Rentmeister, die zugleich an der Spitze des Bauwesens standen, waren deshalb in der Lage, einen erheblichen Ein uss auf Verwaltung und Politik des Rates auszuüben. Die Kasseneinheit wurde jedoch 1394 durchbrochen, als man der Mittwochsrentkammer die Schulden-

verwaltung entzog und dafür eine zweite Kasse unter Leitung einer Ratskommission von vier, dann sechs Beisitzern einrichtete, die Samstagsrentkammer, und ihr zur Bedienung der Zinsen aus der fundierten Schuld (Renten) bestimmte Akziseneinnahmen zuwies. In einem weiteren Schritt der Dezentralisierung wurde 1417 eine Kasse für die neue Akzise vom Weinzapf geschaffen (Freitagsrentkammer), deren Einnahmen in die Kasse der Schuldenverwaltung ossen. Spätestens 1515 wurden die Samstags- und Freitagsrentkammer miteinander in der Freitagsrentkammer zusammengelegt. In Konstanz gab es nach der Verwaltungsreform von 1370 in hochgradiger Dezentralisierung für fast jede Art von Einkünften eine eigene Behörde, so die Steuerherren, die Rechenherren oder Ungelter; Anleihen wurden unmittelbar von Bürgermeister und Stadtschreiber entgegengenommen. Zugleich waren Einnahmen- und Ausgabenverwaltung strikt getrennt. Alle Nettoeinnahmen gingen an den Säckelmeister, der auf Anweisung von Bürgermeister und Rat die Ausgaben tätigte. Im Gegensatz dazu war in Basel eine Behörde, der Rat der Sieben, für alle Einnahmen und Ausgaben zuständig. Erstmals 1448 wurde gewissermaßen der außerordentliche vom ordentlichen Haushalt abgespalten. Die Kommission der Drei übernahm die Verwaltung der außerordentlichen Einnahmen, d. h. der Rentenanleihen und außerordentlichen Steuern, und nahm die außerordentlichen Ausgaben, die Kriegsausgaben, politischen Ausgaben und Anleihetilgungen vor. Einige Städte wie Köln, Nürnberg, Bamberg, Wien, Lüneburg oder Osnabrück näherten sich dem modernen nanzwirtschaftlichen und buchungstechnischen Prinzip der skalischen Kasseneinheit, wonach alle Einnahmen und Ausgaben – nicht zuletzt zum Zweck eines laufenden Überblicks – wenigstens rechnerisch in einem Gesamthaushalt ausgewiesen sowie in einer übergeordneten Hauptkasse und in einer einzigen Rechnung zusammengefasst

1035 P. S, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs, S. 286 ff.; E. P, Schrift- und Aktenwesen, S. 88 ff., 327 ff.; L. S; W. R; O. F; B. K; G. F.

Die städtischen Finanzen 557

werden müssen. Einer Reihe dieser Städte wie Köln, Wien (seit 1485), Lüneburg, Hannover oder Lübeck erschien in späterer Zeit nicht ohne Grund gerade die Dezentralisierung als der praktikable Weg zur Bewältigung technischer Verwaltungsprobleme, die vielfach mit der Frage der politischen Stellung der Amtsträger des Finanzbereichs im Rat oder gegenüber dem Rat, mit einem Aufgabenzuwachs, einem wachsenden Finanzvolumen und dem Problem der Verschuldung verbunden waren. Häu g zer elen aber die städtischen Haushalte in mehrere ältere, getrennte Abteilungen sowie in unabhängige Sonderfonds und Ämter, die von jüngeren zentralen Büchern nur locker zum Kontenabgleich und zur wöchentlichen wie in Basel, vierteljährlichen oder jährlichen Rechnungskontrolle erfasst wurden. Karl Bücher hat für Frankfurt am Main zwei Grundsätze in den nanzwirtschaftlichen Gewohnheiten herausgestellt, »den Grundsatz der Dotation« oder das »Stiftungsprinzip« und die – ursprünglich naturalwirtschaftliche – »Gegenrechnung« oder Nettorechnung.¹⁰³⁶ Bei der Gegenrechnung wurden wechselseitige Verp ichtungen zwischen Haupt- und Unterkassen zunächst in den Büchern gegeneinander aufgerechnet, und am Ende des Rechnungsjahres erfolgte die Überführung des Saldos in barem Geld von der Unterkasse an die Hauptkasse. Auch Ratskommissionen, die mit nanzwirksamen Aufgaben betraut waren und eine eigene Rechnungsführung kannten, verfügten über selbständige eigene Einnahmen, verausgabten sie in eigener Verantwortung und traten mit der Kasse der Rechenmeister erst in Verbindung, wenn sie Überschüsse abführten oder Zuschüsse erhielten, um ihre Rechnung auszugleichen. Halböffentliche Hilfsgewerbe des Handels wie Weinknechte, Visierer oder Korn- und Salzmesser erhielten zwar eine niedrige Jahresbesoldung, waren aber zusätzlich durch Nutzung des Amts am Umsatz ihres Gewerbes, Bedienstete des Rates an Gebühren und Bußgeldern beteiligt.

Das von Bücher so genannte Dotationsoder Stiftungsprinzip besteht in der Gewohnheit, den Haushalt der Stadt von bestimmten laufenden Ausgaben zu entlasten und dazu öffentliche oder halböffentliche Sonderhaushalte einzurichten. Es handelte sich um Sonderfonds, die von öffentlicher und privater Hand aus Kapital- und Grundvermögen samt deren Erträgen an Grundzinsen, Fruchtgülten und Häuserrenten gebildet und gemeinnützigen Rechtssubjekten und Institutionen wie Brücken, Brunnengemeinschaften, Spitälern, Elendenherbergen, Pesthäusern und Leprosorien oder zu Bau und Instandhaltung von Straßen und Plätzen zugewiesen wurden, damit sich diese aus dem eigenen Vermögen selbst unterhielten. Insoweit das Spital und Sozialstiftungen unter die Verwaltung des Rats gerieten, stellten sie einen Sekundärhaushalt für Soziales dar, der im ordentlichen Haushalt nicht enthalten war und doch in dieser stiftungs- und nicht steuer nanzierten Form existierte. Als Sonderhaushalte können auch die einseitig nanzierten, als P icht und im Sinne des Gemeinwohls erbrachten Leistungen der Zünfte hinsichtlich militärischer Belange, des Wachtdienstes und der Brandbekämpfung, eigene Leistungen oder die steuerartigen, in Fronbüchern festgehaltenen Fronarbeiten der Bürger zum Graben- und Mauerbau oder die der halböffentlichen Wasserversorgung dienenden Brunnengemeinschaften und Genossenschaften der Wasserkünste bezeichnet werden. In einen gewissen Zusammenhang mit dem städtischen Haushalt geraten die Sonderfonds und die Wahrnehmung von Aufgaben durch Korporationen und Bürger allerdings nur dann, wenn sie in die städtische Verwaltung eingegliedert sind und wenn sie vor allem tatsächlich genuin öffentliche, von der Stadt als verp ichtend anerkannte kommunale Aufgabenbereiche und Funktionen nanzieren oder durch äquivalente Leistungen erfüllen. Auf diese Weise entsteht gewissermaßen ein virtueller, über den unmit-

1036 K. B, Der öffentliche Haushalt der Stadt Frankfurt im Mittelalter; G. F, Zur öffentlichen Finanzverwaltung, S. 73–77.

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telbaren hinausreichender und weitere kommunale Zwecke abdeckender Haushalt. In den Städten ist weit mehr, aber nicht ausschließlich das Prinzip der Nettorechnung als das Bruttoprinzip anzutreffen, gelegentlich wurde beides zugleich angewandt. Das Bruttoprinzip besagt, dass alle eingegangenen Summen in ihrer vollen Höhe festzustellen sind, auch wenn die Kasse zu selbständigen Ausgaben befugt ist. Die Verwaltungskosten wie Sold oder Verzehr dürfen nicht vor der Buchung saldiert werden, sondern sind von dem zuvor festgestellten Brutto-Aufkommen abzuziehen. Bei der Nettorechnung wird nur der Reinertrag ausgewiesen, und es wird nur der Kassenüberschuss eines Amtes an nebengeordnete oder übergeordnete Ämter und Kassen weitergereicht. Auch mussten bei der Buchung Naturaleinkünfte verrechnet werden. Das Rechnungswesen mit dem Zweck der Rechnungsprüfung beruhte in der Regel auf der Einnahmen- und Ausgaben-Rechnung. Die Einnahmen wurden als Originalkonzepte der Rechnungsposten in das Rechnungsbuch (Register) gelegentlich unter Sondertiteln nach ihren Rechtsgründen oder nach den sie vermittelnden Ämtern chronologisch verzeichnet. Im Nürnberger Ausgabenregister zeichnet sich bereits eine Scheidung in regelmäßige und außerordentliche Ausgaben ab. Auch wurden die zunehmenden Sonderrechnungen und Belege, die den Amtsträger wohl gegen unberechtigte Verdächtigungen von Seiten des Rats schützen sollten, seit 1474 ziemlich vollständig als integrierter Bestandteil der Rechnung erhalten. Die Sonderrechnungen gingen dann nur noch mit ihren Endsummen in die Rechnungsbücher ein, die dadurch an unmittelbarer Aussagekraft verloren. Die einzelnen Einnahmen- und vor allem die Ausgabenposten der Stadtrechnungen vermitteln in der Zusammenschau ein eindrucksvolles und plastisches Bild von den Funktionen der Stadt, den Aufgabenfeldern und zu bewältigenden unvorhersehbaren Anforderungen sowie dem alltäglichen Handeln von Verwaltung und Regierung.

Die Rechnungsbücher bildeten die Grundlage für die Rechnung der Stadt. Diese bestand darin, dass die Einnahmen- und Ausgabenposten (recipimus/ dedimus) getrennt summiert und die ermittelten Endsummen dann saldiert wurden. Bei ihrem jährlichen Amtsantritt übernahmen die Nürnberger Losunger die Aktivbestände und die darauf ruhenden Verbindlichkeiten, sie wurden Schuldner des Rates. Unter ›Schulden‹ verstand man auch aktive Schulden, d. h. Forderungen, sodass unter dem Begriff Forderungen und Verbindlichkeiten zusammengefasst wurden. Die Anfangsschuld wuchs um die Beträge an, die sie im Laufe des Finanzjahres einnahmen (recipimus); die Schuld verminderte sich um die Beiträge, die sie für die Stadt verausgabten (dedimus). Am Ende des Finanzjahres schuldeten sie dem Rat nur noch die Differenz aus den beiden, in fortlaufenden Registern geführten Konten, das was übrig blieb. Dieses Restat wurde unmittelbar vor der jährlichen Ratsveränderung durch die Rechnungslegung in Gegenwart der vom Rat zur Rechnungsprüfung deputierten Herren festgestellt. Verfuhr man in den Städten bei der Stadtrechnung und Haushaltsführung in der Regel nach Gesichtspunkten der pragmatischen Entwicklung und Zweckmäßigkeit, so kannte in Luzern das zentrale Rechnungswesen der Kanzlei im Zahlungs- und Buchungsverkehr zwischen städtischen Neben- und Hauptrechnungen spätestens seit der Verwaltungsreform von 1433/34 rationale Formen der doppelten Buchführung, Augsburg gelangte dazu erst seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Dabei wurde der Saldoübertrag einer Nebenrechnung bei der Überweisung an den Säckelmeister dem Konto der Nebenrechnung gutgeschrieben und gleichzeitig das Haupteinnahmenbuch damit belastet. Für die Übersichtlichkeit der Rechnungen waren fest vorbestimmte Konteneinteilungen wichtig, deren Zahl anfänglich gering war, aber anwuchs und in Basel um die Mitte des 16. Jahrhunderts 51 für die allgemeine Rechnung und 22 für die Vogteien und Ämter betrug. Außerdem wur-

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den in verschiedenen Städten Konten in einen Einnahmen- und einen Ausgabenteil getrennt. Die Ausdrucksweisen Rechnung legen und Rechnung hören sind wörtlich zu nehmen. Die Rechnungsposten wurden einzeln vorgelesen; eine weitere Person legte den einzelnen genannten Beträgen entsprechend die Rechenpfennige aus Eisen- oder Kupferblech auf das Rechentuch, das auf dem Tisch ausgebreitet war.¹⁰³⁷ Es handelte sich anstelle einer abstrakten individuellen Rechenoperation um einen anschaulichen Vorgang vor den Augen kontrollierender Mitwirkender. Das Rechentuch, Rechenbrett oder der Rechentisch (Abacus) waren in fünf (oder mehr) Felder oder Linien und Bahnen (Bankire) aufgeteilt, die dem darauf gelegten Rechenpfennig einen bestimmten, von unten aufsteigend in fünf römischen Ziffern dargestellten arithmetischen Wert verliehen. Bei den Linien wurde auch der Zwischenraum (Spatium) zur Bündelung von fünf Einheiten genutzt. Beschränkt auf die natürlichen Zahlen, wurden durch Legen von Rechenpfennnigen auf verschiedenen Feldern oder Linien Einer, Zehner, Hunderter und Tausender usw. markiert. Rechnen mit dem Abacus wurde im mittelalterlichen Schulunterricht gelehrt. Durch Hinlegen und Verschieben von Rechenpfennigen ließ sich auf sehr einfache und von den Umstehenden leicht nachvollziehbare Weise jede beliebige Addition und Subtraktion vornehmen. Multiplikationen und Divisionen waren etwas komplizierter. Das römische Ziffernsystem war durch seinen additiven Aufbau zwar sehr einprägsam, erwies sich aber beim Rechnen als schwerfällig und bot eine gewisse Sicherheit gegen systematisches Bücherfälschen. Gegen den Zusatz eines Buchstabens »i« für einen Einer am Zahlenende sicherte man sich dadurch ab, dass der letzte Einer als »j« geschrieben wurde, während die indisch-arabischen Ziffern und Zahlenwerte durch Hinzufügen einer Null dramatisch verfälscht werden konnten. Die operative Arithmetik auf den Feldern oder Linien überwand jedoch die Schwerfällig-

keit der römischen Ziffern und erforderte im Übrigen keine tabellarische Form der Eintragungen in die Rechnungsbücher. Sowohl Fehler beim Rechenvorgang als auch Fehler beim Niederschreiben verursachten zahlreiche irrtümliche Resultate, aber zumeist nur geringe Abweichungen. Es gibt in Rechtsquellen Anhaltspunkte dafür, dass vor Gericht nur den römischen, den kaiserlichen Ziffern Beweiskraft zukam. Die römischen Ziffern wurden umgangssprachlich auch deutsche Ziffern genannt, weil sie allgemein vertraut waren. Was nur dem praktischen Gebrauch, etwa als Gedächtnisstütze, diente, konnte in den wendigeren indischarabischen Ziffern geschrieben werden. Verbreitet wurde das Rechnen mit indisch-arabischen Ziffern und den Koeffizienten von Zehnerpotenzen unter Einführung der Null (Algorismus) etwa seit der Mitte des 15. Jahrhunderts. Es setzte sich im 16. Jahrhundert gefördert durch den Buchdruck und preiswertes Papier durch, doch hielten sich die auf das Rechnen mit dem Abacus abgestimmten römischen Ziffern verschiedentlich in der privaten Wirtschaft wie im öffentlichen Finanzwesen bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Abgerechnet wurde in den städtischen Rechnungsbüchern üblicherweise nicht in umlaufendem Geld, sondern in einer Rechnungswährung. Die kommunale Finanzverwaltung, deren Anfänge im 13. Jahrhundert liegen, arbeitete zunächst weitgehend mündlich, nach gewohnheitsrechtlichen Praktiken, und war nur wenig kontrollierbar. Gewähr bot in erster Linie die Person des Amtsträgers mit ihren Fähigkeiten und ihrer Dienstauffassung. Der patrizische Rat scheint in verschiedenen Städten eine schriftliche Festlegung der Verwaltungsgrundsätze bewusst vermieden zu haben. Die Beteiligung der Zünfte am Stadtregiment brachte vielfach eine satzungsmäßige Fixierung der Verwaltungsordnung, die jedoch durch Sachzwänge in der Praxis umgeformt wurde. So wurde der jährliche oder gar vierteljährliche Wechsel im Amt kaum eingehalten, da nur ein kleiner Kreis von Ex-

1037 P. S, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs, S. 287–289; W. H, Rechnung legen auf Linien.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

perten zur Verfügung stand und die personelle Kontinuität für eine sachkundige Amtsführung nicht zu entbehren war. Auch spielte das Ermessensrecht eine nicht unerhebliche Rolle. Die Rechnungslegung vor dem Rat oder vor einer Ratskommission erfolgte zunächst wöchentlich (Basel) oder in willkürlichen Abständen (Nürnberg), bis sie zur Kontrolle vierteljährlich sowie als Rechnungsschluss zum Ende des Finanzjahres üblich wurde. Der Arkanbereich der Finanzwirtschaft und Rechnungslegung wurde durchbrochen, wenn die Gemeinde die Offenlegung der Finanzen forderte und ein Gemeindeausschuss die Rechnungslegung überprüfte. Sicherlich gab es verschiedentlich Tendenzen zur Verschleierung der Konten- und Kassenbewegung und des Schuldenstandes, eine erhebliche Diskrepanz zwischen Kassenführung und Buchungen der Stadtrechnung, wie dies etwa für Reval angenommen wird¹⁰³⁸, oder vorsätzliche Fälschungen. Extrem ist der Fall des Stralsunder Bürgermeisters Bertra Wul am, der sich die Erträge aus der Vermögensteuer (Schoss) in sein Haus bringen ließ und davon 28 Jahre lang ungehindert etwas für sich und seine weitläu ge Familie abzweigte.¹⁰³⁹ Die städtischen Rechnungsbücher bieten zentrale und detailreiche Aufschlüsse über die verschiedenen Felder der nanzwirksamen Politik, die Kosten einzelner politischer und militärischer Aktionen, den Aufwand für innerstädtische Repräsentation und für den feierlichen Empfang des Stadtherrn, fürstlicher Gäste und des reisenden Königs mit Teilen seines Hofes, über Rechtsstreitigkeiten oder Baumaßnahmen. Sie geben Einblicke in das städtische Leben auch im Alltag und in die Preisentwicklung auf vielerlei Sektoren. So dokumentieren bezahlte Botenritte, penible Spesenabrechnungen von ratsherr-

lichen Gesandten oder Ehrungen für erfolgreiche Juristen die politischen Beziehungen, rechtliche Kon ikte und sonstige äußere Aktivitäten. Die städtischen Gebote und Verbote mit ihren Bußsätzen spiegeln sich bei Ordnungsverstößen auf der Einnahmenseite der Rechnungsbücher. Wenn auf dem Nürnberger Rathaus Prämien für abgeschnittene Wolfsohren ausbezahlt und verbucht wurden, so erhalten wir Kenntnisse über das Vorkommen von Wölfen, die so nicht zu erwarten sind.

4.9 Schule und Universität 4.9.1 Das Schulwesen 4.9.1.1 Kirchliche Schulen Die ältesten Schulen seit dem Früh- und Hochmittelalter waren kirchliche Einrichtungen, die Dom- (Kathedral-), Stifts- und Klosterschulen.¹⁰⁴⁰ Hinzu kamen im 13. Jahrhundert Schulen und Studien der Bettelorden. Die Geistlichkeit beanspruchte ein Bildungs- und Schulmonopol, über das der Scholaster wachte, und eine Herrschaft über das Bildungswesen, die Schulgründungen und weitere Entwicklungen von der bischö ichen oder päpstlichen Genehmigung abhängig machte. Ausgebildet wurde an diesen Schulen vornehmlich der geistliche Nachwuchs. Der Unterricht in lateinischer Sprache basierte im Zusammenhang mit der religiösen und sittlichen Unterweisung über den Elementarunterricht hinausgehend auf den Bildungselementen der Artes liberales, der ›freien Künste‹, bestehend aus dem Trivium – Grammatik, Rhetorik, Dialektik (Logik) – und dem Quadrivium – Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik –, das aber nur in günstigen Fällen gelehrt wurde und Domäne der Universitäten war. Die Artes liberales waren in un-

1038 R. V, Zur Finanzverwaltung im mittelalterlichen Reval, S. 689. 1039 H.-D. S, Der Stralsunder Liber memorialis, T. 1, S. 154–157. Vgl. zu diesem Fall auch J. R, Ehrverletzungen und Entehrungen, in: K. S/G. S (Hg.), Verletzte Ehre (7.1–2), S. 110–143, S. 114. 1040 K. W, Schulen und bürgerliches Bildungswesen; R. E, Das Schulwesen in Franken; R. J, Schulen in Franken; M. K, Das Bildungswesen in der Stadt Braunschweig; S. L, Studium Generale Erfordense; D. L. S, School and Schooling; H. F/R. K  (Hg.), Schullandschaften; A. R (Hg.), Das Rheinland als Schul- und Bildungslandschaft.

Schule und Universität 561

terschiedlicher Auslegung die Künste oder Wissenschaften, die der Beschäftigung eines Freien würdig waren, und wurden später auch in einen Gegensatz zu den – als artes serviles – niedrig eingestuften handwerklichen artes mechanicae gebracht. Aus der Dialektik entwickelten sich weitere Bereiche der Philosophie. Eine wesentliche Aufgabe der Schüler bestand im Chorgesang zur liturgischen Ausgestaltung der Gottesdienste, von Messe, Vigilie und Komplet. Lesen, Schreiben, Grammatik, liturgischer Gesang und zunehmend Rechnen gehörten zu den vermittelten Grundkenntnissen. Da Lesen und Schreiben noch spezielle Kompetenzen darstellten, ist davon auszugehen, dass einige Schüler auf einer elementaren Stufe stehen blieben und nur das Lesen erlernten. Aus Schulordnungen, Lehrbüchern, Bibliotheksbeständen und anhand des Pro ls bekannter Lehrer können ungefähre Vorstellungen von den Curricula gewonnen werden. 4.9.1.2 Pfarrschulen – Schulstreitigkeiten Mit dem Anwachsen der Stadtbevölkerung und dem Ausweis neuer Pfarrsprengel entstand ein vom Rat oder von der Pfarrgemeinde vorgebrachtes Bedürfnis nach Einrichtung neuer Lateinschulen an den Pfarrkirchen unter der Leitung von Rektoren. Zur Begründung wurde auf die Beschwerlichkeit und Gefährlichkeit des Schulweges insbesondere bei Winterkälte hingewiesen wie in Braunschweig, Lübeck und Hamburg. Da die Domschule in Breslau außerhalb der Stadtmauer gelegen war und über zwei Arme der Oder mit der Sand- und Dombrücke führte, der weite Schulweg über schwierige Wege und Zugänge über schadhafte Brücken mit ständigem großem Verkehrsaufkommen an Menschen, Wagen und Pferden vor allem für die kleineren Kinder eine Gefahr für Leib und Leben darstelle, erlaubte der päpstliche Legat 1267 mit Zustimmung von Bischof, Dekan, Scholaster und Kapitel zu Breslau den Ratsleuten und Bürgern Breslaus, an der im

Stadtinnern gelegenen St. Maria-MagdalenenKirche eine städtische Elementarschule unter der Leitung eines vom Domscholaster eingesetzten fähigen und für die Knaben geeigneten Rektors zu errichten. Die kleinen Knaben sollten dort das lateinische Alphabet, das Vaterunser, das Ave-Maria, den Psalter, die sieben Psalmen und den Kirchengesang lernen, ferner die grammatischen Bücher für Anfänger, die »Artes grammaticae« des Aelius Donatus, Catos »Distichen« und eoduls »Eklogen« sowie die »Regulae pueriles«, die grammatischen Regeln des Remigius, hören. Wenn die Knaben die weiterführenden Bücher hören wollten, sollten sie in die Schule bei St. Johann in der Breslauer Burg oder in eine andere geeignete Schule überwechseln.¹⁰⁴¹ Über die Neugründung von Schulen, bei der die norddeutschen Städte vorangegangen sind, kam es im Rahmen von Schulstreitigkeiten vielfach zu äußerst langwierigen Auseinandersetzungen von Rat und Bürgerschaft mit dem hohen Klerus, zu Prozessen vor dem königlichen Hofgericht und an der Kurie, zum Abschluss von Vergleichen oder zu eigenmächtigen kommunalen Gründungen. In einigen Fällen gelangte die Kommune nur mit päpstlicher Genehmigung und selbst dann nur gegen den Einspruch des Domscholasters zum Ziel wie in Lübeck und in Braunschweig. In Lübeck gab es zunächst – abgesehen von einer inneren Domschule lediglich für die Ausbildung von Klerikern – die Schule am Dom, bis 1262 an der St. Jakobi-Kirche gegen den Widerstand von Bischof und Domkapitel eine Lateinschule eingerichtet wurde. Beide Schulen waren scholae liberalium artium, doch wurde an der Jacobi-Schule nicht im Gesang, also nur in Grammatik und Logik unterrichtet, sodass die ältere Domschule einen Vorrang behielt. Im Jahre 1300, als bereits ein schwerwiegender Streit anderer Koniktherde wegen¹⁰⁴² mit dem hohen Klerus im Gange war, ließ der Rat an vier weiteren Pfarrkirchen Schulen einrichten und stieß damit auf

1041 G. M (Hg.), Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 9, S. 90‒93. 1042 Siehe 5.5.1.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

den Widerstand von Bischof und Domscholaster. Offenbar besuchten Jugendliche, die nicht für den geistlichen Stand bestimmt waren, diese Schulen. Bischof Georg erließ, weil den Schulen die kirchliche Genehmigung fehlte, an die Lehrer und die Eltern der Schüler ein Verbot und drohte mit der Exkommunikation, worauf diese an den päpstlichen Stuhl appellierten und die Schulfrage später im Prozess an der Kurie als Streitpunkt ausschied. Vermutlich gehen auf diese vier Pfarrschulen, zumindest als Vorläufer, die 1418 in aller Form gestatteten vier Schreibschulen ohne Lateinunterricht (ad scribendum et legendum in Teutunico) zurück. Andere Städte erhielten oft erst nach 1400 städtische Pfarrschulen. Häu g wurden diese Schulen auf den Elementarunterricht auf den untersten Schulstufen beschränkt, wurde nur das Trivium gelehrt, oder es mussten die Schüler Chordienst am Dom verrichten, sodass es sich um Schulen handelte, die gegenüber Dom- und Klosterschulen minderberechtigt waren. Auch beanspruchte der Domscholaster Aufsichtsrechte über die Pfarrschule. Die Stadt Braunschweig wendete im Schulstreit (1415‒1420), der bis an das Gericht der Kurie und des Konstanzer Konzils gelangte, zusammen mit anderen Streitsachen mehrere tausend Gulden auf. Der Rat setzte durch, dass in der Stadt zwei Schulen errichtet werden durften, in denen die Kinder und Jungen grammaticalia unde de erste kunste lernten, allerdings sollten sie auch an bestimmten Feiertagen in der Stiftskirche den Gottesdienst mit Gesang begleiten. Ferner durften Schreibschulen, was aber zunächst nicht realisiert wurde, unter der Bedingung unterhalten werden, dass dort nur gelehrt werden wen schriven unde lesen dat alfabet unde dudesche boyke und breve. Schulstreitigkeiten sind auch für Reval, Nordhausen und Rothenburg ob der Tauber belegt. Der Kampf des Rats um stärkeren Ein uss auf das Schulwesen gehörte neben Bestrebungen, die Geistlichkeit zu Steuerleistungen heranzuziehen und den Grunderwerb der Toten Hand zu unterbinden zu den Kon iktpunkten in den so ge-

1043 R. E, Das Schulwesen, S. 176.

nannten ›Pfaffenkriegen‹ des 15. Jahrhunderts. In Städten wie Regensburg und Augsburg erfüllten die vorhandenen kirchlichen Schulen jedoch bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts die Bedürfnisse der städtischen Oberschicht. Der Rat konnte verschiedentlich das Patronatsrecht hinsichtlich der Pfründen für die Ausstattung der Schule an sich bringen und einen stärkeren Ein uss auf die Schule, gelegentlich selbst auf den Unterrichtsstoff und auf die Disziplin von Lehrern und Schülern ausüben, sodass man von Rats- oder Stadtschulen sprechen kann. Der Rat präsentierte den Schulmeister (rector scholarum) und setzte ihn – im Einvernehmen mit dem Pfarrer – ein, stellte Gebäude zur Verfügung und übernahm auch nanzielle Lasten; in anderen Fällen hatte sie jedoch die Kirche aus dem Stiftungsvermögen zu tragen. Der Schulmeister, der meist die niederen Weihen hatte, war der Hauptlehrer und stellte nach Bedarf auf eigene Rechnung einen Kantor und Hilfslehrer ein. Wenn der Rat den Stadtschreiber als Rektor einsetzte, so handelte es sich um eine Art Pfründe für die Versorgung eines städtischen Bediensteten, ohne dass sich eine Übernahme des Unterrichts nachweisen lässt. Der Zugriff des Rats auf die Pfarrschule ist im Zusammenhang mit seinem generellen Streben nach städtischer Autonomie durch kommunale Ein ussnahme auf die Kirche und kirchliche Zuständigkeiten, wie etwa auch im Fürsorgewesen, zu sehen. Freilich ging es dem Rat auch darum, die Ausrichtung des Schulwesens auf den geistlichen Nachwuchs zugunsten der Ausbildung einer bürgerlichen Elite etwas zu modi zieren, den Chordienst, der auch die Pfarrschule zu einer »Hilfsanstalt für die Kirche« machte¹⁰⁴³, zurückzudrängen und verstärkt bürgerliche Bildungsbedürfnisse im Unterricht geltend zu machen. Der etwa auf 1370, hundert Jahre nach der Schulgründung, zu datierende archäologische Fund von Wachstafeln in der Kloake der Ratsschule an der Jakobi-Kirche in Lübeck zeigt, dass an der städtischen Pfarrschule der Brief-

Schule und Universität 563

und Urkundenstil auch anhand von Beispielen aus dem kaufmännischen Geschäftsleben und der kommunalen Verwaltung eingeübt wurde. Der Fund beinhaltet einfache Schreibübungen, aber auch Musterbriefe für kaufmännische Belange – Pferde, Lagerraum, Handelsgüter, Verkauf, Pacht – noch in lateinischer Sprache. Es gab aber darüber hinaus kein spezi sch bürgerliches Bildungsprogramm, das den traditionellen, von der Kirche vermittelten Bildungsinhalten hätte programmatisch entgegengesetzt werden können. Selbst wenn der Rat die städtische Schule unmittelbar beaufsichtigte, änderten sich Curriculum und Organisation wenig. Der wachsenden Bedeutung von Rechnen und Mathematik konnte in Antwort auf Bedürfnisse einer kaufmännischen und handwerklichen Gesellschaft auch innerhalb der bestehenden Schulverhältnisse Rechnung getragen werden, zumal sich für den kaufmännischen Nachwuchs an den Schulbesuch eigenständige beru iche Ausbildungsabschnitte in heimischen oder fremden, auch ausländischen Kontoren und Niederlassungen anschlossen. Die Schule der Reformation blieb insofern mittelalterlich, als sie weiterhin die Lehre von Glauben und Wissen miteinander verknüpfte und auf Dienste im Gottesdienst ausgerichtet blieb. Die humanistische Bildungsbewegung, die im späten 15. Jahrhundert mit ihrem pädagogischen Impetus und dem Programm der studia humanitatis – Grammatik, Rhetorik, Poetik, Geschichte und Ethik – von Italien aus ins Reich vordrang, fügte sich mit ihren antiken Texten und ihren Grammatiken in diese Grundkonstellation ein. Die Gründung von Pfarrschulen vollzog sich in einem Zeitraum von etwa zweihundert Jahren; vielerorts gab es erst im 15. Jahrhundert eine oder mehrere derartige Einrichtungen. Die Verbreitung der Schriftlichkeit im kaufmännischen Geschäftswesen und in der Ratsverwaltung seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ging der Einrichtung städtischer Pfarrschulen in den meisten Fällen voraus, so-

dass – ungeachtet bestehender kaufmännischbürgerlicher Bildungsbedürfnisse – zwischen beidem der von Fritz Rörig so betonte unmittelbare und ursächliche Zusammenhang nicht generell besteht.¹⁰⁴⁴ Die Gründung städtischer Schulen stand im weiteren Zusammenhang mit Bestrebungen des Rats, gegenüber der Geistlichkeit durch laikale P egschaften Ein uss auf die Verwaltung der Pfarrkirchen und Spitäler zu gewinnen. Genutzt wurden im Spätmittelalter auch außerschulische Bildungsmöglichkeiten durch Privatunterricht, den Kleriker, Studenten oder Handelsdiener im Rahmen der Hausgemeinschaft oder in den Faktoreien erteilten, sodass über den rechtlichen Anspruch hinaus von einem tatsächlichen Bildungs- und Schulmonopol von Kirche und Klerus kaum mehr gesprochen werden kann. Durch päpstliche Bulle wurden aber 1402 in Hamburg illegale Schulen und die Form des Hausunterrichts verboten. Zumindest versuchte die Kirche, außerschulischen Unterricht einzudämmen, indem sie die erlaubte Zahl von Privatschülern stark einschränkte und die Öffentlichkeit des Unterrichts verbot. 4.9.1.3 Schulbetrieb und Unterrichtsreformen von Lateinschulen Über die städtischen Schulen im Spätmittelalter wissen wir im Allgemeinen sehr wenig. Etwas besser ist es im Falle Nürnbergs bestellt. Die Stadt besaß vier Lateinschulen, die im 15. Jahrhundert zwischen jeweils 150 und 200 bis 250 Schüler aufnahmen. Die Schüler, die häu g im Alter von sieben Jahren in die Schule eintraten und sie nach sieben Jahren oder erheblich schneller wieder verließen, hatten gleichmäßig auf den Morgen und Nachmittag verteilt insgesamt sechs Stunden Unterricht. Davon waren insgesamt zwei Stunden dem Chorgesang und der Einübung in die liturgischen Aufgaben gewidmet. Die Schüler waren ihrem Alter und ihren Fähigkeiten entsprechend in drei Klassen eingeteilt, hielten sich jedoch im selben Raum auf. Es durfte nur lateinisch gesprochen werden.

1044 F. R, Mittelalter und Schriftlichkeit. Vgl. dazu K. W, Schulen, S. 152 ff.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

Im Übrigen hatten sich die Schüler von ungebildeten Altersgenossen fernzuhalten; ganz allgemein sollten sich Lehrer und Schüler nicht unter die Laien, d. h. die Ungebildeten, mischen. Die Schüler hatten Schulgeld und dazu eine Reihe von Sonderabgaben wie Einstands-, Holz-, Kerzen- oder Fenstergeld zu zahlen. Die armen Schüler (pauperes) mussten kein oder nur ein geringes Schulgeld entrichten; für sie kam gegen Leistung von Hilfsdiensten weitgehend die Kirche auf. Sie durften üblicherweise durch Umsingen (Kurrende) ihren Lebensunterhalt erbetteln. Eine Schulreform des Rates um 1500 straffte den Unterrichtsstoff und lockerte den scholastischen Grundzug des Unterrichts und seiner Methode zugunsten der von den Humanisten geförderten praktisch-moralischen Unterweisung.¹⁰⁴⁵ Den Begabten war ein spezieller Kurs in der ars humanitatis, darunter die Lektüre der »Aeneis« Vergils, anzubieten. Es fehlte nach wie vor ein Quadrivium; Musik blieb Chormusik, doch wurden die Jüngsten vom Chordienst befreit. Außerdem sollten weite Teile des Unterrichts verdeutscht werden. Zur Förderung des Humanismus wurde 1495 mit Unterstützung des Rates eine elitäre humanistische Poetenschule gegründet, die auch Griechisch lehrte; doch musste diese angefeindete Schule bereits 1509 wieder schließen. Dafür richtete der Rat unter dem Ein uss des Willibald Pirckheimer an den Pfarrschulen zu St. Sebald und St. Lorenz Sonderkurse in der ars humanitatis ein. In den Turbulenzen der Reformation und wegen der mit ihr einhergehenden Aufhebung von Klöstern und geistlichen Institutionen, die das Schul- und Bildungswesen getragen hatten, geriet das ohnehin reformbedürftige spätmittelalterliche Schulwesen in eine Verfallskrise. Die Hinwendung der Reformation zur deutschen Sprache in Liturgie und Gottesdienst ließ verschiedene Kreise das Latein überhaupt als über üssig erscheinen. Luther selbst machte das

Schulwesen jedoch früh schon zu einer zentralen Aufgabe und forderte namentlich von den städtischen Obrigkeiten die Einrichtung ›christlicher‹ Schulen. In norddeutschen Kirchenordnungen des Johannes Bugenhagen erschien die Fürsorge für das Schulwesen als wichtiger Bestandteil der kirchlichen Erneuerung. Erasmus von Rotterdam schrieb noch 1528 an Pirckheimer, wo immer Luthers Lehre regiere, da sei Untergang der Wissenschaften, doch trugen die Forderungen der Reformatoren Früchte. Vor allem die Lateinschulen wurden wieder gefördert und von Philipp Melanchthon humanistisch ausgerichtet. In Nürnberg wurde durch eine Reform des Jahres 1535 wieder Latein als ausschließliche Unterrichtssprache verordnet; in Straßburg entstand unter der Ägide des Johannes Sturm 1538 ein bedeutendes Gymnasium. Erst die jesuitischen Gymnasien seit dem späteren 16. Jahrhundert konnten zu dem Niveau der protestantischen Einrichtungen aufschließen. 4.9.1.4 Deutsche Schreib- und Rechenschulen Seit dem Ausgang des 14. Jahrhunderts wurden nun im Zusammenhang mit dem Vordringen der deutschen Sprache gegenüber dem Lateinischen in der städtischen Verwaltung, im Urkundenwesen, in der kaufmännischen Buchführung und im Briefverkehr mit wachsender Tendenz neben den städtischen Lateinschulen auch deutsche Schreibschulen eingerichtet. Auch gab es gemischte (vermengte) oder allgemeine (gemeine) Schulen, die in Latein und Deutsch unterrichteten. Diese schulpolitischen Bestrebungen wurden nicht mehr nur von der fernhändlerischen Oberschicht, sondern auch vom mittleren Bürgertum und vor allem von handwerklichen Kreisen getragen. Aber auch hier gab es Widerstände von Seiten der Geistlichkeit. In Lübeck kam es 1418 zu einem Vertrag zwischen Rat und Domkapitel, das zwar die Gründung von vier deutschen Schreibschulen gestattete, doch

1045 R. E, Das Schulwesen, S. 179 ff., vgl. auch K. G, Der Lehrgang des Triviums und die Rolle der Volkssprache, S. 375 f., 383.

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konnte der Domscholaster den vom Rat präsentierten Schulmeister ablehnen und erhielt ein Drittel des eingehenden Schulgeldes. Im Jahre 1420 wurde in Braunschweig unter Vermittlung des Herzogs von Braunschweig-Lüneburg zwischen dem Domscholaster und weiteren Klerikern mit Bürgermeister, Rat und Bürgern ein Vertrag über die Errichtung zweier Schulen abgeschlossen. In Hamburg hingegen kam nach längeren Auseinandersetzungen erst um 1456 eine Vereinbarung über die Einrichtung einer Schreibschule zu Stande, während der Rat vier Schulen gewünscht hatte. Vom Jahre 1478 ist eine Braunschweiger Schulordnung überliefert und von 1491 eine Ordnung für die deutschen Schulmeister und Schulfrauen zu Bamberg, die verheiratet sein mussten.¹⁰⁴⁶ Die Lateinschulen befanden sich in kommunaler Hand. Die Teutschen Schulen entstanden gleichfalls als städtische Einrichtungen oder wurden, was häu g vorkam, als Privatschulen betrieben, so etwa in Nürnberg als freies Gewerbe, das der Rat konzessionierte, aber nicht wie in Bamberg zugleich reglementierte. Sie boten Unterricht im Schreiben und Lesen in deutscher Sprache, waren etwa in Nürnberg vielfach Schreib- und Rechenschulen, die Mathematik, eventuell noch Buchführung oder sogar auch Musik in ihrem Unterrichtsprogramm hatten. Ferner dienten auch sie der religiössittlichen Erziehung. Damit entsprach dieser Schultyp den praxisorientierten Bildungsbedürfnissen weiter Kreise des wirtschaftenden Bürger- und Handwerkertums. Der Nürnberger Rat reduzierte am Ende des 15. Jahrhunderts die Zahl der Deutschen Schulen in städtischer oder privater Hand von 75 auf nur noch 48 Schulen. In Nürnberg waren die Schreibmeister (Stuhlschreiber, Modisten) und Rechenmeister (Cossisten) untereinander konkurrierende Unternehmer und kamen zu einem guten Teil von auswärts. Es handelte sich vielfach um Studenten, die ihr Studium abgebrochen hatten oder die

gescheitert waren, und um eologen mit niederen Weihen. Überwiegend stammten sie aus dem Handwerkerstand, und einige Rechenmeister übten neben ihrer Lehrtätigkeit noch einen handwerklichen Beruf aus. Die Nürnberger Rechenmeister besaßen einen guten Ruf. Im Jahre 1483 erschien in Nürnberg das erste gedruckte Rechenbuch des dortigen Rechenmeisters Ulrich Wagner.¹⁰⁴⁷ Dieser benutzte neben italienischen Traktaten den handschriftlichen »Algorismus Ratisbonensis«, der um die Mitte des 15. Jahrhunderts im Regensburger Benediktinerkloster St. Emmeram entstanden war. Auch Bamberg hatte eine Rechenschule, die auf der Grundlage des Rechenbuches von 1483 lehrte. Anfangs wurden das Rechnen am Rechenbrett und das Rechnen mit der Feder nach der indischarabischen Methode mit dezimalem Stellenwertsystem (Algorismus) gleichrangig behandelt. Der Nürnberger Wagner lehrte im Unterschied zu anderen, auch späteren Rechenmeistern wie etwa Adam Ries in seinem Werk nicht mehr den Abacus, der jedoch in der Praxis immer noch in Gebrauch war, sondern nur noch das Rechnen mit der Feder und überforderte damit möglicherweise das Abstraktionsvermögen der Schüler. Neben der Dreisatzrechnung vermittelte sein Rechenbuch umfangreiche Kenntnisse über Warenpreise, Handelswege, gängige Münzsorten und deren Wechselkurse sowie über Maße und Gewichte. Die Aufgabenstellungen waren ausgesprochen praxisbezogen. Die Berufe des Schreib- und Rechenmeisters wurden als Handwerk erlernt und mit einem Meisterstück abgeschlossen. Durch Vererbung von Schulen entstanden Generationsfolgen von Schreib- und Rechenmeistern. Im 16. Jahrhundert mehrten sich die wandernden Schulmeister. Keineswegs waren die deutschen Schulen generell schlechte Winkelschulen, als die sie von der Reformation abgetan wurden. Die Lateinschulen in den kleinen Ortschaften Frankens, wo sich die Schulen zwischen 1450 und 1500 enorm vermehrten¹⁰⁴⁸, wa-

1046 H.-P. B (Hg.), Quellen und Dokumente zur Berufsbildung deutscher Kau eute, Nrr. 56–60, S. 145–161. 1047 U. W, Das Bamberger Rechenbuch von 1483; K. V, Die Practica des Algorismus Ratisbonensis. 1048 R. J, Schulen in Franken und in der Kuroberpfalz; H. F/R. K  (Hg.), Schullandschaft in Altbayern, Franken und Schwaben.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

ren im Spätmittelalter wohl in Wirklichkeit gemischte, auch in Deutsch unterrichtende Schulen. Als sie durch die Reformation zur strikten Latinität zurückgebracht wurden, entstanden nunmehr gesonderte praxisbezogene deutsche Schulen unter städtischer Leitung, die meist im Gegensatz zu vielen Lateinschulen auch von Mädchen besucht werden konnten. Bürgertöchter wurden ferner in den Außenschulen der Frauenklöster und von Beginen unterrichtet. Mädchen gab man auch in angesehene fremde Haushalte, wo sie eine praktische hauswirtschaftliche Unterweisung und eine elementare Bildung erhielten, oder sie nahmen am Privatunterricht teil. Eine zumindest elementare Bildung war dort erforderlich, wo sich Frauen, wie vor allem in Städten des westdeutschen Raumes (Köln), in erheblichem Maße am kaufmännischen Erwerbsleben beteiligen konnten. Die ersten Nachrichten über den Schulbesuch von Mädchen seit den 1420er Jahren betreffen Pfarrschulen als vermengte lateinisch-deutsche Schulen. Es war in Köln im 15. Jahrhundert in bestimmten Kreisen üblich, Mädchen wie Jungen in die Schule zu schicken, doch war der Schulbesuch der Mädchen mit nur vier Jahren gegenüber sechs der Jungen deutlich kürzer. Vermutlich lag das daran, dass Mädchen nur den deutschen Unterricht wahrnahmen, also nicht am Lateinunterricht und am Chorgesang teilnahmen, und die Mädchenbildung grundsätzlich einen höheren Praxisbezug besaß.¹⁰⁴⁹ Konrad Celtis hebt hingegen sicherlich in der Generalisierung übertrieben die Lateinbildung von Frauen der Nürnberger Oberschicht hervor. Die Ordnung für eine Elementarschule in Emmerich von 1445 sieht vor, dass dort eine Frau oder zwei Frauen die Mädchen unterrichten sollten. Der Verfasser der »Reformatio Sigismundi« von 1439 forderte für die Frauen, denen er offensichtlich eine verbreitete Lesefähigkeit und eine den Männern überlegene Begabung zuerkannte, klösterliche Schulen, in denen die Frauen Grammatik und die Heiligen Schriften

lernten, ›damit sie verstehen, was sie lesen‹. Die Frauen hätten subtilere geistige Kräfte (subtiler synne) als die Männer und ›studierten‹ besser als diese.¹⁰⁵⁰ Zu den weiterführenden Universitäten hatten die Frauen freilich keinen Zutritt. 4.9.1.5 Alphabetisierung und Literalisierung Schulbildung bedeutete Alphabetisierung und Zugang zu Schriftlichkeit und schriftlicher Bildung (»Literalisierung«), eröffnete den weiten Weg weg vom Analphabeten (idiota) hin zum Gebildeten oder gar Gelehrten (litteratus); sie war jedenfalls ein Schritt hin zu Professionalisierung, Sicherung von beru ichem Erfolg, von sozialem Status und Prestige. Eine große Schuldichte besaßen neben dem Norden auch der deutsche Südwesten mit seinen vielen Reichsstädten und das Niederrheingebiet, wo es um 1500 kaum eine Stadt gab, die nicht eine Schule oder einen Lehrer hatte, während in größeren Städten neben den Lateinschulen auch deutsche Lese- und Schreibschulen entstanden. Die bürgerlich-städtische Laienkultur des späten Mittelalters, bewirkt von bürgerlichem Bildungsstreben und Ergebnis einer Bildungsexpansion, beruhte auf einem Elementarunterricht in Lesen, Schreiben und Rechnen sowie einem gehobenen funktionalen praktischen Wissen, ferner auf einem weiterreichenden Bildungswissen, das den Übergang zur Universität ermöglichte. Kau eute konnten seit dem 14. Jahrhundert üblicherweise lesen, schreiben, rechnen und ihre Bücher führen. Schulreformen, Schulgründungen, eine neue Welle von Universitätsgründungen seit der Mitte des 15. Jahrhunderts und rapide steigende Zahlen der Schüler und der Studenten in den enorm wachsenden Artistenfakultäten, die gewissermaßen eine höhere Schulbildung boten, ferner der Umstand, dass Schüler und Studenten zunehmend auch aus handwerklichen Familien kamen, stehen für den bereits von Zeitgenossen konstatierten Bildungswillen und Bildungsaufbruch

1049 M. W, Mädchenbildung. 1050 H. K (Hg.), Reformation Kaiser Siegmunds (5), S. 210.

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des 15. Jahrhunderts, der mit der städtischbürgerlichen Welt ver ochten ist. In der Ausübung des Handwerks bedurfte es eines mündlich vermittelten Erfahrungswissens, sodass es unter den Zunftangehörigen Analphabeten gab, doch hatten sich Handwerker in der Zunft und darüber hinaus mit Schriftlichkeit auseinanderzusetzen. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts gibt es zunehmend Beispiele für Chronisten aus dem Handwerkerstand. Für die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts nden sich erste Belege für die Alphabetisierung auch von Handwerksgesellen. Im Jahre 1487 soll es einem chronikalischen Bericht zufolge in Nürnberg 4 000 Schüler gegeben haben. Dazu kommen noch etwa 800 Schüler der Lateinschulen. Diese auf eine bestimmte Altersgruppe bezogenen Zahlen lassen, falls sie einigermaßen zutreffen, auf einen erheblichen Alphabetisierungsgrad der Stadtbevölkerung schließen. Lesefähig waren im Reich in der Reformationszeit, für die wir Schätzungen besitzen, von der regionalen Ausbildung des Schulwesens abhängig vielleicht 5–10 Prozent der Gesamtbevölkerung, in den Städten 10–30 Prozent oder mehr, wobei innerhalb der Gesellschaft selbstredend von einer schichtenspezi schen Konzentration auszugehen ist. 4.9.2 Kommunale Universitäten – Stadt und Universität Im 14. und 15. Jahrhundert kam es zu einem nachhaltigen Aufschwung der Universität durch zahlreiche Gründungen in Mitteleuropa.¹⁰⁵¹ Nachdem Kaiser Karl IV. 1348 in Prag für das Königreich Böhmen die erste Universität im Reich gegründet, aber erst nach 1360 mit Leben erfüllt hatte, und nach den landesherrlichen Gründungen in Wien (1365) und Heidelberg (1385) kam es 1388/89 in Köln, dem überragenden Handelszentrum, zur Errichtung der ersten kommunalen Universität nördlich der Alpen. Begünstigt wurden Univer-

sitätsgründungen durch das 1378 ausgebrochene Große abendländische Schisma mit seiner Konkurrenzsituation zwischen dem avignonesischen und dem römischen Papsttum. Das Schisma führte möglicherweise zur Bewilligung bis dahin meist zugunsten der Sonderstellung der Pariser Universität nicht genehmigter theologischer Fakultäten, die aber für Universitäten zentral waren, doch hing die Pariser Universität im Schisma der avignonesischen Obödienz an. 4.9.2.1 Kommunale Universitätsgründungen Im Namen von Rat, Schöffen, Bürgern und Gemeinde Kölns hatte eine Delegation der romtreuen Kölner Bettelorden 1387 während des Großen Schismas vom römischen Papst Urban VI. die Universitätsgründung durch eine Supplikation erbeten.¹⁰⁵² Die Gründungsbulle vom 21. Mai 1388 wurde in Perugia erwirkt und am 22. Dezember im Refektorium des Kölner Doms verlesen, worauf bereits am Dreikönigstag 1389 offiziell der Lehrbetrieb eröffnet werden konnte. Urban VI. erlaubte auch das Studium des römischen Rechts, das seit 1219 für die Pariser Universität verboten war, wenngleich sich Kanonisten auch mit dem römischen Recht befassten. Dem päpstlichen Stiftungsprivileg folgte 1442 die nachträgliche Privilegierung durch König Friedrich III. Als erste Stadt hatte sich jedoch Erfurt 1379 bei dem avignonesischen Papst Clemens VII. die Universitätsstiftung – aktiv von einem Kreis hessischer Kleriker um den Erfurter Protonotar Hartung Gernodi betrieben – genehmigen lassen, doch erst nach einem neuerlichen Privileg Urbans VI. vom 4. Mai 1389 konnte die in der Folgezeit bedeutende Universität 1392 mit vier Fakultäten – verfasst nach dem Modell Prags, aber ohne dessen Gliederung in Nationen – eröffnet werden. Köln war mit etwa 40 000 Einwohnern die größte Stadt im Reich, Erfurt gehörte mit fast 20 000 Einwohnern zu den großen.

1051 W. R (Hg.), Geschichte der Universität; F. R, Deutsche Universitätsstiftungen; E. S, Universitäten; S. L (Hg.), Attempto; R. C. S, Deutsche Universitätsbesucher. 1052 E. M, Kölner Universitätsgeschichte.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

Sowohl Köln, worauf die päpstliche Stiftungsbulle Bezug nahm, als auch Erfurt hatten bereits eine reiche Tradition der Ordensstudien aufzuweisen. In Köln waren es die Generalstudien der Bettelorden, beginnend mit denen der Dominikaner (1248) unter dem überragenden Universalgelehrten und Begründer der Aristotelesrezeption Albertus Magnus als Lesemeister. Nach dem Vorbild der theologischen Fakultät in Paris wurden die Artes liberales, eologie und Philosophie gelehrt, doch besaßen die Generalstudien kein Promotionsrecht. Es folgten die Franziskaner (1260), die als bedeutenden Gelehrten für kurze Zeit bis zu seinem Tode Duns Scotus aufzuweisen hatten, die Augustinereremiten (1290) und die Karmeliten (etwa 1294). In anderen Fällen und meist später folgte die Einrichtung von Ordensstudien auf die Universitätsgründung. In Erfurt waren die Studien der Bettelorden nach der Mitte des 14. Jahrhunderts in eine tiefe Krise geraten und zum Erliegen gekommen, sodass es, obschon sie inkorporiert wurden, keine personelle Anbindung der Universität an die älteren Studien geben konnte und die Erfurter Artistenfakultät zunächst ganz aus Prager Magistern bestand. Dabei hatte sich im klösterlichen und stiftischen Schulleben Erfurts seit dem 13. Jahrhundert ein reichhaltiges, ständig erweitertes Artes- und Philosophiestudium nach Pariser Vorbild entwickelt, das die Stadt in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zu einem der bedeutendsten Bildungszentren im Reich gemacht hatte.¹⁰⁵³ In zeitlichem Abstand zu den Gründungen von Köln und Erfurt folgte die Universität Rostock (1419), die als erste Universität im Ostseeraum für die Hansestädte von großer Bedeutung werden sollte und von ihnen unterstützt wurde. Nach der eigentlichen Gründung durch die Herzöge von Mecklenburg und den Bischof von Schwerin litt die Universität lange an ihrer ungesicherten Finanzierung, die nach einem Sturz des Rates 1487 infolge eines Vergleichs von 1491 zur Gänze von der Stadt übernom-

men werden musste. Die Universität Greifswald wurde 1456 durch die ursprüngliche und formelle Initiative des Herzogs von Pommern, aber unter Mitwirkung der Stadt gegründet, die Universität Trier 1473 auf Initiative der Stadt, die dem Erzbischof das ältere Gründungsprivileg abkaufte. Die Gründung der Universität Löwen erfolgte mit Unterstützung des Herzogs von Brabant 1425/1426 auf der Grundlage der Stiftungsbulle Papst Martins V. Basel richtete ein Jahrzehnt nach dem Basler Konzil (1433–1449) in Erinnerung an die Konzilsuniversität 1459/1460 eine städtische Universität ein. Die Initiative zur Gründung einer kommunalen Universität ging von einem bestimmten Basler Personenkreis aus, der den Kleinen und den Großen Rat überzeugen musste.¹⁰⁵⁴ Zu diesen Personen gehörten aus der Zeit des Konzils und der Konzilsuniversität der frühere Offizial des Bischofs von Basel und nunmehrige Anwalt und Rechtskonsulent, der Licentiat des geistlichen Rechts Heinrich von Beinheim, und der Domdekan Peter von Andlau, von 1460 bis 1480 dann Ordinarius für kanonisches Recht in Basel, ferner von Seiten der Kommune der Bürgermeister Hans von Flachsland und der Stadtschreiber Konrad Kienlin. Alle waren mit Papst Pius II., dem Humanisten Aeneas Silvius de Piccolominibus, aus der Zeit des Konzils bekannt, als dieser Konzilssekretär war. Der Versuch der Gründung einer Universität in Lüneburg scheiterte, obwohl der Rat bereits 1471 ein kaiserliches Privileg zur Gründung einer einzigen Fakultät für das Studium des römischen Rechts mit zwei oder drei Rechtsgelehrten und 1479 eine Bulle Papst Sixtus‘ IV. nunmehr zur Gründung einer Universität mit den üblichen Fakultäten und Rechten erwirkt hatte. Gleichfalls scheiterten Universitätsgründungen in Kulm (1434), Pforzheim (1459), Regensburg (1487) und in Breslau, wo von 1409 bis 1505 eine Gründung immer wieder betrieben wurde.

1053 S. L, Studium Generale Erfordense. 1054 E. B, Zur Gründungsgeschichte der Universität Basel; M. S, Motive der Basler Universitätsgründung.

Schule und Universität 569

4.9.2.2 Landesherrliche Universitäten Landesherrliche Universitäten wurden nach Prag, Wien und Heidelberg in Würzburg (1402), dort mit kurzer Existenz, in Leipzig (1409), Freiburg im Breisgau (1457–1460), Ingolstadt (1472), Mainz (1476), Tübingen (1477), Frankfurt an der Oder (1498) und in Wittenberg, dort mit nunmehr einem königlichem Stiftungsbrief Maximilians I. vom Jahre 1502, gegründet. Dabei wirkten verschiedentlich Stadt und Rat mit und gingen Verp ichtungen ein, sodass nicht stets eindeutig zwischen fürstlicher und kommunaler Gründung zu unterscheiden ist. Außerdem konnten sich nach der Gründung die fürstlichen und städtischen Anteile am Unterhalt und hinsichtlich der Ein ussnahme auf die Universität verschieben, je nach dem, ob eine nanzkräftige Bürgerschicht vorhanden war oder der Hof bestimmend blieb. Die Gründung der landesfürstlichen Universität Wien durch Herzog Rudolf IV. (1358–1365) scheiterte zunächst, und die Universität ging in der städtischen Stephansschule als Vorgängerinstitution auf. Das Gründungsprivileg und die Unterstützungserklärung der Stadt wurden bereits im Gründungsjahr 1365 suspendiert, bis die Stadt 1376 durch die Berufung zweier renommierter Professoren aus Paris und Prag eine Konsolidierung der Universität einleitete, die in die landesfürstliche Reform von 1384 mündete. In Falle der Universität Greifswald, die im Zusammenspiel zwischen den Herzögen von Pommern als den Landesherren, dem Bischof von Kammin und der Stadt 1456 gegründet wurde, war der mächtige Bürgermeister Dr. iur. Heinrich Rubenow von städtischer Seite die treibende Kraft und wurde erster Rektor der neuen Universität sowie Dekan der Juristischen Fakultät. Er wendete persönlich 420 Gulden neben den 200 Gulden der Stadt für die Ausbringung der päpstlichen Bulle auf, machte zur Dotierung der Universität Stiftungen für das Kollegiatstift, stiftete in seinen Händen be ndliche herzogliche Pfandschaften im Wert von 3 000 Gulden, die als geistliche Stiftungen fungierten, und vermachte schließlich seine Bücher im Wert von 1 000 Gulden der Fakultät. Sich selbst bezeich-

nete er als eigentlichen Universitätsgründer, als primus plantator, erector et fundator huius inclitae universitatis et eciam ecclesie collegiate. 4.9.3 Papst, Landesherr und Stadtrat und die Universität Die päpstliche Genehmigung durch ein Stiftungsprivileg, das an der Kurie mit Kosten erlangt werden musste, war für eine Universitätsgründung unentbehrlich, die kaiserliche konnte hinzutreten, reichte aber nicht aus und schien nur für die Errichtung eines legistischen Studiums, in dem das römische Recht als Kaiserrecht gelehrt wurde, erforderlich, wie es die Beispiele Köln, Freiburg im Breisgau, Lüneburg und Tübingen nahelegen. Papst und Kurie prüften die Lebensfähigkeit und die Perspektiven des Projekts und verlangten gelegentlich die Zusage einer bestimmten Summe für den Unterhalt, so von Greifswald 1 000 Gulden. Voraussetzungen waren formell eine klimatisch gesunde Lage der Stadt und gute Versorgungsmöglichkeiten. Zum Schutz des Kölner Privilegs wurden päpstliche Konservatoren bestellt. Der Papst und eventuell auch der Diözesanbischof genehmigten – oder versagten im Einzelfall – bei fürstlichen und kommunalen Gründungen die in der Supplik gewünschte Umwandlung und Inkorporation kirchlicher Pfründen und Ämter zugunsten der Besoldung und Versorgung der Universitätslehrer in der Form von Lektoralpräbenden, was verschiedentlich bei den betroffenen Kirchen auf Widerstand stieß. Der Diözesanbischof, dann verstärkt der Landesherr und bei kommunalen Universitäten der städtische Rat übten Aufsichtsrechte aus. Der Landesherr war bei seinen Gründungen für die rechtliche Sicherstellung der Professoren und Studenten sowie für die nanzielle Ausstattung der Hochschule zuständig, während die Kommune Räumlichkeiten bereitstellte sowie die Sicherung der Versorgung und der örtlichen Lebensverhältnisse zu gewährleisten hatte. Im Falle kommunaler Universitäten nahm der Rat erheblichen Ein uss auf die Besoldung und Berufung von Lehrkräften. Der Basler Rat über-

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

trug einer kleinen Kommission die Befugnis, die Anstellung und Besoldung der Dozenten zu regeln und die Pfründenangelegenheiten zu betreuen. Die Neugründungen schufen Konkurrenzverhältnisse und führten zum Abzug von Gelehrten aus älteren Universitäten. Die Kölner Universität erhielt für die Professuren eine kommunale und kirchliche Mischnanzierung. Die Stadt übernahm 1389 die Finanzierung von zwölf Professuren, elf wurden mit päpstlicher Genehmigung durch Kanonikate an Stiftskirchen bestritten, weitere elf an denselben Kirchen kamen 1437 in einer Nach nanzierung hinzu. Durch die außerordentliche Kirchendichte in Erfurt kam es zu einer engen Verechtung von Kirche und Universität. Die Stadt hatte für den laufenden Betrieb nur einige hundert Gulden jährlich aufzubringen, eine Summe, die etwa unter einem Prozent des Haushalts lag. Die vom Papst zur Finanzierung der Basler Universität erbetene und von ihm zugestandene Inkorporation von 14 Pfründen außerhalb der Stadt in eidgenössischen Orten und fremden Diözesen konnte nicht realisiert werden 4.9.4 Motivationen und Erwartungen bei Universitätsgründungen Grundlegende Motivationen für eine mittelalterliche Universitätsgründung, die ein frommes Werk darstellt, sind nach dem Wortlaut der Stiftungsurkunden das Lob und die Ehre Gottes, ferner der Nutzen für die Christenheit, den Glauben und das Seelenheil durch Belehrung und Verbreitung von Wissen und Wahrheit, hinsichtlich der theologischen Fakultät die Verbreitung des rechten Glaubens – dei propagatio orthodoxe (Köln). Die Universität sei Stätte der Erkenntnis, die den Menschen Gott ähnlich mache, wie es in der päpstlichen Stiftungsbulle für Basel von 1459 heißt. Bereits die Gründungsbulle für Köln führt den Nutzen für die Stadt und die Einwohner der umliegenden Regionen an. In den Stiftungs-

urkunden für Basel von 1459 und für Ingolstadt 1472 ist von dem sozialen Aufstieg durch universitäre Bildung die Rede: ›Die im niederen Stand Geborenen werden zu den höchsten Würden und zu hohem Stand gebracht‹ wie es in der Urkunde für Ingolstadt heißt. Es werden Sozialerwartungen geäußert, die sich eher in Einzelfällen erfüllten. Die universitären Abschlüsse – Bakkalaureus (auf unterer Ebene), Magister, Licentiat und Doktor – waren für eine Lehrtätigkeit an der Universität gedacht, wirkten aber auch als Empfehlung nach außen für Pfründen und Ämter und wurden im Falle der Titel des juristischen Licentiaten und Doktors Voraussetzung für die Indienstnahme eines Ratsjuristen und eines fürstlichen oder königlichen Rats. Die universitäre Wissenschaft sollte ihres ideellen geistigen Nutzens wegen und insoweit um ihrer selbst willen als Perle der Weisheit und Kleinod in der Sprache der Stiftungsprivilegien geschätzt werden, so auch in Basel. Den von Handwerkern dominierten Räten in Basel wurde eine Universitätsgründung jedoch vor allem mit dem wirtschaftlichen und nanziellen Nutzen schmackhaft gemacht. Nach dem Ende des Konzils, während dessen Basel der Mittelpunkt der Christenheit gewesen war, hatte die Stadt eine wirtschaftliche Depression erfasst, aber die günstige nord-südliche verkehrs- und handelsgeogra sche Lage ließ einen Zustrom an Studenten erwarten. Italienische Zivilrechtsprofessoren, die nach italienischer Art – iuxta ritum studiorum Italiae – unterrichteten, sollten in Basel das ohnehin prestigebehaftete Rechtsstudium attraktiv machen und Studenten vom Zug nach Oberitalien abhalten. Der Basler Stadtschreiber legte in seinem Ratschlag für den Großen Rat dar, dass eine Universität angesichts des Niedergangs der Stadt, des Schwunds an Leuten und Vermögen, des Rückgangs an Baumaßnahmen und des gemeinen Nutzens sowohl für die Stadt als auch für alle Einzelpersonen einen wirtschaftlichen Aufschwung bringen werde.¹⁰⁵⁵ Hilfe

1055 E. B, Zur Gründungsgeschichte der Universität Basel, S. 39–42; G. M (Hg.), Quellen zur Wirtschaftsund Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 106, S. 340–343.

Schule und Universität 571

für die darniederliegende städtische Wirtschaft wurde zugunsten einer Universitätsgründung auch in Löwen, Mainz, Trier und Regensburg geltend gemacht. Durch das Geld, das mit dem Bevölkerungszustrom nach Basel komme und dort verbleibe, könnten die Einzelnen ihre wirtschaftliche Lage heben, leichter ihre Steuern, Zinse und anderen Zahlungsverp ichtungen leisten, sich und die Ihren ernähren, während die Stadt wiederum ihre Einnahmen aus Zöllen, Wegegeldern und indirekten Steuern mehren könne. Insbesondere wird auf den Nutzen für die Handwerker abgehoben und diesen ein Nachfrageschub durch den Konsum der Studenten in Aussicht gestellt. Jeder Student brauche mindestens 20 Gulden im Jahr an Lebenshaltungskosten. Der Armenstand (status paupertatis) des Scholaren, der einen Nachlass bei Immatrikulations- und Vorlesungsgebühren begründete, lag, um diese Summe einzuordnen, etwa in Leipzig bei sechs, später bei zehn Gulden an Einkünften. Kienlin rechnete einmal mit 500, dann mit 1 000 Personen und kam auf 10 000 und 20 000 Gulden an zu ießender Kaufkraft, doch bewegte sich die Frequenz der Universität in den ersten vier Jahren tatsächlich nur zwischen 260 und 130 Personen. Die Kosten für Dozentengehälter bis zur Realisierung der Besoldung durch Pfründen schätzte er mit der jährlichen Gesamtsumme von 600 Gulden für zehn Lesemeister recht zutreffend ein. Die anderen Ausgaben für die Gründung und Einrichtung der Universität beliefen sich in den ersten acht Jahren auf 1 912 Gulden. Wenn in dem Ratschlag des Basler Stadtschreibers auch angeführt wird, dass die Universität Prediger und Beichtväter, juristische Ratgeber im kanonischen und kaiserlichen Recht (Zivilrecht), gelehrte Ärzte und Lehrer ausbilde, so war der Bedarf der Stadt selbst und der eidgenössischen Orte an Verwaltungsberufen eher klein. Der unmittelbare Nutzen für Städte mit kommunalen Universitäten bestand darin, dass der Rat für die Rechtsberatung einen der juristischen Professoren verp ichten und einen Medizinprofessor zum Stadtarzt (Physikus) bestellen konnte. Die Finanzierung mithilfe von

kirchlichen Pfründen kam nicht zustande, und die geäußerte Erwartung, Basel werde wegen der günstigen Lage eine höhere Frequenz als die konkurrierende landesfürstliche Universität Freiburg im Breisgau insbesondere aus den vorderösterreichischen Landen erzielen, wurde nach kurzer Zeit enttäuscht. Dennoch wollte und konnte die Stadt ihre Universität aus eigenen Kräften am Leben halten. 4.9.5 Fakultäten, Dozenten und Studenten Als Vorbilder wurden in den Stiftungsurkunden mit pauschalem Verweis die prestigeträchtigen gegensätzlichen Organisationsmodelle der von eologen und Artisten dominierten Universität Paris und der Juristenuniversität Bologna mit der dortigen Rektorwahl durch die Studenten genannt, doch wurden die Modelle nur teilweise verwirklicht. Daneben wurde auch auf Privilegien und Statuten älterer deutscher Universitäten, insbesondere Prags, verwiesen. Die Universitäten Greifswald, Basel und Trier lehnten sich daneben auch an Erfurt an. Um den Rang der neuen Universität im Kreis der bereits bestehenden zu sichern, berief man in der Frühzeit in größerem Umfang ausländische Gelehrte. Die päpstliche Gründungsbulle für Köln nennt als Vorbild die Privilegien des Pariser Studiums und bestimmt, dass die in Köln durch Magister- und Doktortitel erworbene ›volle und freie Lese- und Lehrbefugnis‹ (licentia oder facultas docendi) auch an allen anderen Generalstudien gelten solle. Auf dem propädeutischen Studium der verschiedentlich in Bursen organisierten Artesfakultät mit Trivium und Quadrivium bauten die höheren Fakultäten eologie, Jurisprudenz und Medizin auf, wobei diese üblicherweise die kleinste war. Medizin und vor allem Rechtswissenschaft galten als lukrative Studien. Das Jurastudium besaß hohes Sozialprestige, war doch nach italienischer eorie der promovierte Jurist einem Adeligen gleichzuachten, und zog Studenten aus wohlhabenden und adligen Familien an. Führende Fakultät war in Köln wie andernorts die theologische, doch sicherte die Juristi-

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

sche Fakultät als Doppelfakultät, an der sowohl das kanonische als auch das römische Recht gelehrt wurden, mit 12 bis 16 Professoren als größte im Reich der Kölner Universität einen hervorragenden Rang. Nach Köln war die Rechtsfakultät der 1392 eröffneten ausgesprochenen Juristenuniversität Erfurt im 15. Jahrhundert die bedeutendste Ausbildungsstätte für Juristen innerhalb des Reichs, der Kölner an Größe deutlich, an wissenschaftlichem Rang vielleicht unterlegen. Unter den Universitäten nördlich der Alpen war Erfurt der wohl bedeutendste Vorstudienort für das juristische Studium in Italien und scheint geradezu dafür angelegt gewesen zu sein.¹⁰⁵⁶ Studium und Abschluss als Licentiat oder Doktor in Italien waren vielfach immer noch Voraussetzung für den Aufstieg in die Elite der deutschen Juristen. Der junge Nürnberger Patrizier Johann Löffelholz wurde in Begleitung eines Pädagogen im Alter von dreizehn Jahren an die Universität Erfurt zur Ausbildung in den Artes liberales und anschließend zum Rechtsstudium an die Universität Pavia geschickt. Andere Angehörige des Nürnberger Patriziats studierten vornehmlich in Padua die Rechte. Die Kölner Universität konnte mit einem für die damaligen Verhältnisse umfassenden Lehrangebot aufwarten und sich mit den zwei Jahrhunderte älteren europäischen Universitäten vergleichen lassen. Bei der Eröffnung standen 20 Dozenten (Magister) für Vorlesungen zur Verfügung. Die meisten Professoren hatten in Paris studiert und gelehrt, mehrere zuvor noch einige Zeit in Wien oder Heidelberg zugebracht; zwei hatten in Montpellier, vier in Prag studiert. Schon im ersten Jahr verzeichnete die Universität die Immatrikulation von über 100 Graduierten und fast 600 Studenten. In den fünf Jahren von 1401 bis 1405 wurden 360 Studenten immatrikuliert, von 1496 bis 1500 waren es 2 260. Die Studentenzahl belief sich längere Zeit mit Schwankungen auf etwa 1000. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts verfügte die Universität in der Regel über

1056 R. G, Erfurter Juristen.

100 Dozenten, eine Zahl, die nach 1500 nicht mehr erreicht wurde. Die Mehrzahl der Studenten kam aus dem Rheinland, den Niederlanden und Westfalen. Im ausgehenden 15. Jahrhundert wuchs der Anteil der einheimischen Studenten und Dozenten an den kommunalen Universitäten signi kant. Insbesondere stellten Angehörige der städtischen Führungsschicht nunmehr einen erheblichen Anteil der Dozenten der Juristischen Fakultäten, in Erfurt mehr noch als in Köln, das aber absolut eine größere Anzahl von Professoren aufwies. Die anderen Fakultäten blieben hingegen Domänen der auswärtigen Dozenten. Der Anteil der in Köln und Erfurt gebürtigen Studenten an der gesamten Studentenschaft im 15. Jahrhundert liegt mit 4 und 5 Prozent höher als der Anteil der einheimischen Studenten in Wien, Heidelberg, Leipzig und Freiburg mit unter 3 Prozent und indiziert eine etwas größere Distanz zwischen den landesfürstlichen Universitäten und den sie beherbergenden Städten. 4.9.6 Stadt und Universität Das Zusammenleben von Stadt und Bürgern und der Universität als eigener, teilweise exemter Lebenswelt mit korporativen Selbstregierungsrechten war spannungsreich und vielfach durch Auseinandersetzungen getrübt. Deshalb war es erforderlich, zur Prävention und Streitentscheidung im Kon iktfall beiderseitige Rechte und P ichten abzugrenzen. Rat und Gemeinde Basels versprachen den Doktoren, Magistern und Studenten samt deren Dienern für Person und Vermögen freies und sicheres Geleit, Schutz und Schirm in der Stadt und in ihrem Gebiet und befreiten sie für alle Käufe, die dem Eigenbedarf dienten, von allen Steuern und Abgaben. Kein Angehöriger der Universität durfte ohne Einwilligung des Rektors verhaftet werden; bei diesem lag auch die Gerichtsbarkeit in schweren Fällen. In Basel durften kein männlicher oder weiblicher Arzt und kein Apotheker, der nicht

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von der medizinischen Fakultät geprüft oder zugelassen worden war, in der Stadt praktizieren. Bemerkenswert ist der im Einzelnen geregelte Mieterschutz, der von den Vermietern günstige Mietzinse verlangte, für Streitigkeiten eine universitär-kommunale Kommission einsetzte und Kündigungen von nachgewiesenem Eigenbedarf oder dem Verkauf der Liegenschaft abhängig machte.¹⁰⁵⁷ In einer Gegenerklärung versprach der Rektor Maßnahmen gegen einen eventuellen Missbrauch der wirtschaftlichen und gerichtlichen Privilegien durch Studenten, bekräftigte das Verbot von Weinausschank und des Betriebs von Tavernen, häuslicher Würfelspiele und anderer Geldspiele, von Waffentragen und von Schmähungen von Bürgern. Die Regelung der abendlichen Sperrstunde musste von den Studenten eingehalten werden, und an den Tänzen der Bürger durfte nur teilnehmen, wer eine besondere Einladung erhalten hatte. Niemand durfte irgendetwas gegen die Regierung der Stadt unternehmen. Derartige Regelungen entsprachen einer dringenden Notwendigkeit, da es an verschiedenen Universitäten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Studenten und Bürgern, insbesondere mit Handwerkern kam. 4.9.7 Schulenstreit: Via antiqua und via moderna – Humanismus Methodische Ausrichtungen für die Textinterpretation waren an den Universitäten der Realismus und der Nominalismus, die via antiqua und die via moderna, die nach dem Vorbild der Pariser Universität zur Zeit der Kölner Universitätsgründung vorherrschte. Im philosophischen Diskurs des 14. Jahrhunderts wurde darüber gestritten, ob die Allgemein- und Gattungsbegriffe (Universalien) in ihrem Verhältnis zum konkreten Einzelnen, aus dem sie durch

Abstraktion gewonnen werden, das Ursprüngliche und Wirkliche sind, welches das Besondere hervorbringt, oder nur konventionelle Zeichen (termini) und Namen (nomina), die keine Entsprechung im Sein haben, da nur Einzeldinge das Wirkliche und die allgemeinen Begriffe nur Abstraktionen des Verstandes sind. Als in Köln die Nominalisten durch einen von Paris ausgehenden Richtungswandel hin zum Realismus in die Defensive gerieten, ermahnten 1425 die Kurfürsten von Mainz, Trier, Pfalz und Sachsen die Stadt Köln, die neu eingeführte realistische Methode der Aristoteleserklärung, die für die Studenten zu schwierig sei, wieder abschaffen zu lassen. Daraufhin verteidigte die Universität in einer von allen vier Fakultäten gesiegelten Urkunde ihre Lehrfreiheit und erklärte, dass man sich in Köln für die Methode frei entscheiden könne und die realistische so gelehrt werde, dass junge Studenten sie verstehen könnten. Der Basler Rat setzte vor allem aus wirtschaftlichen Gründen, um eine Frequenzsteigerung zu bewirken, gegen den Willen der Artistenfakultät die Zulassung der via antiqua und die Gleichberechtigung beider Richtungen durch. Nach päpstlichem Privileg dürften alle Wissenschaften gelehrt werden, die Lage Basels inmitten mehrerer Nationen verp ichte zur Aufnahme von Gelehrten der verschiedensten Wissenschaften, und die Studenten sollten ungehindert in einem der beiden Wege studieren und promovieren können. Etwa seit der Mitte des 15. Jahrhunderts fanden in Köln wie in andere Universitäten humanistische Strömungen zunächst im philologisch-textlichen Bereich, dann als umfassenderes Bildungsprogramm Eingang in die Lehre. Karikiert wurde der Kölner scholastische Universitätsbetrieb durch die »Epistolae obscurorum virorum« (›Dunkelmännerbriefe‹) von 1514/17. Eine schicksalhafte Herausforderung erfolgte durch die kirchliche Reformation

1057 Das römische Recht schützte Professoren vor Lärmbelästigungen durch Handwerksbetriebe. Die Universität Tübingen versuchte seit ihrer Gründung 1477 Handwerksbetriebe, die mit Geruchs- und Lärmbelästigung verbunden waren, in ihrer Umgebung fernzuhalten. Bei einem Hausverkauf im Jahre 1513 musste sich der Käufer verp ichten, keine Leute mit bestimmten Handwerken aufzunehmen, insbesondere keine Lärm verursachenden Schmiede. H. K, Alltag im Mittelalter (1.4), S. 63 f. Siehe dazu auch E. I, Kann das Mittelalter modern sein? (1.1) S. 67 f.

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

und Konfessionsbildung, in deren Gefolge mit einschneidenden Konsequenzen für die Lehrenden und die Frequenz von Studenten Universitäten zum Hort der Reformation oder zu Hütern altkirchlicher Orthodoxie wurden.

4.10 Das Fürsorgewesen 4.10.1 Das Spital 4.10.1.1 Spitalgründungen und die Kommunalisierung des Spitals Die ursprünglichen Träger der karitativen Fürsorge und des Hospitalgedankens, der Beherbergung, Speisung und Kleidung von Armen, Pilgern und Reisenden und die Fürsorge für Kranke und P egebedürftige, waren die Klöster und Stifte. Schon das kirchenrechtliche Programm des Aachener Konzils von 817 schrieb für Klostergründungen eine domus hospitum für vornehme Gäste, außerhalb der Klausur ein hospitale pauperum für Arme, Kranke und Pilger und innerhalb eine in rmeria, ein Gebäude für kranke Mönche, vor. Auch die Klerikerkollegien an den Bischofs- und Stiftskirchen hatten ein Hospital für Arme und Kranke zu unterhalten.¹⁰⁵⁸ In den Städten gab es Spitalgründungen unter Beteiligung oder durch Initiative weltlicher Stadtherren; zahlreicher sind jedoch die Gründungen in den Domimmunitäten der Bischofsstädte. Eine Reihe von Spitälern wurde seit dem 13. Jahrhundert von den Kommunen selbst ins Leben gerufen. Das starke Bevölkerungswachstum im Mittelalter, die Mobilität der städtischen Bevölkerung mit zwischenstädtischer Wanderung und Zuwanderung, die, wie später auch die Pest, solidarische Familienverbände au öste, und die von der Stadt angezogenen Fremden machten umfangreichere Fürsorgeeinrichtungen neben dem Spitaldienst der Klöster und Stifte notwendig. Seit den Kreuzzügen traten die aus der Versorgung von Kranken und Pilgern und aus Hospitalgenossen-

schaften hervorgegangenen Ritterorden hinzu, der Johanniterorden (Malteser-) und der Deutsche Orden, ferner kleinere Orden, die sich wie der Ritterorden des hl. Lazarus vornehmlich der Leprakranken und wie der Antoniterorden der am Antoniusfeuer Erkrankten annahmen. Vor allem aber entstanden in dieser Zeit im Zusammenhang mit religiösen Bewegungen in großer Zahl Laienbruderschaften als Spitalbruderschaften. Die Schwestern und Brüder widmeten sich auf der Grundlage eines klösterlichen Lebensideals (Augustinerregel) ganz der Fürsorge für Arme und Kranke. Auch Beginen und Beg(h)arden versahen derartige Dienste in den Häusern der Kranken. Aus Laienbruderschaften entstand durch Zusammenschluss am Ende des 12. Jahrhunderts der Heilig-GeistOrden; Papst Innocenz III. bestätigte dessen weltliche Verwaltung von Spitälern. Mit dem bruderschaftlichen Spital war einer weltlichen Spitalverwaltung, die von Kirche und Kanonistik gebilligt wurde, der Boden bereitet. Im 13. Jahrhundert wuchs die Zahl einzelner wohlhabender Bürger, die als Spitalgründer in Erscheinung traten. Sie gaben das Stiftungsgut nicht mehr nur in kirchliche oder bruderschaftliche Verwaltung, sondern begannen, aus der Stiftung Verwaltungs- und Gestaltungsrechte abzuleiten. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts setzten, von allenfalls verhaltenen Protesten der Kirche begleitet, Bestrebungen ein, das Stiftungsgut und nachfolgend den gesamten weltlichen Bereich des Spitals der städtischen Aufsicht und Verwaltung zu unterstellen, das Spital zu kommunalisieren. Zugleich erfolgten kommunale Gründungen. Um 1300 war das kommunalisierte Spital der Regelfall, spätestens im 15. Jahrhundert war die Oberhoheit des Rates gefestigt. Auch Spitäler, die von einzelnen Bürgern gegründet worden waren, gingen, obwohl das kanonische Recht die Rechte des Stifters schützte, in die Verwaltung des Rates über, während Zünfte und Gilden die eigenständige

1058 S. R, F. M, D. J, J. v. S, M. P, P. J (Hg.), Städtisches Gesundheits- und Fürsorgewesen; N. B/K.-H. S (Hg.), Sozialgeschichte; G. D; M. S (Hg.), Europäisches Spitalwesen. Darstellungen von Spitälern einzelner Städte nden sich im Literaturverzeichnis. Siehe auch 1.5.4.5.

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Verwaltung der von ihnen gegründeten Spitäler vielfach noch behaupten konnten. Aus dem Spital waren vielfach eigene Waisenhäuser und Findelhäuser ausgegliedert. Findelhäuser wurden etwa 1348 in Köln, 1355 in Ulm, 1471 in Augsburg, 1481 in Straßburg und 1489 in Nördlingen gegründet. Die um 1495 außerordentlich schnell um sich greifende Syphilis machte die Einrichtung gesonderter Blatternhäuser erforderlich, die im 16. Jahrhundert wie in Straßburg von einem speziellen, in der Behandlung der entstellenden Krankheit erfahrenen Blatternarzt betreut wurden. 4.10.1.2 Die Belegung des Spitals und seine Ordnung: Arme und Pfründner Die Versorgung im Spital war ursprünglich unentgeltlich. Die Aufenthaltsdauer war in der Regel kurz und entsprach bei den Kranken der Dauer ihrer P egebedürftigkeit. Genesene sollten möglichst rasch ihren Platz wieder räumen. Das Spital stand unterschiedslos jedem Bedürftigen und Notleidenden, Fremden wie Einheimischen offen. Mit seiner Kommunalisierung – nicht aber Säkularisierung – veränderte sich das Spital zu einem guten Teil in seiner Aufgabenstellung hin zur Versorgung und Dauerp ege von Bürgern. Das Pfründnersystem, der Einkauf in das Spital, rückte in den Vordergrund. Eigenes Vermögen war, von der Familienfürsorge abgesehen, die einzige Form der Altersvorsorge; die Verpfründung gab aber eine umfassende Sicherung bei Alter und Krankheit. Man kaufte deshalb für sich, den Ehegatten oder für Verwandte einen Platz im Spital. Die Angehörigen der Oberschicht wurden hingegen in der Regel von der eigenen Familie versorgt. Auch Zünfte und Gesellenvereinigungen unterhielten im Spital einige Plätze für ihre Genossen. Im 15. Jahrhundert lassen sich entsprechend der Staffelung der Einkaufspreise, die nicht durchweg den Lebensunterhalt deckten, zwei oder gar drei Klassen von Pfründnern mit Unterschie-

den in der Rechtsstellung, der persönlichen Bewegungsfreiheit, der Bindung an die Hausordnung, den Ansprüchen hinsichtlich von Wohnkomfort, Verp egungsqualität, Bedienung und P ege unterscheiden.¹⁰⁵⁹ In Straßburg sollte nach einem Beschluss der Spitalp eger von 1523 im großen Spital, dem Mehreren Hospital¹⁰⁶⁰ eine ›Obere Pfründe‹ oder ›Herrenpfründe‹ nicht mehr unter 300 Schillingen (30 Gulden) zu haben sein, eine ›niedere Pfründe‹ oder ›Armenpfründe‹ für durchschnittlich die Hälfte, doch wurden diese Pfründner in Gemeinschaftsschlafsälen untergebracht, mussten sich mit einfacherer Kost zufrieden geben und hatten bei entsprechender körperlicher Verfassung Arbeitsdienste zu leisten. Das Straßburger Spital nahm 50 gesunde Pfründner auf. Bezahlt wurden die Spitalplätze nicht nur in bar oder mit Leibrenten, vielfach wurden Vermögenswerte entgegengenommen, die man nach ihrem Ertrag veranschlagte, oder es wurde der gesamte Besitz dem Spital vermacht, die Nutzung jedoch auf Lebenszeit vorbehalten. Auch konnte ein Teil des Preises durch Mitarbeit im Spitalbetrieb abgegolten werden, oder es galt grundsätzlich für Arbeitsfähige eine Mitarbeitsp icht. Sonderleistungen wie zusätzliche hochwertige Verp egung wurden gelegentlich vertraglich mit Leibrenten entgolten, mussten aber vom Rat genehmigt werden. Pfründner durften unter Bedingungen eigenes Gesinde mitbringen, das sich in die Spitalordnung einfügen musste. Der Almosenschaffner Lukas Hackfurt machte 1543 im Hinblick auf die Ansprüche der Pfründner der ›Oberstube‹ als Anwalt der armen Kranken geltend, es müsse vor allem die Versorgung der Kranken sichergestellt sein, da das Spital ›um der Kranken willen‹ gestiftet worden sei, und behauptete polemisch, die Mehrzahl der Pfründner kaufe sich ins Spital ein, weil ›sie fressen und sich mästen und ohne Zweifel viel zu sehr verwöhnt sein wollten‹. Die genau in ihren Bestandteilen

1059 U. D, Untersuchungen zu Einkommensverhältnissen und Lebenshaltungskosten (9.5–9.6), S. 477 ff., 526 ff. 1060 Wegen der Aussagedichte der Quellen zum Mehreren Hospital zu Straßburg wird im Folgenden vor allem auf dessen Ordnungen Bezug genommen. O. W, Das Fürsorgewesen der Stadt Straßburg, 2. Teil: Urkunden und Aktenstücke, Nrr. 2-5, 8-14.

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in täglichen Plänen für die Mahlzeiten geregelte und abwechslungsreiche Verp egung lag wohl über dem gewöhnlichen Durchschnitt, wie im Falle des üppigen, reichhaltigen und abwechslungsreichen Straßburger Speisenplans für die armen Spitalinsassen von 1468 für den normalen Spitalbetrieb. Dabei sollten Schwerkranke bei Unverträglichkeit von Speisen und besonderen Bedürfnissen auch andere Kost erhalten. Der Grundsatz der Unentgeltlichkeit kam nur noch eingeschränkt insoweit zur Geltung, als immer auch Plätze für Arme und Bedürftige, deren Zahl hoch sein konnte, für eine auf Krankheit und Bettlägerigkeit begrenzte Aufenthaltsdauer bereitgehalten wurden. Ferner wurden überwiegend nur noch Einheimische in das Spital aufgenommen. Eine Ausnahme machte etwa das große Straßburger Spital, das außerordentlich viele Fremde aufnahm. Wer nicht dauernd oder nicht mehr bettlägerig war, sollte sich selbst außerhalb des Spitals durch Almosenheischen versorgen. Das galt auch für Blinde, Lahme und andere Kranke, die trotz ihrer Gebrechen in der Lage waren, sich durch Betteln zu ernähren. Der Straßburger Rat wollte es nach einem Beschluss von 1500 nicht mehr dulden, dass trotz des Verbots Sieche aufgenommen wurden, die durch Umgang von Haus zu Haus Almosen heischen konnten, aber aus Scham dies nicht tun wollten. Kein Kranker sollte deshalb künftig ohne Beschluss von Spitalarzt, Schaffner und Meisterin aufgenommen, aber auch kein genesener Siecher ohne deren Erkenntnis, dass er gesund genug sei und die Luft draußen ertragen könne, entlassen werden, damit der Kranke nicht sofort wieder einen Rückfall erlitt. Arme Kranke, die keine häusliche P ege hatten und ohne Bezahlung um Gottes Willen im Spital lebten, wurden vor ihrer Aufnahme nach Vermögenslage und Lebensumständen befragt. Sie mussten ehrbar und unverschuldet in Not geraten sein. Arme Insassen hatten sich auch mit einer Doppelbelegung von Betten zufrieden zu geben. Dem Personal wurde auf seinen verschiedenen Ebenen verboten, von den Kranken Geld zu nehmen, die Küsterin war zur strikten Gleichbehandlung aller Armen

verp ichtet, reichere durften keine Vorzugsbehandlung erfahren. Der geringe Besitz, den die Kranken beim Eintritt abtreten mussten, ver el dem Spital, wenn sie darin verstarben. Es gehörte zu den ältesten Rechten und Privilegien des Straßburger großen Spitals, dass jeder, der in P ege genommen wurde, beim Eintritt in das Spital alle seine bewegliche Habe und seine liegenden Güter, die genau erfasst und verzeichnet wurden, dem Spital zu Händen des Schaffners überlassen musste. Selbst die Kapläne waren angewiesen, die Kranken bei ihrem Gewissen zu befragen, welche Güter sie im Spital und außerhalb besaßen. Der Kranke verlor darüber jedes Verfügungsrecht und durfte keine Bestandteile verschenken, verkaufen oder testamentarisch vermachen. Später wurden neben dem Vermögen auch Schulden und Forderungen in einem Erbebuch festgehalten. Starb der Insasse während seines Aufenthalts, el das Vermögen endgültig an das Spital und die Kranken als Erben, die jedoch für Schulden, die der Verstorbene außerhalb des Spitals gemacht hatte, nicht hafteten. Wurde der Kranke jedoch nach dem Urteil des Arztes, der Spitalmeisterin und des Schenken wieder gesund und verließ er das Spital, bekam er die eingebrachte Habe ohne jeden Abzug wieder zurück und erhielt obendrein einen Zehrpfennig und ein Brot. Für das Straßburger große Spital ist für den Bereich der armen Kranken (Siechen) in Fortschreibung von Teilordnungen des 15. Jahrhunderts eine um 1540 aufgezeichnete bemerkenswerte Ordnung überliefert, die von einer ungewöhnlichen Großzügigkeit bei der Aufnahme von Fremden und bei aller vernunftorientierten Pragmatik der Sparsamkeit von einem besonderen Einfühlungsvermögen in die prekäre Lage der Armen und Rücksichtnahme ihnen gegenüber aus einer christlichen Haltung heraus zeugt, aber auch einen beachtlichen P ege- und Hygienestandard vorgibt, der auch schon im 15. Jahrhundert erkennbar wird. In das Spital aufgenommen werden alle, die körperlich zu schwach oder krank und so arm sind, dass sie sich nicht mit Arbeiten oder Almosenheischen nicht selbst ernähren und versorgen

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können, und zwar niemand ausgenommen, es seien Männer, Frauen, arme Bürger und Bürgerinnen, Handwerksgesellen, Dienstknechte und Mägde, alle die kein eigenes Hauswesen haben, wer sie auch seien und woher sie auch kommen, seien sie Fremde oder Einheimische, wenn sie durch Gott von Krankheiten befallen sind. Vagierende Händler (Stationierer) und Landstreifer, die durch ihr Verhalten auf dem Lande aus eigenem Mutwillen verwundet oder geschlagen wurden, sollen vom Schenk, auch Siechenknecht genannt, ohne Wissen des P egers nicht angenommen, aber auch nicht grundsätzlich abgewiesen werden; über ihre Aufnahme entscheiden die P eger oder je nach den Umständen der Rat und die XXIer. Die an der Pforte um Aufnahme Bittenden sind mit Geduld, Sanftmut, Freundlichkeit und Barmherzigkeit in ihren Anliegen anzuhören und nach Anhörung ihrer Klagen und Würdigung der Umstände der Kranken freundlich abzuweisen oder bereitwillig aufnehmen; niemand soll grundlos und unwillig hinweggewiesen werden, alles soll auf das Freundlichste erfolgen und jedem soll geschehen, was die Notwendigkeit erfordert, damit dem Spital, keine Nachrede und Verunglimpfung entsteht. Das Armenspital wird als Gotteshaus verstanden, die Insassen werden als göttliche Gesellschaft bezeichnet, d. h. Gott anempfohlene Gemeinschaft, die in ihrem Betragen Ehrerbietung und Gehorsam zu erzeigen hat. Es soll im Spital nur Liebe zu Gott, keine eischliche und eitle Liebe herrschen, deshalb sind böse Freundschaften und entsprechende Verabredungen untersagt. Kranke sollen still in ihrem Bett bleiben, nicht hin- und herlaufen und Geschwätz und Getöse veranstalten sowie die Nachtruhe einhalten. Wem es langweilig ist, kann nützliche Arbeiten verrichten, wie etwa die Frauen spinnen, ohne jedoch dazu gezwungen zu sein. Jeder Unfriede, Zank und Streit untereinander und mit dem Personal sollen unterbleiben; verboten sind Zechereien, Trinkgelage und Spiel. Außerdem darf auf den Gassen nicht gebettelt werden. Der Speisenplan ist wie schon in der Verordnung von 1468 bemerkenswert abwechs-

lungsreich und reichhaltig. Er enthält in unterschiedlicher Zubereitung Fleisch und Fisch verschiedener Sorten, Eier, Käse, vielerlei Gemüse, Getreidemuß und Brot, gekochte Hühner für Kindbetterinnen und besonders Schwache; außerdem soll kräftigender Wein je nach dem individuellen Bedarf des Kranken gereicht werden. Auch sollen begründete Sonderwünsche erfüllt werden. Die Kranken werden andererseits angehalten, Nahrungsmittel nicht verderben zu lassen und davon nichts zu verkaufen, sondern was sie nicht mögen, wieder dem Spital zukommen zu lassen. Die teuren Arzneien sollen nicht unnütz verschwendet werden. Wer eine Arznei nicht will, soll es dem Arzt sagen; verordnete Arzneien sind nach Anweisung des Arztes zur rechten Zeit einzunehmen; damit die Arznei nicht unnütz vertan wird, hat man sich an die Essen und Trinken betreffenden Anordnungen des Arztes zu halten, stets eingedenk dessen, dass ›wir Gott Rechenschaft darüber geben müssen, wie wir seine Kreatur nutzen und gebrauchen‹. Alle vier Wochen ndet ein Bad mit Scheren, Aderlassen und Schröpfen statt; auf Kranke mit Geschwüren ist dabei Rücksicht zu nehmen. Wer nicht baden will, wird gewaschen. Dazwischen werden die Kranken alle 14 Tage nach dem Badetag, nach Bedarf aber auch früher, gewaschen. Die ganz Unreinen, die alles unter sich lassen, wäscht man täglich und legt sie sooft wie nötig trocken. Alle 14 Tage gibt es frische Bettwäsche und Tischtücher sowie Krankenhemden, damit die Kranken so sauber wie möglich gehalten werden. Tagsüber werden den Krankenstuben jeweils zwischen drei und zwei Mägde zugeordneten, der Stube, in der die am schwersten Kranken abgesondert liegen, vier Mägde. In jeder Stube hält sich ständig mindestens eine Magd auf. Der Nachtdienst wird von vier Mägden in zwei Schichten besorgt. Sie gehen von Bett zu Bett, fragen, was die Kranken wünschen, es handle sich um kochen, sie zu heben, legen, kehren oder zu wenden, sie zum Stuhl zu führen oder die Harnschüssel auszuschütten und zu säubern. Eine Magd, die Schüsselwäscherin, ist nur dazu abgestellt, die

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Schüsseln, Teller und dergleichen zu waschen, zu verwahren, zur Anrichte zu tragen und wieder einzusammeln. Eine verbesserte Ordnung der Spitalmägde von 1547 regelt die Tätigkeit der Mägde in allen Details bis hin zur Versorgung der Verstorbenen und den Neubezug deren Betten sowie das Verhalten der Mägde, denen insbesondere böse Gesellschaften mit Kranken und Gesunden, unnütze Worte beim Reden und zuchtlose Gebärden oder das Singen und Heulen schändlicher Lieder untersagt werden eingedenk dessen, dass sie Gott beim Jüngsten Gericht über jedes unnütze Wort Rechenschaft ablegen müssen. Der Straßburger Almosenaufseher Alexander Berner ermittelte 1531 auf seiner Erkundungsreise durch Oberdeutschland und die Schweiz folgende Belegungen von Spitälern und Blatternhäusern mit Kranken, Gesunden und Pfründnern. Im großen und schönen Nürnberger Spital befanden sich nach Geschlechtern getrennt jeweils 130 Frauen und Männer, wobei etwa 100 Frauen bei schlechter Betreuung in einem einzigen, von Gestank erfüllten Raum untergebracht wurden. Im Blatternhaus hielten sich 72 Pocken- oder Syphiliskranke auf. Das Augsburger Spital beherbergte 280 Personen, das Blatternhaus weitere 122. Das Ulmer Spital war mit 300 gut versorgten Kranken und Gesunden belegt, das Konstanzer Spital mit 60 Personen und das dortige Blatternhaus mit 40 Personen. Im Blatternhaus Memmingens befanden sich 12 Kranke. Nach Auskunft des Spitalp egers des Straßburger Mehreren Hospitals vom Februar 1544 befanden sich im Januar mit einem ungewöhnlichen Höchststand 205 arme Kranke im Spital, darunter drei Blinde und vier Epileptiker. Das Spital verfügte aber nur über vier Krankenstuben mit jeweils 51, 53, 33 und 15 Betten, insgesamt über 152 Betten; für weitere fehlten die Stellplätze. Wegen der Überfüllung mussten einige Betten doppelt belegt werden. Unter den armen Kranken befanden sich nur 40 Bürger, alle anderen waren Fremde. Im Jahr

beherbergte das Spital nacheinander etwa 800 oder 900 Kranke, davon verstarben etwa 100 Kranke während ihres dortigen Aufenthalts.¹⁰⁶¹ Einem Andrang war im 16. Jahrhundert auch das Blatternhaus ausgesetzt, weil viele auswärtige Kranke wegen des guten Rufs des Spitals nach Straßburg kamen. 4.10.1.3 Der Eintritt in das Spital und die geistliche Betreuung Wer in das Mehrere Hospital in Straßburg eintrat, tat dies mit Leib und Gut und hatte dort einen seine ganze Person erfassenden neuen Lebensmittelpunkt. Er musste sich der Spitalordnung unterwerfen, war zum Gehorsam gegenüber den Spitaloberen, zu friedlichem Zusammenleben mit den übrigen Insassen und zu ehrbarem Lebenswandel verp ichtet. Die Pfründner des großen Straßburger Spitals hatten in Angleichung an Lehns- und Untertaneneide zu geloben und zu versprechen, ›dem Spital getreu und hold zu sein, seinen Nutzen und seine Ehre zu schaffen und zu fördern, seinen Schaden zu warnen und zu wenden, soweit sie es können und vermögen‹.¹⁰⁶² Ehelosigkeit der Bewohner war üblich, sexuelle Beziehungen (böse Freundschaften) unter den Insassen waren verboten, Verehelichung nach Eintritt in das Spital ausgeschlossen. Ehepaare mussten sich einem Keuschheitsgebot unterwerfen, das aber zunehmend gelockert wurde. Pfründnern wurde anfangs des 16. Jahrhunderts untersagt, uneheliche Unkeuschheit mit Spitalpersonal oder Insassen zu treiben, und sie durften sich nicht ohne Wissen und Willen der höheren Stellen und des P egers verheiraten. Wenn sie es dennoch taten, sollte nur die Leistung für den Pfründner selbst erbracht werden, es sei denn der hinzukommende Teil kaufte für sich selbst eine Pfründe. Die geistliche Betreuung durch Spitalgeistliche, die geistliche Tröstung und die geistlichen Übungen, zu denen alle Insassen verp ichtet waren, stellten einen wesentlichen Zweck des Hospitals dar. Die geistlichen Dinge und Belan-

1061 O. W, Urkunden und Aktenstücke, Nr. 14, S. 37, 39. 1062 O. W, Urkunden und Aktenstücke, S. 16.

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ge (Spiritualia) des Spitals blieben in der Hand der geistlichen Institution; ungeachtet der städtischen Verwaltung des weltlichen Bereichs blieb das Spital immer auch eine kirchlichsakrale Einrichtung, doch erließ der Rat im Spätmittelalter detaillierte Ordnung für den geistlichen Bereich und die Aufgaben der Spitalgeistlichen. Das Spital besaß eine geistlichweltliche Doppelfunktion; zur Beherbergung und Krankenp ege trat zumindest gleichgewichtig die spirituelle Versorgung hinzu. Der Straßburger Münsterprediger Geiler von Kaysersberg stellte einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Sünde und Krankheit her und verlangte deshalb vor dem Eintritt in das Spital das Ablegen der Beichte. Nach theologischspirituellem Verständnis war Krankheit jedoch nicht nur Folge von Sünde, sondern konnte auch göttliche Prüfung, sogar Gnade und Auszeichnung sein. Der Gesichtspunkt der klinischen Hospitalp ege im neuzeitlichen Sinne war untergeordnet; das Spital war nur bedingt ein Versorgungskrankenhaus, doch wissen wir wenig darüber, seit wann generell die ärztliche Betreuung und der Aspekt der Heilung, der das Verlassen des Spitals ermöglichte, stärker hervortraten. Die Insassen hatten laut Spitalordnung täglich die Predigt zu hören und die Sakramente zu empfangen. Auch im Falle eines Interdikts über Bürger und Stadt durften in Straßburg jedenfalls Gottesdienste im Spital abgehalten werden. Die Spitalkapläne hatten gemäß der Straßburger Ordnung aus dem 15. Jahrhundert die Kranken zu ermahnen, die Beichte abzulegen und die Kommunion zu empfangen. Wer dem nicht nachkam, den sollte man nicht betten und ihm weder zu essen noch zu trinken geben, ›denn wer die leibliche Speise im Spital nehmen will, der soll auch die Speise der Seelen empfangen‹. Noch die Ordnung des großen Spitals von 1540 verlangte von dem Kranken, dass er sich, sofern er es konnte, täglich zur Predigt begab, die Kommunion emp ng, die Kapläne ansprach und ›mehr nach dem Seelenheil forschte und fragte, als nach leiblicher Nahrung und eischlicher Gesundheit‹ ; die Re-

de ist von der ›Arznei der Seele‹ und der ›Arznei des Körpers‹. Den Kranken sollte es stets möglich sein, von ihrem Lager aus am Gottesdienst teilzunehmen. Sofern der Altarraum nicht im Spitalsaal integriert oder gar ein Altar in der Mitte der Halle errichtet war, konnte eine Türe zum Kapellenraum geöffnet werden. Die Spitäler besaßen teilweise mehrere gestiftete Altäre. Die Gebete der Armen für das Seelenheil ihrer Wohltäter waren eine Gegenleistung für karitative Zuwendungen. Die Straßburger Küsterin oder Obermagd, die der Spitalmeisterin unterstand und der die unmittelbare Aufsicht über das Gesinde und P egepersonal sowie über die Kranken oblag, hatte nach der Ordnung aus dem 15. Jahrhundert die Lebensmittelvorräte und deren Zuteilung zu überwachen und darauf zu achten, dass das Gesinde die Kranken richtig bettete, hob und legte, sie wusch, den Abwasch des Geschirrs und anderer Gebrauchsgegenstände und die Wäsche des Bettzeugs sowie der Leibwäsche von Kranken besorgte und für sie kochte. Sie hatte aber auch Tag und Nacht bei Sterbenden zu wachen, damit keine Nachrede aufkam, dass niemand bei ihnen sei; sie hatte ihnen vorzubeten, sie an Gott zu gemahnen und rechtzeitig den Kaplan aufzufordern, sie mit den Sterbesakramenten zu versehen. Sie sollte aber auch, wenn ein Mensch in Todesnöten und am Sterben war, dessen Fahrhabe an Gold, Geld, Kleinodien sowie großen und kleinen geldwerten Dingen an sich nehmen und nach dem Tod unverzüglich dem Schaffner, die Kleider aber der Spitalmeisterin aushändigen sowie der Schreibstube den Namen, Zunamen und Herkunftsort des Verstorbenen mitteilen. Später sollte die Vermögensaufnahme schon beim Eintritt in das Spital erfolgen, damit derjenige, der sich in Todesnöten befand, nicht mit weltlichen Angelegenheiten bekümmert wurde. Den drei Kaplänen des großen Spitals schrieb der Rat mit penibler Genauigkeit ihre seelsorgerischen Aufgaben mit Hören der Beichte, Spendung der Kommunion, Frühmessen, Vesper, Tischgebeten, Metten, gestifteten

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Seelmessen und täglichen Messen und den Kirchengesang mit einer Mindestzahl an Choristen vor und ermahnte sie, andächtig, nicht zu schnell oder zu langsam zu lesen und zu singen. Sie mussten sich auch über Nacht im Spital aufhalten und durften nur ausnahmsweise mit Erlaubnis des Schaffners außerhalb bleiben; außerdem wurde ihnen bei Strafe der sofortigen Entlassung der unziemliche Umgang mit Spitalmägden verboten. Diese sittlich-disziplinarische Maßgabe wurde auch in die Ordnung für die Kapläne nach der Reformation übernommen und durch die Forderung nach einem unanstößigen Umgang mit allen Menschen im Spital und außerhalb ergänzt, da sie als Vorbilder dienten und andere lehren sollten, Ärgernis zu vermeiden und das zu tun, was gottgefällig ist. Nach der Reformation wurde sofort eine Reform des Gottesdienstes im Spital vorgenommen. Es blieb aber jedem überlassen, ob er die Kommunion in beiderlei Gestalt oder nur einfach empfangen wollte. Da die Sterbesakramente nach reformatorischer Lehre ent elen, rückten die Verkündigung der Evangelien, die Lesung aus den Apostelbriefen, die Auslegung der Prophetenworte und die Unterweisung der Kranken im Glauben ganz in den Vordergrund mit dem Ziel, dass die Kranken ihr Leben besserten und alles vermieden, was nicht der Schrift gemäß war. Vor allem sollten die Kapläne aus der heiligen Schrift und den Verheißungen Gottes und Christi Trost und Rat zusprechen und ihnen – anstelle der Beichte – das unzweifelhafte Vertrauen vermitteln, dass ihnen Gott um des Todes Christi willen Unrecht und Übertretungen der Gebote Gottes verzeihen werde, wenn sie diese vor Gott bekennten und mit Eifer von Herzen Gnade und Verzeihung begehrten. In tröstlichen Einzelgesprächen sollten die Kranken gelehrt werden, das Kreuz Christi, der in sein Reich durch sein Leiden eingehen musste, mit Geduld zu tragen, da der Weg des Kreuzes der rechte Weg zum Himmel sei. Die Kapläne sollten den Kranken, die ihnen Gewissenszwei-

fel eröffneten, gemäß der Schrift Rat erteilen und hatten ihnen Tag und Nacht mit Trost beizustehen, sooft es erforderlich war, aber jeden Tag unaufgefordert die Kranken zu visitieren und zu sehen, wie sie sich hielten. Außerdem hatten die Kapläne ein Buch zu führen, in dem der Name des ankommenden Kranken, sein Herkunftsort, sein Handwerk, das Datum von Ankunft und Verlassen des Spitals oder das Datum seines Todes aufgezeichnet wurde, damit auf Nachfragen hin Antwort gegeben werden konnte. 4.10.1.4 Die geordnete Lebenswelt des Leprosenspitals Die Leprosorien unterstanden der kirchlichen Jurisdiktion, es galt für sie das kanonische Recht, auch wenn ihre Verwaltung in städtischer Hand lag. Die nicht sehr zahlreichen Insassen bildeten unter einem Leprosenmeister eine bruderschaftliche Vereinigung zu gemeinsamem Leben und lebten in Gütergemeinschaft. Sie trugen gleichförmige graue Gewänder und hatten sich mit Klappern oder Glocken bemerkbar zu machen, damit ihnen Gesunde aus dem Weg gehen konnten. Stadtärzte entschieden bei der Lepraschau über die Einweisung von Lepraverdächtigen in Leprosorien; an der Lepraschau zur Feststellung der Krankheit und der Betreuung der Kranken waren auch Barbiere und Bader beteiligt. Die buchförmige Ordnung des Leprosenspitals vor der Stadt, der guten Leute des Hofs zur Roten Kirche zu Straßburg¹⁰⁶³, das im Pfründnerstatus den seit zehn Jahren eingesessenen Vollbürgern und später auch Schultheißenbürgern vorbehalten war, zeigt im 15. Jahrhundert das Spital als eine hochreglementierte und wohlorganisierte eigene Lebenswelt mit Regelung der Gottesdienste, der Hand- und Fußwaschung an Gründonnerstag, der obligatorischen, bußenbewehrten Gebetsverrichtungen, mit Vorschriften zum obligatorischen eigenen Hausrat der Pfründner, einer Hausordnung, eigenem Hofrecht (Recht und Gewohnheit) und

1063 J. B, Straßburger Zunft- und Polizei-Verordnungen (4.2.2–4.2.3), S. 31–81.

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interner Gerichtsbarkeit sowie mit städtischen Bestimmungen zum Erbrecht und Verwaltungsvorschriften. Vielfach geht es um isolierende Maßnahmen und die Regulierung des Kontaktes zwischen Siechen, den guten Leuten, und Gesunden, die zum Unterschied von den körperlich entstellten Erkrankten schöne Menschen oder Schöne genannt werden. Eine Eheschließung unter Kranken ist untersagt. Vieles an kommunalem Ordnungs- und Polizeirecht ndet sich entsprechend auf dem Hof wieder. Lärm mit Musikinstrumenten ist verboten. Das Bußenund Strafrecht, das in schweren Fällen die Verweisung vom Hof vorsieht, erfasst Verbal- und Realinjurien, Diebstahl, Körperverletzung bis zu einfachem Blutaustritt (Blutrunst). Verwundung und Totschlag ziehen interne Rechtsfolgen nach sich, sind aber unverzüglich dem Rat, dem die Verhängung weiterer Strafen vorbehalten ist, zu melden. Das höhere Spitalpersonal ist zum Aussprechen eines Friedegebots ermächtigt. Im Falle von Blasphemie und Unzucht gilt eine strenge Denunziationsp icht. Es herrscht ein völliges Spielverbot. Kleiderordnungen verbieten den Männern kurze Röcke, den Frauen entblößende Kleidung. Unter Strafe verboten sind Unzucht der Kranken untereinander, der Verkehr mit fahrenden Prostituierten, Buhlschaften mit Gesunden, Kuppelei, intime Berührungen von andersgeschlechtlichen Gesunden sowie unzüchtige Reden und Lieder. Bestraft wird, wer Gesunde des Aussatzes bezichtigt. Hygienevorschriften betreffen die Entsorgung von Fußwasser, gebrauchten Tüchern, Binden, P astern und Harn zum Schutz der Gesunden, ferner die Reinhaltung von Wasser zum Kochen oder das Verbot, morgens und abends Tücher an Orten heiß zu waschen, an denen gekocht wird, damit die Speisen nicht verunreinigt werden. Handel und Handwerk sowie der Verkauf von Produkten sind im Interesse der Gesunden verboten; erlaubt ist hingegen der Weinausschank unter Kranken zu Gewinn und Verlust. Geregelt wird der Besuch von Ehegatten und Kindern, aber auch von frem-

den Aussätzigen. Beim Ausgang in die Stadt, der dienstags und donnerstags nicht erlaubt ist, sind grauer Mantel und Filzhut vorgeschrieben, Frauen haben graue Kugelhüte zu tragen. Es gibt in der Stadt Verbotszonen, für bestimmte Märkte wegen des herrschenden Gedränges Verbote an Markttagen, und vorgeschriebene Wegstrecken. Beim Marktkauf dürfen die Kranken keine Lebensmittel berühren, Gesunde sollen für sie kaufen. Der Ertrag der armen Siechen, die in der Stadt mit Schellen, Körben und Büchsen in der Stadt bettelten, ist mit den Zurückgebliebenen zu teilen. Der Hof ist aber nicht strikt den Siechen vorbehalten. Auch Gesunde können sich als Pfründner einkaufen und in besonderen Häusern auf dem Hof leben, um dort ›ihr Leben zu beschließen‹. 4.10.1.5 Grundbesitz und Kapitalvermögen des Spitals In vielen Städten war das Spital größter Träger ländlichen Grundbesitzes, der teilweise verstreut gelegene Ländereien mit weitgehenden Eigenwirtschaften und Versorgungshöfen umfasste, die erst durch das Spital zu einer großen Wirtschaftseinheit zusammengeschlossen wurden. Dadurch und durch seinen Reichtum an Kapital, den die bürgerlichen Stiftungen, testamentarische Verfügungen, Ablässe von Päpsten, Bischöfen und Konzilien für Wohltäter der armen Kranken, Spenden in den Opferstöcken der Kirchen und – allerdings wohl kaum von größerer Bedeutung – die anfallende Hinterlassenschaft im Spital Verstorbener erhalten oder ständig anwachsen ließen, stellte das Spital einen ökonomischen Faktor ersten Ranges dar, den die Verwaltung der P eger auch in das städtische Wirtschaftsleben zu integrieren und diesem nutzbar zu machen hatte. Spitalgut war zwar nicht Kirchengut im eigentlichen Sinne, aber es stand unter kirchlichem Rechtsschutz und durfte dem Stiftungszweck nicht mehr entzogen werden. Bürgerliches Vermögen, das im Spital angelegt war, genoss deshalb eine privilegierte Rechtsstellung, es konnte als unantastbar und gegen entfremdende Angriffe geschützt gelten. Gleichwohl stand es infolge der hoheit-

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lichen Verwaltung durch den Rat städtischem Ein uss und städtischen Nutzungsanforderungen offen. In einer Reihe von Städten bestand das städtische Territorium und Landgebiet überwiegend oder fast ausschließlich aus Spitalbesitz. Das Spital war – neben der Kirche – der große Darlehensgeber im Renten- und Hypothekengeschäft. Der Frankfurter Rat sah sich 1425 veranlasst, seine Maßnahmen im Kampf gegen die Konzentration innerstädtischen Grundbesitzes und gegen die übermäßige Verschuldung der Bürger durch Renten- und Zinsbelastung beim Klerus auf die städtischen Spitäler auszudehnen. Über die privaten Kreditbeziehungen hinaus wurde das Spital in bankähnlicher Funktion zum Kreditgeber für die Stadt selbst. Nicht immer ganz freiwillig gab das Spital der Stadt Darlehen zu einem niedrigen Zinssatz oder zinslos. Dabei konnte es vorkommen, dass der Rat beim Spital zu einem niedrigen Zinssatz Anleihen machte und die aufgenommenen Kapitalien zu einem höheren Zins wieder auslieh. In einigen Fällen hatte das Spital auch bürgerliche Lasten mitzutragen und für seine Güter Verkehrssteuern zu entrichten. Die landwirtschaftliche Produktion der Spitalwirtschaften gab dem Rat die Möglichkeit, in Notzeiten die Kornvorräte für die Versorgung der Bevölkerung oder für Interventionen auf dem Markt zur Preissenkung zu nutzen. Dem Spital wuchsen seit dem 14. Jahrhundert durch Stiftungen neben Grundbesitz auch Kapitalien zu, für die es nur beschränkte Anlagemöglichkeiten gab. Ein großer Teil der Gelder wurde für den Erwerb von Grundbesitz mit Eigenwirtschaft verwendet. Die Verwaltung und Bewirtschaftung des Spitals und seiner Güter verschlangen infolge von Personalkosten, Betriebs- und Investitionskosten einen erheblichen Teil des Ertrags und der Einkünfte, sodass für den eigentlichen Stiftungszweck, die soziale Fürsorge, verschiedentlich nur noch ein Bruchteil der Einnahmen zur Verfügung stand.

4.10.1.6 Die P egschaft des Rats – Verwaltung und Bewirtschaftung des Spitals Der Rat übte die oberste Aufsicht über das Spital aus, erließ Statuten und Ordnungen, bestellte die von ihm abhängigen Spitalp eger und den Spitalmeister, besaß ein höchstes Entscheidungsrecht in wichtigen Angelegenheiten des Spitals oder wenigstens ein Einspruchsrecht bei der Vergabe der Spitalplätze und hinsichtlich der Verweildauer der Insassen, und er ernannte vielfach den Spitalgeistlichen. Der Rat selbst oder eine Ratskommission konnten jederzeit in den Betrieb des Spitals eingreifen und Tätigkeiten an sich ziehen. Die Vermögensverwaltung behielt der Rat entweder selbst in Händen oder er beaufsichtigte die Geschäftsführung der ihm rechenschaftsp ichtigen Spitalp eger. Zwischen dem die Aufsicht führenden Rat und dem Spitalmeister oder Schaffner, der unmittelbar die Geschäfte des Spitals führte und es rechtlich vertrat, standen die P eger, von denen der wissenschaftliche Ausdruck »P egschaftsverfassung« für die gesamte Verwaltungsorganisation des Spitals abgeleitet ist. Meist wurden zwei P eger bestellt, die vom Rat mit der Möglichkeit der Wiederwahl auf ein Jahr gewählt wurden. Häu g waren die P eger selbst Ratsmitglieder, zumindest war es einer von ihnen. Gelegentlich räumte man den Stiftern ein Mitspracherecht bei der Bestellung der P eger ein, oder es war Zunftzugehörigkeit Bedingung für das Amt. Die P eger waren mit der Vermögensverwaltung beauftragt, sie kontrollierten und überwachten das Spitalpersonal, die Versorgung der Insassen und die Einhaltung der Spitalordnung, führten Visitationen durch und ahndeten Ordnungsverstöße. Dem meist auf Lebenszeit bestellten Spitalmeister oder Schaffner, der den Weisungen von Rat und P egern unterworfen war, oblag die Wirtschaftsführung sowohl im Haus als auch auf den Landgütern, über die er Buch führte und Rechnung legte, und die Durchführung der Krankenp ege. Unterstützt wurde er von seiner Frau und dem Spitalschreiber; eventuell gab es Zinsmeister und Kellermeister.

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Der P egedienst bot neben männlichen Wärtern vor allem Frauen Beschäftigungsmöglichkeiten; teilweise konnten sie dabei einen Pfründnerplatz für das Alter erwerben. In Straßburg führte seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert im großen Spital die Meisterin des Spitals, die dem Schaffner unterstand, die Oberaufsicht über Gesinde, das P egepersonal und die Kranken, sah nach dem ordnungsgemäßen Zustand der Betten und der Bettwäsche und überprüfte die Berechtigung der Insassen zum Aufenthalt im Spital, während die von ihr angewiesene Küsterin oder Obermagd unmittelbar Aufsicht führte und bestimmte gehobene Dienste leistete. Eher selten und spät war ein Arzt eigens am Spital angestellt, vielfach wurden Stadtärzte herangezogen. Der Arzt visitierte die Kranken, indem er von Bett zu Bett ging und medizinisch-p egerische Maßnahmen und Arzneien verordnete. Ärzte wurden zu Sparsamkeit angehalten und verp ichtet, unnötige Behandlungen und Arzneien aus Kostengründen zu vermeiden. Arzneikräuter sollte nach Möglichkeit selbst angebaut und nur ganz spezielle gekauft werden. Es hing von der Größe des Spitals ab, inwieweit es sich eigenwirtschaftlich versorgte und eigene Müller, Bäcker, Brauer oder Küfer samt Hilfspersonal unterhielt. Für die ländlichen Spitalgüter waren Hof- und Ackermeister verantwortlich, denen wiederum Gesinde zur Seite stand. 4.10.1.7 Kritik am Spitalbetrieb Spitalordnungen des Spätmittelalters und des frühen 16. Jahrhunderts zeigen einen durchdachten und wohlgeordneten Spitalbetrieb, wie er im Alltag und in Krisenzeiten kaum zu verwirklichen war. In Würzburg klagte Sigmund Meisterlin in einer Predigt, die P eger betrieben Kaufmannschaft mit Spitalgeldern, Betten stünden im Spital leer und es würden nur Reiche aufgenommen. Vom Rat deswegen zur Rede gestellt, war er zu einem Widerruf von der Kanzel herab nicht bereit.¹⁰⁶⁴

In Straßburg drängte der Münsterprediger Geiler von Kaysersberg an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert in Ergänzung seiner Vorschläge für das Bettlerwesen das Stadtregiment in gewohnt überspitzter Kritik zu reformerischen Maßnahmen auf dem Gebiet des kommunalen Fürsorgewesens, das große Mehrere Hospital betreffend, das bis zum Kauf eines Waisenhauses 1432 auch für die Waisen- und Findelkinder zuständig war.¹⁰⁶⁵ Er beanstandete eine ungerechte Aufnahmepraxis, bei der krankes Gesinde eines Mächtigen aufgenommen, Gesinde einfacher und armer Bürger hingegen auf einem Karren auf eigene Kosten wieder heimgeschickt werde, im Einzelfall die unbarmherzige Abweisung eines Fremden und lenkte den Blick auf den ursprünglichen Gründungs- und Stiftungszweck, die P ege der Armen und Siechen. Er beklagte an Missständen die Verp egung Todkranker mit zu schwerer Kost, unhaltbare hygienische Praktiken wie die Darreichung von Brot in Schüsseln, die durch vorherigen Gebrauch mit Waschwasser, Fäkalien und Urin verunreinigt waren, und den allenthalben herrschenden Gestank, ferner dass die häu g betrunkenen, schreienden und prassenden Wärter die armen Leute wie Vieh behandelten. Der Prediger schlug daher vor, die von ihm gelegentlich verunglimpften Beginen mit der Krankenp ege zu beauftragen, da sie die Siechen liebevoller versorgten. Ferner forderte er das Spital auf, sich um die hilfsbedürftig auf der Straße liegenden und vom Tod durch Erfrieren bedrohten Syphiliskranken zu kümmern. Seine umfangreichen organisatorischen Eingaben an den Rat führten 1503 zur Einrichtung eines Blatternhauses für die bis dahin nur schlecht untergebrachten und versorgten Syphiliskranken. Darüber hinaus berührte Johannes Geiler eine grundsätzliche Frage des Almosen- und Stiftungswesens, nämlich den Umfang der tatsächlichen Verausgabung der zur Verfügung stehenden Mittel. Das Spital, das zweimal so viel wie die Münsterfabrik und mehr als das ganze Münsterstift

1064 K. T, Stadt und Kirche (5), S. 71. 1065 R. V, Wie der Wächter auf dem Turm (5), S. 583–613.

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besitze, solle nicht ängstlich große Rücklagen für Krisenzeiten bilden, Gülten und Zinse erwerben und große Wein- und Kornvorräte anlegen, sondern die Mittel im Vertrauen auf Gott für die Armen und Siechen ausgeben, wodurch auch in der Bevölkerung die Bereitwilligkeit zu spenden, gesteigert werde. Die Spenden, Almosen und Vorräte seien ausschließlich zugunsten der Armen und Siechen zu verwenden; sie dürften nicht zu einem Teil als großzügige Geschenke an die Verwalter des Spitals oder wichtige Persönlichkeiten gelangen. Er kritisierte auch, dass der Schaffner mit Teilen der Geldspenden die Ausrichtung der Gottesdienste und Messen nanziere, und beklagte, dass die Schaffner den Betrieb abschirmten und ihm keinen Einblick gewährten, als er sich erkundigen wollte, ob es zutreffe, dass das Spital jeden verstorbenen Insassen beerbe. In dem Almosenschaffner Lukas Hackfurt fand der Münsterprediger einen Nachfolger in der scharfen Kritik am Betrieb des großen Straßburger Spitals. Gestützt auf Aussagen genannter Personen stellte er in einem Memorandum von 1543 an die P eger des Spitals in Auseinandersetzung mit der 1540 aufgezeichneten Spitalordnung Missstände des Spitalbetriebs zusammen, worauf der Spitalp eger ausführlich antwortete und Hackfurt wiederum replizierte.¹⁰⁶⁶ Der Almosenschaffner beanstandet, dass das Spital nicht jeden Kranken, darunter bettlägerige aufnehme, worunter sich Blinde, mit Hautkrankheiten und Schwären behaftete Räudige, von der Syphilis Gelähmte und mit verheilten Blattern Gezeichnete oder Epileptiker befänden. Verschiedentlich sei es geschehen, dass man Personen, die noch nicht ganz am Hinscheiden waren und von denen nicht viel zu erben war, lange habe warten lassen, andere mit langwierigen, aber nicht tödlichen Krankheiten habe zu Pfründnern machen und törichte Leute ohne Heimstätte nicht habe behalten wollen. Er kritisierte ferner die unfreundliche Behandlung ankommender Kranker, Nebenkosten für diejenigen Kranken, die normale Kost nicht ver-

trugen, die Verwendung verdorbener Lebensmittel wie fauler Heringe und schlechter Fische oder die Zubereitung von Speisen mit Schweineschmalz statt mit Butter. Schwache würden zu früh, wenn sie wieder essen und trinken könnten, entlassen und fänden nach dem vorhersehbaren Rückfall kaum wieder Aufnahme, andere blieben länger als nötig im Spital. Das Erbprivileg des Spitals entziehe noch nicht erwachsenen jungen Kindern das Erbe der im Spital verstorbenen Eltern; wenn ein Ehepartner ins Spital komme, verliere der andere das häusliche Bett. Außerdem beanstandete er, dass das Spital als Erbin zum Schaden armer Gläubiger nicht auch für die Schulden Verstorbener wenigstens bis zur Höhe des Erbes hafte, und brachte den sonst üblichen, billigen Grundsatz in Erinnerung: ›willst Du erben, so sollst Du auch gelten oder davon abstehen und das Erbe den Schuldnern überlassen‹. Ererbte Lumpen und Kleidungsstücke verkaufe das Spital oder lasse sie verrotten, anstatt mit ihnen den Armen eine Wohltat zu erweisen. Nur die Barmherzigkeit sei ein Fundament von Spital, Fremdenherberge, Gutleutehäusern, Blatternhaus, Waisenhäusern und des gemeinen Almosens. Hackfurt ließ durchblicken, dass die großen Kosten nicht Schuld der Kranken seien. Er regte im Sinne einer exiblen und großzügigen Handhabung der Spitalordnung an, den Spitalmeister oder Spitalvater nicht mit ängstlichen, genauen Ordnungen zu binden, sondern ihm eine freie Hand zu lassen und ihm dabei zu vertrauen. Ferner verlangte er eine Aufstockung des Verwaltungs- und P egepersonals und eine bessere Entlohnung sowie eine solche nach Leistung, dann bekomme man auch geeignetere Kräfte, denn ›liederlich geringer Lohn bringt auch liederliches und unnützes Gesinde‹. Der Spitalp eger antwortete Punkt für Punkt. Nur einige Erwiderungen seien hier angeführt. Er machte den begrenzten Raum, die begrenzte Bettenzahl und die tatsächliche Überbelegung des Spitals geltend, worauf Hackfurt anregte, wie in Italien und in niederdeutschen

1066 O. W, Urkunden und Aktenstücke, Nrr. 13 f., S. 33-45.

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Landen die Kirche und den großen Platz zu nutzen. Die Aufnahme ins Spital erfolge ohne Ansehen des Vermögens. Die Syphilitiker gehörten ins Blatternhaus und verheilte Blatternarben würden wieder aufbrechen. An Epileptikern gebe es derzeit vier oder fünf, und ihre Unterbringung in den allgemeinen Krankenstuben mache Schwierigkeiten, da sie durch ihr Niederfallen, Schreien und Umsichschlagen die übrigen Kranken verstörten. Man könne die Mägde kaum dazu bringen, die Räudigen mit ihren Hautkrankheiten, entzündeten Armen und Beinen sowie Kranke mit offenen Blatternschäden zu p egen, da sie fürchteten, sich daran zu verunreinigen und die Krankheit zu erben. Dem Vorwurf der Unfreundlichkeit wurde damit begegnet, dass sich viele Kranke mit ihren herrischen Wünschen wie im Wirtshaus aufführten und mit Schmähungen und Scheltworten Befehle erteilten, sodass das arme Gesinde lustlos, widerspenstig und unwillig werde. Viele Kranke hätten hinsichtlich der Kost die verschiedensten Sonderwünsche und beschwerten sich, wenn sie nicht erfüllt würden, seien unbescheiden oder wollten auch das haben, was den Schwerkranken gekocht wurde. Was die monierten Entlassungen anlangt, wollten viele, die Gesund geworden seien, im Spital ihr Leben lang essen und trinken, lieber im Spital bleiben als draußen arbeiten, obwohl jeder seinem Beruf nachgehen sollte; Widerspenstige müsse man eben wegschicken. Zuweilen brächten arme kranke Frauen junge Kinder mit, doch könne man sie bei den Kranken nicht dulden und sie auch nicht betreuen, während es Mühe bereite, sie im Waisenhaus unterzubringen. Entlassen werde, wer so viel Gesundheit erlangt habe, dass er sein Brot und seine Kost mit seiner Arbeit selbst erwerben könne, oder derjenige, dem ein weiterer Aufenthalt im Spital mehr schade als nütze, wenn er nur im Bett bleibe und seinen schwachen Ma-

gen mit Essen und Trinken überlade. Diejenigen, die sich widerspenstig aufführten, könnten nur bestraft werden, indem man sie wegschicke. Als christlich Maxime hielt Hackfurt den Beschwerden gegen die Kranken entgegen, ›man solle auch die Unbescheidenen und Unwürdigen ihre Not nicht entgelten lassen; es sei wahr, dass vielleicht der größere Teil des Spitals und des Almosens nicht würdig sei, aber doch dessen notdürftig‹. 4.10.2 Almosen und Bettel 4.10.2.1 Caritas und Sozialfürsorge Das Spital wie das Almosen, die zweite Hauptform karitativer Zuwendung, gründeten auf der Stiftungs- und Spendenbereitschaft der Bürger. Die kirchliche Lehre, d. h. die scholastische Doktrin, die Predigt- und die Bußliteratur, propagierte ein Armutsideal der demütigen Besitzund Bedürfnislosigkeit und befasste sich eingehend mit den Komplementärerscheinungen von Reichtum und Über uss, mit Armut und Mangel (Bedürftigkeit). Die scholastische Lehre unterscheidet den Bedarf (sustentatio) gestuft nach dem (a) Lebensnotwendigen, dem festen Maß an äußeren Gütern, das der Mensch zur Erhaltung seiner natürlichen Existenz braucht (Existenzminimum), (b) dem Standesnotwendigen, dem verschiedenen Maß an Gütern, dessen der Mensch zur Erfüllung seiner jeweiligen Rangstellung in der gradualistischen Gesellschaftsordnung bedarf, und (c) dem Über uss (super uum), der gemäß dem christlichen Gebot der caritas und der naturrechtlichen Sozialgebundenheit des Eigentums strikt zum Almosengeben verp ichtet.¹⁰⁶⁷ Ähnliche Kategorien wurden im Übrigen für die Frage der steuerlichen Belastung und der Ermittlung der Schwere des steuerlichen Opfers gebildet.¹⁰⁶⁸

1067 T. F, Städtische Armut und Armenfürsorge, S. 27 ff., 147. Im ausgehenden 15. Jahrhundert wurde der Standesbedarf von eologen dahingehend erweitert, dass sie in ihn die Möglichkeit zum ständischen Aufstieg einbezogen und damit die Anhäufung von Besitz für die Zukunft gestatteten. Immer noch wichtig: G. R, Geschichte der kirchlichen Armenp ege; G. U, Die christliche Liebestätigkeit. Zu Anteilen der Unterschichten und Armen an der Gesamtbevölkerung siehe 7.3. 1068 E. I, Prinzipien, Formen und wirtschaftliche Auswirkungen von Besteuerung (4.8), S. 179 f.

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Die Almosenspenden und Sozialstiftungen der Bürger hatten ein entscheidendes subjektives und religiöses Grundmotiv, hinter dem die objektive soziale Fürsorge für den Bedürftigen zurücktrat: Sie dienten, indem sie den Armen zur Fürbitte für den Spender verp ichteten und durch ihre Verankerung in Bußsakrament eine Sündenstrafen tilgende Kraft besaßen, der Heilsgewinnung und ließen jenseitigen Lohn erhoffen. Das Seelenheil förderten aber nicht nur Almosen, sondern auch die anderen frommen Stiftungen (ad pias causas) wie solche für den Kirchenbau, ein Kloster, einen Bettelordenskonvent, das Spital oder eventuell auch für Beginenhäuser. In den bürgerlichen Testamenten¹⁰⁶⁹ und Seelgeräten des 14. und 15. Jahrhunderts standen derartige Stiftungen vielfach an erster Stelle und machten den Hauptteil der Legate aus; es fehlten aber selten geringerwertige Legate für Almosenspenden, deren Verwaltung zunächst traditionell geistlichen Institutionen übertragen wurde. Zu den Stiftungen gehörten auch spezielle Aussteueralmosen für arme Jungfrauen in einer Höhe von 10 bis 20 Gulden, ferner Almosen für Kindbetterinnen, um den Wöchnerinnen über die Zeit, in denen sie nichts verdienen konnten, hinwegzuhelfen. Der Nürnberger Rat ließ bedürftigen Kindbetterinnen nach den körperlichen Anstrengungen der Geburt Wein zur Kräftigung ihrer Gesundheit ins Haus schicken. Die Vielzahl von Almosenstiftungen, der Stoff- und Kleider-, Geld- und Naturalspenden, war nicht geeignet, der strukturellen Bedürftigkeit wirkungsvoll abzuhelfen.¹⁰⁷⁰ Die Almosen zielten in ihrer Eigenschaft als Almosen nicht grundsätzlich auf eine gründliche Besserung der sozialen Lage der Bedürftigen, sondern auf die Linderung der Not. Die Verteilung erfolgte in

der Regel in geringen Einzelbeträgen und in großen zeitlichen Abständen, oft nicht zu aktuellen Notzeiten wie im Winter, sondern am Todestag des Stifters. In Hildesheim richtete ein Patrizier für sein Totengedächtnis am dreißigsten Tag nach dem Tode eine Almosenspende zur Speisung von 1 000 Armen ein. Es fehlten zunächst ein Überblick über Art und Ausmaß der Notsituation, an Koordinierung und an einer Fondsbildung als Voraussetzungen für einen effektiven und rationellen Einsatz der Mittel. Vereinzelt wurden schon im 14. Jahrhundert neben geistlichen Institutionen auch Bürger und der Rat zu Stiftungsverwaltern eingesetzt. Das römische Recht, das im Reich rezipiert wurde, bot einen gelehrten Anhaltspunkt für die P icht der weltlichen Obrigkeit zu geregelter Armenfürsorge (Codex 1.2.12.2), vermittelte aber auch den Begriff des körperlich gesunden und arbeitsfähigen, des ›starken Bettlers‹ (mendicus validus). Erst seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert legte der Rat bis dahin selbständige private Stiftungen zusammen, bis dann im 16. Jahrhundert insbesondere in reformierten Städten durch die Säkularisierung von Kirchen- und Klostergut eine Zentralisierung des Almosens vorgenommen wurde. Mit der Statuierung einer Arbeitsp icht für gesunde Bedürftige und die Versuche, Kinder von Almosenempfängern nicht in eine Bettlerexistenz hineinwachsen zu lassen, sondern in Arbeitsverhältnisse zu bringen, wurde in diesem Teilbereich der Armut vom Rat jedoch auch eine Änderung der sozialen Lage der Bedürftigen angestrebt. In dem Augenblick, in dem der Rat seit dem Ende des 13. Jahrhunderts allmählich begann, die Verwaltung der Spitäler und der Almosenstiftungen aus der Zuständigkeit der Kirche her-

1069 Bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts sind in Köln etwa 1500 Testamente erhalten, in Lübeck etwa 6 400 und in Braunschweig etwa 800. A. . B, Mittelalterliche Bürgertestamente (8.1), S. 10. Siehe auch die weitere Literatur zu 8.1. 1070 O. W, Das Fürsorgewesen der Stadt Straßburg; T. F, Städtische Armut und Armenfürsorge; D., Armut, Bettler, Almosen; R. J, Obrigkeitliche Armenfürsorge; C. S/F. T, Geschichte der Armenfürsorge; H. S, eorie der Fürsorge; D., Studien zur Geschichte der Fürsorge; H. S, Erscheinungsformen der Sozialhilfebedürftigkeit; E. S, »Hausarme Leute«; C. J, Teure, Hunger, Großes Sterben (4.6.3), S. 318–357.

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auszulösen, an sich zu ziehen und die Fürsorge auf der Grundlage seines zunehmend obrigkeitlichen Amtsverständnisses und städtischer Gemeinwohlinteressen zu kommunalisieren, kam mit einer gewissen inneren Logik eine Entwicklung hin zur Reglementierung und Rationalisierung der Almosenverteilung nach bestimmten Kriterien der Notwendigkeit und Berechtigung sowie der Verwaltung und Kontrolle durch eine eigens geschaffene Behörde in Gang. Der heimische öffentliche Bettler wurde durch Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und Verhaltensmaßregeln, harte Strafandrohungen und sichtbar durch offen an der Kleidung zu tragende Bettelzeichen (Bettelmarken) oder Spangen marginalisiert, aber auch durch Zuwendungen in die Gesellschaft eingebunden, bis öffentliches Betteln grundsätzlich verboten wurde. Der Almosenempfänger, der Unterstützungsleistungen nun über die Stadtregierung erhielt und sich teilweise gleichfalls durch Zeichen und Spangen kenntlich machen und als berechtigt ausweisen musste, wurde unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Ordnung mehr noch als der nicht bedürftige Stadtbewohner zum Gegenstand ratsherrlicher Disziplinierung und Sittenzucht.¹⁰⁷¹ Von anderer Art waren die Bettelmarken, die Almosenstiftungen und Spitäler zur Steuerung der Almosenverteilung ausgaben und die zum Empfang von Nahrungsmitteln, Kleidung oder verbilligtem Brot berechtigten. Unter dem Gesichtspunkt der Knappheit der zu verwaltenden Ressourcen wandelte sich das Bild des Bettlers, der nun grundsätzlich der Frage der Berechtigung zum Bettel und Almosenempfang unterworfen wurde. Ins Zentrum rückten die Figur des körperlich arbeitsfähigen, des starken Bettlers und, davon abgeleitet, das missbräuchliche Betteln. Mochte sich ein gesellschaftlicher Mentalitätswandel gegen den Bettler vollzogen haben, so machte es für die Einstellung zum Betteln ungeachtet dessen einen grundlegenden Unterschied, ob der Stifter und Almosengeber mit dem Almosen auch sei-

nen individuellen jenseitigen Nutzen verfolgte, oder der – von diesen individuellen Erwägungen nicht unmittelbar berührte – Rat zwar auch bei seinem Seelenheil, aber mit seiner obrigkeitlichen P icht gegenüber den Bedürftigen und seiner gesellschaftlichen Ordnungspolitik unter dem Zwang, nur den Mangel zu verwalten und zu organisieren, Bedürftigkeit zu ermitteln, zu zählen und die Mittel nach Möglichkeit sinnvoll und gerecht zu verteilen hatte. Die Almosenlehren verlangten zwar eine Überprüfung der Bedürftigkeit, d. h. der Unfähigkeit, für den Lebensunterhalt ganz oder teilweise aus eigenen Kräften aufzukommen, wandten sich aber zugleich gegen eindringliche Nachforschungen, die dem individualisierenden Gedanken der Caritas, der unmittelbaren Barmherzigkeit und Zuwendung, widersprochen hätten. eologisch vertieft war der Caritasgedanke dadurch, dass er auf Christus bezogen wurde. Man verwarf die strenge Überprüfung der Bedürftigkeit, weil das Almosen letztlich nicht nur um des Armen, sondern insbesondere um Christi willen gegeben wurde. Die Armen galten als ›Sinnbilder Christi‹, die arbeitsunfähigen invaliden Armen als pauperes cum Lazaro. Umso deutlicher hebt sich die Caritas von der Sozialfürsorge ab, die eine planvolle, differenzierte und gerechte Verteilung der Mittel und letztlich eine Ermittlung der Ursachen der Armut als Ausgangspunkt für ihre Bekämpfung erfordert. Ansätze für einen Wandel sind allerdings bereits zu Beginn des 15. Jahrhunderts bei größeren bürgerlichen Stiftungen zu erkennen, die eine jährliche Rente begründeten, Art und Umfang der Unterstützungsmaßnahmen, eventuell sogar im Hinblick auf wechselnde Notstände und nach der Größe der Not, genauer festlegten. Hinzu kamen Stiftungen für einen ganz bestimmten Zweck und Empfängerkreis wie Aussteuer-, Wöchnerinnen- oder Handwerkerstiftungen. Gezielt unterstützt wurden durch Almosenstiftungen Hausarme oder verschämte Arme, die aus

1071 Von einer Kommunalisierung sowie, begrifflich sehr zugespitzt, einer Rationalisierung, Bürokratisierung und Pädagogisierung sprechen C. S/F. T, Geschichte der Armenfürsorge, S. 30–34.

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gesellschaftlich anerkanntem Schamgefühl ihren Unterhalt nicht auf der Straße oder vor der Kirche erbetteln konnten und auch nicht den öffentlichen Bettlern (mhd. neben betler auch giler) zugerechnet werden wollten. Sie wurden in speziellen Registern aufgelistet. Als Versuch, durch Stabilisierung der sozialen Lage ein Abgleiten in hil ose Bedürftigkeit zu verhindern, kann gewertet werden, wenn nach der Nürnberger Armenordnung von 1522 Kredite zur Unterstützung kleiner Handwerker vergeben werden sollten, damit diese nicht, von ihren Gläubigern bedrängt, Werkstatt und Werkzeuge veräußern mussten. Von Bettelei ernährten sich nicht nur Personen, die aufgrund individueller Notlagen wie Krankheit, Alter, Arbeitsunfähigkeit durch Invalidität oder Arbeitslosigkeit darauf angewiesen waren, sondern auch durchaus arbeitsfähige Berufsbettler und Nebenerwerbsbettler, die ihr Arbeitseinkommen durch Betteln aufbessern wollten. Beide Formen des Bettelns waren anerkannt und unterlagen zunächst keiner Diskriminierung. Hinzu kamen die Bettelorden als Anhänger der paupertas evangelica, die freiwillige Armut bedeutete und keinem sozialen Armutsbegriff zuzuordnen ist, und andere religiös motivierte Bettler, die das Betteln mit einer Aura des Gottgefälligen umgaben. Im Laufe des 15. Jahrhunderts wurden die Bettelorden ihres Vermögens wegen zunehmend ein Ziel bürgerlicher und geistlicher Kritik. Es traf die Wendung gegen arbeitsfähige Bettler mit der Polemik gegen Bettelmönche zusammen; beide Gruppen wurden in dieser Zusammenschau in reformierten Städten noch heftiger kritisiert. Geiler von Kaysersberg geißelt in seinem »Narrenschiff« (1499) geistliche Bettler, Wölfe in Schafskleidern, welche die Leute betrögen, wie vagierende Kleriker (Stationierer), die falsche Reliquien (heilige Heiltümer) zeigten, die gleißnerisch Andacht zur Schau stellten und lange Gebete verrichteten, große Ablässe verkündeten, vor den Kirchen säßen, gebrochene Beine, Wunden und dergleichen zur Schau stellten. Nur knapp widmete er sich hingegen dem Betrugsbettel der Laien. In der gesellschafts-

kritischen und ständedidaktischen Literatur eines Sebastian Brant (»Das Narrenschiff« 1494), Heinrich Bebels (»Facetiae« 1506/08) und omas Murners (»Narrenbeschwörung« 1512) bis hin zu dem praktischen Handbuch, dem »Liber vagatorum« (1510), der 1528 in einer Neuau age mit einem Vorwort Martin Luthers erschien, äußert sich seit dem Ende des 15. Jahrhunderts literarisch eine wachsende und polemische Distanz zum Berufsbettlertum, indem der an sich arbeitsfähige, sich als frommer Pilger, ehemaliger Gefangener der Türken oder als Epileptiker ausgebende, der betrügerische Bettler und Simulant als eine geläu ge Figur herausgestellt wird. Indem Städte von bloßen Bettelordnungen zu Almosenordnungen – oft in Verbindung mit Bettelverboten – übergingen und dabei eine allgemeine Arbeitsp icht des gesunden Menschen statuierten, Gründe für die Notlagen herausstellten, Möglichkeiten einer Abhilfe erwogen, die Höhe des individuellen Bedarfs ermittelten und kontrollierten, durch Zusammenlegen von Stiftungen und Spendenquellen ein ›gemeines Almosen‹ schufen und daraus zu nanzierende regelmäßige Leistungen einführten, betraten sie das Feld einer planmäßigen Sozialfürsorge. 4.10.2.2 Städtische Bettelverbote und Bettelordnungen – Die Nürnberger Bettelordnungen von 1370 und 1478 und die Almosenordnung von 1522 Unter dem kon iktträchtigen Druck von Hungersnöten, Versorgungsengpässen und Teuerungen erließ der Rat verschiedentlich, aber nicht stets in rigoroser Form, angesichts der dramatischen Zunahme von fremden Bettlern und Bettlerfamilien Beschränkungen und Verbote des Zugangs zur Stadt mit entsprechenden Anordnungen für die Torwächter, oder er verfügte die Ausweisung von wiederum meist fremden Personen, die er meinte nicht unterstützen zu können, des Almosens für nicht würdig erachtete oder des betrügerischen Bettelns verdächtigte. Bettelordnungen sind jedoch nicht nur oder vordringlich auf konjunkturelle Wech-

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selfälle, sondern auch auf generelle polizeiliche Ordnungsbestrebungen angesichts drängender Dauerprobleme und auf ein sich wandelnden Bild der Ratsobrigkeit und der Gesellschaft vom Bettler und Almosenempfänger zurückzuführen. Der Straßburger Rat¹⁰⁷² warnte 1409 vor betrügerischen Bettlern, die das erschlichene Almosen anschließend in Wirtshäusern mit Frauen verprassten und beschloss 1411, Müßiggänger, die über keinen Rückhalt an Eigen und Erbe besaßen und nicht um Lohn arbeiten wollten, sondern lieber dem Bettel (gilwerck) und inkriminierten Formen des Müßiggangs nachgingen, arbeitsscheue Handwerksgesellen mit verschiedensten Berufen ohne Arbeit und Dienstknechte ohne Handwerksberuf aufgreifen zu lassen und körperlich zu bestrafen, um sie so zur Aufnahme von Arbeit zu zwingen. In die Statutensammlung von 1437 nahm der Kölner Rat eine Verordnung gegen die vielen Männer und Frauen aus welschen, deutschen und anderen Landen auf, die als Müßiggänger (ledichgenger) ihr Leben mit Betteln fristeten, obwohl sie ›stark und gesund seien und [mit Arbeit] ihr Brot gewinnen und guten Leuten dienen könnten‹. Binnen acht Tagen hatten sie eine Arbeit zum Broterwerb aufzunehmen, andernfalls sollten sie der Greve und der Gewaltrichter mit ihren Gerichtsboten aus der Stadt jagen. Kehrten sie wieder, sollten sie in Halseisen gelegt und mit Rutenschlägen nackt aus der Stadt getrieben werden. Um 1460 wandte sich der Rat nicht nur gegen fremde, sondern grundsätzlich gegen alle Bettler und verkürzte die Frist zur Aufnahme von Arbeit auf drei Tage.¹⁰⁷³ In Wien erhielt 1443 der Sterzermeister den Auftrag und die Befugnis, jeden Bettler zu überprüfen, ob er des Almosens tatsächlich bedürftig war und ob er die durchaus anspruchsvolle Fähigkeit besaß, das Paternoster und das Ave Maria zu beten und das Glaubensbekenntnis ab-

zulegen. Der Rat beklagte die Vielzahl der betrügerischen Bettler, die Krankheiten simulierten, oder dass Frauen durch geschickt verborgene Kissen als vorgeblich hochschwangere Bedüftige Mitleid erregen wollten.¹⁰⁷⁴ Man kann in der Lebenswirklichkeit verschiedene Figuren des Bettlers unterscheiden, (1) den vom Schicksal geschlagenen elenden Bettler, der in Lumpen gehüllt lamentierend durch die Gassen zieht, der auf den Kirchentreppen liegt oder an anderen exponierten Orten sitzt, mit seinen entstellenden körperlichen Gebrechen und schwärenden Krankheiten Mitleid, aber auch Ekel und Abscheu erregt und sich auf Krücken kaum fortzubewegen vermag, ferner (2) den Bettler, der seine geringen Arbeitseinkünfte aufstockt, (3) den Berufsbettler und (4) den Betrugsbettler. Dem Bettel kam, sofern er über längere Zeit und regelmäßig als Erwerbstätigkeit ausgeübt wurde, gewissermaßen Berufscharakter zu; der Bettel wurde, wie es in Straßburg beim Almosenschaffner Lukas Hackfurt im frühen 16. Jahrhundert kritisch heißt, von einigen für ein Handwerk gehalten. Der Bettler musste die Künste und Tricks beherrschen, mit denen er Mitleid erregen konnte, ohne durch allzu grobe Täuschung sich der Strafverfolgung auszusetzen. In Augsburg wurde 1434 ein junger Bursche gehenkt, der hier wie zuvor schon in anderen Städten durch Simulation einer Sterbeszene eine spontane Geldsammlung zu seinen Gunsten zuwege gebracht hatte. In Konstanz kam der 1455 vom Rat strafrechtlich geahndete Fall vor, dass erbetteltes Geld als Kapital gegen Zins wieder ausgegeben wurde. Bereits 1342 und 1343 versuchte der Augsburger Rat in einem Gilerverzeichnis, die betrügerischen Bettler und Vagierenden zu klassizieren. Der Straßburger Rat legte vermutlich um 1410 ein Verzeichnis mit typischen betrügerischen Praktiken (Betrügnisse) von Bettlern und einem gaunersprachlichen Vokabularium

1072 Zuletzt R. V, Wie der Wächter auf dem Turm (5), S. 537–583. 1073 W. S (Hg.), Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung I, 2 (2.2–2.4), S. 699, Nr. 331; S. 385, Nr. 193. 1074 E. . S/A. D (Hg.), Ausgewählte Urkunden zur Verfassungsgeschichte der deutsch-österreichischen Erblande, Innsbruck 1895, ND Aalen 1968, Nr. 186, S. 385.

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an, das später über das Basel 1411 zugeschickte Exemplar die wichtigste Quelle für den »Liber vagatorum« wurde. Noch im späten 14. Jahrhundert und zunehmend seit dem frühen 15. Jahrhundert begann der Rat, das Bettelwesen detailliert zu reglementieren und unter dem Gesichtspunkt der Verantwortung für das Gemeinwohl zum Gegenstand der öffentlichen Ordnung zu machen, wodurch er zwangsweise in einen gewissen Widerspruch zur Christenp icht der unmittelbaren barmherzigen Almosenspende geriet. Der Straßburger Rat hielt aber in einer Ordnung ostentativ daran fest, dass Gott brüderliche Liebe zum höchsten geboten habe und gute Werke für den Menschen zur Erlangung göttlicher Gnaden und der Seligkeit das Beste und Fruchtbarste seien. Das Bettelwesen wurde mit Wiederholungen und Modi kationen 1370 und 1478 in Nürnberg, 1437 in Frankfurt, 1442 in Wien, 1437, 1446, 1471 und 1486 in Köln, 1459, 1491, 1498 und 1522 in Augsburg, 1464, 1473, 1481, 1500 und 1506 in Straßburg eingehend reglementiert, konzessioniert, durch die Ausforschung der Einzelperson und ihrer Lebensumstände im Hinblick auf die Berechtigung zum Betteln oder zum häuslichen Almosenempfang individualisiert, mit Verwaltungsaufwand überprüft und überwacht. War dieser ordnungspolitische Weg einmal beschritten, so stellte sich angesichts begrenzter Ressourcen das Problem, wie im Sinne der Verteilungsgerechtigkeit verhindert werden konnte, dass diejenigen, die das Almosen nicht benötigten oder arbeitsfähig waren, als Unberechtigte nunmehr missbräuchlich den wirklich Bedürftigen die Mittel schmälerten. Die älteste bekannte Bettelordnung ist die des Nürnberger Rates von etwa 1370, mit der das Betteln – wie dann auch in anderen Städten – einer Konzessionierung unterworfen wird:¹⁰⁷⁵ Um das Bettelwesen zu organisieren,

beauftragt der Rat ein Ratsmitglied und stellt ihm Ordnungskräfte zur Seite. Die Erlaubnis zum Betteln wird vom Erwerb und Tragen einer Bettelmarke mit dem Zeichen der Stadt bei dem vom Rat beauftragten Bettelmeister abhängig gemacht, der zugelassene Bettler in einem Buch registriert. Wer um eine Bettelmarke nachsucht, muss mindestens zwei völlig glaubwürdige Zeugen beibringen, die eidlich seine Bedürftigkeit bezeugen. Der Ratsbeauftragte soll die Erlaubnis zum Betteln verweigern, wenn er die Auffassung gewinnt, dass der Antragsteller durchaus in der Lage sei, durch Arbeit seinen Unterhalt zu verdienen. Die Konzession gilt nur für ein halbes Jahr, und der Berechtigte wird routinemäßig überprüft. Liegt keine Bedürftigkeit mehr vor, so wird die Bettelmarke entzogen. Der Betreffende muss dann eidlich versichern, die Stadt ein Jahr lang zu meiden und danach ohne Genehmigung nicht erneut zu betteln. Betteln in der Kirche wird untersagt. Fremde Bettler dürfen sich nur drei Tage lang in der Stadt aufhalten; wer diese Befristung nicht einhält, wird für ein Jahr ausgewiesen. Der Rat ist sich allerdings nicht sicher, ob die Stadtarmen unter den Bedingungen dieser Verordnung ihren Lebensunterhalt weiterhin erwerben können und nicht zu sehr eingeschränkt werden, und stellt eine spätere Revision in Aussicht, wenn man übereinkomme, dass die strengen Regeln für die armen Leute, die Bedürftigen, zu schwer seien. Etwa hundert Jahre später, im Jahre 1478, erließ der Rat eine neue Bettelordnung¹⁰⁷⁶, die neue Grundsätze enthält und sich sehr detailliert mit den geläu gen Erscheinungen der Bettelpraxis auseinandersetzt. Wer nicht bedürftig ist und Almosen erbettelt oder in Empfang nimmt, handelt betrügerisch und lädt eine schwere Schuld auf sich, weil das Almosen ein besonders verdienstliches Werk und eine Wohltat ist und er den tatsächlich Not leidenden Armen ihren Unterhalt entzieht. Konzessionierung und Bettelmarke, von denen es nunmehr

1075 F. E, Die Armenordnungen von Nürnberg (1522) und Ypern (1525), S. 459-471; modernisierter Abdruck bei C. S /F. T, Nr. 4 a, S. 64 f. 1076 J. B (Hg.), Nürnberger Polizeiordnungen (4.2.2–4.2.3), S. 316–320.

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verschiedene geben soll, bleiben bestehen. Es wird jedoch eine neue Kategorie von Bettlern eingeführt, nämlich solche, die sich schämen, bei Tage zu betteln. Diese erhalten eine besondere Marke und dürfen im Sommer zwei Stunden, im Winter eine Stunde nach Anbruch der Nacht, jedoch nicht ohne Licht, Betteln gehen. Wer zum Betteln zugelassen werden will, muss wahrheitsgetreu über Stand, Lebensverhältnisse, körperliche Verfassung, Familienstand und Kinderzahl Auskunft geben, damit beurteilt werden kann, ob er tatsächlich auf Betteln angewiesen ist. Wer wahrheitswidrige Angaben macht, wird für die Dauer eines Jahres aus der Stadt verwiesen und auch dann nicht zum Betteln zugelassen, wenn er tatsächlich darauf angewiesen ist, es sei denn, er bringt jedes Jahr von seinem Beichtvater ein Zeichen, dass er gebeichtet und die Absolution erhalten hat. Solche Zeichen sind den Beichtvätern von der Stadt auszuhändigen. Kinder, die über acht Jahre alt und ohne Gebrechen sind, dürfen nicht mit den Eltern betteln gehen, da sie ihr Brot sehr wohl selbst verdienen können. Sind die Eltern nicht in der Lage, ihren Kindern Arbeit zu verschaffen, sollen die Kinder dem Büttel übergeben werden, der sie registriert, damit die Stadt alsbald versuchen kann, ihnen in der Stadt oder auf dem Lande zu einer Arbeit zu verhelfen. Diese Bestimmung wurde von Würzburg 1490 und von Ulm 1491 in ihre Bettelordnungen übernommen und erscheint in entsprechender Fassung im Abschied des Augsburger Reichstags von 1500. Zugelassene Bettler, die nicht verkrüppelt, lahm oder blind sind, dürfen nach der Nürnberger Ordnung an Werktagen vor den Kirchen an ihren Bettelorten nicht müßig sitzen, sondern müssen spinnen oder andere Arbeiten, zu denen sie in der Lage sind, ausführen. Bettler mit schlimmen Gebrechen dürfen diese nicht zur Schau stellen, damit nicht Schwangere, durch den Anblick schockiert, Schaden nehmen. Überhaupt werden berufsmäßige Prak-

tiken wie Singen, Geschichtenerzählen oder die Schaustellung von Gemälden, Standbildern, wundersamen Tieren oder von anderem untersagt; lediglich das ambulante Singen von Bettelliedern in den Gassen ist erlaubt. Kranke oder wallfahrende Priester dürfen betteln, müssen sich aber als Priester zuvor zu erkennen geben. Wöchnerinnen, die selber betteln, oder Personen, die es für sie tun, bedürfen einer speziellen Marke, die sie nach Ablauf des Kindbettes wieder zurückgeben müssen. Schüler werden zum Betteln nur zugelassen, wenn sie regelmäßig zur Schule gehen und sich als gehorsame Schüler erweisen. Sondersieche, d. h. Aussätzige, sollen außerhalb der Mauern an ihren üblichen Plätzen betteln und dürfen in der Stadt nur während der Passionswoche betteln, in der sie üblicherweise in die Stadt gelassen werden. Fremde Bettler dürfen im Vierteljahr nur an zwei Tagen in der Stadt betteln. Sie müssen dies jedoch zuvor den Ratsbeauftragten anzeigen und müssen fähig sein, das Vaterunser, das Ave Maria, das Glaubensbekenntnis und die Zehn Gebote aufzusagen. Ausgenommen von der Befristung sind nur drei Tage vor und nach der Heiltumsweisung, Allerheiligen und Allerseelen. Freiwillige Arme dürfen nur an einem Tag im Jahr betteln. Bürger, Einwohner, Gastwirte und öffentliche Köche dürfen bei Strafe fremde Schüler und Bettler ohne besondere Erlaubnis nicht länger als drei Tage bei sich aufnehmen. Neben den Ratsverordneten wachen Bettelmeister (Bettelrichter) über das Bettelwesen. Wer Verstöße gegen die Bettelordnung, die mit Stadtverweisung bestraft werden kann, anzeigt, erhält pro Fall und Person eine Belohnung von 60 Pfennigen. Im Hungerjahr 1482 ließ der Rat ausweislich der Stadtrechnungen 240 Weißblechzeichen und 491 Zinnzeichen prägen, womit rechnerisch 731 Personen mit der Berechtigung zum Betteln und Almosenempfang versorgt werden konnten. Im Jahre 1522 ging Nürnberg von einer Bettelordnung zu einer Almosenordnung¹⁰⁷⁷ über,

1077 Der Abdruck einer sprachlich modernisierten Ordnung des ›Großen Almosens für die Hausarmen‹ ndet sich bei C. S /F. T, Geschichte der Armenfürsorge, S. 67–76.

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indem der Rat ein allgemeines Bettelverbot erließ, Betteln nur Fremden an Allerheiligen und Allerseelen sowie einem jeweils zahlenmäßig beschränkten Kreis von armen Schülern (pauperes) von fünf Schulen mit ihren Bettelliedern gestattete. Die Restriktion erfolgte, damit Schüler nicht zu reinem Betteln und Müßiggang gelangten und, unfähig zu ehrbaren Berufen und geistiger und handwerklicher Arbeit, aus dem Zwang, sich ernähren zu müssen, ungelernte Mönche und Pfaffen wurden. Das generelle Bettelverbot brachte einen Übergang vom Almosenheischen durch ambulantes Betteln und gelegentlicher Almosenvergabe durch Stiftungen hin zu einem obrigkeitlich zentralisierten, kalkulierten und organisierten Almosen, das zwar vorbehaltlich gewährt wurde, aber ein dauerhaftes Almosen in Form des tari erten und nach amtlicher Überprüfungen auch den individuellen Verhältnissen angepassten Wochengeldes darstellte. Dadurch entstand eine kommunale Sozialhilfe, der dreizehn alte Stiftungen zugeschlagen wurden. Dem öffentlichen Bettler stand durch das Verbot öffentlichen Bettelns nun nicht mehr der verschämte Hausarme gegenüber, da der Begriff des Hausarmen jetzt im Grunde allgemein den unterstützungsbedürftigen Armen meinte, sondern es wurde zwischen den Armen unterschieden, die das Almosenzeichen aus Messing öffentlich an der Kleidung zu tragen hatten, und jenen feinfühligen Armen, die man aus Rücksicht auf ihre soziale Herkunft und mentale Be ndlichkeit von dieser P icht entband. Fremde Bettler waren an den Toren strikt zurückzuweisen. Mit der Annäherung der Almosenvergabe an eine Sozialhilfe waren in Nürnberg neue soziale Überlegungen und wirtschaftliche Maßnahmen verbunden. In zweifacher Form sollten arbeitenden, aber wirtschaftlich bedrängten und unterstützungsbedürftigen, eventuell zudem kinderreichen Handwerkern Kredite gewährt werden. Einmal, um eine Stockungsspanne beim Absatz ihrer produzierten Waren zu überbrücken, wobei beispielsweise ein Warenwert von 100 Gulden mit 80 Gulden kreditiert werden sollte, zum andern, um verschul-

dete Handwerker, die wegen der Forderungen ihrer Gläubiger letztlich nur noch mit Verlust arbeiteten, durch einen Kredit in Höhe von 4 bis 10 Gulden vor der Veräußerung ihrer Werkstatt und ihrer Werkzeuge zu bewahren und sie arbeits- und erwerbsfähig zu erhalten. Ferner wurde der Befund verallgemeinert, dass es Bewohner gab, deren Arbeitsertrag oder Lohn trotz ihrer Arbeit nicht ausreichte, um sich zu ernähren; sie sollten zur Aufstockung ihrer geringen Einkünfte einen gestaffelten kommunalen Zuschuss von 15 bis 35 Pfennigen erhalten. Es wurde auch damit gerechnet, dass ein Ehepartner krank, der andere aber arbeitsfähig war. Sonderbestimmungen betrafen in dieser Zeit des reformatorischen Umbruchs in Nürnberg arme Priester, die kein kommunales Almosen erhalten sollten und auf die Solidarität ihrer bepfründeten und mit sonstigen Einkünften versorgten Kollegen verwiesen wurden. Erkrankte Arme sollten kostenlose Arznei aus den städtischen Apotheken erhalten. Eheleute, die aus bestimmten Gründen getrennt lebten, mussten als Voraussetzung für eine Unterstützung wieder zusammenziehen. Bezieher von Almosen aus der Stiftung des Reichen Almosens und die gesondert unterstützten armen Syphilitiker sollten, um doppelte Leistungen zu verhindern, grundsätzlich kein städtisches Almosen erhalten. Auch die armen Schüler, denen das traditionelle Betteln gestattet war, wurden vom Almosen ausgeschlossen. Zu den organisatorischen Maßnahmen gehörte, dass dreizehn alte Stiftungen und künftige Stiftungen dem kommunalen Almosen zugeschlagen wurden, während des Gottesdienstes Spenden gesammelt und aus eventuellen Überschüssen Kornvorräte für Krisenzeiten für eine Unterstützung in Naturalien angelegt werden sollten. Die Tarife für das Wochengeld wurden so festgelegt, dass Eheleute ohne Kinder 50 bis 60 Pfennige, solche mit Kindern 70 bis 90 Pfennige, Alleinstehende 35 bis 40 Pfennige und Kranke einen halben Gulden erhalten sollten. Maßregel für die Gewährung und die auf die Höhe des ausreichenden Bedarfs hin überprüfte Taxierung und Anpassung des Almosens

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waren wirkliche Bedürftigkeit und Not, Kinderzahl, notwendiger Verbrauch und persönliches Verhalten. Die vier Almosenknechte hatten durch Umgang in der Stadt und den Vorstädten die bedürftigen Bürger und Bürgerinnen zu ermitteln und sorgfältig zu registrieren, ferner Erhebungen durchzuführen, wie viel jeder öffentlich auftretende Bettler in der Woche einsammelte, wie viele Kinder er hatte, welche Ausbildung bettelnder Eltern und Kinder hatten und ob die Kinder teilweise in der Lage waren, durch Dienstleistungen und Handarbeit ihr Brot zu erwerben und den Unterhalt ihrer Eltern zu übernehmen. Die Kinder sollten verzeichnet werden, um ihnen durch die Almosenp eger und ihre Helfer in den Handwerken oder sonst wo eine Beschäftigung zu verschaffen, damit sie mit Arbeit aufwuchsen und mit der Zeit ohne Almosen auskommen konnten. Die Almosenknechte hatten in der Nachbarschaft der Bettler und Armen Erkundigungen über deren Leumund, ihren ehrbaren oder kriminellen oder sündhaften Lebenswandel einzuziehen, um die Lasterhaften durch Entziehung des Almosens zu einem ehrbaren, gottesfürchtigen und christlichen Verhalten zu bekehren, damit sie des Almosens würdig wurden. Das offen an der Kleidung zu tragende Zeichen der Empfänger war ein Nachweis der Berechtigung, es sollte die Almosenbezieher für die städtischen Almosenknechte fortan erkennbar machen und die Träger an verbotenen Wirtshausbesuchen hindern, bei denen sie das Almosen verschwendeten. Der Nürnberger Ordnung geht eine umfangreiche theologisch-religiöse Vorrede voran, die als erstes den reformatorischen Grundsatz der Rechtfertigung des Christen durch den Glauben propagiert, die guten Werke als Werke der Liebe aus dem rechten, lebendigen Glauben heraus entstehen lässt und dadurch implizit eine Heilswirkung bloßer Werkgerechtigkeit negiert. Öffentliches Betteln und Bitten um Almosen auf Straßen und in den Kirchen wird als verlet-

zend und beleidigend für den Glauben erachtet, weil es grundsätzlich nicht sein durfte, dass die Armen, die gleich wie andere der christlichen Gemeinschaft zugehörten und Nachfolger Christi seien, Not, Armut und Mangel erlitten oder gar auf Straßen oder in Häusern verhungerten. Die Ordnung beruhte auf dem angeblichen Erfahrungshintergrund, dass viele Bürger und Auswärtige das Almosen ohne wirkliche Not und Berechtigung emp ngen, sogar ihr Handwerk aufgaben, um sich nur durch Betteln durchzubringen, Almosen in Müßiggang und sündhafter Leichtfertigkeit verbrauchten, ihre Kinder zum Betteln erzogen und sie zum Betteln schickten. Der Ordnung wird ein erster Erfolgsbericht angefügt, wonach durch sie der Arbeitskräftemangel bei Wollspinnerinnen, bei vorbereitenden Arbeiten und anderen Tätigkeiten durch Hinzukommen vieler vollbeschäftiger Arbeitskräfte vollkommen behoben sei und auch die tägliche Zudringlichkeit durch arme Leute und Kinder, die früher den Bürgern, Kau euten und Gästen in Kirchen, Herbergen, auf den Gassen und auf dem Markt zum Unwillen vieler Personen, die sich dadurch belästigt fühlten, ständig auf den Fersen gefolgt seien. 4.10.2.3 Die Augsburger und Straßburger Bettel- und Almosenordnungen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts Die älteste überlieferte Bettelordnung Augsburgs von 1459 ist nicht die früheste der Stadt, sondern nimmt bereits auf eine Vorgängerordnung Bezug.¹⁰⁷⁸ Bedürftige Bürger hatten gemeinsam mit Ehefrauen und Kindern an Feiertagen vor der Kirche zu betteln, damit man eine Übersicht darüber gewinnen konnte, wer das Almosen empfange und auf welche Weise es vonstattengehe. Wer diese Anordnung übertrat, hatte Bettelverbot, Pranger und Stadtverweisung zu gewärtigen. Verboten wurde das unter Missbrauchsverdacht gestellte Betteln von Haustür zu Haustür für arme Wöchnerinnen

1078 Zum Folgenden siehe M. B, Die öffentliche Armenp ege (mit Quellen); J. R, Für den Gemeinen Nutzen, S. 211–230.

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oder Hausarme ohne Erlaubnis des Bürgermeisters. Wie andere Städte schränkte Augsburg den Aufenthalt fremder Bettler rigoros auf drei Tage ein. Im folgenden Jahr erscheint das Amt des Bettelmeisters als Ratsamt, das von vier Bettelknechten unterstützt wurde. Im Anschluss an das Mangeljahr 1489 und den Hungerwinter 1490/91 mit Teuerung, der die Zahl der Bettler sprunghaft anschwellen ließ, erweiterte der Rat 1491 die alte Ordnung erheblich. Die Maßnahmen gegen fremde Bettler wurden verschärft. Ferner wurde eine Bettelmarke eingeführt, deren Inhaber man mit Tauf- und Zunamen in eine Liste eintrug. Der Bettelmeister und seine Gehilfen hatten durch Kontrollen darauf zu achten, dass die in den Listen geführten Personen das Almosen nicht zweckentfremdet durch den Besuch von Wein- und Bierschänken oder durch Spiel verbrauchten. Wurden sie dabei angetroffen, sollten sie – wie Verschwender – ins Narrenhaus gelegt und danach aus der Stadt geschafft werden. Kinder durften stets nur mit einem Elternteil und nicht zur Einnahmesteigerung gesondert betteln. Zugleich wurde arbeitsfähigen Töchtern und Knaben mit zwölf oder vierzehn Jahren bei Stadtverweis der Eltern das Betteln verboten, damit diese die Kinder nicht zum Berufsbetteln heranzogen. Zur effektiven Handhabung der Ordnung und Kontrolle hatten die Gassenhauptleute, denen jeweils zehn Häuser unterstanden, alle vier oder fünf Wochen in einem Umgang die Bewohner der Häuser zu notieren und ihre Lebensverhältnisse zu beobachten, insbesondere jener von Armut und Bedürftigkeit bedrohten Personen, die nur die übliche, auch Voraus genannte Habnitsteuer von jährlich fünfzehn Groschen entrichteten. Im Jahre 1516 ordnete der Rat an, dass niemand mehr als Bürger – mit einem gewissen Anrecht auf Unterstützung – oder Einwohner in die Stadt aufgenommen werden sollte, der lediglich den Voraus zahlen konnte; 1519 sollte diese Personengruppe, in der sich Bedürftige und Bettler befanden oder die infolge ihrer prekären Existenz rasch Almosenempfänger hervorbrach-

te, überhaupt nicht mehr in der Stadt gelassen werden. Die revidierte Armenordnung von 1522 stand im Zeichen bislang nicht erfolgreicher Bemühungen, die unzureichend organisierte Zuteilung und Verwendung von Almosen zu verbessern, da diese die Spendenbereitschaft der Bürger herabsetze. Dem Rat sei glaubhaft berichtet worden, dass in Städten, in denen das Almosen gut angelegt und die Verteilung gut geregelt sei, reichlicher und häu ger gespendet werde. Der Rat richtete deshalb die neue, vom Rat gesonderte Instanz der vier oder sechs Almosenherren aus der Honoratiorenschicht ein, die von sechs Almosenknechten unterstützt an Sonn- und Feiertagen von Haus zu Haus gingen und das gesammelte heilige Almosen nach ihrem Ermessen an Bedürftige verteilten. Ihre Entscheidung hatten die Almosenherren auf der Grundlage wöchentlicher Visitationen in den Häusern der armen Leute zu treffen. Sie hatten sich ein eigenes zutreffendes Bild von der Mangelsituation, den Gebrechen und Lebensumständen der Leute zu machen und danach, wie es ihnen am nützlichsten erschien, die Almosenzuteilung auszurichten. Das öffentliche Betteln wurde erst 1541 gänzlich verboten, doch wiederholte die Ordnung von 1522 frühere Einschränkungen und setzte das Alter der Arbeitsfähigkeit und Arbeitsp icht von Kindern auf zehn Jahre herab. Verboten war das Betteln in Kirchen, in Häusern und auf Zunftstuben; auch durften Bettelnde nicht fremde Kinder neben den eigenen um sich scharen, um den Anschein der Bedürftigkeit zu steigern. Der Straßburger Rat (mit den XXI), der bereits 1411 vermögenslose müßiggehende Bettler, die im Handwerk oder in Dienstverhältnissen arbeiten konnten, aber sich in Wirtshäusern herumtrieben und sich dem Spiel widmeten, hart bestrafen wollte, erließ 1464 eine Almosenordnung¹⁰⁷⁹, die bis 1506 mehrfach erneuert und ergänzt wurde. Den Bürgern wurde Almosenheischen grundsätzlich untersagt, außer es litt jemand an ›lebensbedrohlicher Armut

1079 J. B, Straßburger Zunft- und Polizei-Verordnungen (4.2.2–4.2.3), S. 11–13.

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und Schwachheit oder Krankheit‹, wurde nicht von Kindern unterstützt und konnte sich ohne Almosenempfang nicht ernähren. Bettelzeichen wurden noch nicht verteilt, die Almosenempfänger und Bettler jedoch visitiert. Gab es für die beauftragten städtischen Bediensteten (Knechte) einen begründeten Verdacht, dass jemand Almosen erbat, ohne darauf angewiesen zu sein, oder sich ohne Betteln mit seinem Arbeitsertrag durchbringen konnte, sollte der Obervogt eine Hausdurchsuchung vornehmen lassen. Bewahrheitete sich der Verdacht, wurden verheimlichte Vermögens- und Bargeldbestände entdeckt oder wurde Arbeitsfähigkeit festgestellt, sollte ein Bettelverbot verhängt werden; den Knechten war eine Buße von sechs Pfennigen zu zahlen und es sollte eine weitere Bestrafung erfolgen. Arbeitsfähige Kinder wurden vom Almosenempfang ausgeschlossen. Der Schultheiß hatte darüber zu wachen, dass niemand das Klein- oder Schultheißenbürgerrecht nur deshalb erwarb, um damit einen Zugang zur städtischen Armenfürsorge zu erlangen und sich aufs Betteln zu verlegen. Nach einer genauen Befragung und Visitation von Bettlern auf der Grundlage eines umfangreichen Fragenkatalogs wurde nach strengen Kriterien vermutlich 1464 ein Verzeichnis von 44 Einwohnern angelegt, die dem Betteln nachgingen. Darunter befanden sich sechs Ehepaare, 29 alleinstehende Frauen und nur drei ledige Männer. In zehn Fällen wurde ein generelles Bettelverbot verhängt. Weitere Überprüfungen fanden 1473 und 1481 statt. Eine weitere Zählung ist aus dem Jahr 1523 überliefert. Betteln in und vor der Kirche wurde wie in einigen anderen Städten grundsätzlich verboten, und Bedürftige, denen Betteln ausnahmsweise gestattet wurde, hatten sich in abgerissener und schäbiger Kleidung als würdige Almosenempfänger zu präsentieren. Nur blinden Bettlern wurde erlaubt, Hunde zu halten (1481); verboten war es den Bettlern, sich zur Erweckung von Mitleid untereinander Säuglinge und kleine Kin-

der auszuleihen (1473). Fremde Bettler durften im Zeitraum eines Vierteljahres nicht länger als drei Tage in der Stadt betteln. Später wurden alle Bettler auf dem Kirchhof der Barfüßer zu einer Musterung zusammengerufen; diejenigen, die des Almosens für bedürftig erachtet wurden, erhielten ein Bettelzeichen. Der Rat wandte sich in der Ordnung des gemeinen Almosens von 1523¹⁰⁸⁰ später gegen unredliche Leute vom Lande, die ohne Not bettelten und dadurch Bedürftigen das Almosen wegnahmen, gegen Eltern, die ihre Kinder mit zum Betteln nahmen und ihnen ein schlechtes Beispiel gaben, sich im Winter vor Kirchen Erfrierungen zuzogen und dadurch wirklich zu armen Bedürftigen wurden. Niemand durfte grundsätzlich mehr in der Öffentlichkeit betteln. Nur hundert armen Schülern der vier Pfarrschulen bis zum Alter von sechzehn Jahren und mit Bettelzeichen wurde erlaubt, an drei Wochentagen vor den Häusern zu singen. Häuser der armen Leute sollten mit einem besonderen Zeichen versehen werden, damit jemand, in dessen Haushalt etwas übriggeblieben war, dies dorthin schicken konnte. Zur Zuteilung der Almosenbeträge und zur Visitation der Almosenempfänger durch P eger und Stadtbedienstete wurde Straßburg in vier Bezirke eingeteilt. P eger und Knechte hatten bei den Nachbarn Erkundigungen über den Lebenswandel von Almosenempfängern einzuziehen. Lebten Arme unverheiratet zusammen, hatten sie ältere Kinder, auf die sie nicht angewiesen waren, oder neigten sie zu Kuppelei, Diebstahl, Glücksspiel oder Völlerei, sollte ihnen das Almosen entzogen werden, bis sie davon abstanden oder sich verehelichten. Kinder, die ihr Brot verdienen konnten und den Eltern entbehrlich waren, sollten in ein Arbeitsverhältnis bei frommen Leuten vermittelt werden, auch damit sie etwas lernten. Reichte Hausarmen das wöchentliche Almosen nach Erkenntnis der städtischen Bediensteten aus bestimmten Gründen nicht aus, konnte es aufgestockt werden. Das eingeführte Bettelzei-

1080 J. B, Straßburger Zunft- und Polizei-Verordnungen, S. 3–11. O. W, Urkunden und Aktenstücke, Nr. 43, S. 97–104; Nr. 48, S. 105–108 (Auszug).

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chen diente nicht nur zum Ausweis der Berechtigung zum Almosenempfang. Um unziemliche Verschwendung und nutzlose Verausgabung zu verhindern, musste das Zeichen von allen Almosenempfängern stets offen getragen werden, damit man erkennen konnte, wenn jemand das Almosen in Wirtshäusern, Bierhäusern oder auf Stuben verzehrte oder verspielte. Solchen Personen sollte das Almosen entzogen werden. War bei Ehepaaren nur ein Teil bedürftig, sollte nur dieser ein Bettelzeichen erhalten; der andere Teil durfte das Almosen des berechtigten Partners nicht für sich verwenden. Mindestens monatlich sollten die P eger und die Oberp eger, mindestens zweimal jährlich ohne Beisein der Stadtknechte, in alle Häuser von Bedürftigen gehen, um sich zu erkundigen, ob die Knechte wöchentlich das Almosen ausgehändigt hatten, ob es in seiner Höhe ausreiche, in diesem Umfang oder überhaupt nicht mehr benötigt werde, arbeitsfähige und entbehrlich Kinder vorhanden seien oder ob jemand einen unziemlichen Lebenswandel führe – dies alles, damit Strafbares bestraft werde. Jugendliche, die nicht arbeiten wollten, sollten kein Almosen erhalten, sondern der Stadt verwiesen werden, damit sich niemand auf das Almosen verlasse und sich in jungen Jahren leichtfertig verhalte. Das Verbot, in der Öffentlichkeit zu betteln, sollte durch eine Zentralisierung der Almosen bei der Stadt ermöglicht werden. Es gelang dem Stadtregiment, die Stifte, Klöster und reichen Bürger in den neuen Stiften und Pfarren dafür zu gewinnen, dass sie jährlich die angefallenen Almosen und Spenden den neun P egern übergaben, die es aus den Pfarreien als Helfer erbeten hatte. In den Kirchen waren ferner beschriftete Opferstöcke für die Bedürftigen aufzustellen, und in Predigten sollte das Kirchenvolk zu Spenden aufgerufen werden. Aus seiner moraltheologischen Sicht heraus brachte der Münsterprediger Geiler von Kaysersberg seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert Reformvorschläge zu Armenfürsorge und ›guten Policey‹ vor, in denen er unter anderem kritisierte, dass die Straßburger zu wenig spendeten, weil sie sich in gedankenloser Selbstsucht

befangen und ihre Verantwortung abschiebend allzu sehr auf die von den Vorfahren eingerichteten und nanzierten mildtätigen Fürsorgeeinrichtungen und die Maßnahmen des Rats verließen. Andererseits warf er in seinem »Narrenschiff« dem Rat vor, dem Bettelwesen mit den vielen Bettlern in der Stadt nicht genügend Aufmerksamkeit zu schenken und es nicht zu ordnen. In diesem Zusammenhang behauptete er, dass es genug an Almosen gebe, dieses aber völlig ungleich verteilt werde. Den Bedürftigen empfahl er gelegentlich sexuelle Enthaltsamkeit, um die Zahl der zu unterhaltenden Kinder möglichst gering zu halten. Der Straßburger Schaffner des gemeinen Almosens Magister Lukas Hackfurt verfasste nach der Einführung der Reformation in der Stadt zwischen 1526 und 1550 zahlreiche eindringliche Memoranden und Eingaben an den Rat, um die Lage der Bedürftigen zu verbessern und eine Aufstockung der Mittel des Almosens, insbesondere aus Einkünften und aus dem Verkauf von Wertgegenständen – Altäre, für abgöttisch erachtete Tafelbilder, Messkelche, Monstranzen und andere Kleinodien – der Klöster und Stifte, und die Anstellung eines Arztes eigens für die Armen zu erreichen, da Kirchengut – nach altchristlichem Verständnis – eigentlich Armengut sei. Sein Amt verstand er als Auftrag Gottes, und er zeigte sich bereit, vom Amt zurückzutreten, falls das gemeine Almosen, an das nach einem Verzeichnis von 1523 24 Stifte, Klöster, sonstige Institutionen und Bruderschaften ihre Armenspenden ganz oder teilweise abgegeben hatten, nicht hinreichend mit Mitteln ausgestattet würde, und er warnte, dass mangelnde Caritas von Gott bestraft werde. Er ging in eine ähnliche Richtung wie der Nürnberger Rat mit seiner Almosenordnung von 1522, indem er in einer Information für den Rat 1529 darauf drang, junges Volk ein Handwerk lernen zu lassen, junge Eheleute eine Zeit lang zu unterstützen, damit sie in ihrem erlernten Handwerk bestehen konnten und Handwerkern in Notlagen mit Unterstützungsleistungen und Darlehen zu helfen, damit sie wegen eines nicht durch Leichtfertigkeit verursachten Unglücks-

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falls nicht an den Bettelstab gerieten. Arme Töchter sollten eine Aussteuer erhalten, damit sie auch als Arme für Heiratswillige attraktiv würden und beide Teile als Ehepaar ihr Leben in Ehrbarkeit führen könnten, statt der Armut wegen, die viele Anfechtungen mit sich bringe, in Schande und im huren und buben leben müssten.¹⁰⁸¹ Der Münsterprediger Dr. Caspar Hedio, der die Schrift des spanischen Humanisten Ioannes Ludovicus Vives »De subventione pauperum« (1526) übersetzt hatte, unterstützte im Vorwort zur Ausgabe von 1533 an Rat und Bürgerschaft Straßburgs die Argumentation Hackfurts hinsichtlich der Ausbildung von Kindern armer Leute zu Handwerkern und der Unterstützung unverschuldet in Not geratener Handwerker und armer Töchter. Jungen Handwerksleuten sollte geholfen werden, damit sie bei ihrer Arbeit blieben und in ihrer Not nicht Frau und Kinder sitzen ließen und üchteten. Durch die Prädikanten ließ Hackfurt 1534 auf allen Kanzeln eine Klage über mangelnde Wohltätigkeit und verminderte Eingänge in den Opferstöcken vortragen und zu Lebensmittel- und Kleiderspenden aufrufen. Zeiten der Not entstanden Hackfurt zufolge durch Hunger, Frost, Krankheit und Arbeitslosigkeit mit oder ohne besonderen Grund. Für den Zustrom fremder Bettler nennt er als wichtigen Grund das in Straßburger geltende Schultheißenbürgerrecht, das missbräuchlich erworben wird, um das Almosen in Anspruch nehmen zu können. Wer aus Faulheit und Liederlichkeit im Acker- und Weinbau nicht arbeiten will, wer betrügt und das Gewonnene unnütz mit großem Aufwand für Essen und Trinken und mit Spiel vergeudet oder wegen anderer bösen Sachen nicht mehr am Ort bleiben kann und dem das Seinige genommen wird, der kauft sich in das Schultheißenbürgerrecht ein. Als weitere Gründe betrachtet er unter anderem die langwierigen Arbeiten an der Stadtbefestigung, die Arme und Tagelöhner anziehen, die sich dann in das Schultheißenbürgerrecht einkaufen und über Nacht oder nach wenigen

Jahren von Krankheit befallen, mit vielen Kindern und aus Armut in der Winterszeit in das Almosen kommen, den Bauernkrieg, der viele zu Witwen und Waisen gemacht und sonst viel Volk in die Stadt gebracht habe, ferner unbillige und ruinöse Steuererhebungen (Schatzungen) auf dem Land und schließlich die große, harte und langwierige Teuerung in allen umliegenden Gebieten. Für die Verarmung in der Bürgerschaft macht er die Stuben und Gesellschaften der Zünfte sowie Winkelwirtshäuser verantwortlich. Hinsichtlich des starken Zustroms fremder Armer aus allen Nationen insbesondere im Winter zum Nachteil der heimischen Armen verfolgte der Rat die Linie, mittels strenger Kontrollen durch vom Almosen bezahlte Torhüter zu verhindern, dass Arme in die Stadt gelangten, und den Kauf des Schultheißenbürgerrechts durch ein Verhör über die Absichten der Bewerber und die Erhöhung des geforderten Mindestvermögens zu erschweren, ferner Schultheißenbürger erst nach fünf oder sechs Jahren zum Almosenempfang und zur Verteilung von Korn und Mehl aus dem kommunalen Speicher zuzulassen sowie den Neubürgern einen Eid abzuverlangen, dass sie außer in großer Notlage Almosen nicht vor dieser Zeit beantragten, sodass sie bei Zuwiderhandeln als Eidbrüchige das Bürgerrecht verloren und aus der Stadt verwiesen werden konnten. Gassenbetteln insbesondere mit Kindern wurde verboten; Almosenempfänger sollten als heimliche Hut bettelnde Kinder aufspüren und ihr Zuhause und ihre Eltern ermitteln, die zu bestrafen waren. Fremde Bettler sollten ergriffen und aus der Stadt geführt, bei mehrmaliger Rückkehr als Wortbrüchige zur Strafe ins Turmgefängnis gebracht, vom Nachrichter mit Ruten gezüchtigt und wieder ausgewiesen werden. Diese harte Haltung wurde dadurch etwas aufgeweicht, dass die an den Toren Abgewiesenen Pfennigbrote erhalten, ganze Schwache und Alte doch versorgt werden sollten. Pilger und Kranke sollten in der Fremdenherberge übernachten dür-

1081 O. W, Urkunden und Aktenstücke, Nr. 113, S. 149–165 (Denkschrift für den Rat von 1531/32).

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fen; bei großer und unabweisbarer Not in ganz harten Zeiten der Teuerung sollten die Schultheißenbürger zeitweise von ihrem Eid entbunden werden. Nach der Tolerierung des Bettels in Notzeiten im Winter unersagte der Rat wieder strikt das Betteln Fremder und Einheimischer, da jetzt die Teuerung erträglicher, genügend Arbeit vorhanden sei und Aussicht auf gute Ernten bestehe. In den Teuerungsjahren 1517 und 1529 lagerten in Haufen versammelt fremde Bedürftige weitgehend unversorgt an öffentlichen Plätzen, in Hütten und im Barfüßerkloster, waren infolge der unhygienischen Zustände krank und starben massenweise. Aufgrund dieser Erfahrung sollten im Winter 1544/45 rückblickend fremde Bedürftige zeitweise geduldet und besser versorgt werden, wozu Aufrufe um Spenden und Unterkünfte ergingen. Der Münsterprediger Dr. Caspar Hedio bilanzierte 1533 die Leistungen der Straßburger Armenfürsorge der vergangenen Jahre folgendermaßen: Im Teuerungsjahr 1529 wurden im Barfüßerkloster ein Vierteljahr lang etwa 2 150 mit ihren Namen verzeichnete Arme aufgenommen, mit Nahrung und Kleidung versehen und selbstlos von gottesfürchtigen Menschen betreut, von denen einige wegen des unerträglichen Geruchs, d. h. wegen der pestilenten Luft, schwer und langwierig erkrankt und sogar gestorben seien. In der gleichen Zeit wurden einige Wochen lang im Spital täglich etwa 400 arme Kranke gespeist, während in normalen Jahren die Zahl bei etwa 120 lag. Im Jahre 1530 wurden in der Fremdenherberge im Zeitraum vom 24. Juni 1530 bis zum 24. Juni 1531 insgesamt 23 548 Fremde und im gleichen Zeitraum von 1531 bis 1532 8 879 gespeist und beherbergt. Das Almosen gab vom 6. Oktober 1530 bis zum 6. Oktober 1531 insgesamt 1 989 Viertel Korn (221 634 Liter) im Geldwert von 4 095 Gulden aus. Von den ungefähr 150 Waisen beiderlei Geschlechts wurden 53 bei Säugammen innerhalb

und außerhalb der Stadt und die übrigen in den beiden Waisenhäusern aufgenommen.¹⁰⁸² Der Rat sah sich angesichts der von ihm wegen der Zuständigkeit des bischö ichen Schultheißen schwer zu kontrollierenden massenhaften Aufnahme in das Schultheißenbürgerrecht, das mehrheitlich nur wegen des Almosens und Bettels erworben werde, vor die Alternative gestellt, diesen Bürgern auf irgendeine Weise Arbeit zu verschaffen, um sie von Almosen und Bettel fernzuhalten, wozu aber kein Handwerk geeignet sei, oder sie in Zeiten von Not, Krankheit, Kindbett, bei Teuerung, zur Winterszeit oder wenn sie keine Arbeit oder nur einen geringen Lohn hätten, mit ihren Frauen und Kindern vom gemeinen Almosen zu unterstützen oder sie auf den Gassen vor den Häusern betteln zu lassen. Andernfalls müsse man die restriktiven Bestimmungen des Schultheißenbürgerrechts streng einhalten. Nicht weniger ernst müsse man gegen die länger eingesessenen Bürger vorgehen, die ein lasterhaftes schandbares Leben mit Huren, Spielen, auf den Stuben und in den Wirtshäusern Zehren führen, aus Faulheit und Liederlichkeit Frau und Kindern nicht selbst ernähren, sondern dem Almosen zuweisen wollen. Sie müssten nach dreifacher Verwarnung mit Stadtverweis bestraft werden, was für sie mehr noch als das Gefängnis die größte Strafe sei. Es gelte der Armut und Unordnung vorzubeugen und zu strafen, bevor dieser Personenkreis arm und des Almosens bedürftig werde.¹⁰⁸³ Der Rat de nierte 1531 für die Zünfte die bedürftigen Personengruppen, die je nach Vermögenslage des Almosens unterstützt werden und welche nicht.¹⁰⁸⁴ Unterstützt werden die Blinden, Lahmen, die Altersschwachen, die noch gehen können und nicht bettlägerig sind; Personen, die mit Wundschäden und epileptischen Anfällen beladen sind; Kindbetterinnen; Personen, die sich nicht ausreichend von Ar-

1082 Ebd., Nr. 118, S. 168. Vgl. die partiellen Rechnungen der Almosenverwaltung aus der Zeit von 1523 bis 1600, Nr. 189b, S. 233–245; vgl. ferner die Übersicht der Vermächtnisse, Schenkungen und Spenden an das Almosen, Nr. 189c, S. 245–265. 1083 Ebd., Nr. 108, S. 144–148. 1084 Ebd., Nr. 105, S. 141 f.

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beit und Handwerk ernähren können oder viele Kinder haben, die sie von ihrem Arbeitsertrag nicht aufziehen können; Personen, die aus dem Spital entlassen werden, aber noch zu schwach für eine volle Arbeit sind. Ferner werden Eheleute unterstützt, von denen ein Partner im Spital oder in einer Anstalt liegt, namentlich wenn es der Mann ist und Frau und Kinder Mangel leiden, auch Frauen, deren Ehemann sich als ländlicher Wanderarbeiter mit Hacken und Schneiden verdingt, in den Kriegsdienst oder anderswohin entlaufen ist, in der städtischen Turmhaft sitzt oder bei Herren seine Strafe abbüßt. Keine Unterstützung erhalten Schultheißenbürger vor Ablauf von fünf Jahren, ferner Personen die sich selbst aus ihrem Erwerb und ihrem beweglichen und unbeweglichen Vermögen über das Lebensnotwendige hinaus erhalten können sowie Personen, die Vater, Mutter, Kinder oder Ehepartner mit Vermögen haben, die sie unterstützen oder ihnen wenigstens in Notlagen helfen können. Abgewiesen werden Personen mit schweren Krankheiten, die deswegen mehr im Bett liegen als gehen können und ohne besondere Betreuung zugrunde gingen, sie gehören ins Spital oder Blatternhaus. Junge, gesunde und kräftige Leute, die viele Kinder haben und diese ohne Beisteuer und Hilfe nicht ernähren können, dürfen den Rat ersuchen, einen Teil der Kinder oder alle für eine gewisse Zeit ins Waisenhaus geben zu dürfen, damit sich nicht die Eltern, wenn die Kinder Almosen erhielten, auch für den Bettel erwärmten und zusehends dabei blieben. Almosen erhalten jene nicht, die aktuell ein leichtfertiges und nicht ehrbares Leben führen, d. h. öffentlich auf den Stuben, in Wirts- und Bierhäusern ihr Geld verbrauchen und verspielen, ferner jene nicht, die erwachsene Kinder haben, derer sie für ihren Lebensunterhalt nicht bedürfen, die ihr Brot gut verdienen und die sie nicht aus dem Haushalt entlassen wollen. Der von christlichen Grundsätzen tief geprägte, im Zusammenwirken und im Widerspiel mit dem Stadtregiment agierende Almosenschaffner hielt anstelle des generellen Verbots des Almosens für neue Schultheißenbürger ei-

ne Würdigung der individuellen Umstände für richtiger. Auch er war dafür, nicht alle fremden Armen in die Stadt zu lassen, aber wenn sie nun einmal da waren, sollten sie in ihrer Not nicht allein gelassen werden. Die schwere Notlage setzte seiner Ansicht nach jedes Gesetz und alle Ordnungen außer Kraft, angesichts der elenden Lage der Armen sollten christliche Liebe und Barmherzigkeit statt Strenge geübt werden, und letztlich war es nicht entscheidend, ob Arme des Almosens wert oder würdig, sondern dass sie dessen notdürftig waren. Hackfurt war aber der Auffassung, dass auch fremde Arme, wenn sie gesund waren, Arbeitsdienste leisten und dadurch für ihre Kosten aufkommen sollten. Den wahren bedürftigen Armen durfte durch unnötige Leistungen an Arbeitsfähige nicht ihr Brot vor dem Mund abgeschnitten werden. Das Betteln Arbeitsfähiger bezeichnete er als Diebstahl und machte geltend, dass Arbeit ein Mittel zwischen Betteln und Diebstahl sei, die es beide nicht geben sollte. Hackfurt sah sich in seiner Denkschrift von 1531/32 veranlasst, das Almosenwesen und seine Ordnung in 19 Punkten gegen Kritiker aus der Bürgerschaft zu verteidigen, die seiner Ansicht nach, weil nicht alles in ihrem Gefallen ging, affektgeleitet und nicht auf der Grundlage eingehender Kenntnis und Einsicht urteilten, sondern aufgrund des Argwohns und der Angaben anderer Leute, die Armut und Elend nie selbst erfahren hätten und aus einer kleinen Unvollkommenheit eines Armen, aus einer täglichen Sünde eine Todsünde machten und letztlich dem Almosen die Schuld daran gäben. Diese Leute machten andere unwillig, etwas dem Almosen zu geben, die vielleicht, weil sie ohnehin nie viel Lust dazu hatten, aus ihrem Über uss lieber wenig als zu viel geben. Zu derartigen Behauptungen, auf die Hackfurt im Einzelnen erwidert, gehört unter anderem, dass Ratsverordnete und Kirchspielp eger aus dem Almosen Besoldungen erhielten, ferner Prädikanten und Schulmeister, entlaufene Pfaffen und Mönche daraus alimentiert würden und nur Evangelische etwas daraus erhielten. Es wurde vorgebracht, dass die

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

Armen früher weniger geklagt hätten, obwohl sie zahlreicher gewesen und durch die Almosenordnung ausgelesen worden seien, dass Kleinstbeträge ohnehin niemandem helfen würden und dass arme Leute, die vor den Häusern um Brot bettelten, in den Turm gelegt würden. Mancher nehme Almosen, der mehr an Renten und Geld habe, als derjenige, der das Almosen nicht beanspruche und heimlich große Not leide. Hackfurt wandte ein dass es früher zwar mehr Bettler gegen habe, aber weniger wirklich Arme und mancher Hausarme, zuhause zugrunde gegangen sei, weil er sich zu betteln geschämt habe. Jetzt hätten die Armen vor allem wegen der geringen Spendenbereitschaft der Reichen zu klagen. Niemand werde wegen seiner Armut ins Turmgefängnis gelegt, sondern lediglich derjenige, der arbeiten könne und den Armen von dem ihnen Zustehenden etwas wegnehme. Derjenige, dem sein Arbeitsentgelt nicht hinreiche, erhalte zur Aufstockung des Lohns aus dem Almosen eine kleine zusätzliche Hilfe und Zubuße, die aber nach der wöchentlichen Anhörung der Armen je nach Umständen beträchtlich erhöht werden könne. In sozialpolitische Grundsatzfragen und Annahmen über die Wirkung der Armenunterstützung führen Einreden, man gebe das Almosen unnützen Leuten, die nie gespart und das Ihrige vertan, auch jenen, die in Schanden und Laster gelebt hätten, wie auch das Almosen eine leichtfertige Bürgerschaft schaffe. Man könne des Almosens wegen keine Arbeiter mehr wie vor der Almosenordnung für einen angemessenen Lohn bekommen, denn bevor einer um seine Kost oder um wenig Geld arbeite, gehe er müßig auf den Bettel. Ferner könne man keine Männer und Frauen mehr für die häusliche P ege der Kranken und Kindbetterinnen nden wie vorher, als es noch Beginen und Bettelmönche gab. Außerdem werde gesagt, ›der Sack des Almosens habe keinen Boden‹, immer neue Mittel würden erforderlich. Es werde geklagt, dass die Almosenknechte nicht das beim Essen störende Betteln junger Knaben und Mädchen und kräftiger Leute unterbänden und die Torhüter nicht aufmerksam genug sei-

1085 Ebd., Nrr. 119–122, S. 172–179.

en und fremde Bettler und Leprose in die Stadt hereinließen. Auf jeden der vorgebrachten Punkte der Kritik ndet Hackfurt eine ausführliche Antwort, so auch für den letztgenannten. Es sei schwierig, Bettler an ihrer Kleidung zur erkennen und zurückzuhalten, da Bettler, Prostituierte und andere Personen jeden Geschlechts und Alters wohlgekleidet einherkämen, die niemand für Bettler erachte und die dann in der Stadt Almosen heischten, während die Torhüter schlecht gekleidete arme Bauersleute und andere Personen überprüften, die aber nicht betteln wollten. Andere würden sich vor der Stadt auf einen Wagen setzen und hereinfahren, andere entwischten den Torhütern, wenn diese sich nur kurz umwendeten. Im Übrigen kosteten die Torhüter das Almosen jährlich 78 Pfund (etwa 156 Gulden), wie Hackfurt vorrechnete. Zur Vermeidung von Armut nahm der Rat auf die Anregung Hackfurts hin die Zünfte in die P icht. Zunftmeister und Vorstand hatten die Restriktionen des Schultheißenbürgerrechts einzuschärfen, Bedürftigkeit zu prüfen und dem Almosenschaffner in einem schriftlichen Attestat mitzuteilen, dass das Almosen nicht mutwillig begehrt werde. Eindringlich sollten sie die Zunftbrüder ermahnen, sich und Frau und Kinder ehrbar und ordentlich zu unterhalten und zu ernähren, Frau und Kinder zur Arbeit anzuhalten und Kinder, die Dienste übernehmen konnten, in ein Beschäftigungsverhältnis zu bringen sowie von Aufwand im Essen und Trinken, Spielen und unnötiger Kleidung abzustehen, damit der Armut rechtzeitig vorgebeugt werde. Gegen Müßiggänger und Verschwender sollten Zunftgericht und Vorstand vierteljährlich vorgehen und sie bei Widersetzlichkeit dem Ammeister zur Bestrafung anzeigen. Dieser Punkt war jeder Zunft in ihr Buch zu schreiben und überdies am Schwörtag zu verlesen. Almosenempfänger sollten Kennzeichen tragen, damit man sie auf Stuben und in den Wirtshäusern, wenn sie zehren wollen, abweisen könne. Wer jedoch das Seine auf diese Weise verbraucht, soll das Almosen verlieren.¹⁰⁸⁵

Das Fürsorgewesen 601

Das Ziel, den Bettel auf den Gassen zu unterbinden, konnte nach eigenem Bekunden des Stadtregiments trotz der Zwangsmaßnahmen bis hin zur Turmstrafe und zum Stadtverweis unter harten Strafandrohungen für den Fall einer Rückkehr im 16. Jahrhundert zu keinem Zeitpunkt auch nur entfernt erreicht werden. Vom 24. Juni (Johannistag) 1545 bis zum 13. April 1546 wurden nach Angaben der Almosenknechte nicht weniger als 775 Bettler mit einer Haftdauer von einer Woche gefangengesetzt und in dieser Zeit mit 3 244 Broten versorgt. Hackfurt unterscheidet sechs Gruppen von Bettlern auf den Gassen: (1.) In den letzten Jahren aufgenommene Schultheißenbürger, die das Almosen nicht in Anspruch nehmen dürfen und deshalb betteln; (2.) Arme, die unterstützt werden, aber wegen der gegenwärtigen Teuerung nicht genug erhalten; (3.) Arme, die unterstützt werden, sich aber damit nicht begnügen und zu faul sind, um mit Arbeit etwas hinzuzuverdienen; (4.) gut gestellte Bürger, die das Betteln der Arbeit vorziehen; (5.) wirklich arme und kranke Fremde, die nach der Ordnung nichts erhalten dürfen und eigentlich in ihrem Heimatort unterstützt werden sollten; (6.) arbeitsfähige Fremde, die aus Faulheit betteln und daher Strafe verdienen, und betrügerische Rotwelschbettler. Während einerseits in der Bürgerschaft Kritik auch prinzipieller Art an der Unterstützung durch Almosen geübt wurde, gab es andererseits auch Stimmen des Mitleids, die mit der harten Haltung des Stadtregiments nicht einverstanden waren. Hackfurt berichtet, es werde in der Bürgerschaft geklagt, dass die Almosenverwaltung die wirklich Not leidenden Schultheißenbürger und Fremden nicht unterstütze. Die Verwaltung sage, die Ordnung verbiete es, und sie sei nicht in der Lage, alle zu unterhalten, worauf erwidert werde, weshalb man sie dann nicht betteln lasse und ob sie an Hunger sterben oder stehlen sollten. Wenn die Verwaltung sage, bet-

teln sei gegen die Ordnung, entgegne man, es sei aber nicht gegen Gott.¹⁰⁸⁶ In Eingaben an das Stadtregiment baten die Almosenknechte verschiedentlich und noch 1546 und 1589 um Schutz und berichteten stets ähnlich lautend von Widersetzlichkeit von Seiten der aufgegriffenen Bettler mit Niederfallen, gräulichem Mordgeschrei und trotziger Gegenwehr und davon, dass man sie aus der Bevölkerung, insbesondere aus dem gemeinen Volk heraus behindere, sie beschimpfe, mit Unrat bewerfe und sie unbarmherzige Hunde schelte, die ungehorsamen Bettler in ihrem Mutwillen bestärke und zum Widerstand anstachle. Wen sie aus der Stadt hinausgebracht hätten, erscheine wieder am nächsten Tag und verspotte sie offen. Der Rat forderte aber auch auf, etwaige Übergriffe der Almosenknechte zu melden. An die Eingabe von 1546 anknüpfend, schlugen die Oberp eger dem Rat vor, den Aufenthalt der Bettler bei den Gärtnern und anderen Leuten in Scheuern und Ställen zu verbieten und zu verhindern. Von den fremden Bettlern, die gegen wiederholte Gefängnisstrafen gleichgültig blieben, solle man einige von den schlimmsten nehmen, sie durch den Nachrichter in Anwesenheit der anderen Mitgefangenen oben im Turm zusammenbinden und je nach Straffälligkeit mit Ruten streichen, um den Bengel jagen und nach abgenommenem Urfehdeschwur und dem Schwur, nicht in die Stadt zurückzukehren, hinauslassen. Wenn sich eine Rotte vor der Stadt aufhalte und sich nicht abweisen lasse, sollten Söldner sie mit Geißeln oder langen Gerten vertreiben.¹⁰⁸⁷ 4.10.2.4 Die Straßburger Armen- und Almosenenquête von 1531 Als der Straßburger Diakon und Almosenaufseher Alexander Berner 1531 dem Rat über die Ergebnisse seiner Rundreise in verschiedene Städte, seine Ermittlungen und Gespräche mit Verantwortlichen, berichtete und die angetrof-

1086 Ebd., Nr. 119, S. 173 f. (Anm. 2). 1087 Ebd., Nrr. 162 f., S. 206 f. (1546), Nr. 187, S. 226–228 (1589).

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

fenen Verhältnisse zugleich bewertete, wies er wie früher schon Geiler von Kaysersberg unter anderem auf das Problem hin, dass die Armen viele – noch nicht arbeitsfähige und gleichfalls auf Almosen angewiesene – Kinder hätten.¹⁰⁸⁸ In den Städten erkundigte sich Berner an verschiedenen Stellen nach dem Anteil der Armen an der Bevölkerung auch im Hinblick auf die gewerbliche Struktur und Beschäftigungslage, die etwa in Memmingen wegen der Barchentund Leinwandweberei gut sei, weshalb es wenige Arme gebe, ferner nach Unterstützungsmaßnahmen für in Not geratene Handwerker, den ausgegebenen Almosen, der Spendenbereitschaft der Bevölkerung und insbesondere der Reichen und nach der Behandlung der fremden Armen. Für Nürnberg und Augsburg macht Berner in seinem Bericht sozialkritisch geltend, dass viele zwar mit Arbeit und im Handwerk ihr Auskommen suchten, sich von ihrem erzielten geringen Arbeitseinkommen aber nicht ernähren könnten. Der Arbeitsertrag sei nicht zureichend, weil die armen Handwerker in ihrer Mehrheit im Stücklohn arbeiteten und die Kaufherren – als Verleger – ›den Gewinn heimtrügen‹, sodass sie gezwungen seien, Almosen zu empfangen. Andererseits führt er den großen Bedarf und Mangel an Arbeitskräften in Städten mit breit gefächertem Gewerbe wie Nürnberg und insbesondere in Städten mit beherrschendem Textilgewerbe wie Augsburg und Ulm an sowie den Sachverhalt, dass die Armen und ihre Kinder in diesem Produktionszweig arbeiteten. Aus akutem Mangel an Lehrtöchtern und Lehrjungen für die Handwerke in Nürnberg drängten die dortigen Almosenherren die Eltern, Kinder, die sie entbehren konnten, in ein Handwerk zu geben. Säumigen Eltern drohten sie mit Almosenentzug, damit die Kinder zur Arbeit und nicht zum Betteln erzogen würden. Geduld zeige man in Nürnberg mit denen, die arbeiten konnten, aber nicht wollten und mit keiner Strafe und nicht mit freundlicher Ermahnung zur Aufnahme von Arbeit zu bringen sei-

en, denn man wolle sie doch nicht in Not kommen lassen, ferner mit denen, die seit alters Bettler waren und nichts anderes gelernt hatten. Berner macht sich die Klage von Hausarmen in Nürnberg und Augsburg zueigen, wonach sie bei möglichen Verlegern und Arbeitgebern das Vertrauen (Glauben) in ihre Integrität verlören und keine Arbeit bekämen, wenn sie ihr Almosenzeichen trügen, weil die Arbeitgeber argwöhnten, sie würden sich bei der Arbeit an dem Ihren vergreifen und etwas davon verkaufen. Das Almosenzeichen sei dadurch ein Schandzeichen und nicht mehr ein Zeichen für Caritas (lieb), nicht mehr dafür, dass man die Mitbrüder nicht am Notwendigen mangeln lasse und die des Almosens würdigen Bedürftigen am Zeichen erkannt würden. Die Stadt Ulm hatte, wie auch Basel und anders als Nürnberg, das Prinzip, nur Sachleistungen und kein Geld zu gewähren, damit Eltern nicht das Geld verschwendeten und ihre Kinder dadurch Mangel litten. Man glaube andererseits nicht, ›dass Eltern so verrucht seien und ihren Kindern das Brot, Schmalz etc. aus den Mäulern rissen und verkauften‹. In Augsburg und Ulm litten die Hausarmen, die sich schämten, Almosen zu empfangen, und das dazu berechtigende Zeichen nicht tragen wollten, allgemein große Not, wie auch in Nürnberg trotz der Bestimmungen der im Druck verbreiteten Ordnung. Im Hinblick auf die fatale Zwischenstellung der Hausarmen zeichnet Berner ein negatives Bild der – teilweise bereits im Glauben reformierten – Gesellschaft: ›Niemand will sich der Not des anderen mit herzlichem Erbarmen annehmen, jedermann schaut auf seinen Vorteil. Man will von ihnen, wenn sie noch nicht Bettler sind, kein Pfand annehmen, ihnen nichts leihen oder schenken, und wenn sie völlig im Verderben sind, begegnen wir ihnen feindselig. Die unverschämten Bettler haben es allenthalben besser als die frommen.‹ Scharf kritisiert Berner das Armenwesen in den Schweizer Städten Zürich und Basel und konstatiert häu ger eine Diskrepanz zwischen einer guten Almosen-

1088 O. W, Das Fürsorgewesen der Stadt Straßburg, 2. Teil: Urkunden und Aktenstücke, Nr. 204, S. 266–283.

Das Fürsorgewesen 603

ordnung und einer schlechten Behandlung der Armen. In Nürnberg wurden Berner zufolge aus dem allgemeinen Almosen im Sommer 400 bis 450, im Winter, wenn die Zahl der Bedürftigen überall anstieg, etwa 500 Personen unterstützt, ferner das Waisenhaus für Mädchen mit 54 und dem für Knaben mit 46 Insassen, die von einem deutschen Schulmeister im Schreiben und Lesen unterrichtet wurden, und das Blatternhaus mit 72 Kranken. Das seit seiner Stiftung im Jahre 1388 durch weitere Stiftungen angewachsene Reiche Almosen versorgte mit Nahrungsmitteln weitere 500 Personen, die kein Bettelzeichen tragen wollten. In Augsburg erhielten in 570 Häusern etwa 800 Personen Almosen, in Ulm wurden 500 Almosenempfänger ermittelt, in Konstanz im Sommer 50 und im Winter 200 oder 250, während dort zugleich ein Kloster täglich für 200 bis 500 Personen aus Stadt und Land Brot ausgab. In der Teuerungszeit um 1530 erhielten in Memmingen aus den umliegenden Dörfern etwa 1 000 Personen in einer Kirche nach vorausgehender Predigt als geistlicher Speise einen Betrag aus dem Almosen, das zuvor im Umgang von Haus zu Haus gesammelt worden war. Für Fremde galt eine Regelung wie in anderen Städten. Kamen sie vor Mittag in die Stadt, erhielten sie eine Suppe und zwei Pfennige und wurden dann ausgewiesen; kamen sie nach der Mittagszeit, wurden sie über Nacht behalten, erhielten ein Essen und am Morgen je nach Alter einen Pfennig oder zwei. Anfangs gab es nach Auskunft des Bürgermeisters im Memmingen auch Bettelzeichen, aber als der Rat sah, dass dadurch viele rechtschaffene Leute verachtet wurden, stellte er den Armen das Tragen anheim. Der Straßburger Berner lobt das Augsburger Almosen als gut ausgestattet, geordnet und verwaltet, was die Fürsorge der einheimischen Bevölkerung anlangt. Außerdem lobt und beschreibt er die in Zeilen angeordneten 106 Häuschen der Fugger, die Fuckerei in der Barfüßervorstadt; er hebt ihren Nutzen gegenüber der gleichfalls von den Fuggern erbauten, zehnmal so teuren St. Annenkapelle hervor und

nennt noch das von Fugger gestiftete Blatternhaus mit eigenem Arzt. Während seines zehntätigen Aufenthalts in der Stadt hatte Berner keine fremden oder einheimischen Arme öffentlich um Brot betteln gesehen, allerdings außer einer schwangeren Landfrau, die ihm sagte, sie habe daheim drei kleine Kinder und nichts zu essen, sie sei so von Knechten gejagt worden, dass sie nun fürchte, ihr Kind zu verlieren. Die erfolgreiche Unterdrückung öffentlichen Bettelns sei nicht nur Resultat der Kontrolle durch die Bettelknechte, sondern auch einer rigorosen unfreundlichen Abschottung der Stadt gegen Fremde durch die Torknechte, die unterschiedslos weder ländliche Hausarme noch Bettler einließen, auch solche nicht, die mit eigenem Geld das Notwendigste in der Stadt kaufen wollten. Wer Brot kaufen wolle, dem hole es der Pförtner. Deshalb lägen die Hausarmen und Bettler vom Lande in großer Zahl an den Mauern um die Stadt. 4.10.2.5 Grundzüge der Armenfürsorge im ausgehenden Mittelalter Folgende Grundzüge der städtischen Armenfürsorge zeichneten sich im ausgehenden Mittelalter ab: – Die Fürsorge wird kommunalisiert: Die Verwaltung der Stiftungen geht zunehmend von der traditionellen Zuständigkeit kirchlicher Institutionen in die des Rates über. Der Rat unterwirft das Bettelwesen seiner obrigkeitlichen Normierung und behördlichen Kontrolle. Im Interesse der Versorgung der Stadtarmen und heimischen Hausarmen und zur Abwehr vagierender Bettlerheere unterbindet er weitgehend das Auftreten fremder Bettler, die häu g nur drei Tage lang betteln dürfen, und verstärkt dadurch die Sonderung von Stadt und Land. Er versucht präventiv der Stadtarmut durch Zuzugsbeschränkungen zu steuern, indem er die Voraussetzungen und Gebühren für den Erwerb von niederen Formen des Bürgerrechts (Kleinbürgerrecht) anhebt. – Der Rat unterscheidet – wie schon die moraltheologische und kirchliche Lehre – zwi-

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Das Stadtregiment und städtische Einrichtungen

schen Armen und zum Betteln berechtigten Bedürftigen, die für ihren Lebensunterhalt auf Unterstützung angewiesen sind. Zugleich überprüft er – im Gegensatz zur älteren kirchlichen Praxis – nach bestimmten Kriterien, ob individuelle Bedürftigkeit tatsächlich vorliegt. Für gesunde Arme, den starken, d. h. arbeitsfähigen Bettler, statuiert er eine Arbeitsp icht. Er wirkt dem zunehmend diskreditierten Berufsbettlertum entgegen und verbietet dessen berufsspezische Praktiken. Ansatzweise taucht bereits der sozialpolitische Gedanke der Arbeitsbeschaffung und der Heranziehung zu öffentlichen Arbeiten, wie etwa Straßenreinigung, Ausheben von Gräben und saisonalen Erntearbeiten auf. Im Abschied des Lindauer Reichstags von 1496 wird gefordert, dass gesunde Bettler arbeiten müssten, weil sonst ein Mangel an Tagelöhnern und anderen Arbeitern und infolgedessen eine Erhöhung des Lohns einträten.¹⁰⁸⁹ Dass die Bettlerkinder zu Handwerkern oder in andere Dienste gegeben werden sollen, damit sie nicht dem Betteln anhingen, verlangte die Polizeiordnung des Augsburger Reichstags von 1500. Entsprechende Forderungen wurden in den Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577 erhoben.

– Der Rat macht die Berechtigung zu Betteln und Almosenempfang von einer unanstößigen Lebensführung abhängig. – Durch die Bettel- und Almosenverordnungen des Rats und zweckgerichtete bürgerliche Stiftungen gewinnt der objektive Gedanke der Armenfürsorge gegenüber dem vorherrschenden individuellen, auf den Stifter rückbezogenen Gedanken von Caritas und Heilserwerb an Raum. Die lutherische Reformation lehnt dann die Rechtfertigung des Menschen durch gute Werke (Werkgerechtigkeit) ab; Martin Luther spricht sich für obrigkeitliche Bettelverbote aus. – Mit der Wende zum 16. Jahrhundert wird öffentliches Betteln auf der Grundlage eines bürgerlichen, vielfach handwerklich akzentuierten und biblisch begründeten Arbeitsethos schärfer diskreditiert und durch eine obrigkeitliche Ordnungspolitik verboten, andererseits durch eine weitgehend zentralisierte kommunale Unterstützung (gemeines Almosen) im Sinne einer Sozialfürsorge ersetzt. Die durchgreifende Zentralisierung der verschiedenen Fonds erfolgt in protestantischen Städten im Wege der Säkularisierung von Kirchen- und Klosterbesitz und durch die Einrichtung des gemeinen Kastens, Gotteskastens oder Armenkastens.

1089 Deutsche Reichstagsakten, Mittlere Reihe, Bd. 6, bearb. von H. G, Göttingen 1979, Nr. 133, S. 210, Nr. 51, S. 344.

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5.1 Sonderung, Ver echtung und Einheit Gegenüber den Antagonismen und Kon ikten, den mit prozessualen Mitteln und nicht selten gewalttätig ausgetragenen Konfrontationen zwischen der laikalen Bürgerschaft und der Geistlichkeit ist zu Recht das grundsätzliche Streben nach gutem Einvernehmen hervorgehoben worden. In den großen kirchlichen oder vom Rat organisierten und geordneten Prozessionen wurde, wie eine Formel lautet, die einheitliche »Sakralgemeinschaft«¹⁰⁹⁰ von Bürgerschaft und Klerus demonstriert, und es wird etwas vage von einer Neigung der deutschen Stadt des Spätmittelalters gesprochen, »sich als corpus christianum im kleinen zu verstehen«.¹⁰⁹¹ Der Dominikaner Felix Fabri spricht in seiner »Abhandlung über die Stadt Ulm« von 1488 davon, dass durch die Priester und Mönche das Gemeinwesen mit dem Himmlischen und mit Gott verbunden werde. Aber: Die Priester seien nicht Glieder der Gemeinde, trügen nicht zum gemeinen Nutzen (usus communis) bei, sondern freuten sich zwischen Gott und dem Volk ihrer Freiheit, seien nicht Bürger, sondern mehr als Bürger und stünden über den Bürgern. Sie unterlägen keinen Lasten, leisteten den Weltlichen keine Eide und zögen nicht mit ihnen in den Krieg.¹⁰⁹² Zu der vom Klerus beanspruchten Steuer- und Lastenfreiheit (privilegium immunitatis) kam ein gesonderter Gerichtsstand (privilegium fori) hinzu, der die Kleriker auch in weltlichen Sachen der weltlichen Gerichtsbarkeit entzog. Mit der von Fabri konstatierten ständischen und rechtlichen Sonderstellung über

dem Bürgerverband und außerhalb der Korporation Stadt bildete der Klerus, nun in der neutralen, soziologisch-säkularisierten Sprache Max Webers, »mit seinen unaustilgbaren ständischen Privilegien eine unbequeme und unassimilierbare Fremdmacht«.¹⁰⁹³ Das Streben der Kommune nach Autonomie und Selbstverwaltung richtete sich nicht nur gegen den weltlichen oder geistlichen Stadtherrn, sondern auch gegen den Ein uss von Kirche und Geistlichkeit. »Die Geistlichkeit mit ihren eigenen Gesetzen, ihrem eigenen Vermögen und ihrem tief in das Weltliche greifenden Herrschafts- und Aufsichtsanspruch war eine dauernde Bedrohung für die kommunale Einheit und Geschlossenheit.«¹⁰⁹⁴ Die Bewohner der Stadt bildeten zweifellos eine christliche, von der Heilsvermittlung des Klerus abhängige Gemeinschaft, zugleich war die Stadt aber auch eine säkulare politische Gemeinschaft mit genuinen Bedürfnissen und Eigengesetzlichkeiten, wie sich dies auf gelehrter und gebildeter Ebene in der Bezugnahme auf die aristotelischen Schriften und der auch von moraltheologischer Seite aufgegriffenen Bestimmung des Menschen als animal sociale (mhd.: gesellig tier) äußerte. Auf einer überhöhten Ebene gab es in der Stadt freilich ein Streben nach einer symbiotischen Gemeinschaft von Laien und Klerus im Zeichen christlichen Heilsverlangens. Gemeinsame Prozessionen vereinten Geistlichkeit und Laien. Unmittelbare personale Gemeinschaften von Klerikern und Laien – unter Einschluss von Frauen – bildeten die gemischten Bruderschaften (Fraternitäten) und Kalande (fratres calenda-

1090 Der vielzitierte Ausdruck stammt von L. Hänselmann und ndet sich in dessen Einleitung zum Urkundenbuch der Stadt Braunschweig, Bd. 1, Braunschweig 1873, S. XVIII. 1091 B. M, Reichsstadt und Reformation, S. 15. 1092 Principale IV (Viertes Hauptstück), cap. 1, S. 54–56; dt. Übersetzung S. 38 f. 1093 M. W, Wirtschaft und Gesellschaft (1.2), S. 795 f. 1094 D. K, Pfarrerwahlen im Mittelalter, S. 444.

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rii) genannte Priesterbruderschaften, an denen sich Laien beteiligen konnten. Tatsächlich aber ist das Verhältnis von Stadt und Kirche, Bürgerschaft und Klerus in eine Vielzahl von Teilbereiche und Aspekte fragmentiert und trägt einige gegensätzliche Züge. Wechselseitige Ansprüche hielten die prozesshafte Ausgestaltung dieses Verhältnisses im Fluss.¹⁰⁹⁵ Die Stadtpatrone, vorzugsweise die Jungfrau Maria als wichtigste Heilsvermittlerin, die sonstigen Stadtheiligen und die in den Kirchen angesammelten Reliquien sollten die Stadt schützen. Die Stadt verstand sich zweifellos als ein christliches Gemeinwesen; die politische und die kirchliche Gemeinde bildeten grundsätzlich eine gegliederte Einheit. Kirchenkritik nahm deshalb nur in Ausnahmefällen die Form von Kirchenfeindschaft an. Kritik am Klerus, die sich durchaus zu heftigen Ressentiments und zum Pfaffenhass steigern konnte, bedeutete keinen Antiklerikalismus in dem Sinne, dass die Notwendigkeit der Geistlichkeit geleugnet worden wäre, denn Kirche und Klerus erfüllten in eindeutiger Zuständigkeit für die Stadtbevölkerung heilsnotwendige Funktionen. Deshalb stellten Rat und Bürgerschaft aber auch in eigenem Interesse an kirchliche Institutionen und Kleriker nachdrücklich Forderungen hinsichtlich der richtigen Wahrnehmung der geistlichen Funktionen und der geistlichen, sakramentalen und religiösen Versorgung der Stadt. Wo der Rat Mängel erkannte, versuchte er, Maßnahmen zur Abhilfe zu ergreifen. Die Grenze zwischen dem geistlichkirchlichen und dem weltlich-politischen Bereich war eine breite Zone wechselseitiger Verfügungsansprüche und Eingriffe, die das Zusammenleben nach verschiedenem Recht mit sich brachte. Hier kam es zu Kon ikten, die auch mit offener Gewalt gegen geistliche Personen,

Übergriffen auf Wohnungen von Klerikern und Klosterstürmungen, auf der Seite der Geistlichkeit vor allem mit den Waffen des Kirchenbanns (Exkommunikation) und des geistlichen Interdikts, aber auch durch Anstiftung zu Gewalt durch Dritte ausgetragen wurden. 5.1.1 Stadtregiment und Laien im kirchlichen Raum Die Ratsherren begaben sich vor Sitzungen zur Messe – mancherorts (seit dem 13. Jahrhundert) in eine eigene Ratskapelle oder in die Bürgerkirche, hatten ihre eigene Kerze in der Kirche, ließen für verstorbene Kollegen Memorien lesen und reihten sich im prominenten Abschnitt in die Prozessionen ein. Für Amtsgeschäfte und hinsichtlich seiner Stellung suchte der Rat die sakral überhöhte, durch die Nähe von Reliquien und andere Sakralgegenstände heilsversprechende Sphäre, die seinen Handlungen eine erhöhte Geltung verschaffen sollten; deshalb nahm er Amtseinsetzungen in Kirchenund Klosterräumen vor und hielt dort Rats- und Gerichtssitzungen ab. Die Wahlen der Bürgergemeinde und der Gesamtschwur der volljährigen Einwohnerschaft fanden in Rottweil in der Pfarrkirche, dem Heilig-Kreuz-Münster, statt. Der Straßburger Ammeister führte im Münster Verhandlungen und wurde dort aufgesucht, doch ging diese Geschäftstätigkeit bereits in eine Richtung, die als Profanierung der Kirche beklagt wurde. Während jedoch der Rat 1469, 1470 und erneut 1501 gesetzlich gegen die Profanierung des Münsters durch Kauf- und Verkaufsgeschäfte, disziplinlose und frivole Kirchenbesucher vorging und den Advokaten, Fürsprechern, Vögten, Gerichtsboten und anderen Leuten des Gerichts untersagte, Verhandlungen und sonstige Unterredungen zu führen, da die-

1095 Allgemein zu Kirche, Gesellschaft und Frömmigkeit: F. R, L‘église et la vie réligieuse. Ältere und jüngere Überblicksstudien zu Stadt und Kirche: A. S, Stadtgemeinde und Kirche im Mittelalter; K. F, Kirche und städtisches Verfassungsleben im Mittelalter; J. S, Bürgerschaft und Kirche im Mittelalter; B. S, Stadt und Kirche im Spätmittelalter; E. S, Stadt und Kirche in Niedersachsen. Beispielhafte Monographie: R. K , Bürgerliche Gesellschaft und Kirche in Augsburg im Spätmittelalter. Weitere Darstellungen zu einzelnen Städten: D. D, H.-C. R, A. E, M. G, G. G, H. J, J. L, A. M, C. S, K. T, R. V.

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se an die Gerichte und nicht ins Münster gehörten, so hielt er doch daran fest, dass die Spitzen des Stadtregiments, der Stettmeister und der Ammeister, nach altem Herkommen an üblichen Orten oder im neuen Kirchengestühl Parteien hören und Streitfälle erledigen durften. Offenbar nahm der Ammeister auch in Stühlen dort Geschäfte wahr, wo unmittelbar daneben eine Messe gelesen und dadurch gestört wurde. Der Münsterprediger Johannes Geiler von Kaysersberg drang hingegen auf eine Trennung von weltlichen Angelegenheiten und solchen, welche die Kirche und kirchliche Personen betrafen, und verlangte, dass im Münster nur kirchliche Synoden abgehalten und geistliche Urteile gesprochen würden, nicht aber weltliche Urteile und solche hinsichtlich der weltlichen Sittenzucht; auch sollten dort keine Verträge abgeschlossen werden.¹⁰⁹⁶ 5.1.2 Christliche Obrigkeit, Kommunalisierung kirchlicher Zuständigkeiten und ratsherrliches Kirchenregiment In der Ratsstube oder im Ratssaal erinnerte ein Bildnis des Jüngsten Gerichts den Rat an seine Verantwortlichkeit und künftige Rechenschaftsp icht vor dem Weltenrichter. Gegenüber Kirche und Geistlichkeit ließ sich der Rat von geistlich-seelsorgerischen Belangen wie von politischen Beweggründen leiten. Aus seinen umfassenden fürsorglichen, gewissermaßen vormundschaftlichen Aufgaben leitete der Rat weitreichende Befugnisse her und schritt vielfach in Erweiterung seiner weltlichen Herrschaft zur Sicherung der kommunalen Einheit zu Formen eines ratsherrlichen Kirchenregiments fort, das durch die Reformation in pro-

testantischen Reichsstädten eine neue Grundlage erhielt. Der Rat verstand sich als eine christliche Herrschaft und Obrigkeit, die Verantwortung für die Kirche und Sorge für die Förderung des Gottesdienstes, das Seelenheil und eine christliche Lebensführung der Bürger trug. Er war um das Heil der Stadt besorgt, denn es hing von der religiös-sittlichen Verfassung der Einwohnerschaft ab, ob Gott die Stadt zur Strafe für Vergehen mit Unwettern, Hungersnöten, Teuerungen, Seuchen und äußeren Feinden heimsuchte oder nicht. Eine Bevölkerung, die Gott vor Augen hatte, sich an das Recht hielt, einig und gehorsam war, wuchs an Leuten und Vermögen und konnte Gott in übertragenem Sinne zu ihren Bürgern zählen und mit seinem Schutz rechnen: Got ist ze Bern burger worden, wer mag wider got kriegen? Dieses allgemeine Sprichwort im Lande überliefert der Berner Chronist Konrad Justinger (1370–1438), und das Bürgerbuch der Stadt Lahr von 1356 nennt Gott als Bürger an erster Stelle. Elementare Heimsuchungen, traten sie ein, sowie Türkeneinfälle, Blutregen, Erscheinungen von Kometen oder spektakuläre Missgeburten wurden als Äußerungen des göttlichen Zorns gedeutet. Der Rat stiftete Prozessionen zum Dank für militärische Siege und politische Ereignisse, setzte Prozessionsordnungen fest, veranlasste Prozessionen wegen der Gefahr von Unwetterkatastrophen, wegen Dürre und Hochwassers, des Auftretens der Pest und der Syphilis (Blattern), in Straßburg¹⁰⁹⁷ etwa auch wegen des Papstschismas (1409), der Uneinigkeit auf dem Basler Konzil (1438), wegen des Siegs im Burgunderkrieg (1477) und der Gefangennahme König Maximilians in Brügge (1488).¹⁰⁹⁸

1096 U. I, Johannes Geiler, S. 241–244; R. V, Wie der Wächter auf dem Turm, S. 490–500. 1097 U. I, Johannes Geiler, S. 246. 1098 Von dem Ulmer Pfarrer verlangte der Schwäbische Bund 1499 anlässlich des Schweizerkrieges, einen Kreuzgang um die Kirche abzuhalten und nach der Predigt das Volk fünf Paternoster, fünf Ave Maria und ein Glaubensbekenntnis kniend beten zu lassen. Ein ähnliches Ansinnen stellte König Maximilian während seines Kon ikts mit dem französischen König. König Ferdinand I. verlangte 1547 vom Görlitzer Rat, den Prädikanten zu verordnen, den Sieg des Kaisers bei Mühlberg gegen die Protestanten zu verkünden, ein Tedeum zu singen und das Volk zu veranlassen, Danksagung zu tun und um einen beständigen Frieden zu bitten. C. S, Frömmigkeit und Politik, S. 70.

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Er ließ in Straßburg spezielle Messen lesen, forderte die Geistlichen unmittelbar auf, in ihren Predigten das Kirchenvolk zu besonderer Andacht zu mahnen, wenn wichtige Ereignisse bevorstanden wie eine Bischofswahl (1478) oder Bittprozessionen um gutes Wetter, wobei sie auf Teuerungen als Folge schlechter Ernten hinweisen sollten. Auch sollten die Geistlichen in Fällen von Notlagen und wegen des Sterbens bei Seuchen die Gemeinde zum Fasten als Vorbereitung der Prozessionen anhalten, oder der Rat verordnete, wie in Hildesheim, den Bürgern Fasten unmittelbar. Im Hochmittelalter konnte nur die Kirche die ewige Dauer frommer Stiftungen gewährleisten und tat dies auch noch später, doch seit dem 14. Jahrhundert war es überwiegend der Rat, der als Treuhänder der Vermächtnisse den Stiftungszweck garantierte. Es kam nun vor, dass selbst Geistliche ihr Stiftungskapital beim Rat hinterlegten. Ein Grund für die Verschiebung zugunsten des Rats lag auch daran, dass viele Memorien und Stiftungen unter kirchlicher Verwaltung vernachlässigt und verwüstet waren. Nach wie vor ging es aber nicht um eine unmittelbare und eigenständige Antwort auf die soziale Not der Menschen, sondern vor allem um das Seelenheil des Stifters, der es durch karitative Werke aus Nächstenliebe und Mitleid für die Armen und Bedürftigen zu gewinnen suchte, auch um das gesellschaftliche Prestige des Stifters. Die mit Privilegien ausgestattete Kirchenfabrik der Pfarrkirche¹⁰⁹⁹, die mit ihrem Besitz an Immobilien und Renten wie das Spital zu den großen oder größten Grundbesitzern und Kapitaleignern in der Stadt gehörte, wurde der Verwaltung durch Kirchenmeister oder Kirchenp eger unterstellt, gelegentlich auch für städtische Belange genutzt. Auch die Klöster gerieten unter die Vermögensverwaltung des vom Rat bestimmten Klosterp egers, dem die Orden rechenschaftsp ichtig waren und der Ein uss auf die Verfügungen nahm. Bei einer ordensre-

formatorischen Einführung der Observanz, der vom Rat häu g begünstigten strengeren Auslegung der Regel, wurden Besitztümer des Ordens unter Aufsicht des Rats frommen Zwecken zugeführt. Auf breiter Ebene schritten Rat und politische Gemeinde durch Übernahme der Verwaltung durch P egschaften zur Kommunalisierung geistlicher Zuständigkeiten, von Sozialstiftungen, Spitalwesen und einer Schule, die sich stärker an den Lebens- und Bildungsbedürfnissen der bürgerlichen Laienwelt ausrichten sollte. Der Rat mischte sich in Reformmaßnahmen von Klöstern ein oder bestimmte die Organisationsform von Laienbruderschaften und deren Regel. In Nürnberg konnten in den Frauenklöstern keine Visitation, keine Versetzung und kein Ämterwechsel ohne Zustimmung des Rats vorgenommen werden. Aufgrund päpstlicher Ermächtigung griff der Rat in das innere Leben der Klöster ein, maßregelte Mönche und Nonnen und veranlasste oder erzwang die Annahme strengerer Ordensregeln, in Einzelfällen sogar gegen den Willen der auswärtigen leitenden Ordensoberen.¹¹⁰⁰ Der Heilbronner Rat erreichte, wie er 1472 bekundete, mit der Hilfe von Fürsten und Herren unter großen Kosten vom Papst eine Reform der Klöster der Franziskaner, Klarissen und Karmeliten, die zur Beachtung ihrer Ordensregel und Observanz sowie zur Einhaltung ihrer Gelübde in geziemender Form gebracht werden sollten, doch wehrten sich diese Orden noch einige Jahre gegen städtische P eger und jede andere Einmischung von außen.¹¹⁰¹ Durch die Einrichtung von Predigerstellen (Prädikaturen) und ihre Besetzung mit gebildeten eologen meist ohne Priesterweihe entsprach der Rat dem Bedürfnis der Gläubigen nach einer intensivierten Form der Predigt, die nicht mehr deutlich hinter der Spendung der Sakramente zurückstand und die mit der Bibelexegese eine geistliche und weltliche Orientierung gab.

1099 A. R, Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters. 1100 J. K, Die Stadt Nürnberg in ihren Beziehungen zur Römischen Kurie, S. 87. 1101 B.-U. H (Hg.), Quellen zur Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 66, S. 430 f.

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Durch die Trennung der Funktionen von sakramentaler Seelsorge und Predigt kam es verschiedentlich zu Spannungen zwischen Pfarrern und Prädikanten. Als Hüter von Glauben und Moral sowie aus eigenem Frömmigkeitsemp nden erließ der Rat Verordnungen gegen unziemliches Verhalten in den Gotteshäusern, gegen leichtfertiges Schwören und Blasphemie, gegen Auswüchse des Fastnachtstreibens, gegen Konkubinate, zur Heiligung der Sonn- und Feiertage, gegen den Verkauf von Waren (außer Lebensmitteln) an Sonn- und Feiertagen oder auch nur gegen den Verkauf zur Zeit der Predigt oder Messe und zur Einhaltung der Fastenzeit. Es ist allerdings die Frage, ob man deswegen der Stadtregierung ideell überhöht einen »halb-geistlichen Charakter«¹¹⁰² zuerkennen oder von einer »Sakralisierung der säkularen [Sphäre]«¹¹⁰³ durch den Zuwachs an Handlungsfeldern des Rats wie etwa durch Klosterreformen und Maßnahmen der Sittenaufsicht sprechen kann. 5.1.3 Dienste von Klerikern für die Stadt Neben Seelsorge und Caritas gehörten Bildungswesen und Bildung seit alters zu den Aufgaben oder gar Monopolen des Klerus. Geistliche erschienen deshalb im Dienst der politischen Gemeinde. Für das Urkundenwesen und den Schriftverkehr der Städte waren sie bis zur stärkeren Verbreitung einer Laienbildung unentbehrlich. Nach Einrichtung der städtischen Kanzlei blieben zunächst Kleriker die wichtigsten Kanzleibediensteten, und das Amt des Ratsoder Stadtschreibers wurde noch für längere Zeit von Geistlichen bekleidet. Fallweise wurden auch andere Kleriker mit der Fertigung von Urkunden und mit diplomatischen Aufträgen betraut. In einigen mittleren und kleineren Städten übertrug man dem geistlichen Stadtschreiber zugleich die Leitung der Schulen, oder es wurde der geistliche Schul-

meister zu den Geschäften des Rats herangezogen. Juristisch gebildete Kleriker wurden zu Ratsnotaren, Ratskonsulenten und Syndici bestellt. Geistliche Stadtschreiber waren an der Abfassung von Stadtrechten beteiligt; sie verfassten Denkschriften, annalistische und chronikalische Aufzeichnungen. Um Loyalitätskonikte zu vermeiden, wurde den in städtischen Diensten beschäftigten Klerikern gelegentlich die Annahme bestimmter stiftischer Pfründen untersagt, während sie andererseits mit geistlichen Pfründen – unter anderem an der Ratskapelle – bedacht wurden, auf deren Besetzung der Rat Ein uss hatte oder die eigens zur Entlohnung der öffentlichen Dienste geschaffen wurden. Als vor allem seit dem 15. Jahrhundert Bildung und wissenschaftliches Studium unter den bürgerlichen Laien zunehmende Verbreitung fanden, wurden die Kleriker aus den Funktionen als Notare, Stadtschreiber und Ratsjuristen immer mehr verdrängt. Diese Entwicklung wurde etwa von dem Verfasser der betont laikalen »Reformatio Sigismundi« (1439) mit der kategorischen Forderung unterstützt, dass ein Priester seines Standes wegen weder Notar noch Stadtschreiber sein solle.¹¹⁰⁴ 5.1.4 Einwirkungen des Klerus auf das Stadtregiment Griff der Rat einerseits auf kirchliche und geistliche Bereiche über, so beschränkte sich auf der anderen Seite die Geistlichkeit nicht nur auf die Verteidigung ihrer Besitzstände und ihrer infrage gestellten Privilegien. Wenn es der Rat in seiner Sittengesetzgebung an nachdrücklichem Eifer fehlen ließ, wurde er von der Geistlichkeit dazu gedrängt. Eine prominente und populäre Figur wie der Straßburger Münsterprediger Dr. theol. Johannes Geiler von Kaysersberg legte 1501, nachdem er darüber gepredigt hatte, auf Anforderung dem Rat 21 Artikel vor und nahm Stellung gegen städtische Gewohnheiten,

1102 B. M, Reichsstadt und Reformation, S. 15. 1103 B. S, Stadt und Kirche, S. 70. 1104 H. K (Hg.), Reformation Kaiser Siegmunds, S. 308.

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Statuten und Bräuche. In diesen Artikeln verteidigte er zwar die geistlichen Standesprivilegien und verurteilte die Beschränkungen der testamentarischen Verfügungen geistlicher Personen¹¹⁰⁵ sowie der Laien im Hinblick auf Legate ad pias causas, die Amortisationsgesetzgebung, die Missachtung des Kirchenasyls, die Inanspruchnahme der Kirchenfabrik des Münsters (Frauenwerk) oder die Profanierung des Münsters durch die Tätigkeit von Angehörigen des Stadtregiments. Darüber hinaus drängte er aber den Rat zum Vorgehen gegen Gotteslästerung, zur Aufhebung der meisten Zunft- und Trinkstuben als dem Hauptgift der Stadt und Orten von Verschwendung, Spiel und Gewalttätigkeit und zum Verbot des konzessionierten, mit Abgaben an die Stadt und städtischem Spielkartenverkauf verbundenen Glücksspiels. Er schlug ferner eine gerechtere Besteuerung vor, verlangte Maßnahmen zugunsten der verelendeten obdachlosen Syphiliskranken, kritisierte die ungleiche Verteilung der Almosen, die Zustände im Spitalwesen und legte eine Neuordnung des Bettelwesens vor, beanstandete die Unverhältnismäßigkeit der Strafen für verschiedene Delikte und rügte die rechtswidrige Anwendung der Folter ohne hinreichende Verdachtsmomente. Bereits 1482 hatte er für die zum Tode Verurteilten schließlich erfolgreich die bislang verweigerte Kommunion und ein christliches Begräbnis gefordert.¹¹⁰⁶ Johannes Geiler predigte gegen einen allgemeinen Sittenverfall, speziell auch gegen Empfängnisverhütung, Abtreibung, Kindstötung und Homosexualität (Sodomie). Er erstrebte mit agitatorischer und rigoroser Vehemenz eine fundamentalistisch-christliche Gesellschaftsund Lebensordnung der Stadt im Zeichen des absolut geltenden göttlichen Gebots (lex divina).¹¹⁰⁷ Dazu entwarf er das Programm einer

grundlegenden Reformation (reformatio) der Gesellschaft, die durch Erziehung (instructio), Zurechtweisung (correctio), Reinigung (purgatio) und Ausrottung (exstirpatio) des Übels und der Übeltäter zu bewerkstelligen war und, von dem Stadtregiment durch Statuten und exekutorische Maßnahmen gestützt, als gottgefällige gute Policey und Ordnung in Erscheinung trat. Geiler von Kaysersberg rief 1489/99 in einer Predigt dazu auf, aus dem ganzen Volk andere Ratsherren, die Gott lieb hätten, zu wählen, falls die regierenden nicht bereit seien, wirksame Gesetze gegen Gotteslästerung zu erlassen. Er nannte im Jahre 1500 von der Kanzel herab alle Ratsherren wegen ihrer gegen göttliches und kaiserliches Recht verstoßenden Verordnungen und Gesetze – wie später ähnlich der Würzburger Domprediger Dr. Johann Reyß – grobianisch Vorfahren und Nachkommen des Teufels, auch wegen ihres Verhaltens Zehrer, Prasser und Spieler. Er attackierte die p ichtvergessenen Ratsherren in maßloser Heftigkeit als dumm und einfältig, korrupt und bestechlich, als Diebe, Ehebrecher und Gotteslästerer, und beschuldigte die Regenten noch später, sie beachteten keine Predigt, kehrten sich nicht an die Gebote Gottes und an keine christliche Ordnung, weshalb der Teufel ihnen die Haut über die Ohren abziehen müsse. Alle, die angesichts von Elend und tödlicher Not der Armen untätig blieben und ihnen die Hilfe verweigerten, ganz besonders aber die Ratsherren, galten ihm als Totschläger vor Gott, die sich mit schweren Sünden beladen hätten. Wie aus Ratsprotokollen hervorgeht, forderte er 1481 angesichts vorausgegangener Jahre der Teuerung bei Getreide und einer neuerlichen Missernte die Armen auf, zu den Häusern der Reichen zu laufen, die Korn hätten, verschlossene Verschläge mit der Axt aufzubrechen und Korn zu entnehmen, dieses aber

1105 Sie wurde ihnen durch die Zahlung des ferto (1/4 Mark) an die bischö iche Kasse oder durch ein indultum testandi zugestanden. 1106 U. I, Johannes Geiler, S. 178–267; R. V, Wie der Wächter auf dem Turm, S. 396–650. 1107 Es ist aber fraglich, ob man angesichts der sehr konkreten Ordnungsprobleme, wie sie auch die Rat in seinen Verordnungen zur Sittenzucht aufgreift, soweit gehen und noch vor Reformation und Calvinismus sagen kann, Geiler strebte »eine eologisierung Straßburgs mit dem Ziel an, eine irdische Gottesstadt nach dem Vorbild des himmlischen Jerusalems zu schaffen«. R. V, Wie der Wächter auf dem Turm, S. 745.

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mit dem Kerbholz abzurechnen, wobei er bei Verlust des Kerbholzes auf Anfrage hin sagen würde, wie Rechenschaft zu geben sei. Zunächst wiegelte er noch ab und hielt die Selbsthilfe noch nicht für notwendig. Das Stadtregiment erachtete es für geraten, dass Ammeister und Ratsherren sich mit den Schöffen des Großen Rates insgeheim auf den Zunftstuben darauf verständigten, diejenigen, die sich an die Worte des Doktors hielten, auf gütlichem und friedlichem Wege davon abzubringen. Ferner wurde beschlossen, mit Geiler gütlich darüber zu reden, dass es solcher schwerwiegender Worte in seiner Predigt nicht bedurft hätte, und ihn zu bitten, freundlich davon abzustehen. Tatsächlich hatte der Rat bereits vor der Predigt kommunale Maßnahmen gegen Teuerung und Mangel eingeleitet. Zeichnet sich der Straßburger Münsterprediger durch seine Sozialkritik aus, so gilt das soziale Eintreten für die Armen auch für den Memminger eologen und Prädikanten Christoph Schappeler, der eine von der Familie und dem Handelshaus Vöhlin gestiftete Predigerstelle innehatte. Auch er setzte den Rat zugunsten der Armen unter Druck und erhob 1521 den Vorwurf, die Armen würden härter als die Reichen bestraft, worauf im Ratsprotokoll vermerkt wurde, dass er die Wahrheit gesagt habe. Zeitgleich mit Johannes Geilers Reformvorschlägen (1501) trug in Ulm der Pleban des Münsters Dr. iur. utr. Ulrich Krafft dem Rat seine Beschwerden vor. Er warf ihm vor, dass die Stadt zu Unrecht Zoll von den Geistlichen erhebe, wogegen schon sein Vorgänger Dr. Heinrich Neithart mit Drohungen gegen den Rat polemisiert hatte, dass der Rat die Dienstboten der Geistlichen höher als andere besteuere und von den Geistlichen, die ihr ›Zehntkorn‹ und ihren ›Zehntwein‹ auf dem freien Markt verkauften, doppelt so hohe Marktabgaben wie von Weltlichen erhebe. Die Amortisationsgesetze verstießen gegen die Freiheit der Kirche und seien bannwürdig; Priestern sei es verboten, lie-

gende Güter an geistliche Interessenten zu verkaufen. Es sei wider Gott, dass der Frauenwirt seine Dirnen für 20 bis 30 Gulden kaufe. Nicht aber rügte er die Existenz des Frauenhauses an sich. Er verlangte städtische Gesetze gegen offene Sünden, worunter Gotteslästerung, Fluchen, Ehebruch, Zutrinken und Glücksspiel zu verstehen sind. In anderem Zusammenhang inkriminierte er eine Vielzahl wucherischer und rechtswidriger Geschäfte und veranlasste den Rat zu einer Wuchergesetzgebung, stieß aber bei einem für die Stadt wichtigen Geschäftstypus im Barchentgeschäft auf energischen Widerstand des Bürgermeisters Dr. Matthäus Neithart. Auf Betreiben des Plebans geht ein Gesetz von 1503 zurück, wonach an Tagen, an denen gemäß der Ordnung der Kirche Prozessionen abgehalten werden, von dringenden Fällen abgesehen, weder Rats- noch Gerichtssitzungen einberufen werden sollten. Auch Dr. Krafft ging so weit, die Ratsherren für die mangelhaften sittlichen Zustände verantwortlich zu machen und ihre persönliche Lebensführung anzuprangern.¹¹⁰⁸ Sowohl die Aktivitäten des Straßburger Münsterpredigers als auch die des Ulmer Plebans zeigen einerseits, dass sich der Klerus spätestens im ausgehenden 15. Jahrhundert hinsichtlich der Beachtung seiner Privilegien in der Defensive befand, seine gebildeten oder auch in der Klerikerhierarchie hochrangigen Protagonisten andererseits in seelsorgerlichem P ichtbewusstsein vehement, konkurrierend und in Teilen erfolgreich auf den Feldern von Sittenzucht und guter Ordnung (Policey) auf die Gesetzgebung des Rats einwirkten. 5.1.5 Die Zuständigkeit der geistlichen Gerichte gegenüber Laien Die Kirche, d. h. das geistliche Gericht des Bischofs, ausgeübt vom Archidiakon und vor allem von dem rechtsgelehrten Offizial, beanspruchte gegenüber den Laien jurisdiktionelle Zuständigkeit in Ehesachen, die zu den rein

1108 G. G, Die Reichsstadt Ulm, S. 136 f., 139; E. I, Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsethik (9.7). Auf Ansinnen des Bischofs von Bamberg verbot der Nürnberger Rat 1453 die Herstellung von Schnabelschuhen.

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geistlichen Sachen (causae mere spirituales) gehörten, ferner in Verlöbnis-, Dotal-, und Testamentsangelegenheiten und Erbschaftsstreitigkeiten, in der Frage von Ehelichkeit oder Unehelichkeit der Geburt, bei Alimentationsansprüchen, bei Ansprüchen aus Gelübden, in Patronats-, Pfründ- und Zehntsachen, in Wuchersachen und bei Verträgen, die mit einem Eid bestärkt waren (causae spiritualibus annexae oder causae mixtae).¹¹⁰⁹ Alle Streitigkeiten, bei denen eine Partei beschuldigt wurde, eine sündhafte Tat oder Handlung begangen zu haben, konnten deswegen (ratione peccati) vor das kirchliche Gericht gebracht werden, so etwa Klagen auf Rückerstattung von Wucherzinsen, doch konnte die sachliche Zuständigkeit mit dem Argument der Sünde weit gezogen werden. Schließlich konnte bei Rechtsverweigerung (iustitia denegata) des weltlichen Gerichts das kirchliche Gericht angegangen werden, nicht aber umgekehrt. In der Strafgerichtsbarkeit war das geistliche Gericht für die so genannten kirchlichen Verbrechen (crimina ecclesiastica) zuständig, bei Apostasie, Häresie, Simonie, Sakrileg, Meineid und Eidbruch, Ehebruch, Blutschande, Bigamie, Unzucht und Schändung. In persönlicher Hinsicht unterstanden nach kirchlicher Doktrin die Armen, Witwen und Waisen als personae miserabiles sowie die Reisenden und Kau eute ratione pacis et securitatis der geistlichen Gerichtsbarkeit. In der Frage, was eine geistliche und was eine weltliche Sache sei, gab es bei einigen Materien Unsicherheiten der Zuordnung. Die Entscheidung darüber wurde zur Machtfrage, bei der es dem Rat um den gesellschaftlichen Frieden, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung sowie um die kommunale und laikale Selbständigkeit ging. In Ehesachen wie bei Ehebruch tendierte der städtische Rat dazu, güterrechtliche Fragen von den Vorgängen und Sachverhalten, die den sakramentalen Charakter der Ehe betrafen, zu trennen und selbstän-

dig zu regeln. In anderen Fällen wie bei Prozessen um eheliches Güterrecht, bei Maßnahmen gegen heimliche Ehen, unberechtigte Ansprüche (Ansprachen) auf Ehe oder in Streitsachen um Unterhaltszahlungen für uneheliche Kinder griff er gelegentlich konkurrierend auch direkt in die Zuständigkeit des geistlichen Gerichts ein, ohne dass es deswegen zu schweren Kon ikten mit dem geistlichen Richter kam. Das Lübecker Recht bestimmte 1274/94, dass Parteien, die vor dem geistlichen Gericht ungerechtfertigte Klagen auf Erfüllung eines Eheversprechens erhoben, durch den weltlichen Richter bestraft werden sollten. Grundsätzlich jedoch blieb der Prozess um Ehe vor dem geistlichen Gericht in vorreformatorischer Zeit unbestritten. Der Rat der protestantischen Städte verwies jedoch Ehesachen vor das Stadtgericht oder das eigens eingerichtete Ehegericht, reduzierte die Zahl der Ehehindernisse und ließ die Scheidung der Ehe zu, der theologisch ein sakramentaler Charakter abgesprochen worden war. Insgesamt betrachtet war die Beurteilung der geistlichen Gerichtsbarkeit durch die Laien ambivalent. Man warf den geistlichen Gerichten ungerechtfertigt hohe Strafen bei geringfügigen Delikten, harten Einsatz von Zwangsund Vollstreckungsmitteln, Habgier und Korruption ihrer Offiziale, Begünstigung der Reichen und Verschleppung anhängiger Verfahren, Einmischung in weltliche Streitsachen, ungerechtfertigte Ladungen ohne Schadensersatzleistung und Gebührenschindereien vor. Allerdings durfte nach kanonischem Recht jeder Gläubige vom bischö ichen Gericht an das päpstliche appellieren, wovon etwa im Streit mit der Kirche exkommunizierte Ratsherren Gebrauch machten, wie auch nach Recht und Gewohnheit jeder vor dem Gericht des Papstes als des obersten Richters der Gesamtkirche belangt werden konnte. Als Vorzüge der geistlichen Gerichtsbarkeit gegenüber der weltlichen erscheinen an-

1109 H. E. F, Kirchliche Rechtsgeschichte, S. 433 f.; W. T, Die gelehrte Gerichtsbarkeit der Kirche, in: H. C (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte (2.2–2.4), S. 467–504. Für kirchenrechtliche Fragen heranzuziehen ist an neueren Darstellungen noch W. P, Geschichte des Kirchenrechts.

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dererseits trotz der Beschwerden die durchschlagende Wirkung von Bann und Interdikt, das rasche und fortschrittliche Verfahren des römisch-kanonischen Prozessrechts, besser geschulte Richter und eigenes besoldetes Gerichtspersonal für eine effektivere Abwicklung der Verfahren. Der römisch-kanonische Prozess zeichnete sich durch das Schriftlichkeitsprinzip, den klaren Stufenbau des Verfahrens und des Instanzenzugs aus sowie durch die Möglichkeit eines beschleunigten summarischen Verfahrens. Er bot der Initiative des Richters einen weiteren Spielraum als der starre und formale deutschrechtlich-landrechtliche Prozess, setzte aber durch die Protokollierung der Prozesshandlungen der richterlichen Willkür Schranken und gewährleistete eine höhere Rechtssicherheit. Das geistliche Gericht urteilte ferner nach einheitlichem Recht und besaß einen großen Gerichtssprengel. Vor allem als Appellationsinstanz und in Streitsachen um Geld, so zur Eintreibung von Schulden, waren geistliche Gerichte hoch geschätzt. Viele der Vorzüge eigneten aber auch der städtischen Gerichtsbarkeit durch die allmähliche Rezeption römischkanonischen Prozessrechts und durch behördliche Vollstreckung.¹¹¹⁰ Der städtische Rat war jedoch bestrebt, die Bürger in weltlichen Streitsachen auf den Austrag vor städtischen Gerichten zu verp ichten und den Weg zu fremden Gerichten, weltlichen wie geistlichen, zu unterbinden. Wel sche Städte einschließlich der Reichsstadt Goslar schlossen sich 1368 und 1396 zusammen, um zu verhindern, dass sich die Bürger gegenseitig vor das geistliche Gericht luden ›in Sachen, die vor das weltliche Gericht gehören‹. Die 1463 veröffentlichte neue Ordnung des Bamberger Domdechanteigerichts, die für Nürnberg von größter Bedeutung war, untersagte Ladungen in weltlichen Sachen und erklärte solche ohne Angabe des Streitgenstandes für ungültig, doch waren die weltlichen Sachen nicht de niert. Ande-

rerseits erstrebte der Rat in geistlichen Sachen ein privilegium de non evocando, das in diesem Falle besagte, dass Bürger von niemandem vor ein auswärtiges geistliches Gericht geladen werden durften und ein geistlicher Richter Rechtsfälle innerhalb der Stadt zu entscheiden hatte. Solche Privilegien erhielten Köln, Wien, Würzburg, Braunschweig, Quedlinburg und später Nürnberg, dessen Privileg von 1402, das von Bonifaz IX. gewährt wurde, jedoch noch im selben Jahr nach einem Einspruch von Bischof, Dekan und Kapitel von Bamberg widerrufen wurde, bis die Stadt 1460 ihr Privileg erfolgreich behaupten konnte. Die Stadt Köln ließ sich 1341 zur Geltung ihres Privilegs und zur Bestellung eines Konservators, die beide Papst Innocenz IV. der Stadt 1252 gewährt hatte, ein Rechtsgutachten von Kanonisten der Universität Montpellier erstatten. Städte, die keinen Bischofssitz beherbergten, hatten sich in Fragen der örtlichen Geistlichkeit mit dem zuständigen Diözesanbischof auseinanderzusetzen, wählten aber auch den Weg an die Kurie nach Rom oder Avignon, um dort Entscheidungen und Privilegien verschiedener Art zu erwirken. Der Nürnberger Rat, der kontinuierlich gute Beziehungen zu Papst und Kurie p egte, unterhielt in Rom von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zum Jahr 1524 einen ständigen Prokurator. Er war mit Hilfe seiner Rechtsgelehrten und Gesandtschaften in vielen Fragen in Rom erfolgreich und erwirkte Verbote gegen leichtfertige Eheschließungen, Regelungen für die Abfassung von Testamenten und letztwilligen Verfügungen, die Erlaubnis, herrenloses Gut wohltätigen Zwecken nach eigener Wahl zuzuführen, Vollmachten für den Abt von St. Egidien zur päpstlichen Urkundenbestätigung und zur Urkundenbeglaubigung sowie das Verbot der Ausübung bürgerlicher Berufe durch Geistliche, doch scheiterte er bei seinen Bemühungen, die Wirtschaftstätigkeit von Klerikern zu unterbinden, am Widerstand des

1110 R. K , Bürgerliche Gesellschaft und Kirche, S. 89 f.; J. H, Zur Charakteristik der geistlichen Gerichtsbarkeit; K. S, Die geistlichen Gerichte; I. B-J, Geistliche Richter und geistliches Gericht; F. E, Der eidgenössische Pfaffenbrief.

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Bamberger Bischofs. Mit Hilfe der Kurie gelang es dem Rat, fremde Ablässe und Opferstöcke abzuwehren und das Ablasswesen für die Stadt zu monopolisieren, Aufsichtsrechte über Klöster und die Bestätigung der Patronatsrechte über die Mess- und Altarpfründen und schrittweise bis 1513 den Patronat über die beiden früher eng mit dem Bamberger Domstift verbundenen Pfarreien zu erlangen. Im Zusammenhang mit dem Streit um die Besetzung der Pfarrei St. Lorenz im Jahre 1478 wandte sich der Rat allerdings nicht nur mit Bitten an den Papst und an die Kardinäle, sondern, das zeigt einen weitgespannten internationalen Kommunikationszusammenhang, auch an den Kaiser, den Erzbischof von Krajina als den päpstlichen Legaten im Reich, an die Könige von Böhmen, Ungarn und Neapel, den Dogen von Venedig, den Patriarchen von Aquileja und den Karmelitengeneral Martingnano. Als nach dem ersten Markgrafenkrieg im Anschluss an den Frieden von 1453 im Krieg erstürmte oder besetzte Klöster gegen Nürnberg auf Schadensersatz klagen wollten, konnten städtische Gesandte in Rom wiederholt befristete Klageverbote des Papstes erwirken. 5.1.6 Die Nutzung geistlicher Gerichte durch Laien Zur Wahrung der städtischen Gerichtshoheit war der Rat vor allem seit dem ausgehenden 14. und beginnenden 15. Jahrhundert mit Nachdruck bemüht, die Inanspruchnahme des geistlichen Gerichts durch Bürger in reinen Zivilsachen zu unterbinden, so vor allem bei Klagen um Geldschuld, um Forderungen und in weiterem Sinne um Vertragsschuld. Dies erschien notwendig, weil bei manchen Bürgern seit dem 13. Jahrhundert das geistliche Gericht, das Offizialat, wegen seines vergleichsweise zügigen Verfahrens und der Sicherheit der Vollstreckung zeitweise bei weltlichen Parteien in hohem An-

sehen stand oder weil dort ein günstiges Urteil erwartet wurde. Der Offizial als der rechtskundige, gelehrte Richter des bischö ichen Gerichts gelangte aus Italien im 13. Jahrhundert nach Deutschland. Eine vergleichbare Beliebtheit galt für die freiwillige Gerichtsbarkeit. Bürgerliche Besitzurkunden wurden vom Offizialat angefertigt, Verträge von ihm beglaubigt und Urkunden dort hinterlegt, bis diese Funktion zu unterschiedlichen Zeitpunkten an den Rat und sein Schriftwesen überging. Papst Innocenz VI. beauftragte 1356 den Erzbischof von Trier, dafür zu sorgen, dass die Bestimmung Papst Bonifaz’ VIII., wonach wegen Geldforderungen das Interdikt nicht verhängt werden dürfe, beachtet werde.¹¹¹¹ Die Praxis, in Schuldsachen ein Interdikt zu erwirken, verbot Nikolaus von Kues als Kardinal 1451 der Stadt Hildesheim auf seiner Legationsreise im Reich. Das Straßburger Offizialat etwa wurde im 14. Jahrhundert, als das Ofzialat weithin bevorzugtes Gericht für Geldschuld war, von Kau euten, Händlern, Geldleuten und Handwerkern zur Eintreibung und Einklagung von Schulden, Zinsen, Gülten und anderer Forderungen und Verp ichtungen in Anspruch genommen. Straßburger Kornhändler ließen ihre spekulativen, nicht unbedenklichen Verträge mit Bauern, denen sie auf die künftige Ernte Geld liehen, gleichfalls vom geistlichen Gericht beglaubigen, um sie bei streitiger Leistungserfüllung leichter vor dem Offizialat verklagen zu können.¹¹¹² Die Geldaristokratien kleiner Städte der Eidgenossenschaft setzten durch, dass die Zinszahlungen ihrer Rentenschuldner notfalls mittels des kanonischen summarischen Verfahrens eingetrieben werden durften. Auch traten auf einem »prozessualen Schleichweg« Laien ihre eigenen Forderungen an Geistliche ab, die sie dann vor dem geistlichen Gericht einklagten.¹¹¹³ Sofern nur die Leistung und nicht das Bestehen des Rechts an sich Gegenstand des

1111 L. E (Hg.), Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, Bd. IV, Köln 1870, Nr. 380, S. 417 f. 1112 K. S, Die geistlichen Gerichte in Straßburg; P.-J. S, Die »armen lüt«. 1113 F. E, Der eidgenössische Pfaffenbrief von 1370, S. 85.

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Streits war, wurde im geistlichen Gericht das rasche summarische Verfahren angewandt. 5.1.7 Geistliche Zwangsmittel gegen Laien: Kirchenbann und Interdikt Der große Kirchenbann bedeutete den Ausschluss aus der Gemeinschaft der Gläubigen (communio delium), den Ausschluss von allen Sakramenten, das Verbot, die Kirche zu betreten, die Verweigerung des kirchlichen Begräbnisses, das Verbot der communicatio forensis, d. h. die Unfähigkeit zu gerichtlichen Handlungen als Ankläger oder Zeugen, und vor allem das allgemeine Verbot, mit dem Exkommunizierten zu verkehren. Das interdictum ambulatorium besagte, dass jeder Ort, an dem sich eine davon betroffene Person aufhielt, vom Augenblick der Ankunft bis zum Weggang dem allgemeinen Interdikt ver el. Erst die Konstitution Papst Martins V. Ad (e)vitanda von 1418 brachte eine allmählich wirksame Einschränkung des Verkehrsverbots. Auch trat der Charakter der Exkommunikation als Beugestrafe und Zensur deutlicher hervor. Der Exkommunizierte hatte bis zur Lösung vom Bann rechtliche Einschränkungen zu tragen und galt als unfähig, weltliche öffentliche Ämter auszuüben. Gegen die Verwendung der Exkommunikation als kirchliches Kampfmittel sowie zur Eintreibung von Abgaben und Schulden regte sich energischer Widerstand von weltlicher Seite. Der Verfasser der »Reformatio Sigismundi« von 1439 wandte sich gegen die Verhängung von Kirchenbann und Interdikt gegen Kleriker und Laien bei einer Geldschuld, da diese Streitsache dem Bereich des kaiserlichen Rechts zugehöre. Das Interdikt in der Form des Lokalinterdikts (interdictum locale generale, publica excommunicatio) war auf bestimmte Bezirke wie Pfarreien und Städte sowie größere Gebiete ausgerichtet und bedeutete, dass die Geistlichkeit die Sakramente versagte, die gottesdienstlichen Handlungen einstellte (cessatio a divinis) und kirchliche Begräbnisse verweigerte, wo-

1114 Liber Sextus c. 24 de sententia excommunicationis V, 11.

durch das kirchlich-geistliche Leben weitgehend zum Erliegen kam. Den Geistlichen selbst war es gemäß der Konstitution Alma mater Bonifaz‘ VIII.¹¹¹⁴ erlaubt, ohne Glockengeläut und unter Ausschluss der Laien bei geschlossenen Türen täglich die Messe zu lesen. Einzelne Nürnberger Patrizierfamilien verschafften sich Privilegien, die ihnen den Gottesdienstbesuch auch an indizierten Orten gestatteten; der Rat besaß schon seit 1379 die Erlaubnis, dass jeweils 35 seiner Mitglieder in Zeiten des Interdikts dem Gottesdienst beiwohnen durften. Der Kölner Rat erlangte 1390 ein päpstliches Privileg, das zu Zeiten eines vom Rat nicht verschuldeten Interdikts denjenigen Ratsherren, die eine Ratssitzung besuchten, erlaubte, zuvor in der Ratskapelle bei geschlossenen Türen und ohne Glockenläuten eine mit leiser Stimme gehaltene Messe und andere gottesdienstliche Handlungen abhalten zu lassen. Da das Interdikt, das oft lange Zeit währte, den Zweck hatte, von der Kirche inkriminierte und missliebige Personen oder Personenkreise dem Druck der Mitbetroffenen auszusetzen, um sie dadurch zur Unterwerfung zu zwingen, wurde es von der Allgemeinheit als besonders ungerechte Härte empfunden, häu g auch nicht beachtet und in einzelnen Fällen mit Gegenmaßnahmen gegen den Klerus beantwortet. Pfarrer und Priester, die das Interdikt vollstreckten, wurden gelegentlich vertrieben und durch andere Kleriker ersetzt. Vor allem konnten die Bettelorden die kirchlich-sakramentalen Funktionen weiter erfüllen, sofern es ihnen nicht vom Papst untersagt wurde. Größte Erbitterung und scharfe Ablehnung rief im Reich das Interdikt hervor, das Papst Johannes XXII. 1324 gegen Ludwig den Bayern und seine Anhänger, darunter viele Reichsstädte, verhängte und das 23 Jahre lang währte, aber vielfach auch von der städtischen Geistlichkeit, vor allem von Minoriten, missachtet wurde. Gegen Personen, die das Interdikt verkündeten und gegen Geistliche, die es befolgten, die, wie es hieß, ›nicht sangen‹, wurden teilwei-

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se schwere Übergriffe verübt. Neben den häug verhängten Interdikten hatte der Glaubenskrieg gegen Ketzer höchst weltliche Folgen. Der Nürnberger Absatzmarkt in Böhmen im wichtigen Osthandel war gefährdet, als Papst Martin V. im Ketzerkrieg gegen die böhmischen Hussiten ein allgemeines Verkehrsverbot verhängte, das erst mit dem Iglauer Frieden von 1436 ein Ende fand. Das Problem entstand erneut, als die Kurie 1467 gegen den mit dem Utraquismus sympathisierenden König Georg von Böhmen und die Hussiten erneut den Kreuzzug ausrief. Der Nürnberger Rat, der das damit zusammenhängende Verkehrsverbot wie andere nicht einfach unbeachtet lassen wollte, erreichte 1478 ein auf zwei Jahre befristetes Dispensreskript für den wechselseitigen Handel mit Böhmen, das er mehrmals erneuern ließ, bis schließlich 1495 eine Handelserlaubnis bis auf Widerruf erteilt wurde.

5.2 Die Sonderstellung von Klerus und Kirche 5.2.1 Privilegium immunitatis Das klassische kanonische Recht beanspruchte für kirchliche Personen, Orte und Sachen die Freiheit von Steuer- und Dienstleistungen aller Art, von der Grund- und Vermögensteuer, von Gewerbe-, Handels- und Verbrauchssteuern, außerordentlichen Abgaben und Zöllen, von solidarischen Arbeitsleistungen an Bauwerken (Fronen), Hand- und Spanndiensten,

Wacht- und Kriegsdienst. Die grundsätzliche Abgabenfreiheit der Güter des Klerus wurde, insbesondere gegen Belastungen durch die Ratsherren der Städte gewandt, auf dem III. Laterankonzil von 1179 (Kanon 19) und dem IV. von 1215 (Kanon 46) zur kirchenrechtlichen Norm erhoben¹¹¹⁵, durch die Dekretalen Gregors IX. (c. 4 und c. 7 X de immunitate ecclesiarum III, 49) festgeschrieben und durch Dekretalen Papst Alexanders IV. und Bonifaz‘ VIII., die in den Liber Sextus von 1298 aufgenommen wurden¹¹¹⁶, mit Bestimmungen gegen Amortisationsgesetze und zur Freiheit von Durchgangs- und Geleitabgaben weiter ausgeführt. Personen, welche die Abgabenfreiheit (immunitas ecclesiastica) verletzen oder dazu Beihilfe leisten, trifft die Exkommunikation, Korporationen und Städte das Interdikt. Die gleichen Freiheiten von Abgaben und Diensten wurden für die laikale familia des Klerus, d. h. die Amt- und Dienstleute, das Gesinde und die Hörigen der kirchlichen Institutionen und Personenverbände, gefordert. Die aufstrebende politische Gemeinde vermochte je länger desto weniger einzusehen, weshalb die Geistlichkeit, die den Schutz und die Rechtssicherheit der Stadt genoss, Nutzen aus dem Markt, dem Handelsverkehr und der Gewerbetätigkeit zog und städtische Einrichtungen wie Straßen und Brücken benutzte, nicht auch mit den Bürgern die städtischen Lasten tragen, mitleiden sollte. Die Frage stellte sich in aller Schärfe, als die Stadt die Steuerhoheit an sich zu ziehen begann.¹¹¹⁷Die Pfaffen sol-

1115 Allerdings wurden in beiden Canones Leistungen (subsidia) des Bischofs und des Klerus ohne jeden Zwang ins Auge gefasst, falls diese eine Notwendigkeit oder Notlage (necessitas) und einen Nutzen (utilitas) erkennen und die Mittel der Laien zur Behebung allgemeiner Notlagen (communes utilitates et necessitates) nicht ausreichen. Gemäß der Fassung von 1215 soll jedoch zuvor der römische Bischof befragt werden, dem die Sorge für das Gemeinwohl am Herzen liege. 1116 c. 1 de immunitate ecclesiarum III, 23; c. 4 de censibus III, 20. 1117 Der Hamburger Rat stellte in den Auseinandersetzungen mit dem Domkapitel zur Begründung seines Verbots, liegendes Gut in kirchliche Hand zu geben, um 1338 die Belastungen und enormen nanziellen Leistungen von Stadt und Bürgern, an denen sich die nutznießenden Kleriker unter Berufung auf ihr privilegium immunitatis nicht beteiligten, in acht die spezielle Lage Hamburgs berücksichtigenden Artikeln zusammen. Dazu gehörten die Aufwendungen für die Instandhaltung von Grund, Ufern und Furten der vielen Wasserläufe, der Wege und vielen Brücken, die Ausgaben für Wachtdienste zum Schutz bei Tag und Nacht, die Maßnahmen zur See gegen Piraten verschiedener Herkunft, Plünderer und Eindringlinge mit fremden Schiffen, Leistungen an Landesherren, Herren, Adlige und Ritter, um den Frieden und die Ruhe für die Bauern und die durch das Land vor der Stadt Reisenden zu erhalten, Ausgaben für Mauern und Gräben für die Verteidigung und den Schutz der Stadt, die täglichen und ununterbrochenen Reparaturen zum

Die Sonderstellung von Klerus und Kirche 617

len schossen, d. h. die städtische Vermögensteuer zahlen, hieß es etwa in Hildesheim. Die Forderung nach einer Besteuerung des Klerus wurde umso dringlicher, als eine Verschuldung der Städte um sich griff. 5.2.1.1 Geistlicher Grundbesitz und Steuerfreiheit In den bischö ichen oder auf klösterlichem Grund errichteten Städten war die Geistlichkeit Hauptgrundbesitzer. Die bürgerliche Steuerp icht (Stadtp icht, Dingen) war ursprünglich an Grundbesitz geknüpft und dann auf weitere Tatbestände ausgedehnt worden. Geistliche Siedlungen, Immunitätsbezirke mit weitläu gen kirchlichen und wirtschaftlichen Anlagen, Gärten, Kurien der Dom- und Stiftshäuser und Vikarienhäusern, ferner Niederlassungen und Stadthöfe (P eghöfe) auswärtiger Klöster¹¹¹⁸ prägten die Topogra e der Stadt. Zumindest wenn die Immunitäten ummauert waren, mussten sie von den Bürgern auf ihren Wegstrecken umgangen werden. Daneben war mancherorts fast der gesamte bürgerliche Grundbesitz den geistlichen Institutionen als den Grundeigentümern lehens- und zinsp ichtig. Aber auch in einer königlichen Stadt und Reichsstadt wie Frankfurt am Main besaß die Geistlichkeit um 1376 bereits den dritten Teil des städtischen Grund und Bodens. In Köln waren es im späten Mittelalter mindestens 20 bis 30 Prozent. In Augsburg waren um die Mitte des 15. Jahrhunderts etwa 200 Häuser allein dem Bischof zinsp ichtig. Weniger umfangreich war der kirchliche Grundbesitz in nordwestdeutschen Städten. Nicht nur Grund- und Hausbesitz, darun-

ter auch Kaufbuden und -hallen um den Markt (Hildesheim), sondern auch auf Liegenschaften gelegte Ewiggelder und Leibgedinge, d. h. Renten, die als Immobilien betrachtet wurden, elen durch testamentarische Verfügungen und durch Schenkungen – zum Unterhalt gottesdienstlicher Stiftungen (Seelgeräte) und anderer frommer Zwecke – , ferner durch Kauf an die Kirche.¹¹¹⁹ In Hannover war fast die Hälfte aller Häuser belastet, wobei etwas über 40 Prozent der Renten kirchlichen Stiftungen gehörten. Erst später wurden reine Geldleistungen an die kirchliche Institution beliebter. Der Straßburger Rat wollte 1502 König Maximilian I., um ihn zur privilegialen Bestätigung von städtischen Amortisationsgesetzen zu bewegen, den Extremfall vorhalten, dass schließlich die ganze Stadt und ihre Güter in die Hand und Gewalt der Geistlichen komme, dadurch die Bürger von ihrem Regiment entfremdet und vom Reich abgetrennt würden und es zum Aufruhr der Gemeinde kommen werde. Geistliche Institutionen, Kleriker und Nonnen investierten freies Kapital am städtischen Kapital- und Rentenmarkt, vorzugsweise in kommunale Ewiggelder und Leibgedinge, und erwarben sich einen festen Rentenbezug neben ihrem Pfründeneinkommen. In Köln stieg der Anteil des Klerus an der auf Rentenverkauf beruhenden städtischen Schuld im Laufe des 16. Jahrhunderts bis auf 40 Prozent an. Der Straßburger Rat äußerte 1502 die Befürchtung, dass der Wohlstand der Stadt weiterhin zurückgehe, da der Klerus immer reicher werde und die Laien an Kapitalkraft bereits überträfe.¹¹²⁰

Schutz der Nachbarn wegen des Drucks auf Grundstücke und Gebäude infolge des ständigen Gezeitenwechsels, der den Boden sump g und bebend machte. R. S/J. R (Bearb.), Rat und Domkapitel, Teil 2, S. 12 f. 1118 Einige Beispiele für Städte mit Stadthöfen von Benediktinern, insbesondere von Zisterziensern und anderen Orden wie den Prämonstratensern (Männer- und Frauenklöster): Köln 21, in Lüneburg 14, Straßburg 13, Würzburg 11, Osnabrück 8, Hannover 8, Goslar 7, Speyer 7, Lübeck 6, Höxter 5, Duderstadt 5, Mühlhausen i. . 5. Die Zisterzienserabteien besaßen durchweg Stadthöfe, und zwar meist mehrere, während andere Orden häu g nur in der nächstgelegenen Stadt Anlagen hatten. G. S; W. H/J. C; B. B, Art. »Wirtschaftshöfe«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 9, 1998, Sp. 254 f. 1119 W. L, Die Ablösung der ewigen Zinse in Frankfurt a. M.; M. G, Kirche und Klerus in der stadtkölnischen Wirtschaft; H. F, Der wirtschaftliche Niedergang Freiburgs i. B.; und generell die Untersuchungen zum städtischen Rentenmarkt (9.6.2.6). 1120 U. I, Johannes Geiler, S. 214.

618

Stadt und Kirche

5.2.1.2 Städtische Amortisationsgesetzgebung Die fortschreitende Akkumulation bürgerlichen Grundbesitzes und von Renten auf bürgerlichen Liegenschaften in der Hand der Kirche, die ihren Besitz als Tote Hand nicht vererben konnte, ihn deshalb auch nicht durch Erbgang zersplitterte und zudem infolge päpstlicher Veräußerungsverbote zeitweise auch nicht verkaufen durfte, schwächte wegen des privilegium immunitatis und des Steuerausfalls die Finanzkraft der Kommune und führte zu einer höheren steuerlichen Belastung des einzelnen steuerp ichtigen Bürgers. Um der fortschreitenden Umverteilung des bürgerlichen Grundbesitzes in der Stadt zu begegnen oder die Steuerbarkeit tradierter Güter zu erhalten, ergriff der Rat seit dem 13. Jahrhundert im Interesse des Gemeinwohls und des unabweisbaren Bedürfnisses (ad utilitatem et necessitatem) der Stadt verschiedene Maßnahmen, die er in langwierigen Auseinandersetzungen mit der Geistlichkeit durchzusetzen versuchte: 1. Der Rat bemühte sich, Geistliche und geistliche Institutionen zum Eintritt in das Bürgerrecht mit gleichen Rechten und P ichten zu veranlassen und damit die Steuerfreiheit aufzuheben, doch gelang dies nur in Einzelfällen und häu g nur zeitweilig. Zwangsweise und generelle Einbürgerungen in Verbindung mit pauschaler Besteuerung scheiterten, jedenfalls bis zur Reformation. 2. Der Rat versuchte mithilfe königlicher und landesherrlicher Privilegien, einer ei-

genen Amortisationsgesetzgebung seit dem 14./15. Jahrhundert, ferner auf dem Wege vertraglicher Vereinbarungen mit der Geistlichkeit oder einzelnen geistlichen Institutionen und von Schiedssprüchen Steuern und Abgaben zu sichern. Dabei kamen im Wesentlichen folgende Regelungen und Maßnahmen in Betracht: a) Der bürgerliche Grundbesitz bleibt, wie verschiedene königliche Privilegien seit etwa 1250 bestimmten und wie immer wieder vorgebracht wurde, auch bei Veräußerung an Klerus und Kirche grundsätzlich in vollem Umfang steuerp ichtig nach dem Grundsatz des römischen Rechts, die Sache werde mit ihren Belastungen übertragen (res transit cum onere). b) Liegenschaften, eventuell auch Erbzinse, die durch testamentarische Verfügung oder Erbgang an Geistliche fallen, die bei Ordenseintritt eingebracht werden oder durch Schenkung an die Kirche gelangen, müssen ein Jahr lang den Bürgern zum Kauf angeboten werden, oder sie sind zu versteuern. c) Der Rat erwirkt weitergehende königliche Privilegien und Gebote, in denen eine Steuerp ichtigkeit aller Güter, Häuser, Zinse und Renten festgelegt wird, wobei verschiedentlich ausdrücklich auch diejenigen der Geistlichkeit genannt werden.¹¹²¹ d) Die Übertragung von bürgerlichem Grundbesitz innerhalb der Stadt, auch

1121 Ein solches Privileg erteilte Kaiser Otto IV. Duisburg 1213; ein Befehl König Rudolfs I. von 1292 befahl den Klerikern die Zahlung. König Rudolf verbot 1287 die Übertragung bürgerlichen Grundbesitzes an die Tote Hand in Augsburg oder verlangte die Weiterbesteuerung dieser Güter. Die Bestimmung wurde 1306 von Albrecht I. wiederholt. Ähnliche Gebote erließen Rudolf 1294 für München, Adolf 1299 für Wetzlar, Albrecht I. für Gelnhausen und Karl IV. für Nürnberg. Ähnliches verfügten die Herzöge von Bayern (Ingolstadt) und Österreich (Rudolf IV. 1361 für Wien). In Köln wurde Grundbesitzerwerb der Toten Hand seit 1343 den Bettelorden und 1385 durch ein Gebot der Rückübertragung in weltliche Hände binnen Jahresfrist generell verboten, doch wurde die bis zum Ende der reichsunmittelbaren Zeit geltende Bestimmung exibel gehandhabt. Mancherorts blieb nur der unmittelbare Immunitätsbereich steuerfrei, oder es wurden Ausnahmen von der generellen Steuerp icht gemacht. Regensburg besteuerte bereits 1207 gewerbetreibende Kleriker; Augsburg vereinbarte im Friedensschluss mit dem Bischof 1251 die Besteuerung handeltreibender Kleriker. In Straßburg wurde seit 1246 mit einiger Konsequenz versucht, die Kleriker zur Steuer heranzuziehen. Göttingen statuierte 1354 die Steuerp icht der Kleriker, Braunschweig machte anfangs des 15. Jahrhunderts den Klerus steuerp ichtig. Wieweit in diesen Städten die tatsächliche Besteuerung durchgesetzt wurde, bleibt im Einzelfall zu prüfen. E. M, Die kirchliche Steuerfreiheit, S. 175–182.

Die Sonderstellung von Klerus und Kirche 619

von darauf liegenden Gülten (Zinse) oder darauf radizierten Renten an Geistliche oder geistliche Institutionen wird verboten. Ein derartiges Verbot konnte die Wirkung haben, dass die Steuerbarkeit anerkannt oder der Verkauf in Bürgerhand gelobt wurde. e) Der Rat nimmt Ein uss auf das Testamentsrecht, indem er die Testierfreiheit einschränkt und nur bescheidene Seelgeräte erlaubt, die Gültigkeit von Vermächtnissen an geistliche Institutionen von der Einwilligung der rechten Erben abhängig macht und mit präventiver Wirkung für die Rechtsgültigkeit eines Testaments die Anwesenheit mindestens zweier Ratsherren bei der Abfassung vorschreibt. 3. Es werden mit Geistlichen oder geistlichen Institutionen Vereinbarungen über die Entrichtung einer pauschalen Steuer getroffen. Auch verp ichten sich geistliche Institutionen gelegentlich in Kriegsfällen zu außerordentlichen Abgaben und sonstigen Hilfsleistungen. Geiler von Kaysersberg sah sich veranlasst, der angeblich allgemeinen Auffassung entgegenzutreten, Testamente, d. h. die Testierfreiheit, seien ohnehin nur für die Pfaffen und zum Nutzen der Geistlichkeit erdacht. Auch machte er als Kehrseite einer gesetzlichen Beschränkung der Legate ad pias causas geltend, dass die sozialen Einrichtungen wie die Elendenherberge (Fremdenherberge), das Waisenhaus, das Syphilitikerheim, das Leprosorium, die Armenversorgung sowie die Kirchenfabrik des Münsters (Frauenwerk) nanziell Schaden leiden würden und dadurch die Stadt selbst karitative Aufgaben übernehmen müsse. Tatsächlich gingen die Schenkungen an die geistlichen Institutionen im Verlauf des 15. Jahrhunderts an Zahl und Wert zurück. Um seine Maßnahmen erfolgreich durchsetzen zu können, musste der Rat den Liegenschaftsverkehr und seine Beurkundung kontrollieren oder die freiwillige Gerichtsbarkeit an sich ziehen. In Braunschweig wurden 1404 das ›Gotteshausbuch‹ (godeshuseboek) und 1412 erwei-

ternd das Gotteshausregister angelegt, damit der Rat grundsätzlich für politische Maßnahmen und für eine Besteuerung der Zinse einen Überblick über den gesamten kirchlichen Grundbesitz in der Stadt besaß. Auch in Nürnberg war der Rat im späteren 15. Jahrhundert gegen den Widerstand der Geistlichkeit und der Bistumsbehörden darum bemüht, alle in geistlicher Hand be ndlichen Besitzungen zu registrieren. In Hameln kam es 1328 zum Aufruhr, weil Augustinereremiten ein Haus gekauft und heimlich geweiht hatten. Bürger stürmten das Haus und vertrieben die zwölf Mönche. Ein langwieriger Rechtsstreit war die Folge, bei dem sich der Papst auf die Seite der Augustiner stellte und der Herzog sie in Schutz nahm, doch setzte sich der Rat 1350 durch und untersagte den Verkauf von Grundbesitz an Geistliche. Auch andere niedersächsische Städte versuchten Ordensniederlassungen zu verhindern. Eine vom Bischof beherrschte Stadt wie Würzburg brachte es zu keiner Amortisationsgesetzgebung. Bei bestehender Steuerfreiheit der Kirche kam es mancherorts vor, dass diese von Bürgern zur Steuerhinterziehung ausgenützt wurde, indem man der Kirche Grundstücke vermachte, sich die Nutzung aber vorbehielt. Um bei Stiftungen das Problem der kirchlichen Steuerfreiheit zu umgehen, legte der Rat den Bürgern verschiedentlich nahe, Stiftungen in Form von Geldleistungen vorzunehmen. Gelegentlich übernahm bei Stiftungsrenten der Stifter die Steuerleistung. Bei geistlichen Stiftungen blieb die ursprüngliche Dotationsmasse, das Widemgut, in der Regel steuerfrei. 5.2.1.3 Einkünfte und Erwerbswirtschaft des Klerus Während es dem Rat in der Regel nicht gelang, die städtische Vermögensteuer auf die Geistlichkeit ohne Bürgerrecht auszudehnen, war er bemüht, die Gewerbe- und Handelstätigkeit der Geistlichkeit, d. h. in erster Linie ihrer Amtund Werkleute, ihrer Familiaren und ihrer Dienerschaft, einer kommunalen Steuer- und Abgabenp icht zu unterwerfen. Dabei handelte es sich hauptsächlich um den Verkauf oder Aus-

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schank von Wein und Bier sowie um eine meist geringfügigere klösterliche Produktion von Textilien und den Handel damit. Im Vertrag zwischen der Stadt Straßburg und Bischof und Domkapitel von 1314 sollte es den Domherren und Klerikern nur gestattet sein, in Haus und Hof die eigenen Weingewächse zu verkaufen. Der Göttinger Rat scheiterte um 1339 mit dem Versuch, der Geistlichkeit Brauerei und Bierhandel zu verbieten. In Straßburg hatten die Geistlichen nach einer Ordnung von 1460 Ungeld, das Mahlgeld und eine Abgabe auf den Weinverkauf (›Helblingzoll‹) zu entrichten. Kanoniker, Vikare und Mönche richteten in Köln in den Immunitäten einen regelrechten Wirtshausbetrieb ein, wogegen die Bürgermeister angeblich oft die Immunität der Kirchen verletzten und durch Zerschlagen der Gefäße den Weinausschank unterbanden. Unter Hinweis auf den entstehenden Unfrieden und die Verletzung der kirchlichen Immunitätsbezirke verbot der Klerus selbst im Anfang des 14. Jahrhunderts den Getränkeverkauf. Auch die Naturalzinse der geistlichen Hintersassen wurden auf den städtischen Markt gebracht und verkauft. In Frankfurt am Main unterhielten überdies Angehörige ortfremder Klöster und Stifte mehr als 15 Wirtschaftshöfe zum Verkauf ihrer Naturaleinkünfte und zum Einkauf von Handelswaren. Von der Gesamtmenge an Getreide, das die Kölner Mühlen 1371–1373 vermahlten, wurden 25–30 Prozent vom Klerus angeliefert. Der Anteil des Klerus am Kölner Weinaufkommen im Spätmittelalter betrug 10–20 Prozent, der Anteil an der Bierproduktion in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts 21–27 Prozent. Der Augsburger Rat verp ichtete 1437 zur Sicherung der Getreideversorgung neben den Bürgern auch die Klöster und Stifte, die von der Stadt abhängig waren, ihre Korngülten (Naturalzinse) in der Stadt zu verkaufen oder aufzuschütten. Wenn der Klerus freilich Freiheit von Getreidezoll und Mahlungeld genoss, besaß er Preisvorteile und konnte die Produkte billiger absetzen. Mit wechselndem Erfolg versuchte der Rat, auch von der Geistlichkeit Zölle und Ungeld zu erheben, die dem Unterhalt von Be-

festigungen, Markteinrichtungen, Brücken und Straßen (P asterzoll) dienten, dies wenigstens von den Gütern, die über den unmittelbaren Eigenbedarf der Geistlichkeit selbst hinausgingen und möglicherweise in den Handel gelangten. Sofern es der Stadt gelang, Weltgeistliche zum Wachtdienst zu verp ichten, durften diese Ersatzleute stellen oder die P icht durch Geld ablösen. In manchen Städten unternahm es der Rat, die gewerbliche Konkurrenz der Geistlichkeit überhaupt zu verbieten, denn sie senkte – wie dies die Stadt Worms 1498 in Berechnungen gegenüber dem Weinschank der Pfaffen geltend machte – das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung und schwächte durch den Ausfall von Zoll und Ungeld die Finanzkraft der Stadt. Im Zusammenhang mit Einwendungen gegen ihre Matrikelquoten für die Reichshilfe trugen Wormser Gesandte 1486/87 Kaiser Friedrich III., 1495 König Maximilian I. und 1498 auf dem Freiburger Reichstag vor, die Kleriker kauften mit dem Anspruch auf Steuerfreiheit in der Stadt Häuser, Höfe und Güter, die vormals der Stadt gedient hatten, d.h. von denen Steuern gezahlt wurden, sodass die Stadt Einkünfte (Renten) und Leute verliere. Den freien Weinschank der Geistlichen betreffend rechneten die Wormser Gesandten vor, dass knapp 40 in Worms ansässige Kleriker in guten Jahren bis zu 1 000 Fuder Wein ausschenkten, das Fuder zu 10 Gulden, woraus sich die Summe von 10 000 Gulden ergebe. Diese Einnahmen würden sie aus der Gemeinde abziehen und nach Köln, Mainz, Straßburg, Basel und Rom bringen und dem städtischen Gemeinwesen mit nicht einem Pfennig zu Hilfe kommen. In wenigen Jahren habe der Klerus 500 Fuder jährlicher Weingülte, Gefälle und Gewächse aufgekauft. Um das drastische Gefälle im Pro-Kopf-Einkommen zwischen Klerikern und Stadtbewohnern zu demonstrieren, wurde geltend gemacht, dass 40 oder 50 Kleriker in durchschnittlichen Jahren 1 200 Fuder Wein ausschenkten, die ganze Stadtgemeinde mit 6 000 oder 8 000 Personen hingegen nur 1 800 Fuder. Ferner sei das städtische Aufkom-

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men an Weinungeld binnen sechs Jahren von 3 000 Gulden auf nur noch 900 Gulden zurückgegangen. Dabei müsse die arme Gemeinde anders als die davon freien Geistlichen Wege und Stege in Stand halten, Hut- und Wachtdienste erbringen, städtische Diener entlohnen, Gülten und Zinse zahlen, noch andere Bürden tragen und dem Reich dienen. In einer Supplikation an König Maximilian wies der Wormser Rat 1495 darauf hin, dass ihm die Stadt unter schweren Kosten eine erhebliche Anzahl von Söldnern geschickt habe, während die Geistlichen in Worms in dieser Zeit da pacem domine etc. gesungen hätten: wie ungleich sind unsere Dienste.¹¹²² Wegen ihrer Immunität und ihrer Wirtschaftstätigkeit immer weniger gerne gelitten waren auch die Stadthöfe der alten Orden, insbesondere solche der aktiven, der Handarbeit und verschiedenen wirtschaftlichen Erwerbsformen, in Mittelgebirgsregionen auch dem Bergbau zugewandten Zisterzienser. Die Wirtschaftshöfe mit ihren Speichern waren auf den städtischen Handel und Markt ausgerichtet. Landwirtschaftliche Überschussprodukte aus ihrem Grundbesitz wie Getreide, Wein und Wolle wurden abgesetzt, vom Kloster benötigte Waren wie Fisch, Salz und gewerbliche Produkte eingekauft. Sie waren in Norddeutschland Stützpunkte für den Ostseehandel mit den entsprechenden Waren, für den klösterlichen Salzhandel nach Nord-, Mittel- und Ostdeutschland und mit Produkten des Montanbereichs wie Silber, Kupfer, Eisen und Steinkohle, die sie mit eigenen Schiffen transportierten. Lüneburg und Goslar waren als Standorte wegen des Salzes und der Bodenschätze für viele und weit entfernte Klöster von wirtschaftlichem Interesse. Die städtische Bevölkerung sah im Klerus und in den semireligiosen Beginen wirtschaftliche Konkurrenz. Den Klerikern war es kirchenrechtlich untersagt, gewisse mit ihrem Stand we-

niger zusammenstimmende und vereinbare Tätigkeiten auszuüben wie Handelsgeschäfte, die Arzneikunst, Rechtsvertretung und Vermögensverwaltung oder die Erwerbstätigkeit in Bewirtung und bestimmten Handwerken. Das Konzil von Vienne von 1311/12 (Dekret 8) verbot Klerikern, öffentlich und in eigener Person die Berufe des Fleischers, Metzgers und Schankwirts auszuüben. Klöster betrieben aber Ausschank, unterhielten Herbergen und gingen anderen Gewerben nach; einzelne Kleriker wurden als Ärzte und Anwälte tätig. Auf Antrag des Nürnberger Rats etwa schärften Päpste und Bischöfe die kanonischen Verbote wiederholt ein. Kleriker nahmen aber an der weltlichen Erwerbswirtschaft teil, wie sich etwa Prälaten in Ulm am städtischen Barchenthandel beteiligten oder in Lüneburg Prälaten Eigner der Salzpfannen waren. Zu Kon ikten mit der Geistlichkeit kam es ferner, wie in Aachen mit dem Marienstift, wegen der Nutzung eines begehrten Wasserlaufs, der durch die kirchliche Immunität ging und mit seiner Strömung nur eine begrenzte Anzahl an Mühlen am Laufen halten konnte.¹¹²³ Um die Mitte des 15. Jahrhunderts erstattete der eologe und Prediger omas Ebendorfer von Haselbach, Autor historischer Werke, vielgefragter Rat, Diplomat und Rektor der Universität Wien, für den Propst des Stiftes St. Dorothea zu Wien ein Gutachten, in dem er auf der Grundlage des kanonischen Rechts mit weiteren Verweisen auf das römische Recht, das Naturrecht und das göttliche Recht das Weinausschankrecht und darüber hinaus grundsätzlich die Erwerbsgeschäfte von Klerikern behandelt.¹¹²⁴ Er macht grundsätzlich deutlich, dass es keineswegs dem Stande der Kleriker noch der Würde der Bene ziaten, Kuraten oder Prälaten widerspreche, wenn sie von dem Nutzungsrecht oder Eigentum an weltlichen Gegenständen, das sie durch ihr Amt oder ihre Stellung innehätten, in der Weise Gebrauch machten,

1122 E. I, Reichsstadt und Reich (3.1–3.5), Anhang Nr. 6, S. 216–218. 1123 M. M, Der Aachener Reichsstrom (1.5.4). 1124 W. T, Weinausschankrecht und Erwerbsgeschäfte von Klerikern.

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dass sie von den Früchten in fester oder üssiger Form dasjenige zu einem üblichen und gerechten Preis verkauften, was nach Eigenverbrauch übrig blieb. Dem Weinausschank stand aber eine Reihe von kirchenrechtlichen Verboten entgegen, die Ebendorfer zunächst nennt. Das Kirchenrecht verbiete den Klerikern unter Strafen, Wirtshäuser zu unterhalten oder ein Wirtshaus auch nur zu betreten, und diejenigen, die Wirtshäuser betrieben, zählten sogar zu den übel Beleumundeten (infames), weil dort ohne Maß getrunken werde, verbotene Würfelspiele üblich seien, sich Streitigkeiten, Verletzungen und Morde ereigneten. Außerdem könne ein Wirtshaus, wie das VI. Konzil lehre, kaum ohne Sünde, Beleidigung des Nächsten, Gewalt, Maßverschlechterung, lügenhafte Worte, Meineide, Streitigkeiten oder Anreiz zu übermäßigem Gewinn betrieben werden. Eine solche Betätigung gezieme dem Kleriker nicht und entspreche auch nicht der Ehrfurcht, die zur würdigen Verwaltung der Sakramente gehöre. Ebendorfer ndet aber eine positive Wendung mit dem Verweis darauf, dass der Kleriker kein Wirt sei und keine Wirtschaft im eigentlichen Sinne betreibe, da er die Tätigkeit nicht selbst ausübe, nicht Fleisch koche, Brot backe und das Getränk nicht selbst hole und einschenke. Stiftungen von Messen und Jahrgedächtnissen seien ja auch mit Brot- und Fleischbänken verbunden, die verpachtet würden. Daher sei das Recht des Ausschanks durch kein Gesetz und Recht verboten. Die Verbote zielten zudem auf die anrüchigen Begleitumstände oder die unangemessene Gewinnabsicht bei einer Tätigkeit, die daher gerechtfertigt sei, wenn diese ent elen. Als Kenner der Missstände, die auch in Stiften und Klöstern der Zeit herrschten, und die negativen Konnotationen der kirchenrechtlichen Bestimmungen aufgreifend, macht er die Erlaubnis zum Ausschank davon abhängig, dass kein fremder Wein zugekauft und als eigener verkauft und so zum Schaden anderer schändlicher Gewinn angehäuft werde. Außerdem müssten die Geistlichen ihre Häuser gut leiten. Sie dürften keine Verführungen und Glücksspiele zulassen, keine

Kuppler und Dirnen dulden und keinen suspekten Personen Eintritt gewähren, und sie sollten darauf achten, dass man nicht halbtrunken bis in die Dunkelheit in der Schenke sitze. Ferner dürfen keine falschen Maße benutzt, Weine verwässert oder falsche Qualitäten angegeben werden. Hinsichtlich der unmittelbaren eigenen Erwerbswirtschaft schließt Ebendorfer so gut wie keine landwirtschaftliche und handwerkliche Tätigkeit für die Kleriker aus, auch keinen ehrbaren Handel. Ausgenommen sind natürlich die auch von den Laien als unehrenhaft angesehenen Tätigkeiten, die als unehrlich geltenden Berufe. Auch Schmiedearbeiten lehnt er für Kleriker ab. Johannes Geiler von Kaysersberg ist hingegen der Auffassung, dass generell nur Laien Kau eute und Handwerker sein sollten und Geistlichen diese Tätigkeiten nicht ziemten. Der Kleriker darf Ebendorfer zufolge seine landwirtschaftlichen Nutz ächen und sein Vieh verpachten und seine Häuser vermieten, ferner etwa ein Fohlen kaufen, aufziehen und zum gerechten Preis verkaufen. Er darf Bücher schreiben und binden, Pergamente und Tafeln bemalen und verkaufen. Das sei kein Handelsgeschäft, sondern Kunsthandwerk. Es sei selbstverständlich, dass der Kleriker zunächst seine kanonischen Stundengebete und seine geistlichen Amtsp ichten erfüllen müsse. Ebendorfer weiß aber auch, dass manche Kleriker gezwungen sind, bei unzureichenden kirchlichen Einkünften ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit zu sichern. 5.2.2 Privilegium fori Seit jeher und insbesondere auf die Dekretalengesetzgebung gestützt, beanspruchte der Klerus für sich und die Familiaren der einzelnen geistlichen Institutionen das Recht, ausschließlich vor dem geistlichen Richter zu Recht stehen zu müssen (privilegium fori). Dies galt vor allem hinsichtlich des Strafrechts, aber auch für zivile Rechtsstreitigkeiten mit Laien. Für die hohe geistliche Gerichtsbarkeit waren der Offizial und der Generalvikar, für die niedere Gerichts-

Die Sonderstellung von Klerus und Kirche 623

barkeit der Archidiakon und Kommissare zuständig. Daneben gab es eine selbständige Gerichtsbarkeit der großen Stifte und Klöster. Dem Gerichtsstandsprivileg des Klerus entgegen waren die Städte bestrebt, in ihrem Gebiet eine kommunale Gerichtshoheit und Aufsicht zu etablieren und königliche und päpstliche Privilegien auszubringen, wonach ihre Bürger und Bewohner nicht vor fremde, auch nicht vor auswärtige geistliche Gerichte geladen werden durften. Manchen Städten, vor allem Reichsstädten und sonstigen Städten mit einem weltlichen Stadtherrn, gelang es, Geistliche in bestimmten Fällen der städtischen Gerichtsbarkeit und weltlichem Recht zu unterwerfen. In der ursprünglich bischö ichen Stadt Augsburg ging der Rat gegen einige Kleriker und deren Diener zur Wahrung des Friedens wegen Totschlags, Körperverletzung und Diebstahls mit Achterklärung und Stadtverbannung vor. Um 1350 verboten er und die Gemeinde den Klerikern samt ihren Dienern und Knechten das Tragen von Schwertern und langen Messern, weil von ihnen in Vergangenheit und bis in die Gegenwart hinein schwere Missetaten begangen worden seien und man künftig solche zu befürchten habe. Wer zuwiderhandelte, dem drohte ein Jahr Stadtverbannung; wurde er vorzeitig ergriffen, sollte ihm ohne Urteil eine Hand abgeschlagen werden. Wer gegen widersetzliche Pfaffendiener und -knechte mit Gefangensetzung, Schlagen oder Stechen vorging, blieb stra os.¹¹²⁵ Auch in Straßburg durften nach einem Vertrag zwischen Stadt und Bischof und Kapitel von 1314 Pfaffen in Stadt und Vorstadt weder bei Tag noch bei Nacht lange Messer und Rüstungsgegenstände tragen. Verwundete ein Kleriker einen Laien, durfte der Schultheiß den Täter ergreifen lassen und in Gefangenschaft halten, bis die Wunde heilte oder das Opfer daran starb, doch musste die Sache vor dem Gericht des Offizials verhandelt werden. Insgesamt blieb aber das privilegium fori des Klerus kaum angetastet. Der Straßburger Ver-

trag von 1314 sah vor, dass ein klageführender Kleriker nicht zwei Gerichte, das geistliche und das weltliche in Anspruch nehmen durfte, sondern eines auswählen musste. In Konstanz wurde 1304 bei der Neufassung des Richtebriefs die Regelung gefunden, dass der geistliche Richter zuständig sein sollte, wenn ein Bürger Opfer einer Straftat eines Geistlichen war, der Rat hingegen, wenn ein Bürger eine Straftat an einem Geistlichen verübt hatte. In der Eidgenossenschaft wurde das Privileg in speziellen Bundesverträgen im 15. Jahrhundert zunehmend verneint. Am weitesten ging der Einbruch gegenüber der familia der Geistlichkeit und in Schuldsachen. Man war bemüht, Klagen von Geistlichen gegen Bürger in Schuldsachen vor den Rat zu weisen. Es regte sich bei den Bürgern der Unwille, vor notorisch unwürdigen geistlichen Richtern zu Recht stehen zu müssen, und man fürchtete die Begünstigung der geistlichen Standesgenossen. Beklagt wurde auch die Verhängung des Interdikts in Schuldsachen, die an sich nicht zulässig war. Um Kon ikte wegen des Gerichts zu vermeiden, wurde in Rechtsstreitigkeiten zwischen Klerikern und Bürgern häu g ein gütlicher oder schiedsgerichtlicher Streitaustrag vereinbart. 5.2.3 Privilegium canonis und privilegium competentiae Zu den Standesprivilegien des Klerus gehörten ferner das privilegium canonis, das dem Kleriker durch sofortige Exkommunikation des Täters erhöhten strafrechtlichen Schutz gegen tätliche Verletzungen (Realinjurien) bieten sollte, und das privilegium competentiae, das den Kleriker bei Zwangsvollstreckungen in Vermögen und Einkommen in seinem standesgemäßen Unterhalt sowie gegen Personalarrest schützen sollte, doch kam dieses Privileg im Hinblick auf das privilegium fori eigentlich nur im Rahmen der geistlichen Gerichtsbarkeit und wenn diese in Streitigkeiten mit Laien anerkannt wurde, zur Geltung.

1125 C. M (Hg.), Das Stadtbuch von Augsburg (2.2–2.4), S. 248 f.

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Stadt und Kirche

5.2.4 Kirchenasyl An geistlichen Sonderrechten ist noch das kirchliche Asyl zu erwähnen, das in einigen Fällen durch die Stadt missachtet wurde. Der in eine Kirche ge üchtete Übeltäter durfte nicht gewaltsam aus der kirchlichen Immunität (freiung) entfernt werden. Seine Auslieferung war erst erlaubt, nachdem der weltliche Richter versprochen hatte, gegen ihn weder die Todesstrafe noch eine Strafe der Verstümmelung zu verhängen. Im Laufe der Zeit war das Asylrecht auf Friedhöfe, Klöster, Spitäler oder Pfarrhöfe, Häuser der geistlichen Ritterorden und immer weiter ausgedehnt worden. Am wenigsten wurde es vom Rat anerkannt, wenn sich Totschläger und Mörder in die Immunität ge üchtet hatten. Man versuchte, Flüchtige bereits am Betreten der Immunität zu hindern, aus dem Asylbereich herauszuholen oder sie im Asyl auszuhungern. Ge üchtete Schuldner wollte der Rat durch Verhandlungen und die Person betreffende Zusagen zum Verlassen des Asyls bewegen.¹¹²⁶ In Straßburg einigten sich Stadt und Bischof und Domkapitel 1314, dass derjenige, der wegen Körperverletzung oder Schulden in den Domherrenhof ge üchtet war, drei Tage und Nächte Frieden haben sollte. Nach einer Rottweiler Ordnung von 1401 sollte derjenige sofort sein Bürgerrecht verlieren, der wegen einer falschen Beschuldigung anderer oder einer Geldschuld wegen in das Asyl der Johanniterkommende ge üchtet war, nicht aber, wer dorthin ausgewichen war, weil er einen Totschlag verübt, blutige Wunden verursacht oder einen anderen geschlagen hatte; er sollte in diesen Fällen nur wegen der Tat das Urteil nach Recht erleiden.¹¹²⁷

5.3 Stadt, kirchliche Institutionen und Orden 5.3.1 Geistliche Korporationen und Klerus Die Kirche trat in den größeren Städten mit einer Vielzahl verschiedenartiger geistlicher Korporationen und Institutionen sowie mit einem hierarchisch-kirchenrechtlich und sozial gestuften Klerus in Erscheinung. In Köln gab es um 1350 insgesamt 11 Stifte einschließlich des Domstifts, 20 Ordensniederlassungen, 19 Pfarreien und zwei Dutzend selbständiger, von Rektoren geleiteter Kapellen, gut 20 Kapellen in Hospitälern, Stiftsgebäuden und Höfen auswärtiger Klöster, ferner etwa 62 kleine Konvente der semireligiosen Beginen und Beg(h)arden. Alles zusammengenommen kommt man um 1400 auf 217 große und kleinste kirchliche Einrichtungen, um 1500 auf 240, während danach nur noch 15 weitere gegründet wurden. Augsburg wies im 14./15. Jahrhundert das Domstift, weitere 7 alte Stifte und Klöster, 10 Klöster von Bettelorden und 7 Beginenkonvente auf und war in 4 Pfarreien eingeteilt. Erfurt mit seinen etwa 17 000 Einwohnern zählte im Mittelalter 2 Stifte, 22 Klöster und Ordenshäuser, 23 nichtklösterliche Kirchen, mindestens 36 Kapellen und 6 Hospitäler; mit 26 Parochien (um 1300), viele davon nur mit Zwerggemeinden, war es eine der kirchenreichsten Städte in Mitteleuropa; allerdings kam es auch nicht zur Anlage großer Pfarrkirchen der Bürger. Hildesheim brachte es um 1500 mit etwa 5 000 Einwohnern auf über 50 Kirchen und Kapellen; dazu gehörten 5 Stifte, 7 Pfarr- und Filialkirchen, 2 Benediktinerund 2 Bettelordensklöster sowie 3 sonstige Klöster. In Frankfurt am Main gab es mit dem Bartholomäus-, dem Leonhard- und dem Liebfrauenstift drei Stifte, von denen das Bartholomäusstift neben dem Aachener Marienstift eines der bedeutendsten deutschen Stifte war. Die Stiftsgeistlichkeit bildete seit 1381 als paffheid der drier stiffte eine besondere, gegenüber den

1126 E. I, Gelehrte Juristen und das Prozeßgeschehen (4.7), S. 341, 350 f. 1127 B.-U. H (Hg.), Quellen zur Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 59, S. 402 f.

Stadt, kirchliche Institutionen und Orden 625

Bürgern abgeschlossene Gruppe innerhalb des Frankfurter Klerus. Hinzu kamen Niederlassungen der Ritterorden, des Deutschen Ordens, der Johanniter und Antoniter. Die Bettelorden waren mit den Dominikanern (1233), den Franziskanern (1238) und den Karmeliten (1246) vertreten, Frauenklöster mit dem Weißfrauenkloster (1228 erwähnt) und dem Katharinenkloster, das 1345 zur Versorgung unverheirateter Patriziertöchter gegründet wurde. Außerdem waren Konvente der Beginen und Begarden vorhanden. Die Frankfurter Stifts- und Ordensgeistlichkeit umfasste im Spätmittelalter mindestens 240 bis 300 Personen, das waren etwa 2,5 bis 3 Prozent der Bevölkerung. Die drei Stifte hatten 33 Kanonikate und etwa 70 Vikariate, doch können für das Ende des 15. Jahrhunderts wegen Doppelbesetzungen beider Kategorien nur 80 bis 85 Stiftskleriker ermittelt werden. In den drei Männerklöstern lebten etwa 80 bis 100 Mönche, in den beiden Frauenklöstern etwa 40 bis 50 Nonnen, während die Niederlassungen der drei Ritterorden etwa 20 bis 25 Insassen aufwiesen. Dem Klerus hinzuzurechnen sind noch 190 bis 200 kirchliche Bedienstete. Die aus der Pfalzkapelle St. Salvator hervorgegangene Bartholomäuskirche war die einzige Pfarrkirche, bis um 1450 die Peterskirche in der Neustadt und die Dreikönigskirche in Sachsenhausen zu Pfarrkirchen erhoben wurden.¹¹²⁸ Der besondere Stolz als Manifestation bürgerlicher Frömmigkeit und Opferbereitschaft, des Repräsentationswillens sowie der Verfügung über die Kirche durch Patronatsrechte war die eigenständige bürgerliche Pfarrkirche. Der Anteil der Geistlichkeit samt deren Dienstleuten an der Gesamtbevölkerung der Städte reichte nach Schätzungen und Berechnungen bis an 10 Prozent heran. Bereits Anfang des 14. Jahrhunderts lebten in der alten Bischofsstadt Straßburg 310 Weltgeistliche, 430 regulierte Kleriker und etwa 360 Beginen; das sind bei etwa 15 000 Einwohnern ohne die Be-

ginen fast 5 Prozent, mit ihnen etwas über 7 Prozent der Bewohner.¹¹²⁹ In Augsburg zählte man in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts 350 Kleriker, woraus sich bei 22 000 Einwohnern im Jahre 1498 ein Anteil an der Bevölkerung von 1,6 Prozent ergäbe, doch kommen die Dienstleute hinzu, sodass schätzungsweise insgesamt 10 Prozent, wie etwa auch in Speyer, dem privilegierten kirchlichen Bereich zuzurechnen sind. Um 1450 wird für Nürnberg, das zu keiner Zeit Bischofssitz war, bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 20 000 Einwohnern mit mindestens 400 Klerikern einschließlich der von ihnen beschäftigten Personen gerechnet. In Köln dürfte im 15. Jahrhundert der Anteil des Klerus zwischen 5 und 7 Prozent, einschließlich der Beginen etwa 7–9 Prozent, in Würzburg etwa 7–7,5 Prozent betragen haben. Für Oldenburg ist von einem Anteil an Klerikern von etwa 5 Prozent auszugehen. Die Kommune wurde in den Bischofsstädten am stärksten von Kirche und Geistlichkeit geprägt. Die aufstrebende politische Gemeinde setzte vielfach ihren Anspruch auf Selbstregierung gegen den geistlichen Stadtherrn, der die weltliche Herrschaft ausübte, in einigen Fällen in militärischer Konfrontation oder durch den allmählichen Erwerb von Herrschafts- und Verfügungsrechten durch.¹¹³⁰ In Städten wie Köln und Straßburg gelang der emanzipatorische Durchbruch bereits nach der Mitte des 13. Jahrhunderts; in anderen Städten wie Bamberg und Würzburg verblieb die Stadtgemeinde jedoch in politischer Abhängigkeit von Bischof und Domkapitel. Die bürgerliche Gemeinde unterlag ursprünglich Bindungen gewerberechtlicher und verfassungsrechtlicher Art. Handwerks- und Gewerbeaufsicht und Weiderechte lagen ursprünglich in der Hand von Bischof und Geistlichkeit. Vor allem die alten Klöster und Orden waren große Grundherren im Umland und teilweise die größten Grundbesitzer in der Stadt. Zisterzienser besaßen bedeu-

1128 K. B, Frankfurt am Main im Spätmittelalter 1311–1519, in: Frankfurt am Main. Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen, Sigmaringen 1991, S. 68. 1129 G. L/F. R (Hg.), Histoire de Strasbourg des origines à nos jours, Bd. 2, Strasbourg 1981, S. 70. 1130 Siehe 3.1.

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tende Stadthöfe in Würzburg, Frankfurt, Mainz und Köln, wo sie Teile ihrer hohen Überschüsse an Agrarprodukten und handwerkliche Erzeugnisse aus ihren ländlichen Besitzungen einlagerten. Kirchliche Korporationen besaßen im alten Marktbereich Kaufhallen und Verkaufsstände, außerhalb der Stadt Mühlen wie in Goslar und Hildesheim, die der Rat zu erwerben und zu kommunalisieren trachtete. Auch versuchte der Rat, die wirtschaftliche Vormacht des Klerus zu brechen und die Marktorganisation dadurch an sich zu ziehen, dass er neue Marktanlagen gründete, neue Stände erbauen, das Gewässer- und Straßennetz ändern ließ. Durch die Abschüttelung des Wortzinses sollte die ungeminderte Freiheit des bürgerlichen Grundbesitzes hergestellt werden. Der in der Stadt angesiedelte Klerus zerel rechtlich und organisatorisch in Weltgeistliche, Mönche und Geistliche, die in Lebensführung und Funktion eine Mittelstellung einnahmen (Augustinerchorherren), sowie in nichtmönchische Orden (Prämonstratenser, Johanniter), nach hierarchischem und sozialem Status in den niederen Klerus der Pfarrer, Plebane, Kapläne, Vikare, Gesellpriester, Messpriester und Altaristen.¹¹³¹ Viele galten als Kleriker, waren jedoch lediglich tonsuriert und ohne Weihen oder hatten als Minoristen nur die niederen Weihen. Erst die mit dem Subdiakonat beginnenden höheren Weihen der Majoristen, verbunden mit der Garantie des Lebensunterhaltes als Grundlage (titulus bene cii) und der Verp ichtung zum Zölibat, verliehen dem Kleriker vom Diakon bis zum Priester einen unauslöschlichen, übernatürlichen sakramentalen Charakter (character indelebilis) im Hinblick auf die Berührung mit dem Altarsakrament. Zu den Standesp ichten gehörte der Gebetsgottesdienst mit dem Breviergebet (horae canonicae), verboten waren das Zusammenleben mit Frauen, die Ausübung unwürdiger Gewerbe und Künste sowie unwürdige Vergnügungen.

Die Prälaten besaßen ordentliche Jurisdiktionsrechte im äußeren Bereich; das waren die meist aus dem Adel stammenden Bischöfe, die auch über die Weihegewalt (ordo) verfügten, und Äbte mit bischö icher Jurisdiktion. In einem weiteren Sinne wurden aber auch die Inhaber hoher kirchlicher Ämter Prälaten genannt. Wie es Gegensätzlichkeiten zwischen Laien und Geistlichkeit gab, so gab es auch Spannungen zwischen Bischof und Domkapitel, hohem und niederem Klerus, Pfarrklerus und Bettelorden, reichen Pfründnern und armen Altaristen. 5.3.2 Bürger und geistliche Institutionen Auch wenn Geistlichkeit und Laien in getrennten Rechtsbereichen lebten, so ergab sich für den Klerus schon dadurch eine unmittelbare Interessenbeziehung zur Stadt, dass sein Großteil – bis zu zwei Drittel – und voran die Insassinnen der Frauenklöster aus städtischen Familien stammten. Die Gesellschaftsstruktur der Bürgerschaft hatte in vieler Hinsicht ihre Entsprechung in Hierarchie und Sozialstruktur des stadtsässigen Klerus. Schichtspezi sch war auch die unterschiedliche Zuwendung von Kreisen der Bürgerschaft zu einzelnen geistlichen Institutionen, die in der Stiftungstätigkeit zum Ausdruck kam. In Straßburg wurden im 14. Jahrhundert die Stellen der innerstädtischen Stifte vorzugsweise durch Angehörige des Patriziats besetzt, während sich die Masse der städtischen Seelsorger und Messpfründner aus Handwerkersöhnen und Personen von außerhalb der Stadt rekrutierte. Pfarrerstellen wurden von Patriziat und Zunftbürgertum annähernd gleich besetzt. Die höhere Geistlichkeit unterstützte in der Regel den Geschlechterrat. In Städten, in denen die Geschlechter keinen fest abgeschlossenen Stand darstellten und ein wohlhabendes nichtpatrizisches Bürgertum vorhanden war, bestand keine patrizische Vorherrschaft in den Klöstern

1131 Viele Angehörige der alten Orden, Inhaber von Kanonikaten und Dignitäten an Dom- oder Stiftskirchen, hatten auch Pfarr- und Kaplaneipfründen inne. D. K, Der niedere Klerus in der sozialen Welt des späteren Mittelalters, S. 274 f.

Stadt, kirchliche Institutionen und Orden 627

und Stiften. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts stammte in Straßburg jedoch insbesondere der hohe Klerus immer weniger aus städtischen Familien. Nur noch jeder dritte, vierte oder im hocharistokratischen Domkapitel nur jeder fünfte Kanoniker war Straßburger. Dadurch wurde seine Integration in die Stadt schwächer, und entsprechend wurden seine Angriffs ächen deutlicher wahrgenommen. In Hannover kamen um 1500 etwa 80 Prozent der Kleriker aus eingesessenen Bürgerfamilien. Die Klöster und Stifte dienten, wie beim Adel, als standesgemäßes Versorgungsinstitut für die nachgeborenen Söhne und die Töchter. Dazu wurden Stiftspfründen eingerichtet oder Leibrenten ausgesetzt. Vakante Stellen gingen in der Regel an Nachkommen aus der Verwandtschaft. Soziale Fremdkörper hingegen waren in der Stadt die regelmäßig dem Adel vorbehaltenen Domstifte, die adligen Damenstifte und sonstige dem Adel reservierte Stifte. Der Stiftsklerus war jedoch eine typisch städtische Erscheinung und Stadt und Welt mit seiner eigenen Ordnung mehr zugewandt als die separierten alten Mönchsorden mit ihrer Regel und ihrem korporativen Besitz. Die Kanoniker der Stifte nahmen mit gemeinsamem Chorgebet und feierlichen Gottesdiensten geistliche Aufgaben wahr und lebten mit ihren Mitkanonikern in Gemeinschaft zusammen, unterlagen aber nach Fortfall der strengen vita communis meistens keiner Präsenzp icht; sie durften neben der üblicherweise reichen Pfründe über Privatbesitz verfügen und je nach Weihegrad sogar eheähnliche Beziehungen p egen. In vielen Kathedralstädten wurden die im Domkapitel zusammengeschlossenen Kanoniker zum wichtigsten Machtfaktor neben dem Bischof. Da die Patrizier weitgehend von den Kapitelpfründen des Domstifts ausgeschlossen waren, begründeten sie in Analogie zur alten adelskirchlichen Form ersatzweise eigene, ihnen standesgemäß vorbehaltene Stiftsstellen. Der Nürnberger Rat sicherte durch päpstliche Bullen von 1475 und 1488 seine schon im ausgehenden 14. Jahrhun-

1132 Ebd., S. 289. Siehe auch W. K, H. J, S. G.

dert durch königliche Verleihung, eigene Stiftungen oder letztwillige Verfügungen erworbene Schirmvogtei über die klösterlichen Niederlassungen in der Stadt. Er behielt die Aufnahme in Nonnenklöster Nürnberger Bürgerinnen vor, sicherte die Klöster als Versorgungsstätten der einheimischen Bürgertöchter und glich zugleich den Mangel an Stiftsfähigkeit des städtischen Patriziats einigermaßen aus. Was für den Adel die Kapitelstellen bedeuteten, waren für weitere Kreise der Bürgerschaft die Altaristenund Messpfründen.¹¹³² An den von Zünften gestifteten Altären lasen Kinder der Zunftgenossen die Messen. Auf diese Weise verbanden sich soziales Versorgungsdenken und religiöse Devotion. Während Patriziat und etablierte Oberschicht vielfach die alteingesessenen Stifte bevorzugten, aber grundsätzlich in allen Klöstern vertreten waren, wandten sich die wirtschaftlich aufstrebenden Bürger verstärkt den Bettelorden zu. In Augsburg fand hinsichtlich der Bettelorden eine Aufteilung statt, wonach sich auf die Franziskaner das kleinere und mittlere Bürgertum konzentrierte, während das Großbürgertum kapitalistischer Prägung überwiegend Beziehungen zu Dominikanern und Karmeliten hatte. In Köln war um 1350 der patrizische Anteil der Mönche bei den Dominikanern am höchsten, bei den Franziskanern und Karmeliten mit großem Abstand gleich. 5.3.3 Pfarrei (Niederkirchenwesen) 5.3.3.1 Pfarrorganisation Das religiös-kirchliche Leben des Laien erfüllte sich in erster Linie in der Pfarrei − Parochie, Kirchspiel, Sprengel − mit ihrer Pfarrkirche. Hier begegneten sich Stadt, Kirchenvolk und Kirche in einem unmittelbar aufeinander bezogenen Verhältnis. Nach kanonischem Recht hatte sich die Pfarrgemeinde im Sinne des Pfarrzwangs in ihrem Anspruch auf kirchliche Versorgung – Taufe, Eheschließung, Beichte, Messe und Kommunion, Segnungen, Be-

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gräbnis – an den Pfarrer (Pfarrherr, kerkhere) oder seinen Vikar (Pleban, Leutpriester) zu halten ). Die Gemeinde war – als grex audiens et oboediens – Objekt der Seelsorge (cura animarum) ohne weitergehende kirchliche Gemeinderechte und während der Messe im Kirchenraum durch den Lettner von Priester und Klerus im Chor getrennt. Das Schwergewicht der religiösen Versorgung lag in der sakramentalen Heilsvermittlung, wohingegen Predigt und Katechese zurücktraten. Durchbrochen wurde das Pfarrsystem allerdings von der anders akzentuierten seelsorgerlichen Tätigkeit der Bettelorden, die in fast allen bedeutenderen Städten anzutreffen waren. Die Durchbildung der Pfarrorganisation war zu einer Zeit (11.–13. Jh.) bereits weitgehend abgeschlossen, als sich die bürgerliche Stadtgemeinde erst entscheidend zu formieren begann; bis zum Ende des 15. Jahrhunderts hin war die Pfarreinteilung de nitiv festgelegt. Mit dem Anwachsen der Stadtbevölkerung waren oft neue Pfarrbezirke ausgeschieden worden, sodass der Stadtbereich in mehrere Sprengel zerel. Die Zahl ihrer Pfarreien gibt jedoch nicht immer eine verlässliche Auskunft über Größe und Bedeutung einer Stadt. So brachte es Erfurt im 13./14. Jahrhundert auf 28 Parochien. Köln hatte bis 1172 über 13 Pfarreien meist mit Stiftskirchen, am Ende des 14. Jahrhunderts über 20 Pfarrkirchen. Straßburg und Regensburg verfügten im 12. Jahrhundert über 9 Pfarreien. Soest hatte bis 1168 nur eine Pfarrei, bis 1191 kamen aber 5 weitere hinzu. Augsburg besaß im 14./15. Jahrhundert 6, Nürnberg nur 2 Pfarreien. Hingegen besaßen etwa Lüneburg, Bamberg, Frankfurt am Main, Freiburg im Breisgau und Ulm während des Mittelalters nur eine Pfarrei. In Süddeutschland kam es häu ger vor, dass sich die jüngere Stadtkirche erst spät gegenüber der alten Landkirche, zu der auch die Stadtbürger gehörten, als städtische Parochialkirche verselbständigte. In Nürnberg befand sich St. Lorenz ursprünglich in parochialer Abhängigkeit von Fürth, und St. Sebald gehör-

te zur nahe gelegenen Dorfkirche in Poppenreuth, die ihrerseits Tochterkirche der Urpfarrei Fürth war. Beide Nürnberger Kirchen wurden im späteren 14. Jahrhundert aus den personellen Bindungen an das Bamberger Domkapitel gelöste Pfarrkirchen; daneben gab es weitere 15 ansehnliche Kirchen und eine Vielzahl von Kapellen. Bemühungen um eine weitere Pfarrei im Hinblick auf die Größe der Stadtbevölkerung scheiterten im 15. Jahrhundert, auch eine Pfarrteilung, da die divisio bene cii grundsätzlich die weite Entfernung der Pfarrkirche oder die Beschwerlichkeit des Weges zur Voraussetzung hatte. Die alte Pfarrkirche der Stadt Ulm lag als Feldkirche mit einem großen Sprengel außerhalb der Stadtmauern und unterstand dem Patronat des Benediktinerklosters Reichenau, dem sie 1327 inkorporiert worden war. An das Kloster, das auch Besitzungen in Ulm hatte, elen damit alle der Pfarrei zustehenden Zehnten und sonstigen Einkünfte. Die Stadt, die im Fürstenund Städtekrieg aus verteidigungsstrategischen Gründen alle Gebäude vor der Stadt abreißen wollte, erwirkte 1376 die Zustimmung von Abt und Konvent zu Reichenau und des Bischofs von Konstanz zur Verlegung der Pfarrkirche in die Stadt. Sie legte 1377 den Grundstein zu dem riesenhaften Münster, das so dimensioniert wurde, dass es die gesamte Bevölkerung aufnehmen konnte, und das als die größte und eine der reichsten Pfarrkirchen in Deutschland galt. 5.3.3.2 Der Pfarrklerus und seine Einkünfte Die Pfarrei war die Ebene des niederen Klerus, d. h. der »Weltgeistlichen, die im Besitz der niederen oder auch höheren Weihen – vom Akoluth [Messgehilfe] bis zum Priester –, als Pfarrer, Vikare, Gesellpriester, Altaristen, Messpriester, Kapläne u. ä. tätig waren oder eine entsprechende Pfründe besaßen«.¹¹³³ Pfründen, Präbenden oder Bene zien sind die Einkünfte, die mit dem kirchlichen Amt verbunden waren.

1133 D. K, Der niedere Klerus, S. 274. Allgemein zur Pfarrei: E. B, E. B/G. F, A. R, T. W.

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Den Pfarrer oder seinen Vikar unterstützten in größeren Gemeinden besoldete Hilfspriester – Gesellpriester, cooperatores, Kommendisten, mercenarii, Heuerpfaffen –, die nach Gutdünken angestellt und entlassen werden konnten. Die größeren Pfarrkirchen waren – wie die Dom- und Stiftskirchen und später die Klosterkirchen – mit einem Kranz von Kapellen und Altären ausgestattet, an denen zahlreiche, meist bepfründete Geistliche − Altaristen, Kapläne, Bene ziaten, Messpriester − stiftungsgemäß Messen lasen. Diese Kleriker unterstanden der Aufsicht des Pfarrers und des Bischofs, aber auch des bürgerlichen Patrons, der das Bene zium in Form des Messbene ziums, einer Vikarie, eines Altarlehens oder eines Ewiglehens gestiftet hatte und damit häu g zugleich ein Mitglied der Familie oder Verwandtschaft versorgen wollte, und des Stadtrats. In der Rechtsform der Messkaplanei nahm der Pfarrer die Stiftung und die Renten entgegen und besoldete davon einen Messpriester. In anderen Fällen übernahm der Rat den Patronat über die Stiftung und belehnte den Messpriester, den er bei Amtsverfehlungen aus dem Amt entfernen konnte. Das Ulmer Münster als größte Pfarrkirche der großen Diözese Konstanz hatte über 60 Altäre. In Braunschweig belief sich die Zahl der Altäre in Kirchen und Kapellen auf mehr als 300. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts gab es an der Elisabethkirche in Breslau 47 Altäre mit 122 Altaristen, an der dortigen Magdalenenkirche 58 Altäre mit 114 Messpfründnern; insgesamt soll es in Breslau zuzeiten 400 Altaristen gegeben haben. In St. Johannis zu Lüneburg amtierten etwa 100 niedere Geistliche; 1534 wurden in Lüneburg 376 Vikariate gezählt, die von 232 Klerikern versehen wurden. Für etwas weniger als 30 oberschwäbische Stadtpfarreien des Bistums Konstanz wurden, um in den Breich kleinerer Reichsstädte zu gehen, um 1500 insgesamt über 400 Kaplaneien, Frühmess- und Altarpfründen ermittelt. Ende des 14. Jahrhunderts gab es

im Straßburger Münster neben zwölf Kapellen mehr als 50 Altäre mit jeweils mindestens einem Altaristen. Da wohl mehr als 150 Geistliche eine Präbende innehatten, kann man davon ausgehen, dass tagsüber in der Kathedrale ständig an irgendwelchen Altären Messen gelesen wurden. Einer Bittschrift des Nürnberger Rates an die Kurie von 1386 ist zu entnehmen, dass allein in St. Sebald täglich vier feierliche und 18 stille Messen gelesen wurden. In Köln wurden im ausgehenden 15. Jahrhundert in 11 Stiften, 22 Klöstern, 19 Pfarrkirchen und etwa 100 Kapellen täglich wohl über 1 000 Messen gelesen. Im Allerheiligenstift in Wittenberg, der Schlosskirche Kurfürst Friedrichs des Weisen, feierten seit 1508 nicht weniger als 64 Priester jährlich nahezu 9 000 Messen. Der Dominikaner Felix Fabri war 1488 der Meinung, dass das Ulmer Münster als einzige und einfache Pfarrkirche mit ihren 51 Altären, von denen viele drei bis fünf Präbenden hätten, reicher an Altären sei als andere Pfarrkirchen und daher mehr Geistliche habe. Alle Altäre seien von den Stadtbewohnern dotiert, die sowohl Patrone der Kirche als auch Kollatoren (Besetzer) aller Altäre seien. In entsprechend superlativischen Größenordnungen schildert er den Gottesdienstbesuch und den seelsorgerischen Betrieb. Die Kirche sei bevölkerter als alle anderen der Christenheit, denn obwohl sie so groß sei, herrsche an Festtagen ein dichtes Gedränge bis an die Ecken des Altares, und wenn es zur Entlastung keine Klöster gäbe¹¹³⁴, könnte sie das Kirchenvolk nicht fassen. Für gewöhnlich gingen zur Osterzeit – zu der als Minimum die Eucharistie empfangen werden musste – mehr als 15 000 Menschen zur Kommunion. Hohe Zahlen gebe es bei Beichte und bei sonntäglichem Abendmahlsempfang auch außerhalb der Messen der Priester durch Schwangere, Kranke und besonders Fromme; außerdem nde eine Vielzahl von Begräbnissen statt. Täglich würden durchschnittlich fünf Kin-

1134 In seiner »Sionspilgerin« von 1490 macht Fabri einen Rundgang durch die für Gottesdienste genutzten Bauten und führt 35 Kirchen und Kapellen an. Zu den kirchlichen Institutionen siehe G. G, Die Reichsstadt Ulm vor der Reformation, S. 76–148.

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der getauft und alle Getauften registriert. Ferner rühmt Fabri die von der Bevölkerung aus Zuneigung und Liebe der Kirche täglich dargebrachten reichen Opfergaben an Silber und Wachs am Opferstock, an dem für den Bau bestimmten Opferbecken und an den Altären sowie die Stiftung ewiger Lichter und Jahrtage. Großartig ist nach Auskunft Fabris die Stellung des dominus plebanus, der in Wirklichkeit nicht den Status eines Plebans – kirchenrechtlich eines Vikars – oder Kanonikers hat, sondern vergleichsweise die Stellung eines wohlhabenden Bischofs einnimmt, der an seinem Hof fünf Helfer (Adjutoren) und eine zahlreiche Dienerschaft (familia) hat. Der Ulmer Pleban, ein herausragender, vornehmer und gelehrter Mann, erhält an Einkünften nur freiwillige Gaben seiner Pfarruntertanen.¹¹³⁵ Er nimmt zum Nutzen der Ortskirche eine privilegierte Stellung ein, da er einem vom Recht angeordneten Interdikt nicht unterliegt. Sobald nach einem Vorfall, etwa wenn ein Priester erstochen oder auf andere Weise getötet wurde, ein Bote in Richtung des zuständigen Konstanzer Bischofs ausgesandt wird, werden, wie das Recht es verlangt, die Gottesdienste eingestellt; sie werden aber wieder aufgenommen, wenn der vom Bischof geschickte Gesandte die Stadt wieder verlassen hat. Ferner kann der Pleban die Kirche und den Kirchhof insgeheim mit einem gewissen Wasser selbst von neuem weihen, wenn sie profaniert worden waren. Diese quasi-bischö iche Befug-

nis erscheint Fabri erforderlich, weil die Kirche den ganzen Tag offen stehe, jedermann hindurchgehe und daher vielfältiges tumultartiges Lärmen herrsche, weil ferner der Kirchhof auch bei Nacht nicht geschlossen werde und zu befürchten sei, ja es sei eine zweifelsfreie Erfahrung, dass sich dort oft Ungeheuerliches zutrage, wodurch der heilige Ort entheiligt und profaniert werde.¹¹³⁶ Im Ausgang des Mittelalters sanken mit dem Wert der Zinse aus dem Bene zialvermögen auch die Realeinkommen des niederen Klerus beträchtlich.¹¹³⁷ Einen Ausgleich versuchte man durch Kumulation und Zusammenlegung von Pfründen oder durch Nachdotierungen zu schaffen. Aus unzureichender Einkommenssituation lässt sich zum Teil auch die wirtschaftliche Nebentätigkeit von Klerikern erklären. Innerhalb des niederen Weltklerus gab es ganz erhebliche Einkommensunterschiede, nicht nur zwischen Pfarrern und Vikaren, diesen und den Altaristen, sondern auch zwischen den Altaristen als der untersten Stufe der Hierarchie. Um einer Proletarisierung des schlecht gestellten Seelsorgeklerus zu begegnen, wurde eine Untergrenze für Bene zialeinkommen, eine portio congrua für den standesgemäßen Lebensunterhalt, vorgeschlagen. Bischöfe und Städte verordneten Mindestdotierungen für Altar- und Messstiftungen, die jedoch regelmäßig unterschritten wurden. Angesichts einer Unter nanzierung der Messpriester, die von den jährlichen

1135 1493 kam er allerdings auf die enorme Summe von mindestens 600 Gulden. Der frühere Universitätsprofessor und Doktor beider Rechte, der Ulmer Patrizier Ulrich Krafft, erhielt bei seinem Amtsantritt 1501 die gleiche jährliche Summe. 1136 Principale III (Drittes Hauptstück), cap. 1. Als besondere Ursache für eine Entweihung der Kirche nennt Fabri die müßigen Geistlichen, die dort zusammenkämen und sich in Gesprächen verlauten ließen, wie es ihnen in den Mund komme, wodurch der Kirche in ihrer gloria vielfach entehrt und dem Volk viel Ärgernis gegeben werde. Auch der Straßburger Münsterprediger Geiler von Kaysersberg geißelte zur gleichen Zeit die Gewohnheit der Geistlichen, ungeachtet von gottesdienstlichen Handlungen im Kirchenchor herumzustehen und zu schwatzen, dehnte dies aber auch auf die Angehörigen des Stadtregiments in den Kirchstühlen aus. Er sprach auch von Kirchenbesuchern, die Vögel mit Schellen und ein Rudel sich beißender Hunde mitbrächten, als wollten sie zur Jagd gehen, und die einen solchen Lärm verursachten, dass der Prediger irritiert werde, man nicht höre, was im Chor gesungen werde, und die Leute nicht beten könnten. Wer von der Südseite des Münsters, wo regelmäßig Markt abgehalten wurde, nicht um die Westfront herum, sondern durch das Querhaus hindurchging, um in die nördliche Stadt zu gelangen, sparte ein gutes Stück Weges. Wohl deshalb wurden selbst während der Gottesdienste Hühner, Schweine und Fässer durch die Kirche getragen. U. I, Johannes Geiler, S. 243 f. Eine allgemeine Erscheinung in den Kirchen waren Hunde, die zwischen den Altären herumsprangen. 1137 D. K, Der niedere Klerus, S. 294 f.

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Gülten nicht ordentlich leben könnten, und um eine ehrbare, gelehrte Priesterschaft zu haben, bestimmte der Ulmer Rat im Jahre 1405, dass eine Messstiftung mindestens 32 Gulden jährlich betragen müsse, was ein Kapital von etwa 640 Gulden erforderte, und der Stifter außerdem Messbuch, Messgewand und Kelch zu stellen habe.¹¹³⁸ Tatsächlich aber lag nach einem Register von 1508 mehr als die Hälfte der Kaplaneistellen unter diesem Standard, andererseits gab es doppelte Bepfründungen. Vikare und Altaristen vereinigten sich verschiedentlich auf Dauer zur Interessenwahrung gegen ihre unmittelbaren Vorgesetzten, gegen Dom- und Stiftsherren sowie gegen Pfarrer. 5.3.3.3 Patronatsrechte Die Pfarreien standen vielfach in einem engen Rechtsverhältnis (Patronat) zum Dom (Dompfarrei) oder zu den Stiften und Klöstern (Stiftspfarrei) und waren bei entsprechender Dichte und Dotierung der Stiftungen häu g in diese Institutionen inkorporiert, sodass sich Stiftsund Pfarrkirche mit abgegrenzten Rechten und Funktionen unter einem Kirchendach befanden. Im ausgehenden 15. Jahrhundert waren in der Diözese Konstanz fast ein Drittel aller Pfarreien inkorporiert. Die eigenständige Pfarrkirche war Eigen- und Patronatskirche des Grundoder Stadtherrn. Das Patronatsrecht¹¹³⁹ (ius patronatus, Kirchen-, Pfarrsatz) war dinglich, d. h. auf einem Grundstück oder Herrenhof, radiziert und nach einzelnen Komponenten teilbar und erwerbbar. Patronatsherren waren etwa in

Straßburg der Bischof, in Esslingen das Speyerer Domkapitel und in Ulm die Abtei Reichenau. In vielen, keineswegs allen Städten erwarben die Bürger das Patronatsrecht – oder Teile davon – über die Stadtpfarrkirche, über einige oder die Mehrzahl der Kirchen. Hinzu kamen noch genossenschaftliche Neugründungen von Pfarrkirchen durch die Bürgerschaft. Nachdem die Stadt Ulm 1383 offensichtlich ohne Genehmigung von Bischof und Papst von dem im Niedergang be ndlichen und wie Fabri meinte, unter zielgerichteter Mitwirkung der Ulmer verschuldeten Kloster Reichenau das Präsentationsrecht auf die Pfarrei und den kleinen Zehnten erworben hatte, kauften Bürgermeister und Rat 1446 für die Summe von 25 000 Gulden das Patronatsrecht mit seinen vielfältigen, auch materiell und herrschaftlich nutzbaren Rechten und damit eine geschlossene kommunale Kirchenherrschaft. »Eine höhere Stufe der Kirchenherrschaft war im mittelalterlichen Europa kaum denkbar.«¹¹⁴⁰ Vorausgegangen waren 1434 eine Klage des Klosters vor dem Basler Konzil wegen Entfremdung seiner Rechte in Ulm und 1436 die Verhängung des großen Kirchenbanns gegen die Ulmer Bürger, die von der Reichenau herrührende Einkünfte hatten und der Ladung des Konzils nicht gefolgt waren. Der Kaufvertrag vom 4. Juli 1446 kam durch die Vermittlung König Friedrichs III. im Auftrag Papst Eugens IV. sowie mit Zustimmung des Konstanzer Bischofs und der zur Überprüfung der Einzelbestimmungen herangezogenen Äbte von St. Gallen, St. Bla-

1138 C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm (2.2–2.4), Nr. 258, S. 142 f. Die Richter (Schöffen) des Stadtgerichts durften nur solche Verträge siegeln, minder dotierte waren rechtlich unwirksam. 1139 Das Patronatsrecht trat an die Stelle des alten Eigenkirchenrechts und entzog in der Zielsetzung vor allem dem weltlichen Kirchenherrn die Eigentumsgrundlage an seiner Kirche. Es galt im kanonischen Recht als ein ius spirituali adnexus und war der kirchlichen Gesetzgebung und Verfügung über seinen Rechtsinhalt unterworfen. Hauptsächlicher Inhalt des Patronats war das Präsentationsrecht des Patrons (Kirchenherr, Stifter), d. h. das Recht, den geistlichen Pfründeninhaber dem zur Übertragung des kirchlichen Amtes (Kollation) berechtigten kirchlichen Oberen zu benennen. Daneben beinhaltete der Patronat Ehrenrechte und verschiedene P ichten, darunter die subsidiäre Baulast. Unter dem Namen Patronat lebte jedoch entgegen der kanonischen Gesetzgebung bis in die Neuzeit hinein das alte Eigenkirchenrecht mit seinem Eigentum am Kirchengut (widem, dos ecclesiae) weiter. So wurde über das Pfarrgut, das rechtlich eine selbständige Stiftung darstellte, oft eigenmächtig verfügt. Das dinglich radizierte Patronatsrecht wurde nicht nur vererbt, sondern auch verkauft, vertauscht, verpfändet und verlehnt. Die kirchliche Gerichtsbarkeit in Patronatssachen wurde nur zögernd anerkannt. H. E. F, Kirchliche Rechtsgeschichte, S. 397 f., 407. 1140 D. K, Pfarrerwahlen im Mittelalter, S. 388.

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sien, Zwiefalten, Allerheiligen in Schaffhausen und Petershausen in Stein am Rhein zustande. Das Kloster veräußerte seinen gesamten Besitz und alle seine weltlichen und kirchlichen Rechte in Ulm an die Stadt, die Pfarrkirchenp ege und das Spital, die beide bereits unter städtischer Aufsicht standen. Felix Fabri, der von einem ›Loskauf der Stadt von den Mönchen‹ als einer der Großtaten der Ulmer Bürger spricht, erachtet die Kaufsumme angesichts des Gegenwertes für unverhältnismäßig niedrig und konnte sich, wenn der Abt nicht so schnell und mit Klarsicht abgeschlossen hätte, leicht einen Betrag von 100 000 Gulden vorstellen, da ›die Ulmer alles bis zum letzten Nagel‹ gekauft hätten.¹¹⁴¹ Dem Ulmer Rat stand aber nach 1446 weiterhin kein Pfarrherr gegenüber, sondern nur ein Pleban mit dem Status eines vicarius perpetuus, der keine regelmäßigen Pfründeneinkünfte hatte und auf die Opferbereitschaft der Pfarrkinder angewiesen war. Kamen im 13. und 14. Jahrhundert die Pfarrherren aus dem Landadel oder dem städtischen Patriziat, so stammten zwischen 1400 und der Reformation die Pfarrherren und nachfolgend die Plebane bis auf zwei Ausnahmen alle aus dem Patriziat und gehörten oft zugleich noch mehreren Domkapiteln und Stiften an. Der Pleban wurde vom Rat gewählt und musste, bevor er dem zuständigen Bischof von Konstanz präsentiert wurde, vor dem versammelten Rat eine Kapitulation beschwören, die für den Fall, dass er gegen einen der Artikel verstieß, auch die Möglichkeit seiner Absetzung vorsah. Die kanonische Vorschrift der Unabsetzbarkeit des Pfarrers hielt auch der Göttinger Rat 1415 für nicht bindend, wenn er diesem drohte, er werde seine Stelle verlieren, falls er Würfel spiele und unziemliche Reden führe. Nürnberg erlangte das Pfarrbesetzungsrecht und die volle Patronatsherrschaft, indem die Stadt ein päpstliches Privileg erwarb und dazuhin Bischof und Domkapitel zu Würzburg

ihre Rechte durch eine Abstandszahlung von 1 000 Gulden und eine jährliche Pension von 100 Gulden abkaufte. Die Stadt Rottweil brachte das Patronatsrecht an sich, indem sie den Arnoldshof, mit dem es dinglich verbunden war, für 8 000 Gulden als Lehen kaufte. Esslingen schuf sich ein Patronatsmonopol auf die niederen Pfründen wie Kaplaneien und Altarbene zien. 5.3.3.4 Pfarrerwahl und Kirchenp egschaft In einer Reihe von Städten erlangten in dem Zeitraum vom 12. Jahrhundert bis in die Anfangsjahre des 16. Jahrhunderts der Rat oder die Parochianen in einer oder mehreren Pfarreien das Recht, den Pfarrer zu wählen oder zu präsentieren und damit im Streben nach umfassender kommunaler Selbstbestimmung ein Stück Kirchenherrschaft. Das Pfarrerwahlrecht wurde auf verschiedensten Wegen erworben, durch die Errichtung von Genossenschaftskirchen, durch Verleihung von Seiten des Patronatsbesitzers (etwa als Gründungsfreiheit), durch Kauf des Patronatsrechts, über die Spitalhoheit oder durch Usurpation.¹¹⁴² Neben Pfarrerwahl und städtischem Patronat räumte die seit dem 13. Jahrhundert nachweisbare Kirchenp egschaft den Laien über die Parochialgemeinde oder den Rat wichtige Verfügungsrechte ein, in diesem Fall einen bestimmenden Ein uss auf die innerkirchliche Verwaltung des niederkirchlichen Vermögens.¹¹⁴³ Das Niederkirchenwesen wurde damit zu einem Bestandteil der städtischen Gesellschaft. Laikale Kirchenp eger übernahmen die treuhänderische Verwaltung des Fabrikgutes, d. h. des zu Bau und baulicher Erhaltung der Kirchengebäude bestimmten Vermögens, zu dem die Bürgerschaft durch Stiftungen, Zuwendungen, Ablass- und Opfergelder reichlich beitrug. Hinzu kam die Verwaltung von sonstigem Stiftungsvermögen (Seelgerättreuhänderschaft), das an die Pfarrkirche oss und dessen Stiftungszweck

1141 Felix Fabri, Tractatus de civitate Ulmensi (1.1) Principale V (Fünftes Hauptstück), cap. 2. 1142 D. K, Pfarrerwahlen im Mittelalter, S. 324–450. 1143 S. S, Die Kirchenp egschaft.

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ohne Rücksicht auf das kirchliche Ämterrecht vor dem Zugriff des Pfründeninhabers oder des Eigentümers der Kirche gesichert werden sollte. Das Fabrik-, Lichter- und anderes Stiftungsgut war von dem Pfründgut (Bene zialvermögen), das dem Pfarrer zu seinem Unterhalt diente, gesondert und wurde durch das Institut der P egschaft (Zeche, Älterleuteamt) gegenüber dem Pfründgut weiter verselbständigt. Die P egschaft, bestehend aus Vertretern der Pfarrgemeinde, besaß rechtliche Selbständigkeit und führte gelegentlich ein eigenes Siegel. Sie stand jedoch unter dem Ein uss des Rates oder wurde vielfach mit der Zeit direkt vom Rat und mit Ratsherren besetzt, somit als kommunales Amt in die Verwaltungsorganisation der Stadtgemeinde eingegliedert. Die in Wirtschafts- und Finanzangelegenheiten erfahrenen P eger verwalteten das Stiftungsvermögen und legten dabei auch Stiftungsgelder krisenfest in Liegenschaften und Renten an. Bei höheren Beträgen schaltete sich der Rat ein, der auch größere Bauvorhaben von seiner Genehmigung abhängig machte. Die P eger teilten bei den Stiftungsmessen die Präsenzgelder aus, schafften die zur Pfarrei gehörenden Bücher, Messgewänder und liturgischen Geräte an, sorgten für Kirchenlichter und Heizung, verfügten über die Grabstätten in der Kirche und auf dem Friedhof und vergaben die Kirchstühle. Über manche Vikarien erlangten sie sogar nach dem Aussterben der Stifterfamilie das Patronatsrecht wie etwa in Hildesheim. Genossenschaftliche Parochialverbände spielten in Städten wie etwa Köln, Worms, Hamburg, Lübeck und Magdeburg in der gemeindlichen Formationsperiode eine wichtige Rolle für das bürgerlich kommunale Leben.¹¹⁴⁴ Aus den ursprünglich wohl rein kirchlichen Kölner Parochialverbänden gingen die Sondergemeinden mit ihren Amtleutekorporationen an der Spitze hervor; gegenüber der wachsenden Bedeutung der weltlich kommunalen Aufgaben verblasste der kirchliche Charakter, der

etwa bei den Magdeburger Verbänden stärker erhalten blieb. In Köln wirkten die Pfarrgenossen an der Förderung des Gottesdienstes, der Armenfürsorge, der Verwaltung des Kirchenvermögens und an der Pfarrerwahl mit; die weltlichen Aufgaben bezogen sich auf die Verleihung des Bürgerrechts, Funktionen im Steuerwesen und in der Wehrverfassung, in der Verwaltung der Allmende, bei der Wahrung des Gottesfriedens, in der Gerichtsbarkeit und der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Au assungswesen). Seit dem 13. Jahrhundert zog dann der Rat als Leiter der Gesamtgemeinde fortschreitend diese Aufgaben an sich, beließ aber den Sondergemeinden einige Funktionen wie etwa die Steuereinhebung. Auch in anderen Städten spielte der Pfarrsprengel für die Steuerverwaltung und die Militärorganisation eine wichtige Rolle. Daneben gab es allerdings auch andere Organisationseinheiten. Da die P icht des sonntäglichen Gottesdienstbesuchs eine größere Öffentlichkeit herstellte, wurden von der Kanzel herab kommunale Ordnungen und Reichsgesetze wie Landfrieden und Steueranschläge verkündigt sowie Fundsachen ausgerufen. 5.3.3.5 Prädikaturen Um dem wachsenden Bedürfnis der Bevölkerung nach Wortgottesdienst, nach anspruchsvolleren Predigten und auch nach Katechese zu entsprechen, wurden, häu g von bürgerlicher Seite und vom Rat angestoßen, nachweisbar schon seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert, vor allem aber seit dem 15. Jahrhundert an größeren Kathedral- und Stadtkirchen und insbesondere im Südwesten meist gut dotierte Predigerpfründen (Prädikaturen) geschaffen und Predigthäuser eingerichtet. Prädikaturen des 15. Jahrhunderts waren reine Predigerstellen, doch konnte der Inhaber darüber hinaus noch weitere beschränkte Aufgaben wahrnehmen. Stand die Predigttätigkeit der Bettelorden außerhalb bischö icher Aufsicht, so wur-

1144 K. F, Kirche und städtisches Verfassungsleben; W. H, Zur personellen Ver echtung von Gesamtgemeinde und Sondergemeinden in Köln (2.5.1).

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den die verschiedentlich vom Papst bestätigten Prädikaturen nur in Kirchen der Weltgeistlichkeit eingerichtet und waren in das kirchenrechtlich vom Bischof beaufsichtigte System kirchlicher Ämter eingebunden, gerieten aber auch in das Beobachtungs- und Interessensfeld des städtischen Rats, der die gewünschten Personen dem Bischof präsentierte. Entweder sicherte ein speziell dafür zusammengetragener, maßgeblich durch bürgerliche Stiftungen gespeister oder umgewidmeter Stiftungsfonds die neue Pfründe – wie in Lübeck 1420/22, Hildesheim 1449, Tübingen 1446/82, Heilbronn 1424/26, Winterthur 1475 – oder die Predigerstelle wurde mit einer bestehenden Altar- oder Chorherrenpfründe – wie in Ehingen 1440/51, Schorndorf 1461, Wangen 1469 – verbunden, wobei sich der Inhaber aufgrund entsprechender Entp ichtungen ausschließlich mit der Predigttätigkeit befassen konnte.¹¹⁴⁵ Angesichts eines reichhaltigen Angebots an Predigten durch Pfarrer, Prädikanten und Bettelorden musste eine zeitliche Abstimmung erfolgen. In Ulm setzte der Rat die Pfarrpredigt auf sechs Uhr in der Frühe fest; an dieser Vorgabe hatten sich die Stiftungsbriefe der Prädikaturen zu richten. Besetzt wurden diese Predigerstellen verschiedentlich nach Absolvierung einer Probezeit in der Regel mit universitär theologisch gebildeten und zum Licentiaten oder Doctor promovierten Geistlichen, denen eventuell ein Haus für die Unterkunft oder zur Vorbereitung ihrer durchschnittlich etwa 100 Predigten pro Jahr auch eine Handbibliothek zur Verfügung gestellt wurde. Von Johannes Geiler von Kaysersberg sind in 32 Jahren insgesamt 4 500 Kanzelreden überliefert, was durchschnittlich 140 Predigten pro Jahr ergibt. Einige Inhaber von Prädikaturen hatten noch Aufgaben als Lehrer wahrzunehmen oder Vorlesungen zu halten. In Augsburg scheiterte die Einrichtung einer Prä-

dikatur am Domkapitel, das 1490 vorbrachte, dass durch eine solche Widersetzlichkeiten und Neuerungen gesät würden und es besser sei, dem gemeinen Volk die Heilige Schrift wie bisher auf einfache Weise nahezubringen, als durch einen Hochgelehrten Subtilitäten und Spitz ndigkeiten der Schrift predigen zu lassen. Der bedeutende Straßburger Münsterprediger Johannes Geiler von Kaysersberg war eine von mehreren Städten umworbene Persönlichkeit. In seinem Amt hatte er laut Stiftungsurkunde der Prädikatur von 1478 zu Tugend und Ehrsamkeit zu erziehen, die Laster auszurotten, zu denen die menschliche Natur von Jugend an neige, und die tadelnswerten Sitten der Menschen zu bessern (reformare). Er war gehalten, seine Aufgabe in allem ehrenhaft und zurückhaltend zu erfüllen, alle Geistlichen und Priester, vor allem die der Straßburger Kirche, jegliche ihrer Gattung und Art und jede einzelne Person ihrem Stand gemäß zu ehren, Skandale zu vermeiden und keine Irrlehren (errores) auszusäen.¹¹⁴⁶ Die von Schultheiß, Rat und Pfarrer besiegelte und vom Bischof von Konstanz bestätigte Stiftungsurkunde von 1475 verp ichte den Prediger von Winterthur unter anderem, in Zeiten eines Interdikts an drei Werktagen in der Woche zu predigen, niemanden von der Kanzel herab zu verunglimpfen oder gar gegen den Rat aufzustacheln, vielmehr zu helfen, wenn es in der Stadt Kon ikte zu beruhigen galt. Die 1437 in Ulm vom Pfarrer Dr. Heinrich Neithart dem Älteren gestiftete Prädikatur war mit einer Frühmesse verbunden und hatte den thematischen Schwerpunkt auf den Leib Christi und das Sakrament der Eucharistie zu legen. 5.3.3.6 Klerikervereinigungen An Stadtkirchen vereinigten sich Gesellpriester und Altaristen unter dem Pfarrer zu gemeinsamen Funktionen im Chor nach Art der Stifts-

1145 Neben den oben genannten Prädikaturen gab es solche in Basel (1456), Mainz (1465), Speyer (1471), Freising (1476), Straßburg (1478), Regensburg (1481), Konstanz (1488/94). In der Diözese Eichstätt waren es 10 Predigerstellen, in der Regensburgs 14 und der Würzburgs 16; in Württemberg gab es etwa 30, so etwa in Ulm (1437), das später über drei Prädikaturen verfügte, und Ellwangen (1499). M. M, Predigt, S. 369f.; B. N, Wortgottesdienst; U. I, Johannes Geiler, S. 84. 1146 U. I, Johannes Geiler, VII (Anhang), 3d Nr. 2, S. 303–306.

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kapitel, worauf in den großen Pfarrkirchen die vielfach kunstvollen Chorgestühle hinweisen. In einigen Städten fand sich die gesamte Geistlichkeit einer Pfarrei – oft unter einem gewählten Haupt – zu einer so genannten Präsenz zusammen, um gewisse Einkünfte zu verwalten und nach dem Vorbild der Kapitel Präsenzgelder auszuzahlen.¹¹⁴⁷ Wo sich Priestervereinigungen dem Zutritt von Laien, Männern und Frauen, häu g aber in beschränktem Umfang und nur den oberen Schichten öffneten und mit ihnen Bruderschaften bildeten, die in Norddeutschland Kalande genannt wurden, überbrückten diese Gemeinschaftsformen den Gegensatz von Klerus und Laien. Die Laien besaßen kaum Mitspracherechte, nahmen aber an der bruderschaftlichen Memorialgemeinschaft mit Gottesdiensten, Gebeten, Begräbnissen, Seelenmessen und Prozessionen und dem Kalandsmahl teil und trugen zu den Almosen und Armenspeisungen bei. Da sich am Ende des Mittelalters die nanzielle Lage des stark angewachsenen niederen Klerus ständig verschlechterte, wurde die materielle Unterstützung von Mitgliedern notwendig. Geistliche Kalande, die eigene Satzungen und häu g eigene Häuser hatten und oft mit beträchtlichem Immobiliar- und Rentenvermögen ausgestattet waren, umfassten die Priesterschaft der Stadt und weiter der Pfarreien der Umgebung sowie eines Bischofssitzes (Sedes). Der Göttinger Georgskaland war einer der wichtigsten Kreditgeber in der Stadt. Unter der Leitung eines Dechanten, der von einem Kämmerer als Vermögensverwalter und eventuell von einem Almosenmeister in seiner Amtsführung unterstützt wurde, fanden sich die Mitglieder (ursprünglich) am ersten Tag eines jeden Monats (kalendae) – daher rührt der Na-

me –, dann vor allem zweimal im Jahr zu gemeinsamen Gebetsandachten mit anschließendem sprichwörtlich opulentem Mahl auf Kosten der Stiftung zusammen, wobei die kostspielige Geselligkeit zunehmend auf die Kritik von Laien stieß. Verschiedene Kalande konnten sich untereinander verbrüdern und dadurch ihren Wirkungskreis erweitern.¹¹⁴⁸ 5.3.4 Bettelorden (Mendikanten) 5.3.4.1 Ansiedlung in der Stadt und Zuwendung durch Rat und Bürger Während die Bürgerschaft in einer gewissen Distanz zu den alteingesessenen Klöstern und Stiften, den Repräsentanten der alten Adelskirche, lebte und nur begrenzt Ein uss auf diese Institutionen nehmen konnte, bestand zwischen der Stadtbevölkerung und den zu Beginn des 13. Jahrhunderts entstandenen Bettelorden von Anfang an ein enges, gewissermaßen symbiotisches Verhältnis.¹¹⁴⁹ Trotz einiger interner Bedenken erschien den nicht an bestimmte Klöster gebundenen Mendikantenorden die Stadt als der geeignete Ort, um ihren apostolischen Auftrag und ihre Lebensform – Predigt, Spendung der Sakramente, Studium und Bettel – zu verwirklichen. Von den Päpsten im Interesse von Seelsorge, Mission und Bekämpfung der Häresie, auch als Instrument eigener Machterweiterung, mit umfassenden Privilegien wie der Exemtion von der bischö ichen Jurisdiktion und Vollmachten für Predigt, Beichte und Begräbnis ausgestattet, durchbrachen die Bettelorden den städtischen Pfarrzwang. Franziskaner (Minoriten, Barfüßer), Dominikaner (Prediger), Augustinereremiten und Karmeliten (Frauenbrüder) als die hauptsächlichen Vertreter der Bettelorden¹¹⁵⁰ ergänzten in willkommener Weise die

1147 H. E. F, Kirchliche Rechtsgeschichte, S. 423. 1148 H. P, Bürgertum und Frömmigkeit in Braunschweig, S. 25 f.; H. K, Die Entstehung und Verbreitung der Kalandsbruderschaften; T. H, Der große Kaland am Dom zu Münster; ., Kalendae, Kalenden, Kalande; M. P, Die Kalande. 1149 D. B (Hg.), T. B, K. E (Hg.), N. H, A. H, B. N, H.-J. S, E. J. S, M. W-J. 1150 Von der Kölner Bevölkerung wurden im 14. Jahrhundert auch Kreuzbrüder, Kartäuser und Antoniter den Bettelorden zugerechnet. Hinzu kommen noch die Sackbrüder.

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Seelsorge für die wachsende Bevölkerung und kamen dem Bedürfnis nach Volkspredigt und Predigt überhaupt entgegen, das von den alten Stiften und dem Pfarrklerus nicht hinreichend befriedigt wurde. Die franziskanischen Minoriten (mindere Brüder) widmeten sich zudem, ohne Hospitäler zu gründen, der freien und offenen Kranken- und Siechenp ege. Der Stadt zugewandt, verkörperten die Bettelorden zugleich einen neuen Typus von Seelsorge und Spiritualität jenseits traditioneller kirchlicher Strukturen. Ihre Besitzlosigkeit und der von ihnen ausgehende Nutzen machten die Orden für die Stadt attraktiv. Die Dominikaner ließen sich vor allem in großen Städten nieder, die ein entsprechendes Publikum und materiellen Ressourcen boten und ihre intellektuellen Aktivitäten förderten; in Köln und Erfurt richteten sie universitätsähnliche Generalstudien ein. Der Rat der gastgebenden Stadt, bürgerliche Freunde und Gönner wiesen den Bettelorden Häuser zu, schenkten oder verkauften ihnen Areale zur Errichtung von Klosteranlagen, stellten Baumaterialien und Gelder zur Verfügung und sorgten für ihren Lebensunterhalt. Nachdem sie sich gelegentlich vor der Stadt in der Nähe von Leprosenhäusern angesiedelt hatten, ließen sich die Orden innerhalb der Stadt meist mit Kontakt zu den unteren Bevölkerungsschichten im ärmeren Vorstadtbereich, in nicht bevorzugter Randlage mit billigen Grundstücken in der Nähe gewerblicher Areale, an den frequentierten Toren und an der Stadtmauer nieder, wo sie mit ihren Bauten an neuralgischen Punkten, mit dem Vorteil ständiger Bewohnung und bestimmten Wehrdiensten der Brüder in die forti katorische Bau- und Verteidigungskonzeption des Stadtherrn und des Rats einbezogen wurden. Auf dem Lande, in kleineren Städten oder in größeren Städten, in denen eine klösterliche Niederlassung scheiterte, errichteten sie kleine Niederlassungen (Termineien). Die Mendikanten gewannen schon im 13. Jahrhundert bei der Bevölkerung ein hohes Ansehen. Obwohl sie sich in ihrer Tätigkeit insbesondere den unteren Schichten und Rand-

gruppen der Stadtgesellschaft zuwandten, fanden sie gleichermaßen bei den oberen Schichten Anklang. Die Ordenskonvente erhielten deshalb bald Nachwuchs aus der Stadtbevölkerung, wobei Konventuale (Konventsangehörige) aus vornehmen Geschlechtern und Familien vor allem bei den Dominikanern, Kinder aus der Mittel- und Unterschicht der Handwerker, denen der Zutritt zu städtischen Orden jetzt eigentlich erst ermöglicht wurde, vorzugsweise bei den Minoriten nachzuweisen sind. Von großer Bedeutung waren die Beziehungen der Mendikanten zu den zahlreichen Frauenklöstern und den Zweiten Orden der Klarissen und Dominikanerinnen, deren Konventuale in noch stärkerem Ausmaß aus der Stadtbevölkerung stammten. Die Frauenklöster, die der Aufsicht des Provinzials, faktisch aber häug der Stadt unterstanden, wurden seelsorgerisch von den Ordensbrüdern betreut. In der Besitzfähigkeit nicht eingeschränkt, übernahmen die Ordensschwestern häu g die Verwaltung des Vermögens und der Einkünfte der Ordensbrüder. Unter spiritueller Leitung der Bettelorden standen ferner die laikalen Gemeinschaften beiderlei Geschlechts der Dritten Orden (Tertiarier/innen), die teilweise reguliert ein klosterartiges Zusammenleben führten, sowie die verschiedentlich auch regulierten semireligiosen Beginen und Begarden. Mit den Mendikanten verbunden waren schließlich noch zahlreiche städtische Bruderschaften, die bei ihnen geistliche Betreuung und eine kirchliche Heimstätte fanden. 5.3.4.2 Einkünfte und Vermögensverwaltung In ihrer materiellen Versorgung blieben die Bettelorden von Leistungen der Bevölkerung abhängig. Hauptsächlich seit dem 15. Jahrhundert ließen Städte die wirtschaftlichen Angelegenheiten der Orden durch städtische Prokuratoren (P eger) verwalten, nachdem die Klöster früher sich ihre Prokuratoren selbst ausgewählt hatten. In einigen Städten wurden Bettelorden in ein besonderes Schutz- und Schirmverhältnis übernommen, leisteten sie einen Treueid

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oder erhielten das Bürgerrecht. Einzelne Stadträte schritten bereits vor der Mitte des 15. Jahrhunderts von der Vermögensverwaltung zur reformerischen Klosterzucht fort, indem sie sich in die Personalpolitik des Konvents einmischten, damit das Kloster über einen geeigneten Prior oder Guardian (bei den Minoriten), gute Prediger und Lesemeister verfügte. Stand ein Kloster in Ansehen, so erhielt es auch Zulauf, Stiftungen und Spenden. Angesichts der tiefgehenden Spaltung der Minoriten in Konventualen und in reformerisch streng die ursprüngliche Regel beachtende Observanten (1417) sowie in die von Papst Martin V. initiierte gemäßigte Reformlinie der Martinianer unterstützte der Rat in der Regel die Reformkräfte. Auch bei den Dominikanern und den alten Orden gab es Observanten in mehreren Reformkongregationen. Stiftungen von Jahrzeiten (Anniversarien) und ewigen Messen, die mit Zinsen aus städtischen Liegenschaften dotiert waren, auch Bargeld, testamentarisch vermachte Häuser und Grundstücke wurden den Mendikanten zugewendet, denen damit – wie dem Weltklerus und den alten monastischen und kanonikalen Orden – feste Einnahmen und Besitzrechte zu ossen. Sie wurden von den Orden aufgrund ihres Armutsbegriffs nur zögernd, erst im 14. Jahrhundert generell angenommen. Allerdings mussten die Minoriten 1383 in Straßburg geloben, auf Bürger oder Bürgerinnen in Straßburg am Totenbett nicht einzuwirken, ihnen ihr Eigen oder Erbe zu vermachen und damit die rechten Erben zu ruinieren und zu enterben. Die Stiftungen und die Erträge wurden begrifflich als beständige Almosen (eleemosinae perpetuae) gefasst.¹¹⁵¹ Die Minoriten hielten am längsten an einem strengen Armutsbegriff fest. Unterschieden wurde zunächst zwischen dominium (Eigentum) und ususfructus (Nießbrauch). Zu Trägern und Verwaltern des Jahrzeitguts wurden personae interpositae – Frauenklöster, Drittorden, weltliche Schaffner (Prokuratoren) – bestimmt, welche die Erträge an die Orden überwiesen. Später wurde Jahr-

zeitgut direkt angenommen, womit die Dominikaner den Anfang machten. Durch die Stiftungen wurde das Apostolat der Bettelorden jedoch durch einen Zug zum Kultpriestertum und durch die Ver echtung von wirtschaftlichen und spirituellen Interessen erheblich belastet. Durch den Besitz von Zinsrechten und die durchaus im Interesse der Bevölkerung liegende Leihe von Grundstücken in Form der Erbleihe und Investition von Kapitalien durch Rentenkauf passten sich die Orden dem bürgerlichen Wirtschaftsgebaren an. Sie sorgten für die Wahrung und Vermehrung ihrer Besitzrechte, die sie durch Hilfskonstruktionen rechtfertigten, und untergruben auf diese Weise ihre Glaubwürdigkeit. 5.3.4.3 Leistungen für die Stadt Die Klosteranlagen der Bettelorden, die mit Kirche, Konventsräumen, Kreuzgang und Friedhof mitunter groß dimensioniert waren und die sich am Formenrepertoire des Hauses und der profanen Architektur orientierten, enthielten ein Raumprogramm, das auch auf eine weltliche Nutzung zugeschnitten war und die Rolle der Mendikanten im öffentlichen Leben berücksichtigte. Mendikantenklöster nahmen vornehme Gäste der Stadt auf (Basel), stellten Räume für Ratssitzungen bereit und dienten, wie etwa in Frankfurt am Main (bis 1504), Würzburg, Speyer, Basel und Braunschweig, zeitweise als Rathaus. Sie waren vielfach Ort der Wahl und Einsetzung des Rats und von Ratsmessen, von Sitzungen der Gemeindeversammlung und städtischer Gremien. Bei Konikten zwischen Bürgerschaft und Klerus sowie zwischen Rat und Zünften stellten sie den neutralen Boden für Ausgleichsverhandlungen dar, auch wurden hier Frieden abgeschlossen. In Klosterräumen wurden ferner Gerichtssitzungen abgehalten, Rechtsgeschäfte abgeschlossen und öffentliche Beurkunden vorgenommen. Bei den Mendikanten wurden Urkunden und Gelder deponiert. Die Brüder selbst traten als Schlichter, Zeugen, Testamentsvollstrecker und

1151 B. N, Mendikanten zwischen Ordensideal und städtischer Realität.

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Urkundspersonen auf und betätigten sich als Stadtchronisten. Mendikanten unterstützten verschiedentlich die Kommune in Auseinandersetzungen mit dem bischö ichen Stadtherrn, mit Domkapitel, alten Stiften und Pfarrklerus. Mit ihrer Hilfe konnte der Rat dank der Privilegien der Orden das oft rasch ergriffene Zwangsmittel des geistlichen Interdikts unterlaufen und die seelsorgerische Betreuung der Bevölkerung einigermaßen aufrechterhalten. Betrachtet man das enge Verhältnis zwischen Mendikanten und Stadt sowie den Umstand, dass das Partnerschaftsverhältnis vom Ende des 14. Jahrhunderts an immer stärker in eine Integration der Orden in die Lebenswelt der Stadt und in eine Unterordnung unter die Kirchenherrschaft des Rats mündete, so kann man zugespitzt sagen, dass die Mendikantenklöster »quasi-städtische Institutionen« (Arno Herzig) und »Stadtklöster« (Rolf Kießling) waren. 5.3.4.4 Konkurrierende Seelsorge und Kon ikte mit dem Weltklerus Mit ihrer an Pfarrgrenzen nicht gebundenen Seelsorgetätigkeit wurden die Bettelorden zu Konkurrenten des Pfarrklerus, dem dadurch trotz der Abführung des kanonischen Quarts an die Pfarrkirche beträchtliche Einnahmen, insbesondere an Oblationen (Opfer), Beichtpfennigen und Messstiftungen, verloren gingen. Ein Teil der Stadtbewohner besuchte regelmäßig die Gottesdienste der Brüder, ging dort zur Beichte und wollte auf den Friedhöfen der Konvente beigesetzt werden. Darüber kam es in einer Reihe von Städten zu lange andauernden Spannungen und erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Weltgeistlichen und Bettelorden, die sich offen in den Kirchen und in ihren Predigten befehdeten. In den Streit schaltete sich etwa 1265 in Hamburg und 1314 in Braunschweig der Rat vermittelnd mit dem Ergebnis ein, dass der Pfarrklerus bestimmte Anteile an den Einnahmen

der Orden aus liturgischen und seelsorgerischsakramentalen Handlungen erhielt. Der Lübecker Begräbnisstreit von 1277 bis 1280 mit seinen schwerwiegenden Folgen brach aus, als sich der Pfarrklerus weigerte, eine Leichen für die Bestattung durch die Franziskaner herauszugeben.¹¹⁵² In Straßburg brachen die Rivalitäten zwischen der Weltgeistlichkeit und den Dominikanern und Franziskanern auf der anderen Seite 1453 im heftigen Streit um das ultimum vale (letztes Lebewohl) aus, einer zusätzlichen Abgabe zum kanonischen Anteil (portio canonica) an den Einkünften, der dem Pfarrer zustand, wenn ein Pfarrkind nicht auf dem Friedhof der Pfarrei, sondern auf dem einer anderen Kirche begraben wurde. Der Rat hatte sich auf die Seite der Bettelorden geschlagen und die Abgabe auf den herkömmlichen Betrag beschränkt und ferner die Zahl der Teilnehmer und damit den Aufwand bei Beerdigungen auf 20 Personen begrenzt. Ein Teil der Gemeinde wandte sich von den Weltgeistlichen ab, die dadurch Einkünfte verloren. Die Streitenden verunglimpften sich von den Kanzeln herab. Der Rat, der einigen Bettelordensmönchen sogar die Münsterkanzel zur Verfügung stellte, der Erzbischof, einige Universitäten und der Papst wurden eingeschaltet; ein Weltkleriker wurde auf Betreiben des Ordensklerus exkommuniziert und vom Rat der Stadt verwiesen. Die Bürgerschaft spaltete sich, und es war ein Aufstand gegen den Rat zu befürchten. Es kehrte zwar bald Ruhe ein, doch ammte der Streit um die Abgabe im nächsten halben Jahrhundert immer wieder auf.¹¹⁵³ Papst Bonifaz VIII. musste konkurrierende Predigtzeiten zwischen den Bettelorden und dem Säkularklerus untersagen, wobei sich die Orden am Pfarrklerus zu orientieren hatten. Die Predigten der Bettelorden wurden schon im 13. Jahrhundert als eigene Veranstaltung aus der morgendlichen Messliturgie herausgelöst und zogen am Nachmittag eine zahlreiche Zuhörerschaft an. Dabei konnte sich der Zulauf auf eine starke Predigerpersönlichkeit richten. Einen

1152 Siehe unten 5.5.1. 1153 G. L/F. R (Hg.), Strasbourg, Bd. 2, S. 162 f. (Livet); U. I, Johannes Geiler, S. 76–79.

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Eindruck von dem Predigtstil und den Inhalten der Predigten der Bettelorden, die in der Volkssprache predigten, vermitteln die eindrucksvollen, allerdings literarisch aufbereiteten Predigten des Franziskaners Berthold von Regensburg († 1272). Eine besondere Attraktion war der italienische Franziskaner Johannes Capistran († 1456), der auf Einladung Friedrichs III. und im Auftrag Papst Nikolaus‘ V. in den Jahren 1451 bis 1456 eine spektakuläre Predigtreise durch das Reich unternahm, die ihn nach Österreich, Mähren, Bayern, Franken, üringen, Sachsen und Schlesien führte. Von Stadträten eingeladen, trat er in mehreren deutschen Städten auf, wobei im Anschluss an seine mehrstündigen öffentlichen Bußpredigten Krankenheilungen erfolgt sein sollen. Allein vier Wochen hielt er sich 1452 in Nürnberg auf, drei Wochen verbrachte er in der Universitätsstadt Erfurt, wo er 22 Predigten hielt. Kernthemen seiner Predigten vor immensen Menschenmengen waren die Sonntags- und Festtagsheiligung, das Verbot von Brett-, Karten- und Würfelspiel und anderen Spielen sowie die Inkriminierung von modischen Luxusgegenständen, die alle öffentlich verbrannt werden sollten, ferner der Kampf gegen Konkubinat und Hurerei sowie das Verbot von Zinsnahme und Wucher. Es kam auch vor, dass Capistran noch vor der deutschen Übersetzung seiner lateinisch gehaltenen Predigt den Ort wieder verließ, aber auch dann noch ein spontanes Autodafé von zusammengetragenen Luxusgegenständen veranlasste. Außerdem rief er zur Bekämpfung der ketzerischen Hussiten auf und predigte den Kreuzzug gegen die Türken. Seine judenfeindlichen Hetzpredigten konnten die örtlichen Juden gefährden. In Breslau schloss er sich der Beschuldigung der Hostienschändung durch Juden an, worauf 1453 41 Juden verbrannt und die übrigen vertrieben wurden. Gelegentlich stieß er aber wegen seiner angeblichen Wunderheilungen, der Art seines Auftretens, seiner strikt papalistischantikonziliaren Haltung und seiner Ordenspolitik auf kritische Stimmen und Feindseligkeiten engerer geistlich-theologischer Kreise, insbeson-

dere bei Gegnern der von Capistran propagierten franziskanischen Observanz. 5.3.4.5 Spaltungserscheinungen: Observanten und Konventualen Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts, vor allem im 15. Jahrhundert im Zuge der allgemeinen Ordensreformen, spaltete sich in verschiedenen Städten − mit entsprechenden Auseinandersetzungen, Feindseligkeiten und Rivalitäten − von den bestehenden Gemeinschaften (Kommunitäten) die Gruppe der Observanten ab, die eine strengere Regelbeobachtung (strictioris regulae observantia) propagierte und für sich eine größere Treue zu den Anfängen behauptete. Die Kontroverse über die Auffassung von der Armut Jesu und der Apostel (Armutsstreit) und abgeleitet der Armut der Orden wurde zum großen Kon ikt, den Papst Johannes XXII. zu lösen versuchte, indem er 1323 die Lehre von der absoluten Armut Jesu als häretisch verwarf. Wegen seiner Auffassung selbst der Häresie bezichtigt, konnte er den Streit nicht beenden. Die Observanten der Franziskaner kehrten zur Besitzlosigkeit zurück, legten großen pastoralen Eifer und soziales Engagement an den Tag, nahmen die Wanderpredigt wieder auf und gewannen dadurch großes Ansehen bei Bevölkerung und Obrigkeiten. Sie gründeten neue Konvente oder übernahmen bestehende mit Unterstützung des Rats wie in Ulm (1484) oder Freiburg im Breisgau (1515). Die Spaltung des Ordens ermöglichte den Stadträten Eingriffe in die Verwaltung der Klöster. Die alte Richtung der etablierten Gemeinschaften und Konvente, die ihren Gemeinbesitz verteidigten und Konventualen genannt wurden, verschlossen sich nicht völlig der Reformbewegung, konnten den Ansprüchen der Observanten aber nicht genügen, sodass die Einheit des Ordens nicht mehr wiederhergestellt wurde. Papst Eugen IV. verlieh den Observanten die Autonomie und Papst Leo X. erkannte die Existenz zweier selbständiger Orden innerhalb der Franziskaner an.

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5.3.4.6 Kritik an den Orden – Spannungen zwischen Stadt und Orden Rivalitäten zwischen den Orden und die Polemik des Armutsstreits, Verstöße gegen die vita communis, schlecht beleumundete Mönche und häu g übertriebene Skandalgeschichten schädigten den Ruf der Mendikanten. In Ulm verketzerten sich Franziskaner und Dominikaner gegenseitig im Streit um die unbe eckte Empfängnis Mariae, die nach Auffassung der Franziskaner ohne Erbsünde, nach der Lehre der Dominikaner jedoch in Erbsünde empfangen wurde. Die Auseinandersetzungen darüber sollen die Stadt in zwei Lager gespalten haben. Zu den internen Streitgkeiten kamen Angriffe von Klerikern und Predigern wie Johannes Geiler von Kaysersberg und von Humanisten (»Dunkelmännerbriefe«, 1514/17). Schließlich wurde der Nutzen der Bettelorden grundsätzlich in Abrede gestellt. Die Orden büßten im 15. Jahrhundert vielfach ihre Anziehungskraft ein, die Stiftungen gingen zurück, nachdem in einigen Städten bereits seit dem Ende des 13. Jahrhunderts die Zahl der Brüder rückläu g war. Einer der früheren polemisch-sarkastischen Kritiker an den semireligiösen Gemeinschaften der Beginen und Begarden und der Bettelorden war der Züricher Chorherr Dr. decretorum Felix Hemmerlin mit seiner Schrift »Contra validos mendicantes« (»Gegen die starken Bettler«) von 1438, die 1464 vom Esslinger Stadtschreiber und Humanisten Nikolaus von Wyle ins Deutsche übersetzt und in dieser Fassung 1510 gedruckt wurde. Hemmerlin sprach den, wie er meinte, durch Almosen reich gewordenen und im Erscheinungsbild wohlgenährten Beginen, Begarden und Bettelmönchen eine Nachfolge in der Armut Christi ab und wollte in ihrer Lebensweise nur eine Abkehr vom Broterwerb durch harte Arbeit zugunsten eines durch Almosen nanziertes Leben im Müßiggang erkennen. Der als betrügerisch gewertete Bettel der arbeitsfähigen Beginen und Begarden verstärke den Mangel unter den wahrhaft Bedürf-

tigen. In ähnlicher Weise verurteilte der Verfasser der »Reformatio Sigismundi« von 1439 die Betteltätigkeit der körperlich zu Arbeit fähigen Beginen und Begarden, die sich weigerten, ihren Lebensunterhalt mit gottgefälliger Arbeit zu gewinnen und ihr Leben im Müßiggang sogar aus wöchentlichen Spenden ehrbarer Leute bestritten. Ihre Gebete als Gegenleistung für das Almosen seien wegen des unberechtigten Bettelns für den Spender nutzlos; ihre Gemeinschaften sollten, da sie für niemanden nütze seien, verboten werden. Doch sprach der Verfasser den vier mit städtischer Seelsorge befassten Bettelorden der Augustinereremiten, der Franziskaner, Dominikaner und Karmeliten die Berechtigung zum Betteln im Unterschied zu Hemmerlin nicht ab.¹¹⁵⁴ Auch wenn die Interessen von Stadt und Mendikanten konvergierten, völlig unproblematisch war das Verhältnis zwischen beiden nicht immer. Zu Streitigkeiten kam es um das Erbrecht der Ordensbrüder, denen etwa in Straßburg im Falle der Dominikaner 1287 Erbschleicherei durch die Teilnahme an der Errichtung von letztwilligen Verfügungen und Novizenfang durch Aufnahme Minderjähriger vorgeworfen wurde, ferner wegen des Erwerbs von Liegenschaften an die Tote Hand und der Steuerp icht. Städte untersagten auch die Gründung neuer Klöster, die insbesondere im Zusammenhang mit der Spaltung in Konventualen und Observanten versucht wurde. Doch schritten die Dominikaner 1330 in Dortmund gegen den Widerstand von Rat, Bürgerschaft und bereits ansässigen Franziskanern handstreichartig zur Konventsgründung. In Straßburg blieben die Mendikantenniederlassungen, die sich durch ihre straffe, zentralisierte Organisation dem Zugriff der Stadtbehörden entzogen, doch »immer Fremdkörper im städtischen Organismus« und wurden dementsprechend auch behandelt.¹¹⁵⁵ Bettelorden wurden aber auch in einigen Fällen in kommunale Auseinandersetzungen

1154 H. K (Hg.), Reformation Kaiser Siegmunds, S. 216–224. 1155 F. R, Die Mendikanten und die Straßburger Gesellschaft, S. 100.

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hineingezogen und zur Parteinahme veranlasst; in seltenen Fällen zettelten sie selbst Unruhen an. Als der Ulmer Rat anlässlich der Pest von 1520 erfolglos versuchte, das Begräbnis bei den Bettelorden zu verbieten, soll der Prior der Dominikaner dem Altbürgermeister Besserer mit dem Ein uss des Ordens auf den gemeinen Mann gedroht haben. Der frühzeitig zur Reformation übergetretene Ulmer Franziskanermönch Johann Eberlin, ein vehementer Kritiker und theologischer Gegner des Klosterwesens und der Ordensleute, denen er Sittenverderbnis und Heuchelei vorwarf, verbreitete in einem Sendschreiben, die Mönche dürften einer Obrigkeit trotzen, und zwar wegen ihrer Gunst, die sie sich beim gemeinen Mann durch die Predigt und im Beichtstuhl mit dem gleisnerischen Anschein der Heiligkeit erjagt hätten; wenn eine Obrigkeit ihnen nicht zu Gefallen sei, machten sie den gemeinen Mann aufrührig.¹¹⁵⁶ 5.3.5 Zweit- und Drittorden Zweite Orden waren der weibliche Zweig der Benediktiner und der anderen älteren Orden sowie der Bettelorden wie die Klarissen und Augustinerinnen oder Karmelitinnen, Dritte Orden (Tertiarier) der laikale Zweig der Orden und insbesondere der Bettelorden.¹¹⁵⁷ Die laikale Tertiarenbewegungen beiderlei Geschlechts strebten durch Übernahme franziskanischer und dominikanischer Lebensideale unter Leitung der Orden nach höherer Vollkommenheit in der Welt. Eine dritte Regel der Augustinereremiten entstand erst im 15. Jahrhundert. Zum Teil fanden sich Tertiarier als regulierte Tertiarier zu klosterartigem Gemeinschaftsleben zusammen.

5.4 Semireligiose: Beginen und Begarden Eine spirituelle Ausrichtung hatten die sich seit dem 13. und in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts vom Bistum Lüttich, vom Herzogtum Brabant und von der Grafschaft Flandern her über die rheinischen Städte bis Schlesien und Böhmen ausbreitende Bewegung der Beg(h)inen (mulieres devotae, religiosae), die in einer Vielzahl von Städten des Reichs Bestandteil der Stadtgesellschaft wurden.¹¹⁵⁸ Mit einem modernen Begriff werden die Beginen als Semireligiose bezeichnet, weil sie eine Stellung zwischen dem geistlichen und dem weltlichen Leben einnahmen, kein Gelübde eines anerkannten Ordens ablegten, wohl aber eigene Statuten besaßen. Das Beginenwesen war ein Teil der religiösen Frauenbewegung; es mündete im 14. und 15. Jahrhundert vielfach auch in den kirchlich kontrollierten Bereich der Zweiten Orden und Dritten Orden, oder es suchte die Bindung an eine Regel. Daneben entstand mit der Begardenbewegung das männliche Gegenstück, das jedoch zahlenmäßig nicht die Bedeutung des Beginenwesens erreichte und vielerorts seit 1400 kaum mehr eine Rolle spielte. 5.4.1 Lebensformen der Beginen Beginen lebten allein oder zusammen in Beginenhöfen und Konventen in einer unterschiedlich durch Ordnungen geregelten und von einer gewählten Meisterin (magistra) und einem Beginenrat geleiteten vita communis, deren wirtschaftliche Belange durch besondere Ämter besorgt wurden. Beginen trugen eine bestimmte Tracht und führten ein klosterähnliches Leben. Sie waren vielfach den Idealen von Armut, Gehorsam und Keuschheit verp ichtet, legten aber keine ewigen Gelübde, sondern nur einfache Versprechen (Gelöbnisse) mit geringerer Verbindlichkeit ab. Beginen kamen bis ins 14. Jahr-

1156 G. G, Die Reichsstadt Ulm vor der Reformation, S. 104. 1157 S. S (Hg.), Frauen und Kirche; C. K, Frauenklöster. 1158 E. E, Frauen im Mittelalter (8), S. 110 ff., 175 ff.; J. A; L. B; B. D-S; S. . H; M. I; E. G. N; A. P; G. P; F. M. R; J. C. S, J. V.

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hundert vor allem aus den städtischen Oberund Mittelschichten sowie aus dem ländlichen Adel, erst später begann der Anteil der Frauen aus unteren Schichten zu überwiegen. Stiftungen sollten den Lebensunterhalt der Beginen sichern, doch waren diese oft nur unzureichend dotiert. Beginenhäuser dienten häu g auch der Versorgung älterer alleinstehender Frauen. Mit religiöser Zielsetzung übernahmen Beginen karitative Aufgaben, unter anderem in der Krankenp ege in Spitälern und in teilweise eigenen In rmerien sowie den mit Einkünften verbundenen Totendienst. Ferner unterrichteten sie Mädchen aus wohlhabenden Familien. Sie fertigten Handarbeiten wie Webereien und Stickereien an und gingen Beschäftigungen außer Hauses nach. Der Straßburger Münsterprediger Geiler von Kaysersberg, der sich auch mit den Bettelorden anlegte, beschuldigte 1495/96 die Beginen polemisch, zwar immer noch die Kranken zu Hause zu p egen und Totendienste zu verrichten, tatsächlich dabei aber nur auf die Gelegenheit zu warten, mit dem gesunden oder überlebenden Partner Ehebruch und Unzucht treiben zu können.¹¹⁵⁹ Durch ihre Wirtschaftstätigkeit in verschiedensten Bereichen der Textilproduktion, durch Brot- und Hostienbäckerei, Kerzenherstellung, Brauen von Bier, Mahlen von Mehl und ihr Eindringen sogar in die Kupferverarbeitung mittels ihrer Mühlen gerieten sie als Konkurrentinnen in Kon ikt mit örtlichen Zünften und dem Rat, der sie zunächst verschiedentlich durch Befreiung von Verkehrsabgaben privilegiert hatte. Stattliche, teilweise ummauerte und mit einem einzigen Tor versehene Beginenhöfe verfügten über eine Kirche im Stil der dreischiffigen basilikalen Bettelordenskirchen ohne markanten Westturm, in der Zahl wachsende Häuser, einen Wasserlauf, eine Mühle und Wiesen zum Trocknen und Bleichen. Gewählte oder von kirchlichen Oberen bestimmte Beginenpriester lasen die Messe und spendeten die Sakramente. In Köln, einem Zentrum der Beginenbewegung, gab es 1320 insgesamt 89 kleinere Beginenkon-

1159 R. V, Wie der Wächter auf dem Turm, S. 592 f.

vente; in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts belief sich die Zahl der Beginenhäuser auf 106, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts insgesamt auf über 150 größere und kleinere Konvente. In Städten mit erheblich kleineren Bevölkerungsgrößen wie Straßburg waren es etwa 70, in Frankfurt am Main bis zum Ende des 19. Jahrhunderts 51, in Mainz 28, in Worms 20 und in Basel 22. Allerdings ist es schwierig, Häuser und Konvente zweifelsfrei zu identi zieren. 5.4.2 Zwischen Förderung und Verfolgung Die Beginen, die von geistlichen Seelenführern aus dem Pfarrklerus und aus den Bettelorden begleitet wurden, entfalteten teilweise eine mystische Frömmigkeit mit ausgeprägter Christusminne, Marienverehrung und Eucharistievisionen. Der Bischof von Lüttich stiftete nach der Vision der Begine Juliane von Lüttich († 1250) das Fronleichnamsfest, das von Lüttich und Köln ausgehend 1264 als offizielles Fest in das Kirchenjahr eingeführt wurde. Verschiedentlich gerieten die Beginen und prominente Vertreterinnen jedoch in den Verdacht der Häresie. In seinem 16. Dekret sprach das Konzil von Vienne 1311/12 den Beginen den Status von Religiosen ab, weil sie niemandem Gehorsam versprächen, nicht dem Besitz entsagten und sich zu keiner approbierten Regel bekennten. Es beschuldigte die Beginen, wie geisteskrank die Trinität oder Wesenheit Gottes zu diskutieren und ihre Ansichten zu predigen sowie hinsichtlich von Glaubensartikeln und der kirchlichen Sakramente für das Seelenheil gefährliche Irrlehren zu verbreiten, und verbot deshalb ihren Stand und ihre Unterstützung durch Franziskaner und Dominikaner. Außerdem wurden im 28. Dekret gesondert acht Irrlehren der Beginen und Begarden verurteilt. Die Konzilsdekrete Papst Clemens V. nahm Papst Johannes XXII. 1317 in die Kirchenrechtssammlung der Clementinen auf. Genossen die Beginen zunächst im 13. Jahrhundert Schutz durch Päpste, Bischöfe, städ-

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tischen Welt- und Ordensklerus sowie durch Stadträte und Bürger und Förderung etwa durch die Bereitstellung von Grundstücken für ihre Höfe und Abgabenfreiheit ihrer in den Handel gebrachten Erzeugnisse, so wurde die Lebensweise der Beginen seit Anfang des 14. Jahrhunderts wiederholt von Bischöfen verboten. Beginen wurden gelegentlich von städtischen Obrigkeiten unter Druck gesetzt, überwacht und während des 14. und zu Beginn des 15. Jahrhunderts an Mittel- und Oberrhein durch Inquisitionen verfolgt. In welchem Umfang die Verurteilungen und Verbrennungen, von denen Chronisten berichten, tatsächlich erfolgten, lässt sich nicht zweifelsfrei ermitteln. Verfolgt wurden vor allem vagierende Beginen. In Basel kam es in den Jahren 1405 bis 1411 zu einem Streit über die Beginen, der maßgeblich von einer Predigt des Dominikaners observanter Richtung Johannes Mulberg († 1414) ausgelöst wurde. Mulberg ließ seiner Predigt einen Traktat gegen Beginen und Begarden (»Tractatus contra Beginas et Beghardos«) folgen, in dem er die Frage stellte, wer von Betteleinkünften leben dürfe und wer arbeiten müsse. Ein Leben in Bettelarmut gestand er nur den wirklich Bedürftigen und den Angehörigen der vier Bettelorden mit ihrem evangelischen Armutsideal zu; alle anderen, auch die Säkulargeistlichen und die Beginen, dürften nicht von erbettelten Einkünften leben. Die Fragestellung wurde später von dem Züricher Chorherrn Dr. Felix Hemmerlin wieder aufgenommen und zu Ungunsten der Beginen wie der Bettelorden beantwortet. In Basel wurden die Beginen erstmals 1405 vertrieben; nach Absetzung des beginenfreundlichen Rats im Jahr 1410 erfolgte 1411 trotz Interventionen an der Kurie und päpstlicher Entscheidungen zugunsten der Beginen die endgültige Vertreibung. Kaiser Karl IV. erließ 1369 von Lucca aus einen Aufruf zur inquisitorischen Verfolgung und Ausrottung der als häretische Sekte gebrandmarkten Beginen und Begarden im Reich. Unterschieden wurde jedoch vielfach zwischen schlechten, häretischen und guten, rechtschaffenen und gehorsamen Beginen, die wieder-

um Papst Johannes XXII. durch eine Bulle von 1321 in Schutz genommen hatte, während Innocenz VI., Urban V. und Gregor XI. die Beginen 1354, 1368 und 1372 dem Häresieverdacht und der Inquisition aussetzten. Gegenläug zu Diskriminierung, Verbot und Au ösung von Beginengemeinschaften erhielten Beginen von weiteren Instanzen, selbst von Karl IV., Schutzbriefe; und Gregor XI. nahm die ehrbaren und gehorsamen Beginen 1374 und 1377 wieder gegen die Inquisition in Schutz. Es erfolgte die Gründung zahlreicher neuer Konvente, sodass es auch im Zuge des Aufschwungs der Devotio moderna im Verlauf des 14. Jahrhunderts teilweise sogar zu einer Neubelebung des Beginenwesens kam. Insgesamt war die Haltung der verschiedenen kirchlichen Instanzen zu den Beginen, die schwer von häretischen Gemeinschaften, aber auch von Tertiarinnen abzugrenzen waren, durch das Mittelalter hindurch äußerst ambivalent. Die Kölner Provinzialsynode von 1452 unter dem Kardinallegaten Nikolaus von Kues ordnete an, dass künftig alle Gemeinschaften von Frauen und Männern eine vom apostolischen Stuhl approbierte Regel anzunehmen hätten. Die Reformation lehnte neben den Mönchsorden auch das Beginenwesen ab.

5.5 Kon ikte und Prozesse zwischen Geistlichkeit und Stadt Zwischen geistlichen Institutionen und dem Rat kam es immer wieder zu punktuellen oder längerfristigen Streitigkeiten. Maßnahmen und Gesetze des Rats, von denen behauptet wurde, dass sie gegen kirchliche Freiheiten verstießen, und andere Kon iktpunkte wie das Schulwesen oder Besitzstreitigkeiten mündeten in Auseinandersetzungen zwischen der hohen Geistlichkeit und dem Rat und konnten sich zu heterogenen Streitkomplexen verbinden. Auch Dritte wie die ansässigen Bettelorden wurden in die Kon ikte hineingezogen, und außerhalb der Stadtmauern beteiligten sich im eigenen Interesse auch weltliche Mächte.

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Ferner wirkten externe Vorgänge und Mächte, territorial- und reichspolitische Konstellationen, Bündnisse oder das Große abendländische Schisma (1378–1417), aber auch Störungen im Verhältnis zwischen dem Domkapitel und dem an Wahlkapitulationen gebundenen Bischof auf Kon ikte ein. Derartige Streitigkeiten zwischen Bürgerschaft und Geistlichkeit führten in verschiedenen Fällen zu jahrzehntelangen Auseinandersetzungen von erbitterter Feindseligkeit und Gewalttätigkeit sowie zu komplizierten Prozessen, die, unterbrochen von Vergleichsverhandlungen, vor delegierten päpstlichen Richtern außerhalb der Kurie in der näheren Umgebung (in partibus), an der Kurie selbst in Rom oder Avignon und an Konzilsorten geführt wurden. Die geistliche Seite setzte als Zwangsmittel die Waffen der Exkommunikation und des Interdikts ein, rief dadurch teilweise massive Gewalttaten hervor, scheute sich aber auch nicht, zu ihren Gunsten Gegner der Stadt mehr oder weniger direkt zu Gewalt anzustiften. Das sich hinziehende Ende war weniger umfassenden und eindeutigen Urteilen oder Vergleichen zu verdanken, sondern vielmehr der Erschöpfung und Prozessmüdigkeit angesichts der langen Dauer des Streits, enormer Schäden und hoher Prozesskosten. Um die außerordentliche Komplexität und die Dimensionen derartiger Auseinandersetzungen sowie die Mittel und Verfahrensweisen, mit denen sie geführt wurden, wenigstens andeutungsweise aufscheinen zu lassen, seien einig Fälle in groben Zügen skizziert. 5.5.1 Lübeck (1277–1317) Einen solchen groß dimensionierten Kon ikt stellen die sich in Etappen von 1277 bis 1317 hinziehenden Streitigkeiten zwischen dem Lübecker Bischof und dem Domstift, dem alle fünf Pfarrkirchen mit ganzem Recht (pleno iure) inkorporiert waren, und dem Rat der Stadt dar.¹¹⁶⁰ Einzelkon ikte im Vorfeld waren 1277 ein Begräbnisstreit zwischen der Pfarrgeistlich-

1160 J. R, Bistum und Stadt Lübeck um 1300.

keit und den Bettelorden der Franziskaner und Dominikaner um das Begräbnisrecht, um die Frage, ob die Ordenskonvente zur Bestattung der Gläubigen und zum Empfang der dabei anfallenden Zuwendungen befugt seien, wobei die Mendikanten Rückhalt bei den Bürgern fanden. Etwa zur gleichen Zeit entstand ein Streit um das Recht des Rates, im Sinne eines Patronatsrechts einen Pfarrer für die Besetzung des vakanten Amtes in St. Marien zu präsentieren. Der Rat unterlag damit in Rom im Rechtsstreit mit dem Domstift, dem zweifellos das Einsetzungsrecht (ius instituendi et ponendi) zustand, doch wurde das ursprüngliche Recht der bloßen Benennung (Denomination) des Pfarrers durch die Parochianen bestätigt. Der Streit um das Bestattungsrecht der Mendikanten eskalierte, als die Pfarrgeistlichkeit von St. Marien nach der dortigen Aussegnung (Exequien) die Herausgabe der Leiche einer Witwe aus angesehener Familie zur Bestattung bei den Franziskanern verweigerte. Nahestehende der Verstorbenen, darunter zwei Ratsherren, trugen daraufhin gewaltsam die Leiche aus der Kirche, nachdem sie angeblich die Priester und deren Gehilfen in einem Raum eingeschlossen und einen Subdiakon am Altar gewaltsam niedergeworfen hatten. Die Täter wurden vom Stellvertreter des Bischofs exkommuniziert, appellierten aber sogleich an den päpstlichen Stuhl. Der Rat unterließ jede Bestrafung, die Mendikanten predigten gegen die Domherren, die zudem auf der Straße belästigt und als Ketzer verschrien wurden. Bischof Burkhard, Domkapitel und die meisten Pfarrgeistlichen sahen sich genötigt, die Stadt zu verlassen und auf bischö iches Territorium auszuweichen. Von dort aus untersagte der Bischof den Orden das Predigen und Beichthören und verhängte etwas später über sie Exkommunikation, Suspension und Interdikt, dieses auch über die Stadt. Der Metropolit, der Erzbischof von Bremen, billigte die Sentenzen des Bischofs. Der Rat erachtete sich an das Interdikt, gegen das er appelliert hatte, nicht gebunden und berief fremde Geistliche zur Verrich-

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tung der Gottesdienste in der Stadt. Später verlegte, während der Rat versöhnungsbereit war, eine von den Mendikanten aufgestachelte lärmende und höhnische Volksmenge dem Bischof und dem Domkapitel die Rückkehr in die Stadt und zwang sie zur Umkehr. Nach einem Monat exkommunizierte der Bischof im November 1277 die Ratsherren (consules) und ein ussreichen Bürger (maiores) samt allen, die sie unterstützten. Dabei nannte er als weiteren Grund neue, unbillige und dem Herkommen widersprechende Statuten des Rats. Von Papst Nikolaus III., einem Freund der Franziskaner, nach Rom geladen, fanden sich dort der Bischof persönlich, der Dompropst und der Domdekan, ferner Prokuratoren der Bettelorden sowie des Vogts, des Rats und der Gemeinde Lübecks an der Kurie ein, wo die Parteien sich in einem Schiedsvertrag (compromissum) auf den vom Papst ermächtigten Kardinaldiakon Jacobo Colonna als Schiedsrichter einigten. Dieser bestätigte in einem Schiedsspruch von 1280 im Wesentlichen die Rechte der Mendikanten und die freie Begräbniswahl der Bürger, ferner absolvierte er die Ratsherren und die Haupttäter zur (größeren) Sicherheit (ad cautelam). Wer gegen den Spruch verstieß, dem drohten ipso facto Exkommunikation, Suspension oder Interdikt und eine Geldstrafe von 2 000 Mark Silber. In einem weiteren Schiedsspruch entschied der Kardinal 1282 ergänzend über die Beschwerden, die der Klerus gegen kirchenfeindliche Statuten des Rates vorgebracht hatte: Das Opfer (oblatio) von Lebensmitteln, die Opfer und die Zahl der Teilnehmer bei Trauungen, beim Kirchgang der Brautleute und dem der Wöchnerinnen sowie die Zahl der Totenmessen dürfen nicht beschränkt werden. Vermächtnisse zu frommen Zwecken können vor beliebigen geschäftsfähigen Zeugen, nicht nur vor zwei Ratsherren, errichtet werden; Geistliche müssen aber als Zeugen immer zugelassen bleiben. Immobilien sollen jedoch – damit folgt der Kardinal städtischem Recht – zu frommen Zwecken nach Möglichkeit nur in Gegenwart von Ratsherren vermacht und sodann von den Erben binnen zweier Monate an Lai-

en verkauft werden; der Erlös fällt dann an die testamentarisch bedachte Kirche. Von der Stadt beanstandete Bestimmungen, wonach die Söhne Lübecker Bürger nicht ins Domkapitel aufgenommen werden dürfen, was etwa auch das Speyrer Domstift 1309 gegenüber Speyrer Bürgern verfügte, und wonach Lübecker Bürger ohne Verzicht auf das Recht, den Priester zu präsentieren, keine neuen Altäre errichten dürfen, sind verboten und nichtig. Zur Sicherstellung der Franziskaner werden im Wortlaut päpstliche Privilegien inseriert, die ihre gerichtliche Exemtion sowie ihr Begräbnisrecht und ihr Recht zum Predigen und Beichthören bestätigen. War damit nach fünf Jahren der Friede zwischen Domstift und Stadt wiederhergestellt, so brachen 1298 wieder Streitigkeiten aus, und zwar wegen der Besitzgrenzen zwischen Domstift und Stadt, wechselseitiger Gebietsansprüche, eines städtischen Mühlenbaus und Asylverletzungen. Auch hatte der Rat eine Kloake am Ufer der Wackenitz beim Dormitorium der Domherren und Scholaren zumauern lassen. Bei dieser Gelegenheit brachte der Bischof wieder Beschwerden gegen städtische Satzungen und Rechtsgewohnheiten vor, welche angeblich die Freiheit der Geistlichen und die geistliche Gerichtsbarkeit beeinträchtigten. Später kam noch der Streit um die Schulen hinzu. Im Jahre 1299 verhängte der Bischof das Interdikt über die Stadt, wozu er sich auf die Strafbestimmung des Colonna-Schiedsspruchs stützte. Auf die sofortigen Appellationen des Rats reagierte der Bischof als Unterrichter mit apostoli refutatorii, d. h. mit Überweisungsschreiben an den Papst als Oberrichter, in denen die Appellationen als unzulässig dargestellt wurden. Der Rat ließ unter Missachtung des Interdikts Schlüssel zur Türe des Domturms nachmachen, um dort weiterhin die Sturmglocke läuten zu können. Man brach während der Messe der Geistlichen in die Kirche ein und nahm Begräbnisse vor. Später verlangte der Bischof, dass die Leichen von Exkommunizierten wieder ausgegraben würden. Im Verlauf der weiteren Ereignisse wurden seit 1299 in verschiedenen Aktionen insgesamt 14 Wohnhöfe (Ku-

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rien) des bischö ichen Klerus zerstört. Die dadurch erlittenen Sachbeschädigungen und Verluste an jährlichen Einkünften veranschlagte der Bischof später auf 60 000 Mark. Von Seiten des Bistums fanden Übergriffe auf Minoriten und Laien statt; Dörfer, die der Stadt gehörten, wurden überfallen und geplündert, auch Menschen erschlagen. Auf Veranlassung von Bischof und Domkapitel über el Herzog Otto von Lüneburg mit 300 Helfern im Jahre 1301 Dörfer der Stadt und griff Bürger auf. Vermittlungsversuche und eine Ladung vor König Albrecht I. schlugen fehl, doch erteilte Papst Bonifaz VIII. im Jahre 1300 delegierten Richtern in partibus einen Prozessauftrag, den sie allerdings nach Ablauf seiner Befristung zurückgaben. Unter verschiedenen Ponti katen von Benedikt XI. über Clemens V. bis zum Pontikat Johannes XXII. wurde an der Kurie in Rom, Avignon und Poitiers zwischen den Parteien mit großem Aufwand unter Ausschöpfung aller Verfahrensmöglichkeiten prozessiert. Den Frieden brachte ein Vergleich von 1314, doch dauerte es noch bis 1317, bis Rat und Stadt für 5 000 Gulden von den geistlichen Zensuren absolviert wurden; und erst 1319 kam es zu einer endgültigen Regelung der Grenzfragen, dem Hauptgegenstand des Streits, wie sie im Wesentlichen schon in einem Schiedsspruch von 1298 getroffen worden war. 5.5.2 Hamburg (Mitte 14. Jahrhundert) Eine einzigartige Überlieferung an Prozessakten sowie Korrespondenzen zwischen dem Rat in Hamburg und seinen beiden Prozessvertretern (Prokuratoren) an der Kurie von Avignon haben um die Mitte des 14. Jahrhunderts die unter wechselseitigen Anschuldigungen ausgetragenen Streitigkeiten zwischen dem Rat und einzelnen Bürgern auf der einen und dem Domkapitel auf der anderen Seite hervorgebracht.¹¹⁶¹ Bei dem zwanzigjährigen Rechtsstreit ging es im

Kern um die fundamentalen klassischen Koniktbereiche, nämlich die Ansprüche der Geistlichkeit auf Freiheit von allen bürgerlichen Lasten und von der weltlichen Gerichtsbarkeit auch in weltlichen Sachen, während der Hamburger Rat versuchte, diese Freiheiten einzuschränken, indem er etwa die Veräußerung von Grundbesitz an geistliche Institutionen verbot oder Güter, die durch Schenkungen oder Vermächtnisse der Bürger in den Besitz der Kirche gelangt waren, weiterhin steuerp ichtig machte. Die Anschuldigungen des Domkapitels (34 Artikel) und die im Gegenzug erhobenen des Rats (43 Artikel) zeigen die Vielfalt weiterer Koniktmomente zwischen den Streitgegnern. Das Domkapitel erhob Klage bei päpstlichen Subkonservatoren und Richtern in Bremen und nach Einreden (exceptiones) des Rats gegen Gerichtsort und Richter nunmehr vor dem Lübecker Domdekan und nachfolgend vor dem Schweriner Dompropst und dem Lübecker Domkantor. Es wurden außergerichtliche Vergleichsverhandlungen zur Streitbeilegung geführt, doch stellte der Rat die Rechtsgültigkeit und Bindungswirkung des Textes eines gütlichen Vergleichs (compositio) in Abrede. Als der Hamburger Dompropst mit Fristsetzung vom Rat verlangte, die Maßnahmen gegen die kirchlichen Freiheiten zurückzunehmen, und schließlich 1338 gegen den Rat die Exkommunikation und über die Stadt das Interdikt wegen Ungehorsams verhängte, appellierte der Rat erfolgreich an Papst Benedikt XII., sodass nun an der Kurie in Avignon wegen der Exkommunikation und wegen des Interdikts, ferner in der Hauptsache und in verschiedenen Nebensachen sowie wegen der Prozesskosten prozessiert wurde. Der Prozess wurde mehrere Instanzen hindurch vor verschiedenen päpstlichen Richtern (Auditoren) geführt, wobei die Prokuratoren des Rates immer wieder von den Endurteilen appellierten. Er zeigt das Prozessgeschehen des geistlichen Gerichts mit seinen Grundsätzen

1161 Es handelt sich um die Acta Avinionensia des Hamburger Staatsarchivs. R. S/J. R (Bearb.), Rat und Domkapitel von Hamburg um die Mitte des 14. Jahrhunderts, Teil 1 (Korrespondenz 1337–1359); Teil 2 (Prozess-Schriftgut 1336–1356). Korrespondenzen zwischen Hamburg und Avignon gelangten in etwa 26 Tagen zu den Empfängern.

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und Subtilitäten, denen nur Fachleute gewachsen waren, mit Gerichtskommissionen, Verfahrensabschnitten, Vereidigung, Rechtsgutachten, Schriftsätzen, Einreden verschiedener Art, unter anderem auch gegen unzureichende prokuratorische Mandate (Prokuratorien), Streitbefestigung (Litiskontestation), Zwischenurteilen und Appellationen bis hin zum Sachverhalt, dass Parteien unter Androhung der Exkommunikation wegen Ungehorsams (contumacia) gegen den richterlichen Befehl zur Streitbefestigung und damit zur Einlassung in die Hauptsache gezwungen werden mussten. Beendet wurden die Rechtsstreitigkeiten durch einen außergerichtlichen Vergleich und eine Streitverzichtserklärung in Avignon. In Nebenklagen wurde der Rat etwa der Verhaftung und schmählichen Behandlung eines in seinem Status allerdings angezweifelten Klerikers, der nachts einen Schuster verletzt hatte, beschuldigt, während der Schuster gegen den Kleriker wegen Körperverletzung, ferner zwei Frauen wegen nachfolgend versuchten gewaltsamen Eindringens des Klerikers in ihr Haus Klage erhoben. Ein Bürger wurde beschuldigt, rechtswidrig ein Vikarshaus in Besitz genommen, ein Ratsherr, Gelder des Dombauvermögens veruntreut zu haben. Pfarrangehörige klagten, weil Pfarrer wegen der Exkommunikation und des Interdikts, die von den Betroffenen wegen der eingelegten Appellation nicht anerkannt wurden, einer ganzen Reihe von schwerkranken und verschiedentlich danach verstorbenen Ratsherren, daran zeigt sich die Härte der geistlichen Zwangsmittel, die Beichte und die Sakramente verweigert hatten. Diese hatten, im Krankenbett liegend, sofort dagegen förmlich appelliert. Das aus der Stadt verdrängte Domkapitel ging noch weiter und schob noch eine angebliche Glaubenssache (causa dei) nach. Es beschuldigte Ratsherren und andere Personen wie

Notare und Ratgeber des ›Aufstands (rebellio) gegen die Kirche‹, weil sie Übergriffe gegen Kleriker und Gebäude verübt sowie durch eigenhändiges Begraben exkommunizierter Toter auf Friedhöfen und in Kirchen, durch dortiges Blutvergießen sowie Läuten der Kirchenglocken fortgesetzt Exkommunikation und Interdikt missachtet hätten, und verdächtigte sie deswegen der Glaubensabweichung. Das Domkapitel erwirkte 1353 im öffentlichen Konsistorium Innocenz IV. die Ladung und das persönliche Erscheinen der Angeschuldigten, was für den gesamten Rat im Hinblick auf seine Regierungsaufgaben kaum möglich war. Der Rat besorgte sich Leumundszeugnisse vom Rat anderer Städte, geistlicher Korporationen und Bettelorden, der Herzöge von Sachsen-Lauenburg und von Lüneburg sowie der Grafen von Holstein. Die Hamburger Ratsherren seien rechtschaffene Männer, rechtstreue Menschen, Kaufleute guten Rufes, gläubige und gute Christen und keine Häretiker – so äußerte sich etwa der Lübecker Rat. Die Ladung wurde aber ausgesprochen, und wiederum gab es ein langwieriges und zähes Ringen in kleinen Schritten und mit allen prozessualen Mitteln bis hin zu richterlichen Abreiseverboten, die gegen Prokuratoren ausgesprochen wurden. Beendet wurde der Streit erst durch den außergerichtlichen Vergleich und Schiedsspruch in Sachen Prozesskosten und Schäden, die Absolution von der Exkommunikation und die neue Weihe (Rekonziliation) von Kirchen und Kirchhöfen, die wegen dort erfolgten Blutvergießens entweiht worden waren.¹¹⁶²

1162 Der Rat machte Schäden durch die vom Domkapitel angestifteten Fehden, unter anderem unter Beteiligung des Landesherrn, in Höhe von 40 000 Mark, durch die vom Domkapitel veranlassten Prozesse von 16 000 Gulden und durch die nach dem Vergleich von 1439 erfolgte Verleumdung von Rat und Stadt von 10 000 Gulden geltend. Das Domkapitel legte folgende Schadensrechnung vor: mehr als 10 000 Mark durch Brand und Raub in seinen Dörfern, Prozesskosten gemäß Gerichtsurteil 664 Gulden, durch Schuld des Rates entstandene Prozesskosten von 16 000 Gulden und Schaden infolge der Verdrängung aus der Stadt von mehr als 3 000 Mark.

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5.5.3 ›Pfaffenkriege‹ und andere Auseinandersetzungen im 15. Jahrhundert Scharfe Kon ikte von erheblicher Dauer, die teilweise immense Kosten verursachten, brachen zwischen Rat, Bürgern und hohem Klerus im niederdeutschen Hansebereich im 15. Jahrhundert in Gestalt so genannter »Pfaffenkriege« aus, wie sie in Anknüpfung an mittelalterliche Bezeichnungen in der Forschung typisiert werden.¹¹⁶³ Dazu zählen unter anderem der Halberstädter ›Pfaffenkrieg‹ (1369–1406), die Mindener Schicht mit Dombelagerung, der Braunschweiger Papenkrich (1413–1424/25), der Hallenser Streit um die Salzgerechtigkeit, der Osnabrücker Wahltumult (1424–1426), der Revaler Schulstreit (1424–1428), der Hildesheimer Jurisdiktionsstreit (1445–1455), der langwierige Lüneburger Prälatenkrieg (etwa 1446–1462) mit seinen Spätfolgen, die Hildesheimer Bier[ak]ziesefehde, gefolgt von der Großen Hildesheimer Fehde (1483–1486), und die Rostocker Domfehde (1487–1491). Hinzu kommen kleinere Kon ikte wie der Stralsunder ›Pfaffenbrand‹ (1407), die Vertreibung der Göttinger ›Pfaffenweiber‹ (1409), der Lenethunsche Aufstand in Osnabrück (1488/89) oder die Braunschweiger Schicht Ledeke Hollants (1488). In diesen Auseinandersetzungen kam es, um summarisch die im Einzelnen hier nicht darstellbaren verwickelten Ereignisse zu resümieren, von Seiten der Stadt zu gewaltfreien und gewalttätigen Au äufen, zur Bildung von Schwurgemeinschaften, zur Belagerung des Doms, zur Besetzung des Pfarrhofs, zur Erstürmung und Plünderung von Kurien und Häusern von Geistlichen. Dabei wurden auch Unterschichten, ›loses Volk‹ sowie Buden- und Kellerbewohner, mobilisiert. Die kirchliche Seite bis hin zum Papst reagierte mit Exkommunikation von Einzelpersonen, mehrfachem Kirchenbann und Interdikt über die Stadt sowie hinsichtlich des Lüneburger Prälatenkriegs mit der

Anordnung, den Rat abzusetzen, was auch geschah. Kaiser Friedrich III. intervenierte im Falle Lüneburgs zunächst zugunsten des Rats, ließ dann aber vor dem Kammergericht Klage gegen die Stadt wegen Friedensbruchs erheben, verhängte die Reichsacht und verlangte enorme Strafsummen. Kon ikte weiteten sich in anderen Fällen auf den Stadt- und Landesherrn aus. Befreundete oder benachbarte Hansestädte und Hansetage oder der König von Dänemark schalteten sich in die Kon iktfälle ein. Städtische Vertreter reisten an die Kurie nach Rom und verhandelten auf Konzilien; Prozesse wurden geführt. Es ging um die städtische Schule, die Besteuerung kirchlichen Grundbesitzes, städtische Patronatsrechte, Besitzstreitigkeiten, die geistliche Gerichtsbarkeit, die Bischofswahl ohne städtische Vertreter (Osnabrück), die Umwandlung von Pfarrkirchen in ein Kollegiatstift zur Fundierung der Universität (Rostock), die Besteuerung des Eigentums der geistlichen Salinenbesitzer durch den Rat in Notzeiten der Stadt ohne Einvernehmen mit ihnen. An aktuelle Kon iktpunkte lagerten sich ältere an, sodass sich heterogene Gravamina und Artikel akkumulierten. Es kam zu Kompromissen, doch in nicht wenigen Fällen konnte sich der Rat durchsetzen. In Bischofsstädten, die nach Autonomie strebten, wie die mittelrheinischen Städte Worms, Speyer¹¹⁶⁴ und Mainz, wurden die Grundkon ikte zwischen Bürgerschaft und Rat und Geistlichkeit – steuerfreie Wirtschaftstätigkeit des Klerus, geistliche Gerichtsbarkeit und städtische Amortisationsgesetze – im 14. und 15. Jahrhundert mit dem Kampf gegen die bischö ich Stadtherrschaft und einzelne stadtherrliche Rechte verquickt. Die Schiedssprüche (Rachtungen), die Pfalzgraf Ludwig 1419 und Erzbischof Konrad von Mainz 1420 in der 1410 ausgebrochenen großen Zwietracht (generalis discordia) zwischen der Stadt Speyer und Bischof Raban fällten, elen einseitig zugunsten der Geistlichkeit aus und stellten weitge-

1163 B.-U. H, Pfaffenkriege. 1164 E. V, Reichsstadt und Herrschaft (siehe 4.1-4.3), S. 105–162.

Kritik an Kirche und Klerus

hend den autonomen Status der freien Stadt des Reichs infrage. Der Rat selbst führte, obwohl auch er sich schon im frühen 14. Jahrhundert des Beistands gelehrter Juristen versichert hatte, seine Niederlage zu einem Teil auf ›Ungelehrtheit‹, mangelnde juristische Versiertheit gegenüber derjenigen der Rechtsgelehrten und Räte des Domstifts zurück. Die in ihrem Widerstand belagerte und befehdete, als Hort der Ketzerei und des Hussitismus diffamierte, nanziell durch Kriegskosten und bischö iche Schadensersatzforderungen äußerst belastete Stadt wurde zwar nach vergeblicher Appellation an Papst Martin V. durch eine Intervention König Sigmunds 1431 als des privilegierenden Mit-Stadtherrn neben dem Bischof vor der Katastrophe bewahrt, doch kam es, wie in Worms, das weitere 15. Jahrhundert hindurch zu keinen dauerhaften Lösungen des Grundkon ikts mit der Geistlichkeit, der bis tief ins 18. Jahrhundert hinein weiterschwelte.

5.6 Kritik an Kirche und Klerus 5.6.1 Grundzüge der Gravamina gegen Kirche und Klerus Auswüchse von Aberglauben und Wundergläubigkeit stießen bereits bei Zeitgenossen, insbesondere in humanistischen Kreisen, auf Kritik. Die Gravamina gegen die Kirche, d. h. das Vorbringen von Sachverhalten, die eine Beschwer darstellen, richteten sich gegen kirchlichen Fiskalismus, der auch vor spirituellen Bereichen durch Gebühren verschiedener Art nicht Halt machte, gegen die Pfründen- und Besetzungspolitik der Kurie, Missbräuche im Ablasswesen, das jedoch grundsätzlich noch nicht infrage gestellt wurde und einem Bedürfnis der Bevölkerung entsprach, gegen das geistliche Gericht, ferner gegen Inkorporationen und Pfründenhäufung des örtlichen Klerus, die Vernachlässigung und geringe Qualität von Gottesdienst und Seelsorge. Beklagt wurde die willkürliche Erhöhung der – nach der priesterlichen Stola genannten – Stolgebühren für kirchliche Hand-

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lungen wie Taufe, Beichte, Trauung und Begräbnis oder die Ausstellung von Urkunden. Da sich viele Geistliche willkürlich über ihre Residenzp icht hinwegsetzten oder sich durch päpstliche Privilegien davon befreien ließen, wurde Klage geführt, dass Bene zien infolge der dauernden Abwesenheit ihrer Inhaber der Auflösung nahe seien, schlecht bezahlte ungebildete Verweser (Vikare) sich kaum um ihre P ichten kümmerten, die Häuser verkommen ließen, Kirchengeräte verschleuderten und die gestifteten Gottesdienste vernachlässigten, sodass niemand mehr fromme Stiftungen machen wolle. Beklagt wurden ferner ein meist niedriger Bildungsstand sowie die Disziplin- und Sittenlosigkeit desWeltklerus, ferner die Verweltlichung des Mönchtums in Habitus und Wirtschaftsgebaren. Bürger verschiedener Schichten nahmen Anstoß an der Steuerfreiheit des Klerus, der den Schutz der Stadt genoss und die kommunalen Einrichtungen in Anspruch nahm, und verlangten, dass die Geistlichen die bürgerlichen Lasten mittrügen. Sie weigerten sich gelegentlich, den Kirchenzehnten von ihren ländlichen Naturaleinkünften zu zahlen, beschwerten sich über die konkurrierende Wirtschaftstätigkeit des Klerus und über die Verhängung des kirchlichen Interdikts in geringfügigen Streitsachen. Antiklerikalismus entzündete sich in Zeiten des Kon ikts und der Reformen, sodann im Zeichen der aufkommenden Reformation am Widerspruch, der sich zwischen kirchlicher Norm und überheblichen Formen der klerikalen Selbstheiligung im Hinblick auf den sakramentalen Dienst auf der einen Seite und der angetroffenen klerikalen Lebenspraxis auf der anderen Seite auftat. 5.6.2 Kritik am Erscheinungsbild des Klerus omas Ebendorfer stellt Mitte des 15. Jahrhunderts die Frage, warum die Laien dem Klerikerstand gegenüber feindlich gesonnen seien, wo man doch die Leistung und Hilfe der Geistlichen von der Geburt bis zum Tode benöti-

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ge.¹¹⁶⁵ Er nennt als Gründe die üblen Sitten von Klerikern, den Dünkel, das Streben nach Besitz und Privilegien, die Abneigung gegen die Armen und ihre schmutzigen Hände, körperliche Trägheit, mangelnde Neigung zu Studium und Meditation, aber auch zu Sorge und Arbeit des aktiven Lebens, ferner die eilfertige Verrichtung von Stundengebeten und Amtsp ichten, um sich schnell Gelagen, Saufereien und dem verbotenen Würfelspiel hingegeben zu können. Ebendorfer betont, dass dies Verfehlungen Einzelner seien, sieht aber, dass sie zur Abneigung der Laien gegen den ganzen Stand führten. Zugleich beklagt er andererseits, dass viele Obrigkeiten gegen die Freiheiten der Kirche und ihrer Diener Statuten erließen und die kirchlichen Privilegien mit Worten und Taten minderten. Johannes Geiler von Kaysersberg fragt 1508 – wie es der Humanist Jakob Wimpfeling bereits 1506 in seiner »Apologia« getan hatte – in einer Predigt, woher der alte Hass und die Feindschaft der Laien gegenüber den Pfaffen kämen. Er räumt als eine Ursache ein, dass die üble Lebensweise und böse Exempel mancher Geistlicher Anlass zu Ärgernis gäben. Doch auch ehrbare Priester, die es nie getan hätten, würden gehasst. Die andere Ursache sieht er in dem Besitzneid der Laien, die der Meinung seien, dass die Pfaffen ohnehin zuviel besäßen, die den Priestern und der Kirche immer wieder ihren Besitz nähmen und ihnen nicht geben wollten, was ihnen von Rechts wegen zustehe.¹¹⁶⁶ Der Augsburger Stadtschreiber, Jurist und Humanist Dr. Konrad Peutinger geriet in heftige Erregung, als der Bischof von Eichstätt 1514 ein Disputationsverbot über Johannes Ecks esen zum festen Depositenzins von 5 Prozent verhängte. Gegen die geistlichen ›Unterdrücker der Wahrheit‹ verteidigte er die von ihm gleichfalls gebilligte, aber umstrittene Anlageform, die, wie er geltend machte, Witwen,

Kindern, Mündeln und Waisen zugutekäme und denen, die wegen der Reichtümer der Vieles hinunterschlingenden Priester weder Renten noch andere zinstragende Güter erwerben könnten, und sprach von den geistlichen ›Tyrannen‹, die freilich die Dinge fernhielten, die den Seelen der Laien zur ewigen Glückseligkeit zuträglich seien. Er wisse nicht, mit welchem Recht man einen Kaufmann, der 5 Prozent gewinne, wucherisch und betrügerisch nennen könne; wohl aber häuften Priester Kanonikate an und genössen, obwohl Kanoniker das Stundengebet in ihrer Kirche verrichten und singen sollten, die Früchte der Pfründen in Abwesenheit. Er wolle, dass die christlichen Priester sich als erstes gemäß der Lehre und Erziehung der Evangelien den Menschen zuwendeten und die Welt, wenn sie bei Laien irgendwelche Vergehen vermerkten, liebevoll gemäß dem Beispiel Christi beurteilten, nicht p ichtvergessen, neidisch, nicht als Anstifter zu Zwiespalt, nicht habgierig und begierig nach weltlichen Gütern, die meistens die Frömmigkeit (religio) auf das Ungebührlichste verkehrten. Der Vertrag sei, wie Eck sage, nicht sündhaft; hier kläffe es, er sei Sünde. Die Sache werde unter den Priestern mit Neid und Hass behandelt. Es wisse nicht, auf welche Weise man die Wahrheit kränke oder verletze, wenn man sie erforsche. Wenn aber der Bischof nicht wolle, dass man die Wahrheit erkenne, werde dieser, glaube er Peutinger, von der christlichen Gelehrsamkeit (eruditio christiana), die jegliche Wahrheit fördere und veröffentlicht wissen wolle, angeklagt und verurteilt werden.¹¹⁶⁷ Die Chronique scandaleuse des Klerus, Gegenstand von Polemik und Satire, beruhte sicherlich auch auf Übertreibungen und diente gelegentlich als Arsenal für opportune Beschuldigungen bei Streitigkeiten mit der Geistlichkeit.¹¹⁶⁸ Auch wurden Verfehlungen undif-

1165 W. T, Weinausschankrecht und Erwerbsgeschäfte von Klerikern, S. 478 f. 1166 U. I, Johannes Geiler, S. 247. 1167 Brief Peutingers an Johannes Eck vom 19. Dezember 1514; E. K (Hg.), Konrad Peutingers Briefwechsel, München 1923, Nr. 153, S. 250 f. Zur Sache siehe 9.7.2.4. 1168 A. S, Die städtischen Gravamina gegen den Klerus; J. L, Zur Problematik der kirchlichen Mißstände im Spätmittelalter; W. E, Klerus- und Kirchenkritik.

Kritik an Kirche und Klerus

ferenziert dem Klerus insgesamt zugerechnet. Freilich gab es drastische Beispiele für geringen Bildungsstand und Sittenlosigkeit, Fälle von Entführung, Missbrauch und Entehrung von Ehefrauen und jungen Mädchen durch Kleriker, von Geldgier, Trunksucht und Gewalttätigkeit von Geistlichen. Es nden sich bischöfliche Satzungen, die Totschläger und Brandstifter unter den Geistlichen, Wirtshausbesuch und Spiel betreffen, und Aufforderungen an Geistliche, Wucherer, Wirtshausbesucher und solche, die mit verdächtigen Weibern zusammenlebten, unter Strafe der Exkommunikation anzuzeigen. Die Häu gkeit von Verfehlungen und die Lebensführung des Durchschnitts indessen, auf die es sozialgeschichtlich vor allem ankäme, lassen sich etwa ohne geeignete serielle Visitationsakten kaum zuverlässig einschätzen. Schultheiß und Rat der Stadt Luzern klagten um 1378 gegenüber dem Bischof von Konstanz, dass sie aus Furcht vor kirchlichen Strafen gegen Kleriker in der Stadt, die sich schwere öffentliche Vergehen zuschulden kommen ließen, nicht vorgehen könnten. Eine Konstanzer Ratssatzung von 1480 bestimmt zum Schutz der Frauen und Bürger, dass kein Geweihter, er wäre Chorherr, Kaplan, Altarist, Priester, Diakon, Subdiakon, Akoluth, Mönch oder Schüler, Unsittlichkeiten (unzucht) oder Übergriffe gegenüber der Ehefrau, Tochter, Mutter oder einer weiblichen Verwandten eines Bürgers oder in dessen Haus gegenüber seinen Mägden begehen und keinem Bürger Anzüglichkeiten oder Scheltworte entbieten darf. Wenn dies aber einem Bürger widerfährt, soll der Rat dem, was der Bürger daraufhin dem Geistlichen antut, nicht nachgehen; und der Bürger soll deswegen nicht bestraft oder sonstwie belangt werden. Mit Beispielen leicht zu treffendes Angriffsziel und Gegenstand europäischer Schwankliteratur waren angesichts der von der Kirche in Predigten, Beichtspiegeln, gelehrten Abhandlungen und im Kirchenrecht propagierten rigorosen Sexualdoktrin, die insbesondere die Frau als lüsterne Verursacherin verwer icher eischlicher Begierden benannte, die erotischen Eskapaden und Übergriffe von Geistlichen sowie

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die klerikalen Konkubinarier mit ›Pfaffenkindern‹, die sonst eher als Erscheinung des Alltags auf größere Duldsamkeit stießen. Am Ende des 15. Jahrhunderts mehrten sich antimonastische Tendenzen. Bürgerlicher Unwille richtete sich insbesondere gegen den Standeshochmut und die Gewalttätigkeit adliger Domherren, die häug nur niedere Weihen hatten, tödliche Gewaltdelikte begingen, untereinander regelrechte Adelsfehden ausfochten und sich in Einzelfällen sogar als Raubritter betätigten. Aber auch priesterliche Kleriker teilten die auffahrende Leidenschaftlichkeit der spätmittelalterlichen Menschen und waren als Opfer wie als Täter in Raufhändel und Totschlagsdelikte verwickelt. So wurde in Straßburg 1349 ein Priester wegen Vergewaltigung und Totschlags einer Bürgerin der Stadt verwiesen. Auf Pfarreiebene kennzeichnete eine gewisse Distanzlosigkeit den Umgang zwischen Laien und Klerus. Immer wieder brach auch ein elementarer, mit blasphemischen und ketzerischen Äußerungen vorgetragener und von Sakramentsschändungen begleiteter Pfaffenhass durch und führte zu Übergriffen auf die Geistlichkeit. Antiklerikale Gesänge wurden auf Wallfahrten wie der Niklashäuser Fahrt von 1476 gesungen. Die anstößige Lebensführung von Teilen des niederen Klerus lässt sich nicht zuletzt mit teilweise erbärmlichen Lebensbedingungen, dem Zwang zum Betteln und notorischer Unterbeschäftigung bei nur wenigen wöchentlichen Messlesungen erklären. ›Kein ärmeres Vieh auf Erden ist, als Priesterschaft, der Brot gebrist‹, schreibt Sebastian Brant in seinem »Narrenschiff« mit Hinweis auf die Einkommensminderungen des Geistlichen durch den Vikar, den Bischof samt Fiskal, den Lehnsherrn, die Wirtschafterin und die kleinen Kinder im 73. Kapitel »Vom Geistlichwerden«. Eine recht verbreitete Erscheinung waren auf dem Hintergrund einer großzügigeren Sexualmoral Konkubinate und eheähnliche Lebensgemeinschaften von Klerikern, die zwar bei Strafe verboten, jedoch mancherorts unter skalischen Gesichtspunkten toleriert wurden, wenn an den

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Bischof eine jährliche Abgabe als Bußleistung oder bei einer Niederkunft der Konkubine eine Gebühr entrichtet wurde. ›Pfaffenkinder‹ galten zwar in verschiedenen Gegenden als ›unehrlich‹, wurden ansonsten aber in die Heiratskreise aufgenommen. Sie konnten andererseits mit Dispens die geistliche Laufbahn einschlagen und in Einzelfällen sogar dem Vater im Amt nachfolgen.¹¹⁶⁹ Wichtiger noch als die Frage, ob sich das Erscheinungsbild der Geistlichkeit zum Ende des Mittelalters hin weiter verschlechterte, erscheint der Sachverhalt, dass die Ansprüche der Laien an den Klerus gewachsen waren und von selbstbewussten Laienkreisen, die das Bildungsmonopol des Klerus gebrochen hatten, auch eingefordert wurden. Wo Missstände und Mängel herrschten, strebten die Bürgerschaft mit ihren materiellen Möglichkeiten und in christlicher Verantwortung der Rat auf der Grundlage wachsender Aufsichts- und Verfügungsrechte und mit seiner Satzungsgewalt nach Abhilfe und Befriedigung städtischer Bedürfnisse. 5.6.3 Auswirkungen der Lage der Kirche: Päpstliche Universalherrschaft – Großes abendländisches Schisma (1378‒1417) – Reformkonzilien (1414‒1449) – Gravamina der deutschen Nation Mehrere Generationen hindurch waren die Menschen mehr oder weniger unmittelbar von der Lage der päpstlich-kurialen Kirche betroffen. Gegen den skrupellos agierenden König Philipp den Schönen von Frankreich, der den episkopalen Klerus durch Steuerforderungen seiner Herrschaft dienstbar machte, unter Druck geraten, hatte der als Kanonist bedeutende Papst Bonifaz VIII. in der Bulle Unam Sanctam von 1302 den Anspruch auf eine päpstliche Universalherrschaft, die weltliche Rechte auf die Konzession und Delegation durch die geistliche Gewalt zurückführte und unmittelbare päpstliche Aufsichts-, Korrektions- und Ein-

griffsrechte hinsichtlich des weltlichen Bereichs bis hin zur Herrscherabsetzung einschloss, noch einmal in übersteigerter Weise propagiert und verkündet, dass jede menschliche Kreatur bei Verlust ihres Seelenheils dem Papst in Rom untertan sein müsse. Die päpstliche Machtvollkommenheit (plenitudo potestatis) war durch päpstliches Dekretalenrecht und Kanonisten teilweise in Orientierung am Princeps und Kaiser des römischen Rechts im Sinne einer sowohl ›ordentlichen‹, rechtlich gebundenen als auch einer ›absoluten‹, von menschlichem Recht entbundenen und nur durch göttliches (und natürliches) Recht beschränkten Jurisdiktions- und Gesetzgebungsgewalt kirchenrechtlich grundgelegt; sie erhielt aber, durch kurialistischpapalistische Traktate propagiert, eine über das Kirchenrecht hinausgehende herrschaftstheoretische, theokratisch zugespitzte Dimension. Zwar scheiterte der in Anagni 1303 handgrei ich attackierte Bonifaz VIII. am französischen König, doch setzte das Papsttum gegenüber den römisch-deutschen Königen mit seinem Anspruch auf die Approbation des zum König und künftigen Kaiser Gewählten und den Reichsvikariat bei ronvakanz den oberherrschaftlichen Kurs fort. Weil Ludwig der Bayer die päpstliche Approbation nicht abgewartet, sondern ohne diese königliche Herrschaftsrechte ausgeübt und in Reichsitalien Verfügungen getroffen hatte, verhängte Papst Johannes XXII. 1324 den Kirchenbann über den König und das Interdikt über seine Anhänger. Er destabilisierte die Herrschaftsverhältnisse im Reich, bis sich dann der Luxemburger Karl IV. als angeblicher ›Pfaffenkönig‹ in der Reihe der ronprätendenten – seit der Doppelwahl Ludwigs des Bayern und Friedrichs des Schönen aus dem Hause Habsburg im Jahre 1314 – endgültig durchsetzen konnte. Die Rivalität zwischen Ludwig dem Bayern und Karl IV. wirkte sich mit politischen Folgen bis in die Städte hinein aus und gefährdete Ratsregime, die angesichts des Gegenkönigtums zur Option veranlasst wurden. Das seit dem Ponti -

1169 B. S, Zölibat und Lage der »Priestersöhne« (7.3-7.5).

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kat Clemens V. (1305–1314) gelegentlich und demjenigen Johannes XXII. (1316–1334), der seit 1310 Bischof von Avignon war, dauerhaft in Avignon residierende, französisch besetzte Papsttum und eine Kurie ohne deutsche Kardinäle rückten weiter ins Zentrum der Christenheit, perfektionierten ihre zentralistische Jurisdiktion und Bürokratie, riefen aber durch den Ausbau des päpstlich-kurialen Fiskalismus Kritik und Reformforderungen hervor. Als nun das Papsttum nach Rom zurückkehrte, brach das Große abendländische Schisma (1378–1417) aus, das die Christen fast vierzig Jahre lang verunsicherte. Das Schisma mit den zwei und schließlich sogar drei rivalisierenden Päpsten, die wechselseitig den Schismatiker- und Ketzervorwurf erhoben und mit Bann und Interdikt kämpften, führte zur Aufteilung der geistlich-weltlichen Respublica christiana, des christlichen Europas, und des Reichs in verschiedene Anhängerschaften, die ihre jeweilige Oboedienz erklärten, und spaltete das Reich bis in die Bistümer, Ordenshäuser und Pfarreien hinein. Die Schwäche des schismatischen Papsttums konnte allerdings für Privilegienwünsche, die auf Konzessionsbereitschaft der umstrittenen Prätendenten stießen, auch von größeren Städten genutzt werden. Das Große Schisma steigerte das ohnehin vorhandene Verlangen nach einer Reform der Kirche an Haupt und Gliedern und ließ auf den Reformkonzilien von Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449) durch verschiedene Dekrete das Modell einer korporativ verfassten Kirche mit Superiorität des Konzils über dem die Kirche leitenden Papst (sog. Konziliarismus) als greifbare Alternative zum päpstlichen Absolutismus hervortreten. Das Konzil leitete in Konstanz seine Gewalt unmittelbar von Christus her, beanspruchte, die Kirche zu repräsentieren und band den Papst bei Strafe an seine Beschlüsse (Dekret Haec sancta, 1415). Das in fünf, sieben und dann in periodischen Abständen von zehn Jahren vom Papst obligato-

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risch einzuberufende Konzil sollte Grundentscheidungen in Fragen der Kirchenreform und des Glaubens treffen sowie möglichen Schismen vorbeugen oder eingetretene beseitigen (Dekret Frequens, 1417). Vor allem auf dem hinsichtlich des Teilnehmerkreises sehr offenen Basler Konzil, das die Konzilssuperiorität gegenüber der Regierung des Papstes zum Dogma erhob, waren Kleriker von Städten und Vertreter von Universitäten zugelassen und konnten sich beim Konzil als Konzilsangehörige inkorporieren lassen. Die Konzilien von Konstanz und Basel vermittelten auch dem weltlichen politischen Bereich für Gegenwart und Zukunft grundlegende politologisch-juristische Begriffe wie »Konsens« und »Repräsentation«, während das exible korporative Verfassungsmodell ohnehin in der Stadtverfassung und in den Organisationsformen der Gilden, Zünfte und Universitäten verwandte Entsprechungen hatte. Die nach dem Sieg des Papsttums aufgegebene Kirchenreform und das Erscheinungsbild des monarchisch erstarkten Renaissancepapsttums sorgten seit der Mitte des 15. Jahrhunderts auf der Ebene von Reich und Reichstagen für eine Fortschreibung der Gravamina der deutschen Nation gegen das Gebaren der römischen Kurie bis hin zu deren Aufnahme in die Schriften Martin Luthers.¹¹⁷⁰ Die Gravamina nationis Germanicae, wie sie bis zum Augsburger Reichstag von 1530 immer wieder vorgebracht wurden, sind auf dem Hintergrund der kirchlichen Reformkonzilien von Konstanz und Basel und der Au ösung der Kircheneinheit durch nationalkirchliche Sonderabmachungen (Konkordate) mit dem Papsttum erwachsen. Im Zusammenhang mit der causa reformationis wurden während der Konzilien und danach in verschiedenen Dokumenten Reformforderungen erhoben, so in der Denkschrift der deutschen Konzilsnation vom 17. September 1417, in den »Avisamenta Nationis Germanicae« von 1418, in der fürstlichen ›Mainzer Akzeptation‹ von 26 Basler Reformdekreten des Jahres 1439 oder in

1170 Überblick mit Literatur: E. I, Art. »Gravamen«. Zur allgemeinen Kirchen- und Konziliengeschichte siehe das Literaturverzeichnis.

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dem kurfürstlichen Reformprogramm der »Avisamenta Moguntina« von 1441. Eine wichtige Rolle spielten später auch Gravamina, die Verletzungen des Wiener Konkordats von 1448 geltend machten, jenes Konkordates, das zwischen König Friedrich III. und Papst Nikolaus V. pro natione Alamanica abgeschlossen wurde und das die konziliaren Errungenschaften zugunsten eines wiedererstarkten Papsttums und einer Konsolidierung des landesfürstlichen Kirchenregiments weitgehend wieder zurücknahm. Die Gravamina hatten verschiedene Urheber und wurden aus unterschiedlichen Quellen gespeist. Es nden sich kirchenpolitische Gravamina des niederen Klerus, geistlicher Fürsten und Versammlungen geistlicher und weltlicher Fürsten, von Domkapiteln und Provinzialsynoden, von weltlichen Fürsten, Städten und von Reichstagen. Vorwürfe des prominenten Juristen und damaligen Mainzer Kanzlers Dr. Martin Mair wegen kurialer Praktiken und Missbräuche, welche die deutsche Nation ruinierten, versuchte Aeneas Silvius de Piccolominibus, der Humanist und damalige Bischof von Siena und spätere Papst Pius II., 1458 mit einem Brieftraktat, der sogenannten »Germania«, beschwichtigend zu entkräften. Noch 1515 erschienen als Reaktion auf diese Schrift die »Responsa et replice ad Eneam Silvium« des elsässischen Humanisten Jakob Wimpheling, der bereits 1510 im Auftrag König Maximilians I. Gravamina in einem Entwurf zu einem der französischen pragmatischen Sanktion von Bourges (1438) vergleichbaren nationalkirchlichen Grundgesetz für Deutschland mit seinen »Medulla excerpta« zusammengestellt hatte. Gravamina kirchlicher und weltlicher Art greifen im 15. Jahrhundert auch Reformschriften wie die »Concordantia catholica« des Nikolaus von Kues von 1433, die in der Reformationszeit in verschiedenen Drucken verbreitete »Reformatio Sigismundi« von 1439, seit der Wende zum 16. Jahrhundert der sogenannte »Oberrheinische Revolutionär« (um 1500), Schriften der Humanisten, insbesondere die leidenschaftlichen und extrem kirchen- und romfeindlichen Schriften Ulrichs von Hutten († 1523) auf.

In erster Linie sind es zunächst Standesklagen des hohen Klerus gegen die römische Kurie, gegen die kuriale Ämter- und Pfründenvergabe, gegen den kurialen Fiskalismus und gegen kuriale Übergriffe in die Gerichtsbarkeit des deutschen Episkopats, während die Gravamina eines anonymen niederen Klerikers von 1451 (»Mainzer Libell«) darüber hinausgehend in scharfen polemischen Formulierungen Geldgier, Verschwendungssucht und Sittenverderbnis an der römischen Kurie anprangern. Auf der politischen Ebene des Reichs wurden erstmals 1456 auf dem Frankfurter Kurfürstentag Gravamina der deutschen Nation vor allem gegen den kurialen Fiskalismus formuliert und bis zur Reformation verschiedentlich fortgeschrieben. Auf den Reichstagen wurden Gravamina gegen Rom eingehender seit dem Freiburger Tag von 1497 und dem Augsburger Tag von 1500 behandelt. Auf dem Augsburger Reichstag von 1518 begründeten die Reichsstände ihre Ablehnung einer Türkensteuer mit einem Hinweis auf die bisherigen Belastungen, die sich für den gemeinen Mann aus den Beschwerungen durch die römische Kurie ergäben. Martin Luthers Schrift »An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung« von 1520 fasst den Kanon der traditionellen Gravamina des 15. Jahrhunderts und die ihm bekannten Augsburger Beschwerden von 1518 sprachmächtigpolemisch durchgeformt und mit enormem publizistischem Erfolg zusammen, erschöpft sich indessen wegen der von Luther eingeführten genuin theologischen Begründungszusammenhänge nicht in einer bloßen Aufbereitung der Tradition.

5.7 Manifestationen stadtbürgerlicher Frömmigkeit Der Stadtbewohner lebte in enger topogra scher Ver echtung mit kirchlichen Institutionen nach dem Rhythmus des Kirchenjahres mit seiner Vielzahl an Feiertagen, Festen und Gedenktagen und nach den durch Glockengeläut

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gesetzten Zäsuren kirchlicher Tageseinteilung. »Der kirchlich-religiöse Lebensbereich war dem weltlichen aufs Innigste verschmolzen«, groß war zum Ausgang des Mittelalters hin »die Bereitschaft und Sehnsucht, das weltliche Leben im Rahmen der von der Kirche geschaffenen Ordnungen und mit Hilfe der von ihr angebotenen Gnadenschätze zu heiligen«.¹¹⁷¹ Viel zitiert wird das Wort von dem »immense appétit du divin« (Lucien Febvre). Von der Medizin kaum geschützt, von Gewalt, Hungersnöten, Krankheiten und Seuchen, einem allgegenwärtigen, strukturellen Krisentod ständig bedroht, beherrscht von Todesangst und vor allem von der Furcht vor dem plötzlichen, unvorbereiteten Tod, schlug sich die Sorge um das eigene Seelenheil und dasjenige von Angehörigen, Verwandten und Vorfahren in dem Bestreben nieder, die Sündenlast durch Stiftungen, Wallfahrten, Prozessionen, Reliquienschau, Seelenmessen, gute Werke, Ablass und die Fürbitte im Gebet zu erleichtern, wobei die Frömmigkeit stark an den Dingen orientiert war und durch Anhäufung in großer Zahl und gedanklicher Quanti zierung starke Züge von Rechenhaftigkeit aufwies. Dann iederman wolt gen himl, heißt es lapidar bei dem Augsburger Chronisten Burkard Zink.¹¹⁷² Der Chronist resümiert damit das Massenpilgern von nah und fern nach München im Gnadenjahr 1392, das der bayerische Herzog vom Papst gegen das Versprechen, die genaue Hälfte der Erträge an ihn abzuführen, erwirkt habe. Die Ablass suchenden Pilger hätten sieben Tage in München bleiben und jeden Tag in vier Kirchen ihr Almosen hinterlassen müssen. Die Benediktiner hätten die Höhe des Almosens für den Ablass danach taxiert, wie reich oder arm ihnen die Menschen vorkamen. Burkard Zink fügt kritisch hinzu: es war alles nur umb das gelt zu tuen. In Bern wirkte 1476, 1478 und 1480 der Ablassprediger Johannes Heynlin im Verbund mit 50, 80 und

100 Beichtvätern. Bei der Ablasskampagne des Kardinals Peraudi waren in Nürnberg 1489/90 nicht weniger als 43 Priester damit beschäftigt, Beichte zu hören und die Absolution zu erteilen. Dem Streben nach Aufnahme in den Himmel stand die Furcht vor dem Fegefeuer und ewiger Verdammnis gegenüber und ließ den »Ablasshandel« orieren, der schon im ausgehenden 15. Jahrhundert kritisiert wurde und auf dem Höhepunkt des Missbrauchs unter den Päpsten Julius II. und Leo X. durch die theologische Verschärfung der Kritik durch Martin Luthers esen von 1517 zu einem wichtigen Anstoß für die Dynamik der Reformation wurde. 5.7.1 Seelgeräte und Stiftungen für fromme Zwecke Die angehäufte Sündenlast und die Sündenstrafen versuchte man durch Seelgerätstiftungen und errechnete Ablässe – Werk- und Devotionsablässe – sowie etwa durch die abgezählten Gebete des Rosenkranzes abzuarbeiten. Der Ausdruck Seelgerät (remedium animae), der in den Quellen in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird, deckt in einem weiteren Verständnis alle testamentarischen Verfügungen und Stiftungen, die ad pias causas und damit zum Heil der Seele dotiert wurden, sowohl Gottesdienststiftungen als auch Spital- und Almosenstiftungen, die grundsätzlich eine Gebetsverp ichtung der Empfänger beinhalteten, oder etwa Stiftungen für den Kirchenbau.¹¹⁷³ Hauptsächlich sind die Stiftungen an geistliche Institutionen für eine Jahrzeit(messe) oder mehrmals im Jahr zu feiernde Seelenmessen – memoriae animae, anniversariae, tägliche und ewige Messen – für den Stifter oder Angehörige gemeint. Diese Stiftungen nahmen im 14. und 15. Jahrhundert enorm zu. In einigen Städten wie Regensburg und München wurden unabhängig von den letztwilligen Verfügungen von

1171 B. M, Reichsstadt und Reformation, S. 10. 1172 Die Chroniken der deutschen Städte ( Einleitung), Bd. 5, S. 45. 1173 A. . B, Mittelalterliche Bürgertestamente (8.1); H. B, Leben und Sterben in einer spätmittelalterlichen Stadt (8.1); R. K , Bürgerliche Gesellschaft und Kirche, S. 245 ff.; S. M, Frömmigkeit im spätmittelalterlichen Hannover; B. N, Religion und Familie (8.1).

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Todes wegen durch familien- und erbrechtliche Bestimmungen des Stadtrechts Teile des Nachlasses für das Seelenheil des Verstorbenen reserviert. Die zahllosen Gottesdienste gingen zum größten Teil auf fromme Stiftungen der Stadtbewohner zurück. Für Ulm werden etwa 20 000 Messen im Jahr angenommen; über 1 000 Messen wurden möglicherweise wöchentlich in Lüneburg an den vier Pfarrkirchen gelesen. Für die Seelgeräte wurden zinsbare Häuser und Grundstücke tradiert, Zinse auf Liegenschaften gelegt, oder es wurden größere Zahlungen in Form von Schenkungen oder testamentarischen Legaten geleistet. Ein veräußerlicht kalkulierendes Denken setzte dabei die Höhe der Dotation und die Zahl der Messen in ein unmittelbares quantitatives Verhältnis zum Heilswert. Durch Kumulation von Ablässen wurden immense Zeiträume erwirtschaftet, für die die ›zeitlichen Sündenstrafen‹ nachgelassen wurden, und dies sogar für bereits Verstorbene. Der Ablass (indulgentia, Indulgenz) beruhte theologisch auf dem Glauben, dass die Kirche den durch das Sühneopfer Christi und die Verdienste der Heiligen und Märtyrer angesammelten unerschöp ichen Gnadenschatz verwaltete, den sie dem Gläubigen bei ›guten Werken‹, d. h. bestimmten Buß- und Gebetsverrichtungen, Pilgerfahrten, Kirchenbesuchen, Almosen und Geldspenden, in Verbindung mit Beichte und Kommunion zuwenden konnte. Der reuige Sünder erlangte einen nach Tagen und Jahren bemessenen Nachlass der ›zeitlichen‹, der vorübergehenden Sündenstrafen, d. h. der eventuellen Bußzeit im diesseitigen Leben und vor allem der noch verbliebenen Reststrafe in der zeitlich begrenzten Reinigungs- und Läuterungsphase des Fegfeuers, während die ›ewigen‹ Höllenstrafen durch die Reue und Beichte des Sünders und die Absolution des Priesters aufgehoben waren. Die höchste Form war der ›vollkommene Ablass‹ (Plenarablass). Das Missverständnis des Ablasses als Sündennachlass und der Missbrauch eines gewissermaßen kommerziell gehandhabten, rechenhaften Ablasswesens unter anderem mit früh schon gedruckten Ablassbriefen gediehen

auf dem Nährboden eines ausufernden kirchlichen Fiskalismus. Mancher harte frühkapitalistische Kaufmann und Unternehmer mochte seine skrupellosen und wucherischen, gegen die christliche Morallehre verstoßenden Geschäftspraktiken an seinem Lebensende mit Stiftungen für fromme Zwecke bilanzieren und sein Gewissen erleichtern, wie auch Firmen wie die Höchstetter, Welser und Fugger wie italienische Gesellschaften ein ›Sonderkonto für den lieben Herrgott‹ unterhielten und bei der Gewinnauskehrung Almosen festlegten. Die Stiftung blieb als Heilsweg den Unterschichten verschlossen, denn auch die gebräuchlichste Form der Memorienstiftung, die Anniversarstiftung, bestehend aus Vigilie und Totenmesse am Todestag des Verstorbenen, erforderte ein nicht ganz unbeträchtliches Anlagekapital. In Augsburg mussten im 15. Jahrhundert dafür zwischen 5 und 10 Gulden bereitgestellt werden, während der durchschnittliche jährliche Reingewinn eines schwächeren Handwerkers auf etwa 20 Gulden veranschlagt werden kann. Teuer wurde die Memorienstiftung, wenn zur Steigerung von Feierlichkeit, Ansehen und Wirkung mehrere Kleriker oder gar auch Ratsherren anwesend sein sollten und an diese Präsenzgelder zu zahlen waren, oder wenn Orgelspiel und Kirchengesang gewünscht wurden. Wesentlich kostspieliger als die einfache Jahrtagsstiftung war die Stiftung ewiger Lichter, die 80 bis 120 Gulden erforderte. Für die Stiftung einer täglichen Messe schließlich musste ein Anlagekapital in Höhe von 500 Gulden aufgebracht werden. Sicherlich lassen sich in anderen Städten auch niedrigere Summen ermitteln. Die Zahl der Altar- und Messstiftungen, die örtlich verschieden im 14. oder 15. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte, führte zu einer problematischen Vermehrung häu g unterdotierter Stellen. So genannte Blutsvikarien oder Erbpfründenstiftungen dienten der Versorgung geistlicher Familienangehöriger oder Verwandter. Die ganz Reichen stifteten Altarbene zien oder eigene Kapellen; sie hatten häu g das Patronats- oder das Präsentationsrecht inne, so-

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fern sie diese nicht dem Rat übertrugen. Die Kapellen dienten als Ort der gestifteten Gottesdienste und als Grabstätten für die Familien. Bürgerschaft und Rat brachten, vor allem im 14. Jahrhundert, große Opfer in Form von Stiftungen und Ablassbriefen für den Bau und den Schmuck von Kathedral- und Pfarrkirchen. 5.7.2 Religiöse Bruderschaften Totenmemoria, Seelenmessen und Begräbnis wurden seit dem 14. Jahrhundert auch durch genossenschaftliche Bruderschaften (Fraternitäten)¹¹⁷⁴ und deren als Kirchengut behandeltes, teilweise am städtischen Rentenmarkt angelegtes Vermögen aus Beiträgen, Spenden und Stiftungen gewährleistet. Durch die Bruderschaft konnte auch den ärmeren Handwerkern, Gesellen und Dienstboten die Sicherung ihres Seelenheils gelingen. Weitere Zwecke der Bruderschaften waren gemeinsamer Gottesdienst und gemeinsames Gebet, gemeinsame Heiligenverehrung, Teilnahme an Prozessionen, Caritas durch Almosenstiftungen und Spenden¹¹⁷⁵ sowie Geselligkeit bei Mählern und Trinkgelagen. Es gab kirchliche Klerikervereinigungen, die sich auch den Laien öffneten, und Bruderschaften primär laikalen, häu g berufsständischen Charakters, die von Weltgeistlichen oder Bettelorden liturgisch betreut wurden, auch spezielle Spital- und Almosenbruderschaften sowie Elenden- (Fremden- ) und Pilgerbruderschaften. Die Bruderschaften bildeten religiöskultische Sondergemeinschaften innerhalb der Pfarrorganisation. Die Bruderschaft stellte gewissermaßen eine »paroisse consensuelle« (Gabriel le Bras) dar. Nicht selten wurde die Mitgliedschaft in mehreren Bruderschaften angestrebt. Über 70 Bruderschaften entstanden seit etwa 1350 in Lübeck, etwa 80 konnte Köln aufweisen, bis 1562/63 waren es dort insgesamt wohl mindestens 127 Laienbruderschaften.¹¹⁷⁶

In Hamburg gab es bei Beginn der Reformation 99 Bruderschaften einschließlich von neun Kalanden, von denen die meisten nach 1450 entstanden waren, über 30 Bruderschaften in Lüneburg und Hildesheim, 35 in Braunschweig, in Magdeburg 5, in Goslar 4, in Soest 8, orn 6, Königsberg 26, in Bamberg und Würzburg je 7, in Heilbronn 4 und in Nürnberg 7 oder 10. Der Bruderschaft des reichsfreien Augsburger Klosters St. Ulrich, die im Laufe der Zeit mehr als 5 000 Mitglieder aufwies, gehörten neben einer Vielzahl von Stadtbürgern, die den größten Teil ausmachten, auch Kaiser Friedrich III., König Maximilian, die Herzöge Otto und Christoph von Bayern und verschiedene Adlige aus der Umgebung an. Die primär geistliche Ulmer Rosenkranzbruderschaft, vom Dominikaner Felix Fabri 1483 nach Kölner Vorbild von 1475 gegründet, zählte in kurzer Zeit über 4 000 Mitglieder. Bürgerlich-laikal geprägt war hingegen die Würzburger Ratsbruderschaft bei der Marienkapelle, der Stadtbewohner aus fast allen Schichten beitraten. Fronleichnamsbruderschaften oder Rosenkranzbruderschaften, die hauptsächlich von den Dominikanern getragen wurden, betonten die gemeinsame Andacht, andere widmeten sich den Fremden, Pilgern oder dem Spitaldienst. Sie nannten sich nach dem Heiligen Kreuz und nach einer ganzen Reihe von Heiligen. Bruderschaften hatten ihre Mittelpunkte mit Kapellen und Altären an Dom-, Stifts-, Kloster- oder Pfarrkirchen sowie bei den Mendikantenklöstern. Neben den reichen Kalandsbruderschaften und den Bruderschaften der Kau eutegenossenschaften und der Zünfte gab es weniger gut situierte Bruderschaften armer Handwerker und solche der kleinen Leute wie die der Handwerksgesellen, die es nur zu einer Lichterspende am Altar brachten, oder die Bruderschaft der Braunschweiger Gärtner, die 1440 gegen die Abgabe einiger Scheffel Rüben die Fürbitte des Franziskanerklosters erlangten, und die

1174 L. R, Bruderschaften als Forschungsgegenstand. 1175 In den Statuten der Bruderschaften nden sich Brot- und Geldspenden, daneben aber auch Kleider-, Schuh- oder Heringsspenden. 1176 K. M (Bearb.), Quellen zur Geschichte der Kölner Laienbruderschaften.

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Goslarer Bruderschaft der Eselstreiber, die 1516 zwei wöchentliche Messen bei den Franziskanern stiftete. Das Bruderschaftswesen erhielt möglicherweise durch die Pest von 1348/50 und die wiederkehrenden Pestwellen verstärkte Impulse. Die Reformation lehnte mit der Werkgerechtigkeit auch die Bruderschaften – und ihre Auswüchse – ab. 5.7.3 Heilige und Reliquien – Wallfahrten Neben der Stiftungsfrömmigkeit und dem religiösen Bruderschaftswesen erfuhren im Spätmittelalter vor allem die Heiligenverehrung sowie damit verbunden ein absonderliche Formen annehmender Reliquienkult und die Wallfahrten eine außerordentliche Steigerung und Ausdehnung.¹¹⁷⁷ Mit der Zahl der Heiligen wuchs auch die Zahl der Feiertage. Die Heiligenverehrung beruhte auf der Vorstellung, dass der Mensch durch die Fürsprache der Mutter Gottes und von Heiligen bei Gott in seinem Heilsverlangen Unterstützung und durch Heilige im diesseitigen Leben konkrete Hilfe erlangen könne. Die Wallfahrten gründeten auf dem Glauben, dass Gott, Maria und die jeweiligen Heiligen an den von ihnen ausgewählten und durch Zeichen und Wunder angezeigten Orten bereit waren, den Menschen in besonderer Weise zu helfen. Über alle spezialisierten Heiligenkulte hinaus kam der Verehrung der Jungfrau Maria, an der alle Stände und Schichten teilhatten, eine übergreifende und zentrale Bedeutung für das Stadtbürgertum zu. Ihren Ausdruck fand die Marienverehrung in einer Marien- und Rosenkranzfrömmigkeit, in den zahlreichen Kirchen, Kapellen und Altären, die ihr geweiht wurden, in Votivgaben, Gottesdiensten zu Ehren Mariens, Andachtsübungen und Rosenkranzgebeten, Bruderschaften und in Marienwallfahrten wie insbesondere der vierzehntägigen Heiltumsfahrt nach Aachen, bei der 1496 angeblich

142 000 Pilger die Marienkirche besucht und innerhalb von 14 Tagen 85 000 Gulden gespendet haben sollen, ferner nach Maria Einsiedeln in der Schweiz oder seit 1519 nach Regensburg zur »Schönen Maria«. Gewissermaßen zu einer bürgerlichen Modeheiligen wurde in vielen Gegenden die Mutter Anna. Der hl. Nikolaus, Patron der Seefahrer und Händler, war einer der bekanntesten Volksheiligen. Doch gab es eine Vielzahl von Heiligen als Patrone und Schutzheilige für Städte, bestimmte Gewerbe und Berufsstände, als Fürbitter im Himmel und Helfer im diesseitigen Leben bei Gefahren und in irdischen Notlagen, gegen verschiedene Elementarschäden für gute Ernten, gegen Feuersbrünste und gegen Krankheiten bis hin zu Halsschmerzen. Der hl. Sebastian etwa war Schutzheiliger gegen die Pest und zugleich Patron der Schützenbruderschaften (-gilden). Der Anblick eines Bildwerkes des hl. Christophorus, der dem Legendenschatz der Kirche entstammt, schützte den Tag über vor dem verhängnisvollen plötzlichen, dem jähen Tod, der den Menschen unvorbereitet ohne vorherige Beichte und Absolution und ohne Empfang der Sterbesakramente traf. Der Kult der »Vierzehn Nothelfer« breitete sich seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts aus. Heiligennamen ersetzten jetzt fast vollständig die alten germanischen Vornamen. Eine wichtige Rolle spielte auch die Verehrung des Heiligen Kreuzes und des Heiligen Geistes, der eng mit dem Spitalwesen verbunden war. Starken Widerhall in der Malerei fand die Legende und Verehrung von St. Ursula und der Elfhundert Jungfrauen, deren Martyrium weitverbreitete Bruderschaften vom »Ursulaschifflein« hervorrief und zugleich für einen großen Bestand an Reliquien sorgte. Einige wenige Städte hatten einen Stadtheiligen samt Grablege, wie Nürnberg den hl. Sebald und Braunschweig den St. Au(c)tor. Der hl. Sebald wurde in Nürnberg verehrt, doch war er kein kirchlich anerkannter Heiliger, bis es der

1177 Zum Folgenden siehe B. M, Frömmigkeit (Forschungsüberblick), A. A (allgemein), F. M, B. H, S. M, H. B, H. P, G. R-T, J. S, K. S, M. Z, G. Z. – H. K, Frömmigkeit ohne Grenzen?; G. J, Leben, um zu sterben; E. V, Kunst; alle in: H. K (Hg.), Alltag im Spätmittelalter (1.1), S. 92 ff.; 121 ff.; 299 ff.

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Rat unter Kosten von nur 500 Gulden erreichte, dass der Stadtheilige ohne Kanonisierungsprozess 1425 von Papst Martin V. in das offizielle Verzeichnis der Heiligen aufgenommen wurde. Der Reliquienkult brachte eine abenteuerliche private, teilweise auch eine kommunale Sammelleidenschaft hervor. Städte waren bestrebt, wertvolle Reliquien in ihren Mauern zu beherbergen. Man versprach sich von den Heiligen und Reliquien eine Schutzwirkung für die Stadt und die Hinführung ihres Geschicks zum Guten. Die Heilswirkung des Schauens konnte sich entfalten, wenn die Reliquien anlässlich von Feierlichkeiten in ›Heiltumsweisungen‹ öffentlich gezeigt und in Prozessionen durch die Stadt getragen wurden. Die Fülle von Stadtheiligen und ihrer Gebeine, insbesondere diejenigen der von Erzbischof Rainald von Dassel 1164 vom besiegten Mailand nach Köln transferierten Heiligen Drei Könige, machte Köln zum heiligen Köln und festen Pilgerziel neben den Wallfahrtsorten Aachen und Tongeren.¹¹⁷⁸ Massenwallfahrten, Wallfahrten zur Strafe, Sühne, Buße, zum Dank oder zur Bitte um Hilfe galten neben der Jungfrau Maria vor allem Heilig-Blut-Reliquien und Hostienwundern (Bluthostien), von denen einige wie das Wilsnacker Blut durch Zeitgenossen bezweifelt oder als Betrug entlarvt wurden. Wallfahrten zu Bluthostien gingen nach Heiligenblut, Walldürn, Wilsnack und Brügge. Sowohl an die Marienfrömmigkeit als auch die Hostienfrömmigkeit knüpften Erscheinungen des Antijudaismus an, wenn an Orten zerstörter Synagogen zum Zeichen der heilsgeschichtlich überholten Synagoge Marienkapellen errichtet wurden oder Juden im Zusammenhang mit Pogromen der Hostienschändung beschuldigt wurden. Bei Massenwallfahrten mischten sich Devotion, Bußleistung, Wundersucht, religiöse Erregtheit, amouröse Motive, Sensations- und Abenteuerlust. In ihrem Anlass ungeklärt ist die vor allem aus Süddeutschland unternommene Kinderwallfahrt von 1457/58 nach dem Mont St. Michel in der Normandie.

1178 A. L, Kölner Heilige und Heiligtümer.

5.7.4 Kirchliche Feste und Prozessionen Innerhalb der Stadt fanden an religiösen Feierund Gedenktagen und anlässlich von Kirchenfesten liturgische Prozessionen des christologischen Eingedenkens wie an Lichtmess (Jesus im Tempel), Palmsonntag, Gründonnerstag, Ostern oder Fronleichnam (Gottestracht) und des Gedenkens der Heiligen und Patrone, der Buße, Bitte und des Dankes mit Fahnen, Kerzen, Prozessionskreuz, Baldachin, Monstranz, Reliquien, Heiligenbildern und Heiligenstatuen statt. Sie vereinten nach fester Ordnung den Rat und die nach Ständen und Korporationen gegliederte Bürgerschaft mit dem Säkular- und Ordensklerus. Die Kirchweih gab Märkten und Handelsmessen Termine vor. Die politische Gemeinde stärkte – wenigstens für die Dauer der Prozession und des Nachwirkens des Gemeinschaftserlebnisses – ihren Zusammenhalt, indem sie als kultische Gemeinschaft in Ritus und gemeinsamem religiösem Vollzug individuellen und zugleich kollektiven Glaubensüberzeugungen und Heilserwartungen vergewissernden Ausdruck gab. Über die Reihenfolge im Prozessionszug und insbesondere die Nähe zum getragenen Sakrament, die eine Frage des Sozialprestiges der einzelnen Korporationen darstellten, kam es allerdings häu ger zu erbitterten Streitigkeiten. Deshalb legte der um Frieden bemühte Rat die Reihenfolge fest, bestimmte auch die Träger des Sakraments und den Weg. In zahlreichen außerordentlichen Bittprozessionen, gelegentlich in demütiger Kleidung (wullen und barfuß ) und mit brennenden Kerzen, demonstrierte die Stadtgesellschaft kollektive Frömmigkeit, um den zürnenden Gott für sich einzunehmen, Maria und die Heiligen um Fürsprache zu bitten und so Verschonung und Schutz vor Seuchen, Unwetter und Missernten oder angesichts von Kriegsgefahr zu erlangen. Außerhalb des Kirchenraums konnten sich Laien gemeinsam mit Klerikern bei bruderschaftlich getragenen Passionsspielen und nachgeordnet anderen geistlichen Spielen engagieren, in

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die auch das Publikum durch Gebete, Gesang und Prozessionen einbezogen war. 5.7.5 Visuelle und kontemplative Frömmigkeit Frömmigkeit orientierte sich stark visuell an einprägsamen, im Gedächtnis haftenden Andachts- und Historienbildern und lehrhaften Bildtafeln, die eologen als ›Schrift und Bücher der Laien‹ bezeichneten und denen sie mehr noch als gelesenen Texten eine erstrangige Wirkung für die Frömmigkeitsbildung zuerkannten. Es bestand die Gefahr von missbräuchlicher Schaulust und Idolatrie, wenn Kult- und Gnadenbildern selbst Wunderkraft zugeschrieben und durch die Gleichsetzung von Abbild und Urbild der bloße Verweischarakter des Bildes ignoriert wurde. Große Diptychen und Triptychen der Altarretabeln und nunmehr auch kleinformatigere Bilddarstellungen für die häusliche Umgebung, leuchtend farbige Kirchenfenster und Wandfresken, Reliefs und Skulpturen veranschaulichen die Heilstaten Gottes und das wundertätige Wirken der Heiligen in einem Akt der Kommunikation zwischen dem Betrachter und dem Dargestellten, vergegenwärtigen und charakterisieren die Jungfrau Maria und Heilige mit zahlreichen, auch in realen Gegenständen des Alltagslebens versteckten Symbolverweisen in der zeitgenössischen städtischen und häuslichen Umgebung. Tafelbilder machen die gedankliche Kommunikation selbst, etwa mit Maria und dem Jesuskind, imaginiert durch die vorbeizielende verinnerlichte Blickrichtung der Stifter gur, zum subtilen Bildgegenstand und lassen bei der legendären Messe Gregors des Großen (Gregorsmesse) zum Zeichen der Wirklichkeit der Verwandlung von Brot und Wein während des liturgischen Geschehens Christus als Schmerzensmann am Altar erscheinen und in einigen Darstellungen dessen Blut aus der Seitenwunde in den Messkelch ießen. Als Meditationshilfen weckten die bildlichen Darstellungen beim Betrachter innige Andacht wie auch Emotionen,

belehrten und erbauten auch die einfachen, des Lesens nicht fähigen Menschen. Angehörige der Oberschicht nutzen von ihnen errichtete Familienkapellen, gestiftete Altaraufsätze, Tafelbilder mit der Darstellung der Passion und von Heiligen sowie Kirchenfenster, ferner Epitaphe und aufgehängte Totenschilde, um im öffentlichen liturgischen Raum die persönliche Frömmigkeit herauszustellen, den gesellschaftlichen Rang zu dokumentieren und zugleich als Stifter allein oder mit Familie in effigie, in bildlichen Portraits auf Predella und Altar ügel und auf Tafelbildern, im Kirchenraum präsent zu sein und ein die Generationen übergreifendes Familienbewusstsein zu schaffen. Kirchenfenster wurden auch von Inhabern geistlicher Stellen und von Zünften gestiftet, während Kaiser Friedrich III. in der bürgerlichen Nürnberger St. Lorenzkirche im Chorhaupt, der vornehmsten Stelle in der Kirche, durch das von ihm 1476/77 gestiftete Kaiserfenster nach einem Entwurf von Michael Wohlgemut präsent war. Als eine der zentralen Voraussetzungen für eine internalisierte, nicht veräußerlicht rechenhafte Form spätmittelalterlicher Frömmigkeit bringt die sogenannte christologische Wende des 12. und 13. Jahrhunderts den Wandel des Christusbildes vom göttlichen triumphalen Weltenherrscher hin zum Mensch gewordenen, kreatürlich leidenden, geschundenen und erniedrigten Erlöser und Schmerzensmann (Ecce homo), der sich den bedrängten Menschen in Liebe und Erbarmen zuneigt und ihnen – wie auch die mitleidende Maria und die ihre eigene Passion im Martyrium erleidenden Heiligen – in ihrer Not schützend nah ist. Caspar Isenmann, Martin Schongauer, Matthias Grünewald und Albrecht Dürer haben in Tafelbild und Gra k herausragende eindringliche Darstellungen geschaffen, Tilmann Riemenschneider ist in der Plastik gefolgt. Eine der spezi schen Ausdrucksformen naher Gnade sind neben der innigen Frömmigkeit, die das nackte Jesuskind hervorruft, eine verinnerlichte hochsymbolische, aber auch in Ein-

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blattdrucken popularisierte Seitenwunden- und Herz-Jesu-Frömmigkeit sowie die Verehrung der fünf Wunden und des Blutes Christi. Zugleich aber gibt es neben der tröstlichen Gnadennähe die angstbesetzte, verunsicherte und panikartige Frömmigkeit des von Teufeln und Dämonen umstellten, dem strafenden zornigen Gott ausgesetzten Menschen, der im schuldbeladenen Bewusstsein der Unfähigkeit lebt, die Gebote Gottes zu erfüllen, Todsünden zu vermeiden und Gnade durch ausreichende Reue (contritio), Beichte und Absolution zu erlangen. Er ist von der Furcht gepeinigt, den Jenseitsstrafen und Qualen, die von der bildenden Kunst phantasiereich in konkreten und gelegentlich bizarren Formen vor Augen gestellt werden, nach dem bald zu gewärtigenden Tod und dem unerbittlich strengen Jüngsten Gericht nicht zu entrinnen.¹¹⁷⁹





5.7.6 Zusammenfassung: Erscheinungsformen praktizierter Frömmigkeit Charakteristische Züge spätmittelalterlicher praktizierter Frömmigkeit sind neben ihrem dinglichen Charakter und einer quantitativen Steigerung der Devotion durch eine zahlenmäßige Kumulation von Messen, Gebeten und Andachtsübungen – eine gesteigerte sakramentale, aber auch extrovertierte Frömmigkeit in Gestalt der Hostienfrömmigkeit, die in der Konsekration und der Elevation (Hochheben) der Hostie das zentrale und wesentliche Ereignis des Gottesdienstes erblickte und die als Ausdruck eines magischen Verständnisses Leute veranlasste, von Altar zu Altar und von Kirche zu Kirche zu ziehen, um jeweils nur der Wandlung und der Elevation – in der Form einer für ausreichend erachteten Augenkommunion – beizuwohnen; an der Häu gkeit des Kommunionsempfangs – vom IV. Laterankonzil von 1215 einmal pro Jahr vorgeschrieben und durchschnittlich etwa drei-





bis fünfmal praktiziert – scheint sich indessen nichts geändert zu haben; die Aufforderung zu Nachahmung und Nachfolge des demütigen Christus im Sinne der von dem Patriziersohn Geert Groote (1340–84) in Deventer – im Überdruss an den für lebensfremd erachteten Spekulationen spätscholastischer eologie – begründeten und in dem weitverbreiteten, omas a Kempis (1380–1471) zugeschriebenen Andachtsbuch »Imitatio Christi« maßgeblich zum Ausdruck gebrachten ›neuen Frömmigkeit‹ (devotio moderna), die durch schriftliche Gewissensprüfung, erbauliche Lektüre, Meditation anhand exzerpierter Merksätze und eine im Alltag bewährte, handlungsorientierte Tugend in brüderlichem Zusammenleben den einfachen Weg zu Gott suchte; eine gesteigerte Christus- und Passionsfrömmigkeit insbesondere im Gefolge von Bettelordenspredigt, Devotio moderna und Mystik, die in der bildenden Kunst in realistischnaturalistischen, tief berührenden und bisweilen hochexpressiven, sogar verstörenden und erschreckenden Darstellungen (wie etwa der Pietà Röttgen, um 1360), in Kruzi xen, Schmerzensmann- und Passionsdarstellungen und im Vesperbild (Marienklage, Pietà) für die privatisierte und individualisierte Frömmigkeit insbesondere in Seitenkapellen Ausdruck fand und sich bei emotional empfänglichen Gläubigen in seelischem und körperlichem Hineinversetzen und Mitleiden (compassio), in einer – nach neuerer Ausdrucksweise – affektiven »somatischen Frömmigkeit« und gedankenvollen »spirituellen Sinnlichkeit« niederschlug; ein gesteigertes Bedürfnis nach Wortgottesdienst, das insbesondere durch die Bettelorden und die Einrichtung von Predigerstellen (Prädikaturen) befriedigt wurde; eine Verinnerlichung durch zunehmende Lektüre der Bibel, von der bis 1522 insgesamt 22 Gesamtausgaben und mindestens 62 Teilausgaben in der Landessprache im

1179 B. H, Die »nahe Gnade«, S. 541–557; B. H/T. L (Hg.), Spätmittelalterliche Frömmigkeit.

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Druck erschienen, ferner durch Bußbücher und Erbauungsliteratur wie Trostbüchlein, Seelenparadiese, Traktate über die Sterbekunst (ars moriendi), Stundenbücher und Totentänze.

5.8 Häretische und frühreformatorische Bewegungen Das späte 15. Jahrhundert wurde »eine der kirchenfrömmsten Zeiten des Mittelalters« in Deutschland genannt und durch eine »geschlossene Kirchlichkeit« gekennzeichnet gesehen.¹¹⁸⁰ Es war die Zeit nach dem Scheitern der Kirchenreform an Haupt und Gliedern und diejenige des monarchisch erstarkten Renaissancepapsttums. Sieht man von dem geringen Ausmaß häretischer Bewegungen ab, wird es jedoch Schwierigkeiten bereiten, für frühere Zeiten eine geeignete Vergleichsgrundlage zu erstellen, und es erscheint fraglich, ob die vielfältigen, teilweise unkontrollierbaren Formen massenhafter Volksfrömmigkeit, die an Breitenwirkung gewinnenden mystischen und asketischen Formen von Spiritualität, die Tendenzen zur Verselbständigung bei laikalen Bruderschaften, die Herausbildung einer genossenschaftlichen bürgerlichen Kirchengemeinde gegenüber der hierokratischen (priesterherrschaftlichen) Auffassung der Amts- und Priesterkirche und das Eindringen von Gemeinde und Stadtregiment in kirchliche Bereiche in jedem Fall noch Erscheinungen im Sinne der Anstaltskirche darstellten. Ketzerische und sektiererische Bewegungen waren in der Stadt seit dem 14. Jahrhundert die teilweise für ketzerisch erklärten Beginen und Begarden, Waldensergemeinden, die Hussiten des 15. Jahrhunderts und schwärmerische Gruppierungen wie die Brüder vom freien Geist.¹¹⁸¹ Derartige Strömungen wandten sich sowohl gegen die Amtskirche als auch gleichzeitig gegen die Bürgerkirche mit ihrer gottes-

dienstlichen Stiftungsfrömmigkeit. Sie werden oft nur in groben Umrissen fassbar und können deshalb nicht immer eindeutig bestimmten Richtungen zugeordnet werden. Waldensisch inspirierte Gruppierungen hielten Hölle und Fegefeuer für eine Er ndung der Geistlichen und lehnten deshalb das Ablasswesen wie für simonistisch erachtete Messhonorare (Opfer) für die Priester, Seelgeräte und Begängnisse ab, welche die Notdürftigen des Almosens, auf das sie Anspruch hätten, beraubten. Sie sprachen sich für ein allgemeines Laienpriestertum aus; ihre Prediger hörten die Beichte und erteilten Absolution. Verworfen wurden die Anrufung von Heiligen, Kirchengesang, die Weihe von Wasser, Messfeier und Eidesleistung. Andere Gruppierungen wandten sich gegen den hierarchischständischen Aufbau der Kirche und lehnten die Verehrung der Monstranz ab. Der Bischof von Bamberg entsandte 1332 während des päpstlichen Interdikts gegen Ludwig den Bayern delegierte Richter zur Erforschung kirchen- und papstfeindlicher Ketzereien nach Nürnberg, was zur Folge hatte, dass über 90 überführte oder verdächtigte Personen für ewige Zeiten aus der Stadt verwiesen wurden. Im Jahre 1393 wurden in Augsburg Mitglieder einer vermutlich waldensischen Gemeinde der Ketzerei überführt, nach ihrem Abschwören durch ein gelbes Kreuz gekennzeichnet und acht Tage lang mit brennenden Kerzen zu öffentlichen Bußprozessionen gezwungen. Nachdem Waldenser in Böhmen und Mähren bereits in den Dreißiger- und Vierzigerjahren des 14. Jahrhunderts verfolgt worden waren, brachte das letzte Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts einen Schub von Verfolgungen der bis dahin andernorts kaum behelligten Waldenser, die in verschiedenen Zweigen von Handwerk und Handel anzutreffen waren und in wenigen Fällen bis in Ratsfamilien hineinreichten. In Stettin (1392–1394), Freiburg im Üchtland (1399, 1430), Bern (1399) und Straßburg (1400) fanden gut überlieferte Prozesse gegen Waldenser

1180 B. M, Frömmigkeit in Deutschland um 1500, S. 22. 1181 H. G, M. E, F. G, D. K, G. M.

Grundzüge der Reformation 663

statt, die mit Ketzerverbrennungen, aber auch nur mit lebenslänglichen und befristeten Stadtverweisen endeten wie im Falle der 27 Verurteilten in Straßburg.¹¹⁸² Wanderinquisitoren suchten weitere Städte im Reich auf, doch ging die Initiative zur Verfolgung auch von den Städten selbst aus, die nicht in Verruf geraten wollten, ketzerische Umtriebe zu dulden.¹¹⁸³ Nach der Verbrennung des von John Wycliff beein ussten Jan Hus als Ketzer 1415 auf dem Konstanzer Konzil stellte die sich rasch formierende, allerdings aus mehreren Richtungen bestehende hussitische Bewegung und »Revolution« in Böhmen eine erste partikulare kirchliche Reformation dar, die in der Summierung eine Bibellektüre der Laien, eine arme Kirche, das Abendmahl in beiderlei Gestalt (Laienkelch, Utraquismus) und die Laienpredigt propagierte, sich gegen unwürdige Priester, deren Sakramentsspendung ungültig sei, gegen die Ohrenbeichte, alle Bilder von Gott, Maria und Heiligen, die Anrufung der Jungfrau Maria, aufwendige liturgische Gewänder und Geräte, die Ablasspraxis, Bettelorden, das Mönchtum und die Existenz des Fegfeuers wandte und eine eigene Sakramentenlehre ohne Firmung und letzte Ölung begründete, insbesondere mit der devianten Auffassung von der Transsubstantiation gemäß der Remanenzlehre Wycliffs, wonach bei der Wandlung die Substanz von Brot und Wein nicht verschwinde. Derartige für ketzerisch erachtete hussitische Artikel nden sich in prägnant-polemischer Form in Sigmund Meisterlins »Chronik der Stadt Nürnberg« (1488). Tatsächlich aber hatte Hus selbst, dessen Haltung in manchem unklar ist, an der Transsubstantiationslehre und am Fegfeuer festgehalten. Die militärische Expansion der gegen christliche Kreuzzugsheere mehrmals siegreichen Hussiten bedeutete eine ernsthafte Bedrohung für das Reich bis zu den nord-östlichen Hansestäd-

ten hinauf und veranlasste neben anderen Städten etwa die Stadt Nürnberg, den Graben der Stadtbefestigung auszubauen, eine Leistung, die sie künftig in die vom König akzeptierte Begründung ihrer Privilegien aufnahm. Die außerkirchlichen und gegen die Amtskirche gerichteten religiösen Strömungen schwächten sich zum Ausgang des 15. Jahrhunderts hin zu marginalen Erscheinungen ab. Es ist allerdings zu bedenken, dass sie auch in Kreisen der schriftlosen Unterschicht auf Resonanz stießen und sich im Untergrund entfalteten. Die Unterschicht war von der materiellen Stiftungsfrömmigkeit und verwandtschaftlichen personellen Beziehungen zur Kirche weitgehend abgeschnitten; sie befand sich schon insoweit in einer gewissen Distanz zur Kirche, die in Ablehnung umschlagen konnte. Soziale und religiöse Gesichtspunkte konnten sich rasch miteinander verbinden. So gibt es Anhaltspunkte für die Existenz sozialrevolutionärer Gruppen wie etwa die 1352 vom Rat verbotenen und als Bruderschaft an der St. Jakobs-Kapelle aufgelösten kleinbürgerlichen Augsburger Jakober, die radikalisiert angeblich auf den Umsturz der städtischen Herrschaftsverhältnisse ausgingen und Argumente aus der Bibel bezogen. Erst im Zusammenhang mit Prozessen und Verfolgungen durch Rat und Kirche treten häretische und sektiererische Strömungen ins Licht der Überlieferung.¹¹⁸⁴

5.9 Grundzüge der Reformation Die durch Luther geprägte und in oberdeutschsüddeutschen Städten auch durch die eidgenössische Richtung Zwinglis zunächst maßgeblich beein usste Reformation hat für die Kirchenverfassung, kirchlich-geistliches Recht, den Klerus und die gläubige Gemeinde die kommu-

1182 G. M, Ketzer in der Stadt. 1183 Weitere Verfolgungen fanden nachweislich statt in Mainz, Bingen, Erfurt, Regensburg, Würzburg, Nürnberg, Bamberg, Dinkelsbühl, Rothenburg ob der Tauber, Wemding, Donauwörth. 1184 C. M (Hg.), Das Stadtbuch von Augsburg (2.2–2.4), S. 249 f. (Jacober); R. K , Bürgerliche Gesellschaft und Kirche, S. 315 ff.; H. J, Die Beziehungen zwischen Klerus und Bürgerschaft in Köln, S. 142 ff.; K. T, Stadt und Kirche im spätmittelalterlichen Würzburg, S. 140 ff.

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nalisierenden, reformerischen und kirchenhoheitlichen Tendenzen des Spätmittelalters durch den unmittelbaren Bezug auf die Normen des reinen Evangeliums verstärkt und tiefergehende Umbrüche und Neuansätze durchgesetzt.¹¹⁸⁵ Infolge ihrer massenhaften Verbreitung durch die Druckerpresse traten – vielleicht in einer Art von »Medienrevolution« – Bücher, Broschüren, Flugschriften sozial und vom Bildungszuschnitt her ganz unterschiedlicher Verfasser vom eologen bis zum Handwerker und Einblattdrucke mit veranschaulichenden, instruktiven und symbolisch verknappenden gra schen Darstellungen in Holzschnitt und Kupferstich an die Seite von wortgewaltigen eologen und Predigern als Verkündern der Anliegen Martin Luthers und Huldrych Zwinglis, überspielten den örtlichen Klerus und trugen zum vehementen Impetus der reformatorischen Bewegungen bei, die zunächst nicht autorisierte Predigt- und Bibelbewegungen waren. Hinzu kamen die intensiven Korrespondenzen zwischen reformatorischen Protagonisten und Glaubensdisputationen. Die Frühreformation bis zum Bauernkriegsjahr 1525 mit den bewegten Jahren 1518/19 bis 1523/24 vor und nach dem Wormser Reichstag von 1521 und die verschiedenen Reformationsverständnisse vor der konfessionellen Festlegung und Verengung um die Jahrhundertmitte zeichnen sich durch Vielfalt, Widersprüchlichkeit, Offenheit und verschiedentlich durch wechselseitige Feindseligkeiten und spaltende Divergenzen der reformatorischen Strömungen und Bewegungen aus. Sie besitzen aber dennoch eine innerreformatorische Kohärenz und Gemeinsamkeit in einer ganzen Reihe von Grundpositionen und einzelnen Elementen, die trotz der Fortführung einiger spätmittelalterlicher Reformanliegen nicht erst aus der späterer Sicht des katholischen Tridentinums (1545–1563) einen nicht mehr zu vermitteln-

den Bruch mit dem theologischen, religiösen, kirchenrechtlichen und ekklesiologischen System der alten Kirche markieren. Die reformatorischen Grundpositionen, die Forderung nach der reinen, durch kirchliche Lehrtraditionen unverfälschten Verkündigung und Auslegung des Evangeliums (sola scriptura) verbunden mit der alleinigen Mittlerschaft Christi zu Gott (solus Christus), die Rechtfertigung des Menschen allein aus dem Glauben (sola de) und allein durch die Gnade Gottes (sola gratia) in einer unmittelbaren Beziehung zwischen dem mündigen Individuum und Gott hatten einschneidende Konsequenzen für die Stellung der Geistlichkeit, die Vermittlung der Sakramente, die Formen der Religionsausübung, die Frömmigkeitspraxis und das religiöse Gemeinschaftsleben. In der Abendmahlsauffassung wich Luther nur wenig von der nicht ganz unumstrittenen, aber im IV. Laterankonzil xierten Lehre von der Transsubstantiation (Wesensverwandlung) ab, wonach bei der Wandlung, der Konsekration der Hostie durch die Einsetzungsworte Christi (hoc est corpus meum), eine tatsächliche Substanzverwandlung von Brot und Wein statt ndet, Christus unter der sichtbaren Gestalt von Brot und Wein real präsent und die Gestalt der Substanz nur noch akzidentiell vorhanden ist. Luther und die später formulierte evangelische Lehre gehen gleichfalls von der Realpräsenz aus, nicht aber von der Transsubstantiation, sondern von der so genannten Konsubstantiation. Die Abendmahlsgaben Brot und Wein bleiben erhalten, doch empfangen die Gläubigen mit der Konsekration durch sie (in et sub pane et vino) mit dem Mund den wahren Leib und das wahre Blut Christi zur Vergebung der Sünden; beide Erscheinungsformen zusammen bilden eine sakramentale Einheit. Für Zwingli hingegen war das Abendmahl nur noch zeichenhaft ein symbolisches Gedächtnis, eine Verge-

1185 Zum Folgenden siehe insbesondere die Arbeiten (mit weiterer Literatur) von B. M, H. R, T. B, H.R. S, L. S-S, P. B, H. S (Einleitung), B. H, V. L, T. K. Hervorzuheben sind für eine knappe instruktive Orientierung die methodischen und entwicklungsgeschichtlichen Überlegungen sowie der »offene Katalog des ›Gemeinsam-Reformatorischen‹« mit 33 Punkten in B. H, Einheit und Vielfalt der Reformation.

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genwärtigung im gläubigen Gedenken der Passion Christi. Gegenüber der Verwaltung der Sakramente, der gnadenspendenden Zeichen, die von sieben Sakramenten – Taufe Firmung, Eucharistie, Krankensalbung, Bußsakrament, Sakrament der Weihe zum geistlichen Amt (Ordination) und Ehe – auf die Taufe mit der ihr innewohnenden stetigen Präsenz von Buße und Vergebung sowie das in beiderlei Gestalt gereichte Abendmahl und das Bußsakrament der Absolution als Sakramente im strikten Sinne reduziert wurden, trat der Wortgottesdienst mit der Predigt im Zentrum in den Vordergrund. Luther bezeichnete die alte Messe polemisch als ›papistisch‹, denunzierte sie als einen ›Götzendienst‹ und lehnte das Verständnis vom ›Messopfer‹ als stetiger Wiederholung des Sühneopfers Christi am Kreuz ab. An die Stelle des römischen Messkanons (canon missae) trat die in Kirchenordnungen geregelte, eher nüchterne und deutschsprachige evangelische Liturgie. Da die alten ›Zeremonien‹ grundsätzlich als lediglich menschliche Satzung galten, blieben in den lutherischen Kirchen mit dem Festkalender und anderen Gebräuchen auch einige alte Elemente des Gottesdienstes erhalten. Da man in Radikalisierung spätmittelalterlicher kritischer Ansätze der monastischen Lebensform mit ihren Gelübden nunmehr die Verdienstlichkeit und Existenzberechtigung absprach, wurden die – teilweise heruntergekommenen – alten Klöster und die Konvente der Bettelorden durch einen Akt der Säkularisierung aufgehoben. Man unterschied die verp ichtenden allgemeinen Gebote Gottes von den evangelischen Räten Armut, Keuschheit und Gehorsam, die nur als eine Möglichkeit für Berufene und nicht für das ewige Heil als notwendig erachtet wurden. Der Rat zog die Patronatsrechte an sich und schlug das Vermögen der aufgelösten Klöster, die erledigten Pfründen und Stiftungen mit ihren Zinseinkünften und Gefällen dem ›Armenkasten‹ oder dem auch der Pfarrerbesoldung und dem Kirchen- und Schuldienst dienenden Fonds des ›gemeinen Kastens‹

zu. Auch das im Spätmittelalter reich blühende Bruderschaftswesen fand ein abruptes Ende. Die Ablehnung der Werkgerechtigkeit und der ›guten Werke‹ hatte ein Ende des individuellen, dem Seelenheil des Stifters dienenden Stiftungswesens zur Folge. Abgelehnt wurden auch der Ablass sowie die Lehre vom Fegfeuer und vom kirchlichen Gnadenschatz durch die überschießenden Verdienstmenge der Heiligen, im Hinblick auf die unmittelbare Beziehung des Gläubigen zu Gott die Heiligenverehrung und der Reliquienkult, ferner der magische Blutund Hostienkult, Wallfahrten, die Stiftung privater und stiller Messen als ›Seelgeräte‹ für Verstorbene mit gesteigerter Wirkung durch Häufung, die Heiligkeit der Sakralräume, Sakramentalien, Bilder, Lichter, Rosenkränze, liturgische Geräte und Gewänder, Prozessionen, Devotionalien, Fastenvorschriften und bestimmte Feiertage. Angesichts dieser einschneidenden Entwicklungen kann man von einer Rationalisierung und »Desakralisierung« der Frömmigkeit im Sinne der Beseitigung weiter, nicht mehr theologisch gerechtfertigter Gegenstandsbereiche, der Reinigung von magischen Elementen (»Entpaganisierung«) und der Vereinfachung der Formen sprechen, auch von einer Reduktion des Heiligen auf das einfache und allgemein Christliche, auf die christlichen Gebote der Werke der Liebe und Barmherzigkeit an den Armen, Bedürftigen und Kranken. In der Reformation Zwinglis in Zürich wurden auch die Kirchenmusik, die im Luthertum mit Lieddichtung und Choral im Gemeindegesang gep egt wurde, sowie die – früher von der Oberschicht gestifteten – Altäre und Bilder bis hin zur Vernichtung durch Bildersturm (Ikonoklasmus), der etwa auch weniger heftig in Ulm stattfand, abgelehnt. »Desakralisierung« und »Entpaganisierung« im reformatorischen Sinne zerstörten auch den besonderen sakralen, segens-, gnaden- und heilsvermittelnden Charakter der Kleriker. Stiftungen wurden mit oder ohne Einverständnis der Stifterfamilien vom Rat für andere Zwecke umgewidmet, Altäre und liturgische Geräte und

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andere Gegenstände aus dem Kirchenschatz zugunsten des Armenfonds veräußert. Die alte Kirche verlor im protestantischen Bereich ihre im – zunächst unbedingt verworfenen – kanonischen Recht verankerte rechtliche Struktur und ihren hierarchischen Aufbau mit dem Papst als jurisdiktionellem – und geistlichem – Statthalter und Stellvertreter Christi in der Gesamtkirche auf Erden und im Fegfeuer an der Spitze, ferner mit der geistlichen Gerichtsbarkeit Zuständigkeiten auch in weltlichen Angelegenheiten und in Sachen der nicht mehr strikt sakramentalen Ehe sowie ihre Einrichtungen und ihren bestimmenden Ein uss im Bildungswesen. Der Geistliche war in der neuen Gemeinde Christi aller Gläubigen im Unterschied zum Klerus der alten Kirche nicht mehr in erster Linie der heilsnotwendige Spender der Sakramente, sondern Verkünder des Wortes Gottes und verlor dadurch, ferner durch seine nur noch im allgemeinen weiten Sinne sakramentale Amtsweihe, durch den Laienkelch, die Lehre vom Priestertum aller Gläubigen und die Entbindung vom Zölibat seine abgehobene Stellung gegenüber der Gemeinde. Der Laie wurde in Beruf und Arbeit durch ein neues Verständnis der Heiligung durch Gott aufgewertet. In Rechten und P ichten wurde der Geistliche den Bürgern gleichgestellt. Er verlor alle sakramentalen geistlich-kirchlichen Weihen und Privilegien und weltlichen Herrschaftsrechte. Doch trotz der grundsätzlichen theologischnominellen Aufwertung der Laien waren die Gemeinden Gegenstand der autoritativen seelsorgerischen Betreuung durch das Kirchenamt der Pastoren. Der städtische Rat, der gelegentlich einen ständigen Ausschuss (Religionsherren) für Kultus und Lehre einrichtete, erwarb Entscheidungsbefugnisse über die Religionsausübung und die äußere Kirchenhoheit, verfuhr aber in geistlichen Angelegenheiten in der Regel nicht selbstherrlich, sondern sanktionierte die von eologen und Pastoren vorgelegten Ordnungen der Kirchen- und Ehezucht. Überwiegend kam ihm die Wahl der Pfarrer zu, doch stellte auch die

Gemeinde insbesondere in den durch Zwingli in Zürich und in oberschwäbischen Reichsstädte oder durch Martin Butzer in Straßburg und später Johannes Calvin in Genf geprägten oder beein ussten Städten hinsichtlich von Pfarrerwahl und Kirchenzucht, der Regelung und Gewährleistung der kirchlichen Ordnung und Lehre sowie der sittlich-moralischen Lebensführung der Gemeindemitglieder, Forderungen nach Entscheidung und Mitwirkung. Wenn sie in eher seltenen Fällen erfolgreich durchgesetzt wurden, konnte die Kirchenverfassung mit der Einrichtung des Amts der Kirchenältesten oder Presbyter, die vom Rat gewählt wurden, und dem Zusammenwirken der verschiedenen Ämter der Diakone, Pastoren und Ältesten synodale Züge der gemeindlichen Eigenständigkeit annehmen. Der institutionelle Organisationsgrad und die normative Ordnung der Kirchen und Gemeinden in den lutherischen Städten waren, auch wenn hier eologen, Pastoren und Juristen befragt wurden, im Vergleich zu dem Kirchenregiment in den lutherischen Territorien eher gering. In den Reichsstädten, Freien Städten und autonomen Territorialstädten Nord- und Mitteldeutschlands spielte sich die sogenannte »Stadtreformation« ab; die eng an den Stadtund Landesherrn gebundenen Territorialstädte wurden in der Regel Gegenstand einer »Fürstenreformation«. Die Reformation unterschiedlicher Prägung zog seit der Mitte der 1520er Jahre in Oberdeutschland in die Städte Nürnberg, Straßburg, Reutlingen, Kempten, Memmingen, Konstanz und Lindau, in Niederdeutschland in die Städte Magdeburg (Altstadt), Celle, Goslar, Braunschweig, Göttingen, Bremen, Hamburg, Stralsund und Riga ein. Seit dem Augsburger Reichstagsabschied von 1530, der auch die Städte aufforderte, wie der Kaiser und die Reichstagsmehrheit das vorgelegte lutherische Augsburger Glaubensbekenntnis (Confessio Augustana) abzulehnen, sich der Widerlegung (Confutatio) von altgläubiger Seite anzuschließen und sich kirchlicher Neuerungen zu enthalten, folgte eine Vielzahl weiterer Städte,

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darunter Lübeck, Ulm und Augsburg, in einigen Fällen selbst dann, wenn die Ratsobrigkeiten nicht den Glauben wechselten. In Ulm führte der Rat, der schon 1529 entschlossen war, ›dem Wort Gottes de nitiv anzuhängen‹, im Anschluss an den Augsburger Reichstag im November 1530 eine denkbar breite Befragung der Bürgerschaft – nach der Vorgabe des Schwörbriefs von 1397 hinsichtlich schwerwiegender Entscheidungen – über die an jeden einzelnen gestellte, schicksalhaft und suggestiv formulierte Frage durch, ›ob er [angesichts der drohenden kaiserlichen Ungnade] den Reichstagsbeschluss annehmen oder ihn verweigern, bei der Wahrheit [dem Evangelium] bleiben und bestehen und Person, Ehre, Vermögen und was ihm Gott der Herr mit Gnaden verliehen habe, alles [mit höchstem Risiko] in die Schanze und in das Spiel der Waage stellen und schlagen wolle‹. Eine Kommission befragte jeden einzelnen Patrizier und nacheinander in den 17 Zünften jeden einzelnen Zunftgenossen, später noch die Pfahlbürger und die Einwohner ohne Bürgerecht (Beiwohner) sowie die Angehörigen der nicht zu den Zünften zählenden Bruderschaften der Marner (Grautucher), Weingärtner und Zimmerleute. Von 1 865 abgegebenen Stimmen wollten nur 243 den Reichstagsabschied annehmen, 1 621 Befragte stimmten dagegen und entschieden sich für die neue Lehre; ein Zunftmitglied enthielt sich der Stimme.¹¹⁸⁶ Bei den Bäckern stimmten 58 Prozent und bei den Merzlern 70 Prozent für das Evangelium. Von den Patriziern verweigerten 29 den Reichstagsabschied, 15 votierten im kaiserlichen Sinne und 12 waren zum Zeitpunkt der Abstimmung nicht am Ort. Bereits im Januar 1531 trat Ulm dem Schmalkaldischen Bund bei. Der Rat hatte anfänglich seit 1521 Prediger der Lehre Luthers ins Gefängnis gelegt oder ausgewiesen, dann aber 1524 nach einer Intervention aus der Bürgerschaft die Anstellung eines ›gelehrten, frommen, redlichen und ehrbaren Predigers‹ zugesagt, der ›nichts als das klare lautere Wort Gottes‹ verkünden solle. Seit 1526

ergriffen der angesichts von Reichstagsbeschlüssen vorsichtig agierende Rat und der Ausschuss der Fünf Geheimen erste einschneidende Maßnahmen gegen die Bettelorden und ihre Klöster, bevor 1531 mit der vollständigen Aufhebung der Klöster begonnen wurde. Abstimmungen über die Reformation fanden auch in Goslar, Biberach, Esslingen, Heilbronn, Konstanz, Memmingen, Reutlingen und Weißenburg statt. Die Einführung der Reformation wurde angesichts der Neuerungen, einander widerstrebender Glaubens- und Gewissensüberzeugungen sowie sozialer Spannungen und politischer Partizipationswünsche vielfach von inneren Unruhen quer durch die sozialen Schichten der Bürger- und Einwohnerschaft mit angestoßen. Im besonderen Fall ging vor allem in Franken Druck von dem an die Städte herangeführten südwestdeutschen Bauernkrieg von 1524/1525 mit einer Resonanz der Bauern bei Handwerkern aus. Selbst im ansonsten so stabilen Nürnberg wurden 1524 umfangreiche polizeilichmilitärische Vorkehrungen gegen inneren Aufruhr getroffen, und es kamen Stimmen auf, die Geschlechter zu vertreiben und ein Zunftregiment einzurichten. In einer Vielzahl vor allem nord- und mitteldeutscher Städte brachten Ausschüsse auf der Grundlage der Kirchspiele und Zünfte oder solche der Bürgerschaft die Entwicklung gegen einen widerstrebenden oder zögerlichen Rat voran. Es kam verschiedentlich zu Glaubensdisputationen, die der Rat entschied. Neben Luther und Zwingli und seinem Nachfolger Heinrich Bullinger traten Persönlichkeiten wie Johannes Bugenhagen im Norden, Philipp Melanchthon in Wittenberg, in Oberdeutschland Ambrosius Blarer, Martin Butzer (Bucer), Johannes Brenz und Andreas Osiander (Nürnberg) oder die Stadtschreiber Lazarus Spengler (Nürnberg) und Jörg Vögeli (Konstanz) als Protagonisten der Reformation hervor. Sie waren reformationspolitisch und publizistisch tätig und arbeiteten teilweise Kirchenordnungen aus, über die der Rat befand.

1186 H. E. S, Ulm. Stadtgeschichte, Ulm 1977, S. 115–117.

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Der Rat, der sich angesichts der religiösen Neuerungen und unter dem Eindruck von reformationsfeindlichen Reichstagsbeschlüssen zunächst vorsichtig orientierte und dilatorisch verfuhr, traf kaum eine derart souveräne Entscheidung, wie der in der Forschung gebrauchte Ausdruck »Ratsreformation« suggeriert, doch brachte er in den meisten Fällen das Kirchenregiment in seine Hand, sodass sich auch die von der Gemeinde angestoßene Reformation nicht im Ergebnis als »Gemeindereformation« durchsetzte. Immerhin musste der existenznotwendige kommunale Zusammenhalt, mussten nach herkömmlicher Terminologie die Eintracht der brüderlich vereinten Bürger und die Einheit der Stadt aufrechterhalten werden. In nordund mitteldeutschen Städten war die Reformation verschiedentlich mit erfolgreichen politischen Partizipationskämpfen von Kreisen der Kau eute und Handwerker unter Mobilisierung auch von Unterschichten verbunden, während in Städten mit Zunftverfassung wie in den oberdeutschen Reichsstädten und in Zürich der frühzeitige Übergang zur Reformation ohne größere Kon ikte vollzogen wurde, weil die Zünfte die Mehrheit im Rat hatten, dieser daher auch eine Führungsrolle übernehmen konnte und durch die Haltung der Gemeinde zum Handeln gedrängt wurde. Mit der Reformation gingen neben den lutherischen, zwinglianischen und später calvinistisch-reformierten Ausrichtungen Sonderformen wie das Wiedertäufertum, die radikale Bewegung omas Müntzers, das ›Schwärmertum‹ Andreas von Bodensteins (genannt Karlstadt) und konventikelhafte Sektenbildungen einher, die nach einiger Zeit teilweise gewalttätig unterdrückt wurden. Die katholische Kirche ihrerseits trat im Zuge der von der Reformation ausgelösten Konfessionalisierung verstärkt in einen Prozess der Reform und Erneuerung ein, der mit den kirchenrechtlichen, theologisch-dogmatischen, liturgischen und seelsorgerischen Dekreten des Trienter Konzils (1545–1563) seinen umfassenden Abschluss mit fortan verbindlicher Geltung fand.

5.10 Erste Hexenverfolgungen In Hildesheim wurden in den Jahren 1431, 1454, 1477, 1496 und 1513 nachweislich insgesamt vierzehn Frauen und zwei Männer wegen magischer Praktiken hingerichtet; in Schaffhausen wurden bereits 1402, in Luzern, Basel und Freiburg im Breisgau etwa seit 1450 einige Frauen durch die städtische Obrigkeit wegen Schadenzaubers gerichtlich verfolgt, in Ravensburg in den Jahren 1482 bis 1485. Es ist fraglich, ob die frühen Verfahren wegen magischer Praktiken bereits Hexenprozesse auf der Grundlage eines einigermaßen konsistent ausformulierten Hexenbegriffs genannt werden können. Die Initiative zu solchen Verfolgungen lag aber zunächst überwiegend bei der geistlichen Gerichtsbarkeit und geistlichen Inquisitoren. Seit den 1480er Jahren mehrten sich, stimuliert durch die Agitation des Dominikanerinquisitors Heinrich Institoris (Kramer), in Süddeutschland Hexenverfolgungen. Den Ketzern unterstellte magische Praktiken bewirkten vermutlich auf der Grundlage von Häresie und Abfall von Gott den Übergang vom Ketzer- zum Hexenprozess. Seit der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts und insbesondere in der Diskussion auf dem Konzil von Basel unter maßgeblichem Ein uss des Dominikaners und Spätscholastikers Johannes Nider († 1438) und seines Traktats über den Ameisenstaat (»Formicarius«) waren der kumulative Hexenbegriff und das Hexenbild, Hexerei als Apostasie und Häresie mit den folgenden Tatbestandsmerkmalen festgelegt worden: Teufelspakt, Teufelsbuhlschaft, Hexen ug und Hexensabbat mit dem Teufel sowie Schadenzauber (male cium), zu dem der Teufelspakt befähigte. Wenn von frühen Hexenprozessen die Rede ist, muss gefragt werden, ob ihnen nur schädliche magische Praktiken oder bereits Vergehen auf der Grundlage eines entwickelten Hexenbildes zugrunde lagen. Mit dem ausführlichen Handbuch der Hexenlehre, dem »Hexenhammer« (»Malleus male carum«) der Dominikaner Heinrich Institoris, dem eigentlichen

Erste Hexenverfolgungen

Verfasser, und Jakob Sprenger von 1486/87 sowie mit der von ihnen zuvor 1484 von Papst Innocenz VIII. erwirkten Bulle Summis desiderantes affectibus, die sie zur Hexenverfolgung berechtigte, lag die Hexenlehre vollständig ausgebildet vor. Damit war der Anstoß zu einer vorläu g neuen Stufe von gerichtlicher Verfolgung und Bestrafung von Zauberern und Hexen gegeben. Wie die Ketzer elen Hexen und Hexenmeister nach dieser Lehre von Gott ab und begingen an ihm Hochverrat. Sie verübten bei ihren geheimen nächtlichen Treffen mit Komplizen am Hexensabbat verborgene und zugleich kollektiv begangene Verbrechen mit dämonisch-magischen Praktiken und Schadenzauber. Die gerichtliche Verfolgung ging von der Annahme eines Verbrechens gegen die göttliche Majestät (crimen laesa maiestatis divinae) und – nach einer im 16. Jahrhundert begründeten umstrittenen Lehre – von einem Verbrechen mit Ausnahmecharakter (crimen exceptum) aus, bei dem einige Prozessregeln entfallen konnten. Das Verfahren erfolgte in der Form des sum-

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marischen Ketzerprozesses mit Anwendung der Folter zur Geständniserzwingung. Der »Hexenhammer« erschien 1494 und 1496 in Nürnberg bei Anton Koberger im Druck. Der Nürnberger Rat hatte 1491 bei Institoris ein Gutachten bestellt und von ihm erhalten, dieses aber sofort unter Verschluss genommen. Die Ratsjuristen sprachen sich generell gegen Todesurteile ohne freies Geständnis und sichere Beweise aus. Die Hexenlehre, die sich vornehmlich, aber nicht nur, auf Frauen konzentrierte, setzte sich erst langsam im Verlauf des 16. Jahrhunderts durch. Die Stadt Nürnberg etwa hielt sich weitgehend frei vom Hexenwahn, der zwischen 1590 und 1630 in Franken grassierte.¹¹⁸⁷ Die spätmittelalterlichen Hexenverfolgungen begründeten noch keine Kontinuität der Hexenprozesse und nahmen noch nicht die epidemischen, kollektiv-hysterischen Formen an, wie dies vor allem seit der Mitte des 16. Jahrhunderts und in der Hochphase der Verfolgungen im Reich in der Zeit von etwa 1560 bis 1630 der Fall war.¹¹⁸⁸

1187 R. E, Heinrich Institoris. 1188 D. H, Hexen; W. T, Die Zauberei- und Hexereiprozesse (mit weiterer Literatur).

6

Die Stadt und ihr Umland – Städtelandschaften und Städtenetze

6.1 Stadt-Land-Beziehungen und Zentralität Die Stadt grenzte sich zwar deutlich gegenüber der herrenständisch feudalen und agrarwirtschaftlichen Umwelt ab, sie führte jedoch keine Existenz in räumlicher Isolation. Zeitgenossen schrieben im Spätmittelalter bereits Städten wie Augsburg, Memmingen, Ulm, Frankfurt am Main oder Lübeck mit bestimmter Bedeutung die Funktion einer teilweise auch so genannten Hauptstadt, eines Vororts für Landschaften wie Schwaben, das Reich, hansische Viertel oder größere städtelandschaftlich orientierte und übergreifende Bündnisse zu. In Nördlingen war es der Rat selbst, der eine rangmäßige Positionierung der Stadt vornahm.¹¹⁸⁹ Die Erfahrungswelt namentlich der reisenden Kaufleute, Pilger und Scholaren vermittelte vielfältige räumliche Bezüge, die zu einem Raumbewusstsein führten und spezi sche Raumvorstellungen prägten. Die wechselseitigen raumübergreifenden Kenntnisse zwischen Oberdeutschland und Niederdeutschland scheinen jedoch nur wenig ausgebildet gewesen zu sein.¹¹⁹⁰ De nitorische Elemente des Stadtbegriffs verweisen auf Beziehungen zwischen Stadt und Umland: der städtische Markt und die weitgehende, aber selten ganz eindeutige sektorale Standortaufteilung und Arbeitsteilung zwischen ländlicher Urproduktion und städtischem Handwerk und Handel. Mit dem städtischen Zentral- und Verteilermarkt rückt die zentrale Raumfunktion der Stadt ins Blickfeld. Die Raumfunktion der Stadt wird, so etwa schon bei Gustav Schmoller, nachdrücklich als eine spezi sche Funktion betrachtet und als konsti-

tutives Element in die Stadtde nition einbezogen. Die stadt- und landesgeschichtliche Forschung hat seit den 1970er Jahren die Untersuchung der Raumfunktion der Stadt unter den Gesichtspunkten der Stadt-Land-Beziehungen und der Zentralität zu einem vordringlichen Gegenstand erhoben. Dabei wurden teilweise ältere Forschungsansätze und Ergebnisse wieder aufgenommen und programmatisch aufgefächert. Die Richtung wurde von der Wirtschaftsgeschichte und von der modernen, nichthistorischen Siedlungs- und Stadtgeogra e gewiesen.¹¹⁹¹ Von wirtschaftsgeschichtlicher Seite hat Hektor Ammann auf der Grundlage einer unvergleichlichen räumlich gestreuten Quellenkenntnis die Stadt-Land-Beziehungen in zahlreichen Arbeiten über Markt- und Wirtschaftsräume untersucht und die Fragestellung unter Einbeziehung der demogra schen Zuwanderung und der Fernhandelsbeziehungen 1963 am Beispiel schwäbischer Städte in der vorbildlichen Studie »Vom Lebensraum der mittelalterlichen Stadt« entfaltet. Davon angeregt wurden verfeinerte Konzeptionen und Darstellungen der Stadt-Land-Beziehungen und zu Städtelandschaften erarbeitet. Ein weiterer Impuls mit internationaler Wirkung ging nach einiger Verzögerung von der bereits 1933 erschienenen Dissertation des Geografen Walter Christaller über »Die zentralen Orte in Süddeutschland« aus. Es handelt sich um eine Arbeit der geogra sch-ökonomischen Siedlungsforschung mit gegenwartsbezogener Fragestellung, in der mit mathematischstatistischen Berechnungen nach Gesetzmäßigkeiten gesucht wird, die Größe und Vertei-

1189 Siehe 1.4.1. 1190 U. D, Zu den Beziehungen zwischen oberdeutschen und norddeutschen Städten; R. S, Was wußte man im späten Mittelalter in Süddeutschland über Norddeutschland und umgekehrt? 1191 D. D, Der geographische Stadtbegriff; P. S (Hg.), Allgemeine Stadtgeographie; . (Hg.), Zentralitätsforschung; E. M (Hg.), Zentralität als Problem der mittelalterlichen Stadtgeschichtsforschung.

Stadt-Land-Beziehungen und Zentralität 671

lung der Städte bestimmen. Christaller entwarf nach Prinzipien der marktwirtschaftlichen Versorgung, der verwaltungsmäßigen Zuordnung und des Verkehrs ein theoretisch-geometrisches Gedankenmodell in Form eines hierarchisierten Sechseckverbandes mit zentralen Orten an den Eckpunkten und einem Ort nächsthöherer Zentralität im Mittelpunkt. Für historische Untersuchungen genutzt werden die funktional-räumliche Betrachtungsweise und die Bestimmung von Zentralität im Zusammenhang der Stadt-Land-Beziehungen. Aufgrund ihrer Ausstattung und Leistungsfähigkeit erzeugt die Stadt – nach Christaller – Güter und bietet Dienstleistungen an, die über den Eigenbedarf ihrer Einwohner hinausgehen. Die Stadt ist in der Lage, die Landbevölkerung insoweit mitzuversorgen. Dieser »relative Bedeutungsüberschuss« verleiht der Stadt einen gewissen Zentralitätsgrad. »Die Funktionen der Städte sind entsprechend der Größe ihrer Ergänzungsgebiete abgestuft, das heißt es ergibt sich eine Hierarchie der zentralen Orte.« Die zentralörtlichen Einrichtungen, Funktionen und Sachbereiche können für bestimmte Siedlungsepochen ausdifferenziert, klassi ziert sowie in ihrer Bedeutung und Intensität gestuft werden. Es handelt sich um theoretische und abstrakte Ordnungsmodelle, die ein analytisches Instrumentarium und Fragestellungen für historische Untersuchungen zu Beziehungen und Vernetzungen zwischen größeren und kleineren Städten sowie Stadt und Land, von Dominanz und Abhängigkeit hinsichtlich bestimmter Sektoren bereitstellen können. Je weiter indessen eine Siedlungsepoche zeitlich zurückliegt, desto spärlicher und lückenhafter werden die zur Verfügung stehenden Quellen, desto weniger ist auch die angestrebte Bedeutungsquanti zierung möglich. Schwierigkeiten bereitet auch eine zentralörtliche Hierarchisierung, da Funktionen zu wenig gebündelt und zu sehr über den Raum und einzelne Siedlungen verstreut sind. Zentralität und Hierarchie

sind zu ergänzen durch Konkurrenz und Kooperation und familiale Ver echtung zwischen Städten, naturräumlich-geogra sche und kulturräumliche Gegebenheiten sowie übergeordnete herrschaftlich-politische Bestimmungsmomente. Die zentralörtlichen Funktionen der Stadt sind nur ein Aspekt der mittelalterlichen StadtLand-Beziehungen, da sie einseitig den Bedeutungsüberschuss der Stadt berücksichtigen, das Land jedoch umgekehrt wesentliche Leistungen für die Stadt erbringt. Das Land gibt Bevölkerung und damit Arbeitskräfte an die Stadt ab, es liefert ihr agrarische und auch gewerbliche Produkte. Beide Gesichtspunkte, die wirtschaftliche Ver echtung von Stadt und weiter entfernten Siedlungen und die hohe zentralörtliche, den Wirtschaftsraum gestaltende Funktion der Stadt sind in der Konzeption Ammanns von der »mittelalterlichen Wirtschaftseinheit« am Beispiel der Exportgewerbe- und Fernhandelsstadt Nürnberg vereinigt.¹¹⁹² Wichtige Teile der Textil- und Metallindustrie befanden sich in Vorstädten und in Orten auf dem Lande. Franz Irsigler ist mit der Darstellung der »Wirtschaftseinheit« Köln gefolgt und hat die zentralitätsfördernde Kraft von Fernhandel und Exportgewerbe herausgestellt.¹¹⁹³ Großstädtisches Kaufmannskapital und Verlagswesen mit An- und Verkaufsmonopolen organisierten und steuerten die gewerbliche Zusammenarbeit vor allem im Textil- und Metallbereich zwischen der großen Stadt und dem ländlichen und kleinstädtischen Umland, dessen Produktivkraft von der Stadt genutzt und durch Kapitalinvestitionen in Form von Vorschusszahlungen (Verlag) auf künftige Lieferungen von Rohstoffen und Halbfabrikaten oder durch betriebliche Aufbauleistungen gehoben wurde. Die bislang eindringlichste regionale Darstellung der städtischen Umlandpolitik im Hinblick auf Zentralität, Besitzerwerb, Herrschaftsrechte und Wirtschaft hat Rolf Kießling anhand der ostschwäbischen Fallbeispiele der Reichs-

1192 H. A, Die wirtschaftliche Stellung der Reichsstadt Nürnberg ( 9.3–9.4), bes. S. 194 ff. 1193 F. I, Stadt und Umland im Spätmittelalter.

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Die Stadt und ihr Umland

städte Nördlingen und Memmingen sowie der Landstädte Lauingen und Mindelheim vorgelegt.¹¹⁹⁴ Hinsichtlich der Dichte und Intensität der wechselseitigen Beziehungen kann räumlich im Anschluss an die unmittelbare Stadtmark zwischen dem Umland, Hinterland und Einzugsgebiet unterschieden werden. (1) Das Umland ist demnach der Raum, der durch Besitz und Herrschaftsrechte eng an die Stadt gebunden und einseitig durch Versorgung und Zuliefererfunktion auf die Stadt ausgerichtet und von ihr abhängig ist, während (2) das Hinterland durch höhere Eigenständigkeit und eigene subzentrale Orte gekennzeichnet ist, (3) das Einzugsgebiet schließlich bereits Mittelstädte mit ausgeprägter Selbständigkeit und eigenen Umlandgebieten aufweist. Die Stadt-Land-Beziehungen und die zentralörtlichen Funktionen der Stadt, die vielfach an die Stelle älterer Herrschaftsmittelpunkte und Zentralorte wie Burg und Kloster tritt, betreffen mehrere Lebensbereiche, sie sind vielfältig und von unterschiedlicher Bedeutung und Intensität. Sie lassen sich grob einteilen in (1) einen politisch-administrativen, gerichtlichen, militärstrategischen und herrschaftlichen, (2) einen wirtschaftlichen, (3) einen demogra sch-sozialen, (4) einen kultischkirchlichen und (5) einen kulturellen Bereich.¹¹⁹⁵ 6.1.1 Der politisch-administrative Bereich Die königlichen Pfalzorte, die Königsstädte und die bischö ichen Metropolen waren Verwaltungszentren eines größeren Bereichs. Mit dem Verfall der Königslandorganisation, der Emanzipation der Reichsstädte und der Freien Städte, von denen die Bischofssitze zu trennen sind, gingen diese Funktionen weitgehend verloren. Einige Reichsstädte besitzen durch ihre Oberhoftätigkeit eine zentralörtliche Funktion, oder es orientieren sich kleinere Städte poli-

tisch an großen Städten, die sie auf Städte- und Reichstagen mitvertreten oder ihnen in Rechtsstreitigkeiten juristische Experten und Ratsboten zur Verfügung stellen. Unvergleichlich ist die politische und jurisdiktionelle Stellung Lübecks für das wendische Viertel der Hanse und als Vorort der Hanse überhaupt. Die politisch-administrative, gerichtliche und militärstrategische Funktion ist spezi sch für die Land- oder Territorialstädte, da der Stadt- und Landesherr die grundsätzliche rechtliche Scheidung von Stadt und Land zur Sicherung dieser Funktionen sektoral aufheben kann. Als Residenz- oder Amtsstadt ist die Territorialstadt Sitz von Verwaltung und Gericht für ein ihr zugeordnetes Gebiet. Als Großburg erfüllt sie Aufgaben der Raumsicherung. Eine zentrale Raumfunktion kommt Städten durch die Übertragung von Aufgaben der exekutorischen und gerichtlichen Landfriedenswahrung im Rahmen des Reichs (Nürnberg, Augsburg) oder des Territoriums zu. Die großen Oberlausitzer Städte etwa konnten, beauftragt vom Landesherrn, die Zuständigkeit ihrer Stadtgerichte über weite Gebiete unter adliger Grundherrschaft ausdehnen und sich dadurch die dort so genannten Weichbilde schaffen. Zum Weichbild der Stadt Görlitz gehörten etwa 200 Dörfer.¹¹⁹⁶ Die Städte gingen gegen landschädliche Leute vor und brachen adlige Raubnester, schädliche Höfe und Burgen. Liegen in der städtischen Landfriedenswahrung gelegentlich schon Ansätze für eine Beherrschung des Umlandes, so greifen Reichsstädte, aber auch Territorialstädte, vielfach unmittelbarer durch eine Landgebiets- oder Territorialpolitik herrschaftlich auf das Land aus. 6.1.2 Der wirtschaftliche Bereich Von grundlegender Bedeutung sind die wirtschaftlichen Beziehungen, die durch den städtischen Zentral- und Verteilermarkt als Nah-,

1194 R. K , Die Stadt und ihr Land. 1195 Programmatisch: R. K , Stadt-Land-Beziehungen im Spätmittelalter. 1196 K. B, Städte und Stadtherren im meißnisch-lausitzischen Raum ( 3.1–3.2), S. 67.

Stadt-Land-Beziehungen und Zentralität 673

Stapel- und Fernhandelsmarkt oder in Kombinationsformen vermittelt werden, gibt es doch kaum eine mittelalterliche Stadt ohne Markt, wohl aber Märkte ohne Stadtcharakter.¹¹⁹⁷ 1. Der Nahmarkt erfasst das engere Marktgebiet der Stadt, das eigentliche Umland als die von der Stadt beherrschte Wirtschaftseinheit, zu der Dörfer und kleinere Städte gehören können. Seinen Einzugsbereich bilden die regelmäßigen Besucher des täglichen Marktes, des Wochenmarktes oder des Jahrmarktes. Es handelt sich um eine Zone, von der aus die Stadt täglich erreicht werden kann. Die Besucher aus dem Umland setzen hier ihre Erzeugnisse ab und kaufen fremde Waren ein. Auf den städtischen Markt gelangen aus dem Umland Agrarprodukte einer Landwirtschaft, welche die Subsistenzwirtschaft überwunden hat und Überschüsse zu produzieren vermag. Gekauft werden gewerbliche Produkte der Stadt und wichtige Güter wie Salz und Wein, die vom Groß- und Fernhandel herbeigeschafft werden. Auch Agrarüberschüsse aus umliegendem Grundbesitz von Bürgern, Spitälern und Klöstern werden in der Stadt abgesetzt. Die ortsansässigen Händler und Handwerker versuchten, den heimischen Markt für ihre Waren zu monopolisieren, aber Freimärkte zu bestimmten Terminen oder für bestimmte Waren räumten auch auswärtigen Händlern und Handwerkern wie Bäckern und Metzgern sowie nichtzünftigen Kreisen der Stadtbevölkerung Absatzmöglichkeiten ein. Ohne Bindung an Markttermine dienten die Fleischbänke, Brotlauben, Schuhbänke, Tuchlauben (Gademe) und Krambuden dem täglichen Einkauf; insoweit war die Stadt ein täglicher Markt. Erst später wurden derartige Verkaufseinrichtungen durch offene Läden im Wohnhaus des Produzenten oder Händlers ersetzt. Die Nahmarktzone ist indessen durch direkte Quellenbelege wie etwa Zollfreiheiten, die der Landbevölkerung als Gegenleistung für

Arbeiten an der Stadtbefestigung oder beim Brückenbau eingeräumt wurden, selten hinreichend abzugrenzen. Als Indikatoren können die Verbreitung des Getreidemaßes der Stadt sowie die Verbreitung der Münzen und der Geltungsbereich der Währung genommen werden, doch kann das Münz- und Währungsgebiet auch weit über den engeren Wirtschaftsbereich – wie beim Heller aus Schwäbisch Hall – hinausreichen. Deshalb ist als Indikator nur die Verbreitung während der Zeit der regionalen Pfennigperiode vom 11. bis 13. Jahrhundert geeignet, außerdem muss zwischen dem Nennwertgebrauch und dem tatsächlichen Münzgebrauch unterschieden werden. Aufschlüsse ergibt auch die Anordnung der Verkehrswege; coradiale Netze nden sich für den Nahverkehr in der Umgebung, gitterförmig sind die Netze in stadtfernen Durchgangsgebieten. Mit dem engeren Marktbereich deckt sich in etwa der Geschäftsbereich kleiner Kau eute und Krämer, hinsichtlich des Kreditgewerbes die Tätigkeit jüdischer Pfandleiher. Der Nahmarktbereich hängt ab von der Wirtschaftskraft der Stadt und der nahe gelegenen Wettbewerber, von natürlichen und von wechselnden politischen Gegebenheiten. 2. Jenseits des engeren Marktbereichs liegt – mit ießenden Übergängen – das weitere Markt- und Wirtschaftsgebiet, das sich regelmäßig im Aktiv- und Passivhandel mit der Stadt auf wechselseitigen Wochen- und Jahrmärkten austauscht. Träger des Wirtschaftsaustausches sind – häu g in kollektiver Form – Kau eute und Handwerker, die ihre Produkte absetzen und Rohstoffe einkaufen. Kleinverkauf fremder Kau eute ist regelmäßig verboten. An wichtigen Plätzen kommt es zur Errichtung von Faktoreien und auswärtigen Kaufhäusern. In diesen weiteren Bereich gehören auch wichtige Kreditbeziehungen und zur Hauptsache der überörtlich beanspruchte Rentenmarkt.

1197 Zum Folgenden siehe H. A, Vom Lebensraum der mittelalterlichen Stadt.

674

Die Stadt und ihr Umland

3. Über die genannten beiden Zonen hinaus reicht der Fernhandel der Stadt, der sich vor allem auf den großen Jahrmärkten und Messen abspielt. Von »Umland«, »Hinterland« oder »Ein ussbereich« kann hier keine Rede mehr sein. Es handelt sich um den Gesichtskreis händlerischer Aktivität, wie er etwa mit den genannten Orten in der Einladungsliste Ulms für die geplante Messe (1439) umschrieben ist, und insoweit um den Lebensraum einer Stadt, als sich hier die »Durchschnittsstadt« mit allen ihren notwendigen Fremdwaren eindecken kann und ein eventuell vorhandenes Exportgewerbe hier seine Produkte zur Hauptsache absetzen kann. Dazu gehören Usancen der Geschäftsabwicklung, der Abrechnung und Zahlung. Aus größeren Entfernungen erscheinen hier noch führende Kau eute aus Kleinstädten, vor allem Tuchleute, doch endet ihr Fernhandel hier. Wirklich große Distanzen überwinden in der Regel nur die Kau eute großer und wirtschaftlich stark entwickelter Städte. Landschaftsmessen sind die Messen von Zurzach im Südwesten, von Nördlingen für das gesamte oberdeutsche Kerngebiet, von Linz für den Südosten, von Bozen für den deutsch-italienischen Handel. Gesamtdeutsche und internationale Bedeutung haben die Fasten- und Herbstmessen von Frankfurt am Main, die bis Ende des 14. Jahrhunderts im Turnus mit den zwei Friedberger Messen abgehalten wurden. Frankfurt vermittelt die oberdeutschen mit den niederdeutschen Wirtschaftsräumen. Auch Breslau ist Messeort. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts kommt die Leipziger Messe als wichtiger Geldplatz hinzu. Einige Jahrmärkte wurden als Messen mit dem Prinzip des offenen Marktes zu bedeutenden Warenumschlagplätzen. In einigen Städten scheiterten Versuche, Messen zu veranstalten, andererseits fungieren Handelsmetropolen wie Köln und Nürn-

berg gewissermaßen als ständige Messen. Als internationale Messen sind die Messe in Genf und – in Nachfolge der älteren Messen der Champagne – die Brabanter Messen von Antwerpen und Bergen op Zoom zu nennen. Der Fernhandel einer beschränkten Anzahl großer Städte und zugleich eines beschränkten Kreises von Kau euten erfasste einen ganz erheblich weiteren Radius. Die wirtschaftsgeogra sche Betrachtung bietet jedoch nur einen Aspekt, indem sie den tatsächlichen, aber doch sehr variablen Einzugsbereich xiert und aus natürlichen Bedingungen und aus wirtschaftlichem Wettbewerb erklärt. Marktbereiche sind jedoch durch die rechtliche Ordnung des Wirtschaftslebens, durch die herrschaftliche Wirtschaftsverfassung vorgeprägt und ergeben sich aus ihr¹¹⁹⁸, sie resultieren aus natürlichen Bedingungen und menschlicher Initiative. Freier Verkehr, Handels- und Gewerbefreiheit sind nicht ihr Ausgangspunkt. Es handelt sich nicht um freien, sondern um öffentlichen Verkehr. Das Marktwesen ist herrschaftlich, später kommunal geordnet und an Herrschaftsmittelpunkte gebunden, die häu g mit kirchlichen Mittelpunkten zusammenfallen. Es umfasst das Marktrecht, die Marktgerichtsbarkeit, die Kontrolle der auf den Markt gebrachten Waren hinsichtlich des Gebrauchs von rechtem Maß und Gewicht und der Qualitätsprüfung sowie die Erhebung von Marktabgaben. Märkte sind Zollstätten, wobei sich undifferenzierte Marktabgaben allmählich in Marktzölle, nach dem Wert der umgesetzten Warengattung berechnete Pfundzölle und in Transitabgaben schieden, die abseits des Markts an Durchgangsstellen erhoben werden. Die Stadtbürger, die für die Erhaltung und Bewachung der Befestigungsanlage aufzukommen haben, genießen für Hauskäufe Zollfreiheit. Eine räumliche Wirkung ergibt sich daraus, dass die vom Marktherrn beaufsichtigten Maße und Gewichte auch im Umland Geltung haben und entsprechende Vor-

1198 M. M, Das Problem der zentralen Orte, S. 458 (Kritik an H. As Konzeption); ., Markt und Stadt im Mittelalter, S. 267 ff.; P. S, Der Markt als Zentralisationsphänomen; T. H, Stadt und Markt.

Stadt-Land-Beziehungen und Zentralität 675

schriften die Zulieferer verp ichten. Die Verteilerfunktion des Marktes ist dann rechtlich geordnet, wenn die Versorgung mit der ältesten und wichtigsten Fernhandelsware, dem Salz, an bestimmte Distrikte gebunden ist. Ähnliches kann für den Eisenhandel gelten. Das Recht auf Warenniederlage (Stapelrecht)¹¹⁹⁹ im Fernhandel umschreibt einen Bereich, der einmal beschritten, an den Straßenzwang und die Wegrichtung zum Markt bindet, wo die häu g der örtlichen Qualitätskontrolle unterworfenen Waren zu dem dort möglichen Preis angeboten und die Markt- und Handelsabgaben entrichtet werden müssen. Niederlags- und Bannmeilenrechte der Städte sind charakteristische Regelungen für das Markt-Umland-Verhältnis. Eine Meile entsprach sechs bis sieben Kilometern. Die Stapelund Niederlagsrechte sollen als Zwangsrechte jeden Kaufmannshandel im Umland mit anderen Orten und Gemeinden ausschließen und ihn auf den städtischen Markt konzentrieren. Mit ihnen ist im Flussverkehr gelegentlich ein notwendiger Umschlag unter Benutzung städtischer Transportarbeiter, gebührenp ichtiger städtischer Kräne (Krangeld) und der städtischen Waage sowie ein innerörtliches Transportmonopol für die Weiterbeförderung wie etwa in Köln und Straßburg verbunden. Der Kaufmannshandel mit bestimmten Warengattungen wird aufgehalten und trifft für einen weiteren Bereich auf ein Nachfragemonopol der Stadt, die dadurch die Versorgung von Gewerben und Einwohnern sichert und durch die befristete Aufenthaltsverp ichtung der fremden Kau eute das städtische Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe, das Transportgewerbe, das Lebensmittelgewerbe und vor allem den örtlichen Zwischenhandel fördert sowie zugleich

1199 1200 1201 1202 1203

skalische Interessen zur Geltung bringt. Zunächst kam der Großhandel zum Zug, danach auch die Bevölkerung, oder es verhielt sich umgekehrt. Stapelrechte wurden verschiedentlich von konkurrierenden Städten bekämpft. Verschiedene Stapel gab es für den Salzhandel in Bayern und den Eisenhandel in Inner- und Niederösterreich. Die bedeutendsten binnenländischen Stapel besaßen Wien (Donaustapel) durch das herzogliche Stadtrecht von 1221 und Köln durch ein Privileg des erzbischö ichen Stadtherrn von 1259.¹²⁰⁰ Brügge hatte ein Stapelprivileg vom Grafen von Flandern erhalten, doch waren die dortigen Hansekau eute ihrerseits bereit, ein Stapelhaus einzurichten und bestimmte Waren nur am Ort zu verkaufen. Eine Besonderheit weist im Norden Hamburg auf, wo örtliche Kau eute Lübecker Fracht in ihrem eigenen Namen durch den Stapel führten, worüber das Pfundzollbuch von 1418 Auskunft gibt.¹²⁰¹ Die Bannmeilenbestimmungen dienten dem Interesse des städtischen Gewerbes, da sie Weinausschank, Lebensmittelhandel und ländliches Handwerk in der nahen Umgebung der Stadt beschränkten oder völlig ausschalteten, sofern dies der Stadt- und Landesherr zuließ. Im Gebiet der Ostsiedlung entstand das Bannmeilenrecht aus der dortigen besonderen Marktsituation.¹²⁰² Aus dem Gasthausbann im Umkreis der Städte spalteten sich der Gewerbebann und der Marktzwang ab, die sich auf die gesamte ländliche Bevölkerung bezogen und diese zum Zulieferer der Städte machte.¹²⁰³ Der Bannmeilenbezirk verschärfte die natürliche oder ohnehin hegemoniale wirtschaftliche Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land zur Zwangsordnung, setzte aber zur effektiven Durchsetzung städti-

O. G, Das Stapel- und Niederlagsrecht. Zum Kölner Stapel siehe eingehender 9.4.6.1. R. S, Art. »Stapel«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. VIII, München 1997, Sp. 59 f. W. K, Das Bannmeilenrecht. Die Bedeutung des städtischen Marktes für die Versorgung der ländlichen Bevölkerung mit Gewerbeprodukten schätzt K. F (Bürger und Bauer zur Hansezeit) im Bereich der Ostseestädte Lübeck, Wismar, Stralsund, Rostock und Greifswald eher gering ein. Im Vordergrund der Nachfrage standen demnach Salze, Gewürze, Metallerzeugnisse und Tuche, die ganz überwiegend vom Handel beschafft wurden.

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Die Stadt und ihr Umland

schen oder bürgerlichen Besitzerwerb auf dem Lande voraus. Die im Bereich des Bannmeilenrechts lebenden Landbewohner sollten zur Sicherung eines begrenzten außerstädtischen Absatzweges der Handwerker gezwungen werden, benötigte und nicht selbst hergestellte handwerkliche Produkte in der Stadt zu erwerben, wo aber auch das lebenswichtige Salz zu kaufen war, andererseits Getreide oder Vieh in der Stadt zu dort genehmen Preisen zu verkaufen und nicht andere Städte aufzusuchen, um höhere Preise zu erzielen. Grundsätzlich blieben aber Stadt und Umland voneinander abhängig und ergänzten sich. Die Stadt benötigte die Lebensmittelzufuhr, Rohstoffe für die handwerkliche Fertigung und den Holzbezug vom Lande, während sich das agrarische Umland etwa durch Anbau von Färbep anzen und Flachs sowie durch Spinnen und Weberei im Nebenerwerb speziell auf Bedürfnisse großer gewerblich geprägter Städte ausrichtete. Der Verlag im Textilbereich verdichtete die Beziehungen über den Austausch auf dem Markt zur unmittelbaren, aber städtisch dominierten Kooperation. 6.1.3 Der demogra sch-soziale Bereich Die Zuwanderung in die Stadt als Folge vorwiegend wirtschaftlicher, speziell auch seuchenbedingter Gegebenheiten erfolgt aus dem ländlichen Gebiet und aus anderen Städten. Die Masse des Zuzugs stammt aus der näheren Umgebung der Stadt, einem Umkreis von 10 bis 20 oder 30 Kilometern und damit in der Regel aus dör ichen Verhältnissen und aus dem ohnehin wirtschaftlich mit der Stadt ver ochtenen Umland. Der Zustrom ländlicher Bevölkerung füllt immer wieder die Unterschichten der städtischen Einwohnerschaft auf.¹²⁰⁴ Kurzfristig geduldet und ohne ansässig zu werden, suchten in größeren Zahlen fremde Bettler, ferner vagierende Spielleute und Prostituierte die Stadt auf.

Statistische Ergebnisse beziehen sich – was leicht vergessen wird – in der Regel nicht auf Zuwanderer, sondern auf Neubürger, die sofort oder erst nach einer Zeit der Ansässigkeit in der Stadt in das Bürgerrecht aufgenommen wurden. Die Statistik erfasst also für gewöhnlich jene Zuwanderer nicht, die das Bürgerrecht nicht oder nicht in einem kürzeren Zeitraum erwarben. Besonders nachteilig wirkt sich dieser Sachverhalt aus, wenn der Anteil der ländlichen und der städtischen Zuwanderer bestimmt werden soll. Hier besagen die Verhältniszahlen bezüglich der Neubürger wenig, da städtische Zuwanderer aus der Mittel- und Oberschicht sicherlich leichter zum Bürgerrecht gelangten als ländliche Zuwanderer, die in erster Linie in die städtische Unterschicht eintraten. Etwa die Hälfte der – zu irgendeinem Zeitpunkt zugewanderten – Neubürger in den Mittelstädten Nördlingen, Esslingen und Schwäbisch Hall kommt aus einer Entfernung bis zu 20 Kilometer; etwa 70 Prozent stammen aus einer Entfernung bis zu 50 Kilometer. Innerhalb eines Umkreises von 100 Kilometern liegen die Herkunftsorte von gut 85 Prozent der Neubürger, nur etwa 15 Prozent kommen aus noch größeren Entfernungen. Der Anteil der Neubürger städtischer Herkunft liegt im Bereich von 20 Kilometern zwischen 41 und 45 Prozent, der ländlicher Herkunft zwischen 55 und 59 Prozent. Im Nahbereich der Stadt bis zu 10 Kilometer beträgt der Anteil der ländlichen Neubürger schon aus Gründen der geograschen Städtestreuung praktisch 100 Prozent. Von einer Entfernung von 30 bis 40 Kilometern an, in anderen Fällen bei einer geringeren Entfernung von etwa 20 bis 30 Kilometern beginnt die städtische Herkunft der Neubürger zu überwiegen. In Soest beginnt in der ersten Hälfte des 14. Jahrhundert die lineare Degression der Zuwanderungszahlen mit wachsender Entfernung an einer Linie von 20 Kilometern. Bei geringer Besiedlungsdichte des Umlands werden

1204 H. A, Vom Lebensraum der mittelalterlichen Stadt, S. 286; K. B, Die Bevölkerung von Frankfurt am Main ( 1.2), S. 154 ff., 422 ff.; T. P, Fragen der Zuwanderung (1.2); H. V, Einwanderungen (1.2); K. F, Bürger und Bauern. Siehe auch 1.4.2.5.

Stadt-Land-Beziehungen und Zentralität 677

bei angenommenem gleichem Aufkommen an Zuwanderung die Wanderungsstrecken größer, mit den Wegstrecken wächst aber zugleich auch die Konkurrenz der Städte untereinander. Neuere übergreifende, auf das gesamte Reich bezogene und systematische Untersuchungen unterscheiden bei der Zuwanderung einen (1) zielortnahen, im Wesentlichen herrschaftlich geprägten Migrationsraum als Kernraum, (2) ein weiteres, vor allem wirtschaftlich geprägtes Raumsegment, das sich weitgehend mit Handelsinteressen deckt und vor allem durch Handwerkermigration geprägt ist, wobei die Neubürger zum großen Teil aus Städten stammen und (3) einen fernen Migrationsraum mit fast ausschließlicher Migration von Stadt zu Stadt. Hinzu kommen städtelandschaftlich konstituierte Migrationsräume.¹²⁰⁵ Im reichsweiten Durchschnitt stammte nach neueren Forschungen zwischen 1280 und 1540 entgegen früheren Vorstellungen von dem Dominanz des Nahraums nur ein gutes Drittel der Neubürger aus dem nahen Umkreis, ein weiteres Drittel wanderte bis zu 100 Kilometer und das restliche Drittel der Neubürger wanderte noch weiter.¹²⁰⁶ Im Bereich der Hanse überwiegt in den Städten Lüneburg und Hannover vermutlich der Anteil der Neubürger ländlicher Herkunft, während die Verhältnisse in der großen Stadt Lübeck und in Stralsund mit weiten Zuwanderungsdistanzen von 150 bis 200 Kilometern umgekehrt liegen dürften. Die Ostseewanderung nach vorhergegangener Land-StadtWanderung aus kurzer Distanz ist vor allem ein zwischenstädtischer, hansischer Vorgang. Für das 14. Jahrhundert schätzt man in den Ostseestädten den Anteil der Landbevölkerung an der

Vergrößerung der städtischen Vollbürgerschaft auf mindestens ein Drittel. Die restriktivere Einwanderungspolitik der städtischen Obrigkeiten im 15. und 16. Jahrhundert wird mit einer Verschiebung der Sozialstruktur durch starkes Anwachsen der Unterschicht auf Kosten der Mittelschicht erklärt. Durch die Aufnahme von Pfahl- und Ausbürgern wurde die Abgrenzung von Stadt und Land in Einzelfällen durchbrochen, doch handelt es sich um eine eher untergeordnete Erscheinung, die im 15. Jahrhundert an ihr Ende gelangte. Das städtische Patriziat war vielfach durch Konnubium mit dem Landadel verbunden; gesellschaftliche Verbindungen wurden in den städtischen Patrizierstuben (Straßburg) gep egt. Außerdem bestanden Lehensbeziehungen des Patriziats zu adligen und fürstlichen Herren. Städtische Oberschicht und Patriziat erwarben häu g Güter, feste Sitze und Herrschaften auf dem Lande und nahmen eine adlige Lebensführung an. Einige Familien gingen seit der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert in den Landadel über. 6.1.4 Der kultisch-kirchliche und kulturelle Bereich Es ist anzunehmen, dass städtische Kirchen, Kapellen und Klöster mit ihren heilswirksamen Aktivitäten und der Predigttätigkeit eine Anziehungskraft auf die Landbevölkerung ausübten, bislang liegen aber nur wenige konkrete Ergebnisse vor, die auf signi kante Stadt-LandBeziehungen schließen lassen.¹²⁰⁷ Auch Schulen oder im karitativen Bereich die Spitäler können zentrale städtische Einrichtungen sein. Allerdings müssen als Forschungsaufgabe die Zu-

1205 R. G, Die Einbürgerungsfrequenzen spätmittelalterlicher Städte im regionalen Vergleich, in: R. C. S (Hg.), Neubürger im späten Mittelalter (2.1), S. 251–288. Der Sammelband ist mit allen seinen Beiträgen heranzuziehen. 1206 Zur Einteilung der Migrationsräume und zugleich mit Hinweisen auf Unsicherheiten, die Problematik des Durchschnitts und die Quellenproblematik der ausgewerteten Bürgerbücher (ohne Herkunftsnennungen) siehe R. C. S, Die Herkunft der Neubürger: Migrationsräume im Reich des späten Mittelalters, in: . (Hg.), Neubürger im späten Mittelalter, S. 371–408, 402–205. 1207 E. E, Stufen der Zentralität im kirchlich-organisatorischen und kultischen Bereich; R. K , Das gebildete Bürgertum und die kulturelle Zentralität Augsburgs im Spätmittelalter.

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Die Stadt und ihr Umland

gangsmöglichkeiten zu derartigen Einrichtungen geklärt und die Frequentierung durch die Landbevölkerung noch genauer quantitativ ermittelt werden. 6.1.5 Städtelandschaften und Städtenetze Zentralität, Stadt-Land-Beziehungen und städtische Territorialbildung sind in noch umfassendere räumliche Einheiten und wissenschaftliche Ordnungsmodelle eingebunden. In erweiterter historisch-genetischer und analytischfunktionalistischer Perspektive werden verdichtete Städtelandschaften und Städtenetze oder -netzwerke konstituiert, die in räumlichen Zusammenhängen mittlerer Reichweite – mit Binnengliederungen in Teilbereiche und Ebenen – eine Mehr- oder Vielzahl sich gegenseitig ergänzender und hierarchischer urbaner Zentren mit strukturellen Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten sowie spezi schen Entwicklungsmomenten und Charakteristiken aufweisen. Sie sind Ergebnisse intensivierter Kommunikation, des Austausches und verstärkten Zusammenwirkens, ferner herrschaftlich-politisch bestimmter Ausrichtung und Ver echtung des Raums, von Städtegründungen und Stadterhebungen, stadtrechtlicher Gestaltung und territorialer, aber nicht undurchdringlicher Grenzziehung.¹²⁰⁸ Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Modelle ist der Sachverhalt, dass einzelne Städte zwar individuelle Ausprägungen darstellen und ihre eigenen Schicksale haben, aber über die Ver echtung mit dem Umland hinaus in ein weiteres Beziehungsgefüge eingebettet sind, und dass es in Europa und im Reich Zonen unterschiedlich verdichteter Urbanität gibt. Grundlegend sind wirtschaftliche Gegebenhei-

ten, doch lassen sich vielerlei, darunter kirchliche Verbindungen, politische Ein ussbereiche und Bündnisse oder landschaftliche Migrationsräume erkennen.¹²⁰⁹ Je nach Urbanisierungsdichte, günstigen Verbindungen der Städte untereinander durch Verkehrswege zu Wasser und zu Land und zwischenstädtischer Kooperation kann die Eigenbedeutung des ländlichen Raumes zurücktreten. Eng vernetzt durch einen außerordentlich hohen Urbanisierungsgrad von etwa 36 Prozent seit der Mitte des 14. Jahrhunderts, durch leichte Erreichbarkeit infolge relativ kurze Distanzen auf einem System von Flüssen und Kanälen und durch gemeinsame wirtschaftliche und politische Interessen waren etwa die andrischen Städte mit Gent, Brügge und Ypern an der Spitze. Städtelandschaften sind in der Realität keine geschlossenen Systeme, weisen komplexe Kernbereiche, Randzonen und ießende Übergänge auf und überlappen sich. Es ist die Frage, wieweit über einzelne nachweisbare Verbindungen hinaus ein Systemcharakter ausgebildet ist, welche und wie viele Gleichartigkeiten (Stadttypen, Stadtgrößen etc.), Funktionen und Interaktionen auf bestimmten Ebenen – Markt, Verwaltung, Recht, Politik, Militär – mit konstitutiver Bedeutung überhaupt vorhanden sind, welche Wirkungen naturräumliche und verkehrsgeogra sche Bedingungen haben. Das Konzept der Netzwerke, das auf relativ konstanter Kommunikation und Interaktion beruht, erscheint etwas offener, ießender und variabler, deckt sich aber in Vielem mit dem der Städtelandschaft. Wie bei dem Zentralitätsmodell handelt es sich um heuristische Konzepte, die sich für das Spätmittelalter empirisch jedoch bislang allenfalls in Teilaspekten erfüllen lassen und bewähren. Städtelandschaften zunächst im Hin-

1208 F. I, Städtelandschaften und kleine Städte, in: R. F/R. K  (Hg.), Städtelandschaften, S. 13–38; R. K , Strukturen südwestdeutscher Städtelandschaften zwischen Dominanz und Konkurrenz. Der Fall Oberschwaben, in: H. T. G/K. K (Hg.), Städtelandschaft, S. 65–90; M. E/A. H/F. G. H, Städtelandschaft – Städtenetz – zentralörtliches Gefüge, in: . (Hg.), Städtelandschaft, S. 9–53; W. E, Der Erzbischof von Köln und seine Städte im »Raum Westfalen«, ebd., S. 255–294. Kritisch und skeptisch: T. S, Kleine Städte, keine Städte. Das sogenannte »urbane Netz« in Südwestdeutschland im ausgehenden Mittelalter, in: H. K (Hg.), Minderstädte (1.3), S. 181–202. Siehe auch S. 1005 (Regionen). 1209 R. G, Die Einbürgerungsfrequenzen.

Bürgerliche Grundherrschaft – Städtische Landgebietspolitik und Territorialherrschaft 679

blick auf verdichtete urbane Zonen werden etwa, um Beispiele zu geben, in Brabant, Flandern, im mittleren Maasgebiet, in verschiedenen Abschnitten der Rheinachse, in der Wetterau, in Südwestfalen, Oberschwaben, Franken, Bayern oder Oberschlesien erkennbar.

6.2 Bürgerliche Grundherrschaft – Städtische Landgebietspolitik und Territorialherrschaft 6.2.1 Bürgerlicher und korporativer Grundbesitz Finanzkräftige Bürger, geistliche Korporationen in der Stadt wie Bettelorden, Frauenklöster und das Spital, der Rat oder die Korporation Stadt erwarben auf dem Lande neben Naturalzinsen (Gülten, Renten) und Mühlenrechten zunehmend Grundbesitz und Herrschaftsrechte in den Formen der Pfandschaft, des Kaufs auf Wiederkauf, des Eigens (Allod) oder des Lehens: Felder, Äcker, Wälder, Kleinbauernstellen, einzelne Bauernhöfe, Dörfer und Dorfgerichte, Burgen, Reichsgutkomplexe und adlige Herrschaften, dazuhin noch Kleinstädte. Waren die Möglichkeiten des Erwerbs zinstragender Immobilien im städtischen Binnenraum nicht mehr ausreichend vorhanden, so konnte auf das Umland ausgegriffen werden, wenn nicht ohnehin ländlich-agrarische Liegenschaften und Renten aufgekauft werden sollten. Je nach Besitzerwerb hatten Bürger und Korporationen auf dem Lande die Grundherrschaft, die Leibherrschaft, die (kirchliche) Zehntherrschaft, die niedere und hohe Gerichtsbarkeit (Vogtei), Regalien und Kirchenpatronate inne. Die Au ösung

grundherrschaftlicher Villikationen zugunsten der Rentengrundherrschaft und die städtische Finanzkraft mobilisierten den ländlichen Liegenschaftsverkehr. In bürgerliche Hand gelangten vereinzelt auch von geistlichen Korporationen gelöste und in den Verkehr gebrachte, auf der Landbevölkerung lastende Kirchenzehnte. Die Beziehung von Stadt und Land verdichtete sich zum besitzrechtlichen Ausgreifen auf das Land und zur Herrschaft im Umland. Bürger und Stadt traten nach außen hin als Feudalherren auf und hatten an der Herrschafts- und Sozialordnung des Feudalismus teil. Als Motive für bürgerlichen Grundbesitzerwerb auf dem Lande, der nach kurzer Zeit wieder abgestoßen, langfristig in Händen gehalten wurde oder in deikommissähnliche Familienstiftungen einging, sind zu nennen:¹²¹⁰ – Anlage von risikoreichem Handelskapital, die sicher war, jedoch eine geringere Rendite in Form von Feudalrenten (Getreide- oder Geldgülten) oder von exibleren Pachteinnahmen abwarf; – Anlage von überschießendem Kapital in krisensicheren Grundbesitz, der kurzfristig bei Liquiditätserfordernissen wieder abgestoßen wurde; – spekulativer Einstieg ins Immobiliengeschäft bei fallenden Grundrenten (14./15. Jahrhundert); – spekulative Ausnutzung von Wertsteigerungen von Immobilien (ausgehendes 15. Jahrhundert); – Flucht in Sachwerte angesichts in atorischer Entwicklungen; – Bildung eines weiteren wirtschaftlichen Schwerpunkts durch Ausbau und Arrondierung des Besitzes, Rodung und Anlage von Seldnerstellen im Sinne einer Wertund Nutzungssteigerung; Intensivierung der

1210 J. E (9.6), E. E, E. E/B. Z, K. F, H. H, R. K , W. K, J. K, H. R, F. S, I.-M. W.

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Die Stadt und ihr Umland

Agrarproduktion durch eine fortschrittliche Bodennutzung¹²¹¹; Anlage von agrarischen Sonderkulturen; Ausbeutung von Bodenschätzen; – Ausweis des Aufstiegs in die Oberschicht; – Schaffung einer adelsgleichen Reputation (Feudalquali kation). Aus der Altmark liegen Zahlen vor, wonach im ausgehenden 14. Jahrhundert bis zu 40 Prozent der bäuerlichen Rentenleistungen in bürgerliche Hände ossen. Um 1500 waren im altbayerischen Landgericht Dachau 12 Prozent aller Anwesen in der Hand Münchner Bürger. 6.2.2 Städtische Landgebietspolitik und Territorialherrschaft Bürgerlicher Individualbesitz auf dem Lande, der ganz überwiegend in den Händen der politischen und wirtschaftlichen Führungsschicht lag, wurde vielfach von der Stadt in P icht genommen oder aufgekauft. Nicht selten traten Bürger bei Grunderwerb der Stadt als Strohmänner auf, da die Geschäfte oft als Verpfändung oder – dieser verwandt – als Kauf unter dem Vorbehalt des Wiederkaufs getätigt wurden und adlige Veräußerer die Chance des Rückgewinns bei Geschäften mit Bürgern höher einschätzten.¹²¹² Es ist aber eher die Ausnahme, dass die Stadt weitgehend Eigentümerin ihres Landgebiets oder Territoriums war wie im Falle Rothenburgs ob der Tauber. Der Rat unterstellte jedoch die Liegenschaften und Herrschaften seiner Bürger der städtischen Obrigkeit, ließ Vorkaufsrechte zugunsten städtischer Bürger und hinsichtlich von Schlössern und festen Sitzen der Stadt Öffnungsrechte für den Kriegsfall einräumen. Die umfangreichen Besitztümer von Klöstern, vor allem aber der Besitz des Spitals mit seinem Status als unantastbares Kirchengut, wur-

den – wie die Institutionen selbst – städtischer Verwaltung durch P eger aus dem Rat unterstellt und, wie der bürgerliche Individualbesitz, kommunalen Zwecken dienstbar gemacht. Über das Spital konnte die Stadt im Sinne einer verdeckten Territorialpolitik Grundbesitz und Herrschaften aufkaufen, ohne unmittelbar in Erscheinung zu treten und den Adel politisch zu provozieren. Die Hälfte des Überlinger Territoriums war Spitalbesitz; bedeutsam war er auch für Nördlingen, Esslingen, Lindau, Memmingen oder die kleinen Städte Biberach und Wimpfen. Nimmt man den unmittelbaren städtischen Erwerb hinzu, so kann unter wirtschaftlichen, skalischen, herrschaftlichen und politischen Gesichtspunkten von einer städtischen Landgebiets- oder Territorialpolitik gesprochen werden. Die Bezeichnung Landgebietspolitik ist dann angebracht, wenn beim Erwerb mehr oder weniger zufällig günstige Gelegenheiten genutzt wurden, die Besitzungen weiter gestreut lagen und deshalb nur begrenzte Zielsetzungen verfolgt werden konnten. Um Territorialpolitik handelt es sich, wenn ein gebietsherrschaftlicher Zusammenhang angestrebt wurde, Arrondierungen erfolgten, Landbrücken geschaffen und vor allem übergreifende Herrschaftsund Hoheitsrechte erworben wurden, sodass die Stadt in Konkurrenz zu aufstrebenden Territorialherren trat. Landgebiets- und Territorialpolitik betrieben nicht nur Reichsstädte, sondern auch – vor allem über das Spital – Land- oder Territorialstädte. Die meisten lübischen Städte hatten ein Landgebiet. Auch kleinere Reichsstädte brachten es zu beachtlichen Erwerbungen, während nur wenige Bischofsstädte und spätere Freie Städte wie Straßburg und Metz zu einem nennenswerten Landgebiet gelangten, da sich der Territorialbesitz des bischö ichen Stadt-

1211 F. S (Die wirtschaftliche Bedeutung ihres Landgebietes, S. 262 ff.) nennt dazu die Anlage von Entwässerungsanlagen, die Verwendung von Dung aus der Stadt und die Einführung von Wasserschöpfrädern. K. F (Stadt-Land-Beziehungen im hansischen Bereich, S. 115) ist der Auffassung, dass in der Regel alle Anlagen von Bürgerkapital auf dem achen Lande keine echten Investitionen zur Verbesserung der Produktionsbedingungen gewesen seien. 1212 W. L, Territorien süddeutscher Reichsstädte, S. 970.

Bürgerliche Grundherrschaft – Städtische Landgebietspolitik und Territorialherrschaft 681

herrn bei der Emanzipation der Stadt bereits konsolidiert hatte und die Stadt sich dort nicht mehr festsetzen konnte. Der städtischen Landgebiets- und Territorialpolitik lagen folgende Zielsetzungen zugrunde:¹²¹³ – Militärstrategischer Schutz der Stadt, die im Vorfeld gegen benachbarte Territorialherren verteidigt werden konnte; Stärkung des politischen Gewichts der Stadt gegenüber ihren fürstlichen Nachbarn. – Schutz der Handelswege, die nun streckenweise durch eigenes Territorium führten oder durch erworbene Burgen punktuell entlang der Straßen gesichert wurden. – Sicherung der Ernährung der Stadtbevölkerung und Versorgung des städtischen Gewerbes mit Rohstoffen vom Lande: Getreide, Gartenprodukte, Vieh, Flachs, Brenn-, Bau- und Nutzholz, Torf, Tonerde, Steine, Erze. Die Erschließung von Bodenschätzen, die Nutzung von Naturkräften und der menschlichen Arbeitskräfte des Landes waren für die Großkau eute und Unternehmer im Rat häu g wichtiger als die bezogenen Grund- und Feudalrenten. – Schaffung eines größeren binnenwirtschaftlichen Raumes mit ungestörtem Handelsverkehr und Absatz für Kau eute und Gewerbetreibende der Stadt. Allerdings war der Aufbau eines eigenen Territoriums, wie die Beispiele von Städten ohne Territorium wie Köln und Augsburg zeigen, keine wesentliche Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum. Es genügten eine offene Umlandpolitik und Herrschaftsgrenzen überspringende Marktbeziehungen. – Wirtschaftliche Herrschaft über das Land durch Unterdrückung oder Ausschaltung der gewerblichen Konkurrenz des Landgebiets, dessen Agrarproduktion – meist zu diktierten Preisen – auf den städtischen Markt gebracht werden muss. Das Landgebiet bleibt in einem einseitig dienenden Verhältnis zur

Stadt, welche die wirtschaftlichen Verhältnisse auf dem Lande nach ihrer Interessenlage gestaltet. – Herrschaft über das Land durch Ausübung der Gerichtsbarkeit und Polizei, die Erhebung ordentlicher und außerordentlicher Steuern sowie durch die Beanspruchung der Heeresfolge oder der ›Reißsteuer‹ als deren Ablösung. Die Rechte der Besteuerung und der Aufbietung zum Militärdienst hängen an der grundherrlichen Gerichtsbarkeit. Auch die Hoch- und Blutgerichtsbarkeit ist vielfach in städtischen Händen, doch tritt sie erst im 16. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Imperiumslehre des römisch-kanonischen Rechts in den Vordergrund und wird mit der vollen Landeshoheit gleichgesetzt. Besteuert und aufgeboten werden auch die ländlichen Untertanen von Stadtbürgern. Nürnberg richtete ein spezielles Bauerngericht ein, das die grundherrliche Gerichtsbarkeit ergänzte und ihr übergeordnet war. Ländliche Untertanen waren je nach Region in unterschiedlichem Ausmaß leibeigen. Sie hatten das Leibhuhn oder zusätzlich noch das Leibgeld, das Hauptrecht als Abgabe im Sterbefall sowie den Handlohn bei Besitzwechsel zu entrichten. Ihre Freizügigkeit war eingeschränkt. Frondienste gehörten nicht zur Leibeigenschaft, sie wurden bezahlt oder wenigstens durch Verp egung entlohnt. Loskauf von der Leibeigenschaft durch eine Vermögensabgabe war unter bestimmten Umständen möglich. Die Herrschafts- und Hoheitsrechte – Grundherrschaft, Leibherrschaft, Kirchenhoheit, Gericht, Steuern, Zölle – waren häug zersplittert und lagen in verschiedenen Händen. Die Stadt bezog vom Landgebiet Grundrenten, Steuereinnahmen, Zölle, Waagegebühren und Bußgelder. Im frühen 16. Jahrhundert sollen derartige Einkünfte in Ulm etwa ein Viertel der regulären Einnahmen ausgemacht haben.

1213 Siehe dazu Anm. 1210, ferner H.-J. B, P. B, H. D, H. H. H, W. L, E. N, H. S, M. W, G. W (Reichsstädte als Landesherren).

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Die Stadt und ihr Umland

Erhöhte Einnahmen der Stadt resultierten indirekt aus der erweiterten Binnenwirtschaft. Feudalrenten der Oberschicht wurden von der städtischen Vermögensteuer erfasst. Die Bürger der Stadt Ulm besaßen auf Grund königlicher Privilegien das Recht, auf dem Land ihre Grundrenten oder andere Ansprüche mit Erlaubnis des Bürgermeisters oder des Rats durch Pfändung, notfalls unter Gewaltanwendung, beizutreiben.¹²¹⁴ Die Stadt und ihr ländliches Territorium bildeten keinen gemeinsamen Stadtstaat. Während das Stadtbürgertum innerhalb des Weichbildes rechtliche Freiheit und Gleichheit zum Prinzip erhob, blieben die bäuerlichen Untertanen und Hintersassen (arme Leute) oder die Einwohner der untertänigen Kleinstädte in herrschaftlicher Gebundenheit oder gar Unfreiheit gegenüber der Stadt als ihrer Herrschaft. Es gab kein gemeinsames Bürgerrecht in der Stadt und auf dem Land wie in der spätantiken Civitas, die sich erst spät vom Land sonderte. Die Territorien süddeutscher Städte sind in ihren Rechtsund Wirtschaftsverhältnissen am ehesten mit dem von den oberitalienischen Stadtrepubliken unterworfenen Landgebiet, dem Contado, vergleichbar, nur dass der italienische Landadel in die Stadt zog, während in Süddeutschland der teilweise im wirtschaftlichen Niedergang be ndliche Landadel von der Stadt und ihrer Oberschicht bei der städtischen Territorialbildung ausgekauft wurde.¹²¹⁵ In den Territorien süddeutscher Städte gab es zwar Selbstverwaltungseinrichtungen der Land- und Kleinstadtgemeinden, ihr Spielraum war aber eher kleiner als in den fürstlichen Territorien. In den Städten stand eine ausreichende Anzahl verwaltungserfahrener Angehöriger der Oberschicht bereit, um wichtige Verwaltungsstellen und Herrschaftsämter auf dem Land als Herrschaftsp eger oder Vögte zu bekleiden, Ämter die sich in der Neuzeit zu ein-

träglichen Pfründen entwickelten. Dazu war genügend geschultes Hilfspersonal vorhanden. Dadurch konnte die städtische Territorialherrschaft aber auch rigidere Züge als die noch nicht territorialstaatlich verdichtete Landesherrschaft annehmen. Etwa 10 Prozent der Reichsstädte konnten beträchtliche ländliche Herrschaften erwerben, wobei sie die wirtschaftliche Schwäche vor allem kleinerer Adliger ausnützten. Die hauptsächlichen Erwerbungen der Städte erfolgten in der Zeit vom 14. bis 16. Jahrhundert. Im 15. und 16. Jahrhundert büßten viele Städte bereits ihre Konkurrenzfähigkeit gegenüber den Landesherren ein. Im 16. Jahrhundert ging mittelbar beherrschtes Landgebiet durch Abzug bürgerlicher Herrschaftsinhaber aus der Stadt teilweise wieder verloren, doch kamen in der ersten Jahrhunderthälfte für Nürnberg und Ulm noch beträchtliche Neuerwerbungen hinzu. Grundsätzlich lassen sich zwei Stufen reichsstädtischer Territorialpolitik unterscheiden:¹²¹⁶ 1. Den wenigen Städten einer ersten Stufe, die im Wesentlichen dem niederdeutschen Raum zugehören, gelang es unmittelbar im Zusammenhang mit ihrer Emanzipation, sich vom königlichen Stadtherrn Rechte und Gebiete des Reichslands über Stadt und Markung hinaus anzueignen. In Aachen konnte der städtische Schultheiß den königlichen Vogt immer weiter aus dessen Kompetenzbereich verdrängen, sodass es dem Stadtgericht gelang, seine Rechtsprechung auf die Dörfer der Umgebung auszudehnen. Das Ausgreifen auf das Land begann bereits um die Mitte des 13. Jahrhunderts und fand seinen Abschluss mit der Bestätigung des städtischen Besitzstandes durch Ludwig den Bayern 1336. Dortmund konnte seit dem Ausgang der Stauferzeit gestützt auf sein Umland, die reichslehnbare Grafschaft Dortmund, und in Verbindung mit dem Wer-

1214 C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm (2.2–2.4), S. 53, Nr. 65. 1215 E. E, Zur Typologie des Stadt-Land-Verhältnisses im Mittelalter, S. 450, 452. 1216 K. R, Untersuchungen über die Territorialbildung deutscher Reichs- und Freistädte; H. S, Westfälische Beiträge zum Verhältnis von Landesherrschaft und Städtewesen (3.1–3.5), S. 203; E. R, Städtische Territorialpolitik im Mittelalter; P. B, Zur Territorialpolitik der oberschwäbischen Reichsstädte.

Bürgerliche Grundherrschaft – Städtische Landgebietspolitik und Territorialherrschaft 683

ner Städtebund von 1253 eine völlig selbständige Politik betreiben. Schrittweise vollzog sich der Übergang von Reichsämtern und Reichsrechten in städtische Hand. Die Bürger kauften die Grafschaft 1334 zur Hälfte, die andere Hälfte erwarben sie 1504. Im Jahre 1388, als die oberdeutschen Städte ihre schweren Niederlagen gegen die Fürsten erlitten, konnte Dortmund aus eigener Kraft die Belagerung durch eine Koalition von nicht weniger als 45 Landesherren abwehren. Auch Mühlhausen in üringen zählt zu den Städten der ersten Stufe. Emanzipation und Territorialpolitik gehörten für diese Städte zusammen, da der Verlust des eng an die städtischen Ämter geknüpften Gebiets auch zum Verlust der städtischen Freiheit geführt hätte. Die Städte beschränkten sich auf das frühzeitig gewonnene Umland, das eine Konstante der Stadt-Land-Beziehung bildete und als intakter Bezirk erhalten blieb. 2. Die Städte der zweiten, der jüngeren Stufe begannen mit dem Erwerb herrschaftlicher Besitzungen erst, nachdem sie Autonomie erlangt hatten. Reiche Lübecker Kau eute erwarben im wirtschaftlichen Hinterland zwischen 1300 und etwa 1350 Gerichts- und Grundherrschaften. Häu g waren mit den Nutzungsrechten in den Dörfern neben der niederen Gerichtsbarkeit Teile der Hochund Blutgerichtsbarkeit oder diese ganz verbunden. Vielfach erfolgte nach der Kapitalanlage durch den Kauf von Gütern rasch wieder der Verkauf entsprechend den Liquiditätserfordernissen des Handels, wobei die Liegenschaften in die Hand anderer Bürger oder geistlicher Stifte wechselten. Die Stadt Lübeck trat als Käuferin 1329 in Erscheinung und erwarb die ersten Herrschaften vom benachbarten niederen Adel und von

großen Territorialherren. Straßburg erwarb die erste Herrschaft 1351, Zürich die erste Vogtei 1357/58. Die Stadt Memmingen wiederum nahm wie Rottweil erst im 15. Jahrhundert ihre Landgebietspolitik auf und zunächst nur über die Spitäler; erst zu Anfang des 16. Jahrhunderts kaufte sie direkt einige Herrschaften. Eine Reihe von kleineren Städten wie Kempten, Leutkirch und Isny blieb bei ihrer Landgebietspolitik stecken und brachte es nur zu einzelnen Höfen, Wiesen und Weiden. Die günstigste Ausgangslage für städtische Territorialpolitik boten herrschaftlich noch nicht konsolidierte Regionen mit klein gefächerter Herrschaftsstruktur wie Schwaben und Franken, denen große fürstliche Territorien relativ fern lagen. Den eidgenössischen Städten gelang es, die Bildung von Fürstenstaaten in einem groß ächigen Gebiet zu verhindern. Städtebünde gaben einzelnen Städten Rückhalt für ihre Territorialpolitik. Das mit weitem Abstand größte städtische Territorium nördlich der Alpen besaß Bern, wo eine handwerklich dominierte Gruppe im Großen Rat um 1470 im sogenannten Twingherrenstreit die Landeshoheit der Stadt gegenüber den Eigenherrschaften der adligen Bürger (Twingherren) im gesamten Territorium rigoros durchsetzte.¹²¹⁷ Es folgen etwa einander ebenbürtig Zürich und Nürnberg, deren Territorien etwa den doppelten Umfang der Territorien der Städte Ulm oder Erfurt erreichten. Das Ulmer Territorium dürfte jedoch am Ende des 14. Jahrhunderts dasjenige Nürnbergs am Umfang und Geschlossenheit übertroffen haben. Beachtliche Territorien hatten in Oberdeutschland im 15./16. Jahrhundert noch – in der Reihenfolge mit abnehmender Größe – Rothenburg ob der Tauber, Schwäbisch Hall, Rottweil und Überlingen.¹²¹⁸ Rott-

1217 B. S I, Verwaltung. 1218 G. W, Reichsstädte als Landesherren (S. 79) ermittelt folgende Größenordnungen: km2 Einwohner Land Stadt Nürnberg 1 500 35 000 25 000 Ulm 830 24 000 15 000 Rothenburg 400 14 000 5 000 Schwäbisch Hall 330 16 000 5 000

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weil erwarb sein ansehnliches Landgebiet mit 26 Dörfern im ausgehenden 15. Jahrhundert und vornehmlich im 16. Jahrhundert, nachdem Bürger bereits seit dem 14. Jahrhundert bis dahin in mehr als 130 Orten der Umgebung Gülten, Höfe, Güter und ganze Dörfer erworben hatten. Angesicht der drohenden Verselbständigung dieser Besitztümer und der Anziehungskraft der entstehenden Reichsritterschaft kaufte nunmehr die Stadt selbst bürgerlichen Besitz auf und erwarb zahlreiche Besitzungen des teilweise verarmten Adels der Umgebung. Um 1800 umfasste das Territorium schließlich 220 km2 . Die üblichen Mittel der städtischer Territorialpolitik waren unmittelbarer Kauf, die Übernahme von Lehen, der Erwerb von Pfandschaften an größeren Güterkomplexen, der Erwerb von Rechten der Gerichtsbarkeit über Grundherrschaften und Dörfer, ferner die Schutzvogtei (Kast[en]vogtei, Schirmvogtei) über Klosterbesitz und die Verwaltung (P egschaft) von Spitalbesitz. Hinzu kamen im Falle Schweizer Städte und Nürnbergs einzelne militärische Eroberungen. Die Territorienbildung der Städte gelangte im 14. und 15. Jahrhundert zunächst weitgehend nur zu einer unterschiedlich dichten Ansammlung mittelbarer bürgerlicher und unmittelbarer kommunaler Besitz- und Herrschaftsrechte, die in der Regel erst seit der Wende zum 16. Jahrhundert, früher hinsichtlich Schweizer Städte, stärker organisatorisch durchdrungen und verschiedentlich zur Landeshoheit gesteigert wurde. Die Stadt konnte unterhalb der Landgebietsbildung einen Landfriedensverband mit den umliegenden Dorfschaften und den Hintersassen der Bürger, Stiftungen und Klöster der Stadt bilden, so Augsburg mit etwa 130 Dörfern gestützt auf ein Privileg Karls IV. von 1359 im 14. und 15. Jahrhundert. Durch Ausbürgerrecht von hohen und niederen Adligen ließ sich eine Ausdehnung des Landgebiets nicht erreichen, wohl aber durch die Aufnahme ganzer Dorfschaften ins Pfahlbürgerrecht, wie es et-

wa Bern und Luzern, Straßburg (bis 1422) oder Freiburg im Breisgau gelang und Frankfurt am Main und Speyer es mehr oder weniger erfolgreich versuchten. Kein Landgebiet konnte die von erzbischöflichem Territorium umgebene Stadt Köln aufbauen. Die Stadt knüpfte jedoch seit dem 13. Jahrhundert ein Netz aus Sicherungs- und Handelsverträgen mit niederrheinischen Fürsten, Herren und Städten. Verträge, die sie zu Außenbürgern¹²¹⁹ machten, verp ichteten sie gegen Geldzahlungen zum militärischen Beistand gegen den Erzbischof, zum Schutz reisender Kölner Kau eute auf den Handelswegen in den Territorien, zur gerechten Behandlung vor auswärtigen Gerichten und zum Verzicht auf Zollerhöhungen. 6.2.3 Einzelne städtische Territorien und ihre Strukturmerkmale Die Landgebiets- und Territorialpolitik der Städte weist nach Zielsetzung und Gebietsgröße ein Gefälle von Süden nach Norden auf.¹²²⁰ Für die Handelsstadt Lübeck und die regierenden Großkau eute war das alte Motiv des Straßenschutzes angesichts häu ger Fehden und Überfälle von Adligen auf Kaufmannszüge auch nach der Zeit der großen Erwerbungen noch vorherrschend. Dies gilt auch für eine ganze Reihe hansischer Städte. Verkehrsgeograsch wichtige Vogteien und Stützpunkte hatten die großen Handelsstraßen nach Hamburg und Lüneburg zu sichern. Das Motiv der Bodennutzung trat demgegenüber zurück. Wichtig war jedoch die Waldnutzung zur Beschaffung von Holz für den Schiffs- und Schleusenbau und das holzverarbeitende Gewerbe. Lübeck versuchte nicht, bürgerlichen Grundbesitz anzukaufen oder die bürgerlichen Gerichtsherren in ihren Kompetenzen zu beschneiden, sondern beließ es bei einer lockeren Oberhoheit und begnügte sich damit, dass die Bürger für ihre Güter den Schoss zahlten und nicht gegen

1219 H. J. D, Die Kölner Außenbürger (2.1). 1220 Zum Folgenden siehe E. R, Städtische Territorialpolitik.

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Gesetze des Rats verstießen. Auf Leistungen des Landgebiets nicht angewiesen, machte Lübeck in den ländlichen Vogteien kein Steuer- und Mannschaftsrecht geltend und kam auch nicht durch protektionistische Maßnahmen den Interessen der städtischen Handwerker entgegen. Über Jahrhunderte hinweg musste das Landgebiet sogar bezuschusst werden. Erst 1603, als die Stadt längst im politischen und wirtschaftlichen Niedergang begriffen war, wurde wegen der Verschuldung der Kommune im Landgebiet eine Bierakzise ausgeschrieben, und im selben Jahr erging ein – erfolgloses – Brau- und Handwerksverbot. Gewissermaßen das Gegenmodell zur Lübecker Landgebietspolitik bietet die Territorialpolitik Berns und Zürichs, dort während der Zunftherrschaft. Im Vergleich zu diesen Territorialbildungen war das Lübecker Gebiet sehr bescheiden; zudem verlor Lübeck eine Reihe von Herrschaften in Holstein, in Schonen und in den Gebieten von Sachsen-Lauenburg schon nach kurzer Zeit wieder, da die Pfandschaften eingelöst wurden. Die mit 5 000 Einwohner mittelgroße Stadt Bern¹²²¹, die hauptsächlich mit den Grafen von Savoyen, den Grafen und späteren Herzögen von Österreich und den Herren von Kiburg rivalisierte, baute die Grundlagen ihres Territoriums in dem Zeitraum von 1300 bis 1415 auf. Die Stadt kaufte Grundbesitz und Herrschaftsrechte auf, schloss Burgrechtsverträge mit Adligen und Bewohnern anderer Herrschaften als ›Ausbürgern‹ und spezielle Schirmverträge ab und operierte mit einer den Anfall von Herrschaften vorbereitenden Pfandschafts- und Kreditpolitik. Hinzu kamen, durchaus untergeordnet bis zur Besetzung des habsburgischen Aargaus 1415 gemeinsam mit den Eidgenossen, militärische Eroberungen. Der Erwerb des Aargaus konnte aber erst durch Privilegien Kaiser Sigmunds von 1434 und den Verzicht Österreichs in der Ewigen Richtung von 1474 rechtlich ge-

sichert werden. Die Privilegien des Kaisers waren für die Herrschaft dadurch von großer Bedeutung, dass die Stadt darin das Recht erhielt, von allen Personen des Gebiets Steuern (Telle) zu erheben, die Bewohner zum Kriegsdienst aufzubieten und sie der Gerichtsbarkeit der hohen Landgerichte zu unterstellen. Bern verfügte über Gebiete, die unmittelbar unter seiner Herrschaft standen, und solche, auf die es nur mittelbar über Dritte zugreifen konnte. Ziel der Konsolidierung und Intensivierung der Herrschaft seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts war es, die mediaten Teile direkt der Landeshoheit zu unterstellen, die städtische Gerichtsbarkeit auf das ganze Gebiet auszudehnen, regionale Sonderrechte adliger und kirchlicher Herren zu beseitigen, aber auch die privilegierte Stellung der Ausbürger einzuebnen sowie alle Einwohner der Steuer- und Kriegsp icht zu unterwerfen, ferner die Grenzen zu benachbarten Herrschaften zu klären. Verwaltungsstrukturen mit Vogteien und Ämtern, entsprechendem Personal und einem speziellen Schriftwesen wurden geschaffen, um die Rechte durchzusetzen. Die zentralistische Verwaltungsorganisation, die sich in der Hand wohlhabender Berner Klein- und Großräte befand, konnte bis zum Ende des Mittelalters aber nicht in allen Regionen in gleicher Stärke verwirklicht werden. Die Territorialbildung erreichte mit der Einziehung des Kirchenbesitzes im Zuge der Reformation von 1528 ein vorläu ges Ende. Schließlich kam 1536 noch die Waadt hinzu. Der Gesamtumfang des Berner Territoriums betrug etwa 8 000 km2 . Zürich hatte bis in die 30er Jahre des 15. Jahrhunderts das ganze Land in einem Umkreis von etwa 25 Kilometern unter Ausnutzung der Geldnot der Habsburger und des umwohnenden Adels durch Pfandnahme oder Kauf in seine Hand gebracht.¹²²² Ein wichtiges Mittel der Züricher Territorialpolitik seit der Mitte des 14. Jahrhunderts waren wie für Bern

1221 R. G, Gott ist Burger zu Bern (7.7–72), S. 377–466. 1222 H.-J. G, Stadt-Land-Beziehungen in der Schweiz des Spätmittelalters. E. E, Die Entwicklung zum kommunalen Territorialstaat.

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die Burgrechtsverträge mit dem umliegenden Adel, die gegenseitige Hilfeleistung, das Öffnungsrecht hinsichtlich der adligen Schlösser und festen Sitze und die Bürgerrechtsaufnahme umfassten. Dazu wurden adlige Ausbürger und nichtadlige Vogtleute in das Bürgerrecht aufgenommen. Züricher Burgrechte leiteten oft den Übergang der betreffenden Herrschaften an die Stadt ein. Hinzu kam der Erwerb von Gerichtsherrschaften durch Züricher Bürger. Über diese Herrschaften beanspruchte die Stadt das Steuerund Mannschaftsrecht. Nach Übernahme des Stadtregiments durch die Zünfte wurden die alteingesessenen Geschlechter, denen fast ausschließlich die Gerichts- und Grundherrschaften gehörten, teilweise ausgekauft. Seine Territorialherrschaft konsolidierte Zürich, indem es niedergerichtliche Herrschaften kaufte und hochgerichtliche Befugnisse auf Kosten der jeweiligen Gerichtsherrn erweiterte, generell das Steuer- und Mannschaftsrecht und die Beachtung der städtischen Rechtsetzung durchsetzte und die Verwaltung vereinheitlichte. Der Kleine Rat wurde 1487 Appellationsinstanz für alle niederen Gerichte in den Vogteien. Die nanzielle und wirtschaftliche Nutzung des Landes, begleitet von einem rigiden Protektionismus zugunsten des städtischen Handwerks, rückte ganz in den Vordergrund. Bereits 1470 wurde ein Handwerksverbot für die Vogteien erlassen. Immer wieder wurden die ländlichen Untertanen durch Steuererhebung zur Tilgung der städtischen Schulden herangezogen, außerdem wurden die Gerichtsgefälle erhöht. Die Territorialherrschaft war Grundlage der städtischen Macht. Das Straßburger Landgebiet¹²²³ war außerordentlich zersplittert. In vielen Herrschaften konnten zudem nur einzelne Herrschafts- und Hoheitsrechte erworben werden, in anderen Fällen wurde die Herrschaft im Kondominat

gemeinsam mit anderen Herren ausgeübt. Das mittelbare Landgebiet bestehend aus den Herrschaften der Bürger, der adligen Ausbürger und der Straßburger Klöster und Stiftungen war beträchtlich. Die Stadt versuchte weder das mittelbare Landgebiet in eigenen Besitz zu bringen, noch beanspruchte sie das Recht der Besteuerung und Gerichtsbarkeit, noch eine allgemeine Oberhoheit. Die in Straßburg verbürgerten kleinen Herren wurden als reichsunmittelbar anerkannt. Die Stadt gewährte Schutz und Schirm und nahm dafür im Kriegsfall das Öffnungsrecht, Truppen, Pferde, Wagen und außerordentliche Hand- und Spanndienste in Anspruch. Nur über die Gebiete der Klöster und Stiftungen übte die Stadt eine Oberhoheit aus, indem sie deren Interessen nach außen vertrat, im Kriegsfall Wehrdienst und Steuerleistungen verlangte und städtische P eger die Verwaltung und Regierung beaufsichtigten. Im unmittelbaren Landgebiet gab es eine ausgeprägte Selbstverwaltung durch die dör ichen Schultheißen und Gerichte; erst seit dem 16. Jahrhundert dominierten die städtischen Amtleute und P eger. Das Nürnberger Territorium¹²²⁴ entstand zunächst aus zerfallendem Reichsland in Konkurrenz mit dem Burggrafen. »Beide streben darnach, sich in dem leeren Raum, der durch das langsame Erlöschen der Reichslandvogtei entsteht, auszudehnen; da auf beiden Seiten nicht die nötige Kraft vorhanden ist, den Rivalen vollkommen aus dem Felde zu schlagen, entstehen teilweise ungeklärte, verworrene Rechts- und Staatsverhältnisse, die auf Jahrhunderte das Verhältnis der beiden Mächte zu einem gewissermaßen mit Naturnotwendigkeit feindlichen machen«.¹²²⁵ Die Stadt Nürnberg kaufte 1372 und 1396 den Reichsforst im Lorenzer Wald von den Forstmeisterfamilien Koler und Waldstromer, dazu 1427 vom

1223 G. W, Das Straßburger Landgebiet. 1224 H. D, Die Entstehung des Territoriums der Reichsstadt Nürnberg; H. H. H, Nürnbergs Raumfunktion in der Geschichte; W. W, Das Landgebiet der Reichsstadt Nürnberg; W. L, Das Landgebiet der Reichsstadt Nürnberg. 1225 H. D, S. 106. Eine Umlandkarte trug für Überfälle Kennzeichnungen und die Legende da ist Schnappen gut.

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Burggrafen, dem zollerischen Markgrafen von Brandenburg-Ansbach, die Rechte am Sebalder Wald, doch ohne dass sie damit alleinige Herrin der beiden Wälder geworden wäre. Im gleichen Jahr kaufte die Stadt vom zollerischen Markgrafen seine neben der Reichsveste erbaute, aber zerstörte Burg mit dem dazugehörigen Amt, das war das gerodete Umland mitsamt dem Markt Wöhrd und einer Reihe von Dörfern. Ferner erwarb die Stadt 1406 das vorgeschobene Amt Lichtenau für 9 706 Gulden mit einer Festung vor den Toren der Markgrafenresidenz Ansbach und 1503 Stadt und Amt Hiltpoltstein für 6 000 Gulden aus dem ehemals luxemburgischen Neu-Böhmen. Der Landshuter Erbfolgekrieg (1504/05), in dem sich Nürnberg in der antipfälzischen Koalition und an der Seite König Maximilians I. befand, brachte 1505 als geschlossenes Landgebiet die kurpfälzisch-bayerischen Städte und Ämter Lauf und Altdorf, Hersbruck, Grafenberg und Velden. Damit besaß Nürnberg nach Bern das zweitgrößte Landgebiet einer Reichsstadt, das nunmehr in seiner größten Ausdehnung von etwa 1 200 km2 auf 1 500 km2 angewachsen war. Insgesamt gehörten 70 Dörfer, sieben Märkte und sechs Städte zum Nürnberger Territorium. In Altdorf errichtete Nürnberg 1575/78 seine Hohe Schule, die 1622 zur Universität erhoben wurde. Ungewöhnlich groß waren der grundherrliche Besitz der Nürnberger Geschlechter und der von ihnen getragenen kirchlichen Korporationen und Spitäler seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Grundbesitz und Gerichtsrechte waren nanzschwachen Fürsten, Herren und Rittern durch Kauf und Pfandschaften abgewonnen worden. Die patrizischen Herrensitze auf dem Lande hatten für die Stadt als Offenhäuser, in die bei kriegerischen Konikten der Stadt städtische Besatzungen einrücken konnten, politische und militärische Bedeutung. Ein wichtiges Element für die Beherrschung des Umlandes stellten der Schutz der Reichsstraße und das Geleit dar, die 1313

dem Nürnberger Schultheißen übertragen wurden. Privilegien Ludwigs des Bayern von 1320 und 1323 übertrugen der Stadt den Schutz der Landstraßen und erteilten ihr das Recht, in Haft genommene landschädliche Leute selbst abzuurteilen. Das Schultheißenamt gelangte 1385 durch Verpfändung an die Stadt, die es 1427 zu eigenem Recht erwarb. Gleichfalls 1313 hatte die Stadt die grundherrliche Gerichtsbarkeit an sich gezogen und das Bauerngericht errichtet. Es war als Niedergericht für Schuldklagen der Bauern untereinander und Streitigkeiten um grundherrliche Ansprüche zuständig; in Sachen Grundeigentum und Erbe konkurrierte es mit dem grundsätzlich zuständigen Landgericht des zollerischen Markgrafen. Kommunale Entwicklungen der Dörfer und Städte des Territoriums wurden von der Stadt durch die Aushöhlung ihrer Selbstverwaltung zurückgedrängt. Während der Hussitenkriege konnte die Stadt 1439 und in den folgenden Jahren in 670 Ortschaften insgesamt 5 813 wehrfähige bäuerliche Hintersassen, eingeteilt in 44 Hauptmannschaften, aufbieten. Von diesen Hintersassen gehörten lediglich 2 Prozent unmittelbar der Stadt, 16 Prozent geistlichen Grundherrn, alle anderen Nürnberger Bürgern und zum größten Teil den Geschlechtern, von denen einige bis zu 200 Grundholden hatten. Die Familie Haller brachte es auf 380 Grundholden, die jedoch in einer Streuung zwischen einem und 75 auf 16 Familienmitglieder ent elen. Anlässlich von Erhebungen für den Gemeinen Pfennig zählte man 1497 in damals 769 Orten der 42 Hauptmannschaften bereits 5 114 bäuerliche Haushaltungen mit 14 576 Personen über 15 Jahre, was auf eine Gesamtzahl der bäuerlichen Bewohner von etwa 25 000 schließen lässt. Der Besitz- und Herrschaftsstruktur nach besaß Nürnberg ein gemischt bürgerlich-kommunales und ungeschlossenes Territorium (territorium non clausum) in Streulage (Alte Landschaft) aus bürgerlichen, überwiegend patrizischen Eigenherrschaften und stadtunmittelbarem Landgebiet¹²²⁶ mit einem inhärenten geschlosse-

1226 H. H. H, Nürnbergs Raumfunktion in der Geschichte, S. 94.

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Die Stadt und ihr Umland

nen Territorium (territorium clausum), das die 1505 erworbenen pfälzischen Ämter darstellten (Neue Landschaft). Die Stadt Ulm¹²²⁷ kaufte zu geringem oberschwäbischem Reichsgut in großem Stil Herrschaften von verschuldeten Hochadligen, so 1377 das zur Stadt zu erhebende Dorf Langenau für über 10 000 Gulden von den Grafen von Werdenberg-Albeck, 1383 Stadt und Amt Albeck für 6 830 Gulden und 1385 weitere Dörfer, Weiler, Güter Höfe, Vogteien, Eigenleute, Vogtei- und Zehntrechte für 10 000 Gulden von den Grafen. In beiden Fällen erwarb die Stadt die Objekte aus der Hand der Juden Jäcklin, dem sie verpfändet worden waren. Die Grafen von Helfenstein verpfändeten der Stadt Ulm 1382 ihre ganze Grafschaft für 37 000 Gulden, und als sie in der vereinbarten Frist 1396 und nach neuer Fristsetzung mit einer Pfandsumme von 60 000 Gulden bis 1411 die Pfandschaft nicht wiedereinlösen konnten, ver el der größere Teil mit der Stadt Geislingen an der Steige und dem Schloss Helfenstein an die Stadt. Mit dem Erwerb der Herrschaften verfügte Ulm am Ende des 14. Jahrhunderts über ein weithin geschlossenes Territorium, zu dem noch bürgerliche, meist patrizische Eigenherrschaften und Grundbesitz mit kleineren oder größeren Gütern, darunter Äcker, Wiesen, Wälder, Häuser, Höfe, Burgen ganze Dörfer oder Teile davon, in annähernd 150 Dörfern sowie Besitz des vermögenden Spitals der Reichen Siechen zu St. Katharina kamen. Der bürgerliche Grundbesitzerwerb war der städtischen Territorialpolitik vorangegangen. Im Jahre 1453 erwarb Ulm die Stadt Leipheim für 23 200 Gulden von den Grafen von Württemberg – als Verkauf einer entlegenen Besitzung –, 1482 die Herrschaft Wiesensteig für 24 000 Gulden wiederum von den Helfensteinern, 1502 Riedheim für 8 300 Gulden von den Welsern und den Rem sowie eine Reihe weiterer kleiner Herrschaften im Verlaufe des 16. Jahrhunderts. Ne-

ben den drei Städten (Albeck, Geislingen, Leipheim) kamen insgesamt 55 Dörfer zusammen. In der Summe erreichte das Territorium die Größe von etwa 830 km2 . Wirtschaftliche und skalische Motive spielten für die Ulmer Territorialpolitik eine große Rolle; welchen Stellenwert das Bemühen einnimmt, durch strategisch wertvollen Besitz ein Vorfeld gegen das aufstrebende Württemberg zu schaffen, muss dahingestellt bleiben. Die kleinere Stadt Rothenburg ob der Tauber erwarb durch die Initiative ihres Bürgermeisters Heinrich Topler in den Jahren zwischen 1383 und 1406 für 45 000 Gulden im Ganzen ein Gebiet von 450 km2 , das etwa den Kern der alten stau schen Vogtei ausmachte. Eingestreut waren allerdings Besitztümer des ritterschaftlichen Adels, der Herren von Hohenlohe und des Burggrafen von Nürnberg. In Konkurrenz mit den benachbarten Territorialherrschaften erwarb Erfurt seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert ein Landgebiet, das 1480 über 80 Dörfer, Burgen und Vorwerke umfasste und in Vogteien eingeteilt war. Soest errichtete im 14. und 15. Jahrhundert, gestützt auf die Übernahme von Gogerichtsbarkeiten und der Stadtvogtei im ausgehenden 13. Jahrhundert, mit der Soester Börde ein Landgebiet, das die Herrschaft über 48 Dörfer umfasste und eine Ausdehnung von etwa 220 km2 hatte. In einer ganzen Reihe niederdeutscher und hansischer Städte gaben sowohl die Burgenund Landbesitzpolitik einer von patrizischen oder fernhändlerisch-aristokratischen Kräften bestimmten Ratsherrschaft als auch der bürgerliche Grundbesitzerwerb vom ausgehenden 13. bis 15. Jahrhundert mit Anlass für bürgerliche Oppositionsbewegungen und Unruhen, da beide Formen des Landerwerbs die Städte in kostspielige und verlustreiche Fehden mit Landesherren und benachbartem Adel verstrickten.¹²²⁸ Die Bürgeropposition, zu der durchaus auch Bezieher von Feudalrenten gehörten, sah die-

1227 Zum Folgenden O. H, Die Entwicklung des Territoriums der Reichsstadt Ulm; G. W, Reichsstädte als Landesherren. 1228 So in Erfurt, Bremen, Braunschweig, Stade, Nordhausen, Lübeck, Stendal, Rostock, Lüneburg und Hamburg. E. E, Zu einigen Aspekten spätmittelalterlicher Stadt-Land-Beziehungen, S. 158 ff.

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se Fehden nicht unter dem Gesichtspunkt der Sicherung des Handels, sondern nur im Interesse einer kleinen Schicht geführt, die ganze Bürgerschaft jedoch durch die Kriegsbelastungen und Steuern zur Deckung der Kriegskosten in Mitleidenschaft gezogen. Ein zweiter Gesichtspunkt war, dass der kommunale Landbe-

sitz, insbesondere der unrentable pfandweise Erwerb von Burgen und Schlössern, die Stadtkasse schwer belastete und die städtische Verschuldung erhöhte, der Rat aber auch in diesem Fall versuchte, die Lasten durch Steuern und Abgaben auf die Bevölkerung abzuwälzen.

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Sozialstruktur

7.1 Gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen 7.1.1 ›Reich‹ und ›Arm‹ Bereits in früh- und hochmittelalterlichen Quellen begegnet als politisch-soziales Gliederungsprinzip das Gegensatzpaar dives/potens (reich/gewaltig) und pauper (arm). In der agrarisch feudalen Ordnung ist der ›Reiche‹ zugleich der ›Mächtige‹; potens ist derjenige, »der Macht ausübt, der über Grund und Boden und über genug Leute gebietet und verfügt, der genug Macht hat, um seinen Besitz und seine Leute auch zu schützen und zu schirmen«. Auf der anderen Seite ist pauper derjenige, der »keine Macht hat, der sich nicht selbst zu schützen und zu schirmen vermag, der auch kein Recht hat, Waffen zu tragen, der arbeitet, den Boden, die Hufe bewirtschaftet«.¹²²⁹ Dem Gegensatz von dives/potens und pauper entsprechen fundamental gegensätzliche Arten der Subsistenzbegründung, die den sozialen Rang bestimmen. Auf der einen Seite erfolgt der Subsistenzerwerb durch Herrschaft, durch Ausübung außerökonomischen Zwangs und unter Freistellung von körperlicher Arbeit. Diese Freistellung ermöglicht ein Leben in Muße (otium) und gibt anstelle materiellen Erwerbsstrebens der höchsten Wertvorstellung einer Adelswelt gemäß dem Streben nach Ehre Raum, die im Waffen- und Fürstendienst zu erwerben ist. Auf der anderen Seite müssen die Subsistenzmittel – zugleich für den Herrn – durch lebensfüllende körperliche Arbeit beschafft werden, die häu g

mit personenrechtlicher Abhängigkeit oder Unfreiheit verbunden ist. Mit der Stadt kommt relativ spät ein neues Element in die ausgeformte Ordnung der agrarisch-feudalen Welt. Auch die Stadt kennt potentes (Gewaltige) im Sinne wirtschaftlich reicher, sozial dominierender und politisch einussreicher oder bestimmender, mächtiger Bürger sowie die Unterscheidung von divites et pauperes (Reich und Arm), doch beruht diese Unterscheidung auf keiner grundsätzlichen rechtlichen Ungleichheit innerhalb der stadtbürgerlichen Gesellschaft, sondern in erster Linie auf wirtschaftlichen und sozialen Unterschieden.¹²³⁰ Die Rechtsbeziehungen sind innerhalb der Gesellschaft grundsätzlich frei, nicht herrenständisch und herrschaftlich überformt, doch kommt politische Berechtigung bis zur Beteiligung der Zünfte am Rat grundsätzlich nur den mehr oder wenigen reichen Familien zu. Der formelhafte Ausdruck Reich und Arm wird ferner zur gemeinschaftsbildenden Bezeichnung für die Gesamtheit der wirtschaftlich und sozial differenzierten Bürger- und Einwohnerschaft, hebt die rechtliche Gleichheit vor dem Gesetz trotz wirtschaftlich-sozialer Ungleichheit hervor und bekundet die Maxime sozialer Gerechtigkeit bei der Verteilung von städtischen Lasten und Leistungsanforderungen, die grundsätzlich entsprechend dem individuellen Leistungsvermögen erfolgen soll. Da die soziale Position und ihre Zuordnung zu einer sozialen Rangstufe in der Stadt nicht durch Rechtsverhältnisse strikt festgeschrieben sind, da die Stadt einen Bereich »privaten«, herr-

1229 K. B, Macht und Arbeit, S. 46; ., Potens und Pauper; F. I, Divites und pauperes in der Vita Meinwerci. 1230 H. P, Zur Geschichte des städtischen Meliorats; F. I, Divites und pauperes, S. 498 f. Reichtum an sich begründete noch keine rechtlich quali zierte Führungsrolle oder herrschaftliche Stellung, der Mächtige war jedoch in der Regel zugleich der Reiche. Der Augsburger Chronist Burkhard Zink nennt im 15. Jahrhundert die führenden Männer der Stadt reich und gewaltig und akzentuiert damit die politisch-herrschaftliche Prätention des wirtschaftlichen Reichtums. Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 5, S. 72, 198, 274, 292. Dives/Reich erscheint auch als Beiname und Name.

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schaftsfreien, gleichen und mobilen Rechts aus dem allgemeinen Verfassungsaufbau ausgegliedert und entwickelt hat, ergeben sich gegenüber der relativ starren agrarisch-feudalen Ordnung ungleich größere Chancen zu individuellem oder kollektivem sozialem Aufstieg durch wirtschaftliche und intellektuelle Leistung. Insgesamt ist eine höhere soziale Mobilität gegeben, die von Zeitgenossen auch als soziale Tatsache re ektiert und erörtert wird. Hinzu treten neue – allerdings nicht in jedem Falle ausschließlich von der städtischen Gesellschaft genutzte – Formen der Subsistenzbegründung aus den ökonomischen Mechanismen des Arbeits-, Boden- und Kapitalmarktes, durch personenrechtlich freie, wenn auch regulierte Lohnarbeit, Handwerk, Handel, Unternehmertum, durch Vermietung und Verpachtung, Rentenkauf als legitimer Form der Kreditzinsnahme, bankartige Finanzgeschäfte und durch Kapitalverwertung in Handel, Verlag und Bergbau. 7.1.2 Kaufmann, Rentier und Handwerker Subsistenzerwerb durch Handarbeit ist in der bürgergemeindlichen Stadt nicht mit außerökonomischem Zwang und herrschaftlich begründeter Abhängigkeit verbunden. Die gewerbliche Arbeit wurde aus der Fesselung an Grund und Boden gelöst und »neben dem Besitz als gleichberechtigter Factor der Produktion, als gleichberechtigtes Moment bei der Verteilung des Produktionsertrages anerkannt«.¹²³¹ Körperliche Arbeit verweist aber auch in der Stadt auf einen niedrigeren sozialen Rang. In Nürnberg bringen dies das Tanzstatut von 1521 und die Ordnung der Herrentrinkstube

von 1489 eindeutig zum Ausdruck. Als Herr und ehrbar und bescheiden [verständiger, nach Gebühr handelnder] Mann, d. h. Ratsbürger und Angehöriger des Kreises der Genannten kann nur gelten, wer sich ehrbar und redlich hält, nichts Unehrbars handelt oder Handwerk treibt. Niederen Standes sind diejenigen, so ihr Handwerk oder Gewerbe mit ihr selbs Händen täglich und p eglich treiben.¹²³² Wichtig ist die präzisierende Bestimmung, die den Zwangscharakter der Handarbeit hervorhebt, wenn sie den Tag füllt und kontinuierlich ausgeübt werden muss, sodass keine Freiheit bleibt, höhere soziale Wertvorstellungen zu verwirklichen. In Frankfurt ist um 1400 laut Ratsbeschluss der Besuch von Trinkstuben, daruf erber lude drinken geen, Personen vorbehalten, die nit hantwercker noch auch nit erbeidende tageloner sind.¹²³³ Auf der anderen Seite werden die Geschlechter in oberschwäbischen Reichsstädten vielerorts bezeichnenderweise Müßiggänger genannt, weil ihre Existenzgrundlage nicht auf lebensfüllender Hand- und Erwerbsarbeit beruht und sie von ihrem Vermögen leben können. In Rottweil wird die schon vorher geläu ge Bezeichnung Müßiggänger 1462 durch Ratsbeschluss zur offiziellen Bezeichnung für die in der Herrentrinkstube zusammengeschlossenen nichtzünftigen patrizischen Bürger erhoben.¹²³⁴ Die württembergische Landesordnung von 1495 setzt die Gegensatzpaare reich/arm und miessiggenger/hantwercksmann zueinander in Bezug.¹²³⁵ Der Müßiggänger als reiner Kapitalist und Rentenbezieher wurde jedoch von der kirchlich-theologischen Soziallehre abgelehnt, da sie auf dem biblischen Gebot des Subsistenzerwerbs durch Arbeit und Schweiß fußte.

1231 G. S, Zur wirthschaftlichen Bedeutung des deutschen Zunftwesens ( 9.1–9.2), S. 8. 1232 H. H. H, Nobiles Norimbergenses (7.7), S. 76. Der Nürnberger Ratskonsulent Dr. Christoph Scheurl de niert die Genannten in Abgrenzung von den gewöhnlichen Handwerkern 1516 in seiner Epistel über die Nürnberger Verfassung: Es sein leut eins erbarn lebens und wandels, die ir narung mit eherlichen dapfern gewerben und nicht mit verachtem hantwerke uberkomen, außgenomen etlich wenig hantwerksleut, so in ansehelichem wesen schweben, und gemainer stat durch iro hantierung vor andern grei ichen nutz pringen. In der lateinischen Urfassung heißt es: Hi dicuntur nominati et sunt qui honeste vivunt, qui victum manibus non quaesitant praeter pauculos egregios arti ces. Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 11, S. 787 mit Anm. 3. 1233 K. B, Die Bevölkerung von Frankfurt am Main, S. 135. 1234 R. E, Das Patriziat der Reichsstadt Rottweil (7.7), S. 1, 49, 52. 1235 A. L. R, Sammlung der württembergischen Gesetze, Bd. XII, Tübingen 1841, S. 7.

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Rentnertum stellte insoweit keine ethisch gerechtfertigte Existenzform dar. Daraus ergaben sich in der Stadt eine Diskrepanz und ein Spannungsverhältnis zwischen der tatsächlichen gesellschaftlichen Wertsetzung einer Ober- und Führungsschicht und normativen christlichexistentiellen Vorstellungen. Gerade der schon in der Karolingerzeit vom König privilegierte und mit Waffenrecht ausgestattete Kaufmann ist eine der umstrittensten Figuren, an der sich während des Mittelalters ein eklatanter Wandel in der sozialen Einschätzung unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten und teilweise kontradiktorischen Wertungen beobachten lässt.¹²³⁶ Der Kaufmann wird in der Antike und bei Aristoteles mit seiner künstlichen Erwerbsart der Chrematistik, der keine Grenzen kennenden Kunst des Gelderwerbs zugeordnet¹²³⁷, in der gleichfalls agrarwirtschaftlich geprägten Vorstellungs- und Normenwelt des Frühmittelalters erscheint er als Person, die kaum oder niemals Gott gefallen kann, wie es bei Pseudo-Chrysostomus heißt, und bei Albert von Metz ist er der Meineidige, Ehebrecher und Trinker schlechthin.¹²³⁸ Doch wird der Kölner Kaufmann im »Guten Gerhard« des Rudolf von Ems zu Beginn des 13. Jahrhunderts im Roman als »Prototyp eines klugen, rechtschaffenen Kaufmanns, der seine Gewinnchancen abwägt und seinen Vorteil zu wahren weiß«, zur vorbildlichen Exempel gur in einem hö schen Szenarium.¹²³⁹ Dem Kaufmann haftete durch die Jahrhunderte hindurch die stereotype Vorstellung an,

dass seine Tätigkeit für die Seele die gefährlichste sei, weil kaum ein Geschäft ohne Betrug durchgeführt werden könne.¹²⁴⁰ Der Kaufmann wird von Johannes Geiler von Kaysersberg mit Hinweis auf den Bologneser Kanonisten Raimund de Pennaforte († 1275), dem Redaktor der Dekretalensammlung Gregors IX. (»Liber extra«) und Verfasser einer maßgeblichen Beichtsumme, an erster Stelle neben Hofleuten, Prokuratoren und gerichtlichen Fürsprechern jenen Berufsständen zugerechnet, die sich wegen ihrer Lügenhaftigkeit stets nahe an der ewigen Verdammnis be nden. Die Predigtliteratur warnt vor Lug und Trug bei Kaufgeschäften, falschem Schwören, der Täuschung der Kunden, der Verwendung von falschen Maßen und Gewichten, Qualitätsvortäuschung, Warenfälschungen, unrecht erworbenem Gut, Spekulationsgeschäften, Habgier und maßlosem Gewinnstreben.¹²⁴¹ Der Franziskaner Berthold von Regensburg († 1272) geißelt vornehmlich verbotene Zinsgeschäfte (Wucher) und Vorkauf sowie den Verkauf verdorbener Lebensmittel, die Gesundheit und Leben der Kunden gefährdeten. Er bezieht in seine Kritik Krämer, Lebensmittelkleinhändler, Wirte und Handwerker ein, die ihre Produkte am Markt absetzten. Im Spätmittelalter ragt der eologe und Straßburger Münsterprediger Geiler von Kaysersberg mit seinen entsprechenden Strafpredigten heraus. Die mittelalterliche Ständelehre und Ständedidaxe¹²⁴², im Spätmittelalter insbesondere die von einem unbekannten Mönch verfasste

1236 E. M, Das Berufsbewußtsein; F. I, Kaufmannsmentalität im Mittelalter; E. E, Zum Alltag des deutschen Kaufmanns; R. B, Der Kaufmann im Mittelalter; A. G, Der Kaufmann, in: ., Der Mensch des Mittelalters, S. 268–311; H.-H. K, Menschen und Mentalitäten, S. 117–133; E. I, Zur Bedeutung der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (9.0), S. 483–487; R. V, Krämer, Kau eute, Kartelle; W. T, Handel und Reichtum. 1237 Aristoteles, Politik, I, 8–11. 1238 Über die Kau eute von Tiel. F. K (Hg.), Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 75, S. 44. 1239 U. P, Literatur in der Stadt. Studien zu den sozialen und kulturellen Organisationsformen städtischer Literatur im 13. und 14. Jahrhundert, Tübingen 1983, S. 36–48, Zitat S. 45. 1240 So bereits in der Ständelehre Bonizos von Sutri († um 1095), Liber de vita christiana. Vgl. Ecclesiasticus (Jesus Sirach) 26, 28; 27, 2. 1241 Siehe auch 9.7.3 (Wirtschaftsethische Kritik an Geschäftspraktiken). 1242 W. H, Zur Ständedidaxe.

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Lehrdichtung »Des Teufels Netz« (um 1420) und die »Narrenspiegel« des Dr. Johannes Geiler (1499) und des damals noch in Basel lehrenden Dr. iur. Sebastian Brant (1494) greifen auf das bekannte Register von Verfehlungen zurück und stellen polemisch und satirisch die betrügerischen Praktiken, sündhaften Geschäfte und persönlichen Schwächen der Angehörigen typisierter Berufe wie der Kau eute, Krämer, Höker, Gremp(l)er und Handwerker heraus. Kaufleute, die verbotene Zinsgeschäfte und Vorkauf betreiben, bezeichnet der Verfasser des »Teufels Netz« als Christenjuden, denen man zur Kennzeichnung für die Allgemeinheit den ›Judenhut‹ am Haus anbringen müsste. Sebastian Brant benutzte gleichfalls den Ausdruck des Christenjuden. Gerügt wird die Störung der Feiertags- und Sonntagsruhe durch Jahrmärkte, die Kollision der Messezeiten mit heiligen Zeiten, ferner der Verkauf unnützer Dinge, von Spielkarten und Würfeln für verbotene Glücksspiele und von über üssigem, sittlich gefährlichem Schmuck und Kleiderzierrat der Frauen. Martin Luther handelt dann in weitgehend üblicher Weise unter der Rubrik Tücke und böse Stücke die verwer ichen und sündhaften Geschäftspraktiken und Betrügereien der Kau eute in seinen »Bedenken von Kaufhandlung« (1524) ab.¹²⁴³ Freilich konnte man trotz aller Gefährdung die Geschäfte auch redlich, mit Gott und ohne Sünde betreiben. Bereits Caesarius von Heisterbach († 1240) gibt ein Exemplum, wie zwei Kölner Fernkau eute mit geistlichem Beistand des Beichtvaters zur Rettung ihres Seelenheils trotz zwischenzeitlicher schädigender Einwirkungen des Teufels standhaft auf Lüge und Meineid verzichten, ihre Waren nur zum tatsächlichen Wert anpreisen und damit Erfolg haben. Im »Lob der Torheit« des Erasmus von Rotterdam von 1515 ndet sich jedoch ein vernichtendes Verdikt über den Kaufmann: ›Die törichtsten und schmutzigsten Menschen sind die Kau eute, weil sie jedes schmutzige Geschäft abschließen

und auf die schmutzigste Weise abwickeln; sie lügen, betrügen, stehlen, täuschen und schwindeln, so oft sie nur können, halten sich aber gleichzeitig für die am höchsten gestellte Gesellschaftsschicht, weil sie die Finger voll goldener Ringe tragen.‹¹²⁴⁴ Das suspekte kaufmännische Grundprinzip, ›billiger einzukaufen und teurer zu verkaufen‹, wird von den Spätscholastikern durch die Mühe, Arbeit und Sorgfalt des Kaufmanns, seine Notwendigkeit, den eigenen Lebensunterhalt sowie den seiner Familie und Gehilfen zu erwirtschaften, seine Betriebskosten, die gewonnene Fähigkeit, Bedürftige zu unterstützen und vor allem durch seine Versorgungsleistung für Gebiete des Mangels im Interesse des Gemeinwohls gerechtfertigt. Für diese Argumentation wurde omas von Aquin zur viel zitierten Autorität. Auch Berthold von Regensburg hob die Leistung der Fernhändler für den überregionalen Güteraustausch hervor und würdigte sogar die Unentbehrlichkeit der Lebensmittelkleinhändler. Außerdem erkannte man die Geschäftsrisiken, die erheblichen Gefahren für Leib und Leben und die lästigen Unbequemlichkeiten in miserablen Wirtshäusern, denen der Kaufmann auf seinen Reisen in fremden Ländern ausgesetzt war. Das »Buch der Rügen« (um 1276) und viel später Johannes Geiler, die gleichfalls darauf verwiesen, versäumten es nicht, einen Stachel zu setzen und zu insinuieren, dass der Kaufmann nach seiner Rückkehr von der Reise eine vermehrte Kinderschar vor nden und im Falle des Todes schnell durch einen anderen ersetzt werde, die alleingelassene Ehefrau als Buhlerin die Abwesenheit des Ehemannes auf der Frankfurter Messe zu ihren Zwecken ausnutzen konnte. Der Mailänder Humanist Antonio Loschi anerkannte bereits die von den Scholastikern inkriminierte sündhafte Habsucht (avaritia) als natürliche Anlage des Menschen und verweist auf ihre kulturellen Resultate.¹²⁴⁵ Während es

1243 J. B/B. P. P (Hg.), Geschichte der Ökonomie (9.7), S. 23–31. 1244 E  R, Das Lob der Torheit, übersetzt und hg. von U. S, Frankfurt a.M. 1979, S. 84 f. 1245 W. T, Handel und Reichtum, S. 96 f.

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Sozialstruktur

nach traditionaler Teleologie unmöglich war, dass aus individuellem Eigennutz ein gemeiner Nutzen erwuchs, ließ der Augsburger Stadtschreiber und Jurist Dr. Konrad Peutinger, verheiratet mit einer Welser-Tochter, im Auftrag interessierter Augsburger Kreise in einer Denkschrift von 1530 aus dem Eigennutz (proprium commodum) der unter Mühen und Gefahren frei wirtschaftenden einzelnen Kau eute und der Handelsgesellschaften den dauerhaften Vorteil der Gesamtheit (commoditas publica) hervorgehen.¹²⁴⁶ Vom sozialen und ständischen Selbstbewusstsein des Kaufmanns zeugen das monumentale Epitaph (232x120 cm) des 1429 verstorbenen Henggi (Johannes) Humpis oder Albrecht Dürers Portrait des Oswald Kröll (Krel) aus dem Jahre 1499. Humpis war Mitbegründer der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft, für die zeitweise der Firmenname Jos Humpis Compagnia benutzt wurde. Die Humpis gehörten zu den reichsten Familien; im Ravensburger Steuerbuch von 1473 wurde das Familienvermögen mit 145 000 Gulden veranlagt. Die Grabplatte, das erste Kaufmannsepitaph in Deutschland, zeigt den Verstorbenen über dem Wappen mit den drei Hunden und der Helmzier stehend in der Reisekleidung eines Kaufmanns mit Pelzmütze, Mantel, umgehängter Geldtasche und Dolch. Sie wurde in der 1452 fertiggestellten Kapelle der Handelsgesellschaft in der damaligen Karmeliterkirche aufgestellt. Die Gesellschaft gab dem Kloster 100 Gulden, damit auf ewige Zeiten täglich eine Messe für das Seelenheil der Gesellen (Gesellschafter) gelesen wurde. Daneben stiftete sie, wie es für orierende Handelsgesellschaften üblich war, bestimmte Beträge für religiöse und wohltätige Zwecke, so 500 Gulden im Jahre 1514. Oswald Kröll war gleichfalls Geselle der Ravensburger Handelsgesellschaft und führte 1495 bis 1503 die Rechnung für das Nürnberger Gelieger, wofür er eine Sonderzahlung als ›Ehrung‹

von 200 Gulden erhielt. Lebenshaltung und sozialer Rang kommen in Dürers Portrait durch den kostbaren Pelzmantel, die Fingerringe und die bis über die Schultern fallenden Locken zum Ausdruck. Es handelt sich um das älteste Gemälde eines deutschen Kaufmanns, vergleichbar mit Hans Memlings etwas früherem Portrait des Tommaso Portinari, des Geschäftsführers der Medicibank in Brügge. Später kam das vornehm, streng und asketisch wirkende, Albrecht Dürer zugeschriebene Portrait Jakob Fuggers des Reichen hinzu, der als erwerbstätiger Kaufmann einen beispiellosen ständischen Aufstieg nahm und in Augsburg mit der 1512 baulich fertiggestellten Fuggerkapelle in der Karmeliterklosterkirche St. Anna und 1515 mit dem Damenhof in den Fuggerhäusern die ersten Renaissancebauten in Deutschland errichten ließ. Die Fuggerkapelle wurde prachtvoll unter anderem mit Werken Albrecht Dürers, Hans Burkmairs d. Ä. und Jörg Breus d. Ä. sowie mit Epitaphen Ulrich und Georg Fuggers ausgestattet. Jakob Fugger kaufte 1507 von König Maximilian I. die bei Ulm gelegene Grafschaft Kirchberg, die angrenzende Herrschaft und Stadt Weißenhorn und weitere Herrschaften aus habsburgischem Besitz in Vorderösterreich in den Jahren 1508 und 1514. Maximilian erhob ihn − lehnrechtlich gestützt − 1511 als Freiherrn in den Adelsstand und 1514 zum reichsunmittelbaren Grafen. Die Verwirklichung höherer sozialer Wertvorstellungen ist – in der soziologischen Begriffsprägung Max Webers – eine Frage der »Abkömmlichkeit«¹²⁴⁷, jenes von der Existenzsicherung durch private Geschäfte und Arbeit abgehobenen Freiraumes, der es gestattet, die erforderliche Bildung zu erwerben und, ohne davon zu leben, politische, administrative und richterliche Aufgaben für das Gemeinwesen in Rat, Gericht, in Ämtern und in der Diplomatie zu übernehmen und sogar eine ritterlich-adlige Lebensführung zu p egen. Kau eute waren we-

1246 Siehe unten 9.7.4. 1247 M. W, Wirtschaft und Gesellschaft (1.2), S. 170 f.; vgl. E. M, Verfassung und soziale Kräfte, S. 330 ff. H. L, Rittermäßigkeit und bürgerliche Gleichheit. Zu Abkömmlichkeit, Besoldung und Ratsamt siehe 4.3.3–4.3.4.

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gen ihrer räumlich und personell weitgespannten Verbindungen wichtige Informationsträger; sie dienten als Diplomaten und verkehrten als Berater, Kreditgeber und Warenlieferanten an Fürstenhöfen. Die durch die Art des Subsistenzerwerbs errichtete soziale Barriere schloss in vielen Städten die Handwerker vom Rat aus. Die Lübecker Großkau eute erhoben einseitig unter Berufung auf eine angebliche Ratswahlordnung im Heinrichsprivileg von 1163 die Ratsunfähigkeit dessen zur Verfassungsnorm, der seine Nahrung, seinen Lebensunterhalt, (jemals) durch ein Handwerk erworben hatte (Stadtrecht von 1254, Art. 27). Den Handwerkern wurden die Krämer, Brauer, Schiffer und sogar die an anderen Orten patrizischen Gewandschneider gleichgestellt.¹²⁴⁸ Dies galt in den größeren lübischen Städten, wenn auch immer wieder in Unruhen angefochten, bis ins 19. Jahrhundert. In Hamburg waren Handel und Handwerk sowohl in der Verfassung als auch sozial hinsichtlich des Konnubiums geschieden. Nur Kau eute regierten die Stadt. Der wirtschaftliche Übergang vom Handwerk in den Handel blieb aber möglich. Zunfterhebungen verschafften in einer Vielzahl vor allem oberdeutscher Städte Handwerkern den Zutritt zum Rat oder sogar gemeinsam mit den Kleinhändlerzünften eine verfassungsmäßige Ratsmehrheit. Die Frage der Abkömmlichkeit war hier auf wirtschaftliche Voraussetzungen reduziert. 7.1.3 Bürger und Ritter – Ehrbegriffe Abkömmlichkeit und ein ritterlicher Lebensstil eignen der patrizischen Oberschicht, die in der Großform des Handels, dem mit erheblichem Kapitalaufwand verbundenen Groß- und Fernhandel mit Luxusgütern und Massenwaren, im Unternehmertum, in Darlehensgeschäften und im Rentenbezug ihre Existenzgrundlage hat und

zum Teil aus der in den niederen Adel aufgestiegenen Ministerialität hervorgegangen ist. Es darf bei aller Abgrenzung der Stadt von der herrenständischen Umwelt nicht außer Acht gelassen werden, dass nicht nur das Wirtschaftsleben, sondern zugleich auch die Wehrhaftigkeit das Erscheinungsbild vieler Städte geprägt und soziale Rangstufen in einer Zeit festgelegt hat, deren Ordovorstellung die Laienbevölkerung in ›Krieger‹ (bellatores) und ›Arbeitende‹ (laboratores), verkörpert in der Ritterschaft und in dem bäuerlichen armen Mann, einteilt. »Stete kämpferische Bedrohung durch die Nachbarn zu Hause und durch Fremde auf Kauffahrteifahrten hat den kriegerischen Geist und damit zugleich die mentalitätsmäßige Bindung« städtischer Oberschichten »an die adelige Umwelt in den Städten bis zum Auslaufen des Fehdewesens lebendig erhalten und damit zugleich der Verwirklichung bürgerlicher Gleichheit Grenzen gesetzt.«¹²⁴⁹ Bürger der kaufmännisch-ministerialischen Oberschicht führen gesondert vom Stadtverband rittermäßige Fehden zur Wahrung ihres Rechts und ihrer Interessen, sie stehen in einigen Fällen, wenn nicht Adlige von außen dazu engagiert werden, als Hauptleute des Bürgeraufgebots und der städtischen Söldner im Dienst der Stadt. Sie stellen mit ihren Kriegspferden das berittene Aufgebot der Stadt. Der Handwerker hingegen ist in der Regel der Spießbürger, der zu Fuß kämpft. Der Waffendienst mit Spieß und der Dienst mit der Armbrust, der in den Schützengilden trainiert wird, verbleiben, was Ausrüstungskosten und Freiheit anlangt, im Rahmen der wirtschaftlichen und zeitlichen Möglichkeiten des Handwerkers. Die Bedeutung des Reiterdienstes der nichthandwerklichen Oberschicht ndet auch Ausdruck in der militärischen und politisch-sozialen Zusammenfassung der nichtzünftigen Bürger als Consto er (constabularii) in Constofeln (ursprünglich wohl

1248 W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 229 f. Gewählt konnte außerdem nur werden, wer von freier Geburt war, nicht im Dienste des Adels stand und über eigenen Grundbesitz innerhalb der Stadtmauern verfügte. Die Ordnung war eine Fälschung, aber sie galt. 1249 H. L, Rittermäßigkeit und bürgerliche Gleichheit, S. 93. Vgl. auch zum Folgenden insbesondere L.

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Stallgenossenschaften), wie sie in Straßburg, Hagenau und Zürich anzutreffen sind. Constofeln waren in Straßburg topogra sche Einheiten, in denen von Bürgern, die nicht zu den zünftig Gewerbetreibenden gehörten, die Vermögensteuer erhoben und der Dienst zu Pferde aufgebracht wurde. Die Bürger dienten entweder in einer Constofel oder in einem zünftigen Handwerk. Der Dienst zu Pferde, der an ein bestimmtes Steuervermögen geknüpft war, bildete in Straßburg eine der Voraussetzungen für den Aufstieg von Zunftbürgern in das Patriziat.¹²⁵⁰ Seit 1349, nachdem die Zünfte 1332 in den Rat gelangt waren, durften auch reiche Zunftbürger mit eigenem Pferd ihren Kriegsdienst leisten. Bürgerlichkeit und Rittermäßigkeit schlossen sich während des Mittelalters nicht aus. Der Erwerb der Ritterwürde, die Erlangung ritterlicher Lehen oder das Besiegelungsrecht wurde den Stadtbürgern grundsätzlich nie bestritten. Quali zierte Stadtbürger hatten, gelegentlich durch Privileg abgesichert, Zugang zu verschiedenen rittermäßig besetzten Gerichten, Mannengerichten der Lehenskurien, Landgerichten oder fürstlichen Hofgerichten. Die grundsätzliche Unvereinbarkeit von Handel und Adel war eine gegen die Städte gerichtete Forderung, die erst Ende des 15. Jahrhunderts vom Landadel erhoben wurde und in England und Italien weitgehend unbekannt blieb. Sie führte dazu, dass sich die Augsburger Welser 1525 von

Karl V. ein Privileg ausstellen ließen, wonach der Handel ihrer ritterlichen Qualität nicht schade.¹²⁵¹ Anlässlich der Aufnahme in das Ulmer Patriziat stellte der Kaiser 1692 dem Kandidaten das förmliche Attestat aus, dass ein Adel von einem in grosso handelnden Kaufmann gar wohl erworben und getragen werden mag.¹²⁵² Für das Nürnberger Patriziat ist festgestellt worden, dass es sich eindeutig an dem ritterlichen Ehrbegriff orientierte, zugleich aber im Berufsleben gegenüber der gewöhnlichen Bürgerschaft eine prestigeträchtige kaufmännische Standesehre herausstellte.¹²⁵³ Die Handwerker entwickelten ihre eigene Handwerksehre und grenzten sich damit nach unten ab. Das Titelbüchlein des Max Ayrer von 1487 unterscheidet in Nürnberg den erbarn weisen Ratsbürger und den ersamen Bürger. Das Nürnberger Tanzstatut von 1521, mit dem der Rat das Patriziat geburtsständisch abschließt, bestimmt, dass zum Tanz auf dem Rathaus nur noch diejenigen geladen werden sollen, die ›vor anderen den Vorgang haben und geehrt werden, dass sie und ihre Nachkommen dieser alten wohl hergebrachten Ehren sich gebrauchen mögen‹. In Reutlingen wird die Anrede ehrbar seit der Zunfterhebung von 1374 auch von den bescheideneren Handwerkern beansprucht, worauf die Angehörigen der Oberschicht superlativisch als die Reichsten und Ehrbarsten in der Stadt bezeichnet werden. Großhandel mit Gewürzen und Textilien galt vielerorts als patrizisch; der Handel mit

1250 Vor allem Patrizier hielten in der Stadt Kriegspferde für den Kriegsfall und repräsentative Auftritte und setzten sich damit zumindest von den einfachen Handwerkern ab. In unnachahmlicher Arroganz führten Memminger Patrizier, die eine eigene politische Zunft bilden mussten, aber zum Unwillen der Zünftler die Einrichtung einer patrizischen Trinkstube erzwangen, die beanspruchte soziale Vorzugsstellung nach dem kürzlich erfolgten weiteren Verlust politischer Positionen in Streitigkeiten mit den Handwerkerzünften im Hinblick auf den Dienst zu Pferde vor. Als 1470 fürstlicher Besuch in der Stadt bevorstand, beschloss der Rat, dass alle Bürger, die ein Pferd besaßen, dem Besucher zum ehrenvollen Empfang und Einzug entgegenreiten sollten. Einer der Patrizier lehnte dies mit der Bemerkung ab, ›er habe kein Ross, man solle ihm einen Zunftmeister satteln, darauf wolle er hinausreiten‹. P. E, Die oberschwäbischen Reichsstädte (3.1–3.5), S. 98. 1251 C. H. R . S, Das Patriziat in den deutschen Städten (7.7), S. 556. 1252 E. R, Kaiser und Patriziat (7.7), S. 613. Im 16. Jahrhundert wurde von den Ulmer Patriziern von Seiten der Stadt ein Eid verlangt, dass sie keine Handelsgeschäfte mehr betrieben. Nach dem Dreißigjährigen Krieg haben in Augsburg und Biberach die katholischen Patrizier sich vom Handel ferngehalten, in Memmingen, Isny und Lindau jedoch nur einzelne Standesgenossen. Aus dem Rückzug aus dem aktiven Wirtschaftsleben resultierte ein verstärkter Zwang, zur Erhaltung der wirtschaftlichen Basis des Geschlechts reiche Heiraten einzugehen. A. R, Das Patriziat von Ulm (7.7), S. 327. 1253 H. H. H, Nobiles Norimbergenses (7.7), S. 76 f. (dort nden sich auch die folgenden Zitate).

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Wein, den Massen- und Fernhandelsgütern Salz und Getreide verhalf zu erhöhter sozialer Geltung. Die soziale Bewertung und Zuordnung von Warensorten wurde auch unterschiedlich vorgenommen. Der unternehmerische Betrieb von Papiermühlen und Ziegeleien galt etwa in Memmingen als patriziatsfähig, wie denn auch in Nürnberg die patrizischen Stromer eine Papiermühle unterhielten. Neben dem Großhandel gibt es indessen besonders quali zierte handwerkliche Formen, die des hohen Kapitaleinsatzes wegen, bedingt durch die außerordentliche Handelskomponente des Gewerbes und durch die Kostbarkeit des verarbeiteten Materials, mit dem ritterlichen Stand vereinbar sind.¹²⁵⁴ Dazu zählt das unternehmerische Gewerbe der Münzprägung, das vielfach in den Händen der Münzerhausgenossen liegt, die zunächst zur familia des münzberechtigten Stadtherrn gehörten. Es handelt sich um eine Vereinigung von Kapitalisten, welche die Münzproduktion auf eigene Rechnung betreiben. Sie besitzen besondere Privilegien des Edelmetallankaufs und des Wechsels fremder Münzen, der mit bankähnlichen Kreditgeschäften verbunden wird. Daraus resultiert ihre überaus wichtige Rolle im Übergang zur Geldwirtschaft. In den Edelmetallhandel sind auch die – häu g mit Münzern in Verbindung stehenden – Goldschmiede eingeschaltet, die in ihren kapitalkräftigsten Vertretern den Juwelenhandel monopolisieren. Sie stehen als vermögende Künstler außerdem im Übergang vom Handwerk zur Oberschicht. In Regensburg, Wien, Straßburg und Zürich gibt es patrizische Goldschmiede; in Nürnberg gehören sie zwar nicht zum Patriziat, wohl aber zur Ehrbarkeit der Genannten. Den Goldschmieden am ehesten vergleichbar sind hinsichtlich der Verarbeitung kostbaren Materials und des entsprechend hohen Kapitaleinsatzes die Kürschner,

die in Straßburg und Wien patrizischen Rang genießen. Wo der Weinanbau, wie im Rhein-MoselGebiet, im Großen betrieben wird und einen Massen- und Qualitätenhandel begründet, verliert er seinen handwerklichen Charakter und hat zugleich an den gesteigerten Gewinnchancen des Handels wie an dessen sozialer Geltung teil. 7.1.4 Großhandel und handwerklicher Kleinhandel Innerhalb des Handels verläuft die wirtschaftliche und soziale Scheidelinie zwischen dem Großhandel, d. h. dem berufsmäßigen Warenabsatz an Produzenten und Händler, und der handwerklichen Kleinform des konsumentenbezogenen Handels, dem Detailhandel mit Elle und Waage, in kleinen Gewichten und Maßen und in kleinem Geldwert (›Pfennigwert‹). Der Kleinhandel galt stets als handwerksmäßig und unvereinbar mit Rittermäßigkeit.¹²⁵⁵ Eine Ausnahme macht vielerorts der Gewandschnitt, der mit dem Tuchgroßhandel verbunden ist. Nach einem Weistum des kaiserlichen Landgerichts Hirschberg von 1320 waren bei dem Gericht als Urteiler nur zugelassen des reiches erbbürger, die nicht mit der elle und wage verkaufen. Bei der Aufnahme eines Bürgers in das Schöffenkolleg der elsässischen Stadt Hagenau beschloss der Rat 1544 ausdrücklich, dass der Betreffende nur Kaufherrengewerb in der Größenordnung von Ballen und Centner betreiben, dagegen Krämergewerb mit Elle, Waage oder in Pfennigwert, nur durch Buben oder andere Personen versehen lassen dürfe. Bei der Wiedereinführung eines patrizischen Stadtregiments durch kaiserlichen Oktroi 1548 wurde vom Augsburger Patriziat verlangt, Handel und Gewerbe ab[zu]thun, die mit kleinem Gewichte, Elle, Maas, Dutzend und Pfennwert [Pfennigwert] betrieben werden.

1254 H. L, Rittermäßigkeit und bürgerliche Gleichheit, S. 86 ff. Wenn sich vielfach Fleischbänke, Kramläden, Badestuben und ähnliche Einrichtungen im Besitz des Patriziats befanden, so handelte es sich freilich nicht um die Ausübung eines Handwerks, sondern um Nutzung von Immobilien durch Leihe, Vermietung oder Verpachtung oder um eine unternehmerische Tätigkeit. 1255 Ebd., S. 78, 87 (mit den folgenden Beispielen).

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7.1.5 Der Gesellschaftsaufbau 7.1.5.1 Mittelalterliche Gesellschaftskonzeptionen Wenn seit dem frühen Mittelalter, das noch keine formierten Stadtgemeinden kennt und ökonomisch an der Agrarwirtschaft orientiert ist, ein gesamtgesellschaftliches Modell entworfen wird, so ist es, wie etwa bei Adalbero von Laon († 1030), funktional konzipiert und teilt die Gesellschaft in die Stände der oratores (Betende), bellatores (Krieger) und laboratores (Arbeitende) ein.¹²⁵⁶ Unter diese drei Kategorien können dann die verschiedenen Gruppen des Klerus, Fürsten und Adel sowie die Bauern, denen explizit erst spät die städtischen Handwerker hinzugefügt werden, soziologisch subsumiert werden, während die das urbane Milieu maßgeblich prägenden Großkau eute noch längere Zeit in der funktionalen Aufteilung der Gesellschaft ohne genaue Zuordnung oder eigene Stellung bleiben.¹²⁵⁷ Eine frühe Ausnahme macht Bernhard von Clairvaux († 1153). Der Jurist Nikolaus Wurm ersetzt um 1400 in der Dreiteilung die herkömmliche kriegerische Funktion durch Rechtsp ege und Verwaltung des städtischen Vermögens. Gestützt auf den römischen Juristen Papinian und römisches Recht führt er aus, dass die Stadt eine Gruppe (volk) brauche, die Gott zum Heil des Reichs und um der Seligkeit der Bevölkerung willen diene, eine zweite, die das Recht und den gemeinen Nutzen regiere und drittens Arbeiter, die mit ihrer Arbeit das Reich und die Diener Gottes ernährten.¹²⁵⁸ Das Zusammenwirken der verschiedenen Stände zum Gedeihen der Stadt wird auch durch die generell für politische Verbände gebrauchte organologische Vorstellungen zum Ausdruck gebracht, die eine Stadt als hierarchischen Funk-

tionszusammenhang von Haupt und Gliedern, der einzelnen Körperteile und der inneren Organe beschreiben. In der Stadt bringen komparativische Bezeichnungen, die durchaus auch superlativisch zu verstehen sind, wie maiores, meliores, potentiores, ditiores, honestiores, sapientiores oder aber humiliores rangmäßige Abstufungen, soziale Distanzen und Hierarchien in der städtischen Gesellschaft meist nach einem zweischichtigen Modell zum Ausdruck. Der Augsburger Kaufmann und Chronist Burkhard Zink stellt die reichen und das gemain volk gegenüber.¹²⁵⁹ omas von Aquin (1225–1274) wiederum geht von einer dreistu gen ständischen Schichtung (ordo) der Stadtbevölkerung in die Optimaten (als Elite), das niederes Volk und die Ehrbarkeit als Mittelschicht aus: quidam sunt supremi, ut optimates, quidam aut in mi, ut vilis populus, quidam autem sunt medii, ut populus honorabilis.¹²⁶⁰ Aber auch jenseits gelehrter Re exion wird die bloße Zweiteilung der Gesellschaft durch eine dritte Formation erweitert. Von Mitterburger zwischen Stadtadel und Handwerkern ist urkundlich in einem Gerichtsprivileg Ludwigs des Bayern für Schwäbisch Hall von 1340 die Rede.¹²⁶¹ Es handelt sich um Ehrbare, die aus dem Handwerk hervorgegangen sind, die im Sinne ritterlicher Gerichtsbesetzung aber noch nicht als gerichtsfähig angesehen werden, da sie noch nicht im vollen Sinne als Wappengenossen gelten. Infolge der zunehmenden Exklusivität und geburtsständischen Abschließung der alten und älteren ratsfähigen Geschlechter etabliert sich im ausgehenden 15. Jahrhundert etwa in Nürnberg und Augsburg eine förmliche Honoratiorenschicht nichtpatrizischer Kau eute und Unternehmer, die sich eindeutig von den Handwerkern absetzt. Der kaiserliche Kommis-

1256 O. G. O, Die funktionale Dreiteilung. Zu organologischen Gesellschaftsvorstellungen siehe T. S: Pedes publicae. 1257 Zum Folgenden siehe auch E. I, Die Bedeutung der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (9.0), S. 483–489; W. I, Mittelalterliche Dilemmata. 1258 H.-J. L (Hg.), Das Liegnitzer Stadtrechtsbuch (1.2), S. 23. 1259 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 5, S. 121. 1260 W. S, Stand und Ständeordnung, S. 41 f. 1261 G. W, Die Sozialstruktur der Reichsstadt Schwäbisch Hall, S. 49.

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sar für die patrizischen Verfassungsänderungen in einer Reihe oberdeutscher Reichsstädte der Jahre 1548 bis 1552, Dr. Heinrich Hasse, unterscheidet regelmäßig (1) die vom Rat und [die] Geschlechter, (2) andere hohe Burger und (3) das andere gemeine Volk, wobei unter den anderen hohen Bürgern die Kau eute und die übrigen Angehörigen der Herrenzünfte verstanden werden.¹²⁶² Bereits die Reichspolizeiordnung von 1530 geht von einem aufsteigenden dreistu gen Modell der städtischen Gesellschaft aus und nennt (1) gemeine Burger und Handwerker, (2) Kauf- und Gewerbeleute und (3) andere, die von Seiten der Geschlechter im Rat sitzen oder sonstige ehrbaren Herkommens, die sich von ihren Grundzinsen und Kapitalrenten ernähren. Die Kleiderordnungen im Übergang zur frühen Neuzeit erweitern das Dreischichten- oder Dreiständemodell und konstituieren eine Rangfolge mit einer Vielzahl differenzierter Stände. Aegidius Romanus († 1316) entwickelte in der Nachfolge omas von Aquins in seinem äußerst erfolgreichen, weit verbreiteten und auch von deutschen Autoren viel zitierten Traktat »De Regimine principum«, in dem er unter dem Begriff der civitas das Gemeinwesen schlechthin und auch die Stadt abhandelt, im Zusammenhang mit dem Konzept der Ober-, Mittel- und Unterschichten, gestützt auf die »Politik« des Aristoteles, eine regelrechte Mittelstandstheorie, wonach ein möglichst breiter, durch mittleren Besitz de nierter Mittelstand die Stabilität des Gemeinwesens am besten gewährleistet. Wird ein Volk aus vielen mittleren Personen gebildet, so kommt es nicht zu Unrechtstaten der Überreichen und Übermächtigen, die sich nicht unterordnen können und herrschen und unterdrücken wollen, so herrscht aber auch nicht der Sozialneid der ganz Armen, die hinterhältig nach den Gütern der Reichen

trachten, und, durch Widerstand zur Macht gelangt, nicht fähig sind, gerecht zu regieren – dann lebt man maßvoll und vernünftig, besteht zwischen den Bürgern ein Band der Liebe, herrschen Gleichheit und Gerechtigkeit, fehlen als dissoziierende Elemente der Neid der Armen auf die Reichen und die Verachtung der Reichen für die Armen.¹²⁶³ Die aristotelische Kategorie und Maxime des Maßes und des Mittleren wird im ausgehenden 14. Jahrhundert von gebildeten Funktionsträgern wie dem Erfurter Priester, Domherrn, Schulmeister und Stadtschreiber Johannes Rothe um 1385 und Johann von Soest 1495 insbesondere für ihre Soziologie der Ratsmannen aufgegriffen.¹²⁶⁴ Der Augsburger Stadtschreiber und Jurist Dr. Konrad Peutinger wehrte 1523 und 1530 den Vorwurf ab, durch große Handelsgesellschaften entstünden in Städten Streitigkeiten und Aufruhr und behauptete, das Gegenteil sei wahr. Dort, wo potente Kau eute agierten, wachse die Versorgung mit Nahrungsmitteln und mit Rohstoffen für fast alle Handwerke und dies fördere Frieden und Ruhe, während dort, wo Knappheit und Armut herrschten, in der Regel die meisten Fälle von Zwietracht entfacht würden.¹²⁶⁵ 7.1.5.2 Felix Fabris Soziologie der Stadt Ulm Der Dominikaner Felix Fabri verbindet in seiner ›Abhandlung über die Stadt Ulm‹ (1488) eine erweiterte und modi zierte traditionale Ständelehre – Priester, Krieger, Regenten, Gewerbetreibende – mit einer differenzierten Vorstellung vom funktionalen Zusammenwirken aller Stände und mit empirisch verbindlichen sozialen Abgrenzungen, die sich aus der ständischen Ordnung und Zunftverfassung der Stadt, den ständischen Ansprüchen von Adel und

1262 L. F, Die Verfassungsänderungen in den oberdeutschen Reichsstädten (2.6), S. 54, Anm. 1. 1263 Aegidius Romanus, De regimine principum libri III. Romae 1556, ND Frankfurt a. M. 1968, lib. III, pars II, cap. XXXIII, S. 322–323. Aristoteles, Politik, IV, 11. 1264 E. I, Ratsliteratur und Ratsordnungen (4.1–4.3), S. 259–266, 304 f. 1265 C. B, Conrad Peutingers Gutachten (9.7), S. 6, 36.

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Patriziat sowie allgemeineren gesellschaftlichen Rang- und Wertvorstellungen ergeben.¹²⁶⁶ Dabei bildet er aus verwegen konstruierten Herkunftshistorien, mehr als gewagten Etymologien, Exempla der römischen Geschichte und Zitaten aus der Literatur mit Cassian, Seneca und Valerius Maximus, normativen Aussagen der Bibel und der Kirchenväter, eoremen der aristotelischen »Politik«, »Nikomachischen Ethik« und »Topik«, Sätzen des römisch-kanonischen Rechts und Kommentaren einzelner Juristen wie des Hostiensis, Baldus de Ubaldis und Johannes Bertachinus sowie auf der Grundlage von internationalen Städtevergleichen, das ist bei allem Fragwürdigem das Entscheidende, gewissermaßen eine allgemeine Soziologie der Stadtgesellschaften, in die er empirische Einzelerscheinungen einordnet. Fabri verknüpft diese allgemeine Soziologie sodann mit einer speziellen empirischen, äußerst differenzierten, distinktionenreichen Soziologie der Stadt Ulm und fügt dieser in einem dritten Schritt instruktive und materialreiche Prosopogra en von Familien des Ulmer Patriziats und der weiteren Ehrbarkeit hinzu. Durch die nahezu ingeniöse Verknüpfung dieser drei methodischen Zugänge und die enorme Anzahl von Einzelaspekten und sozialen Distinktionen übertrifft Fabri alle zeitgenössisch-mittelalterlichen Analysen einer Stadtgesellschaft und im Grunde auch die gröberen moderner Sozialhistoriker. Fabri konstituiert mit einer Fülle und Vielfalt an Statusmerkmalen die verschiedenen Stände, relativiert aber zugleich die Bedeutung einzelner wirtschaftlicher und sozialer Elemente wie Reichtum, Ansehen und Alter der Familie für Standesgrenzen, indem er sie als teilweise standesübergreifend und für sich allein als nicht exklusiv de nitorisch erweist. Indem Fabri ordnet, Katergorien bildet und generalisiert, kommt er zwangläu g nicht umhin, auch zu idealisieren. Merkmale und Kriterien sozialer und ständischer Unterscheidung sind für Fabri adli-

ge und nichtadlige, edle und nicht edle Herkunft, das Alter der Familie, die Eheverbindungen (Konnubium), althergebrachter oder jüngerer Reichtum, adelige Lebensführung, Tugendadel, ständische Zurechnung und Einordnung durch das gesellschaftliche Umfeld, Subsistenz aus Renten oder aus erwerbswirtschaftlicher Tätigkeit im Großhandel oder im Handwerk. Der von Fabri gebrauchte Ausdruck nobilis im Sinne von »edel« oder »adlig«, wie er auch zeitgenössisch übersetzt wurde, ist dehnbar, unscharf und lässt seine soziologischen Analysen changieren. Die relative Unschärfe entspricht aber einer gewissen zeitgenössischen Unbestimmtheit und Offenheit sozialer Kategorien, die unserem Wunsch nach klaren De nitionen entgegenstehen. In einer weitgefassten Bandbreite und in Abstufungen bezeichnet er mit nobilis Familien des ländlichen Adels und des städtischen Patriziats bis hin zu nichtadligen und nichtpatrizischen Familien, die jedoch durch Alter, Vornehmheit, Prestige und Bekanntheit als ›edel‹ herausragen und als Zünftige mit langer Familientradition in objektivem Sinne edler als viele Optimaten sein können. Es gibt die Adeligen kraft Herkunft aus dem Landadel, die adeligen Patrizier kraft adliger Herkunft und solche kraft adliger Lebensführung auf der Grundlage von Grundbesitz sowie kraft gesellschaftlicher Einschätzung und Zuordnung, wobei sich der eigentliche Lebenszweck des Patriziats in Politik und Stadtregierung erfüllt. Aber auch außerhalb des Patriziats gibt es eine zweite Kategorie alter Familien, die von Grundrenten leben, einen adligen Lebensstil p egen und gleichfalls der Politik zugewandt sind und im Stadtregiment wichtige Ämter innehaben, aber einer politischen Zunft angehören und nur dadurch von den Patriziern zu unterscheiden sind. Zünftigkeit setzt als einzige normative Schranke dem weiteren sozialen Aufstieg im gesellschaftlichen Aufbau für die ansässige Ulmer Bevölkerung grundsätzlich unüberwindliche Grenzen. Soziale Mobilität, das Stre-

1266 Tractatus de civitate Ulmensi, Principale IV: De ordine populi in civitate ulmensi, S. 53–125; dt. Übersetzung: Hauptstück IV: Von der Rangordnung des Volkes in der Stadt Ulm, S. 37–85.

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ben nach Aufstieg, ist ansonsten eine natürliche menschliche Verhaltensweise. Fabri nennt als Motiv für den Aufstiegswillen unter Berufung auf Catos Kommentar zu den Aussagen des Epikuräers Metrodorus von Lampsakus (331–278 v. Chr.) über Reichtum, dass bloßer Reichtum ohne entsprechende gesellschaftliche und politische Rangstellung, ohne ›Adel‹ (nobilitas) und ›Macht‹ (potentatus), den Menschen nicht glücklich, sondern unglücklich mache. In ähnlicher Weise spricht die moderne Soziologie etwa Max Webers hinsichtlich der mittelalterlichen Verfassungskämpfe davon, dass die reichen nichtpatrizischen Kau eute den »Ausschluss von der Macht ideell nicht mehr ertrugen«.¹²⁶⁷ Die Patrizier bilden einen Regentenstand, der sich von anderen Ständen bei vergleichbaren sozialen Lagemerkmalen durch das fundamentale verfassungsrechtliche Kriterium der Nichtzünftigkeit unterscheidet, ferner durch sein Heiratsverhalten, seine durchgehende Adligkeit im weiten Sinne und durch seinen gewohnheitsrechtlich-verfassungsgemäßen Anspruch auf das Bürgermeisteramt. Doch sind anders als in aristokratisch regierten Städten die zünftigen und erwerbswirtschaftlich orientierten Kau eute, vor allem aber auch die Handwerker gleichfalls rats- und amtsfähig und werden von Fabri in ihrer fundamentalen und unentbehrlichen wirtschaftlichen Leistung für die Stadt gewürdigt. Wenn die Patrizier zwar ihrer Wesensbestimmung nach einen Regentenstand bilden, so regieren sie gemäß der Ulmer Zunftverfassung keineswegs allein, sondern stellen innerhalb der Ratsverfassung sogar eindeutig eine Minderheit dar. Die Rangordnung der Bevölkerung (ordo populi) auf der Grundlage von Ungleichheit (inaequalitas) und der Existenz verschiedener Gesellschaften (societates) in der Stadt umfasst neben dem ersten Stand der Priester und Mönche (sacerdotes et religiosi), die das Gemeinwesen (res publica) mit dem Himmlischen und Gott verbinden, sechs weltliche Stände. Der zweite

Stand des Adels (nobiles et generosi) dient der Verteidigung der Stadt und der dritte Stand der hervorragenden und berühmten Patrizier (praecellentes et famosi) der Leitung und Regierung des Gemeinwesens. Der vierte Stand der weiteren Ehrbarkeit (honorabiles et modesti) fördert das Gemeinwesen mit Rat und Hilfe, während der fünfte Stand der Kau eute und Erfahrenen (negotiatores et experti) den Wohlstand des Gemeinwesens mehrt und der sechste Stand der Handwerker (laboratores et mechanici) ihn bewahrt und erneuert. Der siebte Stand der Ausbürger (forenses) und nicht verbürgerten Beisassen (comitativi) gehört nicht zur Körperschaft der Bürger. Diese Stände sind metaphorisch die sieben tragenden Säulen des Gemeinwesens. Fabris Konzeption der Stände mit ihren pauschalen funktionalen Zuschreibungen erweist sich trotz aller gelehrter Abschweifungen, die jedoch seinen wissenschaftlichen Zugang neben dem empirischen belegen, in ihrem Kern und hinsichtlich einzelner konstitutiver Kriterien als eine eindrucksvolle, hochdifferenzierte soziologische Analyse und Interpretation der Stadtgesellschaft, die in eine moderne wissenschaftliche Beschäftigung mit der städtischen Sozialstruktur unbedingt einzubeziehen ist. Für die Stadtverteidigung und die Sicherung der Straßen des Umlandes vor Räubern nimmt die Stadt auswärtige Adelige grä ichen Ranges, solche aus dem Niederadel und der adligen Ministerialität in ihren Sold und setzt sie, der Befehlsgewalt des Rats untergeordnet, als Hauptleute des städtischen Heeresaufgebots, als Burgvögte und Landp eger des städtischen Territoriums ein. Ferner be nden sich stadtsässige adlige Bürger, die sich dem Waffendienst widmen und wegen ihrer kriegerischen Fähigkeit im Einzelfall sogar von König Maximilian geschätzt werden, in städtischem Sold. Die gesellschaftliche Rangfolge ergibt sich in den ersten beiden Ständen aus externen generellen Ehrvorstellungen. Die Geistlichen bilden den höchsten Stand; die kriegerischen Adligen stammen aus auserwählten Geschlechtern und können

1267 Ebd., S. 66, dt. S. 46 zur 4. Distinktion der Patrizier. M. W, Wirtschaft und Gesellschaft (1.2), S. 170 f.

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als Krieger wie andererseits die Geistlichen einen Ehrenvorrang beanspruchen, wobei die von Fabri mit Stellen aus dem römischen und kanonischen Recht dargestellte Parallelität der Ehre von Geistlichen und Kriegern gesucht erscheint. Empirisch sind folgende Feststellungen: Beide Stände sind frei von bürgerlichen Lasten. Die Adligen geben ihre Töchter – als Ausweis eines nicht völlig paritätischen Konnubiums – Angehörigen der meist adeligen städtischen Amtsträger zur Ehe. Geistlichkeit und besoldete Adlige sowie der letzte, nicht verbürgerte Stand gehören für Fabri, obwohl er sie in die Rangfolge einstellt, nicht zur wesentlichen, aus den vier Ständen der edlen (adligen) Patrizier, der Ehrbarkeit, der Kau eute und Handwerker gebildeten Körperschaft der Bürger (corpus civilis), sondern dienen aristotelisch ad bene esse, d. h. dazu, dass sich die Stadt durch Verteidigung und Seelsorge in einem guten Zustand be ndet. Dritter Stand, aber ›Hauptstand‹ (ordo principalis) und ›Haupt‹ (caput) des eigentlichen Bürgerstandes (ordo civilis), sind die regierenden Geschlechter, für die Fabri eine Reihe von mehr oder weniger spezi schen Bezeichnungen anführt und diese wechselnd gebraucht¹²⁶⁸, als generellen Namen jedoch Bürger, die in Ulm auch in Urkunden herkömmliche Bezeichnung für die Patrizier. Den Ausdruck Patrizier (patricii), den der Nürnberger Dr. Scheurl fast eine Generation später gebraucht, kennt oder verwendet Fabri nicht, wohl aber die Bezeichnung patres, die er aber nicht weiter einsetzt. Als Regierende und aufgrund ihrer ständischen Qualität sind sie wahre nobiles. Die 30 Ulmer Geschlechter werden von Fabri prosopogra sch dargestellt. Tatsächlich sind sie jedoch in Ulm nicht die alleinigen Regenten. Die führenden Geschlech-

ter der Städte sind in allgemeinem Sinne ohne Zweifel wahrhaft Edle, jedoch nicht alle sind Geschlechter von unvordenklichem Alter, deren Ursprünge sich niemand zu erinnern vermag und über die Erinnerung der Lebenden hinausgehen, und damit nobiles maiores, sondern von jüngerer Herkunft und deshalb niedrigeren Ranges nobiles minores.¹²⁶⁹ In Städten wie Konstanz, Zürich, Ulm oder Augsburg sind sie Senatoren und Älteste von Geburt. Sie können eigentlich adlig (nobilis) genannt werden, tatsächlich sind sie aber weder sämtlich adlig, noch ist einer von ihnen unedel (ignobilis) im Sinne von so unbekanntem, niedrigem und dunklem Geschlecht, dass man dessen Namen nicht kennt, denn alle sind von berühmter Herkunft. Mit dieser paradox und vage anmutenden Bestimmung siedelt Fabri die adlig-edlen Familien des städtischen Adels oder Patriziats, unter Rekurs auf Isidor von Sevilla, in einen unscharfen Bereich von quali zierter Herkunft, Lebensführung und familiärem Prestige an, der sie aus der Menge heraushebt. Er trägt damit dem Sachverhalt Rechnung, dass soziale Kategorien zwar normative Kriterien aufweisen können, vor allem aber auch auf der einfachen Anerkennung von Tatsächlichem und auf der gesellschaftlichen Wertschätzung, der Einbeziehung durch die Gruppe und der Zuordnung durch weitere gesellschaftliche Kreise beruhen: ›Die Patrizier sind im höchsten Rang (der Ersten) adlig; wenn sie dem Blut nach nicht adlig sind, so sind sie es doch durch die rechtliche Ordnung (ordinatio) oder Zugehörigkeit zur Genossenschaft oder Gesellschaft (societas) und durch die Einschätzung (tentio) der Menschen‹. Insgesamt unterscheidet Fabri nicht weniger als sechs unterschiedliche Arten von Patriziern (cives nobi-

1268 Senatores (Ratsherren), magistratus (Amtsträger), primatus (Erste), optimates (Beste), potestates (Machthaber), maiores natu (Älteste), generosi (Edle), de genealogiis (Geschlechter), allgemein burgenses (Bürger) i. e. cives, quasi per excellentiam civium cives (›Bürger der Bürger‹), patres patrum (›Väter der Väter‹). Den Ausdruck der hervorgehobenen Bürger im Sinne von Patrizier erläutert Fabri mit quasi domini burgi ulmenis et rectores (›Herren und Lenker der Burg‹). Felix Fabri, Tractatus, S. 59; S. 41, 42. Mit den Darlegungen Fabris zum Patriziat vgl. unten 7.7. 1269 Fabri reserviert diese niedrigere Nobilität im Sinne von ›edel‹ für die regierenden Geschlechter in allen ruhmreichen Städten. Die Kölner Bürger wurden als nobiles burgenses Coloniensis tituliert. M. G, Köln im 13. Jahrhundert (2.5.2), S. 79–87, 123–140. Die nobiles sind in Nürnberg in zeitgenössischer deutscher Übersetzung die ›edlen‹ Geschlechter.

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les), die den dritten Stand bilden, nach der Art ihres Adels: (1.) Nachfahren von Familien aus höchstem Adel, die bei der Zerstörung Trojas, Karthagos und Roms vertrieben wurden, sich in Städten niederließen, dem bürgerlichen Leben anbequemten und im Laufe der Zeit den Bürgern und niedrigen Adligen zugerechnet wurden. Allerdings ist bei ihnen zugleich die Erinnerung an ihre Herkunft geschwunden. Fabri betritt damit das Feld der weit ausholenden Herkunftslegende, wie sie vor allem die Kölner Geschlechter p egten. (2.) Adlige aus der Umgebung, die aus verschiedenen Gründen, infolge von Kriegen, des Überdrusses an der nicht mehr ertragenen Einsamkeit auf den Burgen, der tröstlichen Geselligkeit in der Stadt wegen oder aus Mangel am Notwendigen, der geringeren Lebenshaltungskosten oder, bisweilen von den Söhnen gefolgt, der Gottesdienste und der medizinischen Versorgung im Alter wegen oder um der Verarmung auf den Burgen durch Geschäftstätigkeit in der Stadt zu entgehen in die Städte abgewandert sind, dort das Bürgerrecht erwarben, die bürgerlichen Lasten auf sich nahmen, sich den städtischen Rechten unterordneten und an den Privilegien, Ressourcen (auxilia) und Vorrechten der Bürger partizipierten. Trotz dieser bürgerlichen Einbindung verloren sie nicht die Privilegien des Landadels, sondern erfreuen sich kraft ihres Ansehens sowohl der bürgerlichen als auch der adligen Privilegien. Wenn sie jedoch im Laufe der Zeit durch Konnubium und in allen anderen Belangen den Bürgern gleich werden, verlieren sie die Zuneigung (affectus) des Landadels, werden von den Turnieren und anderen spezi schen Übungen des Adels gewissermaßen als Entartete ausgeschlossen oder vom Landadel nach Verabredung zumindest zurückgesetzt. (3.) Nachkommen aus ungleichen Ehen, die entweder von einem adligen Vater und einer nicht adligen Mutter oder umgekehrt abstammen. Durch weiteres adliges oder nichtadliges Konnubium wird die Adelsqualität erhöht oder gemindert.

(4.) Zugezogene einfache Leute von geringer Herkunft, aber mit Geldvermögen, die durch Konnubium und Verwandtschaft ins Patriziat aufgestiegen sind und sich durch das quali zierende Merkmal der Freigebigkeit (liberalitas) als geeignet und des Adels würdig erwiesen haben. Sie erstreben Adel (nobilitas) und Amtsgewalt (potestas), um sich an ihrem Reichtum erfreuen zu können. (5). Leute, die nicht von Adel und nicht reich sind, die in Ulm aber ihrer kriegerischen Leistungen oder anderer außerordentlicher Fähigkeiten wegen in die Gemeinschaft der Patrizier aufgenommen werden, vor allem wenn Konnubium mit patrizischen Familien hinzukommt. (6.) Leute niedriger Herkunft von außerhalb, die bestimmter Verdienste wegen vom Kaiser durch Adelsbriefe durch Gnadenerweis zu Ulmer Bürgern gemacht und gewaltsam in das Patriziat hineingedrängt werden. Der Kaiser kann einen Niedrigen (villanus vel vilis) wegen einer herausragenden Tüchtigkeit (probitas) oder Tugend (virtus) zu einem Adligen und Bürger machen und hat es getan. Diese Leute werden ungeachtet ihrer dunklen Herkunft akzeptiert, weil man vermutet, dass sie aufgrund irgendeiner Tüchtigkeit viel leisten und dem Gemeinwesen durch Reichtum oder durch Klugheit nützen können. Doch wenn die Ulmer hin und wieder neue Bürger in den dritten Stand aufnehmen und diesen vermehren, so doch nur Fremde und von außen Kommende, die der Kaiser und sie selbst für würdig erklärt haben, niemals aber einen einheimischen Zünftigen (zunftalis), selbst wenn er keiner Zunft mehr angehört, und wenn er noch so edel, klug und reich wäre, auch nicht einen andernorts geborenen und verbürgerten Sohn eines ansässigen Zünftigen. Sie würden mit allen Kräften dagegen arbeiten, falls der Kaiser die Aufnahme anordnen würde. Tatsächlich wurde nach der Kenntnis Fabris, der von einem Statut spricht, seit Beginn dieser Bestimmung und dem Statut nie ein Zünftiger in das Patriziat aufgenommen. Die Fremden jedoch können andernorts zünftig, ihre Vorfahren Handwerker

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oder Landleute gewesen sein, sie müssen als Bedingung für die Aufnahme in Ulm nur über die Mittel verfügen, um dem Stand gemäß leben zu können. Fabri nennt nicht weniger als sieben Gründe für dieses städtische Statut (statutum municipale). (1.) Er erläutert es historisch aus der Anfangszeit der Stadtverfassung (politia civitatis), als die Hervorragenden alle reine Adlige waren, die nach dem Willen des Kaisers nicht zu den Zünften gehören sollten. Mit der Zeit übertrafen einige aus den Zünften aber manche Adlige an Weisheit, Klugheit und Reichtum, weigerten sich nun, weiter den Zünften anzugehören, und versuchten, in den Stand der Adligen aufzusteigen, während diese den Aufstieg nicht zulassen wollten. In diesen Auseinandersetzungen wurde Fabri zufolge eine Regelung gegen den Aufstieg von Zünftigen getroffen und durch Dekret des Rats als allgemeines Gesetz angenommen. Andererseits spricht Fabri davon, dass Karl IV. die Zünfte zur Ordnung des Gemeinwesens eingeführt habe, was allenfalls keinWiderspruch wäre, wenn nunmehr Zünfte in Sinne von politischen Zünften verstanden würden. Ein solches Gesetz ist nicht überliefert, die Intention kommt jedoch in dem zur Zeit Karls IV. vereinbarten Ulmer Schwörbrief von 1345 insoweit zum Vorschein, als dieser, wie dann sein Nachfolger von 1397, Patriziat und die Zunftgemeinde separiert und den in die Defensive gedrängten Patriziern (Bürger) ihre herkömmlichen Rechte garantiert. (2.) Die Gründe für das Gesetz liegen ferner in der Bewahrung der Harmonie der Stadt. In der Regel ist jeder Mensch auf Wachstum und Aufstieg aus, strebt gemäß Aristoteles nach Ehren, da die Ehre das höchste der äußeren Güter ist.¹²⁷⁰ Eine schrankenlose Aufstiegsmöglichkeit würde jedoch die ›Harmonie der Stadt und des Regiments‹ stören. Wenn jeder, der dank Klugheit, Reichtum, guten Freunden und

Gönnern in die Position der Ersten der Stadtgesellschaft, in die Gemeinschaft (consortium) der durch Geburt Höheren aufstiege, bliebe – diese Problematik wurde zuvor schon im Straßburger Rat erörtert – in den unteren Ständen und in den Zünften kein Reicher und Kluger zurück, die doch auch dort notwendig sind. Andererseits werden die quali zierten Zünftigen, wenn sie nicht in die Gemeinschaft der Ersten aufgenommen werden, vom Rat gleichwohl nicht von würdigen Ämtern ausgeschlossen. Sie sind für das Gemeinwesen genauso von Nutzen wie jene vom Stand der Ersten. (3.) Ein weiterer Grund liegt in der Förderung und Vergrößerung des Gemeinwesens. Der Reiche und Kluge, der anderenorts residiert, kommt mit allen seinen Vermögenswerten nur, weil er weiß, dass er in Ulm die Stellung eines Magnaten und Ersten erlangen kann; und so nimmt das Gemeinwesen an Personenzahl und Reichtümern zu. Zu nichts von dem würde es kommen, wenn die Zünftigen unter die Zahl der Besten (optimati) und Ersten aufgenommen würden, denn die Zünftigen gehören genauso gut zur Zahl der Bürger wie die Ersten und nützen dem Gemeinwesen, wenn sie reich und klug sind. Dem Gemeinwesen wächst kein größerer Nutzen zu, wenn sie in den Stand der Ersten aufgenommen würden. Die weiteren Gründe gehen nicht nur von den Interessen der Stadt, sondern auch von den Standesinteressen der Patrizier aus. (4.) Wenn reiche Zünftige aufgenommen würden, wollte jeder, der durch sein Handwerk zu Reichtum gekommen oder sonstwie materiell gut ausgestattet ist, in den höchsten Rang aufsteigen und adlig werden. Insbesondere geht es darum, die Prätentionen unverständiger Neureicher abzuwehren, die keine Erfahrung im Gebrauch des Reichtums und der Ehren haben und unstandesgemäß und töricht leben, was dem Gemeinwesen zur Schande gereichte. Im Falle eines neureichen Fremden nützt immerhin sein

1270 Fabri bezieht sich auf die »Topik« (VI, 8), wonach alle Menschen nach Ehre verlangen, und auf die »Nikomachische Ethik« (IV, 7), welche die Ehre als das größte der äußeren Güter bezeichnet, aber auch ausführt, dass Macht und Reichtum wegen der Ehre begehrenswert seien, und wer sie besitze, ihretwegen geehrt werden wolle. Zum Ausdruck Aufgang der Ehren für sozialen Aufstieg in der Straßburger Diskussion über den Aufstieg ins Patriziat siehe 7.7.5.

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Reichtum der Stadt. Nähme man einen reichen Zünftigen auf, würde der ehrgeizige Arme niemals ruhen und, um aufzusteigen, auf jede Weise, mit Wucher und Betrügereien Reichtümer anzusammeln versuchen. Damit würde das auf Frieden und Tugend beruhende Wohl des Gemeinwesens beeinträchtigt. (5.) Wenn ein Handwerker (mechanicus), der heute Schuhe anfertigt und morgen in die die Gemeinschaft der Ersten aufgenommen und adelig würde, entstünde eine große Geringschätzung der Adligen und eine Verachtung der Bürger unter den Adligen. (6.) Die Bevorzugung der Fremden hat auch darin ihren Grund, dass die einheimischen Handwerker und Kau eute dank des Gemeinwesens der Ulmer und von den Gütern der Mitbürger und durch deren Mithilfe wohlhabend geworden sind und billigerweise nicht durch weitere Vergünstigungen belohnt werden, sondern vielmehr dem Gemeinwesen etwas zurückerstatten sollen, während Fremde ihren Reichtum andernorts ohne Hilfe der Stadt Ulm erworben haben und ihn nach Ulm bringen, dadurch das Gut des Gemeinwesens vermehren und dafür eine Belohnung verdienen. (7.) Die ›reinen Adligen‹ würden das bisher übliche und die Stadt in höchstem Maß ehrende Konnubium mit den Optimaten der Stadt abbrechen, wenn Handwerker zu deren Blutsverwandten werden könnten, und die aufgestiegenen Zünftigen und Handwerker von bestimmten, den Adel des Patriziats erweisenden Formen des gesellschaftlichen Verkehrs ausschließen. Die Fähigkeit, (fürstliche) Lehen zu empfangen, war einstmals wahres und exklusives Zeichen des Adels, doch wird missbräuchlich kein Unterschied der Personen mehr gemacht. Rückten Zünftige im Stand auf, so würden Lehensgüter nicht mehr nach alter Ordnung und alten Rechten im Kreis der Patrizier verbleiben, sondern im Erbgang an Zünftige gelangen. Bei einem gewöhnlichen Zünftigen oder Handwerker würden die Adligen nicht

mehr mitsiegeln. Die Optimaten der Stadt haben auf Reichstagen (dietae) ihren Platz unter den Adligen, was Handwerkern nicht zugestanden würde. Die Qualität des Standes der Ersten Bürger und Optimaten als wahrhaft adlige (veri nobiles) und edle Bürger (cives nobiles) erweist sich an folgenden zwölf Sachverhalten und Kriterien, die sich zu einem großen Teil aus dem Verkehr mit dem Landadel ergeben: (1) Patrizier gehen Ehen mit (Land-) Adligen ein, und wenn sie noch nicht adlig sind, werden sie es dadurch; (2) sie sind wahre Adlige, weil sie Adelssitze mit rechtem Titel (iusto titulo) besitzen; (3) sie erhalten seit alters her Lehnsgüter von Fürsten und Grafen; (4) wenn sie von alter Herkunft sind, dürfen sie Adlige duzen (tibizare) und werden von ihnen geduzt, was von Seiten des Adels ein Zeichen der Gleichachtung ist, obwohl die Adligen ehrwürdiger als die (edlen) Bürger sind¹²⁷¹; (5) sie üben das Jagdrecht aus; (6) die Abkömmlinge ihres Geschlechts dürfen den fürstlich autorisierten Turnieren, die ein strenges Sieb für die makellose Adelsqualität sind, beiwohnen; Patrizier, die an diesen Turnieren selbst nicht aktiv teilnehmen dürfen, kämpfen stattdessen mit Adligen bei Lanzenstechen (hastiludia); (7) Patrizier und ihre Frauen sind zu den hö schen Reigentänzen der Adligen zugelassen, wie diese andererseits deren Tänze besuchen; ein Plebeier wagt es nicht, an diesen Tänzen teilzunehmen, und sieht nur zu. Die Patrizier schließen ihrerseits aber Zünftige von ihren Reigentänzen aus, damit sie sich nicht die Verachtung des Adels zuziehen; nur Töchter von Zünftigen, die mit einem Patrizier verheiratet sind, werden zu den Tänzen zugelassen; (8) sie haben alte Wappen und Insignien, und Adlige siegeln zusammen mit ihnen Urkunden und anderes; (9) die Bürger (Patrizier) sind adlig wegen ihres alten Reichtums, dessentwegen man ihnen den Adel zuerteilt hat, und ziehen Nutzen aus dem alten Reichtum nicht nur hinsichtlich ihres bürger-

1271 Siehe aber den Streit über das Duzen zwischen dem Ravensburger Patrizier Hans Besserer und dem Ritter Bilgerin von Reischach, unten 7.7.2.

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lichen Adels, sondern auch für den Tugendadel (nobilitas virtualis); (10) Patrizier sind ferner adlig, wenn sie tugendhaft (virtuosus) sind; (11) sie sind adlig, wenn und solange sie sich nicht mit Handel und gewinnbringenden (erwerbswirtschaftlichen) Geschäften abgeben, denn der Kaiser verbietet dies im römischen Recht (Codex 4.63.3); sie dürfen auch nicht über Handwerksarbeit ›schwitzen‹, denn ein Handwerker kann, wie der Jurist Baldus sagt, nicht adlig sein; wenn ein Adliger aus Armut gezwungen ist, Geschäfte oder ein Handwerk zu treiben, hört er durch öffentliche Einschätzung (civiliter) bald auf, adelig zu sein, weil ihm als Grundlage althergebrachter Reichtum fehlt; (12) die Patrizier sind als adlig dadurch ausgewiesen, dass nach alter Gewohnheit – wie in Augsburg und Basel – nur einer der Ihren zum Vorsteher der Stadt und Befehlshaber gewählt wird. Wenn auch ein Zünftiger Bürgermeister sein und dazu gewählt werden könnte, so ist es doch seit Bestehen des Gemeinwesens noch nie geschehen. Wenn es um die Regierungsspitze geht, erlaubt sich Fabri den Hinweis auf die »Politik« des Aristoteles, wonach bedürftige Personen und solche von geringer Herkunft nicht zu regieren (principari) verstehen. Unter den patrizischen Familien unterscheidet Fabri solche, (1) die erloschen sind oder auf ihre Würde verzichtet haben und in den Stand der Zünftigen hinabgestiegen sind, (2) deren Geschlecht bis heute fortdauert und solche, (3) die sich neuerdings in den Stand eingefügt haben. Wer jedoch von einem früheren oder späteren Ursprung des Geschlechts, von jüngerem oder älterem Adel sprechen wollte, würde mehr Unwillen auf sich ziehen als Frieden schaffen. Wie scharf bereits bloße Zünftigkeit auch unabhängig von tatsächlicher Erwerbsarbeit Standesgrenzen markiert, zeigt sich am vierten Stand, dem zweiten der eigentlichen bürgerlichen Ordnung, bei dem das normative Kriterium der politischen Zünftigkeit absolut dominiert und alle eigentlich auf den höheren Stand hinweisenden sozialen und ökonomischen Merkmale wie fehlende beru iche Er-

werbsarbeit in Verbindung mit Alter und Prestige der Familie hinfällig erscheinen lässt. Der vierte Stand besteht aus ehrbaren und alten Familien. Es sind mehrere darunter, die ebenso edel wie die Patrizier oder sogar noch edler sind, ebenso klug, vermögend und vom Glück begünstigt. Sie mögen aber noch so edel, klug und reich sein und in der Gunst der Menschen stehen, es scheidet sie die Zünftigkeit von den Patriziern und deren Vorrechten. Mehrere Familien treiben weder Handel, noch üben sie ein Handwerk aus, sondern leben wie die Adligen von altem hinterlassenem Reichtum. Sie können zwar als Zünftige nicht Bürgermeister werden, doch werden sie zu allen öffentlichen Ehrenämtern genommen und können – da es sich um eine Zunftverfassung mit Zunftmehrheit in den Räten handelt – Zunftmeister, Ratsherren, Beisitzer im Stadtgericht (Richter), Stadtrechner und Steuerherren, Vögte der Grafschaften und Herrschaften des Ulmer Territoriums, gerichtliche Einunger, Fünfer (Geheimer Rat) und Bauherren der Stadt sein. Einige aus diesem Stand sind Kau eute, einige tätigen Geschäfte geringeren Zuschnitts. Der fünfte Stand der Geschäftsleute, d. h. der Fern- und Großkau eute (negotiatores, mercatores), ist ein bedeutender Stand und bildet als ordo quasi centralis den Mittelpunkt der ständischen Ordnung, weil mit ihm fast alle vorangehenden und folgenden Stände wechselseitig in Beziehung stehen und mit ihm Gemeinsames teilen. Zusammen mit den beiden höheren Ständen hat der fünfte Stand Anteil an edlem Charakter und Reichtum, mit den Handwerkern an Arbeit und existentiellen Nöten. Durch die wechselseitigen Beziehungen ist er auch Zentrum und Schnittstelle sozialer Mobilität. Wer aus dem Adel und den beiden höheren bürgerlichen Ständen beginnt, wirtschaftliche Schwäche zu zeigen, steigt bald in den fünften Stand hinab, um dort wieder zu Kräften zu kommen; wer aus den nachfolgenden Ständen wirtschaftlichen Erfolg hat, erhebt sich sofort in den höheren Stand, um noch größeren Erfolg zu erzielen. Auf diese Weise haben die Kauf-

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leute Personen höchsten und niedersten Standes als Genossen und lassen bisweilen die (patrizischen) Optimaten durch stille Beteiligungen an ihren geschäftlichen Gewinnmöglichkeiten teilnehmen. Früher wurden wahre Geschäftsleute, die sich dem Handel mit ›großen‹, d. h. im Wert bedeutenden Waren widmeten, noch in den dritten Stand der edlen Bürger aufgenommen, wenn sie nur als reich und klug galten. Als Städte, die durch die Kau eute bekannt wurden, nennt Fabri Alexandrien und Kairo in Ägypten, Damaskus, Beirut und Tripolis in Syrien, Famagusta und Nikosia auf Zypern, Konstantinopel und Capsali in Griechenland, Venedig und Genua, Genf und Lyon. Niemand trägt zum Ruf der Städte Köln, Frankfurt, Nürnberg, Augsburg und Ulm mehr bei als die Kau eute. Der ›Schweiß‹ der Kau eute hat die Stadt Ulm zu ihrer Höhe erhoben; ohne die Kau eute wäre die Stadt nicht zu einem solchen Reichtum, Namen und Ruf gelangt und könnte heute ohne deren eifrige Tätigkeit nicht dabei bestehen. Die Bürger der anderen Stände können nicht zum günstigen Zeitpunkt in andere Länder reisen, um Waren einzukaufen, deren jeder nach seinem Stand bedarf, noch haben sie den Unternehmungsgeist und die Erfahrung, die dazu erforderlich sind. Da Geistliche und Personen der Kirche nicht Handel treiben dürfen, dies den Adligen und Kriegern gleichfalls nicht zukommt, für die Optimaten nicht förderlich ist und die Handwerker und andere keine Zeit dafür haben, ist der Stand der Kau eute, von denen es in Ulm eine beachtliche Zahl gibt, für das Gemeinwesen notwendig. Für soziale Mobilität und die Karriere von Kau euten führt Fabri in seinem prosopogra schen Teil als ein Beispiel von mehreren die alte Familie Schleicher an, deren Vorfahren in dem Dorf Schwaighofen bei Ulm in der Landwirtschaft ›schwitzend‹ tätig waren, mit dem Hauswesen in die Stadt Ulm übersiedelten, eine städtische Betätigung übernahmen und sich zu einer reichen, ehrbaren und erfolgreichen Familie entwickelten, aus der in letzter Zeit nicht nur

erfolgreiche Kau eute, sondern auch herausragende Doctores und ein Stadtpfarrer und eologe hervorgingen. Viele der Kaufmannsfamilien, von denen Fabri ohne Anspruch auf Vollständigkeit 24 namentlich nennt, sind nach Fabris Einschätzung nicht weniger ehrbar und berühmt als die Familien des vierten Standes und stellen Zunftmeister und hohe städtische Amtsträger aller Art. Der sechste Stand der Handwerker (mechanici) umfasst die größte Zahl der Bürger und ist in einer Vielzahl verschiedener Gewerbe tätig. Fabri versagt es sich, angesichts der Fülle und der von jedermann an sich und seinem Haus zu bemerkenden Evidenz zu erläutern, wie dieser unentbehrliche, die Bevölkerung mit Häusern, Wohnungen, Gebrauchsgütern und Werkzeugen ausstattende Stand das Gemeinwesen erhält und erneuert. Dass die Produkte Ulmer Handwerker überall sehr begehrt und kostspielig sind, führt er auf äußerst strenge Meisterprüfungen zurück. In diesem Stand nden sich viele sehr alte Familien und viele, die durch Reichtum und Ehren erfolgreich sind. Schließlich ist der Stand der Handwerker ein Refugium für alle, denen andere Ambitionen wegen fehlender Mittel und Möglichkeiten versagt sind. Daraus ergibt sich neben der Notwendigkeit des Handwerkerstands seine allgemeine Bedeutung. Wer nämlich nicht Geistlicher werden kann, die Mittel für seine Bewaffnung für den Kriegsdienst nicht hat, nicht im Patrizierstatus verbleiben und nicht (mit Kapital) Handelsgeschäfte treiben kann, begibt sich in diesen Stand; wen kein Adel, kein Vermögen und keine Tätigkeit im Großhandel begünstigt, ndet dort Hilfe. Geistliche, denen es nach römischkanonischem Recht untersagt ist, Kriegsdienst zu leisten und Waffen zu tragen, Gemeinschaften in weltlichen Angelegenheiten zu leiten und Klein- oder Großhandel zu treiben, dürfen sich in der Tat einem ehrbaren Handwerk widmen, auch wenn sie nicht bedürftig sind.¹²⁷² Der siebte und letzte Stand der Einwohner (habitatores) besteht aus denen, die nicht

1272 Zur erlaubten erwerbswirtschaftlichen Betätigung von Klerikern siehe 5.2.1.3.

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das Bürgerrecht besitzen und nicht zur Körperschaft der Bürger gehören, sondern als Miteinwohner (cohabitantes, concomitativi) unter Vertragsbedingungen in der Stadt wohnen, von den üblichen Lasten der Bürger und der Zünfte frei sind und nur das leisten, was in ihren Verträgen enthalten ist.¹²⁷³ Ihre Zahl ist groß, und unter ihnen be nden sich Adlige, Reiche, Nichtadlige und Arme sowie die durch alte Statuten auf drei Familien beschränkten Juden. 7.1.5.3 Die Struktur der Nürnberger Gesellschaft Für den Ausgang des 15. Jahrhunderts lässt sich vorsichtig retrogressiv aus den seit 1560 nunmehr gestaffelten Kleiderordnungen und sozialgeschichtlicher Analyse eine genauer quali zierte fünfstu ge Sozialordnung Stadt Nürnberg entwerfen, die keine förmlichen Zünfte kennt. Dabei sind wirtschaftliche Tatbestände mit der politisch-sozialen Ordnung verknüpft, wie sie in der institutionellen Zugehörigkeit zum Kleinen Rat und zu den Genannten des Größeren Rates begründet ist.¹²⁷⁴ Die fünf Stände sind von oben nach unten: 1. Die alten stadtadeligen Geschlechter (Patriziat), die den Kleinen Rat besetzen. 2. Kaufherren des Großhandels die, sofern sie Genannte des Größeren Rates sind, ihr Geschäft mit eigenem Kapital, auf eigene Gefahr und Wagnis treiben, ihre Kaufhandlung von ihren Voreltern erworben haben, mit vornehmen Waren (Gold, Silber, Rauchwerk, Spezereien, Textilien) handeln oder als Verleger und Unternehmer die Produktion in einer Art der dezentralen Manufaktur leiten. – Akademiker in städtischen Diensten, insbesondere die Ratskonsulenten und der Ratsschreiber. 3. Kauf- und Handelsleute, die wohl Genannte sind, aber doch kleinere und weniger vornehme Handlungen betreiben und als Fak-

toren Aufträge fremder Firmen erledigen. – Die Handwerker des Kleinen Rats. 4. Handelsleute, die erst wenige Jahre selbständig oder Faktoren sind und nicht zu den Genannten gehören. – Krämer und Handwerker des Genanntenstandes und Kaufmannsdiener. 5. Gewöhnliche Krämer und Handwerker und alle übrigen. Konrad Celtis hatte in seiner »Norimberga« zunächst nur zwischen den Pariziern (patres) und dem Volk (plebs) unterschieden, ging aber in der Fassung von 1500 zu einer Dreigliederung mit Patriziern, Kau euten (mercatores) und handwerklichem Volk über. 7.1.5.4 Die Stände und die Ordnung der Gesellschaft durch die Obrigkeit in Straßburg Die Chronisten Straßburgs des 14. Jahrhunderts und die Verfassungsdokumente der Schwörbriefe nennen drei Stände: (1) die Ritter und Knechte (Edelknechte), die zusammenfassend auch die Edlen oder die Herren genannt werden, (2) die ehrbaren Burger , d.h. die höheren Kau eute und Rentiers, und (3) die von den Handwerken, d. h. die zünftigen und die zunächst noch nicht zünftig organisierten, sondern in einer topogra schen Constofel mit erfassten Handwerker. Mit dem Verfassungsumbruch von 1332/34 durch die Beteiligung der Handwerker am Stadtregiment wurden die nichtzünftigen Handwerker in das System der politischen Zünfte eingegliedert. Auf diese drei sozialen und verfassungsrechtlichen Gruppen wurden die Ratssitze sowie die Ämter des Ammeisters und der Stettmeister (Stadtmeister) verteilt. Mit dem Schwörbrief von 1482 wurden die drei Stände auf zwei reduziert, die Handwerker und die Consto er, wobei die Consto er als das Patriziat eine Binnengradation in das adlige Patriziat der alten Familien der Ritter und Knechte und in das bürgerlichem Patriziat der

1273 Zu den Ding- oder Paktbürgern siehe 2.1.1.4. 1274 Vgl. I. B, Reichsverfassung und reichsstädtische Gesellschaft, S. 333.

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nichthandwerklichen und nicht zünftigen Burger aufwiesen. Obrigkeitlich geordnet, festgelegt und sichtbar gemacht wurden die sozialen Rangstufen der Stadtgesellschaft durch Kleiderordnungen des ausgehenden 15. Jahrhunderts und der frühen Neuzeit, die sich aus den Aufwandsgesetzen zu einer mehrfach gestuften Ständeordnung fortentwickelten, aber zugleich immer noch die Beschränkung des Aufwands zum Ziel hatten. Nach dem Bekunden der Straßburger Obrigkeit sollte die dortige Ordnung der gesellschaftlichpolitischen Harmonie und dem beständigen guten Wohlstand des Gemeinwesens dienen, wurde aber notorisch missachtet. In Straßburg unterschied man 1628, um ein sehr viel späteres, hochdifferenziertes Beispiel zu geben, in einer Ordnung von sechs Ständen (Grade) nach Erwerbs- und Berufsständen, legte aber auf der untersten Stufe der niederen Handarbeiter die Rangfolge nach dem biologischen Geschlecht fest, berücksichtigte ferner die eine Rangstufe erhöhende Wahl zum Schöffenamt und fügte die alten regimentsfähigen Geschlechter und die Amtsträger des Stadtregiments in die obersten Stände ein. Im vierten und fünften Stand wurde zur Binnengradation noch eine untere und obere Staffel eingerichtet. Daraus ergab sich von unten nach oben folgende Ständeordnung: I. Weibliche niedere Handarbeiterinnen: Mägde, Aufwärterinnen, Näherinnen und andere ledige Lohnarbeiterinnen. – II. Männliche niedere Handarbeiter: Tagelöhner, Holzhauer, Sackträger, Karrenzieher, P asterer. – III. Höhere Arbeiter der eigentlichen Zünfte. 1. Gewöhnliche (gemeine) Handwerker. 2. Gewöhnlicher Bürger. 3. Städtische Diener und Knechte der untersten Stellen. – IV untere Staffel: Magister, Notare, vornehme Gastwirte, Musiker, die nicht zum Tanz aufspielen, Hebammen, besondere Kunsthandwerker. IV obere Staffel: Städtische Meister, Schreiber, Zöllner, Verwalter, Schaffner, untere Kanzleiangehörige, Prokuratoren ohne akademische Titel. – V untere Staffel: Bedeutende Kau eute, Gelehrte ohne

Titel eines Doktors oder Lizentiaten, die aber ihre Studien so weit getrieben haben, dass sie praktizieren und die Titel erwerben könnten. V obere Staffel: Alte Geschlechter, deren Vorfahren hundert und mehr Jahre im (beständigen) Regiment saßen, Kau eute, die von vornehmen Eltern des fünften und sechsten Standes abstammen, Kanzleiangehörige der oberen Stellen, Amtleute der Stadt, Doktoren, Lizentiaten und Professoren. – VI: Angehörige des (beständigen) Regiments, Beisitzer des Großen Rats, Adlige, Advokaten und Räte der Stadt.¹²⁷⁵ 7.1.5.5 Fazit In patrizisch-aristokratisch regierten Städten und in solchen mit starken Zünften oder mit einer Zunftverfassung gibt es im Einzelnen jeweils andere soziale Bewertungen, Rangstufen nach der Vornehmheit und Wirtschaftskraft einzelner Zünfte, doch ndet sich auch hier eine mehr oder weniger ausgeprägte soziale Barriere zwischen Handel und Handwerk. Die Grenzlinie zwischen Groß- und Kleinhandel, zwischen Handel und Handwerk ist freilich nicht in jedem Falle eindeutig zu ziehen, wie auch die Grenzen selbst keine hermetische Abschottung der Schichten und Stände bedeuten, sondern durchlässig sind und eine erhebliche vertikale Mobilität zulassen. Seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert und in der frühen Neuzeit werden mit den Kleiderordnungen obrigkeitlich immer kleinteiliger abgestufte Sozialordnungen errichtet. Der wirtschaftliche und soziale Aufstieg führt im modellhaften Verlauf über Generationen hinweg von der Schicht der abhängigen Gewerbetreibenden zur Schicht der selbständigen Handwerker und Krämer, weiter zu den Kau euten und Verlegern und von hier aus zum engeren Kreis der städtischen Kaufmannsaristokratie oder zum Patriziat und schließlich durch Belehnung, den Ankauf von Grundherrschaften und durch Konnubium zur Ver echtung mit der ritterlich-adligen Grundherrenschicht des umliegenden Landes, während die

1275 U. C, Die Verfassung und Verwaltung Straßburgs (4.1.–4.2), S. 245–247.

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alten städtischen Geschlechter ohnehin derartige Beziehungen seit alters unterhielten. Die Anlage von Handels- und Unternehmensgewinnen in Grund und Boden bedeutet ökonomisch eine Risikominderung und Besitzsicherung, wobei erheblich geringere Renditen als bei Kapitalinvestitionen in Handel und verlegerischen Unternehmungen in Kauf genommen werden, sozial aber bei entsprechend quali zierten Landgütern eine Feudalquali kation und die Verwirklichung eines rittermäßigadligen Lebensstils. In der Spätzeit geht damit immer häu ger ein Rückzug aus dem aktiven Geschäftsleben zugunsten eines reinen Rentierdaseins und eines Lebens in Muße einher. Aufstiegshemmende Momente in einzelnen Etappen sind Zunftschließung und Erscheinungen einer Zunftvererbung innerhalb kleiner Kreise sowie eine zunehmend striktere geburtsständische Abschließung des Patriziats und eine Distanzierung des Landadels vom städtischen Patriziat.

7.2 Schichten – Klassen – Stände – Sozialgruppen Die egalitäre Tendenz im städtischen Recht, die Bedeutung des Vermögens als eines dominanten sozialen Wertmaßstabes¹²⁷⁶ in geldund erwerbswirtschaftlich orientierten Stadtgesellschaften und das fortgeschrittene, bisweilen hochgradige arbeitsteilige Milieu der Stadtwirtschaft im Sinne der Berufsspezialisierung und der Arbeitszerlegung sind Kennzeichen, die Vergleiche zwischen der spätmittelalterlichen Stadtgesellschaft und moderneren Gesellschaftsformationen erlauben. Sie lassen die Anwendung des soziologischen Modells gesellschaftlicher Schichtung, das auch das Mittelalter kennt, auf die vorindustrielle Stadtgesellschaft bisweilen als sinnvoll und zweckmäßig er-

scheinen, obwohl es in spezi schem Sinne in der Sozialentwicklung seit dem 18./19. Jahrhundert verankert und semantisch begrifflich in den Jahrzehnten um die Mitte des 20. Jahrhunderts aus der pluralistischen Gesellschaftsstruktur in den hochindustrialisierten Ländern mit demokratischer Verfassung abgeleitet worden ist.¹²⁷⁷ Angesichts einer tiefgehenden Fragmentierung und Segmentierung der Stadtbevölkerung ist es kaum möglich, über den Rechtsbegriff des Bürgers hinaus in sozialem und ökonomischem Sinne von einem Stadtbürgertum zu sprechen, außer man will damit die Oberschichten bezeichnen. Mit vertikaler Schichtung und horizontalen Schichten, mit denen bereits im Mittelalter Gesellschaften modellhaft dargestellt werden, haben wir es nach einer gebräuchlichen soziologischen Begriffsbestimmung dann zu tun, »wenn sich im Statusaufbau der Mitglieder eines sozialen Gebildes deutliche Einschnitte erkennen lassen, d. h. die Personen in einem bestimmten Abschnitt des Statusaufbaus eine grundsätzlich höhere oder niedere Wertschätzung zugeordnet erhalten als die Angehörigen anderer Abschnitte«.¹²⁷⁸ Konstitutiv für den Begriff der Schichtung gegenüber der bloßen Sozialkategorie oder Merkmalsgruppe ist die Verknüpfung von objektiven Merkmalen, welche die Lebenslage der Schichtzugehörigen bestimmen, mit skalierten Fremd- und Selbstbewertungen, die sie im Vergleich mit Merkmalen anderer Gruppen als gleichwertig, über- oder untergeordnet erscheinen lassen. Die abgrenzbaren Schichten selbst können vielfältige Binnengradationen aufweisen. In dieser formalen De nition stellt der Begriff »Schichtung« eine soziologische Universalie dar, und es ist deshalb zweifelhaft, ob die Einsicht in die »Schichtung« und die einzelnen »Schichten«, wie Erich Maschke meint, tatsächlich am nächsten an die soziale Wirklichkeit der

1276 E. M, Mittelschichten, S. 8; ., Die Unterschichten, S. 5. 1277 E. M, Die Schichtung der mittelalterlichen Stadtbevölkerung. Die materialreichen Schichtungsanalysen von M sind grundlegend. Zum Problem der Sozialschichtung hinsichtlich der mittelalterlichen Gesellschaft vgl. auch J. E, M. M und H. W sowie H. R, Höxter, S. 453 ff. 1278 K. M. B, Art. »Schichtung«, in: Das Fischer Lexikon, Soziologie, hg. von R. K, Frankfurt a.M. 1967, S. 259.

Schichten – Klassen – Stände – Sozialgruppen

Stadtgesellschaft heranführt.¹²⁷⁹ Werden nämlich einzelne Lagemerkmale spezi ziert, so werden sowohl ständische Elemente als auch Ansätze einer Klassenbildung sichtbar. Der Begriff »Schichtung« avanciert damit zum abstrakten Oberbegriff für vertikal gegliederte Sozialordnungen, unter den »Stände« und »Klassen« als Spezi kationen subsumiert werden können. Ist einer Gesellschaft wie hier der mittelalterlichen Stadtgesellschaft in ihrer Totalität kein dominant ständischer Charakter oder kein dominanter Klassencharakter zuzuschreiben, so erscheint die Verwendung des Schichtbegriffs als zweckmäßig, weil er als höhere Abstraktion die vorndliche soziale Komplexität besser aufnehmen kann, er charakterisiert die Gesellschaft jedoch kaum durch eine dritte soziale Qualität und Realität. Auch der soziologische Klassenbegriff ist nicht zeitgenössisch, sondern er fußt auf der Terminologie der Physiokraten des 18. Jahrhunderts. Sachlich geht er auf ökonomische und soziale Verhältnisse des industriellen Zeitalters zurück, als sich in den technisch und wirtschaftlich fortgeschrittenen Gesellschaften der Niederlande und Englands homogene Klassen und konsistente Klassenlagen herauszubilden begannen. Dennoch erscheint es sinnvoll, den Klassenbegriff, ohne ihn de nitorisch zu überladen und zu überfordern, als begrenztes analytisches Konzept und Instrument und nicht im Sinne einer polemischen Gesamtdeutung der Gesellschaft auch auf vorindustrielle Gesellschaften anzuwenden, wenn es um die Frage geht, inwieweit wirtschaftliche Sachverhalte, Unterschiede an Besitz und Vermögen und die Stellung des Menschen im Produktionsprozess soziale Schichtungen begründen. Der Soziologe Max Weber will da von einer »Klasse« sprechen, »wo 1. einer Mehrzahl von Menschen eine spezi sche ursächliche Komponente ihrer Lebenschancen gemeinsam ist, soweit 2. diese Komponente lediglich durch öko-

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nomischen Güterbesitz und Erwerbsinteressen, und zwar 3. unter den Bedingungen des (Güterund Arbeits-) Marktes dargestellt wird (Klassenlage)«.¹²⁸⁰ Für Karl Marx sind bekanntlich Eigentum oder Nichteigentum von Produktionsmitteln entscheidende Kriterien für eine durch den Gegensatz von Kapital und Arbeit zweigeteilte Klassengesellschaft, wobei sich eine Dreiteilung durch die Einkommensarten Arbeitslohn, Pro t und Grundrente ergibt. Die »Stände« gehören für Max Weber »zu den Hemmnissen einer konsequenten Durchführung des nackten Marktprinzips«, sie stehen den sozialen »Prätentionen des nackten Besitzes« entgegen, sind aber kein alternativer Gegensatz zu den »Klassen«, denn »die Möglichkeiten ständischer Lebensführung p egen ökonomisch mitbedingt zu sein«.¹²⁸¹ Die Stände sind nicht durch eine rein ökonomische Klassenlage, sondern durch eine spezi sche soziale Einschätzung der »Ehre« bedingt, die sich an gemeinsame Merkmale vieler knüpft. Die Ehre ndet ihren maßgeblichen inhaltlichen Niederschlag in einer spezi schen, durch Konventionen geprägten, auf Exklusivität und Distanz beruhenden Lebensführung, mit der eine Beschränkung des gesellschaftlichen Verkehrs und eine Beschränkung des Konnubiums bis hin zur völligen endogenen Abschließung, die Bildung »geschlossener Heiratskreise sozialer Inzucht« (Heinrich Mitgau) verbunden sind. Der Einzelne hat im Mittelalter vor allem an der kollektiven und objektiven Ehre seines Standes teil, sodass zunächst eine Vermutung der Ehrbarkeit für ihn spricht, die erst durch individuelle moralische Unzulänglichkeit und ehrenrühriges oder ehrloses Verhalten widerlegt wird. Die Standesehre gibt die jeweiligen Regeln und Verhaltensmaßstäbe vor, verlangt Verantwortungsbewusstsein und vermittelt dem Einzelnen seine persönliche Würde. Im Rahmen dieser Standesehre oder der kollektiven Ehre einer Sozialgruppe wie der Handwerkerzünfte,

1279 E. M, Die Schichtung der mittelalterlichen Stadtbevölkerung, S. 166. 1280 M. W, Wirtschaft und Gesellschaft (1.2), S. 531. 1281 Ebd., S. 537, 534–540.

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Sozialstruktur

mit ihr verwoben, aber auch schicksalhaft gesondert, nden sich die Familienehre und die höchst persönliche Ehre (glimpf ), in der der Einzelne durch Angriffe getroffen wird. Beide zusammen machen die Ehre aus, die sowohl beansprucht als auch zuerkannt, bestritten als auch anerkannt wird, und die in beiden Formen notfalls unter großen, auch irrational erscheinenden Opfern zu bewahren ist.¹²⁸² Ehrloses Verhalten missachtet die Standesregeln und allgemeine gesellschaftliche Normen und Konventionen, setzt die Ehre des Standes oder der Familie und des Einzelnen herab und führt zu interner oder öffentlicher Degradation bis hin zum Ausschluss aus dem Stand. Der beliebte und häu g eher als soziologische Metapher zitierte Begriff des »symbolischen Kapitals der Ehre« (Pierre Bourdieu) – als Form der Ressource »sozialen Kapitals« und »kulturellen Kapitals« – ist angesichts der überragenden Bedeutung, aber wesensmäßigen Undeutlichkeit und Vieldeutigkeit der Ehrvorstellungen empirisch schwer einlösbar und für analytische Zwecke nur bedingt geeignet; er verweist aber auf die grundlegende Bedeutung der Ehre in der Gesellschaft.¹²⁸³ »Symbolisches Kapital« kommt durch Teilhabe an einem nutzbaren sozialen Netz durch gesellschaftliche Anerkennung auf der Grundlage gemeinsamer kultureller Muster zustande und wirkt vermehrbar als soziales Prestige, guter Ruf und Glaube, Reputation und Renommee oder als spezi sches Movens des Adels als Ruhm (gloria).

Mit der ständischen Gliederung geht »eine Monopolisierung ideeller und materieller Güter oder Chancen« einher, die dem Prinzip der freien Marktkonkurrenz entgegensteht.¹²⁸⁴ Die besonders privilegierten Stände neigen zur monopolistischen Aneignung politischer Macht, institutionell gesprochen von Herrschaft, oder beanspruchen Mitherrschaft.¹²⁸⁵ Von daher ergibt sich ein politisch-sozialer und verfassungsgeschichtlicher Ständebegriff. In erklärtermaßen zu starker Vereinfachung sieht Max Weber den Unterschied von Klassen und Ständen darin begründet, dass sich Klassen »nach der Beziehung zur Produktion und zum Erwerb der Güter, Stände nach den Prinzipien ihres Güterkonsums in Gestalt spezi scher Arten von Lebensführung« gliedern.¹²⁸⁶ Der Historiker muss sich bei allen diesen soziologischen Kategorisierungen, um ihren methodologischen Sinn und Zweck nicht zu verfehlen, bewusst bleiben, dass es sich um Annäherungen an komplexe gesellschaftliche Formationen handelt, die von isolierten und selektiven analytischen Sichtweisen her unternommen werden, nicht schon um die Darstellung ihrer sozialgeschichtlichen Realität. Das wird vor allem aus der Bemerkung Webers deutlich, dass »die ›Klassen‹ in der ›Wirtschaftsordnung‹, die ›Stände‹ in der ›sozialen Ordnung‹, also in der Sphäre der Verteilung der ›Ehre‹, ihre eigentliche Heimat haben« und zusammen mit der

1282 G. S, Soziologie, S. 405 f.; K. S-M, Gewalt und Ehre im spätmittelalterlichen Handwerk; K. S/G. S (Hg.), Verletzte Ehre. 1283 P. B, Entwurf einer eorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1976, S. 352; M. D, Die Ehre als ema der Stadtgeschichte; F. Z, Art. »Ehre, Reputation«, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 1–63; E. I, Norms and values (2.5.3.1), S. 185, 200‒203, 210 f. 1284 M. W, Wirtschaft und Gesellschaft (1.2), S. 537. 1285 Ebd., S. 180. 1286 Ebd., S. 538. Vgl. dazu – im Anschluss an Max Weber – P. B, Klassenstellung und Klassenlagen, in: ., Zur Soziologie der symbolischen Formen, S. 59 f.: »Stände sind weniger durch ein ›Haben‹ als durch ein ›Sein‹ gekennzeichnet, das aus ihrem ›Haben‹ nicht direkt ableitbar ist. Weniger durch den puren einfachen Besitz geprägt als vielmehr durch eine bestimmte Art, diese Güter zu verwenden, nämlich das Streben nach Distinktion, verstehen es die Stände, eine ob ihrer Seltenheit und Gesuchtheit unnachahmliche Form des Konsums zu er nden und somit schließlich noch dem gemeinsten Konsumartikel die Aura der Erlesenheit zu verleihen.« Jenseits des »weniger« oder »vielmehr« bauen im Mittelalter Stand und Ehre auf der Qualität der spezi schen materiellen Lebensgrundlage und dem spezi schen Erwerb der Subsistenzmittel, der darauf gegründeten conditio (Wesen, Eigenschaft) auf.

Schichten – Klassen – Stände – Sozialgruppen

Rechtsordnung ein wechselseitiges Beziehungsge echt bilden.¹²⁸⁷ Der Begriff Stand (status, ordo) ist für das Mittelalter wie für das gesamte Alteuropa zeitgenössisch und bildet im Gebrauch häu g mit den Begriffen Würde (dignitas), Amt (officium), Ehre (honor) sowie Wesen und Eigenschaft (conditio) im Sinne von Lebensgrundlage und Existenzform ein Begriffsfeld. Damit wird Stand über die einfachen funktionalen Ordovorstellungen hinaus als Position innerhalb einer vertikalen, hierarchischen Rangordnung auf der Grundlage einer bestimmten Art des Subsistenzerwerbs, der damit verbundenen Lebenslage und Lebensführung sowie der daraus resultierenden Standesehre, ferner durch das innerhalb der politischen Ordnung ausgeübte Amt, das mit einer entsprechenden Würde verbunden ist, weiter umschrieben. Amtsfähigkeit hat eine bestimmte Lebensgrundlage und Existenzform sowie eine bestimmte Ehre zur Voraussetzung. In der traditionalen herrenständischen Ordnung kommt dem Handarbeiter aufgrund seiner Subsistenzweise keine ständische Ehre zu, die ihn zu Herrschaft und politischem Amt befähigte; er ist lediglich ein sozialer Stand und von amtsrechtlicher Dignität ausgeschlossen. In der Stadt kann jedoch der Handwerker aufgrund der von ihm prätendierten und vielfach durchgesetzten Ehrbarkeit und Ehre der Zünfte im Zusammenhang mit Zunftkämpfen das Herrschaftsmonopol der Geschlechter brechen, zu einem politisch-sozialen Stand aufsteigen und in den städtischen Rat gelangen. Er bleibt aber in aristokratisch verfassten Städten, in denen diese zunftbürgerliche Ehrbarkeit nicht als eigentliche ständische Ehre anerkannt wird, zurückgesetzt, wie andererseits der Patrizier vielfach vom adligen Domkapitel ausgeschlossen ist. Eine abgestufte Amtsfähigkeit innerhalb der Ämterhierarchie des Verfassungsgefüges steht in engem Zusammenhang mit der sozialen Rangordnung oder ist ein Be-

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standteil von ihr, deshalb ist der Standesbegriff in der Entfaltung seiner Komplexität ein politisch-sozialer Begriff. Die ständische Gliederung beruht auf (prätendiertem) Herkommen, das privilegial verfestigt sein kann. Einen Stand bildet die (patrizische) Oberund Führungsschicht der Stadt mit folgenden Merkmalen: – Die Stellung beruht auf Herkommen. – Objektive Standesehre und beanspruchter Ehrenvorrang. – Alter und Vornehmheit der Familie, die teilweise in Familienbüchern dokumentiert werden. – Konnubium mit Standesgleichen oder mit dem Landadel. – Reichtum als Voraussetzung für eine adäquate Lebensführung und Amtsrepräsentation sowie für Sozialstiftungen. – Lebensunterhalt (Nahrung) aus Kapitalvermögen und Landbesitz (Zinse, Grundund Kapitalrenten) und Großhandel (eventuell mit dem Monopol des Gewandschnitts), Münzproduktion und Edelmetallhandel, Montanunternehmungen, Verlag und Finanzgeschäften. – Quali zierte oder adlige Lebensführung mit entsprechenden Konventionen, quali ziertem Konsum und repräsentativem Besitz: Wohnlage, Bauform der Gebäude, Ausmalung repräsentativer Räume durch Fresken mit ritterlich-hö scher ematik, Wohnungsinventar¹²⁸⁸ (Silbergeschirr, Mobiliar), Speisen (Braten statt üblicherweise Gekochtes als ›Herrenspeise‹, Wildbret) und Gewürzkonsum, Kleidungs- und Festaufwand, Hauskapellen, Altarstiftungen, Totenschilde mit Wappen und inschriftlichen Daten zum Verstorbenen und Grablegern in Kirchen mit Epitaphen, Reisealtäre, Wappen- und Siegelführung, Pferde, Waffen, Bücher, Musikinstrumente und Ähnliches.

1287 M. W, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 539. 1288 Siehe jedoch die etwas vage Bemerkung bei S. S, Bürgerliches Hausgerät des Hoch- und Spätmittelalters, S. 547: »Im Gegensatz zum Bild der traditionellen Forschung ist davon auszugehen, dass der Patrizier alltäglich in seiner ständig genutzten materiellen Kultur vom einfachsten Bürger kaum unterschieden war.«

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Sozialstruktur

– Wahrung gesellschaftlicher Distanz durch exklusive Trinkstuben und Tanzveranstaltungen. – Bekleidung angesehener Ratsämter und politischer Ein uss. Der soziale Aufstieg in die Oberschicht erfolgte durch quali zierte Berufsausübung (Großhandel), Reichtum und vor allem auch duch Konnubium mit Familien der höheren Schicht. Reichtum und Geldvermögen stellten zwar einen »zentralen bürgerlichen Lebenswert« dar, doch konnte man im Spätmittelalter keineswegs »alles mit Geld erwerben«.¹²⁸⁹ Reichtum war meist Voraussetzung für sozialen Aufstieg, er konnte ihn aber nicht überall erzwingen und insbesondere dann nicht, wenn (geburts-) ständisches Denken der Etablierten die Prätention des reinen Besitzes zurückwies oder ignorierte. Während in Städten der Hanse wirtschaftliche Aufsteiger als homines novi ohne allzu große Schwierigkeiten in die ratsfähigen Kaufmannskreise aufgenommen wurden, war in Nürnberg wie in anderen Städten außerordentlicher Reichtum für die Aufnahme in das ratsfähige Patriziat zwar bedeutsam, daneben spielten aber ständische, wirtschaftliche und politische Quali kationen eine wichtige Rolle. Wer für eine Kooptation infrage kam, musste über den Reichtum hinaus Verdienste um die Stadt, um Kaiser und Reich über Generationen hinweg, eine politisch distanzierte Haltung gegenüber den Zollern und anderen fränkischen Territorialherren, die Bekleidung öffentlicher Ämter (Genanntenfunktion), Sozialstiftungen, Geschäftsverbindungen – eventuell Dauerbesitz einer eigenen Kammer im venezianischen Fondaco dei Tedeschi – Konnubium mit ratsfähigen Familien, ferner Pilgerreisen mit dabei erworbener Ritterwürde, Reisen und Würden fremder Herrschaften vorweisen können. Waren derartige Voraussetzungen gegeben, so erfolgte der Aufstieg immer noch nicht zwangsläu g; es

blieb ein »nicht abschätzbares Imponderabile entscheidend«.¹²⁹⁰ Gegenüber einer ständisch orientierten Oberschicht erscheint die kleinhändlerische und handwerkliche Mittelschicht wesentlich durch ihre »Klassenlage« bestimmt. Die Größe des Vermögens ist hier – wie bei den neureichen Kau euten – dominanter Wertmaßstab, sie entscheidet weitgehend über den Zugang zu zünftigen Ämtern und Ratsämtern. Als Berufsstand entwickelten das Handwerk und einzelne Handwerke eine eigene objektive Berufsund Arbeitsehre, die jedoch stark auf die zunftgerechte Arbeitsleistung und Erfüllung des Brauchtums, die Abgrenzung gegenüber so genannten Unehrlichen nach Geburt und Beruf sowie – durch Verbotsnormen – auf die Sozialisation und subjektiv-moralische Lebensführung der Zunftgenossen abzielt. Die Erhöhung des Kapitalaufwands für Betriebsanlagen infolge technologischer Innovationen, für Betriebskosten und Rohstoffe wie etwa im Bergbau und im Metall- und Textilbereich sowie die Konzentration von Kapitalien und Monopolbildungen ließen seit dem 15. Jahrhundert Klassenstrukturen im marxistischen Sinne deutlicher hervortreten, indem sie den Gegensatz von Kapital und Arbeit, das Abhängigkeitsverhältnis zwischen kaufmännischen und handwerklichen Verlegern und ärmeren Handwerksmeistern, in handwerklichen Betrieben bei höherem Investitions- und Produktionsaufwand zwischen den Handwerksmeistern als Besitzern der Produktionsmittel und den lohnabhängigen Gesellen oder gar unselbständig bleibenden Meistern verschärften. Hinzu kommt der Gegensatz zwischen den Eignern von Gewerken und Besitzern von Kuxen und auf der anderen Seite den Bergknappen, zwischen den Anteilseignern der Siedergenossenschaften und den Siederknechten. Sowohl »Schichten« als auch »Stände« sind sowohl mittelalterliche als auch moderne

1289 H. H. H, Nobiles Norimbergenses (7.7), S. 74. Die gegenteilige Zuspitzung bei R. S, Über sozialen Wandel im Mittelalter, in: Saeculum 26 (1975), S. 210. 1290 H. H. H, Nobiles Norimbergenses (7.7), S. 74.

Schichten – Klassen – Stände – Sozialgruppen

soziologisch-analytische und sozialgeschichtliche Gesellschaftskonzepte. Zusammen mit dem analytischen Begriff der »Klasse« bieten sie die Möglichkeit, jeweils perspektivisch und in Teilaspekten die bereits außerordentlich komplexe und differenzierte gesellschaftliche Wirklichkeit der mittelalterlichen Städte zu erfassen.¹²⁹¹ Hinzu kommen der moderne Oberbegriff und das Konzept der mehr oder weniger organisierten, handlungsfähigen, sich selbstvergewissernden und sich von andern abgrenzenden, durch gemeinsame Interessen und Vorstellungen, Interaktion und kommunikative Wechselbeziehungen gekennzeichneten und ver ochtenen Sozialgruppe.¹²⁹² Im Hinblick auf Interaktion und Handlungsfähigkeit rekrutiert sich aus der »Führungsschicht« die enger konturierte »Führungsgruppe« mit einer Reihe übereinstimmender sozialer und rechtlicher Merkmale. Mittelalterlich ist auch das Konzept der herausgehobenen »Elite«. Es sind in der Sollensordnung die Ehrbarsten, Besten und Weisesten, denen die Geschicke der Stadt anvertraut sind und deren herausgehobene Stellung als Meliores oder Optimaten in der Anrede als der ehrbare, fürsichtige, d.h. vorausschauend kluge, und weise Rat zum Ausdruck gebracht wird. Die Ratswahlordnungen verp ichten die Wähler eidlich, die Ehrbarsten sowie die für die Bewältigung der kommunalen Aufgaben Besten und Geeignetsten zu wählen. Aber auch in der großen Bürgerversammlung sollen die Ehrbaren und Weisen (discreti) zu Wort kommen und Meinungsführer sein. In patrizisch regierten Städten bilden die Ratsgeschlechter eine relativ homoge-

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ne Elite; in den Städten mit Zunftverfassung rekrutiert sich die Elite auch bei Angleichung der Vermögensverhältnisse und politischen Interessen aus verschiedenen Schichten und Gruppen. Gegen eine allgemeine Verwendung des Begriffs »Elite« anstelle von Führungsschicht und Führungsgruppe spricht, dass er im Vorgriff eine positive Bewertung beinhaltet und suggeriert, diese jedoch auf dem Hintergrund einer plutokratischen oder gewohnheitsrechtlichen Vorzugsstellung im Einzelfall erst zu erweisen ist. Es ist zu fragen, inwieweit wirtschaftliche, soziale, kulturell-intellektuelle und politische Eliten zusammenfallen. Angesichts der ursprünglichen Verbindung von Reichtum und Ratswürde ist zu fragen, wieweit wirtschaftliche Eliten und politische im Sinne einer wirklichen Meritokratie oder nur als politische Klasse eine Einheit bilden. Eine wirtschaftliche Elite erfüllt eine Leitfunktion und wirkt in die Gesellschaft hinein, eine politische Machtelite soll sich durch Gesetzesbefolgung vorbildlich hervortun, konstituiert sich aber eher durch gesellschaftliche Segregation, wie dies in frühneuzeitlichen Ratsordnungen empfohlen wird¹²⁹³, soll andererseits in der spätmittelalterlichen soziologischen eorie auf Aristoteles fußend hauptsächlich dem Mittelstand entnommen werden.¹²⁹⁴ Es ist zu beobachten, wie aufgrund wirtschaftlicher Dynamik neue wirtschaftliche Eliten mit der ständisch verfestigten Führungsschicht um Sozialprestige und politische Partizipation streiten, und der Erscheinung nachzugehen, dass die alte, ständisch verfestigte Führungsschicht sich – wie in Köln im 14. Jahrhundert und in Nürn-

1291 Es ist nicht einsichtig, weshalb gerade der in ein explikatives mittelalterliches Wortfeld eingebettete Ständebegriff, der gut zu de nierende und phänomenologisch zu entfaltende Zentralbegriff des Mittelalters und des Ancien Régime, zur Beschreibung gesellschaftlicher Wirklichkeiten völlig unbrauchbar und zu eliminieren sein sollte. So aber G. F, Trinkstuben und Bruderschaften, in: . u.a. (Hg.), Geschlechtergesellschaften (8.2–8.4), S. 13, unter Berufung auf M. M, Probleme der Strati kation, S. 13–43. Dieses Verdikt steht im Widerspruch zu zeitgenössischen Vorstellungen, modernen soziologischen sowie sozial- und rechtsgeschichtlichen Forschungen, die gerade die mit der Art des Subsistenzerwerbs oder mit der familiären Herkunft und Geburt verbundene »Ehre« als Movens des gesellschaftlichen Wettbewerbs und gesellschaftlicher Kon ikte herausarbeiten. Mitterauer gibt zwar beliebige Beispiele für die Subsumtion von Personen, Berufen und Herrschaftsträgern unter den Begriff des »Standes«, geht aber auf die bereits im Mittelalter vorhandenen soziologischen Konzeptionen von »Stand« nicht ein. M, S. 18 f. 1292 Siehe Kap. 8. 1293 E. I, Ratsliteratur und städtische Ratsordnungen (4.1–4.3), S. 266, 436 f. 1294 Ebd., S. 251–305.

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berg seit dem 16. Jahrhundert – aus dem aktiven Wirtschaftsleben zurückzieht, keine wirtschaftliche Führungsposition mehr einnimmt, deshalb wie in Köln politisch zurückgedrängt wird oder wie in Nürnberg in ihrer fortdauernden Regierung administrativ geschult, aber wirtschaftlich nur noch bedingt kompetent, das Sensorium für die ökonomischen Belange und Prioritäten in der Stadt verliert.¹²⁹⁵ 7.2.1 Soziale Schichten Die Zurechnung einzelner Personen und Gruppen zu sozialen Schichten und deren rangmäßige Einteilung in das grobe Ordnungsschema von Ober-, Mittel- und Unterschicht bedeutet lediglich einen schon im Mittelalter geläugen Versuch, einen Orientierungsrahmen für den Aufbau der vielgestaltigen Stadtgesellschaft zu nden. Einzelne Schichtabgrenzungen und Rangstufungen sind selbstverständlich nicht absolut festlegbar und variieren nach Städten. Einzelne wichtige Lagemerkmale wie Vermögensgröße, gesellschaftliches Ansehen und politischer Ein uss standen keineswegs regelmäßig in einem proportionalen Verhältnis zueinander. So lockerte sich in Nürnberg seit der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts die enge Beziehung zwischen Reichtum und Ratswürde.¹²⁹⁶ Es lassen sich neben sehr reichen Familien auch fast vermögenslose Patrizier im Rat feststellen. Möglicherweise deutet dieser Sachverhalt auf nachlassenden unternehmerischen Elan und auf nachlassende wirtschaftliche Tüchtigkeit im Patriziat hin. Die 1521 statuierte förmliche geburtsständische Abschließung des Patriziats hatte zur Folge, dass nunmehr grundsätzlich auch Familien in Patriziat und Rat verblieben, die zur völligen wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit herabgesunken waren und große Mühe hatten, die Repräsentationskosten der Ratswürde aufzubringen. Auch in Augsburg gab es Angehörige der patrizischen Oberschicht, die das Vermögens-

1295 1296 1297 1298

soll nicht mehr erfüllten, aber in Rat und Politik eine angesehene Stellung innehatten, während mancher neureiche Kaufmann ein Spitzenvermögen besaß, aber nur ein nachgeordnetes gesellschaftliches Ansehen genoss.¹²⁹⁷ Andererseits gab es nicht nur reiche Leute, die sich politische Ambitionen versagten oder sich den Verp ichtungen des politischen Gemeindelebens weitgehend entzogen, sondern es entstand »jener vornehmlich aus Oberschwaben bekannte berufsasketische Typ (J[akob] Fugger), dessen Machtbedürfnis im Wirtschaftsleben Genüge ndet, der jedoch ohne Ehrgeiz auf Amt und Würden einen politischen Vertrauensfaktor ersten Ranges darstellt«.¹²⁹⁸ Später mehrten sich die Fälle, in denen erfolgreiche Kau eute ihr Verbleiben in der Stadt oder ihre Wiedereinbürgerung nach vorausgegangenem Abzug von der Entbindung von jeglicher Amtsverp ichtung abhängig machten. Alle derartigen Fälle dürften jedoch Ausnahmen darstellen. Der Stellenwert des Merkmals Ratsfähigkeit hängt grundsätzlich davon ab, ob es sich um eine vom Patriziat oder von einer Kau eutearistokratie beherrschte Stadt oder um eine Stadt mit Zunftverfassung handelte. Grob gesprochen nden sich mittlere und kleinere Vermögen in der Mittelschicht. Die Unterschicht ist im Wesentlichen vermögenslos. Abgeschlossene spezi sche Berufsausbildung, beru iche Selbständigkeit, in Zünften organisierte Berufstätigkeit und Vollbürgerrecht grenzen die Mittelschicht gegenüber der Unterschicht ab, die den wirtschaftlich unselbständigen und schwächsten Teil der Bevölkerung umfasst. Von Ausnahmen abgesehen ist die Unterschicht »unterbürgerlich«, »unzünftig« und ohne nennenswertes Vermögen. Ihr gehören die städtische Armut und die – teilweise stigmatisierten – Randgruppen zu. Der folgende Gliederungsversuch enthält notwendigerweise willkürliche Annahmen. I Oberschicht 1. Führungs- und Oberschicht

Siehe 4.3.6. W. . S, Reichtum und Ratswürde, S. 12; W. S, Mittelschichten, S. 138. F. B, Versuch einer Bestimmung der Mittelschicht, S. 47. H. K, Landschaftlicher Aufbau und Verschiebungen des Großhandels (9.1), S. 25.

Schichten – Klassen – Stände – Sozialgruppen

– Patriziat (Ritter, Bürgerliche) oder Kaufleutearistokratie: Rentenbezieher, Großund Fernkau eute, Montanunternehmer, Verleger, Finanziers, Münzerhausgenossen, Salzsiedergenossen 2. Nachgeordnete Oberschicht und Ehrbarkeit im weiteren Sinne – Nichtpatrizische Großkau eute aus jüngeren Kaufmannsfamilien – Besonders quali zierte Handwerker (Künstler) mit hohem Kapitaleinsatz und umfangreicher Handelstätigkeit (Goldschmiede, Juweliere, Kürschner) – Stadtjuristen [Stadtschreiber, freie Berufe] II Mittelschicht 1. Obere Mittelschicht – Mittlere Ränge der Kaufmannschaft – Nicht mehr im Handwerklichen verankerte Unternehmer, Verleger – Handwerker mit starker Handelskomponente – Stadtschreiber, Notare – Freie Berufe: Advokaten, Apotheker, Ärzte, Künstler 2. Mittelschicht – Kleine Kau eute, Krämer – Selbständige Handwerksmeister – Mittlere städtische Bedienstete 3. Untere Mittelschicht – Unselbständige Handwerksmeister (Stückwerker) – Handwerksgesellen und Handelsdiener III Unterschicht – Lebensmittelkleinkrämer (Höker, Merzler, Grempler), Hausierer – Untere städtische Bedienstete – Dienstboten – Tagelöhner, Handels- und Verkehrsarbeiter, Matrosen – Alleinstehende Frauen ohne Vermögen – Hausarme – (Berufs-)Bettler

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– Chronisch Arbeitsunfähige, Kranke – ›Unehrliche‹ (verfemte) Berufe und andere Randgruppen als gesonderte Sozialkategorie 7.2.2 Sozialschichtung nach Steuervermögen Die Basler Steuerliste von 1429 gliedert die Bevölkerung in (I) die patrizischen Geschlechter der Ritter und der Achtburger mit 89 Steuerp ichtigen, (II) die vier überwiegend kommerziellen Herrenzünfte mit insgesamt 435 Steuerp ichtigen, (III) die elf handwerklichen Meisterzünfte mit den mitgliederstarken Zünften der Gärtner (159), Schmiede (172), Grautucher und Rebleute (213), Bauhandwerker (219) und insgesamt 1 315 Steuerp ichtigen und in (IV) ›allerlei nicht zünftiges Volk‹, das überwiegend in den Vorstädten ansässig war, nur das Kleinbürgerrecht besaß und etwa 700 Personen, das waren 27 Prozent aller Steuerzahler, umfasst.¹²⁹⁹ Es fehlt nicht an – grundsätzlich höchst wünschenswerten und wichtigen – Versuchen, die geschichtete Sozialstruktur quantitativ anhand der Steuervermögen und ihrer Aufteilung für die Stadt in ihrer Gesamtheit darzustellen, in ihren Relationen zu bewerten und sie mit dem Vermögensaufbau anderer Städte zu vergleichen. Steuerklassen sind jedoch zunächst nur Sozialkategorien, deren Zusammenhang mit Statusunterschieden und sozialen Schichtbildungen offen bleibt, da sich als Kriterien lediglich Vermögensgrößen und die Häu gkeit ergeben, mit der die einzelnen Steuerklassen besetzt sind. Oft ist nicht einmal eine Zuordnung zu Berufen, geschweige denn eine Korrelation mit Preis-, Lohn-, Produktions- und Bevölkerungsreihen möglich. Das statistische Urmaterial bietet nicht in jedem Falle eine einwandfreie und zureichende Grundlage für die Vermögensschichtung. Schichtgrenzen sind interpretatorisch gewonnen oder relativ willkür-

1299 G. M, Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 87, S. 282–285.

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lich gesetzt¹³⁰⁰, und die weiteren differenzierten Rechenvorgänge beruhen auf vielfach ungesicherten Prämissen. Was die Vergleichbarkeit anlangt, so sind die steuerrechtlichen und steuertechnischen Grundlagen sowie die Steuerpraxis in einzelnen Städten sehr unterschiedlich. So waren in Hamburg nur Bürger, in Augsburg hingegen auch Nichtbürger steuerp ichtig. In Lübeck waren erstmals 1410 auch Nichtbürger schossp ichtig. Die statistischen Materialien, ihre Aufbereitung und die chronologischen Ansätze sind selten kompatibel. Hinzu kommen Unklarheiten über eine Besteuerung auch des Einkommens, Schwierigkeiten bei der Umrechnung von Währungsparitäten und die Unmöglichkeit einer zuverlässigen Kaufkraftermittlung zur Beurteilung des Lebensstandards. Die errechneten Zahlenwerte und Prozentangaben erwecken zwar häu g den Anschein sozialstatistischer Präzision, während es sich genau besehen eher um Hinweise auf Größenordnungen und Verteilungsrelationen handelt. Keineswegs instruktiv, sondern völlig suggestiv ist die unkommentierte synoptische Zusammenstellung derartiger Vermögensschichtungen aus verschiedenen Städten. Kontrastierend wird gerne der Vermögensaufbau Lübecks und anderer Seestädte wie Hamburg, Stralsund und Rostock dem der Stadt Augsburg gegenübergestellt. Auf der Grundlage des Lübecker Schossregisters von 1460, das 5 600 Steuerp ichtige mit eigenem Haushalt aufführt, hat Ahas-

ver von Brandt vier Steuerklassen und zugleich Sozialschichten konstituiert.¹³⁰¹ Bei einem Steuervermögen von über 768 Mark lübisch wurde allerdings geheim geschosst. Das versteuerte Durchschnittsvermögen kann hier nur geschätzt werden. Zu dieser Gruppe gehören 820 Steuerp ichtige, die durch Subtraktion ermittelt 18 Prozent des Steueraufkommens bestreiten. Ansonsten ist der Steuerbetrag in Steuervermögen umgerechnet. Der Steuersatz betrug etwa 1,3 Prozent. Ein Teil der Steuerp ichtigen hatte noch einen Vorschoss zu entrichten, der eigentlich vom Steuervermögen abgezogen werden müsste. Immerhin 23 Prozent der Zensiten zahlten aus unbekannten Gründen nicht. Die Besteuerungsgrundlage ist unklar; es scheint sich um eine kombinierte Vermögenund Einkommensteuer zu handeln. Insgesamt bestehen also gravierende Unsicherheiten.¹³⁰² I* (Oberschicht und obere Mittelschicht) Geschätztes Durchschnittsvermögen: ca. 1 000 Mark lübisch 18%** II* (Mittelschicht) Versteuertes Durchschnittsvermögen: 461 Mark lübisch 30%** III* (Untere Mittelschicht) Versteuertes Durchschnittsvermögen: 114 Mark lübisch 38%** IV* (Arme Unterschicht) Versteuertes Durchschnittsvermögen:

1300 E. W beanstandet, dass in älteren klassi zierenden und quanti zierenden Schichtungsversuchen »zumeist eine naive Klassi zierung nach Gesichtspunkten einer formalisierten arithmetischen Ästhetik angewandt« worden sei. I. B/E. W, Die bürgerliche Eilte der Stadt Kitzingen, S. 59. Vgl. seine eigenen Vorschläge: E. W, Über soziale Schichtung. Hingegen verzichtet H. R (Höxter, S. 453 ff.) bewusst auf ein Schichtungsmodell. Ihm gelten für die Masse der Bürger und Einwohner die Herkunftsfamilie und die Familie, in die eingeheiratet wird, als die entscheidenden sozialen Determinanten und die wichtigsten Bestimmungsfaktoren für die soziale Positionierung (S. 427, 442 f.). Fortlaufend geführte Steuerbücher, die längerfristige Statistiken ermöglichen, gibt es unter anderem für die Städte Augsburg (1346–1717), Regensburg (1383–1487), Esslingen (1360–1460), Schwäbisch Hall (1395 ff.), Konstanz (1418–1460), Höxter (1487–1517), Hildesheim (1401, 1404–1572), Görlitz (mit Lücken 1426 bis ins 19. Jh.) und Rostock (1378–1491). 1301 A. . B, Die gesellschaftliche Struktur des spätmittelalterlichen Lübeck. 1302 Die Steuerordnung selbst weist mit der geheimen Versteuerung ab 768 Mark lübisch einen klassi katorischen Ansatz auf. Die Lübecker Kleiderordnungen von 1454 und 1467 ziehen Grenzen bei versteuerten Vermögen von 100, 200, 400, 1 000, 2 000 und 4 000 Mark lübisch Die Grenzwerte von 100, 400 und 10 00 Mark lübisch sind insoweit von erhöhter Bedeutung, als sie auch für die Hochzeitsordnungen gelten. J. E, Sozialgruppen, Selbstverständnis, Vermögen und städtische Verordnungen, S. 266.

Schichten – Klassen – Stände – Sozialgruppen

16 Mark lübisch 14%** (* Steuerklasse) (** Steuervermögen/Anteil an den Steuerp ichtigen) Dieser Vermögens- und Sozialschichtung wird der Vermögensaufbau Augsburg auf der Grundlage der Sondersteuer von 1475 entgegengestellt. Die Zuschlagsteuer basiert auf der üblichen Vermögensteuer¹³⁰³ mit einem Steuersatz von 0,5 Prozent für immobiles Vermögen und einem doppelten Steuersatz von 1 Prozent für mobiles Vermögen. Die Vermögensteuer ist in 16 Steuerklassen gegliedert, die von 50 Gulden (ungarisch) bis 9 000 Gulden an reinem mobilen oder von 100 Gulden bis 15 000 Gulden an reinem immobilem Vermögen reichen. Der Vermögensteuer ist als Voraus eine gestaffelte Personalsteuer für Bettler (107), Tagewerker (151) und Habnithandwerker (2 700) vorgeschaltet. Allein 66 Prozent der insgesamt 4 485 Zensiten zahlen die Personalsteuer, 60,2 Prozent sind Habnithandwerker. Einer der vielen möglichen Schichtungsvorschläge für Augsburg¹³⁰⁴ lautet vereinfacht: I Oberschicht 2% II Mittelschicht 32% (untere Mittelschicht 27,1%) (eigentliche Mittelschicht 3,5%) III Unterschicht 66% (Personalsteuerzahler) Es ist auch vertretbar, die Personalsteuerzahler mit den Steuerp ichtigen der ersten Vermögensteuerklasse (9,4%) als Unterschicht zusammenzufassen (75,4%) oder bei den Spitzenvermögen eine Schicht des Großkapitals (0,46%) von den übrigen großen Vermögen zu sondern.¹³⁰⁵ Eine kleine Oberschicht von 104 Personen (2,3%) hielt 60,1 Prozent des gesamten Steuervermögens in Händen, eine untere Oberschicht von 4,6 Prozent der Steuerp ichtigen

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immer noch 23,9 Prozent. Zieht man die Obergrenze der Unterschicht bei der zweiten Vermögensteuerklasse (50/200 Gulden), so schrumpft die Mittelschicht auf etwa 22 Prozent. Vergleicht man damit die für Lübeck vorgenommene Schichtung, so fällt eine völlig ungleichgewichtige Vermögensstreuung in Augsburg mit einer außerordentlichen Vermögenskonzentration bei einer sehr kleinen Oberschicht auf. Die Mittelschicht ist vergleichsweise schmal, die Unterschicht sehr breit gelagert.¹³⁰⁶ Es fällt aber auf, dass die Lübecker arme Unterschicht (14%) lediglich etwa 9 Gulden durchschnittlich versteuert, der Steuerbetrag der Augsburger Habnits jedoch rechenmäßig ein Steuervermögen von 43 Gulden an mobilem oder 86 Gulden an immobilem Vermögen ergäbe. Die Proportionen hinsichtlich der Unterschicht können durchaus beträchtlich verschoben werden. Die untere Mittelschicht Lübecks (38%) versteuert wiederum lediglich ein Durchschnittsvermögen von umgerechnet lediglich 65 ungarischen Gulden. Über die Vermögensstreuung innerhalb der Lübecker Oberschicht ist nichts ausgesagt. Das geschätzte Durchschnittsvermögen von umgerechnet etwa 570 Gulden entspricht erst der 4. Augsburger Vermögensteuerklasse. Andererseits deutete die für 1380 ermittelte hohe Zahl von etwa 700‒800 Lübecker Kau euten, das waren 26,5 Prozent der Bürger und 15,4 Prozent der Gesamtbevölkerung, auf eine breit gelagerte Oberschicht hin. Die angenommenen diskrepanten Verteilungsrelationen werden dahingehend interpretiert, dass die Verteilung des Steuervermögens in Augsburg mit einer großen Zahl von Webern (etwa 700 Webmeister) die gewerbliche Struktur der Bevölkerungsmasse und den Sachverhalt widerspiegle, dass der Augsburger Groß- und Fernhandel in ganz anderer Weise als in Lübeck auf kapitalistischen Voraussetzungen be-

J. H, Die Augsburger Zuschlagsteuer; ., Die Augsburger Vermögensteuer ( 4.4). F. B, Versuch einer Bestimmung der Mittelschicht, S. 42 f. R. K, Bürgerliche Gesellschaft und Kirche (Kap. 5), S. 45 ff. Eine relativ unausgewogene Sozialstruktur, die jedoch im Vergleich zu Augsburg eher als ausgewogen erscheint, ermittelt G. W (Die Sozialstruktur der Reichsstadt Schwäbisch Hall, S.28) für Konstanz und Heilbronn, eine ausgewogenere für Schwäbisch Hall und Esslingen.

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Sozialstruktur

ruhte und im Geld- und Kapitalverkehr selbst eine beherrschende Stellung einnahm. Für Lübeck resümiert Ahasver von Brandt: »Noch um 1460 bietet der Handel bei nachweisbar fast völligem Fehlen einheimischen Großgewerbes einer auffallend breiten Schicht der Gesamtbevölkerung auf direktem oder indirektem Wege eine sehr wohlhäbige Existenz.«¹³⁰⁷ Im ausgehenden 15. Jahrhundert wuchs indessen in Lübeck und in anderen hansischen Handelsstädten die Unterschicht, während sich in der Zeit von 1475 bis 1498 der Anteil der Augsburger steuerlich de nierten Habnits um 22 Prozent von 66 auf 43,7 Prozent zugunsten einer breiteren Mittelschicht verringerte. Es war dies eine Folge des raschen Wachstums des Augsburger Handels und Gewerbes zur Zeit der beginnenden Montangeschäfte, der Anleihegewährungen und der überseeischen Unternehmungen. Die Unterschicht partizipierte am wachsenden Reichtum. Im Jahre 1512 war die Entwicklung in Unterschicht und Mittelschicht wieder etwas gegenläu g.¹³⁰⁸ 7.2.3 Vermögen und andere Lagemerkmale – soziale Mobilität In der erwerbs- und geldwirtschaftlich orientierten Stadtgesellschaft war Reichtum ein fundamentales Lagemerkmal und – mit wichtigen ständischen Einschränkungen – ein dominanter Wertmaßstab für den sozialen Status. Es ist allerdings die Frage, inwiefern und auf welche Weise Vermögensgrößen – insbesondere angesichts kaufmännischer Diskretion – oder auch Einkommen überhaupt zureichend evident und damit in soziale Geltung umgesetzt werden konnten.¹³⁰⁹ Das Vermögen setzte sich aus dem im Beruf erwirtschafteten unverbrauchten Ein-

kommen und anderen Einnahmequellen zusammen, sodass die mit verschieden rangwertigen Berufen verbundenen Einkommens- und Vermögensvorstellungen nicht durchgehend für das gesellschaftliche Ansehen ausschlaggebend waren. Vor allem aber wurde Reichtum wie auch die politische Führungsposition ererbt und insgesamt vielleicht weniger erworben. Die großen Gewinne, die eine entsprechende Kapital- und Vermögensakkumulation ermöglichten, waren nur im Handel, darauf aufbauend in unternehmerischen und verlegerischen Geschäften im Montan-, im großgewerblichen Metall- und Textilbereich sowie in Finanzgeschäften zu erzielen. Allerdings stehen den großen und raschen, teilweise aus Spekulationsgeschäften im Überseehandel resultierenden Handelsgewinnen ruinöse Verlustrisiken gegenüber, die durch Anlagen in Kapitalund Grundrenten gemildert wurden. So gab es einen sehr großen Unterschied im Vermögensniveau zwischen der ›werbenden‹ oder der ›wirkenden‹ Hand, zwischen den kaufmännischen und rein handwerklichen Berufen, da die Gewinnspanne in der handwerklichen Eigenproduktion kaum eine größere Kapital- und Vermögensbildung zuließ. Der Großhandel war im Unterschied zum Handwerk in der Regel frei, und wo auch im Detailhandel keine Handelsverbote und Monopole bestanden, gab es eine breite Zone des Übergangs von der handwerklichen Produktion zur zusätzlichen kaufmännischen Tätigkeit.¹³¹⁰ Dahingehend ist das in den größeren Städten anzutreffende Bild einer hoch spezialisierten Berufsgliederung zu ergänzen. Die Handelskomponente konnte im Absatz der Eigenproduktion am Ort (Preiswerk) und durch individuellen

1307 A. . B, Die gesellschaftliche Struktur, S. 229. Wieweit die vermögensmäßige Gliederung Hamburgs und wohl aller Hansestädte an der See, wie H. Reincke meint, tatsächlich als »ausgewogen und gesund« bezeichnet werden kann, muss dahingestellt bleiben.H. R, Bevölkerungsprobleme der Hansestädte (1.4), S. 302. 1308 J. H, Vermögensteuer, S. 171 ff., 177. Die Steuererhebung in Frankfurt a. M. im Jahre 1495 ergibt folgende Verteilung: 46% der Steuerp ichtigen versteuerten ein Steuervermögen unter 20 Gulden, 27% zwischen 20 und 100 Gulden und 14% zwischen 100 und 400 Gulden. K. B, in: Frankfurt am Main. Die Geschichte in neun Beiträgen, Sigmaringen 1991, S. 67. 1309 A. F. H . H, Größe und Quellen des Vermögens von hundert Nürnberger Bürgern um 1500 (Beobachtungen Dr. Christoph Scheurls); K. M, Die vermögenden Kölner 1417–1418. 1310 E. M, Verfassung und soziale Kräfte, S. 440 ff.

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wie kollektiven Messebesuch oder im zusätzlichen Handel mit verwandten oder fremden Gütern, wie etwa im Weinhandel, liegen. Die Straßburger Wollschläger begannen schon frühzeitig, neben dem Lohnwerk auch Wollhandel zu treiben, rohe Wolle einzukaufen und das fertige Produkt zu verkaufen. Naheliegend ist die Beteiligung der Gerber am Lederhandel, der den ärmeren Schuhmachern nicht möglich war, der Müller am Getreidehandel, der Schmiede am Eisenhandel oder der Rebleute am Weinhandel. Ohne Schwierigkeiten vollzogen die Metzger in Süddeutschland den Übergang zum Groß- und Fernhandel, indem sie sich in den Vieh- und Wollhandel einschalteten, während in Norddeutschland die Gewerbe des Knochenhauers und des Metzgers getrennt waren. Für die beträchtliche Vermögensdifferenzierung innerhalb des Gewerbes der Metzger war schon von Bedeutung, ob eine Werkstatt vorhanden oder womöglich noch eine Gastwirtschaft angeschlossen war, während beim Fehlen von Produktionsstätten und Betriebsmitteln die gewerbliche Tätigkeit auf Hausschlachtungen bei Bürgern zu deren Selbstversorgung beschränkt war. Gerade bei den Metzgern scheinen komplexe Wirtschaftszusammenhänge auf. Eine größere Anzahl Nürnberger Metzger betätigte sich als Viehgroßhändler, die bei Nürnberger Fernkau euten in großen Mengen Tuch kauften, um es dann ohne wesentliche Bargeschäfte im direkten Tausch in den donauländischen Rindermastgebieten gegen ungarische oder walachische Ochsen umzusetzen. Sie handelten meist in Gesellschaft mit Berufsgenossen und nanzierten die Tuchbeschaffung auch durch Kreditaufnahme. Die Ochsen selbst dienten nicht nur der Fleischversorgung, sondern darüber hinaus zu weiterer gewerblicher Verarbeitung, zur Herstellung von Filz aus dem Fell, Leder aus der Haut, Leim aus den Knochen, Kerzenlichtern und Seife aus dem Talg, Knöpfen, Kämmen und bruch- und feuerfesten La-

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ternenscheiben aus den Hörnern.¹³¹¹ Die Rindersehnen wurden für Bogen und Armbrust benötigt. Zu den ›kommerzierenden‹ Handwerken, die ihre Rohstoffe selber von auswärts bezogen und ihre Produkte selber auf den internationalen Märkten absetzten, gehören etwa die Lübecker Paternostermaker, die Rosenkränze herstellten und sich am Bernsteinhandel beteiligten, und die Hamburger Grapen- und Kannengießer, die sich in den Metallhandel einschalteten. Schiffer erwarben als Kapitäne der hansischen Frachtrouten im Laufe der Jahre Schiffsanteile (Parten) und beteiligten sich zunehmend an der Ladung. Auf diese Weise erwarben sie Kapital und Vermögen und gingen in den Kaufmannsstand über. Zumindest in der Blütezeit der Hanse konnten Brauer und Schiffer zugleich auch als Kau eute tätig sein, Gewandschneider sowohl überwiegend als Detaillisten als auch als Großkau eute und Importeure ganzer Schiffsladungen auftreten und Handwerker sowohl genossenschaftlich als auch individuell gleichfalls Großhandel betreiben. Andererseits können sich unter derselben Berufsbezeichnung Fernhandelskau eute mit vergleichsweise immensen Umsätzen, aber auch Gelegenheitshändler oder Kommissionäre verbergen.¹³¹² Der wirtschaftliche und soziale Aufstieg von Handwerkern vollzog sich durch wirtschaftlichen Übergang auf dem Weg einer großgewerblichen, verlegerischen oder kaufmännischen Tätigkeit, die oft längere Zeit noch formal im Rahmen des ursprünglichen Handwerks erfolgen konnte. Freier Detailhandel diente – wie die Kleinformen der Eigenproduktion von Nahrungsmitteln – vor allem der Verbesserung bescheidener Lebenssituationen. Kompliziert und häu g wechselhaft war die Lage, wenn Rat und Zünfte die Gewerbefreiheit regulierten.¹³¹³ Im oberschwäbischen Memmingen konnten die Handwerker nach der Mitte des 15. Jahrhunderts

1311 W. . S, Eine »Industrielle Revolution« des Spätmittelalters? (9.1–9.2), S. 124. 1312 A. . B, Die gesellschaftliche Struktur des spätmittelalterlichen Lübeck, S. 224; H. R, Bevölkerungsprobleme (1.4), S. 286 ff. 1313 P. E, Die politische, soziale und wirtschaftliche Stellung des Zunftbürgertums, S. 86 f.

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Sozialstruktur

gegen energische Vorstöße des Patriziats, aber auch von Teilen der in dieser Frage gespaltenen Zünfte ihre Freiheit im Detailhandel wahren. Auf Beschluss des Rates blieb der Kleinhandel mit Salz, Leinwand, Barchent und Wein wegen des gemainen Nutzens frei. Die Handelsfreiheit bezog sich auf jene Waren, die nicht ausdrücklich einer Zunft vorbehalten waren. In Lindau durfte jeder Bürger mit Leinwand, Salz, Wein und Heringen handeln. Die Überlinger Stadtrechtsordnung von 1461 macht deutlich, dass der Kleinhandel frei sein sollte, damit der gemain man […] sin narung dester baß gehaben mug. Einzelne Handelszweige waren 1445 durch Ratsverordnung speziell einigen Zünften zugewiesen worden, doch war diese Ordnung an offenen Markttagen, an denen jedermann frei handeln durfte, aufgehoben; sie galt generell nicht für den Großhandel. Der Warenhandel wurde 1461 von der Bindung an die Zünfte gelöst, doch 1482 wieder an sie rückgebunden. Wenn Angehörigen der unteren Mittelschicht oder der Unterschicht, etwa Handelsgesellen oder Dienstboten, eine kleine Ersparnisbildung gelang, dann bot die Möglichkeit, sich auch mit kleinen Beträgen an Handelsgeschäften zu beteiligen, Gelegenheit zu bescheidener Partizipation am Handelsgewinn.¹³¹⁴ Die Höchstetter zu Augsburg nahmen schon Einlagen von 10 Gulden an. Vor allem die Faktoren oder Kaufmannsgehilfen – sogar auch Mägde – waren in der Lage, Ersparnisse zu bilden und sie im Handel durch Beteiligung an der Gesellschaft der Dienstherrn zu investieren, während diese selbst für ihre Gehilfen nicht selten einen Kapitalbetrag in ihrer Gesellschaft einlegten. In manchen Fällen war damit ein Grundstock für spätere beru iche Verselbständigung gelegt. Mägde wurden gelegentlich von ihrem Dienstherrn testamentarisch mit einem Legat bedacht. Anlagemöglichkeiten für die wenig Vermögenden waren auch durch die starke Stückelung von Bergwerkskuxen, im Bereich der Seestädte

durch die Stückelung von Schifffahrtseigentum und die Partenreederei vorhanden. In Speyer etwa, einem führenden oberdeutschen Kapitalmarkt, waren zahlreiche Handwerker an großen Darlehen für die Grafen von Württemberg und eine Reihe von Reichsstädten beteiligt. Auf diese Weise wurden kleinere, zerstreute Barvermögen für die Wirtschaft als arbeitendes Kapital mobilisiert und zu größeren, wirtschaftlich produktiveren Einheiten zusammengefasst. Für kleine Anlagen auf dem städtischen Rentenmarkt, insbesondere in Leibrenten, war das Bedürfnis nach sozialer Sicherung entscheidend. In Köln nahm der Verkauf kleinster Renten von einem Gulden an aufwärts durch die Stadt im Laufe des 15. Jahrhunderts immer mehr zu; auch in Nürnberg ndet sich eine Vielzahl bescheidener Beträge. Handelspro te zwischen 30 und 70 Prozent sind als Gewinnausschüttung entsprechend der Geld- oder Wareneinlage und der Größe des Risikos in einzelnen Fällen in Haushaltungsund Rechnungsbüchern ausgewiesen.¹³¹⁵ Die Risikoprämie des mittelalterlichen Handels war hoch. Gewinne wurden auch bei relativ kleinen Umsätzen erzielt. Die festverzinslichen Kapitaleinlagen bei Handelsgesellschaften, die kirchenrechtlich nicht unbedenklich waren, warfen erheblich geringere Renditen ab. Die unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Leitbegriffe des ›Risikos‹ im Handel und der Sicherung der ›Nahrung‹ im Handwerk vornehmlich kleinerer Produzenten schlagen sich in der Vermögensstatistik nach Steuervermögen darin nieder, dass bei den reinen Handwerkern eine sehr viel größere Anzahl von Einzelvermögen in der Nähe des Durchschnitts liegen als bei Handeltreibenden, bei denen gleichermaßen hohe Gewinnmöglichkeiten und Verlustrisiken mit für eine größere Streuung sorgen. Innerhalb des städtischen Handwerks gab es ein enormes Vermögensgefälle zwischen traditionell gut situierten Gewerben und solchen mit

1314 Zum Folgenden siehe insbesondere die Arbeiten von E. M zu den Mittel- und Unterschichten und H. W, Lebenshaltung und Vermögensbildung des ›mittleren‹ Bürgertums. 1315 H. W, Lebenshaltung, S. 44 ff.

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notorisch schlechten Erwerbschancen. Auch innerhalb einzelner Gewerbezweige lassen sich trotz des propagierten Nahrungsprinzips erhebliche Vermögensdifferenzen nachweisen. Unterschiedliche Ausgangsvermögen, unterschiedliche Betriebsgrößen trotz der Angleichungstendenzen, persönliche Tüchtigkeit, Berufsspezialisierung innerhalb eines Gewerbes, unterschiedliche Handelskomponenten und anderes mehr sorgten für Vermögensunterschiede. In der Regel tritt die Zunft nicht als beru ich völlig homogene Zunft, sondern als politische Zunft, die mehrere Handwerke umfasst, in Erscheinung. Großzünfte wie die Weber und Tucher bildeten in einem arbeitsteiligen Produktionsprozess eine wirtschaftliche und soziale Hierarchie der ihr angehörenden Gewerbe und Berufe aus, während Sammelzünfte disparate, kaum miteinander vergleichbare Berufe und Gewerbe vereinigten. Ein gleichmäßiges Vermögensniveau ist aus allen diesen Gründen nicht zu erwarten. Größere und mittlere durchschnittliche Vermögen weisen neben dem einfacheren Handel in ungefährer Rangfolge Metallgewerbe, Lebensmittelversorgung, Bewirtung, Textilproduktion, Baugewerbe, Lederverarbeitung und Bekleidung auf. Auf der unteren Vermögensskala be nden sich die Agrargewerbe, die holzverarbeitenden Gewerbe, die in Norddeutschland vielfach als unehrlich geltenden Leinenweber und die teilweise gleichfalls unehrlichen manuellen Dienstleistungsgewerbe der Bader und Bartscherer. Während die Verkehrs- und Transportgewerbe in Oberdeutschland unten angesiedelt waren, bildeten sie in Niederdeutschland in Handelsstädten teilweise große und angesehene Zünfte. In Ackerbürgerstädten, in denen das Sozialprodukt wesentlich durch landwirtschaftliche und gärtnerische Tätigkeit erwirtschaftet wurde, standen die entsprechenden Zünfte in der relativen Vermögensskala weiter oben. Rangabstufungen unter den Zünften drückten sich in einer unterschiedlichen Zahl von Ratssitzen und in der Position in der Rats-

1316 F. R, Die europäische Stadt (Einleitung), S. 27 f.

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liste, in der Session im Rat, in den Prozessionsordnungen, sofern sie nicht entwicklungsgeschichtlich bedingt waren, und in den Zeugenreihen von Urkunden aus. In einigen Städten gab es ratsfähige Zünfte und solche ohne politische Berechtigung. Terminologisch wurden in Basel die kommerziellen Zünfte der Kau eute, Münzerhausgenossen, Krämer und Weinleute als die vier Herrenzünfte herausgehoben. Gewandschneider, Krämer, Leinwandschneider, Kürschner sowie die Zunft der Gerber und Schuhmacher bildeten 1281 in Magdeburg die fünf großen Zünfte. Im agrarisch bestimmten Kolmar hingegen waren die Ackerleute, Wingertleute und Gärtner die großen Zünfte. Die Bader rangierten durchweg an letzter Stelle. Eher arme Zünfte bildeten vielfach die Schneider und Schuhmacher. Der individuelle soziale Auf- und Abstieg innerhalb einer Generation oder die familiale Mobilität innerhalb eines Zeitraums von mehreren Generationen werden ergänzt durch die kollektive Mobilität ganzer Gruppen wie etwa der Ministerialität in der Frühzeit oder der gelehrten Juristen und des Beamtentums im 15. und 16. Jahrhundert. Hinzu kommt der Austausch ganzer Schichten infolge wirtschaftlicher Umbrüche.¹³¹⁶ So erlebte Lübeck im ausgehenden 13. Jahrhundert als Folge organisatorischen Fortschritts des Handels einen außerordentlich kräftigen Wirtschaftsaufschwung, der aus reiner Handelstätigkeit zu Vermögensbildungen in bislang nicht gekannten Größenordnungen und zu einem neuen Begriff von Wohlhabenheit führte. Die infolge der Hausse anwachsenden und nach Anlage suchenden Kapitalien drückten in der Zeit von 1280 bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts den Zinsfuß für im Rentenkauf angelegte Ewiggelder von 10 auf 5 Prozent. Dadurch wurde die Schicht hart getroffen, deren Einkünfte zu einem wesentlichen Teil bereits in Renten bestanden. Um den Lebensstandard zu halten, waren die Angehörigen der Rentiersschicht gezwungen, die Substanz anzugreifen und ihren quali zierten Grundbesitz –

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Sozialstruktur

Häuser, Lagerhäuser, Kurien, auch im Mietwert steigende Marktlauben, Badestuben und Backhäuser – zu belasten. Bei Pfandverfall wurde der Grundbesitz von den Geldgebern, den Kau euten neuen Stils, an sich gezogen. Zugleich rückten die wirtschaftlich starken Aufsteiger in die frei werdenden Ratssitze ein. Ein vergleichbarer Vorgang sozialer Umschichtung ging im südwestdeutschen Raum im endenden 14. Jahrhundert im Zusammenhang mit monetären Umbrüchen vor sich.¹³¹⁷ Die Münzverschlechterung der 1380er Jahre (böse Heller) war Mitte der 90er Jahre durch ein erfolgreiches System von Währungsabsprachen, das Ober- und Innerschwaben mit einem Netz wirksamer Währungsverträge überzog, beendet worden. Die Esslinger Oberschicht etwa konnte diese Währungsreform jedoch nicht bewältigen, sondern musste einen ruinösen Substanzverlust hinnehmen. Fast das gesamte Stadtpatriziat wurde ausgekauft und verschwand in wenigen Jahrzehnten wirtschaftlich und sozial deklassiert aus dem öffentlich-politischen Bereich. Eine neue, erfolgreich wirtschaftende Schicht konnte nach oben stoßen. So nahm die Familie Kreidenweiß in drei Generationen einen Aufstieg, der vom kleinen Krämer (Vater) über den zum reichsten Bürger avancierten Montanunternehmer und Fernhändler (Sohn) bis zum Domherrenpfründner des hoch angesehenen Stiftes St. Gereon zu Köln (Enkel) führte. Es hat den Anschein, dass abrupte Veränderungen auf dem Kapitalsektor auch im weiteren süddeutschen Raum an der Wende zum 15. Jahrhundert einen radikalen Schichtenwechsel in verschiedenen Städten mitverursacht haben, als sich im Oberrhein, in Innerschwaben und an der Isar auf dem Rentenmarkt ein massiver Zinsrückgang vollzog, der den Zinsfuß etwa im Augsburg–Münchener Raum binnen eines Jahrzehnts von 20 Prozent über 16 auf 10 Prozent drückte. Die Basler Ministerialenfamilien wiederum erlitten wirtschaftlich durch eine Na-

turkatastrophe einen entscheidenden Schlag, als das große Erdbeben von 1356 etwa 60 ihrer Burgen zerstörte und der Wiederaufbau viele Familien nanziell ruinierte.¹³¹⁸ 7.2.4 Weitere Lagemerkmale Verschiedene nanzielle Schwellenwerte, die im Sinne eines bevölkerungs-, wirtschafts-, sozialpolitischen und skalischen Instrumentariums gehandhabt wurden, geben Hinweise auf vermögensbestimmte Schichtgrenzen, ohne solche schon zu begründen.¹³¹⁹ Solche Schwellenwerte sind hinsichtlich der Bürgerrechtsaufnahme das Aufnahmegeld und der Nachweis des geforderten Mindestvermögens. Während man in Frankfurt am Main bis in das 15. Jahrhundert hinein Einwohner auch ohne Bürgerrecht ihren Beruf ausüben ließ und man in Köln das Zunftrecht auch ohne Bürgerrecht erwerben konnte, verlangten andere Städte neben dem Einkauf in die Zunft und den späteren Meistergebühren gelegentlich noch den Nachweis eines Mindestvermögens, das vielfach in keinem erkennbaren Verhältnis zur Höhe des gewerbebedingten Betriebskapitals stand und eher dem Gedanken der Kaution Rechnung trug. In Hamburg betrug 1375 das geforderte Mindestvermögen bei den gering geachteten Leinenwebern 3 Mark, bei den Bäckern und dem für das auch exportierende Braugewerbe wichtigen Handelshilfsgewerbe der Böttcher 20 Mark. In Lübeck reichte die Staffelung von 4 Mark lübisch (Nätler) bis zu 30 Mark (Schuhmacher), wobei die an sich einkommensschwachen Leinenweber 20 Mark verlangten, wohl um auf diese Weise ihre prekäre soziale Geltung zu sichern. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurden in Nürnberg nach Gewerben gestaffelt 50–200 Gulden für die Zulassung verlangt. Im Jahre 1420 wurden von den relativ exklusiven Färbern 50 Gulden für

1317 B. K, Probleme quantitativer Erfassung städtischer Unterschichten, S. 85 ff. 1318 A. G K, Das Patriziat im Elsaß (7.7), S. 387 f. 1319 Viele Beispiele nden sich bei J. E, Sozialgruppen, Selbstverständnis, Vermögen und städtische Verordnungen; und in den Arbeiten E. M.

Schichten – Klassen – Stände – Sozialgruppen

die Meistergebühr verlangt, außerdem hatten die Bewerber zu schwören, dass sie über das zum Bürgerrecht erforderliche Mindestvermögen (100–200 Gulden) hinaus weitere 200 Gulden an Vermögenswerten besaßen. In München wurde die Erlaubnis zum Weinausschank gegen Ende des 14. Jahrhunderts an ein Steuervermögen von mindestens 100 Pfund Pfennige (etwa 160 Gulden) gebunden. Der Salzhandel war in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts nur seit längerem ansässigen Bürgern mit einem Vermögen von 30 Pfund erlaubt; später erhöhte man die Voraussetzungen und verlangte den Besitz eines Hauses im Wert von 50 Pfund oder ein Steuervermögen von 100 Pfund. Am Ende des 15. Jahrhunderts waren in Konstanz Großhandelsgeschäfte erst von einem Mindestkapitaleinsatz von 30 Gulden an erlaubt. In Lübeck setzte die Brauordnung von 1409 für Exportbrauer den Nachweis von 100 Mark lübisch, bei Stadtbrauern von nur 50 Mark fest. Hamburg verlangte für Brauer 200 Mark, Wismar, die Bierstadt an der Ostsee, 200 Mark Silber (etwa 600 Mark lübisch). Ratsfähigkeit war Voraussetzung für die Aufnahme in die Gewandschneidergilde in Münster. Die Ratsfähigkeit knüpfte in Bremen gemäß den Stadtrechten des 14. und 15. Jahrhunderts an genau festgelegte nanzielle Leistungen und an Grundvermögen an. Ratsherren mussten für städtische Zwecke ein Pferd im Wert von 3 Mark (1303/08) bis 15 Mark (1428) halten, gegen Zins eine Rente der Stadt einlösen oder dem Rat eine bestimmte Geldsumme leihen (16 Mark) und zum Mauerbau beitragen (1398: 4 Mark). Außerdem war Grundbesitz in der Stadt im Wert von 32 Mark (1330), später (1398, 1428, 1433) im Wert von mindestens 100 Mark vorausgesetzt. Ohne bezifferte Wertangaben wurde andernorts ein Zusammenhang zwischen Ratsfähigkeit und Grundbesitz, Vermögen oder doch zumindest einer Abkömmlichkeit gewährleistenden ›Nahrung‹, die auch im Krankheitsfalle gesichert sein sollte, hergestellt, wobei gelegentlich klargelegt wurde, dass

1320 Vgl. 4.6.3.3.3.

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dies für Handwerker bei täglicher Arbeit nicht zutreffe. Der Besitz jeweils bestimmter Arten von Kriegsrüstung wie Armbrust und Harnisch und die Haltung von Kriegspferden zugunsten der Stadt wurden festgesetzt nach Berufsgruppen, quali zierten und vermögenden Ständen der Bürgerschaft wie den erbgesessenen Bürgern, Rentiers und Kau euten in Hamburg, nach verschiedenen Vermögensklassen, bestimmtem Schmuck- und Kleidungsaufwand der Ehefrau oder auch des Mannes wie in Riga, Reval und Braunschweig oder etwa dem Tragen gefärbter Schuhe wie in München. Straßburg verp ichtete um 1400 Bürger nach zehn Vermögensklassen zur Haltung von Kriegspferden als Steuerleistung und differenzierte dabei nach Geldwert und Anzahl der Pferde, die auf den Angehörigen einer Vermögensklasse ent elen. In unteren Vermögensbereichen wurden häu g mehrere Personen in Gemeinschaft zur Stellung eines Harnisches oder eines Pferdes verp ichtet. Nach Vermögen gestaffelt wurden Bürger in Krisenzeiten verp ichtet, bestimmte Mengen an Getreide oder Salz auf Vorrat einzulagern. Die städtischen Hochzeits-, Tauf-, Begräbnis- und Kleiderordnungen des Spätmittelalters wenden sich überwiegend an alle Einwohner, an Arm und Reich gleichermaßen.¹³²⁰ Sie schränken durch detaillierte, häu g in Geldwert xierte Grenzen und Verbote ein. Es handelt sich um Obergrenzen, die eine luxuriöse, gesellschaftlich provozierende, der christlichen Moralund Soziallehre widersprechende und nicht zuletzt ruinöse Lebensführung eindämmen und einen maßvollen, »bürgerlichen« Rahmen schaffen, innerhalb dessen wohl Vermögens- und soziale Rangunterschiede sichtbar gemacht werden können, doch ohne dass obrigkeitliche soziale Distanzen normiert werden. Übertretungen der vielfältigen Einzelvorschriften wurden jeweils mit festen Bußgeldern belegt, welche die städtische Kasse füllten. Erst im 15. Jahrhundert, vor allem seit seinem Ende und insbesondere in den Reichskleiderordnungen und territorialen

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Sozialstruktur

Polizeiordnungen setzte sich eine Zuordnung von Stand, Rang und erlaubtem Kleidungsaufwand durch, sodass Bevölkerungsschichten und Stände in ihrer Kleidung geschieden und an ihr erkennbar waren. In Ordnungen mehrerer norddeutscher Städte jedoch wurden etwa seit der Mitte des 14. Jahrhunderts Vermögenskriterien und Vermögensklassen eingeführt, die den Aufwand bei Hochzeiten entsprechend der Höhe der Mitgift – so auch im süddeutschen München – oder des Gesamtvermögens des Brautpaares regelten und den Aufwand an Kleidung und Schmuck an die Höhe des versteuerten Vermögens oder an bestimmte Leistungen für die Stadt hinsichtlich der Kriegsrüstung und der Haltung von Kriegspferden banden. Es ist damit zu rechnen, dass in einzelnen Fällen ein höheres Vermögen als das tatsächlich vorhandene versteuert wurde, um dadurch an den Statussymbolen bestimmter Vermögensklassen teilhaben zu können, sodass mit der Ordnung ein skalischer Nebenzweck erfüllt wurde. Auf der anderen Seite bedeutete es eine öffentliche Deklassierung, wenn 1462 einem Augsburger Patrizier und Kaufmann, der städtische Gelder unterschlagen hatte, zur Strafe verboten wurde, Zobel und Marder, Seide und Samt, Schmuck, Gold und Silber, d. h. die sichtbarsten Statussymbole der patrizischen Oberschicht, zu tragen. Städtische Obrigkeiten, einzelne Zünfte und regionale Tagungen von Zunftmeistern untersagten den lohnabhängigen Gesellen, Schmuck und Kleidung bestimmter Art zu tragen und erließen für sie Kleidervorschriften. Aus ordnungspolitischen Gründen versuchte die Straßburger Obrigkeit in Übereinstimmung mit der Rheinischen Knechtsordnung im Jahre 1465, eine demonstrative Konformität in der Kleidung der Gesellen als Ausdruck einer solidarischen Kollektivbildung zu verhindern. Sie statuierte, dass nicht mehr als drei Dienst- und Handwerksknechte gelich kugelhut, röcke, hosen noch ander zeichen miteinander tragen durften. Diese Kleiderordnung ergänzte das in dersel-

ben Stadtordnung enthaltene Verbot der Gesellentrinkstuben und aller sonstigen geselligen Zusammenkünfte, die gemeinschaftlich organisiert waren. Eine Straßburger Stadtordnung von 1471 und das Hamburger Stadtrecht von 1497 untersagten den als unehrlich geltenden Prostituierten im Gegensatz zu den ehrlichen und frommen Frauen das Tragen bestimmter üblicher Schmuckgegenstände und einen bestimmten Kleidungsaufwand. Andernorts hatten die Prostituierten besondere Zeichen an ihrer Kleidung zu tragen oder wie in Zürich quergestellt ein zusammengenähtes rotes Käppchen als Kopfbedeckung, das in der Kirche zusammengefaltet und auf die Achsel gelegt werden musste. Eine mit gesellschaftlicher Distanzierung und Exklusion verbundene Statusfrage war die Regelung der Zulassung zu ständisch organisierten Tänzen und Festveranstaltungen, worauf nachdrücklich Felix Fabri hinweist. Ende des 13. Jahrhunderts wurde in Augsburg verboten, dass ein dienender Knecht an einer Hochzeit teilnahm. Den Knechten und Mägden bestimmte der Rat 1384 Ort und Zeit, an denen sie auf der Straße tanzen durften. In München durfte Gesinde nach einer Ordnung von 1320 nicht an Tanz und Mahlzeit bei der Hochzeit Wohlhabender teilnehmen. Auf der Frankfurter Zunftstube waren unehelich geborene und damit ›unehrliche‹ Handwerkerfrauen vom Tanz der ehrlichen Frauen ausgeschlossen. Prostituierte durften in Straßburg nirgendwo an Tanzveranstaltungen der frommen Frauen und Jungfrauen teilnehmen. Das Tanzstatut des Nürnberger Rates von 1521 schloss Nichtpatrizier vom Tanz auf dem Rathaus aus. Im 15. Jahrhundert wurde es in Straßburg den Töchtern von Handwerkern, die mit einem Consto er (Patrizier) verheiratet waren, bei Strafe verboten, sich auf einer der beiden Consto erstuben oder an anderen Orten, wo die Consto erfrauen gesellig versammelt waren, einzu nden, da es zu peinlichen Szenen gekommen war. Die Consto erfrauen zunftbürgerlicher Herkunft durften an den Tän-

Unterschichten und Arme

zen der Consto er weder teilnehmen noch ihnen zusehen.¹³²¹ Sichtbarer Ausweis der wirtschaftlichen Lage und sozialen Position sind vor allem auch die topogra sche Niederlassung in Marktnähe oder an der Peripherie und die Wohnverhältnisse der Bewohner, allerdings deutlich weniger ausgeprägt als in der frühen Neuzeit, in der eine stärkere Verdrängung von gesellschaftlichen Schichten in die Außenbereiche stattfand.

7.3 Unterschichten und Arme 7.3.1 Die erwerbstätige Unterschicht Wenn die Mittelschicht gegenüber der Unterschicht durch Bürger- und Zunftrecht, spezische Berufsausbildung, selbständige Berufstätigkeit und mittlere und kleinere Vermögen abgegrenzt wird, so treffen diese Lagemerkmale nicht immer alle zusammen, und es nden sich einzelne Merkmale auch bei Angehörigen der Unterschicht. Seitdem die Zunft etwa seit der Mitte des 14. Jahrhunderts in vielen Städten zu einem die politische und gesellschaftliche Ordnung bestimmenden Prinzip und zur Voraussetzung für eine Erwerbstätigkeit wurde, fasste man auch große Teile der Unterschicht wie Verkehrsarbeiter, Bauhilfsarbeiter und Tagelöhner im städtischen Agrarbereich wie im Reb- und Gartenanbau in großen Sammelzünften mit niedrigen Aufnahmegeldern zusammen. Vielfach bildeten sie auch nur untereinander Bruderschaften. Auch das Bürgerrecht wurde den Unterschichten seit der Mitte des 15. Jahrhunderts mancherorts in der Form eines Kleinbürgerrechts (Hintersassen-, Schultheißenbürgerrecht), das städtischen Schutz und soziale Hilfe gewährte, zugänglich, sofern sie nicht sogar das Vollbürgerrecht erhielten. Politische Berechtigung räumte das Kleinbürgerrecht jedoch nicht ein. Vermögenslose Handwerksgesellen besaßen eine beru iche Quali kation und gehörten in weiterem Sinne zur Zunft; wo sie sich daneben gesellschaftlich organisierten, verfüg-

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ten sie über eine Kasse oder hatten auch Betten im Spital. Beru iche Selbständigkeit entbehrten auf der anderen Seite Handwerksmeister, die in Ermangelung von Kapital keinen eigenen Betrieb führen konnten und im Stücklohn für andere Meister arbeiteten. Wirtschaftlich zur Unterschicht zählten aber auch selbständige Meister mit kleinen Werkstätten, ohne nennenswerten Marktabsatz und mit geringem Vermögen, das ihnen keine Existenzsicherung gewährte. Ihr Nettoverdienst lag nicht viel über dem Lohn eines Gesellen. Handwerksmeister nden sich deshalb auch unter den konzessionierten Almosenempfängern und Bettlern. Der Textilbereich, wo zwischen den armen Webern und den reichen, das Produkt absetzenden Tuchern eine breite wirtschaftliche und soziale Kluft klafft, ferner die Agrarzünfte und teilweise das Baugewerbe weisen einen relativ hohen Anteil von armen Meistern auf. Hinzu kommen noch die Kleinkrämer, die Kleinhandel mit Nahrungsmitteln betreiben. Mägde, Hausknechte und Handwerksgesellen (›Handwerksknechte‹) stellen in größeren Städten etwa ein Sechstel bis ein Fünftel der Bevölkerung. Sie leben – mit Ausnahmen – wie auch die Handelsgehilfen und Lehrlinge unverheiratet im Hause ihres Dienstherrn und genießen in gewissem Umfang dessen sozialen Schutz. In Straßburg wurden 1444 in einer lückenhaften Registrierung 884 Handwerksgesellen gezählt, doch waren es insgesamt wohl 1 200; sie stellten etwa 7 Prozent der Einwohner (17–18 000) und 25 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung dar. In Nürnberg machten 1449 die 1 450 Handwerksgesellen bei 20 168 gezählten Einwohnern gleichfalls etwa 7 Prozent der Bevölkerung und 28 Prozent der Erwerbstätigen aus; die 1 800 Mägde brachten es auf einen Bevölkerungsanteil von etwa 9 Prozent. Hausknechte und Mägde (Gesinde) machten in Frankfurt am Main 1347 bis zu 1 800 Personen und etwa 18 Prozent der Bevölkerung aus, 1440 noch 1 600 Personen bei einem gleichen Bevölkerungsanteil. Für München lässt sich aus dem

1321 K. T. E (Hg.), Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte (2.2–2.4), Nr. 274, S. 520 f.

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Grabenbuch von 1445, das die besondere Gruppe von Handwerksgesellen mit eigenem Haushalt und das Gesinde mit einer deutlich höheren Zahl an Mägden als an Knechten (359:218) verzeichnet, eine Zahl von 1 454 Personen bei etwa 10 000 Einwohner errechnen. Auf einen selbständigen Bürger kamen nach älteren Berechnungen in München, Nürnberg und Nördlingen statistisch zwischen 0,8 und 0,9 Dienstboten.¹³²² Unter den Handwerksgesellen stehen, oft mit eigenem Haushalt, die Hilfsarbeiter des Handels wie Träger, Schlepper, Treiber und Fuhrleute, die Schiffsmannschaften und Schiffsbauer, die Salz- und Brauerknechte, die Tagelöhner im Baugewerbe wie die Stein- und Kalkträger, Sandwerfer, P asterer und Gräber und solche im agrarischen Bereich. Es handelt sich teilweise um bloße Saisonarbeiter, die im Frühjahr in die Stadt kommen oder im Winter, wenn sie ansässig sind, anderen Tätigkeiten, etwa als Kerzengießer, nachgehen, um ungesicherte Leute ohne feste Stellung, die rasch die Dienstverhältnisse wechseln. Sie leben am Stadtrand und im Vorstadtbereich in Buden, billigen Mietswohnungen, Gebäudewinkeln, Verschlägen unter den Treppenstiegen, feuchten Kellerlöchern oder städtischen Herbergen und stellen ein stark uktuierendes Element dar, das etwa ein Drittel der Bevölkerung ausmacht. 7.3.2 Armut 7.3.2.1 Formen und Kategorien von Armut Die Angehörigen der erwerbstätigen Unterschicht leben von ihrem Arbeitseinkommen und sind kaum zur Ersparnis- und Vermögensbildung und damit zur Existenzsicherung fähig. Unter normalen Umständen ist ihr Lebensunterhalt wohl einigermaßen gesichert. Es handelt sich aber um krisenanfällige Existenzen, die von

Seuchen, Missernten und Hungersnöten, damit verbundenen Teuerungen, sinkenden Reallöhnen, Depressionserscheinungen der gewerblichen Konjunktur, Arbeitslosigkeit, schließlich auch in Kriegszeiten mit Sperrung der Absatzwege oder Vernichtung agrarischer Sonderkulturen jederzeit und oft auf Jahre hinaus unter das Existenzminimum gedrückt und unterstützungsbedürftig werden.¹³²³ Sie haben ein geringfügiges Vermögen an Gebrauchs- und zugleich Sachwerten, sie benötigen Konsumtivkredite, sind als arme Handwerker bei Rohstoffliferanten oder als Unselbständige mit Folgen für das Arbeitsverhältnis unter anderem bei ihrem Arbeitgeber verschuldet; sie besitzen aber nur Kleidung und kleinere Wertgegenstände, die sie zu Kreditzwecken versetzen und verpfänden können. Die wirtschaftlich Schwachen und deshalb auch Armen sind nicht wie die Reichen in der Lage, rechtzeitig nach den Ernten größere Vorräte insbesondere an Getreide zu günstigen Preisen zu kaufen und einzulagern; sie müssen von Woche zu Woche, wenn der Lohn fällig wird, verschiedene Nahrungsmittel als Kleinverbraucher zu höheren und nach Marktlage schwankenden Preisen in kleinen Mengen einkaufen. Außerdem verfügen sie kaum über die schweren wertbeständigeren Münzen in Gold und Silber, sondern häu g nur über schwarze Pfennige, die zwar nominell eine Silberwährung sind, aber zum größten Teil Kupfer enthalten und ein kleines, minder- und unterwertiges und stark dem Wertverfall ausgesetztes Münzgeld darstellen, das zudem in Zeiten der In ation kaum jemand annehmen will.¹³²⁴ Diese wirtschaftlich Schwachen sind von den in striktem Sinne Armen und den Bedürftigen zu unterscheiden, jenem Bevölkerungsteil mit einem hohen Anteil an Witwen und ledigen Frauen sowie nicht mehr arbeitsfähigen Alten¹³²⁵, dessen Subsistenzmittel nicht zur Daseinssicherung ausreichen und der deshalb

1322 F. S, München im Mittelalter, S. 530 f. 1323 R. E, Sozialstruktur Nürnbergs, in: G. P (Hg.), Nürnberg – Geschichte einer europäischen Stadt, München 1971, S. 197; B. K, Probleme quantitativer Erfassung städtischer Unterschichten, S. 81. 1324 V. G, Ökonomie ohne Haus (8.1). 1325 A. W, Studien zur Situation der Frauen in der Stadt Trier; G. S, Alter und Armut.

Unterschichten und Arme

ganz oder teilweise auf fremde Hilfe angewiesen ist.¹³²⁶ Es handelt sich um ganz oder teilweise arbeitsunfähige Krüppel, Kranke, Sieche, Alte, Obdachlose, um vaterlose Familien, elternlose Kinder, um Arbeitslose, Arbeitsunwillige und solche, deren Arbeitseinkommen unzureichend ist. Sie ernähren sich mithilfe von Bettel und Almosengang.¹³²⁷ Alleinstehende Frauen nden sich mit einem starken Anteil in der untersten Steuergruppe. Sie lebten unter schwierigen Lebensbedingungen in eigenen Haushalten, teilweise wie etwa in Basel und Höxter nachweisbar in nachbarschaftlicher Ballung mit anderen Frauenhaushalten, und häu g zur Untermiete. Zur Verwandtschaft gehörend, wurden sie als Witwen, Schwestern oder Tanten in Männerhaushalten aufgefangen, oder sie logierten als nicht Verwandte in Dienstverhältnissen vorübergehend im Haus ihrer Herrschaft. Die herkömmliche Normalausstattung eines kleineren Gewerbebetriebes, der die ›Nahrung‹ eines Haushaltes zu sichern hatte, konnte nach zeitgenössischem Verständnis durchaus noch in Reichweite des Armutsbegriffs liegen. In sozialem Sinne war jeder arm, der weniger hatte, als es seiner sozialen Position entsprach. Es erscheint auch sinnvoll, zwischen Armut und Bedürftigkeit zu unterscheiden. Wie zu allen Zeiten ist Armut mit quantitativen Maßstäben ohne willkürliche Setzungen kaum zu denieren.¹³²⁸ Um systematische Anhaltspunkte zu gewinnen, wurde folgende Kategorisierung vorgeschlagen, die unter der Prämisse ießender Übergänge steht und hier leicht modi ziert wird:¹³²⁹

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a) Sekundäre Armut als Mangel an Gütern, die für ein standesgemäßes Leben notwendig erachtet werden. Das Existenzminimum ist gesichert. Teilweise können die gesellschaftlichen Bedürfnisse und P ichten erfüllt werden, deren Maßstab in unterschiedlichem Zuschnitt das Zunftbürgertum gibt. b) Primäre Armut als Zustand, in dem alle Anstrengungen unmittelbar auf die Sicherung der menschlichen Grundbedürfnisse an Ernährung, Kleidung und Unterkunft gerichtet sind und für die Erfüllung darüber hinausreichender gesellschaftlicher Bedürfnisse und Ansprüche kein Raum bleibt. Diese Armen, die keine Rücklagen für Zeiten der Not und Teuerung sowie der Erwerbslosigkeit und Arbeitsunfähigkeit bilden können, »leben von der Hand in den Mund«. Ausgaben, die über den unmittelbaren Tagesbedarf hinausgehen, können kaum mehr bar bezahlt werden. Das physische Existenzminimum bleibt durch das erreichbare Arbeitseinkommen ungesichert, sodass leicht die Schwelle zur Bedürftigkeit überschritten wird und fehlende Subsistenzmittel durch Almosenempfang und Betteln ergänzt werden müssen. c) Bedürftigkeit. Damit die durch ständigen Hunger bedrohten Bedürftigen das Existenzminimum erreichen können, bedarf es teilweise oder vollständig fremder Unterstützung durch Almosen. Versuche, Armutsgrenzen quantitativ festzulegen, greifen in erster Linie auf städtische Steuerordnungen und das zu versteuernde Vermögen zurück, in dem sich konsumierba-

1326 E. M, Die Unterschichten der mittelalterlichen Städte, S. 54. 1327 Zu den städtischen Bettel- und Almosenordnungen siehe 4.10.2. 1328 In Deutschland gilt gegenwärtig der entsprechend der Skala der OECD personell nach Erwachsenen und Kindern gewichtete Familienhaushalt amtlich und in der Öffentlichkeit in unterschiedlichen Abschattierungen als armutsgefährdet (»Armutsrisiko«, »milde Armut«), der nur 60% (2004: 13% der Bevölkerung der BRD) oder weniger des Medians des Netto-Äquivalenzeinkommens zur Verfügung hat. Der Median (Zentralwert) ist im Unterschied zum arithmetischen Mittelwert der Betrag des Einkommens, bei dem jeweils die Hälfte der Bevölkerung darüber und darunter liegt. Relativ arm, d. h. arm im Vergleich zum sozialen Umfeld, ist der Haushalt, der über maximal 50% des Medians (2004: 7,7%) als Armutsgrenze verfügt; zugleich im striktem Sinne arm (»strenge Armut«) ist derjenige, der leicht unterhalb des Existenzminimums (43%) maximal über 40% (2004: 3, 5%) des Medians verfügt. Gemäß einer Richtlinie der EU aus dem Jahre 2001 ist relativ arm, wer nur über maximal 60% des Medians verfügt. Relative Einkommensarmut ist verbunden mit sozio-kultureller Verarmung, einem Mangel an Teilhabe an sozialen Aktivitäten. 1329 T. F, Städtische Armut und Armenfürsorge, S. 24 ff., 40 ff.; siehe auch 4.10.2.

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res Einkommen allenfalls diffus widerspiegeln kann.¹³³⁰ Sie können nicht exakt sein und beruhen auf mehr oder weniger willkürlichen Annahmen und Setzungen, auch solchen der Zeitgenossen. Auch wenn die Zahlen und Daten oft keine statistische Validität haben, kann der Historiker trotz aller Vorbehalte auf sie nicht völlig verzichten, denn sie können wenigstens eine gewisse Orientierung und eine Annäherung an die soziale Problematik geben. Für den oberdeutschen Bereich werden als Vermögensgrenze zwischen Mittel- und Unterschicht etwa 100 Gulden angenommen.¹³³¹ Mit einem Bargeldvermögen in dieser Höhe konnte vermutlich ein kleiner Gewerbebetrieb hinlänglich ausgestattet werden. Wer 75 Gulden versteuerte, gehörte zu der Unterschicht der Besitzlosen oder Besitzer kleinster Vermögen. Sekundäre Armut wäre zwischen 50 und 100 Gulden anzusiedeln, primäre Armut bei einer Obergrenze von 40–50 Gulden und einem durchschnittlichen Steuervermögen von etwa 25 Gulden Einige Steuerordnungen legen bei etwa 25 Gulden die Untergrenze für die Vermögensteuer fest und gehen darunter zu einer Personal- oder Kopfsteuer über. Basel setzte die Untergrenze in verschiedenen Jahren bei 10 und 30 Gulden fest. Bei einem Steuervermögen von 10 Gulden ist lediglich bescheidener Hausrat zu vermuten, der in manchen Steuerordnungen von der Steuerp icht ausgenommen ist. Die Augsburger Zuschlagsteuer von 1475¹³³² wiederum, die eine Sondersteuer war, beginnt mit der proportionalen Vermögensteuer erst bei 50 Gulden Fahrhabe oder 100 Gulden Immobiliarvermögen. Unterhalb der Vermögensteuergrenze beginnt mit festen Steuerbeträgen die Besteuerung der Habnits, jener – meist namentlich auf Handwer-

ker bezogen – nicht absolut, sondern steuerrechtlich und steuertechnisch Vermögenslosen, der Tagelöhner, Almosenempfänger und Bettler.¹³³³ In Konstanz hatten um 1430 die steuertechnisch vermögenslosen Einwohner 3 oder 4 Schillinge als arm stür und Einwohner, die als Almosenempfänger deklariert waren, eine Armensteuer von 2 oder 3 Schillingen zu entrichten, doch wich die Steuerpraxis davon auch ab. Diese Armensteuer, die aus Einkünften bestritten wurde, setzte umgerechnet ein ktives Vermögen von 100 Gulden voraus. In Augsburg wurden 1475 von der außerordentlichen, wöchentlich fälligen Zuschlagsteuer, die den Beitrag der Stadt zum Krieg gegen Herzog Karl von Burgund nanzierte, auch 107 Bettler (2,4% der Steuerp ichtigen) und 151 Tagelöhner (3,4%) erfasst. Ein Bettler hatte wöchentlich 4 Pfennige zu zahlen, ein Tagelöhner 6 Pfennige, etwa einen halben Tageslohn. Die 2 700 Habnithandwerker mit einem Steuerbetrag von 12 Pfennigen stellten über 60 Prozent der steuerp ichtigen Bevölkerung. In einer Vermögensteuer umgerechnet entspricht dieser Steuerbetrag einem steuerp ichtigen Immobiliarvermögen von etwa 86 Gulden oder einer – doppelt so hoch besteuerten – Fahrhabe von 43 Gulden, berechnet auf der Grundlage der ersten Vermögensteuerklasse von 100 oder 50 Gulden Hinsichtlich der Bettler sind es immer noch 28,5 Gulden und etwa 14,25 Gulden. In München entrichteten 1369 von den Steuerp ichtigen 64,2 Prozent unter Beschwörung ihrer Mittellosigkeit oder eines Vermögens von nur 10 Pfund Pfennigen den Habnit. In Köln erklärten zwischen 1373 und 1414 zwei Drittel bis drei Viertel aller Handwerker, dass sie die Armensteuer in Form einer Kopfsteuer

1330 Siehe den Überblick bei U. D, Untersuchungen zu Einkommensverhältnissen und Lebenshaltungskosten, S. 503 ff. 1331 Für Augsburg wurde auf der Grundlage von Steuervermögen folgender Unterschichtenanteil ermittelt: 65,9% (1475), 43,6% (1498), 45,2% (1512), 54,1% (1526). J. H, Vermögenssteuer, S. 177, vgl. R. K , Bürgerliche Gesellschaft und Kirche (5), S. 46. Eine andere Berechnung, welche die Grenze zur Unterschicht bei 100 Gulden zieht, ergibt folgende Anteile: 83,3% (1475), 82,5% (1492), 77,9% (1516). P. G, Soziale Schichtung, S. 102, zitiert bei J. R, Für den Gemeinen Nutzen (4.1–4.3), S. 215. 1332 J. H, Die Augsburger Zuschlagsteuer von 1475 (4.8). 1333 B. K, Probleme quantitativer Erfassung städtischer Unterschichten, S. 76 ff.

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von einem Gulden nicht bezahlen könnten. Der Steuerbetrag setzt aber auf eine Vermögensteuer umgerechnet ein beträchtliches ktives Vermögen voraus; nach Konstanzer Steuerpraxis wären dies 500 Gulden, nach der Esslinger immer noch 240 Gulden. Vermögenswerte, die aushilfsweise zur Abgrenzung von Armut herangezogen werden, können nur bedingt die wirtschaftlich soziale Lage der handarbeitenden Unterschicht widerspiegeln. Die Angehörigen der Unterschicht bezogen in der Regel ihren Lebensunterhalt aus Arbeitseinkommen und nicht aus Vermögenserträgen; nur nicht konsumierte Überschüsse des Arbeitsertrags gingen als Ersparnis in Vermögen über und wurden dann eventuell als Besitzwerte noch von der Vermögensteuer erfasst. Es gibt allerdings Hinweise dafür, dass in der untersten Steuerklasse bei der Veranlagung zur Vermögensteuer die Einkommensverhältnisse gelegentlich mitberücksichtigt wurden. Die Vitalsituation geht eindeutiger aus den Lohnverhältnissen hervor. Hinsichtlich oberdeutscher Städte wurden für Tagelöhnerarbeit auf dem Bausektor als maximal erreichbares Einkommen nicht wesentlich mehr als 20 Gulden im Jahr ermittelt; für ausgelernte Bauhandwerker wurden mögliche und tatsächlich erreichte Einkommen von über 20 Gulden bis über 40 Gulden im Jahr nachgewiesen. In Zürich lag der Tageslohn eines Knechts im Rebbau ohne Verp egung bei 36 Pfennigen, ein Bauarbeiter erhielt 48 Pfennige, sodass sie rechnungsmäßig bei etwa 280 Tagessätzen im Jahr 32 und 43 Gulden verdienen konnten. Man kann vermuten, dass in diesen Bereichen die Obergrenze des zur bloßen Existenzsicherung erforderlichen Arbeitseinkommens und möglicherweise die Schwelle zur Ersparnis- und Vermögensbildung zu suchen sein wird. Vor allem musste der Winter mit Arbeitsausfällen und niedrigeren Winterlöhnen überbrückt werden. Die absolute Untergrenze zur Sicherung des Exis-

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tenzminimums mögen die jährlichen Nürnberger und Straßburger Almosensätze aus dem beginnenden 16. Jahrhundert mit 5–8 Gulden pro Person anzeigen. Zwischen den Lohnmargen mit einer Streuung zwischen 20 und 40 Gulden dürfte sich die Einkommenssituation der untersten Einkommensklassen und damit mehr als der Hälfte der Stadtbevölkerung bewegt haben, ohne dass zu sagen wäre, wie viele Personen von den Einkünften eines Einkommensbeziehers lebten.¹³³⁴ Versucht man, den Anteil der Armen an der Stadtbevölkerung quantitativ zu erfassen, so ist man wiederum in erster Linie auf die Steuerbücher des ausgehenden 14. und des 15. Jahrhunderts angewiesen. Es handelt sich deshalb um Verteilungsrelationen unter den Steuerp ichtigen, nicht unter der gesamten Bevölkerung. Steuerp ichtige aber sind Einzelpersonen mit Haushalt oder Familien- und Haushaltsvorstände. Es ist deshalb nicht korrekt, wenn – wie es nicht selten geschieht – die Gesamtheit der Steuerp ichtigen oder gar nur der Steuerzahler als Gesamtheit der Bevölkerung genommen wird. In einigen Städten gehörten zu Zeiten unterschiedlicher Vermögensentwicklungen zwei Drittel bis zu vier Fünftel der steuerp ichtigen oder steuerzahlenden Bevölkerung zur armen Unterschicht, zum Bereich der sekundären Armut bis etwa 100 Gulden und etwa 35–40 Prozent zur primären Armut. Vier Fünftel der Steuerp ichtigen hatten etwa 3 Prozent des Steuervermögens in Händen. Etwa 10–20 Prozent waren ohne festes Einkommen und unzureichend ernährt. Abweichend davon wurde für Lübeck (1460) eine »unterste, faktisch besitz- und einkommenslose Schicht« von 14 Prozent der Zensiten und eine größere Schicht von etwa 40 Prozent mit »teilweise kleinem, teilweise ganz fehlendem Einkommen« ermittelt. Aber nicht weniger als 24,6 Prozent aller steuerp ichtigen Haushaltungen des Jahres 1460 waren in Kellern, Gängen und Hinterhäusern ansässig.¹³³⁵

1334 U. D, Untersuchungen zu Einkommensverhältnissen und Lebenshaltungskosten, S. 519, vgl. auch S. 459, 511 ff., 518 ff. 1335 A. . B, Die gesellschaftliche Struktur des spätmittelalterlichen Lübeck, S. 226, 228, 237.

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7.3.2.2 Die Almosenempfänger: Bettler und Hausarme Gebettelt wurde unter lärmendem lamentierendem Singen (Bettelrufe) in den Gassen und von Haus zu Haus, auch in Kirchen und vor Kirchentüren, was aber mancherorts verboten wurde. Betteln konnte ein Zusatzerwerb, aber auch Flucht vor dem Hungertod sein, dessen Möglichkeit oder Realität Geiler von Kaysersberg immer wieder heraufbeschwört. Es gab berufsmäßiges tägliches Betteln und solches, das eher gelegentlich oder saisonal notwendig war. Ferner war es die Frage, ob Arme und Bedürftige noch in ein soziales und solidarisches Netz von Nachbarschaft und Zunft eingebunden waren oder zum Kreis derer gehörten, denen Formen des vollen oder geminderten Bürgerrechts den Zugang zum Almosen vermittelten. Besondere Gruppen waren die stadtsässigen Berufsoder Gelegenheitsbettler und die unbehausten, vagierenden Bettler, auf der anderen Seite die seit dem frühen 14. Jahrhundert so genannten Hausarmen (pauperes domestici) oder verschämten Armen, d. h. stadtsässige ehrbare Leute und Bürger, die unverschuldet durch Unglücks- und Wechselfälle in Armut geraten waren und die aus Scham nicht in der Öffentlichkeit als Bettler oder Almosengänger unterstützt werden wollten. Für sie und nicht für die öffentlich auftretenden Bettler, die bewusst vom Almosen ausgeschlossen werden, sind in Nürnberg die ZwölfBrüder-Stiftung für alte Handwerker des Marquard Mendel und das Reiche Almosen des Burkard Sailer von 1388 zuständig. In Augsburg stiftete die Familie Egen 1445 das Antonsspital wiederum für zwölf ehrbare alte Handwerker.¹³³⁶ Nürnberger Bürger stifteten Seelhäuser, mietfreie Wohnungen für arme Leute. In Köln, Lüneburg und Lübeck wurden als fromme Werke den Armen Kellerwohnungen (Gotteskeller, Gottesbuden) mietfrei überlassen. Jakob Fugger der Reiche stiftete in Augsburg eine zwischen 1516 und 1523 erbaute, von einer Mau-

er umschlossene und für damalige Verhältnisse äußerst ansehnliche soziale Wohnsiedlung, die wenig später Fuckerei genannt wurde, mit 53 unten und oben mit separaten Wohnungen belegten Reihenhäusern in sieben Zeilen, in denen laut Stiftungsbrief von 1521 arme Frauen, Tagelöhner, Handwerker, Bürger und Einwohner wohnen durften. Der jährliche Hauszins von einem Gulden wurde nur zum Zweck der Instandhaltung erhoben. In akuten Krisenzeiten, in wiederkehrenden Jahren des Getreidemangels, des Hungers, der Teuerung und der dadurch bedingten Konjunktureinbrüche in verschiedenen Gewerben, weil alle Mittel zur Linderung des Hungers aufgewandt werden mussten, wuchs die Zahl der auf Almosen angewiesenen Armen zu einem Massenphänomen an. Vom Hunger getrieben, waren Menschen bereit, sich auf dem Arbeitsmarkt allein für die Ernährung (Kost) zu verdingen. Hinzu kam vom Land her die uktuierende Armut. In Göttingen war gemäß dem Ratsstatut von 1459 zum Empfang von Almosen berechtigt, wer 10 Mark oder weniger versteuerte. Der Kreis der Berechtigten war hier relativ weit gezogen und dürfte etwa ein Drittel der Bevölkerung von allenfalls 5 000 Einwohnern betragen haben. In den Jahren 1458/59, die keine Krisenjahre waren, erhielten zu verschiedenen Terminen 1 600 und 1 710 Personen Almosen, vermutlich handelte es sich aber nicht nur um stadtsässige Arme. Johannes Cochläus berichtet in seiner »Germania« von 1512, dass zu Allerseelen in Nürnberg der Zustrom von fremden Almosensuchenden so groß wurde, dass bisweilen über 4 000 Menschen vor der Stadt lagerten, da alle Friedhöfe in der Stadt bereits mit Behelfsunterkünften belegt waren. Schätzungen für Freiburg im Breisgau und Straßburg gehen dahin, dass im 16. Jahrhundert möglicherweise 5–10 Prozent der Stadtbevölkerung durch Almosen unterstützt wurden. Als in Nürnberg 1501 die Viertel- und Gas-

1336 Gestiftet wurden aus Eigengut eine Kapelle und ein Spital mit Kaplan und Spitalbrüdern, das mit einer Ewigrente von 350 Gulden, zusammengelegt aus 250 Gulden von Augsburg und 100 Gulden von Kempten, dotiert war. Die umfangreiche Stiftungsurkunde mit ihren überaus detaillierten Bestimmungen ndet sich im Stadtbuch von Augsburg, hg. von C. M (2.2–2.4), Nr. XXVII, S. 270–286.

Uneheliche, ›Unehrliche‹ und Randgruppen

senhauptleute im Zuge einer Teuerungshilfe des Rats eine Liste von armen Handwerkern, Tagelöhnern und hausarmem Hausgesinde erstellten, die durch Vorlage eines Brotzeichens zum Kauf verbilligten Ratsbrots berechtigt waren, erfassten sie 5 002 Personen, damals etwa 15 Prozent der Gesamtbevölkerung. Hinter den Personen verbargen sich aber teilweise Haushalte. Auch Augsburg ließ in Zeiten der Teuerung in einem ›gemeinen Backhaus‹ die Woche hindurch Brote für die armen Bürger backen und nach Bedarf und Kinderzahl verbilligt abgeben. Im Jahr 1512 soll es in der Stadt 1 660 Almosenempfänger gegeben haben; vielleicht bezieht sich die Zahl auf eine der seit 1491 im Auftrag des Rats geführten ältere Listen. Wilhelm Rem berichtet in seiner Chronik, dass er 1517 elf Brot-, Korn- und Geldspenden für insgesamt 36 093 Personen gegeben habe; das sind durchschnittlich 3 281 Personen pro Spende und 10 Prozent der Einwohner bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 30 000 Einwohnern. In Hamburg wurden 1481 insgesamt 2 880 arme Leute als Almosenempfänger aufgelistet. Das Konstanzer Spital versorgte alle zwei Monate etwa 3 000 Bettler, und im Nürnberger Spital wurden zu Beginn des 16. Jahrhunderts täglich 300 bis 500 Arme gespeist. Die Armen nahmen das Almosen nicht ohne Gegenleistung in Empfang, sondern vergalten es durch ihre Fürbitte und ihr Gebet für den Spender.¹³³⁷ Als Mittler zu Gott spielten sie für das Seelenheil der Almosengeber eine wichtige Rolle. Der unverschuldet Arme hatte nach kanonischem Recht geradezu einen Anspruch auf Hilfe und Unterstützung durch die Wohlhabenderen und Reichen, die wiederum der Fürbitte der Armen bedurften. In Legaten wurden testamentarisch häu g Ein-Pfennig-Geldspenden oder Spenden von Brot in diesem Wert ausgeworfen. Es halfen aber auch Brot- und Speisenreste, die bürgerliche Haushalte mit einer gewissen Regelmäßigkeit abgaben. Almosenspenden und gut dotierte Sozialstiftungen dienten dem Seelenheil des Stifters, vielfach der Entlas-

1337 E. M, Die Unterschichten, S. 8 f., 68 ff.

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tung des schlechten Gewissens der wirtschaftlich Erfolgreichen und Skrupellosen, die zu diesem Zweck ein ›Sonderkonto beim lieben Gott‹ einrichteten. Weniger gelitten waren jene Arme vom Lande, die in Krisenzeiten, bei Missernten und Hungersnöten in die Stadt drängten. Sie erhielten dort zwar auch Almosen und wurden gelegentlich zusammen mit den stadtsässigen Armen testamentarisch mit Spenden bedacht, sie wurden jedoch so rasch wie möglich wieder aus der Stadt gewiesen oder gar mit Gewalt verjagt.

7.4 Uneheliche, ›Unehrliche‹ und Randgruppen 7.4.1 Uneheliche Seit der Durchsetzung der Einehe unter maßgeblichem Ein uss der kirchlichen Morallehre und Gesetzgebung im Hochmittelalter wurde die außereheliche Zeugung und uneheliche Geburt eines Kindes zu dessen personalem sittlichen Makel (defectus), wurden die natürlichen Kinder zu illegitimen (Bastarde, Bankerte). Ihre Rate im Spätmittelalter wird extrem unterschiedlich hoch bis zu einem Drittel eingeschätzt, doch fehlen die Quellen für einigermaßen zuverlässige Angaben. Anhaltspunkte, die sich aus Legaten für uneheliche (unechte) Kinder in Testamenten ergeben, lassen sich nicht statistisch hochrechnen, sind aber ein Zeichen dafür, dass diese Kinder akzeptiert wurden. Vermutlich ließ die moralische Sichtweise der Zeitgenossen das tatsächliche Vorkommen illegitimer Nachkommen übertreiben. Kindesaussetzungen, Findelhäuser und Kindsmorde, von denen neugeborene Mädchen mehr als Knaben bedroht waren, weisen auf Illegitimität hin, liefern aber keine verwertbaren Zahlen. Determinanten von Illegitimität waren Religiosität, Sexualmoral, Sexualverhalten und wirtschaftliche Verhältnisse; außerdem kann man davon ausgehen, dass die städtische Illegitimität die ländliche überstieg. Es gibt Hinweise, dass die Illegitimenrate insgesamt doch relativ nied-

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rig gewesen sein dürfte, auch wenn Einzelbeispiele etwas anderes nahelegen. Illegitime Nachkommen konnten durch nachfolgende Ehe und durch Indulte und Reskripte von Papst und Kaiser oder in Ableitung durch so genannte ›kaiserliche Hofpfalzgrafen‹ legitimiert werden. König Sigmund konzedierte andererseits der Stadt Rottweil 1411, dass Waisen, verstoßene und elende Kinder, die im städtischen Spital aufgezogen wurden, als Eigenleute des Spitals im Besitz der Stadt bleiben sollten.¹³³⁸ Der Augsburger soziale Aufsteiger Burkard Zink (1396–1474) hatte uneheliche Kinder wie auch der Patrizier Lukas Rem (1481–1541), der fünf ledige Kinder nennt, die der Bezeichnung nach aus einem vorehelichen Konkubinat hervorgegangen sein müssten. Ein Frankfurter Stadtarzt Johann Wiesebeder setzte 1436 zu alleinigen Erben folgende Personen ein: seine Dienstmagd Katarina, die Tochter, die er mit ihr hatte, seinen Sohn mit einer anderen Magd und die Kinder, die ihm Katarina eventuell noch schenken würde. Kinder wurden vor der Ehe und nach dem Tod der Ehefrau gezeugt, bei Kau euten verbreiteter auch auswärts, ferner außerhalb der Ehe, was Ehebruch bedeutete und zu Lasten der künftigen Stellung des unehelichen Kindes mit innerfamiliären Kon ikten und Ehetrennungsklagen verbunden sein konnte. Erbrechtlich wurden die unehelichen Kinder zurückgesetzt; sie galten nicht als natürliche, wirkliche Erben im Erbgang, sondern mussten testamentarisch eingesetzt und mit Legaten bedacht werden. Patriziat und Oberschicht bekannten sich wie der Adel im Allgemeinen zu ihren unehelichen Kindern, beließen sie nachgeordnet im weiteren Zusammenhang von Familie und Verwandtschaft, machten sie nicht zu namenlosen Randexistenzen und wahrten damit auch ihre soziale Chancen. Im handwerklichen Mittelstand hingegen mit seinen knappen materiellen Ressourcen wurden im Verlauf des Spätmittelalters Uneheliche landschaftlich

unterschiedlich früh und konsequent, seit dem 15. Jahrhundert zunehmend, aber auch erst seit dem beginnenden 16. Jahrhundert allgemeiner in Zunftordnungen diskriminiert und durch Verweigerung des Eintritts in die Zunft vom erstrebten Beruf ausgeschlossen.¹³³⁹ Ursprünglich war man auch im Handwerk gegenüber der Unehelichkeit von Kindern duldsamer. Im ober- und mittelrheinischen Raum lassen sich seit der Mitte des 14. Jahrhundert vereinzelte Bestrebungen von Zünften, darunter die ohnehin vornehmeren Goldschmiede, ermitteln, unehelich Geborene durch entsprechende Bestimmungen entweder fernzuhalten oder sie als Zunftangehörige diskriminierend von der Ausübung von Zunftämtern oder von der Mitsprache in den wichtigen Zunftversammlungen auszuschließen. Doch stießen sie damit auf den Widerstand städtischer Räte. Im Verlauf des 15. Jahrhunderts, als sich Ausschlusstendenzen etwas mehrten, nden sich in Köln unter 50 Ämtern (Zünften) lediglich fünf, die in ihren Ordnungen Uneheliche ausschlossen. Deutlich anders verhielt es sich in Niedersachsen und in den wendischen Hansestädten. In diesen Regionen setzten die Ausschlussbestrebungen früher ein, so 1320 bei den Braunschweiger Goldschmieden, 1323 bei den Lakenmachern und 1325 den Beckenschlägern, während das Stadtrecht von 1330 Gegenteiliges festlegte, ferner 1328 bei den Hildesheimer Kürschnern. Die Lakenmacher schlossen 1323 zugleich Bettler und Gaukler (Lotterbuben) sowie die als unehrlich geltenden Bader, Schäfer, Barbiere und Leinenweber aus. Der Ausschluss Unehelicher wurde von einer größeren Anzahl von Zünften und konsequenter betrieben, indem bald Geburtsbriefe verlangt wurden, mit denen die eheliche Geburt nachzuweisen war und die sich in Einzelfällen teilweise zu einer Art von Ahnenprobe auswuchsen. Gefordert wurde neben der ehelichen und ehrlichen, der ›echten und rechten‹ Geburt auch die Abstammung

1338 W. A, Die Urkunden Kaiser Siegmunds 1410–1437, Innsbruck 1896/1900, Nr. 35. 1339 E. M, Unterschichten, S. 13 f., 52; N. B, Illegitime Kinder – viele oder wenige, in: L. S (Hg.), Illegitimität im Spätmittelalter, S. 21–39; K. S, Die Norm der Ehelichkeit im Zunft- und Bürgerrecht, ebd., S. 67–83.

Uneheliche, ›Unehrliche‹ und Randgruppen

von freien und schließlich, nachweisbar seit den 1350er Jahren in Lüneburg und Beeskow, von zugleich deutschen, nicht wendischen Eltern. Im oberdeutschen Rheinland durften Eltern später nicht welsch sein. Die Reinheit der Geburt stellte damit gewissermaßen ein spezi sches geburtsständisches Prinzip der Handwerkerzünfte dar. Neben der sozialen Voraussetzung der ehelichen und ehrlichen Geburt wurde moralisierend für die Zunftangehörigkeit ein gut beleumundeter Lebenswandel verlangt. Beide Forderungen übertrug man sodann auf die Ehefrau. Wer bei der Wahl seiner Ehefrau auf die Erfüllung dieser Voraussetzungen nicht achtete, konnte nicht damit rechnen, in die Zunft aufgenommen zu werden, oder hatte zu befürchten, aus ihr wieder ausgeschlossen zu werden. Alle diese Elemente, d. h. durch Zeugen oder urkundlich nachgewiesene eheliche und ehrliche, freie, deutsche und nicht wendische Geburt, ein unbescholtener Leumund und die Übertragung dieser Anforderungen auf die Ehefrau sind vollständig in dem Gildebrief der Gerber und Schuhmacher Stendals von 1488 zusammengeführt. Die Zünfte setzten sich häu g gegen eine großzügigere Stadtobrigkeit durch und sperrten sich gegen obrigkeitliche Legitimierungen. Die Verschärfung der sozialen und moralischen Maßstäbe ist in einem Zusammenhang mit der sozialen Konkurrenz der um Ehre und Ruf besorgten Zünfte untereinander, allgemein mit der Ehre der Handwerkerzünfte, die sich gegen andere Sozialgruppen zu behaupten hatten, und schließlich mit anderen Maßnahmen bis hin zum Numerus clausus auch als Mittel gegen eine so genannte ›Übersetzung‹ des Handwerks zu sehen, die sich seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zwar deutlicher abzeichnete, aber als generellere Erscheinung in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts fällt.

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7.4.2 ›Unehrliche‹ Leute und Berufe Nicht mehr vorwiegend durch wirtschaftliche Merkmale, sondern durch gerichts- und berufssoziologische Unehrlichkeit¹³⁴⁰, teilweise durch soziale Diskriminierung als Randgruppenzugehörige gekennzeichnet sind die Außenseiter und die Angehörigen verfemter, übel beleumundeter Berufe, ferner die Kinder dieser ›unehrlichen‹ Leute, aber auch die als unehrlich geltenden unehelichen Kinder, die vor oder außerhalb der Ehe gezeugt wurden, darunter als spezielle Gruppe die Pfaffenkinder. Hinzu kommt noch die Deliktsunehrlichkeit bei Strafen an Leib, Haut und Haar. Zum Kernbestand an unehrlichen Berufen und Gewerben zählten in erster Linie die Scharfrichter, Schinder (Abdecker), ferner die Totengräber und als deutlich andere Kategorie die fahrenden Spielleute. Mit unübersehbaren regionalen und örtlichen Unterschieden kommt noch eine Reihe von Berufen hinzu, ohne dass in jedem Falle auch nur das vordergründige Motiv ihrer Verunehrung einsichtig ist: Büttel, Gefängniswärter, Gerichtsdiener, Müller, Schäfer, Leinenweber, Töpfer, Ziegler, Türmer, Nachtwächter, Prostituierte, Bader, Bartscherer, Schweineschneider, Gassenkehrer und Bachfeger (Kloaken- und Abwasserkanalreiniger). Beim Amtsbüttel – praeco, bedellus – vrone, bodel– rührt die Verunehrung daher, dass er in norddeutschen Städten zwar zur Bursprake aufrief, amtliche Mitteillungen verkündete, als Gerichtsbote Vorladungen überbrachte, pfändete und arrestierte, Gefangene beaufsichtige und verköstigte, aber ursprünglich auch die Hinrichtungen und andere Strafen vollzog. Aus dieser umfassenden Tätigkeit löste sich späteren Mittelalter seit dem 14. Jahrhundert und spätestens zu Beginn des 15. Jahrhundert im Zuge beru icher Spezialisierung in Weiterführung der Bezeichnungen Vrone oder Bodel das Amts des gelegentlich auch so bezeichneten Scharfrichters

1340 W. D, Unehrliche Leute. Die verfemten Berufe; R. W, Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit (8.2–8.4), Bd. 1, S. 67–119, 215 ff., 240 ff., 254 ff.; E. M, Die Unterschichten, S. 13 ff. K. S. K, Grundriß einer rechtlichen Volkskunde, Göttingen 1974, S. 51 ff.; ., Art. »Ehrliche/unehrliche Gewerbe«, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. I, Berlin 1964, Sp. 855–858.

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(scharpenrichter) heraus, der im Süden Henker (suspensor) genannt wurde. Den Scharfrichter nun, der sich Blutschuld au ud, traf das christliche Tötungsverbot; mit ihm wollten Zunftgenossen nicht verkehren. Aber erst in der frühen Neuzeit wurde die Anrüchigkeit und Unehrlichkeit des Amtes zum vererbbaren Makel. Scharfrichter hatten verschiedentlich die Stelle eines Frauenwirts im städtischen Bordell inne oder praktizierten gelegentlich als Wundärzte. Der Henker Hans von Colmar versteuerte in Basel 1453/54 immerhin ein Vermögen von 1 200 Gulden. Unabhängig vom Amt des Scharfrichters entwickelte sich der Beruf des Abdeckers, der Unrat und Abfall aller Art beseitigte, Tierkadaver wegschaffte, Abtritte räumte und die Leichen von Hingerichteten verscharrte.¹³⁴¹ Im Ganzen gesehen nahm das Unehrlichsprechen von Berufen im Verlauf des späteren Mittelalters zu, kam aber erst seit dem 16. Jahrhundert zum vollen Durchbruch. Neben dieser zeitlichen Tendenz ist in räumlicher Hinsicht festzustellen, dass die Bestimmungen über die Ausschließung von Gruppen, die ihrer unehelichen oder nichtdeutschen Abstammung oder ihrer Berufstätigkeit wegen als unehrlich betrachtet wurden, in den nord- und ostdeutschen Städten am schärfsten waren. So galten die Leinenweber dort vielfach als unehrlich, und ihre Unehrlichkeit wurde gelegentlich sogar auf die Weber insgesamt ausgedehnt; nicht als unehrlich hingegen wurden sie im oberdeutschen Leinwandproduktionsgebiet angesehen, wo sie bedeutende Zünfte waren. In Köln bildeten Bartscherer und Leinenweber zwar eine rangniedrige Zunft und waren derselben Gaffel zugeteilt, es wurde ihnen jedoch im späten 15. Jahrhundert das passive Wahlrecht genommen. In Würzburg hatten Uneheliche bei der Aufnahme ins Bürgerrecht keine Schwierigkeiten und konnten städtische Beamte werden; in den Rat konnten sie allerdings nicht gelangen. In Frankfurt am Main wurden in der zwei-

ten Hälfte des 15. Jahrhunderts drei Schinder in das Bürgerrecht aufgenommen. Zur gleichen Zeit musste ein angehender Handwerksmeister oder auch schon der Lehrling seine eheliche Geburt bezeugen. Die Goldschmiede verlangten in Köln, dass ein Lehrling des Gewerbes von ehelicher Geburt, nicht hörig und nicht Kind eines Bartscherers, Spielmanns oder Leinenwebers sei. In Esslingen wollten die Metzger um 1400, mit Blick auf die Kinder von Gerbern, in ihr Handwerk niemanden aufnehmen, der Handreichung und Übung im Lederhandwerk getan hatte, während zugleich die Gerber ihrerseits die Abdecker und solche, die Häute von toten Tieren und tote Tiere wegen der Häute kauften, von ihrem Handwerk für ausgeschlossen erklärten. Andererseits gehörten Gerber gelegentlich zu den höheren Rängen der Zunfthierarchie, waren im Rat vertreten und verfügten häu g über große Handwerkervermögen. Am wenigsten verständlich sind für uns jene seit Anfang des 16. Jahrhunderts berichteten Fälle, in denen Zünfte gegen den Willen der Obrigkeit versuchten, Handwerker für unehrlich zu erklären und auszuschließen, die völlig zufällig, fahrlässig oder in Notwehr einen Hund getötet hatten. Für die Unehrlichkeit der Henker, Büttel und Abdecker in Zunftkreisen galt in der frühen Neuzeit, dass schon üchtiger Kontakt mit ihnen durch persönlichen Umgang wie Speiseund Trinkgemeinschaft oder Patenschaft, durch Berührung ihrer Geräte wie Galgen, Pranger, Schindermesser oder durch ihnen eigene Handlungen wie das Erschlagen von Hunden und das Entfernen von Aas unehrlich machte. Ausdrücke aus diesem Bereich gehörten zu den wirkungsvollsten Ehrkränkungen. Zum sozialen Verruf trat bei den Henkern und Schindern eine numinose Faszination, die ihnen innerhalb der unehrlichen Berufe eine Sonderstellung verschaffte. Bei ihnen liegt vermutlich das Zentrum der Erscheinung der Unehrlichkeit und des Verrufs. Der Ursprung der Unehr-

1341 G. W, Scharfrichter und Abdecker – Aspekte ihrer Sozialgeschichte vom 13. bis zum 16. Jahrhundert, in: B.-U. H (Hg.), Randgruppen, S. 121–156.

Uneheliche, ›Unehrliche‹ und Randgruppen

lichkeit indessen ist ungeklärt, wie auch über die Chronologie und landschaftliche Verbreitung der Verunehrung der verschiedenen Berufe vielfach Unsicherheit herrscht. Verschiedene Hypothesen können zwar Einzelheiten, nicht aber das Gesamtphänomen schlüssig erklären. »Insgesamt gesehen dürfte die Ursache eher in der sozialen Wirklichkeit der jeweiligen Zeit zu suchen sein als in irgendwie gearteten Spannungsfeldern zwischen alten religiösen Tabus und neu aufkommenden Kulturen und Religionen.«¹³⁴² Tabuisierte Tätigkeiten, die Verrichtung niedriger, unsauberer und für verwer ich erachteter Dienste und Arbeiten, auch wenn sie im Auftrag der Obrigkeit erfolgten, die Berührung von Leichen und Tierkadavern, abgezogenen Häuten, Kot und Unrat, Schweiß und Blut, ferner der Verdacht berufsnotorischer Unzucht, illegaler und kleinkrimineller Praktiken oder soziale Spannungen hervorrufende Nichtsesshaftigkeit und Ortsfremdheit, die bei den nicht durchweg als unehrlich geltenden Müllern, Schäfern und Badern eine Rolle spielen dürften, sind gruppenbildende Merkmale einer Vielzahl unehrlicher Berufe. Ehrlichkeit und Unehrlichkeit sind soziale, nicht moralische Kategorien. Sie sagen noch nichts über die persönliche Lebensführung aus. Die Verunehrung konnte von Seiten der Obrigkeit durch Ehrlichsprechen aufgehoben werden. Bereits im 16. Jahrhundert wurden die Auswüchse der Verunehrung, die sich nunmehr wie die Diskriminierung von unehelich Geborenen voll entfaltete, zusammen mit anderen Missbräuchen im Handwerk obrigkeitlich und in Reichspolizeiordnungen seit 1530 bekämpft, doch erst die Handwerksordnung im Reichsabschied von 1731, die allerdings für Städte und Territorien nur eine Rahmenordnung darstellte, schuf eine effektivere reichsgesetzliche Grundlage und untersagte in Erinnerung an die als weitgehend wirkungslos bezeichnete Ordnung von 1548 den Ausschluss von Angehörigen genannter unehrlicher Beru-

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fe (mit Ausnahme der Schinder) von den Zünften (Reichshandwerksordnung § IV). Erst 1772 wurde das Verbot auf Abdecker und Henker ausgedehnt. Unehrlichkeit bedeutete eingeschränkte Rechtsfähigkeit. Unehrliche waren insofern gerichtlich rechtlos, als sie nicht die Stellung eines Richters, Urteilers, Eideshelfers, Zeugen oder Vormunds einnehmen konnten. Zum angesehenen zünftigen Handwerk wurden sie – mit Ausnahmen – nicht zugelassen. Sie waren unwählbar für städtische Ehrenämter. Angesichts der gesellschaftlichen Distanz selbst zu den Kleinstbürgern hatten sie nur einen außerordentlich eingeschränkten Heiratskreis. In ihrer marginalen Stellung neigten die Angehörigen unehrlicher Berufe dazu, sich zu Familienverbänden zusammenzuschließen. 7.4.3 Die Sozialkategorie der Randgruppe Die diskriminierten Angehörigen unehrlicher Berufe, die durch gesellschaftliche Zuschreibung unehrlich sind, erfüllen wohl am eindeutigsten die Vorstellung von einer Randgruppe, zeigen aber zugleich die Problematik des Begriffs der »Randgruppe« auf.¹³⁴³ Prostituierte entziehen sich meist aus materieller Not kirchlichen und gesellschaftlichen Moralvorstellungen, werden durch Kleidungsvorschriften und Zeichen stigmatisiert, im Ausgang des Mittelalters zunehmend von der Obrigkeit an den Pranger gestellt und anderen Ehrenstrafen unterworfen, an den Rand gedrängt oder in Straßen zusammengefasst und leben zum Teil unter erbärmlichen Bedingungen am Rande der Gesellschaft oder in reglementierten Verhältnissen im städtischen Bordell. Im Alter versuchen sie vielfach, sich mit Kuppelei oder als Hökerinnen zu ernähren. Sie werden aber auch geduldet, sind eine selbstverständliche und angesichts unverheirateter Gesellen und eines späten Heiratsalters notwendige Erscheinung in den Städten, nden sich

1342 K. S. K, Grundriß, S. 56. 1343 F. G, Randgruppen; W. H, Gesellschaftliche Randgruppen; F. I/A. L, Bettler und Gaukler; E. S, Duldung, Diskriminierung; B.-U. H (Hg.), Randgruppen.

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bei kirchlichen Konzilien ein, werden zu offiziellen Festen und zu Tänzen geladen, von der Kirche als geringeres Übel akzeptiert und durch Unterstützungsleistungen zur Aufgabe ihres Gewerbes, zur Eheschließung und Rückkehr in die ehrbare Gesellschaft angeleitet. Berufe galten zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Regionen als unehrlich oder auch nicht, vielfach waren sie für die Gesellschaft unentbehrlich. Untersucht man Randgruppen empirisch, so kommen heterogene und widersprüchliche Merkmale zutage, die sich nur schwer zu einer De nition verdichten lassen.¹³⁴⁴ Randgruppen leben im Mittelalter häu g in topogra scher Randlage oder in Vorstädten und in einer gewissen Distanz zur Mehrheit der Gesellschaft und deren Normen, Werten und Konventionen, werden von gesellschaftlichen Kreisen und Korporationen als solche betrachtet, sozial distanziert oder ausgegrenzt, diskreditiert, stigmatisiert oder infamiert, in ihrem Verhalten diskriminiert oder durch Zuschreibung von stereotypischen Verhaltensweisen verdächtigt. Randständige können der Gesellschaft zugewandt oder von ihr abgewandt leben. Als Einzelpersonen wie der Henker, der im Übrigen verschiedene offizielle Dienste für die Stadt erbringt, bilden Randständige natürlich keine Gruppe. Sind es mehrere, besitzen sie in der Regel als lediglich informelle und wenig entwickelte Sozialgruppe keine anerkannte kollektive Ehre, sind da-

her teilweise minderberechtigt und haben keine politischen Rechte; ökonomisch stehen sie meist auf schwachen Füßen. Armut und Krankheit können Angehörige der Unterschichten sozial entwurzeln und durch ruinösen sozialen Abstieg marginalisieren. Vagierende sind naturgemäß nur dann eine gesellschaftliche Randgruppe und nicht lediglich Fremde, wenn sie sich für eine längere Zeit niederlassen und ortsfest werden können. Eine honorige Randgruppe wie die stadtsässigen Bettler, die aber lange Zeit der Gesellschaft zugewandt war, fand sich in einigen wenigen Fällen zu gewerblich-bruderschaftlichen Vereinigungen zusammen. Dazu gehörte die 1411 bezeugte Bruderschaft der armen blinden Leute Straßburgs, die 1433 nachweisbar zur fraternitas pauperum mendicantium erweitert wurde. Diese Bruderschaft bei St. Andreas, deren Mitglieder jährlich sechs Pfennige zu entrichten hatten, sorgte für Begräbnis und Seelenmessen der verstorbenen Mitglieder; diesem bruderschaftlichen Bereich mit Gebet und Totengedenken konnten Frauen und Bürger Straßburgs gleichfalls beitreten. Im Namen der Bruderschaft und für die Kerzenstiftung durfte nicht gebettelt werden. Die Bruderschaft erhielt 1469 weitere Statuten, nach denen sich Blinde, Lahme und andere bresthaftige Leute zusammenschlossen, und besaß neben einem eigenen Meister ein eigenes Gericht, das über betrügerischen und

1344 Vgl. die häu ger angeführte, aber überladene De nition von František Graus, der Randgruppen de niert als »Personen oder Gruppen, die Normen der Gesellschaft, in der sie leben, nicht anerkennen bzw. nicht einhalten oder nicht einhalten können und aufgrund dieser Ablehnung bzw. Unfähigkeit (infolge sog. nichtkonformen Verhaltens) von der Majorität als nicht gleichwertig akzeptiert werden. […] Marginalität ist immer das Ergebnis eines Andersseins und der Reaktion der Majorität (Stigmatisierung) […]«. F. G, Randgruppen, S. 396. Es ist schwer zu ermitteln, ob, inwieweit oder weshalb etwa die nicht kriminellen Angehörigen unehrlicher Berufe Normen der Gesellschaft nicht anerkennen oder einhalten wollen, außer dass sie ihre von der Gesellschaft benötigten Berufe nicht aufgeben. Hergemöller de niert mittelalterliche Randgruppen vorläu g »als jene heterogenen Personenkreise […], die durch negative kollektive Attributionen einem partiellen oder totalen Verlust ihrer Ehre unterworfen werden« und bildet folgende Großgruppen: (1.) Unehrliche Berufe, (2.) körperlich und geistig Signi kante (Behinderte), (3.) ethnisch-religiös denierte Gruppen (Juden, Wenden) und (3) Inquisitionsopfer (Ketzer, Hexen, Sodomiter). Ferner spricht er von der »Notwendigkeit, weitere Differenzierungen zu treffen, vor allem eine Trennung von Randgruppen auf der einen und Unterschichten, Kriminellen, Minderheiten und Minderberechtigten auf der anderen Seite vorzunehmen!« B.-U. H, Randgruppen, S. 3, 9. Im Folgenden beginnen sich dann De nitionsversuch und Systematisierung heillos zu verheddern und münden in Aufzählungen unterschiedlichster Personen und Personenkreise, die in ihren Merkmalen und Zuschreibungen eben äußerst heterogen sind. Es ist grundsätzlich die Frage, ob man in diesem Fall die soziale Wirklichkeit und Schicksale durch blutleere De nitionen bis zur Unkenntlichkeit abstrahieren soll, oder ob nicht eine dichte Beschreibung unter einem relativ offenen Begriff genügt.

Uneheliche, ›Unehrliche‹ und Randgruppen

unberechtigten Bettel befand und an dessen Sitzungen ein städtischer Bediensteter teilnahm. Auch urteilte das Gericht bei Beleidigungsklagen und war bei Streitigkeiten unter den Mitgliedern zuständig. Im Einzelfall ging es auch der Beschuldigung des Diebstahls nach und verhängte Sanktionen, weil der Beschuldigte der Vorladung zur Rechtfertigung nicht nachkam. Erst 1469 ließ die Bruderschaft, der damals 68 Brüder und Schwestern angehörten, offiziell auch andere arbeitsunfähige invalide Bettler zu unter der Voraussetzung, dass sie nicht straffällig geworden waren und ohne Betrug bettelten. Es gehörte ihr aber nur ein Teil der Straßburger Bettler an. Die Bruderschaft besaß ein eigenes Haus, hatte beachtliche Einnahmen, erwirtschaftete wenigstens zeitweise Kassenüberschüsse und entwickelte ähnlich den Zünften ein kollektives Selbstbewußtsein, sodass selbst in Zeiten eines grundsätzlichen Bettelverbots von einer Randgruppenexistenz nicht die Rede sein kann. Die Bruderschaft wurde 1523, weil niemand ihrer bedürfe, von der Obrigkeit aufgelöst; der Armenp eger wurde für Almosen und Bettel allein zuständig. In Zülpich kam es in der Mitte des 15. Jahrhunderts unter Förderung des Kölner Erzbischofs und des Rates der Stadt zur Gründung der Bruderschaft körperbehinderter und blinde Bettler in und um Zülpich. Geleitet wurde sie von vier, dem Rat rechenschaftsp ichtigen Regenten. Erhoben wurden eine Eintrittsgebühr und ein jährlicher Mitgliedsbetrag. Die Hälfte der von den Mitgliedern täglich erbettelten Almosen mussten für liturgisch-religiöse Zwecke, aber auch für gegenseitige Hilfe in der Not an die Bruderschaft abgeführt werden. Eine Bettlergerichtsbarkeit gab es auch in Freiburg im Breisgau, sodass noch weitere Bettlerorganisationen zu vermuten sind.¹³⁴⁵ Ein Soziotop besonderer Art bildeten seit dem Spätmittelalter die Leute vom vorstäd-

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tischen, dünn besiedelten Basler Kohlenberg, wo in einem Refugium der Randständigen der Gesellschaft in heterogenen Gruppen Sesshafte und Fahrende, Unehrliche, soziale Absteiger, Zuhälter, Prostituierte, Blinde und Lahme, professionelle Bettler und städtische Arme zusammenlebten und als Freistätte für drei Tage auch Fremde aufnehmen durften.¹³⁴⁶ Das Kohlenbergvölklein besaß eine vom Rat delegierte Gerichtsbarkeit in Gestalt des Bettlergerichts, das mit wenig angesehenen städtischen Sackträgern besetzt war und mit eigentümlichen Ritualen bei Schelt- und Schlaghändeln (Frevel und Unzucht) urteilte. Die neben einer bestehenden St. Jakobsbruderschaft für Kranke neu gegründete Elendenbruderschaft St. Jakob auf dem Kohlenberg übernahm 1481 die Sorge für das Seelenheil ihrer männlichen und weiblichen Mitglieder, die in einem Vertrag von 1486 vom angrenzenden Chorherrenstift St. Leonhard, das zinsp ichtige Häuser im Areal besaß, gewährleistet wurde. Die Leute vom Kohlenberg hatten mit ihrem Rotwelsch eine eigene Sprache, die gemeinsam mit Bürgern organisierte und nanzierte Jakobsbruderschaft und ein eigenes Fest an St. Jakob. Das Wirtshaus am Kohlenberg galt als Treffpunkt, Umschlagplatz für Nachrichten und Waren, Ausgangspunkt für Bettelgänge, aber auch als Bordell, Hehlernest und Spielhölle. Die Leute vom Kohlenberg, die sich den Disziplinierungsbemühungen des Rates weitgehend entzogen, lebten nicht ghettoartig abgeschlossen. Spannungs- und kon iktreich waren sowohl das von Spiel, nächtlichem Treiben und von Gewalttätigkeiten geprägte Zusammenleben der verschiedenen Gruppen als auch das Verhältnis zu den Anwohnern, das sich gelegentlich in wechselseitigen Beschimpfungen und Gewalttätigkeiten entlud.

1345 O. W, Das Fürsorgewesen der Stadt Straßburg (4.10), S. 67–70; R. V; Wie der Wächter (5), S. 542 f.; F. I/A. L, Bettler und Gaukler, S. 58–62. 1346 Zum Folgenden siehe K. S-M, Randgruppen, Bürgerschaft und Obrigkeit.

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7.5 Fluktuierende, unerwünschte, verdächtige und kriminelle Elemente Leute, die in der Stadt keinen festen Wohnsitz besaßen, und solche, die gegen städtische Ordnungen verstoßen hatten sowie fremde Bettler wurden gelegentlich oder regelmäßig ausgewiesen und vom Schultheißen und Bütteln oder vom Henker und seinen Knechten ausgetrieben, da man in ihnen, gelegentlich auch in Handwerksgesellen ohne Arbeit, eine Gefahr für den städtischen Frieden sah.¹³⁴⁷ Wohl ohne ernsthafte Ermittlungen wurden in Augsburg Gruppen unerwünschter Personen jährlich am St. Gallentag öffentlich ausgerufen und aus der Stadt verjagt. Dazu gehörten notorisch Wohnungslose, Ehebrecher, gotteslästerliche Schwörer sowie Personen, die diesen Unterschlupf gewährt hatten, ferner Leute, die gegen Spielverbote verstoßen, betrogen und andere Delikte begangen hatten und deshalb gebrandmarkt wurden, damit man sie erkennen konnte, wenn sie sich der Stadt näherten. Schließlich zählten dazu noch fremde Bettler, die sich jährlich nur drei Tage in der Stadt aufhalten durften, und fremde Sondersieche (Leprose), denen vier Tage im Vierteljahr Aufenthalt und Bettel zugestanden wurden. Eine regelmäßige jährliche Stadtauskehr zwielichtiger Leuten praktizierte Regensburg während des 14. Jahrhunderts und bis 1410. Ähnliche Aktionen ordnete der Hildesheimer Rat von Zeit zu Zeit an. In Zürich wurde 1482 die große Zahl von 750 Landfahrern aufgegriffen. In Nürnberg sollten (1483) untaugliche Leute und (1498) böse Leute, Bettler und Puberey ausgewiesen werden. Im Jahre 1485 wurden angeblich nicht weniger als 1 500 fremde Bettler ausgewiesen. In Straßburg befahl das Stadtregiment im Jahre 1311 Dieben (Säckelschneider), betrügerischen Spielern, Zuhältern und anderen, die Stadt binnen dreier Tage zu verlassen; wenn sie danach aufgegriffen wurden, drohte ihnen die Blendung bei-

der Augen. Im Vorfeld des Rappoltsteiner Krieges wurden 1391 alle Vagierenden und fremden Bettler vertrieben. Ein Jahr später mussten aber auch im Hinblick auf den Krieg und die Versorgungsprobleme alle Mittellosen, die über keinen ausreichenden Kornvorrat verfügten, die Stadt verlassen. Stadtsässige Bedürftige oder Personen, für die andere Bürger den Kornvorrat stellten, durften jedoch in der Stadt bleiben. Die übliche regelmäßige Stadtausweisung betraf 1411 arbeitslose Handwerksknechte, ferner fahrende Frauen, Bettler, Spieler, Schausteller und Zuhälter. Personen, die in Köln auf Lebenszeit aus der Stadt verbannt wurden oder sich durch Ausschwören selbst verbannt hatten, mussten die Stadt binnen dreier Tage verlassen, andernfalls sollten sie in Halseisen gelegt und sodann verjagt werden. Betraten sie die Stadt wieder, sollten sie auf den Kax gesetzt und mit Ruten aus der Stadt getrieben, wenn sie danach dennoch zurückkehrten, nach Gerichtsurteil mit dem Schwert hingerichtet oder im Falle von Frauen lebendig begraben werden. Gleiches galt für Personen, die in Köln oder andernorts durch spiegelnde Leibesstrafen gebrandmarkt werden sollten. Tatsächlich kam es in Städten wie etwa in Nürnberg vor, dass zurückgekehrte Diebe geblendet wurden.

7.6 Die jüdische Minderheit und Sondergemeinde – Judenfeindschaft und Pogrome 7.6.1 Jüdische Gemeindebildung Juden bildeten in größerer Zahl eine organisierte, solidarische Sondergemeinde ausgeprägter religiöser, rechtlicher und kultureller Art mit internen Dienstleistungs- und Handwerksberufen. Sie häu g besaßen eine eigener Gerichtsbarkeit bei Streitigkeiten zwischen Juden und in Straffällen, ausgenommen Verwundung und Totschlag. Die Gemeindemitglieder wählten einen eigenen Gemeinderat, besetzten das Amt

1347 R. K, Bürgerliche Gesellschaft und Kirche (5), S. 217; W. S, Das Bürgerrecht der Königs- und Reichsstadt Nürnberg (2.1), S. 186.

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des Judenbischofs als ihres Vorstehers, des Rabbiners und andere Ämter in der Regel selbständig und erhoben Abgaben. Sie verfügten vielfach über Gemeindebesitz und eigene funktionale Baulichkeiten und Einrichtungen für Glaubens- und Kultausübung, Schule, Fürsorge (Spital), Geselligkeit (Tanzhaus-) und die Bedürfnisse im breiten Spektrum des sozialen Lebens.¹³⁴⁸ Es wurden aber auch Elemente der nichtjüdischen Mehrheitskultur übernommen, so durch Übersetzungen von Werken hö scher Literatur oder durch Fresken mit hö schen Szenen in Repräsentationsräumen. Die Andersartigkeit des Glaubens und die Gemeindebildung begründeten und bewirkten eine Abschließung der Juden, auf denen wiederum der isolierende Druck der christlichen Umgebung mit ihrem religiösen Ausschließlichkeitsanspruch lastete. Unter Teilaspekten der Diskriminierung waren die Juden eine Randgruppe, mehr noch aber eine Minderheit und Gruppe von Minderberechtigten inmitten einer christlichen Gesellschaft, vor allem aber eine Sondergemeinde und insofern keine Randgruppe. 7.6.2 Die prekäre Existenz der Juden zwischen Diskriminierung und Schutz Juden waren durch infamierende Zeichen wie den gelben Juden eck, die jedoch meist erst im 15. Jahrhundert durchgesetzt wurden, stigmatisiert, durch den spitzen Judenhut kenntlich gemacht und wurden in Verbindung mit der zuerst im 13. Jahrhundert innerhalb und außerhalb der Kirchen angebrachten, im Spätmittelalter auch auf den weiteren öffentlichen Bereich ausgedehnten plastischen und später auch bildlichen Darstellung der so genannten Judensau als Sinnbild für Habsucht, teu ische Dämonenwelt und rituelle Unreinheit verhöhnt. In obszöner Weise wurden dabei Juden in intimem Kontakt mit ohnehin als unrein geltenden

Schweinen dargestellt, in dem sie an ihren Zitzen saugten, verkehrt auf ihnen ritten, sich dem Schmutz der tierischen Ausscheidung und von Verdauungsvorgängen aussetzten oder Schweine umarmten und küssten. Die Juden waren im Glauben von den Christen verschieden, galten als verstockt, hatten die Kollektivschuld am Tod Jesu zu tragen; sie wurden in Blutlegenden der ständigen Wiederholung der Passion Christi bezichtigt und mit den Legenden des Ritualmordes, des Hostienfrevels und der Brunnenvergiftung wahnhaften, aber auch gezielt verleumderisch vorgebrachten Beschuldigungen ausgesetzt.¹³⁴⁹ Juden wurden – in einer noch nicht biologisch-anthropologischen und rassistischen Vorform von Antisemitismus – allerdings in ihrer Besonderheit von Physiognomie, Aussehen und Kleidung herausgestellt, mit Schikanen und durch Unterwerfung unter entwürdigende Rituale drangsaliert, gelegentlich trotz kirchlicher Verbote der Zwangstaufe zur Konversion und Taufe gezwungen, zeitweise in Pogromen verfolgt und ermordet. Sie hatten trotz eines Bürgerrechts oder ihrer Schutzbriefe die Ausweisung zu befürchten, erhielten später nur befristete Aufenthaltsgenehmigungen und wurden in wenigen Fällen in eine Art von Ghetto zurückgedrängt. Beru ich und erwerbswirtschaftlich waren sie minderberechtigt, für ansonsten verbotene Darlehensgeschäfte und insbesondere die Pfandleihe jedoch privilegiert. Christlicher Antijudaismus und eine aus verschiedenen Motiven resultierende Judenfeindschaft wurden durch Darstellungen in der bildenden Kunst, durch Passions- und Fastnachtsspiele insbesondere des Nürnbergers Hans Folz, Flugblätter und Einblattdrucke sowie Hasspredigten gefördert. Die Juden führten zwischen Privilegierung, herrschaftlichobrigkeitlichen Schutzzusagen und landfriedensrechtlichem Schutz auf der einen Seite und Verfolgung und Austreibung auf der anderen in Unsicherheit eine prekäre, gefährdete Existenz.

1348 Germania Judaica, Bd. III, 3: Die jüdische Gemeinde, Gesellschaft und Kultur (M. T), S. 2079–2138. Siehe auch 2.1.4.3. 1349 Überblickswerke mit weiterer Literatur: M. T, Die Juden im mittelalterlichen Reich; Germania Judaica, Bd. III, 3 (1359–1519) mit verschiedenen Überblickskapiteln.

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Bei Strafe durften sich die Juden nach einem Zürcher Ratsbeschluss von 1319 entsprechend kirchenrechtlicher Tradition in der Karwoche vom Mittwoch bis Samstag weder auf den Straßen noch und an den Fenstern zeigen, auch keinen Lärm machen. Auch an christlichen Feiertagen und während einer vorüberziehenden Prozession mussten die Juden gemäß den Verordnungen vieler Städte in den Häusern bleiben und Fenster und Türen schließen. Bei Gericht hatten die Juden gelegentlich unter Berührung der ora, unter Anrufung Gottes und mit Selbstver uchungsformeln den Judeneid zu schwören, der wohl vor allem im Verlauf des 15. Jahrhunderts zu entehrenden Formen, insbesondere als Ritual auf einer blutigen Sauhaut, ausgestaltet wurde. Der Schwabenspiegel mutete die Eidesleistung auf einer Schweinehaut stehend oder kniend zu. In Augsburg war nach dem Stadtrecht von 1276 bei Klagen von Christen gegen Juden ein gemischtes Gericht aus Bürgern und Juden zuständig, das unter dem Vorsitz des Vogtes in der Synagoge tagte, bis die Juden 1436 durch Rat und Kaiser dem Stadtgericht unterstellt wurden. Gemischte Schöffenbänke, aber mit einem Judenrichter, gab es auch in Brünn, Graz, Prag und Wien. Andernorts unterstanden die Juden dem städtischen Gericht. Der Eidesbeweis war vielfach von einem Juden zusammen mit zwei Juden und zwei Christen zu führen. Der Zürcher Rat statuierte hingegen 1404, dass Juden gegen Christen weder vor dem Rat noch vor dem Gericht in Sachen, die Leib und Gut betrafen, Zeugen sein konnten. Eine wachsende spätmittelalterliche Segregationen von Christen und Juden, die teilweise von beiden Seiten getragen wurde und im 15. Jahrhundert kulminierte, betrafen das gemeinsame Glücksspiel und Baden, ferner das Verbot sexueller Beziehungen, der Beschäftigung insbesondere christlicher weiblicher Dienstboten und Ammen durch Juden und die Anwesenheit der Juden bei kirchlich-religiösen Festen. Konzilsbeschlüsse wie diejenigen des III.

und IV. Laterankonzils (1179/ 1215), Provinzialsynoden und das päpstliche Dekretalenrecht (X 5.6) sowie die Sachsenpiegel-Glosse und der Schwabenspiegel xierten auf christlicher Seite die Rechtsstellung der Juden und gaben Vorschriften zur Vermeidung sozialer Kontakte, die aber vielfach erst seit der Mitte des 14. Jahrhunderts und im 15. Jahrhundert von christlichen Obrigkeiten und Juden befolgt wurden. Seit dieser Zeit datiert die beschränkende, diskriminierende und ausgrenzende Gesetzgebung und Ordnungspolitik städtischer Räte gegenüber den Juden. Die Juden lebten, das gilt es demgegenüber festzuhalten, wie etwa insbesondere in Regensburg vom 12. bis 14. Jahrhundert über längere Perioden hin in friedlicher Duldung und wirtschaftlichem Austausch mit der christlichen Umgebung zusammen. Verfolgung und Schutz konnten sich abrupt abwechseln. Nur wenige Tage nach dem fürchterlichen Pogrom in Nürnberg vom Dezember 1349 verp ichtete der Rat die Ratsangehörigen und die Besten aus der Gemeinde, insgesamt 237 Personen, eidlich zum Schutz der Juden und zum Eingreifen gegen mögliche Au äufe und Feuersbrünste. Der städtische Rechtsschutz, auch der strafrechtliche gegen verbale Hetze, Belästigungen und kriminelle Handlungen, konnte in Zeiten außerhalb von Pogromen, durchaus effektiv sein. Es gibt auch Beispiele für eine faire Behandlung vor Gericht, wo jüdische Schuldforderungen anerkannt wurden. Auch wehrten sich Juden verschiedentlich und beschwerten sich beim König, wenn sie, wie etwa 1479 in Nürnberg durch eine neue Prozessordnung, benachteiligt und diskriminiert wurden und von Kaiser Friedrich III. die Annullierung des sie betreffenden Artikels erwirkten. Grunderwerbsverbote sind meist aus späterer Zeit etwa aus Halle, Hildesheim, Frankfurt am Main, Mainz, Speyer, Überlingen und Berlin überliefert. In vielen anderen Städten bestanden keine Beschränkungen oder nur solche, die Wert und Lage betrafen; auch wurden Verbote nicht konsequent eingehalten.

Die jüdische Minderheit und Sondergemeinde – Judenfeindschaft und Pogrome 743

7.6.3 Die Kammerknechtschaft der Juden Nach christlicher eologie vor allem des Augustinus und nach dem päpstlichem Dekretalenrecht Gregors IX. von 1234 (X 5.6 De Iudaeis, Sarracenis), war die Erhaltung der Juden zum ewigen Wahrheitsbeweis der Evangelien und des Christentums notwendig; daher waren die Juden in dem – als Strafe für den Mord an Christus allerdings minderen – Status beständiger Knechtschaft zu schützen. Beanspruchte der Papst eine Oberherrschaft über die Juden, so übernahm Kaiser Friedrich II. das Institut der jüdischen Knechtschaft 1236 in einem den Juden im Reich gewährten Schutzprivileg.¹³⁵⁰ Er bezeichnete die Juden Deutschlands im Anschluss an die theologisch gedeutete Knechtschaft der Juden (servitus Iudaeorum) als unmittelbare servi camerae nostrae und knüpfte dabei an das Privileg Friedrichs I. für die Wormser Juden von 1157 an, das bereits den Anspruch enthielt, dass die Juden der kaiserlichen Kammer zugehörten. König Rudolf I. interpretierte 1286 anlässlich der Beschlagnahme der Vermögen geüchteter Juden die Kammerknechtschaft als Verfügungsgewalt über Person und Habe der Juden. Im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts trat neben dem Schutzverhältnis immer mehr im so genannten Judenregal das nanzielle Nutzungsrecht in den Vordergrund. Die kaiserliche Kammerknechtschaft band die Juden auch dann noch an das Reichsoberhaupt, wenn der unmittelbare Judenschutz an Territorialherren und Städte übergegangen war. Der König reservierte sich Anteile an städtischen Judensteuern, erhob im Rahmen seines meist skalisierten Judenschutzes teilweise enorme Strafgelder

von Städten, in denen schwere Rechtsverletzungen an Juden begangen worden waren, gestattete in einzelnen Fällen der Stadt die Re nanzierung der Strafgelder durch Abgaben der Juden, machte die Aufnahme und Ausweisung von Juden von seiner Genehmigung abhängig und erhob Anspruch auf die zurückgelassenen jüdischen Immobilien. Begriff und Vorstellung der mit einer Schutzfunktion verbundenen Kammerknechtschaft ließen gelegentlich die krude Anschauung aufkommen, dass man die Juden brandschatzen, d. h. von ihnen eine Zahlung für die Verschonung vor dem Feuertod verlangen dürfe, und rückte neben der Habe auch die Personen in bedenkliche Nähe zum sachenrechtlichen Besitz. Als Objekte des Judenregals wurden die Juden skalisch unter dem Zeichen der Kammerknechtschaft und des Judenschutzes von König, Landesherren und Städten in den verschiedensten Formen regelmäßig – durch die jährliche Abgaben an die Stadt und den ›Goldener Opferpfennig‹ für den König – und außerordentlich – durch Schatzungen bei unterschiedlichen Gelegenheiten, Krönungsabgaben sowie Hussitenund Türkensteuern – besteuert, zu Zahlungen ohne weiteren Grund genötigt und ausgebeutet bis hin zur Enteignung infolge von Pogromen, Ausweisungen und durch die so genannten Judenschuldentilgungen unter König Wenzel in den Jahren 1385 und 1390.¹³⁵¹

7.6.4 Verfolgungen und Pogrome Die schweren Verfolgungen und Pogrome¹³⁵² setzten mit irregulären Heerhaufen im ersten

1350 Germania Judaica, Bd. III, 3: Die Rechtsstellung der Juden (D. W), S. 2165–2207. 1351 Germania Judaica, Bd. III, 3: Steuern und Abgaben (E. I), S. 2208–2281. 1352 M. W, Man bedarf keiner Juden mehr; M. T, Die Juden im mittelalterlichen Reich, S. 55–68, 110–120 (mit umfangreicher Literatur); Germania Judaica, Bd. III, 3: Die Verfolgungen des Spätmittelalters (1350–1550) (M. T), S. 2298–2327. Etwas legalistisch erscheinen die De nitionen des verdienstvollen František Graus, wonach »unter Verfolgungen im engeren Sinn des Wortes […] Maßnahmen von Obrigkeiten gegenüber Juden als Gemeinschaft« bezeichnet werden sollen, »die von kollektiven Vorstellungen geprägt wurden und die das übliche Maß der theoretisch geforderten antijüdischen Bestimmungen übertrafen«. »Pogrome dagegen waren Verfolgungsmaßnahmen außerhalb des ›legalen Rahmens‹, bei denen das ›Volk‹ Ordnung schaffen wollte, die Obrigkeit verdächtigte, aus Laxheit oder gegen Bestechung nicht schnell oder nicht effektiv genug gegen Juden, diese Feinde Gottes und der Christen, vorzugehen.« F. G, Pest, S. 380.

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Kreuzzug 1096 ein, welche die Feinde der Christenheit bereits zu Hause vernichten wollten und furchtbare Massaker in Worms mit mindestens 400 Toten, Mainz mit mindestens 500 Toten und in Köln verübten. Zahlenangaben über die Opfer stammen meist von Chronisten und sind daher oft nicht sehr zuverlässig, geben aber zumindest Größenordnungen an. Die Pogrome wiederholten sich anlässlich der folgenden Kreuzzüge in der Regel nicht mehr in dieser massiven Form, allerdings hatte die Gemeinde in Frankfurt am Main 1241 etwa 180 Tote zu beklagen. Aber zu Ostern 1289 wurden die Juden in Oberwesel des Ritualmords an einem Knaben, dem so genannten Guten Werner, beschuldigt, was zu einer Verfolgungswelle mit Opfern in 22 Orten an Mittelrhein und unterer Mosel mit mindestens 321 Toten führte. Von April bis Herbst 1298 fanden, ausgehend von einer Beschuldigung des Hostienfrevels in Röttingen an der Tauber, Verfolgungen der Juden in mindestens 130 Orten vor allem Frankens, ferner der Oberpfalz, Schwabens, Hessens und üringens statt. Sie wurden von einem König Rint eisch genannten verarmten Ritter oder Fleischer angeführt und operierten in mehreren Haufen, denen mehrere tausend Menschen, wohl 4 000 bis 5 000, zum Opfer elen, so Judengemeinden in Röttingen (21), Rothenburg ob der Tauber (470), Würzburg (fast 900), Nördlingen, Bamberg und Nürnberg (728), während die Juden in Augsburg und Regensburg durch den Rat geschützt wurden. König Albrecht I. ließ die Bewegung niedergeschlagen und verhängte über einzelne Städte, in denen Juden getötet worden waren, Geldstrafen. In den Jahren 1336 bis 1338 wütete wiederum von Röttingen ausgehend in mehreren Wellen besonders in Franken und im Elsass die von bäuerlichen und städtischen Unterschichten getragene so genannte Armledererhebung unter Anführung des Ritters Arnold von Uissigheim, der König Armleder (rex Armleder) genannt wurde und erster von mehreren Anführern mit der Bezeichnung Armleder war. Die Verfolger verübten Massaker in etwa 65 Judengemeinden und griffen auf Schwaben, Hessen, den Mittelrhein

aus. Im Jahre 1338 kam es wohl unabhängig davon, ausgehend von Pulkau in Niederösterreich und von Deggendorf in Niederbayern, zu weiteren Pogromen. Den Höhepunkt grausamer massenhafter Pogrome, die erst im 20. Jahrhundert während des Nationalsozialismus übertroffen wurden, stellten die sich noch vor der Pest von Südfrankreich über Savoyen und die Schweiz nach Deutschland von Süden nach Norden verbreitenden Ausschreitungen in den Pestjahren von 1348/49 bis 1351 dar, in die zugleich der deutsche ronstreit und das Erdbeben vom Januar 1349 elen. Im Reich waren – mit Ausnahme von Österreich, wo Herzog Albrecht II. Schutz bot, des Königreichs Böhmen oder Regensburgs – mindestens 400 jüdische Gemeinden mehr oder weniger betroffen. Pogrome fanden, um einige zu nennen, seit dem Frühjahr 1349 von der nördlichen Schweiz ausgehend noch vor dem Eintreffen der Pest und in der Regel auch vor Geißlerumzügen in Basel, in Freiburg im Breisgau, im Elsass in Oberehnheim, Straßburg und Hagenau, in Koblenz, Mainz, Trier, Speyer, Worms, Frankfurt am Main, Köln, Esslingen, Nördlingen, Augsburg, Nürnberg, Würzburg, Mühlhausen, Erfurt und Königsberg statt. Im Januar 1349 waren im elsässischen Benfeld der Bischof von Straßburg, Vertreter der Städte Basel, Freiburg und Straßburg sowie elsässische Herren zusammengekommen und hatten die Vernichtung der Juden beschlossen. Doch wusste Straßburg die Juden keiner Vergehen zu beschuldigen. Häu g wurden Juden verbrannt, was eigentlich die Strafe für Ketzer war. In Augsburg, wo eines der frühen Pogrome stattfand, wurden 130 Juden erschlagen. Danach gelobte die Stadtgemeinde noch 1349, die Tat auf sich beruhen zu lassen und deswegen niemanden mit Feindschaft zu verfolgen. Nach Darstellung der Straßburger Chronisten waren die Mächtigen in Straßburg, Basel und Freiburg dafür eingetreten, den Juden nichts zu tun. In Basel, wo sich der Rat auf Druck hin doch zur Verbrennung der Juden verp ichtete, wurden bei einer Gemeinde mit etwa 100 Mitgliedern 50 bis 70 Juden auf der Rheininsel verbrannt und

Die jüdische Minderheit und Sondergemeinde – Judenfeindschaft und Pogrome 745

die Kinder zwangsgetauft. Weitere Juden wurden ausgewiesen, aber dann nach dem Bericht des Straßburger Chronisten Jakob Twinger von Königshofen von den Bauern gefangen, erstochen oder ertränkt. In Straßburg, wo nach dem Sturz des schutzwilligen Rates durch eine Koalition von Zünften und den patrizischen Familien Zorn und Müllenheim am Valentinstag (14. Februar) eines der größten Pogrome verübt wurde, sollen gemäß dem Chronisten Fritsche Closener 2 000 Juden getötet worden sein, es waren wohl mehrere Hundert. Für Nürnberg verzeichnete das jüdische Memorbuch 562 ermordete Juden. Der Darstellung Closeners zufolge verlangte zunächst das gemeine Volk vom Rat, die der Brunnenvergiftung beschuldigten Juden zu verbrennen, doch weigerte sich der Rat, ohne rechtmäßiges Urteil Todesstrafen zu verhängen, und wollte nicht gegen den Schutzbrief (trostbrief ) der Stadt für die Juden verstoßen. Er forderte einen Beweis für Brunnenvergiftung, doch konnte von gefangenen Juden, die man anderer Delikte wegen räderte, auch durch Anlegen der Daumenschrauben kein Geständnis hinsichtlich einer Brunnenvergiftung erlangt werden. Angesichts von Aufruhr ließ der Rat die Juden aus Furcht vor Tumulten und Schäden in der Judengasse verbarrikadieren und schützen. Der Ammeister und die beiden Stettmeister wurden nun beschuldigt, sie seien von den Juden mit Vermögenswerten bestochen worden und schützten diese nicht aus Gerechtigkeit. Die Handwerke zogen bewaffnet mit ihren Bannern vor das Münster und verlangten hinsichtlich der noch jungen, die Handwerke einbeziehenden Straßburger Verfassung eine Beschränkung der Amtsgewalt des Ammeister und der Stettmeister, deren Zahl auf vier, die jeweils ein Vierteljahr amtierten, zu erhöhen sei. Die Meister und der alte Rat wurden am Dienstag abgesetzt, und ein neuer Rat wurde eingesetzt. In unheimlicher Abfolge legte der neue Rat am Mittwoch den Amtseid ab, am Donnerstag fand der Schwörtag der Gemeinde statt und am Freitag,

dem Valentinstag, wurden die Juden gefangen und auf einem Gerüst auf ihrem Kirchhof verbrannt. Juden, die sich taufen lassen wollten, ließ man am Leben, und viele Kinder wurden aus dem Feuer gezogen und gegen den Willen ihrer Mütter und Väter getauft. Das Pogrom war Ausgangspunkt für eine Verfassungsänderung, die sofort am 18. Februar durch einen neuen Schwörbrief xiert wurde. Fritsche Closener geht auf die Beschuldigung der Brunnenvergiftung nicht weiter ein, auch Twinger von Königshofen konstatiert lediglich einen generellen Zusammenhang zwischen der pandemischen Ausbreitung der Pest in aller Welt und dem Verbrennen der Juden in allen Landen. Für Closener tritt mit dem Hass der Schuldner auf die jüdischen Gläubiger ein anderes Motiv in den Vordergrund. Im Vertrauen auf den Schutzbrief und den durch ihn gewährten strafrechtlichen Schutz, der schärfer als derjenige der Christen gewesen sei, seien die Juden hochtragenden Mutes gewesen und hätten sich als harte Gläubiger gezeigt, mit denen man nicht übereinkommen konnte. Nach den Pogromen wurden alle Schuldner von ihrer Verp ichtung befreit; sie erhielten alle Pfänder und Schuldurkunden zurück, während der Rat das Bargeld der Juden nach einem Quotenschlüssel auf die Handwerke aufgeteilte. Dieses Geld sei das Gift gewesen, das die Juden getötet habe. Jakob Twinger, der bis dahin die Darstellung Closeners übernimmt, fügt erläuternd hinzu: denn wenn die Juden arm gewesen und ihnen die Herren auf dem Lande nichts schuldig gewesen wären, so wären sie nicht verbrannt worden. Einige Handwerke hätten ihren Anteil nach Rat der Beichtväter dem Frauenwerk, dem Vermögen des Münsters, oder um Gottes willen frommen Stiftungen zugewendet. In diesem Jahr 1349 seien in allen rheinischen Städten, seien es Freie Städte, Reichsstädte oder fürstliche Städte, die Juden mit Urteil oder ohne Urteil verbrannt worden; in einigen Städten hätten die Juden selbst ihre Häuser angezündet und sich darin verbrannt.¹³⁵³ Erst etwa vier Monate nach

1353 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 8, S. 126–130; Bd. 9, S. 480, 760–764.

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diesem Pogrom, nach Sonnenwende (24. Juni), traten nach dem Bericht des Chronisten die Geißler in der Stadt auf und kam die Pest nach Straßburg. König Karl IV. hatte den Straßburger Juden noch am 25. November 1347 gegen Zahlung von jährlich 60 Mark Silber in einem Schutzbrief ihre Rechte und Freiheiten bestätigt; am 12. September 1349 gewährte er den Straßburgern – sicherlich wieder gegen Geld – Verzeihung und Lossprechung wegen des Gerichts, das sie an den Juden vollzogen und wegen des Gutes, das sie ihnen genommen hatten. Juden wurden bei den Pogromen zusammengetrieben und ermordet, meist verbrannt (Judenbrennen), dies oft nach einem obrigkeitlichen Scheinverfahren und Geständnissen unter der Folter; die Überlebenden wurden ausgewiesen. Viele Juden kamen dem Massaker und drohenden Zwangstaufen zuvor und töteten sich selbst, so etwa in Esslingen, Würzburg, Worms (400 Juden), in Mainz nach anfänglicher Gegenwehr und in Frankfurt am Main. Allerdings ist zu bedenken, ob chronikalische Berichte über die kollektive Selbstverbrennung der Juden für die Chronisten nicht teilweise einen apologetischen Charakter hatten. Kaiser Karl IV., der Juden in seinem Königreich Böhmen schützte, sicherte auf der anderen Seite, um Geld und Anhänger im ronstreit mit Ludwig von Bayern zu gewinnen, gegenüber Frankfurt, Nürnberg und Rothenburg ob der Tauber im Vorhinein Straftätern, die Juden erschlugen, Stra osigkeit zu, und trug auf diese Weise wie andere an den folgenden Ausschreitungen eine schwere Mitverantwortung. Auch andere Stadtherren duldeten Pogrome. Obwohl der Kölner Rat noch kurz zuvor die Stadt Straßburg vor Volksau äufen als Begleiterscheinungen und einem Übergreifen gewarnt hatte, falls man Judenverfolgungen zuließ, wurde in Köln 1349 nach dem Tod des Erzbischofs Wahraus das zentral gelegene, ghettoartig ummauerte Judenviertel gestürmt. Die Juden wurden Opfer von Raub, Plünderung, Brennen und Morden; später wurde angegeben, die Juden hätten sich selbst verbrannt. 1350 teilte die Stadt

die Hinterlassenschaft der Juden mit dem neuen Erzbischof. Der Verfasser der dritten Fortsetzung der »Chronica St. Petri Erfordensis moderna«, die von Pogromen in Erfurt und Mühlhausen, an anderen Orten üringens und in ganz Deutschland berichtet, teilt zu Erfurt mit, die Juden seien gegen den Willen des Rats von der Bürgergemeinde erschlagen worden. Er gibt auch die Beschuldigung der Brunnenvergiftung wieder, will sich aber aus Unkenntnis nicht zum Wahrheitsgehalt äußern. Eher glaube er, der Anfang ihres Unglücks sei das unendlich viele Geld gewesen, das Herren und Ritter, Bürger und Bauern den Juden schuldeten.¹³⁵⁴ Die schweren Pogrome ebbten nach dem ersten Auftreten der Pest zwar im Allgemeinen ab, doch wurde um 1380 in Schlettstadt von Juden durch Folter das Geständnis von Brunnenvergiftung, Mord, Spielbetrug und Münzmanipulation erzwungen. In Nördlingen wurden 1384 Juden von Bürgern erschlagen ohne Wissen, Willen und Wort des Rats, wie dieser dem Schwäbischen Städtebund mitteilte. Zahlreiche Opfer forderten noch Verfolgungen in Prag 1389 und die Wiener Gesara (von Urteil, Gesetz) von 1420/21, bei der auf der Grundlage zweier Edikte Herzog Albrechts V. von Österreich nach Inhaftierung der Juden in Österreich und Kon skation ihrer Güter in einer Abfolge von Vertreibung armer Juden und der Misshandlung und Erpressung der verbliebenen vermögenden Juden in Wien neben einer unbekannten Anzahl mindestens 212 Juden nach gerichtlichen Verurteilungen durch Verbrennen umgebracht wurden. Der Herzog hatte 1420 die Inhaftierung und 1421 die Hinrichtung der Juden wegen der allgemeinen Bosheit der Juden und eines angeblichen Hostienfrevels in Enns verfügt. An 20 Orten des Herzogtums Österreich kam es zu Hinrichtungen, Vertreibungen und Ausplünderungen von Juden sowie zu Selbsttötungen von Juden, die mit ihren Kindern Zwangstaufen entgehen wollten. Weitere Verfolgungen wegen Hostienfrevels ereigneten sich 1399 in Posen, 1404 in Hallein und Salz-

1354 G. M (Hg.), Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 48, S. 198 f.

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burg, 1451 in Schlesien, 1478 in Passau und 1496 in der Steiermark. Als 1401 in Schaffhausen Juden verbrannt wurden, beschloss Zürich den Schutz der örtlichen Juden, gab aber dem Druck einzelner Zünfte nach und inhaftierte sie vorübergehend, um sie im Hinblick auf die Schaffhausener Beschuldigungen zu verhören. Die Schuld an den Pogromen wurde von Chronisten vielfach der Hetze von umherziehenden Flagellanten und der von Juden verursachten Pest, von der Forschung dem marodierenden und plündernden Mob aus den Unterschichten mit spontanen Aktionen zugeschoben, doch gab es neben Ratsobrigkeiten und Führungsgruppen, die Juden zu schützen versuchten, auch solche, die angesichts eigener Finanzprobleme Verfolgungen billigend in Kauf nahmen oder sogar in kühle Planungen von Machterhalt und Bereicherung einbezogen und Pogrome organisierten. Patrizische Gruppen wandten sich gegen Pogrome, in anderen Städten waren sie treibende Kräfte. Auch judenfeindliche Zünfte schürten die Pogromstimmung und drängten zu Verfolgungsaktionen.¹³⁵⁵ Man konnte sich durch den Mord an den Juden der Schulden entledigen und sich das hinterlassene und herrenlos gewordene bewegliche Vermögen sowie die Liegenschaften der Juden aneignen. 7.6.5 Die Beschuldigungen der Brunnenvergiftung und des Ritualmords Die Beschuldigung der Brunnenvergiftung, die sich zunächst auch auf Leprakranke bezog, entstand vermutlich erstmals im Südwesten Frankreichs zu Beginn der 1320er Jahre im Zusammenhang mit antijüdischen Unruhen. Sie breitete sich später zusammen mit der Pest über Südfrankreich, Savoyen, die Schweiz und der Pest vorauseilend und durch Kommunikationsnetze verbreitet in Deutschland aus, obwohl sie Papst Clemens VI. bereits 1348 in einer Bulle

mit der Begründung als haltlos zurückgewiesen hatte, dass die Pest auch in Gegenden auftrete, wo es keine Juden gebe, und auch Juden an der Pest stürben. Zugleich hatte der Papst Angriffe auf Juden bei Strafe der Exkommunikation verboten. In Italien, wo die Pest früh und heftig wütete, kam es während der Pest zu keinen Judenpogromen. Die Verfolgungen der Juden wurden psychopathologisch von wahnhaften Beschuldigungen und Gerüchten ausgelöst. Sie waren möglicherweise auch Ausdruck von Hil osigkeit angesichts von Katastrophenängsten und eigener Heilsungewissheit. Hinzu kamen die Suche nach Sündenböcken, eine sozialintegrativ wirkende und gruppendynamische Pogromstimmung, das Au odern latenter Judenfeindschaft und eines religiösen Fanatismus, besondere örtliche Gegebenheiten und reichs- oder territorialpolitische Konstellationen, vor allem jedoch die bereits von Zeitgenossen konstatierte Geldgier und verlockende Möglichkeit, sich der jüdischen Gläubiger und ihrer Forderungen zu entledigen sowie sich die hinterlassenen jüdischen Vermögen anzueignen. Im Hinblick auf einen aggressiven Antijudaismus galten die Juden als schuldbeladene Mörder Christi, als Feinde des Kreuzes Christi und der Christenheit, die Christen töten und die Passion wiederholen wollten. Die christliche Lehre von der Transsubstantiation und der Realpräsenz des Leibes Christi (IV. Laterankonzil von 1215) sowie eine entsprechende eucharistische Frömmigkeit boten Bezugspunkte für die seit dem Ende des 13. Jahrhunderts nachweisbare Behauptung, dass Juden entwendete Hostien durchstachen, sodass sie bluteten, Hostien ferner zertraten und verbrannten. Angebliche Blutwunder machten den Frevel am Leib Christi sichtbar. Die Ritualmordlegende, die Mitte des 12. Jahrhunderts in England auftrat, sich über ganz Europa verbreitete und regelmäßig Verfolgungen auslöste, besagte, dass Juden alljährlich in der Osterzeit zur Verhöhnung

1355 A. H, Die Judenverfolgungen zur Zeit des Schwarzen Todes im Gesellschaftsgefüge deutscher Städte, in: . (Hg.), Zur Geschichte der Juden, S. 27–93.

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der Passion Christi ein unschuldiges christliches Kind, das sie raubten oder kauften, in ritueller Form ermordeten und ihm aus rituellen, medizinischen oder magischen Gründen Blut für ihre Praktiken entzogen. Bereits eine von Friedrich II. in einem Fuldaer Fall eingesetzte Untersuchungskommission wies 1236 die Beschuldigung unter Berufung auf die Bibel, die mosaischen Gebote, den Talmud und das Verbot der Natur zurück, wonach sich die Juden vor der Be eckung mit Blut hüteten und keinesfalls nach menschlichem Blut dürsteten. Als man 1429 einen Schüler mit aufgeschlitztem Unterleib vor Ravensburg im Wald an einer Tanne erhängt auffand, wurde die Tat den Juden in Ravensburg zugeschoben. Sie hätten anlässlich einer jüdischen Hochzeitsfeier den Jungen gemartert und ermordet. Die Juden von Ravensburg, Überlingen, Lindau, Meersburg und Konstanz wurden gefangengesetzt, dann freigelassen und nach einem Gutachten hoher Meister, wonach die Juden Christenblut haben müssten, erneut inhaftiert. Mit Erlaubnis König Sigmunds, die man mit Geld erkaufte, wurden die Juden in Ravensburg, Überlingen und Lindau verbrannt. In Ravensburg, wurde unter der Tanne eine Kapelle errichtet, das Kind als Märtyrer verehrt, und der Kirchherr zu Leutkirch wollte in Rom eine Heiligsprechung erlangen, bis König Sigmund 1430 nach Ravensburg kam und allem ein Ende setzte. Auf Ersuchen der Bodenseestädte hin hatte sogar Zürich die Juden vorübergehend inhaftiert und verhört. Kaiser Friedrich III. griff in den Regensburger Ritualmordprozess von 1476 ein und verlangte die Freilassung der 17 inhaftierten Juden. Wegen anfänglicher Widersetzlichkeit hatte die Stadt 8 000 Gulden als Strafe zu bezahlen, durfte sich aber an den Juden schadlos halten, während die Juden für die Lösung aus der Haft und die Wiedereinsetzung in ihre Rechte dem Kaiser 10 000 Gulden zu entrichten hatten. Jahrhundertelange Berühmtheit erlangte der angebliche Ritualmord in Trient im Jahre 1475 an dem Kind Simon, der in zwei Reliefmedaillons am Palazzo Salvadori in der Stadt, durch Altarskulpturen und in Einblattdrucken

ktiven Portraits und Kupferstichen aus verschiedenen Jahrhunderten verewigt ist. Nach einem Prozess mit erpressten Geständnissen wurden insgesamt vierzehn Juden hingerichtet. Papst Sixtus IV. anerkannte 1480 die Verehrung Simons als Märtyrer. Erst 1965 wurde von der Ritenkongregation der Kurie die Anerkennung des seligen Simon aufgehoben und die Hinrichtung der Juden als Justizirrtum bezeichnet. 7.6.6 Vertreibungen und Ausweisungen der Juden im 15. Jahrhundert Kennzeichnend wurden für die Verfolgungen nunmehr die in einigen Fällen von Zünften betriebenen Ausweisungen und Vertreibungen, doch kam es immer wieder unter Beteiligung von Ortsgeistlichen zu Beschuldigungen des Hostienfrevels, seltener des Ritualmords. Juden wurden nunmehr verstärkt anderer Delikte wie der Wirtschaftsvergehen und Betrügereien angeklagt. Der neue christliche Fundamentalismus und Missionseifer im Zuge der Kirchenreform des 15. Jahrhunderts und die hussitische Bewegung, die über Böhmen hinausgriff, wirkten sich ungünstig auf die Lage der Juden aus. Prominente Prediger wie im 15. Jahrhundert die Dominikaner Heinrich Kalteisen und Peter Schwarz oder der Franziskaner Johannes Capistran und örtliche Prediger schürten die Judenfeindschaft und gaben Anlass für einzelne Übergriffe und Verfolgungen. Der Kardinal Nikolaus von Kues versuchte in einer Legationsreise um die Jahrhundertmitte, Beschlüsse von Provinzialsynoden mit der Einschärfung älterer kirchlicher Gesetzgebung zur stigmatisierenden Kennzeichnung der Juden und das auch auf die Juden ausgedehnte Wucherverbot durchzusetzen. In Frankfurt am Main beklagte er sich 1452 beim Rat, dass sich die Juden nicht an die Kleidungsvorschriften hielten und verlangte, dass die Jüdinnen blaugestreifte Schleier und die Juden gelbe Ringe am Rock trügen. Der Rat war allerdings bereit, dagegen an den Papst zu appellieren und veranlasste den Erzbischof von Mainz als den zuständigen Kirchenoberen, seine antijüdische Haltung aufzugeben.

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Zur Rechtfertigung der Vertreibung der Juden aus den Städten wurden ganze Bündel von Gründen angeführt, von der Schmähung des christlichen Glaubens, der Lästerung Mariens, des Verbots des sündhaften Wuchers durch das Basler Konzil (1433–1449) bis hin zu der Verursachung wirtschaftlicher Schäden und wachsender Kriminalität durch jüdischen Wucher, dem angeblich täglichen Anwachsen des jüdischen Bevölkerungsanteils, der Zusammenarbeit der Juden mit Feinden der Christenheit und den ketzerischen Hussiten sowie der behaupteten eigenen ordnungspolitischen Unfähigkeit, Juden gegen drohende Übergriffe der Bevölkerung wirksam schützen. Vor der Vertreibung der Juden aus Augsburg 1439 predigten Kleriker, wie viel Übel aus dem Aufenthalt der Juden, insbesondere wegen ihres Ungehorsams, in den Städten entstehe. In Köln wurde die Vertreibung im Jahre 1424 wie andernorts mit der Verarmung der Einwohnerschaft durch jüdischen Wucher begründet.¹³⁵⁶ Daraus wurden, ähnlich wie in Nürnberg 1498, in Projektion allgemeiner Kriminalität und Sittenwidrigkeit auf die Juden eine Ausbreitung von Räuberei, Diebstahl und Prostitution abgeleitet, in weiterer indirekter Folgerung religiöse und sittliche Missstände (Unfrömmigkeit) mit Vernachlässigung des Gottesdienstes, Missachtung des Gemeinwohls und dem Begehen von Todsünden. In einem späteren Rechtfertigungsschreiben an Kaiser Sigmund vom Jahre 1431 wurden neben dem Wucher weitere Argumente vorgebracht, insgesamt sieben: Gefahr der Proselytenmacherei der Juden; die Entweihung der durch zahlreiche Reliquien und Ruhestätten von Heiligen und Märtyrern hochgeehrten Erde der zu den heiligsten Städten der Christenheit zählenden Stadt Köln durch das Betreten unchristlicher Judenfüße; das Unvermögen der Stadt, die Juden vor Übergriffen der Teilnehmer am Kreuzzug gegen die Hussiten zu schützen; der Hinweis auf Vertreibungen durch benachbarte rheinische Kurfürsten; das Gerücht der Brunnen-

vergiftung durch die Juden und das Grassieren einer rätselhaften Krankheit mit vielfach tödlichem Ausgang. Tatsächlich hatte sich die Stadt mit dem Erzbischof, der von den Kölner Juden neue Abgaben erheben wollte und die Gerichtsbarkeit beanspruchte, seit zehn Jahren um die Rechte an den Juden gestritten. Durch die Vertreibung der Juden wollte man nicht zuletzt ein Eingreifen des früheren Stadtherrn in innere Angelegenheiten vermeiden. Andere Stadtobrigkeiten hoben gleichfalls auf die Unfähigkeit ab, die Juden vor Ausschreitungen des aufgebrachten gemeinen Mannes und Stadtvolkes zu schützen oder leiteten gerichtliche Strafverfolgungen gegen Juden ein, um vom Inhaber des Judenregals die Genehmigung zur Vertreibung der Juden zu erlangen. In seiner »Norimberga« (Kap. 15) rechtfertigt als rhetorisch amboyante Stimme der Judenfeindschaft der Humanist Konrad Celtis die 1499 erfolgte Vertreibung der Juden aus Nürnberg und nennt die Juden eine Seuche für die Menschen, Vernichter christlichen Geldes und Wucherer. Er beschuldigt sie des Diebstahls und der Plünderung christlicher Habe, der Gier nicht nur nach christlichem Geld, sondern auch nach christlichem Blut, indem sie die Eingeweideschau ihres alten Aberglaubens mit den christlichen Kindern, die sie blutig als Opfer abschlachteten, feierten und mit dieser Art Orakel die Zukunft erforschten, schließlich auch des häu gen Diebstahls von Hostien und von Sakramenten zu deren Verspottung und Entwürdigung. Deshalb seien sie oft mit den Flammen und andere Strafen gequält worden, und der große schlechte Ruf wegen ihrer Verbrechen, Abscheulichkeit und Falschheit sei ihnen geblieben. Martin Luther, der in seiner eologie auch das Alte Testament von Christus her dachte, wandte sich in seiner Schrift »Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei« von 1523 gegen die antijüdische Propaganda der Ritualmorde und Brunnenvergiftung, die darauf beruhenden

1356 J. D/J. H (Hg.), Quellen zur Geschichte der Stadt Köln II, Nr. 4, S. 69–74; A.-D.   B, Das Rechtfertigungsschreiben der Stadt Köln.

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Diskriminierungen, forderte eine Behandlung der Juden nicht mehr als Hunde, sondern als Menschen, die Aufhebung der Benachteiligungen und Ghettoisierung und alltägliche Kontakte zur christlichen Mehrheit, allerdings mit dem Ziel einer Bekehrung der Juden zu richtigen, nicht nur formal getauften Christen. Als er sich jedoch in seinen Erwartungen enttäuscht sah, rief er gipfelnd in seiner Schrift »Von den Juden und ihren Lügen« 1543 in extremer Polemik zum Kampf gegen die unbelehrbaren, verstockten und Christus lästernden Juden auf, die er nun als Gefahr für die christliche Gesellschaft darstellte, und verlangte ihre Diskriminierung bis hin zur Vertreibung aus den protestantischen Städten und Territorien.¹³⁵⁷

7.7 Das Patriziat – Die Ratsgeschlechter 7.7.1 Das Nürnberger Patriziat 7.7.1.1 Regierung und Politik Der Nürnberger Ratskonsulent Dr. Christoph Scheurl greift in seinem gedrängen Abriss der Nürnberger Verfassung von 1516¹³⁵⁸ bei der Darstellung der ratsfähigen Oberschicht terminologisch auf die römische Sozialverfassung und Magistratur zurück. Patricii nennt er, was bei seinem kommentierenden zeitgenössischen Übersetzer die alten, die edeln geschlechte[r] der alten wappens genossen heißt.¹³⁵⁹ Zugleich bietet Scheurl eine klare De nition des Patriziats: Alles regiment unserer stat und gemainen nutzes steet in handen der so man geschlechter nennet, das sein nun soliche leut, dero anen und uranen vor langer zeit her auch im regiment gewest und uber uns geherscht haben. frembdling so allda eingewurtzelt und das gemain völklein [plebeji] hat kainen gewalt: es steet inen auch nicht zu, dieweil aller ge-

walt von gott¹³⁶⁰, und das wolregirn gar wenigen und allein denen so vom schöpfer aller ding und der natur mit sonderlicher weyshait begabet sein verlihen ist. An anderer Stelle heißt es lapidar: Wann eins eltern vorhin nie regiert haben, darf er sich auch kains regiments oder besonders gewalts nicht versehen.¹³⁶¹ Als Jurist trifft Dr. Scheurl den verfassungsrechtlich-politischen Aspekt des Patriziats, der jedoch das unterscheidende Kriterium ist, durch das sich das Patriziat aus dem allgemeineren Begriff einer Oberschicht oder Führungsschicht herauslösen lässt. Patriziat bezeichnet einen Kreis politisch auf geburtsständischer Grundlage berechtigter Familien, denen herkömmlicherweise die Ratssitze und Ratsämter des Stadtregiments zukommen. Zuvor hatte schon ein Losunger den Einband seiner Sammlung von Ratsgängen (Ratswahlen) im Jahre 1488 mit dem Titel Patres [et] conscripti versehen, während Konrad Celtis etwas später die Nürnberger Bevölkerung in Handwerker, Kau eute und die Patres eingeteilt hatte. Trotz verschiedener Wahlvorgänge, die Scheurl beschreibt, handelt es sich nicht um eine in konstitutivem Sinne von der Gesamtbürgerschaft beauftragte Regierung. Den Augsburger Geschlechtern, die sich als von Geburt an Herren der Stadt betrachten, wurde diese Auffassung einer originären Stadtherrschaft sehr viel später im Jahre 1718 von einer kaiserlichen Kommission ausdrücklich verwiesen¹³⁶², jedoch nur in Hinblick auf die übergeordnete kaiserliche Stadtherrschaft und nicht auf die innerstädtische Vorzugsstellung. Außer den Geschlechtern gehören in Nürnberg dem regierenden Kleinen Rat noch die patrizischen acht ›Alten Genannten‹ und seit 1370 acht angesehene Handwerker aus Gewerben an,

1357 T. K, Luthers »Judenschriften«. 1358 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 11, S. 785–804. Zum Patriziat siehe auch als zeitgenössische Stimme die Darlegungen Felix Fabris (7.1.5.2). 1359 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 11, S. 786. Die lateinische Fassung ist gedruckt bei A. W, Conrad Celtis (7.1–7.2), S. 212–227. 1360 Römerbrief 13,1. 1361 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 11, S. 791, 795. 1362 I. B, Das Patriziat der deutschen Stadt, S. 29.

Das Patriziat – Die Ratsgeschlechter

die der Stadt besonders nützlich sind. Sie spielen dort keine aktive politische Rolle, das Patriziat ist indessen nicht mehr völlig unter sich allein. Insgesamt handelt es sich aber um eine aristokratische Herrschaft der gar wenigen, um eine Art aristokratisches ratsherrliches Gottesgnadentum, das seine Legitimation aus der von Gott und der Natur vermittelten besonderen Eignung (wyshait, ingenium) zur Herrschaft bezieht. Die Geschlechter sind die geborenen Regenten. Das Patriziat ist ein Geburtsstand, der – darin dem alten römischen Patriziat und der jüngeren römischen Nobilität vergleichbar – seine eigentliche Bestimmung in der Politik, der Erfüllung öffentlicher Aufgaben für das Gemeinwesen im Sinne des gemeinen Nutzens hat. Politik, die auch wirtschaftliche Leitung, Ein ussnahme auf wesentliche Teile des privaten und öffentlichen Vermögens und des in der Stadt erwirtschafteten Sozialprodukts bedeutet, und militärische Führung sind die genuine Beschäftigung, das Lebenselement des Patriziats. Es entspricht dem stadtadeligen Gottesgnadentum, dass die Verfassung des patrizischen Stadtregiments nicht auf Satzungsrecht, sondern auf Herkommen beruht. Ferner dulden die Nürnberger Geschlechter keinen fremden, nicht geburtsständischen Mitregierungsanspruch einer Expertenelite, indem sie dafür sorgen, dass kain [juristischer] doctor, er sei vom geschlecht so edel er im[m]er woll, in rat gesetzt würt.¹³⁶³ Damit wird jeder politische Anspruch einer juristischen Noblesse de robe, die Fachkompetenz mit einer nicht geburtsständischen, aus dem römischen Recht hergeleiteten Adelsprätention der promovierten Juristen verknüpft, zur Reinerhaltung des geburtsständischen Prinzips unterbunden, und zwar bis zum Ende der Patriziatsherrschaft im 18. Jahrhundert. Dr. Scheurl, der wenige Jahre vor der fast hermetischen Schließung des Patriziats schreibt, weiß, dass immer wieder neue Familien durch

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die alten Geschlechter kooptiert wurden. Aber diese Familien sind ihrer besonderen sozialständischen Quali kation, irer eherlichen [ehrbaren] gepurt und stammens wegen in den Kreis der ratsfähigen Geschlechter gelangt.¹³⁶⁴ Bildet das Patriziat nun einen Kreis geburtsständisch ratsfähiger Familien, so gibt es doch innerhalb des Patriziats eine noch exklusivere, sich verengende Geschlechterelite von Familien, die für die Besetzung der höheren und höchsten Ratsämter infrage kommen. Ratsfähigkeit und Amtsfähigkeit sind nicht völlig identisch, da für viele ratsfähige Familien der cursus honorum an einem bestimmten Punkt endet und die nächsthöheren Ämter nicht mehr erreichbar sind. Dem bürgerlichen Leistungsprinzip sind hier weitere auf sozialen Rangfolgen beruhende Grenzen gezogen. Ähnliches gilt für die nachgeordnete Ehrbarkeit der im Spätmittelalter in nicht festgelegter Anzahl etwa 200 oder 300–400 ›Genannten des Größeren Rats‹.¹³⁶⁵ Sie sind nicht alle ratsfähig, jedoch gerichtsfähig, d. h. sie wirken als Zeugen und Eideshelfer an Akten der freiwilligen Gerichtsbarkeit mit. Auch bei der Ratswahl spielen sie eine gewisse Rolle, indem sie zwei Wahlmänner wählen. Aus den Genannten werden vom Kleineren Rat acht Personen ausgewählt, die schier all von renten und zinsen ir genugsame narung haben und beim Stadtgericht als Beisitzer an den beiden Gerichtstischen fungieren. Abkömmlichkeit und eine quali zierte Lebensführung sind also Voraussetzung auch für das Schöffenamt. Das Nürnberger Stadtregiment blieb trotz des Aufruhrs der im Streit um den Königsthron dem Wittelsbacher anhängenden Oberschicht in Verbindung mit den Handwerkern gegen die luxemburgisch gesinnte Ratsmehrheit 1348/49 fest in der Hand der Geschlechter. Zünfte im politischen Sinne gab es danach nicht, auch keine eigenständige gewerbliche Organisation der Handwerke, die stattdessen der strengen Aufsicht des Rates und von Ratskollegien unter-

1363 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 11, S. 792. 1364 Ebd., S. 791 f. 1365 K. S, Die Genannten in Nürnberg (7.1–7.2).

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worfen waren. Die Kaufmannschaft rang erst 1560 dem Rat eine Marktordnung und einen Handelsvorstand ab. Die kaufmännische Ehrbarkeit hatte ihre eigene Korporation gefunden, und 1566 musste ihr der Rat selbstverantwortliche Ordnungsfunktionen und eine freiwillige Schiedsgerichtsbarkeit durch die vier von der Korporation gewählten Marktvorsteher gewähren. Hier wird eine Wende in der Führung der Wirtschaft sichtbar, die von Rat und Patriziat nicht mehr vollständig beherrscht wurde. 7.7.1.2 Die Familien Die 26 Nürnberger Familien, die seit den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts die Steuerumlage ordnen, die als Schöffen (scabini) des Schultheißengerichts fungieren, als Ratsmannen mit den Bezeichnungen consules und später auch Bürgermeister der universitas civium zusammen mit dem Schultheißen politisch hervortreten und den Rat besetzen, der sich als einheitliches Gremium seit dem späten 13. Jahrhundert aus den Kollegien der consules und Schöffen herausgebildet hat – diese Familien mit größerem Landbesitz im Umland der Reichsstadt stammen aus der in Nürnberg und im näheren Umkreis ansässigen oder zugewanderten Ministerialität, zu einem großen Teil aus der Reichsministerialität des fränkischen Reichslands (terra imperii).¹³⁶⁶ Mit dem werdenden Landadel der umliegenden Territorien sind sie vielfach versippt. Sie führen ritterliche Wappen und seit 1276 allgemein – wie der Adel – den Titel dominus (Herr). Nachkommen einer ältesten, freien Kaufmannschaft lassen sich unter diesen Familien offensichtlich nicht nachweisen. Es ist jedoch unschwer vorstellbar, dass sich Kau eute dem ökonomisch-organisatorischen Bereich der Verwaltung des um Nürnberg gelegenen Reichsgutes angliederten und mit den Ministerialengeschlechtern verschmolzen. Schon frühzeitig wenden sich Ratsgeschlechter ministerialischer Herkunft einer Handelstätig-

keit beträchtlichen Umfanges zu. Der Dienst der Ministerialen war ja nicht auf militärische und gerichtliche Aufgaben beschränkt. Krongutverwaltung, Hof- und Heeresversorgung vermittelten einen Begriff von Wirtschaft und Geld, der allerdings in städtische Dimensionen übersetzt werden musste. Andererseits sind die Ministerialen in dem sich ausbildenden und nach Autonomie strebenden Bürgerverband die geborenen ›Rater und Richter‹. Wie der Ministeriale dem Kaufmann militärischen Schutz gibt, so ist aber auch der Fernhändler des 12. und 13. Jahrhunderts auf eine eigene Wehrhaftigkeit und eine quasi-militärische Organisation seiner Handelskarawane angewiesen und stellt in der Stadt dann eine Art »Stadtritter« dar mit »Patronat und Klientel, mit Gefolgschaft auch für die Stadtverteidigung«.¹³⁶⁷ Von beiden Ausgangspunkten her, dem militärisch-politischen und dem ökonomischen, ergeben sich auf diese Weise Übergänge zwischen Ministerialität und Kaufmannschaft, die deshalb keinen trennenden Gegensatz bilden. Den politisch entscheidenden Kleineren Rat, den Inneren Rat, besetzten in dem Zeitraum von 1318/23, dem Einsetzen der dann seit 1332 fortlaufender Ratslisten, bis 1521, der Abschließung des Patriziats, zwischen 32 und 35 Familien. Diese Zahl war konstant, doch wurden mehrere Familien durch einen Wechsel ausgetauscht. Eine Spitzengruppe von meist nur 15 Familien – darunter die Muffel, P ntzing, Holzschuher, Haller, Groß – saß allerdings ständig im Rat und war dort – wie die P nzing, Stromer, Haller und Ebner – zeitweise mit zwei Mitgliedern zugleich vertreten. Waren es sogar drei Mitglieder, so gehörte das dritte Mitglied in der Regel der politisch nachgeordneten Gruppe der acht Alten Genannten zu. Als Ältere Herren, als Losunger in der Steuer- und Finanzverwaltung und als die drei Obersten Hauptleute im Kriegs- und Verteidigungswesen nahmen Mitglieder dieser Geschlechter ferner die

1366 Zum Folgenden siehe J. M, Die Entstehung des Patriziats in Nürnberg; H. H. H, Nobiles Norimbergenses; H. H, Das Nürnberger Patriziat: W. . S, Reichtum und Ratswürde; D., Oberdeutsche Hoch nanz (9.3–9.4); P. F, Rat und Patriziat in Nürnberg. 1367 H. H. H, Nobiles Norimbergenses, S. 67 f.

Das Patriziat – Die Ratsgeschlechter

höchsten Ratsämter, Ränge und die entscheidenden Machtpositionen ein. Im selben Zeitraum von 1332 bis 1521 starb fast die Hälfte der 35 Ratsgeschlechter aus oder zog weg. Diese Familien wurden durch Neuzugänge ersetzt, die teils aus den Patriziaten anderer oberdeutscher Städte, teils vom Lande zugezogen waren; insbesondere stammten sie aus der Fluktuation zwischen Nürnberg, Augsburg, Lauingen und Regensburg oder aus dem Breslauer Patriziat. Es dauerte oft ein halbes Jahrhundert, bis sich diese Familien als ratsfähig fest im Patriziat etablieren konnten. Die Löffelholz und andere Familien zogen aus dem bischö ich regierten Bamberg in das bürgerliche Nürnberg. Einige Familien brachten es nur zu einem persönlichen Ratssitz. Seltener rückten einheimische Familien auf, und zwar dann aus dem Kreis der Genannten. Nur die Fütterer gelangten aus dem Handwerk und auch nur spät über ein erfolgreiches Unternehmertum in Verlag und Finanzgeschäft ins Patriziat. Im 15. Jahrhundert wurden noch 22 Familien ins Patriziat aufgenommen. In den beiden ersten Jahrzehnten waren es Familien vorwiegend ritterlicher Herkunft oder Familien aus fremdem Patriziat. In der zweiten Jahrhunderthälfte wurde vorsichtig aus der Gruppe rasch aufsteigender Gesellschafter großer Firmen selektiert, die sich als Faktoren emporgearbeitet und sich häu g bei der Liquidation einiger älterer Groß rmen während einer Krise um die Jahrhundertmitte selbständig gemacht hatten. Zwischen 1440 und 1504 stiegen 15 Familien ins Patriziat auf, davon 9 bis 1453, danach nur noch 6 Familien. Im 14. und 15. Jahrhundert waren im Kleineren Rat insgesamt 78 Familien mit 421 Ratsherren mit unterschiedlich langen Amtsjahren vertreten, zum Teil allerdings mit nur wenigen Personen. Mehr als zehn Ratsherren entsandten 22 dominant vertretene Geschlechter. Bündelt man kontinuierliche Vertretung, doppelte Präsenz und Übernahme höchster und wichti-

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ger Ämter, so nden sich diese Merkmale bei zwölf als beherrschend zu bezeichnende Geschlechtern¹³⁶⁸, mit Abstand bei weitern zehn bedeutenden Geschlechtern. In den Jahren vor 1400 hatte das gegenseitige Konnubium der Geschlechter 80 Prozent der Heiraten betragen. Nur etwa jede achte Ehe (12%) wurde mit einer Frau aus nicht ratsfähiger und jede sechste (8,5%) mit einer niederadligen Familie eingegangen. Danach ging die Exklusivität zurück, erreichte im 16. Jahrhundert 63 Prozent und stieg in der Zeit von 1700 und 1800 auf 88 Prozent.¹³⁶⁹ Das sogenannte Tanzstatut der Älteren Herren von 1521¹³⁷⁰ schließt als autoritative Regelung für künftige Zeiten das Patriziat als Geburtsstand ab, indem es 42 Geschlechter nennt, die zum Tanz auf dem Rathaus uneingeschränkt zugelassen und zu laden waren. Das Statut unterscheidet nach Alter und Vornehmheit drei Schichten von Geschlechtern, eine alte von 20 Geschlechtern aus der Zeit vor 1362, eine jüngere von 7 (neuen) Geschlechtern, die zwischen 1396 und 1437 in den Rat aufgenommen wurden und eine ganz junge von 15 Geschlechtern, die erst – zwischen 1440 und 1504 – zugelassen worden waren. Nicht verwehrt soll der Tanz auf dem Rathaus den Familien werden, die mit den Geschlechtern verwandt sind. Tatsächlich fanden nach dem Tanzstatut für die nächsten 200 Jahre bis 1728 mit einer Ausnahme (1534) keine neuen Familien mehr Aufnahme in das Patriziat und Zulassung zum Rat, der in seiner mittelalterlichen Gestalt bis zur Verfassungsreform im Grundvertrag des Jahres 1794 fortbestand, während der Bestand an ratsfähigen Familien durch Aussterben von Geschlechtern und vereinzelte Aufgabe des Bürgerrechts um 1600 auf 25 und um 1700 auf 19 Familien absank. Peter Fleischmann will in seinem monumentalen Werk für die Zeit vor 1500 nur von den »Geschlechtern« oder »einer Geschlechter-

1368 Ebner, Grundherr, Haller, Holzschuher, Nützel, P nzing, Schürstab, Stromer, Tetzel, Tucher, Volckamer, Vorchtel. 1369 P. F, Rat und Patriziat, S. 309 f.; S. 238, 241. 1370 Das Tanzstatut ist gedruckt und kommentiert bei T. A, Die Ketzel, S.100 ff.

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herrschaft« sprechen, danach vom »Patriziat« im Sinne eines »Stadtadels«. Damit würde man dem nach 1500 etablierte Quellenbegriff patricii in der Form des Kollektivsingulars »Patriziat« einen neuen Ordnungsbegriff »Stadtadel« an die Seite stellen. Plausible Gründe dafür und Merkmale einer neuen Qualität der älteren »Geschlechterherrschaft« im Sinne eines neu de nierten, nun eigentlichen »Patriziats« sind folgende: Mit der künftig fast vollständigen geburtsständischen Abschließung des Kreises der Geschlechter grenzten sich die Geschlechter rigide gegenüber der nachgeordneten Oberschicht als einem ehemaligen Führungsreservoir ab. Außerdem galten die an öffentlichen Plätzen angeschlagenen und sonntags bei Gottesdienst verlesenen Kleiderordnungen seit 1560 nicht mehr allgemein, sondern hatten das Ziel, in vier bis sechs Gruppen die Gesellschaft ständisch zu ordnen, damit man jeden nach seinem Stand erkennen möge. Ferner war seit 1521 herausragenden Reichtum nicht mehr Quali kationsmerkmal, setzte allmählich ein Rückzug von Geschlechtern vom kaufmännischen und unternehmerischen Erwerbsleben ein und seit dem 17. Jahrhundert auf der Grundlage von akademischer Bildung, Kavalierstour und Herrendienst eine »ausschließliche Zuwendung des Patriziats zum Staatsdienst«. Schließlich kam das in der Reformation theologisch neu begründete Verständnis von der weltlichen Obrigkeit hinzu.¹³⁷¹ Das Problem ist nur, dass nicht wenige Erscheinungen, wie insbesondere die zentrale Verknüpfung von Stand und Ratsherrschaft, in die Zeit vor 1500 zurückreichen und sich nur modi zieren, andere sich nach 1500 in längeren Zeiträumen sukzessive entwickeln, sodass keine zeitlich koordinierte Bündelung für das Erreichen eines neuen ständischen Aggregatszustands erfolgt, die eine so tiefgehende Zäsur verursachte. Andererseits würde jedoch, wenn man den allgemeinen und übergreifenden Ordnungsbegriff »Patriziat« meiden will, in der Abfolge von »Geschlechterherrschaft« hin zum »Patriziat« für Nürnberg ein deutlicher sozial-

geschichtlicher Wandel kenntlich gemacht, der auch durch die nicht zuletzt von außen herangetragene und intern akzeptierte normative Adelsquali kation, die den Verzicht auf erwerbswirtschaftliche Tätigkeiten verlangt, ideologisch gestützt wurde. Ähnliches gälte etwa für Augsburg und möglicherweise auch für Ulm vor allem für die Zeit nach der Regimentsänderung von 1548. Mit seiner Abschließung hatte das Patriziat vermutlich auf die im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts zunehmende Distanzierung des niederen Adels reagiert, der sich gegen die städtischen Geschlechter ständisch abgrenzte und das Konnubium mit ihnen abreißen ließ. Der fränkische Niederadel versuchte mit der Abgrenzung eine gewisse soziale und wirtschaftliche Schwäche von Teilen seiner Angehörigen angesichts der Finanzkraft großer Städte und ihrer vermögenden patrizischen Bürger, die fortschreitend Renten, bäuerliche Güter, Grundherrschaften und Dörfer des Umlands in Besitz nahmen, ferner den Angriff auf das adlige Steuerprivileg durch Reichssteuern und die Infragestellung adliger Eigenmacht und Selbständigkeit durch reichsgesetzliche Fehdeverbote zu kompensieren. Er stand ferner, bevor er sich korporativ in Rittergesellschaften organisierte und Reichsunmittelbarkeit erlangte, in der Gefahr, im Zuge fürstlicher Territorialstaatsbildung seine politische Unabhängigkeit zu verlieren, in die Landsässigkeit gedrückt und der fürstlichen Landesherrschaft und Gerichtsbarkeit unterworfen zu werden. Schon in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts hatte andererseits Markgraf Albrecht Achilles von Brandenburg-Ansbach den Niederadel zur Drangsalierung der reichen Kau eute und der angeblich nach Beseitigung der ständischen Unterschiede strebenden Bürger sowie zu einer ressentimentgeladenen Gegnerschaft zu den Städten animiert. Das Nürnberger Patriziat seinerseits suchte sein ständisches Prestige durch eine stärkere Abgrenzung nach unten gegenüber einer reich ge-

1371 P. F, Rat und Patriziat, S. 252–259. Siehe dazu auch 4.3.6.

Das Patriziat – Die Ratsgeschlechter

wordenen Kau eute- und Unternehmerschicht zu wahren. Die alten Geschlechter, bei denen sich die politische Macht konzentrierte, reagierten mit der starken Binnendifferenzierung des Patriziats in drei Gruppen auf Ambitionen jüngerer Familien, die bald zutage traten. Einige ältere Geschlechter waren ausgestorben oder es waren Linien erloschen, sodass sich auf Dauer personelle Engpässe zeigten, hinzu kam abnehmender wirtschaftlicher Erfolg. Konkurse hatten 1430 die Koler und Ortlieb, 1433 die nicht sehr vermögende Hauptlinie der Stromer, 1448 die Mendel und 1465 Anton Paumgartner ereilt, dessen unmittelbare Nachkommen deshalb nach Augsburg auswanderten; 1492 traf es einen Zweig der Pirckheimer. Der Reichtum der führenden Geschlechter war um die Mitte des 15. Jahrhunderts zwar beachtlich, aber nicht mehr überragend wie ein Jahrhundert zuvor. Im 16. Jahrhundert waren die meisten Geschlechter immer noch wirtschaftlich tätig. Für einige wie die Harsdörffer, Imhoff, Tetzel und Tucher begann erst jetzt ihre große Zeit, bei anderen orierten die Geschäfte jedoch immer weniger. Patrizier trieben weit über die Blütezeit der oberdeutschen Wirtschaft hinaus bis ins spätere 17. Jahrhundert wie selbstverständlich Handel, doch fand bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieg schrittweise eine Abwendung von Handel und wirtschaftlichem Unternehmertum, das nicht mehr als standesgemäß erachtet wurde, und damit auch eine Entfremdung von wirtschaftlichen Führungsaufgaben statt. Grundbesitz, Lehen und Kapitalrenten reichten für den standesgemäßen Lebensunterhalt nicht mehr aus, sodass die Patrizier auf Einkommen aus Ämtern angewiesen waren. Kaiser Leopold I. bestätigte den regierenden Nürnberger Geschlechtern durch kaiserliches Diplom

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von 1696 in corpore das Regiment über die Stadt, ferner ihren alten Adel (antiqua nobilitas) und ihre Bezeichnung patricii nach römischem Brauch, und zwar mit der fragwürdigen ideologischen Begründung, die künftig zur Bedingung wurde, sie hätten sich seit jeher vom bürgerlichen Erwerbsleben ferngehalten und sich aus Renten und Ämtern alimentiert. Manche der Geschlechter vernichteten daraufhin ihre Archive und versuchten so, ihre kaufmännische Vergangenheit zu verwischen. Der Kaiser bestätigte 1697 den Geschlechtern das uralt adelige und ritterliche Herkommen der ratsfähigen Familien, die vor ihrem Wechsel in die Stadt in dem adeligen und rittermäßigen Stand gelebt hätten. Er erteilte den damals noch 19 ratsfähigen Geschlechtern, die bei 34 patrizischen Ratssitzen seit längerem in Personalnot geraten waren, das vom Patriziat längst beanspruchte und gelegentlich ausgeübte Recht, andere Familien in ihren Kreis aufzunehmen, und zwar, die Aristokratie zugleich als Meritokratie de nierend, wenn sie sich durch Ritterstand, Tugendhaftigkeit und Verdienste für die Stadt auszeichneten.¹³⁷² 7.7.1.3 Die Lebensgrundlage: Grundbesitz, Rentenbezug und Handel Ihre wirtschaftliche Grundlage hatten die Geschlechter im Spätmittelalter im Groß- und Fernhandel mit heimischen Exportgütern wie Metallwaren verschiedenster Art und Wolltuchen, mit spekulative Gewinne abwerfenden Gewürzen und Apothekerwaren (Drogen, Drugwaren), mit Leinen, Wachs, Vieh, Wein und Getreide, ferner in größeren, vor allem auch politischen Kredit- und Geldgeschäften sowie in der Beteiligung im Montanbereich, zunächst im östlich von Nürnberg beginnenden Eisenrevier des Fränkischen Jura (Fränkische Alb) und der

1372 Die Älteren Herren legten 1727, zwei Jahre vor den Kooptationen von 1729, die Kriterien für eine Aufnahme folgendermaßen fest: Altes adeliges Herkommen und mindestens sechzigjährige Haussässigkeit in Nürnberg; Nachweis ritterlicher Taten der Vorfahren in auswärtigen Diensten; Lebensunterhalt durch Vermögen, Einkommen aus Kapitalund Grundrenten (Renten und Gülten) oder durch Herrendienst, keine Ausübung eines bürgerlichen Gewerbes oder Kaufmannschaft; Besitz steuerp ichtiger Landgüter oder anderweitige Unterstützung des Staatshaushalts; Nachweis geistlicher Stiftungen seitens der Vorfahren; Konnubium mit auswärtigen adeligen und einheimischen ratsfähigen Geschlechtern; Verdienste um die Reichsstadt durch Übernahme von Ämtern. P. F, Rat und Patriziat, S. 262–265.

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Oberpfalz, dann ausgreifend im Bergwesen Mitteldeutschlands im Mansfeldischen, in üringen und Sachsen, in der Steiermark, in Böhmen, Ungarn und im Karpatenraum. Seit 1362 nden sich einzelne Spuren bankartiger Geschäfte der Nürnberger Wechselstuben, seit 1425 nehmen diese Stuben nachweisbar die vollen Funktionen als Kredit- und Girobank mit ausgedehnten Fernbeziehungen wahr. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts brachte der Kreis der Großunternehmer bedeutsame Münzmeisterämter in seine Hände, in Nürnberg selbst, aber auch in Frankfurt, Ulm, Augsburg, Kuttenberg und Kremnitz, und gewann beherrschenden Ein uss auf Produktion und Vertrieb von Edelmetallen. Konrad Groß war Finanzier Ludwigs des Bayern. Die Haller, Groß, Stromer und Tetzel waren maßgeblich an der Geldbeschaffung für den Kauf der Mark Brandenburg durch Karl IV. im Jahre 1373 beteiligt, wie vermutlich 1412–1418 andere Nürnberger Familien beim Erwerb der Mark durch die Zollern. Nürnberger Geschlechter bevorschussten 1401 mit 55 000 Gulden die Florentiner Subsidien für König Ruprechts Kriegszug gegen Mailand und diskontierten die Wechsel. Ratsherren und Geldkau eute unterstützten 1422–1427 durch diplomatische und nanzpolitische Maßnahmen die Reichsreformpläne König Sigmunds und dessen Abwehrkampf gegen die Kurfürstenfronde unter Führung des Markgrafen Friedrich von Brandenburg, gegen den sie eine Kreditsperre verhängten. Dem Patrizier Ulrich Ortlieb verpfändete Sigmund um 1 500 Gulden eine Krone. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts schieden die Nürnberger dann aus dem politischen Finanzgeschäft weitgehend aus, das nunmehr, vor allem seit der Regierung Maximilians I., die Domäne der Augsburger wurde. Als städtische Grundbesitzer besaßen die Geschlechter – und der Rat – im Mittelalter einen großen Teil der Gewerbe- und Marktanlagen, Krämen, Fleisch- und Brotbänke und sonstige Einrichtungen, die sie den Krämern und Handwerkern gegen Zins zur Nutzung überließen. Handels- und Unternehmungsgewinne sicherten die Geschlechter durch Anlage im

Grundbesitz außerhalb der Stadt. Die Akkumulation von Grundrenten, Grundbesitz und der Erwerb von Herrschaftsrechten vom stets geldbedürftigen König ermöglichten zugleich einen herrschaftlich-adligen Lebensstil. Die alten Geschlechter hatten bereits im 13. Jahrhundert feste Landkomplexe vor allem im Osten der Stadt inne und erwarben von Karl IV. Regalien hinzu. Den benachbarten geistlichen Landesherren und dem teilweise verarmenden Landadel nanziell überlegen, kauften die Geschlechter Grundherrschaften über bäuerliche Anwesen und ganze Dörfer auf. Als Eigenherren hatten sie das lehnrechtliche Obereigentum (dominium directum) inne, während den bäuerlichen Eigenleuten das Unter- oder Nutzeigentum (dominium utile) zustand. Mitte des 15. Jahrhunderts hatten einer zeitgenössischen Statistik zufolge 39 Geschlechter die Eigenherrschaft über 2 924 bäuerliche Hintersassen, die im Kriegsfalle aufgeboten werden konnten. Sie bezogen die grundherrlichen Abgaben und übten vielfach die Gerichtsbarkeit aus, die von Akten der freiwilligen Gerichtsbarkeit bis zur polizeilichen Strafgerichtsbarkeit und sogar zur Blutgerichtsbarkeit reichen konnte. In der Stadt entschied ein Bauerngericht über Streitigkeiten der bäuerlichen Hintersassen untereinander. 7.7.1.4 Zwischen Bürgertum und Adel Aeneas Silvius notierte um 1450 in seiner Stadtbeschreibung Nürnbergs die Ausrichtung der ratsfähigen Geschlechter aufs Land hin und bemerkte, dass sie sich auf ihren Gütern bemühten, ein Leben in der Weise des Adels zu führen. Adel beruhte auf Grundbesitz und Ritterwürde, die bei einer ritterlichen Lebensführung über längere Zeit hinweg vermutet wurde. Die Geschlechter waren passiv lehensfähig. Von den Königen und von Fürsten emp ngen sie Lehen in Form von Lehensgütern, Bannrechten, Ämtern oder Regalien. Zu allen Zeiten hat eine größere Anzahl von Geschlechtern Reichsgut selbst oder für lehensunfähige Dritte wie Frauen, Korporationen und Geistliche zu Lehen getragen. Auf Eigenbesitz errichteten die Ge-

Das Patriziat – Die Ratsgeschlechter

schlechter – als Zeichen von Macht und Wehrfähigkeit – burgenartige Schlösschen mit Wall und Graben. Andere Schlösser gingen von König und Reich oder von Fürsten zu Lehen. Zur wirtschaftlichen Sicherung ihrer Familien richteten Patrizier wie der Adel so genannte Vorschickungen ein, das sind deikommissähnliche Stiftungen. Ein bevorzugtes Erbrecht beugte der Vermögenszersplitterung vor. Hans Pirckheimer besaß im Jahre 1456 insgesamt 60 Lehensgüter, 19 Eigengüter, 5 Stadthäuser und 24 Immobilienrenten. Adelskriterien sind Lehens-, Stifts- und Turnierfähigkeit. Während die Lehensfähigkeit, die im Übrigen auch nichtpatrizischen Bürgern zukommen konnte, außer Zweifel stand, galt dies nicht hinsichtlich der Stifts- und Turnierfähigkeit, sodass die Geschlechter hier Ersatzinstitute schufen. Stiftsfähigkeit bedeutet die Möglichkeit, einem Domkapitel anzugehören, im weiten und späteren Sinne die Möglichkeit, in ein Stift aufgenommen zu werden, dessen Plätze satzungsgemäß dem Adel vorbehalten waren. Dafür war Ritterbürtigkeit Voraussetzung, wobei sich dieser Begriff entsprechend den meisten Standesbegriffen gegen das Ende des Mittelalters hin verengte. Da dem Patriziat die Stiftsfähigkeit abgesprochen wurde, war ihm die Möglichkeit genommen, vor allem die Töchter in Stiften standesgemäß zu versorgen. Die Geschlechter stifteten deshalb Propsteien und Klöster in der Stadt, die zwar ständisch gegenüber den Stifts- und Kapitelpfründen des Adels minder privilegiert, aber ausschließlich den Geschlechtern vorbehalten waren, die damit eine eigene, sie aus dem Bürgerverband ständisch heraushebende Stiftsfähigkeit schufen. Gleiches gilt für die Turnierfähigkeit. Von Beginn des 15. Jahrhunderts an veranstalteten die Geschlechter eigene Turniere, die Gesellenstechen genannt wurden und zu denen nur die Söhne der zu Rate gehenden Geschlechter zugelassen waren. Die Turnierordnung des fränkischen Adels von 1478 ließ zur Abgrenzung des ritterbürtigen Adels auf dem Lande von dem städtischen Adel oder Patriziat nur noch

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alte ritterschaftliche Geschlechter als Teilnehmer von Turnieren zu, nicht aber Angehörige des Nürnberger Patriziats, die Kaufmannschaft und Handel trieben. Darin folgte die Würzburger Turnierordnung von 1479, die auch Adlige, die Kaufmannschaft und Handel trieben, ausschlossen. Eine 1485 in Bamberg von der Ritterschaft getroffene Ausnahmeregelung gestand die Turnierfähigkeit den Ritterbürtigen zu, die mit einer Patriziertochter verheiratet waren, doch musste die Patrizierin ein Heiratsgut von mehr als 4 000 Gulden in die Ehe eingebracht haben oder einbringen; 10 000 Gulden Mitgift wurden verlangt, wenn der adlige Turnierbewerber aus einer Familie stammte, die erst in den letzten 50 Jahren an Turnieren teilgenommen hatte. Die Heilbronner Turnierordnung von 1481 schloss Bürger grundsätzlich aus, die folgende von 1482 quali zierte neben dem Bürgern auch den Ritter ab, der aus freiem Willen als Bürger in der Stadt lebte und dort Steuern, Wachtdienste und andere bürgerliche P ichten sowie ein Amt übernahm. Beide Ersatzinstitute machen deutlich, dass das Patriziat zwar nicht mit dem Landadel gleichgestellt wurde, bezogen auf den Bürgerverband jedoch eine quasiadlige, stadtadlige Standesqualität prätendierte. Darüber hinaus besaßen einige Patrizier die persönliche Ritterwürde, die sie auf das ganze Geschlecht übertrugen. Angehörige der Familie P nzing waren seit Beginn des 14. Jahrhunderts Generationen hindurch Ritter. Von Kaiser Sigmund erhielten fünf Patrizier 1433 auf der Tiberbrücke den Ritterschlag. Durch königliche Adelsbriefe wurden im 15. Jahrhundert ganze Familien nobilitiert, im 16. Jahrhundert durch Erhebung zu rittermäßigen Edelleuten und Reichsfreiherrn gemacht. Andere Familien ließen sich ihre Adelszugehörigkeit durch Adels- und Wappenbriefe bestätigen, womit meist eine Wappenbesserung und die Verleihung altadeliger Helmzierde (gekrönte Helme) einhergingen. Die Abgrenzung des Landadels zwang das Patriziat auf längere Sicht zur Option. Ein Teil der Geschlechter ging in die fränkische Ritterschaft über und zog sich unter Aufgabe des Bürgerrechts und

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des Großhandels auf die Landgüter zurück, wo die Herrensitze zu repräsentativen Lustschlössern ausgebaut wurden. Die Nürnberger Geschlechter traten durch reiche Kloster-, Kirchen- und Sozialstiftungen wie das hochdotierte Heilig-Geist-Spital (1332/39, Konrad Groß), die Pilgerhausstiftung zu Heilig-Kreuz (1352/53, Familie Haller) oder das Zwölfbrüderhaus für alte Handwerker (1388, Marquard Mendel) hervor und bewiesen damit die ständisch geforderte Freigebigkeit (liberalitas). Wie Fürsten und Adel – und in Konkurrenz zu ihnen – förderten sie durch mäzenatische Aufträge Kunst und Wissenschaft. Zur standesgemäßen Lebensführung gehörten eine gelehrte Erziehung der Söhne, zumal im Zeitalter des Humanismus und der Renaissance, Bildungsreisen, die Erziehung der Töchter in den patrizischen Frauenklöstern analog zur Stiftserziehung der Adelstöchter. Allerdings war das Studium an Universitäten, wo Padua eine besondere Rolle spielte, nicht allgemein. Das angesehene juristische Studium wurde meist ohne Doktorpromotion abgeschlossen, damit die Ratskarriere nicht verbaut wurde. Dennoch haben einzelne Patrizier den Doktorgrad erworben und sind nach der Mitte des 15. Jahrhunderts beru ich im Dienst der Stadt und im Fürstendienst tätig geworden. omas Pirckheimer wurde, wohl auf plutokratischer Grundlage, um die Mitte des 15. Jahrhunderts Rektor der Universität Perugia. Häu ger aber wurden Patriziersöhne zur Vorbereitung auf das Erwerbsleben zu einem Faktor oder Geschäftsfreund ins Ausland geschickt, damit sie dort kaufmännische Lehrjahre durchmachten und die notwendigen Fremdsprachen lernten. Die Lebenshaltung bewegte sich zwischen standesbewusster Repräsentation mit gewissen Neigungen zu demonstrativem »irrationalem Konsum« (Max Weber) und bürgerlichem, von wirtschaftlicher Rationalität diktiertem Maßhalten. Der Reichtum verbarg sich vielfach hinter betont schlichten Hausfassaden. Das Patriziat statuierte die Luxusverordnun-

gen, die das Tragen von Perlen und kostbarem Pelzwerk, von Kleidung aus bestimmten teuren Stoffen und mit golddurchwirkten Borten, Schnüren und Nähten sowie übermäßigen Festaufwand einzudämmen versuchten, und es unterwarf sich den Verordnungen nicht nur prinzipiell. Zahlreich sind jedoch die Bußen, die der Rat über seine Mitglieder und Standesgenossen verhängte, weil sie die Kleiderordnung verletzten, wie auch Inventare den Besitz von Pretiosen belegen, die nicht getragen werden durften. Letztlich galt das Ideal des sparsam, sorgsam und klug wirtschaftenden Hausvaters. Dieses aus der Antike und ihrer Ökonomik, d. h. der Lehre vom Haus als einer umfassenden Wirtschafts- und Lebensgemeinschaft, überkommene Ideal ist jedoch keineswegs genuin bürgerlich zu nennen, beansprucht es doch gleichermaßen und sogar ursprünglich für den wirtschaftenden und konsumierenden Adelshaushalt Gültigkeit. 7.7.2 Was heißt Patriziat? Ungeachtet der im Vergleich zu einigen rheinischen oder niederrheinischen Städten spät entwickelten Ratsverfassung und Autonomie Nürnbergs repräsentieren die Nürnberger Geschlechter in fast idealtypischer Weise das Patriziat. Doch gilt dies im Wesentlichen auch für die Kölner Geschlechter, die von 1268 bis in die frühen 1390er Jahre mit einem legendären Kanon von 15 Familien seit der Christianisierung den Rat beherrschten. Auch nach Auffassung des Kölner Stadtschreibers und Dichters Gottfried Hagen nach der Mitte des 13. Jahrhunderts ist die Gemeinde nicht zur Herrschaft befähigt und hat sich der Herrschaft der ohne weiteres dazu berufenen Geschlechter zu beugen. Nicht Reichtum und Ansehen an sich, sondern nur die Zugehörigkeit zu einem der Geschlechter, deren Vorfahren angeblich schon zu Zeit der Christianisierung Kölns edle Bürger waren, gewähren eine politische Führungsstellung.¹³⁷³ Im Unterschied zu Nürnberg wurde die Herr-

1373 M. G, Köln im 13. Jahrhundert (2.5.2), S. 257, 298.

Das Patriziat – Die Ratsgeschlechter

schaft der alten Geschlechter in Köln am Ende des 14. Jahrhunderts gebrochen; sie schieden in der geschriebenen Verfassung von 1396 als Kategorie aus und bildeten daher kein Patriziat mehr. Es ist nun zu fragen, welche Elemente das Patriziat von den allgemeineren Begriffen der Ober- oder Führungsschicht abgrenzen lassen. Dabei muss zwischen Merkmalen unterschieden werden, die nur die Voraussetzung bilden und an denen auch andere Gruppen teilhaben können, und solchen, denen ein de nitorischer Charakter eignet.¹³⁷⁴ Zu den Voraussetzungen der Geschlechterherrschaft und des Patriziats und lange Zeit als deren Signum gehören Reichtum und wirtschaftliche Machtstellung. Das entscheidende de nitorische Kriterium des Patriziats ist seine politische Berechtigung, seine Ratsfähigkeit und Ratszugehörigkeit, und seine politisch-soziale Vorrangstellung auf genealogisch-geburtsständischer Grundlage.¹³⁷⁵ Das Patriziat ist ein politisch-sozialer Stand. Im Einzelnen heißt das: 1. Die politische Berechtigung, die sich zur Herrschaft verdichtet, und die soziale Vorrangstellung erscheinen herkömmlich, genuin und unabgeleitet. Politische Berechtigung im Sinne der Ratsfähigkeit und Standesqualität sind unmittelbar aufeinander bezogen, unabhängig davon, ob das Patriziat die Stadtherrschaft monopolisiert und ein aristokratisches Regime bildet oder ob es an der Stadtherrschaft als eine in der Verfassung verankerte Sozialgruppe nur teilhat. In Städten mit Zunftverfassung verstärkt das Patriziat seinen korporativen Zusammenhalt nach außen, in

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Städten mit reiner Zunftverfassung ist es genötigt, eine politische Zunft zu bilden. 2. Das Patriziat ist in erster Linie ein politischsozialer Stand. Materielle Lebensgrundlage für die Lebensführung – conditio, Wesen, Eigenschaft – sind Grund- und Kapitalrenten, Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, aus Kapitalinvestitionen im Montanbereich, Besitz von Salzpfannen, Großhandel und Finanzgeschäfte. Absolut ausgeschlossen ist dequali zierende handwerkliche Tätigkeit. Diese Lebensgrundlage vermittelt soziale Ehre und ist damit die Voraussetzung für den Eintritt in die Sphäre von Politik und Herrschaft mit dem Erwerb von Ämtern und Würden. Dem Patriziat eignet eine herkömmliche, ›unvordenkliche‹ politischsoziale Ehre, die sich am adligen Ehrbegriff orientiert. Seine objektive Standesehre ist exklusiv und kennzeichnet das Patriziat im Unterschied zu anderen Schichten und Gruppen, die wesentlich durch ihre »Klassenlage« und ihren Berufsstand bestimmt sind. Im Erwerbsleben hat der einzelne Patrizier an der spezi schen Berufsehre des Kaufmannes teil. Politische Macht und Reichtum vermitteln ferner Ansehen (Prestige), das auf der subjektiven Einschätzung und Durchschnittswertung (Max Weber) der Umwelt beruht. 3. In seiner Lebensführung orientiert sich das Patriziat am Lebensstil und an Wesenszügen des Landadels. Ausweislich des Konnubiums wird es lange Zeit als weitgehend gleichwertig vom Landadel akzeptiert, doch brechen die Beziehungen im Verlauf des 15. Jahrhunderts vielfach ab. Einige Patrizier besitzen die

1374 H. P, Studien zur Rechtsgeschichte des städtischen Patriziats; I. B, Das Patriziat der deutschen Stadt; C.-H. H, Probleme des Patriziats oberdeutscher Städte; B. B, Charakter und Entwicklung des Patriziats; H. L, Art. ›Patrizier‹, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3, 1984, Sp. 1551–1558; E. I, Die deutsche Stadt im Spätmittelalter (Einleitung), S. 274–276; K. M, Art. »Patriziat«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. VI, 1993, Sp. 1797–1799; P. M, Führungseliten. 1375 Der folgende erörternde De nitionsversuch geht von Kriterien Dr. Scheurls aus und erweitert sie soziologisch. Dem entspricht die knappe De nition von K. Militzer, wonach der Begriff »Patriziat« in der historischen Wissenschaft »eine geburtsständisch weitgehend abgeschlossene Gruppe städtischer Familien« bezeichnet, »die vermögend waren, den Rat und andere städtische Führungsgremien – zumindest eine längere Zeit – beherrschten, sich im Lebensstil, der meist am adligen Vorbild ausgerichtet war, von ihren Mitbürgern unterschieden und vielfach miteinander und mit dem Landadel verschwägert waren.« K. M, Art. »Patriziat«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. VI, 1993, Sp. 1797.

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Ritterwürde; in einigen Städte wie Zürich, Basel und Straßburg und in Passau besteht ein ritterliches Patriziat neben einem bürgerlichen.¹³⁷⁶ Insgesamt nennen sich die Geschlechter edel (nobilis). Ein Übertritt in den niederen Adel ist möglich. Charakteristisch ist aber zugleich, dass jene adligen Wesenszüge mit bürgerlichen Wertsetzungen und Verhaltensweisen – Erwerbstätigkeit, Fleiß, Rechenhaftigkeit, beru iches Fachwissen und Leistungsprinzip – sowie stadtbürgerlichen P ichtbindungen (Steuer- und Wehrp icht) verknüpft werden, sodass im Patriziat adlige und bürgerliche Wesenszüge sich modi zierend durchdringen oder in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen.¹³⁷⁷ 4. Das Patriziat ist – auch bei einem gewissen Austausch von Familien – ein Geburtsstand, wie es der Ausdruck (edle) Geschlechter als Selbst- und Fremdbezeichnung besagt und auf Herkunft und Geburt verweist, und deshalb der Idee nach genealogisch geschlossen. Es ist jedoch, wie der Adel auch, keine hermetisch geschlossene und isolierte Kaste. Das geburtsständische Prinzip schließt in der europäischen Sozialgeschichte keineswegs die Aufnahme neuer Familien aus.¹³⁷⁸ So wie man durch eine quali zierte Lebensweise in den Landadel aufsteigen konnte, war dem entsprechend ein Aufstieg von Bürgern als homines novi in den Kreis der Geschlechter mehr oder weniger und wenigstens zeitweise aufgrund der sozialen Kooptation durch die Geschlechter und des Eintritts von Familienmitgliedern in den Rat möglich. Diesen Eintritt regelt als verfassungsrechtlichpolitisches Element der nunmehr politische

Kooptations- oder Wahlmodus der Ratsbestellung auf gewohnheitsrechtlicher Grundlage. Durch die Aufnahme neuer Familien ins Patriziat gruppierten sich um einen Kern alter Geschlechter einige in der Zusammensetzung wechselnde Familien, die aufstiegen und wieder aus dem Kreis der Ratsfamilien ausschieden, odes es bildete sich ein Kreis alter und jüngerer Geschlechter in einer stabilen Gesamtformation heraus. Neuzugänge waren aus biologisch-genealogischen Gründen, aus Gründen einer personell zureichenden politischen Präsenz und eines stabilen wirtschaftlichen Fundaments des ganzen Standes gelegentlich eine unabweisbare Notwendigkeit. So musste das Augsburger Patriziat, das auf sieben oder acht Geschlechter zusammengeschmolzen war, im Jahre 1538 durch einen großen Pairsschub mit 38 Familien aufgefüllt werden. Neuzugänge wurden aus dem Adel, vornehmlich aus zugezogenen Familien fremder Patriziate und – meist seltener – aus wirtschaftlich erfolgreichen Familien der nachgeordneten kaufmännischen Ehrbarkeit, einer Honoratiorenschicht, genommen, die häu g bereits durch Konnubium mit dem Patriziat verbunden waren. Weder Reichtum noch kaiserliche Adelsbriefe können zuverlässig die Aufnahme ins Patriziat erzwingen. Der Übergang in das Patriziat kann durch Reichtum und einen entsprechenden Lebensstil vorbereitet, durch Option wahrgenommen oder in Einzelfällen durch den Rat förmlich erlaubt (Straßburg) oder verboten (Konstanz) werden; entscheidend für die Zugehörigkeit sind jedoch die Akzeptanz und die Kooptation durch den Kreis

1376 P. D, Das Patriziat der oberrheinischen Städte; R. L, Passaus Patrizier. 1377 Siehe dazu J. M, die diese Lebensform mit dem Hilfsbegriff »Urbanität« charakterisiert. H. K, Strei ichter auf die Oberschichten der mitteldeutschen Städte, S. 148, 153. K. A/P. J (Hg.), Zwischen NichtAdel und Adel. 1378 G. Fouquet ist der Auffassung, dass am Ende eines sozialen Differenzierungsprozesses »die Ausformung einer oder mehrerer patrizischen Elitegruppen« stand, »die gleich ob in Wirklichkeit oder in Zuschreibung zunächst vornehmes, altes Herkommen für sich beanspruchten, wobei selbst mit dem Blick auf den derzeitigen selektiven Forschungsstand Abschied von Vorstellungen über ein ›geburtsständisches Prinzip‹ zu nehmen ist«. G. F, Trinkstuben und Bruderschaften, in: . u.a. (Hg.), Geschlechtergesellschaften (8.2–8.4), S. 25. Dann aber wären die zeitgenössischen Bezeichnungen Geschlechter oder patricii nichtssagend und ihre Deutung durch Zeitgenossen hinfällig; und es müsste als Konsequenz der Begriff »Patriziat« oder der des »Stadtadels« aufgegeben werden.

Das Patriziat – Die Ratsgeschlechter

der bestehenden Geschlechter. Die Einführung von Zunftverfassungen veranlasste einige wirtschaftlich aktive Geschlechter zum Überwechseln zu den Kau euten und zum Eintritt in deren Zunft. Die Kooptation ist ein gesellschaftlicher und zugleich politischer, die Ratsfähigkeit betreffender Vorgang. Zutage tritt er in der Zulassung zu patrizischen Trinkstuben und Tanzveranstaltungen sowie in der Ratswahl. Wenn das Patriziat das geburtsständische Prinzip lockert, verfährt es gesellschaftlich und politisch autonom, indem es kooptiert. In Städten mit Zunftverfassung kommt es jedoch vor, dass die zünftige Ratsmehrheit regulierend eingreift und den Übertritt vermögender Zunftbürger aus den politischen Zünften in das Patriziat verbietet, weil er eine militärische und politische Schwächung der Zünfte bedeutete, oder ihn zumindest kontrolliert, indem sie den Übertritt an die Genehmigung von Gremien des Stadtregiments bindet, doch ohne die Kooptation durch das Patriziat präjudizieren oder erzwingen zu können. Wenn der Jurist und Humanist Dr. Scheurl die Angehörigen der Nürnberger edlen Geschlechter mit einem Begriff der römischen Verfassung patricii nennt – nicht nur allgemein nobiles im Sinne der edlen, vornehmen und herausragenden Familien –, so benutzt er den Ausdruck bereits als einen gelehrten wissenschaftlichen Ordnungsbegriff, um die soziale und verfassungsrechtliche Stellung der Geschlechter in seiner Zeit zu kennzeichnen. Das römische Pa-

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triziat ist der geburtsständische römische Adel. Das römische Patriziat allein besitzt eine Gliederung in Geschlechterverbände (gentes) und beansprucht dies aus Prestigegründen noch in der Zeit Ciceros. Rückübersetzt wäre das Patriziat als städtisches soziales Amalgam der sich als edel (nobilis) bezeichnende »Stadtadel« oder die städtische Aristokratie der Geschlechter im Unterschied zu dem in Städte zugezogenen genuinen Landadel, von dem vor allem Schwäbisch Hall mehrere Angehörige aufweist, den ritterlichen städtischen Ministerialengeschlechtern, dem auswärtigen Landadel und den Geadelten mit kaiserlichem Adelspatent. Das Wort Patrizier und der später gebildete Kollektivsingular Patriziat setzen sich in voller Breite im 17./18. Jahrhundert durch. Die Anwendung des Begriffs »Patriziat« auf die mittelalterlich-spätmittelalterlichen Stadtgeschlechter ist nur dann anachronistisch, wenn damit zugleich eine Festlegung auf spätere Erscheinungsformen des Patriziats zur Zeit der größten Verbreitung des Begriffs verbunden ist. Als wissenschaftlicher Ordnungsbegriff ist der Kollektivsingular »Patriziat« durchaus zweckmäßig, da er zunächst eine politisch-soziale Formation von langer Bestandsdauer in ihren Grundelementen benennt, ein zentrales spezisches Erklärungsmoment enthält und neben dem Ausdruck Geschlechter auch noch andere verschiedenartige Quellenbegriffe vorkommen, die keinen unmittelbaren Bezug zur de nitorischen genealogischen Herkunft aufweisen,¹³⁷⁹

1379 Siehe 7.1.5.2. Für die Bezeichnung gewachsener Ober- und Führungsschichten gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher, allgemein oder nur örtlich gebrauchter Benennungen. Vielfach wird die herausragende Stellung dieser Gruppen durch komparative Sprachformen (meliores), die oft eine superlativische Bedeutung haben, oder durch Superlative (optimi, optimates) ausgedrückt. Der Ausdruck Bürger ist etwa in Ulm und Augsburg für die Geschlechter in Abhebung von der Gemeinde reserviert, in Görlitz bis ins 16. Jahrhundert für die Ratsherren und Kau eute im Gegensatz zu den Handwerkern. Daneben gibt es die ›Achtburger‹ (Basel), die ›Altbürger‹, ›Erbbürger‹, ›Freibürger‹, ›Ratsbürger (Ratzeburger)‹ oder die ›schönen Bürger‹. Der Vorrang wird häu g durch das ktive Alter (maiores, seniores) ausgedrückt, so wenn von den ›Alten‹ (Mainz) oder den ›Älteren‹ (Nördlingen) die Rede ist. Andere Benennungen setzen sich an Sachverhalten fest wie Besitz (dives; die ›Reichen‹), quali zierter erblichen Grundbesitz (viri hereditarii; ›Erben‹, ›Erbmänner‹, ›Erbbürger‹), politische Macht (potentes; Gewaltige), Vornehmheit (discreti), adelige Standesqualität (nobiles; die ›Edleren‹, ›Herren‹, ›Junker‹), ständisch quali zierte Herkunft (gentes; Geschlechter), tatsächliche und ktive Verwandtschaft (Gefrunde, Freunde), Ehre (honestiores; Ehrbare), arbeitsfreie Lebensführung (otiosi, ›Müßiggänger‹), Art des Kriegsdienstes (Consto er), geistige Befähigung (sapientes, sapientiores, prudentiores; ›Weise‹) oder wirtschaftlich-soziale Prätention und wirtschaftliche Sonderstellung wie im Falle der Waidjunker (Erfurt), der Salzjunker (Halle), der silvani und montani (Goslar).

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wie dies unter anderem der wechselnde Wortgebrauch Felix Fabris zeigt. Außerdem fehlt, das ist immerhin ein praktischer sprachlicher Gesichtspunkt, für die Darstellung ein von dem Wort Geschlechter abgeleitetes Adjektiv. Wenn man die Begrifflichkeit stärker entwicklungsgeschichtlich akzentuieren will, erscheint es sinnvoll von einem frühen, noch locker gefügten und sich sozial amalgamierenden (1) »Meliorat«, mit der Herausbildung eines mehr oder weniger großen Kerns stabiler, sich selbst ergänzender Ratsfamilien von den (2) »Geschlechtern« oder einer »Geschlechterherrschaft« und seit dem Abbruch des Konnubiums der alten Geschlechter mit dem Landadel, der rigideren Abschließung nach untern und dem Rückzug aus dem Erwerbsleben seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert oder seit der Mitte des 16. Jahrhunderts von einem (3) »Patriziat« oder »Stadtadel«, der gelegentlich vom Kaiser mit ideologischem Einschlag die Adelsqualität attestiert bekommt, zu sprechen. Nach der Regimentsänderung in Ulm von 1548 bestätigte Karl V. 1552 aus Dank für das Ausharren der Stadt bei der Belagerung durch die Fürstenkoalition gegen den Kaiser 17 Ulmer Patrizierfamilien den erblichen Adel als recht edelgebohrenen turniers-, lehensgenoss- und rittermäßigen Leuten. Es wurde betont, dass sie zwar in der Stadt lebten, aber je und allwegen von andern gemeinen Bürgern daselbst abgesondert und in irgendwelchen Zünften nie gewesen, auch von anderen Kauf- und Handwerksleuten allwegen als eines adeligen Herkommens geehrt, geachtet und gehalten worden seien. Den Patriziern wurde zudem bestätigt, dass sie im Wesentlichen vom Ertrag ihrer Güter lebten und sich sonst unadliger Nahrung enthielten.¹³⁸⁰ Tatsächlich befanden sich in Ulm seit den Zunftverfassungen des 14. Jahrhunderts die Groß- und Fernkau eute in den Zünften. Die frühe städtische Führungsschicht war häu g heterogen, aus rechtlich und sozial unter-

schiedlichen Elementen zusammengesetzt. Zu ihr gehörten vom Lande zugezogene Adlige und freie Grundherrn, stadtherrliche Ministeriale, Fernhändler und – seltener – über den Handel aufgestiegene ehemalige Handwerker. Den Hauptanteil stellten die Ministerialen und Fernhändler. Wirtschaftliche Aktivitäten, Vermögen, ein gehobener Lebensstil und ein ritterliches Lebensideal sowie ein gemeinsames Streben nach städtischer Autonomie, das nicht selten in Aufständen und blutigen Schlachten mit der stadtherrlichen Seite gipfelte, begannen im 12. und 13. Jahrhundert die kaufmännischen, ministerialischen und adligen Elemente zu einer politisch sozialen Führungsschicht zu amalgamieren, die von Hans Planitz nicht eindeutig mit einem abgeleiteten Quellenbegriff Meliorat (von meliores) bezeichnet wird und eine Voroder Frühform des Patriziats darstellt.¹³⁸¹ Aus dieser in verschiedenen Städten unterschiedlich zusammengesetzten Schicht und Gruppe ging im 13./14. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Ausbildung der Ratsverfassung und einer weitgehenden städtischen Autonomie in Städten vor allem Ober- und Mitteldeutschlands der relativ geschlossene quasi-stadtadelige Stand des Patriziats hervor. Kommerzielle Wirtschaftstätigkeit und Bürgerlichkeit, Adel und Feudalwelt bildeten längere Zeit bis zum Ende des 15. Jahrhunderts keine unüberwindbaren rechtlichen oder standesideologischen Schranken aus, sondern ließen offensichtlich unschwer Übergänge nach beiden Seiten zu. In einigen Städten blieb das Patriziat jedoch über längere Zeit hin deutlich in eine »adlige« und »bürgerliche« Gruppe gesondert. Die Kölner Geschlechter verloren durch die Neuordnung der Stadtverfassung im Verbundbrief von 1396, als sie als Gruppe aus der Verfassung ausschieden und in vornehmen Gaffeln aufgingen, ihren spezi sch patrizischen Charakter als politisch-sozialer Stand und bildeten nur noch eine ständisch-genealogisch abgrenzbare Sozialgruppe.

1380 H. E. S, Ulm. Stadtgeschichte, Ulm 1977, S. 138 f. 1381 H. P, Zur Geschichte des städtischen Meliorats; C.-H. H, Vor- und Frühformen des Patriziats mitteleuropäischer Städte.

Das Patriziat – Die Ratsgeschlechter

Bürgerlich war das Ansehen, das beru iche und wirtschaftliche Tüchtigkeit, der Erfolg im Erwerbsleben in der Stadt vermittelten. Diese bürgerlichen, erwerbsorientierten Verhaltensweisen und Wertvorstellungen modi zierten die Adelsprätention und die herrschaftlichritterliche Lebensführung des Patriziats; an ihnen knüpfte dann auch der den Adelsanspruch zurückweisende Spott des Adels am Ausgang des Mittelalters an.¹³⁸² Mit dem militärischen Bedeutungsverlust und dem wirtschaftlichen Niedergang von Kreisen des niederen Adels ging ein gesteigert exklusives Standesbewusstsein einher. Damit setzte sich der Adel, der trotz teilweise beachtlicher eigener Geldgeschäfte vielfach der Geldwirtschaft nicht entsprechend gewachsen war, gegen die sozialen – und politischen – Ansprüche des bürgerlichen Geldbesitzes zur Wehr. Im Fürsten- und Städtekrieg von 1449/51 warnte Markgraf Albrecht Achilles von Brandenburg-Ansbach den fränkischen Adel propagandistisch vor den Versuchen des Bürgertums, ständische Unterschiede einzuebnen. Zu einem heftigen Briefwechsel kam es in den Jahren 1468 bis 1470 zwischen dem Ravensburger Bürger und Patrizier Hans Besserer, Mitglied der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft, und dem Ritter und Vogt Bilgerin von Reischach, nachdem Besserer in einem Brief den Adligen geduzt und seinen eigenen Namen dem des Ritters vorangesetzt hatte.¹³⁸³ Innerhalb der Stadt elen Angehörige der Geschlechter gelegentlich durch Arroganz und herrisches Wesen auf. Ein Ulrich Besserer musste in Ulm 1377 in einer offenen Urkunde, die ins Rote Buch transumiert wurde, eidlich ver-

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sprechen, so lange er lebe unverzüglich alles zu tun, was ihm die Mehrheit des Rates gebiete. Junge Straßburger ritterliche Patrizier namentlich genannter Familien traktierten Bürger mit Stockhieben und machten Jagd auf Bürgertöchter, wie es eine Enquête des Rates von 1419 notiert. In dem ritterlich-adligen Lebensideal des Patriziats sah Fritz Rörig eine Entfremdung von »städtischem Wesen und städtischer Tüchtigkeit«, insbesondere von der »tüchtigen Kaufmannsgesinnung«, und nannte es »die Tragik des deutschen Bürgertums, dass es im Spätmittelalter kein in sich selbst ruhendes maßgebendes Gesellschaftsideal zu behaupten und durchzusetzen vermocht hat«. Mit dieser etwas pathetischen Bemerkung wird noch weitergehend bedauert, dass die Städte als die damals »vornehmsten Träger einer aufs Ganze gerichteten staatlichen Idee« infolge der Entfremdung der Oberschicht vom Ideal des kaufmännischen Unternehmertums auf dem Höhepunkt wirtschaftlicher Machtentfaltung nicht in der Lage gewesen seien, eine nationalpolitisch einigende Rolle als Gegenkraft zu dem verhängnisvollen fürstlichen Partikularismus zu spielen.¹³⁸⁴ In unserem Zusammenhang interessiert jedoch der Hinweis, dass es ein geschlossenes bürgerliches Gesellschaftsideal in der Stadt nicht gegeben hat. Die Orientierung des Patriziats am Adel ist nur eine Bruchstelle, die andere verläuft zwischen den Kau euten und den Handwerkern, die politisch als Mehrheit des Zunftbürgertums in Erscheinung treten. Die Patrizier blieben bei allen ihren gesellschaftlichen Ambitionen Bürger im Rechts-

1382 Sein Sigel macht er groß und schwere / mit einem herrlichen Schein / der Adel kumpt im here / aus India über mere / von Muskaten und Negelein«. Zitiert nach F. R, Die europäische Stadt, S. 86. 1383 G. S (Hg.), Deutsche Privatbriefe des Mittelalters, Bd. I, Berlin 1899, S. 370–377. Der Ritter verwies auf seine adlige Herkunft; Besserer hingegen stamme von Bürgern und Kau euten ab. Es bringe nichts, einem Raben Hauben aufzusetzen und ein Federspiel daraus zu machen. Besserer solle lieber auf die Trinkstube gehen und dort in Erfahrung bringen, wie der Pfeffer und andere Kaufmannswaren von Alexandrien und Barcelona nach Venedig kämen und die Barchenttuche getauscht würden. Der Bürger entgegnete, sein Herkommen sei de sancta trinitate, davon habe er seine Seele, sein Leben sowie alle Ehrbarkeit und alle Ehren des Adels. Besserer ging allerdings später in den Landadel über. A. S, Geschichte der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft (9.3), Bd. I, S. 216 f. 1384 F. R, Die europäische Stadt, S. 85, 123 ff. Vgl. entsprechende Bemerkungen auf französischer Seite (F. Braudel, B. Chevalier) über das Streben des französischen Bürgertums nach Adelsquali kation, das als »Verrat« der reichen Bourgeoisie gewertet wird. E. I, Norms and values in the European city (2.5.3.1), S. 203 f.

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sinne, indem sie ihren Gerichtsstand vor dem Stadtgericht hatten, dem Stadtrecht sowie der Steuer- und Wehrp icht unterlagen. Gerade die Steuer- und Wehrp icht waren es, die das Patriziat und den stadtsässigen Ritter in den Augen des Adels – gemäß den süddeutschen Turnierordnungen – dequali zierten. Doch dies war die Sichtweise von außerhalb der Stadt. Innerhalb der Stadt beanspruchte das Patriziat als Kreis der edlen Geschlechter (nobiles) einen adelsgleichen sozialen Vorrang und, solange es ging, die Stadtherrschaft. 7.7.3 Die Selbstvergewisserung der Geschlechter: Familienbücher Memorial-, Geschlechter- oder Familienbücher als eine vornehmlich, aber nicht ausschließlich patrizische Gattung nden sich in großer Zahl im Süden des Reichs, vor allem in Nürnberg und Augsburg sowie im Raum der Eidgenossenschaft, doch gibt es vergleichbare Aufzeichnungen auch im Norden, ferner nicht nur in der Toskana (ricordanze), sondern nahezu im gesamten Westeuropa. Das älteste als geschlossener Codex überlieferte deutsche Familienbuch, das »Püchel von meim geslecht und von abentewr«¹³⁸⁵ des Nürnberger Patriziers Ulman Stromer (1329–1407), beinhaltet für die Zeit von 1349 bis 1401 eine politische Chronistik, autobiographische Aufzeichnungen, familienhistorische Traditionsbildung mit der Memoria verstorbener Familienmitglieder und kaufmännische Geschäftsaufzeichnungen. Es markiert zugleich den Beginn der städtisch-bürgerlichen Chronistik in Nürnberg. Nicht alle Familienbücher enthalten alle diese Elemente. Das »Tuchersche Memorialbuch« Berthold Tuchers d. Ä. (1386–1454), das dessen Neffe Endres Tucher wahrscheinlich nach 1449 entsprechend den Angaben des Onkels aufgezeichnet hat,

vereint für den Zeitraum von 1420 bis 1440 Familien-, Stadt- und Reichsgeschichte, während das »Memorialbuch« des 1469 vom Nürnberger Rat gestürzten und hingerichteten Niklas Muffel Autobiographisches sowie Stadt-, Zeit- und Weltgeschichte enthält. Die Aufzeichnungen des Nürnberger Pelzhändlers und Frühhumanisten Sebald Schreyer (Clamosus, 1446–1520) fügen den familiären und geschäftlichen Nachrichten noch Mitteilungen über dessen Amtsführung als Kirchenp eger von St. Sebald hinzu. Eine Besonderheit ist die lateinische Chronik des Nürnberger Benediktinermönchs Konrad Herdegen (1406 bis etwa 1480) mit ihren autobiographisch-familiären, stadt- und klostergeschichtlichen Nachrichten, die den Frankfurter Stiftschroniken seit der Mitte des 14. Jahrhunderts mit ihren stadt- und reichsgeschichtlichen Bezügen nicht unähnlich ist. Ein Geschlechterbuch und einen »Liber gestorum« verfasste der durch Handels- und Rentengeschäfte reich gewordene Frankfurter Patrizier Bernhard Rohrbach (1446–1482), Schöffe und Mitglied der Gesellschaft Alten-Limpurg, sein Sohn Job Rohrbach (1469–1502), Kanoniker am Bartholomäusstift, ein Tagebuch. Ältere Stadtgeschichte, selbst erlebte Zeitgeschichte und Familiengeschichte vermischen sich in diesen Schriften. Verwandt damit sind die auf den städtischen Kontext bezogenen autobiographischen Aufzeichnungen des Berner Großkaufmanns Ludwig von Diesbach, der Basler Henmann, Peter und Christoph Offenburg und – im Rahmen einer Stadtchronik – die Autobiographie und Familiengeschichte des Augsburgers Burkard Zink, das ›Tagebuch‹ des Augsburgers Lukas Rem aus den Jahren 1494 bis 1541. Zu nennen sind ferner das »Geschlechterbuch« des Erasmus Schürstab (1426–1473) und fortgeführt von seinem Sohn Sebald Fürer bis 1507 die Denkwürdigkeiten des Nürnbergers

1385 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 1, hg. von K. H, Leipzig 1862, S. 3–110; L. K (Hg.), Ulman Stromer. Püchel von mein geslecht und von abenteur. Bd. 1: Teilfaksimile der Hs. 6146 des Germanischen Nationalmuseums; Bd. 2: Kommentar, Bonn 1990. Allgemein: B. S (Hg.), Haus- und Familienbücher; U. M. Z, Einige Bemerkungen zu spätmittelalterlichen Familienbüchern; P. M, Villes d’Allemagne (Einleitung), S. 228–250; und die übrige Literatur zur städtischen Geschichtsschreibung in 4.5.2.

Das Patriziat – Die Ratsgeschlechter

Christoph Fürer (1479–1537) sowie das kurz vor 1450 entstandene Familienbuch des Kölner Geschlechts der Overstolz und das 1559 vom Kölner Hermann von Weinsberg (1518–1597) im Alter von 43 Jahren begonnene und bis zu seinem Tod geführte ›Buch Weinsberg‹, das in drei große Lebensalter gegliedert ist. Familienbücher verknüpfen die Belehrung der Nachkommen über Vergangenheit, Rang, Bedeutung und Leistungen der Familie mit kaufmännischem und hauswirtschaftlichem Handlungswissen und einer Darstellung des Zeitgeschehens, in das der Hausvater und die Familie involviert sind. Durch die Erinnerung an die Vorfahren sollen die Nachkommen zu einem tugendhaften Leben geführt werden. Die Aufzeichnungen vermitteln in ihrem familiengeschichtlichen Teil Lebenslehren und wollen den Status und die Ehre sowie den erblichen Besitz und Erbgang der Familie sichern, eventuell auch Standesgleichheit mit dem Landadel erweisen. An Vergangenem zeichnet Ulman Stromer auf, was er über die Vorfahren gehört und in Erfahrung gebracht hat. Erasmus Schürstab gibt wieder, was er von den Eltern gehört hat und glaubwürdig berichtet ist. Bernhard Rorbach stützt seine Darstellung auf alte gesiegelte Urkunden und glaubwürdige (wahrhaftige) Handschriften. Christoph Fürer nennt als seine Quellen Bücher, Urkunden und Mitteilungen seines Vaters. Die genealogischen Kenntnisse, die mündlich tradiert wurden, reichten nicht weit zurück, allenfalls bis zur dritten oder vierten Generation. Ulman Stromer muss für sein Geschlecht bekennen: wy es aber vor meins anhern anher her kumen ist, dez hab ich niht ervaren.¹³⁸⁶ Herkunftslegenden sehen den Ursprung des Geschlechts in Höflingen Karls des Großen; historische Rückgriffe suchen häu g zutreffend die Vorfahren im Kreis salisch-stau scher Ministerialen.

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7.7.4 Besonderheiten einiger Patriziate In Köln¹³⁸⁷, der mit Abstand einwohnerstärksten und der mit breit gefächertem Gewerbe, Exportgewerbe und Fernhandel am weitesten entwickelten mittelalterlichen deutschen Stadt, zugleich einer Stadt mit Ansätzen einer kommunalen Bewegung schon in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts (1074 Aufstand gegen Erzbischof Anno), etablierte sich auch das älteste Patriziat einer Stadt in der Richerzeche. In ihr, dem ersten autogenen Gremium bürgerlichkommunaler Selbstverwaltung, vereinigten sich das ältere Meliorat, bestehend aus Ministerialen, Schöffen und reichen Kau euten, und eine jüngere Kau euteschicht, insgesamt die im städtischen Wirtschaftsleben führenden Kräfte. Von einem Patriziat kann gesprochen werden, seitdem sich im 13. Jahrhundert ein enger Kreis von Geschlechtern herausbildete und die Richerzeche beherrschte. Die Richerzeche verlieh den Zunftzwang, führte mit polizeilicher Gewalt die Marktaufsicht und kontrollierte so das Gewerbe und den innerstädtischen Handel. Die verdienten Amtleute, die gewesenen Bürgermeister, wählten jährlich die beiden Bürgermeister der Gesamtgemeinde, die zugleich Vorsteher der Bruderschaft waren, und befanden über Neuaufnahmen in den Kreis der unverdienten Amtleute. Stadtherrlichen Ursprungs hingegen ist das bereits 1103 nachweisbare, aber zweifellos ältere Schöffenkollegium, dem die oberste städtische Gerichtsbarkeit oblag, das daneben aber in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts Funktionen einer obersten Stadtbehörde über den Amtleuten der Sondergemeinden ausübte und damit das erste Gremium kommunaler Selbstverwaltung darstellt. Die personelle Verbindung zwischen Schöffenkolleg und Richerzeche war außerordentlich eng, da zum überwiegenden Teil ein identischer Personenkreis in beiden Kollegien Ämter besetzte und darüber hinaus Fami-

1386 Ulman Stromer, Püchel, S. 61. 1387 Zum Folgenden siehe W. H, Die politische Führungsschicht der Stadt Köln; K. M, Führungsschicht und Gemeinde in Köln im 14. Jahrhundert; B. B, Sozialökonomische Differenzierung und innerstädtische Auseinandersetzungen in Köln im 13. Jahrhundert (4.7). M. G, Köln im 13. Jahrhundert (2.5.2); K. M, ›Coelle ein kroyn‹ (1.1).

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lienbeziehungen bestanden. Jünger ist der vom bischö ichen Stadtherrn unabhängige Rat, der, im Jahre 1216 im Zusammenhang mit der ersten innerstädtischen Oppositionsbewegung als Gegengewicht zu den Gremien der Geschlechter in Erscheinung getreten, Ende des 13. Jahrhunderts von consules gleichfalls aus dem Kreis der Geschlechter besetzt wurde. Der Rat zog fortlaufend Kompetenzen an sich und stieg zu Beginn des 14. Jahrhunderts zur wichtigsten kommunalen Regierungsinstanz auf. Im 13. Jahrhundert dominierte zunächst die in der Altstadt ansässige Kaufmannsfamilie Weise (von der Mühlengasse) mit ihrem Anhang. Mit ihr rivalisierte eine jüngere, hauptsächlich in der Vorstadt ansässige Geschlechtergruppe unter Führung der wirtschaftlich durch Tuchhandel avancierten Familie Overstolz. Nach 1265 kam es zu Spannungen zwischen denjenigen Geschlechter, die sich Zutritt zu dem sich als bürgerliches Regierungsgremium in den Vordergrund schiebenden Rat verschafft hatten, und denen, die ferngehalten wurden. Sie steigerten sich in Erinnerung an lange zurückliegende Demütigungen zum Parteienhass. Die 1267 ausgebrochenen Auseinandersetzungen zwischen dem Anhang der Overstolzen, der ausgeprägt ritterlich war, und dem der Weisen, die eine Verbindung mit dem Erzbischof eingingen und in uniformer Parteikleidung auftraten, endeten nach der Schlacht an der Ulrepforte von 1268 zugunsten der Overstolzen und mit der Vertreibung der Weisen. Sie führten zu einer spätestens um 1300 abgeschlossenen Neuformierung und dauerhaften Abschließung der führenden Geschlechter. Der Kreis der politisch präsenten Familien erweiterte sich nunmehr, zugleich bildete sich eine wirtschaftlich und politisch homogene Führungsschicht von etwa 30 Familien mit Zutritt zu Schöffenkollegium, Richerzeche und Rat heraus. Die um 1300 abgeschlossene Neuformierung und Abschließung der führenden Geschlechter machte

zugleich den Weg für den Aufstieg des Rats zur herrschenden Institution im Stadtregiment endgültig frei. Nach dem ersten Viertel des 14. Jahrhunderts etablierte sich ein geschlossener Kreis von nunmehr etwa 36 Familien. In der Zeit von 1325 bis 1396 konnten nur zehn Familien in diesen Kreis aufsteigen, nur drei von ihnen gelangten zu größerer politischer Bedeutung. Das Streben der Geschlechter nach Exklusivität fand Ausdruck in einer um 1300 verfestigten Abstammungssage, wonach die Vorfahren von 15 Geschlechtern vornehme Römer aus senatorischem Adel gewesen seien, die von Kaiser Trajan nach Köln geschickt worden seien, um die Stadt nach römischer Art zu regieren, und die das Christentum in Köln heimisch gemacht hätten. Den Nachkommen dieser Geschlechter waren dem Eidbuch von 1341 zufolge die Sitze im Engeren Rat vorbehalten. In Lebensform und Lebensführung orientierten sich die Geschlechter in vielfacher Hinsicht am Adel. Dies gilt – wie in anderen Städten – für ihren Kunstgeschmack als Bauherren und Mäzene, für die Sammlung von Reliquien, die Stiftung von Altären und von Kapellen, an denen sie ein Patronatsrecht hatten und die ihnen als Grabstätten dienten. Die Geschlechter kämpften in der Regel zu Pferde und übten sich untereinander in Turnieren auf dem Altermarkt in den Waffen.¹³⁸⁸ Angehörige einiger Geschlechter besaßen die Ritterwürde. In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts verp ichtete der König von England zwei Kölner Patrizier für Kriegsdienste, ihm folgte darin der französische König. Zwei andere Patrizier bezogen Rentenlehen vom englischen König, der sie für diplomatische Dienste in Anspruch nahm. Die Geschlechter emp ngen Lehen von benachbarten Herren, trugen aber auch – bis zum Verbot durch den Rat 1345 – verschiedenen Fürsten und Herren innerstädtische Renten, Grundstücke und Häuser auf, um sie als Lehen (feuda oblata) wieder zu empfangen und dadurch in ein

1388 Ritterliche Turniere, an denen jedoch Patrizier nicht teilnehmen durften, fanden in Magdeburg (1280 ›Gralsfest‹), Lübeck (1375), Frankfurt a. M., Augsburg, Memmingen oder Basel statt. Seit dem 13. Jahrhundert wurde die Stadt zum bevorzugten Ort von Turnieren. T. Z, Adel in der Stadt, S. 48.

Das Patriziat – Die Ratsgeschlechter

Lehensverhältnis zu treten. Zusammen mit dem Adel saßen Kölner Patrizier im Mannengericht der Lehenskurien. Vasallität schuf Prestige, verstrickte Patrizier aber auch in territoriale Konikte. Kölner Patrizier führten unabhängig von der Stadt eigene ritterliche Fehden, befehdeten aber auch die Stadt selbst und erschütterten dadurch und durch ihre innerstädtischen Fraktionskämpfe die Geschlechterherrschaft. Wirtschaftlich fußten die Kölner Geschlechter auf der Vermietung, Verpachtung und Leihe von Grundbesitz – Häusern, Verkaufsständen, Back-, Brau- und Schlachthäusern, Schmieden, Mühlen –, auf Gewandschnitt, Handel und Finanzgeschäften. Vor allem der Zwischen- und Fernhandel mit Wein in die Niederlande und nach England sowie der Weinausschank (Weinzapf ) spielten im 14. Jahrhundert eine bedeutende Rolle. Im Gegensatz zum Nürnberger Patriziat, das im Spätmittelalter wirtschaftliche und politische Führung noch weitgehend vereinte, zogen sich viele Kölner Geschlechter bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts aus dem aktiven Fernhandel zurück und überließen wirtschaftliche Initiative und Führung anderen, untereinander versippten kaufmännischen und unternehmerischen Gruppen. Dadurch kam es zu einer Diskrepanz zwischen dem wirtschaftlich-sozialen und politisch-sozialen Ordnungsgefüge. Der Weinhandel war zunächst mengenmäßig fest in der Hand der Geschlechter, doch wurden sie an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert deutlich zurückgedrängt. Nach überlieferten Akziselisten stellten sie in der Zeit von 1390/92 noch 12 bis 13 Prozent der Weinhändler, 1420/21 war ihr Anteil auf etwas unter 5 Prozent zurückgegangen. Die Geschlechter überlebten politische Erschütterungen wie den so genannten Weberaufstand (1370/71) und den Schöffenkrieg (1375), doch entstanden nach 1370 interne Spannungen und seit 1390 harte politische Fraktionskämpfe zwischen den Geschlechterparteien der Greifen und der Freunde. Die von einer Koalition von Zünften und Kau euten erzwungene neue Verfassung des Verbundbriefes (1396),

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die auf 22 Gaffeln fußte, beendete die Geschlechterherrschaft. Die Geschlechter hatten sich in eine von fünf dafür vorgesehenen Gaffeln einzuschreiben und waren dadurch als politischer Stand aufgelöst. Diese Gaffeln erhielten später den Namen Ritterzünfte. Nur noch wenige der alten Geschlechter gelangten zu politischem Ein uss. Das Schöffenkollegium, das den Geschlechtern zunächst noch vorbehalten war, wurde 1448 durch Erzbischof Diether geöffnet, indem er die Bindung der Schöffenwahl an den Kreis der Geschlechter löste. In Basel gab es Mitte des 13. Jahrhunderts ohne verfassungspolitische Folgen die Auseinandersetzungen zwischen den Psittichern und Sternern, die in den territorialen Kon ikt zwischen Graf Rudolf von Habsburg und dem Basler Bischof um die Vorherrschaft am Oberrhein verstrickt waren. Ähnlich wie in Nürnberg beherrschte in Frankfurt am Main das Patriziat, das die beiden ersten politisch maßgebenden Ratsbänke besetzte, ohne privilegiale Autorisation durch den König oder eine innerstädtische Verfassungsgebung lediglich kraft wirtschaftlicher Stellung und Gewohnheit die Stadt und konnte seine Position trotz der Zunftunruhen von 1355 bis 1366 behaupten. Der aus dem Schöffenkollegium hervorgegangene Rat wird für 1266 erstmals erwähnt und erhielt 1311 eine festere Form. Das Patriziat entstand aus einer Vermischung von königlichen Ministerialenfamilien mit der Kau euteschicht. Regierten bis zu den Zunftunruhen nur relativ wenige Familien mit einem alten Kern von fünf großen Geschlechtern, so konnten danach einige reiche und angesehene Bürger in das Patriziat aufsteigen. Es gab zwar keine Teilung des Patriziats in ein ritterliches und ein bürgerliches wie in Straßburg, doch war ein Teil mehr in die städtischen Belange und die Stadtregierung eingebunden, während ein anderer mit den Rittern (milites) Lehen in der Umgebung besaß und seine Interessen stärker nach außen richteten. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts und in der Reformationszeit dominierten innerhalb des Patriziats als engerer Kreis die Mitglieder der seit 1357 bestehenden Stuben-

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gesellschaft Alten-Limpurg. Erst seit der Mitte des 16. Jahrhunderts, also eine Generation später als das Nürnberger Patriziat, schloss sich das Frankfurter nach unten ab.¹³⁸⁹ In Straßburg¹³⁹⁰ war das Patriziat bis ins 15. Jahrhundert hinein in einen ritterlichadligen Teil, bestehend aus ritterlichen Ministerialen, in den Ritterstand aufgestiegenen Bürgern und zugezogenen Landadligen, und einen nichtadligen »bürgerlichen« Teil gesondert. Ähnlich waren die Verhältnisse in Basel und Zürich. Der Reichtum des ritterlichen Patriziats beruhte auf Grundbesitz sowie dem Münz- und Kreditgeschäft. Das bürgerliche Patriziat stellte den wirtschaftlich aktiveren und die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt bestimmenden Teil. Es waren Kau eute und große Handelsherren, die durch Tuch- und Weinhandel zu großem Reichtum gelangt waren, häu g auch noch Bankgeschäfte betrieben und großen Landbesitz hatten. Trotz geschäftlicher Verbindungen und Konnubiums gab es zwischen dem adligen und bürgerlichen Patriziat große Unterschiede in den Lebensinteressen. Das Patriziat insgesamt besetzte den Rat, während die Handwerker politisch nicht berechtigt waren. Das adlige Patriziat zog das Stadtregiment an sich, es stellte die vier Stettmeister und besetzte fast ausschließlich die 24 Ratssitze. Die vier oder fünf Burger, die schließlich noch im Rat saßen, waren zudem mit dem Adel verschwägert. Im Zusammenhang mit blutigen Rivalitätskämpfen zwischen den Fraktionen der adligen Geschlechter der Zorn und der Müllenheim um die Besetzung der wichtigen Propstei von St. omas erzwangen die Kau eute und die Münzerhausgenossen, die nicht ratssässig geworden waren, gemeinsam mit den Handwerkern 1332 eine Verfassungsänderung. Die Zünfte erhielten Zutritt zum Rat, die niederadligen Patrizier wurden ausgeschlossen. Seit dem Schwörbrief von 1334 erhielten sie wieder eine geringere Anzahl von Ratssitzen und bildeten zusammen mit

den Burgern die Ratsmehrheit gegenüber den Zünften. Die nichtzünftige Bürgerschaft wurde zu Verteidigungszwecken in acht Constofeln eingeteilt, die der patrizischen Oberschicht den Namen gab. Nach weiteren Verfassungsänderungen wurden die Ratssitze im Schwörbrief von 1420 dahingehend xiert, dass den Zünften zwei Drittel und den Constofeln ein Drittel der Sitze im Rat und in allen anderen Gremien zustanden. Erst jetzt begann das Patriziat trotz der sozialen Binnendifferenzierung zu einem politisch einheitlichen und zugleich weitgehend geschlossenen Stand zu verschmelzen. Bei der Zählung der Bevölkerung im Jahre 1444 kamen 100 Consto er auf 3 291 Zunftgenossen. In Ulm, Augsburg, Ravensburg und Lindau besaß das Patriziat als Sondergruppe innerhalb der zünftig bestimmten Verfassungsordnung kein aktives Wahlrecht, sodass die patrizischen Ratsmitglieder von den Zünften mitgewählt wurden. In Städten wie Speyer, Kempten, Memmingen und Kaufbeuren fügte sich das Patriziat in die Zunftverfassung ein und bildete eine Patrizierzunft, während es sich in Biberach, Lindau, Ravensburg und Überlingen nur in Gesellschaften zusammenschloss. Auch dort, wo das Patriziat nur eine Ratsfraktion war und sich in der Minderheit befand, konnte es einen ständischen Ehrenvorrang behaupten. In der bedeutenden hansischen Stadt Lüneburg¹³⁹¹ lässt sich die Herausbildung einer geschlossenen, auf einer einheitlichen wirtschaftlichen Grundlage und auf einem genossenschaftlichen Zusammenschluss beruhenden Geschlechterherrschaft beobachten. Eine Genossenschaft von städtischen Anteilseignern an den etwa 40 Siedehäusern mit jeweils mehreren Pfannen übernahm von den weithin gestreuten geistlichen und weltlichen Sülzbegüterten das gesamte Salzwerk in Pacht und erlangte nahezu das Monopol für den Salzhandel im Fürstentum und über dessen Grenzen hinaus. Diese Päch-

1389 P. M, Führungseliten. 1390 P. D, F. J. F, G K, B. B, Innerstädtische Auseinandersetzungen (4.7); M. A, Gruppen an der Macht (4.1–4.3), S. 164–250. 1391 G. . L, Das Patriziat in Niedersachsen.

Das Patriziat – Die Ratsgeschlechter

ter, für die der Name Sülfmeister aufkam, waren Kau eute, wohl auch vermögende Handwerker und Krämer. Mit zunehmender Wohlhabenheit gaben sie zumeist ihr Gewerbe auf und widmeten sich nur noch der Sülznahrung. »In dem Bestreben, die Pfannenpacht, das heißt also die Mitgliedschaft in der Genossenschaft der Sülfmeister erblich zu machen und sich gegen das Eindringen zu vieler weiterer Teilnehmer abzuschließen, entstand mit der Zeit aus diesen Sülfmeistern eine eigene Klasse von Bürgern, die sich durch Reichtum auszeichnete, eine Innung bildete und zu einem bevorrechtigten Stand, einer Art von Aristokratie wurde und alle Ratssitze einnahm.«¹³⁹² Der Rat ergänzte sich selbst durch Kooptation. Sehr früh bildete sich der Berufs- und Besitzstand zu einem Geburtsstand aus. Bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts verschwägerten sich die Sülfmeistergeschlechter im Sinne einer sozialen Inzucht fast nur noch untereinander oder mit gleichrangigen Ratsgeschlechtern benachbarter Städte, während zugleich als Ausdruck einer adelsähnlichen Standesqualität zahlreiche Patriziertöchter sich mit Angehörigen aus den ersten Geschlechtern des landsässigen Adels verheirateten. Im 14. Jahrhundert wurden nur 19 zugewanderte Familien, in der Zeit von 1400 bis 1450 nur noch sechs und später eine noch geringere Anzahl in die Genossenschaft aufgenommen, während von den 50 aus dem 13. Jahrhundert stammenden Familien nur noch 16 vorhanden waren. Nach den politischen Wirren des ›Prälatenkrieges‹ und der Restitution des zunächst gestürzten Rates schlossen sich 26 Sülfmeistergeschlechter 1461 in der »eodori-Gilde«, einer Gewerbeinnung auf der Grundlage einer geschlossenen Familienzunft zusammen. Für die Mitglie-

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der kam sehr bald die Bezeichnung Junker auf; im 16. Jahrhundert wurde wie in anderen niedersächsischen Städten die Bezeichnung Patrizier vorherrschend. 7.7.5 Der soziale Aufstieg aus dem Zunftbürgertum in das Patriziat und die Folgen Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts versuchte das Straßburger Zunftbürgertum, durch Einrichtung neuer Zünfte einen Teil der bürgerlichen Consto er zunftp ichtig zu machen (1353) und den Aufstieg wohlhabender Zunftmitglieder in das Patriziat zu unterbinden (1362). Man richtete die neue Zunft der Kaufleute und Gewandschneider ein, ordnete die reichen Gewerbe der Goldschmiede und Tuchscherer und anderer Gruppen, die bisher den Consto ern angehörten, den Zünften zu, bestimmte, dass alle, die nicht von ihrem Vermögen lebten, sondern einer Erwerbstätigkeit nachgingen, mit einer der Zünfte der Stadt zu dienen hätten. 1362 wurde ferner beschlossen, dass ein gebürtiges Zunftmitglied für immer bei den Zünften dienen müsse, selbst wenn es sich mit der Tochter eines Ritters verheiratete. Da es aber später noch Bewohner gab, die weder bei den Consto ern noch bei den Handwerken ›dienten und gehorsam seien‹, musste der Rat Jahr 1411 diese Personen unter Fristsetzung auffordern, sich einer der beiden Gruppierungen anzuschließen. Um 1419/20 forderten die adligen Consto er, die im so genannten Dachsteinkrieg die Stadt verlassen hatten – ohne Erfolg – vom Rat, den Wechsel von der Zunft in eine der Constofeln wieder zuzulassen, da die Consto er die von ihnen beanspruchten

1392 Ebd., S. 171. Hinsichtlich der Städte Mitteldeutschlands (Sachsen, üringen, Anhalt, Oberlausitz) möchte H. K am Begriff des Patriziats in einem »engeren, eigentlich historischen und vielleicht nur für das Mittelalter gültigen Sinne« nur für wenige Städte festhalten wie für Erfurt, vielleicht Freiberg, sicher jedoch – wegen der wirtschaftlich einheitlichen Grundlage geschlossener älterer Pfännerschaften und eines teilweise hohen Adelsanteils – für die Salzstädte Halle, Straßfurt, Groß-Salze, Frankenhausen und Salzungen. Weithin bildeten die Oberschichten der mitteldeutschen Städte jedoch nur einen Berufsstand, für den Besitz und Vermögen allein Maßstab waren. K erwägt, ob nicht der enorme Aufstieg insbesondere der sächsischen Wirtschaft im Großhandel, im Messenverkehr, im Bergbau und in der Textilindustrie eine Vielzahl von Kräften und diese nur für die Zeit der Teilhabe und Mitwirkung absorbiert und sozial eine ständische Verfestigung – der ökonomischen Klassenlage – nicht zugelassen habe. H. K, Strei ichter auf die Oberschichten der mitteldeutschen Städte, S.129, 152 f.

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28 Ratssitze kaum jedes Jahr durch neue Angehörige zu besetzen vermochten; selbst bei den zugestandenen 14 Sitzen bereitete dies Schwierigkeiten. Als soziale Quali kation für Wechsel und Aufstieg sollten vorausgesetzt werden, dass die Eltern in Straßburg geboren und aufgewachsen waren und der Stadt mit einer Anzahl von Hengsten und Pferden entsprechend ihrem Vermögen gedient hatten. Der Antragsteller durfte aber nicht in einem Haus mit nur einem Gemach (gaden) und in einer Krambude sitzen oder in der Öffentlichkeit sein Gewerbe betreiben. Die Consto er sollten auch niemanden bei sich aufnehmen, der in einem Dienstverhältnis zu adligen oder fürstlichen Herren gestanden hatte.¹³⁹³ Nachdem 1456 beschlossen worden war, die Amtsperiode der Ratsherren auf zwei Jahre zu verlängern, wodurch die Beanspruchung der infolge von Abgängen in den Landadel nur noch wenigen verbliebenen Consto er im Rat weiter stieg, wurde die Frage von Neuzugängen aus den Zünften dringlich. Durch Ratsbeschluss (nuwe constefeler urteil) wurde am 1. April 1457 vermutlich befristet der Aufstieg ehrbarer und vermögender Leute in das Patriziat wieder freigegeben. Die Zunftkreise fürchteten, dass sie die reichsten Mitglieder an die Constofeln verlieren würden, mehr noch war der Rat besorgt, dass die Reichen, wie schon früher geschehen, aus Straßburg auswandern würden, wenn man ihnen den Aufstieg versperrte, und die Stadt dadurch Kriegspferde, Zölle und Abgaben verlor.¹³⁹⁴ Wer übertrat musste jedoch seine Zunft- und Ratsämter aufgeben und sich zuvor eidlich verp ichten, künftig nicht mehr Kaufmannschaft oder Gewerbe zu treiben, wohl durfte er sich an Handelsgesellschaften beteiligen und Geld verleihen. Er hatte für die Stadt einen Hengst zu halten und musste zur Ver-

meidung von Streitigkeiten im Falle einer Wahl in den Rat dort unterhalb der geborenen Consto ern sitzen. Er sollte allerdings auch dann als Consto er gelten, wenn ihn keine der beiden Trinkstuben durch soziale Kooptation aufnehmen wollte. Doch bereits im August wurde der Wechsel in die Constofeln durch Ratsbeschluss wieder versperrt, nachdem Übertritte erfolgt waren und einige Bürger wieder zu ihren Zünften zurückkehren wollten. Um 1460 versuchte eine Kommission, 14 ehemalige Zunftbürger, die auf der Grundlage der Ratsordnung avanciert waren, zur Rückkehr in die Zünfte zu bewegen.¹³⁹⁵ Viele dieser Zünftler verließen die Constofeln wieder. Die Frage des Aufstiegs blieb aber ein soziales und politisches Problem. Im Jahre 1471 legten Rat, Zunftschöffel und der Ammeister die Modalitäten des ständischen Aufstiegs (uffgang der eren) als eines an sich verständlichen Wunsches von Leuten mit ererbter Ehre und ererbtem Vermögen fest.¹³⁹⁶ Voraussetzung für den Übergang zu den Consto ern war, dass die vorhergehenden zwei Generationen des Antragstellers bereits von ihrem Vermögen der Stadt mit Pferden Kriegsdienst geleistet hatten, was bei bestimmten Steuervermögen grundsätzlich P icht war. Die Consto er mussten zur Aufnahme des Betreffenden in eine ihrer beiden verbliebenen Trinkstuben (Hohensteg und Mühlstein) als Akt der Kooptation gerne bereit sein. Über die Erlaubnis zum Überwechseln entschieden dann sukzessive Rat und Einundzwanziger und die zünftigen Schöffel (mit Ammeister). Anlässlich einzelner Anträge wurde die Diskussion 1472 neu entfacht. Radikalere Zunftkreise kritisierten die Kooptationspraxis der Consto er mit Einstimmigkeit und Stimmrecht der nicht verbürgerten ländlichen Stuben-

1393 K. T. E (Hg.), Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte (2.2–2.4), Nrr. 178, 179; M. A, Gruppen an der Macht (4.1–4.3), S. 243–247. 1394 K. T. E (Hg.), Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte, Nr. 396, S. 768–770. Vgl. auch R. V, Wie der Wächter auf dem Turm (5), S. 234 f.; S. . H, Die Zunft im Mittelalter (8.4), S. 266–274. 1395 K. T. E (Hg.), Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte, Nr. 216, S. 453–455. 1396 K. T. E (Hg.), Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte, Nr. 92, S. 242–246. M. A, Gruppen an der Macht (4.1–4.3), S. 249 f.

Das Patriziat – Die Ratsgeschlechter

genossen und wollten die Kooptation durch die Consto er als notwendigen Verfahrensbestandteil überhaupt beseitigt wissen, sodass bei erteilter Genehmigung durch die städtischen Gremien die Consto er zur Aufnahme des neuen Mitgliedes gezwungen sein sollten. Damit stellten sie die sozialständische Autonomie des Patriziats infrage. Man blieb zwar beim Prinzip der freiwilligen Kooptation, entscheidend blieb aber die Genehmigung durch die zünftig beherrschten Gremien des Stadtregiments.¹³⁹⁷ Wurde die Genehmigung durch die Stadt erteilt, die Aufnahme in eine Trinkstube jedoch verweigert, so hatte der Betreffende gleichwohl künftig alle Dienstp ichten eines Consto ers gegenüber der Stadt zu erfüllen. Zunftbürgern, die kaiserliche Adelsbriefe erhielten, sollten zu den Constoflern übertreten dürfen. Wer von seinem Adelsbrief aber keinen entsprechenden Gebrauch machen wollte, hatte dennoch den zünftigen Ratssitz und alle zünftigen Ämter aufzugeben. Der Grund mag darin liegen, dass um kaiserliche Adelsbriefe in der Regel am Kaiserhof nachgesucht wurde und dadurch der Wille zum Standeswechsel zum Ausdruck kam. Der neue Consto er hatte vor Meister und Rat öffentlich zu schwören, künftig weder Kaufmannschaft noch ein Gewerbe mehr zu treiben; davon ausgenommen sollten jedoch die Beteiligung an Handelsgesellschaften und verlegerisches Unternehmertum sein. Im Übrigen erfahren wir aus zünftigen Gutachten, dass sich reiche Frauen und Töchter des Zunftbürgertums gerne mit armen Consto ern verheirateten, um auf der patrizischen Trinkstube tanzen zu dürfen, und sprichwörtlich der armen constofeler spitall genannt wurden, in dem diese wieder zu Reichtum kämen. Von zünftiger Seite wurde der mit einem Übertritt zu den Consto ern verbundene Substanzverlust aus folgenden Gründen hingenommen: – Die städtischen Instanzen würden eine zu starke Abwanderung aus den Zünften und

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ein soziales Übergewicht der Consto er verhindern. – Eine Blockierung des Aufstiegs würde reiche Zunftmitglieder – wie vormals geschehen – zum Auszug aus der Stadt veranlassen und im Ergebnis nicht nur die Zünfte, sondern am meisten die Stadt durch den Wegfall von militärischen Dienstleistungen, Zollabgaben und Steuerleistungen schädigen. – Die Zahl der alten Consto er sei gegenwärtig derart gering, dass man Jahre brauche, bis man die Consto erquote an Rats- und Gerichtssitzen, wie erforderlich, mit wirklich geeigneten Leuten besetzen könne. – Bei einem Übertritt müssten die zünftigen Ratssitze und Ämter aufgegeben werden, deshalb blieben Obrigkeit und Gewalt weiterhin bei den Zünften, da sie mit ihrer Zweidrittelquote jederzeit die Mehrheit hätten. Insgesamt ging aber die Zahl der Constoflergeschlechter weiter zurück. Der Schrumpfungsprozess lässt sich daran erkennen, dass bei einer Mobilmachung im Jahre 1392 noch 315, bei der Volkszählung von 1444 aber nur noch 100 Consto er und 21 Consto erinnen ermittelt wurden. Ergänzungen erfolgten im 15. und 16. Jahrhundert immer seltener durch Aufnahme stadtsässiger Familien, weit mehr durch Zuzug landsässiger Edelleute aus der Nachbarschaft. Bekannten sich Teile der Straßburger Gesellschaft trotz der sich einstellenden Schwierigkeiten grundsätzlich zu sozialer Mobilität, so lehnte Johannes Geiler von Kaysersberg in seinen Predigten im Münster sozialen Aufstieg als Hoffart, die Sünde Luzifers, vehement ab, verlangte ein Verbleiben im jeweiligen Stand und sprach sich folgerichtig gegen ein Konnubium von Geschlechtern und zünftigen Familien aus.¹³⁹⁸ Auch in anderen Städten mit Zunftverfassung war der Übergang ins Patriziat umstritten und wegen der Verfassungsordnung mit ihren Mehrheitsverhältnissen ein Politikum, ging es in

1397 Später wurde bestimmt, dass neue Consto er so lange nicht rats- und amtsfähig sein sollten, als sie nicht in eine patrizische Stube aufgenommen wurden. K. T. E (Hg.), Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte, Nr. 273, S. 519 f. 1398 R. V, Wie der Wächter auf dem Turm (5), S. 350–395.

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Auseinandersetzungen darum, Aufstiegsprätentionen abzuwehren oder individuelle Aufstiegsbedürfnisse zu befriedigen, aber auch in sozialer und politischer Konkurrenz der Sozialgruppen vermögende und angesehene Teile der Bevölkerung jeweils für sich zu gewinnen.¹³⁹⁹ Unterbunden wurde der Übergang gelegentlich in Ulm und Basel auf Veranlassung der Zünfte oder auf Veranlassung der Geschlechter selbst wie in Augsburg, wo die restriktiven Bestimmungen 1383 und 1478 vorübergehend aufgehoben wurden. In Zürich sahen sich 1415 die Zunftmeister veranlasst, den Wechsel von Zunftgenossen in die Constaffel zu unterbinden. Felix Fabri re ektierte in Ulm den Substanzverlust der Zünfte durch einen Aufstieg von fähigen Zunftbürgern ins Patriziat, der die Zünfte schwächte und der Stadt doch keinen Nutzen brächte. Die Geschlechter schwankten je nach Lage zwischen der Abwehr von Aufstiegsprätentionen Neureicher und dem Wunsch, ihre sozial und politisch gefährlichen Verluste durch genehme zunftbürgerliche Familien auszugleichen. In Konstanz waren die Zünfte darum bemüht, die schrumpfenden Geschlechterfamilien, die wegen des Wegzuges von Angehörigen auf das Land nicht mehr in der Lage waren, die ihnen zustehenden Ratssitze zu besetzen, gesellschaftlich isoliert und damit zugleich politisch in der Defensive zu halten. Den Zünften wurde 1386 durch eine Ratssatzung verboten, Angehörige der alten Geschlechter aufzunehmen, um ihren Anschluss an die reicheren Handelszünfte zu verhindern. Ferner beschlossen die Zunftmeister und die Zunftgemeinde 1399 auf ewig, dass aus ihrem Kreis niemand für die alten Geschlechter den Sitz im Rat einnehmen solle. Die Ratslisten zu Anfang des 15. Jahrhunderts zeigen, dass der Rat nicht mehr paritätisch besetzt wurde, sondern die Zünfte zwei Drittel und die Patrizier nur noch ein Drittel der Ratssitze innehatten. Unter diesem Druck ngen die Patrizier an, ihre Reihen durch in-

1399 A. R, A. D, R. E; P. E ( 3.1).

zwischen zu Reichtum und Ansehen gelangte, mit ihnen durch Freundschaft oder Heirat bereits verbundene und wechselwillige zunftbürgerliche Familien zu verstärken. Die Absetzbewegung reicherer Zunftbürger führte 1420 zu einem Au auf in der Zunftgemeinde und zu einer von ihr initiierten Ratssatzung, wonach die zu den Patriziern übergewechselten Zunftbürger die Trinkstubengesellschaft und Freundschaft mit den Patriziern wieder aufzugeben, auch sonstige neue Trinkstuben zu verlassen und in ihre alte geschworene Gesellschaft der Zunft mit ihrem öffentlich-politischen Charakter zurückzukehren hatten. Die Zunftmeister und der Große Rat, die auf Geheiß ›einer ganzen großen Gemeinde allen Volkes von allen Zünften‹ die Satzung erließen, wollten verhindern, dass die Zünfte ›geschwächt‹ wurden. Der Übergang von Zunftbürgern ins Patriziat, der durch Spannungen innerhalb der Zünfte gefördert wurde, konnte nicht wirksam unterbunden werden. Die Zugehörigkeit der 1424 von den Patriziern neu konstituierten Trinkstubengesellschaft »Zur Katz« als geschworenes Mitglied wurde dann 1442 durch kaiserliches Mandat entsprechend einer Regelung von 1424 geburtsständisch auf die Geschlechter beschränkt. Ein Zugang war nur durch Heirat möglich, doch konnten Zunftbürger informell ohne Status eines geschworenen Mitglieds von den Patriziern zu der Gesellschaft geladen werden. In Speyer beklagten sich die Handwerker bereits 1327 darüber, dass die patrizischen Münzerhausgenossen ihre Macht stärkten, indem sie andere angesehene Bürger, Kau eute und Handwerker, in ihre Einung aufnähmen. Die patrizische Großzunft in Memmingen, der neben den patrizischen Großkau euten auch nichtpatrizische Gewandschneider und Weinschenke zugehörten, wehrte sich hingegen zu Beginn der 1570er Jahre dagegen, dass sie auf Befehl des Rates Bürger in ihre Zunft und Gesellschaft aufnehmen müsse, die ihnen nicht vornehm genug und nicht genehm seien.

Das Patriziat – Die Ratsgeschlechter

7.7.6 Patriziat oder Führungsschicht? Die Frage, ob in einzelnen Städten eine patrizisch-geburtsständische oder bürgerlichberufsständische Ober- und Führungsschicht vor ndlich ist, kann nicht immer eindeutig entschieden werden. Eine sichere wirtschaftliche Grundlage, ständische Stabilität und Kontinuität, ritterlich adlige Lebensführung, Bewusstsein einer Sonderstellung zwischen Adel und erwerbsorientiertem, durch den Beruf geprägtem Bürgertum sowie ein genuines Herrschaftsbewusstsein¹⁴⁰⁰ sind als Kennzeichen des Patriziats keine klar begrenzten oder normativ gesetzten Kategorien. Auch spielt die Größe einer Stadt eine gewisse Rolle, da die begrenzten personellen Ressourcen und der wirtschaftliche Zuschnitt einer Kleinstadt kaum eine ständisch pro lierte und herausragende Geschlechterherrschaft mit aristokratischem Gebaren und Bewusstsein entstehen ließen. Die Stadt Lübeck, die bis zum Ende des 16. Jahrhunderts das topogra sch, wirtschaftlich, sozial und rechtlich maßgebende Modell der Stadt im europäischen Nordosten war, hat sehr früh eine autonome Ratsverfassung ausgebildet und kennt eine Kau eutearistokratie, die den Rat besetzt. Um 1200 nden sich unter den Bürgern neben den Kau euten auch Ministeriale und Vertreter altfreier Geschlechter, deren ausgedehnter Landbesitz zur Finanzierung von Handelsunternehmungen verfügbar gemacht wurde und die zu Beginn des 13. Jahrhunderts für ein überbordendes Turnierwesen der Bürger sorgten. Lübecker – und Stralsunder – Familien besaßen auf dem Lande ganze Dörfer, die teilweise vom Landesherrn zu Lehen gingen. Kulturell machte auch die

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Lübecker Oberschicht wie die anderer Städte Anleihen beim Adel, politisch p egte man aber eine ostentative Distanz zum Landadel. Es ist die Frage, ob die spätmittelalterliche Lübecker Ober- und Führungsschicht ein Patriziat darstellte. Die Handwerker waren vom Ratsregiment völlig ausgeschlossen, besaßen weder ein aktives noch passives Wahlrecht. Es bildete sich nach der Darstellung Ahasver von Brandts ein »verfassungsrechtlich quali zierter Stand der Ratsfähigen aus, der theoretisch mit demjenigen der Kau eute identisch, praktisch aber auf dessen oberes Fünftel (so kann man mit aller Vorsicht etwa sagen) beschränkt ist«. Dennoch war die Schicht der Ratsfähigen keineswegs eindeutig begrenzt, sondern sie uktuierte im Gegensatz zur oberdeutschen Geschlechterherrschaft stark von Generation zu Generation. Aufstieg und Abstieg waren dabei überwiegend an den beru ich-wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg gekoppelt, daneben aber auch an die Versippung mit der herrschenden Schicht, doch konnte diese Verbindung sowohl Ursache als auch Folge des Aufstiegs sein. Im 14. und 15. Jahrhundert stammten 282 auf Lebenszeit gewählte Ratsmitglieder aus dem großen Kreis von 180 Geschlechtern, davon 62 Ratsmitglieder aus nur 10 Geschlechtern. Die im späten Mittelalter im Rat vertretenen Familien, die alle dem Kaufmannsstand angehörten, stellten in breiter Streuung im Durchschnitt lediglich anderthalb Ratsmänner. Auch wenn einige Familien mehr als sechs Ratsmitglieder stellten, so war der Kreis der Familien für ein Patriziat zu groß; es ist niemals zu einer »institutionalisierten Vorzugsoder gar Alleinberechtigung solcher Geschlechter an der Ratsbesetzung gekommen«, die das Kennzeichen des verfassungsrechtlich geprägten

1400 Siehe besonders H. K, Strei ichter auf die Oberschichten der mitteldeutschen Städte S. 146 ff.

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Sozialstruktur

Begriffs des Patriziats ausmacht.¹⁴⁰¹ Neue Familien traten in die Schicht führender Kau eute ein, alte schieden aus. Es gab Mitglieder besonders angesehener Familien, die nicht in den Rat kooptiert wurden, und tüchtige Aufsteiger, die in den Rat gelangten. Landerwerb war für die Lübecker Familien Kapitalanlage mit Prestigewert; er bedeutete aber auf dem Hintergrund eines fehlenden Konnubiums mit dem Landadel nicht zugleich ein Streben nach Feudalquali kation und Überwechseln zu einer adlig-ländlichen Lebensführung. Die teilweise gewaltige Rentenakkumulation aus städtischem und ländlichem Grund und Boden, darunter Lehen, machte Teile der Oberschicht lediglich in verstärktem Maße zu Rentiers. Auch die kleine Gruppe alteingesessener Familien, die sich in der 1379 gestifteten exklusiven »Zirkelgesellschaft« zusammenschloss, sich am Ausgang des Spätmittelalters ein »junkerlich-adliges Renommee zu verschaffen trachtete« und bestrebt war, möglichst viele Ratssitze aus ihren Reihen zu besetzen, ändert als gesellschaftliches Phänomen nichts an dem

Befund, dass die Oberschicht Lübecks und der von Lübeck geprägten Städte bis tief in das 16. Jahrhundert in Lebenshaltung und Beruf maßgeblich kaufmännisch bestimmt war. Die Mitglieder der »Zirkelgesellschaft« wurden im 15. Jahrhundert politisch aktiver und verlangten zeitweise eine Zweidrittelmehrheit ihrer Mitglieder im Rat; in den Jahren 1465 und 1483 gehörte nur ein Ratsmitglied nicht der Gesellschaft an, wie es zwischen 1416 und 1550 nur einen Bürgermeister gab, der nicht Mitglied war. Gelegentlich erfolgte der Eintritt in die »Zirkelgesellschaft«, die einen Kreis von 30 bis 60 Personen mit hohem wirtschaftlichem und politischem Ansehen binden wollte, jedoch erst nach der Aufnahme in den Rat, oder Aufsteiger wechselten mit der Einheirat in die Oberschicht ihre Gesellschaft, sodass sich Mitgliedschaft in der »Zirkelgesellschaft« und Ratsfähigkeit ergänzten, ohne wechselseitig zwingende Voraussetzungen zu bilden.¹⁴⁰² Ahasver von Brandt ist der dezidierten Auffassung, »dass es in der hansischen Städtelandschaft des 14. und 15. Jahrhunderts kein Patriziat in irgendeinem vertretbaren

1401 A. . B, Die gesellschaftliche Struktur des spätmittelalterlichen Lübeck, S. 232, 217, 232–234; vgl. W. E, Lübisches Recht ( 2.2–2.4), S. 228 f. Ganz erhebliche genealogisch-politische Unterschiede werden auch deutlich, wenn man etwa G. P folgend das Nürnberger Patriziat mit dem Breslaus vergleicht, wobei hinzukommt, dass eine geschlossene Folge von Ratslisten in Nürnberg erst 45 Jahre später als in Breslau, nämlich erst seit 1332 überliefert ist. »Hier in Nürnberg war im Jahre 1520 die jüngste Ratsfamilie 19 Jahre (in Breslau 2 Jahre), die älteste 188 Jahre (nämlich seit 1332) im Rat, in Breslau 165 Jahre; in Nürnberg stellte sich der Durchschnitt auf 145,5 Jahre, in Breslau auf 59,7 Jahre, und während in Nürnberg der 1520 im Rat sitzende mindestens der 2. der betreffende der Familie, maximal aber der 33. war, lauten die Zahlen für Breslau der 1. bzw. der 8. und der Durchschnitt für Nürnberg der 16., für Breslau der 3. bis 4.« P spricht zwar von einem Breslauer Patriziat, formuliert jedoch im Vergleich mit Nürnberg neu und nennt das Breslauer Patriziat »eine locker gefügte, einem ständigen Wechsel unterliegende bürgerlich neuadelige Oberschicht« im Gegensatz zum Nürnberger Patriziat, das er durch eine »festgefügte, traditionale, quasiaristokratische Ratsherrschaft« charakterisiert sieht. Von einer sozialrechtlichen und durch überindividuelle Normen begrenzten Ratsfähigkeit kann in Breslau nicht gesprochen werden; nur die Zugehörigkeit zur Handwerkerschaft schied von den ratsfähigen Familien, doch konnte diese Schranke durch Übertritt zur Kaufmannschaft offenbar ohne weiteres überwunden werden. Der Erwerb von Lehensgütern im Fürstentum Breslau, auch Ritterlehen der schlesischen Herzöge, war den Breslauern Bürgern, ob sie im Rat saßen oder nicht, gleichermaßen möglich. G. P, Die Entwicklung des Breslauer Patriziats, S. 115, 116, 117. Für den niedersächsischen Raum kommt G. . L (Das Patriziat in Niedersachsen, S. 157) zu dem Ergebnis, dass es trotz vielfacher Ansätze dazu nur in wenigen Städten zu einer Herausbildung einer »privilegierten städtischen Geschlechterherrschaft« gekommen sei. 1402 S. D, Die Lübecker Zirkel-Gesellschaft (8.2–8.4).

Das Patriziat – Die Ratsgeschlechter

Wortsinn« gegeben habe und die Zechgenossenschaften wie die Lübecker »Zirkelgesellschaft«, der Danziger »Artushof« oder die Rigaer und Revaler Gilden hier generell beru ich und nicht geburtsständisch beschränkt gewesen seien. Es

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habe »nur eine offene, primär durch kaufmännische und unternehmerische Berufsausübung gekennzeichnete, örtlich wie ständisch durchaus mobile Oberschicht gegeben«.¹⁴⁰³

1403 A. . B, Die Stadt des späten Mittelalters im hansischen Raum (Einleitung), S. 9 f. Im Wesentlichen zustimmend E. H, Lübeck im Hoch- und Spätmittelalters (2.6), S. 261; ferner die unterschiedlichen Standpunkte referierend M. L, Der Rat der Stadt Lübeck, S. 97–100. A. G  (Sozialer Aufstieg) will ein Patriziat erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erkennen. Am Patriziatsbegriff für Lübeck festhalten will hingegen B. B, Charakter und Entwicklung des Patriziats. K. W (Zum Pro l der lübischen Führungsgruppe) anerkennt die politisch-genealogischen Einwände, gibt aber auch zu bedenken, ob der Begriff »Patriziat« im Falle Lübecks angesichts des gesellschaftlichen Phänomens einer von der übrigen Stadt- und Bürgerbevölkerung abgehobenen Schicht wirtschaftlich, sozial und politisch führender Personen, die sich teilweise und in verschiedenen Formen organisiert haben und als Führungsgruppe im Ratsgremium zutage treten, auch angesichts der Weiterverwendung des Begriffs in der neueren sozialgeschichtlichen Forschung nicht doch beizubehalten sei. Doch bei Wegfall eines wichtigen Kriteriums stehen auch andere, allgemeinere Begriffe wie »Führungsschicht« oder »Führungsgruppe« zur Verfügung. Vgl. noch H. S, Vergleichende Betrachtungen zur Geschichte der bürgerlichen Eliten in Nordwestdeutschland und in den Niederlanden, S. 5.

8 Sozialformen und Sozialgruppen Familie, Verwandtschaft und Haus – Gilden, Gesellschaften und Zünfte

Bürger und Bewohner der Stadt gehören verschiedenen sozialen und auch rechtlich verfestigten oder gar als Korporationen in das Verfassungsgefüge eingegliederten Einheiten unterschiedlich ausgeprägter Kohärenz und Solidarität an, in die sie hineingeboren werden oder denen sie formell beitreten. Es sind dies zunächst die Altersgeneration, die Altersgruppe, als feste Basis die natürliche, aber rechtlich geformte Gemeinschaft der Familie und Verwandtschaft (freundschaft), das Haus und der Haushalt. Erweiterte Lebensbedürfnisse können in voluntaren Gemeinschaften, in religiösen Konventikeln, vielfältigen sozialen und religiösen, nicht gewerbespezi schen Bruderschaften sowie in Bildungszirkeln wie den humanistischen sodalitates befriedigt werden. In eigens geregelten sozialen Welten be nden sich die Insassen der Spitäler oder die Angehörigen der semireligiosen, aber ein Sozial- und Wirtschaftsleben entfaltenden Beginen- und Begardenkonvente. Strenger noch, vielfach durch Mauern geschieden sind die Immunitätsbezirke und Gemeinschaften der Stifte, Klöster und alten Orden mit ihren Regeln und ihrer inneren Rang- und Sozialordnung. Eigene Rechts- und Sozialordnungen bilden auch die Universitäten. Bürger und Bewohner sind eingebunden in Trinkstuben und Zechgenossenschaften, Geschlechter- und Kau eutegesellschaften, in komplexere Kaufleutegilden oder in die Verfassung eingefügte kommerzielle Zünfte, Handwerkerzünfte und politische Zünfte sowie in Rotten mit eigenen Vorstehern als Unterorganisationen von Zünften (Ulm) oder als topogra sche Einheiten, in Gesellenvereinigungen und Schützengilden. Schließlich gibt es vereinzelt Bettlergilden und Angehörige von Randgruppen mit fami-

1404 Siehe 7.3–7.5. 1405 Zur Sozialgruppe siehe begrifflich 7.2.

lialer oder gildeähnlicher Verbandsbildung wie die Basler Leute vom Kohlenberg.¹⁴⁰⁴ Räumlich xierte Einheiten mit gerichtlichen, administrativen und militärischen Funktionen sind die Pfarrei und Nachbarschaft, die sondergemeindlichen Kirchspiele und die Burschaften (Bauerschaften) vor allem des rheinisch-westfälischen Raumes, die nachbarschaftlichen und organisierten Stadtviertel, Gassen, Brücken- und Brunnengemeinschaften mit ihren Obsorgeverp ichtungen. Aus die Stadt hinaus führen die Fahrergenossenschaften und Hansen; in der Fremde bieten die Gemeinschaften der unterschiedlich strukturierten hansischen Kontore, der Kaufmannsquartiere, der Faktoreien (Gelieger) der Handelsgesellschaften und die Zwangsgemeinschaft des venezianischen Fondaco Zusammenhalt. Die Stadtbewohner gehören oft, unter anderem bereits durch Mehrzünftigkeit, verschiedenen Gruppen¹⁴⁰⁵, Gesellschaften, Bruderschaften und topogra schen Bezugsbereichen an und wechseln sie in begrenztem Umfang durch Option und sozialen Aufstieg. Organisierte Gruppen und Gesellschaften verfügen über Gebäude in repräsentativen Bauformen und entsprechende Räume oder intimere Stuben, präsentieren sich in der Öffentlichkeit durch Symbole, Abzeichen und uniforme Trachten. Sie verzeichnen ihre Mitglieder in Gesellentafeln, halten Versammlungen ab, veranstalten im öffentlichen Raum Umzüge, nehmen ihren Platz in Prozessionen und bei Fürstenempfängen ein, leisten ihren Verstorbenen die Totenfolge und p egen das Totengedenken (memoria). Sie nden sich zur Willensbildung und zu politischen Aktionen zusammen. Ferner dienen sie der auch emotionalen Vergemeinschaf-

Familie, Verwandtschaft und Haus (Haushalt) 777

tung; sie offenbaren, kanalisieren und verarbeiten im Gruppenleben zugleich Gewaltausbrüche, Kon ikte und soziale Konkurrenz, die sich auch durch provokante Ehrverletzungen, Regelverstöße und Übertrumpfen im regelmäßig verbotenen Wett- und Zutrinken äußern, indem sie durch Ordnungen und autoritative Instanzen sowie durch Strafen und Bußen disziplinieren, befrieden und im günstigsten Fall Verhalten zivilisieren. Nach außen behaupten sie Ehre, Prestige und ihren Rang durch Repräsentation, teilweise nach Zeiten größerer sozialer Offenheit durch Exklusivität und Distanz gegenüber anderen Gruppen. Den individuellen sozialen Aufstieg fördern oder manifestieren neben dem beru ichen und wirtschaftlichen Erfolg die Einheirat in eine vermögende und einussreiche Familie sowie die Mitgliedschaft in einer vornehmen Bruderschaft, Trinkstube oder Gesellschaft. Darüber hinaus entstehen und gibt es informelle politische, soziale und wirtschaftliche Verbindungen von unterschiedlicher Bestandsdauer und Zusammensetzung: gute Freunde und Gönner (Felix Fabri); militärische Gefolgschaften (Muntmannen); prosopogra sch in Köln schon für das 13. Jahrhundert erfassbare politische Parteibildungen ein ussreicher und angesehener Familien; eigenmächtige Clans von Geschlechterfamilien mit Verwandten, Freunden, Gefolgsleuten und Dienstleuten; Patronage und Klientelverhältnisse durch Gewährung von Schutz, Krediten und Vermittlung in Ämter; personale Netzwerke und wechselseitige Geschäftsbeziehungen, die sich zu Gesellschaftsbildungen verdichten können; die Vorstellung einer wirtschaftlichen Abhängigkeit der Handwerker und Kau eute von einer konsumie-

renden (adligen) Oberschicht.¹⁴⁰⁶ und meist kurzfristige strategische Allianzen in familialen Netzwerken und zwischen Gruppen, um politische Ziele zu erreichen¹⁴⁰⁷

8.1 Familie, Verwandtschaft und Haus (Haushalt) 8.1.1 Formen der Familie und Verwandtschaft Familie und Haus sind die ursprünglichen Sozialformen und die grundlegenden Bauelemente der städtischen Gesellschaft, die in Güterproduktion und Güterverteilung vorherrschend familienverwandtschaftlich fundiert erscheint.¹⁴⁰⁸ Drei genealogische und soziologische Grundformen der Familie sind zu unterscheiden: 1. Am einfachsten abgrenzbar ist die heute üblicherweise gemeinte Klein- oder Kernfamilie. Ein rechtlich verbundenes Elternpaar oder ein Elternteil leben in einem Haushalt zusammen mit ihren unmündigen, beru ich unselbständigen und unverheirateten Kindern. 2. Davon zu unterscheiden ist die Abstammungsfamilie, die in aufsteigender Linie (Aszendenz) und absteigender Linie (Deszendenz) direkt (agnatisch) miteinander verwandte Menschen umfasst und damit auf einen gemeinsamen Stammvater zurückgeht. 3. Die Verwandtschaftsfamilie schließt neben Eltern und Kindern als in Aszendenz und Deszendenz direkt Verwandten auch die Seitenverwandten und die Verschwägerungen ein. Sie vereinigt damit sowohl die agnatischen, im Mannesstamm blutsverwandten als auch die ko-

1406 G. S (Hg.), üring Frickarts Twingherrenstreit, Basel 1877, S. 67 f., 71, 95; U. D, Merkmale des sozialen Aufstiegs (7.1–7.2), S. 85; W. P. B, Formale und informelle Gruppen. 1407 S. T, Bekannte – Klienten – Verwandte. 1408 K. B, Die »familia« als Grundstruktur der mittelalterlichen Gesellschaft; E. M, Die Familie in der deutschen Stadt des späten Mittelalters; A. H (Hg.), Haus und Familie in der spätmittelalterlichen Stadt; H. R, Höxter (7.1–7.2); T. S, Familien; M. M/R. S, Vom Patriarchat zur Partnerschaft; M. M, Mittelalter; H. K. S, Grundstrukturen der Verfassung (Einleitung), Bd. 2, S. 9–33; G. F, »Freundschaft« und »Feindschaft«; C. N, Frauen und Männer. Vgl. auch J. H, Le clan familial. Zur Übersicht siehe die Art. »Gesinde« (L. C), »Familie« (D. S), »Hausgemeinschaft« (W. O) und »Hausherrschaft« (H. K. S) im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte.

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Sozialformen und Sozialgruppen

gnatischen, auf der weiblichen Seite blutsverwandten Familienverbindungen. Für die Stadtgesellschaft sind alle drei Formen von Bedeutung. Die Familie als wichtigste soziale Determinante war indessen so groß, wie sie von den lebenden Generationen in ihrem – in Einzelfällen durch Geschlechterchroniken und Familienbücher gestütztes – Familienbewusstsein erfasst wurde, als soziale Realität in Gesellschaft, Wirtschaft, Verwaltung und Politik zur Geltung kam oder wie sie im Innenverhältnis durch das Familiengüterrecht gegenüber dem Einzelnen berechtigt war, vom Erblasser testamentarisch bedacht wurde und durch Vormundschaft und Patenschaft besondere Beziehungsverhältnisse schuf. Erweitert wurden Familie und Verwandtschaft durch Verschwägerung und Versippung vielfach als Ergebnis strategischer Heiraten, durch Gevatterschaft zwischen den Eltern des Täu ings und dessen Paten sowie in Einzelfällen auch durch Adoption. Familie und Verwandtschaft setzten Normen der affektiven Zuwendung, der Treue, des Vertrauens, der Solidarität und gegenseitigen Hilfe sowie des freundlichfriedlichen und des ehrenhaften Verhaltens. Viele derartiger Werte und Normen sind im Wortfeld von »Verwandtschaft« (mhd. freundschaft) angesiedelt und werden sogar auf äußere Bereiche bis hin zur Konstituierung politischer Verbände als natürliche, künstlich gestiftete und ktive Verwandtschaften übertragen. So soll die Stadt eine brüderliche Gemeinschaft darstellen, die verwandtschaftliche Werte von Freundschaft, Liebe und wechselseitiger Hilfe verwirklicht. Verwandte und Nahestehende beraten sich untereinander als Freunde (amici), treten als Anhang vor Gericht auf, sitzen in Schiedsgerichten und intervenieren beim Rat für Delinquenten aus ihren Reihen. Es braucht nicht weiter ausgeführt zu werden, dass familiäre und verwandtschaftliche Zuneigung in gesteigerten Hass und in Feindschaft umschlagen konnte.

Das lateinische Wort familia meint in seiner indogermanischen und römischen Herkunft nicht die genealogische Familie, sondern die unter der Herrschaftsgewalt (dominium) des Hausherrn (pater familias) lebende Gesamtheit aller im Hause vereinigten Personen: Frau, Kinder, Sklaven und sonstige Hausangehörige. Das ganze Mittelalter hindurch bedeutet familia als Grundstruktur der feudalagrarischen Gesellschaft den Personenverband, der von einem Herrn personen-, dienstrechtlich und sozial abhängig ist. Solche grundherrschaftlichen Verbände einer familia sind in der Frühzeit der Stadt etwa im Hofrecht, dem Recht der Hausgenossenschaft des Bischofs Burchard von Worms von 1024/1025 (lex familiae Wormatiensis ecclesiae)¹⁴⁰⁹ und in anderen Hofrechten näher fassbar. Aus dieser grundherrschaftlichfeudalen Ordnung ragen in einigen Städten die ursprünglich unfreien, durch die Qualität ihres Dienstes aufgestiegenen stadtherrlichen Ministerialen, die ihnen regelmäßig zugehörige Gruppe der Münzerhausgenossen oder die Muntmannen¹⁴¹⁰, die militärisch politische Gefolgschaft früher städtischer Geschlechter, und zunehmend organisierte Gruppen unfreier Handwerker in den kommunalen Verband hinein und werden, mit Ausnahme der bekämpften und verbotenen Muntmannen, von der städtischen Rechts- und Sozialordnung aufgenommen. In Einzelfällen wird mit familia auch schon im Spätmittelalter unter humanistischem Einuss die Abstammungsfamilie benannt. Im deutschen Sprachgebrauch umschreibt man die Kernfamilie aus der Sicht des Ehemannes und Vaters mit Weib und Kind oder mit Haus in einem engeren Sinne. Die Abstammungsfamilie wird mit Geschlecht oder Stamm, lateinisch mit progenies, genus, stirps oder genealogia bezeichnet. Die Stadt kennt als Sozialformen sowohl die umfassende Hausgemeinschaft – in der Oberund Mittelschicht – als auch den einfachen

1409 L. W, Quellen zur deutschen Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 23, S. 88–104. 1410 O. G, Die Muntmannen; H. P, Die deutsche Stadt (Einleitung), S. 268 f.

Familie, Verwandtschaft und Haus (Haushalt) 779

Haushalt, der nur aus Familienangehörigen besteht. Die lebensentscheidenden alltäglichen Beziehungen spielten sich vorwiegend in der Kernfamilie mit kaum mehr als zwei gleichzeitig im Haushalt lebenden Kindern ab. Doch kommen, abgesehen von vorübergehender Patrilokalität von Jungverheirateten, die aber für einige Zeit auch bei anderen Verwandten wohnen konnten – weniger häu g als früher angenommen – auch Mehrgenerationenfamilien und Großfamilien vor, die einen weiteren Verwandtschaftsbereich umfassen. Die größeren Formen sind im Wesentlichen auf die Oberschicht beschränkt. Die Familienfähigkeit war grundsätzlich an den Besitz eines Hauses oder wenigstens eines Haushaltes in Miete gebunden, wie die Familie ursprünglich eine Haus- und Herdgemeinschaft darstellt. 8.1.2 Das ›ganze Haus‹ Die Sozialform der Hausgemeinschaft vereinte nicht nur die genealogische Familie und Verwandte, sondern umfasste zumeist auch nichtverwandtes, in der Regel unverheiratetes und kinderloses Dienstpersonal wie Hausknechte, Mägde oder Ammen. Der Familienvater war bis in die Neuzeit der Hausvater und Hausherr, der auch Wirt genannt wurde. Der Hausherr vertrat die Hausgemeinschaft nach außen. Innerhalb des Hauses hatte auch die Ehefrau die Schlüsselgewalt, einen eigenen Verantwortungsbereich mit Verfügungsgewalt. Dem Haus war der kaufmännische oder handwerkliche Erwerbsbetrieb angegliedert, sodass Wohnstätte und Arbeitsstätte, Erwerbs- oder Produktionsgemeinschaft und Konsumgemeinschaft nicht wie heute weitgehend üblich getrennt, son-

dern unter einem Dach zu einer umfassenden Hausgemeinschaft vereint waren, die mit einem Quellenbegriff und davon abgeleiteten wissenschaftlichen Terminus als das »ganze Haus« (tota domus/oikos, Ökonomie)¹⁴¹¹ bezeichnet wird. Neben dem Gesinde lebten auch unverheiratete Handelsdiener, insbesondere aber unverheiratete Handwerksgesellen (knechte) und Lehrlinge im Hause des Prinzipals oder Meisters unter dessen hausherrlicher Gewalt. Das »ganze Haus« als große ökonomisch-soziale und herrschaftliche Formation, wie es seit Xenophon in der antiken und mittelalterlich-frühneuzeitlichen Lehre vom Haus, der Ökonomik, literarischkonzeptionell erfasst wurde, stammt aus der agrarisch-grundherrschaftlichen Welt und hat in der Stadt nur eine erheblich reduzierte Ausformung gefunden. Erste Anzeichen für eine Au ösung der Hausgemeinschaft in der Stadt setzten bereits im 14. Jahrhundert ein, der entscheidende Au ösungsprozess auf breiter Ebene vollzog sich aber erst seit dem 17. Jahrhundert. Außerdem zer elen Häuser mit Mietparteien in verschiedene Haushalte, deren Wirtschaftstätigkeiten ausgelagert waren. Die in die Hausgemeinschaft aufgenommenen Handwerksgesellen – in der Regel waren es kaum mehr als einer oder zwei – standen ungeachtet personenrechtlicher Züge der hausherrlichen Gewalt zu dem Meister in einem grundsätzlich freien Arbeitsverhältnis mit dem Ziel, neben der Arbeitsverrichtung das Handwerk zu erlernen, um selbst Meister zu werden. Darüber hinaus gehörten die Gesellen minderberechtigt der Zunft und in späterer Zeit verschiedentlich einer Gesellenvereinigung an. Das unterscheidet die Gesellen nachdrücklich von Gesinde, das in unmittelbarer persönlicher Dienstverp ichtung zum Hausherrn stand und eindeu-

1411 O. B, Das »ganze Haus« und die alteuropäische »Ökonomik«; O. G. O, Art. »Wirtschaft. III. Mittelalter«, in: O. B/W. C/R. K (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, 1992, S. 526–550; W. R, Das »ganze Haus« und die Gesellengilden. Wichtige Einschränkungen und Modi kationen des Konzepts des Familienbetriebes im Hinblick auf die Kooperation der Haushaltsangehörigen und auf die erbliche Weitergabe des Betriebes in der Generationenfolge bei M. M (Familie und Arbeitsorganisation) und R. S (Der handwerkliche Familienbetrieb). Zur Kritik an Brunners Konzept des »ganzen Hauses« und zu den dabei gelegentlich auftretenden Missverständnissen siehe E. I, Die Bedeutung der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (9.0), S. 480 f.

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Sozialformen und Sozialgruppen

tiger dessen personenrechtlicher Gewalt unterstand.¹⁴¹² Gesinde und Gesellen schuldeten dem Hausherrn und Meister Treue und Gehorsam, während diesem die Fürsorgep icht oblag, die sich auf den Krankheitsfall, aber auch auf eine sittlich-moralische Erziehung und die P icht zu menschlicher Behandlung erstreckte. Die Herrschaft im Haus und die damit verbundene Verantwortung der Hausgemeinschaft nach außen beinhaltete ursprünglich eine Vertretung des Gesindes vor Gericht sowie die Haftung für Delikte des Gesindes und für die von ihm geschuldeten öffentlichen Abgaben. Beides schwächte sich im Spätmittelalter ab. Der Hausherr durfte jedoch straffällig gewordenes Gesinde nicht im Hause behalten und hatte Vergehen anzuzeigen. Gleiches verordneten die Zünfte hinsichtlich der Gesellen. Sie untersagten ferner die Übernachtung des Gesellen außerhalb des Meisterhaushaltes oder banden sie an Erlaubnis und Wissen des Meisters und beschränkten die abendlichen Ausgangszeiten. Nur gegenüber dem Gesinde und dem Lehrling, nicht aber gegenüber dem Gesellen besaß der Hausherr und Meister ein Züchtigungsrecht. In Stadtrechten des 13. Jahrhunderts etwa von Enns 1212, Wien 1221 oder Hamburg 1270 besaß das hausherrliche Züchtigungsrecht dem Gesinde gegenüber deutliche Grenzen nur bei Totschlag und bei Wundtaten mit oder ohne Waffen, insofern diese nicht mehr straffrei blieben. Eine Verehelichung des Gesellen widersprach der Einbindung in die Ordnung der Hausgemeinschaft des Meisters während der Ausbildungszeit und der sozialen Norm, wonach einen eigenen Haushalt (Feuer und Rauch) nur gründen sollte, wer wirtschaftlich auf eigenen Füßen stand. Im Bauhandwerk, das seine Arbeitsstätte außerhalb des Hauses hatte, nden sich auch die meisten verheirateten Gesellen.

Der Hausgemeinschaft fern standen schließlich die freien Lohnarbeiter, die in den großgewerblichen Organisationsformen des Montanwesens, teilweise auch des Textilgewerbes und des Druckereigewerbes, in den Bau- und Transportgewerben, auch in der Land- und Forstarbeit und vor allem im Weinbau anzutreffen sind, schließlich auch die städtischen Bediensteten. Hier war die Trennung von Arbeitsstätte und Wohnung bereits weitgehend vollzogen. Es handelte sich um eine vielfach prekäre Ökonomie vorwiegend kleiner Leute ohne Zusammenhang mit ihrem Haus und Haushalt.¹⁴¹³ 8.1.3 Ehe und Familie 8.1.3.1 Ehe, Eheschließung und Ehetrennung Die Ehe war sicherlich zu einem wesentlichen Teil eine Zweckgemeinschaft, die der Zusammenführung und weiteren Vererbung von Vermögen, der materiellen Absicherung und Versorgung, dem Eintritt in das selbständige Erwerbsleben, allgemein der Lebensbewältigung in risikoreichen Zeiten und einer Lebensführung in ruhigen Bahnen sowie der biologischen Sicherung einer Nachkommenschaft dienen sollte.¹⁴¹⁴ Für ärmere Schichten stellte die Ehe in wirtschaftlicher Hinsicht eine Gemeinschaft zum Überleben dar, doch handelte es sich verschiedentlich um nur lockere eheähnliche Gemeinschaften ohne richtigen Haushalt, die in ihrer Dauer durch Mobilität und Verlassen aus Not gefährdet waren. Kinder höherer Schichten wurden in erster Linie nach Gesichtspunkten des familiären Ansehens, des Besitzes und der Standeszugehörigkeit beider Partner von Eltern und Verwandten verheiratet. Dabei kam es auch zu unangenehmen Konkurrenzsituationen bei der Eheanbahnung auf dem Heiratsmarkt, zum geschäftlichen Aushandeln von wechselseitigen,

1412 O. K, Rechtsgeschichte des Gesindes; J. K, Altnürnberger Gesindewesen. 1413 V. G, Ökonomie ohne Haus. 1414 M. S, Wo zwei zusammenkommen; G. K, Das Familienrecht in der spätmittelalterlichen Stadt; R. W, Ehe- und Familienrecht in der mittelalterlichen Stadt; H.-R. H, Basler Rechtsleben im Mittelalter (2.2–2.4), S. 139–229; C. D, Ehegerichtsbarkeit im Bistum Regensburg; E. S, Alltag im Mittelalter (1.1), S. 222–271.

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hauptsächlich die Mitgift der Frau oder auch das Wittum von Seiten des Mannes betreffenden Forderungen und zur Fixierung von Gewinn oder enttäuschten Erwartungen in Eheverträgen. Zurückweisungen minderten das Prestige und die soziale Ehre, während eine neue verwandtschaftliche Bindung und Verschwägerung zu sozialem Ansehen führen konnte. Ungleiche Ehen mit Frauen, die als solche den eigenen Stand nicht minderten, wurden von höheren Ständen aus wirtschaftlichen Gründen eingegangen, um sich nanziell wieder zu erholen, während andererseits Heiraten nur um des Geldes wegen Gegenstand von Gerede waren. Strategische Planungen führten in patrizischen Kreisen gelegentlich zu Verlobungen von Kindern bereits mit elf Jahren und zu ausgesprochenen Frühehen. Liebeshändel, Entführungen mit Willen der Frau, Ehen gegen den Willen der Eltern, heimliche Ehegelöbnisse und die häu geren klandestinen (heimlichen) Ehen sowie literarische Zeugnisse verschiedener Art geben indessen Hinweise, dass erotische Attraktion, emotionale Zuneigung und Leidenschaft als Motive der Eheschließung nicht fehlten und von Eltern und Verwandtschaft, denen es um den Schutz des Familienvermögens ging, nicht völlig zu eliminieren waren. Das kirchliche Konsensprinzip schuf zumindest die ideelle und rechtliche Voraussetzung, dass auch persönliche Zuneigung und Liebesgefühle in bestimmtem Umfang bis hin zur selbstbestimmten Entscheidung der Partner bei der Gattenwahl zur Geltung kommen konnten. Dass Kinder nicht nur verheiratet wurden, legen Quellen seit der Mitte des 15. Jahrhunderts nahe, doch kommt es auf den Einzelfall und die Schicht- und Standeszugehörigkeit an. Es kann aber durchaus sein, dass schon viel früher auch individuellen Partnerwünschen Rechnung getragen wurde. Die Ehe hatte sich erst allmählich von einer sozialen Tatsache hin zu einem Rechtsinstitut und einem christlichen Sakrament entwickelt.

Gegenüber dem archaischen Brautraub und anderen Eheformen wie der Sippenvertrags- und Muntehe setzte sich die kirchenrechtlich normierte, theologisch-spirituell begründete Konsensualehe durch – consensus facit nuptias (matrimonium). Dabei ging das Kirchenrecht mit der im römischen Recht der Hochklassik hervortretenden Auffassung konform, dass der Eheschließungswille der Partner, ihre Willenseinigung die Ehe begründe.¹⁴¹⁵ Der Ehemann blieb jedoch nach weltlichem Recht in vielerlei Hinsicht der Vormund der Frau und besaß eine eheherrliche Zuchtgewalt, die ein maßvolles Züchtigungsrecht einschloss. Ferner blieb es – entgegen der in der kirchlichen Konsensdoktrin grundsätzlich begründeten freien Partnerwahl – ein herkömmliches Vorrecht der Eltern, die Wahl der Gatten zu bestimmen oder die Einwilligung zur Eheschließung zu geben. Doch konnte unter Berufung auf diese soziale Konvention keine eigenmächtig geschlossene Ehe verhindert oder für ungültig erklärt werden, sondern nur durch Verweigerung der Mitgift oder Enterbung präventiv bedroht oder nachträglich geahndet werden. Damit die Ehe auf ein gesundes wirtschaftliches Fundament gestellt war, brachte die Frau – häu g durch Ehevertrag geregelt – neben der Aussteuer mit Kleidung, Wäsche und Schmuck eine Mitgift (Ehesteuer, Brautschatz, dos) bestehend aus Bargeld, Renten oder Grundbesitz als Sondervermögen in die Ehe ein. Es kam auch vor, dass arme Jungfrauen von der Stadt oder durch eine Sozialstiftung eine Aussteuer erhielten. Auf Seiten des Mannes entsprach der Mitgift das aus beweglichem Gut und später auch aus Liegenschaften bestehende Wittum (widem) oder die Widerlage (Widerlegung, donatio propter nuptias) zur Sicherung der eingebrachten Güter der Frau und deren Versorgung im Falle der Witwenschaft. Hinzu kam als ursprüngliche Schenkung nach der Hochzeitsnacht die allmählich gleichfalls der Witwenversorgung dienende Morgengabe, unter der aber gleichfalls die vorgenannten ehelichen Sonder-

1415 Digesten 23.1.11; Digesten 50.17.30: Nuptias non concubitus [der Beischlaf ], sed consensus facit.

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güter begriffen sein können, sodass Wittum und Morgengabe häu g nicht mehr klar zu unterscheiden waren und miteinander verschmolzen. Eheleute, die ohne Wissen und Willen der Eltern oder von Verwandten (Freunde) eine so genannte Winkel-, Kuppel- oder Kirchweihehe eingegangen waren, verloren nach städtischen Statuten den Anspruch auf Ausstattung mit den Heiratsgütern und das Erbrecht, wenn die Eltern oder Verwandten das wollten; sie konnten sich eventuell gesetzlich nur beschränkt gegenseitig beerben oder wurden mit Stadtverweisung oder in anderer Weise bestraft. Damit trug die Gesetzgebung den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Motiven der elterlichen und verwandtschaftlichen Strategie der Verheiratung Rechnung, die sich im Verlauf der Eheanbahnung durch Verhandlungen zwischen Vertretern der beiden Seiten in Verträgen und Vereinbarungen über güterrechtliche Fragen niederschlug und in eine Hochzeitsbitte mündeten. Gegenüber der kirchlichen Konsensdoktrin der Ehe hatten kollidierende derartige Abmachungen keinen Bestand. Die Sicherung oder Erweiterung wirtschaftlicher und nanzieller Ressourcen konnte eine Interessenlage der Eltern und der näheren Verwandten, die potentielle Erben des Familienbesitzes waren, ergeben, die eine Lockerung der für die Eheschließung zulässigen Verwandtschaftsgrade zugunsten einer Eheallianz oder die Trennung einer Ehe etwa bei Veruntreuung ehelicher Güter oder ruinöser Verschwendung wünschenswert erscheinen ließ. Die Kirche hatte, nachdem die vom Kirchenvater Augustinus begründete Sakramentalität der Ehe an sich und im Verhältnis zu den bestehenden Sakramenten lange nicht unumstritten war, die Ehe endgültig auf dem zweiten Konzil von Lyon 1274 unter Papst Gregor X. zu einem der nun sieben Sakramente erhoben und eine Ehescheidung prinzipiell unmöglich gemacht. Das Ehegelöbnis per verba de praesenti, d. h. die freiwillige, gegenseitige und unmittelbare Bekundung des Ehewillens als Vertragsschluss, bewirkte bereits das gültige Sakrament der Ehe, doch vor der körper-

lichen Vereinigung (copula carnalis), die anschließend während der Ehe als eheliche P icht (debitum coniugale) begriffen wurde, konnte diese Ehe durch das Urteil des geistlichen Gerichts oder durch päpstlichen Dispens aufgehoben werden; danach war sie unau öslich. Rechtlich verbindlich war sowohl die kirchliche als auch die weltliche Eheschließung, sofern dieser Abschluss nicht im Widerspruch zu kanonischen Vorschriften vorgenommen wurde. In bestimmtem Umfang eröffnete die Kirche auch Dispensmöglichkeiten. Das IV. Laterankonzil von 1215 verbot die klandestine Ehe (matrimonium clandestinum) und verlangte, dass der bevorstehende Abschluss einer Ehe vom Priester in der Kirche vor der Gemeinde öffentlich angekündigt wurde, damit, unterstützt durch die öffentliche Kenntnisnahme und eventuellen Widerspruch, geklärt werden konnte, ob das auf dem Konzil zugleich genau de nierte Ehehindernis der Blutsverwandtschaft und Schwägerschaft eventuell vorlag. Hinzu trat dann die spätere Segnung des Ehebundes durch den Priester. Die ohne Aufgebot geschlossene Ehe blieb aber trotz des Verbots klandestiner Ehen wegen des konstitutiven Konsenses gültig, doch konnte die ohne Zeugen geschlossene Ehe vor Gericht bei Matrimonialprozessen auch nicht bewiesen werden, wenn eine Seite den Konsensaustausch später leugnete. War die Ehe zwar grundsätzlich unau öslich, so bot jedoch die Lehre von den trennenden Ehehindernissen der kirchlichen und kurialen Praxis die nicht selten missbräuchlich genutzte Möglichkeit, bestehende Ehen nachträglich zu annullieren, genau besehen bei entsprechender Qualität des Hindernisses festzustellen, dass die Ehe überhaupt nicht rechtsgültig geschlossen worden war. Derartige kanonische Ehehindernisse waren Zwang und Furcht bei der Eheschließung, Wahnsinn, bleibende unheilbare Impotenz als Grund für die Nichterfüllung des Ehezwecks der Fortp anzung, Unmündigkeit, Blutsverwandtschaft (consanguinitas) und Schwägerschaft (affinitas) einschließlich des vierten Grades, geistliche Verwandtschaft (cognatio spiritualis) zwischen Täu ing

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und Taufspender oder Taufpaten und ein schon bestehendes Eheband (ligamen), was zum Problem wurde, wenn der legitime Gatte verschollen und nicht mit Sicherheit tot war. Kirchenrechtlich zulässig war hingegen die räumliche ›Trennung von Bett und Tisch‹ (divortium quoad torum et mensam), die Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft (cohabitatio) wegen Ehebruchs (adulterium), lebensgefährlicher physischer Grausamkeit und Misshandlung (saevitia) oder wegen des Ordenseintritts (votum sollemne) eines Partners. Die Kirche verlangte, dass sich Gatten nicht eigenmächtig trennten, sondern sich einem Verfahren vor dem geistlichen Gericht unterwarfen. Nachdem zunächst bei Gratian noch in Nachwirkung des römischen Rechts nur der Mann klagen durfte, wurde bald ein gleichberechtigtes beidseitiges Klagerecht hergestellt. Zu den eherechtlichen Grundsätzen gehörten die Monogamie, eheliche Treue und als wesentlicher Ehezweck der Ehe die Erzeugung des Guts der Nachkommen (bonum prolis). Die Städte gingen mit Statuten und Sanktionen gegen damals leichter zu bewerkstelligende todeswürdige Bigamie oder gar Trigamie und gegen das offene Zur-Unehe-Sitzen, gegen Konkubinate und wilde Ehen, vor und regelten die bei der Au ösung von Konkubinaten auftretenden güterrechtlichen Fragen. Das ehegemäße Zusammenleben nach Rechten, P ichten und sittlich-moralischen Normen lehrten Prediger und Beichtväter, Beichtspiegel und »Ehebüchlein« wie das bekannte des Albrecht von Eyb von 1474. Für Ehesachen, welche die Begründung und den Fortbestand der Ehe und die kanonischen Vorschriften der Ehemoral betrafen, war grundsätzlich die geistliche Gerichtsbarkeit zuständig, die wie das kanonische Recht auf das Seelenheil (salus animarum) ausgerichtet war, doch erfolgte etwa in Göttingen die Trennung von Tisch und Bett noch bis 1441 im Verfahren vor dem Rat. Die städtische Gesetzgebung und das über seine Satzungen judizierende Ratsgericht traten in Erscheinung, wenn die ehelichen Besitzverhältnisse berührt waren, der Familienbesitz et-

wa durch Ehebruch, heimliche Ehen oder durch Ansprüche außerehelicher Kinder bedroht, Gewalt in der Ehe geübt und Notzucht zur Erzwingung einer (standeswidrigen) Ehe verübt wurde und Frieden und Ordnung der Stadt ferner dadurch betroffen waren, dass unmündige Kinder verführt, entführt und verheiratet, Ehefrauen eines anderen entführt oder fälschlich Eheversprechen behauptet wurden. Gelegentlich kam es hinsichtlich der Abgrenzung von Zuständigkeiten zu Spannungen zwischen dem bischö ichen Offizialat und dem Rat. Ehebruch wurde sowohl im weltlichen als auch im kirchlichen Recht bestraft. Das ehebrecherische Verhalten des Mannes blieb im weltlichen Recht zunächst bußlos und ohne strafrechtliche Folgen, doch konnte gegen den Ehebrecher Rache geübt werden. Als die Ehe von der Kirche zu den Sakramenten gezählt wurde, war Ehebruch ein Religionsverstoß und konnte, da nur die Ehe eine sexuelle Verbindung erlaubte, auch vom Ehemann begangen werden. Das weltliche Recht sanktionierte den offenen Ehebruch (overhure) der Frau und die handhafte Tat im Landrecht des »Sachsenspiegels« (II, 13 § 5) und anderen Rechten mit der Todesstrafe. Erst im Spätmittelalter wurde vornehmlich in Stadtrechten auch der Ehebruch des Mannes ausdrücklich unter Strafe gestellt, in der Regel aber mit milderen Strafen bedroht, bis die »Peinliche Halsgerichtsordnung« von 1532 (Carolina) den Ehebruch des Mannes und der Frau gleichstellte. Kirchliche Instanzen waren gehalten, Anzeigen wegen Ehebruchs genauer zu untersuchen. Es wurden kanonische Bußen oder eine Geldstrafe verhängt, an deren Stelle der Pranger oder eine öffentliche Prozession im Bußgewand traten, falls die Geldstrafe wegen Armut nicht gezahlt werden konnte. Leibesstrafen waren ausgeschlossen. Ehebrecher, die sich nicht besserten, konnten für längere Zeit exkommuniziert werden. Klagen auf Trennung der Ehe im Sinne der zunächst befristeten Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft (divortium), die allerdings von den Getrennten Enthaltsamkeit verlangte, wurden in Matrimonialprozessen in erster Li-

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nie mit Ehebruch, weniger häu g mit Misshandlungen begründet. Im ersten Fall strengten nach vorliegenden Statistiken überwiegend Frauen wegen Ehebruchs des Mannes Klagen an, im zweiten Fall fand sich naturgemäß nur eine kleine Anzahl von Frauen unter den Beschuldigten. Stellte es sich heraus, dass beide Partner Ehebruch begangen hatten, wurde kompensatorisch aufgerechnet, und die eheliche Gemeinschaft war fortzuführen. Verschiedentlich trennten sich Paare auch ohne gerichtliche Erlaubnis. Geklagt wurde aber nicht nur auf Trennung, sondern auch auf Zuerkennung. Die Klagen auf Zuerkennung zielten darauf ab, bei klandestinen Ehen oder Eheabsprachen einen legitimen Ehegatten zuerkannt zu bekommen, ein bestehendes Verhältnis zu legitimieren oder in einer Kombination von Klagen wenigstens eine nanzielle Entschädigung für die De oration oder Ersatz für die Kosten der Geburt eines Kindes sowie Leistungen zu dessen Unterhalt zu erlangen. Hinzu kommen Klagen auf Aufnahme oder Wiederaufnahme der ehelichen Lebensgemeinschaft, wenn in einem ersten Verfahren eine Ehe anerkannt worden war, ein Partner aber das Zusammenleben verweigerte oder nach gerichtlicher Ehetrennung eine Partei die Wiederaufnahme erzwingen wollte. Von untergeordneter Bedeutung, aber meist erfolgreich waren Sponsalienprozesse, die eine Au ösung des Verlöbnisses anstrebten. Die Semantik der Erwartungen an eine gelungene Ehe und misslicher Eheverhältnisse ist der Selbstbiogra e des in Memmingen geborenen und in Augsburg gestorbenen Burkard Zink (1396–1474/75) zu entnehmen. Zink begann so gut wie mittellos seinen selbständigen Lebensweg, der ihn als Beispiel mittelalterlicher Mobilität 1407 von Memmingen aus in die Krain, wo er sich sieben Jahre aufhielt und zur Schule ging, nach Augsburg, Ulm, Nürnberg, Bamberg, Würzburg und wieder nach Augsburg führte. Seine Berufs ndung nach dem Schulbesuch gestaltete sich schwierig, da er nicht wie ein Förderer ihm riet, in Wien studieren und Geistlicher werden wollte, sondern sich in verschiedenen Handwerksberufen umsah. Er hei-

ratete im Unterschied zu anderen so gut wie vermögenslose Frauen, stieg schließlich über Dienste als Schreiber durch die Stellung eines Waagmeisters beim Augsburger Handelsherrn Peter Egen, als Handelsdiener im Venedighandel, durch eigene Handelsgeschäfte und die Assoziierung mit der Augsburger MeutingGesellschaft wirtschaftlich und sozial auf. Zink hatte eine Vielzahl ehelicher, oft bald wieder gestorbener Nachkommen und zwei uneheliche Kinder. Als er 1420 zum ersten Mal heiratete, besaß er gute Kleidung, aber wenig Bargeld. Seine Frau Elisabeth Störkler, die Tochter einer armen Witwe, brachte nur ein kleines Bett und ein wenig Hausrat im Wert von veranschlagten zehn Pfund Pfennigen in die Ehe ein. Er verlor die Huld seines Dienstherrn, weil er ihn wegen der Eheschließung nicht um Rat gefragt hatte, und wusste daher, allein auf sich gestellt, nicht, wie er es nun anfangen sollte. Doch was mir das weib lieb und was gern bei ihr, und bedacht mich mit meiner hausfrauen, die was mir auch hold und trost mich und sprach: »mein Burkhart, gehab dich wol und verzag nit, laß uns ainander helfen, wir wöllen wol außkomen; ich will an dem rad spinnen und will all wuchen wol 4 [Pfund] woll aufspinnen, das ist 32 dn. [Denare]. Burkard Zink seinerseits wollte nun als Verdienstmöglichkeit Schreibdienste bei einem Geistlichen übernehmen. Als seine Frau Elisabeth nach zwanzigjähriger Ehe 1440 starb, sprach er von einer Ehe in rechter freuntschaft und davon, dass sie beide tugentlich und freuntlich mit ainander gelept und er [Ehre] und guet gewunnen hätten. Seine zweite Ehefrau, die er 1441 heiratete, war eine arme Witwe eines Edelmanns, der aber hoch verschuldet gestorben war und kein Erbe hinterlassen hatte. Sie hatte zwei Kinder und besaß, wie auch diese, nicht einmal die nötigste Kleidung. Die Witwe nahm den Heiratsantrag frohen Herzens an und versprach, sie wolle Zink gern haben und alles zu tun, was er wolle, ihm untertänig und gehorsam zu sein und nichts von ihm zu verlangen, was nicht sein freier und guter Wille sei, ihn und seine Kinder in Ehren zu halten und seinen Kinder wie eigenen zugetan zu sein. Angesichts dieser Gutwilligkeit

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ge el ihm die Frau noch mehr als zuvor. Mit ihr lebte er sieben Jahre in Freundschaft zusammen. Sie erwies sich, wie die Leute sie gegenüber Zink schon gerühmt hatten, als schön, frum, tugenthaft und span fast [eifrig] und hett meine kind gar schon, d. h. behandelte sie gut. Nach dem Tod seiner zweiten Frau lebte er zunächst 4½ Jahre als Witwer mit einem törichten Fräulein zusammen, mit dem er zwei uneheliche Kinder hatte, das ihn allerdings bestahl, wo immer es konnte. Als er das Verhältnis und das unglückliche (elende) und sündhafte Leben ohne selbstlose Treuebeziehung beenden wollte, klagte die Lebensgefährtin vor dem geistlichen Chorgericht auf versprochene Ehe mit dem Ziel, wie Zink angibt, in gütlichen Verhandlungen Geld von ihm zu bekommen. Zink ließ sich darauf aber nicht ein und wurde vom Gericht von der Klage freigesprochen. Im Jahre 1454 heiratete er zum dritten Mal, dieses Mal die Tochter einer Krämerwitwe, und lebte mit seiner Ehefrau bis zu deren Tod im Kindbett fünf Jahre in ganzer Freundschaft und mit Lieb zusammen. Mit seiner vierten Ehe, die er im Alter von 65 Jahren einging, hatte er wenig Glück, denn er erfuhr in ihr mehr Unliebs und Übels als in allen seinen früheren Tagen.¹⁴¹⁶ 8.1.3.2 Eheliches Güterrecht und Erbrecht Der Ehemann hatte das Gut, das die Frau in die Ehe einbrachte oder in der Ehe durch Erbschaft, Schenkung oder sonstige Rechtsgeschäfte erwarb, in seiner Gewere (Sachherrschaft), aufgrund der er auch die ehelichen Güter verwaltete. Ausgenommen war nur das Sondergut der Frau, über dessen Bestimmung eine vertragliche Abrede erforderlich war. Nur zur Verfügung über Liegenschaften der Frau bedurfte der Mann meist der Zustimmung oder Mitwirkung der Frau oder des besonderen Grundes der echten Not. Das Freiburger Stadtrechtsprivileg bestimmt in den Zusätzen nach 1120 hinsichtlich des ehelichen Güterrechts, dass jede Frau

dem Mann gleichgestellt sein soll (pari cabitur) und umgekehrt, jeder Mann der Erbe der Frau sein soll und umgekehrt, dass aber der Ehemann zu Lebzeiten seiner Frau nach seinem Willen über ihren Besitz verfügen kann. Die rechtliche Gleichstellung von Ehefrau und Ehemann ndet sich dort auch unter Rückgriff auf den deutschen Ausdruck in der generellen Formulierung, dass in dieser Stadt jede Frau ›Genossin‹ (genoz) des Mannes ist und der Mann der Genosse der Frau.¹⁴¹⁷ Diese Sätze stellen jedoch in einer Welt engerer und weiterer Rechtskreise, die ihre eigenen Lösungen nden, kein allgemeines Recht dar. So erbte nach einer Rechtsweisung der Magdeburger Schöffen für Breslau von 1261 die Frau nur diejenigen Liegenschaften, die ihr der Mann vor gehegtem Ding, d. h. vor dem Schöffengericht, überschrieben oder zu Lebzeiten als Leibgeding gegeben hatte.¹⁴¹⁸ In Stadtrechten wie dem lübischen Recht war der Brautschatz (Mitgift) unter bestimmten Voraussetzungen gefreit. Wenn der Ehemann bei unbeerbter, d. h. kinderloser Ehe starb, wurde der Brautschatz aus dem Nachlass herausgezogen, und nur der Rest wurde mit den Erben geteilt. Die Frau konnte bei Lebzeiten des Mannes die Herausgabe des Brautschatzes, der grundsätzlich nicht gemindert werden durfte, bei Schulden ucht, Überschuldung oder bei der ihn gefährdenden Verschwendungssucht des Mannes verlangen. Die Frau haftete mit ihrem Brautschatz für Mannesschulden nicht bei unbeerbter, wohl aber bei beerbter (bekindeter) Ehe. In Köln hingegen war der Brautschatz (Heiratsgut) nicht gefreit; beide Ehegatten hafteten grundsätzlich gleichmäßig und zwar über den Tod hinaus. Nur schwer anhand heutiger Güterrechtssysteme zu beantworten ist die Frage, ob es in einzelnen Städten zu Lebzeiten der Eheleute Gütertrennung oder eine allgemeine Gütergemeinschaft gegeben habe. Wichtiger als die nach römischrechtlichen und modernen Kategorien abstrakte Eigentumsfrage war, wer über

1416 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 5, S. 128 f., 137f., 138–140. 1417 B.-U. H (Hg.), Quellen zur Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 22, S. 144; 132, 134. 1418 Ebd., Nr. 43, S. 294.

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das Gut verfügen durfte, die Gewere innehatte, und wer es nach dem Tod des Ehegatten erhielt. Ehepaare trafen auch beiderseitige Verfügungen als Instrument gegenseitiger Altersvorsorge, indem sie, eine Gütergemeinschaft begründend, die gemeinsame Verfügung über das gesamte in eine Gemeinderschaft eingebrachte Vermögen und eine wechselseitige Erbeinsetzung über das Gut vereinbarten.¹⁴¹⁹ In Lübeck und im Bereich des lübischen Rechts bildeten Eltern und Kinder in Form der samende eine Vermögensgemeinschaft, die in der Regel erst nach dem Tode eines Elternteils Bedeutung erlangte, so etwa, wenn der überlebende Teil wieder heiratete.¹⁴²⁰ Das Erbrecht beim Tod eines Ehegatten unterschied meist zwischen der kinderlosen (unbeerbten) und der bekindeten (beerbten) Ehe und verfuhr nach Fahrnis und Liegenschaften verschieden. Unterschiedliche Regelungen konnten für verschiedene Vermögensteile getroffen werden, so – in unterschiedlicher Bezeichnung – für Gerade, d. h. die der Frau zustehende persönliche und gewöhnliche Habe (Kleider, Schmuck etc.), und Heimsteuer (Aussteuer, Mitgift/ dos) der Braut, Wittum (dos) und Morgengabe als Widerlegung des Mannes, in der Ehe von der Frau erb- oder schenkungsweise erlangte Güter, Kaufgut im Unterschied zum Erbgut. Ferner konnte es erheblich sein, wer von den Eheleuten zuerst starb und ob sich der überlebende Teil später wieder verheiratete. Söhne und Töchter waren im Erbrecht fast überall gleichgestellt, nicht erbberechtigt waren uneheliche Kinder, die grundsätzlich keiner Familie angehörten. Dies ging vornehmlich auf die Kirche zurück, die aufgrund ihres Dogmas der Einehe außereheliche Verbindungen bekämpfte.

8.1.3.3 Hausherrliche Gewalt, Vormundschaft und rechtliche Stellung der Frau Die Herrschaftsgewalt des Hausherrn gegenüber seiner Familie als eheherrliche und als väterliche Gewalt oder die Vormundschaft über die im Hause lebenden Verwandten wurden mehr und mehr von der Vorstellung eines Schutzverhältnisses sowie der ehelichen Genossenschaft und der wohlwollenden oder liebevollen Partnerschaft zurückgedrängt.¹⁴²¹ Dem Hamburger Stadtrecht gemäß durfte der Ehemann jedoch seine Ehefrau züchtigen oder schlagen, falls sie es verschuldet hatte; schlug er sie jedoch tot, sollte er es mit seinem Leib büßen (Art. IX, 29). Im spätmittelalterlichen Konstanz wurden gewalttätige Übergriffe gegen die Ehefrau oder Kindesmisshandlungen selten oder gar nicht geahndet; »hier hatte der obrigkeitliche Strafanspruch seine sozialen Grenzen«.¹⁴²² Dass aber die Herrschaftsverhältnisse zwischen Ehemann und Ehefrau in Wirklichkeit umgekehrt, die natürliche Ordnung ›verkehrt‹ sein konnte, zeigen Rügebräuche, ferner novellistische Literatur und bildliche Darstellungen zur Hausherrschaft der Frau. Die väterliche Gewalt beinhaltete ein Erziehungs- und Züchtigungsrecht, die Verwaltung und Nutzung des Vermögens der Kinder, aber auch eine Unterhaltsp icht und die Haftung für Delikte der Kinder. Die Ehefrau erhielt durch die Schlüsselübergabe einen Anteil an der hausherrlichen Gewalt. Im Formularbuch für den Nürnberger Stadtschreiber nden sich aber auch Musterbriefe, die Misshandlungen der Eltern durch Kinder zum Gegenstand haben. Ursprünglich standen die Frauen grundsätzlich, aber nicht in jedem Fall, unter der Geschlechtsvormundschaft eines Mannes, die alleinstehende Frau unter der eines Verwandten,

1419 H. E, Konstanzer Institutionen des Familien- und Erbrechts; G. S, Versorgen – Vererben – Erinnern; C. R, »Eine Behörde – ein Buch«? (4.5). 1420 W. A, Die »samende«. 1421 Grundlegende ältere Arbeiten zur rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Stellung der Frau: K. B, Die Frauenfrage; ferner J. H, G. K. S, H. W. Neuerdings siehe vor allem E. E (u. a. Frauen im Mittelalter), B. H-L, P. K, B. K, E. U, M. W, K. W. 1422 P. S, Eine Stadt vor Gericht (4.7), S. 315.

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die Ehefrau unter der eheherrlichen Vormundschaft des Ehemannes. Der männliche Vormund übernahm die gerichtliche Vertretung der Frau und hatte die Zustimmung zu Verfügungen der Frau über ihr Vermögen zu erteilen. Die Stadtrechte regelten allerdings die Handlungsund auch Rechtsfähigkeit der Frau nach Ort und Zeit in unterschiedlicher Weise. Ehefrau und Tochter waren in der Stadt grundsätzlich in gleichem Maße erbberechtigt. Die Geschlechtsvormundschaft des Mannes über die Frau fehlte etwa in Köln, Regensburg und München, sie ist für Konstanz und Göttingen fraglich, ndet sich hingegen in Lübeck und Magdeburg. Vielerorts konnte die Frau Prozesse nicht selbst führen und benötigte den Ehemann oder einen verwandten Mann als Beistand oder einen besonderen Prozessvormund; wohl aber war sie nachweislich in Basel und Frankfurt am Main eigenständig prozessfähig, während in Nürnberg andererseits der Fall belegt ist, dass eine Katharina anstatt und von wegen ihres Ehemannes (Wirt), eines Magisters, in einer Schuldsache mit eigenen Einlassungen vor Gericht auftrat.¹⁴²³ Alleinstehende Frauen und Witwen erlangten in späterer Zeit verschiedentlich die Vormundschaft über ihre unmündigen Kinder, durften Verträge abschließen, selbständig vor Gericht erscheinen, Grundbesitz und Hauseigentum erwerben und veräußern. Nach lübischem Recht und anderen Stadtrechten durften die Frauen ihre Güter nicht ohne ihren Vormund verpfänden, verkaufen oder weggeben; ihre Verp ichtungsfähigkeit und Haftung ohne Vormund war auf Pfenniggeschäfte, tägliche Kleingeschäfte von 2½ oder 3 bis 3½ Silberpfennigen, beschränkt. In Lübeck galt die Geschlechtsvormundschaft bis 1869. Unbeschränkt verp ichtungsfähig und mit ihrem ganzen Vermögen haftend, von der Vormundschaft im Geschäftsverkehr wie im Prozess befreit war hingegen die Kauffrau, die gewerbsmäßig zu Gewinn und Verlust kaufte und verkaufte, selbst wenn es sich nur um ein ar-

mes Hökerweib handelte. Sie war deshalb auch verschuldens- und konkursfähig. Für die verheiratete Kauffrau galt die Brautschatzfreiung nicht, mit ihrem Ehemann bildete sie eine Haftungsgemeinschaft und haftete auch mit Brautschatz und freiem Sondergut. Aber selbst die Kauffrau konnte ohne Erben- und Vormünderkonsens von ihrem wohlgewonnenen Gut nach lübischem Recht kein Testament machen. Während andere Stadtrechte den Frauen ausgehend von einer verminderten Strafmündigkeit der Frau Strafmilderung zuerkannten, galt dies infolge der hohen Rechtsfähigkeit der Frau in Köln nicht. Politische Berechtigung, Wahlrecht und Amtsfähigkeit im Rahmen der Ratsverfassung, hatte die Frau allerdings in keiner Stadt. Der Hausherr vertrat Familie und Haus nach außen. Die Mündigkeit der Kinder weiblichen und männlichen Geschlechts trat mit 12 oder 14 Jahren schon frühzeitig ein, in Lübeck bei den männlichen Abkömmlingen jedoch erst mit 18 Jahren; außerdem wurde unverheirateten 18 bis 25-Jährigen gelegentlich ein Beisorger (curator) zur Seite gestellt. Der Mündigkeitstermin wurde in der frühen Neuzeit vielfach bis zum 20. Lebensjahr hinausgeschoben. In Rottweil wurden Kinder männlichen Geschlechts mit 15 Jahren deliktfähig; sie konnten im Alter von 16 Jahren am jährlichen Schwur der Gemeinde teilnehmen und mit 18 das volle Bürgerrecht erwerben.¹⁴²⁴ In Straßburg hatten sie im 14. Jahrhundert im Alter von 20 Jahren (1334), später von 18 Jahren (1349) den jährlichen Eid auf den Schwörbrief abzulegen. Die väterliche Gewalt endete jedoch grundsätzlich nicht mit der Mündigkeit, sondern erst mit dem tatsächlichen Ausscheiden aus dem väterlichen Haushalt, meist bei Eingehen einer Ehe; es war auch die Frage, ob es für die Abschichtung, das Ausscheiden aus der väterlichen Munt, eines förmlichen Aktes bedurfte. Aus dem Zusammenleben im Haus resultierte die wichtige Frage nach der Haftung von Schulden der Hauskinder, gegen

1423 E. I, Gelehrte Juristen und das Prozeßgeschehen (4.7), S. 404–407. 1424 J. L, Reichsstadt Rottweil (2.5.3–2.5.4), S. 216 f.

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die gemäß der Regelung in städtischen Statuten und unter Rückgriff auf das römische Recht (Senatusconsultum Macedonianum) von den Eltern Einreden vorgebracht werden konnten.¹⁴²⁵ Vormund der Kinder war nach dem Tode des Vaters der nächste männliche (agnatische) Verwandte des Vaters, in Reihenfolge dann derjenige der Mutter. Auch ndet sich der vom Vater bestimmte gekorene Vormund. Um Missständen entgegenzuwirken setzte im 15. Jahrhundert der Rat einen Vormund ein, sodass ein Mündel zur Sicherung seiner Rechte nunmehr zwei Vormünder erhielt. Seit dem 14. Jahrhundert wurde vom Vormund, der das Gut des Mündels nicht mindern durfte, eine Rechnungslegung zunächst bei Beendigung der Vormundschaft, später in einigen Städten zusätzlich zweimal jährlich und eine Inventarisierung bei Beginn der Vormundschaft verlangt. Bei Missbräuchen schritt der Rat ein, der eine allgemeine Aufsicht über die Vormünder ausübte. Anstelle der Nutzung des Vermögens des Mündels wurde dem Vormund nur noch ein Entgelt für seine Tätigkeit zugebilligt. In München durfte der Vormund über Liegenschaften des Mündels nur mit Zustimmung des Rates verfügen. Angesichts der hohen Sterblichkeit kam neben dem Vormund auch den Paten, über die sich auch eine künstliche familiäre Bindung herstellen ließ, eine wichtige Rolle für das Schicksal von Kindern zu. 8.1.3.4 Hauswirtschaft und beru iche Erwerbstätigkeit der Frau Die Hausfrau oder Ehewirtin nahm in Familie und Haus eine in Wirtschaft und Erziehung zentrale und in ihrer Leistung geachtete Rolle ein. Die Frau wirtschaftete in einem umfassenderen Sinne; sie arbeitete je nach Schichtzugehörigkeit in Küche, Keller, Garten und Stall und produzierte Gebrauchsgüter für die Bedarfsdeckung des Haushaltes. Dazu gehörte gelegentlich noch die Anfertigung von Kleidung von der Flachsbereitung und Schafschur und dem

Spinnen bis zur Verarbeitung selbst gefärbter und selbst gewebter Stoffe, das Töpfern von Gefäßen, das Kerzengießen, das Backen von Brot und das Brauen von Bier. Überschüsse durften teilweise auf dem Markt verkauft werden. Einen Nebenverdienst erbrachte vor allem das Spinnen von Wolle. Eine außergewöhnlich hohe Rechts- und Handlungsfähigkeit besaß die Frau in Köln; entsprechend beachtlich war ihr Anteil am Kölner Wirtschaftsleben.¹⁴²⁶ Die Ehefrau eines Bürgers besaß gleichfalls das Bürgerrecht, als Neubürgerin leistete die Frau den Bürgereid. Das Zeugnis der Frau hatte hier hatte hier volle Gültigkeit; im Wirtschaftsleben gaben Frauen Eigentumserklärungen und andere eidliche Aussagen ab, sie testierten gleichermaßen wie der Mann. Frauen fungierten als Treuhänder, Vormünder für eigene oder fremde Kinder, Testamentsvollstrecker und Bürgen. Sie traten als Pächter und Mieter auf und schlossen als Ehefrauen gemeinsam mit dem Gatten Verträge, durch die Ämter (Unterkauf ) und Rechte (Zoll), welche die Stadt im Rahmen der Wirtschaftsverwaltung vergab, verpachtet oder verkauft wurden. Die Ehefrau haftete mit bei Pacht- und Mietverträgen, Grundstückskäufen, Handels- und Geldgeschäften. Frauen trieben auf eigene Rechnung, als Ehefrauen häu g gemeinsam mit ihren Ehemännern, Handel; im Rahmen der Zünfte gingen sie in Lohnarbeit oder als Meisterinnen handwerklichen Tätigkeiten verschiedenster Art nach. Kauffrauen hatten in Köln 1460 bis 1469 einen Anteil von 10 Prozent am Handel mit Blei; die Kauffrau Cathringin Broelmann führte 1497 bis 1511 fast 20 Prozent des Stahlimports durch. Außer im Großhandel, häu ger im Kleinund Kleinsthandel (Hökerei) und im Handwerk, nden sich Frauen in städtischen Diensten im Geldwechsel, in der Aufsicht über die Stadtwaage, als Zöllnerinnen, Unterkäuferinnen (Maklerinnen), Taxatorinnen und Gerichtskäuferinnen (Keu erinnen), die als ver-

1425 E. I, Gelehrte Juristen und das Prozeßgeschehen, S. 405–408. 1426 M. W, Die Stellung der Frau in der stadtkölnischen Wirtschaftsgeschichte.

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eidigte Sachverständige in Pfandangelegenheiten bei gerichtlichen Auseiandersetzungen, bei Pfändung, der Inventarisierung der Habe geüchteter Schuldner und erbenloser Nachlässe den Wert der Gegenstände beurteilten, gelegentlich auch in amtlichem Auftrag gegen Provision Kleidung und Gegenstände des Hausrats verkauften. Frauen waren in städtischen P egeämtern, als Turm- und Torwächterinnen, Schweine- und Gänsehirtinnen, in Heilberufen als nicht studierte, empirische Ärztinnen, Hebammen und P egerinnen tätig, ferner als Schulmeisterinnen, Schreiberinnen, Malerinnen und Briefdruckerinnen. Eine Vielzahl von Frauen verdingte sich als Bademägde in den Badestuben (Reiberinnen), Wäscherinnen und vor allem als Dienstmägde in den Haushalten. Für Frankfurt hat Karl Bücher insgesamt 65 Berufe ermittelt, die allein durch Frauen ausgeübt wurden. In Köln gab es einige reine Frauenzünfte. Eine nicht fassbare Anzahl von Frauen arbeitete selbständig im Rahmen von Zünften wie im 14. und frühen 15. Jahrhundert im Straßburger Tuchgewerbe, gelegentlich auf bestimmte Tätigkeiten beschränkt wie im Schneidergewerbe auf das Nähen. Überwiegend jedoch übten Frauen außerzünftige Tätigkeiten aus. In vielen Städten ndet sich gewerbsmäßige Prostitution. Die berufstätige Ehefrau trug zum familiären Wohlstand bei. Es kam auch vor, dass der Ehemann neben seinem gewerblichen Beruf noch eine Nebentätigkeit etwa in städtischen Diensten ausübte und sich dazu in der gewerblichen Tätigkeit zeitweise durch die Ehefrau vertreten ließ. Als eine Tätigkeit, die von der Frau neben der Haushaltsführung betrieben werden konnte, eignete sich insbesondere die Hökerei. Vor allem alleinstehende Frauen übten den Kleinhandel auf dem Markt mit dem Verkauf von Lebensmitteln verschiedenster Art wie Gemüse, Eier, Hühner, Heringe und Dörr sch, Altkleidern, Garn, Federn, Seife oder Kerzen aus. Saisonal betätigten sich Frauen als Lohnarbeiterinnen im Reb- und Gartenbau. Auch in Gewerben, die eine Vielzahl von Arbeits-

kräften benötigten, wie Kistenmacher, Böttcher und Versandpacker, wurden Frauen beschäftigt. Frauen wurden im Tagelohn auch bei schweren und schmutzigen Arbeiten eingesetzt.¹⁴²⁷ Sie reinigten im Hamburger Kalkhof die Fässer, in denen Rohkalk angeliefert worden war, fegten in Lübeck den Marktplatz, bereiteten in der Hitze der Salinen die Holzscheite für die Verkohlung vor und trugen die Holzkohle zu den Siedeöfen. Frauen arbeiteten in nahezu allen nichtzünftigen Gewerben bis hin zum Baubetrieb und in Steinbrüchen. Meistens erhielten sie nur etwa die Hälfte des männlichen Lohns. Bei einem Überangebot an Arbeitskräften el ihr Lohn, so bei den Wäscherinnen Basels von 1440 bis 1470 in Stufen von 18 auf 12 Pfennige. Der Basler Rat gab 1392 und später arbeitslosen Frauen Baumwolle zum Spinnen. Als Tagelöhnerinnen bei Arbeiten auf dem Feld und in Weinbergen wurden die Frauen unmittelbar nach der Ernte oder Weinlese nicht mehr gedingt, während die Männer noch für schwere Arbeiten weiter beschäftigt wurden. Armut rückte die Frau in den Verdacht der Prostitution. Die Lebenssituation alleinstehender Frauen war oft drückend; sie stellten einen überproportionalen Anteil an Armen und Bedürftigen. Nach der Basler Steuerliste von 1453/54 betrug der Anteil der Frauenhaushalte auf das gesamte Stadtgebiet bezogen 21,5 Prozent mit einer Massierung in den Randlagen abseits der Verkehrsachsen; nach der Steuerliste von 1446 waren 75 Prozent der weiblichen Haushaltsvorstände alleinstehend und überwiegend arm. Ehefrauen halfen in den Handwerksbetrieben mit und besorgten den Absatz der Produkte auf dem Markt. Sie übernahmen die kaufmännische Buchführung im Handelskontor, während sich der Ehemann auf Geschäftsreisen befand. Ein bekanntes Beispiel bietet Margarete Runtinger, die Ehefrau des bedeutenden Regensburger Fernkaufmanns Matthias Runtinger († 1407). Sie war an der Buchführung beteiligt und übernahm eine Zeit lang fast völ-

1427 E. S, Erscheinungsformen der Armut (7.3–7.5), S. 693–695.

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Sozialformen und Sozialgruppen

lig selbständig die Verrechnung des von der Stadt übertragenen Geldwechsels. Als sich ihr Ehemann durch Altersbeschwerden bedingt immer mehr aus dem Geschäftsleben zurückzog, übernahm sie in steigendem Maße die Buchund Geschäftsführung. Agnes Praun, die Frau des Nürnberger Kaufmanns Hans Praun, führte gleichfalls die Geschäfte in Nürnberg weiter, wenn ihr Ehemann unterwegs war. Sie hat verkauft, hat das Geld eingenommen und kleinere Darlehen vergeben, wie im Rechnungsbuch (1471–1478) vermerkt wird. Beim Ableben des Ehemannes führte häu g die Ehefrau die Handelsgeschäfte oder den Handwerksbetrieb zumindest einige Zeit weiter. Viele Frauen und Töchter der gehobenen Schichten und insbesondere berufsbedingt die Kauffrauen konnten lesen, schreiben und rechnen. In diesen Kreisen gab es vermutlich keine großen Unterschiede zwischen der Knabenund der Mädchenbildung, soweit sie an den Stadt- und Klosterschulen erworben wurde. Da den Mädchen jedoch das Universitätsstudium vorenthalten blieb, konnten sie keine akademischen Berufe im engeren Sinne ergreifen. In dem siebten Kapitel der »Norimberga« über die Mentalität der Nürnberger Männer und Frauen führt der Humanist Konrad Celtis zum Lob der Frauen der Oberschicht Nürnbergs aus, sie widmeten sich nicht ausschließlich der P ege und Aufzucht der Nachkommenschaft, die sie aber anders als es sonst in Deutschland Brauch sei, mit hingebungsvoller Zärtlichkeit und liebevollster Zuwendung erzögen. Sie seien umsichtig bei der Regierung und Lenkung ihres Hauswesens (familia), verstünden sich auf den Handel, das Rechnen, die Musik, beherrschten die lateinische Schrift und Sprache und seien in literarischen Dingen bewandert. Deshalb seien sie auch mit sitzend zu erledigenden Tätigkeiten beschäftig.

8.1.3.5 Kinder und Kindheit Mit den Kindern beschäftigten sich Ökonomiken (Hausbücher), Ehe-, Erziehungs-, Gesundheits- und Ernährungslehren (regimina), Lehrbücher der Medizin, Naturlehren und »Spiegel des Wissens«, ferner Predigten, Chroniken und Familienchroniken, Lebensbeschreibungen und Autobiogra en, Dichtungen, ständekritische Didaxen wie Sebastian Brants »Narrenschiff« und Privatbriefe im familiären und verwandtschaftlichen Zusammenhang.¹⁴²⁸ Aufschlüsse über Kinder ergeben ferner Bildquellen und teilweise alters- und geschlechtsspezi sches Kinderspielzeug oder Hilfen für das Laufenlernen. Kinder wurden durchaus in ihrer Eigenständigkeit gesehen und keineswegs, wie etwa Philippe Ariés meint, nur als kleine Erwachsene betrachtet. Die Kindheit (infantia) war in Übernahme antiker Vorstellungen eine bestimmte Altersstufe, die um das siebte Lebensjahr endete, darauf folgte die Knabenzeit (pueritia) mit weiteren sieben Jahren. Die Jugendzeit (adolescentia), die weniger schematisch und eindeutig zwischen dem zehnten und fünfzehnten Lebensjahr angesetzt wurde, bedeutete bereits den Übergang ins Erwachsenendasein, während die beru iche Ausrichtung und das Arbeitsleben vielfach schon früher begannen. Der Schulunterricht begann im sechsten oder siebten Lebensjahr und markierte nach der Phase der Unselbständigkeit und Hilfsbedürftigkeit einen wichtigen Einschnitt in der Erziehung und Wissensvermittlung; relativ früh wurde ein eventuelles Studium aufgenommen. Schule, Lehre und Studium oder die Aussteuer für die Mädchen bedeuteten erhebliche Investitionen in die Kinder. Für die Kinder erfolgte ein wesentlicher Abschnitt ihrer Sozialisation in der Hausgemeinschaft, wo sie frühzeitig mit der Arbeitswelt in Berührung kamen. Den Beruf ihres Vaters erlernten die Handwerkersöhne jedoch in der Regel außer Hauses bei einem befreundeten oder fremden Meister, der den meist noch sehr

1428 K. A, H. F, W: H, A. N, J. M/A. N, M. M, H. R, M. B.

Familie, Verwandtschaft und Haus (Haushalt) 791

jungen Lehrling in seine Hausgemeinschaft aufnahm. Ähnliches gilt für Kaufmannssöhne, die ihre Ausbildung bei Geschäftspartnern oder in auswärtigen Faktoreien erhielten. Bei den armen Schichten war Kinderbettel eine verbreitete Erscheinung und wurde in Bettelordnungen eigens geregelt, wie auch Erwerbsarbeit von Kindern in vorindustriellen Städten selbstverständlich war bis hin zur Arbeit in Baubetrieben und im Bergbau.¹⁴²⁹ Wegen der äußerst hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit starb möglicherweise mehr als jedes zweite Kind noch vor dem 14. Lebensjahr. Bedroht waren Kinder auch von einem unabsichtlichen oder absichtlichen Erdrücken und Ersticken im Schlaf (oppressio infantium), wenn sie verbotenerweise von Eltern in das Bett genommen wurden. Unter sozialem und wirtschaftlichem Druck wurden Kinder, wie in früheren und späteren Zeiten, gelegentlich ausgesetzt oder gar getötet. Kindsmörderinnen waren von den Todesstrafen des Ertränkens, Lebendigbegrabens oder der Pfählung bedroht. Findelkinder und Waisen, wenn nicht Verwandte für sie sorgen konnten, wurden in kommunale Einrichtungen, in das multifunktionelle Spital oder in spezielle Findel- und Waisenhäuser, aufgenommen. Die unehelichen Kinder galten nicht als natürliche, wirkliche Erben im Erbgang, sondern mussten testamentarisch eingesetzt und mit Legaten bedacht werden.¹⁴³⁰ Der Tod von Elternteilen und die Wiederverheiratung des überlebenden Partners, in wechselnder Fortsetzung bis hin zur Gestalt von Kettenheiraten, führten dazu, dass mehrere Kinder aus verschiedenen Ehen zusammenkamen. Kranke Kinder riefen fürsorgliche Betreuung hervor, verstorbene Kinder wurden betrauert, wobei die unabwendbare Häu gkeit der Todesfälle einen gewissen Fatalismus bewirkte. Die Überlebenden erfuhren unter normalen Verhältnissen liebevolle Zuwendung. Die

1429 1430 1431 1432

Semantik dafür war in verschiedenen literarischen Gattungen vorhanden, und seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, als Privatbriefe nicht nur der Übermittlung von Informationen dienten, oder in autobiogra schen Aufzeichnungen, treten gefühlsbetonte Beziehungen hervor. 8.1.4 Die wirtschaftliche und politische Bedeutung von Familie und Verwandtschaft Die Kinder von Handwerksmeistern waren beru ich privilegiert. Schon frühe Zunftordnungen legten ein beru iches Erbrecht der Meistersöhne und -töchter, der zum Handwerk Geborenen, fest. Entweder mussten sich diese überhaupt nicht in die Zunft einkaufen oder die Gebühren wurden auf einen Bruchteil herabgesetzt. Seit dem 15. Jahrhundert wurden sie hinsichtlich des obligatorischen Gesellenwanderns und der Meisterprüfung auch im Ausbildungsgang durch Sonderkonditionen begünstigt. In einigen Familien gab es eine Berufsvererbung über Jahrhunderte hinweg. Berufsvererbung war aber insgesamt weniger häu g als früher angenommen; sie fand am ehesten bei Gewerben mit hohen Investitionskosten statt. Für Straßburg wurde ermittelt, dass in 70 Prozent der Fälle Vater und Sohn derselben Zunft angehörten. Heiraten innerhalb des Zunftkreises führten zur Versippung von Handwerksfamilien und zu sozialer Endogamie. In Straßburg blieben 44 Prozent der Töchter mit der Eheschließung im gewerblichen Umfeld des Vaters, die anderen 56 Prozent heirateten in eine fremde Zunft.¹⁴³¹ Eine ähnlich langwährende erbliche Bestandsdauer wie in vielen handwerklichen Berufen ist im Handel mit seinen Kapitalrisiken selten anzutreffen. Nicht allzu häu g sind durchgehend aktive Geschlechter wie die Sudermann, die es in Dortmund auf acht und in Köln auf sieben Generationen gebracht haben, oder

K. S-M, Formen der Kinderarbeit. Siehe dazu eingehender 7.4.1. S. v. H, Die Zunft im Mittelalter, S. 276 f. H. K, Landschaftlicher Aufbau, S. 4. Zum Folgenden siehe insbesondere E. M, Die Familie; dazu die Einschränkungen bei M. M und R. S.

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Sozialformen und Sozialgruppen

die Rehlinger in Nürnberg und Augsburg.¹⁴³² Ob es die sogenannte Gefahr der dritten Generation gegeben hat, ist umstritten. Die starke Fluktuation der hansischen Kaufleute, die den ganzen Nord- und Ostseeraum bereisten, sich dort niederließen oder aus kleineren Städten in Zentren wie Lübeck einwanderten, führte zu einer weiträumigen Streuung der Großfamilien. Eine berufsbedingt wenig sesshafte Lebensweise und eine relativ späte Niederlassung hatten vielfach Ehelosigkeit oder Spätehen mit einer geringeren Kinderzahl zur Folge. Von 187 im 14. und 15. Jahrhundert in Lübeck testierenden Bergenfahrern, die zwischen Lübeck und dem norwegischen Hansekontor pendelten, waren lediglich 82 verheiratet und von diesen hatten nur 43 eheliche Nachkommen. Der Augsburger Kaufmann Lucas Rem (1481–1541) war jahrelang auf Handelsreisen in Deutschland, den Niederlanden, Frankreich, Italien, Spanien und Portugal unterwegs. Seine Reisen führten ihn bis nach Nordafrika, zu den Azoren, den Kanarischen und Kapverdischen Inseln. Längere Stationen machte er in Lissabon und in Antwerpen. Dort hatte er, was nicht außergewöhnlich war, von einer Frau fünf uneheliche Kinder. Erst im späten Alter von 37 Jahren heiratete er in Augsburg eine Bürgerstochter. Von ihr hatte er noch sieben Kinder, von denen drei in einem Alter von unter drei Jahren starben. Im Fernhandel wurden zur Kapitalverstärkung von Brüdern oder einem weiteren Verwandtenkreis Familiengesellschaften von unterschiedlicher Dauer gegründet.¹⁴³³ Stabile Gesellschaften großen Stils für Handelsund Finanzgeschäfte schufen vor allem süddeutsche Familien in den Formen der Kern-, Abstammungs- und Verwandtschaftsfamilie. Selbst die Große Ravensburger Gesellschaft, der

insgesamt mindestens 119 Familien angehörten, ruhte seit ihrer Gründung im 14. Jahrhundert maßgeblich auf den Ravensburger Familien Humpis und Mötteli sowie auf der Konstanzer Familie Muntprat. Diese Familien verschwägerten sich seit dem frühen 15. Jahrhundert zunehmend, wie auch andere Gesellschaften aus benachbarten Reichsstädten Oberschwabens verwandtschaftliche Gruppierungen bildeten. Doch nicht dieser heterogenen Großform gehörte die Zukunft. Die erfolgreichste Firma, die Fugger, gründete als Gesellschaft zur Zeit ihres spektakulären unternehmerischen Höhen uges seit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts vollständig auf der Abstammungsfamilie und war jeglichem fremden Ein uss entzogen. Das Gesellschaftskapital wurde beim Mannesstamm konzentriert, indem man die früher wie bei anderen Gesellschaften üblichen Einlagen von Verwandten oder Fremden kündigte und ausbezahlte. Etwas später wurde ergänzend bestimmt, dass weibliche und geistliche Mitglieder gleichfalls ausbezahlt werden und als Gesellschafter ausscheiden sollten. Die Ausschaltung von Frauen ist gelegentlich auch bei anderen Gesellschaften zu beobachten. Mit der Leitung von Filialen und anderen Aufgaben betrauten die Fugger neben fremden Fach- und Vertrauensleuten gerne Verwandte, die ihnen eher als Familienfremde eine Gewähr für Zuverlässigkeit auf der Grundlage gemeinsamer Interessen zu bieten schienen. Auf familialer Grundlage beruhten auch die (patrizischen) Hausgenossenschaften der Münzer und Geldwechsler, die in Mainz etwa noch mit dem Gewandschnitt privilegiert waren. In Speyer konnten eheliche Söhne von einer bestimmten Altersgrenze an noch zu Lebzeiten des Vaters gegen gestufte Aufnahmegebühren in die Genossenschaft eintreten. In Trier wie auch in

1433 H. K, Landschaftlicher Aufbau, S. 1–34; E. M, Die Familie, S. 54 ff.; E. L, Die rechtliche Struktur süddeutscher Handelsgesellschaften (9.3), S. 50 f., 60; G. F, Geschäft und Politik. Siehe auch 9.4. Hinzu kommt, dass regional gestreute Handelsfamilien sich an fremden Orten mit anderen Familien verschwägerten und genealogisch verschiedene Wirtschaftsräume durchdrangen, verbanden oder Schwerpunkte verlagerten, sodass »im Frühkapitalismus eine mehr oder weniger erstrebte Familienpolitik, in allen Schattierungen selbst bei andersgearteten verbandsrechtlichen Formen und keine anonyme Finanzgewalt innerhalb der Wirtschaftslandschaften zur Geltung kamen.« H. K, Landschaftlicher Aufbau, S. 24. Siehe auch M. I, Die Familie – ein Unternehmen.

Familie, Verwandtschaft und Haus (Haushalt) 793

Bamberg besaß der Vater eine Art Designationsund Kooptationsrecht. Er benannte zu seinem Nachfolger vielfach einen Sohn, im Falle der Kinderlosigkeit auch einen anderen Verwandten. In Schaffhausen wurde 1253 gar eine reine Familiengesellschaft bestehend aus Vater und Söhnen mit der Münze belehnt. Den Hausgenossen vergleichbar waren auch die Lüneburger Sülfmeister bestrebt, die Mitgliedschaft in ihrer Genossenschaft erblich zu machen. Auch in Politik und Verwaltung bildete die Abstammungsfamilie für die Bildung der herausragenden Kreise ein wichtiges personelles Gerüst, das durch eine weitgehende Versippung der führenden Familien zur Großform der Verwandtschaftsfamilie verstrebt, stabilisiert und konserviert wurde. Nicht nur gingen Ratssitze und Ratsämter in Verwaltung und Militärwesen häu g vom Vater auf den Sohn über, sondern es gab auch die gleichzeitige Besetzung solcher Positionen durch Angehörige derselben Abstammungsfamilie. In Nürnberg hatten führende Familien lange Jahre hindurch gleichzeitig zwei oder drei Vertreter als Ratsherren und Bürgermeister im Kleinen Rat, obwohl die gleichzeitige Repräsentanz von Brüdern etwa verboten war. Die P ntzing hatten von 1341 an wie die Stromer häu g drei, im Jahre 1344 sogar fünf Familienmitglieder gleichzeitig im Kleinen Rat; die Haller besetzten von 1421 bis 1440 regelmäßig zwei Ratssitze. Durch die Versippung wichtiger Familien ergab sich eine »fast undurchdringliche verwandtschaftliche Ver lzung der Personen, die im Kleinen Rat die maßgeblichen Stellen der Sieben älteren Herren (Septemvirn), Losunger und Obersthauptleute im dritten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts einnahmen«.¹⁴³⁴ In München waren vom Ende des 13. bis zum Ende des 16. Jahrhunderts 50 patrizische Familien eng miteinander versippt, wobei es die Familien Barth und Liegsalz auf 452 und 438 Amtsjahre im Inneren Rat brachten. Für die Lübecker Ratsherren – und ähnlich wohl für das ganze hansische Bürger-

tum – galt schon um 1380 einer kirchlichen Quelle zufolge, dass sie zum größeren Teil im dritten Verwandtschaftsgrad miteinander verbunden seien. In Straßburg wurden Ehen im 15. Jahrhundert zu 65 Prozent innerhalb der regierenden Schicht geschlossen. In Städten mit Zunftverfassung fand zwar ein häu gerer Wechsel im Amt statt; es bildeten sich aber auch hier engere Kreise politisch führender Familien heraus, die besonders häug im Stadtregiment vertreten waren. Gesetzliche Vorkehrungen gegen eine zu starke Repräsentanz der Familie und gegen Vetternwirtschaft wurden vor allem, nicht jedoch ausschließlich in Städten getroffen, in denen die Zünfte die formelle Mehrheit im Rat hatten. Derartige Maßregeln richteten sich gegen die gleichzeitige Präsenz von Vater und Sohn oder von Brüdern im Rat und bezogen sich darüber hinaus gelegentlich auch noch auf Onkel, Neffen und Schwager. Nicht immer wurden diese Einschränkungen auch beachtet. In Straßburg besetzten die patrizischen Geschlechter Zorn und Müllenheim in der Zeit von 1350 bis 1426 ein Sechstel aller Ratssitze. In Köln hatte die Familie Overstolz in der Zeit von 1268 bis 1390/91 bei abnehmender Sonderstellung 25 Mal das Bürgermeisteramt inne. Sechs Bürgermeisterfamilien, die zusammen ein Drittel aller Bürgermeisterfamilien stellten, besetzten bis 1369/70 fast drei Viertel der – nachweisbaren – Bürgermeistersitze. Für die anderen Ämter ergibt sich eine vergleichbare Situation. Der Verbundbrief von 1396 bestimmte, dass sich ein Bürgermeister künftig nur nach einer Karenzzeit von zwei Jahren zur Wiederwahl stellen durfte. Eine erneute Verengung des Kreises bürgermeisterfähiger Familien wurde dadurch aber nicht verhindert. 8.1.5 Wanderung und zwischenstädtische Versippung Wie für Lübeck und andere Hansestädte eine weitgehende Versippung der Ratsmitglie-

1434 W. . S, Reichtum und Ratswürde (7.1–7.2), S. 315, 314 ff., 295 ff.

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der in relativ breiter Streuung charakteristisch ist, so kann über das innerstädtische Verwandtschaftsnetz hinaus von einer »intensiven niederdeutschen Bevölkerungsversippung« des hansischen Städteraumes gesprochen werden.¹⁴³⁵ Ihre Wurzeln hat diese Bevölkerungsverwandtschaft in der Nordostkolonisation des 12. und 13. Jahrhunderts. Fortgesetzt wurde diese zwischenstädtische Versippung durch einen bis ins 16. und 17. Jahrhundert andauernden »WestOst-Wanderungsstrom über den ganzen städtischen Siedlungsraum hin, zwischen Köln, Kampen, Groningen einerseits, Reval, Dorpat und orn andererseits«. Dieser Vorgang, der zu einem großen Teil aus den altdeutschen Landschaften über Lübeck vonstattenging, wurde »bereits sehr früh auch durch Rückwanderungen, Kreuz- und Querwanderungen und -versippungen in diesem Raum noch verdichtet«. Getragen wurde die Mobilität von einem Willen zu wirtschaftlichem und sozialem Aufstieg und von kaufmännischer Unsesshaftigkeit. Bereits im 13. Jahrhundert begegnen in Lübeck, dem Zentrum des Ostseeraumes, aus demogra schen Überschussgebieten neben zahllosen niederrheinischen, west- und ostfälischen Herkunftsnamen auch Zweige bekannter Kölner und Dortmunder Kaufmannsgeschlechter, zugleich aber auch Familiennamen etwa Visbyer und Rigaer Bürgergeschlechter, die auf Rückwanderungen aus dem Norden und Osten schließen lassen. Ein ussreiche Lübecker Ratsund Bürgermeisterfamilien wie die Coesfeld, Darsow oder Warendorp hatten bis 1370 Angehörige in den Stadträten von Wismar, Greifswald, Kolberg, Visby, Riga, Dorpat und Reval sitzen. Weitere Angehörige waren noch in Rostock, Stralsund, Danzig und Elbing ansässig. Insgesamt können nahezu 50 Familien nachgewiesen werden, deren Angehörige besonders häu g in Städten des Ostseegebiets, darunter noch Stettin und Stockholm, anzutreffen sind. Für den Aufbau der Oberschicht in den Städten des Ordenslandes Preußens spielten Westfa-

len eine wichtige Rolle, während die übrige Bevölkerung vornehmlich aus Schleswig Zuzug erhielt. Wie Lübecker Testamente zeigen, wurden die Familienbande durch Wanderung und weiträumige Streuung von Angehörigen nicht zerrissen, sondern es bewährte sich das Familienbewusstsein auch in der räumlichen Dimension. Die Bevölkerungsverwandtschaft trug die charakteristische Homogenität und Konformität der niederdeutsch-hansischen Städtelandschaft, was ihr städtebauliches Erscheinungsbild, die Institutionen, die Sozial- und Verfassungsformen, die wirtschaftlichen Grundlagen, das bürgerliche Selbstverständnis und Umweltverständnis, den rationalen und maßvollen Grundzug hansebürgerlicher Mentalität anlangt. Diese erstaunliche Gleichförmigkeit auf der Grundlage einer Bevölkerungsverwandtschaft, die Ahasver von Brandt zur »korporativen Versippung« der Hansestädte und zur Bildung einer »großen Städtesippe« hypostasiert¹⁴³⁶, erleichterte wiederum die Mobilität der hansischen Bürger, die in ihrem Raum überall ähnliche Verhältnisse antrafen und sich deshalb rasch heimisch fühlen konnten. In kleinerem Maßstab bei geringerer Wanderungsintensität waren auch Familien oberdeutscher Städte räumlich gestreut. Die Nürnberger Familie Mülich war mit dem Nürnberger Patriziat und mit der Lübecker Oberschicht verschwägert und stellte durch familiale Streuung eine wirtschaftsgenealogische Nord-SüdVerbindung her. Angesichts sich abzeichnender Konjunkturveränderungen verlagerte sie später ihren Schwerpunkt von Lübeck nach Leipzig und Breslau und knüpfte dort neue verwandtschaftliche Beziehungen. Die beiden politisch führenden und seit dem späten 14. Jahrhundert miteinander verschwägerten Ulmer Familien Besserer und Ehinger waren im ober- und niederschwäbischen Raum stärker gestreut, dort als Kau eute in überörtlichen Familiengesellschaften und in der Großen Ravensburger Ge-

1435 A. . B, Die Stadt des Spätmittelalters im hansischen Raum, S. 12 f. Dort nden sich auch die folgenden Zitate. 1436 Ebd.

Eid, Einung, Bruderschaft, Gilde, Zunft 795

sellschaft oder in städtischen Ämtern tätig. Sie stellten vor allem die führenden politischen und militärischen Köpfe des Schwäbischen Städtebundes, dessen Vorort Ulm war. Ulmer Patrizier waren durch Konnubium mit Geschlechtern anderer Städte verbunden; im 14. Jahrhundert vor allem in den Städten Giengen, Schwäbisch Gmünd, Esslingen, Reutlingen und Nördlingen, seltener in Dinkelsbühl und Schwäbisch Hall, im 15. Jahrhundert in Biberach und Ravensburg, Konstanz, Zürich, Feldkirch, Donauwörth, Augsburg und vor allem in Memmingen. Augsburger Geschlechter besaßen verwandtschaftliche Beziehungen in Ulm, Kaufbeuren, München und Donauwörth, im späten Mittelalter vor allem in Donauwörth, Lauingen, Nördlingen und Nürnberg. Hinsichtlich der zwischenstädtischen Beziehungen und der äußeren Politik von Städtegruppierungen auf der Grundlage ähnlicher oder gemeinsamer wirtschaftlicher und politischer Interessen gibt es Anzeichen dafür, dass gemeinsame Aktivitäten vornehmlich von örtlich gestreuten Abstammungs- und Verwandtschaftsfamilien getragen wurden. Die Beziehungen zwischen Städten scheinen »weitgehend auch genealogische Beziehungen der Oberschichten« gewesen zu sein.¹⁴³⁷

8.2 Grundformen genossenschaftlicher Verbandsbildung: Eid, Einung, Bruderschaft, Gilde, Zunft Eine der universellsten Formen der rechtlichen und sozialen Bindung im europäischen Mittelalter, eines der wichtigsten Bauelemente sowohl herrschaftlicher, vertikal-gestufter als auch

genossenschaftlicher, horizontal-paritätischer rechtlicher und sozialer Organisation ist der Gelöbnis- oder Versprechenseid, der promissorische Eid. Als konstitutiver, P ichten begründender Akt bindet er den Schwörenden für die Zukunft und bestimmt er dessen Handeln.¹⁴³⁸ Auf dem gegenseitig geleisteten promissorischen Eid, der eine personale Genossenschaft hervorbringt, beruht die geschworene Einung (coniuratio) als eine auf dem freien Willen gegründete Verbandsbildung.¹⁴³⁹ Otto von Gierke sieht in seinem monumentalen Werk »Das deutsche Genossenschaftsrecht« die freie Einung als besondere Ausprägung des genossenschaftlichen Prinzips, die als Widerlager zum Prinzip der Herrschaft und Gegensatz zu den älteren gewachsenen oder herrschaftlich geformten Verbänden die rechtlichen und sozialen Erscheinungen der Periode von 1200 bis 1525 beherrscht haben soll. Die geschworene Einung grundsätzlich Rechtsgleicher (Genossen, Gesellen) schafft sich satzungsrechtlich einen Bereich eigenen, autonomen Rechts, der durch Selbstunterwerfung unter im Vorhinein vereinbarten Sanktionen gesichert wird. Gleichordnung und Unterordnung kommen im Sprachgebrauch des zünftigen Handwerks dadurch zum Ausdruck, dass Handwerksmeister untereinander Gesellen sind, Handwerksgesellen im Bezug auf ihr subordiniertes Dienstverhältnis zu den Meistern Knechte, hinsichtlich ihrer eigenen Verbandsbildung (Gesellengilden) mit gleichgeordnetem Status jedoch untereinander Gesellen. Im 16. Jahrhundert setzte sich auch in der Sicht von außen vermehrt der Ausdruck Handwerksgesellen durch. Das soziale Verbandsleben innerhalb des einungsrechtlichen Rahmens beruht auf einem

1437 G. W, Der Adel der Reichsstadt Hall (7.7), S. 284. 1438 O. G. O, Die mittelalterlichen Gilden; W. R, Die Entstehung der Gesellengilden (8.6); G. D, Die genossenschaftliche Struktur von Gilden und Zünften. Alle jene »urwüchsigen Kontrakte«, im Sinne freier Vereinbarungen als Rechtsgrund der Entstehung von Ansprüchen und P ichten, »durch welche z. B. politische oder andere persönliche Verbände, dauernde oder zeitweilige, oder Familienbeziehungen geschaffen wurden, hatten zum Inhalt eine Veränderung der rechtlichen Gesamtqualität, der universellen Stellung und des sozialen Habitus von Personen«. Es handelt sich um »Status-Kontrakte« im Unterschied zu spezi schen »Zweck-Kontrakten«. M. W, Wirtschaft und Gesellschaft (1.2), S. 401. 1439 Siehe die Artikel »coniuratio« (G. D), »Einung« (K. K) und »Gilde« (H. S) im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte.

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bruderschaftlichen Verhältnis, das soziale Nähe und Vertrautheit vermittelt und P ichten und Funktionen begründet, die ursprünglich von der Verwandtschaft (Sippe) erfüllt wurden. Im Innenverhältnis herrschen Frieden und Freundschaft. Kon ikte sind freundlich, d. h. gewaltfrei, durch eigene Instanzen der Streitentscheidung auszutragen. Bestimmte Maßregeln sollen überhaupt das Entstehen von Streitigkeiten verhindern. Als geistig-soziales Band herrscht die Gesinnung christlicher Brüderlichkeit (fraterna dilectio). Es besteht eine P icht zur sozialen Hilfeleistung in verschiedensten Situationen des Alltags und in Notlagen sowie zum Schutz der Genossen nach außen. Die karitative Hilfe in Form von Almosen erstreckt sich auch auf Verbandsfremde durch die P icht zu Mildtätigkeit. Die Verbandsangehörigen wahren nicht als einzelne, sondern kollektiv-genossenschaftlich Rangstellung und Ehre (honor) im Gefüge der städtischen Gesellschaft und Verfassung. Sie bilden eine religiöskultische Gemeinschaft, die am engsten mit der Bezeichnung ›Bruderschaft‹ (fraternitas) verknüpft ist. Konstituierende Mittel der Vergemeinschaftung, der Erneuerung und Selbstvergewisserung der Gemeinschaft sind das gemeinschaftliche Essen und Trinken (convivium, Kommensalität) vor allem vor Festtagen, die gemeinschaftliche religiöse Kultausübung sowie Totenehrung und Totengedächtnis (memoria), die sowohl im convivium in der Form des Totenmahles als auch im religiösen Kult begangen werden. Rituale und Formalismus sind wesentliche Mittel rechtlicher und sozialer Bindung. Das gemeinsame Essen und Trinken schafft und erhält soziale Vertrautheit, wirkt friedensstiftend und friedenserhaltend. Rechtsvorschriften verbieten – auch für andere Versammlungen – ehrverletzende Schmähworte und Tätlichkeiten und das Mitbringen von Waffen. Übertretungen werden mit Bußen bestraft, die teilweise gemeinsam vertrunken werden, wodurch der Übertreter wieder friedensstiftend in die Gemeinschaft einbezogen wird. Auf diese Weise

1440 G. D, Die genossenschaftliche Struktur, S. 106.

unterbauen die bruderschaftlichen Verbände als intensiv befriedete Einheiten den übergreifenden Stadtfrieden und stellen in einer leichter zu Affekthandlungen und Aggressivität neigenden Gesellschaft einen Ort bürgerlicher Sozialisation dar, der Einübung von Regeln sozialen Verhaltens. Durch die gemeinsame öffentliche Teilnahme am kirchlichen Leben, insbesondere bei Prozessionen, durch die Übernahme kirchlicher Funktionen und durch Stiftungen, durch Totenehrung und Begräbnis werden Rang und Ehre einer Kaufmannsgilde und Handwerkerzunft dargestellt. »Durch die kultische Gemeinsamkeit wird auch nach innen eine gemeinsame Ehre befestigt, die interne Rangkämpfe ausschließt: Besonders die unter Strafandrohung angeordnete Teilnahme an der Totenehrung beim Begräbnis schafft durch Gemeinsamkeit der Toten eine sippenrechtliche Rang- und Ehrgleichheit innerhalb von Gilde und Zunft.«¹⁴⁴⁰ In der städtischen Zuwanderergesellschaft bietet die verwandtschaftsähnliche Bruderschaft, die auch Frau und Kinder der Genossen umfasst, als sozialer Kern der Verbandsbildung Zuwanderern vom Lande oder aus anderen Städten die Möglichkeit, sich durch Einbindung in eine gefestigte Gruppe mit geregeltem Zusammenleben in der Stadt zurechtzu nden. Als wirtschaftliches Element tritt zu den rechtlichen und sozial-religiösen Elementen der Verbandsbildung die genossenschaftliche Nutzung und Verwaltung privilegialer Rechte hinsichtlich beru icher Tätigkeit in Handel, Handwerk und Dienstleistungsgewerben. Die mit dem alleinigen Recht über das Gewerbe privilegierte Genossenschaft übernimmt Rechte und P ichten zur Ordnung des Gewerbezweiges im Rahmen der städtischen Wirtschafts- und Marktordnung und erhält das Recht der wirtschaftlichen Nutzung. Zu diesen Rechten, für die nicht selten der Ausdruck Innung/Einung gebraucht wird, gehören die Zwangsrechte zur Organisation des Gewerbes, das Recht der genossenschaftlichen Organisation und zur Erhe-

Eid, Einung, Bruderschaft, Gilde, Zunft 797

bung von Beitrittsgeldern, der Wahl von Meistern (Vorstehern) und der genossenschaftlichen Rechtsetzung und Gerichtsbarkeit. Geschworene Einung, Bruderschaft sowie Privilegs- und Nutzungsgenossenschaft sind als Bauelemente und Typenmerkmale in der älteren Gilde der vom König privilegierten Kaufleute verbunden. Bei der älteren Kau eutegilde sind insbesondere die Hilfsverp ichtungen und Funktionen bei Gefahren innerhalb und außerhalb von Stadt und Land ausgeprägt, bei Notlagen wie Brand und Schiffsbruch, Krankheit, Gefangenschaft, bei Rache und Fehde sowie vor Gericht von der Eideshilfe bis zum prozessualen Zweikampf. Mit der Bildung der Stadtkommune (Stadtgemeinde) in Europa seit dem 11. Jahrhundert verändern sich die Rahmenbedingungen und damit auch die Mittel, Zwecke und Funktionen genossenschaftlicher Verbandsbildung. Den Schutz der Stadtbevölkerung gegen die agrarisch-feudale Umwelt übernimmt die rechts- und friedenssichernde Kommune, sodass die soziale Hilfe des Unterverbandes im Falle von Armut, Krankheit und Tod und die Sicherung der Nahrung, d. h. der für den Lebensunterhalt notwendigen Erwerbschancen, in den Vordergrund treten. Die Stadt wird auch »Rechtssubjekt und Verwalter der vorher den Kau euten zustehenden Handels-, Markt- und Zollprivilegien, was durch Privileg oder Abstimmung mit dem Stadtherrn geregelt werden muss«.¹⁴⁴¹ Außerdem gehen stadtherrliche Rechte über handwerkliche Gewerbe auf Bürgerschaft und Rat über. Auf diesen rechtlichen Grundlagen der kaufmännischen und handwerklichen Gewerbe entstehen die jüngeren Kau eutegilden und die Handwerkerzünfte. Von der alten Kau eutegilde übernehmen sie vor allem die Bruderschaft. Es scheint, dass die eidliche, andere Bindungen teilweise ausschließende Begründung der Einung zugunsten von Gelöbnis und Amtseiden gegenüber der Stadt und des allgemeinen Bürgereides aufgegeben wird. Die in sich paritätischen Verbände

1441 Ebd., S. 109.

werden in eine vertikale kommunale Ordnung eingebunden, die eine gewillkürte, eigenständig geschaffene Autonomie von Unterverbänden in Rechtsetzung und Gerichtsbarkeit nur in begrenztem Umfang zulässt. Genossenschaftliche Verbände waren eine gemeineuropäische Erscheinung. Sie boten verschiedenen Bevölkerungsgruppen Schutz und Solidarität. Sie halfen wirtschaftliche, soziale, religiöse und auch kulturelle Bedürfnisse zu befriedigen, Wandlungsprozesse zu initiieren, Wechsellagen zu bestehen und längerfristige Strukturveränderungen zu bewältigen. Kehrseite von Gruppen- und Verbandssolidarität waren aber Egoismus und Streben nach Exklusivität, Rangstreitigkeiten und Abwertung Außenstehender. Auch waren sie teilweise Träger innovationsfeindlicher, alte Strukturen konservierender Beharrungstendenzen. Genossenschaftliche Verbände strukturierten und organisierten die rasch anwachsende, dann in wiederholten Pest- und Seuchenzeiten von sozialer Desorganisation bedrohte Stadtbevölkerung. Schließlich sammelten sich in ihnen auch dynamische Kräfte, die soziale, religiöse und politische Bewegungen auslösten, politische Berechtigung erkämpften und Veränderungen in Politik und Verfassung bewirkten. Je nach Verfassungslage erfüllten sie Aufgaben in Militärwesen und Wirtschaftsverwaltung und beanspruchten sie Ratssitze und Ämter. Neben den großen und bedeutenden Kaufleutegilden und Handwerkerzünften nden sich in der hoch- und spätmittelalterlichen Stadt mit unterschiedlichen Bauelementen und Funktionen Gesellenverbände, Schützengilden, Verbände der pauperes und Bettler, der Leprosen und Krüppel sowie von Angehörigen »unehrlicher« Berufe. Vielgestaltige religiöse Bruderschaften, die Laien (Männer und Frauen) und Kleriker umfassten, unterhielten Priester und Altäre, vereinigten sich zu gemeinsamen Gottesdiensten und Gebet, leisteten Almosenspenden und unterstützten in den Formen von Elenden- und Pilgergilden reisende Fremde und Wallfahrer.

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Sozialformen und Sozialgruppen

8.3 Kaufmannsgilden, Fahrtgenossenschaften (Hansen), Geschlechter- und Trinkstubengesellschaften 8.3.1 Kaufmannsgilden und Fahrtgenossenschaften In nordwesteuropäischen Städten ist seit dem 11. Jahrhundert der Typus der alten Kaufmannsgilde deutlicher fassbar. Bekannteste Beispiele sind die Gilden von Tiel (um 1020), Valenciennes (Caritas, 1051–70) und St. Omer (Statuten um 1100). Während für die Gilden von Valenciennes und St. Omer Statuten überliefert sind, zeugen im niederdeutschen Raum außer den Statuten der Flensburger Knutsgilde (um 1200) nur Mitglieder von der Existenz von Kaufmannsgilden. In Köln dürfte die bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts bestehende Kaufmannsgilde im 12. Jahrhundert etwa 200–300 Mitglieder gehabt haben, die – mit einem hohen Zuwandereranteil – fast alle Bürger und Bewohner des Kaufmannsviertels, der Rheinvorstadtgemeinde St. Martin, waren. Die alten Kaufmannsgilden waren ähnlich den frühmittelalterlichen geschworenen Schutzgilden stark von der Verp ichtung zu Schutz und Beistand geprägt. Es handelte sich um »Großgilden, die dazu tendierten, alle wirtschaftlich und gesellschaftlich führenden Kräfte in der Stadt, vor allem die Kau eute, einzubeziehen«.¹⁴⁴² Trotz ihrer lokalen Verfestigung waren diese Gilden noch nicht eindeutig bezirksbezogen und bildeten als exklusive Personenverbände kein dauerhaftes Strukturelement im Aufbau der Stadtgemeinde. Wohl aber ist das Kaufmannsrecht eine Wurzel des Stadtrechts, und die Gilde der Kau eute ist zumindest für Nordwesteuropa ein verbandsrechtliches Modell für den Bürgerverband. Außerdem nanzierte etwa die Gilde von St. Omer mit ihrer gemeinsamen Kasse nicht nur bruderschaftliche Gelage und Hilfsmaßnahmen, sondern auch Baumaßnahmen für Straßen, Tore und Stadtbe-

festigung. Ferner kannte sie bereits das für das spätere handwerkliche Zunftwesen so wichtige Einstandsrecht der Genossen bei Kaufgeschäften des Einzelnen. Aber nur bedeutende Handelsplätze besaßen diesen alten Typ der Kaufmannsgilde. Die jüngere Kaufmannsgilde, die seit dem 12. Jahrhundert vornehmlich in Norddeutschland, sehr viel seltener in Mittel- und Süddeutschland Verbreitung fand und auf kommunalem Gebiet tätig war, hat mit der alten Gilde gewisse wohl universelle bruderschaftliche Bauelemente – Kommensalität, Totenehrung, Kasse – gemeinsam, ohne dass sie aus ihr abgeleitet zu denken ist. Zwei Typen sind hinsichtlich der jüngeren Genossenschaften zu unterscheiden, die Fahrtgenossenschaften und die gewerblichen Monopolgenossenschaften für die Stadt selbst.¹⁴⁴³ 1. Die seit dem 12. Jahrhundert nachweisbaren Fahrtgenossenschaften sind teilweise aus den nordwesteuropäischen Hansen abzuleiten, die in enger Beziehung zu den älteren Gilden (St. Omer, Gent) stehen konnten. Zu Fahrtgenossenschaften vereinigten sich Fernkau eute mit gleicher Richtung und gleichem Zielort und beanspruchten ein alleiniges Recht auf den Handel in dieser Richtung. Genossenschaftlich erwarben sie Handelsprivilegien und verkehrsrechtliche Privilegien in den fremden Ländern. Solche Fahrtgenossenschaften gab es im 14. und 15. Jahrhundert mehrere in Köln, Soest, Dortmund, Hamburg (3), Lübeck (etwa 10) und Rostock (6). In Regensburg bildete die dortige Hanse den Verband der Fernkau eute; seit 1225 war der Hans(e)graf städtischer Amtsträger. Vielfach sind in Städten keine Hansen nachzuweisen, sondern nur Ämter von Hansegrafen (Wien), die für den Handel der Kau eute zu sorgen und – wie in Bremen – die »Hansegeld« genannten Abgaben der Kau eute ein-

1442 F. I, Zur Problematik der Gilde- und Zunftterminologie, S. 56. Vgl. auch die Beiträge in K. F (Hg.), Gilde und Korporation in den nordeuropäischen Städten des späten Mittelalters. 1443 F. I, Zur Problematik der Gilde- und Zunftterminologie, S. 58 ff.

Kaufmannsgilden, Fahrtgenossenschaften, Geschlechter- und Trinkstubengesellschaften 799

zuziehen und davon die Wege vor der Stadt in Ordnung zu halten hatten. 2. Monopolgenossenschaften der Kau eute sind vor allem die Gewandschneidergilden. In ihnen waren – oft patrizische – Großkaufleute vereinigt, die das Monopol des Detailverkaufs hochwertiger Wolltuche meist bis ins 14. Jahrhundert gegen handwerkliche Gruppen wie die Weber verteidigen konnten. Ferner gehören dazu die Münzerhausgenossen mit dem Monopol des Geldwechsels und Edelmetallhandels sowie Vereinigungen wie die Kölner St. Jakobsbruderschaft der Waidhändler, die Soester Sterngesellschaft (Salzbeerbte von Sassendorf ), die Lüneburger Sülfmeister oder die Goslaer Silvani (Montanberechtigte). Münzergenossenschaften lassen sich seit dem Ende des 13. Jahrhunderts in mindestens 16 Städten nachweisen, davon allein 7 in den Rheinlanden, 4 im Donauraum und 2 in Sachsen-üringen. Die Zahl der Mitglieder betrug um 1200 (1236) in Trier nur 6 (30); in Augsburg, Regensburg und Erfurt waren es 12, in Bamberg 4 (1411 nur noch 3 Familien). Beträchtlich höher lagen die Zahlen in Wien, Mainz und Köln (1291: 59) und in der Silberbergbaustadt Goslar (80), während Straßburg die kaum erklärliche Zahl von 400 (1266: 328; 1283: 454) aufweist. Seit dem 14. Jahrhundert verloren die Hausgenossen als große Vereinigung des Patriziats mit exklusiver Rechtsstellung ihre politische Stellung (Speyer 1347, Mainz 1344) und ihr wirtschaftliches Privileg teilweise (Straßburg 1319/1437) oder ganz durch Rücknahme durch den Stadtherrn (Passau 1324), durch konkurrierende Eigenregie des Stadtherrn (Wien 14. Jh.) oder durch Ankauf des Münzrechts durch die Stadt (Erfurt 1354).

Als gildae maiores überragten die Kau eutegilden die gildae minores der Handwerker sozial und politisch an Rang und Bedeutung. Es gab vielfach nicht nur eine Kaufmannsgilde, die alle Handeltreibenden vereinte; die Gewandschneidergilde war in der Regel nur die vornehmste Gilde. Ein Sonderfall ist die Kölner Richerzeche, die eine überragende Stellung in der Stadt einnahm. Sie war ein verwandtschaftsähnlicher Geschlechterverband, zu dem Schöffen und nach der Bildung des Rates auch Ratsherren gehörten, und zugleich ein städtisches Führungsgremium, dem das Recht der Bürgeraufnahme, die Marktgerichtsbarkeit, die Domwaage, die Verleihung des Zunftrechts, die Aufsicht über die gewerblichen Zünfte und das Recht der Bürgermeisterwahl zustanden. Diese Rechte wurden bis auf das Recht der Bürgermeisterwahl im Laufe der Zeit sukzessive gegen Entschädigung an den Rat abgetreten. Die Richerzeche wurde im Großen Schied von 1258 vom Erzbischof Konrad von Hochstaden grundsätzlich anerkannt. Im Umsturz von 1370/71 aufgelöst, danach aber wiederbelebt, wurde sie durch die Greifenpartei 1391 erneut abgeschafft. Die von der Richerzeche gewählten Bürgermeister hatten aus ihren Amtsgefällen an die Mitglieder der Genossenschaft Naturalien und Geldeinkünfte abzuführen. Das Recht der Verleihung der Weinbruderschaft, des Rechts zum Detailhandel mit Wein, trat die Richerzeche gegen eine Entschädigung ab; 1355 erhielt sie noch ein Drittel der Eintrittsgebühren. Im Jahre 1369 erwarb der Rat gegen Zahlung einer Leibrente an die Zechengenossen die Domwaage. Die Richerzeche, die sich trotz Kompetenzzuwachses des Rates zu Beginn des 14. Jahrhunderts noch in einer starken Machtposition befand, hatte zuletzt den Charakter einer »Pfründen- und Versorgungsanstalt für die Geschlechter« (F. Lau).

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Sozialformen und Sozialgruppen

8.3.2 Geschlechter- und Trinkstubengesellschaften Wo Monopolgenossenschaften ihr wirtschaftliches Monopol verloren, bildeten sie nur noch exklusive Vereinigungen von Oberschicht und Patriziat mit gesellschaftlichen und kirchlich-religiösen Aktivitäten und informellen politischen Ein ussmöglichkeiten, die kaum abzuschätzen sind.¹⁴⁴⁴ So ging etwa aus der alten Dortmunder »Rainoldigilde« die »Junkergesellschaft« hervor. Hinzu kamen seit dem 14. Jahrhundert Neugründungen in Form vornehmer Trinkstubengesellschaften. In Lübeck wurde 1379 die exklusiv-junkerliche »Zirkelgesellschaft« gegründet, die bis 1810 bestand. Ihrer Exklusivität wegen wurde 1450 daneben die »Kau eutegesellschaft« (koplude kumpanye) gebildet, ohne dass beide Gesellschaften miteinander konkurrierten. Trinkstubengesellschaften niederdeutscher Städte legten einen adlig-junkerlichen Lebensstil an den Tag. In Danzig tagte die »St. Georgsbruderschaft« im Artushof, wo man auch adelige Gäste emp ng und ho erte. »Artushöfe« mit sozialer Offenheit gab es in Elbing, Königsberg, Marienburg und orn. Der Gesellschaft der »Schwarzhäupter« in Riga gehörten Kau eute, Schiffer und Goldschmiede an. Die Monopolgenossenschaft der Lüneburger Sülfmeister hingegen vereinigte sich 1461 in der »eodorigilde« mit einem Numerus clausus von 40 Plätzen. Ähnliche Vereinigungen gab es in Soest und Werl. Patrizierstuben nden sich etwa in Basel und in Straßburg, wo ursprünglich acht Stuben bestanden, vier Stuben 1332 zerstört, dann aber wiederaufgebaut wurden, während weitere vier 1364 erloschen. Später wurden die Versammlungslokale der verfeindeten Geschlechter Zorn und Müllenheim, die Stuben »Zum Hohensteg« und »Zum Mühlstein« als Consto erstuben zu offiziellen Einrichtungen des Patriziats, wobei der »Hohensteg« Mittelpunkt jener ritterlichen Geschlechter war, die starke Bindungen zum Land besaßen; bisweilen gehörten ihm auch benachbarte Herren und

Prälaten an. In Trier lehnten sich Patriziergesellschaften auch an Spitalbruderschaften an. In Ulm wurde möglicherweise schon 1345 eine Patriziergesellschaft, die spätere »Obere Stube«, gegründet. In Frankfurt entstand 1357 die Patriziergesellschaft »Alten-Limpurg«; mindestens seit 1382 bestand die minder vornehme Gesellschaft »Frauenstein«. Im 15. Jahrhundert gab es in Frankfurt fünf Trinkstuben neben denen der Zünfte. Bekannt sind auch die Geschlechtertrinkstuben »Zum Sünfzen« in Lindau, »Zur Katz« in Konstanz und die Gesellschaft »Zum Esel« in Ravensburg, der Mitglieder (Gesellen) der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft angehörten. In mitteldeutschen Städten wie Leipzig, Görlitz, Zwickau, Dresden, Freiberg oder Halle gab es zwar Trinkstuben oder Tischreservierungen, doch fehlten hier die Organisationsformen mit Zutrittsbestimmungen, Statuten und Klauseln wie sie etwa in Ravensburg, Memmingen, Lindau und Konstanz vorhanden waren. Einige der Patrizierverbände und patrizischen Trinkgesellschaften wurden vermutlich in Reaktion auf die Verfassungskämpfe des 14. Jahrhunderts und die erfolgreichen politischen Ansprüche der Handwerkerzünfte gegründet. Nach einer weiteren Machtverschiebung zugunsten der Zünfte im beginnenden 15. Jahrhundert verschärfte sich die Situation für die Geschlechter in Lindau, Konstanz, Freiburg und anderen süddeutschen Städten erneut. Die Gesellschaften dienten neben geselligen und bruderschaftlichen Zwecken auch der Wahrung und Verteidigung der herkömmlichen oder verbliebenen politischen Rechte und Ämter. Sie schlossen sich demonstrativ gegenüber für sozial nicht ebenbürtig erachteten wirtschaftlichen Aufsteigern ab, waren aber in anderen Fällen zur Stärkung ihrer Position um Aufnahme neuer Familien bemüht. Nach dem Sturz der Geschlechterherrschaft im Jahre 1374 schloss sich in Braunschweig das Patriziat in der »Lilienvente« zusammen, einer Art von Waf-

1444 F. L, S. D, S. S, P. S, G. F/M. S/G. Z (Hg.), Geschlechtergesellschaften, ferner die Literatur zu 7.7.

Kaufmannsgilden, Fahrtgenossenschaften, Geschlechter- und Trinkstubengesellschaften 801

fenbund mit ritterlichen Gebräuchen. Die immer rigidere Abschließung nach unten führte mit der Gründung der »Gelagsbruderschaft« in der Altstadt (1569) schließlich zur sozialen Inzucht und zum biologischen Erlöschen vieler Geschlechter. Die Einrichtung von Trinkstuben in angemieteten oder gekauften Häusern wurde vielfach notwendig, nachdem die Geschlechter das Rathaus oder andere kommunale Baulichkeiten nicht mehr allein beherrschten und dort nicht mehr beliebig ihre geselligen Veranstaltungen, wohl auch verbunden mit politischen Beratungen, abhalten konnten. In Nürnberg aber, wo die patrizische Stadtherrschaft trotz der Unruhen von 1348/49 unangefochten blieb, organisierte sich das Patriziat nicht als Verband und beanspruchte das Rathaus wie selbstverständlich für seine Geselligkeiten. In Wien verblieb das Patriziat seit dem 13. Jahrhundert in den wirtschaftlichen Monopolgenossenschaften der Gewandschneider (»Laubenherren«) und der Münzerhausgenossen. In Augsburg wurden 1368 mit der Einführung der Zunftverfassung die Geschlechter, soweit sie nicht von Kapital- und Grundrenten lebten und Handel trieben oder treiben wollten, im Wesentlichen vergeblich aufgefordert, in eine Kau eutezunft einzutreten. Eine geplante 18. Zunft als Geschlechterzunft kam nicht zustande, während sich das Patriziat etwa in Memmingen mit der »Großzunft«, in Kempten mit der »Bürger-» oder »Müßiggängerzunft«, in Kaufbeuren mit der »Herrenzunft« und in Speyer korporativ als Zunft in die Verfassung einordnete. Die außerhalb der Zunftorganisation verbliebenen Augsburger Geschlechter, deren Anzahl in der späteren Chronistik stark schwankend mit 51, 32 oder nur 24 angegeben wird, wurden stattdessen politisch in einer Geschlechtergesellschaft mit dem Namen »von Herren« oder »Herren« vereinigt und erhielten im Rahmen der Verfassung als Burger, d. h. Patrizier, 15 Ratssitze zugewiesen, besaßen aber für die Besetzung kein aktives Wahlrecht. Sie waren dadurch von den Geschlechtern, die in eine Zunft eingetreten waren, zwar politisch förm-

lich geschieden, verkehrten aber gesellschaftlich als Oberschicht miteinander. Die Augsburger Geschlechtergesellschaft wurde 1383 bei einem Bestand von wenigstens 22 Familien durch eine Ratssatzung geschlossen, die bestimmte, dass jeder Zünftige in seiner bisherigen Zunft bleiben sollte und Neubürger und Neubürgerinnen nach ihrem Gutdünken in irgendeine Zunft einzutreten hatten. Dies galt auch für Zuwanderer aus dem Patriziat anderer Städte und aus dem Landadel. Nur Geschlechter, die 1368 die Stadt verlassen hatten, durften zu den »Herren« zurückkehren. Bis zum Geschlechterschub von 1538 mit 38 neuen Familien kam es 1495 und 1505 mit Erlaubnis des Rats zu insgesamt nur zwei Neuaufnahmen in die Gesellschaft der alten Geschlechter, die bis 1538 auf acht Familien geschrumpft waren. Anders verhielt es sich mit der Augsburger »Herrentrinkstubengesellschaft«, die im 16. Jahrhundert auch »Burgerstube« genannt wurde. Dort waren die Angehörigen der Geschlechtergesellschaft der »Herren« mit angesehenen und vermögenden Mitgliedern der Kau eutezunft, auch der Zünfte der Salzfertiger, Kramer und Weber, zur Veranstaltung von Tänzen und zur Geselligkeit in einer exklusiven Gesellschaft der Oberschicht zusammengeschlossen. Die Trinkstubengerechtigkeit, das Stubenrecht, das höchste gesellschaftliche Reputation vermittelte, beruhte auf Geburt und auf Heirat mit männlichen und weiblichen Stubenberechtigten, weshalb seit 1484 ein Hochzeitsbuch geführt wurde, und wurde vererbt. Doch 1491 konnten die Ehepartner geborener Stubenmitgliedern das Recht als nur noch persönliches Recht nicht mehr übertragen. Aufgenommen wurden durch eine Sonderregelung auch Landadelige und zugewanderte Angehörige alter Ratsgeschlechter aus Straßburg, Nürnberg und Ulm, die sich in Augsburg verheiratet hatten. Die alten Geschlechter waren auf dreizehn Familien zusammengeschmolzen. Kaufleute, deren Vorfahren zu den Geschlechtern gehört hatten, waren 1478 vergeblich aufgefordert worden, in die Geschlechtergesellschaft einzutreten. Die erste Aufzeichnung einer Stuben-

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Sozialformen und Sozialgruppen

ordnung für die »Ehrbarkeit, die zur Trinkstube und zum Tanz gehört«, mit vier Stubenmeistern und weiteren sechzehn Mitgliedern, die mit ihnen den Vorstand bildeten, stammt aus dem Jahr 1481. In einer Bestätigung der Statuten von 1491¹⁴⁴⁵ im Jahre 1509 ist zum ersten Mal von der merern gesellschaft von der herren stuben die Rede. Während die ältere Forschung die Existenz einer zweiten Gesellschaft, einer »mehrere Gesellschaft« oder »Gesellschaft der Mehrer« (der Geschlechter oder der Gesellschaft) als einer mit den Geschlechtern verwandten Gruppierung zwischen Patriziat und dem Zunftbürgertum, annahm, wird nun mit guten Gründen der Ausdruck lediglich als selbstbewusste Selbstbezeichnung der Herrentrinkstube im Sinne der sozialen Abgehobenheit, des Mehrseins ihrer Mitglieder, von der übrigen Gesellschaft gedeutet.¹⁴⁴⁶ Eine Stubenliste der Herrenstube von 1416 führt 74 Personen auf, davon waren 7 Mitglieder Adlige, 25 zählten zu den Geschlechtern und 42 gehörten Zünften an. Eine weitere erhaltene Liste von 1522 nennt nunmehr 203 Personen. In Nürnberg kam die nachgeordnete Ehrbarkeit einschließlich der wenigen Handwerker aus dem Kreis der Genannten und aus dem Rat seit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts in der »Herrentrinkstube« zusammen. In Ravensburg gehörten der Trinkstubengesellschaft »Zum Esel« das Patriziat sowie einige Grafen und Ritter der Umgegend an. Eine zweite Gesellschaft, die »Ballengesellschaft«, vereinigte die nichtpatrizischen Kau eute, ungeachtet ob sie zünftig waren oder nicht, sowie andere gut situierte Zunftmitglieder. In der Zeit von 1445 bis 1452 mussten jedoch Zunftmitglieder auf die Trinkstuben der Zünfte gehen, konnten dann aber wieder mit Genehmigung des Rates in die »Ballengesellschaft« eintreten. In Konstanz wies die Gesellschaft »Zur Katz« eine hohe Mobilität zwischen Geschlechtern und Zünften sowie einen hohen Anteil an Ausbürgern auf. Es trafen sich Niederadel und Stadtbürgertum. Zunft-

bürger mussten sich im Unterschied zu den Geschlechtern nicht durch Eid an die Gesellschaft binden. Erst seit der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde die Zulassung restriktiver gehandhabt, nachdem König Sigmund 1430 die Gesellschaft für ständisch abgeschlossen erklärt und Friedrich III. 1441 die Aufnahme von Gesellen an einen edlen Stand oder ein verwandtschaftliches Verhältnis zu den Geschlechtern gebunden hatte. Häu ge gemeinsame Mahlzeiten führten zur P ege von Freundschaft und Gesellschaft zusammen; wie auf den Zunftstuben kam es jedoch auch zu Gewalttätigkeiten und Ordnungsverstößen. Die Trinkstuben waren Mittelpunkte des gesellschaftlichen Lebens mit Fest- und Tanzveranstaltungen und Orte der Kommunikation, des Austauschs von Neuigkeiten über politische Ereignisse und wirtschaftliche Entwicklungen, über Preise, Märkte und Handelspraktiken. Man beurteilte Leumund und Kreditfähigkeit von Kau euten und schloss zugleich Geschäfte mit einem Umtrunk ab. Sie waren auch Orte der politischen Diskussion und Meinungsbildung, des Aushandelns von Ämterbesetzungen, Anknüpfungspunkte für Parteibildungen, vermuteter oder tatsächlicher Konspiration und Umtriebe, von denen, wie die Straßburger Zunftgemeinde von den patrizischen Stuben im 14. und beginnenden 15. Jahrhundert argwöhnte, eine ständige Bedrohung des Stadtfriedens ausging. Nach dem Tumult von 1332, der zum Eintritt der Zünfte in den Rat führte, wurden mindestens vier Herrentrinkstuben abgebrochen, dann aber wieder aufgebaut. Die Straßburger Zünfte verfügten seit 1332 über etwa 60 Trinkstuben, sodass auf einige Zünfte mehrere, teilweise exklusive Trinkstuben ent elen und eine Wahlmöglichkeit bestand. Auf ihnen wurden der zünftige Ratsherrn und der Zunftmeisters gewählt, das Zunftgericht bestimmt, organisatorische Belange entschieden und wie auf den Geschlechterstuben Ansichten über Politik und Wirtschaft

1445 G. M (Hg.), Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 123, S. 378‒380. 1446 J. R, Für den Gemeinen Nutzen (4.1–4.3), S. 184–191.

Handwerker- und Kleinhändlerzünfte – Politische Zünfte 803

ausgetauscht. Die große Zahl der Trinkstuben war für den Münsterprediger Geiler von Kaysersberg wegen des dortigen Treibens und des Alkoholgenusses ein Ärgernis.

8.4 Handwerker- und Kleinhändlerzünfte – Politische Zünfte 8.4.1 Terminologie Vielfältig und teilweise sehr unspezi sch sind die Quellenbegriffe, unter denen die genossenschaftlichen und korporativen Verbände der Handwerker und Kleinhändler rmieren. Die in der Forschung gebräuchliche Unterscheidung von Kaufmannsgilden und Handwerkerzünften folgt praktischen Überlegungen und berücksichtigt den Umstand, dass das Wort Zunft in den Quellen kaum als Bezeichnung für Kaufmannsgilden erscheint. Die Kau eute bilden allerdings dort eine Zunft, wo die politische Zunft, die von der Gewerbszunft zu unterscheiden ist, verfassungsrechtliches Gliederungsprinzip für die Stadtbevölkerung ist (Zunftverfassung). Der Ausdruck Zunft stellt einen Quellenterminus dar und wird als wissenschaftlicher Ordnungsbegriff gebraucht.¹⁴⁴⁷ Parallele Quellenbegriffe sind Gilde, Amt (officium), Handwerk und (Ge-)werk (opus, opi cium, arti cium), Meisterschaft (magisterium), Innung und Einung (unio), Gesellschaft (societas, consortium), Zeche und Bruderschaft (fraternitas), in symbolischer Ausdrucksweise auch Kerze. In Niederdeutschland wird von Gilde und Amt (ambacht) gesprochen. Der Ausdruck Innung ist vorwiegend in Mitteldeutschland gebräuchlich, Einung ist die oberdeutsche Form. Zeche ndet sich in Österreich, Bayern, Mähren, Böhmen und Schlesien; in Schlesien kommt auch der Ausdruck Mittel vor. In Norddeutschland und Dänemark wird gelegentlich auch der Ausdruck Kompagnie (kumpanie) gebraucht, in Bremen der Ausdruck Sozietät. In Lübecker Zunftrollen (Statu-

ten) ist einige Zeit hindurch von Amt und Lehen die Rede, die Zunftmitglieder werden Verlehnte genannt. Gaffel ist niederrheinisch (Köln) und meint die politische Bevölkerungseinheit, die topogra sch festgelegt sein kann und in der Regel jeweils mehrere gewerbliche Zünfte umfasst. Zunft als Bezeichnung für die gewerblichen Genossenschaften ist zuerst in Basel für 1226 und 1247 belegt. Die Bezeichnung schiebt sich vom südlichen Südwesten aus im Laufe der Jahrhunderte über Mitteldeutschland bis an die niederdeutsche Küste vor. Die Belege für das 13. und 14. Jahrhundert sind noch fast ausschließlich auf die Gebiete südlich des Mains beschränkt, Streubelege in Mittel- und Norddeutschland gehören dem 15. bis 17. Jahrhundert an. Die räumliche und zeitliche Verbreitung der verschiedenen Bezeichnungen wird im Einzelnen von der Rechtswortgeogra e untersucht. Einige der Bezeichnungen wie Gilde, Einung, Zeche oder Gaffel sind keineswegs auf die Handwerkerzunft beschränkt und benennen auch andere Verbände, oder sie erfassen mit ihrem weiten Bedeutungsspektrum allgemeinere und speziellere Bedeutungsinhalte. Auch werden für die gleiche Sache gelegentlich verschiedene Bezeichnungen als Paarformeln oder mehrgliedrige Wortreihen nebeneinander gebraucht. Die verschiedenen Worte sind zwar sprachwissenschaftlich betrachtet als Heteronyme, d. h. verschiedenartige Bezeichnungen für die gleiche Sache in unterschiedlichen Arealen, von unterschiedlich großem Bedeutungsumfang und bringen Nuancen und Besonderheiten zum Ausdruck, die etymologischen Befunde lassen jedoch keine gesicherten Rückschlüsse auf die Zunftentstehung oder auf unterschiedliche Zunfttypen zu. 8.4.2 Zunftentstehungstheorien Die Gründung genossenschaftlich-einungsrechtlich organisierter Handwerkerverbände,

1447 K. O, Der Wandel in den Bezeichnungen für gewerbliche Zusammenschlüsse des Mittelalters; R. SW, Die Bezeichnungen Zunft und Gilde; A. K, Zünfte, S. 24–29.

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Sozialformen und Sozialgruppen

welche die Angehörigen eines Berufes und Gewerbes im Bereich der gesamten Stadt zusammenschließen, setzte im 12. Jahrhundert ein und breitete sich im 13. Jahrhundert aus. Zur Entstehung der Zünfte sind angesichts einer dürftigen Quellenlage verschiedene eorien mit zum Teil vielfältigen Varianten formuliert worden. Die Annahme, dass es nur einen Entstehungsvorgang geben könne, ist jedoch im Hinblick auf die unterschiedlichen Rechts- und Herrschaftsverhältnisse sowie Emanzipationsprozesse in den verschiedenen Städten keineswegs zwingend. Vor allem drei eorien haben in der Vergangenheit die Diskussion beherrscht.¹⁴⁴⁸ 1. Die Hofrechtstheorie führt die Zunftentstehung auf grundherrschaftlich organisierte Verbände unfreier Handwerker auf den Fronhöfen des Frühmittelalters zurück. Zwei Entwicklungen bilden die Grundlage der Zunftentstehung. Große Grundherren teilen ihre Markthandwerker nach Berufsgruppen in Ämter (officia) ein, von denen sich einige in Magisterien genannte Ämter eigenen Rechts mit Selbstverwaltung weiterentwickeln. Auf der anderen Seite gründen Angehörige desselben Handwerks religiöse Bruderschaften. Durch die Vereinigung der Bruderschaft als Grundlage mit dem Magisterium und dessen wirtschaftlicher Zwecksetzung und Verfassung entsteht die freie Zunft. Das Magisterium als Amt eigenen Rechts ist jedoch eine reine Konstruktion, die darauf fußt, dass ein Quellenterminus als theoretisch-institutioneller Begriff aufgefasst und weitreichend ausgedeutet wird. Die Hofrechtstheorie ist heute aufgegeben. 2. Mit der Ämter- oder Marktkontrolltheorie¹⁴⁴⁹ wird die Auffassung vertreten, wonach der Stadt- und Marktherr aus verwal-

tungstechnischen Erwägungen die Vereinigung der Handwerker nach den einzelnen Gewerbezweigen zur besseren Marktkontrolle und Erhebung von Abgaben verfügte. Die verschiedenen Berufsgruppen bilden mit jeweils einem vom Stadtherrn eingesetzten Meister an der Spitze Ämter, die der leichteren und effektiveren Ausübung der Gewerbepolizei und -gerichtsbarkeit sowie der Einforderung von gewerblichen Abgaben und Dienstleistungen dienen. Der Ämterorganisation wohnt mit dem Beitrittszwang bereits im Prinzip der Zunftzwang inne. Die in den Ämtern vereinigten Handwerker wachsen durch die gemeinsam zu tragenden Lasten und durch ihre gemeinsamen Interessen zu einem genossenschaftlichen Verband zusammen. Die Zunft ist weitgehend fertig, sobald es den Handwerkern gelingt, die Position des leitenden Amtsmeisters selbständig mit einem Berufsgenossen zu besetzen. Ämterorganisationen, die alle Marktgewerbe erfassen und die ihnen zugeschriebene Bedeutung für die Markt- und Gewerbekontrolle erfüllen, lassen sich in den Quellen jedoch nicht nachweisen. 3. Eine weitere eorie sieht die Zünfte von Anfang an als freie Einungen freier Handwerker, die von einem »lebhaften Associationstrieb« beseelt sich aus eigener Initiative zu Einungen zusammenschließen, deren Zweck »in erster Linie die Erlangung des Zunftzwangs« ist.¹⁴⁵⁰ Mit den primären beru ichen und wirtschaftlichen Interessen und Zielsetzungen lassen sich dann – gewissermaßen in Erfüllung des Gildetypus – auch religiöse und gesellige Zwecke verbinden. Von Anfang an handelt es sich um Verbände oder Körperschaften mit öffentlichrechtlichem Charakter nach heutigen Begrif-

1448 F. I, Zur Problematik der Gilde- und Zunftterminologie, S. 60 ff.; W. Z, »Zünfte«, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 11 (1965), S. 484–489; K. S, Art. »Zunft«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. IX, 1998, S. 686–691; ., Handwerk, Zünfte und Gewerbe (9.1–9.2). Hervorzuheben ist auch die Erörterung der eorien bei P. S, Geschichte des deutschen Städtewesens (Einleitung), S. 121–126, 133 ff.; vgl. noch R. W, Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit, I, S. 11–48. Gesamtdarstellungen: S. . H, A. K. 1449 F. K, Ämter und Zünfte. 1450 G. . B, Die Motive der Zunftbildung, S. 23 ff.; ., Territorium und Stadt ( Einleitung), S. 213 ff.

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fen. Einige Autoren wollen in den Handwerkereinungen (originäre) Eidgenossenschaften erkennen, doch trifft dies allenfalls für politische Zünfte zu, die aus Bürgereinungen hervorgegangen sind. Obwohl die eorie der freien Einung nicht übersieht, dass es der Stadtherr und später der Rat sind, die auf eine Petition der Handwerker hin den Zunftzwang verleihen und die Zunft anerkennen, wird die Initiative der »zunftlüsternen« Handwerker (Georg von Below) für entscheidend erachtet. Geht man andererseits davon aus, dass Zünfte auf die ordnungspolitische Initiative interessierter, zur Gründung berechtigter Stadtherren und Autoritäten entstanden sind und der Stadt in gewerblichen, politischen, rechtlichen und militärischen Angelegenheiten letztlich untergeordnet waren, so ist durchaus eine Fortentwicklung hin zu mehr Eigenständigkeit, eigener Rechtssphäre und zum tendenziellen Charakter einer freien Einung bis hin zu autonomem Gebaren zu beobachten. Die in den Quellen überlieferten verschiedenen Umstände der Zunftgründungen geben keinen Anlass, generalisierend eine gleichförmige Zunftentstehung anzunehmen. Ungeachtet ihres unterschiedlichen Wertes für eine Erklärung der Zunftentstehung sind allen diesen eorien einzelne zutreffende Aspekte der Handwerksgeschichte eigen. Dazu gehören – die geschlossene Ansiedlung von unfreien Handwerkern durch den Grund- und Stadtherrn und die Zusammensetzung von Handwerkergruppen aus Personen, die unterschiedlichen personenrechtlichen Bindungen unterliegen, aus denen sie sich in einem längeren Prozess lösen; – die Existenz dienstrechtlich gebundener und privilegierter »Kammerhandwerker«

der Wechslerhausgenossen und Kürschner (Trier, Straßburg) bis ins 14. und 15. Jahrhundert; – die Unterstellung dienst- und abgabep ichtiger Berufsgruppen (officia) – keineswegs aber aller und auch nicht der für den Marktverkehr wichtigsten – unter den Burggrafen aus der Ministerialität, der die Gewerbegerichtsbarkeit ausübt und den jeweiligen Amtsmeister (magister) einsetzt, wie etwa in Straßburg noch bis in das 14. Jahrhundert hinein¹⁴⁵¹; – der Zusammenhang zwischen der freien Einung der Handwerker und den Rechten von Stadtherr oder Rat über Marktverkehr und Gewerbe. 8.4.3 Die Herausbildung der Zunft und ihrer Organisationsform am Beispiel früher Basler Zünfte Instruktive Aufschlüsse über die Bildung einer Zunft (confraternia, confratria sive zumfte) ergeben sich aus der Zunftentwicklung in Basel in der Zeit von 1226 bis 1271, für die eine relativ große Zahl von Zunftgründungsurkunden überliefert ist.¹⁴⁵² Als konstitutive Elemente treten bei der Bestätigung der ›zur Ehre und zum Nutzen der Stadt‹ eingerichteten Kürschnerzunft 1226 in Erscheinung: – Die Angehörigen des Handwerks und Gewerbes (opus, opi cium) treffen eine freie Vereinbarung (condictum) über Bildung und Ausgestaltung der Zunft, deren Schutzheilige wie bei den anderen Zünften die Jungfrau Maria ist. Auf ihre Bitte hin approbiert der Bischof als Stadtherr mit Rat und Zustimmung des Propstes, des Dekans und des gesamten Domkapitels sowie der bischö ichen Ministerialen die Vereinbarung und verleiht ihr dadurch Rechtskraft. – Im Falle der Zunft

1451 H. M; K. S (2.5.2.2). Gegen den Ausschließlichkeitsanspruch der eorie der freien Einung wendet R. W (S. 31) die Dienstbarkeiten hervorhebend polemisch ein, dazu hätten sich »die Zimmerleute in Straßburg gewiss nicht zusammengeschlossen, um alle Montage vor der bischö ichen Burg zu warten, ob der Bischof ihrer bedürfe, oder die Gastwirte und Müller, um die Abtritte des Bischofs zu reinigen!« 1452 R. W, Geschichte der Stadt Basel, Bd. 2,1, 1911, S. 392 ff.; ., Bruderschaften und Zünfte zu Basel; K. S, Patriziergesellschaften und Zünfte in den mittel- und oberrheinischen Bischofsstädten; F. K, Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nrr. 271–277, S. 366–371.

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Sozialformen und Sozialgruppen

der Gärtner, Obster und Menkeller werden bei der Erlaubnis zur Zunftbildung noch der (bischö iche) Rat und das Volk (gedigens) als Ratgeber erwähnt, wie das Volk (vulgus) bereits 1149 bei der Bestätigung der Zunft (fraternitas) der Kölner Decklakenweber durch den Untervogt, den Untergrafen, die Schöffen (senatores) und die Vornehmen (meliores) der ganzen Stadt auf dem domus civium als Zustimmung bekundender Umstand (favore applaudens) erscheint.¹⁴⁵³ – Die Vereinbarung enthält als ein Kernstück den Zunftzwang: Wer das Gewerbe ausüben will, aber der Zunft nicht beitritt, unterliegt einem Berufs- und Marktverbot und bleibt von jeglicher Gemeinschaft der Gewerbetreibenden ausgeschlossen. Verletzungen der Vereinbarung werden mit einer bestimmten Geldbuße geahndet; das Bußgeld geht zu je einem Drittel an den Bischof, die Stadt und die Zunft. – Die Zunft besteht aus einer gewerblichen Gesellschaft oder Genossenschaft (societas) und einer Bruderschaft (confraternitas). Es ist auch der Beitritt allein zu der Bruderschaft möglich. – In die Vereinbarung sind nicht nur Männer, sondern auch Frauen der Zunft einbezogen. – Der Bischof setzt einen Zunftmeister (magister) aus dem Kreis der Zunftgenossen ein und ernennt außerdem jedes Jahr einen seiner Ministerialen, der die Oberaufsicht führt. – Festgelegt werden die für Gewerbszunft und Bruderschaft gestuften Eintrittsgelder und die Bußensätze. Spätere Zunftgründungsurkunden – seit 1260 – enthalten bereits die freie Wahl des Zunftmeisters mit Leitungs- und Strafgewalt. Der von Bischof, Kapitel und Stadt jeweils mit eigenem Siegel beglaubigte Zunftbrief für die Gärtner, Obster und die mit Lebensmitteln handelnden Menkeller (1264/69)¹⁴⁵⁴, der mit knappen Bestimmungen ein komplexes Gebil-

de entwirft, schreibt für die Wahl und alle Beschlüsse der Zunft das Mehrheitsprinzip vor sowie die Bestellung eines beratenden Zunftvorstandes. Eingangs verp ichten sich der Bischof und die Zunft zu gegenseitiger Hilfe in Notlagen. Die Zunftgenossen dürfen, so wird der Zunftzwang ausgedrückt, alle, die ihr Handwerk ausüben, ›mit dem Handwerk in ihre Zunft zwingen‹. Unterschieden wird zwischen Zunftmitgliedern, die das Handwerk ausüben und solchen, die mit geminderten Eintrittsgebühren der Zunft nur im Hinblick auf die liturgisch-religiöse und soziale Bruderschaft beitreten. Diese Zunft enthält – mit Ausnahme der Trinkstube – bereits fast alle wirtschaftlichen und bruderschaftlichen Elemente sowie organisatorischen Regelungen einer typisch ausgeformten Zunft. Einzelne Bestimmungen betreffen die Gebühren für den Beitritt (›Zunftkauf‹) und die Verwendung des Almosens (Kasse) für die Kerzenbeleuchtung im Basler Münster an Festtagen, die Bestattung armer Genossen und die Heimführung unterwegs Verstorbener, ferner die Begleitung verstorbener Genossen oder ihrer Ehefrauen mit Opfer und Kerze. Neben dem Zunftzwang erscheint die Rügep icht bei strafbaren gewerblichen Vergehen, die wie der Gebrauch falschen Maßes und Warenverfälschung durch Vermischung von Salzsorten unterschiedlicher Qualitäten namentlich genannt werden. Geregelt werden die Bußensätze und der Zunftausschluss bei Vergehen – wie Ungehorsam gegen das militärische Zunftaufgebot oder Verstöße beim Verkauf – und die Bedingungen für die Wiederaufnahme durch den ›Wiederkauf‹ der Zunft. Bei notorischer ›Bosheit‹ wird das Zunftrecht endgültig verwirkt. Der Bischof gebietet den Zunftgenossen bei ihrem Eid, den Betreffenden nicht wieder aufzunehmen, gelobt andererseits, keine Bitte um Wiederaufnahme anzuhören. Die damalige Position des Bischofs gegenüber der Zunft wird auch daran erkennbar, dass dieser ein Drittel

1453 Den Kölner Drechslern wurde die Bruderschaft um 1185 bereits durch die beiden Bürgermeister mit Rat und Konsens der Amtleute (officiales) der Richerzeche verliehen; F. K, Urkunden, Nr. 256, S. 353 f. 1454 G. M, Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 4, S. 61–63.

Handwerker- und Kleinhändlerzünfte – Politische Zünfte 807

der von der Zunft verhängten Bußen erhalten soll, sich bei Warenbetrug die Gerichtsbarkeit seines Gerichts vorbehält und ankündigt, bei schweren und zerstörerischen Vergehen gegen die Satzungen der Zunft und das Almosen die Täter in die ›Unhuld des allmächtigen Gottes, der Heiligen Jungfrau Maria und aller Heiligen‹ zu verkünden und über sie mit der Gewalt, die er ›von Gott und dem geistlichen Gericht‹ habe, den Kirchenbann zu verhängen. Die Zunft tritt nun auch als militärische Einheit mit Aufgebot und Banner in Erscheinung. Wer in der Zunft das Handwerk ausübt, muss in ihr seinen Kriegsdienst erfüllen; sofern dieser Dienst nicht beeinträchtigt wird, kann er dies auch noch in einer anderen Zunft tun. Möglich ist also ausdrücklich die Doppel- oder Mehrzünftigkeit, doch gibt es eine Präferenz zugunsten der wegen der Berufsausübung gewählten Zunft als der Hauptzunft, während mit anderen Zünften eine weniger enge Bindung eingegangen wird. Dies schlägt sich auch in der Bestimmung nieder, dass der Ausschluss aus dieser Zunft sowie der Rückkauf des Zunftrechts automatisch auch für die anderen Zünfte gelten. Man dient in einer Zunft mit der Person ›leibzünftig‹, in der anderen ›geldzünftig‹, heißt es in der späteren Zunftsprache. 8.4.4 Gewerbliche Zünfte und politische Zünfte Die Zunft bedurfte der Anerkennung des Stadtherrn und später des Rates, die ein Eingriffsund Aufsichtsrecht besaßen und letztlich auch ein Zunftverbot aussprechen konnten.¹⁴⁵⁵ Verschiedentlich hemmten Stadtherrschaft, Rat und Führungsschicht die Entwicklung des Zunftwesens, billigten den Zünften nur ein begrenztes Maß an Rechten und Selbständigkeit

zu und übten eine intensive Kontrolle aus. Seit der Wende zum 14. Jahrhundert erstritten sich Zünfte häu g in Koalitionen mit Patrizierfraktionen oder mit einer wirtschaftlich aufstrebenden, aber am Stadtregiment nicht beteiligten Kaufmannsschicht Selbständigkeit und politische Rechte. Es entstanden politische Zünfte als Bestandteile des städtischen Verfassungsgefüges mit einem Anteil am Stadtregiment, oder es wurde die Verfassung auf die Grundlage von Zünften gestellt. Dabei blieben in der Regel die Gewerbszünfte oder Handwerke erhalten und wurden von der politischen Zunft überformt. Die Gliederung der Gemeinde in Zünfte hatte zur Folge, dass Bürger und Einwohner, die weder ein Handwerk ausübten noch eines erlernen wollten, aber nicht dem Patriziat angehörten, in irgendeine der politisch-gewerblichen Zünfte eintreten mussten. Zu unterscheiden sind an Formen der Zunft: (1) Die gewerbliche Zunft (mit bruderschaftlich-geselligem Unterbau) als homogener Zusammenschluss von Angehörigen desselben Gewerbes (oberdt. Handwerk) und (2) die gewerbliche Großzunft, in der nahe verwandte Gewerbe organisatorisch zusammengefasst sind und in der häu g Rangfolgen und Abhängigkeitsverhältnisse unter den einzelnen Unterzünften hinsichtlich von Produktionskontrolle und Gerichtsbarkeit herrschen. Beide Formen sowie die Zusammenfassung mehrerer heterogener Handwerke, die miteinander wenig oder nichts zu tun haben und häu g eine interne Hierarchie ausbilden, zu einer (3) Sammelzunft bilden die Grundlage für (4) die politische Zunft.¹⁴⁵⁶ Gelegentlich nden sich in einer Sammelzunft die armen Angehörigen disparater Berufe mit gemindertem Bürgerrecht. Die Mitgliedschaft in der politischen Zunft ist ohne gleichzeitige Mitgliedschaft in der Ge-

1455 An Zunftordnungen (Briefe, Rollen, Schragen) sind vom Stadtherrn oder Rat dekretierte Ordnungen, von den Zünften selbst ausgearbeitete und vom Stadtherrn oder Rat bestätigte Willküren (Satzungen) sowie weit seltenere reine, von der Zunft gesatzte und in Kraft gesetzte Willküren zu unterscheiden. Sofern die Zunftordnung dekretiert oder bestätigt war, behielten sich Stadtherr oder Rat zugleich ein Eingriffsrecht, das Recht, die Statuten zu mehren oder zu mindern, die Bestimmungen zu interpretieren und ein Aufsichtsrecht über den ordnungsgemäßen Vollzug der Statuten vor. Vgl. F. D, Zunftrecht, S. 10–37. 1456 Vgl. F. I, Zur Problematik der Gilde- und Zunftterminologie, S. 61, 68 ff.; K. S, Die politische Zunft.

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Sozialformen und Sozialgruppen

werbszunft möglich. Im Hinblick auf die korporative Verfassung der Stadtgemeinde kann die Zugehörigkeit zu irgendeiner politischen Zunft, die eine eidliche Loyalitätsbindung gegenüber dem Rat und der Gemeinde herstellt, obligatorisch sein wie in Köln seit 1396, oder das Bürgerrecht und sein Erwerb verp ichten wie in Esslingen zum Eintritt in irgendeine beliebige Zunft, die den Betreffenden ohne Rücksicht auf dessen Beruf ohne Widerrede aufnehmen muss. In Rottweil besaßen die einzelnen Handwerke innerhalb der politischen Zunft eine gewisse Selbständigkeit und hatten ein beschränktes Satzungsrecht für ihre Mitglieder; an der Spitze stand ein Obmann. Außerdem sahen sich Rat und Gemeinde 1484 veranlasst, eine völlige Kongruenz von handwerklicher Berufsausübung und Zugehörigkeit zur entsprechenden gewerblichern Zunft zu verordnen.¹⁴⁵⁷ 8.4.5 Was ist eine Zunft? Als »künstliche Familie« (Leopold von Ranke) kam die Zunft verschiedenartigen Lebensbedürfnissen entgegen. Das soziale Grundmotiv der freien Einung wurde von Otto von Gierke in einem elementaren menschlichen Bedürfnis und in »instinktivem Streben nach Zusammenschluss« gesehen angesichts der sich au ösenden alten Gemeinschaftsverbände von Stamm, Dorf und Familie und angesichts gleichartiger Berufsausübung, der nachbarschaftlichen Nähe von Arbeits- und Wohnstätten. Im Unterschied zu den modernen freien Assoziationen als Fachverbänden mit ihren nur partiellen Zweckbestimmungen charakterisierte Gierke die Zünfte als Verbindungen, die »den ganzen Menschen ergriffen und sich auf alle Seiten des Lebens erstreckten«, d. h. »zugleich religiöse, gesellige, sittliche, privatrechtliche und politische Ziele« besaßen. Einzelne dieser Ziele waren als Motive der Vergesellschaftung und Gemeinschaftsbildung in den Vordergrund gerückt und prägten

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die Gemeinschaften in dieser Richtung, doch waren die Mitglieder »zugleich für alle anderen Gemeinschaftszwecke vereint«.¹⁴⁵⁸ Die Zunft war dazu geschaffen, dass die Mitglieder, wie es in Statuten heißt, Lieb und Leid gemeinsam miteinander trugen. Es handelt sich hingegen um ein isoliertes wirtschaftliches Recht und um einen Sonderfall, wenn die Esslinger Zunftordnung gemäß einer Rechtsmitteilung an Reutlingen von 1331 bestimmt, dass ein Jude, der einer Beschäftigung in der Ledergerber- und Pergamenterzunft nachgehen wolle, die Zunft kaufen müsse, aber dennoch in jeder Hinsicht wie ein anderer Jude lebe.¹⁴⁵⁹ »Die Zunft war eine Lebensgemeinschaft, die als Interessen- und Kampfverband gewerblich Tätiger wirkte, als Regulierungsverband die Freiheiten, Rechte und Vorteile ihrer Mitglieder normierte und sicherte, als Korporation im Dienste des Stadtregiments die Erfüllung der bürgerlichen P ichten ihrer Mitglieder verbürgte, in begrenzter Selbstverwaltung wirtschaftspolizeiliche Funktionen ausübte und als Bruderschaft freiwillig übernommene religiöse, gesellige und karitative Aufgaben durchführte.«¹⁴⁶⁰ Hinzu kamen spezielle kulturelle Aktivitäten wie die der Meistersinger, die sich zur P ege des Meistergesangs seit dem 15. Jahrhundert nachweisbar zunächst in Nürnberg, Augsburg, Mainz und Straßburg allerdings in besonderen Gesellschaften zusammenschlossen. In einer Vielzahl von Städten waren den Zünften im Rahmen der Zunftverfassung Ratssitze und Stadtämter reserviert, wodurch sie am Stadtregiment teilhatten. Deutlicher als in vielen anderen Städten waren in Basel die verschiedenen Funktionen der spätmittelalterlichen Zunft auf gesonderte Einrichtungen aufgeteilt. Für jede dieser Einrichtungen musste die Mitgliedschaft gesondert durch ein spezielles Eintrittsgeld erworben werden. Der Mitgliederbestand war zwar zum größten Teil derselbe, nicht aber grundsätzlich. Die

H. G (Hg.), Das ältere Recht der Reichsstadt Rottweil (2.2.–2.4), Nr. 277, S. 203. O. . G, Das deutsche Genossenschaftsrecht I (2.2–2.4), S. 226, 228. G. M, Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 37 [9], S. 170. K. F. W, Handwerksgeschichtliche Perspektiven, S. 49.

Handwerker- und Kleinhändlerzünfte – Politische Zünfte 809

Zunft, die nach außen als Einheit in Erscheinung trat, barg die folgenden Einrichtungen: 1. Den Gewerbeverband der Zunft (societas) mit Zunftzwang, Zunftgerichtsbarkeit in Sachen des Handwerks und Zunftregentschaft durch den Zunftmeister und den Zunftvorstand (Sechser/Zwölfer). Ort des gewerblichen Verkaufs, der Zunftversammlungen und anderer Zunftgeschäfte ist die Zunftlaube. 2. Die Bruderschaft, die in späteren Statuten auch Seelzunft genannt wird. Sie übernimmt kirchliche Dienste und P ichten, richtet die Begräbnisse aus und begeht die Jahrtage (Jahrzeiten); sie dient der Erlangung kirchlicher Gnaden. Die Seelzunft besitzt zwar eine eigene Kasse, wird aber von der gewerblichen Zunftregentschaft geleitet. Außer den Mitgliedern des Gewerbeverbands treten ihr eine größere Zahl von Geistlichen bei, ferner Frauen, Amtsträger und Herren aus Nachbarschaft und Umland. Seuchenzeiten und Pestzüge erhöhen den Zustrom. 3. Die Stube oder Gesellschaft mit eigener Ordnung, eigenem Gesellschaftsvorstand und eigenem Lokal, das sich zusammen mit der Laube in einem Hause be nden kann, vielfach aber auch abgesondert ist. Anfänglich hat die Stubengesellschaft eine eigene Gerichtsbarkeit in hier begangenen Fällen von Unfug, Händeln und Friedensbrüchen. Die in Basel erlaubte Mehrzünftigkeit hatte ausgeprägte soziale und religiöse Gründe, die Anders- oder Nichtzünftige zum Beitritt zu Bruderschaften und Stubengesellschaften bewogen. Weder Bruderschaft noch Stubengesellschaft vermittelten wirtschaftliche oder politische Rechte und Verp ichtungen gegenüber der Stadt; diese begründete nur die Zugehörigkeit zum gewerblichen Verband. Mit der Zunahme des gewerblichen Verkehrs entstanden gegen Ende des 14. Jahrhunderts die Zunfthäuser. Das Zunfthaus erübrigte die Laube und nahm die Stube auf. Es enthielt Trinkstube, Sitzungssaal, Rüstkammer, Kasse und Archiv. Die Gerichtsbarkeit der Stubengesellschaft ging zu Beginn

des 15. Jahrhunderts an die gewerbliche Zunftregentschaft über, die Stubenverwaltung hatte nur noch eine Rügep icht bei Verstößen gegen die Stubenordnung. In der Folgezeit gingen die Elemente gewerblich-politische Zunft, Bruderschaft und Stube immer mehr ineinander über. Das Handwerk verlieh der Stadt den Charakter der Produzentenstadt anstelle der antiken Konsumentenstadt. Otto von Gierke hat die »großartige organisatorische Leistung« und das »historische Verdienst« der Zünfte hervorgehoben, in einer feudalen Umwelt »zum ersten Mal das Recht und die Ehre der Arbeit« durchgesetzt zu haben, zugleich aber auch den Blick auf deutliche Missbräuche und Verfallserscheinungen im Sinne eines egoistischen, fremdenfeindlichen, unduldsamen und kleinlichen »Monopoliengeistes« gelenkt.¹⁴⁶¹ Einige dieser Erscheinungen sind bereits durch die Verbandsbildung grundgelegt, doch ist nicht von einer allgemeinen Gewerbefreiheit auszugehen, die durch die Zünfte beseitigt worden wäre. Sie sind gelegentlich schon im Spätmittelalter anzutreffen, breiteten sich aber erst im Zusammenhang mit einer Verschlechterung der Lage des Handwerks im 16. Jahrhundert, vor allem seit der Wende zum 17. Jahrhundert in großem Umfang aus, als auch die Bevölkerung erheblich angewachsen war. 8.4.6 Die Anzahl der gewerblichen und politischen Zünfte Zu den ältesten urkundlich nachweisbaren Zünften gehören die 23 Fischer in Worms (1106/07), die Schuhmacher in Würzburg (1128), die Kölner Bettziechen- oder Bettlakenmacher (1149) und Drechsler (1178/82), die Mainzer Weber (1175/angeblich 1099), die Magdeburger Schuster (1152/92), Wandkrämer (1183) und Schilderer (1197), die Basler Kürschner (1226) und die Braunschweiger Goldschmiede (1231). Die Anzahl der Zünfte einer Stadt hing von ihrer Bevölkerungsgröße, ihrer gewerbli-

1461 O. . G, Das deutsche Genossenschaftsrecht I, S. 358 f.

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Sozialformen und Sozialgruppen

chen Struktur, der technischen Entwicklung mit ihrer Differenzierung und Spezialisierung der Berufe und von der politischen Verfassung ab. Selbst Kleinstädte mit nur einer Zunft kamen vor. Im 14. Jahrhundert gab es in Basel 15 Zünfte, in Zürich 13, Straßburg 28, Überlingen 7, Konstanz 21, Rottweil 11 und später 9, Ulm 17, Magdeburg 12, Leipzig 26, Bautzen 14, Danzig 16 Zünfte; 50 waren es in Lübeck Ende des 15. Jahrhunderts. In erster Linie handelte es sich jedoch um politische Zünfte, die auf der Struktur des Gewerbes aufruhten. Karl Bücher kommt für Frankfurt am Main für das Jahr 1367 auf 20 Zünfte, vermutet aber eine höhere Zahl rein gewerblicher Zünfte. Der Kölner Verbundbrief von 1396 teilte die Bevölkerung in 22 Gaffeln ein, auf die etwa 50 Gewerbezünfte verteilt waren. In Straßburg schwankte die Zahl der Zünfte je nach Verfassungsreform und Ratszusammensetzung zwischen 25, 28 und 20 Zünften. Die Weber und Tucher wurden erst 1483 im Zusammenhang mit einer Reduktion der Ratssitze zu einer politischen Zunft und erst 1493 in der Hauptsache zu einer gewerblichen Zunft vereinigt. In Konstanz wurden die Zünfte der Gerber und Leinenweber zur Strafe auf ewig abgeschafft. Manchen Zünften wurden die mit dem Handwerk sachlich verbundenen kommerziellen Gewerbe zugeteilt, die wiederum an anderen Orten eigene kommerzielle Zünfte bildeten. Nicht immer ging das gesamte gewerbliche Leben in den Zünften auf. In den Kleinstädten des südwestfälischen Raumes etwa setzte sich das Zunftwesen erst im 15. Jahrhundert allmählich durch. Während in Kleinstädten mit geringem Gewerbeaufkommen die Zünfte kaum ein Dutzend Genossen zählten, konnten große Zünfte in großen Städten Mitgliederzahlen erreichen, die den Rahmen vertrauter sozialer Gruppen völlig sprengten. In Frankfurt gehörten 1387 der Wollenweberzunft etwas über 300 Mitglieder an. Schmiede, Bäcker, Schneider hatten jeweils etwas über 100 Mitglieder. Metzger, Schuhmacher und Fischer lagen etwas unter dieser Zahl. In Basel,

wo es allerdings Doppelzünfte und Doppelzünftigkeit gab, ent elen 1429 auf die Zimmerleute und Maurer 219, Grautucher und Rebleute 213, Krämer 181, Schmiede 172, Gärtner 159, Schneider und Kürschner 123 und die Weinleute 121 Mitglieder. Die übrigen Zünfte hatten weniger als 100 Mitglieder. Aus politischen Gründen reduzierte König Sigmund 1430 in Konstanz die Zahl der Zünfte auf zehn, die sich nunmehr stark von den alten Handwerken unterschieden. Felix Fabri, der die Entstehung der politischen Zunftorganisation der Stadt Ulm in die Zeit Karls IV. (Schwörbrief von 1345) legt und in seinem Überblick über die einzelnen Zünfte ihre beru ich-gewerbliche Zusammensetzung darstellt, bemerkt bereits, dass die (politischen) Zünfte nicht nach der Anzahl der einzelnen Handwerke konstituiert worden seien, da es sonst zu viele gegeben hätte, sondern nach dem Gutdünken derer, die sie einrichteten und nach den Bedürfnissen der Zeit. Er ist der Überzeugung, dass sie eine andere Ordnung als die bestehende erhielten, wenn sie jetzt festgelegt würden.¹⁴⁶² In Straßburg formulierte der Rat 1362 das Prinzip, dass alle, die einer Erwerbstätigkeit nachgingen und nicht von ihrem Vermögen lebten, in einer Zunft zu dienen hätten. Damit gliederte er auch bislang den gewerblichen Zünften fernstehende reiche Gewerbe wie die der Goldschmiede und Tuchscherer in die Zunftordnung ein, aber auch, obwohl der Groß- und Fernhandel grundsätzlich frei war, reiche, nichtpatrizische und zwangsweise patrizische Kau eute und Bankiers sowie auf der anderen Seite die große Schar der Lohnarbeiter im Bau- und Transportgewerbe, im Reb- und Gartenbau. Die politischen Zünfte mussten so geformt sein, dass sie in der Lage waren, sechs bis zehn Zunftgenossen für die verschiedenen Ämter wie Zunftmeister, Zunftvorstand, darüber hinaus Vertreter für den Rat und den mitgliederstarken Großen Schöffenrat sowie Personal für die zünftige Wirtschaftsverwaltung und Marktaufsicht zu rekrutieren. Ferner hatten sie Wacht-

1462 Felix Fabri, Tractatus de civitate Ulmensi (1.1), S. 137 f. (dt. Übersetzung S. 93 f.).

Handwerker- und Kleinhändlerzünfte – Politische Zünfte 811

personal auf den Toren und Mauern und im Kriegsfall und bei innerstädtischem Aufruhr eine schlagkräftige militärische Einheit bereitzustellen. Es stellte sich heraus, dass einige Zünfte damit überfordert waren. So musste man in Straßburg saisonal in einzelnen Gewerben stark beanspruchten Zünften zeitweise konzedieren, dass ihre Ratsherren zu bestimmten Zeiten im Rat fehlten, was keine Lösung darstellen konnte, da man doch versuchte, durch Geldbußen den pünktlichen und regelmäßigen Besuch der Ratssitzungen zu erzwingen. Im Jahre 1482 wurde die Zahl der politischen Zünfte von 28 auf 20 herabgesetzt, in Colmar halbierte man 1521 die Zahl der Zünfte von 20 auf 10. Mit solchen Zunftreduzierungen wurde eine Zusammenlegung verschiedener Gewerbe in einer neu dimensionierten Einheit erforderlich; und es musste die Zahl der Ratssitze auch bei den Consto ern reduziert werden, damit die Mehrheitsverhältnisse in ihren Proportionen gewahrt blieben. Dass es bei der Zugehörigkeit zu einer politischen Zunft letztlich nicht mehr auf die Berufsausübung ankam, zeigt die eigentümliche Ulmer Bestimmung, die in Zürich eine Entsprechung hat, wonach derjenige, der seine Zunft verlassen und in eine andere überwechseln wollte, was man ›Zunftfahren‹ nannte, vor offenem Rat eidlich zu bekunden hatte, der Grund dafür liege darin, dass er fürchte, man werde ihn zu einem Zunftmeister mit entsprechender Arbeitsbelastung machen. Später wollte der Rat den Übergang in eine andere Zunft oder zu den ›Bürgern‹, den nichtzünftigen Bürgern oder Patriziern, was einzelne Zünfte schädige, nur noch nach freier Würdigung der ihm vorgetragenen Gründe erlauben. Der Rat passte seine Gesetzgebung den Wechsellagen in einzelnen Zünften an und betonte nun das wirtschaftliche Element einer homogenen Zunft wie das der Kaufleute. Um die seit längerem zu verzeichnenden, angeblich an den Bestand rührenden Abgänge in der Kau eutezunft zu beenden und die

Zunft wieder zu stärken, wollte der Rat 1413 künftig zu Bürgern aufnehmen, wer den üblichen Großhandel mit Wein, Salz und Eisen betrieb, doch musste derjenige in die Kau eutezunft eintreten. Außerdem erlaubte der Rat nun Doppelzünftigkeit in dem Sinne, dass jemand aus einer anderen Zunft auch der Kaufleutezunft beitreten durfte, wenn er eidlich erklärte, sich künftig für seinen Lebensunterhalt mehr dem Handel als seinem ursprünglichen Gewerbe oder Handwerk zu widmen und dass er nicht eintrete, weil er befürchtete, in der alten Zunft zum Zunftmeister und Ratsherrn gewählt zu werden. Im Jahre 1418 bekräftigte der Rat die Ordnung, die bisher nur teilweise befolgt worden sei, und erließ denen, die von einer anderen Zunft in die der Kau eute wechselten, das Eintrittsgeld. Doch 1442 konnte der Rat feststellen, dass sich die Lage in der Kau eutezunft gebessert habe, und erachtete die Freiheit der Bürger, in die Zunft überzuwechseln, nicht mehr für erforderlich.¹⁴⁶³ 8.4.7 Die Bauform der Zunft 8.4.7.1 Die Bruderschaft der Zunft Den sozialen Unterbau der Zunft bildet regelmäßig eine Bruderschaft, deren Mitgliederkreis in erster Linie durch das ausgeübte Handwerk, den Beruf, das Amt (opus, opi cium, officium) bestimmt wurde. Es gibt auch Zünfte, die bruderschaftliche Ziele in vollem Umfang daneben oder erst spät aufnahmen. Eintrittsgebühren sowie die bei Ordnungsverstößen verhängten zahlreichen Strafen und Bußen waren häu g zu einem Teil in Wachs und in Bier oder Wein zu entrichten, oder es wurde ein Teil der Geldeinnahmen auf die Beschaffung von Wachs verwendet. Das in größeren Mengen benötigte teure Wachs diente der Herstellung der Kerzen für die Beleuchtung der Kirchen und weist auf die kirchlich-liturgischen Dienste der Zunft hin. Wein und Bier sowie später das Meisteressen nach erfolgter Meisterprüfung dienten der Aus-

1463 C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm (2.2–2.4), Nr. 49, S. 47; Nr. 185c, S. 101; Nr. 265, S. 146; Nr. 459 f., S. 226–228.

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Sozialformen und Sozialgruppen

richtung der auf den Zunftstuben veranstalteten geselligen und rituellen Festmähler und Trinkgelage. Die Zunft verehrte einen Heiligen als ihren Schutzpatron (Patrozinium), stiftete und unterhielt einen Altar in der Kirche oder besaß sogar eine Zunftkapelle, besuchte gemeinschaftlich Gottesdienste, veranstaltete Prozessionen, Wallfahrten und Kirchenfeste, versammelte sich zu gemeinsamer Andacht, stiftete Messen und Opfer für Lebende und Tote, versah liturgische Dienste und beteiligte sich an der Kirchenrenovierung. Von außerordentlich großer Bedeutung als Ausdruck der brüderlichen Verbundenheit über den Tod hinaus waren die Ausrichtung eines würdigen Begräbnisses verstorbener Zunftgenossen und die individuellen oder kollektiven Seelenmessen für verstorbene Zunftmitglieder in weiterem Sinne. Die Teilnahme am Leichenbegängnis mit Vigilien, Totenwache und Exequien, an Opfer und Seelenmesse für verstorbene Meister, aber auch für deren verstorbene Ehefrauen und Kinder sowie für Lehrlinge und Gesellen, war streng obligatorisch und sanktioniert. Für das Begräbnis in Bedürftigkeit Verstorbener kam die Zunft auf, die begrenzt auch Überführungskosten außerhalb der Stadt Verstorbener übernahm. Die Zünfte besaßen vielfach Leichengeräte wie Bahre und Tücher, eigene Begräbnisstätten oder gar einen eigenen Friedhof. Vor allem das Begräbnis sollte durch die Eintrittsgebühr und durch regelmäßige Beiträge gesichert werden. Auch Zahlungen an bedürftige Hinterbliebene kamen vor. In Einzelfällen ist schon für das 14. Jahrhundert die Einrichtung von Begräbnis- und Sterbekassen belegt, aus denen die Begräbniskosten und die Zahlung einer bestimmten Summe beim Tod des Meisters, seiner Frau oder eines Gesellen an Hinterbliebene bestritten wurden. Das Sozialgebilde Zunft hatte sich durch seine Leistungen als umfassende Solidargemeinschaft in den verschiedensten Wechselfällen

des Lebens, bei Krankheit, Invalidität, Armut, krankheitsbedingter und arbeitsvertraglich saisonaler Arbeitslosigkeit, friktioneller Arbeitslosigkeit durch Stellungswechsel und Wandern, bei Alter und Tod zu bewähren. Die Zunft erfüllte dadurch die Funktion einer frühen Sozialversicherung.¹⁴⁶⁴ Die verschiedenen Risiken wurden nicht in jedem Falle und auch nicht alle zusammen durch die einzelnen Zünfte abgedeckt. Auch ist wenig über die konkreten Hilfsmaßnahmen und über die Leistungsfähigkeit der Zunftkasse bekannt. Die Unterstützung durch die Zunft wurde in der Regel aus einer einzigen Kasse geleistet, sodass die einzelnen Risiken und Unterstützungsmaßnahmen nicht im Sinne einer Bindung der Mittel an den Zweck nanziell und organisatorisch getrennt waren, doch kommen in späteren Zeiten häu ger aus speziellen Beiträgen gebildete Kranken- oder Sterbekassen vor. Im Sinne christlicher Nächstenliebe (caritas) sollten auch bedürftige Zunftfremde aus der Kasse unterstützt werden. Aus der Zunftkasse (Büchse, Lade) wurden auch weitere Gemeinschaftsausgaben nanziert wie der Erwerb oder die Pacht von Grundstücken, Häusern und gewerblichen Betriebsstätten, die Anlage von Getreidevorräten für Krisenzeiten, der Ankauf von Waffen für den Wacht- und Militärdienst, die Beschaffung von Leichengerät, fromme Stiftungen und große gemeinsame Mahlzeiten und Gelage. Die Zunftkasse wurde gespeist aus Aufnahmegebühren, die gelegentlich auch von Gesellen und Lehrlingen gefordert wurden, meist geringen Jahresbeiträgen, Stubengeldern, Strafgeldern bei gewerberechtlichen Verstößen und Ordnungsverstößen bei Zunftversammlungen und beim Verkehr auf der Zunftstube. Aufnahmegebühren und Strafgelder mussten regelmäßig mit dem Stadtherrn und der Stadt geteilt werden. Regelmäßige Beitragszahlungen der Meister, weniger der Gesellen, für kirchliche und wohltätige Zwecke sind eher selten belegt.

1464 S. F, Die soziale Sicherung bei Zünften und Gesellenverbänden; H.-J. G (Hg.), Von der Barmherzigkeit zur Sozialversicherung.

Handwerker- und Kleinhändlerzünfte – Politische Zünfte 813

Als Einnahmen kamen Zinserträge aus Darlehen, die aus Kassenüberschüssen gewährt wurden, Schenkungen und Stiftungen oder außerordentliche Umlagen für bestimmte Zwecke hinzu. Der Straßburger Geschlechterrat untersagte 1322 den Zünften, ohne die Erlaubnis von Stettmeister und Rat Satzungen zu machen und für außerordentliche Ausgaben Umlagen zu erheben. Auch in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts verbot der Straßburger Rat, in dem nunmehr die Zünfte eine Zweidrittelmehrheit hatten, den Zünften ein eigenmächtiges Finanzgebaren. Ohne Wissen und Willen von Ammeister und Rat durften die Zünfte keine Schatzung (außerordentliche Abgabe) erheben und auf ihre Stube, die Stubengesellschaft oder die Zunft keine Schulden in Form von Verpfändungen oder Rentenverkäufen aufnehmen. In anderen Städten standen die Zünfte ohnehin unter strenger Ratsaufsicht. Für die Unterstützung von Zunftgenossen durch die Zunft galt das Subsidiaritätsprinzip. Die Zunft trat ein, wenn die Notlage aus eigener Kraft nicht mehr bewältigt werden konnte. Für kranke und notleidende Gesellen hatte zunächst der Meister aufgrund einer P icht, die aus dem Arbeitsverhältnis resultierte, aufzukommen. Die Stadtrechte Hamburgs, Lübecks und Bremens statuieren die Hilfsp icht des Dienstherrn als Rechtsgrundsatz. Die Unterstützung aus der Zunftkasse erfolgte nicht kraft eines durch Zahlungen erworbenen Rechtsanspruches und nicht automatisch. Sie musste beantragt werden und hatte Bedürftigkeit, gelegentlich auch Schuldlosigkeit an der Notlage zur Voraussetzung. Die häugste Art der Hilfeleistung war die einmalige oder mehrmalige Gewährung eines rückzahlbaren, vielfach und vor allem bei Gesellen durch Pfandbestellung gesicherten Darlehens, das später in die Kasse zurück ießen und für neue Unterstützungsfälle bereitstehen sollte. Bei fortgesetzter Zahlungsunfähigkeit konnte das Darlehen in ein Almosen umgewandelt werden. Daneben kam auch die direkte Zahlung eines Wo-

chengeldes vor. Die Zunftkasse gab rechtlich betrachtet Almosen an Bedürftige, da im Unterschied zu einer echten Versicherung kein subjektiver Anspruch vorlag. Für erwerbsunfähige alte oder p egebedürftige kranke Meister sorgte die Zunft gelegentlich dadurch, dass sie sich als Pfründner durch Hingabe eines Rentenkapitals in ein Hospital einkaufte und dort einige Betten für Zunftmitglieder unterhielt. Einige Zünfte schritten zu der modern anmutenden Form einer regelmäßigen Geldzahlung an alte arbeitsunfähige Mitglieder. So setzten die Kölner Fassbinder bereits in ihrem Amtsbrief von 1397 für arme arbeitsunfähige Zunftgenossen eine Leibrente aus. Die Lübecker Rußfärber zahlten – auch an die Meisterwitwe – ein Wochengeld, das dadurch nanziert wurde, dass die anderen Färber für den Unterstützten eine Quote mitfärbten. In einigen Fällen stellten Zünfte dem arbeitsunfähigen Meister oder beim Tod des Meisters der Witwe einen Gesellen, der die Produktion aufrechterhielt. Einige Zünfte (Speyer) unterhielten durch regelmäßige Beitragszahlungen besondere Kassen, aus denen sie saisonal arbeitslose Gesellen unterstützten. Wandernde Gesellen wurden, zumal seitdem für einige Handwerke eine Wanderp icht bestand, durch kurzfristige Arbeitsverhältnisse, vor allem durch Unterkunft und Verp egung, die reihum von den Meistern oder in späterer Zeit in der Zunft- oder Gesellenherberge gewährt wurde, und durch nanzielle Hilfe in Form einer Wegzehrung (viaticum) unterstützt. Mit dem Aufkommen von Gesellenverbänden organisierten die örtlichen Gesellen einen Teil der Unterstützungsmaßnahmen. 8.4.7.2 Die Zunftstube Folgt man einer Vielzahl von Zunftstatuten (Briefe, Rollen, Schragen) und speziellen Stubenordnungen,¹⁴⁶⁵ so standen die Begehung eines würdigen Begräbnisses verstorbener Zunftbrüder und ein störungsfreies Essen und Trinken zur Hebung des Gemeinschaftsgeistes bei

1465 Für die Kleinstädte siehe A. C, Stuben und Stubengesellschaften.

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Sozialformen und Sozialgruppen

den Zusammenkünften im Vordergrund des Zunftlebens. Die Zunftstube, von der es für eine Zunft auch mehrere gab wie in Straßburg, war die zweite Heimat des Genossen. Sie war Ort oftmals lauter Geselligkeit, von Essen, Trinken, Spiel und Unterhaltung. Darin unterschied sie sich kaum von den Stuben der Kau eute und Patrizier. An Gedenk- und Ehrentagen der Zunft waren alle Stubengenossen zu gemeinsamen Mahlzeiten und Trinkgelagen versammelt. Hinzu kamen Feste, die bei Erlebnissen einzelner Zunftgenossen auf der Stube veranstaltet wurden. Kam in Basel einer der Genossen »von seinem hochzeitlichen Kirchgang oder von der Bestattung eines der Seinigen, hatte er ein Kind taufen lassen oder eine Tochter ins Kloster getan, so konnte er auf der Stube seiner Zunft eine Gesellschaft zusammenbitten, mit ihm fröhlich oder traurig zu sein, und emp ng von der Zunft und einzelnen Geladenen Geschenke als Zeichen ihrer Teilnahme«.¹⁴⁶⁶ Obwohl die Zunftversammlungen unter Friedensp icht standen, ging es auf ihnen nach den Verboten der Zunft- und Stubenordnungen zu schließen, keineswegs immer friedfertig zu. Dies gilt nicht nur für die geselligen Veranstaltungen auf der Stube unter Alkoholein uss, sondern auch für die gerichtsförmig vonstattengehenden Zunftversammlungen, den ›Morgensprachen‹, auf denen wichtige Beschlüsse gefasst wurden. Es war verboten, zu den obligatorischen Morgensprachen, die angeblich ursprünglich nüchtern besucht werden mussten, barfuß oder mit unbedeckten Schenkeln zu erscheinen, dort ungefragt zu reden und sich ehrverletzend zu äußern. Verboten war das Mitbringen von Waffen oder von anderen als Waffen dienlichen Gegenständen. Anstandsregeln, detaillierte kasuistische Buß- und Straftatbestände mit genauen Bußtaxen zeugen

von einer ungebärdigen Lebenswirklichkeit und von dem Bemühen um Disziplinierung und Sozialisation. Straßburger Ordnungen des 14. und 15. Jahrhunderts¹⁴⁶⁷ belegen mit Strafen: Diebstahl, Maulstreiche, die Scheltworte ›Dieb‹ und ›Bösewicht‹, gotteslästerliche Flüche und unbeherrscht ausgestoßene (›zuchtlose‹) Worte, Bezichtigung der Lüge, unbefugtes Hinausweisen eines anderen aus dem Stubenhaus, Bruch eines Gelübdes, die Hand am Messer, Ziehen des Messers, Werfen (man treffe oder nicht) mit Krügen, Kannen, Kübeln, Lichtstöcken und Gläsern, Zerschmeißen von Fenstern, Ofenkacheln, Kannen und Gläsern, Eintreten von Türen, Aufbrechen von Kisten, Türfenstern und anderem oder Öffnen mit Nachschlüsseln, Brennen mit Holzscheiten, Prügeln, Körperverletzung, Totschlag (Verlust des Stubenrechts), aber auch das gewaltsame Wegnehmen von Speisen, Trinken aus der Flasche oder Kanne, Spielen während der Fasten- und Osterzeit und vieles andere mehr. Bußwürdig war in Hamburg unmäßiges Vergießen von Bier, ›dass man es nicht mit einer Hand bedecken kann‹. In feiner Kasuistik differenzierten die Schuhmacher Flensburgs im 15. Jahrhundert das Strafmaß je nachdem, ob sich Genossen infolge unverträglichen Alkoholgenusses erst im Hof erbrachen oder einen quali zierten Tatbestand erfüllten und sich noch im Hause selbst übergaben. 8.4.7.3 Der Gewerbeverband und seine wirtschaftlichen Zwangsrechte Der Zunftzwang ist neben der wirtschaftlichen Tätigkeit selbst Kern der wirtschaftlich-gewerblichen Seite der Zunft; in ihm beruhen die wirtschaftliche Wirksamkeit und Macht der Zunft.¹⁴⁶⁸ Er wurde jedoch nicht immer als ausschließliche Berechtigung zugestanden oder

1466 Vgl. aber das Schenkenen zu Freud und Leid. R. W, Geschichte der Stadt Basel, Bd. 2,1, S. 400. Der Ausdruck bezieht sich auf den Ausschank und das gemeinsame Trinken, nicht auf Geschenke. 1467 G. S, Die Straßburger Tucher- und Weberzunft, Nr. 27, S. 47 f. (1440); J. B, Straßburger Zunftund Polizei-Verordnungen (2.2–2.4), S. 317 f.; F. K, Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 304, S. 402–405. Ähnliche, wenn auch weniger drastische Verbote statuierte im Übrigen auch der vornehme Danziger Artushof. 1468 G. S, Die Straßburger Tucher- und Weberzunft, S. 383 ff.; W. S, Der Zunftzwang in Köln.

Handwerker- und Kleinhändlerzünfte – Politische Zünfte 815

durchgesetzt, sodass es auch Handwerkstätigkeit außerhalb der Zunft gab. In Frankfurt am Main gestand der patrizische Rat den Zünften keinen Zunftzwang zu; in Nürnberg gab es ohnehin keine handwerkliche Verbandsbildung in Form von Zünften. Wenn Handwerker keine feste beru ich-wirtschaftliche Interessengemeinschaft mit einem klar abgegrenzten Personenkreises bildeten, war es fraglich, ob ein Zunftzwang durchgesetzt werden konnte. Unzünftige und wegen ihrer prekären Arbeitssituation mangelhafte Erzeugnisse abliefernde Handwerker nannte man diskreditierend Pfuscher, Stümper, Störer oder Bönhasen, d.h. Personen, die insgeheim auf dem Dachboden (norddt. Bön) arbeiteten. Folgende Arten und Aspekte des Zunftzwangs lassen sich unterscheiden: a) Der persönliche Zunftzwang besagt, dass das Recht der Ausübung eines bestimmten Gewerbes und der Zugang mit den Produkten zum städtischen Markt an die Mitgliedschaft in der entsprechenden Zunft gebunden sind. b) Der sachliche Zunftzwang unterwirft die Produkte und ihren Vertrieb der Zulassung, polizeilichen Kontrolle und Strafgewalt durch die Zunft oder die kommunale Wirtschaftsverwaltung nach Maßgabe gewerberechtlicher und gewerbetechnischer Vorschriften, ungeachtet ob es sich um Waren von Zunftmitgliedern, Nichtzünftigen oder fremden Marktbesuchern handelt. Er enthält eine Prohibitivbefugnis, wenn Produkte, die zum Arbeitsgebiet einer bestimmten Zunft gehören, von unzünftigen oder anderen Zünften angehörenden Produzenten nicht angefertigt und von auswärtigen Produzenten nicht in die Stadt zum Verkauf gebracht werden durften. c) Der örtliche Zunftzwang legt den räumlichen Geltungsbereich der Zunftvorschriften persönlicher und sachlicher Art fest. Spezieller Bestandteil des örtlichen Zunftzwangs ist das Bannmeilenrecht, das die Ausübung bestimmter Gewerbe außerhalb der Stadt in

einem bestimmten Umkreis von einer Meile oder mehreren Meilen verbietet. d) Der seltenere regalistische Zunftzwang geht aus der stadtherrlichen Marktordnung hervor und lässt zum Gewerbe nur zu, wer über bestimmte konzessionierte Verkaufsplätze verfügt. Die Zwangsrechte wurden der sich konstituierenden Zunft durch stadtherrliches Privileg verliehen oder auf Antrag vom Stadtherrn oder vom Rat – gelegentlich wird zusätzlich noch die Gemeinde genannt – genehmigt. Die Zunft bedurfte der obrigkeitlichen Sanktionierung. Nicht immer handelte es sich um einen persönlichen Zunftzwang. Die Ordnung für die Kölner Bettziechenweber (1149) unterstellt generell alle, die in der Stadt das Gewerbe ausüben, der Bruderschaft nach Maßgabe der von ihr vereinbarten Satzung. Das Recht der Gewerbeausübung wurde nicht von der Zunftmitgliedschaft abhängig gemacht, wohl aber wurde die Gewerbetätigkeit der Ordnung der Zunft unterworfen und von ihr kontrolliert. Hinsichtlich des alten Hausgewerbes der Leinenweberei hat sich ein solcher nur sachlicher Zunftzwang vielfach bis ins 14. und 15. Jahrhundert erhalten. Durch Ausschluss von Nichtzünftigen von den Gemeinschaftseinrichtungen der Zunft, wie etwa von dem Verkaufsstand der Bettziechenweber, und dadurch, dass die Zunft anderen ihre Normen auferlegen durfte, wurde ein mittelbarer Beitrittszwang ausgeübt, der umso erfolgreicher war, als es sich um Minderheiten von Nichtzünftigen handelte. Felix Fabri macht 1488 für Ulm geltend, dass Bürger, die ihr Handwerk verstünden, es durchaus wagten, außerhalb der Zunft für ihr Haus zu arbeiten und jedermann Tücher in seinem Laden verkaufen dürfe, wenn er der Stadt vier Pfund für die Konzession entrichte; ähnlich verhalte es sich mit dem Verkauf von Baumwolle.¹⁴⁶⁹ Die wesentlichen Kennzeichen der Gewerbezunft sieht Gustav Schmoller in dem Streben der Vereinigungen nach einer selbständigen Regulierung von Verbands- und Gewerbeangele-

1469 Felix Fabri, Tractatus de civitate Ulmensi (1.1), S. 137 f. (dt. Übersetzung S. 93 f.).

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genheiten durch die Zunftversammlung, nach einem selbständig ausgeübten Polizei- und Rügerecht und einer anerkannten Gerichtsbarkeit mit Straf- und Zwangsrechten gegenüber den Mitgliedern.¹⁴⁷⁰ 8.4.8 Der Zugang zur Zunft Vollberechtigte Mitglieder der Zunft waren nur die Handwerksmeister. Eine Art passiver Mitgliedschaft besaßen die Gesellen und Lehrlinge. Sie waren der Zunftordnung und den Weisungen des Zunftmeisters unterworfen und genossen den Schutz der Zunft. Der folgende Katalog stellt Zugangsvoraussetzungen und -bedingungen zusammen, wie sie in verschiedenen Räumen zu verschiedenen Zeiten, zudem oft nur als vereinzelte Belege vorkommen und deshalb keineswegs allgemeine und geradlinige Entwicklungen repräsentieren.¹⁴⁷¹ Die Anforderungen wurden auch nicht immer konsequent durchgesetzt. Für die Meistersöhne galten in vielen Fällen erhebliche Erleichterungen. 1. Persönliche Voraussetzungen a) Freie, eheliche und ehrliche Geburt. In späterer Zeit musste ein urkundlicher Nachweis erbracht werden. In Niederdeutschland tritt die Voraussetzung seit dem frühen 15. Jahrhundert auf, in Oberdeutschland erst etwa hundert Jahre später. Dort wird die freie Geburt als ›Mannrecht‹ bezeichnet. b) Deutsche Abstammung (Norddeutschland). c) Redlichkeit und Unbescholtenheit, die eventuell durch ein Leumundszeugnis nachzuweisen sind. 2. Ausbildungsvoraussetzungen a) Lehr- und Gesellenzeit (2–8 Jahre, meist jedoch 2–3 [4] Jahre). Eine Lehrlingszeit als primäres Unterweisungsverhältnis wurde allgemeiner erst seit dem 14. Jahrhundert aus der Lehr- und Gesellenzeit

ausgegliedert. Das Eintrittsalter lag zwischen 12 und 15 Jahren. Für den Lehrling war ein Lehrgeld an den Meister zu zahlen, gelegentlich noch eine Bürgschaft im Hinblick auf einen Abbruch der Lehre oder ein Entlaufen des Lehrlings zu stellen und eventuell noch eine Zunftaufnahmegebühr zu entrichten, die verschiedentlich vom Meister zu zahlen war. Der Nachweis der abgeschlossenen Lehre erfolgte ohne Prüfung durch einen Lehroder Dienstbrief oder den Eintrag in ein Lehrlingsbuch. Der Zunftbrief der Kölner Garnmacherinnen von 1397 begründet die vierjährige Lehrzeit, die bei Strafe nicht unterschritten werden darf, ausdrücklich damit, dass die Lehrtöchter dadurch in die Lage versetzt werden sollen, umso besser Ware von hoher Qualität herzustellen, was in Köln üblicherweise exportfähiges Kaufmannsgut, d.h. Ware die man dem Kaufmann anvertrauen kann, genannt wird. b) Gesellenwandern. Als Übung bereits für das 13. Jahrhundert wahrscheinlich und für die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts belegbar, erlangte die ganz vereinzelt seit der Mitte des 15. Jahrhunderts nachweisbare Wanderp icht erst im Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert allgemeine Verbreitung. c) Muthzeit (1–3 Jahre) als Wartezeit vor der möglichen Aufnahme in die Zunft als Meister. Vereinzelt seit dem 14. Jahrhundert belegbar, ist sie auf breiterer Front erst im 16. Jahrhundert anzutreffen. d) Meisterstück. Das Erfordernis der Herstellung eines Meisterstücks auf eigene Kosten ist in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts vereinzelt im Hanseraum belegt und erst mit einer zeitlichen Verschiebung im Süden anzutreffen, so 1391 am Mittel- und 1435/64 am Ober-

1470 G. S, Die Straßburger Tucher- und Weberzunft, S. 283 ff., 384 f. 1471 Zahlreiche Belege bei R. W, W. F (9.5–9.6). Siehe neuerdings W. R, K. S, K. W (8.5).

Handwerker- und Kleinhändlerzünfte – Politische Zünfte 817

rhein. An das Meisterstück schloss sich als weiterer Kostenfaktor das vom Absolventen zu veranstaltende Meisteressen an. 3. Zunfteintrittsbedingungen a) Erwerb des Bürgerrechts (nicht überall und nicht zu jeder Zeit). b) Zunftaufnahmegebühr (›Zunftkauf‹); eventuell Nachweis eines Mindestvermögens. c) Besitz eines Harnischs bestehend aus Eisenhut, Brustpanzer, Halsschutz und Armschienen und Bewaffnung mit einem Spieß oder einer Hellebarde oder Zahlung eines Geldbetrags zur allgemeinen Zunftbewaffnung (›Harnischgeld‹). Zur Gründung einer selbständigen wirtschaftlichen Existenz bedurfte es dann eines Hauses mit Werkstatt, das bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts in der Regel Eigentum war, während im 15. Jahrhundert vielfach Mietund Leiheverhältnisse überwogen, ferner der Beschaffung von Arbeitsgeräten und Rohstoffen. Die Hutmacher Kölns (1368) und die dortigen Decklakenmacher (1336) zwangen in ihren Zunftrollen den neu aufgenommenen Meister, erst ein oder mehrere Jahre allein zu arbeiten und beschränkten dadurch seine Konkurrenzfähigkeit. Freie und eheliche Geburt, ehrliche und deutsche Herkunft, die ehrliche und kunstgerechte Ausübung des Handwerks und die richtige Übung des Brauchtums begründeten und formten die selbstbewusste handwerkliche Berufs- und Standesehre. Zum Ausdruck gebracht wurde dieser Ehrbegriff durch den rituellen Ablauf der Zusammenkünfte, eigentümliche Freisprechungsriten und ein symbolbeladenes Brauchtum. Schwerwiegende Verstöße gegen die Handwerksehre wurden durch Bußleistungen vor versammeltem Handwerk und vor offener Zunftlade gesühnt, die Statuten, Mitgliedsbücher und Zunftsymbole enthielt. Viele dieser Erscheinungen sind erst seit dem 16. Jahrhundert genauer belegt. Im Oberrheingebiet werden eheliche Geburt, ehrliche Herkunft und Unbescholtenheit als Voraussetzungen für den Zunfteintritt, ferner Wanderp icht und Meisterstück erst im 16. Jahrhundert deut-

lich fassbar. Mit der objektiven Berufs- und Standesehre verbunden war ein strenger Moralkodex, der von dem ganzen Handwerkerhaushalt, vom Meister und seiner Ehefrau sowie von den Gesellen und Lehrjungen in Arbeit und Geselligkeit eine unbescholtene sittliche Lebensführung verlangte, in Haus und Öffentlichkeit den Umgang mit übel beleumundeten Personen untersagte und die Lebensumstände bis in Fragen der Kleidung und Verp egung hinein normierte. Die Zunft überformte Familie und Haus. Das keineswegs eckenlose tatsächliche Erscheinungsbild des Handwerks provozierte Kritik, die als traditional geformte, aber empirisch angereicherte Ständekritik in den berühmten Predigten des Franziskaners Berthold von Regensburg (um 1210–1272) und des Dr. Johannes Geiler von Kaysersberg (1445–1510), auf Seiten der Laien von dem (späteren) Straßburger Stadtschreiber Sebastian Brant (1475–1521), den Nürnbergern Hans Rosenplüt († um 1460), Büchsenmeister und Spruchdichter, und Hans Sachs (1494–1576) und anderen sowie bereits um 1420 in »Des Teufels Netz« literarisch vorgetragen wurde. Vollends den wirtschaftsfördernden merkantilistischen und den naturrechtlichen Vorstellungen des 17. und 18. Jahrhunderts erschien die Ausgrenzung der Unehelichen, die es außerhalb des Handwerks zu hohen Ämtern und Würden bringen konnten, und der Angehörigen einer zunehmenden Anzahl diffamierter Berufe aus dem handwerklichen Begriff der Ehrlichkeit und Ehrbarkeit als eine soziale Anmaßung. Einzelne Bereiche des handwerklichen Rechts und Brauchtums wurden schon früher als Missbräuche gewertet, gegen die man gesetzgeberisch von der Ebene der Stadt bis zu der des Reichs seit der Reichspolizeiordnung von 1530 vorging. Die Gestaltung der Zugangsbedingungen zur Zunft unterlag unterschiedlichen Motiven. Die Erhöhung der Aufnahmegebühren, die im 13. Jahrhundert recht niedrig lagen, entspricht in einigen Fällen einer Anpassung an die Geldwertentwicklung oder lässt sich auf Investitionen wie Zunftstuben und Zunfthäuser, Reprä-

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sentation, wachsende Lasten der Zunft und dafür benötigte Geldreserven zurückführen. Steigerungen erfolgten zum Ende des 14. und des 15. Jahrhunderts. Bei den Straßburger Tuchscherern ging, wie bei den frühen Basler Zünften, ein Teil der Aufnahmegebührt als Geldbetrag an die Büchse (Zunftkasse), ein weiterer in Wachs an die Kerze, d. h. an die Zunftbruderschaft mit eigenem Altar. Die Wanderp icht der Gesellen kann mit dem empirischen Charakter der Produktionstechnik, das Meisterstück mit der Notwendigkeit eines Befähigungsnachweises erklärt werden. Die Muthzeit wurde mit der Notwendigkeit begründet, sich einen Eindruck von dem handwerklichen Können und der sozialen Verträglichkeit des zugewanderten Gesellen zu verschaffen sowie Erkundigungen über sein vergangenes Verhalten einzuziehen, um bedenkliche Elemente vom Handwerk fernhalten zu können. Der Nachweis eines Mindestvermögens konnte den Sinn haben, Bewerber auszusondern, die schon bei ihrer Existenzgründung erhebliche Schulden machen mussten und sofort der Zunft zur Last elen. Derartige Anforderungen konnten jedoch auch dazu dienen, den Eintritt neuer und junger Meister hinauszuzögern und Konkurrenten fernzuhalten. Hinsichtlich des Meisterstücks geschah dies dadurch, dass in schikanöser Willkür die Verwendung teurer Materialien vorgeschrieben wurde, der anzufertigende Gegenstand viel Material und Zeit erforderte, ungebräuchlich und fast unbekannt, daher später auch unverkäu ich war oder in das Eigentum der Zunft überging, dass ferner die Aufgabe unsinnig erschwert wurde, damit möglichst viele Fehler nachgewiesen werden konnten. Auch andere Anforderungen konnten mit dem Ziel des Ausschlusses von Bewerbern gestaltet werden. Gegen exorbitante und vor allem gebündelte Forderungen schritt der Rat gelegentlich im Interesse des gemeinen Nutzens ein. Er dekretierte dann niedrigere Aufnahmegebühren, setzte sie etwa auf 2 Pfund Pfennige (Straßburg

1382) oder 2 bis 5 Gulden (Freiburg i. Br. 1425, Hagenau 1445, Colmar 1448) fest, erzwang die Aufnahme von Bewerbern, die die Gebühren erlegen konnten, untersagte die Forderung des Nachweises der ehelichen Geburt, des Bürgerrechts oder des Meisterstücks und stellte die Meistersöhne den Fremden gleich. Durch maßvolle Zugangsbedingungen war es der gewerblich-politischen Zunft möglich, eine hohe Mitgliederzahl zu erreichen, insgesamt an Finanz- und Militärkraft und dadurch an Ansehen und politischem Gewicht zu gewinnen. Außerdem konnten die städtischen Dienste der Zunft auf eine große Zahl von Mitgliedern verteilt werden. Zugangsbeschränkungen hingegen lagen im Prinzip der ›Nahrung‹ begründet, das zur Sicherung einer auskömmlichen und standesgemäßen Existenz der einzelnen Handwerkerhaushalte der Idee nach darauf beruhte, dass die Absatzchancen eines Gewerbes eingeschätzt, in vermutete Erwerbschancen und Produktionsmengen umgesetzt und kontingentiert wurden und man das Gesamtkontingent in Einzelquoten aufteilte. Der Hamburger Rat setzte 1437 die Höchstzahl der Böttchermeister auf 200 fest; 1458 gestattete er den Böttchern, nicht eher einen neuen Meister aufzunehmen, bis ihre Zahl infolge von Sterbefällen auf 150 gesunken sei, up dat sik de lude in dem ampte neren und berghen mögten.¹⁴⁷² Im Jahre 1506 wurde die Zahl noch einmal auf nunmehr 120 Meister reduziert. Die Fischer Hamburgs ersuchten 1468 den Rat, die Zahl der Meister ihres Amtes von 50 auf 40 herabzusetzen, umme der armod willen in unseme ampte, de sick nicht bergen konnen. Der Lübecker Rat verringerte 1356 die Zahl der Nädler auf 14. Als er später auch die Zahl der Knochenhauer (Fleischer) von 100 auf 50 herabsetzte, geschah dies zur Strafe für ihre Teilnahme an den Unruhen von 1383/84 mit dem Ziel, dadurch die politische Macht des Amtes zu brechen. In Stettin gab es im 16. Jahrhundert eine Reihe geschlossener Zünfte. Die Drechsler Kiels erkauften sich 1518 die Reduktion der Meisterstellen auf nur noch

1472 Zum Folgenden siehe R. W, Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit, Bd. 2, S. 53–58.

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vier mit einer jährlichen Abgabe an den Rat. Aber auch in Nürnberg, wo es nur obrigkeitlich organisierte und beaufsichtigte Handwerke gab, regulierte der patrizische Rat je nach Bedarf und Wirtschaftskonjunktur die Zahl der Handwerker. Bei Unterbesetzung senkte er die Gebühren für die Verleihung des Bürgerrechts. Andererseits sperrte er 1402 die Neuaufnahme bei den Messingschlägern, die er bis auf 12 absterben lassen wollte, und für die Blechschmiede, doch stieg die Zahl der im ganzen Metallgewerbe tätigen Meister in Verlauf des 15. Jahrhunderts seit etwa 1420 konjunkturbedingt enorm an. Die Zahl der Färbermeister setzte der Rat 1420 auf 80 fest. Zunftschließungen oder Reduktionen durch Festlegung einer Höchstzahl von Meisterstellen erfolgten aus unterschiedlichen Motiven, von den Zünften beantragt angesichts von gewerblichen Depressionserscheinungen, zur Abwehr einer Überbesetzung (›Übersetzung‹) oder um eine Angebotsreduzierung und damit höhere Preise zu erreichen. Ein Numerus clausus bei Zünften ergab sich aus dem regalistischen Zunftzwang, wenn nur eine beschränkte Anzahl konzessionierter Verkaufsplätze vorhanden war. Eine weitere Form der Zunftschließung bestand darin, dass in die Zunft nur noch Meistersöhne und im Sinne der ›Amtsheirat‹ zunächst nur solche Gesellen aufgenommen wurden, die eine Meistertochter oder – häu g ältliche – Meisterwitwe heirateten, wie dies häu ger in Norddeutschland verlangt wurde. Einzelne Fälle von Zunftschließungen berechtigen jedoch nicht dazu, eine generelle Tendenz zur Zunftschließung im Spätmittelalter anzunehmen. Dazu waren die Konjunkturverläufe und die Arbeitsmarktsituation in den einzelnen Wirtschaftsräumen, Städten und Gewerben zu unterschiedlich. Immer wieder rissen verheerende Epidemien mit Massensterben Lücken in die Bevölkerung. Im Oberrheingebiet etwa kamen noch im 15. Jahrhundert in vielen Fällen die Zunftzugänge zu nicht einmal 20 Prozent aus den Reihen der Meistersöhne.¹⁴⁷³

8.4.9 Frauen in der Zunft – Frauenzünfte Frauen hatten vielfach an religiösen und gesellschaftlichen Aktivitäten der Zunft teil oder traten förmlich in die mit der Zunft verbundene Bruderschaft ein. Frauen übten aber auch innerhalb der Zunft in unterschiedlicher rechtlicher und wirtschaftlicher Stellung, mit oder ohne Beschränkungen auf bestimmte Rohstoffe und Produkte das Handwerk aus, als Meisterinnen mit vollem Zunft- und Unterweisungsrecht, ferner als Lehrtöchter und unselbständige Mägde. Das Witwenrecht in seinen verschiedensten Formen gestattete der Meisterwitwe die Fortsetzung der gewerblichen Produktion nach dem Tod des Ehemannes, ohne dass sie dabei in jedem Falle selbst handwerklich tätig war. Das Töchterrecht erleichterte den Meistertöchtern und – was wohl noch wichtiger war – auch deren zukünftigen Ehemännern den Zunfteintritt. Der früher vor allem aufgrund einzelner Zunftordnungen und von Steuerbüchern als recht erheblich angenommene Umfang selbständiger weiblicher Tätigkeit in den Zünften auf dem Hintergrund eines möglichen Frauenüberschusses in der Stadtbevölkerung und die vollberechtigte weibliche Mitgliedschaft in vielen Zünften werden neuerdings stark in Zweifel gezogen, da es sich um verstreute Einzelbelege ohne statistische Verwertbarkeit handelt. Wenn in der Basler Steuerliste von 1429 Frauen mit der Zuordnung zu zwölf Zünften und einem Anteil zwischen 7 und 25 Prozent und durchschnittlich 15,7 Prozent erscheinen, so stellen sich verschiedene Fragen der Interpretation. Handelte es sich tatsächlich um eine selbständige Berufsausübung? In einigen Fällen durften Frauen in einem Handwerk nur unter männlicher Aufsicht arbeiten oder nur bestimmte Arbeitsabschnitte übernehmen, in anderen wurden sie von einem Handwerk ausgeschlossen, wie dies der Kölner Rat 1494 hinsichtlich der Harnisch- und Plattenmacher verfügte. Der Zunftbeitritt von Frauen konnte hauptsächlich der Bruderschaft wegen erfolgen;

1473 K. S, Handwerksgesellen und Lohnarbeiter (8.5), S. 448.

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dort hatten sie gleiche Rechte und P ichten. Die Zulassung von Frauen in den Bestimmungen der Zunftordnungen, das Witwen- und Töchterrecht geben noch keinen Aufschluss darüber, in welchem Umfang von den Möglichkeiten gewerblicher Tätigkeit tatsächlich Gebrauch gemacht wurde. Berufsbezeichnungen bei Einträgen von Frauen in die Steuerbücher hatten vielfach schon die Bedeutung von Familiennamen, oder es ging der Beruf des Ehemannes als Kennzeichen auf die Witwe über. Größere Anteile hatten die Frauen in den Handelszünften sowie in den Hilfsgewerben des Textilbereichs und im Bekleidungsgewerbe. Auf jeden Fall arbeiteten Ehefrauen im Handwerksbetrieb des Ehemannes mit, was seit dem 16. Jahrhundert jedoch gelegentlich rechtlich eingeschränkt wurde. Einen Sonderfall stellt das gewerbliche Köln dar, wo es kaum Wirtschaftszweige gab, in denen Frauen nicht vertreten waren. Nur wenige Zünfte wie Schneider, Harnischmacher oder Tuchscherer legten den Frauen zeitweise oder teilweise Arbeitsbeschränkungen auf. Bei den Nadelmachern, Beutelmachern, Kürschnern, Gürtelmachern, Leinenwebern, Sartuchoder Barchentwebern, Wolltuchwebern, Wappenstickern und Fleischern waren die Frauen weitgehend gleichberechtigt. Der tatsächliche Anteil der Frauen am Handwerk lässt sich aufgrund der Quellenlage auch für Köln nur in wenigen Einzelfällen genauer ermitteln, in denen Zunftlisten überliefert sind. Die Garnmacherinnen, Goldspinnerinnen (mit den angeschlossenen Goldschlägern), Seidenmacherinnen und Seidenspinnerinnen bildeten in Köln sogar Frauenzünfte, wofür es in Westeuropa vergleichbare Erscheinungen nur in Paris und Zürich gab. Die Meisterinnen durften eine bestimmte Zahl an Lehrtöchtern unterweisen. Mitglieder waren fast ausschließlich Frauen, im Zunftvorstand saßen jedoch auch Männer, die nicht in der Produktion arbeiteten.

Die Ehemänner übernahmen in familiärer Arbeitsteilung den kaufmännischen Part, die Rohstoffbeschaffung und den Warenabsatz. Folgerichtig gab es ein Witwerrecht. Im Seidengewerbe lassen sich Frauen als Verlegerinnen nachweisen. Zwischen 1437 und 1504 arbeiteten in Köln nachweislich insgesamt 116 selbständige Seidenmacherinnen, die insgesamt 765 Lehrtöchter ausbildeten. Durchschnittlich waren die Meisterinnen, die meistens der kaufmännischen Mittel- und Oberschicht angehörten, 17 Jahre in ihrem Handwerk tätig und unterwiesen und beschäftigten zwei Lehrtöchter gleichzeitig, die aus ähnlichen sozialen Verhältnissen, aber auch aus ärmeren Schichten kamen.¹⁴⁷⁴ Das Witwenrecht war je nach Lage des einzelnen Handwerks unterschiedlich geregelt. Einige wenige Zünfte gestatteten der Witwe eines verstorbenen Meisters lediglich, die begonnenen Arbeiten zu vollenden oder noch vorhandenes Rohmaterial zu verarbeiten. In anderen Fällen durfte sie die Produktion nur für eine bestimmte Frist, etwa ein Jahr, fortsetzen. Häu ger erbte die Witwe, dies auch in Zünften, in denen Frauen nicht zum Handwerk zugelassen waren, das Zunftrecht und behielt es, solange sie Witwe war oder bis ein Sohn mündig wurde. War die Witwe nicht in der Lage, das Gewerbe mit eigener Hand zu treiben, so wurde ihr von der Zunft häu g der erste zuwandernde Geselle oder ein Geselle eines Meisters zugewiesen. Gelegentlich wurde der Witwe zur Auflage gemacht, sich binnen eines Jahres wieder zu verheiraten, und zwar innerhalb der Zunft; bei einer Heirat außerhalb des Zunftkreises ging sie der Zunftmitgliedschaft verlustig. Bei den Kistenmachern und Radmachern Lübecks durften Witwen, die für eine erneute Heirat zu alt oder zu krank waren, den Betrieb bei reduzierten Zunftabgaben mithilfe eines Gesellen zeitlebens weiterführen. Andere Zünfte gestatteten grundsätzlich die unbefristete Fortführung des Betriebs bei Abgaben in gewöhnlicher Höhe,

1474 Zu den hierarchischen Ungleichheiten und privilegierten Stellungen aufgrund der Verarbeitung eigener Rohstoffe innerhalb der Seidenmacherinnenzunft und verlegerischen Positionen der Seidenmacherinnen gegenüber den Seidenspinnerinnen siehe 9.1.2.1.

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oder sie banden dieses Recht an die Voraussetzung, dass ein Sohn vorhanden war. Die Zunft förderte insbesondere in Norddeutschland die Wiederverheiratung auch älterer Witwen und die Verheiratung von Meistertöchtern dadurch, dass sie Heiratswilligen den Eintritt ins Amt zu bevorzugten Bedingungen gewährte oder – seit der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert – die Aufnahme in der Form der Einheirat ins Amt zur Regel machte. Die Tendenzen zur Schließung von Zünften waren vielfach von Maßnahmen begleitet, durch die Frauen in ihrer gewerblichen Tätigkeit beschränkt oder aus den Zünften verdrängt wurden und die Ende des 17. Jahrhunderts im Ergebnis zu ihrem völligen Ausschluss führten, sodass ein kaiserliches Dekret von 1772 auf der Grundlage eines Reichstagsbeschlusses (1771) die Zulassung der Frauen zum Handwerk anordnen musste. 8.4.10 Verfassung und Organisation der gewerblichen und politischen Zunft 8.4.10.1 Zunftversammlung, Zunftmeister und Zunftvorstand Die Versammlung der Meister (Ding, Morgensprache) fungierte als Gericht in wichtigen Streitfällen, traf nach formell gleichem Stimmrecht und mit einfacher Mehrheit wichtige Entscheidungen (Gebote) in Zunft- und Gewerbeangelegenheiten, welche die Eintrittsbedingungen, technische Regeln des Gewerbes oder die Zunftverfassung betrafen, befand über Neuaufnahmen und wählte, sofern dies nicht einem anderen Wahlgremium oblag, den Zunftmeister und Zunftvorstand.¹⁴⁷⁵ Satzungsänderungen bedurften vereinzelt einer Zweidrittelmehrheit. An der Spitze der Zunft stand ein von den Zunftgenossen gewählter Zunftmeister (Magister, Aldermann, Senior), in Köln waren es zwei, die im jährlichen Wechsel mit Mehrheit gewählt oder ausgelost wurden und das Amt nicht

ablehnen durften. Der Zunftmeister leitete die Zunft zusammen mit einem Zunftvorstand, der für eine bestimmte Zeit, meist für ein Jahr, aber auch für eine kürzere Amtsdauer als Ausschuss, als beratendes, gerichtlich mitentscheidendes und entlastendes Kollegium von Älterleuten (Aldermänner), Geschworenen oder Beisitzern gewählt wurde. Die Mitglieder des Vorstands bedurften in einigen Städten wie der Zunftmeister der Bestätigung durch den Rat. Kürzere Amtsperioden und die P icht, die Wahl anzunehmen, deuten darauf hin, dass der Vorstand, der ehrenamtlich tätig war und nur geringe Entschädigungen erhielt, über den zahlreichen Aufgaben den eigenen Gewerbebetrieb vernachlässigen musste. Deshalb wurde in Ulm ein rechtzeitiger Wechsel der Zunft vor einer möglichen Wahl zeitweise erlaubt. In einigen Fällen lassen sich sogar Patrizier als Zunftmeister nachweisen (Straßburg). In Ulm, Esslingen und anderen Städten gurieren die Zunftgenossen gegenüber dem Zunftmeister mit seiner Gebotsgewalt als eidlich zu Gehorsam verp ichtete Untertanen. Der Ausschuss, der den Zunftmeister unterstützte, wurde häu g nach seiner Mitgliederzahl (Dreier, Sechser usw.) benannt und konnte wie in Köln bei größeren Zünften bis zu sechzehn Beisitzer umfassen. Er arbeitete gemeinsam mit dem Zunftmeister oder erledigte selbständig Aufgaben der internen Rechtsprechung und spezielle Verwaltungsaufgaben wie etwa die Einziehung von Außenständen bei Zinsen, Umlagen, Straf- und Bußgeldern, gelegentlich erließ er bei entsprechender Größe selbständig Verordnungen. Wenn erforderlich, musste die Pfändung betrieben werden, sodass der Ausschuss deshalb auch die Bezeichnung Pfänder erhalten konnte, oder es wurde neben dem Ausschuss ein gesondertes Gremium der Pfänder eingerichtet. In Rottweil wurden Zunftknechte zur Vollstreckung eingesetzt. Die Zunft repräsentierte in der Stadt keineswegs immer ein genossenschaftlich-demokra-

1475 R. W (Bd. 2); W. F ( 9.5–9.6); C. N; G. S; P. E(3.1–3.2), S. 27 ff.; F. H; L. R.

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tisches Element. In der Straßburger Zunft der Tuchscherer wählte gemäß den 1362 bewilligten Artikeln der Vorstand der Fünfer, der aus dem Meister, der zugleich Vertreter im Rat war, und vier Geschworenen gebildet wurde, parallel zum Ratswechsel die Nachfolger. Seit dem Schwörbrief von 1482 nachweisbar wählte in jeder Zunft ein Schöffenrat von 15 Mitgliedern (Schöffel), zu dem der vom ›beständigen Regiment‹ der Stadt auf Lebenszeit ernannte Oberherr gehörte, den Ratsherrn der Zunft, und aus seiner Mitte den Zunftmeister als Vorsitzenden des Zunftgerichts, während die einzelnen Handwerke, die in der Zunft vereinigt waren, noch besondere Meister des Handwerks als Vorsteher hatten. In Basel etwa wurde der Zunftvorstand in einigen Zünften und generell im 15. Jahrhundert unter Ausschaltung der Zunftgemeinde zu einem oligarchisch verengten Kollegium, das sowohl das Wahlrecht als auch die Wählbarkeit bei sich vereinte. Der Ausschuss der Sechser erweiterte sich zu einem zweischichtigen Zwölferkollegium bestehend aus den jährlich abtretenden und den neu gewählten Sechsern, wobei der abtretende Zunftmeister und die alten Sechser die neuen Sechser wählten. Da man das passive Wahlrecht auf die Sechser beschränkte, wurde aus den beiden alternierenden Sechsern insgesamt ein Zwölferkollegium mit lebenslanger Mitgliedschaft. Der abtretende Meister sowie die alten und neuen Sechser wählten den amtierenden Meister in der Weise, dass sich die beiden Meister jährlich abwechselten. In Köln nahm in einigen der bedeutenden und vornehmen Zünfte wie denen der Gewandschneider, Kürschner, Wollenweber und Goldschmiede jeweils der Ausschuss der Verdienten, der ehemaligen Zunftmeister, die Meisterwahl und die Wahl der Ausschüsse vor und zog selbst die generelle Beschlussfassung weitgehend an sich. Der Zunftmeister leitete die von ihm einberufene Zunftversammlung, führte das Zunftbanner, die Kasse (Büchse) und das Siegel der Zunft. Er war zuständig für die Einhaltung der Zunft- und Gewerbeordnung und erste Instanz bei Ordnungsverstößen. Eventuell in Zusam-

menarbeit mit dem Ausschuss verwaltete er die Zunft nanzen und legte er die Rechnung. Er kommandierte in Kriegsfällen oder bei innerstädtischen Au äufen das militärische Aufgebot der Zunft und leitete die Feuerwehreinsätze, teilte die auf die Zunft entfallenden Nachtwachen ein und ließ die obligatorische Rüstung der Mitglieder kontrollieren. In Straßburg waren die Harnische mit Gewichtsangaben verzeichnet. Der Zunftmeister hatte die gewerblichen Anliegen nach außen, vor allem gegenüber dem Rat, zu vertreten und fungierte als Bindeglied zwischen Zunft und Rat. In Basel nahm diese Funktion nicht der Zunftmeister, sondern der Ratsherr der Zunft wahr, den nicht die Zunft, sondern das zünftige Kollegium der Ratskieser wählte. Der Ratsherr war im Rat der Vertreter der Zunft, vielleicht aber mehr noch ein Vertreter der allgemeinen städtischen Interessen in der Zunft. Der Zunftmeister sorgte ferner für die Kinder verstorbener Mitglieder und bestellte ihnen, wenn keine berechtigten Verwandten vorhanden waren oder der Rat es nicht übernahm, einen Vormund, der dem Zunftmeister jährlich Rechenschaft zu geben hatte. Vornehmste Aufgabe des Zunftmeisters waren die Streitschlichtung und die Rechtsprechung, die er zusammen mit dem Ausschuss oder in der Zunftversammlung ausübte, ohne dass klare Zuständigkeitsabgrenzungen bestanden. Geringfügigere Übertretungen konnte er häu g alleine mit einer Buße belegen. Zunftmeister und Ausschuss waren für Frieden und Ordnung in der Zunft verantwortlich. In Memmingen durften neben dem Bürgermeister, dem Ammann und den Ratsmitgliedern auch die Zunftmeister zu jeder Stunde in der Stadt lange Messer tragen und sie in den Zunfthäusern zücken, falls dies notwendig erschien, um Frieden zu gebieten. Lange Zeit – wie in Frankfurt am Main – und in manchen Städten Norddeutschlands dauerhaft, mussten sich die Zünfte in wichtigeren Fällen vom Rat einen Richter geben lassen. Der Umfang der Zunftgerichtsbarkeit wurde in Stadtrechten und Zunftbriefen festgelegt,

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gelegentlich auch von den Zünften eigenmächtig ausgedehnt. Je mehr sich der Rat, vor allem seit dem 15. Jahrhundert, als eine von der Stadtgemeinde abgehobene Obrigkeit verstand, umso enger zog er – auch in Städten mit Zunftverfassung – die Grenzen der Zunftgerichtsbarkeit, die zudem nicht selten erhebliche Missstände aufwies. Dem Rat kam es andererseits nicht ungelegen, wenn er oder das Stadtgericht von Bagatellfällen entlastet wurden. Deshalb wurden dem Zunftmeister oder Zunftrichter etwa in Rottweil und Reutlingen oder in Köln die Entscheidung gewisser Zivilsachen überlassen. Im Ulmer Schwörbrief von 1397 wurde den Zünften, die eine eigene Gemeinde bildenden, sogar die Aburteilung von Vergehen gegen die Verfassung übertragen. Am wenigsten umstritten war die Strafgerichtsbarkeit der Zünfte bei Vergehen und Ordnungsverstößen innerhalb der Zunft und auf dem Zunfthaus. Sie erstreckte sich auf Friedensverletzungen durch Schmähreden, Unfug und Körperverletzung, ferner auf weniger schwere Fälle von Diebstahl, Meineid und Betrug. Schwerere Fälle von Friedensbruch durch quali zierte Körperverletzung, Verletzungen an bluet und blaw, an Hals und Haut, behielt sich der Rat jedoch vor. Wichtiger noch war die Gewerbegerichtsbarkeit der Zunft. Sie ahndete gewerberechtliche Verstöße, die von der Schaubehörde, der Zunft, anderen polizeilichen Kontrollämtern oder von Zunftgenossen ermittelt und gerügt wurden. Weitere Gegenstände waren Gemeinschaftsstreitigkeiten, Gesellen- und Lehrlingssachen und Streitigkeiten wegen der Grenzen der Gewerbebefugnis, wie sie vor allem in Groß- oder Sammelzünften auftraten. Stadtrechte und Zunftbriefe legten oft detailliert Tatbestände und Strafmaß fest; in anderen Fällen stand die Strafe in billigem Ermessen. In manchen Fällen, vor allem in solchen von öffentlichem Interesse, elen die Strafgelder an den Rat und den Schultheißen oder wurden unter diesen und der Zunft aufgeteilt. Anteile konnten auch an den judizierenden Zunftausschuss gehen. Geringfügigere Bußen der Stubenordnung ossen ungeteilt in die Zunftkasse. Bußen in Form von Wachs kamen ohnehin der Zunft zu-

gute und wurden für die Beleuchtung der Kirchen mit Kerzen verwendet; Wein- und Bierstrafen wurden unter friedensstiftender Einbeziehung des Bestraften vertrunken. Die Strafen waren jedoch oft hart und konnten unter Umständen den Ruin eines Meisters bedeuten. Das ›Legen‹ des Handwerks, d. h. Ausschluss aus der Zunft und Arbeitsverbot, das durch Zunageln der Werkstattfenster zum Ausdruck gebracht wurde, galt auf Zeit oder auf Dauer, es war Strafe bei schweren Vergehen oder prozessuales Zwangsmittel, um die Beachtung des Urteils durchzusetzen. Der dauerhafte Zunftausschluss konnte die Existenzgrundlage des Betroffenen vernichten und schaltete ihn aus dem öffentlichen Leben aus. Diese Strafe wurde daher eher gemieden, in Rottweil 1496 gesetzlich verboten. Das Verfahren des Zunftgerichts entsprach weitgehend dem Rügeverfahren. Grundsätzlich hatten alle Zunftgenossen eine Rügep icht. Auf Frage des Richters mussten alle bekannt gewordenen Rechtsverletzungen vorgebracht werden. Der Rügekläger hatte das Beweisvorrecht. Erst wenn ihm die Beweisführung misslang, wurde der Beklagte zum Reinigungseid zugelassen. Das Zunftgericht stand gelegentlich unter dem ausdrücklichen Schutz des Stadtgerichts. Es fehlte aber auch nicht an eigenmächtigen Bestrebungen von Zunftgerichten, ihre Zuständigkeit zu erweitern und die Appellation an den Rat zu erschweren oder zu verhindern. Der Straßburger Rat sah sich im 14. und 15. Jahrhundert wiederholt veranlasst, gegen selbstherrliches Gebaren von Zünften einzuschreiten. Er unterstellte 1361 die Weber wieder dem Gericht des meist patrizischen Stettmeisters, reduzierte drastisch die Strafen für ungebührliche Äußerungen gegen den Geschworenenausschuss der Fünfmänner und beschnitt den Anteil der Ausschussmitglieder an den Strafgeldern zugunsten des Stettmeisters und der Zunftkasse. Dem Gericht der Küfer wurde 1395 auferlegt, es solle nicht nach dem Hörensagen urteilen und sich auf Angelegenheiten des Handwerks beschränken. Im 15. Jahrhundert erleichterte der Rat hinsichtlich der Tucher dem Beklagten den Zugang zum Gericht des Stettmeisters und des

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Rats; er entzog 1440 die Straffestsetzung dem Ermessen des Zunftgerichts der Weber durch eine Taxierung der Strafen, die eine Ratskommission zusammen mit der Zunft vornahm. Bei den Tuchern wurden auch die Strafen für Vergehen und Ordnungsverstöße auf der Zunftstube genau taxiert. Zugleich schaltete sich das Stadtregiment wieder energischer in die Warenschau der Tucher ein, die nunmehr von den Fünfern in Gemeinschaft mit dem Stettmeister ausgeübt wurde. Gemeinsam wurde auch judiziert, und der Stettmeister erhielt den doppelten Anteil an den Strafgeldern. Zur Aufsicht über die Produktion der Weber und Tucher wurde die Kontrollkommission der Besiegler eingerichtet, die vom Rat ernannt wurde und unter Vorsitz eines siegelführenden Mitglieds tagte. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts verstärkte der Rat noch einmal seinen Ein uss in der Kommission. Das Gremium der Fünfzehner nahm eine Kontrollfunktion über die Zünfte wahr und wurde zur Appellationsinstanz in allen Gewerbeangelegenheiten. Durch diese Politik eines Rates mit Zunftmehrheit wurden die Zünfte nach einer Periode weitgehender Autonomie wieder zu »dienenden Gliedern eines größeren Gemeinwesens«.¹⁴⁷⁶ 8.4.10.2 Beschränkung der Autonomie und Unterordnung der Zunft Zünfte wurden wie die bürgerlichen Schwurgenossenschaften, Gemeindebildungen und Räte im 12. und 13. Jahrhundert von Stadtherren und Königen verschiedentlich verboten. Im Zusammenhang mit der Etablierung des Rats und bürgerschaftlicher Ämter konnte es aber wie in Wesel auch vorkommen, dass die bürgerlichen Herrschaftsinstanzen ihrerseits im Kon ikt mit der Gemeinde – über Wahlrecht und Besteuerung der Lehensgüter – zur Verhinderung neuer Streitigkeiten ein stadtherrliches Verbot aller innerstädtischen Gilden und Eidgenossen-

schaften – gildae, confraternitates, conspirationes seu coniurationes – erwirkten.¹⁴⁷⁷ Auch in derartigen Fällen wurden Verbote wieder zurückgenommen. So ließ König Rudolf I. 1290 – mit bemerkenswerten Formulierungen und bezeugt von Fürsten und Adligen – in einem, wie es heißt, Akt der Gerechtigkeit, der Korrektur von Irrtümern und der ›Reformation‹ sowie auf der Grundlage eines besseren Ratschlusses die von ihm zuvor verbotenen Bruderschaften (fraternitates), d. h. ›Innungen‹ und ›Gilden‹, in Goslar in Würdigung ihres Nutzens und des Vorranges des Gemeinwohls vor dem Vorteil Weniger wieder zu, setzte sie in ihren vorherigen rechtlichen Stand ein und sicherte ihre Existenz durch die Derogation entgegenstehender rechtsgewährender Gnadenerweise (Indulte) und Privilegien.¹⁴⁷⁸ Die voll entwickelte Zunft bildete in eigenen Angelegenheiten nichts weniger als einen politischen Verband mit Satzungsgewalt, Gerichtsbarkeit und Verwaltung. Wieweit diese Befugnisse und Aufgaben in Angelegenheiten von Verband und Gewerbe von ihr autonom wahrgenommen wurden, hing von der wirtschaftlichen und daher auch politischen Bedeutung der jeweiligen Zunft und der Bereitschaft des Stadtherrn und des Rates ab, Zünfte gewähren zu lassen. Unter der Maßgabe des übergeordneten gemeinen Nutzens der Stadt konnte der Rat, der auf das Gemeinwohl verp ichtet war, jederzeit Aufsichts- und Eingriffsrechte gegenüber der Zunft beanspruchen, wie ihm in der Regel auch Satzungen der Zunft zur Genehmigung vorgelegt werden mussten. Zeitweise konnte die Zunftautonomie sehr weitreichend sein; sie wurde von der Ratsobrigkeit jedoch auch drastisch beschnitten. Die Zünfte konnten geradezu unter die Kuratel des Rates geraten. Als militärische Einheiten unter dem Befehl der Zunftmeister trugen die Zünfte zwar die Last der Stadtverteidigung, konnten aber wie

1476 G. S, Die Straßburger Tucher- und Weberzunft, S. 487. 1477 Schlichtungsspruch Graf Ottos von Kleve im Streit zwischen dem magister civium, den magistri burgenses, den Schöffen (scabini) und dem Rat (consules) mit der Bürgergemeinde (communitas) der Stadt Wesel von 1308. H. S (Hg.), Urkunden zur Geschichte des Städtewesens I (Einleitung), Nr. 80, 81 f. 1478 Ebd., Nr. 223, S. 263 f.

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die mitgliederstarke Weberzunft für den Rat in Krisenzeiten eine erhebliche Gefahr darstellen. Der Rat der Stadt Mühlhausen gab 1298 den Kürschnern angesichts ihrer Dienste zum Nutzen der Stadt eine Ordnung, die ihren wirtschaftlichen Interessen entsprach, und erlaubte ihnen, neue, gute und geeignete Gesetze zu machen, die ihnen von Nutzen waren, aber nicht der Stadt zuwider sein oder jemandem schaden durften.¹⁴⁷⁹ Andererseits verstand der städtische Rat die Existenzsicherung der Gewerbe durch seine Ordnungen für die Zünfte zugleich als Beitrag für das Gemeinwohl der Stadt. In vielfältigen Apostrophierungen des Gemeinwohls stellte der Nördlinger Rat seine Fürsorge für den gemeinen Nutzen von Stadt und Bürgerschaft heraus, verwies – ähnlich den herrscherlichen Privilegienmotivationen – auf die bisherigen Leistungen der Zünfte für das Gemeinwohl und bekannte sich dazu, den Nutzen der Zünfte und die Sicherung ihrer Erwerbsmöglichkeiten (Nahrung) anzustreben, auch damit die Zünfte weiterhin in der Lage waren, der Stadt und dem Rat zu Diensten zu sein.¹⁴⁸⁰ Hingegen konnte der Ulmer Rat 1403 nach eigenem Bekunden nicht erkennen, dass der Wunsch der Weber nach einem erweiterten Zugang zur Leinenweberzunft und damit zur Barchentproduktion dem gemeinen Nutzen der Stadt oder der Allgemeinheit entsprach.¹⁴⁸¹ Der Stadtherr Erfurts löste 1264 nach Streitigkeiten zwischen den Bürgern und der Fleischer- und Bäckerinnung die Innung wegen ihrer Preispolitik sogar auf und gab den Verkauf auf dem Markt für Einheimische und Fremde frei.¹⁴⁸² Nach der Eroberung und Mediatisierung der Stadt Mainz durch Erzbischof Adolf von Nassau 1462 verloren die Zünfte ihre politischen Rechte und waren nur noch Berufsverbände mit zusätzlichen bruderschaft-

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lich-karitativen Funktionen. In einem Sonderfall verlor die Esslinger Bäckerzunft ihre politischen Rechte für die Dauer von zehn Jahren. Die Ulmer Goldschmiede konnten sich in ihrer Ordnung von 1394 darauf berufen, dass in diesem Jahr Bürgermeister, Großer und Kleiner Rat mit den Zünften und Handwerken übereingekommen seien, dass ›die Handwerke ihre Rechte und Gesetze mehren und bessern durften, wie sie meinten, dass es ihnen und der Stadt nützlich, ehrlich und füglich sei‹. Der Ordnung für die Barchentweberei von 1403 ist wiederum zu entnehmen, dass Großer und Kleiner Rat die Frage, ob Grautucher (Marner) in die Weberzunft eintreten dürfen, vor die ganze städtische Zunftgemeinde gebracht, die Gemeinde daraufhin die Entscheidung darüber vollständig in die Hand der Räte gelegt hat. Doch bereits 1418 stellte der vereinte Große und Kleine Rat gegenüber der Kau eutezunft die obrigkeitliche Rechtsmacht in der insistierenden Formulierung heraus, ›Gewalt über alle Gesetze und Zünfte und die Gewalt zu haben, die Gesetze zu mindern, zu mehren oder aufzuheben, sodass er alles und jegliches sehr wohl mindern, mehren, widerrufen oder ändern könne, wann und wie er es wolle, ohne daran von jemandem aufgehalten oder gehindert zu werden‹. Der vereinte Rat drohte 1416 den Metzgern, ihre Ordnungsverstöße vor die ganze Zunftgemeinde zu bringen und deren Rat und Hilfe gegen sie in Anspruch zu nehmen.¹⁴⁸³ In einem undatierten Ratsbeschluss wurde, ähnlich wie im München und Zürich, den Handwerken verboten, ohne Wissen und Geheiß des Rates Gesetze zu machen.¹⁴⁸⁴ Der Rat der Reichsstadt Kempten teilte 1476 dem Freiburger Stadtschreiber auf eine Anfrage mit, die Zünfte erhielten alle ihre Ordnungen von ihm, und was er zu Zeiten mit

H. S (Hg.), Urkunden zur Geschichte des Städtewesens, Nr. 225, S. 265–266. H.-C. R, Eine bürgerliche Reformation: Nördlingen, Gütersloh 1982, S. 32–33. E. N, Ulms Baumwollweberei (9.1–9.3), Nr. 3, S. 8. F. K, Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 291, S. 394. C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm (2.2–2.4), Nr. 296, S. 169. Ebd., Nr. 137, S. 75 f.

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ihnen ›um des gemeinen Nutzens willen‹ vornehme, dem müssten sie gehorchen.¹⁴⁸⁵ Das Straßburger Stadtregiment stellte in eindrucksvoller und rigider Weise den absoluten Vorrang des Gemeinwohls heraus, als es den Fischern um 1480 eine neue Verkaufsordnung gab, zu deren Befolgung sich die Fischer eidlich verp ichten mussten. Auf ihre Bitten hin durften sie jedoch vortragen, weshalb ihnen die Bestimmungen zu schwer seien und weshalb sie diese nicht einhalten könnten. Dabei hatte jeder, der sich äußerte, zuvor bei seinem Eid zu erklären, dass er rate, was der ganzen Gemeinde und jedermann in der Stadt gleichermaßen nützlich und gut sei, und er dabei ohne Arglist in keiner Weise das eigene Interesse im Auge habe.¹⁴⁸⁶ In Lübeck, das von Kau euten regiert wurde, besaßen die Ämter (Zünfte) seit dem Aufruhr von 1384 (Knochenhaueraufstand) keine eigene Gerichtsbarkeit mehr. Der Zunftvorstand der Älterleute war nur noch Rügeinstanz im Dienste der Obrigkeit. Die Älterleute hatten zwar die P icht, Streitigkeiten zu schlichten, führten aber keine förmlichen Gerichtsverfahren durch. Die Rechtsprechung oblag der Wette, einer Deputation von zwei Ratsherren (Wettemeister), deren Bezeichnung von der Wette, der Vermögensstrafe, abgeleitet ist. In Köln hielt die patrizische Richerzeche die Zünfte bis weit in das 14. Jahrhundert hinein in strenger Abhängigkeit, die durch die Aufhebung der Richerzeche 1391 und die Verfassungsänderung von 1396 endgültig beseitigt wurde. Hamburger Zunftrollen aus der Zeit um 1375 verweisen die Zunftmitglieder auch in schuldrechtlichen Fällen mit niedrigem Streitwert an die Zunftgerichtsbarkeit der Werkmeister oder der Morgensprache, an der in jedem Amt zur Aufsicht zwei Ratsherren (Morgenspracheherren) teilnahmen. Seit der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert tauchte als Folge schwerer Unruhen in Danzig (1381), Stendal (1429), Hamburg (1458) und anderen Städten die Vorschrift auf,

dass die Morgensprachen im Beisein eines oder zweier Ratsherren abgehalten werden mussten. In Lübeck hatte der Vorstand eines Amtes dem Rat bei Amtsantritt den Eid zu leisten, dass in der Morgensprache nichts Feindliches gegen die Stadt beschlossen werde. Für Übertretungen des Verbots sollten die Älterleute haftbar gemacht werden. Sie hatten eine Geldstrafe zu entrichten und sollten aus der Stadt gewiesen werden. Die Handwerksmeister sollten das gleiche Strafgeld bezahlen müssen und das Recht verlieren, Morgensprachen abzuhalten. Als Folge für ihre Beteiligung am Aufruhr von 1384 durften die Plattenschläger und Knochenhauer keine Morgensprachen mehr ohne die Anwesenheit von Ratsherren durchzuführen. In verschiedenen oberdeutschen Städten traten die Zunftmeister der einzelnen Zünfte zu einem Kollegium unter der Leitung eines obersten Zunftmeisters zusammen. Entscheidungsbefugnis hatte das Zunftmeisterkollegium in Gewerbeangelegenheiten, seltener war es zusammen mit dem Bürgermeister Berufungsinstanz über den Zunftgerichten. Das Kollegium war für Streitigkeiten zwischen Zünften wegen der Abgrenzung gewerblicher Befugnisse zuständig. Es nahm auch die Einweisung von Neubürgern entsprechend ihren Berufen in die verschiedenen Zünfte vor (›Zunftverschiebung‹), da es Berufe und Spezialgewerbe gab, die sich nicht ohne weiteres in die vorhandenen Zünfte einfügen ließen. Damit die einzelnen Zünfte vor allem ihre militärischen Aufgaben voll erfüllen konnten, sorgte das Kollegium dabei für einen gewissen Ausgleich zwischen größeren und mitgliederschwächeren Zünften. 8.4.11 Stadt ohne Zünfte – Handwerk ohne Zunftbildung 8.4.11.1 Nürnberg In Nürnberg war das Handwerk völlig einem Rat patrizischer Fernhändler und Unterneh-

1485 T. S, Die Freiburger Enquete von 1476 (4.1–4.3), S. 14. 1486 J. B, Straßburger Zunft- und Polizeiordnungen (2.2–2.4), S. 213.

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mer unterstellt.¹⁴⁸⁷ Der Rat duldete grundsätzlich keine gewerblich sich selbst organisierenden und politisch berechtigten Zünfte sowie keine Bruderschaften.¹⁴⁸⁸ Erst 1474 gab es nachweislich eine religiöse Bruderschaft der Messerer, danach Bruderschaften der Kerzenzieher, Bäcker und Bader. Der Rat grenzte die einzelnen Handwerke genau gegeneinander ab, regelte und kontrollierte sie streng und ordnete sie fernhändlerischen Belangen unter, förderte sie jedoch in der Form des Exportgewerbes. Durch Öffnung oder zahlenmäßige Abschließung von Handwerken konnte er auf Konjunkturen reagieren und sie steuern. Früh schon hatte sich der Rat der Organisation von Handwerken in Zünften entgegengestellt. Die Selbstorganisation der Handwerke blieb im Vergleich mit den oberdeutschen Zünften unterentwickelt. In den Satzungsbüchern seit dem Beginn des 14. Jahrhundert ndet sich die Bestimmung, dass die Handwerke ohne Zustimmung des Rates keine Einungen untereinander machen dürfen. Handwerker hatten zwar mit den Schmieden an der Spitze den Anstoß zu dem Aufstand gegen den Rat 1348/49 gegeben, Angehörige der wirtschaftlich führenden Schichten jedoch den Verlauf bestimmt und den neuen Rat besetzt, dem nur drei oder möglicherweise sieben Handwerker angehörten. Der neue Rat ließ gewerbliche Zünfte mit Zunftmeistern an der Spitze zu, doch wurden sie nicht als politische Zünfte am Stadtregiment beteiligt. Stattdessen schworen die Zünfte und der Rat, geheime Zusammenkünfte von Zünften an Leib und Gut zu strafen, wenn sie gegen die Zünfte und den neuen Rat opponierten. Zünftlerische Bestrebungen und Vereinigungen wurden sodann seit dem Zusammenbruch des Aufstandes von 1348/49 und der Rückkehr des alten Rates einige Male verboten und unterdrückt. Seit 1350 standen die Handwerke völlig unter der Herrschaft des Rats.

Zur Kontrolle der von den Bürgern zugelassenen Handwerker wurden 1363 mit dem Rat der Bürger in Buchform geführte Listen angelegt, die bis 1370 nach Handwerken geordnet nicht ganz vollständig die Zahl der Meister und teilweise auch der erlaubten Gesellen verzeichnen. Insgesamt sind über 1 200 Meister erfasst. Die Meisterliste von 1363, wohl die erste amtliche Gewerbestatistik im Reich, umfasst insgesamt 50 Berufe. Mit Abstand die größten Zahlen an Meistern weisen die Schuster (81), Schneider (76), Bäcker (75), Messerer (73), Fleischhacker (71), Lederer (60) und Kürschner (57) auf. Die Handwerker waren die zahlenmäßig größte Bevölkerungsgruppe und machten etwas mehr als die Hälfte der männlichen Bevölkerung aus. Einen Einkauf in das Handwerk wie bei Zünften gab es nicht. Voraussetzungen für die Ausübung eines Handwerks waren der Ehe- oder Witwerstand und Haussässigkeit. Für die Berufsfähigkeit genügte die Anerkennung des Meisterstücks durch die geschworenen Handwerksmeister und ein Fünfergericht des Rats. Drei Formen handwerklicher Gewerbeausübung wurden in Nürnberg unterschieden: Die freie Kunst, das geschworene Handwerk und das gesperrte Handwerk. 1. Bis in das 14. Jahrhundert hinein bildeten die meisten gewerblichen Hantierungen noch kein organisiertes und gesetzlich geregeltes Handwerk, sondern sie standen auf der Stufe der freien Kunst, für die weitgehend Gewerbefreiheit bestand. Erst allmählich wurden den Bäckern, Tuchmachern, Lederern und Messerern zum Schutz der Konsumenten Ordnungen im Sinne gewerbepolizeilicher Maßregeln verordnet. Später erhielten die auf der Stufe der freien Künste verbleibenden Handwerke gesetzlichen Schutz und eine Regelung der Lehrlings- und Ge-

1487 H. L, Nürnbergs Gewerbeverfassung; R. E, Das Handwerk in Nürnberg. 1488 Konrad Celtis schreibt in seiner »Norimberga« (cap. 13), es werde in der Stadt keine öffentliche oder heimliche Versammlung der Handwerker und einfachen Leute geduldet, auch nicht zum Zweck eines gemeinsamen Mahles, der Religionsausübung oder eines Leichenbegängnisses, da dies für das Gemeinwesen als schädlich und verderblich erachtet werde, weil aus solchen Zusammenkünften Aufruhr, Parteibildungen und die Gefahr von Auseinandersetzungen im Volk entstünden, was viele deutsche Städte in der gegenwärtigen Zeit um ihre Freiheit gebracht habe. A. W, Conrad Celtis (1.1), S. 185.

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sellenzeit. Zu ihnen gehörten Buchbinder, Drechsler, Glaser und Teile des Waffenhandwerks (Büchsenschmiede). Ohne gesetzliche Regelung blieben die kunsthandwerklichen Brief- und Kartenmaler, die Wappenbriefe und Spielkarten herstellten, aber auch Bücher illuminierten. 2. Die vom Rat organisierten Handwerke, die Handwerke schlechthin, sind die vereidigten, geschworenen Handwerke. Von den freien Künsten unterschieden sie sich durch das Meisterstück und vor allem durch die Institution der geschworenen Meister. Diese wurden alljährlich aus der Mitte eines jeden Handwerks gewählt oder benannt und vom Rat eingesetzt, dem sie eidlich zu Treue und Gehorsam verp ichtet wurden. Der Rat legte nach der Größe und Bedeutung des jeweiligen Handwerks die Zahl der geschworenen Meister und die Dauer ihrer Amtstätigkeit fest, für die diese kein Entgelt erhielten. Die geschworenen Meister hatten im Interesse des Gemeinwohls die genaue Einhaltung der Ratsordnungen für die Handwerke, die gewerbetechnische Fragen der Produktion sowie Rechte und P ichten der Handwerker festlegten, ohne eigene Strafgewalt zu überwachen und Verstöße anzuzeigen sowie unter Handwerkern aufgetretene Streitigkeiten in gewerblichen Angelegenheiten zur Entscheidung an das Gericht der Fünf Herren, seit 1470 an das Rugamt weiterzuleiten. Ihre Haupttätigkeit bestand in der Warenschau. 3. Gesperrte Handwerke waren Handwerke, in die nur Nürnberger Bürgersöhne als Lehrlinge aufgenommen werden sollten, bei denen Wandern untersagt war, Meister sowie Gesellen und Lehrlinge ohne Erlaubnis des Rats die Stadt nicht verlassen und an andere Orte reisen durften und auch Handwerkszeug nicht aus der Stadt gebracht werden durfte. Damit sollte erreicht werden, dass wichtige Exportgewerbe gewissermaßen Monopole der Stadt blieben und nicht an andere Orte verp anzt wurden, wo dann Konkurrenten entstanden. Es gab nicht weniger

als 30 solcher Handwerke, zu denen vor allem Metallhandwerke, darunter der Waffenindustrie, ferner die Luxusgewerbe der Goldschmiede und der Gold- und Silberdrahtzieher und -spinner sowie die Hersteller von Metallkurzwaren gehörten. In Lübeck waren die Bernstein verarbeitenden Paternostermacher seit 1385 ein gesperrtes Handwerk. Bei geringeren Vergehen (Frevel) und Übertretungen polizeilicher Vorschriften unterstanden die Handwerker in Nürnberg seit 1390 dem Gericht der Fünf Herren (Hadergericht), das aus den beiden Bürgermeistern und drei Ratsherren gebildet wurde. Im Jahre 1470 löste der Rat die Angelegenheit des Handwerks aus der Zuständigkeit des Gerichts heraus und übertrug sie dem neu eingerichteten Rugamt, bestehend aus den Pfändern und deputierten Ratsherren, die auf Anzeige (Rüge) hin Übertretungen von Vorschriften und Satzungen aburteilten. Eine eigene Kasse und Vermögen, eine eigene Gerichtsbarkeit oder ein eigenes Haus wie in anderen Städten besaßen die Handwerke nicht. Zusammenkünfte mussten vom Rat genehmigt werden und wurden von einem Ratsverordneten beaufsichtigt. Der Rat überwachte penibel die Korrespondenz der einzelnen Handwerke. Einlaufende Schreiben mussten ungeöffnet dem Jüngeren Bürgermeister übergeben werden, der sie dann je nach Inhalt dem Rat vorlegte oder den geschworenen Meistern zur Beantwortung weiterreichte. Die Antwort wurde vom Jüngeren Bürgermeister, von Ratsdeputierten oder vom Rugamt überprüft. Nicht selten übernahm der Rat selbst die Korrespondenz mit auswärtigen Zünften, keineswegs duldete er einen heimlichen Briefwechsel. Ähnlich verfuhr der Rat in Rothenburg ob der Tauber, wo gleichfalls – mit Unterbrechungen – keine politischen Zünfte geduldet wurden. Bestrebungen von Handwerken, die Zahl der Gesellen zu beschränken, wurden vom Nürnberger Rat zumindest für Exportgewerbe, an deren ungeminderter Produktion der Handel interessiert war, abgelehnt. Ansinnen, Findelkinder und Uneheliche vom Handwerk auszuschließen, wies der Rat ausdrücklich als ›zünf-

Handwerker- und Kleinhändlerzünfte – Politische Zünfte 829

tisch‹ zurück und stellte klar, dass es in Nürnberg keine Zünfte gebe. Der Geheime Rat Nürnbergs gab 1548 einem Ulmer Abgesandten, der die Stadt im Zusammenhang mit den von Kaiser Karl V. in süddeutschen Städten geforderten Verfassungsänderungen aufsuchte, folgende Auskünfte über seine Herrschaft über die Handwerke in Vergangenheit und Gegenwart, denen Zusätzliches und Präzisierendes zu entnehmen ist. Die Handwerker waren nun in 70 Rotten eingeteilt. Die Fleischhacker waren unmittelbar einem Ratsverordneten unterstellt, der sie selbst und durch seine Kundschafter in ihrer Gewerbetätigkeit überwachte. Die Handwerker besaßen, da sie keinen Anteil an Strafgeldern hatten, kein eigenes Vermögen, doch wurde es ihnen in Analogie zu Handelsgesellschaften erlaubt, gemeinschaftlich Rohstoffe einzukaufen und die Finanzierung in Vereinbarungen anteilig nach Maßgabe des Bedarfs und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Einzelnen, auch unter Gesichtspunkten der Solidarität mit den Ärmeren zu regeln. Den Handwerkern und ihren geschworenen Meistern war es bei hohen Strafen streng verboten, eigenmächtig ihre Ordnungen oder einzelne Satzungen nach außen gelangen zu lassen. Ohne Wissen und Willen des Rats durften die Handwerker nichts vornehmen, sondern sie hatten Mängel und Gebrechen im Handwerk in Form einer Bittschrift (Supplikation) dem Rat vorzubringen, der sie den Rugsherren zur Ausarbeitung eines Gutachtens übergab und schließlich eine Entscheidung traf. Die Rugsherren tagten dreimal in der Woche nachmittags, hörten die geschworenen Meister, die Ordnungsverstöße und Mängel in ihren Handwerken vortrugen und dann auf die Bescheide warteten. Sie besaßen die Befugnis, auf der Grundlage der Gesetze zu entscheiden, konnten aber nach ihrem Gutdünken schwierige Fälle dem Rat zur Entscheidung übergeben. Die Strafgelder, die alle dem Rat zu ossen, wurden ordnungsgemäß oder nach Gnade verhängt, doch verlangte sie der Rat selten in voller Höhe. Es stand in der Macht des Rates, so resümierte der Ulmer Ab-

gesandte, jederzeit die Statuten der Handwerker zu ändern, zu mehren oder zu mindern, wie er es für gut, notwendig und nützlich erachtete. 8.4.11.2 Die Zerschlagung der Zünfte in südwestdeutschen Städten 1548/50 Als Kaiser Karl V. 1548 in 27 südwestdeutschen Städten die Beseitigung der Zunftverfassungen und für Augsburg und Ulm eine Ausrichtung an den Verhältnissen in Nürnberg anordnete, mussten im Zuge der Zerschlagung der politischen Zünfte 1550 auch die Zunfthäuser als Orte politischer und sozialer Aktivitäten beseitigt werden; jede Versammlung in zünftigem Rahmen wurde verboten. Die Räte der Städte hatten die Zunftbriefe sowie das mobile und immobile Vermögen der Zünfte, das Handlungsfähigkeit ermöglichte, einzuziehen, die Zunfthäuser der Handwerker mit Ausnahme von unentbehrlichen Wirtschaftsgebäuden zu verkaufen und die erlaubten Zunftstuben der den Zünften zugehörigen Großkau eute örtlich zu verlegen. Der Augsburger Rat beabsichtigte, wie er dem Kaiser mitteilte, mit dem Verkaufserlös zusammen mit den Zinsgeldern und Renten der Zünfte einen Fonds einzurichten und den jährlichen Ertrag unter den Handwerken zu verteilen, insbesondere um Arme zu unterstützen und ihnen den Verbleib bei ihrem Handwerk zu ermöglichen, um damit ein christliches gutes Werk zu tun und zugleich den gemeinen Mann umso leichter in freiwilligem Gehorsam zu erhalten. Der Überlinger Rat dachte insbesondere daran, mit den aus einem Fonds anfallenden Geldern einen beständigen Kornvorrat anzulegen, um in Zeiten der Teuerung den Bedürftigen davon zukommen zu lassen und damit dem armen Mann langfristig zu helfen. Die Räte in Esslingen und Überlingen setzten sich für die Beibehaltung handwerklicher Zunftstuben für gesellige Veranstaltungen ein, die jedoch auf reine, durch spezielle Namen wie zu dem Mohren als solche kenntlich zu machende Wirts- und Zechhäuser reduziert werden sollten, damit die Handwerker eine Stube für Hochzeiten, ehrbare Gesellschaftsveranstaltungen und erforderliche

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Versammlungen hätten. Der Rat wollte darauf sehen, dass keine geheimen politischen Umtriebe, keine Conventickel oder Pra[k]tiken uf solichen Stuben furgiengen.¹⁴⁸⁹ 8.4.12 Zwischenstädtische Zunftverbindungen und Handwerkerbünde Beziehungen zwischen Zünften verschiedener Städte ergaben sich in einigen Fällen dadurch, dass Zunftordnungen anderer als Vorbilder dienten oder unmittelbar übernommen wurden. So wanderte das Recht der Kölner Wollenweber 1230 nach Deutz, 1339 nach Münstereifel, 1372 sogar nach Breslau und 1397/1471 nach Koblenz. Für die wendischen Städte des hansischen Ostseegebiets waren im Anschluss an die Übernahme des Stadtrechts Lübecks die dortigen Verhältnisse maßgeblich. Die Zünfte der mehr landeinwärts gelegenen Städte hielten sich vornehmlich an die Statuten Magdeburger Ämter. Die Kannengießer Prags erhielten 1321 von Nürnberg und Wien ihr Recht.¹⁴⁹⁰ Beziehungen wurden auch dadurch hergestellt, dass mehrere städtische Obrigkeiten gemeinsame Zunft- oder Marktordnungen ausarbeiteten und gleiches Recht vereinbarten. Die Böttcherrolle von 1321 galt in den Seestädten Hamburg, Lübeck, Wismar, Rostock, Stralsund und in Greifswald, die Verordnung der Grapengießer (Kannengießer) von 1354/76 hinsichtlich der Warengüte, was den Kupfer-, Blei- und Zinngehalt anlangt, in Lübeck, Rostock, Wismar, Stralsund, Greifswald und Stettin. Diese Seestädte verglichen sich des Öfteren über Lohn, Mietzeit und Arbeitsleistung der Gesellen. Auch Zünfte verschiedener Seestädte vereinigten sich zu gemeinsamen Amtsrezessen hinsichtlich gewerbetechnischer Fragen und des Verhältnisses zu den Gesellen, so die Schmiede (1325), Bäcker (1443), Klippenmacher (Holzschuhmacher, 1486) und Bechermacher (1494). Gleiches gilt für mittelrheinische

Städte wie Frankfurt, Worms, Mainz, Speyer, Vereinigungen oberrheinischer Städte wie Basel, Straßburg und die Städte des elsässischer Zehnstädtebunds sowie Absprachen mitteldeutscher Städte wie Alfeld, Braunschweig, Goslar, Halberstadt, Hannover, Helmstedt, und Hildesheim, denen sich auch Magdeburg anschloss. Etwa seit Mitte des 14. Jahrhunderts nachweisbar, nden sich regionale Vereinbarungen und Vereinigungen von Zünften, gelegentlich auch von einzelnen Meistern und Gesellen. Es traten aber auch regionale Gruppierungen zueinander in Beziehung. Es gab den schlesischen Schneidertag (1361), den Hutertag vom ganzen Pairland und Etscherland (1477), den österreichischen Bäckertag (1429). Die insgesamt 80 Orte umfassenden Sattler traten 1435 als großräumig organisierter Handwerkerbund in Erscheinung. Dazu gehörten Sattler aus Augsburg, Nürnberg, Nördlingen, Dinkelsbühl, Schwäbisch Hall, Schwäbisch Gmünd, Mainz, Worms, Heidelberg, Heilbronn, Esslingen und Reutlingen, daneben aus den südlicher gelegenen Städten Zürich, Bern, Konstanz, Schaffhausen, Rottweil und Villingen. In Wien trafen 1442 Kürschner Oberdeutschlands Vorschriften hinsichtlich der Gesellen, die 1465 in Nördlingen neu gefasst wurden. In Nördlingen hatte bereits 1459 eine Zusammenkunft oberdeutscher Beutlerzünfte stattgefunden. Eingehend sind die Handwerkerbünde des mittelrheinischen Raumes untersucht, der infolge wirtschaftlicher und städtepolitischer Verechtungen trotz territorialer Zerrissenheit eine relativ geschlossene Landschaft darstellt.¹⁴⁹¹ Hier sind es drei Städtegruppen, nämlich die Städte Speyer, Worms, Oppenheim und Mainz, die Städte zwischen Bingen und Koblenz sowie die um Frankfurt gruppierten Wetteraustädte, die, politisch und wirtschaftlich oft miteinander verbunden, besondere Nachbarschaftsverhältnisse aufwiesen und gegenseitige Abkommen über die rechtliche Gleichstel-

1489 E. N (Hg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung (4.1–4.3), Nr. 15, S. 106 (Augsburg); ferner S. 238, 291. 1490 R. W, Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit, Bd. 2, S. 59 ff.; E. S Geschichte des Arbeitsrechts (8.5), S. 98 f. 1491 F. G, Handwerk und Bündnispolitik.

Handwerker- und Kleinhändlerzünfte – Politische Zünfte 831

lung und den Rechtsschutz ihrer Bürger abschlossen. In solchen Gruppierungen traten diese Städte häu g umfassenden Vereinigungen wie den rheinischen Städtebünden, Münzverträgen und Landfrieden bei. Von dieser regionalen Struktur wurden weitgehend auch die Handwerkerbünde geprägt. Einige der Gewerbe knüpften bereits im Spätmittelalter, darin gefördert durch die überragende Stellung Frankfurts als Messestadt, Verbindungen zum oberrheinischen Raum (Armbruster, 1449), darüber hinaus zu schwäbischen und fränkischen Städten (Sattler, 1435). Die Beziehungen der Pergamenter reichten nach Straßburg, Nürnberg, München und Wien (1435). Für die überwiegende Zahl der Gewerbe verlief aber eine offenbar stabile Grenzlinie zwischen dem mittel- und dem oberrheinischen Raum auf der geogra schen Breite des Hagenauer Forsts. Sehr viele Berufsgruppen gingen im Oberrheingebiet zwischenstädtische Verbindungen ein. Vielfach wurden auch nur Teile des Elsass erfasst. Insgesamt spielten für die Bündnisse Grenzen geogra scher, administrativ-herrschaftlicher oder währungspolitischer Art eine Rolle. Die Stadtobrigkeiten waren bestrebt, die Kontrolle über die Bundesaktivitäten der örtlichen Zünfte zu behalten. Gewerbe, die für eine örtliche Zunft zu schwach besetzt waren, versuchten, durch einen zwischenstädtischen Zusammenschluss Ziele einer Zunft zu realisieren. Die Bundesversammlung fungierte in diesem Fall als Gericht und diente der gewerbepolizeilichen Überwachung. Daneben gab es Gewerbe, die in größerem Maße ihre Waren auf fremden Märkten und Messen vertrieben und deshalb an einer regelmäßigen Überwachung des Absatzgebietes hinsichtlich der Warengüte und der Verkaufspraktiken interessiert waren. Solche Gewerbe trafen sich bis zu zweimal im Jahr zu den Messezeiten, in der Regel jährlich oder alle zwei Jahre. Andere Gewerbe wie die örtlich ausgerichteten und gut besetzten Schmiede, Bäcker oder Schneider planten in Tagungsintervallen von drei, fünf, zehn, fünfzehn oder gar 28 Jahren (Schneider, 1457).

Die zwischenstädtischen Handwerkerbünde verfolgten vor allem folgende Zielsetzungen: 1. Sie befassten sich mit Fragen des wirtschaftlichen, arbeitsrechtlichen und disziplinarischen Verhältnisses zwischen Meistern und Gesellen. Sie waren Instrument einer weiträumigeren und erst dadurch voll wirksamen Abwehr von Forderungen der mobilen Gesellen und ihrer Arbeitskampfmaßnahmen sowie der Unterdrückung von Gesellenunruhen, zumal die Gesellen selbst ihre Aktionen häu g überörtlich organisierten. In einem geogra sch weiteren Bereich konnten Gesellen verfolgt werden, die entlaufen waren, sich eines Vergehens oder Verstoßes gegen Handwerksgewohnheiten schuldig gemacht hatten. Ferner wurden durch Bünde zunftschließende Maßnahmen koordiniert, welche die Zugangsbedingungen erhöhten und die Meisterfamilien begünstigten. 2. Sie vereinbarten gewerbewirtschaftliche Regelungen und schufen ein landschaftliches System des Gewerbezwanges. Für einige auch für auswärtige Absatzmärkte produzierende Gewerbe und für solche, die auf auswärtige Rohstoffbezugsgebiete angewiesen waren, spielten die Bezugs- und Absatzverhältnisse eine wichtige Rolle für die Bundesgründung. 3. Einige Bestimmungen der Vereinbarungen betreffen die Handwerksehre und Kleidungsvorschriften. Insgesamt brachten die Handwerkerbünde eine Angleichung von handwerklichen Rechtsgrundsätzen und Gewohnheiten sowie deren verbindliche Projektion auf einen größeren geogra schen Raum. Das vielfach ambulante und stark dem Lande zugewandte Gewerbe der Hafner, Kessler und Kaltschmiede (Kupferschmiede) war überörtlich organisiert und in wenigstens elf Kesslerkreise eingeteilt, in denen sie Territorialherren oder anderen Herrschaften unterstellt waren. Der Schutz der Kessler, der eine Einnahmequelle darstellte und zur Forderung von gewissen Dienstleistungen berechtigte, wurde vom König als Lehen vergeben. Regional organisiert

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waren auch Seiler, Spengler, Ziegler und Wagner. In diesen Fällen traten die einzelnen Meister und Gesellen unmittelbar als Mitglieder dem Bund bei, der in Schultheißen und Schöffen seine institutionellen Stützen hatte. Über das gesamte Reich verbreitet war der Bund der Steinmetze.

8.5 Handwerksgesellen und Gesellenverbände 8.5.1 Status und Lebensweise der Handwerksgesellen Für alle Gruppen, die in einem bezahlten Dienstverhältnis standen, war die Bezeichnung Knechte üblich, die dann nur noch durch Hinzufügen von Tätigkeits- oder Berufsbezeichnungen spezi ziert wurde. Sie umfasste das Hausgesinde, Tagelöhner, Hilfsarbeiter, Handwerksgesellen, das städtische Dienstpersonal, daneben auch die städtischen Söldner. Das Wort Geselle, abgeleitet von Geselle als Saalgenosse, war ein unbestimmter, jedoch emotionaler Gemeinschaftsbegriff, der innerhalb der Zunft bis ins 15. Jahrhundert für den Meister als Zunftgenossen galt. Die Bezeichnung Geselle für Knecht kam seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts allmählich als Ausdruck eines wachsenden Kollektivbewusstseins der Handwerksgesellen und im Zusammenhang mit ihrer Verbandsbildung im internen Sprachgebrauch auf. Eingebürgert hat sich die Bezeichnung Geselle im Sprachgebrauch der Zunft und der Obrigkeit seit dem späten 15. Jahrhundert, im 16. Jahrhundert wurde sie vorherrschend. »Indem sich langsam das Wort ›Geselle‹ durchsetzte, kam zum Ausdruck, dass die hierarchische und patriarchalische Einordnung der einzelnen ausgelernten Lohnarbeiter in den Haushalt des Meisters und in die Zunft zunehmend zurückgedrängt wurde durch die Verbandsbildung der Gesellen.«¹⁴⁹² In einigen Gewerben waren die Handwerksgesellen in den Haushalt des Meisters nicht

durchweg oder so gut wie nicht einbezogen, so in Teilen des Bau-, Transport- und Textilgewerbes, im Reb- und Gartenbau. Die Angehörigen dieser zahlenmäßig bedeutenden Gruppen von Lohnabhängigen waren überwiegend verheiratet und lebten im eigenen Haushalt, vielfach in einem Häuschen in der Vorstadt. Seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert gehörten sie in oberrheinischen Städten, ohne Meister zu sein, einer speziellen internen Zunft (›Knechtszunft‹) oder einer Sammelzunft an und waren insoweit in das städtische Verfassungsgefüge integriert. Bei den Webern genügte teilweise das Stuhlrecht anstelle des Zunftrechts, um zu Hause selbständig gegen Stücklohn arbeiten zu können. Zwischen dem gedingten Knecht und dem Meister standen die Stückwerker, die selbständig, aber ohne Mitarbeiter, gegen Stücklohn im Auftrag eines Meisters oder eines Kunden arbeiteten, dafür aber das halbe Zunftrecht erwerben, einen Harnisch besitzen und die militärischen P ichten eines Zunftbürgers erfüllen mussten wie in Straßburg. Davon heben sich die Gewerbe ab, in denen die Gesellen regelmäßig unverheiratet und in den Meisterhaushalt einbezogen waren. Doch auch hier gab es einzelne verheiratete Gesellen mit eigenem Haushalt. Ein generelles Heiratsverbot für Gesellen bestand nicht, wohl aber wurden von einzelnen Zünften Beschäftigungsbeschränkungen oder -verbote gegen verheiratete Gesellen verhängt, doch wurde auch Duldsamkeit geübt. Wer als Geselle heiratete, machte sich gegenüber Meister und Mitgesellen immerhin verdächtig, nicht mehr eine geordnete Ausbildung und die Meisterschaft anzustreben und seinen Lebensunterhalt – unter Mithilfe der Frau – künftig außerhalb des Lebenskreises der Zunft und als Störer oder Bönhase in Konkurrenz zu ihr suchen zu wollen. Andererseits war mit dem Eintritt in die Zunft als Meister nicht selten als Voraussetzung die Verheiratung des Bewerbers verknüpft. Der ledige Geselle musste zumindest gefreit haben, was unter Umständen durch Briefe zu beweisen war, während der be-

1492 E. M, Die Unterschichten der mittelalterlichen Städte (7.3–7.5), S. 44.

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reits verheiratete Bewerber nur dann aufgenommen wurde, wenn er von auswärts kam. Die Handwerksgesellen stellten die wichtigste Gruppe innerhalb der wirtschaftlich Unselbständigen dar.¹⁴⁹³ Was ihre Einkünfte und Vermögensverhältnisse anlangt, so können wohl einige unter ihnen der Unterschicht zugeordnet werden, nicht jedoch hinsichtlich ihres Selbstverständnisses und Selbstbewusstseins. Es erscheint auch zweifelhaft, ob die Einschätzung des sozialen Status der Gesellen nach wirtschaftlichen Lagemerkmalen überhaupt viel besagt. Es ist dies dort kaum der Fall, wo das Gesellendasein auch noch im Spätmittelalter nur ein Durchgangsstadium auf dem Wege zur selbständigen Existenz des Meisters und noch kein Dauerzustand für eine Vielzahl von Gesellen war. Ferner stand der jugendliche Geselle am Anfang des Arbeits- und Erwerbslebens. Da er – mit Ausnahmen – unverheiratet war, musste er vom gezahlten Individuallohn keine Familie ernähren. Außerdem scheint der Lohnunterschied zwischen dem Meister und dem lohnabhängigen Gesellen nicht allzu groß gewesen zu sein; im Bauhandwerk, das allerdings nicht typisch ist, el er jedenfalls kaum ins Gewicht, oder es bestand überhaupt keiner. Folge der eingeschränkten Fähigkeit des Gesellen zur Ehe waren wilde Ehen, nicht eingehaltene Eheversprechen sowie – aus einer Vielzahl von Verboten zu schließen – ein fast alltäglicher Umgang von Gesellen mit Prostituierten. Es nden sich zwar viele Verbote von Ratsobrigkeit und Zunft, die den Verkehr mit Prostituierten generell untersagen, vielfach wurden aber nur der überaus häu ge, tägliche Besuch des Frauenhauses, der Besuch an Feiertagen oder das Mitbringen von Prostituierten in das Meisterhaus oder auf die Trinkstube verboten. Handwerksmeister im Basler Rat hatten noch 1525 die ernsthafte Befürchtung, die Gesellen würden die Stadt boykottieren, falls man das noch verbliebene eine Frauenhaus schließen lasse. Die jugendlichen Gesellen galten als unru-

higes Element, das sich durch nächtliches Umherziehen in Verkleidung mit Trommeln und Lärmen, durch die Neigung zu Unfug, Schlägereien und Aufruhr bemerkbar machte. Ausweislich der städtischen Urfehdebücher gelangten die Gesellen häu ger als andere Bevölkerungsgruppen deswegen vorübergehend ins Gefängnis. Rat und Zünfte versuchten, durch Gebote, Verbote und Kontrollen auf die Lebensführung der Gesellen einzuwirken. Verboten wurde den Gesellen übermäßiges Essen und Trinken, der Zwang des Zutrinkens, Wirtshausgehen, Fluchen, leichtfertiges Schwören und Gotteslästerung, Lügenstrafen, Raufen und Messerziehen sowie der Umgang mit übel beleumdeten Personen. Würfelspiele wurden verboten oder auf einen bestimmten Einsatz begrenzt. Verboten wurden Schuldenmachen und modischer Kleidungsluxus. Verordnet wurden anständiges Benehmen, ordentliche und angemessene Kleidung, was Barfußgehen und einen barschenkeligen Aufzug ausschloss, und der sonntägliche Gottesdienstbesuch. 8.5.2 Die Anzahl der Gesellen in Handwerksbetrieben und in der Stadt Der Anteil der Knechte und Mägde im weiten Sinne an der erwachsenen Bevölkerung betrug in Nürnberg (1449), Basel (1454, 1497) und in Freiburg im Breisgau (1497) etwa zwischen 22 und 28 Prozent, wobei die Knechte – außer in Nürnberg mit einem weiblichen Überhang – ein leichtes Übergewicht hatten. Die den Berechnungen zugrunde liegenden Angaben sind freilich unvollständig. Der Anteil der Handwerksgesellen an der erwerbstätigen Bevölkerung dürfte hier etwa ein Viertel bis ein Drittel betragen haben.¹⁴⁹⁴ Das Zahlenverhältnis der Meister zu den beschäftigten Gesellen lässt sich nicht auf breiter Grundlage ermitteln, insgesamt gesehen waren die Betriebsgrößen jedoch bescheiden. Im oberund mittelrheinischen Raum dürften, mit Un-

1493 Siehe die neueren Darstellungen von W. R, K. S und K. W. 1494 Vgl. auch 7.3.1

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terschieden zwischen einzelnen Gewerben und Städten, etwa in einem Drittel oder gar in der Hälfte der Meisterbetriebe keine Gesellen beschäftigt gewesen sein. Die Zahl der Werkstätten, die mehr als zwei Gesellen beschäftigten, war außerordentlich gering. Am höchsten lagen die Gesellenzahlen in Exportgewerben und in neuen Gewerben wie dem Buchdruck, die keiner Kontrolle durch eine Zunft unterworfen waren. Relativ gesellenstarke Gewerbe waren die Bäcker, Schneider, Schuhmacher und Schmiede. Einer Straßburger Liste von 1444 zufolge beschäftigten 45 von 85 Bäckermeistern überhaupt keine Gesellen, 11 hatten einen Gesellen, 17 hatten zwei und 12 hatten drei Gesellen.¹⁴⁹⁵ Sehr ungleich waren die Gesellen im Straßburger Schneidergewerbe verteilt. Auf 132 Meister ent elen 110 Gesellen, die sich jedoch nur auf 50 Meister verteilten. Drei Meister hielten je 6, neun Meister je 4 Gesellen, sodass diese zwölf Meister bereits 54 Gesellen beschäftigten. Daneben zählten noch 42 Frauen zur Zunft. In anderen Fällen waren Zünfte jedoch darum bemüht, durch Verordnung von Gesellenhöchstzahlen die Betriebsgrößen und Produktionskapazitäten hinsichtlich der einzelnen Meister zu begrenzen. Ähnliche Regelungen galten für Lehrlinge, wobei gelegentlich Karenzzeiten vorgeschrieben wurden. 8.5.3 Mobilität und Migration von Handwerksgesellen und Handwerksmeistern Die Handwerksgesellen waren das wichtigste unter den mobilen Elementen, zu denen noch Pilger, Kleriker und Studenten gehörten.¹⁴⁹⁶ Mobilität und Fluktuation der Gesellen resultierten nicht genuin aus einer Wanderp icht, da diese erst spät verordnet, vielleicht aber schon früher erwartet wurde. Nachweisbar ist Gesellenwandern bereits für die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts. Als Gründe für das Wan-

dern gelten eine altersspezi sche Mobilität und Abenteuerlust einer unverheirateten, ungebundenen Altersstufe vor der vollen Integration in die Arbeitswelt der Erwachsenen, der Wunsch, fremde Städte und Lande kennen zu lernen, ferner das Ziel, durch überlokale Berufserfahrung und Zusatzlehren neue Fertigkeiten und Kenntnisse zu erwerben, um so die Ausbildung zu vervollkommnen. Schließlich war Migration eine Reaktion auf die Arbeitsmarktsituation. In kleineren Städten, wo nur für einen lokalen Markt mit einem verhältnismäßig unelastischen Absatz produziert wurde, traf der Geselle auf eine sehr beschränkte Anzahl von Betrieben, die zudem, wenn überhaupt nur einen Gesellen oder eine ganz geringe Anzahl beschäftigten. Sehr rasch konnte sich hier ein Überangebot an Arbeitskräften bilden, das zu struktureller Arbeitslosigkeit führte. Ein Übergang konnte unabhängig von der Zuwanderung allein schon durch sukzessive Ausbildung mehrerer Gesellen bei einem Meister entstehen, auch wenn der Nachwuchs nur aus der Stadt selbst kam. Um Arbeitslosigkeit zu überbrücken oder zu beenden, musste die Wanderung zu entfernter gelegenen, größeren Gewerbezentren unternommen werden. Dort gab es vielleicht Gewerbezweige, die wie das Textilgewerbe infolge eines arbeitsteiligen Produktionsprozesses oder wie das Metallgewerbe infolge einer hochgradigen Berufsspezialisierung, ferner aufgrund von Fernabsatz eine größere Anzahl von Arbeitskräften beschäftigten. Genauso gut konnte die Mobilität der Gesellen durch günstige wirtschaftliche Voraussetzungen, durch eine Nachfrage nach quali zierten Arbeitskräften für spezialisierte Handwerke gefördert werden, sodass Gesellen in der Lage waren, relativ risikofrei die für sie günstigsten Arbeitsbedingungen auszusuchen. Dafür sprechen Lohnsteigerungen im Übergang vom 14. bis 15. Jahrhundert, Verbote der Abwerbung (Abdingen) von Gesellen, der Gewährung von Sonder- und Nebenleistun-

1495 P. D, Le premier recensement et le chiffre de population de Strasbourg en 1444 (1.4), S. 121; K. S, Handwerksgesellen und Lohnarbeiter, S. 45 f. 1496 W. R, Migration; K. S, Die Handwerksgesellen; P. M (Hg.), Unterwegssein.

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gen und Höchstlohntaxen. Aus Zunftstatuten zu schließen, gab es offenbar bei den Gesellen eine nicht geringe Bereitschaft, den Arbeitsplatz aus verschiedenen Gründen rasch wieder aufzugeben. Im Allgemeinen wanderten in die größeren Städte Gesellen aus entfernten und einwohnerreichen Orten, in die mittleren Städte hingegen Gesellen aus relativ nahe gelegenen kleineren Orten. Für die Zuwanderung aus weiten Entfernungen spielte auch das Renommee eines Gewerbes eine Rolle. Durch Gesellenwandern traten etwa handwerkliche Arbeitskräfte aus Ostmitteleuropa und Oberdeutschland zueinander in Beziehung, während man grundsätzlich einen oberdeutschen und einen niederdeutschen Wanderraum mit Westfalen, Niedersachsen, der Mark Brandenburg, Mecklenburg und dem Kernraum der Hanse mit einem Wandergebiet in den weiten Ostseeraum unterscheiden kann.¹⁴⁹⁷ Die bedeutendsten Wanderrouten waren der Rhein mit der Abzweigung nach Flandern und in die Niederlande sowie in die Schweiz und weiter nach Italien, die Donau als Verbindung von Schwaben und Bayern nach Österreich und Ungarn und der Main, der auf einer Strecke Frankfurt und Nürnberg mit Anschlüssen nach Köln, Straßburg und Antwerpen verband, während von Nürnberg aus der Weg nach Prag, Breslau, Krakau oder Regensburg und Wien ging. Das Herzogtum Schlesien und die Markgrafschaft Meißen bildeten einen Durchgangsraum nach Ost- und Westpreußen sowie nach Süd- und Südwestdeutschland. Wanderungen führten Spezialisten, Kunsthandwerker und Künstler, aber auch Angehörige der üblichen Gewerbe, Gesellen und Meister schließlich auch ins Ausland. So gelangten Handwerker nach Modena, wo auch deutsche Meister in der Schmiedelehre ausbildeten, nach Siena der Architektur und Steinmetzkunst sowie der Teppichweberei und Seidenstickerei wegen.

Das große Sammelbecken war Rom mit der Kurie, den Kardinalshaushalten und geistlichen Institutionen als zahlungskräftigen Auftraggebern. Hier fanden sich Spezialisten wie Schlosser, Buchdrucker und Geschützmeister ein, in weit überwiegender Zahl mit Bedeutung für die ganze Stadt und päpstlich privilegiert, aber auch Bäcker und Schuhmacher, schließlich noch Weber, Bader, Barbiere und Gastwirte. Die deutschen Bäcker und Schuhmachen besaßen eigene Betriebe und beschäftigten vorübergehend anwesende Wandergesellen, die nach Deutschland zurückgingen. Sie bildeten Bruderschaften mit Kapelle, Spital und Zunfthaus, die Bäcker mit zeitweise fast 200 und die Schuhmacher mit über 100 Mitgliedern und waren die Stützen der großen deutschen Bruderschaften, der AnimaBruderschaft, die bis etwa 1450 bestand, und seit 1454 der Campo-Santo-Bruderschaft, die zeitweise über 500 Mitglieder aufwies. Untergeordnete Zentren deutscher Zuwanderung waren noch Florenz und Venedig, in Frankreich Paris und Lyon sowie Orte in Südfrankreich, seit dem späten 15. Jahrhundert auch in Spanien. Für das hansische Herkunftsgebiet hatte Skandinavien eine große Bedeutung. Neben Deutschen gingen seit etwa 1400 Flamen und Holländer als Schuhmacher, Schneider, Uhr- und Brillenmacher, Glaser, Drucker, Bierbrauer und Goldschmiede nach London und bildeten dort Bruderschaften. 8.5.4 Das Arbeitsverhältnis 8.5.4.1 Verdingung und P ichten Die Dauer des vertraglichen Arbeitsverhältnisses, die Ding- und Mietzeit, tendierte zum Ausgang des Mittelalters hin zu kürzeren Zeiträumen und kam insoweit der Mobilität der Gesellen entgegen, die häu g nur für die Mietzeit bei einem Meister blieben.¹⁴⁹⁸ Es nden sich Zeiträume zwischen einem Jahr und nur einer Woche; es durfte auch für eine beliebige Zeit gemie-

1497 Das Folgende nach K. S, Handwerk, Zünfte und Gewerbe, S. 244–249. 1498 W. E, A. . D, E. S, R. S, F. G (8.5), H. W/T. M-M, ferner die Literatur zu 9.8.

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tet werden. Häu g waren Halbjahresverträge. Als Miettermine waren neben einer Reihe anderer Termine wie Weihnachten vor allem 14 Tage vor Ostern und Michaelis (29. September) üblich. Sie schieden Sommer und Winter mit ihren verschiedenen Absatz- und Arbeitsmöglichkeiten und natürlichen Arbeitszeiten. Im Bauhandwerk, wo diese Unterschiede stark durchschlugen, lagen die Tageslohnsätze im Winter etwa um ein Drittel niedriger als im Sommer. Waren Miettermine von der Zunft vorgeschrieben, mussten sie – bei hoher Strafe – eingehalten werden, was aber nicht immer der Fall war. Jeder Meister sollte auf dem Arbeitsmarkt die gleichen Möglichkeiten wie die anderen haben; es sollte aber auch vermieden werden, dass der Geselle zur Hauptarbeitszeit frei war und sich besonders hoch verdingen konnte. Während die Werkverdingung auch bei sozialer Unterordnung die Gleichheit der Vertragsparteien voraussetzt, ging der Geselle eine Arbeit im Unterordnungsverhältnis ein, die Dienst genannt wurde. Erst im Laufe des 14. Jahrhunderts vollzog sich die Scheidung in Lehrlinge und Gesellen, die Abspaltung eines reinen Lehrvertrags, bei dem das Unterweisungsverhältnis im Vordergrund stand, vom Gesellenvertrag, bei dem die handwerkliche Hilfsarbeit überwog und der allein als Arbeitsvertrag im eigentlichen Sinne aufzufassen ist. Gesellen und Lehrlinge hatten dem Meister zu geloben, ihm treuen Dienst zu leisten, ihn vor Schaden zu warnen und seinen Nutzen zu fördern. Die Straßburger Schneidergesellen durften gewohnheitsrechtlich vorzeitig das Arbeitsverhältnis kündigen, wenn sie einen Ersatzmann stellten. Gelöbnis, Weinkauf, bei dem Meister und Geselle die Einigung mit einem Umtrunk bekräftigten, oder der Gottespfennig, der für einen frommen Zweck gespendet wurde, gaben als übliche feierliche Formen dem Vertragsabschluss bindende Kraft. In norddeutschen Quellen erscheint die Vormede (Vormiete), eine auf den Lohn nicht angerechnete Draufgabe, die aber durchweg verboten wurde, weil sie dem

Grundsatz der gleichen Löhnung widersprach, Lohntaxen umging oder dem streng verbotenen Abdingen Vorschub leistete. Das Verbot des Abdingens, das zu den häu gsten Bestimmungen aller Zunftrechte gehört, betrifft das Dingen während einer bestehenden Dienstzeit sowohl mit sofortiger Wirkung und damit unter Bruch eines bestehenden Dienstvertrags als auch Dingen zur Unzeit mit Wirkung zum nächsten Termin, zu dem der Geselle frei wurde. Abdingen konnte für beide Seiten ein einjähriges Berufsverbot zur Folge haben. Der Geselle hatte dem Meister Treue zu schwören, einen Eid auf die Zunftordnung abzulegen und schließlich auch noch dem Rat einen Treue- und Gehorsamseid zu leisten. Der Vertragsabschluss bedurfte der Zunftöffentlichkeit. Bei verschiedenen Zünften musste sich der Geselle in das Zunftbuch oder in das Gesellenbuch einschreiben. Mit dem Aufkommen des Gesellenwanderns wurde eine Probezeit des zugereisten Gesellen vor Vertragsabschluss üblich. Dem weiterziehenden Gesellen wurde auf Verlangen der ehrenhafte Abschied bescheinigt. Vorschriften über die tägliche Arbeitszeit kommen erst spät auf, da bis in das 15. Jahrhundert hinein der Meister, wie es ähnlich im Gesindevertrag der Fall war, die gesamte Arbeitskraft des Gesellen dingte und deshalb ständige Arbeitsbereitschaft verlangen konnte, soweit es die natürlichen und zumutbaren Grenzen der Arbeitsfähigkeit und die Vorschriften des öffentlichen Lebens zuließen, die jedoch in erster Linie dem Meister galten. Für die Zeit, die es dem Meister selbst zu arbeiten gestattet war, durfte dieser auch den Gesellen beanspruchen. Vorschriften über die tägliche Arbeitszeit wurden in erster Linie nicht zum Schutz des Gesellen, sondern deshalb erlassen, damit ein Meister einen Gesellen nicht mehr beschäftigte als ein anderer und die von der Zunft angestrebte Gleichheit der Produktionsbedingungen im handwerklichen Kleinbetrieb nicht durch Steigerung des Produktionsfaktors Arbeit verzerrt wurde.

Handwerksgesellen und Gesellenverbände 837

8.5.4.2 Die Arbeitszeit Die tägliche Arbeitszeit war in der Regel auf die Zeit der Tageshelle, die Spanne zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, beschränkt. Die Arbeit war vielfach körperlich anstrengend, die Arbeitsintensität aber nicht sehr hoch. Die Arbeit begann, je nach Eigenart des Gewerbes etwas verschieden, im Sommer um vier oder fünf Uhr und endete gegen 19 oder 20 Uhr. Im Winter begann sie später und endete sie früher. In Nürnberg dauerte der Arbeitstag für Bauarbeiter Mitte des 15. Jahrhunderts in stundenweise gleitender, kalendarisch vermerkter Zuund Abnahme wenigstens 8 Stunden (Dezember) und höchstens 16 Stunden (Juni). Je nach Länge der täglichen Arbeitszeit gab es eine einstündige Pause bis hin zu deren drei, sodass 7 bis 13 Stunden an reiner Arbeitszeit verblieben. Gröbere Einteilungen sehen im Bauhandwerk eine Sommerzeit von zwei Dritteln des Jahres und eine Winterzeit vom 16. Oktober bis etwa Mitte Februar vor. Alle 14 Tage durften einige Handwerke abends eine Stunde früher aufhören, um das Bad zu besuchen. Der Tageslohn betrug für eine Reihe von Bauhandwerken im Sommer 18 Pfennige, im Winter 14 Pfennige. Belegt ist für Bauarbeiter und Hausschneider auch ein Arbeitstag von 14 bis 16 Stunden im Sommer mit einer reinen Arbeitszeit von 11 bis 14 Stunden (Konstanz). Die durchschnittliche reine Arbeitszeit lag vielleicht bei 11 bis 12 Stunden. Anfang und Ende der Arbeitszeit und der Pausen wurden durch die kirchliche Zeitmessung und Zeiteinteilung oder durch die Schläge spezieller Werkglocken angezeigt. Für das übliche Verbot von Nachtarbeit, das gelegentlich im Winter gelockert wurde, waren insbesondere wegen der hohen Brandgefahr feuerpolizeiliche Gründe maßgebend; daneben spielten die Frage einer möglichen Beeinträchtigung der Qualität der Produkte, vielleicht auch von Wettbewerbsverzerrungen durch erhöhte Produktionsziffern oder die Wahrung der frühen Nachtruhe der Bürger eine Rolle. Die ältesten Beschränkungen der Wochenarbeitszeit betrafen die zur Sonntagsheiligung kirchlich gebotene Arbeitsruhe an Sonn- und

Feiertagen. Es galt an diesen Tagen das Verbot knechtlicher Arbeit. Für gewöhnlich ruhte die Arbeit vor einem Sonn- oder Feiertag bereits am Nachmittag oder am Abend mit dem Angelusläuten – ut dies dominica a vespera ad vesperam celebretur, entweder während des ganzen Jahres oder, vom saisonalen Absatz abhängig, nur während bestimmter Monate. Die Sonntagsheiligung konnte von Fall zu Fall oder durch generelle Vorschriften gelockert werden. Es gab Städte und Zünfte, die geringfügigere Arbeitsverrichtungen gestatteten, Arbeitsruhe nur am Sonntagnachmittag kannten oder die Arbeit nach der Vesper wieder freigaben. Immer wieder kam es zu Klagen über die Entheiligung der Sonn- und Feiertage durch Arbeit, aber auch über Ausgelassenheit und Ausschreitungen, sodass zahlreiche Gelehrte im 15. Jahrhundert eine Verminderung der gebotenen Feiertage forderten. In Anbetracht von etwa 100 Sonn- und Feiertagen des kirchlichen Festkalenders vor der Reformation kommt man im Jahresdurchschnitt faktisch auf eine Woche von etwa fünf Arbeitstagen. Daraus ergeben sich etwa 260–265 Arbeitstage im Jahr, Vollbeschäftigung vorausgesetzt, die aber bei einigen Gewerben wie dem Bauhandwerk und dem Reb- und Gartenbau nicht der Normalfall war. Mit der Reformation elen bis zu 30 Feiertage weg. Reduktionen wurden im Einzelfall (Bern 1504) auch schon vor der Reformation vorgenommen. Zumindest Tagelöhner konnten durch die Vermehrung der Arbeitstage bei günstiger Beschäftigungslage die Verschlechterung der Einkommenssituation im 16. Jahrhundert etwas auffangen. Die tatsächliche Tages-, Wochen- und Jahresarbeitszeit hing von der saisonalen Auslastung des Gewerbes und Betriebs, der konjunkturellen Lage sowie dem Angebot an Arbeit und Arbeitskräften ab. Die Zunft war bestrebt, die vorhandene Arbeit auf die Betriebe möglichst gleichmäßig zu verteilen. Steinmetze, Maurer, Tüncher, Klaiber, Zimmerleute, Dachdecker, Ziegler, Gärtner und Rebleute etwa fanden überwiegend nur saisonale Beschäftigung, nicht alle konnten im Winter wenigstens auf Aushilfsarbeiten ausweichen.

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Zunftordnungen und spezielle Knechtsordnungen beklagen immer wieder unzeitige Feiertage der Gesellen und Störungen des Arbeitsablaufes durch Begrüßung anreisender, Verabschiedung scheidender Gesellen und die Teilnahme an den Begräbnisfeierlichkeiten für verstorbene Gesellen. Sie beklagen den Verfall der Arbeitswilligkeit, den Müßiggang der Gesellen und bekämpfen jegliche Art von Geselligkeit, welche die Gesellen in ihre Trinkstuben oder in die Wirtshäuser zog. Die emp ndlichen Strafen für unzeitiges Aufstehen von der Arbeit in der Werkstatt, zu denen Schadensersatzforderungen kommen konnten, lagen in der Regel höher als Tageslohnsätze. Die entstandenen Fehlzeiten mussten vom Meister vor der Zunft gerügt werden. Zeigte ein Meister den feiernden Gesellen nicht an, ver el er einer höheren Strafe, als sie der Geselle selbst zu entrichten hatte. Die Gesellen erstrebten, nachweislich seit dem 14. Jahrhundert, einen freien Werktag in der Woche, den guten, freien, heiligen Tag. Vielfach setzten sie nur einen halben Tag oder einzelne freie Tage im Verlauf des Jahres durch. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts scheinen sie die Fünftagewoche im Allgemeinen, aber nicht unbestritten, erreicht zu haben. Dabei sind aber Mehrarbeit vor Festtagen und in Einzelfällen sogar Nachtarbeit in Rechnung zu stellen. Die Umstellung auf eine kapitalistische Produktionsweise seit 1800 verbunden mit einer Disziplinierung der Arbeitnehmer während der Industrialisierung drängte den freien Tag dann wieder zurück. Der freie Tag, der im 16. Jahrhundert nach Beseitigung regionaler Unterschiede in der Wahl des Wochentages auf den Montag el und blauer Montag genannt wurde, diente den Gesellen zur Erledigung privater Angelegenheiten, der Versammlung der Gesellenschaft und der Erledigung ihrer organisatorischen Aufgaben sowie der Geselligkeit, wobei der gemeinschaftliche Besuch der Badestube als ein Hauptvergnügen des Spätmittelalters mit anschließendem gemeinsamem Essen eine große Rolle spielte. Aber auch zu Schwarzarbeit oder zu legalem Eigenwerk wurde der freie Tag genutzt.

Eigenwerk des Gesellen, d. h. Arbeit auf eigene Rechnung, widersprach der arbeitsrechtlichen Auffassung, dass der Geselle seine gesamte Arbeitskraft allein dem Meister verdingte. Hinzu kam das zunftpolitische Interesse, das eine Schädigung der Meisterbetriebe durch die Konkurrenz der billigeren Gelegenheitsarbeit von Gesellen nicht hinnehmen wollte. Eigenwerk des Gesellen war deshalb unbedingt verboten oder auf vertragsrechtlicher Grundlage an die Genehmigung des Meisters gebunden. Die Zunft verbot auch, dass Meister und Gesellen, wie früher weit verbreitet, auf gemeinsame Rechnung arbeiteten oder dass der Geselle Waren des Meisters vertrieb. Zu unterscheiden ist beim Eigenwerk die Arbeit des Gesellen für seinen geringen eigenen Bedarf, die den zunftpolitischen und privatrechtlichen Gründen des Verbots eigentlich nicht widersprach und doch von einigen Zünften verboten wurde, und die Arbeit für Fremde, für den Markt. Soweit Arbeit für den Kunden und für den Markt zugestanden wurde, waren die zulässige geringe Menge und Frist genau und bei hoher Strafe vorgeschrieben. Sie hatte dadurch den Charakter einer berechenbaren Lohnaufbesserung, ohne dass ein wirklich konkurrierender Anbieter auftrat. Die Produkte elen zudem an den Meister, wenn er so viel bot wie ein Dritter. Die Zunft normierte und kontrollierte nicht nur die Arbeitsmenge und die Güte der Produkte des Betriebs, sondern auch die Arbeit des Gesellen in quantitativer und qualitativer Hinsicht, d. h. die Erfüllung seiner arbeitsvertraglichen P ichten. Dies war der Fall, wenn bei der Lohnfestsetzung eine wöchentliche Mindestmenge verlangt wurde. Der Lohn wurde bei Mehrleistung entsprechend erhöht, bei Minderleistung gekürzt. Mangelhafte Ausführung konnte nicht nur Lohnminderung und Schadensersatzansprüche, sondern auch noch eine Bestrafung durch die Zunft zur Folge haben. Beaufsichtigt wurde der Geselle durch den Meister oder durch Beauftragte der Zunft, durch Älterleute oder spezielle Umgänger und Beschauer.

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8.5.4.3 Lohn und Lohnstruktur Für seine Arbeit erhielt der Geselle Lohn, der wie beim Gesinde Lidlohn, Lohn des Gehilfen aus einem Dienstverhältnis, genannt wurde. Im Bauhandwerk und bei den Leinenwebern zumindest Ostdeutschlands zahlte ihn der Kunde, der Auftraggeber, sowohl an den Meister als auch direkt an den Gesellen. Im Lohnwerk kamen auch Kundentaxen als Zuschläge beim eigentlichen Lohn vor. Bestimmungen über den Arbeitslohn der Gesellen nden sich in den Zunftquellen erst seit dem 14. Jahrhundert. Der Lohn wird hier als Geldlohn geregelt. Verboten wird die Naturalentlohnung mit werke, d. h. mit produzierten Waren. Verboten wird auch die früher weit verbreitete partiarische Beteiligung des Gesellen – als delesman – am Geschäft des Meisters; nur im Ausnahmefall und auch nur dann wird sie erlaubt, wenn der Geselle das Handwerk, d. h. die Aufnahme in das Zunftrecht, und das Bürgerrecht erworben hat. Die Entlohnung mit Handwerksprodukten sowie die Geschäfts- und Gewinnbeteiligung des Gesellen, bei der sich der Lohn an der wirtschaftlichen Situation des Meisters orientierte, deuten darauf hin, dass der Handwerksbetrieb zunächst wirtschaftlich und sozial wenig differenziert war und die Verbote eine Entfremdung anzeigen. Das Verbot der partiarischen Beteiligung des Gesellen ndet sich nicht in allen Gewerben, vor allem nicht bei den ärmeren wie etwa den Badern Freiburgs im Breisgau (1411) und den Tuch- und Leinenwebern oberrheinischer Städte. Der Geselle wurde hier auf den vierten oder dritten Pfennig oder auf das Halbteil gedingt. Diese Regelung bezog sich jedoch nicht, wie vielfach irrtümlich angenommen, auf den Anteil des Gesellen, sondern auf den des Meisters. Von jedem Gewebe, das der Geselle in der Werkstatt des Meisters herstellte, erhielt der Meister den vierten oder dritten Teil oder die Hälfte. Gearbeitet wurde im Stücklohn für einen Tuchermeister oder einen privaten Kunden. Möglicherweise war bei diesen ärmeren Gewerben noch die relative Gleichstellung zwischen Meister und Gesellen in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht erhalten geblieben, die vielleicht

ursprünglich auch in der Produktentlohnung zum Ausdruck kam. Der Bargeldlohn stellte je nach Zusammensetzung des Gesamtlohns ein Drittel bis die Hälfte des Gesamtlohnwertes dar, auf den noch Leistungen wie Unterkunft und Kost, eventuell auch Kleidung ent elen. Im Bauhandwerk, wo die Gesellen regelmäßig nicht im Meisterhaushalt wohnten und damit ein Lohnanteil für Unterkunft ent el, betrug in oberrheinischen Städten der Anteil der Beköstigung am Gesamtlohn zu Beginn des 15. Jahrhunderts etwa ein Drittel. Dieser Anteil konnte auch in Geld ausbezahlt werden. Dies war von Nachteil, wenn der Geldwert trotz steigender Nahrungsmittelpreise fest blieb oder nur nach längeren Zeiträumen erhöht wurde. Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts wuchs der Beköstigungsanteil bei stabil gehaltenem Geldlohn infolge der Preissteigerung bei Nahrungsmitteln seit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts bis auf 50 und 60 Prozent an. Ähnliches gilt für die schlechter bezahlten Reb- und Gartenleute, bei denen der Beköstigungsanteil hinsichtlich der Frauen sogar etwa 70 Prozent erreichen konnte. Bei auswärtiger Arbeit und ganztägiger Verp egung konnte in Oberdeutschland der Verp egungsanteil bei Sommerlöhnen auch schon im 15. Jahrhundert 50 Prozent betragen. Der Nominallohn konnte außerordentlich konstant bleiben; im Falle der Frankfurter Bauarbeiter trat von etwa 1350 bis 1553 keine Veränderung ein. Allerdings ent el im 16. Jahrhundert die Zahlung des Badegeldes. Gezahlt wurde ein Individuallohn, sodass hinsichtlich der Lohnhöhe der Familienstand nicht berücksichtigt wurde. Ansätze dazu nden sich nur in Bestimmungen, wonach der verheiratete Geselle für den Eigenbedarf mehr Tuch weben durfte als der unverheiratete. Der Unterhalt einer Familie zwang – auch den Meister – sicherlich zum sparsamen Wirtschaften, sofern ein Lohn überhaupt ausreichte. Vielfach mussten wohl Frau und Kinder zum Einkommen und zur Unterhaltssicherung beitragen. Handwerkerfrauen arbeiteten als Kleinhändlerinnen; Frau und Kinder leisteten auch bezahlte Dienste im Handwerk als Gehilfen und Handlanger.

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Bereits in den frühesten Belegen nden sich bei der Löhnung in Geld die Formen des Zeitlohns, den das Gesinderecht als ausschließliche Lohnform kennt, und des Stücklohns, ohne dass eine zeitliche Priorität einer der Formen erkennbar wird. Daneben gab es die Werkverdingung; hier war gegen ein fest vereinbartes Entgelt eine bestimmte Arbeitsleistung zu erbringen. Das Kölner Weinzapfgesinde wiederum erhielt eine Umsatzvergütung mit in der Höhe begrenzten Sätzen. Der Zeitlohn richtete sich nicht nach der Anzahl der Einzelstunden; gezahlt wurde er als Tageslohn, am häu gsten als Wochenlohn, der auf der Grundlage des Halbjahreslohns berechnet wurde, oder als Lohn für die gesamte vertragliche Dienstzeit. Der Stücklohn erhöhte sich, sofern keine betriebliche Mengenbegrenzung durch die Zunft vorlag, wenn die vertragliche Mindestmenge übertroffen wurde, während eine Minderleistung eine Lohnkürzung nach sich zog. Die Leistung der Mindestmenge stellte den Gesellen bei Arbeit im Stückwerk nicht frei, er musste dem Meister dennoch als Tagelöhner zur Verfügung stehen. Zeit- und Stücklohn wurden in zwei Formen gezahlt. Entweder kam der Meister für eine angemessene Verp egung auf und nahm dafür einen pauschalierten oder abgerechneten Lohnabschlag vor, oder der Geselle versorgte sich bei höherem Barlohn selbst. Manche Zünfte untersagten jedoch die Selbstversorgung der Gesellen. Ulmer Lohnverordnungen des frühen 15. Jahrhunderts untersagten, den außer Hauses arbeitenden Werkleuten, Tagwerkern und Tagelöhnern Essen und Wein zu geben, da sie sich grundsätzlich selbst zu versorgen hätten, gestatteten lediglich eine einfache Suppe als Morgenmahlzeit oder verordneten allgemein einfache Kost. Die im städtischen Bauamt beschäftigten Nürnberger Handwerksmeister durften den Gesellen nur den vom Rat für jedes Handwerk festgesetzten Barlohn zuzüglich eines Badegelds

zahlen; es wurde ihnen bei Strafe verboten, darüber hinaus Kost zu geben. Die Lohnzahlung erfolgte regelmäßig im Nachhinein (postnumerando). Vorauslöhnung, die in der Form des Vorschusses im Übrigen ein Kennzeichen des Verlags war, und die Gewährung eines abzuverdienenden Darlehens, das der Vorauslöhnung entsprach, waren grundsätzlich verboten. Der Nürnberger Baumeister Endres Tucher teilt in seinem Baumeisterbuch in den Eintragungen der Jahre von 1464 bis 1475 mit¹⁴⁹⁹, dass er von Dritten beantragte Lohnpfändungen ablehnte und der Gläubiger sich an Ort und Stelle nach der Lohnauszahlung mit dem Schuldner selbst auseinanderzusetzen hatte. Ferner wurde der Lohn vom Bauamt, das die wöchentlichen Summen aus der Losungstube erhielt, in gutem Geld nach Aussortierung minderwertiger böser Pfennige ausgezahlt. Die Losunger, die bereitwillig die unterwertigen Münzen umwechselten, erklärten ausdrücklich, sie wollten nicht, dass man Tagelöhnern und Arbeitern böses Geld gebe. Die Auszahlung des Wochenlohns aufgrund von Lohnzetteln mit Angabe der Arbeitstage, der Höhe des Tagelohns, des Einsatzortes und der Art der Arbeit erfolgte am Samstag früh vor dem Mittag, damit die Arbeiter und armen Leute, wenn sie zur Suppe nach Hause gingen, ihren Frauen und Kindern das Geld mitbringen konnten und diese noch vor dem Mittag Fleisch und Brot einkaufen konnten, was man wegen des Angebots besser früh als abends kaufe. Früher habe man am Samstagabend ausgezahlt, damit niemand vor dem Feierabend die Arbeit verlasse. Fehlzeiten wurden vom Wochenlohn in Höhe von 1 Pfennig oder 2 Pfennigen pro Stunde abgezogen; mit demselben Satz wurden Überstunden vergütet. Die Arbeiter achteten untereinander auf Gleichbehandlung. Angesichts erheblicher Preissteigerungen bei allen lebensnotwendigen Gütern, die durch den Anstieg der Goldwährung (Gulden) indiziert wurden, erhöhte der

1499 M. L (Hg.), Baumeisterbuch der Stadt Nürnberg. Vgl. P. F, Das Bauhandwerk in Nürnberg (9.1.–9.2).

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Rat für eine Reihe von Handwerken auf eindringliche Klagen der Arbeiter hin, dass der Lohn nicht mehr ausreiche, während der Amtszeit Tuchers 1464 die Tageslöhne um zwei Pfennige, doch wurden bei höheren Lohngruppen kompensatorisch die wöchentlichen Badegelder von 3 Pfennigen auf 2 herabgesetzt. Die Lohnstruktur der in Nürnberg von der Stadt beschäftigen Bauhandwerker war teilweise zusammengesetzt. Bei den Tagelöhnern wurde der Tageslohn kleinteilig nach besonderen Arbeitseinsätzen und Leistungen differenziert. Die jahreszeitlich zwischen 9 und 11 Pfennigen schwankende Grundentlohnung der Tagelöhner bezieht sich lediglich auf Arbeiten mit der eigenen Schaufel. Wer bei Maurerarbeiten eingesetzt wird oder zu anderen speziellen Arbeiten geschickt wird, erhält für diese Zeit eine zusätzliche Vergütung von 1 Pfennig (übriger Pfennig), wer Pfähle einschlägt oder Kalk löscht, von zusätzlich 2 Pfennigen, wer aber als Vorarbeiter beim Einschlagen der Pfähle den Arbeitstakt vorgibt (singt), erhält zum Tageslohn zusätzlich 3 Pfennige. Wer beim Materialtransport mit der Winde unten ruft (schreit), erhält zusätzlich 1 Pfennig, wer die Winde bedient oder hinaufsteigt, 2 Pfennige. Die Tagelöhner hatten zu geloben, den Nutzen der Stadt getreulich zu fördern und die Stadt vor Schaden zu bewahren, das ganze Jahr hindurch im Beschäftigungsverhältnis zu verbleiben, zur vorgeschriebenen Zeit die Arbeit zu beginnen und zu beenden, getreu und redlich zu arbeiten, übergebenes städtisches Werkzeug an dem angegebenen Ort zurückzugeben, Anweisungen willig zu befolgen, keine Materialien ohne Erlaubnis von der Arbeitsstätte wegzutragen und nur mit Erlaubnis des Baumeisters an anderen als den städtischen Baustellen zu arbeiten. Der Baumeister hatte das Recht, jeden, der sich nicht gehorsam oder geeignet erwies, zu entlassen. Nach dem Gelöbnis hatte der Baumeister nach alter Gewohnheit jeweils 4 Pfund (alt) als Trinkgeld und Leikauf (Draufgeld) zu geben; er konnte die Summe des Trinkgelds um 60 Pfennige erhöhen, wenn es sich um sehr viele Arbeiter handelte. Tucher be-

schäftigte pro Jahr 30 bis 36 Tagelöhner dieser Kategorie. Die verschiedenen Bauhandwerke hatten ein Gelöbnis auf ihre je spezi sche Arbeitsordnung abzulegen. P astermeister, die auf dem Stuhl arbeiteten, erhielten pro Person zu ihrem Tageslohn von 18 bis 20 Pfennigen vorab einen jährlichen Lohnzuschlag (Voraus) von 8 oder 9 Gulden, weil sie nur schwer zu bekommen waren. Nach einer Lohnerhöhung ergab sich innerhalb der mit P asterarbeiten Beschäftigten folgendes Lohngefälle. Meister erhielten als Tageslohn 20 bis 24 Pfennige und wöchentlich 4 Pfennige Badegeld und jeweils 2 Pfennige für bis zu drei Tage, ihre Gesellen mit 16 bis 20 Pfennigen knapp 17 bis 20 Prozent weniger und nur 2 Pfennige Badegeld und einen weiteren Pfennig für bis zu drei Tage. Lehrgesellen der P asterer, die mindestens drei Jahre für die Stadt arbeiten mussten, erhielten im ersten Halbjahr 14 Pfennige und im zweiten je nach Tauglichkeit 16 oder 18 Pfennige. Stößel, die das P aster durch Nachstoßen weiter stabilisierten, wurden mit 12 bis 16 Pfennigen und zwei Pfennigen Badegeld entlohnt, wurden aber, da nicht ständig gep astert wurde, ansonsten als Tagelöhner beschäftigt und bezahlt. Hilfsknechte, die Steine vorlegten, den Boden lockerten und Steine zuschlugen, erhielten 10 bis 12 Pfennige und das Badegeld. Den Dachdeckermeistern wurde ihr Lohn von 22 bis 26 Pfennigen um 2 Pfennige (etwa 10%) gemindert, wenn ihnen die Stadt die erforderlichen Gerätschaften und Werkzeuge außer Kelle und Hammer stellte, da in diesem Fall die im Lohn enthaltene Abschreibung der Arbeitsgeräte im Wesentlichen ent el. Dachdeckergesellen erhielten 16 bis 20 Pfennige, waren aber ohne Vorausgeld und Trinkgeld nicht zu bekommen. Als Einmalzahlungen wurden Verehrungen für die Abnutzung der Geräte und für besonderen Fleiß gewährt. Die hier zutage tretende relativ günstige Lage der kommunalen Bauhandwerker lässt sich jedoch nicht für das gesamte Bauhandwerk verallgemeinern.¹⁵⁰⁰ Es gab ein großes Lohngefälle zwischen den quali zierten Handwerkern und

1500 Siehe dazu die vergleichende Arbeit von G. F, Bauen für die Stadt (1.5.3–1.5.4).

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den zahlreichen Bauhilfsarbeitern, den Opperknechten, die verschiedene Arbeiten übernehmen mussten. Der größte Arbeitgeber in den Städten war der Rat. Er beschäftige über längere Zeiträume hindurch die gleichen Kaminfeger, Bender (Fassbinder) oder Dachdecker, zahlte für die Krankenversorgung und half in Notzeiten armen Leuten mit Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung, so etwa der Nürnberger Rat in den Hungerjahren von 1437 und 1439, als er St. Lorenz umfassend ausbauen ließ. Die Festsetzung der Löhne der für Privatleute arbeitenden Bauhandwerker (Werkleute), Steinmetze, Maurer, Zimmerleute, Dachdecker, Kleiber und Bender, durch den Speyrer Rat im Jahre 1342 ordnete die Lohnhöhe für die Sommerzeit von Laetare (4. Fastensonntag) bis zum St.-Gallentag (16. Oktober) und mit einer Reduzierung um ein Drittel für die Winterzeit vom St.-Gallen-Tag bis Laetare. Der Lohn durfte als in der Höhe vorgeschriebener Barlohn oder gleichfalls taxiert als geminderter Barlohn mit voller Verp egung auf der Baustelle gezahlt werden. Den Meistern wurde ein täglicher Barlohn von 30 Hellern oder 18 Hellern mit voller Verp egung verordnet, sodass die Verköstigung 12 Heller oder 40 Prozent des reinen Barlohns ausmachte. Lehrknechte erhielten im ersten Lehrjahr 15 Heller oder 6 Heller mit Kost, im zweiten Jahr 20 oder 12 Heller und im dritten Jahr die gleiche Entlohnung wie der Meister. Wenn Meister und Gesellen nominell gleich entlohnt wurden, kann das heißen, dass Meister noch andere Verdienstmöglichkeiten hatten und eventuell mehr als eine Baustelle zugleich betreuen konnten. Darauf weisen spätere Nürnberger Bestimmungen hin, wonach Meister vorund nachmittags auf der Baustelle nach den Arbeiten sehen und mindestens zwei Stunden mitarbeiten mussten. Knechte, die Mörtel machten, sollten 15 Heller oder 8 Heller mit Kost erhalten, die Träger von Steinen und Mörtel 12 oder 6 Heller. Wollte der Auftraggeber, dass die Werkleute den reinen Barlohn erhielten, aber

auf der Baustelle bleiben und nicht nach Hause zum Essen gehen sollten, hatte er den Meistern 3 und den Knechten 2 Heller als Zuschuss zu geben. Die Fassbindermeister sollten wie die Kollegen der anderen Handwerke mit 30 Hellern oder 18 entlohnt werden, nur erhielten hier die Knechte mit 15 oder 9 Hellern nur den halben Lohn der Meister. Der Bauherr durfte in allen Fällen die Art der Entlohnung bestimmen. Es war bei Strafe verboten, den Handwerkern zusätzlich Kleidungsstücke wie Hosen und Rock zu versprechen und zu geben und ihnen, wenn sie um reinen Barlohn arbeiteten, auf der Baustelle Wein zu reichen. Es sollten Handwerker bestraft werden, die eine angefangene Arbeit (werk) abbrachen, einen vereinbarten Auftrag nicht ausführten und stattdessen eine andere Arbeit übernahmen oder für den verordneten Lohn nicht arbeiten wollten.¹⁵⁰¹ Im Spätmittelalter wurde der Lohn nach Form und Höhe kaum mehr frei zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbart. Schon die ältesten Lohnangaben beziehen sich auf eine gleichmäßige Festsetzung des Lohnes. Es kamen aber auch Löhne vor, die sich an den individuellen Fähigkeiten ausrichteten. Rat und Zunft verordneten und vereinbarten Lohntaxen, die aber nicht Mindestlöhne, sondern Fixlöhne oder Höchstlöhne festlegten. Zum einen regelten sie den Lohn, den Meister und Geselle vom Kunden zu beanspruchen hatten. Maßgebend für diese Lohntaxen waren der Gedanke des gerechten Preises und des Konsumentenschutzes sowie die zunftpolitische Zielsetzung, die Einkommen gleichmäßig zu regeln und Lohnunterbietungen zu verhindern. Zum andern wurde durch Lohntaxen die Lohnforderungen der Gesellen gegenüber den Meistern auf der Grundlage der Gleichheit der Produktionskosten, hier des Produktionsfaktors Arbeit, geregelt. Außerdem sollten die Meister sich auf dem Arbeitsmarkt nicht mit lohnsteigernder Wirkung Konkurrenz bieten. Schließlich konnte es sich bei Lohntaxen um tari iche Festle-

1501 G. M (Hg.), Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 45, S. 190‒193.

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gungen handeln, die auf Lohnauseinandersetzungen zwischen Gesellen und Zünften zurückgingen und bei denen der Rat oft als Schiedsinstanz fungierte. Die Parteien standen sich dabei als Sozialpartner, häu ger jedoch als Gegner in einem Arbeits- und Lohnkampf gegenüber. Hinter den Lohnfestsetzungen im Gefolge der Pest durch den Vergleich der Speyrer Weber mit ihren Gesellen von 1351, der Lübecker Lohntaxe von 1356 oder dem Schiedsspruch der Zunftmeister hinsichtlich der Konstanzer Wollweber von 1386 verbergen sich derartige Lohnkämpfe. Der Barlohn der Gesellen war rechtlich durch das Verbot der Lohnzahlung durch Unwert, d. h. durch eine bestimmte Menge der im Betrieb produzierten Ware anstelle von Bargeld (engl. truck), gesichert. Die Löhnung in Unwert wurde vor allem von Verlegern und auch gegenüber kleinen, abhängigen Meistern geübt. Der Lohnanspruch war zudem prozessual dadurch geschützt, dass der Lidlohn gegenüber anderen konkurrierenden Forderungen privilegiert war und bei Streitigkeiten eine Beweisvergünstigung des Klägers durch das Recht zur Eidesleistung bestand. Darüber hinausgehende Lohnschutzbestimmungen des Zunftrechts zielten auf eine Beschleunigung des Verfahrens ab, damit dem wanderbereiten Gesellen unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses sein Recht auf Entlohnung zuteilwurde. Die Zunft hielt deshalb den Meister zur unverzüglichen Lohnzahlung an und griff ein, falls der Meister nicht zahlte, indem sie den Lohn vorstreckte und den säumigen Meister, auf dessen Rechnung der Geselle sein Recht erhielt, bestrafte. Die Beziehungen zwischen Meister und Gesellen waren weitgehend durch Zunft und Rat normiert. Sie gingen über Rechte und P ichten eines auf den Austausch von Arbeit gegen Entgelt beschränkten schuldrechtlichen Vertrages, der etwa bei den Bergarbeitern im Vordergrund stand, hinaus, da Meister und Geselle überwiegend zu einer Arbeits- und Werk-

stattgemeinschaft, ferner zu einer Haus- und Lebensgemeinschaft zusammengeschlossen waren. Durch die Aufnahme des Gesellen in das Haus des Meisters erhielt das Arbeitsverhältnis zudem einen personenrechtlichen Einschlag. Dem Arbeits- oder Dienstvertrag eignete eine gegenseitige Treuep icht, die beide Vertragsparteien verp ichtete, die Interessen und den Vorteil des Kontrahenten zu wahren und zu vertreten. Der Geselle stellte seine ganze Person in den Dienst seines Arbeitgebers; der Meister hatte die P icht, dem Gesellen über die Lohnzahlung hinaus ein bestimmtes Maß an Fürsorge zuzuwenden. 8.5.5 Gesellenbewegungen und Gesellenvereinigungen 8.5.5.1 Gründe für die Entstehung von Gesellenbewegungen In seiner grundlegenden Arbeit über die Gesellenverbände hat Georg Schanz deren Entstehung mit einer relativen Überbevölkerung in den Städten, einem großen Angebot an Arbeitskräften bei stagnierender Nachfrage, Zunftschließungen und der Bevorzugung von Meisterkindern als Reaktion der Gesellen auf die schlechte konjunkturelle Lage und eine egoistische Zunftpolitik, die Meister und Gesellen nunmehr als verschiedene soziale Stände auseinander treten ließ, zu erklären versucht.¹⁵⁰² Das mag für das 16. Jahrhundert gelten. Stattdessen herrschte in der Zeit von etwa 1350 bis 1410, in der sich Gesellenverbände hauptsächlich zu bilden begannen und Gesellenunruhen stattfanden, wegen des Einbruchs in der Bevölkerungsentwicklung ein Mangel an städtischen und ländlichen Arbeitskräften. Ein Beleg dafür sind unter anderem die bekannten landesherrlichen Tiroler Wirtschaftsordnungen von 1349 und 1352 mit ihrem Verbot höherer Löhne und ihren Maßnahmen gegen den Verlust von Arbeitskräften durch Abwanderung.¹⁵⁰³ In diesem

1502 G. S, Zur Geschichte der deutschen Gesellen-Verbände. Zu den frühesten nachweisbaren Gesellenvereinigungen gehören die Berliner Weber (1331) und die Schmiede Duderstadts (1337). 1503 Siehe auch H.-M. M, Masseneide gegen Abwanderung im 14. Jahrhundert; J. M, Sponheimische Nichtabzugsverp ichtungen (1.4).

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Sozialformen und Sozialgruppen

Zusammenhang nden sich Klagen über erhöhte Lohnforderungen, Streiks, den Verfall der Arbeitswilligkeit, Müßiggang und rapide steigenden Konsum auf Seiten der Lohnarbeiter. Ferner sind Zunftschließungen und eine dadurch bedingte Erscheinung des ewigen Gesellen als generelle Tendenzen nicht zu erweisen, sondern können in landschaftlichem Rahmen stattdessen widerlegt werden. Die zeitliche Abfolge von Pest- und Seuchenumzügen und kollektiven Aktionen von Gesellen in der Zeit von 1348 bis 1421 legen den Schluss nahe, dass selbstbewusste Gesellen in Einbrüchen auf dem Arbeitsmarkt durch Bevölkerungsverluste eine erhöhte Chance erblickten, gemeinsam ihre Interessen erfolgreich durchsetzen zu können.¹⁵⁰⁴ Junge Gesellen wurden angesichts des Arbeitskräftemangels mit höheren Löhnen umworben, und es stiegen im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts die Reallöhne an. Gesellenvereinigungen bildeten sich seit dem 14. Jahrhundert in der Region des Oberrheins mit Elsass, der Nordschweiz und dem Bodenseegebiet, im Mittelrheingebiet von Speyer bis Koblenz, im Hanseraum und den baltischen Städten und erst seit der Mitte des 15. Jahrhunderts in Sachsen, üringen und Schlesien. Eine führende Rolle spielten in der Gesellenbewegung um 1400 die großen Handwerke der Schuhmacher, Schneider, Schmiede und Bäcker. Neben demogra schen und konjunkturellen Entwicklungen, die angesichts lückenhafter Daten nach Art und Wirkung oft nur modellhaft angenommen werden können, werden für das Entstehen von Gesellenbewegungen und ihre Organisation drei Faktoren, die sich gegenseitig bedingen oder ergänzen, geltend gemacht:¹⁵⁰⁵ 1. Die verfassungspolitische Zunftbewegung, die in vielen Städten die gewerblichen Zünfte in politische Einheiten als Grundelemente der Stadtverfassung überführt und den

Meistern mittelbar oder unmittelbar politische Berechtigung eingeräumt hat, trug zu einer stärkeren rechtlichen und sozialen Trennung bei. Die Gesellen stellten nun eine Sondergruppe dar, die in den seltensten Fällen, wie etwa in der Knechtsgesellschaft der Basler Weinleute, in die neue Ordnung integriert war. 2. Die jugendlichen, unverheirateten und insoweit ungebundenen Gesellen waren von einem starken, vielleicht auch jugendbündische Züge aufweisenden Gruppenbewusstsein¹⁵⁰⁶ und einem beträchtlichen Selbstwertgefühl geprägt. Auch ungeachtet von Spannungen und Kon ikten mit den Meistern versuchten sie von sich aus in deutlicher Distanzierung zu Meisterhaushalt, Zunft und Stadt ihre besondere Lebensform, der sie voraussichtlich für fünf bis zehn Jahre anhingen, ihre eigenen Verhaltensregeln und ihre Ansprüche durch eine gesonderte Gemeinschafts- und Verbandsbildung zu verwirklichen und zu behaupten. Aus diesem distanzierten Verhältnis heraus strebten gesellenstarke Verbände wie die der oberrheinischen Schneider, Schuhmacher, Schmiede, Bäcker und Kürschner von vornherein – allerdings auf das jeweilige Gewerbe beschränkt – eine Gesellenorganisation an, die sich auf einen regionalen Bereich erstreckte und ihren Aktivitäten eine besondere Durchschlagskraft verlieh. In der Regel waren sie damit erfolgreich und suchten teilweise darüber hinaus Verbindungen zu der Städtegruppe des Mittelrheins und zu Städten des Bodenseegebiets. 3. Mobilität und Wanderwesen machten die Bildung von engeren Gemeinschaften der Gesellen zu einem elementaren Bedürfnis. Denn wohin der wandernde Geselle auch kam, war er zunächst ein Fremder, der dringend der Hilfe und Gemeinschaft Gleicher bedurfte. Durch den Erfahrungsaustausch

1504 W. R, Die Entstehung der Gesellengilden, S. 62. 1505 K. S, Handwerksgesellen und Lohnarbeiter, S. 58 ff. 1506 A. L, Jünglings- und Gesellenverbände im alten Zürich und im alten Winterthur.

Handwerksgesellen und Gesellenverbände 845

mit zugewanderten Gesellen erweiterte zugleich die lokale Vereinigung ihr räumliches Gesichtsfeld. 8.5.5.2 Formen von Gesellenvereinigungen 8.5.5.2.1 Geschenkte Handwerke Neben den auch regional organisierten reinen Gesellenvereinigungen gab es regionale Zusammenschlüsse von Meistern und Gesellen, so bei den Hafnern, Kesslern, Kupferschmieden, Sattlern sowie Seilern, Wagnern und Zieglern. Bei den Hafnern und teilweise auch bei den Sattlern und Seilern erlangten die Gesellen sogar eine dominierende Stellung. Eine dem Anspruch nach das gesamte deutsche Reich umspannende, aber lockere Organisationsform besaßen die Gesellen von spezialisierten Gewerben, die für den Markt produzierten und durch Absatz auf Jahrmärkten und Messen über den lokalen Markt hinausgriffen. Dazu gehörten unter anderen die Gürtler, Säckler, Nestler, Weißgerber, Papierer und Kannengießer. Ähnlich großräumig organisiert waren die Kürschner, Schreiner, Zweige des metallverarbeitenden Gewerbes und in besonderer Form seit 1459 die Steinmetze, die eine große Bruderschaft mit Hauptsitz am Straßburger Münster und Nebenzentren in Köln und Wien bildeten. Eine Reihe derartiger marktorientierter spezialisierter Gewerbe galt an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert als geschenkte Handwerke.¹⁵⁰⁷ Der Ausdruck leitet sich ursprünglich von dem gemeinsamen ›Schenken (Trinken) und Zehren‹ mit Zugewanderten auf der Trinkstube oder in der Herberge der Gesellen her. Nach erfolgter Umschau, d. h. Arbeitsvermittlung, durch die örtlichen Gesellen und einer Probezeit von regelmäßig 14 Tagen wurde der zugereiste Geselle in einer gemeinsam veranstalteten Schenke feierlich in den Kreis der Gesellen aufgenommen und auf deren Normen verp ichtet. Dabei war zuvor in der Umfrage festzustellen, ob gegen den Neuen etwas Abträgliches vorlag, zugleich hatte der Zuge-

wanderte mitzuteilen, ob andernorts irgendwelche Meister oder Gesellen geschmäht oder für unredlich erklärt worden wären. In der Abschiedsschenke hatte sich der weiterreisende Geselle zu verp ichten, alle Unredlichkeitserklärungen und Verrufungen auf der Wanderschaft weiterzumelden. Später bezog man den Ausdruck auf den Brauch, weiterziehenden Gesellen zum Abschied einen Zehr- und Wanderpfennig (viaticum) zu schenken. Wenn die geschenkten Handwerke auch gewanderte Handwerke genannt wurden, bedeutete dies gegenüber anderen Handwerken nur, dass die Gesellen in besonderem Maße mobil waren. Die Arbeitsvermittlung und die sowohl intern als auch gegen Meister durch ihre Verdikte geübte Selbstjustiz der Gesellen geschenkter Handwerke waren ein Stein des Anstoßes und Ursache vieler Kon ikte mit Zunft, Stadt- und Territorialobrigkeiten. Sie riefen seit dem 16. Jahrhundert immer wieder wenig wirksame Gegenmaßnahmen der Obrigkeiten bis hin zur Reichsebene (Reichspolizeiordnung von 1530) hervor. 8.5.5.2.2 Organisationsformen und Leistungen von Gesellenvereinigungen Die Gesellenvereinigungen erscheinen in den Quellen hauptsächlich unter den Bezeichnungen Bruderschaft und Gesellschaft, häu g auch unter der Doppelbezeichnung Bruderschaft und Gesellschaft. Georg Schanz hielt, theoretisch betrachtet, ein Nebeneinander von zwei genossenschaftlichen Formen, der religiös begründeten Bruderschaft und der Gesellschaft mit ökonomischer und sozialer Zielsetzung bei gleichem Mitgliederkreis für möglich und durch Vereinigung beider Formen für tatsächlich existent.¹⁵⁰⁸ Dafür prägte er den Begriff der »Doppelgenossenschaft«. Daneben ermittelte er eine Form, in der Bruderschaft und Gesellschaft nicht getrennt, sondern miteinander verschmolzen waren und verwies ferner auf Erscheinungen in der Rheingegend, wo die Bruderschaft die primäre Genossenschaftsform gewesen zu sein und all-

1507 K. S, Handwerksgesellen und Lohnarbeiter, S. 129 ff. 1508 G. S, Zur Geschichte der deutschen Gesellen-Verbände, S. 100.

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mählich auch ökonomische und soziale Handlungsfelder übernommen zu haben scheint. Demgegenüber geht Wilfried Reininghaus von dem integrativen Modell der Gilde als eines universalen Typus der Vergemeinschaftung aus, der rechtliche, religiöse, kulturelle, soziale und ökonomische (beru iche) Phänomene und Lebenssachverhalte ungeschieden vereinigt habe. Er schlägt deshalb vor, anstelle des zweckrationalen Verbandsbegriffs für Gesellenvereinigungen den wissenschaftlichen Ordnungsbegriff »Gesellengilde« zu gebrauchen. Doppelbezeichnungen erscheinen als Tautologien, wie im Übrigen auch Statuten nur partiell über das Gemeinschaftsleben Auskunft gäben.¹⁵⁰⁹ Die Subsumierung der Gesellenvereinigungen unter den wissenschaftlichen Gildenbegriff setzt voraus, dass die Gesellen in jedem Falle diese tendenziell umfassende Vergemeinschaftung intendierten oder wenigstens als festes und verbindliches Modell vor Augen hatten. Georg Schanz und neuerdings Knut Schulz sehen in Bruderschaft und Gesellschaft relativ eigenständige Bauformen der Gesellenvereinigungen, sie konstatieren aber eine Tendenz der Gesellen, vielfältige Handlungsbereiche zu beanspruchen und sich umfassend selbst zu organisieren.¹⁵¹⁰ Rechtliches Mittel der Vergemeinschaftung war das Gelöbnis (an Eides Statt). Die Gesellen bildeten eine Einung, die häu g als Konspiration denunziert wurde, eine Rechtsgemeinschaft mit Sonderrecht. Sie verwillkürten ihre Rechtsordnung durch Satzung und legten Rechtsfolgen für Norm- und Regelverletzungen fest; sie übten deshalb eine interne Gerichtsbarkeit aus, griffen in Fragen des Arbeitsrechts jedoch in die Kompetenz von Zunft und Stadt ein. Weitere konstitutive Elemente der Gemeinschaftsbildung und Selbstvergewisserung der Gesellen waren der Gedanke des gegenseitigen Beistands, der Totenmemoria und das gemeinsame Essen und Trinken. Organisatorisch traten die Gesellenvereinigungen durch Statuten, Kerze, Büch-

se (Kasse), (Trink-) Stube, Versammlung (Gebot) und Gericht, einen Vorstand sowie eventuell durch ein eigenes Siegel in Erscheinung. Es ist nahe liegend, dass die Zunft unmittelbares Vorbild war. Analog zur Zunft bildeten die Gesellen Zwangsverbände, ihre Existenz war jedoch in hohem Maße prekär. Mit der Sorge um ihr Seelenheil und der Sicherstellung eines rechten Begräbnisses begründeten die Gesellen eines Handwerks ihren bruderschaftlichen Zusammenschluss. Sie bildeten eine Art laikaler Sondergemeinde, der neben Meistern auch zunftfremde Personen, darunter Frauen, beitraten. Zu den bruderschaftlichen Aufgaben und Anliegen gehörten: 1. Stiftung und Unterhalt von großen und kleinen Kerzen für Gottesdienste als Zeichen der Präsenz in der von den Gesellen gewählten Kirche. 2. Gemeinsame, nur für Gesellen und andere Mitglieder abgehaltene Gottesdienste zu bestimmten Festtagen, hauptsächlich zu den Quatemberfasten (Fronfasten). Totengedächtnis (memoria) und Fürbitte für verstorbene und die lebenden Mitglieder in Verbindung mit dem Opfer (Vigilien und Seelenmessen). Hinzu konnten sonntägliche Messen mit Gedächtnis von der Kanzel und andere wöchentliche Messen bestellt werden, in denen die Namen Verstorbener verlesen wurden. Es wurden auch Memorialaufzeichnungen angelegt, Bettelorden erhielten den Auftrag, die Namen Verstorbener in Rotuli einzutragen. 3. Gemeinsames feierliches Begräbnis von verstorbenen Mitgliedern. Die Gesellen betreuten Bruderschaftsmitglieder am Sterbebett, hielten Totenwache, ließen Messen lesen und sicherten das rechte Begräbnis. Dazu erwarben sie eine eigene Grablege in der Kirche oder auf dem Friedhof, sorgten für den Sarg und die Grabp ege. Angesichts der vielen Seuchen- und Pestzüge stand der Tod den Gesellen als stete reale Gefahr vor Augen.

1509 W. R, Die Entstehung der Gesellengilden, S. 72 ff. 1510 K. S, Handwerksgesellen und Lohnarbeiter, S. 163 ff.

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Fürbitte um das Seelenheil und die Sicherung des Begräbnisses besaßen deshalb für die mobilen Gesellen, die am Ort keine Verwandten hatten, eine außerordentlich wichtige Bedeutung. 4. Selbstdarstellung in der kirchlich städtischen Öffentlichkeit bei Prozessionen, durch Stiftung oder Unterhalt eines Altars, durch Stiftung eines Tafelbildes oder Glasfensters, von Sakralgegenständen, Altartüchern, Messgewändern und prächtigen Kerzen, durch Ausschmückung der Kirche. Die Straßburger und Freiburger Bäckergesellen erbauten und unterhielten sogar eine eigene Kapelle beim Spital. Die Colmarer Bäckergesellen erwarben 1495 vier vergoldete Stangenkerzen für die beträchtliche Summe von 124 Gulden. Ihre Bruderschaft errichteten die Gesellen an der Pfarrkirche, überwiegend jedoch bei den Bettelorden. Sie trafen vertragliche Vereinbarungen mit den Mendikantenorden der Barfüßer (Franziskaner), der Prediger (Dominikaner), seltener mit den Augustinereremiten oder den Wilhelmiten und Jakobinern, die für sie die Messen lasen, ihnen gesonderte Grablegen bereithielten, ihnen aber auch Räumlichkeiten für Zusammenkünfte und zur Aufbewahrung von Gesellenkasse und Trinkgeschirr zur Verfügung stellten. Die Orden erhielten dafür ein festes Entgelt, außerdem ossen ihnen die Messstiftungen und Opfer zu. Die Anlagen und Räumlichkeiten der Mendikantenorden standen aufgrund eines ursprünglichen Rechtsverhältnisses in der Stadt lokalen Gruppen zur Verfügung, und die häu g in Randlage angesiedelten Orden bemühten sich um eine »soziale Integration der verschiedenen Berufsgruppen«.¹⁵¹¹ Die Gesellen konnten ihre bruderschaftliche Präsenz und ihre Aktivitäten aber auch auf unterschiedliche Kirchen aufteilen. Unterkunft boten ihnen in größerem Umfang schließlich noch die städtischen Spitäler mit ihren Kapellen. Hier konnten die Gesellen die erstrebte Verbindung von bruderschaftlich religiösen Anliegen und Krankenversorgung unmittelbar reali-

sieren. Zu Patronen wählten die Gesellenvereinigungen überwiegend nicht die Zunftheiligen, sondern grundsätzlich das Marienpatrozinium, und nahmen dadurch am spätmittelalterlichen Marienkult teil. Im Krankheitsfalle gewährten Gesellenvereinigungen ihren Mitgliedern ein häu g durch Pfandhinterlegung zu sicherndes, frühzeitig zurückzuerstattendes Darlehen. Es wurde ein Grundbetrag festgelegt, der dem Wert eines Pfandes entsprechend erhöht werden konnte. Es ist kaum zu ermitteln, wieweit der Meisterhaushalt tatsächlich die P ege und ärztliche Betreuung des erkrankten Gesellen leistete, wieweit die Kasse der Gesellen hauptsächlich den Lohnausfall vorübergehend ausglich, für Gesellen ohne festes Beschäftigungsverhältnis eintrat oder eine Zusatzversicherung darstellte. Vereinzelt ist in Statuten auch davon die Rede, dass Gesellen erkrankte Mitglieder zu betreuen hatten. Mit ein Grund für die Selbstorganisation der Gesellen und ihre Distanzierung von Meisterhaushalt und Zunft mag darin zu suchen sein, dass die Krankenp ege nicht in allen Fällen von den Meistern hinreichend wahrgenommen wurde oder von ärmeren Meistern nicht zu leisten war, dass in den Seuchen- und Pestzeiten auch die Zünfte überfordert und desorganisiert waren, was Krankenversorgung und auch Begräbnis anlangt. Es ist allerdings die Frage, ob die Organisation der Gesellen derartigen Anforderungen gewachsen war. In einigen Fällen förderten die Zunftmeister die Sonderung der Gesellen durch nanzielle Zuwendungen, um sich von Fürsorgeverp ichtungen und Leistungen zu entlasten. In Einzelfällen wandten sich Gesellenvereinigungen bereits seit dem frühen 15. Jahrhundert dem Spital zu, auf breiterer Front reservierten und kauften sie von angesparten Geldern seit dem letzten Viertel des Jahrhunderts eine Bettstatt für einen oder mehrere Gesellen im Spital und schlossen Pfründnerverträge, welche nun auch die P ege sowie die – mitunter recht reichhaltige – Verp egung regelten.

1511 E. J. S, Minoritenniederlassungen (5), S. 84 ff., 110, 133.

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Die Gesellen hatten Zutritt zur Trinkstube der Zunft, häu g aber nur mit spezieller Erlaubnis der Meister; auch waren sie nicht immer gerne gelitten. Mit unterschiedlichem Erfolg erhoben die Gesellen Anspruch auf eigene Räumlichkeiten, in denen sie sich zu gemeinsamem Essen und Trinken, zum Feiern, zum Spiel und zur Beratung und Erledigung ihrer Angelegenheiten versammeln konnten. Sie wählten Stubenmeister, gaben sich eine Stubenordnung und sammelten Geldmittel für Miete und Heizung. Wieweit sich in einigen Fällen Gesellen dem Meisterhaushalt entzogen hatten, geht daraus hervor, dass schon seit dem Ende des 14. Jahrhunderts rheinische Zünfte und Stadträte zum Teil in regionalem Rahmen den Schuhmacher-, Schneider- und Schmiedemeistern verboten, ihren Gesellen insbesondere an Wochentagen Mahlzeiten zu Zusammenkünften auf deren Trinkstube nachzuschicken. 8.5.5.3 Lohn- und Arbeitskampf Über die Sicherung religiöser und sozialer Grundbedürfnisse hinaus verfolgten die Gesellenvereinigungen ökonomische und arbeitspolitische Zielsetzungen und traten den Meistern insoweit als Sozialpartner oder soziale Kampforganisation entgegen.¹⁵¹² So mussten sich 1365 – einem Pestjahr in Oberdeutschland – die Freiburger Weber- und Wollschlägerknechte vor dem Rat auf die umfassenden Klagen der Tucherzunft hin verantworten, sie hätten Kerzen, Büchsen und Büchsenmeister, machten untereinander Einungen, Satzungen und Gebote und forderten mehr als den herkömmlichen Lohn. Kerzen und Büchsen rechtfertigten die Gesellen mit der Unterstützung bedürftiger fremder und heimischer Gesellen sowie mit dem Aufwand für Bestattungen und ähnliche Zwecke. Einung und Satzung dienten der Zurechtweisung und Besserung von Mitgesellen, die sich ungebührlich und unfriedlich betrügen. Die Forderung nach höherem Lohn begründeten sie damit, dass ihre Arbeit

gegenüber früher schwerer geworden und eine entsprechende Aufbesserung des Lohns deshalb notwendig sei. Der Straßburger Rat anerkannte 1398 im Streit zwischen Meistern und Gesellen der Wagner, Kistner und Drechsler das Recht der Gesellen auf die übliche Bargeldentlohnung anstelle einer praktizierten Ersatzlöhnung, verwies sie indessen in Lohnstreitigkeiten an das Zunftgericht oder aber an ein städtisches Gericht. Außerdem durften sie alle Vorfälle, die sich ›von Weines Gewalt‹ ereigneten, und ähnliche Bagatelldelikte, die in ihrem Kreis vorkamen, eigenständig bestrafen. Hingegen wurde den Gesellen und Lehrjungen untersagt, bei Kon ikten mit den Meistern diese in einer Art Selbstjustiz zu boykottieren. Sie durften auch nicht verhindern, dass ein Meister fremde Gesellen von auswärts anforderte. Anders lag ein Streitfall in Prag. Einem Ratsentscheid von 1399 zufolge hatten sich die Prager Schlossergesellen in der Frage der kollektiven Begrüßung und der Versorgung anreisender Gesellen durch ihre ansässigen Kollegen in einen Streik begeben und Prag verlassen. Der Streikanlass war keineswegs geringfügig, denn durch die Fürsorge für die wandernden Gesellen und ihren Empfang, der ursprünglich Sache der Zunft und spezieller Zunftämter war, bekamen die Gesellenvereinigungen die Arbeitsvermittlung fast vollständig in ihre Hand und konnten sich als Zwangsverbände durchsetzen. Mit der Arbeitsvermittlung war ihnen die Möglichkeit gegeben, die Arbeitsbedingungen in einem gewissen Umfang zu kontrollieren und die Arbeitsvermittlung als Waffe im Arbeitskampf zu handhaben. Beim Einstand für den zugewanderten Gesellen erhielten die örtlichen Kollegen wichtige Informationen über die Verhältnisse in der näheren oder weiteren Umgebung. Gesellen begleiteten den Arbeitssuchenden als Umschauer beim Gang von Werkstatt zu Werkstatt und gewannen dabei einen Überblick über die aktuelle Arbeitsmarktlage. Auch vermittelten sie an-

1512 W. R, Die Entstehung der Gesellengilden, S. 49 ff.; K. S, Handwerksgesellen und Lohnarbeiter, S. 58 ff.

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stelle der Meister für den Ankömmling zunächst eine Unterkunft. Was die Zünfte als Müßiggang bekämpften, waren deshalb nicht nur Fehlzeiten in der Werkstatt. Bei Auseinandersetzungen mit dem Meister oder bei Unzufriedenheit kam es immer wieder vor, dass der einzelne Geselle oder Lehrling unter Bruch des Arbeitsvertrags uchtartig Werkstatt und Haus verließ. Die häu gen Bestimmungen über das Entlaufen in den Zunftstatuten deuten darauf hin, dass die spontane Arbeitsniederlegung den Meister emp ndlich traf; sie wurde streng geahndet und konnte Schadensersatzforderungen zur Folge haben. 8.5.5.3.1 Streik Zogen die Gesellen kollektiv aus der Stadt, nachdem sie eventuell noch untereinander eine Einung eingegangen waren, und ließen sie ihre Bereitschaft erkennen, bei Erfüllung ihrer Forderungen wiederzukehren, dann handelte es sich um das aktive Kampfmittel des Streiks.¹⁵¹³ Die Streiks richteten sich unmittelbar gegen alle Meister der Zunft oder gar gegen den Rat oder nur mittelbar gegen alle Meister, weil sich die Zunft hinter einen einzelnen Meister gestellt hatte. Die Gesellen mussten den Meisterhaushalt verlassen, wenn sie die Arbeit niederlegten. Das Aufstehen zur unrechten Zeit konnte harte Strafen, den zeitweisen oder dauernden Verlust der Zunftzugehörigkeit und damit ein Berufsverbot nach sich ziehen. Als ältester belegbarer Streik gilt der Ausstand der Breslauer Gürtlergesellen im Jahre 1329, doch handelte es sich hier eher um einen für ein Jahr beschlossenen Boykott, den die Meister mit einem einjährigen sanktionierten Boykott der Gesellen beantworteten. Im Jahre 1342 streikten die Speyrer Bauhandwerker, 1351 und 1363 die Speyrer Webergesellen, 1385 die Schmiede- und Bäckergesellen des Deutschen Ordens. Die Gesellen kämpften mit dem Mittel der Arbeitsniederlegung einmal um das Recht, sich

vereinigen zu dürfen, ihren Anspruch auf Arbeitsvermittlung oder um das Ansehen ihrer Vereinigung, das durch ehrkränkende Nachrede oder Zurücksetzung bei Prozessionen geschädigt erschien, zum andern um besseren Barlohn und – seltener – um bessere Kost, gegen nachteilige Veränderungen des Arbeitsverhältnisses oder gegen eine Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage. So streikten 1477 die Lohnarbeiter des Aachener Wollengewerbes – im Zusammenhang mit einer Arbeitsniederlegung der nichtzünftigen, aber dem Wollenamt unterstehenden Walker und eines Aufruhrs der topogra sch in neun Bezirke (Grafschaften) eingeteilten Gemeinde – für besseren Lohn angesichts ihrer schweren Arbeit, weil er zu gering sei, um davon über den laufenden Lebensunterhalt hinaus noch den notwendigen Hausrat beschaffen zu können. Sie wandten sich in einer Eingabe an den Rat ferner gegen einen Ratsbeschluss, wonach Tuch nicht mehr frei in Hausarbeit, sondern nur noch auf die Häuser der Meister beschränkt gewoben werden durfte. Dadurch ent el die herkömmliche Möglichkeit eines zusätzlichen Broterwerbs durch Eigenwerk, der nach Auffassung der nicht zünftigen Lohnarbeiter für den Lebensunterhalt erforderlich war. Außerdem verlangten sie eine Senkung der gestiegenen Preise für die Grundnahrungsmittel Brot und Bier. Den teuren Preis für Brot hielten sie angesichts der Verhältnisse am Kornmarkt für nicht gerechtfertigt. Hinsichtlich des Bieres, das gleichfalls ein Nahrungsmittel darstellte und das zur Finanzierung der städtischen Schuld mit einer (erhöhten) Verbrauchssteuer belegt worden war, baten sie um eine Rückkehr zum herkömmlichen Preis und erboten sich, in anderer ihnen möglichen Weise am Abbau der Schuldenlast mitzuhelfen. Die wirtschaftlich schwachen Lohnarbeiter fürchteten, durch Sinken ihrer Lebensverhältnisse entwurzelt und zu armen Landstreichern (›Landläufer‹) deklassiert zu werden.¹⁵¹⁴ Für Lohnfor-

1513 W. R, S. 55 ff, 174 ff. 1514 G. M, Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 113, S. 356–359. E. M, Der gesellschaftliche Hintergrund der Aachener Verfassungskämpfe (2.6), S. 373, 339 f.

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derungen von Gesellen spielten ansonsten auch veränderte Währungskurse und die veränderte Kaufkraft des Lohns eine große Rolle. Die Eingabe der Lohnarbeiter fügte sich in die weitere Aufstandsbewegung ein, da die Aachener Gemeinde gleichfalls eine Herabsetzung des Bierpreises, ferner die Absetzung der Marktmeister, die angeblich unredlich mit der Waage hantierten, und die Absetzung eines der beiden Vorsteher des Wollenamtes und der Brauergaffel verlangten, weil diese der Gemeinde schadeten und sie beschwerten. Sie wehrte sich damit gegen die Herrschaft von Zünften, gegen weitere Beeinträchtigungen der ›Bürger Freiheit‹ und forderte, dass jedermann seiner Erwerbstätigkeit, seiner ›Nahrung und Hantierung‹ nachgehen dürfe, da Aachen eine ›kaiserliche freie Stadt‹ sei. Den besonders selbstbewussten Kürschnergesellen Straßburgs wurde als Folge eines Streiks 1423 ihre Bruderschaft aufgelöst, 1428 jedoch wieder erlaubt. Im Jahre 1470 begaben sich 36 Straßburger Kürschnergesellen, die zum Teil aus den verschiedensten Gegenden und unter anderem aus Ofen und Krakau stammten, erneut in einen Streik und wichen nach Hagenau aus, weil sie eine neue Form des Dingens, die in ihre Arbeitsvermittlung eingriff, als nicht herkömmlich und ihnen nachteilig ablehnten. Ihr Streik rief eine regionale Solidarität der Kürschnergesellen im Oberrheingebiet hervor, das als Geltungsbereich eines einheitlichen Handwerks- und Arbeitsrechts betrachtet wurde. Die Willstätter Kollegen stellten in Abrede, dass die neue Ordnung dem Rechtszustand in deutschen und welschen Landen, ja sogar in der Heidenschaft – also einem international üblichen oder natürlichen Recht – entspreche, wie dies die Meister behauptet hätten. Wer sich in der neuen Form dingen ließ, verstieß nach Auffassung der Colmarer Gesellen gegen die gesamte Gesellenschaft und wurde mit Strafsanktionen bedroht. Die Colmarer Bäckergesellen wiederum begaben sich 1495 in einen Streik, weil sie nach einer Zurücksetzung ihren Ehrenplatz in der Ordnung der Fronleichnamsprozession auch durch die Stiftung von vier vergoldeten Prozessions-

kerzen nicht wiedererlangen konnten. Weil die Gesellen, welche die Stadt nicht durch die mit Wachen besetzten Tore verlassen hatten, sondern indem sie ein Mühlenwasser durchquerten, ließ sie der Rat nach dem Läuten der Ratsglocke öffentlich für eidbrüchig erklären. Die nun völlig in ihrer Ehre gekränkten und verbitterten Gesellen nahmen ein um Ausgleich bedachtes Urteil von Vogt, Schultheiß und Rat von Bergheim nicht hin, sondern appellierten an das königliche Hofgericht zu Ensisheim und von dort weiter an das königliche Kammergericht zu Frankfurt, das die Appellation jedoch für unzulässig erklärte. Erst nach einer langen insgesamt zehnjährigen Auseinandersetzung wurde der Streik 1505 deutlich zugunsten der Gesellen schiedsgerichtlich durch den Herrn von Rappoltstein beigelegt, doch hatte der Kon ikt noch ein Nachspiel, das sich bis 1513 hinzog. Mindestens viermal trafen oberrheinische Städte zusammen, um untereinander Maßnahmen gegen die solidarische Front ihrer Bäckergesellen abzustimmen. Insbesondere beschlossen sie, gegen eine Boykottierung Colmars vorzugehen und die Büchsen der Gesellen zu kontrollieren, damit aus ihnen den Colmarer Gesellen keine Gelder zu ossen. 8.5.5.3.2 Boykott Neben dem Streik, in den sich häu g vermittelnd der Rat einschaltete, entwickelten die Gesellen seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts als primäres kollektives Kampfmittel den Boykott (Verruf ) des einzelnen Meisters oder der ganzen Zunft durch Kanalisierung oder Blockade des Arbeitsmarktes. Eine Vorstufe bestand darin, dass einem Gesellen, der auf einen Wechsel des Arbeitsverhältnisses sann, nach Vertragsende ein neuer Meister vermittelt wurde. Voll entwickelt war der Boykott durch den Vorgang, der in den Quellen von Seiten der Zunft und des Rates als einem Meister Knechte verbieten erscheint. Die Gesellen weigerten sich, einem Meister, den sie in einer Art Selbstjustiz mit Verruf belegten, irgendeinen Gesellen zu vermitteln. Der Verruf wurde in der Regel in der Stadt möglichst geheim gehalten, um Re-

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pressionen zu entgehen, aber durch Boten nach außen über Land getragen. Meister wurden verrufen, weil sie in Lohnangelegenheiten gegen das Interesse der Gesellen verstoßen hatten, einen aus der Gesellenvereinigung Ausgestoßenen beschäftigt oder den Ruf der Vereinigung herabgesetzt hatten. Voll wirksam war der Verruf nur dann, wenn er von dem komplementären Vorgang begleitet war, der einem Knecht Meister verbieten genannt wurde. Die Gesellen sprachen dabei den Mitgesellen das direkte Verbot aus, bei einem verrufenen Meister Arbeit zu nehmen. Wer sich nicht daran hielt, wurde mit Ausschluss aus dem Kreis der Gesellen und seinerseits mit Verruf bestraft; das hieß einem Knecht einen anderen Knecht verbieten. Zünfte und Ratsobrigkeit ließen Lehrjungen und Gesellen schwören, das Kampfmittel des Boykotts nicht anzuwenden. Der Straßburger Rat verlangte 1398 von den Lehrlingen und Gesellen der Wagner, Kistner und Drechsler das eidliche Versprechen, keinem Meister einen Knecht zu verbieten, keinen Gesellen zu verrufen und sich an keinen Verruf zu halten, der von Gesellen außerhalb Straßburgs ausgesprochen wurde. Vielerorts wurde die Selbstjustiz der Gesellen auf dem Wege des Verrufs verboten. Der Boykott war das am häu gsten eingesetzte Aktionsmittel. Der Streik, der von den Zünften als Summe individueller Vertragsbrüche gewertet wurde, war vielfach erst Folge eines Boykotts und ultima ratio, weil sich der Kon ikt mit dem einzelnen Meister zu einem Kon ikt zwischen Gesellenschaft und Zunft ausgeweitet hatte. 8.5.6 Disziplinierung und Reglementierung der Gesellen 8.5.6.1 Eingriffe von Meistern und Rat in die Gesellenvereinigungen In der Zunft waren die Gesellen nur minderberechtigte Mitglieder, in ihrer eigenen Vereinigung, die von einem Vorstand mit Kerzenmeister, Stubenmeister und Büchsenmeister geleitet wurde, genossen sie alle Rechte. Wenn

auch in einigen Fällen die Zunft die Sonderung der Gesellen in einzelnen bruderschaftlichen Handlungsbereichen förderte und es darüber sogar zu vertraglichen Abmachungen kam, stießen sehr viel häu ger jedoch einzelne Schritte der Separation der Gesellen auf den Widerstand der Meister. Die Aktivitäten der Gesellen wurden dann von Zunft oder Rat als Konspiration verdächtigt und wie der Müßiggang, d. h. in diesem Falle das unerlaubte Aufstehen von der Arbeit zur Begrüßung anreisender Gesellen, zur Umschau und zur Verabschiedung abreisender Gesellen, streng verboten. Die Gesellen setzten sich immer wieder über Verbote hinweg und wurden im Geheimen tätig. Zeichen der Selbständigkeit der Gesellen, die eigene Kerze im Gottesdienst, die eigene Kasse und die eigene Trinkstube, waren in der ersten Phase der Konstituierung von Gesellenvereinigungen gefährdet und umkämpft, die Trinkstube blieb es häu g noch lange. Vielfach wurden die Vereinigungen auf bruderschaftliche Zielsetzungen beschränkt. Die Meister kontrollierten die Büchse der Gesellen, damit die Gelder nur für religiöse und sozialfürsorgliche Zwecke verwendet würden. Die interne Gerichtsbarkeit der Gesellen wurde auf geringfügige Delikte begrenzt oder verboten. Der Rat quali zierte vielfach die vom Gesellengericht zu judizierenden Delikte und legte die Bußensätze fest, machte die Genehmigung von rechtsprechenden Versammlungen zur Au age und schrieb im Verlaufe des 15. Jahrhunderts die Anwesenheit von Meistern bei den Sitzungen vor. Vor allem aber schritt er gegen die Selbstjustiz der Gesellen gegenüber Meistern und Zunft ein und versuchte in den betreffenden Fällen, die Gesellen zur Anerkennung des Zunftgerichts oder der kommunalen Gerichtsbarkeit zu zwingen. In Zuge von Auseinandersetzungen von Zunft und Rat mit den Gesellen wurden Gesellen inhaftiert oder aus der Stadt verbannt. Bei der Haftentlassung mussten sie Urfehde schwören und einen Eid auf die Knechtsordnung ablegen. Eidbruch war immerhin mit Todesstrafe bedroht.

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Sozialformen und Sozialgruppen

8.5.6.2 Knechtsordnungen Da die Gesellen einiger Gewerbe auch regionale und überregionale Beziehungen unterhielten, sahen sich Zünfte, Handwerkerbünde, Stadträte – teilweise in Verbindung mit Territorialherren – und Städtegruppen genötigt, gleichfalls auf diesen Ebenen Maßnahmen zur Disziplinierung der Gesellen zu vereinbaren. Die älteste Nachricht von 1321 betrifft das norddeutsche Böttchergewerbe. Bereits 1354 und 1361 verabschiedeten die Hansetage Rezesse gegen die Handwerksgesellen der Grapen- und Kannengießer. Es folgten mit Vereinbarungen über die Gesellen 1385 der Preußische Städtetag, 1388 der Rheinische Städtebund, 1392 niedersächsische Städte, um 1400 Absprachen der Schmiedeämter von Lübeck, Hamburg und anderen Hansestädten, die 1494 revidiert und erweitert wurden, und 1406/08 oberrheinische Städte. Daneben ndet sich eine Vielzahl von Vereinbarungen gegen die Gesellen einzelner Zünfte, so gegen die aktiven und beweglichen Schneider, die angesehenen und von weither zugewanderten Kürschner, die Schmiede, Schuhmacher, Bäcker und Beutler. Mainz, Speyer, Worms und Frankfurt einigten sich 1421 auf eine allgemeine Knechtsordnung. Die oberrheinischen Städte verfassten 1436 in Straßburg die rheinische Knechtsordnung, wobei ihnen die mittelrheinische Ordnung vorlag. Erneut traten die mittelrheinischen Städte, nunmehr unter Beteiligung auch von Köln, Koblenz und Trier, 1456 zu Beratungen über die Behandlung von Handwerks- und Dienstknechten zusammen. Sie konnten eine wesentliche Übereinstimmung mit der oberrheinischen Ordnung feststellen. Damit galt um die Mitte des 15. Jahrhunderts von der Nordschweiz bis zum Koblenzer Raum, möglicherweise vom Bodenseegebiet bis Köln

eine Knechtsordnung, die inhaltlich weitgehend übereinstimmte. Gemäß der rheinischen Knechtsordnung von 1436 hatten die Gesellen auf den Rat einen Gehorsams- und Treueid zu leisten, sich eidlich auf die Einhaltung der Knechtsordnung zu verp ichten und wie auch früher die Ordnungen und Satzungen der jeweiligen Zunft zu beschwören. Den Gesellen wurde verboten, Bündnisse zu schließen und untereinander Absprachen zu treffen. Es wurde insbesondere verboten, Trinkstuben, gemietete Häuser, Gärten und eine Gesellschaft zu unterhalten. Selbst uniforme Kleidung, die Ausdruck eines ostentativen Kollektivbewusstseins sein konnte, durften sie nicht tragen. Die Gesellen wurden ferner verp ichtet, Streitsachen ausschließlich vor den städtischen Gerichten auszutragen und die Urteile ohne Appellation nach außen anzuerkennen. Untersagt wurde ihnen das Verbieten und damit eine eigenständige Gesellengerichtsbarkeit. Stattdessen wurden sie an die Gerichte der Zünfte und in besonders schweren Fällen an den Rat als zweite Instanz verwiesen. Eine Beruhigung bewirkte die Ordnung nur für einige Jahre. Spätestens seit den sechziger Jahren kam es zu erneuten Kon ikten. Insgesamt ging jedoch die Bedeutung der im Lohnwerk arbeitenden Gewerbe und der Nahrungsmittelgewerbe zurück, die unveränderten und überholten Lohn- und Preistaxen unterworfen waren und deren wirtschaftliche Lage sich verschlechterte. Dies führte Meister und Gesellen in der Konfrontation gegen den Rat enger zusammen. Für Unruhe sorgten im 16. Jahrhundert vor allem die großräumig organisierten Gesellen der marktorientierten geschenkten Handwerke, die eher die Geldentwertung durch höhere Warenpreise auffangen konnten.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

9.1 Das Handwerk unter den Bedingungen des Zunftwesens 9.1.1 Die Produktionsweise Der von Obrigkeit und Zünften und wirtschaftsethisch in der »Reformatio Sigismundi« (1439) propagierte Leitbegriff des Handwerkers ist Nahrung; er drückt das Streben nach Sicherung des auskömmlichen und angemessenen Lebensunterhaltes des Handwerkers und seiner Familie aus. Die Erwerbschancen des einzelnen Handwerkers sollen im Falle eines für eng erachteten Nahrungsspielraumes des Gewerbes zugunsten des Gedankens einer gleichen Nahrung aller Zunftgenossen reglementiert und begrenzt werden. Individuelles Gewinnstreben über das angemessene Maß hinaus ist Bestandteil der Lebenswirklichkeit, wird aber von der genannten Reformschrift heftig beklagt. Die gewerbliche Produktion des Handwerks im Regelfall der mittleren und kleineren Städte bewegte sich im Allgemeinen in einem engen Rahmen.¹⁵¹⁵ Grund dafür waren die beschränkten Absatzverhältnisse, die sich auf die Stadt selbst und die nähere Umgebung konzentrierten. Dieser enge Verkehrsraum besaß eine entsprechend begrenzte Konsumkraft. Die Schwierigkeiten des Transports angesichts schlechter, wenn auch im Spätmittelalter verbesserter Wege und wenig leistungsfähiger Transportmittel verteuerten den Warenverkehr und machten ihn über weite Wegstrecken nur für Güter des gehobenen Bedarfs und für Luxusgüter rentabel. Erst die Ausweitung der Handelsbeziehungen und die Ver echtung der Märkte förderten den Absatz preisgünstiger Massenverbrauchsgüter. Auch erzwangen die häu gen Absatzstockungen infolge von Seuchenzügen, Hungersnöten und

Kriegen einschneidende Produktionseinschränkungen oder verursachten Produktionsausfälle. Mangelkrisen führten zu einer sprunghaften Verteuerung der Nahrungsmittel und schöpften Geldmittel ab, die nun nicht mehr für den Kauf anderer gewerblicher Güter zur Verfügung standen, sodass deren Absatz zeitweise fast zum Stillstand kam. Die Absatzstockungen waren von Kleinbetrieben ohne kreditierte und in Krisenzeiten belastende Kapitalinvestition am besten zu bewältigen. Zur Überbrückung derartiger Erwerbskrisen bedurfte es vielfach eines zinsfreien Häuschens und eines gewissen landwirtschaftlichen Rückhalts, eines Acker- oder Gartengrundstücks in oder außerhalb der Stadt, vielleicht mit geringfügiger Viehhaltung, Schweinezucht und Ge ügelhaltung. Landwirtschaftlicher Nebenerwerb von Handwerkern war auch in größeren Städten anzutreffen. Es gab Handwerksbetriebe, die auch in normalen Zeiten als Vollerwerbsstellen nicht ausreichten, sodass Neben- und Zweitberufe – unter Mithilfe der Ehefrau – ausgeübt wurden.¹⁵¹⁶ Die Produktionsweise war vorwiegend hauswirtschaftlich und durch die Produktionskapazität des Hauses begrenzt, das als Wohnstätte für die Familie des Meisters und die Gehilfen, als Produktionsstätte und je nach Gewerbe auch als Lager und Verkaufsstätte diente. Vorherrschend war der Kleinbetrieb als Alleinbetrieb des selbständigen Meisters; diese Form machte häu g etwa die Hälfte der Betriebe in der Stadt aus. Der Gehilfenbetrieb blieb überwiegend auf einen oder zwei Gesellen beschränkt, eventuell kam noch ein Lehrling hinzu. Selten fanden sich Betriebe mit fünf oder gar mehr Gesellen, die zu den großen Be-

1515 P. S, Geschichte des deutschen Städtewesens (Einleitung), S. 113. 1516 K. B, Die Bevölkerung von Frankfurt a. M. (1.2), S. 417 ff. Es konnte sich die Ehefrau auch als Kleinhändlerin betätigen.

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trieben zu rechnen sind. Die kleinbetriebliche Struktur erklärt auch teilweise die hohe Zahl von Meistern in einem Handwerk. Die Zahl der Meister war in der Regel größer als die Zahl der Gehilfen. Eine Ausnahme bildete das Baugewerbe mit einer hohen Zahl von Gesellen. Großbetriebe wiesen die alten Exportgewerbe der Textilindustrie auf und industrielle, das Zunftwesen sprengende Gewerbe jüngeren Ursprungs wie Papierherstellung, Buchdruck, Geschützgießerei, Hammerwerke und Glashütten, die durch Arbeitsteilung charakterisiert sind. Nach der Beziehung des Produzenten zum Kunden, seinem Zutritt zum Markt sowie seiner Verfügung über Produktionsmittel und Betriebskapital sind an typischen Betriebsformen zu unterscheiden:¹⁵¹⁷ 1. Das Hauswerk (Heim eiß) als gewerbliche Betriebsform der geschlossenen Hauswirtschaft. Das Produkt verlässt nicht den Haushalt, in dem es hergestellt wurde; es wird dort im Eigenbedarf konsumiert. 2. Das Lohnwerk. Der Produzent tritt mit seinem Betrieb in den unmittelbaren persönlichen Dienst des Konsumenten. Das Produkt gelangt aus der Hand des Produzenten unmittelbar in die des Kunden. Der Handwerker arbeitet vielfach ohne Eigenbesitz an Rohstoffen, eventuell auch an Arbeitsmitteln, die ihm dann der Kunde stellt. Der Lohnwerker arbeitet im Stücklohn im Haushalt des Kunden (Stör)¹⁵¹⁸ oder im eigenen Hause (Heimwerk). Außer dem Besitz an Arbeitsmitteln, und dies auch nicht in jedem Fall, ist kein Betriebskapital vorhanden. 3. Das Preiswerk. Der Produzent besitzt Produktionsmittel und Rohstoffe als Betriebskapital, die auch genossenschaftlich von der Zunft bereitgestellt werden können. Er arbeitet nicht für einen bestimmten Kunden,

sondern frei auf eigene Kosten und auf eigenes Risiko, auf Vorrat und für den Markt. Der Handwerker, der sein Produkt an ein unbestimmtes Kundenpublikum oder an den Zwischenhandel verkauft, ist zugleich Kaufmann. Karl Bücher hat diese Betriebsformen, zu denen auch der Verlag (Hausindustrie) und später der Fachbetrieb kommen, entwicklungsgeschichtlich als historische Aufeinanderfolge gesehen, doch treten sie gleichzeitig auf. Vielfach wird sogar innerhalb eines Gewerbeberufs in einer Hand zugleich im Lohn- und Preiswerk gearbeitet; in anderen Fällen ist eine der beiden Formen untersagt. Das Handwerk war reich gegliedert. Die einzelnen Gewerbe zer elen in eine wachsende Vielfalt hoch spezialisierter Berufe. Bevor ein Handwerkszweig zu groß wurde, spalteten sich neue Teilberufe ab, die einen Teil des Produktionsbetriebs übernahmen und gelegentlich nur durch einen einzigen Betrieb vertreten wurden. Durch Differenzierung und Spezialisierung wurde bei breiter Auffächerung des Sortiments ein hoher Gütestandard der Produktion gewährleistet, wie er vor allem von den Exportgewerben von Seiten der Kau eute gefordert wurde. In gewerbereichen Städten wie Köln und Nürnberg und auch dem weniger bedeutenden Braunschweig kann von einem hochgradig arbeitsteiligen Milieu im Sinne einer Differenzierung nach Produkttypen, einer weitgehenden Spezialisierung innerhalb eines Gewerbes gesprochen werden. Es wurden immer neue Berufe hervorgebracht, die vielfach die Herstellung eines Produkts von den vorbereiteten Arbeiten bis hin zur letzten Fertigstellung in sich vereinigten. Dies gilt vor allem für die Metallgewerbe Kölns und Nürnbergs. Die Wollweberei war bereits im Mittelalter ein Gewerbe, das

1517 K. B, Die gewerblichen Betriebssysteme in ihrer geschichtlichen Entwicklung, in: ders., Die Entstehung der Volkswirtschaft (1.1), S. 177–214; M. W, Wirtschaftsgeschichte, S. 112 f. 1518 Im Haushalt des Kunden erhält er oft auch Kost und Logis. Allmählich wurde in der Stadt das Lohnwerk auf Stör auch untersagt. Der Unwille der städtischen Handwerker richtete sich auf die Handwerker vom Lande, denen dies nicht untersagt war. Störer oder Bönhase war schließlich jeder, der außerhalb der zünftigen Gewerbeberechtigung arbeitete und deshalb vom Stadthandwerk verfolgt und aufgespürt wurde.

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es früh schon zur modernen Form der Arbeitsteilung gebracht hatte, der Arbeitszerlegung im Sinne einer voneinander abhängigen Folge einzelner Fertigungsabschnitte, für die verschiedene Berufe zuständig sind. Lange Zeit war die Wollweberei das einzig wirklich große Exportgewerbe der mittelalterlichen Städte. Sie bildete auch frühzeitig eine Hierarchie von zuarbeitenden, rohstoffverarbeitenden und fertigenden Hilfsgewerben und die Position handwerklicher oder kaufmännischer Verleger aus. Bücher kennt in seiner bahnbrechenden Sozial- und Berufsstatistik für Frankfurt am Main bezogen auf das Jahr 1378 mindestens 148 Erwerbsarten, die er in 11 größere Gruppen gliedert. Für das Jahr 1440 zählt er, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, insgesamt 191 Berufe, die er in 15 Gruppen aufteilt. In Erfurt gab es am Beginn des 16. Jahrhunderts 206 verschiedene Berufe. In Frankfurt sind für 1378 allein 32 Berufe der Metallverarbeitung zu unterscheiden. Erheblich höher war der Grad der Spezialisierung in Köln, wo sich allein schon im Rahmen des Schmiedegewerbes vom 12. bis zum 16. Jahrhundert 43 verschiedene Berufe herausbildeten. Nur Nürnberg, das wohl größte Zentrum der Metall- und Waffenproduktion im Reich, wies bereits im Spätmittelalter mit mehr als 40 Gewerben um 1400 bereits einen vergleichbaren Grad der Arbeitsteilung in der Metallverarbeitung auf, die Berufsspezialisierung und Arbeitszerlegung sein kann. Im Jahre 1420 waren etwa 500 Meister auf dem Gebiet der Eisenwarenverarbeitung tätig, um 1550 waren es etwa 2000 Meister. Das rohstoffverarbeitende und fertigende Textilgewerbe, die Metallverarbeitung, in der Rüstungsentwicklungen (Plattenharnisch) und das Aufkommen von Feuerwaffen einen Spezialisierungsschub zur Folge hatten, und das an Beschäftigtenzahl und Umsatz nachgeordnete Leder- und Kürschnergewerbe gehörten zu den am meisten differenzierten Gewerben. Sie waren zugleich Standardgewerbe und erreichten einen Produktionsumfang, der über die lokale Bedarfsdeckung hinausging.

Zu den Grundgewerben, die der unmittelbaren Versorgung der Stadtbevölkerung mit täglichen Gebrauchsgütern dienten, gehörten die Bäcker, Fleischer, Schneider und Schuhmacher. In Nürnberg ent elen auf sie in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts je 70 bis 100 Meister. Starke Berufsgruppen stellten daneben das Baugewerbe, das Verkehrs- und Transportgewerbe, die Wirte und die Bader. Auch im Nahrungsmittelgewerbe vollzog sich eine Berufsspaltung. So unterschied man zwischen Weiß- und Schwarzbäckern, Süß- und Sauerbäckern. Bei den Metzgern sonderten sich Knochenhauer ab, die sich auf Viehhandel und den Verkauf des geschlachteten Viehs spezialisierten. Erstaunlich hoch war die Zahl der Gewerbetreibenden des Nahrungsmittelsektors im Verhältnis zur Bevölkerungszahl. In Nürnberg gab es 1363 insgesamt 71 Metzger, in Lübeck um etwa diese Zeit 116 Knochenhauer, in Basel 1451 109 Fleischer; in Frankfurt am Main waren es 65 Metzgermeister im Jahre 1387 und 75 im Jahre 1481. Die Anzahl der Bäckermeister war in Frankfurt 1842 verhältnismäßig erheblich geringer als 1387. Selbst wenn man annimmt, dass die 88 Bäckermeister des Jahres 1387 (Nürnberg 1363: 75, Lübeck 64) ohne jedes Hilfspersonal arbeiteten und in den Familien keine Hausbäckerei mehr bestand, hat sich die Zahl der Bäcker 1842 mit 51 Meistern, 148 Gesellen und 5 Lehrlingen noch nicht verdreifacht, während sich die Zahl der Konsumenten versechsfacht hat. Sehr hoch war im Übrigen mit 113 Meistern im Jahre 1387 auch die Zahl der Schneider (Nürnberg 1363: 116, Lübeck etwa 100). Lübeck wies 1407 insgesamt 187 Brauer auf, von denen 150 hauptberu ich tätig waren; in Wismar gab es 1464, nach dem Höhepunkt der Exportkonjunktur, noch 182 Brauer. In Danzig waren es 378 Brauer im Jahre 1416, in Hamburg 457 im Jahre 1378 zur Zeit des orierenden Exports. Das Braurecht haftete in den Hansestädten am Haus und Grundstück und wurde in bescheidenem Umfang auch nebenberu ich ausgeübt. Im späten 15. Jahrhundert gab es in Hamburg über 500 Häuser mit Braurecht. In der Böttcherei,

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dem Hilfsgewerbe des Handels, arbeiteten in Lübeck Ende des 14. Jahrhunderts 80 Meister, in Hamburg 1376 insgesamt 104 Meister. Im Jahre 1437 konzedierte der Hamburger Rat den Böttchern die Höchstgrenze von 200 Meistern, 1458 von 150 und 1506 von nur noch 120 Meistern.¹⁵¹⁹ Wenn der Hamburger Rat im Verlauf des 15. Jahrhundert dreimal die Zahl der zugelassenen Meister auf Antrag der Zunft und damit den Konkurrenzdruck reduzierte, so heißt das nicht unbedingt, dass Nachfrage und Produktion schrumpften, denn es konnte zur Aufrechterhaltung des Produktionsvolumens die Zahl der Mitarbeiter im Hauptgewerbe und in zuarbeitenden Hilfsgewerben erhöht werden. Die starke Nachfrage nach Tonnen als dem universalen Transportbehältnis führte zu Versuchen, das strenge Zunftsystem durch Formen des Verlags, insbesondere durch Aufkauf von Fassholz, und außerzünftige Produktion zu lockern oder zu durchbrechen, sodass bereits um 1350 und mehrfach im 15. Jahrhundert Verbote derartiger Praktiken erfolgten. Verschiedene Handwerkserzeugnisse erlangten gewissermaßen Weltruf und fanden unter der Marke der Herkunftsorte im damaligen Maßstab weltweiten Absatz. Dazu gehörten die Konstanzer Leinwand, die Nürnberger Metallkleinwaren (Merzeria) – das sind Nadeln, Messer, Löffel, Trichter, Becken – ferner Leuchter, Waffen und seit dem 15. Jahrhundert Blechblasinstrumente (Trompeten, Zinke, Posaunen), der Ulmer und Augsburger Barchent, Solinger Messer und Einbecker Bier. Teilweise wurden die Waren von den Handwerkern selbst durch kollektiven Messebesuch oder durch Fahrten über See abgesetzt, wie sie die Lübecker Bernsteindreher unternahmen, ansonsten durch die Kau eute mit ihren weiträumigen Handelsbeziehungen.

9.1.2 Zünftige Produktionsverhältnisse 9.1.2.1 Angleichung der Produktionsbedingungen Die Wirtschaftspolitik des Rates unter der Parole des gemeinen Nutzens und der genossenschaftliche Zunftgedanke konvergierten vor allem bei ungünstigen Veränderungen der lokalen Marktlage in dem Ziel, dem einzelnen Gewerbetreibenden durch Konkurrenzregelungen seinen wirtschaftlichen Spielraum und seine Erwerbschancen, die standesgemäße ›Nahrung‹ zu erhalten. In Anbetracht eines begrenzt aufnahmefähigen Marktes und der genossenschaftlichen Organisation des Gewerbes war dies nur durch eine möglichst gleichmäßige, brüderliche Aufteilung von Produktion und Absatz innerhalb einer Zunft mit der konservativen Konsequenz möglich, dass in der Organisation der Arbeit der Einzelne in seinem Handlungsspielraum zugunsten eines Interessenausgleichs einer größeren Gemeinschaft beschränkt, Konzentrationsvorgängen innerhalb der Zunft entgegengewirkt, ein über die Beschäftigungsmöglichkeiten hinausgehender Zustrom von Arbeitskräften abgewehrt und mit dem Wettbewerb im Rahmen von Zunft und Stadt möglichst auch die Konkurrenz durch das nähere Umland zurückgedrängt oder ganz ausgeschaltet wurde. Damit konnten zugleich auch die Angebotsmengen begrenzt und Preise gestützt werden, jedoch versuchten immer wieder Meister, aus diesen engen Grenzen auszubrechen. Der Konsument auf der anderen Seite wurde bei Wegfall der Konkurrenzbedingungen durch städtische Vorschriften über die Güte der Produkte, durch Warenschau und Preisregulierungen geschützt. Unter den restriktiven Bedingungen der Zunftwirtschaft war der einzelne Gewerbetreibende weniger Unternehmer als vielmehr Arbeiter. Um das individuelle maximale Produktionsquantum zu beschränken, wurden die beiden

1519 K. B, Die Bevölkerung von Frankfurt, S. 103–112; T. N, Wirtschaftsleben im mittelalterlichen Erfurt, S. 522; F. I, Die wirtschaftliche Stellung der Stadt Köln (9), S. 114; J. S, Die Hanse (9.5), S. 156 ff.; H. K, Deutsche Wirtschaftsgeschichte I, S. 114, 168 f.

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Hauptfaktoren gewerblicher Produktion, Arbeit und Kapitaleinsatz, vielfach in den engen Grenzen des Kleinbetriebs gehalten. Grundsätzlich war die Produktion außerordentlich arbeitsintensiv, und Geld war knapp. Gustav Schönberg formuliert als zünftiges Prinzip: »Die freie Vereinigung von Arbeitskräften und Kapital in einer Hand, diese Voraussetzung der Wirtschaftsunternehmung und das unfehlbare Mittel, die natürliche Ungleichheit zwischen den Einzelnen immer größer zu machen, war den Zunftmitgliedern nicht gestattet; das Kapital selber hat als solches keine werbende Kraft und keinen Anteil an dem Gewinn.«¹⁵²⁰ Zumindest sollten die wirtschaftlichen Folgen unterschiedlicher betrieblicher Kapitalausstattung gemildert werden. Der Gewinn sollte seiner Natur nach Arbeitsgewinn, moderiert durch das Prinzip des standesgemäßen Gewinns, sein. Wirtschaftliche Chancengleichheit, gleiche Produktionsbedingungen unter Beschränkung des Wettbewerbs, wurden in den Zunftordnungen durch folgende Maßregeln angestrebt:¹⁵²¹ I Regulierung von Produktionskapazität und Produktionsmenge 1. Menschliche Arbeit a) Beschränkung der Anzahl der beschäftigten Gehilfen und Verbot der Mitarbeit von Familienangehörigen. b) Verbot des Abdingens. c) Beschränkung der Arbeitszeit. 2. Sachliche Produktionsmittel a) Beschränkung der Betriebsgröße und Regulierung der technischen Produktionsmittel im Hinblick auf den Einzelbetrieb und das städtische Produktionsvolumen durch – Begrenzung der Zahl der Werkstätten

– Begrenzung der Zahl der Webstühle, Feuer und Essen (Schmiede), der Löschgruben (Gerber) – technische Produktionsvorschriften und Kontrolle der Arbeitsgeräte – Verbot neuer Produktionstechniken, arbeitssparender Maschinen und neuer Arbeitsgeräte – Investitionsverbote; Verbote von Errichtung und Abriss bestehender Mühlen und Metallöfen (Schmelzen) – Gebot der Umsage (Mitteilung) bei Neuanschaffungen von Arbeitsmitteln, damit interessierte Zunftmitglieder am Kauf teilnehmen können. b) Limitierung der Rohstoffmengen beim Einkauf. 3. Direkte Produktionsbeschränkungen durch Festlegung von Produktionsquoten vor allem bei standardisierten und für den Verkauf gearbeiteten Produkten, vor allem bei Absatzschwierigkeiten. 4. Regulierung des Absatzes und der Vermarktung. a) Festlegung von Absatzquoten. b) Auftragsverteilung durch die Zunft. c) Kollektiver Absatz durch Messebesuch. d) Verbot der Gesellschaftsbildung mit anderen Meistern oder der partiarischen Beteiligung der Gesellen am Gewinn; Verbot der Gesellschaft mit Angehörigen anderer Zünfte oder Nichtzünftigen. e) Verbot, fremde Produkte anzukaufen und auf den Markt zu bringen. f ) Verbot, Arbeit an Zunftmitglieder oder Außenstehende zu vergeben (Verlag). g) Verbot, Kunden und Käufer anderer abwendig zu machen; ohne Erlaubnis das

1520 G. S, Zur wirtschaftlichen Bedeutung des deutschen Zunftwesens im Mittelalter, S. 104. Er bezeichnet das Prinzip der freien Konkurrenz und der Gewerbefreiheit, in denen »die höchste Entfaltung der Einzelkraft bis hart an die Grenze der Unsittlichkeit gesetzlich, und über diese Grenze hinaus thatsächlich ermöglicht wird«, als das »revolutionäre Princip in der Volkswirtschaft«. Ebd., S. 8. Für eine Idealtypisierung der Zunftwirtschaft ist die Studie Schönbergs immer noch von Interesse. 1521 Zusammengestellt nach R. E, Zünfte und Wettbewerb, S. 33 ff. Vgl. auch H. H, Wettbewerb im Zunftrecht; K. F. W, Wettbewerbs- und Absatzverhältnisse.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

von einem andern begonnene Werk fortzusetzen. h) Zuteilung von Verkaufsständen und Verbot des Straßen- und Hausierhandels. i) Festlegung von Zeiten, zu denen Waren verkauft oder Dienstleistungen erbracht werden dürfen, von Angebotsfrequenzen für bestimmte Orte (Markt usw.) oder von bestimmten Reihenfolgen (sog. Reihesystem), in denen Zunftmitglieder ihre Produkte anbieten dürfen. j) Vorschriften über die Warenauslage. k) Verbot aktiver Reklame. l) Erschwerung von Produktinnovationen¹⁵²² und Abgrenzung der Produktionsbefugnisse zwischen handwerklich ähnlichen Zünften. II Regulierung der Produktionskosten 1. Angleichung des Einkaufspreises für Rohstoffe, sofern diese nicht vom städtischen Markt zu gebundenen Preisen bereitgestellt werden, durch: a) Genossenschaftlichen Einkauf, so genannter Zunftkauf , und Zuteilung gleicher oder gestaffelter Quotenmengen. Die Mitglieder der Zunft vermeiden dadurch preistreibende Konkurrenz beim Einkauf und nutzen zugleich Vorteile des Masseneinkaufs. b) Vermittlung des Einkaufs zu Einheitspreisen durch die Zunft. c) So genannten Teilkauf , bei dem jeder Meister, der einen Kauf tätigt, einen hinzutretenden Zunftgenossen zu gleichen Bedingungen am Kauf teilnehmen lassen muss im Wege des Einstands- oder Eintrittsrechts. In einigen Fällen muss deshalb der Käufer seinen Genossen durch Umsagen von dem ihm vorliegenden Verkaufsangebot Kenntnis geben, in anderen Fällen wird bestimmt, dass der Kauf nur in Anwesenheit aller interessierten Zunftmitglieder erfolgen darf. In der Regel geschieht der Beitritt erst nach

dem Abschluss, damit der Preis nicht in die Höhe getrieben wird. d) Limitierung der Vorratsmengen, damit nicht durch eine übertriebene Nachfrage die Rohstoffpreise gesteigert werden. e) Limitierung der Einkaufsmengen durch Festlegung maximaler Materialmengen oder eines auszugebenden Höchstbetrags in Geld. f ) Verbot des Vorkaufs und des Aufkaufs, d. h. des Einkaufs einer Menge, die über den tatsächlichen Produktionsbedarf hinausgeht. g) Festlegung der Einkaufszeiten, der Einkaufsorte oder der Lieferanten. 2. Angleichung der Arbeitskosten durch: a) Lohntaxen. b) Festlegung der Lohnart als Stück- oder Zeitlohn. c) Verbot von Sonderzuwendungen. d) Festlegung der Dingtermine und Mietzeiten. 3. Angleichung von Qualität und Preis durch: a) Standardisierung von Mindest- und Einheitsqualitäten in Abmessung, Form, Farbe, Rohmaterial, Muster, Webart, Gewicht, Dichte oder Festigkeit zur Beseitigung der Ungleichheit des Gebrauchswerts als Voraussetzung für eine einheitliche Preisfestsetzung und zur Beschränkung des Qualitätswettbewerbs; Kontrolle durch Warenschau, Bestätigung der Normerfüllung durch Stempelung oder Siegelung des Produkts. b) Offizielle Preisfestsetzung oder intern wirksame Preisabsprache zur Ausschaltung von Preiswettbewerb durch Mindestpreise oder Festpreise sowie Umgestaltung obrigkeitlich verordneter Höchstpreise zu Festpreisen, die nicht unterboten werden dürfen. Alle diese Bestimmungen und Maßregeln sind zwar für den idealtypischen Zunftgedan-

1522 So durfte in Köln Lammwolle überhaupt nicht gefärbt werden. Wolltücher und Wollgarne durften nur mit Waid und Krapp gefärbt werden; aus Kalbsleder durften keine gefärbten Riemen hergestellt werden. R. E, Zünfte und Wettbewerb, S. 78 f. (mit weiteren Beispielen).

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ken konstitutiv, sie bilden jedoch kein geschlossenes System, da sie nur bei einzelnen Zünften und dort auch nur teilweise anzutreffen sind. Vielfach liegen sie nicht nur im Interesse der Zunftangehörigen, sondern dienen gleichermaßen dem Konsumentenschutz und fügen sich in die übergreifende stadtwirtschaftliche Ordnungspolitik des Rates ein. Völlige wirtschaftliche Gleichheit der Zunftgenossen war selbstredend nicht herzustellen. Für Ungleichheit sorgten schon unterschiedliche Startbedingungen, unterschiedliche Vermögenslagen, individuelle Fähigkeiten und individueller Fleiß sowie die beru iche Differenzierung innerhalb von Zünften und die ungleiche Möglichkeit, angesichts einer unscharfen Abgrenzung zwischen Handel und Handwerk sich in den pro tableren Handel mit Rohstoffen einzuschalten. Vielfach legten die gewerberechtlichen Vorschriften nur Maxima fest, die einen Spielraum nach unten voraussetzten. Zur Begründung vieler Maßregeln wird jedoch als bestehendes Faktum hervorgehoben, dass es reichere und ärmere Zunftgenossen gebe, und man wollte versuchen, diese Ungleichheiten durch die Beschränkung des Einzelnen zugunsten der Gesamtheit zu mildern und zu verhindern, dass der wirtschaftlich Schwache in die Abhängigkeit des Stärkeren geriet. Dazu half auch der Umstand, dass sich größere, kapitalintensive Betriebsanlagen häu ger im Besitz der Zunft befanden oder von der Stadt bereitgestellt wurden. Verwerfungen innerhalb einzelner Zünfte und gegen das Gemeinwohl gerichteten Eigennutz macht der Bericht deutlich, den der Kölner Ratsherr Gerhard von Wesel um 1490/91 über Missstände in der Zunft der Seidenmacherinnen und Verstöße gegen den Zunftbrief von 1470 erstattete.¹⁵²³ Demnach hatte sich eine Hierarchie von vier oder sechs Seidenmacherinnen herausgebildet, die als Hauptseidenmacherinnen galten und so reich waren, dass sie jähr-

lich 2 000 oder 3 000 Gulden für Rohseide, wofür man 5 bis 7 Zentner erhielt, ausgeben und damit einen immensen Bestand eigener Rohstoffe verarbeiten konnten. Sie durften deshalb gemäß dem Zunftbrief und im Gegensatz etwa zu den Goldschmieden und Schildermalern in privilegierter Stellung allein in der Zunft Lehrtöchter ausbilden, obwohl Wesel zufolge andere nicht privilegierte Seidenmacherinnen ohne eigene Rohstoffe sich genauso gut oder noch besser auf das Handwerk verstünden. Außerdem würden – von Verlegerinnen innerhalb der Zunft – in Klöstern, Konventen und Klausen rechtswidrig geistliche Personen – zu billigeren Konditionen – beschäftigt. Beklagt werden ferner Lohndrückerei, geringe Anteile an Barlohn und Lohnwucher durch Entlohnung mit den Produkten Seide oder Tuch. Arme Kinder, die sich durch Spinnen und Wirken des Hungers und Durstes erwehrten, müssten von den Seidenmacherinnen hergestellte Seide zu 19 Mark Kölner Währung pro Pfund Seide als Lohn annehmen, könnten sie aber für mehr als 14,5 oder 15 Mark nicht wieder verkaufen, oder sie erhielten Tuch für nominell 6 Mark, das sie allenfalls für ein Drittel billiger losschlagen könnten. Das sei › nancie und mehr als nancie¹⁵²⁴, Wucher und abermals Wucher‹. Durch die Produktentlohnung betrieben Seidenmacherinnen unter der Hand den Gewandschnitt und damit mit doppeltem Erwerb zugleich Handwerk und Detailverkauf. Welch tiefgehender wirtschaftlicher und sozialer Strukturwandel sich innerhalb eines Gewerbes vollziehen konnte, wenn Kapital aus den zünftigen Bindungen gelöst eingesetzt wurde, zeigen die Veränderungen im Straßburger Wollgewerbe (Textilgewerbe). Während die Weber noch im 13. Jahrhundert zu den reichsten Zünften gehörten, gerieten sie im arbeitsteiligen System der Tuchproduktion im 14. Jahrhundert in Abhängigkeit von den rohstoffverarbeitenden und Wollhandel betreibenden Wollschlägern

1523 H. . L, Die Kölner Zunfturkunden II (8.2–8.4), Nr. 661, S. 425–428; E. E/F.-D. J, Städtisches Leben, S. 312 f. 1524 Mhd. Financie: unredliches, wucherisches, betrügerisches Geschäft.

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sowie den weiterverarbeitenden und betriebskontrollierenden Tuchern und den Tuchhändlern, die als Handwerker-Unternehmer oder reine Kau eute die Endprodukte vermarkteten und im Rat entscheidenden Ein uss auf die Wirtschaftspolitik erlangten.¹⁵²⁵ 9.1.2.2 Kartell- und Monopolfunktionen der Zünfte – handwerkliche Kartellbildungen Angesichts der wettbewerbsregulierenden, wenn nicht gar den Wettbewerb ausschaltenden und den Markt beherrschenden Bestrebungen der Zünfte wurde schon im späten 19. Jahrhundert die Frage diskutiert, ob der Zunft nach Erscheinung und Wesen Kartellcharakter oder zumindest Kartellfunktionen eigneten.¹⁵²⁶ Da der moderne Kartellbegriff eine freie Verkehrswirtschaft mit Gewerbefreiheit und freier Konkurrenz als die Wirtschaftsordnung bestimmende Prinzipien voraussetzt und die Kartelle das Ergebnis freien Zusammentretens der Interessenten darstellen, sind die Zünfte von ihren Grundbedingungen her den Kartellen dem Wesen nach nicht vergleichbar. Die Zunft besitzt zudem eine über das rein Wirtschaftliche hinausgehende, umfassende Zweckbestimmung und ist als Korporation mit öffentlichen Ordnungsfunktionen in das Ordnungsund Verfassungsgefüge der Stadt eingebaut. In gewissem Sinne besitzt jede privilegierte Korporation die Stellung eines speziellen Monopols oder im Hinblick auf die vielen Meisterbetriebe eines kollektiven Monopols oder Oligopols, und die große und egozentrische Korporation Stadt nimmt gegenüber dem Umland mit teilweise ausbeuterischen Praktiken gleichfalls eine Monopolstellung ein. Obwohl die Zunft kein förmliches Kartell darstellt, weist sie jedoch mit Zunftzwang, Zunftkauf, Produktions- und Absatzmonopol deutlich kartellähnliche Funktionen auf und genießt Vorteile der Wettbewerbsbeschränkung im Innern wie hinsichtlich

eines prohibitiven Schutzes gegen stadtfremde Anbieter. Es gab aber auch Fälle, in denen Zunftmitglieder oder die ganze Zunft jenseits der Zunft- und städtischen Wirtschaftsordnung unter den Begriffen consortium, Einung und Syndikat kartellartige Absprachen trafen oder Bündnisse schlossen und versuchten, – als Einkäuferring und beim Verkauf ein Preisdiktat auszuüben, – durch Produktionsdrosselung auf dem Wege der Reduzierung der Arbeitszeit oder durch gezielte Mengenrestriktionen eine künstliche Angebotsverknappung mit dem Ziel der Preissteigerung herbeizuführen, – mit zugelassenen fremden Anbietern Preisabsprachen zu treffen oder Gesellschaften zu bilden. Dagegen schritt der Rat, über kurz oder lang auch der Rat mit Zunftmehrheit, bei lebensnotwendigen Verbrauchsgütern durch Verbote und Wettbewerb fördernde Liberalisierungsmaßnahmen zugunsten eines wenigstens partiellen konkurrierenden freien Marktes ein, wie der wirtschaftspolitische Begriff in Augsburg lautete. Zwischen Zünften, insbesondere zwischen Handwerkerzünften und Krämerzünften oder Gewandschneidern, kam es immer wieder zu Streitigkeiten über Produktions- und Absatzgebiete. Dies war vor allem dann der Fall, wenn neue Rohstoffe, technische Verfahren, Berufe oder Dienstleistungen aufgekommen waren und hier zunächst eine Konkurrenz zwischen Zünften stattfand, bis andere Zünfte den Streit schlichteten oder der Rat ihn entschied. 9.1.2.3 Waren die Zünfte innovationsfeindlich? Nachdem den Zünften vom Wirtschaftsliberalismus im 18./19. Jahrhundert, aber auch bezogen auf die mittelalterlichen Zünfte lange Zeit von der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung

1525 G. S, Die Straßburger Tucher- und Werbezunft, S. 410–433, 500 ff. 1526 R. E, Zünfte und Wettbewerb; H. H, Wettbewerb; G. M, Die Kartellfunktionen der Zünfte; E. M, Deutsche Kartelle des 15. Jahrhunderts; Kluge.

Das Handwerk unter den Bedingungen des Zunftwesens 861

eine strukturkonservative, innovationsfeindliche, konkurrenzfeindliche und protektionistische Haltung vorgeworfen wurde, erscheint eine derartige Charakterisierung zunehmend fraglich, doch ist die empirische Grundlage für generalisierende Urteile in beide Richtungen recht schmal. Es wird nicht dargelegt, welche einschneidenden Innovationen kleine, in engem Produktionsrahmen traditionell arbeitende Gewerbe hätten überhaupt einführen können. Andererseits können Innovationen im arbeitsteiligen Textil- und Metallgewerbe mit Fernabsatz als Gegenbeispiele nicht für die Zünfte in Anspruch genommen werden, da sie mit Handelskapital, unternehmerischer Kreditaufnahme und in Rahmen von Kredit- und Verlagsverhältnissen, die das Zunftwesen sprengten, erfolgt sind. Daran schließt sich die Frage an, ob wegen einer Innovationsfeindlichkeit der Zünfte oder wegen des Reservoirs an billigen Arbeitskräften auf dem Lande, der dortigen Produktionskapazitäten und des natürlichen Standorts der Rohstoffgewinnung ältere städtische Produktionen auf das Land ausgelagert oder unter Meidung der Stadt dort neue in Gestalt frühkapitalistische Protoindustrien begründet wurden. Innovationen konnten im Spätmittelalter in der Regel nur auf Antrag von Zünften mit Genehmigung des Rates, den eigene Motive leiteten, verhindert werden. Zünfte fürchteten den Wegfall von Arbeit und Erwerbschancen durch arbeitssparende, mit fremdem Kapital entwickelte Maschinen, möglicherweise weniger arbeitserleichternde Maschinen. Außerdem hätte der Zunftgenosse Produktionsvorteile genossen, dem es im Unterschied zu anderen möglich war, produktionssteigernde Maschinen zu erwerben. Aus sozialen, skalischen und ordnungspolitischen Gründen war der Rat besorgt, wenn die Neuerung die Beschäftigung prekär machte oder Erwerbsmöglichkeiten nach außen abwanderten. Darin traf er sich mit Befürchtungen

der Zünfte, die sich allerdings an ihren Privilegien und eigenen Interessen orientierten. Den Kau euten als gelegentlich Dritten im Bunde war zugunsten des Fernabsatzes gewerblicher Güter an Produktionssteigerung, Qualitätsverbesserung und Standardisierung gelegen sowie an der Verbilligung der von ihnen vermarkteten Produkte durch preisgünstige Rohstoffe und Halbfertigwaren, die auch, wie etwa Garn, von außerstädtischen Produzenten angeboten wurden. Er ndung und Innovation, d. h. auch die Durchsetzung und Verbreitung von Neuerungen, traten auseinander. Die Motive für eine Verhinderung von Innovationen waren, soweit erkennbar, verschiedenartig.¹⁵²⁷ In Speyer wurde um 1280 Garn, das mit einem neuen Spinnrad gesponnen wurde, zunächst nur für die Herstellung von Schuss-, nicht aber für Kettengarne erlaubt. In Quedlinburg blieb die Verwendung radgesponnenen Garns noch 1478 beschränkt. Die hochproduktive, vielspindelige Seidenzwirnmühle ( latorium) nach Luccheser Vorbild, deren Herstellung und Betrieb in Köln der Kölner Kaufmann und Faktor einer oberdeutschen Handelsgesellschaft Walter Kesinger 1412/13 beabsichtigte, wurde wie jedes andere Rad (Garnzwirnrad) für alle Zukunft vom Rat aus beschäftigungs- und sozialpolitischen Gründen verboten. Von vorgeladenen Sachkundigen beraten, befürchtete der Rat, dass viele Leute in der Zunft ihre Beschäftigung verlieren und ruiniert würden.¹⁵²⁸ Im Jahre 1478 legte der Rat die Höchstzahl an Garnzwirnräder auf vier pro Gewerbetreibenden fest. Nicht aus beschäftigungspolitischen Gründen, sondern weil Klagen wegen mangelnder Produktionsqualität aufgekommen waren, untersagte der Rat 1498 auf Antrag der Garnkau eute den Antrieb der 1473 in städtischen Besitz gelangten und verpachteten Garnräder, die mit jeweils mehreren Spindeln arbeiteten und durch Pferde bei Tag und Nacht anstelle der gleichmäßigen Be-

1527 Die folgenden Beispiele nden sich unter anderem bei R. E, Zünfte und Wettbewerb, S. 72, 74, 75; H.-J. G, Kredit und Innovation, S. 49–52. 1528 H. . L, Die Kölner Zunfturkunden II (8.2–8.4), Nr. 650, S. 418 f. Siehe dazu W. E/W. v. S, Textiltechnische und hydraulische Er ndungen.

862

Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

wegung durch Trettrommeln mit menschlicher Kraft betrieben wurden.¹⁵²⁹ Die Walkmühle brachte im Textilgewerbe eine drei- bis vierfache Produktivitätssteigerung gegenüber dem Walken mit den Füßen. In andrischen Städten war sie bereits im 12. und 13. Jahrhundert eingeführt worden, doch kehrte man dort angeblich der besseren Qualität wegen im 14. Jahrhundert zur Fußwalke zurück, die bis ins 15. Jahrhundert vorherrschend blieb.¹⁵³⁰ Ähnlich verhielt es sich damit in England. In Köln war 1397 den Nadelmachern der Einsatz einer Maschine verboten worden, die Nadelöhre in die Nähnadeln stanzte und Draht in die Nadelköpfe schob. Im Jahre 1403 untersagte der Nürnberger Rat den Einsatz einer Drahtziehmaschine, subventionierte jedoch fünf Jahre später die Entwicklung einer Drahtziehmühle durch einen patrizischen Kaufmann und Unternehmer. Nur auf solchen Webstühlen, die der im Jahre 1501 von den Frankfurter Wollenwebern eingeführte Werkzeugsiegler besichtigt und mit Brandzeichen als genehmigt markiert hatte, durfte gewoben werden. Als der Nürnberger Rat 1458 zum Schutz des Waldes vor Überbeanspruchung Sägemühlen verbieten wollte, scheiterte er damit wegen des großen Bedarfs an exakt zugeschnittenem Bauholz in der Stadt. Die wirtschaftliche Problematik, die Verboten anhaftete, wurde dem Kölner Rat vor Augen geführt, als er 1477 einer Klage der Pleißer (Harnischpolierer) stattgab, wonach die Harnischmacher zum Nachteil des Pleißerhandwerks außerhalb der Stadt Pleißmühlen er-

richteten und dadurch Erwerbsmöglichkeiten (Nahrung) aus der Stadt brachten. Der Rat ordnete an, dass künftig kein Harnisch aus der Stadt geführt werden durfte, um ihn dort polieren und bearbeiten zu lassen. Fünf Jahre später (1482) hob er das Verbot wieder auf, nachdem die Pleißer dem Rat den Nachteil der Regelung zu erkennen gegeben und sich mit den Harnischmachern darauf geeinigt hatten, dass diese nur drei Pleißmühlen außerhalb der Stadt benutzen sollten.¹⁵³¹

9.2 Großgewerbliche Produktion und neue Produktionsbereiche 9.2.1 Technische Innovationen und wirtschaftliche Strukturveränderungen Im Unterschied zu dem strukturkonservierenden Grundzug der kapitalschwachen handwerklichen Kleinbetriebe fanden in die großgewerbliche Produktion im Textil- , Metall- und Montanbereich technische Inventionen sowie betriebliche Innovationen und Wirtschaftsweisen von großer Tragweite Eingang, und es wurden neue Produktionen begründet, sodass mit den üblichen Überdehnungen des Revolutionsbegriffs im Anschluss an eine hochmittelalterliche industrielle Revolution¹⁵³² auch von einer »industriellen Revolution des Spätmittelalters« gesprochen wird.¹⁵³³ Technische »Inventionen«, deren Erstbelege vielleicht ermittelt werden können, bleiben wirtschaftsgeschichtlich ohne Bedeutung, solange sie nicht,

1529 H. . L, Die Kölner Zunfturkunden II, Nrr. 386, 389, S. 159 f., 161 f. 1530 R.  U, e Fulling Mill: Dynamic of the Revolution in Industrial Attitudes, in: Acta Historiae Nederlandica 5 (1971), S. 1–17. 1531 H. v. L, Die Kölner Zunfturkunden II, Nr. 515, S. 285 f. 1532 J. G, La révolution industrielle. Nach Gimpel ging die dynamische Phase der technischen Entwicklung bereits kurz nach der Mitte des 13. Jahrhunderts in eine Stagnation auf hohem Niveau über, während um 1337 ein technischer Niedergang einsetzte. Ähnlich D. H/K.-H. L, Verdichtungen von Technik. Es geht den Autoren weniger um mehr oder weniger zufällige Erstbelege für Er ndungen, sondern um deren Durchsetzung und Verbreitung. Nach der Phase einer Stagnation im Spätmittelalter trete erst am Ende des 15. Jahrhunderts wieder eine Periode der »Verdichtung« der Technik ein. Siehe dazu auch H.-G. G, Kredit und Innovation, S. 39 f. 1533 W. v. S, Eine »Industrielle Revolution« des Spätmittelalters? Zur Technikgeschichte siehe die Handbücher von K.-H. L/V. S und U. L mit den einzelnen Beiträgen. Jüngste Überblicke (mit Literatur) bieten H.-J. G, Kredit und Innovation, und K.-W. S , Innovation.

Großgewerbliche Produktion und neue Produktionsbereiche 863

wie bereits Joseph A. Schumpeter im Hinblick auf die Spätphase des Kapitalismus um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in einem Dreischritt modellhaft dargelegt hat, von Pionierunternehmen als »Innovationen« umgesetzt und eingeführt sowie im Sinne einer »Diffusion« von imitierenden Nachfolgebetrieben übernommen und weiter verbreitet werden. Es bedarf zur Innovation in der Wirtschaft, die bestehende Gleichgewichte zerstört und entwicklungsdynamische Ungleichgewichte schafft, die einen »Prozess der schöpferischen Zerstörung« und des Aufbaus darstellt, zur Durchsetzung neuer technischer Produktionsverfahren und der Einführung neuer Produkte am Markt neben der Er ndung in unterschiedlichen Größenordnungen des Kapitals, insbesondere des Kredits, sowie der Figur des wagemutigen und dynamischen Unternehmers, der neue Märkte oder Hilfsquellen erschließt, die Produktion arbeitsteilig zerlegt und sodann koordiniert und eine neue Geschäftsorganisation einrichtet.¹⁵³⁴ Einzelne innovative Züge, die in ältere wirtschaftliche Rahmenbedingungen und Konstellationen einzuordnen sind, nden sich bereits in wirtschaftlichen Veränderungen des Spätmittelalters und im Übergang zur frühen Neuzeit. »Das Hauptkennzeichen der neuen Wirtschaftsweise war der Übergang von individueller Handarbeit auf organisierte und arbeitsteilige Produktion mit zunehmendem Einsatz von (hydraulischen) Kraft- und (mechanischen) Arbeitsmaschinen und anspruchsvollen Verfahren zur Massenproduktion standardisierter Fernhandelsgüter.«¹⁵³⁵ Von einem neuen wirtschaftlichen Klima begünstigt wurden billigere Güter, die rascher produziert und umgesetzt wurden. Hinzu kamen arbeitsteilig organisierte und kapitalintensive Großbetriebe, die wie im Schiffsbau, im Erzguss oder im Kathedralen-

bau nicht Massenprodukte, sondern individuelle Einzelstücke von großen Dimensionen und großer Komplexität herstellten. Gegenüber dem im zünftigen Kleinbetrieb mit lokalem oder regionalem Absatz dominierenden Produktionsfaktor Arbeit gewannen die Faktoren Kapital und technisches Wissen, das sowohl die Ingenieurtechnik als auch betriebliche Organisation, Buchführung und regionale, transeuropäische und überseeische Vermarktung umfasste, gesteigerte Bedeutung. Fernhandel wurde oft kombiniert mit monopolistischem oder oligopolistischem Detailhandel, wie dem Gewandschnitt, oder mit Geldwechsel und Bankgeschäften. Durch den Fernexport und vor allem durch die Silberlieferungen seit der Mitte des 15. Jahrhunderts verbesserte sich die passive Handelsbilanz Mitteleuropas gegenüber der Mittelmeerwelt und dem Orient.¹⁵³⁶ Es ist denkbar, dass der mit den Bevölkerungsverlusten der Pestzeiten einhergehende Schwund an allgemeiner Konsumkraft, aber bei höherer Ausstattung mit Vermögen und Kapital Einzelner, die Tendenz zur Exportproduktion förderte. Träger dieser Produktion war als noch seltene Erscheinung der dynamische Unternehmer, der das erforderliche Investitions- und Betriebskapital, Geld- und Sachkapital, zusammenbrachte, indem er vor allem akkumuliertes Handelskapital, auch schon die Schöpfung von Giralgeld (Buchgeld) durch wechselseitige Konten und Verrechnungen und die Bankenfunktion der Wechselstuben nutzte, Kredite aufnahm, in Konsortien Kapital zusammenführte, sich der Personengesellschaft und der Gesellschaft mit einem Einschlag zur Kapitalgesellschaft hin bediente und, einer weit gestreuten Investitionsneigung entgegenkommend, attraktive Anlagemöglichkeiten schuf. Ferner organisierte der Unternehmer den Produktionsprozess und den Warenabsatz.

1534 J. A. S, eorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, Leipzig 1912, S. 248 f. (7. A. Berlin 1987). 1535 W. v. S, Eine »Industrielle Revolution« des Spätmittelalter? S. 113; derselbe auch zum Folgenden. 1536 H. A, Die Anfänge des Aktivhandels und der Tucheinfuhr aus Nordwesteuropa nach dem Mittelmeergebiet; E. A, Europäische Tuchausfuhr in die Mittelmeerländer im Spätmittelalter.

864

Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

9.2.1.1 Maschinenkraft – Technische Er ndungen und Innovationen Im 12. und 13. Jahrhundert waren zahlreiche Gewerbestädte und die großen Textillandschaften, die Produktionsgebiete für schweres Wolltuch in Nordwesteuropa und für Leinen um den Bodensee entstanden. Schwäbische Leinwand taucht bereits 1201 als tele de Alemania in Genueser Notariatsakten auf. Technische Grundlage der Expansion zur Exportwirtschaft war die Entwicklung gewerblicher Wasserkraftwerke für Walkmühlen und Mangen und des die Produktion beschleunigenden HorizontalTrittwebstuhls, der sich durch sein apparatives Prinzip, »das rhythmisch abgestimmte Zusammenspiel mechanisch gekoppelter Aggregate«, grundsätzlich von den bisherigen Vertikal- und Horizontalstühlen unterschied.¹⁵³⁷ Der neue zweischäftige Webstuhl ersparte einen Weber und beschleunigte den Webvorgang bei gewöhnlichem Tuch, sodass auf die Produktionskapazität eines Webers nunmehr mehrere vorbereitende Garnspinner kamen und das Spinnen innerhalb des gesamten Produktionsprozesses der Textilherstellung zu einem relativ teuren Produktionsabschnitt wurde. Das neue Spinnrad, das um 1280 nach Speyer gelangte, steigerte wiederum die Garnproduktion erheblich und verbilligte die gewöhnlichen Qualitätsklassen des Tuches. Weitere Verbesserungen brachten das Flügelspinnrad, das in den 1480er Jahren aufkam und dank der Verbindung von Spinnen und Spulen ein kontinuierliches Spinnen erst ermöglichte, und sehr viel später das seit 1580 verwendete Tretspinnrad.¹⁵³⁸ Grundsätzlich war Maschinenkraft begehrt, da infolge von Pestzügen Fachkräfte und Arbeitskräfte generell knapp geworden waren und die Löhne tendenziell anstiegen. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts beschleunigte sich die technologische Entwicklung. Zahlreiche, vor allem mit Wasserkraftaggregaten, vertika-

len unter- oder oberschlächtigen und horizontalen Mühlen, angetriebene komplexe, großtechnische Maschinen (Mühlen) mit Schwungrädern, Kurbelwellen, Nockenwellen und Pleuelantrieb sowie neue technische Verfahren kamen im Spätmittelalter entweder neu auf oder fanden jetzt weit gestreute Verbreitung. Nockenwellen wurden eingesetzt zum Betrieb von Schwanz- und Aufwerfhämmern, Erz -, Farbund Papierstämpfen, Walken und Blasebälgen, Schleif- und Drahtmühlen. Durch Anlage von Stauwehren und Mühlteichen wurde die Triebwasserausnutzung erhöht und der Wasservorrat über einen längeren Zeitraum hin verteilt, was dem wichtigsten und schon seit dem 11. Jahrhundert im raschen Transfer von West nach Ost weit verbreiteten, dem vertikalen Bautyp der Mühlen zugutekam, weniger den einfachen, nur zum Eigenbetrieb geeigneten horizontalen Mühlen. Gegenüber den unterschlächtigen Mühlen waren die oberschlächtigen durch das Gewicht, das von oben auf das Rad gelenkt wurde, in der Ausnutzung der Wasserenergie etwa doppelt so effizient. Hinzu kommen schwimmende Schiffsmühlen auf dem Fluss wie die bei Köln auf dem Rhein und Gezeitenmühlen. An kleineren Wasserläufen konnte eine Vielzahl von Mühlen die Strömung beträchtlich mindern und zu Streitigkeiten über die Nutzung der Energieressource und die Anzahl der zulässigen Anlagen führen.¹⁵³⁹ Windkraft und drehbare Windmühlen, die das ganze Jahr über arbeiteten, spielten im städtischen Bereich im Ganzen gesehen eine untergeordnete Rolle, doch nden sich gelegentlich Windräder auf Stadttürmen. Mit Muskelkraft von Mensch oder Tier wurden vertikale Treträder und horizontale Göpelwerke betrieben. Im Textilbereich fanden an neuen Techniken, Maschinen und Verfahren Verwendung: Vielspindelige, mit Wasser- oder Pferdekraft betriebene Zwirnmühlen, Flachsbrech-

1537 Hierzu und zum folgenden Überblick siehe W. v. S, Eine »Industrielle Revolution« des Spätmittelalters? S. 110 ff. 1538 Zu technischen Innovationen in der Textilindustrie siehe V. S, Technik im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, in: K.-H. L/V. S, Metalle und Macht, S. 520–528. 1539 M. M, Der Aachener Reichstrom (1.5.3).

Großgewerbliche Produktion und neue Produktionsbereiche 865

mühlen, Walkmühlen, Mangen, Flügelspinnräder, mehrschäftige Horizontaltrittwebstühle für komplizierte Texturen. In der Metallverarbeitung: Formgebende Maschinen wie Zain- und Blechhämmer, halb- und dann vollautomatische Drahtmühlen, Schleifmühlen, Pressen, Walzen, mit Wasserkraft betriebene Drehbänke für Geschütze und Pumpröhren; an Verfahren das Verzinnen großer Bleche; Bleimaschinen und Messingöfen. In die Entwicklung der Drahtziehmühle für grobe Drähte investierte als kapitalkräftiger und risikobereiter Financier der Nürnberger Fernkaufmann Rudolf Steiner. Er gehörte zu den sechzig reichsten Nürnbergern, handelte hauptsächlich mit Metallwaren und lenkte nun die technische Invention als Unternehmer. Der Nürnberger Rat subventionierte, indem er Steiner während der Entwicklungsphase mit einer Wassermühle in den Jahren 1408 bis 1415 den Mühlenzins erließ. Technisches Wissen brachten ein Mühlenfachmann und einige Drahtziehmeister ein. Die Er ndung und innovatorische Umsetzung kosteten zwar rein rechnerisch Arbeitsplätze gegenüber herkömmlichen Produktionsverfahren, doch die auf Draht beruhenden Metallerzeugnisse Nürnbergs fanden seit etwa 1420 einen derartigen Absatz, dass sich die Zahl der Drahtziehwerkstätten und der Folgegewerbe der Nadel-, Ring, Ketten- und Harnischmacher ganz erheblich vermehrten. Bereits 1418/19 waren zehn weitere Drahtziehmühlen bei Nürnberg errichtet worden. Zugleich stieg die Zahl der gleichzeitig arbeitenden Meister im gesamten metallverarbeitenden Großgewerbe in Zehnjahresdurchschnitten von 495 (14111420) und 574 (1421-1430) auf 1 335 (14911500) ständig kräftig an, um zur Mitte des 16. Jahrhunderts den Höhepunkt mit 2 057 Meistern zu erreichen.¹⁵⁴⁰ Getreide-, Loh- und Sägemühlen arbeiteten für Müller und Bäcker, für Gerber und Kürsch-

ner und für das Holzgewerbe. Aus der Lombardei kam die Papiermühle 1390 nach Nürnberg, wo Ulman Stromer mit Hilfe lombardischer Gesellen eine Papiermühle (Gleiß-) mit 18 Stämpfen betrieb, 1393 nach Ravensburg und 1431 nach Basel. Spindelpressen fanden Verwendung in der Münzprägung, bei der Herstellung von Kleinmetallwaren und Papier und im Buchdruck, Walzenpressen im Bilddruck. Das in China erfundene Schwarzpulver, das dort seit etwa 1300 als Schießpulver militärisch genutzt wurde, gelangte durch einen Technologietransfer von Ost nach West vermutlich über Venedig und Genua in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts an mehreren Orte West- und Südeuropas. Es bestand als langsam abbrennendes und hygroskopisches so genanntes Mehlpulver in schwankenden Mischungsverhältnissen aus einem Gemenge aus Salpeter, Holzkohle und Schwefel, wobei sich sehr viel später ein Idealverhältnis von 6,4 (7,4%):1,2 (14%):1 (11,6%) herausbildete. Der Salpeter musste zunächst aus Indien importiert werden und war daher teuer, bis er im 15. Jahrhundert in Europa durch biochemische Zersetzung aus einem feuchtgehaltenen Gemisch aus Tierharn, Stallmist, Kalk und Pottasche gewonnen wurde. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts entstanden Pulvermühlen, in denen die Bestandteile des Schwarzpulvers fein zermalen und vermischt wurden. In Deutschland kam es um 1420 zur Weiterentwicklung zum gekörnten Pulver mit erhöhter Explosivkraft. Durch die Körnung entmischte sich das Pulver nicht mehr beim Transport und enthielt genügend Luftzwischenräume für eine geeignete Verbrennungsgeschwindigkeit. Das Metallgewerbe produzierte nun Feuerwaffen¹⁵⁴¹ aller Art und verschiedenen Kalibers aus Bronzeguss, Schmiede- und Gusseisen: Handbüchsen, Hinterlader, Schlangen, Geschütze mit Lafetten. Die Entwicklung der Waffentechnik war hier vom muskelgespannten Bogen über die hebel- und windengespann-

1540 R. S, Die Geschichte des eisenverarbeitenden Gewerbes. 1541 V. S, Technik, S. 312–348; W. T, Die importierte Innovation: China, Europa und die Entwicklung der Feuerwaffen, in: U. L (Hg.), Europäische Technik im Mittelalter, S. 317–336.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

te Armbrust zur chemisch betriebenen Feuerwaffe fortgeschritten, die auf Dauer die wenig zuvor erfolgte Er ndung des durch Scharniere verbundenen Plattenharnischs anstelle des Kettenhemds obsolet machte. Im Bergbau, der nun auch unter Tage befahren wurde, kamen seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Bulgenkunst und die Heinzenkunst als Wasserhebemaschinen zur Hebung und Haltung des zu ießenden Grubenwassers sowie Saugpumpen zur Entwässerung tieferer Schächte zum Einsatz. In beiden Hebesystemen wurde in vertikaler Anordnung über eine obere auf einer Welle sitzende Scheibe und eine untere Scheibe eine mit Schöpfgefäßen verschiedener Art bestückte Endloskette nach unten geführt und förderte Wasser nach oben. Die ältere Bulgenkunst, ist nach den Bulgen, ledernen Eimern, benannt und von der Heinzenkunst dadurch unterschieden, dass diese jüngere Konstruktion eine Kette mit Wasserbällen durch eine Holzröhre nach unten führte. Angetrieben wurde die Welle durch menschliche Muskelkraft der Wasserknechte im Handantrieb oder mittels eines Laufrads, durch Pferdegöpel (Rosskunst) oder ein mit Aufschlagwasser betriebenes großes Wasserrad (Kunstrad). Die Heinzenkunst wurde nach vorausgegangenen Konstruktionen von ›Wasserkünsten‹, die etwa in einem Traktat des Konrad Gruter aus Werden (1393-1424) mit Illustrationen dargestellt sind¹⁵⁴², nach jahrzehntelangen Experimenten schließlich von Claus von Gotha zwischen 1453 und 1456 im Harz erfunden, setzte sich schnell durch und führte mit zu einer Wiederbelebung des Bergbaus, der seit der Mitte des 14. Jahrhunderts in vielen Gruben wegen des Wassers, das in die Stollen eingedrungen war, zum Erliegen gekommen war. Bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts waren Maschinen (Künste) im Einsatz, die Wasser aus abgesoffenen Bergwerksschächten heraufholten. Neben dem Bergbau benötigten aber

auch Salinen und die städtischen Brunnen und Gewerbe Wasserkünste, darunter auch archimedische Wasserschrauben, als technische Hilfen zur Hebung von Wasser. In der Metallurgie waren gemauerte, die Hitze steigernde Hochöfen, Stücköfen sowie Scheidekünste in den Saigerhütten und Legierungskünste entscheidende Innovationen.¹⁵⁴³ Eine Reihe feinmechanischer Instrumente für Zeitmessung, Himmelsbeobachtung, Erdvermessung, Nautik und für das Markscheiden, d. h. die Vermessung im Bergbau, wurden unter maßgeblicher Beteiligung der Wissenschaft entwickelt, der damit zugleich von hochentwickelten Fachhandwerken exakte Instrumente für ihren Übergang von der spekulativen zur beobachtenden, messenden und rechnenden Wissenschaft der Neuzeit bereitgestellt wurden. Tisch-, Wand-, Dosen- und Taschenuhren gehörten seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert zum Gebrauch der gehobenen Stände, die von der kirchlichen Zeitmessung damit unabhängig wurden. 9.2.1.2 Energieversorgung Erste Nachrichten über Holzknappheit sind bereits aus dem 13. Jahrhundert überliefert, die frühesten Nutzungsbeschränkungen, Rodungsverbote und Eingriffe in die Waldweide für schwindende Wälder aus dem 12. Jahrhundert, nachdem im Frühmittelalter noch über 90 Prozent des Landes von Wald überzogen waren. Das weitgehend unersetzliche Holz wurde für den Hausbau, insbesondere für die Fachwerkhäuser, den Schiffs- und den Wagenbau benötigt, ferner für die Herstellung vielerlei handwerklicher Gerätschaften, für Mobiliar und Holzgeschirr im Haushalt und für Fässer, während für die Beheizung vor allem Bruch- und Schwachholz verwendet wurde. Unmengen an Holz und Holzkohle verbrauchten die Verhüttung im Montanwesen, die Metallverarbeitung, die Kalkbrennereien und Ziegeleien, die Glasherstellung und

1542 D. L, Pumpen und andere »Wasserkünste«. 1543 A. L, Studien über den erzgebirgischen Silberbergbau; L. S, Der Seigerhüttenprozeß; K.-H. L/V. S, Metalle und Macht, S. 236–238 (V. Schmidtchen).

Großgewerbliche Produktion und neue Produktionsbereiche 867

die Verdampfung der Sole in den Salinen, sodass eine gravierende Holz- und Energieknappheit entstand. Städte versuchten, durch die Begrenzung von Einschlag den Wald zu schonen. Die Herstellung eines Zentners Eisen erforderte, um nur zwei Beispiele für Energieberechnungen herauszugreifen, etwa 15 Zentner Holzkohle oder 75 Zentner frisches Holz als Ausgangsmaterial; für die Jahresproduktion der Lüneburger Saline von 15 000 Tonnen Salz im 15. Jahrhundert mussten über 40 000 Kubikmeter Holz verfeuert werden. Dem Nürnberger Peter Stromer, dem Bruder des um 1390 darüber berichtenden Ulman Stromer, glückte 1368 in den Nürnberger Reichswäldern die Nadelwaldsaat hinsichtlich der Tannen und Föhren, die geeignet war, abgeholzte und verödete Waldteile systematisch wieder aufzuforsten und Laubwälder in dichte, schnell wachsende Forste zu verwandeln. Im Jahre 1398 säte man auch im Frankfurter Stadtwald, und 1426 engagierte der Frankfurter Rat einen Tannensäer aus Nürnberg. Nürnberg entwickelte sich zum wichtigsten Lieferanten von Waldsamen in Europa. Hinzu kam die Saat von Birken, später auch von Eichen und Buchen, von Laubbäumen, die für den Haus- und Schiffsbau benötigt wurden. Mit der Aufforstung konnte man in gewerblichen Ballungsräumen dem Mangel der Gewerbe an chemischer Energie aus Holz und Holzkohle entgegensteuern, wo man vom Standort her nicht auch, wie im Kölner Raum, Steinkohle einsetzen konnte. Der Abbau und die Nutzung von Steinkohle seit dem 14. Jahrhundert und in größerem Umfang im 15. Jahrhundert waren insgesamt von geringer Bedeutung, intensiver aber in der Umgebung von Lagerstätten wie in Lüttich, im Raum Aachen (Magerund Anthrazitkohle) und im Ruhrgebiet, etwas später auch in Zwickau und im Saargebiet. Die Standortgebundenheit konnte durch Transporte als Massengut auf dem Wasserweg über lange Strecken, wie nachweislich auf dem Rhein, überwunden werden. Stralsunder Schmiede be-

zogen sogar bereits im 13. Jahrhundert Steinkohle aus dem englischen Durham. Ungereinigte Steinkohle wurde von Schmieden und Kalkbrennern, aber auch von Bierbrauern und Bäckern eingesetzt. 9.2.1.3 Buchdruck mit beweglichen Lettern und Buchverlag Erst das Zusammentreffen verschiedener technischer, gesellschaftlicher und kultureller Entwicklungen verhalf einzelnen Innovationen zu ihrem vollen Durchbruch.¹⁵⁴⁴ Ein Beispiel dafür ist der typogra sche Buchdruck mit beweglichen, deshalb beliebig kombinierbaren und wiederverwendbaren Lettern, wie ihn der Goldschmied Johannes Gutenberg (Gens eisch) im Zusammenhang mit bestehenden technischen Ansätzen und Verfahrenselementen hauptsächlich in Straßburg entwickelte. Die Reproduktion durch den ganzseitigen Abzug von Holztafeln zu so genannten Blockbüchern, die gleichfalls um die Mitte des 15. Jahrhunderts aufkam, erwies sich demgegenüber als technologisch rückständig und wurde bald eingestellt. Das wichtigste Element der Er ndungen Gutenbergs stellt die Gießform dar, mit der sich maßgenaue identische Lettern in beliebiger Anzahl herstellen ließen. Dieses aus späteren Exemplaren rekonstruierte so genannte Handgießinstrument bestand aus Stempel, zwei Matrizen, einer Rohtype und einer Anzahl druckfertiger Typen, einem Ensemble, das zu den Handsetzkästen der Drucker bis zur Innovation heutiger anderer Verfahren gehörte. Eine weitere Entwicklung Gutenbergs war die für den Buchdruck geeignete Druckpresse, die der Drechsler Conrad Saspach 1438 in Straßburg im Auftrag Gutenbergs baute. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts erhielt der Buchdruck unter der organisatorischen Leitung des Johannes Fust, mit dem Gutenberg 1448 ein Unternehmen gegründet hatte, in Mainz einen ersten Schwerpunkt. Voraussetzung für die Rentabilität der Druckerpresse war, dass sich der Kostenanteil des

1544 L. W ., Medieval Technology and Social Change; S. C, O. W. F, A. K, A. SK, W. S, L. S-K/W. v. S, G. B.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

Materials an den Gesamtkosten der Buchproduktion in vertretbaren Proportionen bewegte. Dazu genügte es noch nicht, dass das teure Pergament oder pergamentartiges Papier (Velin) durch Papier ersetzt wurden; es musste preisgünstiges Papier sein. Die aus China stammende Papiertechnologie war in einem Transfer, der über 120 Jahre dauerte, über Indien, den Vorderen Orient und Afrika nach Europa gelangt, wo noch vor 1200 in verschiedenen Teilen der iberischen Halbinsel die Papierproduktion aufgenommen wurde. Für den Transfer nach Norden spielte die Verbreitung der Produktion in Oberund Mittelitalien seit dem 13. Jahrhundert und die dortigen Verbesserungen im 14. Jahrhundert die entscheidende Rolle. Wasserzeichen als Herkunfts- und Qualitätsmarken erlaubten eine qualitätssichernde Kontrolle, früh schon wurden die unterschiedlichen Formate normiert. Der früheste Beleg für eine deutsche Produktion ergeben die Basler Stadtrechnungen, wonach zwischen 1375 und 1380 Papier minderer Qualität mit der Herkunftsbezeichnung »Schopfheim« und »zur Eiche« gekauft wurde. Der Kostenvorteil von Papier gegenüber Pergament lag zwischen 1:8 und 1:25. Verbilligt war die Papierherstellung durch den Einsatz wassergetriebener Papiermühlen zur Bereitung der Papiermasse geworden und durch den Umstand, dass die Nachfrage nach Leinen im 14. Jahrhundert beträchtlich gestiegen war und durch die expandierende Produktion eine wachsende Menge an Hanf, Leinen- und baumwollhaltigen Barchentlumpen (Hadern) als Rohmaterial für die Papierherstellung an el. Reichte das Jahresgehalt etwa eines durchschnittlichen Professors der Rechte in Pavia kaum zum Erwerb zweier voluminöser handschriftlicher juristischer Bände oder von zehn medizinischen Büchern aus, so rückte die arbeits- und damit kostensparende Druckerpresse – anstelle des teuren Kopisten – das Buch, das die handkopierten Manuskripte ersetzte, in die Reichweite einer größeren Käuferschicht. Der Preis hing von der Au agenhöhe ab und unterschied sich bei den frühen Drucken mit niedriger Auflage noch kaum von den Handschriften. Die

1452-1455 gesetzte 42-zeilige Bibel Gutenbergs mit ihren 290 verschiedenen Schriftzeichen und 1 282 Seiten in einer einheitlichen Schriftgröße erreichte unter Mitarbeit von etwa 20 Arbeitskräften mit 35 Pergament- und rund 150 Papierexemplaren eine Au agenhöhe von annähernd 200 Exemplaren, die neunte deutsche Bibel in zwei Bänden des Nürnberger Druckers Anton Koberger von 1483 hatte bereits eine Au age von 500 Stück. Die Au agenhöhen stiegen gegen Ende des Jahrhunderts und konnten schon bis zu 1000 Exemplare gegenüber früher üblichen Au agen der Inkunabeln von durchschnittlich 300–400 Stück erreichen. Damit elen die Preise gegenüber den frühen Drucken 1470/80 etwa auf die Hälfte und machten Ende des Jahrhunderts nur noch ⅓ oder ¼ des Preises von etwa 1480 aus. Mit dem Preis sank aber auch die Qualität. Der Preis von Drucken konnte gegenüber Handschriften ein Verhältnis von 1:5 haben. Der Preis des Papierdrucks betrug ⅓ oder ¼ des Preises eines Pergamentdrucks. Der Käuferkreis war auf Welt- und Klostergeistliche, Gelehrte, wohlhabende Stadtbürger, Hof- und teilweise auch Landadelige beschränkt. Das städtische Leben, Handel und schriftliche Kommunikation sowie geistige Strömungen wie der Humanismus stimulierten die Nachfrage nach Literatur. Insgesamt stieß der Buchdruck auf ein gesteigertes Lesebedürfnis bei Bürgertum und Adel. Der Markt war auch dadurch erweitert worden, dass die Verbesserung der Brillenoptik, die Herstellung reiner Augengläser, die altersbedingte Weitsichtigkeit korrigierte und das Lesealter wesentlich hinausschob. Unter diesen Bedingungen breitete sich das Druckgewerbe mit dem Buch- und Bilddruck seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts schubartig aus und stieg zu einem überaus wichtigen Gewerbe in Europa auf. Die frühesten deutschen Druckereien entstanden in Mainz (1448/54), Straßburg (etwa 1459), Köln (1464), Basel (um 1468), Augsburg (1468), Nürnberg (1469/70), Speyer (1471), Ulm (1473) und Reutlingen (1478). Bis 1500 gab es etwa 300 Druckereien, und in mindestens 65 Städten

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wurde gedruckt. Dazu brauchte man Setzer, Schriftgießer, Illuminatoren, Rubrikatoren und Buchbinder. Relativ wenige der etwa 450 bekannten Buchdrucker des 15. Jahrhunderts kamen aus dem Goldschmiedegewerbe oder anderen Handwerken, hingegen waren über 100 an Universitäten immatrikuliert und zu einem Teil Kleriker. Der Umgang mit Manuskripten und die Entscheidung über eine Annahme zum Druck erforderten Gespür für die wichtigen rechtswissenschaftlichen Standardwerke, für die philosphischen, religiösen und literarischen Strömungen, die auch wirtschaftgeschichtlich bedeutenden spätscholastischen »Summen«, die humanistischen und reformatorischen Bewegungen, insgesamt einen beträchtlichen Bildungsgrad. Zu den Bildungsvoraussetzungen, die durch Beratung durch Gelehrte ergänzt werden konnten, mussten technische Kenntnisse, unternehmerischer Elan und Kapital treten, die oft von verschiedenen Personen eingebracht wurden. Bücher wurden auf dem Nahmarkt und besonders im Fernhandel durch reisende Agenten und Buchführer abgesetzt. Produktion und Absatz bargen erhebliche Risiken, die Zahl der Konkurse durch Fehlkalkulationen war nicht gering. Nur wenige Drucker gelangten zu Reichtum wie der größte deutsche Drucker des 15. Jahrhunderts, der Nürnberger Anton Koberger der Ältere (um 1440−1513)¹⁵⁴⁵, der Drucker, Verleger und Buchhändler in einem war, sein frühkapitalistisches Unternehmen hochgradig arbeitsteilig organisierte, Aufträge an namhafte Künstler vergab und mindestens zwei Papiermühlen betrieb. Neben Barkauf betrieb er Tauschhandel und arbeitete er in bedeutendem Umfang mit Krediten. Er unterhielt in zahlreiche Niederlassungen, die er von Nürnberg aus mit Hilfe der doppelten Buchführung kontrollierte, erteilte Druckaufträge an fremde Dru-

ckereien, kaufte neben seiner eigenen Produktion ganze Au agen oder Teilau agen anderer auf und fügte fremde Titel in sein Sortiment ein. Koberger soll in seiner nach mehrjährigem Experimentieren 1470 eröffneten Druckerei (Offizin) in Nürnberg einem möglicherweise übertriebenen Bericht von 1546/57 zufolge 24 Pressen unterhalten und 100 Gesellen beschäftigt haben. In Basel arbeiteten im späten 15. Jahrhundert in einer Offizin über 30 Gesellen. Koberger war über den örtlichen Platzhandel mit Ladengeschäft hinaus in großem Stil auf Fernhandel ausgerichtet und unterhielt in Lyon im Verbund mit einer fremden Druckerei seine wichtigste und expansive Filiale, die Frankreich, Spanien und Norditalien belieferte. Ferner hatte er Niederlassungen und Agenten in Basel, Regensburg, Passau, Wien, Prag, Budapest, Breslau, Krakau, Ofen und in Leipzig, von wo aus der Osthandel abgewickelt wurde. Als Niederlassungen werden ferner Straßburg, Hagenau, Paris, Mailand, Venedig, Antwerpen und selbst Bergen genannt. Der zentrale Inlandsmarkt waren die Frankfurter Messen, auf denen Koberger fast zwanzig Jahre lang regelmäßig in eigener Person erschien. In seiner Offizin entstanden, bis er 1505 die Druckerei zugunsten des Buchhandels und des Verlags ganz einstellte, etwa 250 Druckwerke verschiedenster Art. Unter ihnen ragen die in diesem Fall von Nürnberger Kau euten in Auftrag gegebene und von ihnen vertriebene, 1493 in lateinischer und deutscher Fassung erschienene »Weltchronik« (»Liber chronicarum/ Buch der Chroniken«) des Humanisten und Stadtarztes Hartmann Schedel (1440–1514) mit 1 809 Holzschnitten nach Entwürfen der Nürnberger Michael Wohlgemut und Wilhelm Pleydenwurff¹⁵⁴⁶ sowie die 1498 herausgebrachte lateinische und deutsche »Apokalypse« (»Apocalypsis cum guris«) mit Holzschnitten Albrecht Dürers, dessen Pate Ko-

1545 O. . H, Die Koberger. 1546 Die beiden Künstler sollten laut Vertrag von 1491 das druckfertige Manuskript mit dem lateinischen und deutschen Text und mit sämtlichen Holzschnittmodeln für 1 000 Gulden liefern. Über den Druck selbst schloss Anton Koberger mit Sebald Schreyer, dessen Schwager Sebastian Kammermeister und den Künstlern 1492 einen Vertrag. G. M, Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 122, S. 376 f. Schreyer und Kammermeister trugen zusammen die Kosten und das Risiko.

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berger war, künstlerisch heraus. Im Jahre 1478 hatte Koberger mit der »Lectura super authenticis« des Bartolus die juristische Verlagsproduktion eröffnet. In den Jahren 1483 bis 1504 druckte er die erste Gesamtausgabe des »Corpus iuris civilis« in Deutschland. Der Nürnberger Rat entschloss sich 1528/29, die kritsche Ausgabe der Pandekten (Digesten) Gregor Haloanders (Meltzer) zu subventionieren, nachdem die Ratsjuristen mit der Frage befasst worden waren und der Humanist Willibald Pirckheimer ein positives Gutachten erstattet hatte. Pirckheimer hatte nicht nur die wissenscha iche Qualität des Projekts gewürdigt, sondern auch auf den voraussichtlichen Absatz und wirtschaftlichen Erfolg abgehoben. Neben dem Unternehmen Kobergers gab es in Nürnberg im ausgehenden 15. Jahrhundert noch die Druckereien des Markus Ayrer, Hans Hoffmann, Friedrich Creusssner und des Peter Wagner. 9.2.1.4 Textilgewerbe: Barchent-, Leinen-, Tuch- und Seidenproduktion In zwei Wellen, 1368–85 und 1410–37, wurde durch eine quasi-merkantilistische Gründungsund Förderungspolitik in Mitteleuropa in Schwaben, Franken, Bayern, Österreich, Böhmen, Schlesien, Ungarn und am Rhein in etwa 60 Städten eine Baumwollindustrie etabliert.¹⁵⁴⁷ Barchent (ital. fustagni), ein Textilgemisch aus leinenen Kettfäden und Schussfäden aus Baumwollgarn, war geeignet, die teuren leichten Wolltuche, aber auch das preiswerte in Köln hergestellte Tirtey, dessen Kette aus Leinengarn oder Hanf bestand und einen Einschlag aus Wolle minderer Qualität hatte, zu ersetzen und eine breite Angebotslücke zu schließen. Barchent war im Vergleich zum Tuch billig und stieß deshalb auf eine große Nachfrage. Es war angenehm zu tragen und kam durch die Möglichkeiten der Einfärbung und durch seine Textur modischen Bedürfnissen entgegen. Die Barchentweberei kam unter Aneignung oberitalienischer Techniken 1368 nach Schwaben und gelangte von dort 1410–1414 nach Oberun-

garn und Unterfranken. Die östliche Hälfte des schwäbischen Leinwandreviers zwischen Schussen, Riss und Lech wandelte sich zu einem Baumwollrevier und erlebte dadurch vermutlich eine Steigerung des allgemeinen Lebensstandards. In den Städten Ulm, wo es 1470/71 und 1481 schon 90 Barchentmeister gab, Augsburg, Biberach, Memmingen und Kaufbeuren wurde die Barchentweberei zum wichtigsten gewerblichen Wirtschaftszweig. Um 1400 wuchs auch in Köln die Barchentproduktion rapide an. Nachzuweisen ist sie ferner in Krakau und noch vor 1436 in Breslau, wobei ein Transfer der Techniken aus Oberdeutschland anzunehmen ist. Es gelang den oberdeutschen Verlagshäusern, sich gegen die bis dahin marktbeherrschende oberitalienische und venezianische Fustagni-Industrie, die vor allem im Rohstoffbezug erhebliche Vorteile genoss, durchzusetzen und nicht nur dem Mailänder Barchent in Oberdeutschland den Rang abzulaufen, sondern den gesamten hansischen, nordwesteuropäischen und ostmitteleuropäischen Wirtschaftsraum zu erobern und sogar erhebliche Anteile in England und auf der Iberischen Halbinsel zu gewinnen. Den Erfolg gegen die Konkurrenz, die Kostenvorteile im Rohstoffbezug und durch ihr Handelssystem auch im Vertrieb besaß, verdankte die schwäbische Barchentindustrie anscheinend Lohnkostenvorteilen und vor allem ihrer durchschlagenden Produktionsund Vermarktungsstrategie. Diese gründete auf einer außerordentlich hohen Gütegewähr der standardisierten und in verschiedenen Produktionsabschnitten durch Warenschau kontrollierten Markenartikel mit den an internationalen Vorgaben ausgerichteten Güteklassen OchseLöwe-Traube-Brief. Dadurch konnte der Kaufmann nach Muster oder Probe, letztlich sogar weitgehend abstrakt nach der lokaltypischen Markenqualität in Verbindung mit der Farb- und Appreturangabe ordern. Dies ersparte Transport- und andere Vertriebskosten, rationalisierte die Disposition und entlastete die Lager-

1547 W. v. S, Die Gründung der Baumwollindustrie in Mitteleuropa.

Großgewerbliche Produktion und neue Produktionsbereiche 871

haltung, da die Ware direkt vom Produktionszum Absatzzentrum oder zu Detaillisten dirigiert und termingerecht geliefert werden konnte und nicht mehr in natura auf dem Markt, auf der Messe oder im Gewölbe des Fernhändlers Zwischenstation machen musste. Für den Ulmer und Augsburger Barchent kam hinzu, dass er in fast beliebiger Menge geliefert werden konnte. Das enorme Ausmaß der Produktionssteigerung lässt sich daran ablesen, dass in Augsburg 1385 etwa 12 000 Stück Barchent hergestellt wurden, 1410 aber bereits etwa 85 000 Stück. Zu dieser Steigerung trug die Produktion von Leinengarn und von ganzen Barchentstücken durch die Landweber (Gäuweber) bei, die aber der peniblen gebührenp ichtigen Warenschau in der Stadt mit ihren differenzierten Güteklassen unterworfen wurden. Die Landweber besaßen im agrarischen Umland ihre eigene Ernährungsgrundlage, verfügten über eigene Webstühle und saßen am Ort der erforderlichen Flachsproduktion sowie der Herstellung des Leinengarns, konnten insofern billiger als die Stadtweber produzieren. Dadurch entstand eine Konkurrenzsituation, die der Rat, von städtischen Webern und Gäuwebern bedrängt, in bestimmten Konjunkturlagen durch Restriktionen wie eine Erhöhung der Schaugebühren für Gäuweber und eine Begrenzung ihrer Webstühle (Ulm 1457) oder Marktverbote für ländliche Produkte (Memmingen 1467, 1482, [1489], 1512) zu beherrschen versuchte, doch hatte der Rat andererseits durch Lockerung von Restriktionen den Preiserwartungen, dem Mengenbedarf und den Vermarktungsinteressen der Verleger und Kau eute Rechnung zu tragen. Die Aufhebung des Marktverbots für die Leinenweber aus den Dörfern im Jahre 1518 führte in Memmingen zu einem von allen Zünften unterstützten Aufstand der Weber. Die Barchentproduktion erfolgte ganz überwiegend im Gezeug- oder Sachverlag, wobei die

Kau eute in Venedig die Baumwolle aus Ägypten, Kleinasien und Zypern beschafften, sie den Webern zur Verfügung stellten und diese auch mit einem Anteil an der Produktion bezahlten. Die Position der verlegenden Kau eute wurde in Ulm 1460/1465 durch Verordnungen gestärkt, die den Zwischenhandel mit Baumwolle untersagten, sodass diese von den Direktimporteuren bezogen werden musste. Außerdem schlossen sich führende Wollhändler teilweise in Handelsgesellschaften zusammen. Im Barchentverlag erwirtschafteten die Fugger und die Vöhlin & Welser den Grundstock ihres Kapitals, mit dem sie dann in den Bergbau und in das Montangeschäft eindrangen und sich in den Geldhandel einschalteten. Leinen wurde hauptsächlich in den typischen Flachslandschaften, den regenreichen Mittelgebirgsgegenden, hergestellt. Die Produktion erstreckte sich im Spätmittelalter auf folgende ausgeprägte Leinengebiete: – das schwäbische Gebiet von Schwarzwald und Bodensee her bis zum Lech und ins Ries mit den städtischen Zentren St. Gallen, Konstanz, Ravensburg, Biberach, Ulm, Kempten, Memmingen, Kaufbeuren und Augsburg, – das westfälisch-niedersächsische Gebiet mit den Zentren Coesfeld, Münster, Bielefeld und Osnabrück, – das Vogtland, – das östliche Mitteldeutschland (West- und Ostsachsen, Oberlausitz, Schlesien), wo sich die Leinenproduktion – ausweislich der Bildung von Leinenweberzünften – erst im 15. Jahrhundert zur vollen Blüte entwickelte.¹⁵⁴⁸ Zwischen entfernten Gewerbelandschaften kam es zu arbeitsteiliger Kooperation. Oberdeutsche Kau eute ließen in Sachsen einfache Leinwand herstellen, die dann in Oberdeutschland weiterverarbeitet und veredelt wurde. Die Produktion von einfacher Leinwand erforder-

1548 H. K, Deutsche Wirtschaftsgeschichte I, S. 170 f.; G. A/A. K, Leinenerzeugung und Leinenabsatz im östlichen Mitteldeutschland; H. A, Die Anfänge der Leinenindustrie des Bodenseegebiets; H. C. P, Leinwandgewerbe und Fernhandel der Stadt St. Gallen; F. W, Das Konstanzer Leinengewerbe.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

te relativ geringe Kosten für Gerätschaften, war in den Arbeitsschritten wenig komplex und anspruchsvoll und konnte nahezu vollständig als Heimwerk im Haus erfolgen. Etwas anders verhielt es sich bei hochwertiger Leinwand mit bestimmten Güteanforderungen und Standards. Zentren der in zahlreichen beru ich diversi zierten Arbeitsschritten erfolgenden und von der Qualität der Schafswolle bestimmten Tuchproduktion waren Aachen, Köln, Düren, Straßburg, Esslingen, Nördlingen (Loden), Nürnberg, Braunschweig, Salzwedel und Görlitz. Mit den nordwesteuropäischen Industrielandschaften konnten sie jedoch, was Qualität und Produktionsvolumen anlangt, zunächst nicht mithalten. Billigere Grautuche wurden mit ächenhaft-ländlicher Ausdehnung vom Mittelrhein nach dem Hessischen, im östlichen Mitteldeutschland von der Lausitz bis nach Schlesien hergestellt. Am Ober- und Niederrhein, in Schlesien und um Erfurt mit den »fünf Waidstädten« wurden, von der Stadt organisiert, als Sonderkulturen die Farbp anzen Krapp (rot) und Waid (blau) angebaut. Auch der teurere Sa or (Färberdistel) färbte rot. Für das Gelbfärben wurde Safran, vor allem aber das Gilbkraut oder Färberwau benutzt, beim Überfärben von Blau entstand Grün. Im Laufe des 15. Jahrhunderts wurden Produkte aus Afrika und Asien bezogen, so das von der südindischen Küste stammende Brasilholz (rot, schwarz) und Sandelholz (rot), doch dominierte bis ins 19. Jahrhundert der Krapp. Das zunächst noch teure Indigo (blau) setzte sich im 16. Jahrhundert durch und ersetzte Waid. Mit dem Aufschwung der Färberei infolge einer Verbesserung der Färbetechnik wurden Köln und Nürnberg zu Zentren der Färberei, die Alaun und Beizfarbstoffe einsetzte. Köln, wo bereits im 12. und 13. Jahrhundert Seidenstickerei, -weberei und -färberei heimisch geworden waren, stieg Ende des 14. Jahr-

hunderts zur führenden Seidenstadt nördlich der Alpen auf. Um 1500 stand das Seidengewerbe in Köln an der Spitze der Textilgewerbe.¹⁵⁴⁹ Die bis hin zur Ornamentierung liturgischer Gewänder verwendeten kunstvollen Kölner Borten erlangten internationale Geltung. 9.2.1.5 Metallgewerbe und Montanwesen Zwischen Nürnberg und der Oberpfalz mit ihren bis ins 11. Jahrhundert zurückreichenden Eisenrevieren, entlang der Pegnitz, dem Fischbach und der Regnitz, entstand im Spätmittelalter ein Revier mit Schmelzhütten, Hammerwerken, Drahtziehmühlen und Papiermühlen, in denen auch bäuerliche Hintersassen der Nürnberger Geschlechter arbeiteten.¹⁵⁵⁰ Um Augsburg und Sulzbach erwarben oder verlegten Nürnberger Kau eute und Unternehmer Eisenhämmer, Blech- und Drahtwerke. Die dort hergestellten Halbfabrikate wie Stangen, Schienen, Draht und Blech verarbeiteten Nürnberger Handwerker zu Fertigprodukten. Um 1390 wurde in Nürnberg der mechanische Drahtzug erfunden, um 1420 die Drahtziehmühle. Draht war Vorprodukt vieler unentbehrlicher Lebenshilfen, die wie der Nürnberger Qualitätsdraht in alle Welt gingen. Vermutlich wurde auch das Verzinnen großer Bleche in Nürnberg entwickelt. Eine Nürnberger Er ndung zumindest in der Endphase war zwischen 1450 und 1460 der im Stadtgebiet betriebene Saigerhüttenprozess im großen Maßstab, das kostengünstige Aussaigern der Silberanteile aus dem Rohkupfer unter Einsatz von Blei als Zuschlagmittel, wobei sich das Silber an das Blei band und danach durch Abschöpfen des erhitzten Bleis von diesem in einem so genannten Abtreibprozess getrennt wurde (ars con atoria argentum a cupro cum plumbo). Der Silberanteil am Rohkupfer lag etwa zwischen 0,6 und 1,8 Prozent, brachte jedoch in der Anfangszeit höhere Gewinne

1549 F. I, Die wirtschaftliche Stellung der Stadt Köln (9.0), S. 11–111. 1550 F.-M. R, Geschichtliche und wirtschaftliche Bedeutung der oberpfälzischen Industrie; H. A, Die wirtschaftliche Stellung der Reichsstadt Nürnberg, S. 48 ff.; W. v. S, Eine »Industrielle Revolution« des Spätmittelalters? D., Gewerbereviere und Protoindustrien; R. S, Die Geschichte des eisenverarbeitenden Gewerbes in Nürnberg; R. S, Das Eisengewerbe im Mittelalter. Siehe auch 9.2.1.1; 9.2.2.

Großgewerbliche Produktion und neue Produktionsbereiche 873

als der Kupferverkauf. Mit der Saigertechnik ließ sich innerhalb von hundert Jahren die europäische Silbererzeugung auf fast das Fünffache steigern, ehe die Vorkommen so weit erschöpft waren, dass sich eine weitere Ausbeute in Konkurrenz zu den Importen aus der Neuen Welt nicht mehr lohnte. Die Silberproduktion seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts senkte die passive Handelsbilanz gegenüber der Mittelmeerwelt, die vor den Silbereinfuhren aus der Neuen Welt für ihre Münzprägung auf Importe aus Mitteleuropa angewiesen war. Entwässerungs- und Fördereinrichtungen brachten seit dem letzten Drittel des Jahrhunderts einen rapiden Aufschwung im Bergbau. Der Stückofen steigerte die Eisenproduktion. Vom Erzbergbau ging eine nachhaltig stimulierende Wirkung auf andere Wirtschaftszweige aus. In den kosten- und kapitalintensiven Bergbau oss rheinisches, Nürnberger und italienisches Kapital. Michael von Köln erscheint 1311 als urborarius regni Bohemie et magister monete, der die Aufsicht über den gesamten Edelmetallabbau in Böhmen und Mähren und über die dortige Münzprägung ausübte. In Freiberg, neben Böhmen und Mähren dem zweiten großen mitteleuropäischen Silberzentrum, traten im 14. Jahrhundert italienische Financiers auf und übten zeitweise die Aufsicht über das gesamte Montanwesen aus. Nürnberger Kapital, Technologie und Organisationsvermögen drängten vehement nach außen.¹⁵⁵¹ Mit Finanzhilfe der Medici und Kölner Großkau eute konnten Nürnberger Firmen 1396 bis 1412, in einer Zeit, als Silber in ganz Europa knapp wurde und die Preise haussierten, eine oligopolartige Stellung in Ausbeute und Vertrieb der Bunt- und Edelmetalle der Karpatenländer erringen, allerdings nur wenig über die Schlacht bei Tannenberg (1410) hinaus. Als erste legten Nürnberger um 1450 die bei ihnen technisch vollendeten, aber vom Rat wegen des enormen Holzverbrauchs abgedrängten Saigerhüt-

ten in üringen an, 1461 in Schleusingen und 1464 in Steinach. Der Nürnberger Johann Koler erhielt 1478 zusammen mit Johann urzo aus Krakau und Johannes Pedek aus Bautzen die Hälfte der mansfeldischen Trostenfahrt zu Goslar gegen die von urzo zugesicherte Einführung eines verbesserten Verhüttungsverfahrens. Im Jahre 1479 errichteten Nürnberger eine Schmelzhütte in Eisleben. Nürnberger Saigertechnologie wurde 1467/68 in Brixlegg bei Rattenberg in bayerisch-landshutischem Gebiet und 1486 in Tirol erprobt. Nürnberger beteiligten sich an dem seit 1470 aufstrebenden sächsischen Silberbergbau in Freiberg, Annaberg und Schneeberg und waren in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Montanorten Sachsens und Böhmens mit der Gewinnung von Silber, Blei und Kupfer führend. Der Nürnberger Hans Harsdörffer war 1496–1499 oberster Münzmeister des Königreichs Böhmen mit Sitz in Kuttenberg, nachdem der Patrizier Hermann Groß († 1435) zu Beginn des Jahrhunderts bereits dieses Amt, das die Aufsicht über alle Bergwerke des Landes einschloss, innegehabt hatte. Andere Nürnberger besetzten die Urbar-, Münz- und Kammergrafenämter in Kremnitz und rückten in Schlüsselfunktionen der wichtigsten Goldgewinnungsstätten Europas ein. In der Goldgewinnung arbeitete Nürnberger Kapital in Böhmen, Schlesien (Reichenstein), der Grafschaft Waldeck (Corbach) und in Oberfranken (Goldkronach), im Zinnbergbau im bömischen Schlackenwald zusammen mit einem süddeutschen Konsortium im 16. Jahrhundert. Man trat durch den Erwerb von Kuxen, die teilweise stark gestückelte fungible Wertpapiere darstellten, in Gewerke ein, legte in Einzelfällen Hütten an, pachtete Gruben, bot schwachen Gewerken Verlag und versuchte, mit den Regalherren möglichst langfristige und monopolistische Lieferungsverträge abzuschließen. Diese so genannten Käufe mit Vorauszahlung

1551 W. v. S, Wirtschaftsleben unter den Luxemburgern; H. K, Gewerbe und Handel am Ausgang des Mittelalters, in: G. P, Nürnberg – Geschichte einer europäischen Stadt, München 1971, S. 97 f., 177.

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der kontrahierten Lieferung bedeuteten ein fundiertes Anleihesystem der öffentlichen Gewalten.¹⁵⁵² An den spekulativen Investitionen, die letztlich auch der Rohstoffversorgung des städtischen Gewerbes dienten, beteiligten sich nicht nur große Firmen, Handelshäuser und Konsortien, sondern auch Handwerker und Doctores der Jurisprudenz und Medizin. Seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert dominierten die Augsburger im österreichischen Montanwesen. 9.2.1.6 Arbeitsteilung und Arbeitszerlegung – Dezentrale Produktion Während des Spätmittelalters wuchs die geograsche Ausdehnung, Verzweigung und Ver echtung der Märkte bis in transkontinentale und überseeische Dimensionen.¹⁵⁵³ Immer breitere Käuferschichten steigerten die Nachfrage nach billigen Massenwaren, auch nach Waren des gehobenen Bedarfs. Dies stellte besondere Anforderungen an die gewerbliche Arbeitsorganisation und an die Unternehmungsform. Der Markt verlangte von der exportorientierten Produktion eine verlässlich gleichmäßige Qualität und hohe Standardisierung sowie ein Produktionsvolumen, das ein kontinuierliches Angebot gewährleistete. Tuche etwa mussten in Brügge bestimmte Maßen, Faltungen und Qualitäten in der Verarbeitung aufweisen, die auch in Privilegien für die Hansekau eute festgelegt waren. In der Wolltuchindustrie kam es früher als in anderen Gewerben zu einer horizontalen Arbeitszerlegung mit hochspezialisierten Arbeitsabschnitten. Da die einzelnen Arbeitsvorgänge ungleiche Anforderungen stellten und ungleich bewertet wurden, setzte sich zugleich eine vertikale Gliederung, eine Hierarchisierung des Produktionsprozesses unter Leitung der Webmeister durch, die wirtschaftliche Abhängigkeiten einer breiten Lohnarbeiterschaft schuf. Weben und Färben rangierten vor Wollwaschen, Kämmen, Verspinnen, Walken, Karden, Noppen,

Scheren, Netzen, Dekatieren usw. Unter den Hilfsgewerben bildeten in Köln nur die Walker bis 1371 und die Tuchscherer eine eigene Zunft. Auf einen voll ausgelasteten Webstuhl dürften 20–30 Hilfskräfte der Garnherstellung gekommen sein. Im Kölner Textilgewerbe waren im 14. und 15. Jahrhundert etwa 6 000–8 000 Arbeitskräfte, ein Siebtel bis ein Fünftel der Stadtbevölkerung, beschäftigt.¹⁵⁵⁴ Bei der Augsburger Zählung in der Weberzunft wurden 1475 etwa 550 Meister ermittelt, in den 1490er Jahren sollen zwischen 1 000 und 1 200 Weber die volle Zunftgerechtigkeit besessen haben, und 1536 waren 1 451 Meister in der Zunft eingeschrieben. Wo die in der Stadt produzierte Menge etwa an Garn nicht ausreichend schien, oder um die Produktionskosten durch billigeres Garn zu senken, kauften kaufmännische Verleger im Umland oder von weiter her Garn auf. Übermäßige Aufkäufe verursachten eine Verknappung für die örtlichen Weber und riefen dadurch förmliche Klagen wie 1423/24 in Konstanz hervor oder Proteste und Widerstand wie in Augsburg 1494 bis 1501 gegen das aus Mitteldeutschland und dem Ostseeraum beschaffte lange oder grüne Garn.¹⁵⁵⁵ Bürgermeister und Gemeinde der Stadt Konstanz verlangten auf eine Klage der Leinenweberzunft hin wegen Eingriffs in ihre Zunftrechte in einer Entscheidung von 1424 vom Färber, Garnaufkäufer und Verleger Ulrich Imholtz, dass dieser selbst, seine Frau, sein Gesinde oder sonst jemand an seiner Stelle in Konstanz oder in einem Umkreis von zwei Meilen kein Garn im Ganzen oder in Teilmengen kaufen oder in Auftrag geben (bestellen) dürften. Das von ihm herbeigeschaffte und anderswo gekaufte Garn sollten die örtlichen Leinenweber nach seinen Wünschen zu Leinwand wirken, aber gemäß den städtischen Maßen und Qualitätvorschriften mit Stab und Zeichen versehen. Imholz, der bereits 1423 durch Urteil der

1552 J. S, Studien zur Geschichte kapitalistischer Organisationsformen (9.3), S. 107. 1553 C. B, Wirtschaftsgeschichtliche Probleme des 15. Jahrhunderts; P. S, Handel, Macht und Reichtum, S. 282–291. 1554 F. I, Die wirtschaftliche Stellung der Stadt Köln (9.0), S. 48 f. 1555 J. R, Für den Gemeinen Nutzen (4.1–4.3), S. 107–118.

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Zunftmeister verp ichtet worden war, mit Garn nicht im Hause Geschäfte zu machen, sondern es wie die Leinenweber nur auf dem öffentlichen Markt zu kaufen, hatte der Zunft entgegengehalten, er könne sehr wohl für sein Geld kaufen, was er wolle und ihm nützlich sei.¹⁵⁵⁶ Imholtz, der nach einer Konstanzer Chronik ›in großem Gewerb und Glauben‹ saß, oh 1435 aus der Stadt, da er mit angeblich mehr als 80 000 Gulden überschuldet war, und kehrte 1437 zurück, nachdem er von Kaiser Sigmund freies Geleit erhalten hatte. Das Metallgewerbe kannte für komplexe Produktionen eine Arbeitszerlegung, schritt aber häu g zur Spezialisierung und Differenzierung von Produkttypen. Die kleinbetriebliche, zünftig regulierte Produktion blieb insgesamt im Wesentlichen erhalten, doch wurden mehrere Kleinbetriebe zur Überwindung der im Volumen beschränkten zünftigen Warenproduktion und zur Standardisierung gelegentlich unter einer einheitlichen unternehmerischen Leitung zusammengefasst. Produktivitätssteigerungen wurden durch arbeitsteilige Kooperation und durch Spezialisierung, durch Maschineneinsatz und großtechnische Anlagen mit beträchtlicher räumlicher Ausdehnung erzielt. So entstand die dezentrale hausgewerbliche Manufaktur mit zentralen technischen Einrichtungen wie Walkmühlen, Färbereibetrieben, großen Webrahmen oder Schmelzöfen. Der Einsatz von Kraft- und Arbeitsmaschinen, die Einrichtung von großtechnischen Anlagen mit großen Gebäudekomplexen und großem Areal, die Erstellung von Großserien mit entsprechender Rohstoffbeschaffung sowie Vorrats- und Lagerhaltung verlangten hohes, zu einem guten Teil langfristig gebundenes Kapital. Die betriebliche Disposition bedurfte sowohl der Steuerung der anspruchsvollen technischen Verfahren durch Ingenieure und technische Experten als auch der kaufmännischen

Buchhaltung durch lese- und schreibkundige so genannte Zwischenmeister, des Überblicks über die Abfolge betrieblich gesonderter, oft standortgebundener Produktionsstufen von der Rohstoffgewinnung und Vorbereitung über Halbfabrikation und Veredlungsstufen bis zur im mittelalterlichen Maßstab weltmarktfähigen Ware.¹⁵⁵⁷ Vertrieb und Vermarktung erforderten den Fernhandelskaufmann, der, von Faktoren in einem Netz von Filialen in Messeorten und Exporthäfen unterstützt, die schwierigen Transportprobleme auf transkontinentalen und überseeischen Routen löste, die Usancen der Messen und der überregionalen Absatzmärkte beherrschte, die vom Markt nachgefragten Qualitäten und Mengen abschätzte und dem Wandel von Nachfrage, Bedarf, Geschmack und Mode nachspürte. Dies ist auch der Ansatz dafür, dass der Exporteur zum Leiter der Produktion werden konnte. Die Produktion für ferne Märkte wirkte stark auf Verfassung und Organisation des Handwerks zurück. »Wo der Fernabsatz beginnt, da fängt eben das alte Handwerk an, über seinen ursprünglichen Charakter hinauszuwachsen, da beginnt der schwere Kampf innerhalb der Zunft, ob der ärmere Meister sein Produkt an den reichen Mitmeister zum Fernvertrieb verkaufen dürfe; da beginnen die meist fehlgeschlagenen Versuche eines genossenschaftlichen Fernabsatzes (wie z. B. in Iglau), da fängt das Handwerk an, in Hausindustrie überzugehen«¹⁵⁵⁸, zumal im Textilgewerbe, wo die häusliche Produktion nie ihre Bedeutung ganz verloren hat und auch die ländliche Konkurrenz nie ganz oder überhaupt nicht ausgeschaltet worden war. Hier gingen reiche Zunftgenossen auf das Gebiet des Großhandels über, ohne dass dem rechtliche Hemmnisse entgegenstanden, denn der Großhandel war in der Regel frei.

1556 F. H, Die Konstanzer Zünfte (8.2‒8.4), Nr. 25, S. 91 f.; B. F, Ulrich Imholz. 1557 W. v. S, Eine »Industrielle Revolution« des Spätmittelalters? S. 113 ff., 122 ff; F. I, Die wirtschaftliche Stellung der Stadt Köln (9.0), S. 119. 1558 G. S, zit. nach J. S, Zur Genesis des modernen Kapitalismus (9.3), S. 217.

876

Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

9.2.2 Der Verlag Die Vermittlung von gewerblicher Produktion, Investitions- und Betriebskapital und Handel erfolgte vielfach durch das Verlagssystem.¹⁵⁵⁹ Der Ausdruck »Verlag« kommt von »vorlegen«, d. h. Kredit geben. Der Verleger – ein Großkaufmann, eine Gesellschaft oder ein aus dem Kreis der Zunftgenossen zum Unternehmer teilweise mit »Unternehmerwerkstätten« aufgestiegener Handwerker – kreditiert dem produzierenden Handwerker Geld- oder Sachkredite für die Betriebsgründung, eventuell für den obligatorischen Mindestvermögensnachweis, für Arbeitsgeräte, technische Einrichtungen, Lieferungen von Rohstoffen und Halbfertigprodukten, Betriebsmittel aller Art sowie Verkaufserlöse durch Vorauszahlung auf künftige Produktionsleistungen, die er steigert und sich sichert. Der Verleger beauftragt den Produzenten entsprechend seiner Marktkenntnis und indem er sich in unterschiedlichem Ausmaß in die Leitung des Produktionsprozesses einschaltet, mit der Herstellung von Waren in bestimmter Menge und der Qualität von Kaufmannsgut. Diese Waren nimmt der Verleger komplett oder in bestimmten Produktionsmengen zu einem im Wesentlichen von ihm festgesetzten Preis ab. Scharf ausgeprägt war der Verlag vor allem in der Tuchherstellung mit ihrer arbeitsteiligen Produktion und einem langen, vom Verleger koordinierten Fertigungsprozess. Stellt der Verleger Produktionsmittel und Arbeitsmaterial bereit, so handelt es sich um den Gezeug- oder Sachverlag im Unterschied zum Geldverlag. Der Sachverlag nahm zwar im späten 15. Jahrhundert zu, war aber durchaus nicht die Regel. Es überwog wohl die Zahl der Handwerker, die über eigenes Arbeitsgerät wie Webstuhl oder Schmiedeeinrichtung verfügten und sich damit wirtschaftlich und sozial einen Rest von Selbständigkeit und Ansehen erhal-

ten konnten. In Nürnberg fand anfangs nur der Sachverlag die Anerkennung des Rats, der um 1300 den Geldverlag untersagte, den Sachverlag aber erlaubte, nachdem er früher innerhalb einer Siebenmeilenzone den Verlag grundsätzlich verboten hatte. In der kreditbedürftigen und kreditabhängigen spätmittelalterlichen Wirtschaft war der kapitalstarke und handelserfahrene Verleger unter den gegebenen Bedingungen in exportorientierten und kapitalintensiven Branchen unter verschiedenen Gesichtspunkten eine notwendige, wirtschaftsfördernde Erscheinung. Dies war unter folgenden Voraussetzungen der Fall: 1. Die Rohstoffe sind im Einkaufspreis teuer und die Beschaffung verursacht hohe Transportkosten. Sie müssen aus der Ferne über Messe- und große Handelsplätze, die vom Handwerker nicht besucht werden können, bezogen werden. Der Verleger beschafft und kreditiert Rohstoffe wie hochwertige Wollsorten englischer und anderer Herkunft, Seide, die über Venedig aus den Inseln des venezianischen Kolonialreichs bezogene Baumwolle, Farbstoffe, Beizmittel (Alaun), Rohmaterial für Silber- und Goldbrokat oder für die Messingherstellung. Ähnliches gilt für Halbfertigprodukte, die weiterverarbeitet und veredelt werden. 2. Der Absatz erfolgt mit Transportkosten auf den großen Messeplätzen in Frankfurt und Antwerpen, auf den Brabanter Messen und auf europäischen Märkten, die nur mit großen Produktmengen gleichartiger Güter zugänglich sind. a) Der Handwerker kann diese Plätze nicht aufsuchen. Er kommt an die fernen Märkte nicht heran und ist nanziell der Messgewohnheit, die verkaufte Ware bis zum nächsten Messtermin zu kreditieren, nicht gewachsen, auch nicht den Markt- und komplizierten Geldverhältnissen.

1559 F. I, Stadt und Umland im Spätmittelalter; R. H, Frühformen von Verlag und Großbetrieb. Holbach de niert den Verlag als »die dezentrale Fertigung (oder Gewinnung) von bestimmten Produkten durch in der Regel ohne direkte Beziehung zum Konsumenten arbeitende, rechtlich mehr oder weniger selbständige Produzenten für einen oder mehrere, zumindest Teile der Finanzierung oder Ausstattung übernehmende Abnehmer und Weiterverkäufer« (S. 33).

Großgewerbliche Produktion und neue Produktionsbereiche 877

b) Der Handwerker fertigt unter den Bedingungen der Zunft nur kleine Produktmengen. Der Verleger fasst die begrenzten Einzelproduktionen zu absatzfähigen großen Mengen zusammen. 3. Die Produktion erfordert a) spezielle Unternehmerfunktionen in arbeitsbeteiligten Gewerben (Textilgewerbe, Bergbau), wobei vielfach diejenigen dominieren, die am Ende des Produktionsprozesses stehen; b) moderne mechanische oder chemische Einrichtungen und Produktionsanlagen in Bergbau, Metallgewerbe, Färberei und Druckerei, für die das Investitionskapital vom einzelnen Gewerbetreibenden oder durch einen genossenschaftlichen Zusammenschluss nicht aufgebracht werden kann und die von der Kommune nicht bereitgestellt werden. Es handelt sich vielfach um ausgesprochene Investierungsbetriebe, die wartungsbedürftig und reparaturanfällig sind, die von Fachleuten betreut werden müssen, entsprechend große Produktmengen und -serien au egen und der hohen Kosten wegen einen hohen Absatz brauchen; c) moderne technische Verfahren. Sonderformen des Verlags sind: – Im 15. Jahrhundert der halböffentliche, d. h. der vom Rat kontrollierte und geschützte Verlag der Kölner Leder- und Eisenwirte. Es handelt sich um kapitalkräftige Kaufleute oder Handwerker-Verleger mit einem beträchtlichen Kreditvolumen, die einerseits die Lieferungen der auswärtigen Löher und Hüttenwerker, Hammer-, Blech- und Stahlschmiede bevorschussen oder bar bezahlen, andererseits deren Roh- und Halbfertigwaren gegen Kredit an Kölner Leder-, Kürschnerund Eisenhandwerker zur Weiterverarbeitung abgeben. – Der in das 16. Jahrhundert weisende Zunftkauf . Darunter ist ein kollektiver Lieferungsvertrag zu verstehen, der unter Mitwirkung und Preiskontrolle des Rats zwischen Kaufleuten als Verlegern und der Zunft abge-

schlossen wird. Der Vertrag ist kündbar, tatsächlich aber von langer Dauer. Er bindet den einzelnen Handwerker ohne seine Zustimmung nicht und braucht sich auch nicht auf seine gesamte Produktion zu erstrecken. Der Zunftkauf als Lieferungsgeschäft wurde in Oberdeutschland entwickelt, erfuhr dann aber in Kursachsen, in der Lausitz und in Schlesien vor allem hinsichtlich der Produktion und des Absatzes von Leinen seine volle Ausbildung. Formen des Zunftkaufs nden sich aber auch im Montanbereich und im Metallgewerbe wie etwa in Köln. Durch den Zunftkauf beteiligten sich Zünfte in einem gewissen Maße an einem kontrollierten Strukturwandel in Produktion und Arbeitswelt. Verlagsverhältnisse wurden vielfach gegenüber Einzelnen oder ganzen Gruppen verschuldeter Handwerker durch Gewährung von Produktiv- oder Konsumtivkrediten begründet. Gesellen wurde – im Sachverlag – eine eigene Existenz ermöglicht, doch gerieten sie aus der Abhängigkeit vom Meister in die des Verlegers. Verlegerische Beziehungen gab es im Übrigen auch gegenüber landwirtschaftlichen Produzenten. Bevorschusst wurden Arbeitsleistungen in der Urproduktion bei wichtigen Handelsgütern der Hanse wie Holz, Pottasche, Pech und Teer. Der wirtschaftsgeschichtlich innovative und leistungsfähige Verlag steigerte das Produktionsvolumen und verbesserte die Beschäftigungslage. Er setzte eine Vielzahl von Menschen in Arbeit und Brot und erhöhte insoweit den Lebensstandard. Auf der anderen Seite schuf der Verlag wirtschaftliche und soziale Abhängigkeiten, die bis hin zu nackter Ausbeutung reichten. Bei einer zu geringen Entlohnung bestand allerdings die Gefahr, dass Handwerker in schlechter Qualität produzierten und Rohstoffe abzweigten. Der Nürnberger Rat begründete sein Verlagsverbot mit der schlechten und unbrauchbaren, nicht wie in der Stadt ordentlich kontrollierten und gerügten Arbeit und der Konkurrenz von Handwerkern in den umliegenden Dörfern und Weilern. Der Meister konnte, sofern

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

ihm nicht ein Rest preiswerklicher Produktion für den eigenen Absatz blieb, zum unselbständigen Lohnarbeiter herabsinken. In größerem Umfang traten Tagelöhner an die Stelle quali zierter Handwerker. Mit den Lumpensammlern und -sortierern in den Papiermühlen erwuchs zudem ein diskriminiertes Hilfsarbeiterproletariat in erbärmlicher materieller Lage ähnlich den Wollwäschern im Textilgewerbe. Der Verlag schuf asymmetrische Beziehungsverhältnisse. Der Verleger diktierte den Preis, genauer den Stücklohn, wobei es zu Auswüchsen der Lohndrückerei und der Produktentlohnung kam, während der Handelsgewinn des Kaufmanns bei Produktionsleitung in den Unternehmergewinn des Verlegers überging und zu Kapitalakkumulationen großen Stils führte. Da sich die Verlagsverhältnisse in vielfältigen Stufungen ausgestalteten, waren Fremdbestimmung und wirtschaftliche Abhängigkeit von unterschiedlicher Intensität. Der Kaufmann beschaffte Rohstoffe wie etwa Rohwolle, ließ von Lohnspinnereien gegen Stücklohn Garn spinnen, das Garn dann von Webern verweben; er nahm das rohe Wolltuch als Zwischenprodukt wiederum gegen Stücklohn ab, gab es zu weiteren Veredelung vom Färben und Tuchscheren bis zur Appretur an andere darauf spezialisierte Handwerker weiter und nahm das fertige Produkt zur Vermarktung ab. Eine Erscheinung ohne eindeutigen Zusammenhang mit dem voll entwickelten Verlag sind die Stückwerker, arme Meister, die es zu keinen Produktionsmitteln gebracht hatten oder keine mehr besaßen und für andere Handwerksmeister im Stücklohn arbeiteten. Sie wurden dort eingesetzt, wo die Konjunktur eine rasche Produktionssteigerung erlaubte. In manchen Fällen arbeiteten auch Familienangehörige mit. Der Verlag begründete oder förderte in einzelnen Wirtschaftsbereichen eine arbeitsteilige Kooperation zwischen dem kleinstädtischländlichen Umland mit billigen Arbeitskräften

und der großen Stadt als Gewerbe- und Handelszentrum, zugleich mit ihrer beträchtlichen Binnenkaufkraft und ihren nachfrageintensiven Verbrauchermärkten. Die große Stadt wandte sich im 15. Jahrhundert zunehmend von der Urproduktion ab und bezog über den Verleger aus dem Umland Rohstoffe, vorbereitete Rohmaterialien und Halbfertigwaren zur Weiterverarbeitung und Veredlung. Eine Arbeitsteilung gab es in der Tuchproduktion und später in der Seidenweberei zwischen ländlicher Spinnerei und städtischer Weberei, zwischen ländlicher Leinwandproduktion und der Verarbeitung zu Barchent in der Stadt. Der Übergang der ländlichen Gewerbe zur Weberei – im östlichen Mitteldeutschland entstanden ganze Weberdörfer – im Verlag der städtischen Kau eute führte jedoch immer wieder zu Spannungen und gelegentlich zu schweren Kon ikten mit dem städtischen Zunfthandwerk, das sich in seinen Erwerbschancen bedroht sah. Der Verlag hatte aber wesentlichen Anteil daran, dass die zentrale Stadt und das Umland unter städtischer Steuerung der Produktion zu einer »einigermaßen genau umgrenzbaren Wirtschaftseinheit«¹⁵⁶⁰ geformt wurden. Beispielhaft dafür sind die mittelalterlichen Großstädte Köln und Nürnberg mit ihrem ausgewogenen Verhältnis von Exportgewerbe und Fernhandel. Der Stadt Nürnberg, deren wirtschaftliches Engagement im Umland skizziert wurde, kam dabei ihr ausgedehntes Territorium zugute. »Wegen der unzureichenden Ausstattung Kölns mit gewerblich nutzbarer Wasserkraft waren vor allem Textil- und Lederhandwerk früh auf die Möglichkeiten angewiesen, die das wasserreiche Bergische Land z. B. für die Entwicklung von Walkmühlen, Lohmühlen, Färbereiund Bleichanlagen bot.«¹⁵⁶¹ Kölner Unternehmer kontrollierten im Zusammenwirken mit Aachener Unternehmern die Blei- und Eisengewinnung der Nordeifel fast völlig oder zumindest weitgehend. Kölner Kaufmannskapi-

1560 H. A, Die wirtschaftliche Stellung der Reichsstadt Nürnberg, S. 194 ff.; F. I, Frühe Verlagsbeziehungen, S. 182. 1561 F. I, Die wirtschaftliche Stellung der Stadt Köln (9.0), S. 322.

Großgewerbliche Produktion und neue Produktionsbereiche 879

tal nahm Ein uss auf siegerländische und nassauische Eisenproduktionsstätten, auf die Stahlreviere von Breckerfeld, Attendorn und Radevormwald. Durch Monopolverträge sicherte sich Köln 1463 die gesamte Produktion der dortigen Stahlschmiedegilden. Auch das märkische Sauerland mit Altena, Lüdenscheid und Iserlohn als Zentren der Drahtherstellung lieferte vorwiegend nach Köln. Verlag und Kapitalinvestitionen der Stadt hoben die gewerbliche Produktionskraft des Umlands und sicherten zugleich die Versorgung des städtischen Gewerbes mit Rohstoffen und Halbfabrikaten. Im Metallbereich etwa erfolgten Investitionen von Kapital und Technik durch – Kreditierung von Rohmaterialien auf künftige Lieferungen; – Aufbauleistungen für Hütten-, Blas- und Hammerwerke, Schleif- und Poliermühlen, Schmelzöfen und Manufakturen; – Kauf eigener derartiger Einrichtungen; – Erwerb von Hütten- und Bergwerksanteilen. Auf diese Weise bezog die Stadt in einem vom 14. bis 16. Jahrhundert reichenden Vorgang das Umland in den von ihr gesteuerten Produktionsprozess ein und machte es von sich abhängig, doch erfolgte allmählich auch eine Auslagerung aus der Stadt zugunsten ländlicher Konkurrenz und eine »Rustikalisierung« (Werner Sombart) industrieller Gewerbe. »Im Laufe der Entwicklung – Ansätze werden schon im 15. Jahrhundert deutlich – verstärkte sich dadurch die Wirtschaftskraft, die Eigenbedeutung des Landes gegenüber der Stadt auch auf dem Gewerbesektor so erheblich, dass sich die Gewichte zuungunsten der Stadt, vor allem der großen mittelalterlichen Stadt, verschoben und die Wirtschaftseinheit von Stadt und Umland zerbrach. Die sogenannte Protoindustrialisierung¹⁵⁶², für die das städtische Kapital und Ge-

werbe vom 14. bis 16. Jahrhundert die Voraussetzungen schufen, begann nicht in den großen Städten des Mittelalters, sondern in deren Umland, im ländlichen und klein- bis mittelstädtischen Bereich, der sich auch für merkantilistische Anstöße zur Produktionserweiterung wesentlich offener zeigte.«¹⁵⁶³ Der Verlag ist eine europäische Erscheinung zwischen der einfachen gewerblichen Warenproduktion zumeist im Rahmen der zünftigen Arbeitsorganisation und der ausgebildeten Manufaktur und nimmt in einzelnen spätmittelalterlichen Industrien den Charakter einer dezentralen Produktion oder Manufaktur an. Anfänge des Verlagswesens sind für das Reich bereits für das 14. Jahrhundert gut belegt. Es breitete sich im Verlauf des Spätmittelalters schrittweise in bestimmten Sektoren des Wirtschaftslebens weiter aus und gewann starke Bedeutung im ausgehenden 15. Jahrhundert in Süd-, Westund Mitteldeutschland, nicht so stark im niederdeutschen Hanseraum. Der Handwerkerverleger, der Berufsgenosse oder auch Angehöriger verwandter oder fremder Berufe sein konnte, folgte in vielen Fällen als Typus dem des kapitalkräftigen Fernhändlers in zeitlichem Abstand. Der Handwerkerverleger trat dort auf, wo die Verfügbarkeit der Rohstoffe größer, der Zugang zum Absatz leichter war. Daneben verlegten Handwerksmeister größerer Städte Berufskollegen in kleineren Städten. Anfänge des Tuchverlags reichen in den großen Tuchlandschaften Nordwesteuropas, in Flandern, Brabant, im Maas- und Niederrheingebiet bis ins 13. Jahrhundert zurück. Spätestens seit der Mitte des 14. Jahrhunderts ist der Verlag dort bei einer entsprechenden Höhe der Produktionsziffern, einer entsprechenden Zahl von Beschäftigten und bei Fernabsatz die Regelform von Produktion und Absatz.

1562 Zu dem nicht unumstrittenen, hinsichtlich der empirischen Größenordnungen übertriebenen theoretischen Konzept der Protoindustrialisierung vornehmlich des 17. und 18. Jahrhunderts siehe W. M, Protoindustrialisierung oder Protoindustrie. Vom Nutzen und Nachteil zweier historischer Konzepte, in: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), S. 275–303; knapp: M. N, Von der atlantischen Handelsexpansion bis zu den Agrarreformen, 1450–1815, in: . (Hg.), Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 144 f.; W. R, Gewerbe in der frühen Neuzeit, München 1990, S. 81–91. 1563 F. I, Frühe Verlagsbeziehungen, S. 183.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

In der Kölner Tuchproduktion setzten sich keine Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Tuchhändlern und Handwerkern durch, da Wolle aus der näheren Umgebung bezogen werden konnte und die aufstrebenden, nahe gelegenen Messen von Brabant und Frankfurt am Main dem einzelnen Weber die Möglichkeit von Wolleinkauf und Tuchabsatz boten, sodass die Weber die kaufmännischen Aufgaben selbst erfüllen konnten. Das Wollenamt besaß noch in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in der Stadt das Verkaufsmonopol. Hingegen bildeten sich innerhalb der Kölner Weberzunft verlegerische Abhängigkeiten zwischen armen und reichen Webern heraus. Der kaufmännische Verlag bezog sich auf die kleinstädtischen Gewerbe des Umlandes. Im Seiden- und Barchentgewerbe und in der Garnherstellung setzten sich jedoch infolge ihrer starken Stellung bei Rohstoffbezug und Fernabsatz Kau eute als Verleger durch. In Straßburg gingen aus dem Kreis reicher Handwerker die Tucher hervor, die Spinner und Weber für sich arbeiten ließen und nur noch die Produktion leiteten und kontrollierten. In Görlitz, einem Zentrum der Tuchproduktion, entstanden neben den selbständigen Handwerksbetrieben in der Hand von Kau euten und reichen Meistern be ndliche Meistereien, Betriebe mit manufakturähnlichem Charakter, in denen abhängige Meister, gelernte und ungelernte Hilfskräfte Tuch im kompletten Fertigungsprozess herstellten. Die Leinenproduktion mit starkem Hausgewerbe und die Barchentproduktion, die in Schwaben und Oberfranken Stadt und Land erfasste, war zu einem guten Teil verlagsmäßig organisiert. In Rostock schlossen sich 1417 mehrere Kau eute zu einem Konsortium zusammen, das 14 Mühlen aufkaufte und mit der Hilfe eines Müllermeisters bewirtschaftete. Auch Schiffswerften waren in Rostock in den Händen von Kau euten. In anderen Hansestädten nden sich vermutlich im Schiffsbau verlagsähnliche kapitalistische Produktionsverhältnisse mit manufakturähnlichem Charakter. Verlagsbildungen oder Ansätze dazu gab es ferner im Bauge-

werbe seit dem 15. Jahrhundert, in der Bernsteinverarbeitung, im holzverarbeitenden Gewerbe, in der Böttcherei der Seestädte, in der Papierherstellung und im Buchdruck. Vor allem drang der Verlag auf der Basis großgewerblicher und teilweise bereits verlegerisch organisierter Rohstoffgewinnung und Halbfabrikatproduktion in die stark vom Ort der Rohstoffgewinnung abhängige Metallverarbeitung ein. In Metallverarbeitung und Textilgewerbe ndet er sich auch im niederdeutsch-hansischen Raum, der an sich maßgeblich von der einfachen Warenproduktion für den lokalen Markt geprägt ist, so etwa bei den Klingen- und Messermachern Solingens, den Messerern Breslaus, bei den Messing verarbeitenden Beckenschlägern Braunschweigs und sogar in der Buntmetallverarbeitung Lübecks und anderer Seestädte. In großem Stil breitete sich das Verlagswesen im Zusammenhang mit einer starken Nachfragesteigerung in den Metallgewerben Kölns und Nürnbergs aus, im Buntmetallgewerbe und bei der Herstellung von Waffen, Rüstungen und Kleineisenwaren. Stark nachgefragt wurden Harnische, insbesondere einfache Harnische für Fußkämpfer, von denen in den Städten in der Regel jeder Bürger ein Exemplar besitzen musste und mit denen die europäischen Söldner versorgt wurden. Nürnberg schloss mit seiner Produktion im 14. Jahrhundert zu der Mailands auf. Handwerklich zuständig war der Plattner, doch führten der Export und die Bestellungen mit hohen Stückzahlen zur standardisierten Serienproduktion, zur Zerlegung in dezentrale Fertigungsschritte, Spezialisierung auf einzelne Teile und zur Finanzierung der aus der Oberpfalz und der entfernteren Steiermark bezogenen Rohstoffe und von Halbfertigprodukten durch nanzkräftige Kau euteVerleger, die auch die Vermarktung mit langen Transportwegen übernahmen. Es gab aber auch schon Handwerker in verlegerischer Position, die andere für sich arbeiten ließen. Verbote, in Verlagsform für andere Meister oder für Kau eute zu arbeiten und sich von ihnen wirtschaftlich abhängig zu machen, gehören zum eisernen Bestand spätmittelalterlicher

Einzelhandel- und Kleinhandel

Zunftordnungen. Dennoch kam es vor, dass sich – wie gegenüber der Landwirtschaft – »ein fest umrissenes Vorschusssystem womöglich sogar unter behördlicher oder zünftiger Mitwirkung einbürgerte und ausdrücklich organisiert wurde«.¹⁵⁶⁴

9.3 Einzelhandel- und Kleinhandel (Krämer, Höker) Der Krämer war Detaillist, der größere Mengen in kleinere aufteilte und bestimmte Importwaren verkaufte. Typische Gruppen von Kramwaren sind mit zahlreichen Diversi kationen (a) Spezereien und Drogen (Apothekerwaren), (b) Textilwaren (Schnitt- und Fertigwaren) und (c) Kurzwaren aus Eisen und verschiedenen Metallen, Holz, Leder, Stein und Bein sowie Papier.¹⁵⁶⁵ Der Warenlagerstruktur nach ist der Krämer Gemischtwarenhändler mit klarer Abgrenzung gegenüber dem Kleinhandel mit Lebensmitteln. Eine fachliche Aufgliederung der Krämer in Vertreiber von Apothekerwaren, Gewürz- oder Eisenkrämer setzte sich im strengen Sinne oft erst seit dem 16. Jahrhundert stärker durch. Bevor der Beruf des selbständigen Buchhändlers aufkam, nahmen sich die Krämer des Büchervertriebs an. Kramwaren wurden im Hinblick auf die kleinhändlerische Detaillierung und die geringen Einzelwerte Pfennwerte (Pfennigwerte) genannt. Pfennwerte wurden vor allem an den gemeinen Mann verkauft. Während sich der wohlhabende Bürger auch auf Wochen- und Jahrmärkten direkt bei fremden Kau euten in größeren Mengen und auf längere Zeit versorgen konnte, übernahm für die kleinen Leute, die von der Hand in den Mund lebten, gewissermaßen der Kleinhändler die Vorratshaltung bei einzelnen Waren. Nach Herkunft und Bedarfsstufe bezeichnet, erscheinen Kramwaren aber auch als Venediger Gut (Kaufschatz von Venedig). Es handelte

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sich um Importwaren, Luxuswaren wie Seidenund Atlasstoffe und Gewürze, die aus dem Vorderen Orient und aus Italien, namentlich über Venedig, bezogen wurden. Venediger Waren oder später auch französische Waren wurden zum Ausdruck für alles, was nicht am Ort, sondern in der Fremde hergestellt worden war. Das in einzelnen Städten unterschiedlich de nierte Warensortiment des Krämers unterlag dem Zunftzwang. Der Krämer hatte hinsichtlich dieses Sortiments das exklusive Recht der »Vereinzelung«, der Engroshandel hingegen stand jedermann frei. Gelegentlich betrieben Krämer auch Großhandel für sich selbst oder im genossenschaftlichen Einkauf, indem sie Waren direkt auf deutschen oder ausländischen Messen und Märkten beschafften. Nicht selten bewirtschaftete die Ehefrau die heimische Kräme, während sich der Mann als Einkäufer oder als Wanderkrämer außerhalb befand. Einheimischen Bürgern, die nicht der Krämerzunft angehörten, wurden Gewichts-, Hohl- und Längenmaße vorgeschrieben, die sie beim Vertrieb von Krämerwaren nicht unterschreiten durften, soweit er ihnen nicht gänzlich untersagt war. Es galt der Grundsatz, dass der Krämer nicht mit den am Ort herstellbaren oder hergestellten, sondern nur mit importierten Waren handeln solle, damit das Recht des Produzenten am Absatz seiner eigenen Produkte gewahrt blieb. Die Abgrenzung der wirtschaftlichen Tätigkeitsbereiche nach Befugnis und Umfang des Warenverkehrs führte fast unvermeidlich zu ständigen Auseinandersetzungen zwischen den Krämern (institores) und anderen Erwerbsgruppen, den Handwerkern und den Großhändlern (mercatores, negotiatores). Es kam vor, dass Krämer aufgekaufte Halbfabrikate handwerklich weiterverarbeiteten. Das Gästerecht, das den streng überwachten Verkehr der fremden Klein- und Großhändler während ihres Aufenthalts in der Stadt regelte, sicherte den vorrangigen Absatz des heimischen Händlers, indem es dem Gast den Kleinhandel grund-

1564 B. K, Die Entstehung der Kreditwirtschaft und des Kapitalverkehrs, S. 83. 1565 E. K, Einzelhandel im Mittelalter.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

sätzlich untersagte oder ihn nur an bestimmten Markttagen unter obligatorischer Vermittlung von Maklern gestattete und den Handel von Gästen untereinander verbot. Was an Markttagen nicht verkauft wurde, durfte nur noch im Ganzen abgesetzt, oft nur nach einer mehrtägigen Frist oder überhaupt nicht mehr aus der Stadt gebracht werden. Der Kleinhandel war Markthandel und unterlag dem Marktzwang, doch wurde der Markthandel schon früh durch die Errichtung von Kramläden an anderen Orten und durch den Verkauf im eigenen Hause durchbrochen. Die Mitarbeit von Familienmitgliedern spielte eine bedeutende Rolle; nicht selten traten Frauen auch selbständig auf. Die Einkäufe des Krämers basierten weitgehend auf Kredit, wie schon der häu ge Kreditanspruch von Seiten der Konsumenten den eigenen Kreditbedarf des Krämers begründete. Die Umsätze der Krämer waren, ausweislich von Krämerschulden bei Fernhändlern, entgegen der von Werner Sombart verbreiteten Auffassung von der Geringfügigkeit des mittelalterlichen Warenumsatzes hinsichtlich Wert und Menge, gemessen am Verhältnis zwischen Warenmenge und Einwohnerzahl, recht erheblich. Hatte die Tätigkeit des Krämers als des Detaillisten handwerklichen Charakter, so konnte sein Geschäft durchaus kaufmännisch-kapitalistischen Zuschnitt erhalten. Trotz obrigkeitlicher und zünftiger Reglementierung gab es ganz erhebliche Unterschiede in der qualitativen und quantitativen Zusammensetzung des Warenlagers, infolgedessen auch beträchtliche Umsatz- und Einkommensunterschiede innerhalb des Berufsstandes. Relativ frühzeitig erhielten die Krämer Zugang zum Rat und zur politischen Macht. Wirtschaftlich und sozial weit unter den Krämern standen die Höker (Huckler, Grempler, Merzler), die mit Lebensmitteln und auch am Ort hergestellten Gegenständen des täglichen Bedarfs in kleinen und kleinsten Mengen handelten und in der Regel eine kümmerliche Exis-

tenz fristeten. Hier ndet sich eine große Anzahl von Frauen. Ganz unten rangierte schließlich der Hausierer (Huckler, Fragner), der den Kunden an der Wohnung aufsuchte.

9.4 Groß- und Fernhandel Von Karl Bücher wurde die Auffassung begründet und von Georg von Below weiter ausgebaut, dass der eigentliche Kaufmann des Mittelalters der privilegierte Kleinhändler als Mitglied der Gewandschneider- oder Krämerzunft gewesen sei. Damals habe es den Großhändler als selbständigen Berufsstand nicht gegeben. Der Großhandel sei vom Kleinhändler, soweit er zur Warenbeschaffung erforderlich war, mitbesorgt worden. Werner Sombart sah in dem Kaufmann den Gelegenheitshandel treibenden Grundbesitzer, erkannte aber dem mittelalterlichen Handel nach Art seiner Ausübung und der wirtschaftspsychologischen Einstellung einen im Wesentlichen handwerklichen Charakter zu. Gegen diese zunächst herrschende Auffassung von der funktionellen Vereinigung von Groß- und Kleinhandel, wie man sie vor allem aus dem Gewandschnitt angesehener Familien und Ratsherren im norddeutschen Raum folgerte, und vom handwerklichen Zuschnitt allen Handels¹⁵⁶⁶ wurde zuerst hinsichtlich des Großhandels, dann auch des Kleinhandels und seines Debitorenverhältnisses zum Großhandel eine frühe Sonderung beider Handelsformen und Berufsstände geltend gemacht.¹⁵⁶⁷ Freilich gab es immer Überschneidungen und Unschärfen der Trennung. Mit dem Marktgeschehen waren Kauf und Verkauf und das Recht, Kaufmannschaft zu treiben (ius emendi et vendendi), streng geregelt und unterlagen der Niedergerichtsbarkeit und der Handelsgerichtsbarkeit der Messen. Eine große Bedeutung für die rechtliche Beurteilung kam neben dem Privilegienrecht und den örtlichen

1566 W. S, Der moderne Kapitalismus, Bd. 1,1, S. 279 ff.; G. v. B, Großhändler und Kleinhändler. 1567 F. R, Großhandel und Großhändler im Lübeck des 14. Jahrhunderts, S. 217.

Groß- und Fernhandel 883

Statuten den Handelsbräuchen zu, den Usancen und Praktiken der Kau eute, aber auch einzelnen Bestimmungen des römischen und kanonischen Rechts sowie moraltheologischen Normen der Vertragsgerechtigkeit, des gerechten Preises und den kirchlich-weltlichen Wucherverboten. Dass die Bereitstellung sozialer, politischer und rechtlicher Institutionen und die Gewährleistung von Frieden und Sicherheit sich auf wirtschaftliche Faktoren wie die Kosten und damit zusammenhängend die Preise auswirken, ist von der so genannten »Neuen Institutionenökonomie«, die eine rein eigengesetzliche Sichtweise wirtschaftlicher Vorgänge überwindet, wieder stärker ins Bewusstsein gehoben worden. Diese politischen und institutionellen Leistungen ersparen eigene Aufwendungen des einzelnen Kaufmanns und senken dadurch die »Transaktionskosten« des Handels, unter denen alle direkten und indirekten Kosten beim Transport von Gütern vom Produzenten zum Konsumenten verstanden werden, namentlich »die Kosten der Messung der wertvollen Attribute der getauschten Gegenstände und die Kosten des Rechtsschutzes und der Überwachung und Durchsetzung von Vereinbarungen«.¹⁵⁶⁸ 9.4.1 Der Kaufmann und seine Ausbildung Risikobereitschaft, Risikobewusstsein und Sorge kennzeichnen die Mentalität des Kaufmanns.¹⁵⁶⁹ Leitbegriff für die Tätigkeit des Kaufmanns ist das latinisierte Wort risicum, das die Gefährdung und Unsicherheit von Kapital und Ware meint. In Oberdeutschland wird es mit dem Wort Wagnis, im Bereich der Hanse mit Abenteuer, aber auch existentiell zugespitzt mit Angst wiedergegeben. Im Sprachgebrauch der oberdeutschen Großen Ravensburger Handelsgesellschaft meint Abenteuer den unter Ri-

siko erzielten Gewinn. Der Humanist und Jurist Dr. Konrad Peutinger führt den Erfolg des Kaufmannes auf den Willen Gottes, die Handelserlaubnis, das sich drehende Rad der Fortuna und die aufgewendete geschäftliche Sorgfalt zurück.¹⁵⁷⁰ Die Scholastiker rechtfertigen den Gewinn des Kaufmanns mit dessen Arbeit und Gefahrtragung und mit seinem Dienst am Gemeinwohl durch den Transport von Gütern in unterversorgte Gebiete; auf der anderen Seite wurde den Kau euten, vor allem jedoch den kapitalstarken großen Handelsgesellschaften Nürnberger und vor allem dann seit der Wende zum 16. Jahrhundert Augsburger Zuschnitts vorgeworfen, eine im Recht verbotene, dem Gemeinwohl und insbesondere dem gemeinen Mann schädliche Monopolstellung und ein Preisdiktat anzustreben und aus Habgier beim Gewinnen kein Maß zu kennen. Der Übergang des seit dem 11. Jahrhundert in der Stadt ansässigen berufsmäßigen Kaufmanns zur Schriftlichkeit und zu verstärkter, buchgestützter Rechenhaftigkeit, wie er sich im hansischen Wirtschaftsraum seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts vollzog und im 14. Jahrhundert bei mittleren und größeren Kau euten weitgehend durchgesetzt hatte, wurde von Fritz Rörig nichts weniger als eine »Revolutionierung des kaufmännischen Betriebes« erachtet. Rörig sah darin »die Anfänge des modernen deutschen Kaufmanns«.¹⁵⁷¹ Hatte der bewaffnete abenteuernde Kaufmann, der im Hochmittelalter mit dem Ritter auf Bewährungsfahrt (mhd. aventiure) voller Wagnisse verglichen wurde, in der Frühzeit bis weit ins 13. Jahrhundert hinein noch im Karawanen- und Wanderhandel die Waren in der Regel selbst begleitet, sie am Bestimmungsort verkauft und dort die Retouren eingekauft oder eingetauscht, so dirigierte der Kauf-

1568 D. C. N, Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1992 (engl. 1990), S. 32. J. H. M, e »New Institutional Economics«; E. I, Die Bedeutung der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, S. 476, 520; M. N, Institutionelle Faktoren; S. J, Transaktionskostentheorie. 1569 E. M, Das Berufsbewußtsein des mittelalterlichen Fernkaufmanns, S. 191 ff.; zur Kaufmannsmentalität siehe auch E. E, F. I und R. M sowie 7.1.2 (mit weiterer Literatur). 1570 C. B, Conrad Peutingers Gutachten (9.7), S. 4. 1571 F. R, Großhandel und Großhändler, S. 217; in Anlehnung an R. de R, e Commercial Revolution.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

mann des 14. Jahrhunderts, nunmehr weitgehend sesshaft geworden, als Leiter der Unternehmungen den Geschäftsverkehr von seinem Kontor (scrivekamere) aus mithilfe von schriftlichen Anweisungen, Vollmachten und schriftlichen Zahlungsversprechen. Unterstützt wurde er von Schreibern, Dienern, Gesellen und Lehrlingen oder nicht selten auch von seiner schreib- und rechenkundigen Ehefrau. Der Kaufmann korrespondierte mit seinen auswärtigen Geschäftspartnern und Geschäftsfreunden, mit Vertretern oder Gehilfen, die an verschiedenen für ihn wichtigen Handelsplätzen gleichzeitig tätig waren, sodass er nun gleichzeitig über Geschäftsabschlüsse an verschiedenen Orten disponieren und das Volumen seines Handels vergrößern konnte. Freilich unternahm er immer noch einige wichtige Geschäftsreisen. Die ausgehenden, mit seinem Handelszeichen versehenen Waren wurden einem Kaufgesellen oder Frachtführer, dem Kapitän des Frachtschiffs oder Fuhrleuten anvertraut. Am Bestimmungsort wurden sie von seinem Vertreter oder Faktor in Empfang genommen und entsprechend den Direktiven der Zentrale bewirtschaftet. Nach auswärts entsandte der Prinzipal (Geschäftsherr) sorgfältig geschulte und ausgewählte Handelsdiener und Faktoren, die vielfach am Gewinn beteiligt wurden und deshalb ein besonderes Eigeninteresse am Geschäftserfolg hatten. Daneben vertrieb der Kaufmann Waren, indem er sich des kommissionsähnlichen Sendegutgeschäfts oder der Kommission

und des Platzhandels¹⁵⁷² bediente. Begab er sich selbst auf Reisen, um größere Warenposten einzukaufen, geschäftsintensive Messen zu besuchen oder Außenstände einzuziehen, dann gingen zu Hause die Geschäfte unabhängig von seiner Person weiter. Die Tatsache, dass der mittelalterliche Kaufmann keineswegs nur durchsichtige und primitive Locogeschäfte (Handkäufe) tätigte, sondern vielfältige Kreditbeziehungen unterhielt, deshalb zahlreiche urkundliche Obligationen ausstellte und entgegennahm und wenigstens für Kreditgeschäfte Buch führte, machte es erforderlich, dass er schreiben und rechnen konnte.¹⁵⁷³ Die Bürgerfamilien waren sehr darauf bedacht, dass ihre Kinder, auch die Mädchen, für das praktische Leben geschult wurden. Der angehende Kaufmann lernte vielfach Latein und begann die kaufmännische Lehrzeit unter Leitung eines Kaufmanns, der im hansischen Raum fast immer ein Verwandter war. Auf mehreren Reisen, die ihn in die auswärtigen Niederlassungen und Kontore, insbesondere dasjenige Novgorods, führten, lernte er Fremdsprachen¹⁵⁷⁴ und erwarb Kenntnisse in Buchführung, im Rechnungswesen, in Warenprüfung, Verpackung und Transport, in Ein- und Verkauf, im Kreditwesen, in den sich ständig wandelnden Währungsverhältnissen und in Geograe.¹⁵⁷⁵ Vor allem in Livland, in Riga und im Pleskauer Gebiet wurde andererseits versucht, unter anderem durch Verbote des Spracherlernens durch Nichthansen wie Holländer und auch

1572 W. S-R, Geschichte des Kommissionsgeschäftes. W. S, Über Platz- und Kommissionshändlergewinne im Hansehandel des 15. Jahrhunderts. Der Kommissionär gewann zu keinem Zeitpunkt das Eigentum an der Ware. Er arbeitete auf Gewinn und Verlust des Kommittenten. Dies blieb jedoch im Allgemeinen für das Außenverhältnis gegenüber einem Käufer oder Verkäufer der Ware ohne Bedeutung, da diesen gegenüber der Kommissionär als Eigenhändler auftrat. Beim Platzhandel schaltete sich an einem Handelsplatz ein Kaufmann, der weder Importeur noch Exporteur der gehandelten Waren war, als Käufer oder Verkäufer in den Warenaustausch ein. Der Platzhändler erwarb oder veräußerte das Eigentum an den Waren und arbeitete auf eigene Rechnung. Er »vereinigte durch den Ankauf kleinerer Warenmengen diese zu größeren, fernhandelsgerechten Posten ebenso, wie er als Detaillist größere Posten au öste; er bewirkte durch eine gewisse Vorratshaltung eine begrenzte Marktregulierung und verband die zu verschiedenen Zeiten des Jahres am Handelsplatz eintreffenden Warenströme räumlich und zeitlich miteinander.« Kommissionsgeschäft und Platzhandel wurden gleichzeitig nebeneinander betrieben. W. S, S. 131. 1573 B. K, Die Entstehung der Kreditwirtschaft, S. 85–99. 1574 H. P. B, Kaufmannsbildung; A. H u.a. (Hg.), Elementarbildung und Berufsbildung (4.5); G. F, »Kau eute auf Reisen«; M. H (Hg.), Fremde Sprachen. 1575 P. D, Die Hanse, S. 237; P. J, Das Handbuch in der Berufsausbildung des hansischen Kaufmanns.

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Nürnberger, insbesondere von Kaufmannslehrlingen, die wirtschaftliche Konkurrenz zu behindern.¹⁵⁷⁶ Bevorzugter Ausbildungsort für oberdeutsche Kau eute bis hin zu Jakob Fugger war Venedig. Der Nürnberger Christoph Scheurl empfahl 1488 in seinem Regiment für den jungen Hieronymus Haller, der sich nach Venedig zu gehen anschickte, während seines dortigen Lehraufenthalts nach dem Besuch des Gottesdienstes den Morgen und nach Tisch beim Rechenmeister zu verbringen, sich während des restlichen Vormittags und am Nachmittag bei den Kau euten im Fondaco dei Tedeschi aufzuhalten und ständig Wissenswertes und Neues über Veränderungen bei Waren sowie das Steigen und Fallen von Preisen in sein Täfelchen einzutragen und darüber seinem Prinzipal zu schreiben. Desgleichen sollte er alles, was er mit An- und Verkauf, mit den Banken [der Geldwechsler] und Zahlungen handle, ohne sich auf sein Gedächtnis über Nacht zu verlassen, sofort auf seinem Täfelchen notieren, dann in sein Kopier- und Schuldbuch schreiben oder, wenn er dazu nicht Muße habe, wenigstens in sein Journal eintragen. In das Journal oder tägliche Buch wurden üblicherweise unter dem Tagesdatum alle Geschäftsvornahmen unterschiedlichster Art ohne weitere Ordnung verzeichnet. Was seine Lebensführung betraf, sollte Hieronymus in allem wahrhaftig sein, was ihm nicht gehörte, liegen lassen und leichtfertige Leute, Frauen, das Spiel und andere Laster meiden.¹⁵⁷⁷ Von einem Georg von Nürnberg, einem Sprachmeister an einer venezianischen Schule, wurde 1424 ein italienisch-deutscher Sprachführer verfasst, der alles Wissenswerte nach Sachgruppen zusammenstellt, neben den Vokabeln auch erweiterte Wortbildungsformen und Konjugationen aufführt sowie Übungssätze für eine geschäftliche und alltäglichgesellschaftliche Konversation bis in Bereiche des Rotlichtmilieus hinein bildet.¹⁵⁷⁸

Der spätere Nürnberger Ratsherr Jörg Derrer († 1457) besuchte die Schule des Nürnberger Egidienklosters, erwarb ›in fremden Landen‹ die Kenntnis der italienischen und französischen Sprache und erlernte bei ›freien Handelsleuten‹ in Österreich, Ungarn und Venedig ›die Kaufmannschaft‹. Der 1479 geborene Nürnberger Rats- und Handelsherr Christoph Fürer teilt in seiner 1563 verfassten Autobiographie mit, dass er in Nürnberg zunächst im Spital in die lateinische Schule ging, bald herausgenommen und zu einem deutschen Schulmeister gegeben wurde und anschließend eine Rechenschule besuchte. Bereits im Alter von dreizehn Jahren wurde er in Begleitung eines Nürnberger Bürgers nach Venedig geschickt, wo er drei Jahre lang Handelsdiener des Hans Heßlein und des Heinrich Wolf war, der zu den reichsten Nürnbergern gehörte, und seinem italienischen Wirt pro Jahr 24 Dukaten für Kost zahlte. Er kehrte für ein Jahr aus Italien nach Nürnberg zurück, wurde dann von seinem Vater erneut nach Venedig geschickt, und zwar mit der Summe von 3 000 Dukaten, die er gut anlegen sollte. Das tat der Sohn mit Erfolg, doch hätte er nach seiner Ansicht erheblich mehr gewinnen können, wäre der Vater seinem Rat gefolgt und hätte das Kapital noch ein wenig länger stehen lassen. Im Alter von 18 oder 19 Jahren wurde er von seinem Vater zur Saigerhütte in Gräfenthal geschickt, wo die Fürer seit 1497 mit 8 000 Gulden am dortigen Saigerhandel beteiligt waren, danach nach Eisleben, wo die Faktoren der Saigerhandelsgesellschaften den Einkauf des Mansfelder Rohkupfers besorgten, um dort zusammen mit einem Handelsdiener die Handelsgeschäfte der Arnstädter Gesellschaft zu betreiben, an der die Fürer mit anderen Nürnbergern beteiligt waren. Im Jahre 1502 betrugt die Einlage Christoph Fürers und seines Halbbruders Sigmund 7 000 Gulden bei einem Stammkapital von insgesamt 31 500 Gulden. Als der Diener

1576 H.-P. B (Hg.) Quellen und Dokumente, Nr. 24, S. 58–64. 1577 Ebd., Nr. 46, S. 128 f. 1578 O. P, Das älteste italienisch-deutsche Sprachbuch.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

der Arnstädter üchtete, musste Christoph den Handel zusammen mit dem Gräfenthaler besorgen. Wegen des zehnten Teils der Rohkupferausbringung, der für die Überlassung des Hüttenfeuers zur Erbpacht an den Regalherrn abzuführen war und den dieser an die Saigerhüttengesellschaften verkaufte, hatte Fürer viel mit dem Grafen von Mansfeld und Edelleuten zu tun. Als sein Vater starb, wurde ihm an dessen Stelle im Alter von etwa 21 Jahren im Jahre 1501 die Geschäftsleitung des ganzen Arnstädter Saigerhandelsgesellschaft in Nürnberg übertragen.¹⁵⁷⁹ Der Augsburger Lucas Rem wurde 1494 gleichfalls im Alter von dreizehn Jahren mit Begleitung nach Venedig geschickt, wo er, wie er in seinem Tagebuch notiert, in fünfeinhalb Monaten rechnen lernte und anschließend auf eine Schule ging, auf der man das Buchhalten lernte. Das dauerte weitere drei Monate; danach habe er Journal und Schuldbuch beherrscht. Nach nur vier Lehrjahren war er versiert genug, um 1498 im Auftrag Anton Welsers über Mailand, Padua, Vicenza und Bern nach Lyon zu reisen, unterwegs dem in Bern weilenden Augsburger Großkaufmann Anton Lauginger aus seinem Rechnungschaos, in dem er sich verirrt hatte, wieder herauszuhelfen und in Lyon sich an der Bilanz (Rechnung) der Niederlassung zu beteiligen. Er nahm dort Sprachunterricht und sah sich, um weitere Kenntnisse zu erwerben, im folgenden Jahr in der Lyoner Münze um.¹⁵⁸⁰

1579 1580 1581 1582 1583

9.4.2 Kaufmännisches Schriftwesen und Buchführung Die Stadt förderte die Ausbreitung der Schriftlichkeit, indem sie, vielfach in Auseinandersetzungen mit dem Klerus eigene Schulen gründete, in denen auch praktische, für den Kaufmann nützliche Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt wurden.¹⁵⁸¹ Im Jahre 1277 trug der Lübecker Rat dem Übergang zur Schriftlichkeit im Wirtschaftsverkehr dadurch Rechnung, dass er ein Schuldbuch (Niederstadtbuch) einrichtete, das als städtisches Buch öffentlichen Glaubens besaß.¹⁵⁸² Frühe Schuldbücher nden sich auch in Hamburg (um 1270), Riga (1286), Stralsund (1288) und Lüneburg (1290). Durch Eintragung in das Schuldbuch oder beim Schöffengericht, die vom Buchführer aufgrund der Angaben von Seiten der kontrahierenden Parteien erfolgte, konnte der Kaufmann im Rahmen des abgeschlossenen Warengeschäfts seine Forderungen gegenüber dem Schuldner sicherstellen. Die Beurteilung des kaufmännischen Schriftwesens und der Buchführung nach Umfang, Qualität und wirtschaftlicher Bedeutung hat starke Quellenverluste und die Zufälligkeit der Überlieferung spezieller, für spezi sche Zwecke geführter Konten in Rechnung zu stellen. Übermächtig wirken hier die italienischen Handelstraditionen und die Überlieferung italienischer Handels- und Bankhäuser. So enthält das nach Vollständigkeit und Fülle allerdings singuläre Archiv des nicht einmal außerordentlich bedeutenden Kaufmanns Francesco di Marco Datini (etwa 1335–1410) aus Prato etwa 500 Rechnungsbücher und mehr als 100 000 Geschäftsbriefe neben zahllosen Wechselbriefen, Versicherungspolicen, Frachtbriefen und Briefe an seine Frau.¹⁵⁸³

G. M (Hg.) Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 128, S. 394–396. B. G (Hg.), Tagebuch des Lucas Rem, S. 5 f. Siehe 4.9.1. Siehe auch 4.5.1. I. O, »Im Namen Gottes und des Geschäfts«.

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Für die Ausbildung entwickelterer Formen der Buchführung waren drei Faktoren von wesentlicher Bedeutung:¹⁵⁸⁴ 1. Die Entstehung dauerhafter Geschäftspartnerschaften und Handelsgesellschaften, verbunden mit der Notwendigkeit, neue Kapitalinvestitionen und -rücknahmen zu verzeichnen sowie Gewinn und Verlust zu ermitteln und nach den Bedingungen des Gesellschaftsvertrags anteilsmäßig zu verteilen. 2. Das Kreditwesen in einem expandierenden und immer komplexeren Geschäfts- und Zahlungsverkehr, für den einfache mnemotechnische Hilfsmittel (Kerbholz) nicht mehr ausreichten, um bei den Kredittransaktionen die angestrebte wechselseitige Korrespondenz zwischen Forderungen und Verbindlichkeiten herstellen zu können. Hier fand eine Fortentwicklung von der anfänglichen Paragrafen- und Abschnittsform mit dem unsystematischen Wechsel von Forderungs- und Schuldeinträgen hin zur tabellarischen, bilateral Forderungen und Schulden gegenüberstellenden Form (alla Veneziana) und zum Kontokorrent statt. 3. Die Verwendung von konsignierenden Kommissionären und von Faktoren und Agenten im Auslandsgeschäft. Sie hatten in einem Übergabe- und Übernahmeinventar den Fortgang beim Verkauf der ihnen anvertrauten Waren festzuhalten und den Anund Verkauf von Waren abzurechnen. Dabei konnte unschwer bemerkt werden, dass Verkäufe durch Forderungen, Ankäufe durch Lieferantenschulden gegenbilanziert waren und die schließliche Differenz zwischen Anund Verkäufen entweder einen Gewinn oder einen Verlust darstellte.¹⁵⁸⁵ Zwischen 1250 und 1400 wurden in Italien die heterogenen Elemente kaufmännischer Buchführung in ein integriertes System mit doppeltem Eintrag gebracht. Sicher zu belegen ist die doppelte Buchführung (Doppik),

die der Franziskaner Fra Luca Pacioli in seiner 1494 erschienenen »Summa de Arithmetica Geometrica Proportioni et Proportionalita« (IX. Abschnitt, 11. Traktat) lehrt, in den Büchern der Finanzbeamten Genuas, der massarii communis, für das Jahr 1340. Benutzt wurde die doppelte Buchführung von den Florentiner Alberti und von der Firma des Francesco di Marco Datini seit 1382/83, doch war daneben weiterhin noch die einfache Buchführung in Gebrauch. Voll ausgebildet ist die Doppik in den Hauptbüchern (mastri) des Handels- und Bankhauses des Giovanni Borromei in Mailand für die Jahre 1427 und 1428. De nitorische Voraussetzung für eine doppelte Buchführung auf der Grundlage des als Gedächtnisstütze fungierenden vermischten Journals und eines Rechnungsbuchs ist, dass jeder Posten aus dem Journal vom Mutierer oder Übertrager , wie er bei Matthäus Schwarz in dessen Musterbuchhaltung (1518) genannt wird, nunmehr geordnet im Haupt- oder Schuldbuch auf der Seite in zwei getrennten Kolonnen doppelt, d. h. sowohl in einem Konto als Soll (Passiva) als auch in einem zweiten als Haben (Activa), eingetragen wird. Matthäus Schwarz erläutert die damalige Praxis dahingehend, dass auf der linken Seite die Debitoren erscheinen (soll uns [er soll uns zahlen]), auf der rechten Seite die Creditoren (sollen wir [ihm zahlen]). Er vergleicht das Schuldbuch, das in Italien Hauptbuch genannt werde, mit einer Waage entsprechend dem italienischen Ausdruck Bilantza. Die italienische Version betrachte die guter [Güter] auch fur schuldner, sodass das Schuldbuch Personen- und Sachkonten enthalte, während die deutsche Variante die Güter nicht zugleich als Debitoren ausweise, sondern die Sachkonten in ein gesondertes Kappus genanntes Güterbuch ausgliedere. Zu Journal und Schuldbuch treten bei Schwarz noch einige Nebenbücher zur Entlastung der Hauptbücher hinzu, so das Kassenbuch (von ital. cassa, dt. Truhe) mit den

1584 R. de R, e Development of Accounting prior to Luca Pacioli according to the Account Books of Medieval Merchants. 1585 Skeptisch beurteilt – gegen F. C. L – B. S. Y den Nutzen der methodischen Buchführung, insbesondere der Doppik, für die Unternehmensführung. Entscheidend sei gewesen, ob die Zahlen stimmten.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

Bareinnahmen- und Barausgaben, das Gesellenbuch mit Eintragungen für Geld, das nur auf ganz kurze Zeit ausgeliehen wurde, und sonstige, sofort zu verrechnende tägliche Ausgaben (Unkosten) für Material, Haushalt und Büro. Daneben sollen noch drei Konten oder Bücher der Übersicht halber geführt werden: Das conto di tempo (conto der zeit), in dem etwa die Zahlungstermine für gewährte Darlehen und die Verfallszeiten für Wechselbriefe notiert werden, das conto corrento (teglicher conto), das aufführt, wer mit dem andern täglich Geschäfte macht und abrechnet ohne bestimmte Fristen (der lauffent conto oder rechenschafft) und schließlich das conto aparte (beseitz [beiseite] gesetzte rechenschafft), in das man unklare, strittige Handlungen, etwa solche, bei denen man noch nicht sicher weiß, wer Schuldner oder Gläubiger ist, vorläu g bis zur Klärung und Regelung der Sache einträgt.¹⁵⁸⁶ Die ältere deutsche Überlieferung der Buchführung¹⁵⁸⁷ kann nach Umfang, Qualität und buchungstechnischem Standard im Ganzen mit den Geschäftsbüchern der organisatorisch überlegenen italienischen Kau eute und Bankiers nicht mithalten. Bargeschäfte sind häu g nicht eingetragen; im Vordergrund stehen Schuldbücher mit Debitorenkonten. In den Geschäftsbüchern der einfacheren Kau eute reiht sich daher in chronologischer Abfolge, eventuell durchsetzt mit andersartigen Notizen, ein Personenkonto an das andere. Wenn man zur Gegenüberstellung der Soll- und Haben-Konten alla Veneziana fortschritt, war es möglich, daraus gewisse Aufschlüsse über Gewinn und Verlust zu gewinnen. Aus dem Hanseraum sind zwei Fragmente von Geschäftsbüchern aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts erhalten. Die ältesten in sich vollständigen Handlungsbücher aus die-

sem Raum sind – hier mit Angabe des Zeitraums – diejenigen der Lübecker Kau eute Hermann und Johann von Wittenborg (1329, 1346–1360) sowie der Lübecker Tuchhändler Hermann Warendorp und Johann Klingenberg (1330–1336), des Rostocker Tuchhändlers Johann Tölner (1345–1350), der Hamburger Kaufmannsfamilie Vicko (d. Ä. u. d. J.) und Johann Geldersen (1360–1392/1410), die Handelsrechnungen des Deutschen Ordens (1399–1434), die zehn Handlungsbücher und die Korrespondenz des Lübeckers Hildebrand Veckinchusen (1408–1420) sowie das Handlungsbuch des Danzigers Johann Pisz (1421–1454). Aus Oberdeutschland stammt das vorläug älteste vollständige Handlungsbuch, das des Nürnberger Tuchgroßhändlers und Gewandschneiders Holzschuher (1303–1307). Hinzu kommen die Handlungsbücher der Runtinger zu Regensburg (1383–1407), die Buchexzerpte der Nürnberger Kress (1389–1392), die Bücher der Münchner Kramer Hans und Peter Lerer (1440–1458), der Nürnberger Familie Starck (1426–1464/1540), das Schuldbuch des Baslers Claus Stützemberg von 1441, das Buch des Ulmer Kaufmanns Ott Ruland (1444–1463), das »Buch der Hantierung« (1425–1438) des Nürnbergers Marquard Mendel, Hans Prauns »Merkbüchlein« (1472–1476) und die Inventur und Bilanz Lang-Hans Tuchers von 1484. Das »Püchel von meim geslecht und von abentewr« (1349–1401) des Nürnbergers Ulman Stromer († 1407) ist kein kaufmännisches Geschäftsbuch, enthält aber neben familien- und zeitgeschichtlichen Aufzeichnungen auch Nachrichten über Handelswege nach fremden Märkten und über dortige Handelsbräuche sowie über den Bau der ersten deutschen Papiermühle. Einige andere Bücher haben den Charakter von Haushaltsbüchern.

1586 A. W, Venezianischer Handel der Fugger, S. 14–45. 1587 W. v. S, Das Schriftwesen der Nürnberger Wirtschaft; W. v. S/M. T, Zur Buchführung der Juden im Spätmittelalter; H. K, Buchhaltung der Fuggerzeit; M. R, Beiträge zur älteren Geschichte der Buchhaltung in Deutschland, in: H. S/M. R, Betriebswirtschaftliche Aufschlüsse aus der Fuggerzeit, S. 113–218; H. S, Remarques sur la comptabilité commerciale; A. C, Spätmittelalterlicher Gesellschaftshandel im Hanseraum, S. 200–260. Zu Italien siehe F. M und T. Z, mit allgemeiner Literatur F.-J. A, Zwischen Notiz und Bilanz.

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Von der um 1380 gegründeten Humpisgesellschaft oder Großen Ravensburger Handelsgesellschaft (RHG) sind seit 1435 Abrechnungen, Kontokorrentverzeichnisse, Buchbruchstücke wie Rechnungsbücher und Wertbuch, Mess- und Verkaufszettel, Wechsel- und Geschäftsbriefe, Fracht- und Straßenbüchlein sowie große Rekordanzen und notizartige Memoriae erhalten. Die Rekordanzen sind von vertrauten Gesellen übermittelte vertrauliche Briefe mit Direktiven der Ravensburger Zentrale an auswärtige Gelieger und Rückberichte aus Geliegern. Am eindrucksvollsten sind die umfangreichen und außerordentlich eingehenden Sammelbriefe für die Gelieger der spanischen Route und in Spanien selbst sowie die Sammelbriefe der spanischen und italienischen Route, die nach und nach in den Geliegern entstanden.¹⁵⁸⁸ Dabei beanstandete der Regierer der Gesellschaft gelegentlich die schlechte Handschrift der Gesellen und deren Schreibfaulheit. Es nden sich in den Rekordanzen verschiedentlich fremdsprachliche Ausdrücke des jeweiligen Handelslandes. Wie Werner Sombart die Auffassung vertrat, dass der Kaufmann nördlich der Alpen des Lesens, Schreibens und Rechnens das ganze Mittelalter hindurch kaum kundig gewesen sei, so wertete er die ältesten Kaufmannsbücher als »Notizbücher, die die Stelle der Knoten in den Taschentüchern [!] von Bauern vertreten, die zu Markte in die Stadt ziehen.«¹⁵⁸⁹ Die systematische, wenn auch noch auf einer sehr begrenzten Quellengrundlage beruhende Darstellung Balduin Penndorfs über die »Geschichte der Buchhaltung in Deutschland« (1913) konstatiert eine enorme Rückständigkeit der deutschen Buchhaltung im Spätmittelalter und eine entsprechend geringe betriebswirtschaftliche Bedeutung. Quellen, die seitdem aufgefunden wurden, sind geeignet, diese Bewertung zu modi zieren oder zu revidieren. Von Ausnahmen wie dem Danziger Kommissionskaufmann Johann Pisz oder dem Lie-

ger des Johann Plige (1391–1399) abgesehen, war die Buchführung der hansischen Kau eute unsystematisch. Sie entsprach aber durchaus weitgehend der Eigenart hansischer Handelsgewohnheiten, der ausgeprägten Mobilität der Kau eute, der intensiven Reisetätigkeit ihrer Beauftragten zwischen Lübeck, Brügge und London im Westen und Danzig, Riga, Reval und Novgorod im Osten sowie der überwiegenden Form gegenseitigen Zusendens und Bewirtschaftens von Waren anstelle dauerhafter Firmengründungen mit eigenem Stil, eigenem Kapital und eigener Buchführung. Mit beschränkter Zielsetzung diente die Buchführung deshalb nicht dem Überblick über die nanzielle Lage einer Firma, der Übersicht über Bestand und Veränderungen des eigenen Vermögens, sondern vornehmlich der beweisrechtlichen Sicherstellung der Forderungen aus schuldrechtlichen Beziehungen gegen Vergessen und Verwechslung, als Grundlage für die Abrechnung mit Geschäftspartnern und der Aufzeichnung von Forderungen aus dem Warenkreditgeschäft. Das tragische Falliment des ungewöhnlich ambitionierten, auf den Venedighandel ausgreifenden Hildebrand von Veckinchusen (1365–1426) war zu einem Teil möglicherweise durch seine der Geschäftsausweitung mit mehreren Partnern und einem Netz von Korrespondenten nicht mehr adäquate Buchführung verursacht, die nur eine mangelhafte Übersicht und Kontrolle ermöglichte. Für den oberdeutschen Wirtschaftsraum, genauer hinsichtlich der bis zur Fuggerzeit führenden Nürnberger Familien und Firmen, ist mehrfach Wolfgang von Stromer der Auffassung von der enormen Rückständigkeit der deutschen Buchführung und Handelsorganisation gegenüber Italien und dem Westen entgegengetreten. Seinen auf neue Quellen gestützten Erkenntnissen zufolge wurden die tabellarisch Soll und Haben alla Veneziana anordnenden Rechnungen aus dem Jahre 1392 des Nürnbergers Hiltpolt Kress, eines Geschäftsfreundes

1588 A. S, Geschichte der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft, Bd. I, S. 112 f.; Bd. III (Quellen). 1589 W. S, Der moderne Kapitalismus, Bd. I,1, S. 298.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

der ersten Häuser Venedigs, in allen Kolonnen ausnahmslos in arabischen Ziffern geschrieben, und dies 45 Jahre vor dem Buch des Jacomo Badoer aus Konstantinopel (1436–39), das bisher als das früheste galt, das durchgehend arabische Ziffern verwandte. Im Übrigen verlangten die Gerichte die Verwendung der römischen, der kaiserlichen Ziffern für beweiskräftige Bücher, da ihnen die arabischen Ziffern nicht geläu g waren und man überdies glaubte, dass die arabischen Ziffern leichter gefälscht werden konnten. Noch das Freiburger Stadtrecht von 1520 versagte kaufmännischen Schuldbüchern die Beweiskraft, wenn sie in arabischen Ziffern geschrieben waren. Für die doppelte Buchführung war jedoch der Gebrauch der arabischen Ziffern erforderlich. Das Buch des Marquard Mendel zeigt nach Ansicht von Stromers bereits einige wesentliche Elemente einer Doppik; eine vollkommene Doppik (partita doppia) alla Luca Pacioli wurde 1476 und 1484 von den Nürnberger Firmen Praun und Tucher angewandt. Sie war dann 1498 bei den Augsburger Welsern gleichfalls in Gebrauch. Der zum Hauptbuchhalter Jakob Fuggers des Reichen avancierte Matthäus Schwarz (1497–1574) konnte, nachdem er sich um die besten Kenntnisse in der ordentlichen [Ordnung stiftenden]und reich machenden Kunst der Buchhaltung in Mailand, Genua und Venedig bemüht hatte, zum Jahr 1516 im Hinblick auf seine Probezeit in Dienste der Fugger angesichts der in der goldenen Schreibstube gebräuchlichen Buchhaltungstechnik schreiben: und schambt mich vor mir selb[st], d[a]z ich dem buchhalten so weit wart nachgezogen, und het es bas [besser] zu Augsburg gelernet. Schwarz legte seine Kenntnisse in zwei Manuskripten nieder, 1516 in »Was das Buchhalten sei« und 1518 in »Dreierlei Buchhalten«. Schwarz nannte die von den Italienern erfunden Kunst der (doppelten) Buchführung auch einen Sparhafen und miss-

billigte, dass sie bei den Deutschen wenig beliebt sei. Etliche Kau eute seien so träge und nachlässig, dass sie alles im Kopf tragen wollten, sich zu viel zutrauten, ihre Geschäfte in einfachen Rekordanzen (Merkzettel) und auf Zetteln aufzeichneten, diese an die Wand hefteten und am Fensterbrett Rechnung hielten. Sie könnten ihre Sachen daher an keiner Stelle zusammenreimen, müssten schließlich (überschuldet) iehen, wüssten nicht, worin sie steckten und würden ruiniert, ohne zu wissen, wie ihnen geschehen sei.¹⁵⁹⁰ Im Hansebereich benutze vermutlich erstmals die 1549 in Lübeck gegründete Gesellschaft Carstens-von Brocke die doppelte Buchführung. Die Große Ravensburger Handelsgesellschaft hatte zwar keine doppelte Buchführung, für 1479/80 gibt es jedoch eine Teilinstruktion für das Gelieger in Valencia hinsichtlich einer außerbuchmäßigen, wertbestimmten Inventur, die vom Ankaufswert der Waren absieht und den wirklichen Wert der Bestände im Augenblick des Bilanzabschlusses darstellt. Diese Form wurde jedoch bei der dreijährigen Inventur nicht durchgehend angewandt. Die Ravensburger Bilanz von 1497/98 ergibt, dass ein ermitteltes Geschäftskapital von 130 000 Gulden wohl zweimal im Jahr umgeschlagen wurde.¹⁵⁹¹ Die weitreichende wirtschaftliche Bedeutung eines entwickelten kaufmännischen Schriftwesens und einer fortgeschrittenen Buchführung sieht von Stromer in der Fähigkeit, in einer Zeit chronischen Mangels an Münzgeld und Edelmetallen und damit an Kapital in steigendem Maße durch Kontokorrentkredit und parallel dazu kurzfristig durch Wechselbriefe Giralgeld (Schriftgeld) zu erzeugen, um dem Wirtschaftsleben dadurch Mittel zur Steigerung der unter anderem durch den Verlag systematisch nanzierten Produktion von Rohstoffen und gewerblichen Handelsgüter sowie

1590 A. W, Venezianischer Handel der Fugger, S. 6, 14. 1591 A. S, Geschichte der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft, Bd. I, S. 107.

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des Konsums bereitzustellen. Diese »monetäre Konjunkturtheorie des Spätmittelalters«¹⁵⁹² bedarf noch einer breiteren Absicherung. Aktuelle Erfahrungen und Erkenntnisse von dauerhaftem Wert über Handelsbräuche, die äußerst vielfältigen Währungssysteme und die chaotische Vielzahl von Münzsorten, über Paritäten, ktive Rechnungseinheiten und Rechnungswährungen, Wechselkurse, Arbitrage, Maß- und Gewichtsverhältnisse, Einkaufsund Verkaufspreise, Zahlungsmodalitäten, Zölle, Frachtkosten, Versicherungsprämien, Warengattungen und Warenqualitäten an fremden Plätzen, in fremden Städten und Ländern wurden zu vertraulichem Gebrauch im engen Kreis aufgezeichnet. So hat der Nürnberger Ulman Stromer in seinen Aufzeichnungen ein Kapitel Von Gewicht und Kaufmannschaft. Der Nürnberger Hans Tetzel besaß ausweislich seines Salbuches (Inventar) von 1464 neben zwei Rechenbüchern ein buch von kaufmannschaft, hie, zu Venedig, und in anderen landen. Vorbild der Bücher über Handelsbräuche war die 1337/40 in Florenz verfasste »La Pratica della Mercatura« des Italieners Francesco Balducci Pegolotti. Seit 1484 konzipiert und 1506 niedergeschrieben wurde der Hauptteil I A 3 der Aufzeichnung über Handelsbräuche in aller Welt vermutlich von den Fuggerfaktoren Christoph Rögel aus Graz und Wolf Haller aus Nürnberg.¹⁵⁹³ Weitere Kenntnisse vermittelten die Musterbuchhaltung (1516) und das Kaufmannsnotizbuch (1548) des Matthäus Schwarz.¹⁵⁹⁴ Erst 1518 erschien in Deutschland ein Rechenbuch aus der Feder des Lehrers an der Universität Wien Henricus Grammateus (Heinrich Schreiber). Es beschreibt die arabischen

Ziffern, erläutert den Gebrauch des Rechenbretts und geht erstmals auf die einfache Buchführung ein. Im selben Jahr erschien auch das Lehrbuch des Rechenmeisters Adam Ries. Die erste selbständige Darstellung der Buchhaltung schrieb der Nürnberger Johann Gottlieb. Seine Darstellung von 1531 schloss er 1546 mit einem zweiten Buch ab, insgesamt fehlen aber wichtige Materien. Ähnlich unvollständig ist das Werk des Danziger Rechenmeisters Ellenbogen, das 1537 unter dem Titel »Buchhalten auff Preussische müntze und gewicht« erschien. Das 1549 in Nürnberg erschienene Buch »Zwifach Buchhalten sampt seinen Giornal« des Wolfgang Schweicker, Senior von Nürnberg, yetzt in Venedig wonend, lehnt sich nunmehr an Paciolis Abhandlung an. Für das 16. Jahrhundert nachweisbar erstatteten nun Kau eute aus ihrem unmittelbaren Ausbildungs- und Erfahrungswissen heraus, und nicht mehr nur Juristen und Moraltheologen, förmliche Gutachten für Rat und Gericht zu wirtschaftlichen Fragen. 9.4.3 Handelstechniken und Geschäftspraktiken Der hansische Handel folgte den genuinen Bedingungen des See- und Binnenhandels im Nord- und Ostseeraum. Finanztechniken, Handelspraktiken und die internationale Handelsterminologie konnten von den oberdeutschen Kau euten seit langem im Handelsaustausch mit dem Westen und mit Italien auf den Champagne-Messen des 12. und 13. Jahrhunderts und nachfolgend, dort auch von den niederdeutschen Kau euten, in Brügge, sowie in

1592 W. v. S, Das Schriftwesen, S. 798 f. (und öfters). 1593 W. v. S, Das Schriftwesen, S. 781 ff.; ., Die oberdeutschen Geld- und Wechselmärkte, S. 23; H. K, Deutsche Wirtschaftsgeschichte I, S. 192; K. O. M (Hg.), Welthandelsbräuche 1480–1540; T. G. W, Repräsentanten der Augsburger Fugger und Nürnberger Imhoff; H. K (Hg.), Handelsbräuche des 16. Jahrhunderts; J. H/P. J/W. K (Hg.), Ars mercatoria; M. A. D/J. C. H/H. W (Hg.), Kaufmannsbücher und Handelspraktiken. 1594 A. W, Venezianischer Handel der Fugger, S. 174–314 (Text); E. W/M. A. D, Das Kaufmannsnotizbuch des Matthäus Schwarz.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

Venedig oder Mailand vornehmlich im Anschluss an das italienische Handels- und Bankensystem erlernt werden.¹⁵⁹⁵ 9.4.3.1 Information und Kommunikation Für seine kurz- oder längerfristige Kalkulation und Disposition im Waren- und Geldhandel bedurfte der Kaufmann einer Fülle von Informationen über das aktuelle Marktgeschehen an überregionalen und entlegenen Plätzen sowie über die Kreditwürdigkeit von Personen und Firmen.¹⁵⁹⁶ Er erhielt sie als Angehöriger der Führungsschicht bevorzugt als Ratsmitglied sowie Mitglied von Gilden und exklusiven Gesellschaften oder von auswärtigen Faktoren und Korrespondenten. Eine intensive Marktbeobachtung hatte Aufschlüsse über Produktionslage, Angebots- und Nachfragebewegungen, Preise, Währungsparitäten, über die Kurse der Waren auf den Messen und die Wechselbriefkurse an verschiedenen Plätzen zu erbringen. Es waren die günstigsten und schnellsten Transportmöglichkeiten, der Zustand der Straßen, Versicherungsmöglichkeiten,¹⁵⁹⁷ veränderte Frachtund Zolltarife und Hafengebühren zu ermitteln oder die Möglichkeit, zwischen großen Geschäften frei werdendes Kapital kurzfristig gewinnbringend anzulegen. Meldungen über die Erledigung aufgetragener oder eigenverantwortlich getätigter Geschäfte, über Kredite, Termine und Warenbestände, über Absatzfragen, Berechnungen von Kosten und Preisen sowie Informationen über politische Ereignisse und Zustände wurden zwischen Kau euten, fernen Partnern und Agenten sowie den mit Prokura ausgestatteten Gesellen in den auswärtigen

Geliegern der Firma oder Kommissionären und der Zentrale ausgetauscht. In der RHG besaßen mindestens gleichzeitig 20 Gesellen Prokura. Die Zentrale instruierte, wies an und versäumte es darüber nicht, allgemeine Geschäftsprinzipien einzuschärfen, praktische Ratschläge zu erteilen, über Usancen Auskunft zu geben und nicht zuletzt die Charakterbildung und das Verhalten der Lehrlinge im Ausland zu lenken. Für die Kau eute notwendige Nachrichten über Raubüberfälle, Fehden, politische Krisensituationen, Staatenkon ikte und weiträumige Kriege liefen vor allem beim städtischen Rat zusammen, der die von Gefangennahme, Personen- und Güterarrest, Repressalien und Retorsionen bedrohten Kau eute auf den Handelsstraßen durch Eilboten warnte. Eilboten und Eiltransporte sorgten für eine außerordentlich rasche Beförderung von Depeschen und Waren. Eine Eilbotenverbindung von Nürnberg nach Venedig kam in der erstaunlich kurzen Zeit von 4 bis 5 Tagen zustande (1474). Briefe zwischen Nürnberg und Mailand hatten Mitte des 14. Jahrhunderts trotz der schwierigen, Umwege verursachenden Schweizer Pässe Laufzeiten hin und zurück von nicht mehr als 14 Tagen, die Zeit für die Formulierung der Antwort eingeschlossen. Man gebrauchte rmeneigenes Personal und fremde Boten. Im Jahre 1478 wurde eine Warenlieferung (Messingleuchter) von Nürnberg nach Mailand kontrahiert, die innerhalb von 11 Tagen durchgeführt sein sollte. Belegt ist eine Warensendung von Saragossa nach Ravensburg in 32 Tagen, wobei im Durchschnitt täglich 34,5 Kilometer zurückzulegen waren. Die von Gesellen, eigenen und

1595 W. v. S, Die oberdeutschen Geld- und Wechselmärkte (9.4), S. 26. Die Nürnberger Handelsfamilie Kress stand auf Gegenseitigkeit in Informationsaustausch und Agententätigkeit mit den venezianischen Häusern der Amadi und Picorano. Für längere Zeit wurden zwischen den Kress und den Amadi Söhne zu quali zierter kaufmännischer Ausbildung ausgetauscht. W. v. S, Oberdeutsche Hoch nanz, S. 184 f. 1596 A. S, Geschichte der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft, Bd. I, S. 112 ff., Bd. III, S. 52 ff.; W. v. S, Oberdeutsche Hoch nanz, S. 181 ff.; L. S-K, Nürnberg als Nachrichtenzentrum; H. P (Hg.), Die Bedeutung der Kommunikation; M. A. Denzel, »Wissensmanagement«; R. D, Informationskultur; T. G. W, Das kaufmännische Nachrichtenwesen. 1597 Die RHG schloss für Abschnitte der Seeroute Brügge–Valencia–Genua Seeversicherungen ab, die bis zu 16,5% (Valencia–Brügge) des Warenwertes kosteten. Allgemein: H. G, Die Seeversicherung in Genua am Ausgang des 14. Jahrhunderts; K. N- S, Die venezianische Seeversicherung im 15. Jahrhundert, Ebelsbach 1986; P. S, Handel, S. 24–26.

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fremden Boten beförderten Briefe der RHG gelangten von Ravensburg aus – je nach Dauer der Reiseunterbrechungen – in nachweislichen Fällen mit großen Schwankungsbreiten zwischen 6 (geringste Dauer) und 12 Tagen (höchste Dauer) nach Mailand, 10 und 15 nach Genua, 6 und 15 nach Genf, 8 und 45 nach Lyon, 12 und 28 nach Avignon, 29 und 48 nach Barcelona, 32 und 40 nach Saragossa sowie 31 und 69 nach Valencia.¹⁵⁹⁸ 9.4.3.2 Disposition in Einkauf und Verkauf Wenn wir davon ausgehen, dass Einkaufspolitik, Absatzplanung, Absatzpolitik, Produkt-, Preis-, Kommunikations- und Distributionspolitik zu den wichtigsten Parametern der Betriebswirtschaft gehören, können wir im Folgenden sehen, welche davon und in welcher Weise die Ravensburger Handelsgesellschaft (RHG) in ihren Handelspraktiken den Direktiven der Zentrale zufolge im Blick hatte.¹⁵⁹⁹ Spezi sche Kenntnisse erforderte der Handel mit Kunstgegenständen wie Altären, Plastiken, Tafelbildern oder liturgischen Geräten und teuren kunstgewerblichen Erzeugnissen aus Edelmetallen, Glas oder Emaille und Schmuck. Derartige Kunstgegenstände und Luxusgüter wurden vornehmlich aus Zentren wie Antwerpen, Brüssel, Mechelen, Köln, Nürnberg, Augsburg oder Prag sowie im weiteren Rahmen aus Frankreich und Italien bezogen. Zur intensiven Marktbeobachtung nach den Seiten der Warenbeschaffung und des Absatzes musste ein planvolles, aber auch ein entschlussfreudiges und rasches Disponieren hinsichtlich der Geldbewegung in Anlage und Liquidation treten. So mahnte die RHG in ihren Rekordanzen die Gesellen in den Geliegern, rechtzeitig und nur in angemessener Zeit und deshalb mit Gewinn absetzbare Warenmengen anzukaufen und sie frühzeitig zu den Messeterminen zum Verkauf bereitzustellen, die Ver-

käufe nicht zu spät zu tätigen. Die Warenmenge sollte nicht zu groß dimensioniert sein, um unnötige Kapitalbindung und Zollkosten für nicht absetzbare Überschüsse zu vermeiden: ›Es ist besser 30 Ballen [Leinwand] geführt und mit Nutzen verkauft, denn 50 ohne Nutzen. Wir wollen nicht die Weber ho eren und die Zöllner reich machen.‹ Von teuren Gütern sollten geringere, von billigen umso größere Mengen erworben werden. Zwar war man hinsichtlich der Kapitalstärke und Liquidität des Unternehmens der stolzen Meinung, ›nicht jedermann kann Geld so lange auf Waren liegen lassen als wir‹, dennoch drängte man zugunsten eines zügigen Kapitalumsatzes, die Warenbestände rasch wieder zu liquidieren, damit nicht ›das Geld lange auf der Ware schliefe‹. Je geringer die Umschlaggeschwindigkeit eines Warenbestandes, desto höher musste auf der anderen Seite die Handelsspanne sein. Selbst geringfügige Gewinnspannen oder kleinere Verluste seien besser, als das Geld längere Zeit unproduktiv gebunden ›schlafen‹ zu lassen. Frei gewordenes, überschießendes Kapital war sofort wieder kurzfristig, etwa durch Ankauf von Silber oder von Wechselbriefen, anzulegen. In der ›Kunst‹ des Einkaufs zu gutem Preis und in guter Qualität lag der Gewinn, deshalb waren ›alle Vorteile im Einkaufen‹ zu suchen. Einkaufen sollte man vor allem gängige Sorten und Waren und solche, die ›Pro t‹ verhießen. Gekauft wurde fast stets in bar. Man sollte – kraft der Liquidität der Gesellschaft – nach der Produktion früh kaufen und nicht den späteren Zeitpunkt der Verschiffung im Blick haben, zu dem die Preise stiegen, und man sollte vor den Konkurrenten kaufen. Die Gesellen hatten den günstigen Zeitpunkt abzuwarten und dann Entschlussfähigkeit zu zeigen: ›Ihr dürft nicht lange in der Armbrust liegen‹, da ihre Sehne kraftloser wird, wenn sie lange gespannt bleibt. Beim Einkauf gab es erfahrungs-

1598 Fußwanderer brachten es bei 4–6 km pro Stunde auf eine Tagesleistung von 25 bis 40, berittene Kuriere mit Pferdewechsel auf 50 bis 80 km und talwärts fahrende Flussschiffe auf dem Rhein auf 100 bis 150 km am Tag. N. O, Reisen im Mittelalter, S. 27 ff. Siehe auch P. S, Handel, S. 20–23. 1599 Das Folgende nach A. S, Geschichte der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft, Bd. I, S. 118–131; Bd. III (Quellen).

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

gemäß Vorteile des kapitalstarken Großhändlers gegenüber dem Kleinhändler, der immer bar bezahlen und in kürzester Frist einkaufen musste. Der Einkauf eines ständig im Gelieger anwesenden Kaufmanns erschien erfolgreicher als der des umherreisenden Kommissionärs. Am bedeutendsten waren für die RHG die Messen von Frankfurt am Main und Brügge, später Antwerpen; nach ihnen richtete sich der Ankauf der Waren. Für viele Güter war es wichtig, sie rechtzeitig zu verschiffen, um möglichst zu Beginn der Messe anwesend zu sein. ›Kommt man mit der ersten Passage, so verkauft man statt 15 Ballen deren 50‹. Was zu Beginn der Messe versäumt wurde, ließe sich später kaum noch kompensieren. Beim Warenverkauf suchte man die Orte des teuersten Verkaufs, so wurde Safran zeitweise von Aragon auf dem Landweg bis nach Posen gebracht. Die Gesellschaft handelte ohne Beschränkung auf einzelne Warengattungen mit nahezu allem, was Gewinn versprach, und veränderte immer wieder Teile des Warensortiments. Das verlangte eine entsprechend ausgedehnte gute Warenkenntnis. Schwierige Ankäufe wie die von Korallen und Safran wurden nur erprobten Gesellen überlassen. Angesichts hoher Transportkosten wurden vor allem wertvolle Waren von geringem Volumen bevorzugt; beim preiswerten Leinen waren allerdings größere Vermarktungsmengen erforderlich. Verderbliche Waren sollten nur bei großer Gewinnaussicht gehandelt werden; man bevorzugte homogene Güter, bei denen eine Gütereinheit der anderen weitestgehend glich. Die Handelsgüter wurden möglichst aus erster Hand und in den Produktionsgebieten erworben: in Oberschwaben (Leinen), Nürnberg (Metallwaren), L‘Aquila (Safran), ferner in Wien, Lyon, Barcelona, Saragossa, Mailand und Genua. Der Einkauf wurde nach Bestellungen (Rezepte) der Kunden bei den Gesellen und gemäß der Kommission, der Anweisung der Ravensburger Herren, vorgenommen, wobei man vielfach nach den detaillierten Wünschen der Kunden einkaufte und den Rezepten Warenmuster (monstra) beifügte. Leinwand wur-

de beim Einkauf sorgfältig nachgemessen. Man überließ dies nicht den Webern, denen nur jede volle Elle bezahlt wurde. Die Zentrale mahnte zu guter Behandlung der Ware im Lager, sorgfältiger Verpackung für die Fahrt, genauer Bezeichnung der Warenballen, rechtzeitiger Versendung und risikomindernder Verteilung der Ballen auf mehrere Schiffe oder Landtransporte. Alle Warensendungen begleiteten Rezepte, Aufzeichnungen über den Inhalt und Einzelwert der Waren. Ein zügiger Warenumschlag sollte die Kapitalbindung reduzieren und die kostenintensive Lagerhaltung verkürzen. Schlechte Waren versuchte man bald wieder loszuwerden, längere Zeit unverkaufte Waren, Haushüter, in andere Gelieger oder an andere Handelsplätze abzuschieben. Auf alte und schlecht verkäu iche Waren musste man Preisnachlässe gewähren und sie eventuell mit Verlust loswerden. Als man in Nürnberg auf einer solchen Ware saß, wollte der Geselle Gabriel Geßler keinen hohen Preis für sie nehmen: ›denn es ist besser ein Verlüstle [kleiner Verlust] als ein Verlust.‹ Die Zentrale gab für schwerverkäu iche Ware die Anweisung: ›Alte Ware schiebt von der Hand, sei es mit Gewinn, sei es um Hauptgut [das eingesetzte Kapital], denn je länger ein verblaffat ding [eine geringgeschätzte und spöttisch betrachtete Ware] liegt, je böser wird es.‹ Man fürchtete die Absatzstockung (staca de botiga), aber auch eine Flaute (calma) machte missmutig, doch wusste man, dass über Nacht wieder eine Nachfrage (requesta) einsetzen konnte. Eine exible Preisgestaltung im Verkauf sollte der Kundenbindung dienen und Kundenfreundlichkeit demonstrieren: ›Seid nicht zu hart beim Verkaufen, dann behält man die Kunden und kommt wieder zu Geld‹, und: ›haltet Euch graziös mit unseren Kunden und seid nicht zu hart im Verkaufen, insbesondere wenn man gewinnt‹. Gute, zuverlässig zahlende Stammkunden und erstmals auftretende Laufkunden sollten man bei der Preisfestsetzung nicht gleich behandeln, auch damit die guten Kunden nicht verdrießlich wurden; der Kundenstamm sollte vorsichtig mit zunächst niedriger Kreditgewährung erweitert werden. Bei Ma-

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ximen für die Verhandlungen über den günstigen Einkaufspreis scheint der Glaube an den inneren wirklichen Wert der Ware durch. Unverkennbar ist die Furcht, Kunden an Konkurrenten zu verlieren, doch sollte bei neuen Kunden Vorsicht walten, da sie sich möglicherweise als faul (wurmstichig) erwiesen. Bei ihren Forderungen (Aktivschulden) unterschied die Gesellschaft gute, zweifelhafte und böse Schulden. Bei der Bilanz wurden die zweifelhaften und bösen Schulden nicht in die Berechnung der Werte aufgenommen. Die häugste Mahnung an die Gelieger lautete, niemandem ohne Sicherheit (fermenza) etwas zu stunden oder ein Darlehen zu gewähren, wozu jüngere Gesellen in ihrem Verkaufseifer offenbar neigten. Andererseits wusste die Zentrale, dass ohne Kreditgewährung keine Geschäfte zu machen waren. ›Nichts mag uns wehe tun denn böse Schulden‹, die schmale Gewinne eines längeren Zeitraums aufzehrten. Ein kleiner Außenstand ließe sich noch verschmerzen, nur ›die großen Summen‹ täten weh. Beklagt wurden Verzugszeiten von einem Vierteljahr, und man fürchtete sich vor der Kreditgewährung wegen der gesunkenen Zahlungsmoral der säumigen Kunden: ›denn es will sich niemand mehr schämen.‹ Ein Memorial für die Herren in Ravensburg berichtet über Verkäufe von Safran aus Aragon, L‘Aquila in den Abruzzen (Zima Safran), der Mark Ancona und Apulien auf der Frankfurter Fastenmesse von 1478. Dabei wird mitgeteilt, wie viele Mengeneinheiten in Ballen und Säcken von den verschiedenen Herkunftssorten und zu welchen schwankenden Marktpreisen bar verkauft und welche Restmengen weiter nach Nürnberg zur Heiltumsmesse und nach Brügge sowie ungeöffnet unmittelbar nach Flandern versandt wurden, wem ein Zahlungsziel bis zum P ngstmarkt in Antwerpen eingeräumt wurde und was man im Tauschgeschäft abgesetzt hatte.¹⁶⁰⁰

Von dem Faktor der Fugger Christoph Rögel ist eine in das sogenannte »Paumgartnersche Buch über Welthandelsbräuche« eingegangene Kostenrechnung¹⁶⁰¹ über 28 Safranballen mit 112 Säckchen mit einem Nettogewicht von etwas über 6 943 Nürnberger Pfund überliefert, die 1501 in L’Aquila gekauft und nach Pescara gebracht, von dort nach Venedig verschifft, im Fondaco dei Tedeschi (›Deutsches Haus‹) zwischengelagert und weiter nach Nürnberg transportiert wurden. Genau beziffert werden die Zehrung für die die Waren begleitenden Gesellen, Botenlöhne, Fuhrlöhne und sonstige kleine Unkosten, der Schiffslohn (Frachtkosten) nach Venedig, der Zoll und die Ausgaben für Verpackung (Leinwand, Stricke) und Botenlohn in Venedig, schließlich die Kosten für Wiegen, Träger, die Warenschau und den Zoll in Nürnberg. Insgesamt betrugen die Unkosten, angegeben pro Pfund Safran Nürnberger Gewichts, 10,7 Prozent des Einkaufspreises. 9.4.4 Jahrmärkte und Messen Als überregionale Verteilermärkte mit ihrem Austausch von verschiedenen Gütern aus verschiedenen Regionen unterscheiden sich die Messen typologisch mit verschiedenen Übergängen von (1) den lokalen grundherrschaftlichen Sammeljahrmärkten für die Abgaben und Naturalleistungen, (2) den örtlichen und im lokalen Umfeld vernetzten Versorgungsjahrmärkten zur regelmäßigen Versorgung der Bevölkerung mit periodisch verfügbaren Gütern, den (3) Stationsjahrmärkten als Versorgungsmärkten an Rastorten des Fernhandels, (4) den lokalen Gewerbejahrmärkten, von denen aus die gewerblichen Produkte in den Fernhandel gelangten, und (5) den lokalen und regionalen Ergänzungsjahrmärkten, die terminlich oder funktional den zentralen Verteilermarkt (Messe) ergänzten.¹⁶⁰² (6) Messen, die einmal oder mehrmals im Jahr abgehalten wurden und in ers-

1600 A. S III, Nr. 60, S. 335 f. 1601 G. M (Hg.), Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 129, S. 396-398. 1602 P. S, Der Markt als Zentralisierungsphänomen, S. 85–92; M. R, Die Frankfurter Messen, S. 29–32. Siehe auch N. B, Die Reichsmessen von Frankfurt am Main, Leipzig und Braunschweig; P. J/H. S

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

ter Linie dem Handel unter Kau euten dienten, entstanden im 12. Jahrhundert an verschiedenen Orten Europas unter unerlässlicher oder maßgeblicher Mitwirkung von Herrschern, die sicheres Geleit und günstige Rechtsverhältnisse zusicherten, aber auch politisch auf das Schicksal der Messen einwirkten. Geschaffen wurden Fernhandelsplätze sowie terminlich und räumlich aufeinander abgestimmte Messenetze, die periodisch in Erscheinung traten und ein hohes Maß an Handelsfreiheit sowie ein strikt geregeltes Marktleben gewährten. Sie waren ausgestattet mit Sicherheitskräften zur Wahrung des Messefriedens, mit Geldwechslern, die den Hartgeldumtausch besorgten und mit Bankenfunktion zugleich Kredite gaben, mit einer wertstabilen Währung oder einer Rechnungswährung (Rechengeld) sowie mit Wirten, Maklern und Messegerichten. Damit stellten sie Einrichtungen bereit, die geeignet waren, Informationen und Rechtssicherheit zu bieten und dadurch die Transaktionskosten der in größeren landsmannschaftlichen Gruppen erscheinenden Kau eute zu senken. Es handelte sich um Wareneinkaufs- und Verkaufsmessen, die seit dem 13. Jahrhundert das Warengeschäft mit Kreditgeschäften verbanden, als Zahlungstermine für die Handelspartner, für Wechselbriefe, aber auch für private und öffentliche Anleihen (Renten) dienten, auf denen Kontokorrentverrechnungen vorgenommen und der Spitzenausgleich in bar (Skontration) vorgenommen wurde. Bekannte überregionale Messen und solche mit teilweise internationalem Zuschnitt waren die Champagne-Messen mit ihren vier großen Messezentren Lagny, Provins, Troyes und Barsur-Aube und sechs zyklisch angeordneten Messen sowie weiteren eher lokalen Jahrmarktsorten, ferner Chalon-sur-Saône, Genf, Lyon, Brügge mit dem abgestimmten andrischen Messenetz Ypern, Turnhout, Mesen und Lille,

die Brabanter Messen Antwerpen und Bergen op Zoom, das englische Netz der Woll- und Tuchmessen, das niederrheinische Messenetz Köln, Utrecht, Aachen und Duisburg, die beiden Frankfurter Messen und das weitere Messenetz des Rhein-Main-Gebiets, aus dem sich das wetterauische Gebiet mit Frankfurt und Friedberg verselbständigte, und die Leipziger Messe. Die 1497 und 1507 von König Maximilian privilegierte Leipziger Messe¹⁶⁰³ lief den Frankfurter Messen in der frühen Neuzeit den Rang ab. Daneben gab es mit Nördlingen, Friedberg, Zurzach, Ulm und Nürnberg kleinere regionale Messeplätze oder Jahrmärkte, ferner unzählige lokale periodische Märkte an mehr als 1500 Orten. Die bedeutendste Messe im deutschen Reich war die Frankfurter Messe¹⁶⁰⁴, die mit dem später ausgesonderten Ergänzungsjahrmarkt Friedberg das wetterauische Messenetz bildete. Voraussetzung für den Aufstieg Frankfurts zum Messeort waren ein landwirtschaftlich leistungsfähiges Umland, eigene Wirtschaftskraft durch ein städtisch-regionales Tuchgewerbe, eine günstige verkehrsgeogra sche Lage durch die Anbindung an schiffbare Wasserwege und Fernhandelsstraßen und eine vorteilhafte wirtschaftsgeogra sche Mittellage durch das Erstarken umgebender groß dimensionierter Wirtschaftsräume, ferner politische und nanzielle Stabilität der Stadt und die engen Beziehungen zum Königtum. Anfänge der Messe reichen vermutlich bis ins 11. Jahrhundert zurück. Im ersten überlieferten Messeprivileg für die Stadt Frankfurt selbst, demjenigen Kaiser Friedrichs II. von 1240, das den Messebesuchern reichsweiten Geleitschutz gewährt, erscheint Frankfurt noch mit einer Herbstmesse, bis König Ludwig der Bayer 1330 mit der Fastenmesse im Frühjahr einen zweiten Messetermin verlieh und 1337 bestimmte, dass keine andere Messe im Reich eingerichtet werden dür-

(Hg.), Europäische Messen und Märktesysteme im Mittelalter; F. I/M. P (Hg.), Messen, Jahrmärkte und Stadtentwicklung. 1603 G. M, Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 133, S. 403–406 (1507). 1604 Grundlegende Monographie M. R, Die Frankfurter Messen. Siehe ferner N. B, Die Reichsmessen; J. F (Hg.), Die Frankfurter Messe; R. K (Hg.), Brücke zwischen den Völkern.

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fe, die der Frankfurter schaden könnte. Behaupten mussten die Frankfurter Messen im engeren Reich ihre Vorherrschaft gegen Mainz, Nürnberg und Ulm. Die Verteilerfunktion der Messe bewegte sich innerhalb der Linie AntwerpenBreslau/Prag-Wien-Venedig mit der Hauptachse England-Brabant-Köln-Frankfurt-Nürnberg. Den hauptsächlichen Einzugsbereich der Messen bildeten im 14. Jahrhundert weitgehend die Grenzen des alten Reiches, das war ein Raum einschließlich von Städten in Flandern und Brabant, Böhmen, Österreich, Lothringen und in der Schweiz. Entsprechend gab es mehrere Geleitstraßen, die auf Frankfurt zuliefen. Die binnendeutschen Hautgeleitstraßen kamen von (1) Nürnberg, (2) Augsburg und Ulm, (3) Basel und Straßburg, (4) Köln, (5) Leipzig und Erfurt und (6) aus dem norddeutschen Hansebereich. An Handelswaren erschienen Tuche, Wein, Vieh, Pferde, Wolle, Wachs, Leder, Pelze, Metallwaren, Gewürze und Luxuswaren aus dem Orient. Im 15. Jahrhundert trennten sich zunehmend Warenhandel und Finanzgeschäft, sodass Frankfurt immer mehr zum Finanzplatz im europäischen Zahlungsverkehr wurde. Zweimal im Jahr mussten in Frankfurt außerordentliche logistische Leistungen vollbracht werden. Es waren möglicherweise bis zu 10 000 Messebesucher zu beherbergen, zu verköstigen und zu kontrollieren, wenn man Anhaltspunkte für Besucherzahlen wie die 300 Nürnberger, die 120 Straßburger Weinleute und die zahlreichen Kölner hochrechnet. Für die Unterbringung der Gäste standen neben den Gasthäusern bis zu 200 vielfach speziell für die Bedürfnisse des Handels eingerichtete, außerhalb der Messen leerstehende und zur Zeit der Messen vermietete Privathäuser¹⁶⁰⁵ mit bis zu jeweils 60 Betten bereit, die wie häu g im Mittelalter von mehreren Personen zugleich belegt wurden, dazu noch Unterkünfte in Zelten. Zur Infrastruktur für die Geschäftsabwicklung

gehörten Kaufhäuser, Buden und Stände. Die Zahl des Marktpersonals zur Überwachung und Sicherung der öffentlichen Ordnung, zum Zollund Gebühreneinzug und für Dienstleistungen war zu Messezeiten zu vervielfachen. Das Frankfurter Schöffengericht verschob Termine, um als Messegericht für die streitige und freiwillige Gerichtsbarkeit bereitzustehen. Königliche Privilegien gewährten Messebesuchern Schutz gegen Arrest für Güter (1360) und Person (1376) und bestimmten das Schöffengericht als Messegericht mit speziellen Terminen und beschleunigtem Verfahren (1465). Die Messen begannen mit der Geleitswoche, der halben Vorwoche, in der die Geleitzüge eintrafen, Stände errichtet, die Waren ausgepackt, ausgebreitet und beworben, vielleicht auch schon erste Geschäfte abgeschlossen wurden. Danach folgten die eigentliche Geschäftswoche mit dem großen Warenumschlag und im Anschluss daran die Zahlwoche, die den vielgestaltigen nanziellen Transaktionen – Abrechnungen, Begleichung der Schulden, Geldwechsel, Kredite, Ausstellung von Wechselbriefen – gewidmet war. In der folgenden Woche begaben sich die Geleite vom Dienstag an wieder auf die Heimreise. Einen spektakulären Bruch des Messegeleits verursachte der Erbkämmerer Konrad von Weinsberg, ein enger Berater König Sigmunds und Beschirmer der Frankfurter Reichsmünze, als er als Geleitsherr in seinem Bereich 1428 bei Sinsheim über 160 Kau eute aus 26 Städten auf dem Weg zur Frankfurter Herbstmesse über el und Kau eute und Waren beim Pfalzgrafen in Heidelberg unterbrachte. Es handelte sich allerdings nicht um eine Form blanken Raubrittertums, sondern um eine Repressalie des Erbkämmerers gegen den Schwäbischen Städtebund, der im Streit Konrads mit seiner Stadt Weinsberg die Stadt trotz eines Gerichtsurteils und verhängter Reichsacht unterstützte.¹⁶⁰⁶

1605 Siehe den Vertrag des Frankfurter Patriziers Siegfried zum Paradies mit den Meistern des Marburger Wollenamtes von 1421. G. M (Hg.), Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 83, S. 274 f. 1606 M. R, Der Täter als Opfer.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

9.4.5 Hansen – Kommissionen – Gesellschaftshandel und Handelsgesellschaften 9.4.5.1 Handelsformen und Handelspraktiken der Hanse – Hansischer Gesellschaftshandel Die Aktivitäten des Groß- und Fernhändlers erfolgten in den Formen des Eigengeschäfts, des Kommissionsgeschäfts, des kommissionsähnlichen Sendegutgeschäfts und der Handelsgesellschaft.¹⁶⁰⁷ Die Hansekau eute schufen sich ein umfangreiches Netz von Handelsbeziehungen, das auf Familienverbindungen aufbaute, aber weit über diese hinausreichte. Auf diesem Netz von engeren Familienangehörigen, Verwandten, Verschwägerten, Freunden, Bekannten und ferner stehenden Personen, die – theoretisch jedenfalls – ihrerseits vermittelnd ihre Verbindungen zur Verfügung stellen konnten, beruhten der Gesellschaftshandel und eine Vielzahl lockerer Handelsbeziehungen ohne gesellschaftsrechtliche Bindung. Beide Arten gründeten auf Vertrauen, dem guten Ruf (Glauben), sozialer Ehre und wirtschaftlicher Reputation, die sich durch günstige Erfahrungen der Umwelt einstellten, von ihr überwacht wurden und sich im familiär vernetzten hansischen Raum bei Treffen der wirtschaftlichen Oberschicht im kaufmännisch beherrschten Rat, in den Bruderschaften, auch von ortsfremden Bekannten besuchten Artushöfen und Gesellschaften zu bewähren hatten. Der Danziger Kaufmann Johann Pisz unterhielt ausweislich seines Handlungsbuchs von 1422 bis 1454 in 32 Geschäftsjahren mit etwa 40 Personen Handelsbeziehungen, in einem Fall 22 Jahre hindurch. Allein an seinem Wohnort Reval stand der aus Lübeck stammende Bernd Pal (* 1437) mit 18 Personen in geschäftlicher Verbindung, etwa in Dorpat mit weiteren fünf. Das Handlungs- und Schuldbuch der

Jahre 1506 bis 1533 des Revaler Kaufmanns Hans Selhorst verzeichnet Handelstransaktionen mit mehr als 300 Kau euten in ganz Nordeuropa.¹⁶⁰⁸ Es ist die Frage, ob es sich bei den Handelbeziehungen lediglich um eine sternförmig abbildbare Vielheit von Zweierbeziehungen handelte oder um eine wirkliche Netzwerkstruktur, bei der idealiter alle Angehörige untereinander ver ochten waren und nicht nur einmalige Beziehungen unterhielten. Gerade die Entstehung von Netzwerken etwa durch Kombination und Verschachteln mehrerer Gesellschaften und ihr Funktionieren sind schwer zu ermitteln. Das Eigengeschäft (Proper-) war auf den einzelnen Kaufmann, sein Kapital und seinen Betrieb mit Handelsdienern beschränkt. Vor allem das Eigengeschäft versorgte – neben kurzfristigen Gesellschaften – den Kaufmann mit Geld für den Lebensunterhalt, da nach der Beendigung der Transaktion, d. h. nachdem am Zielort die Ware verkauft und mit dem Erlös eine Warenretoure erworben und zurückgeführt worden war, der Gewinn berechnet und verwendet werden konnte.¹⁶⁰⁹ Der Kaufmann wirtschaftete grundsätzlich auf eigene Rechnung und Gefahr, auch wenn er sich Kaufmannsgilden, Kaufmannshansen oder Fahrtgemeinschaften wie den Bergen-, Schonen-, England-, Novgorod-, Riga-, Reval-, Narwa-, Stockholm- oder Venedigfahrern anschloss. Diese waren der gegenseitigen Hilfe insbesondere gegen Überfälle auf See- und Landreisen und während des Aufenthalts an Messeplätzen, ferner dem gemeinschaftlichen Erwerb und der gemeinschaftlichen Nutzung von Handelsprivilegien in der Fremde gewidmet. Der Kaufmann wickelte seine eigene Unternehmung entweder persönlich und mit seinen Handelsdienern, ferner im Sendegutgeschäft als einer Art von Kommissionsgeschäft mit aus-

1607 L. G, Universalgeschichte des Handelsrechts, Stuttgart 1891; M. W, Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter; A. C, Spätmittelalterlicher Gesellschaftshandel. Überblick mit Literatur: G. D, Die Rechtsgeschichte der Stadt (2.0), S. 666–677. 1608 C. J, Geld, Geschäfte, Informationen, S. 22; U. C. E/S. S, Wirtschaftliche Stärke durch Vernetzung. Siehe auch die Beiträge in G. F/H.-J. G (Hg.), Netzwerke im europäischen Handel des Mittelalters; insbesondere H.-J. G, Netzwerke im europäischen Handel – Versuch einer Bilanz, S. 341–364. 1609 Mit etwas schematischer Darstellung C. J, Geld, Geschäfte, Informationen, S. 11–14.

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wärts wohnenden Sendegutnehmern auf Gegenseitigkeit oder mit angestellten Handlungsdienern oder Faktoren, die einen festen Lohn, eine Provision oder überhaupt nichts erhielten, schließlich eher selten und spät mit fremden Agenten als Kommissionären ab. Das Kommissionsgeschäft umfasste reine Einkaufs- und Verkaufskommissionen. Der Großhändler konnte an verschiedenen Plätzen Korrespondenten, Geschäftsfreunde oder Bürger des fremden Handelsorts unterhalten, die, ohne die vertragliche Rechtsform einer Gesellschaft einzugehen, das Sendegeschäft im Unterschied zur heutigen Kommission unentgeltlich und auf Gegenseitigkeit übernahmen. Der Kaufmann erwartete dabei von seinen Partnern, dass sie ihr Bestes an seinem Gut taten. Im Gegenzug wurde nur die Dienstleistung des Partners in Anspruch genommen. Es gab keine Gewinnbeteiligung und keine Entlohnung oder Provision, nur Kosten für Zölle, Verpackung und Fracht wurden in Rechnung gestellt. Allerdings elen für den dienstleistenden Partner nach unseren Vorstellungen sogenannte Opportunitätskosten an, da er in der aufgewendeten Zeit keine eigenen Geschäfte mit Gewinn betreiben konnte, doch wurden diese durch Gegenleistung kompensiert. Die sogenannten Transaktionskosten, die zur Anbahnung und Durchführung der Transaktionen anfallenden Kosten wie Such-, Mess-, Durchsetzungs- und Vertragskosten, waren im Vergleich zu anderen Organisationsformen mit Niederlassung, entlohnten Mitarbeitern und vorzuhaltenden Infrastrukturen wohl niedrig. Die Ware reiste auf Risiko des Absenders und wurde vom Empfänger, der am anderen Ort das Entladen überwachte, die Zölle zahlte, Transporttarife aushandelte und beglich und das Handelsgut zwischenlagerte, wohl in eigenem Namen, aber auf Rechnung des Absenders verkauft. Aus dieser Beziehung konnte sich bei entsprechender Dauer ein gegenseitiges Geschäftsverhältnis entwickeln, bei dem selten und wohl

auch unregelmäßig auf Messen oder bei gelegentlichen Besuchen abgerechnet wurde. Derartige dauerhafte Geschäftsverbindungen zwischen zwei oder mehreren selbständig an verschiedenen Orten und entgegengesetzten Enden von Handelsrouten füreinander tätigen Kau euten hat Gunnar Mickwitz aufgrund Revaler Handlungsbücher aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts als eine Art von »Fernhandelsgesellschaften auf Gegenseitigkeit« bezeichnet,¹⁶¹⁰ mögen sie nun aus fortgesetztem gegenseitigem Zusenden oder aus gegenseitigem Austausch von Lieferungsgeschäften entstanden sein. Es gab kein Gesellschaftsvermögen, die informelle Zusammenarbeit erfolgte ohne Gewinnbeteiligung. Die Geschäftspartner arbeiteten auch in der Form des Beuthandels (Baratt-), bei dem Ware gegen Ware getauscht wurde und Geld nur als Wertmaßstab bei der Preisbestimmung der Ware fungierte. Erlöse aus einer Handelsaktion wurden häu g wieder in neue Waren investiert, die weitergesandt wurden und neue Erlöse, im günstigen Fall Gewinne erbrachten. Die hansische Buchführung verzeichnete lediglich Einkaufspreise und Erlöse und führte zu keiner unmittelbaren Gewinnermittlung. Durch sofortige Reinvestitionen zirkulierte das Kapital immer wieder und war dadurch längerfristig gebunden. Die wechselseitige Abrechnung erfolgte unregelmäßig und erfasste oft längere Perioden bis zu einem Jahrzehnt und mehr. Erst jetzt konnte nach Abzug der Kosten und Schäden der Gewinn errechnet werden, und es stellte sich die Frage, ob das frei gewordene Geld erneut in den Handel oder in vielleicht weniger pro table, aber risikoarme Renten oder in Landbesitz investiert werden sollte. Eine andere Möglichkeit des Sendens und Befehlens war, dass der Kaufmann mit Wareneinkauf oder Absatz einen angestellten Handelsdiener beauftragte, der gegen festen Lohn arbeitete oder mit einer Quote am Gewinn als Provision beteiligt war. Erhielt der Handelsdiener vom Geschäftsherrn stattdessen ein Darle-

1610 G. M, Aus Revaler Handelsbüchern, S. 115 ff.; vgl. W. S, Zins und Pro t beim hansischen Handelskapital, S. 21 f.

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hen, das er vertraglich in das Geschäft einlegte und über das er später abrechnete, so handelt es sich um eine Handelsgesellschaft, eine Form der ›Widerlegung‹ (wedderlegginge). Gab der Kapitalgeber gelegentlich im Rahmen einer Handelsgesellschaft auf eigene Rechnung dem reisenden Kapitalführer zusätzliches Sendegut (sendeve) mit, so kann man in Ableitung von diesem Ausdruck von einem Sendegutgeschäft sprechen. Es kamen aber auch Geschäftsbesorgungen durch fremde Agenten gegen Provision vor, in Brügge gegen Pfundgeld entsprechend dem Wert und Gewicht der Ware. Aus alledem ist ersichtlich, dass die Grenzen zwischen Kommissionsverhältnis, formloser Geschäftspartnerschaft und Handelsgesellschaft nicht scharf gezogen waren. Im Seeverkehr konnte der Kaufmann auch einfach den Schiffsführer mit dem Absatz seiner Waren beauftragen. Wo regelmäßig größere Warenmengen umgeschlagen werden sollten, konnte es zweckmäßig erscheinen, sie im hansischen Kontor oder bei einem örtlichen Wirt zu deponieren. Vor allem oberdeutsche Gesellschaften unterhielten ein Warenlager (gelieger, fondaco) in gemieteten Lagerräumen oder eigenen Lagerhäusern und ließen die Waren von einem Gesellschafter oder entlohnten Faktor (Lieger) bewirtschaften. Die Handelsgesellschaft gab die Möglichkeit, die Kapitalien für größere Fernhandelsunternehmungen oder den regulären Geschäftsbetrieb zu beschaffen und das Risiko auf mehrere Schultern zu verteilen.¹⁶¹¹ Der Kapitalbedarf war abhängig von der Größe und räumlichen Erstreckung der Einzelgeschäfte, vom Zeitraum, während dessen die Mittel festgelegt waren, und von dem Kreditvolumen, das der Kaufmann den Kunden zur Verfügung stellen musste. Der Bedarf lag noch höher, wenn Waren für den Exporthandel durch verlegerische Bevorschussung beschafft wurden oder der Ge-

schäftsbereich in kapitalintensive Produktionsunternehmen hineinreichte wie in den Bergbau, der bedeutende xe Kapitalinvestitionen in Betriebsanlagen und große umlaufende Kapitalien für Vorräte, Hilfsmaterial und Personalkosten erforderte. Für große Sondergeschäfte und Transaktionen mit großem Kapitaleinsatz und Risiko, vor allem im Finanzgeschäft, wurden Konsortien gebildet, in denen verschiedene Kau eute und Unternehmen zusammenarbeiteten.¹⁶¹² Die hansischen Handelsgesellschaften wiesen meist eine nur geringe Anzahl von Beteiligten zwischen zwei und vier Personen auf; sie trugen häu g familiären Charakter. Der gesellschaftliche Zusammenschluss zur Gewerbsgesellschaft erfolgte für einen sehr beschränkten Zeitraum. Verbreitet war die ausgesprochene Gelegenheitsgesellschaft, die nur für ein bestimmtes Geschäft, wie etwa eine Seefahrt, eingegangen wurde. Bezüglich der Leitung der Unternehmung waren die Gesellschafter rechtlich gleichgeordnet. Sie saßen nicht selten in verschiedenen Städten. Der große Handelskaufmann war angesichts der lockeren und kurzfristigen Zusammenschlüsse ohne Konkurrenzverbot oft zu gleicher Zeit Mitglied mehrerer verschiedenartiger, voneinander unabhängiger Gesellschaften. Dies gilt auch für die Einleger. Ein Konkurrenzverbot bestand nur für den kapitalmäßig minderbeteiligten, ausführenden Kapitalführer. Der Kaufmann Hermann Mornewech schloss in der Zeit von 1323 bis 1335 ausweislich des Lübecker Niederstadtbuchs 18 Mal Gesellschaftsverträge ab oder erneuerte sie. Es ist aber mit einer höheren Anzahl von Verträgen zu rechnen, da das Niederstadtbuch (Schuldbuch) keineswegs eine Art Handelsregister mit Eintragungsp icht darstellte und viele Verträge mit regelmäßigen Gesellschaftern nicht eingetragen wurden. Bei der Kapitalbeschaffung wurden gelegentlich Einlagen weiter sozialer Kreise,

1611 C. B, Unternehmung und Unternehmungsformen, S. 16 ff.; R. S, Die Formen der Kapitalbeschaffung und der Vergrößerung des Eigenkapitals. 1612 W. v. S, Oberdeutsche Hoch nanz; J. S, Studien zur Geschichte kapitalistischer Organisationsformen; F. I, Rheinisches Kapital in mitteleuropäischen Montanunternehmen (9.2); I.-M. P, Hansekau eute als Gläubiger der englischen Krone.

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vom adligen Landjunker oder Gelehrten bis hin zum Hafenarbeiter, angenommen. Dem hohen Risiko der Seeschifffahrt und des Seetransports bei Fehlen einer Seeversicherung in den nordischen Gewässern trug die vielfach gestückelte Partenreederei Rechnung, die zur Finanzierung einer Unternehmung Kapitalien von verschiedenen, nicht durch eine Gesellschaft miteinander verbundenen Seiten zusammenführte. Der Besitz mehrerer Parten und die dadurch bewirkte breite Risikostreuung wurden häu g dem Eigentum an einem Schiff vorgezogen. Gleiches galt für die Befrachtung. In Danzig beteiligten sich 1438 an der Baienfahrt, der Salzfahrt nach Bourgneuf in der Biscaya, das Brigittenkloster, die Marienkirche, das Heiligengeisthospital und die Älterleute des Johannisaltars. Den Unterschied zwischen den hansischnorddeutschen Organisationsformen und Geschäftspraktiken und denen Süddeutschlands hat Jakob Strieder – im Anschluss an Max Weber – auf die einprägsame Formel gebracht: »Der hansische Kaufmann trieb Geschäfte, der süddeutsche Kaufmann hatte – in der Regel wenigstens – ein Geschäft.«¹⁶¹³ Damit ist im Kern etwas Richtiges getroffen. Es fehlen in den hansischen Seestädten lübisch-sächsisch-wendischen Drittels die im binnenländischen Süden anzutreffenden verfestigten, oft Generationen überdauernden Handelsgesellschaften, »die, aus familienrechtlichen Gemeinschaften hervorgehend, das gesamte verfügbare Kapital einer Reihe von verwandten und verschwägerten Kaufleuten zusammenfassen« und mit dem konzentrierten Kapital zielgerichtet und mit längerfristigen Investitionen den Ausbau der Firma und ihrer Handels- und Finanzoperationen betreiben. Das schließt nicht aus, dass in freier Gesellschaftsbildung Teile der Kapitalien manchmal zu besonderen, gelegentlichen Gesellschaften mit anderen Firmen zusammenge-

legt wurden. Die kurzfristige und wechselnde, vor allem auf freier Vereinbarung beruhende Gesellschaftsbildung (»voluntare Gesellschaft«) des hansischen Kaufmanns¹⁶¹⁴ und seine oft gleichzeitige Beteiligung an verschiedenen Gesellschaften fächerten die Kapitalien kleinteilig auf und wirkten einer konzentrierten, langfristigen investiven Anlage und einer intensiven kapitalistischen Verwertung der Mittel entgegen, doch entsprach dies den Bedürfnissen des Kaufmanns unter den Bedingungen in den hansischen Handelsräumen. Der hansische Kaufmann handelte dementsprechend auf verschiedenen Routen ohne Spezialisierung auf eine bestimmte Ware und nicht nur in großen, sondern gelegentlich auch in kleinen Mengen. »Dieser Verzweigung und Auffächerung bedurfte er, um seinen Geschäften die besonders für den risikovolleren Seehandel notwendige Elastizität zu verleihen, die erforderlich war, um Einbrüche, plötzliche Preis- und Kursschwankungen, außerökonomische Störungen und partielle Krisen mit Hilfe orts- und branchenkundiger Gesellschafter an den einzelnen Marktorten mit einem Minimum an Verlusten abzufangen und andererseits auf sich bietende Gewinnmöglichkeiten schnell und entschlossen reagieren zu können.«¹⁶¹⁵ Die Reihe stattlicher hansischer Handelsunternehmungen – wie der Ferber, Angermünde und Veltstede in Danzig, der Brüder Heinrich und Gerd Castorp in Lübeck oder des Gerd von dem Viehhof – zeigt, dass es Kau eute gab, die über Kapitalkraft und Kredit, die angesichts der Auffächerung erforderlich waren, durchaus verfügten. Das Beispiel der Bergenfahrer hingegen macht deutlich, dass das Geschäft auf nur einer Linie und nur mit geringem Kapital lediglich bescheidene Pro te abwarf. Die Eigenart des hansischen Seehandels lässt es nicht zu, die Handelsorganisation als

1613 J. S, Studien zur Geschichte kapitalistischer Organisationsformen, S. 97, vgl. 96 ff. 1614 F. K, Hansische Handelsgesellschaften, S. 581. 1615 W. S, Zins und Pro t beim hansischen Handelskapital, S. 24. Die typische Handelsoperation sieht folgendermaßen aus: »Die Ware wird in einem Ort A gekauft und in einem anderen, B, verkauft. Der Erlös wird im Ort B dann in eine andere Ware investiert, die im ersten Ort A verkauft wird. Die Verkaufs-und Kaufstransaktion am Ort B kann auch mehrmals wiederholt werden.« M. P. L, Zur Frage des Pro tniveaus im hansischen Handel, S. 29.

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rückständig zu bewerten. Bedenklich erscheint jedoch die hansische Handelspolitik in einer gewandelten internationalen Umwelt, der seit dem 15. Jahrhundert unter Konkurrenzdruck unternommene Versuch, die erworbenen einseitigen Handelsvorteile durch eine starre, in wachsendem Maße vielleicht auch xenophobe und isolationistische Politik bloßer Abwehr zu behaupten, die an die Grundlagen der eigenen Handelsbräuche rührte, wie dies etwa in Kreditverboten zutage tritt, die allerdings nicht von einer generellen Kreditfeindlichkeit zeugen, sondern wie in Russland räumlich begrenzt und ein zeitlich befristetes Kampfmittel gegen Konkurrenten waren. Auch in einer binnenländisch und an der südlichen Peripherie der Hanse gelegenen Stadt wie Köln¹⁶¹⁶ mit ihrer ungemein günstigen wirtschafts- und verkehrsgeogra schen Lage vermied der Kaufmann eine Spezialisierung des Warensortiments, das er im Direkthandel oder aus Frankfurt am Main, dem Umschlagsplatz zwischen Nieder- und Oberdeutschland, bezog. Er beschränkte sich allenfalls auf gewisse Kombinationen. Seine Geschäfte betrieb der Kölner Kaufmann im Allgemeinen für sich allein; hinsichtlich des Kommissionsgeschäfts und der Gesellschaftsbildung verhielt er sich ähnlich wie der Hansekaufmann der Seestädte. Nur war er in einem anderen wirtschaftlichen Umfeld tätig. Auch war Köln schon früh ein sehr bedeutender Finanzplatz. Breslauer und Krakauer Kau eute waren gleichfalls stärker im Finanzgeschäft anzutreffen. Die Rechtsform einer Handelsgesellschaft lässt sich im Innenverhältnis in erster Linie an dem Verhältnis der Partner untereinander in Be-

zug auf Kapitalbeteiligung, Arbeit und Leistung sowie im Außenverhältnis, wenn es besteht, an Umfang und Art der Haftung gegenüber Dritten ablesen. Im Hansebereich sind folgende Gesellschaftstypen anzutreffen, wobei zuverlässige quellengestützte Kenntnisse über den hansischen Gesellschaftshandel allerdings kaum für die Zeit vor 1250 zu gewinnen sind:¹⁶¹⁷ (1) Der vermutlich autochtone hansische Gesellschaftstyp, der synonym als (vera, recta, iusta) societas, deutsch kumpanie, selschap oder auch sprechender wedderlegginge (lat. contrapositio) erscheint, stammt wohl aus einer mündlichen Handelskultur und wird im 13. Jahrhundert jedenfalls durch erste Schriftzeugnisse, dann vor allem in den überlieferten seriellen, wenngleich nicht vollständigen societates-Registern des Lübecker Niederstadtbuchs und statutarischen Quellen erkennbar. Der Ausdruck ›Widerlegung‹ bringt bildhaft zum Ausdruck, dass beim Gründungsakt der Gesellschaft einem auf dem Tisch gelegten Geldbetrag von der Gegenseite ein zweiter entgegengesetzt wird und beide zusammengeschoben das Handelskapital ergeben. Dieser Grundtypus der hansischen Gesellschaft besteht aus zwei Partnern, die sich beide nanziell meist mit Anteilen von 1:1 oder 1:2 beteiligen. Die Kapitalführung liegt jedoch auch bei gleichen Anteilen in der Regel in einer Hand und bedeutet Reisetätigkeit und Arbeit, die bei ungleichen Relationen der Partner mit dem geringeren Anteil übernimmt. Die Gewinne werden im Sinne einer bestimmten genossenschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellung ohne Rücksicht auf die Kapitalverhältnisse und die Arbeit des Kapitalführers nach Köpfen

1616 Siehe 9.4.6.1. 1617 Grundlegend ist nunmehr A. C, Spätmittelalterlicher Gesellschaftshandel (Zusammenfassung S. 315–326). In erheblichen Punkten und im Hinblick auf die chronologische Perspektive weicht Cordes von den älteren Sichtweisen bei P. R, Die Lübecker Handelsgesellschaften, F. K, Hansische Handelsgesellschaften, und P. D, Die Hanse (S. 220) ab, vor allem auch von der universalistischen Konzeption im Gefolge Levin Goldschmidts, der Übereinstimmungen der Institute des Handelsrechts im romanischen und germanischen Rechtskreis sieht, diese aus der Natur der Sache resultieren lässt und von einer teleologischen Ausrichtung auf die moderne Offene Handelsgesellschaft ausgeht. Der allgemeine Ausdruck »Gesellschaftshandel«, der die Vorstellung des Handels auf der Grundlage unterschiedlicher Typen hansischer Handelsgesellschaften und Rückprojektionen der festen oberdeutschen oder modernen Verhältnisse vermeiden und alle Formen der Kooperation erfassen soll, wird von W. Ebel und Cordes bevorzugt, den Ausdruck »Kapitalführer« benutzt Cordes. W. E, Lübisches Kaufmannsrecht (9.5), S. 82–98.

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gleichheitlich (like deelen) geteilt, d. h. in der Regel halbiert.¹⁶¹⁸ Für die Teilung der Verluste gab es im 13. Jahrhundert noch keine einheitliche Praxis, doch richtete sie sich später nicht wie die Gewinnteilung nach Köpfen, sondern nach der in Kapitalanteilen ausgedrückten Markzahl. Über das Verhältnis der Gesellschaftsgläubiger zu den nicht am einzelnen Geschäftsabschluss beteiligten Gesellschaftern wird nichts gesagt; es handelt sich um eine reine Innengesellschaft, die als stille und den Augen der Öffentlichkeit verborgene Gesellschaft kein Außenverhältnis gegenüber Kunden, Lieferanten und Gläubigern de niert. Nach außen tritt nur der Kapitalführer in Erscheinung, handelt im eigenen Namen und kontrahiert mit dem Gläubiger. Deshalb haften im Falle der Zahlungsunfähigkeit oder Zahlungsunwilligkeit nur er persönlich und seine Erben mit dem eingesetzten Kapital und dem eigenen Vermögen. In einigen Fällen ist eine Kapitalführung durch mehr als einen Gesellschafter nachweisbar. Der Grundtypus der Gesellschaft kann variiert werden. In einer besonderen Form der Widerlegung streckt der Kapitalgeber dem reisenden Teilhaber, oftmals ein kapitalloser Handlungsdiener, sein in das Geschäft einzubringendes Kapital in Form einer widerru ichen Schenkung oder eines Darlehens für die Zeit des Gesellschaftsverhältnisses vor. Auch kann die Widerlegung, der Anteil des Kapitalführers durch ein vorweg gewährtes Darlehen – entsprechend der oberdeutschen, realiter vorgenommenen Fürlegung – erhöht werden. Der Kapitalführer bleibt auch bei Verlust des gesamten Gesellschaftskapitals zur Rückzahlung der Fürlegung verp ichtet, da sie ein von der Gesellschaft unabhängiges Kapital ist. Der Kapitalgeber kann ferner das Gesellschaftskapital, in diesem Fall nicht den Anteil des Kapitalführers, durch ein Vorgeld über die Einlage hinaus aufstocken. Die Erhöhung des Kapitals kommt dann durch den wirtschaftlichen Erfolg

dem Kapitalgeber und dem Kapitalführer zugute, ist aber vor allen anderen Auseinandersetzungen aus dem Gesellschaftsvermögen zurückzuerstatten und nimmt an der Gewinnermittlung daher nicht teil. Schließlich kann neben der Widerlegung eine weitere Gesellschaft mit demselben Partner oder einem Dritten abgeschlossen werden. Das Verhältnis zwischen Kapitalgeber (Herr) und Kapitalführer (Knappe, Knecht, famulus) beruhte vielfach auf einer wirtschaftlichen und sozialen Asymmetrie. Außerdem war der Kapitalgeber nicht wie der Kapitalführer persönlich ganz in das Geschäft eingebunden, sondern konnte daneben noch weitere Gesellschaftsverhältnisse eingehen. Trotz des hierarchischen Gefälles hatte der Kapitalführer allem Anschein nach keinen speziellen Anweisungen für die Bewirtschaftung des Handelsgutes zu folgen. Was er bei der Abrechnung beschwört, dem muss geglaubt werden. Handelsverträge, wie sie im Randgebiet der Hanse in Köln etwa zwischen den Eheleuten van Emmerichshaen und Arnold van Westerburg um 1470 geschlossen wurden, konnten Bestimmungen über die Laufzeit (vier Jahre), eine befristete einseitige Kündbarkeit, Termine der Rechnungslegung, den Verbleib von Gewinnen in der Gesellschaft und ihre Reinvestition in Geschäfte, die Beschäftigung und Entlohnung von Hilfskräften, Spesen und Logis sowie die Liquidation der Gesellschaft mit der Abrechnung über Hauptgut und Gewinne in Form von Bargeld, Waren und realisierbaren guten Schulden (Forderungen) enthalten.¹⁶¹⁹ (1a) Das Sendegutgeschäft, das gleichfalls bereits für das 13. Jahrhundert belegt ist, erscheint – wie Albrecht Cordes im Gegensatz zur bisherigen Forschung annimmt – nicht selbständig, sondern als zusätzliche, der Haftung des Kapitalführers für Schulden entzogene Sonderinvestition des Kapitalgebers auf dessen Risiko sowie zu dessen Gewinn und Verlust im Rah-

1618 Nach unseren Gerechtigkeitsvorstellungen würde bei gleichen Kapitalanteilen die Arbeit des Kapitalführers nicht honoriert, wohl aber bei ungleicher und geringerer Beteiligung. Eine Kompensation könnte in einer Verlustteilung liegen. Dies sind jedoch nur theoretische Überlegungen. 1619 B. K (Hg.), Quellen zur Geschichte des Kölner Handels und Verkehrs (9.4–9.4), Bd. 3, Nr. 4, S. 31 f.

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men der Gesellschaft, da es außerhalb in anderen Zusammenhängen nicht nachgewiesen werden könne. (1b) Ohne begriffliche Zuordnung zur Gesellschaft bleibt der unbenannte Vertragstyp, bei dem einer der Kontrahenten das gesamte Kapital einbringt, der andere lediglich die Arbeitsleistung erbringt, aber die Hälfte des Gewinns erhält.¹⁶²⁰ Am Verlust kann der reisende Kapitalführer nur insofern beteiligt werden, als er leer ausgeht und die Früchte seiner Arbeit verliert.¹⁶²¹ Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts ging die zunehmende private Schriftlichkeit der Kaufleute mit einer größeren Vertragsfreiheit und Flexibilität der Vertragsformen einher. Es gab außerdem eine Tendenz zum Abschluss nur einer Gesellschaft oder einiger weniger Gesellschaften mit einem engen Partner. Die einseitige Kapitalführung und die Gewinnhalbierung traten in den Hintergrund. Die Gewinnermittlung wurde nun häu ger nach Maßgabe der Kapitalanteile vorgenommen,¹⁶²² die Arbeitsleistung des Kapitalführers wurde jedoch nach wie vor nicht berücksichtigt. Im frühen 15. Jahrhundert führte die gewachsene Vertragsfreiheit über die Kontaktzone Brügge oder im speziellen Fall der ›Venetianischen Gesellschaft‹ (Venedysche selschap) der Brüder Sivert und Hildebrand Veckinchusen zur Übernahme niederländischämischerer und italienischer Vertragselemente. Der venezianische Lieger der Gesellschaft Peter Karbow drang auf eine Entlohnung des Kapi-

talführers durch einen Gewinnanteil, und 1409 wurde erstmals vereinbart, dass der Kapitalführer aufgrund von Vollmachtbriefen durch seinen Geschäftsabschluss seine Mitgesellschafter im Außenverhältnis verp ichten konnte. Es begann eine Differenzierung des älteren einheitlichen Vertragstyps in eine (1.1) Widerlegung mit einseitiger und in eine (1.2) selschap mit zweiseitiger Kapitalführung. Ferner wurde als weiterer, jedoch unscharfer Vertragstyp die (2) vulle mascopey, die volle Handelsgesellschaft, abgeleitet vom holländischen maat (Geselle) erstmals 1465 erwähnt und seit dem späten 15. Jahrhundert ausgebildet. Bei diesem Typus wurde im Sinne einer Außengesellschaft die Solidarhaftung, die Haftung jedes Partners nach außen, wenigstens theoretisch anerkannt, weshalb er der heutigen Offenen Handelsgesellschaft ähnelt. Die Teilhaber setzten gemeinsam ihr gesamtes oder den größten Teil ihres Vermögens ein – und eröffneten den Zugang des einen zur Geldkiste des anderen (Segeberger Codex, Art. 157). Der Sache nach führt der Weg zu der erstmals 1486 in einem Lübecker Ratsurteil in einer synonymen Bezeichnung erwähnten vullen selschap, zur ›vollen Gesellschaft‹, deren Bestehen allerdings vom Beklagten durch einhändigen Eid negiert werden konnte. Die ›volle Gesellschaft‹ wurde später als Übersetzung der gemeinrechtlichen societas omnium bonorum in Gesellschaft aller Güter umbenannt und fand schließlich in das Revidierte Lübecker Stadtrecht von 1586 Aufnahme. Allmählich wur-

1620 Bei der italienischen und spanischen Commenda (Accommandatio) lässt der Kapitalist als socius stans (commendatar) den anderen Gesellschafter, den socius tractans (tractator, portitar), mit seinen Waren reisen. Dieser ist von Gefahrtragung und Verlustbeteiligung frei und erhält die Gewinnquote von einem Viertel (quartum pro cui). Die romanische beidseitige Collegantia fordert auch von dem ausführenden Teilhaber eine Quote des Betriebskapitals. Der socius tractans steigt hier zum Leiter der Unternehmung auf. Legt der socius stans zwei Drittel, der socius tractans ein Drittel des Geschäftskapitals ein, wird der Gewinn hälftig geteilt, wobei der socius stans den gleichen Gewinn erhält, wie wenn er drei Viertel von seinen zwei Dritteln bekommen hätte (2/3 x 3/4 = 6/12). M. W, Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter (Ausgabe G. D/S. L), S. 157 ff.; A. C, Spätmittelalterlicher Gesellschaftshandel, S. 15–23. 1621 A. C (S. 319) schlägt für diese Form, die nicht als Gesellschaft rubriziert ist und die er nicht wie die ältere Literatur als – der südeuropäischen commenda ähnliche – Gesellschaft mit einseitiger Kapitaleinlage auffasst, ersatzweise die Bezeichnung »Unbenannte Kommission auf Gewinn und Verlust« vor. 1622 Bei der südeuropäischen societas maris und societas terrae legen alle Gesellschafter Kapital zu Gewinn und Verlust ein. Die Teilung erfolgt nach dem vereinbarten Schlüssel, meist pro rata der Kapitalbeteiligung. Häu g führen ein oder zwei Teilhaber die Geschäfte.

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de auch der Kapitalführer ohne eigene Einlage als Gesellschafter betrachtet, und es wurde die Möglichkeit eröffnet, dass sowohl auf Seiten der Kapitaleinlage als auch derjenigen der Kapitalführung Personenmehrheiten stehen konnten. Exzeptionell ist die über 200 Jahre bestehende, kapitalstarke Handelsorganisation des Deutschen Ordens als Mitglied der Hanse mit ihren Großschäffereien in Marienburg und Königsberg und den Vertretungen (Lieger) in Brügge, Schottland, Lübeck, Danzig und Riga.¹⁶²³ Die Gesellschaft der Veckinchusen vom Beginn des 15. Jahrhunderts vereinigte mit Schwerpunkten in Lübeck und Köln alle damals üblichen Formen der Handelsorganisation und zweigte Tochtergesellschaften ab; sie kann für den europäischen Norden nicht als typisch gelten. Die 1407 gegründete ›Venetianische Handelsgesellschaft‹ der Veckinchusen war die größte Gesellschaft im hansischen Bereich.¹⁶²⁴ Allerdings umspannte als weitere Ausnahmeerscheinung die Gesellschaft des Jan Falbrecht (Valprecht) aus orn in Verbindung mit Witich Morser aus Danzig und David Rosenfeld aus Kulm (dann orn und Breslau) mit ihrem Handel in den Jahren 1400 bis 1439 fast den ganzen hansischen Wirtschaftsraum und griff bis Venedig und zum Schwarzen Meer aus. Falbrecht engagierte sich ferner ähnlich den Nürnbergern im Bunt- und Edelmetall Bergbau in den Karpatenländern und brachte es zum Amt des obersten ›Kupfergrafen‹ Ungarns. In der Mitte des 15. Jahrhunderts verlegte sich die hansische Familiengesellschaft Sputendorf

(Spodendorf ) (Berlin-Danzig) auf weitgespannte Finanztransaktionen vom Ordensland bis Lübeck und Brügge, über Eger zu den Nürnberger Wechselstuben und Banken (bankieren) und zu Agenten der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft bis hin zur Kurie.¹⁶²⁵ Die Gewinnrate – nicht der Jahresgewinn – des hansischen Handels wird von Lesnikov anhand des Handelsbuches des Johann Wittenborg auf 13–22,2 Prozent errechnet; Samsonowicz geht für einen hervorragenden Kaufmann von einem mittleren Gewinn von 20 Prozent des eingesetzten Kapitals aus; Dollinger nimmt einen Durchschnittspro t von 12 bis 25 Prozent an; Stark rechnet mit einer erheblich schwankenden Spanne zwischen 8 und 18 Prozent, im Durchschnitt jedoch mit deutlich weniger; bei Schildhauer-Fritze-Stark reicht die Spanne von 7 bis 39 Prozent. Es kamen aber auch für längere Zeit in Einzelfällen Gewinnraten von durchschnittlich wenig über 1 Prozent vor. Für russische Waren ermittelte Lesnikov einen durchschnittlichen Reingewinn zwischen 5 und 6 Prozent. Im frühen 16. Jahrhundert konnten Ostwaren 13 Prozent Gewinn, Westwaren aber nur 10 Prozent erbringen. Zwar gab es bei einzelnen Unternehmungen Gewinne von etwa 100 Prozent, aber auch Verluste von 20 bis 50 Prozent. Verluste von Waren durch Raub, Diebstahl oder Unfälle erhöhten das Risiko. In Anbetracht der Verlustrisiken konnte es durchaus vorkommen, dass der einzelne Kaufmann auf das Jahr bezogen ohne Gewinn oder gar mit Verlust arbeitete.¹⁶²⁶

1623 P. D, Die Hanse, S. 221 f.; E. M, Die Schäffer und Lieger des Deutschen Ordens in Preußen; J. S, Die Wirtschaftsführung des Deutschen Ordens in Preußen (1382–1454). Siehe dazu die Editionen der Schuldbücher und Rechnungen der Großschäffereien in Königsberg und Marienburg von C. H , C. L und J. S. 1624 W. S (Hg.), Hildebrand Veckinchusen. Briefwechsel eines deutschen Kaufmanns im 15. Jahrhundert; M. P. L (Hg.), Die Handelsbücher des hansischen Kaufmanns Veckinchusen; F. I, Der Alltag einer hansischen Kaufmannsfamilie im Spiegel der Veckinchusen-Briefe. 1625 R. H-K, Die Hanse (9.5), S. 91 f. 1626 Zusammengestellt bei W. S, Zins und Pro t, S. 18; I. E. K, Preise, Maße und Pro t, S. 53; weitere Gewinnermittlungen bei C. J, Geld, Geschäfte, Informationen, S. 15–22. Im Osthandel verlangten die Hansekau eute häu g Draufgaben zum nominellen Gewicht, wodurch sie bei gleichbleibenden nominellen Preisen höhere Gewinne oder im Falle einer Kreditgewährung eine – verbotene – Zinsnahme verschleierten.

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9.4.5.2 Oberdeutsche Handelsgesellschaften 9.4.5.2.1 Kapital und Arbeit, Niederlassungen Für die oberdeutschen Handelsgesellschaften ist typisch, dass die kontrahierenden Hauptgesellschafter sowohl ihren Kapitalanteil zum Stamm- oder Grundkapital (Hauptgut) zu Gewinn und Verlust einzulegen hatten als auch zu persönlicher Arbeitsleistung durch Mitarbeit in der Zentrale oder durch Reisetätigkeit verp ichtet waren.¹⁶²⁷ Das eingelegte Kapital durfte nicht beliebig erhöht, auch nicht vorzeitig gekündigt oder gemindert werden, oder es wurde ein Höchstbetrag festgelegt, der in persönlichen Notlagen entnommen werden durfte. Als Kapitaleinlage konnten neben Bargeld zunächst auch gute Forderungen und Waren dienen, die jedoch bis zur ersten Rechnung und Gewinnermittlung realisiert und umgesetzt sein mussten. Der Rang, den man dem Faktor Arbeit zuerkannte, wird insbesondere aus dem Institut der Fürlegung ersichtlich. Darunter ist eine Methode zu verstehen, mit der man bei der Gewinnverteilung Abweichungen des einzelnen Gesellschafters vom Normalmaß der Verp ichtungen durch Mehrleistung (Aktivfürlegung) oder Minderleistung (Passivfürlegung) ausglich. Eine Hauptfunktion der Fürlegung war der Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit, d. h. zwischen Gesellschaftern mit geringerer Kapitaleinlage, aber hoher Arbeitsleistung, und solchen mit hoher Kapitaleinlage, die fast reine Kapitalgesellschafter sein konnten. Mehr- oder Sonderleistungen eines Gesellschafters wurden bei der Gewinnverteilung pro rata der Kapitaleinlage oder einem speziellen vertraglichen Schlüssel gemäß nun so honoriert, dass ihm zu seiner Stammeinlage (und Gewinnquote) ein entsprechender Kapitalbetrag fürgelegt, d. h. buchmäßig gutgeschrieben wurde. Dadurch änderte sich nur der quotenmäßige Gewinnanspruch des fürgelegten Gesellschafters, nicht aber erhöhten sich seine reale Kapitaleinlage, seine Be-

teiligung und auch nicht der reale Kapitalbestand der Gesellschaft. Derartige Mehrleistungen, die mit einer Fürlegung bedacht wurden, bestanden darin, dass ein Gesellschafter über seine Einlage hinaus weitere Vermögenswerte wie Häuser, Lagergewölbe, Stallungen, Pferde oder Personal zur Verfügung stellte oder besondere Dienstleistungen wie erhöhte Reisetätigkeit erbrachte, die bei den Leistungen der anderen Gesellschafter keine Entsprechung hatten. Quali zierte Leistungen von verdienten Faktoren wurden dadurch honoriert, dass man ihren Gewinnanteil durch Fürlegung erhöhte oder ihnen bei Fehlen einer Realeinlage ein bestimmtes Kapital, das ihren Gewinnanteil ausdrückte, buchmäßig gutschrieb. Das umgekehrte Verfahren wurde bei Minderleistungen eingeschlagen. Die gebräuchlichste Form der Unternehmenserweiterung war die Faktorei oder das Gelieger, eine Niederlassung mit eigenen Mitteln. Die Geschäftsführung lag bei einem von der Zentrale abhängigen Leiter (Faktor), der Gesellschafter oder nur Angestellter sein konnte. In der Regel wurden für den Warenbestand größere Lagerräume oder gar Lagerhäuser (Fondaco, Gelieger) angemietet oder erworben. Die Große Ravensburger Handelsgesellschaft mit Sitz in Ravensburg und Filialen in Memmingen, Konstanz und St. Gallen besaß insgesamt, nicht alle zur gleichen Zeit, etwa 13 Gelieger. Daneben unterhielt sie Agenturen. Den Geliegern der RHG stand ein Obmann vor, dem alle zu Gehorsam verp ichtet waren; ihm zur Seite führte ein Geselle die Rechnung. Die Prokura war jedoch nicht nur auf den Obmann, sondern auch auf mehrere Gesellen ausgestellt. Das Gelieger handelte nach den Direktiven der Zentrale, besaß jedoch bei großer Entfernung vom Hauptsitz und schwierigen Nachrichtenverbindungen entsprechende Eigenverantwortung und Entscheidungsbefugnis. Wichtig war deshalb eine sorgfältige Personalpolitik, die für diese Posten befähigte und vertrauenswürdige Gesellen auswählte.

1627 C. B, Unternehmung und Unternehmungsformen, S. 69 ff.; E. L, Die rechtliche Struktur süddeutscher Handelsgesellschaften, S. 267 ff.

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Die Unternehmung konnte auch dadurch erweitert werden, dass man sich mit einzelnen Kau euten oder mit anderen Gesellschaften verband, die an den Hauptumschlagsplätzen bereits ansässig waren und Geschäftseigenheiten und Verhältnisse gut kannten, oder man gründete Filialgesellschaften. 9.4.5.2.2 Vertragsdauer, Personen, Kapital Die Vertragsdauer der oberdeutschen Handelsgesellschaften betrug etwa 4 bis 6 Jahre, im 16. Jahrhundert kamen Laufzeiten von 8 und 12 Jahren hinzu, doch war vielfach von vornherein eine Verlängerung vorgesehen. Auf diese Weise hatte die vermutlich 1380 gegründete Große Ravensburger Handelsgesellschaft bis 1530 Bestand. Daneben gab es auch im Süden Gesellschaften mit kurzer Laufzeit und einer Gegenüberstellung von Kapital- und Arbeitsgesellschaftern, die der italienischen Commenda (venezianisch colleganza) ähnlich sind, ferner voluntare Gesellschaftsbildungen durch Nichtverwandte, die ohne familienrechtliche Bindung frei vereinbart waren. Doch überwog die stabile, aus wenigen Mitgliedern bestehende Familiengesellschaft. Das Kapital wurde gelegentlich durch stille Teilhaber zu Gewinn und Verlust (Accommendageber) oder in Form der Accommendita durch Einleger regulärer verzinslicher Depositen (Zinsgelder) verstärkt. In beiden Fällen bestand ein Gläubigerverhältnis des Kapitalgebers gegenüber der Gesellschaft. Gesellschaftsvermögen und Privatvermögen, aber auch gezeichnetes Stammkapital und Gesellschaftsvermögen wurden auseinandergehalten. 9.4.5.2.3 Inhaltliche Regelungen von Gesellschaftsverträgen Die Gesellschaftsverträge, von denen für das 15. Jahrhundert noch wenige, seit dem 16. Jahrhundert jedoch Beispiele in größerer Zahl überliefert sind, regeln die Rechtsstellung und die P ichten der Gesellschafter im Innenverhältnis. Grundsätzlich waren die Gesellschafter un-

tereinander zur Treue verp ichtet; es wird jedes arglistige Verhalten (geverde, dolus) ausgeschlossen. Gegenüber Dritten erscheint die entwickelte Gesellschaft als Firma unter einem Zeichen und ist in ihrem Außenverhältnis übergeordnetem Herkommen, kommunaler Rechtsetzung, Privilegienrecht und übergreifend geltenden Rechtsgewohnheiten unterworfen. Gegenüber Gläubigern der Gesellschaft gilt bei Bestehen eines Außenverhältnisses eine persönliche, unmittelbare und unbeschränkte, das gesamte Vermögen einschließlich des Privatvermögens ergreifende gesamtschuldnerische Haftung, d. h., jeder der Gesellschafter kann für die volle Höhe der Forderungen von Gläubigern haftbar gemacht werden. Sie gleicht daher insoweit der heutigen Offenen Handelsgesellschaft. Mit der Begründung, dass aktive Gesellschafter und Geschäftsführer (haubtleut und regierer) oder Handlungsdiener von Gesellschaften immer wieder Schulden machten und üchteten und Bürger und Bürgerinnen, die Kapital ohne Unterwerfung unter die weiteren Bedingungen eines Gesellschaftsvertrags (ane geding und vorwort) lediglich zu Gewinn und Verlust eingelegt hatten und sich nicht aktiv an den Handelsunternehmungen der Gesellschaft beteiligten, bisher wegen der Gesellschaftsschulden (gesamtschuldnerisch und unbegrenzt) in Anspruch genommen wurden, erwirkte der Nürnberger Rat – ähnlich der bereits 1408 in Florenz eingeführten, hinsichtlich der Höhe geregelten beschränkten Haftung – 1464 als Sonderrecht ein kaiserliches Privileg, das die Haftung dieser vertraglich nicht weiter gebundenen und nicht arbeitenden Gesellschafter – Kommanditisten nach heutigen Begriffen – entsprechend (nach Anzahl) ihrem jeweiligen Anteil am Gesellschaftskapital (Hauptgut) beschränkte.¹⁶²⁸ Beschränkt wurde die Haftung proportional (pro rata) zum Anteil am Gesellschaftskapital wie auch in der absoluten Höhe, da das weitere Vermögen nicht herangezogen wurde. Ein Handelsregister wie in Florenz wur-

1628 Privileg Kaiser Friedrichs III. vom 23. Juni 1464; gedruckt bei C. B, Unternehmung und Unternehmungsformen, Anhang Nr. 1, 127–129.

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de jedoch nicht eingerichtet. Diese Haftungsbeschränkung wurde allerdings nicht in die Nürnberger Stadtrechtsreformation von 1479 und die von 1522 aufgenommen, wohl aber später in die Verneute Reformation von 1564 und weitgehend wortgleich in die Erneuerte Reformation der Stadt Frankfurt am Main von 1578. Die Nürnberger Reformation von 1479 regelt im 30. Titel Gesellschaftsrecht teilweise subsidiär und dispositiv im Hinblick auf autonome Vertragsvereinbarungen (geding), aber auch gesetzlich zwingend.¹⁶²⁹ Zu den subsidiären Regelungen gehören die Gewinn- und Verlustzuweisung nach der anteiligen Kapitaleinlage per cento, die jährliche Rechnungslegung und Bilanz sowie die Abrechungsmodalität bei Liquidation der Gesellschaft. Zugelassen wird eine Fürlegung oder Freistellung von Schaden im Falle einer Sonderleistung (Voraus oder Vorteil) zugunsten der Gesellschaft durch Mehrarbeit; eine vertragliche Regelung ist jedoch nichtig, wenn einer allein den Gewinn, der andere allein den Schaden tragen soll. Der Vertrag verp ichtet die Erben von zwischenzeitlich Verstorbenen nur bis zur nächsten Rechnungslegung, die binnen Jahresfrist zu erfolgen hat. Wenn sie die Erbschaft annehmen, haften sie für die bis dahin angefallenen Schulden, wie der Erblasser es getan hätte und wie es der Gesellschaftsvertrag vorsieht. Die Rechtsreformation begründet ein Außenverhältnis der Gesellschaft, wie es jetzt begrifflich benannt wird, gegenüber äußeren Personen, die nicht Gesellschafter sind. Die Erben von verstorbenen Gesellschaftern sind zunächst noch einbezogen. Die Gesellschafter verp ichten mit ihren Handlungen in Angele-

genheiten der Gesellschaft rechtsverbindlich die ganze Gesellschaft, desgleichen tun dies die bevollmächtigten Diener. Doch sind die Forderungen und Rechtsansprüche der Gesellschafter gegenüber dem, der das Geschäft vornimmt (handeler), vorbehalten. Für Schulden der Gesellschaft gegenüber äußeren Personen haften alle Gesellschafter – wohl auch die nicht aktiven Gesellschafter – gesamthaft (ungeschieden und in solidum), doch können sie untereinander im Innenverhältnis die Schuldsumme vom hundert oder wie sie es in anderer Weise vereinbart haben, aufteilen. Intern kann also eine autonome Haftungsregelung statthaben, die gewissermaßen an die Stelle der privilegialen Haftungsbeschränkung von 1464 treten kann.¹⁶³⁰ Ferner wird bestimmt, dass die anderen Gesellschafter nicht den Schaden mitzutragen haben, wenn einer oder mehrere aus der Gesellschaft durch mutwillige oder böswillig-vorsätzliche Vernachlässigung oder schuldhaftes Verhalten – von freveler oder geverlicher versaumnüs [negligentia] oder verhandlung wegen – eine Wegnahme oder Schädigung der gesellschaftlichen Waren verursachen. Waren der Gesellschaft, die in Obhut und Verwahrung genommen werden, müssen – wie heute – mit derselben Sorgfaltsp icht behandelt werden, als ob es die eigenen in Sonderheit wären.¹⁶³¹ Damit wird die Haftung beschränkt. Nur wer diesem erforderlichen Maß an Sorgfaltsp icht nicht nachkommt, haftet gegenüber den Mitgesellschaftern für den Schaden. Die vier Gebrüder Dürnstetter in Regensburg legten 1360 nach erfolgter Erbauseinandersetzung ihre gesamt Fahrhabe in unter-

1629 Zu Ausgaben der Nürnberger Stadtrechtsreformation siehe 2.2–2,4. 1630 Nach der Verneuten Nürnberger Reformation von 1564 (II,18,4) und der Erneuerten Reformation der Stadt Frankfurt von 1578 (II,23,11 f.) hafteten die Einleger zu Gewinn und Verlust ohne Geding nur pro rata und bis zur Höhe ihrer Einlagen, selbst wenn das Vermögen der Gesellschaft nicht zur Bezahlung der Schulden ausreichte. Wurde ein solidarisch haftender Gesellschafter in Anspruch genommen, konnte er den Betrag, der seinen Anteil überstieg, (gemäß dem Geding) von den andern einfordern. 1631 Zugrunde liegt die römischrechtliche diligentia quam in suis, Digesten 18.8.6, Digesten 10.2.25.16 und öfters; vgl. entsprechend die Sorgfalt wie in eigenen Angelegenheiten §§ 708, 277 BGB, § 227 HGB. Eine gleiche Lösung fand der Lübecker Rat bei den formloseren Geschäften (Sendegut, Kommission). In seinen Urteilen richtete er das Maß der Sorgfalt des Partners an der Sorgfalt wie in eigenen Angelegenheiten aus. Zur Entlastung genügte die eidliche Erklärung, entsprechend gehandelt zu haben. »Nicht ein Verstoß gegen eine allgemein geforderte objektive Sorgfaltsp icht bedeutet schuldhaftes Verhalten, sondern ein Handeln, das gegen die eigenen Interessen verstieße, wenn sie mit auf dem Spiel ständen.« W. E, Lübisches Kaufmannsrecht (9.5), S. 83, vgl. S. 84.

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schiedlichen Summen zu einem Gesellschaftskapital von 29 900 Gulden in rechter gleicher Gesellschaft auf Gewinn und Verlust je einem Gulden [gleich] als dem andern zunächst für die Dauer eines Jahres zusammen und vereinbarten für das Jahr zwei Rechnungsschlüsse. In gleicher Weise kann fremdes Kapital, das Gesellschaftern als Darlehen oder in anderer Weise zur Verwendung übergeben wird, in die Gesellschaft aufgenommen werden. Derjenige, dem ein in der Stadt oder außerhalb auszuführender Geschäftsauftrag erteilt wird, hat den anderen über die Bewirtschaftung des Güterkontingents, mit dem er gehandelt hat, Rechnung zu legen. Für den Fall einer Au ösung der Gesellschaft nach einem Jahr werden die Liquidationsmodalitäten festgelegt, ferner für den Fall, dass sich ein Gesellschafter zum Zeitpunkt der Au ösung nicht in Regensburg aufhält, sich in Gefangenschaft be ndet oder stirbt und zuvor über seinen Anteil testamentarisch verfügt hat. Die sechs Gesellschafter der Augsburger Meuting-Gesellschaft – Hans Meuting und drei Vettern sowie zwei nicht verwandte Augsburger Bürger –, bekunden 1436 bei der Verlängerung der Gesellschaft um weitere fünf Jahre,¹⁶³² dass unter ihnen in der Vergangenheit – wie einander geschuldet – nichts als vollständige ›Treue, Liebe und Freundschaft‹ geherrscht habe, und sie das Zusammenwirken künftig um des größeren Geschäftserfolgs willen verbessern wollen. Jeder der Gesellschafter trägt den Betrag seiner Einlage (Hauptgut) zu Gewinn und Verlust mit eigener Hand in das Gesellschaftsbuch ein. Wer nach Ablauf des Vertrags der Gesellschaft nicht mehr angehören will, dessen Kapitaleinlage und Gewinn soll von den anderen, welche die Gesellschaft weiterführen wollen, in Raten auf den nächsten drei aufeinander folgenden Frankfurter Messen ausbezahlt werden. Die Gesellschafter verp ichten sich und ihre Erben, sich mit der einmütig oder mehrheitlich festgestellten Gewinn- und Verlustrech-

nung, die nach zwei oder drei Jahren statt nden soll, zufriedenzugeben und dagegen kein geistliches oder weltliches Gericht anzurufen. Die Gesellschaft schottet das Innenverhältnis weiterhin dadurch ab, dass eventuelle Streitigkeiten intern gleichfalls einmütig oder durch Mehrheitsabstimmung de nitiv entschieden werden sollen und danach kein Gericht eingeschaltet werden darf. Über eine Außenhaftung nden sich keine Angaben. Leiter (Vorgänger) der Gesellschaft ist wie bisher Hans Meuting, doch Hans Meuting der Ältere verfügt als eine Art Seniorpartner bei Abstimmungen in Streitfällen als einziger über zwei Stimmen. Die Gesellschafter schulden ihm in allen Angelegenheiten, die er mit allen und mit jedem Einzelnen betreibt, Gehorsam und Dienstbereitschaft und dürfen nicht widersprechen, wenn etwas zuträglich, erlaubt und für die Gesellschaft nützlich und ehrenhaft ist. Ohne Erlaubnis der Gesellschaft darf niemand auf eigene Rechnung selbst oder mit Hilfe Dritter heimlich oder offen Handel treiben (Konkurrenzverbot). Kein Gesellschafter darf sich von der Gesellschaft wegen und mit Vermögen der Gesellschaft als Bürge, insbesondere als selbstschuldnerischer, verp ichten und haftet für Bezahlung und Schaden, wenn er bürgt, für sich und seine Erben allein. Ein Gesellschafter kann jedoch ihm begegnende Gelegenheiten für Kauf- oder Tauschgeschäfte (mit kauffen oder wechseln)¹⁶³³, die ihm für die ganze Gesellschaft nutzbringend erscheinen, wahrnehmen, und die anderen sollen dies mittragen. Andere Handelsgesellschaften¹⁶³⁴ setzten benannte externe Schiedsleute ein, die innergesellschaftliche Streitsachen entscheiden sollten, und zogen auch eine schiedsgerichtliche Entscheidung in Auseinandersetzungen mit Dritten in Erwägung. Während der Laufzeit des Vertrags durften neue Gesellschafter oder Diener nur mit Einverständnis aller aufgenommen werden. Niemand durfte aus dem Gesellschaftskapital eigenmächtig Kredite geben. Die Erhö-

1632 E. L, Die rechtliche Struktur, Bd. 2, S. 1–4. 1633 Wechseln kann Tausch oder im Sinne von mutuum auch Kreditgewährung bedeuten. 1634 Es handelt sich im Folgenden um die Zusammenstellung einzelner Artikel, die sich in verschiedenen Gesellschaftsverträgen bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts nden. Siehe die Verträge bei E. L, Die rechtliche Struktur, Bd. 2.

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hung von Kapitaleinlagen wurde generell an die Zustimmung der Gesellschafter gebunden. Es ndet sich auch die Bestimmung, dass bei außerordentlichen und großen Kapitalzugängen einzelner Gesellschafter durch Heiratsgut oder Erbfälle die ermöglichte Kapitalerhöhung auf Höchstsummen begrenzt wurde, die Gesellschaft aber verp ichtet war, derartige Gelder, wenn sie nicht zu Gewinn und Verlust angelegt wurden, als halbjährlich von beiden Seiten kündbare Depositen anzunehmen und mit 5 Prozent zu verzinsen. Einlagen Verstorbener sollten von den Erben nach Möglichkeit bis zum Vertragsende in der Gesellschaft gelassen werden, entweder zu Gewinn und Verlust oder als Depositen, die mit 5 Prozent verzinst wurden. Die einzelnen Gesellschafter hatten alles an Erkenntnissen zu offenbaren, was für die anderen, Person und Handelsgeschäfte betreffend, vorteilhaft oder schädlich sein konnte. Alle Geschäftsbelange hingegen mussten über die Vertragsdauer hinaus für alle Zeiten auch gegenüber Verwandten geheim gehalten werden. Ein Jahr vor Vertragsende sollten die Gesellschafter avisieren, ob – und unter welchen eventuell zu verbessernden Voraussetzungen – sie das Gesellschaftsverhältnis verlängern wollten oder nicht, damit im Falle einer späteren Trennung die Geschäfte, um für Auszahlungen einen hohen Bargeldbestand zu erzielen, zügig abgewickelt und Schulden eingetrieben werden konnten. Geregelt wurde die Finanzierung der anfallenden Geschäftskosten und Spesen (Zehrung), der Aufwendungen auf Geschäftsreisen für Pferde, Kleidung, Schuhe, Barbier (Schergeld ) und Bäder sowie im Krankheitsfalle für Arzt und Arznei aus Mitteln der Gesellschaft sowie der korrekte Nachweis der Verausgabungen.¹⁶³⁵ Unmäßige Spesen und ›ungebührliche Kosten‹, Einsätze bei Spielen und Aufwendungen für Liebschaften wurden ausdrücklich nicht

übernommen. Im Einzelfall des Kupferhandels war vorgesehen, dass die Gesellschafter innerhalb der Vertragszeit, wenn die Gewinnmarge nicht mehr über 4 Prozent lag oder sich gewinnbringendere Geschäftszweige auftaten, mit Mehrheit neue verbindliche Dispositionen über die Aktivitäten der Gesellschaft treffen konnten.¹⁶³⁶ Niemand war verp ichtet, in Niederlassungen zu verharren, in denen Seuchen oder die Pest herrschte, oder zu Geschäftszwecken in Seuchengebiete zu reisen. Wer es dennoch wagte, sollte von der Gesellschaft bei der nächsten Bilanz und Gewinnauskehrung (Rechnung) eine angemessene Sonderzulage (Verehrung) erhalten. Gesellschafter und Handlungsdiener, die auf Geschäftsreisen in Gefangenschaft gerieten, sollten bis zu bestimmten Höchstbeträgen auf Kosten der Gesellschaft ausgelöst werden; was an Forderungen darüber lag, mussten sie selbst tragen. Keine Zahlungen sollten geleistet werden, wenn sich jemand grob fahrlässig nicht um Geleit und andere Sicherheitsmaßnahmen gekümmert und sich dadurch selbst der Gefahr ausgesetzt hatte. Verp ichtungen zu Geschäftsreisen an bestimmte Orte konnten im Einzelnen festgelegt werden. 9.4.5.2.4 Die Große Ravensburger Handelsgesellschaft Die größte Gesellschaft, die nach der Zahl der Beteiligten auch die italienischen Gesellschaften übertraf, war die Humpis-Gesellschaft (Humpis und kumpanie), die unter anderem auch Magna societas mercatorum altiorum Alemaniae (Magna societas Alemanorum) genannt wurde und in der Forschung in Ableitung als »Große Ravensburger Handelsgesellschaft« (RHG) rmiert.¹⁶³⁷ Gegründet wurde sie vermutlich durch eine Heiratsverbindung und Zusammenführung von Familiengesellschaften der bereits miteinander verschwägerten Familien Humpis (Ra-

1635 Zu derartigen Kosten bis hin zur Bewaffung und zur Erstattung des Beichtgeldes, der Spende für den Beichtvater, siehe A. S, Geschichte der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft, Bd. I, S. 74–79. 1636 Vertrag Tychtel-Ebner-Fuerer-Paumgartner von 1531. E. L, Die rechtliche Struktur, Bd. 2, S. 72–75. 1637 Die umfassendste Bezeichnung spricht von de societate dictorum Humpis ex opido Ravenspurg, que communiter dicitur magna societas mercatorum altiorum Alamanie (1497). Gundlegend ist bis heute das große dreibändige Werk von A S aus dem Jahre 1923.

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vensburg) und Mötteli (Buchhorn, spätestens seit 1375 in Ravensburg) und der Muntprat (Konstanz), die in den nächsten Generationen durch Eheschließungen weitere Familien des süddeutschen Patriziats in die Gesellschaft hineinzogen. Dabei verkleinerten sich durch Erbfall die Kapitalanteile einiger Familien ständig, und es wurden einige abgezogen.¹⁶³⁸ Die Frühgeschichte der Gesellschaft liegt im Dunkeln. Eine dichtere, aber nicht lückenlose Quellenüberlieferung liegt erst für die Zeit von 1472 bis 1527 vor, und zwar mit dem Teil der Geschäftsunterlagen, die der letzte Rechnungsführer (Buchhalter) Alexius Hilleson bei der Au ösung der Gesellschaft um 1530 an sich nahm. Anhaltspunkte für die Gründung ergeben Hinweise aus den Jahren 1394 und 1406, doch schrieb der Geselle Andreas Sattler 1477, nach dem Abgang mehrerer Gesellschafter, an verschiedene Gelieger, man habe von keiner Gesellschaft in der Welt gehört, die wie die ihrige mit diesem beneidenswerten Kundenstamm, einem Operationsfeld in deutschen und welschen Landen und in dieser günstigen Verfassung so lange Zeit schon, seit fast 100 Jahren, bestehe. Sie habe große Almosen ausgeworfen und für die Zierde Gottes gestiftet und werde dies auch künftig tun. Außerdem sei durch das Florieren, den Reichtum der Gesellschaft, großes Gut – im Sinne von Wohlstand – in die Lande gekommen. Nun habe man die Gesellschaft nach der letzten Bilanz wieder für sechs Jahre mit einem Gesellschaftskapital in gleicher Höhe verlängert. Ein Gesellschaftsvertrag ist nicht überliefert, sodass auch die Struktur der Gesellschaft nicht sicher zu bestimmen ist, doch ist sie nach der Auffassung Aloys Schultes vermutlich an die südeuropäische compagnia angelehnt, die als primäre Personengesellschaft konstitutiv eine Beteiligung der Gesellschafter mit Kapital und Arbeit vorsah, daneben aber auch bloße

Einlagen zu Gewinn und Verlust von untätigen Erben, Witwen und Kindern kannte. Mit Fremdgeldern in Form festverzinslicher Depositen sei, wenn überhaupt, allenfalls in geringem Umfang zu rechnen. Mit der Zeit beteiligten sich, was eine enorme Kommunikationsstruktur erforderte, an der RGH wohl die meisten aktiv, mindestens 119 Familien aus größeren Familienverbänden, 267 Männer und 39 Frauen, aus über 25 Städten Süddeutschlands, vor allem oberschwäbischen Reichsstädten, und der Ostschweiz. Die Zahl der Gesellschafter stieg seit der Mitte des 15. Jahrhunderts stark an; für das Jahr 1497 sind allein 38 im Handel tätige Gesellen, die eine Grati kation erhalten sollen,¹⁶³⁹ aus einer Vielzahl von Städten nachweisbar. Trotz einer grundsätzlichen Verp ichtung zur Arbeit hatten einige – vornehmlich ältere und ruhebedürftige oder sehr abseits in der Eidgenossenschaft wohnhafte – Gesellen nur Einlagen in der Gesellschaft. Schulte geht für die Spätzeit von insgesamt etwa 80 Gesellen aus.¹⁶⁴⁰ Die Anzahl der durch freie Arbeitsverträge gebundenen, bezahlten Diener betrug 1497–1527 zwischen 23 und 47.¹⁶⁴¹ Im Allgemeinen wurde als Mitglied nur aufgenommen, wer aus einer schwäbischen Reichsstadt stammte. Im Jahre 1453 schied ein Teil der Familie Mötteli aus, und 1477 spaltete sich mit Clemens Ankenreute und anderen Mitgliedern für eine gewisse Zeit die Ankenreutegesellschaft mit Hauptsitz in Ulm ab. An der Spitze der Gesellschaft standen nach Schulte – wenigstens zeitweise – drei Regierer, von denen der erste Regierer die oberste Leitung und die ihm von der Gesellschaft übertragene Gewalt innehatte, der zweite die tatsächliche Arbeit trug und der dritte als Buchhalter die Hauptrechnung hielt. Ein Kreis von neun Gesellschaftern, zu dem die beiden ersten Regierer gehörten, bildete das – 1497 sicher belegte – Gremium der Herren, das als eine Art Aufsichts-

1638 Zu den genealogischen Ver echtungen siehe A. M, Die Große Ravensburger Handelsgesellschaft. 1639 A. S, Bd. I, S. 49; Bd. III, S. 47–49 (teilweise als Fürlegung). 1640 Ebd., S. 94. Die 50 bis 70 bei der Rechnung von 1477 anwesenden Personen werden von Schulte nicht als »Gesellen« bezeichnet, wie R, Das rechtliche Wesen der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft (S. 546, 564), meint. 1641 A. S, Bd. I, S. 69.

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rat fungierte.¹⁶⁴² Paul Rehme ist jedoch der Ansicht, dass es spätestens seit 1475 ein Geschäftsführerkollegium von sieben bis schließlich neun Mitgliedern gab, dem ein Humpis als Haupt mit der speziellen Befugnis vorsaß, die Vollmachten zu erteilen. Er nimmt an, dass die neun Geschäftsführer wechselten und von der ganzen Gesellschaft gewählt wurden. In Umkehr der Argumentation Schultes nimmt Rehme an, die Gesellen seien bloße Kapitaleinleger, die nur pro rata ihrer Einlage hafteten, und – wie die Diener – nur durch besondere Verträge zur Arbeit verp ichtet waren. Unter Herren seien ferner nicht die Neun Herren zu verstehen, sondern der Ausdruck bezeichne die persönlich mit ihrem ganzen Vermögen haftenden Hauptgesellschafter, und dies seien nur die Angehörigen der Gründerfamilien, nach dem Ausscheiden der Mötteli und (was nicht zutrifft) der Muntprat nurmehr diejenigen der Humpis. Daraus konstruiert Rehme in der Terminologie des modernen Gesellschaftsrechts die Gesellschaft als Kommanditgesellschaft mit den Hauptgesellschaftern als Geranten oder Komplementären und den Einlegern als Kommanditisten.¹⁶⁴³ Es ist demnach die Frage, ob die RHG überwiegend als Personengesellschaft (A. Schulte) oder überwiegend als Kapitalgesellschaft (P. Rehme) zu charakterisieren ist. Die neun Herren zogen in der Hauptversammlung der Gesellschaft (die Rechnung) die Bilanz und setzten die Gewinnhöhe und Gewinnverteilung fest. Für die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts sind derartige Hauptversammlungen für 1458, 1477, 1494, 1497 und 1500 belegt. Die Rechnungslegung könnte den Intervallen der 1490er Jahre zufolge durchschnittlich alle drei Jahre erfolgt sein, doch sind auch längere Bilanzperioden denkbar. Im Jahre 1477 dauerte die Rechnung 34 Tage, an denen durchschnittlich etwa 50 bis 70 Personen,

vor allem die Gesellen der Gelieger mit ihren Schlussrechnungen, anwesend waren. Die Geschäfte wurden unter den Handelszeichen der Humpis und anderer führender Familien sowie dem der Gesellschaft selbst geführt. 9.4.5.2.5 Die Familiengesellschaft der Fugger Die Fuggersche Handelsgesellschaft konstituierte sich nach verschiedenen organisatorischen und rechtlichen Vorformen im Jahre 1494 durch den ersten Gesellschaftsvertrag als Personengesellschaft und Arbeitsgemeinschaft mit wesentlichen Kennzeichen einer Offenen Handelsgesellschaft für die Dauer von sechs Jahren. Die Geschäftsführung mit voller Handlungsmacht und Bindung der ganzen Gesellschaft, auch die Befugnis, Faktoren und Diener einzustellen und zu entlassen, lagen anfangs noch bei jedem der formal gleichberechtigten drei Gesellschafter, bei Ulrich, welcher der Gesellschaft den Namen gab, Georg und Jakob. Jeder hatte den anderen gegenüber seine Geschäftstätigkeit offenzulegen. Bei internen Streitigkeiten gab die Entscheidung zweier Gesellschafter den Ausschlag. Es wurden Vorkehrungen getroffen, dass das Gesellschaftskapital, das im Mannesstamm verbleiben musste, nicht zersplittert wurde. Dem Gesellschaftskapital durfte während der Laufzeit des Vertrags verteilt auf angemessene Abstände insgesamt höchstens ein Viertel der eigenen Einlage für persönliche Haushaltungszwecke und Eigenverbrauch entnommen werden; die Sonderleistung des Voraus für die geschäftsführenden Gesellschafter durfte ihm nicht entzogen werden. Wenn ein Gesellschafter starb, hatten die Erben die Einlage noch drei Jahre in der ursprünglichen Form stehen zu lassen, danach konnte mit ihnen abgerechnet werden, wobei die Auszahlung auf sechs Frankfurter Messetermine verteilt erfolgen sollte.

1642 E., S. 49–52. 1643 Freilich arbeitet Rehme gleichfalls notgedrungen mit ungesicherten Annahmen und kann weder die Geschäftsführung der Neun Herren erklären noch die Arbeitsverträge der Gesellen genauer belegen. Nicht belegen kann er vor allem, dass die Einleger von der unbeschränkten persönlichen Haftung befreit waren, denn das Nürnberger Privileg von 1464 war Nürnberger Sonderrecht im Umfeld einer unbeschränkten Haftung und wurde von der Stadt bereits 1479 in der Stadtrechtsreformation durch eine andere Regelung ersetzt. Siehe S. 908.

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Nach dem Tode der Brüder Georg (1506) und Ulrich (1510) verengte sich jedoch gemäß dem Vertrag von 1502 die Leitung auf Jakob als den einzigen Bevollmächtigten und Regierer. Der Gesellschaftsvertrag von 1512 befestigte dann die Stellung Jakobs als diejenige des einzigen Hauptherrn, und zwar seines Unternehmens. Die Neffen als weitere Gesellschafter waren Jakob untergeordnet und besaßen, abgesehen von einer einstimmig zu beschließenden Verlängerung oder Au ösung der Gesellschaft, nur beratende, keine mitentscheidenden Befugnisse. Jakob verp ichtete die Neffen zu unbedingtem Gehorsam gegenüber seinen Weisungen sowie zu absoluter Verschwiegenheit nach außen und behielt sich das Recht vor, Gewinnanteile festzusetzen, Teilhaber auszuschließen und die Firma aufzulösen. Hinzu kam, dass gemäß den Verfügungen von 1512 über den separat geregelten Ungarnhandel Teilhaberschaft und Gesellschaftskapital als gesellschaftsrechtliches Novum im Mannesstamm der eigenen Familie verbleiben mussten, nachdem er die Töchter seiner Brüder und seinen Neffen Markus, der Geistlicher geworden war, ausgezahlt hatte. Anton Fugger (1493–1560), der Jakob dem Reichen (1459–1525) im Jahre 1525 nachfolgte, erlangte vor allem seit 1537 die gleiche Kompetenzfülle mit einem absoluten und autoritären Führungsanspruch gegenüber den Neffen. Mit außenstehenden Dritten gingen die Fugger folgende gesellschaftsähnliche Verbindungen ein:¹⁶⁴⁴ a) Im Montanbereich schufen die Fugger gegenüber den urzo aus Krakau als den eigentlichen Unternehmern und Produzenten mit dem entsprechenden technischen Wissen im Bergbau im Vertrag von 1494, der als eine Betriebsgemeinschaft auf Halbpart erscheint, tatsächlich ein Verlagsverhältnis im Geldverlag. Die Fugger stellten Kapital bereit und übernahmen den Vertrieb. Nach einem Wechsel der Konzessionsherren der Bergwerke wurden 1495 die Be-

stimmungen auf sämtliche Bergwerke urzos ausgeweitet, sodass die urzo auch ihre Erbbergwerke in die Betriebsgemeinschaft einbringen mussten, während ihnen zugleich der Erwerb von Konzessionsbergwerken zu Eigentum versagt wurde. Im Vertrag von 1496 und in einer Deklaration von 1498 verzichteten die urzo auf sämtliche Vorzugsrechte und erklärten sich einverstanden, dass alles bis zum letzten Gulden zwischen ihnen und den Fuggern geteilt werde, sodass die Fugger das Eigentum am Bergwerks- und Hüttenbesitz der urzo in Ungarn zum halben Teil übertragen bekamen. Die Fugger und urzo bildeten nunmehr eine Interessengemeinschaft von selbständigen und unabhängigen Montanunternehmern, die sich zum gemeinsamen Betrieb einer Saigerhütten- und Metallhandelsunternehmung zusammengeschlossen hatten. Es handelte sich um eine Innengesellschaft, während beide Parteien nach außen hin jeweils eigenständig auftraten. Dieser Form entsprechend gab es kein Gesellschaftskapital, sondern lediglich einen von beiden Teilen je zur Hälfte nanzierten Betriebsfonds. Den Fuggern gelang damit ein »händlerisch-kapitalistischer Einbruch in die Produktionssphäre«.¹⁶⁴⁵ Ziel der neuen Gesellschaft war der Abbau von Silber- und Kupfererz in den ungarischen Bergwerken, der Kauf von Blei für den Saigerprozess, die Verhüttung des Erzes und die Produktion von Silberbarren, Kupferplatten und Ähnlichem sowie deren Verkauf. Dabei übernahmen die Fugger den Großteil des Vertriebs und darüber hinaus auch die Rechnungsführung. Es zeigt sich die Abhängigkeit der urzo von der Kapitalkraft der Fugger. Im Jahre 1503 wurde der Absatz des gewonnenen Metalls auf die Weise geregelt, dass die Betriebsgemeinschaft nur noch einen geringen Teil des Metalls auf eigene Rechnung verkaufte, der Großteil von den Gesellschaftern zum Weiterverkauf auf eigene Rechnung übernommen wurde, wobei wiederum der Großteil auf

1644 C. B, Unternehmung und Unternehmungsformen, S. 94, 174; J. S, Inventur, S. 39 f.; G. F. v. P, Jakob Fugger II, S. 33 f.; H. S, Betriebswirtschaftliche Aufschlüsse aus den Fugger-Veröffentlichungen von Götz Freiherrn von Pölnitz, in: H. S/M. R, S. 9–110, hier, S. 16, 47; M. H, Die Fugger (Kap. 2). 1645 H. S/(M. R), Betriebswirtschaftliche Aufschlüsse, S. 16.

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die Fugger ent el. Als die urzo 1526 die Zusammenarbeit aufkündigten, wurden die Fugger alleinige und selbständige Montanunternehmer in Ungarn. b) Ein wichtiges Instrument der Fugger waren Konsortien als vertragliche Unternehmensverbindungen zur Abwicklung genau abgegrenzter Projekte, um durch mehr oder weniger formlose Zusammenschlüsse mit anderen Gesellschaften für einzelne Geschäfte Anleihen aufzubringen und dadurch Risiko zu verteilen. Mit dem Ziel der Beschränkung der Konkurrenz und monopolistischen Beein ussung des Marktes errichteten die Fugger 1498 zusammen mit den Augsburger Firmen Gossembrot, Herwart und Paumgartner ein Kupferkartell. Die vier Gesellschaften ließen ihren Kupferabsatz in Venedig gemeinsam durch die Vertreter der Fugger zu bestimmten Minimal- und Maximalpreisen durchführen, um dadurch eine Monopolstellung am dortigen Markt zu erlangen. Die Fugger setzen jedoch eine skrupellose Strategie ein, um dieses Preiskartell in der straffen Form eines Syndikats durch die nicht an den Vertrag gebundenen urzo umgehen zu lassen und durch deren Preisunterbietung die anderen drei Gesellschaften zu schädigen, das Syndikat zu zerstören und anschließend ein eigenes Monopol zu errichten. Die Einbußen, die sie selbst als Teilnehmer des geschädigten Kartells erlitten, ließen sie sich von der gemeinsamen Gesellschaft mit den urzo entschädigen. Mit König Maximilan I. schloss Jakob Fugger 1499 ein neues Kupferabkommen. Vermutlich erlangten die Fugger seit den 1520er Jahren auch eine direkte Beteiligung an der Tiroler und Kärntener Erzgewinnung. 9.4.5.2.6 Kapitalstärken und Gewinnraten von Handelsgesellschaften Im 15. Jahrhundert war die RHG wohl die bei weitem kapitalstärkste oberdeutsche Gesellschaft. Ihre Aktiva beliefen sich 1497 auf

Werte von 165 473 Gulden, die zweifelhaften und bösen Schulden (Forderungen) nicht eingerechnet. Das Hauptgut betrug 1510 etwa 117 000 Gulden; man beschloss, es auf 132 000–133 000 Gulden zu erhöhen. Im Jahre 1514 wurde beschlossen, es ungefähr bei 130 000 Gulden zu halten. Die Fugger hatten 1511 ein Gesellschaftskapital von fast 199 000 Gulden, das in 16 Jahren bis 1527 einen Zuwachs von 1,8 Millionen Gulden auf 2 021 201 Gulden erfuhr. Die Geschäfte wurden mit einem Stammkapital von 1,6 Millionen fortgeführt. Das Gesamtvermögen der MemmingerAugsburger Vöhlin-Welser ist 1508 mit Depositen auf etwa 250 000 Gulden zu veranschlagen und könnte sich bis 1528 verdoppelt haben. Das Hauptgut der Nürnberger Welser betrug 1527 etwa 66 000 Gulden; die Augsburger Welser hatten 1545 ein Gesamtkapital von 86 400 Gulden und 1547 von noch 73 200 Gulden. Die Höchstetter brachten es 1524 auf 98 943 Gulden. Im 15. Jahrhundert kam die Basler Gesellschaft der Halbisen-Kilchen auf 40 000–50 000 Gulden, die Frankfurter Gesellschaft der Johann von Mehlen und Genossen auf 60 000–70 000 Gulden, doch dürften beide Ziffern zu hoch veranschlagt sein. Andere Frankfurter Gesellschaften erreichten um 1500 allenfalls etwa 12 000 Gulden.¹⁶⁴⁶ Für die 1529 spektakulär fallierenden Augsburger Höchstetter ist charakteristisch, dass sie bei einer zu geringen Eigenkapitaldecke in ungewöhnlich starkem Maße mit Fremdkapital in Form von Depositen arbeiteten, die von weiten Bevölkerungskreisen eingelegt wurden. Der Handelskredit Höchstetters sank 1528 nach einer Reihe geschäftlicher Misserfolge und einem Vertrauensschwund drastisch und es kam zu einem Ansturm der Kapitalanleger und sonstigen Gläubiger, die bei der Gesellschaft ihre Forderungen geltend machten. Die Höchstetter konnten zwar noch 400 000 Gulden an Gläubiger auszahlen, doch blieben über 300

1646 A. S, Geschichte der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft, Bd. I, S. 59 f. H. K, Deutsche Wirtschaftsgeschichte I, S. 195 f.; R. E, Das Zeitalter der Fugger, Bd. 1, S. 118 f., 122–125, 145–149; M. H, Die Fugger, S. 74 f., 90.

Groß- und Fernhandel 915

Gläubiger aus allen Ständen unbefriedigt, sodass sie vor dem Augsburger Rat klagten. Sie konnten zwar mit einem Teil der Gläubiger einen Vergleich schließen, viele lehnten ihn jedoch ab und verlangten ihre vollen Summen an Kapital und Kapitalerträgen. Der Sohn Joachim und der Schwiegersohn Franz Paumgartner konnten mit wertvollen Vermögensgegenständen iehen, während die 1529 im Rathaus arrestierten Ambrosius Höchstetter, sein gleichnamiger Sohn und sein Neffe Joseph 1531 ins städtische Gefängnis gebracht wurden, wo der alte Ambrosius Höchstetter 1534 starb und aus dem die beiden jungen Höchstetter erst 1544 entlassen wurden.¹⁶⁴⁷ Der Gewinn der auf den Warenhandel beschränkten RHG betrug nach Angaben des Gesellschafters Andreas Sattler von 1477 ausweislich der zurückliegenden Bilanz 21 Prozent, in den Jahren 1484–1524 lag der Jahresgewinn durchschnittlich bei etwa 7,5 Prozent. Die Augsburger Welser erzielten 1502–1517 durchschnittlich 8,9 Prozent. Bei den Fuggern, die noch im Montan- und Finanzgeschäft tätig waren, lag der Gewinn in dieser Zeit bei etwa 15–20 Prozent. Der an der Universität Tübingen lehrende spätscholastische Moraltheologe Konrad Summenhart († 1501/02) veranschlagte am Ende des 15. Jahrhunderts Handelsgewinne auf 10–20 Prozent, Dr. Johannes Eck nahm etwas später für mittlere Kau eute einen Gewinn von 10 Prozent an. Lucas Rem (1481–1541), der seit 1498 bei den Welsern im Dienst stand, aber erst 1514 volles Stimmrecht erhielt, behauptete, seine Herren hätten den Gewinn böswillig herabgesetzt. Der Gewinn Lucas Rems und sei-

ner Mutter, die jeweils 2 000 Gulden in die Welser-Vöhlin-Gesellschaft eingelegt hatten, betrug gemäß den dreijährigen Gewinnauskehrungen 1502–1504 31 Prozent (durchschnittlich 10,3%), 1505–1510, als Rem wegen seiner Arbeit im Ausland (Lissabon) eine große Fürlegung erhielt, 39 Prozent (durchschnittlich 13%), 1508–15010, als die Fürlegung verringert wurde, noch 15 Prozent (durchschnittlich 5%), 1511 und 1512, als er in Antwerpen weilte und innergesellschaftlicher Streit ausbrach, bei kleiner Fürlegung nicht mehr als 11 Prozent (durchschnittlich 5,5%), 1513–1515 bei innergesellschaftlichen Uneinigkeiten 16 Prozent (durchschnittlich 5,3%) und 1516 und 1517, als die Gesellschaft in Portugal und Frankreich großes Glück hatte, 30 Prozent (durchschnittlich 15%).¹⁶⁴⁸ Die von Lucas Rem zusammen mit seinem Bruder Endres gegründete Gesellschaft brachte es 1518–1540 auf durchschnittlich 7,5 Prozent. Von seinem Urgroßvater Hans Rem (1340‒1396) berichtet Lucas Rem¹⁶⁴⁹ auf Grund von dessen Aufzeichnungen, dieser habe 1357 alles verkauft, was er hatte, und mit dem Erlös von 500 Gulden mit dem Venedighandel begonnen, auf der ersten Reise Waren im Wert von 100 Gulden verloren, aber die restlichen 400 Gulden in seine Handelsgeschäfte gesteckt. Lucas bemerkt, dass Hans Rem im fortgesetzten Venedighandel mit einem anfänglich so kleinen Hauptgut (Kapital) bis zu seinem Tod 1396 ein merkliches Vermögen erworben habe, das er in den Unterlagen allerdings nicht beziffert fand. Von seinem Vater hatte Lucas erfahren, dass der Urgroßvater als erster Baumwolle – für die Barchentproduktion – aus Venedig eingeführt und

1647 Nach der Darstellung in der Chronik des Clemens Sender, in: Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 23, S. 220 f., 234, 237. 1648 In den 16 Jahren verbrauchte Lucas Rem zwischen 900 und 1 000 Gulden. Die ersten drei Jahre in Lissabon kaufte er Papageien, Katzen und andere Dinge, die ihm Freude bereiteten, die drei letzten Jahre in Antwerpen Gemälde, Tafeln, Tücher etc., die er zum größten Teil verkaufte und verschenkte. Die anderen Jahre lebte er sparsam. Er gewann mit Sekurieren, möglicherweise durch Beteiligung an Seeversicherungen, viel Geld, verlor nie beim Spiel, gewann aber in den Niederlanden dreimal etliche hundert Gulden. Als er ausschied, hatte er laut der von Anton Welser und der Gesellschaft beschlossenen Generalrechnung alles in allem 9 440 Gulden in der Gesellschaft stehen, die ihm gemäß dem Schuldbrief der Gesellschaft zu den nächsten vier Frankfurter Messen in Tranchen zu je 2 360 Gulden ausgezahlt werden sollten. B. G (Hg.), Das Tagebuch des Lucas Rem, S. 30 f. 1649 Ebd., S. 1 f.

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damit seinen Reichtum gewonnen habe. In seinem Todesjahr versteuerte Hans Rem in Augsburg mit 8 800 ungarischen Gulden das dritthöchste Steuervermögen. Lucas Rem ermittelte, dass sein Urgroßvater in den ersten zehn Jahren durch Raub und Wegnahme bei Überfällen auf Warenzüge sowie durch nicht einzutreibende Forderungen (bös schulden) 7 200 Gulden verloren hatte. Er war in der Lage, acht Töchter mit Heiratsgut in Höhe von insgesamt 10 800 Gulden auszusteuern, das waren durchschnittlich 1 350 Gulden pro Tochter, und vier Söhne mit jeweils 1 300 Gulden, zusammen 5 200 Gulden, auszustatten sowie einer Tochter, die er in das Dominikanerinnenkloster St. Katharinen, die Versorgungsstätte für Töchter der Augsburger Oberschicht, eintrat, 400 Gulden mitzugeben. Damit entzog er seinem Vermögen 16 400 Gulden. Den acht Töchtern vermachte er nach seinem Tode insgesamt 7 350 Gulden, seinen vier Söhnen hinterließ er eine nicht zu ermittelnde, jedenfalls ›namhafte Summe‹. Eine breite Öffentlichkeit und die Reichstage von Worms 1521 bis Augsburg 1530 beschäftigten die exorbitanten Gewinnmöglichkeiten, die das Beispiel des Bartholomäus Rem an den Tag brachte. Rem war als Buchhalter in die Dienste der Höchstetter getreten und hatte 1511 den Betrag von 900 Gulden in die Gesellschaft eingelegt. Als er 1517 wieder ausschied, verlangte er einen Geschäftsanteil von 33 000 Gulden. Nach Angaben eines Ratschlags des Augsburger Reichstags soll Rem in dreizehn Jahren seinen Kapitalanteil von 1 200 auf 33 000 Gulden gesteigert haben. Da Ambrosius Höchstetter aber nur 26 000 Gulden auszahlen wollte, verklagte ihn Rem erfolglos vor Kaiser Karl V. und den Reichsständen auf dem Wormser Reichstag und wollte einen vom Augsburger Rat vermittelten Schiedsspruch, der ihm 30 000 Gulden zusprach, nicht annehmen. Als Rem

während des Reichstags einen Warenzug der Höchstetter überfallen ließ, wurde er in Worms inhaftiert und nach kurzer Flucht in Augsburg ins Gefängnis gebracht, wo er 1525 starb.¹⁶⁵⁰ 9.4.6 Der Aktionsradius des Fernhandels 9.4.6.1 Kölner Handelsbeziehungen Köln als südlichste Hansestadt¹⁶⁵¹ war die »nach den Raumbeziehungen, dem handwerklichen Produktions- und Warensystem und den organisatorischen Methoden universellste deutsche Handelsstadt des Mittelalters«.¹⁶⁵² Die Stadt besaß ein stadtherrliches Stapelprivileg des Erzbischofs Konrad von Hochstaden von 1259, das sich auf den Großen Schied mit der Bürgerschaft vom vorigen Jahr bezieht, in dem das Zollrecht des Erzbischofs und ein Vorkaufsrecht der Kölner Kau eute festgelegt worden waren. Möglicherweise hatten die Kölner in früherer Zeit eigenmächtig die Rheindurchfahrt gesperrt. Das Stapelprivileg betraf sowohl den Handelsverkehr auf dem Rhein als auch auf dem Landweg nach Köln. Genannt werden Kau eute aus Ungarn, Böhmen, Polen, Bayern, Schwaben, Sachsen, üringen, Hessen und jedem möglichen anderen östlichen Gebiet, die mit irgendwelchen Waren an den Rhein kommen und zunächst nicht über Köln hinaus weiterziehen dürfen, ferner mit der gleichen Bestimmung Flamen, Brabanter oder Kau eute von jenseits der Maas oder aus anderen Gebieten abwärts des Rheins. Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts wurde ein stapelp ichtiges Warenspektrum festgelegt, das feuchte Güter (Ventgut) wie Fisch, Speck, Öl, Wein und Käse, ferner Vieh, Baumaterialien, Eisen, Blei und Stahl umfasste, wobei Getreide nur zeitweise dem Stapel unterworfen und Süßwasser sche ausgenommen waren. Die Stadt beanspruchte grundsätzlich Akzisen auf alle Köln durchlaufenden

1650 Chronik des Clemens Sender, in: Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 23, S. 146 f., 148 f. 1651 Zu den Handelsbeziehungen und Warenströmen der Hanse siehe 9.5.2. 1652 B. K, »Köln«, S. 88; ., Der Kölner Handel; . (Hg.), Quellen zur Geschichte des Kölner Handels und Verkehrs; F. I, Die wirtschaftliche Stellung der Stadt Köln;. H. K (Hg.), Zwei Jahrtausende Kölner Wirtschaft (F. I, H. K). Zum Folgenden siehe insbesondere G. H, Die Kölner Handelsbeziehungen (mit 23 Karten).

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Waren und eine Umsatzakzise auf die Geschäftsabschlüsse; ferner wurden an den Lagerorten der Waren am Kai und in den Kaufhäusern Gebühren für Wiege- und Messvorgänge erhoben. Die Stadt garantierte dafür den einheimischen und den fremden Kau euten die Güte, die korrekte Stückzahl, das rechte Gewicht und Maß der Waren. Der dreitägige Kölner Stapel gewann dadurch an Wirksamkeit, dass die natürlichen Wasserstandsverhältnisse des Rheins bei Köln im Anschluss an die Niederlage der Waren ein Umladen der Güter auf einen anderen Schiffstyp erforderten oder nahelegten. In Richtung Süden im beginnenden Mittelrhein war die Fahrrinne des Mittelgebirgs usses gegenüber dem niederrheinischen Abschnitt weniger tief und es befanden sich Untiefen und Riffe im Rhein, sodass man – rheinaufwärts an den Leinpfaden von Menschen oder Zugtieren getreidelt – auf die langen und schmalen, auf einem achen Boden gebaute Schiffe, die Oberländer genannt wurden, umladen musste, während Oberländer aus dem Süden zwar über Köln hinaus fahren und die niederländischen Märkte bedienen konnten, der Stapel jedoch ohnehin ein Ausladen der Güter verlangte und das Umladen auf die breiten, gedrungenen und erheblich tiefergehenden Niederländer die Frachtkosten senkte, da diese Schiffe etwa eine um die Hälfte höhere Ladung aufnehmen konnten. Die Niederländer besaßen außerdem eine Takelage, sie waren segelfähig und hochseetauglich, sodass sie auf dem offenen Meer weiter nach England und ins Baltikum fahren konnten. Die Strömungsgeschwindigkeit des Rheins war damals vor allem im Tie andstrom erheblich geringer als später nach der Rheinregulierung im 19. Jahrhundert. Köln war der maßgebliche Rheinhafen; von Köln aus gingen dann die Transportwege zu Lande nach den linksrheinischen Städten Aachen und Lüttich bis Brabant und Flandern. Auf dem Stapel beruhte zu einem guten Teil die Wirtschafts- und Finanzkraft Kölns; andererseits behinderte der Kölner Stapel die Entwicklung von Städten am Rhein wie Neuss, Düsseldorf oder Duisburg. Der Köl-

ner Stapel wurde wie der Mainzer erst durch die Rheinschifffahrtsakte von 1831 abgeschafft. Für Wein war Köln der wichtigste Umschlagplatz im Reich und wurde das Weinhaus der Hanse genannt; von dort aus gingen Lieferungen nach ganz Europa. Die umgeschlagenen Mengen schwankten stark mit den Ernteerträgen. Der Weinhandel, vorzugsweise durch Familiengesellschaften betrieben, war wichtigstes Handelsgut und eine der einträglichsten Einkommens- und Finanzquellen von Bürgerschaft und Stadt. Für die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts wird ein Gesamtumsatz von etwa 100 000 Hektolitern pro Jahr geschätzt, für die zweite noch über 60 000 Hektoliter. Gehandelt wurde überwiegend mit so genanntem Rheinwein aus dem Mosel- und Oberrheingebiet. Für das 14. und 15. Jahrhundert konnten 647 Kölner Weinhändler ermittelt werden. Hauptabsatzgebiete waren Flandern und Brabant, wo Kölner in Brügge, Brüssel und Antwerpen auch Weinschänken betrieben. Der bedeutende Weinhandel nach England ging zurück, als in London seit dem 14. Jahrhundert französischer Wein den Rheinwein zu verdrängen begann, sodass im 15. Jahrhundert der Weinhandel gegenüber dem Tuchhandel eine nur noch marginale Rolle spielte. Am Weinhandel waren vor allem, aber mit abnehmender Tendenz im Verlauf des 14. Jahrhundert die Geschlechter beteiligt, ferner Kau eute und auch viele Handwerker verschiedener Berufe, doch nur etwa 10 Prozent der Handwerker waren Weingroßhändler. Als steuerfreie Konkurrenten in Weinhandel und Weinzapf traten Kleriker auf. Die Stadt pro tierte vom Weinhandel durch die Akzise auf den Weinhandel in Form der Weinzapf- und der späteren Weineinfuhrakzise. Kölner Kau eute verfügten das ganze Spätmittelalter hindurch über das am weitesten ausgedehnte Handelsnetz, das in verschiedenen Perioden mit deutlichen Verlagerungen der Schwerpunkte genutzt wurde. Kölner Kaufleute, ihre Handlungsdiener oder arbeitende Mitgesellschafter, Faktoren und Kommissionäre reisten über Dordrecht nach England, zu den Maasstädten, in den Raum der französischen

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

und niederländischen Messen, auf die iberische Halbinsel, über den Mittel- und Oberrhein nach Oberitalien, Genua, Venedig und bis nach Süditalien, nach Oberdeutschland und in die Schweiz, in den Ostseeraum bis nach Skandinavien wie nach Österreich (Wien), Böhmen und Schlesien, Ungarn und Russland. London mit der dortigen, durch Schutzprivileg König Heinrichs II. (1175/76) für die Kölner Kau eute (homines und amici) begründeten, in der Guildhall (später Stalhof ) residierenden Kölner Sonderhanse,¹⁶⁵³ die Messen der Champagne und West anderns (12./13. Jahrhundert) und nachfolgend der niederländische Raum mit Brügge und früh schon mit Antwerpen, das für die Kölner Brügge über ügelte, sowie die Frankfurter Messen waren die überragenden Handelsziele. Manche Kau eute verblieben dauerhaft an entfernten Handelsplätzen. Viele Kölner ließen sich in Antwerpen nieder, das seit dem frühen 15. Jahrhundert wirtschaftlich mächtig aufstrebte und spätestens seit dem 16. Jahrhundert bis zur Sperrung der Schelde durch die Holländer nach der spanischen Eroberung der Stadt im Jahre 1585 zum bedeutendsten Handelsplatz außerhalb des Mittelmeerraums wurde. Zeitweise stellten die Kölner Kau eute, Wein- und Tuchhändler, in Antwerpen die meisten Besucher. An bedeutenden Plätzen gründeten Kölner Kau eute gemeinsame Niederlassungen, aus denen sich zunehmend Gesellschaften mit engen Beziehungen zu Köln aussonderten. Andere gingen, so in Lübeck, Barcelona und Wien, seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert Gesellschaften mit dortigen Teilhabern ein, um den örtlichen Stapel- und Einkellerungszwang und erhöhte Steuern für Auswärtige zu vermeiden. Ansonsten konnten sich die Kau eute auf die hansischen Privilegien stützen. Köln war zwar südlichste Hansestadt, doch betrieben die Kölner Kau eute im Unterschied zu den wendischen Ostseestädten neben dem Transithandel auch in hohem Maß Eigenhandel; sie drangen durch Geschäftsbeziehungen und Verlag in die Metall-

1653 S. J, England, die Hanse und Preußen (9.5).

produktion des Umlandes und des Märkischen Sauerlandes ein, sodass Teile der Produktion über Köln abgesetzt wurden. Der Eigenhandel und die überragende Bedeutung des Englandhandels ließen die Stadt in Interessengegensätze zur Hansepolitik Lübecks geraten, vor allem als Köln den Boykott der Hanse gegen England 1470 nicht mitmachte und deshalb zeitweise aus der hansischen Gemeinschaft ausgeschlossen wurde. Kölner Kau eute handelten vor allem mit Wein, Textilien (Tuch, Seidenprodukte, Barchent), Metallen (Zinn, Kupfer) und Metallwaren (Stahl, Waffen), Gewürzen und See sch, nachgeordnet mit den meisten übrigen Produkten des spätmittelalterlichen Warenangebots. Darüber hinaus investierten sie in der Form von Anlagekapital, ohne sich am Handel zu beteiligen, in Nordengland, Niederungarn, Böhmen und im Erzgebirge in den Bergbau. Köln selbst war mit der nord-südlichen Rheinachse und der von Flandern nach Sachsen führenden WestOst-Route ein Verkehrsmittelpunkt, ein geograsch begünstigter Umschlag- und Etappenplatz sowie Stapelort, der die Stadt vom Zwischenhandel pro tieren ließ, sowie ein herausragender Finanz- und Kreditplatz. Wirtschaftliche Bedeutung besaß auch der Umstand, dass Köln mit den Reliquien der Heiligen Drei Könige Pilgerort war und zudem am Pilgerweg nach Santiago de Compostela lag. Die Kölner reisten an Orte, an denen sie ihre Waren gegen mehr oder weniger gleichwertige Güter tauschen konnten. Seit Ende des 14. Jahrhunderts vertrieben sie auswärtige Waren zunehmend auch auf Routen, die Köln nicht mehr berührten, verkauften sie zu einem Teil gegen Bargeld und nahmen weniger an Rückfracht auf. Am Anfang dominierte der Eigenhandel des einzelnen Kaufmanns, der, auf bestimmte Handelsziele spezialisiert, sich angesichts des Risikos nach Möglichkeit mit anderen in Fahrtgemeinschaften zusammenschloss. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts wurden in organisatorischer Flexibilität verstärkt Handelsgesellschaften als

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kurzfristige Zusammenschlüsse von zwei oder drei Kau euten mit begrenztem Kapitaleinsatz, auch von Kau euten mit verdienten Handlungsdienern oder mit auswärtigen Gesellschaftern gebildet. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts kamen längerfristige Unternehmungen mit einer führenden Kaufmannsfamilie als Kern – wie die des Johann und dann Hermann Rinck – oder die Stralen-Kalthof-Gesellschaft hinzu, die in ihren Strukturmerkmalen Ähnlichkeit mit oberdeutsch-südeuropäischen Gesellschaften aufwiesen. Daneben nden sich seit dem 14. Jahrhundert, als sich neue Kau eutekorporationen in den Gaffeln bildeten, Fahrtgenossenschaften jüngeren Typus’ wie die Englandund Venedigfahrer. Im Verlauf des 14. Jahrhunderts zogen sich auch mit politischen Konsequenzen Kölner Geschlechter immer stärker vom Fernhandel zurück und machten zugewanderten Kaufmannsfamilien, Kölner nichtpatrizischen Kau euten und auch Handwerkern Platz, die dank der Gewinnmöglichkeiten, die der Handel bot, in kurzer Zeit zu einer neuen wirtschaftlichen Oberund Führungsschicht aufstiegen. 9.4.6.2 Handelsbeziehungen und geschäftliche Aktivitäten oberdeutscher Kau eute, Gesellschaften und Firmen Oberdeutsche Kau eute und Firmen können in größerer Zahl »im Süden bis zu den Abruzzen, im Südwesten bis Valencia und schließlich Lissabon und Sevilla, im Westen bis Toulouse und Paris, im Nordwesten bis Brügge, Antwerpen und selbst England, im Norden bis Lübeck, im Nordosten bis Preußen und Polen, im Osten über Krakau und Lemberg bis zum Schwarzen Meer und selbst Konstantinopel, im Südosten bis Ungarn« verfolgt werden.¹⁶⁵⁴ Dabei

haben sich nur wenige wie die Nürnberger, die seit der Mitte des 14. Jahrhunderts die Regensburger über ügelten, in diesem gesamten Fernhandelsraum betätigt; die meisten beschränkten sich auf bestimmte Abschnitte. Das in Ulm angelegte Verzeichnis der zur neuen Messe von 1439 einzuladenden Städte enthält über 400 Städtenamen und umschreibt einen Horizont, der von Brügge nach Venedig und von Breslau nach Genf reicht. Die gleichfalls breit gestreute Messeliste Nördlingens von 1486 enthält noch über 200 Städtenamen. Andererseits waren die wechselseitigen Kenntnisse Ober- und Niederdeutschlands voneinander wahrscheinlich nicht sehr ausgeprägt.¹⁶⁵⁵ Der Stadt Nürnberg gelang es, unter anderem mit Hilfe der Staufer, ein dichtes Netz von Zollfreiheiten vor allem im Westen – die Bestätigung durch Ludwig den Bayern von 1332 nennt 69 Städte – und zeitlich etwas später ein Netz von Sicherheits- und Geleitsverträgen vor allem im Osten von Österreich über Ungarn und Böhmen bis zur Mark Brandenburg und Polen zu errichten.¹⁶⁵⁶ Im Westen erlangte Nürnberg Sicherstellungen beim Erzbischof von Köln (1334), solche für Brabant und Limburg (1357), Zusicherungen für die Geleitstraße nach Frankfurt (seit 1313), Geleitversprechen der Grafen von Württemberg und Baden (1358). Die Reihenfolge der Zollfreiheiten »beginnt in der Schweiz, schreitet dann durch das Rheintal nach Norden fort und biegt von Köln aus nach Westen in die Niederlande ab. Am Schluss steht eine ganze Gruppe von Städten der näheren Umgebung Nürnbergs samt einigen vereinzelten Plätzen«.¹⁶⁵⁷ Lübeck und Arles (Provence) bezeichnen die geogra schen Extreme. Die Masse der beteiligten Städte waren Reichsstädte. Die regelmäßige Ablieferung von Geschenken an Territorialherren sorg-

1654 H. A, Vom Lebensraum der mittelalterlichen Stadt (6), S. 293. 1655 U. D, Zu den Beziehungen zwischen oberdeutschen und norddeutschen Städten im Spätmittelalter (6). 1656 H. A, Die wirtschaftliche Stellung der Reichsstadt Nürnberg, S. 20–44; H. H, Nürnbergs Handelsprivilegien, Zollfreiheiten und Zollverträge bis 1399. 1657 H. A, Die wirtschaftliche Stellung, S. 21, Karte Nr. I; W. v. S, Oberdeutsche Hoch nanz, Teil III, Karten.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

te für die Bekräftigung der Zollfreiheiten. Nur die Handelsverträge Lübecks und der Hanse waren umfassender als die Nürnbergs. Die avancierten Nürnberger Handelshäuser »verbanden Warenfernhandel, großgewerbliches Unternehmertum und Verlagswesen zugleich mit Edelmetallgewinnung und Giralgeldschöpfung, mit Bankgeschäft, Ämter- und Regalienpacht«.¹⁶⁵⁸ Neben dem Messeort Frankfurt am Main bildeten sie im 14. Jahrhundert einen Geldmarkt für den mitteleuropäischen Warenfernhandel, seit etwa 1330 einen Markt für politische Anleihen europäischer Mächte und sicherten sich etwas später einen Platz im Finanzwesen der Kurie. In fast allen wirtschaftlichen Handlungsfeldern gingen Nürnberger Häuser den Augsburger Firmen voran. Etwa seit 1470 übernahm Augsburg die Rolle Nürnbergs in der politischen Finanz.¹⁶⁵⁹ Die Große Ravensburger Handelsgesellschaft hielt sich von großen Geld- und Kreditgeschäften fern und beschränkte sich im Wesentlichen auf den Warenfernhandel, der gelegentlich mit Detailhandel verbunden war. In ihrer konservativen Wirtschaftsgesinnung übernahmen die Ravensburger kaum moderne Methoden und Techniken. Allerdings sind einzelne Wechselbriefe und Silbertransporte, Transferleistungen für Konstanzer Geistliche an die Kurie, Verbindungen mit italienischen Häusern in Siena und Florenz, auch Kredite für das Leinengewerbe nachweisbar. Grundsätzlich vermied jedoch die Gesellschaft Finanztransaktionen, nahm aber erlaubte Verzugszinsen. Die Gesellschaft exportierte Leinwand und Barchent aus Oberdeutschland, Textilien aus Oberitalien und aus den Niederlanden sowie Metallwaren aus Nürnberg. Sie importierte den teuren Safran, Gewürze, Edelsteine, Perlen, Korallen, Südfrüchte, Reis, Zucker, Leder, Wolle und noch weitere Produkte ausländischer Märkte. Die Ravensburger besaßen – nicht alle zur gleichen Zeit – Gelieger in Italien (Mailand, Venedig, Genua), Savoyen (Genf ), Frankreich (Lyon,

Avignon) und in Spanien mit Barcelona und Valencia, wo sie auch eine Bodega für Kleinhandel unterhielten, und Saragossa, wo sie eine Zuckerraffinerie betrieben, in Nürnberg und Wien, im Nordwesten in Brügge und Antwerpen. Sie unterhielten Vertretungen, teilweise durch Einheimische, Agenten und Standorte, die nicht immer eindeutig von Geliegern abzugrenzen und in ihrem Zuschnitt zu bestimmen sind, in St. Gallen, Como und L’Aquila, in Perpignan, Toulouse, Bourg-en-Bresse, Bouc bei Marseille, in Tortosa, Alicante und Bilbao, in Köln, London, Ofen und Breslau. Einige Gelieger mussten sie noch vor 1500 aufgeben. Die Gesellschaft stieg nicht wie andere oberdeutsche Firmen in das Geschäft mit ostindischen Gewürzen in Lissabon ein. In einer Vielzahl oberdeutscher und eidgenössischer Handelsstädte gab es vor allem im 15. Jahrhundert bedeutende Handelsgesellschaften: in Basel die Gesellschaft der Halbisen und Kilchen, in St. Gallen und Bern die Diesbach und von Watt, in Nürnberg als Nachfolgegesellschaft der Stromer die GruberPodmer-Stromer sowie die Imhoff und Tucher, in Frankfurt, dem Umschlagsplatz zwischen Ober- und Niederdeutschland, die StalbergBromm, in Augsburg um die Jahrhundertmitte die Meuting und an der Wende zum 16. Jahrhundert die Gossembrot, Paumgartner, Höchstetter, Rehlinger, Herwart, Manlich, Welser und Fugger. Zwischen den Welsern, die 1473 eine Handelsgesellschaft der vier Brüder gründeten, den umern in Nürnberg, den Vöhlin in Memmingen und den Besserern in Ulm kam es zu einer bedeutenden Ver echtung führender Familien und zu einer Kapitalzusammenfassung in Oberdeutschland, die durch Depositen angereichert wurde. Die 1496/98 gegründete, durch Konnubium verbundene Vöhlin-WelserGesellschaft mit Sitz in Augsburg umfasste 1508 ausweislich des Gesellschaftsvertrags 18 Teilhaber, die alle miteinander verwandt waren. Die Anzahl verminderte sich, als 1517 im Streit über

1658 W. v. S, Die oberdeutschen Geld- und Wechselmärkte, S. 27. 1659 J. R, Augsburger Handelsgesellschaften des 15. und 16. Jahrhunderts.

Groß- und Fernhandel 921

die Höhe der Gewinnbeteiligung Gesellschafter ausschieden und Jakob Welser in Nürnberg eine eigene Firma gründete. Die Vöhlin-Welser hatten verschiedene Faktoreien im oberdeutschschweizerischen Raum, wo sie teilweise im Textilverlag produzieren ließen, sowie Niederlassungen in Nürnberg, Mailand, Genua, Lyon, L‘Aquila, Toulouse, Saragossa und Antwerpen. Sie bezogen Pfeffer und andere exotische Gewürze aus Venedig und Lissabon, wo sie als erstes süddeutsches Handelshaus 1503 eine Faktorei errichteten. Erst unter der Leitung des Bartholomäus Welser engagierte sich die Firma nach 1520 stärker im Bergbau und Montanhandel. Bartholomäus Welser übernahm zudem in einem Pachtvertrag von 1530 mit Kaiser Karl V. die spanische Maestrazgos, die dem spanischen König zustehenden Einkünfte aus den Liegenschaften der spanischen Ritterorden, im Zeitraum von 1532 bis 1537 für die jährliche Summe von 152 000 Golddukaten. Der Vertrag stand zunächst unter der nicht eingetretenen au ösenden Bedingung, dass kein höheres Gebot von einer anderen Gesellschaft erging. Wichtige Handels-, Geld- und Kreditplätze waren auch Esslingen, Speyer, Straßburg, Konstanz, Regensburg und München sowie die Messeorte Frankfurt, Nördlingen, Zurzach und Linz. Im 16. Jahrhundert erlangten oberdeutsche Firmen, voran die Augsburger Fugger und Welser, mit ihren modernen, mediterranen Formen und Methoden Weltgeltung.¹⁶⁶⁰ Durch die Erschließung des Seewegs nach Ostindien, die Entdeckung Amerikas und die Intensivierung des Seehandels nach Afrika und Ostasien zeichnete sich eine Schwerpunktverlagerung des Handels vom Mittelmeer nach dem atlantischen Westeuropa, den iberischen Häfen, nach Frankreich, England und nach den Niederlanden ab. Der Nürnberger Christoph Scheurl berichtet 1506 aus Bologna dem On-

kel Sixt Tucher in Nürnberg mit Bezug auf die Entdeckung der mittelamerikanischen Inselwelt mit 600 Inseln durch Kolumbus vor 14 Jahren, dass sie Venedig und Nürnberg große Einbußen und den Niederdeutschen und Leipzig große Vorteile gebracht habe, da die Polen, Ungarn und Böhmen Drugwaren (Apothekerwaren/Gewürze) und Gewürze jetzt zu geringeren Kosten in Leipzig einkaufen könnten als früher in Nürnberg mit dessen Bezugsquelle über Venedig aus Ägypten. Eine Wende erhoffte er sich durch den Friedensvertrag Venedigs mit dem ägyptischen Sultan, der diesem den Kampf mit den Portugiesen ermöglich sollte. Scheurl versprach sich dadurch eine Behinderung des Handelswegs über Portugal und in die Niederlande und die Rückführung des Warenangebots nach Venedig zugunsten des früheren Handelsverkehrs. Als zusätzliche Perspektive verwies er auf die Möglichkeit, Nürnberger Erzeugnisse, Metall- und Kurzwaren, in die neuen Inseln zu exportieren.¹⁶⁶¹ Die Welser und andere Augsburger und Nürnberger Firmen beteiligten sich an der großen portugiesischen Ostindienfahrt von 1505/1506 nach dem Haupthafen Calicut, für die nach dem Bericht des Wilhelm Rem in dessen »Chronik alter und neuer Geschichten« deutsche Firmen ein Kapital von 36 000 Dukaten aufbrachten, womit sie die Florentiner und Genuesen mit ihren nur 29 400 Dukaten übertrafen. Von der Gesamtsumme der Deutschen ent elen auf die Welser und Vöhlin von Augsburg und Memmingen 20 000 Dukaten, die Höchstetter 4 000, die Gossembrot 3 000, die Nürnberger Imhof 3 000 und die Hirschvogel 2 000 Dukaten.¹⁶⁶² Lucas Rem, der 1504 den Vertrag über die Beteiligung der Welser zustande gebracht hatte, errechnete trotz der Abgabe von 30 Prozent der Waren an den König von Portugal (und das Kloster Belém) einen exorbitanten Gewinn von 150 Prozent.¹⁶⁶³

1660 R. E, Das Zeitalter der Fugger; G. F. v. P, Die Fugger; M. H, Die Fugger. 1661 G. M (Hg.), Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 132, S. 400–403. 1662 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Augsburg Bd. 5, S. 277–279; G. M (Hg.), Quellen, Nr. 131, S. 399–401. 1663 B. G (Hg.), Das Tagebuch des Lucas Rem, S. 8.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

Die Augsburger Handelshäuser bildeten kapitalstarke Firmen und arbeiteten mit modernen italienischen Formen, Methoden und Techniken; sie lagen verkehrsgünstig am Alpenrand und zu den europäischen Bunt- und Edelmetallvorkommen und besaßen ausgezeichnete Geschäfts- und Kreditbeziehungen zu dem internationalen Haus Habsburg, dessen Wirtschaftsraum – das Reich, die Niederlande, Spanien und die überseeischen Eroberungen – sie nutzten. Jakob Fugger der Reiche (1459–1525) war der wichtigste Bankier Maximilians und sicherte den Habsburgern den Verbleib der Königs- und Kaiserwürde bei ihrem Hause, indem er die Kosten für die Wahl Karls V. zum römischen König, die insbesondere hohe Zahlungen an die Kurfürsten erforderte, mit einem Kredit in der enormen Höhe von 543 585 Gulden zu zwei Dritteln nanzieren half. Die Welser beteiligten sich mit 143 333 Gulden, italienische Firmen mit weiteren 165 000 Gulden. Am Rande des Augsburger Reichstags von 1530 vereinbarten Karl V. und sein Bruder Erzherzog Ferdinand mit den Fuggern ein Darlehen über 275 733 Gulden, mit denen im Hinblick auf die Königswahl Ferdinands die fünf zustimmenden Kurfürsten bezahlt werden sollten. Im selben Jahr hatte Karl V. bei den Fuggern und Welsern zusammen bereits ein Darlehen von 1 220 000 Dukaten verteilt auf zwei Jahre aufgenommen. Die Augsburger Welser hatten Hauptsitze in Nürnberg, Antwerpen, Venedig, Lyon und Lissabon und koordinierten Niederlassungen in zahlreichen anderen Handelsstädten. Hans Fugger war 1367 aus dem schwäbischen Dorf Graben nach Augsburg gezogen und dort in die Weberzunft eingetreten; 1463 gingen die Fugger zur Kaufmannszunft über. Durch Barchenthandel, durch Einfuhr von Rohbaumwolle und verlegerische Tätigkeit erwirtschafteten die Fugger ein Grundkapital. Unter Jakob Fugger dem Reichen nahm die Firma einen rapiden Aufstieg, um 1500 stand sie bereits mit an der Spitze der internationalen Finanz. Zeitweise arbeiteten die Fugger im Anleihegeschäft, das sie stets mit Silber- und Kupferkäufen verbanden,

mit der Augsburger Konkurrenz der Gossembrot, Herwart, Paumgartner in Konsortien zusammen. Erhebliche Geldmittel erschlossen sie durch Depositen. Namentlich der Fürstbischof von Brixen, Kardinal Melchior von Meckau, hatte bei seinem Tod 1509 mehr als 150 000 Gulden bei den Fuggern stehen. Als der Fürstbischof starb und Papst Julius II. kraft kanonischen Rechts dessen Erbe beanspruchte, drohte den Fuggern der Konkurs, den sie jedoch durch eine Verständigung mit Rom abwehren konnten. Ausweislich der Augsburger Steuerbücher versteuerten die drei Brüder Ulrich, Georg und Jakob Fugger 1495 zusammen ein Steuervermögen von etwas mehr als 54 000 Gulden; im Jahre 1510 verfügten die Fugger über 245 000 Gulden einschließlich von 32 000 Gulden an liegenden Gütern, Häusern, Hausrat und Silbergeschirr. Das Firmenvermögen belief sich ausweislich der Bilanz von 1527 auf etwas über 2 Millionen Gulden bei Aktiva von 3 Millionen – Stammkapital, Bargeld, Warenlager, Bergwerksbesitz, Immobilien, Grundherrschaften, Schuldforderungen (daruntger zweifelhafte Außenstände) – und Passiva von 870 000 Gulden – (in Spanien 340 000, Depositenschulden 290 000). Im Jahre 1546 wurden etwa über 5 Millionen Gulden bei Aktiva von 7,1 Millionen, darunter 2,35 Millionen an Außenständen, und Passiva von 1,77 Millionen, darunter 700 000 Gulden Depositenschulden ermittelt, weshalb die Geschäftszuwächse seit 1527 nur durch fremde Kapitalien ermöglicht wurden. Die großen Nürnberger Vermögen reichten an die Grenze von 100 000 Gulden heran, in Frankfurt wurden Vermögen von 45 000 Gulden, in den Hansestädten von 30 000 Gulden erreicht. Die Fugger schossen Herzog Sigmund von Tirol 1488 die Summe von 150 000 Gulden (die Meuting 1456: 35 000 Gulden) vor, König Maximilian 1491 120 000 Gulden, 1509 70 000 Gulden, daneben immer wieder kleinere Summen. Im Jahre 1495 eröffneten sie eine Filiale in Rom und beteiligten sich fortan am Finanzgeschäft mit der Kurie, außerdem machten sie Geschäfte mit dem englischen Hof.

Groß- und Fernhandel 923

Die Fugger vereinigten folgende Geschäftsbereiche:¹⁶⁶⁴ 1. Warenhandel (transkontinentaler und überseeischer Fernhandel) mit – Waren des deutsch-italienischen Handelsverkehrs: Gewürze, ›Drogen‹ (Apothekerwaren), Edelsteine, Barchent, Luxustuche und -stoffe, Montanprodukte (Buntund Edelmetalle), Metallwaren (Rüstungen, Waffen) – Massenverbrauchsgütern (Wein, Salz) – Pfennwerten, d. h. Nahrungsmitteln und Gebrauchsgütern des Alltags, für die Versorgung der Arbeiter im Montanbereich – spanisch-portugiesischen Pfefferimporten, die sie im Vorkauf zu einem Großteil nanzierten – ferner Menschenhandel mit schwarzafrikanischen Sklaven für südamerikanische Kolonien 2. Verlegerische Organisation und Vertrieb von Textilprodukten und Bergbau – Erwerb der Stadt Weißenhorn und der Grafschaft Kirchberg 1507 (Barchentweberei) – Tiroler Bergbau (anfangs in Verlagsform) – Ungarischer Kupferhandel: Fuggerurzo-Vertrag von 1494 (urzo: Technik/ Fugger: Kredit und Absatz) 3. Kapitalintensive Urproduktion, Verarbeitung und Absatz von Montanprodukten bei Pacht, Pfandbesitz oder Eigentum an Bergwerken und Hütten – Ungarische Kupferausbeute nach hälftiger Übernahme des Bergwerks- und Hüttenbesitzes der urzo (1498) und späterer vollständiger Übernahme (1526) des Unternehmens

– Tiroler Silberbergbau (Pfandbesitz von Bergwerksanteilen und Erwerb von Anteilen aus der Konkursmasse des Augsburgers Martin Paumgartner) – Tiroler und Kärntner Kupferausbeute – Bleiabbau in Bleiberg und Fuggerau (Kärnten) sowie im Lavanttal – Goldgewinnung in den gepachteten Gruben von Freiwaldau im Sudetenland – Abbau von Quecksilber in den gepachteten Gruben von Almadén (Mittelspanien) ab 1525 4. Finanzgeschäft (Staatskredit) und Handel Die Gewährung von Anleihen zur Deckung meist außerordentlichen fürstlichen und königlichen Kapitalbedarfs (Kriege) wird zur Sicherung, Verzinsung und Tilgung der gelegentlich durch Konsortien aufgebrachten Anleihen mit Metallkäufen oder Pachtgeschäften (Naturaleinnahmen) verbunden. – Silber und Kupferkäufe (Metallkäufe) in Tirol und Kärnten seit 1478 a) Gegen Darlehensgewährung können die Fugger (und Konsorten) bestimmte Gewichtsmengen an Metallen von den Gewerken zum Vorzugspreis des landesfürstlichen Regalherrn beziehen. Diese Form des Kaufgeschäfts beruht auf dem Wechsel, einer pro Mark bei Silber und pro Zentner bei Kupfer erhobene Regalabgabe der Gewerke an den Regalherrn, die nicht als direkte Zahlung geleistet, sondern dadurch realisiert wird, dass der vorkaufsberechtigte Landesfürst die Metalle zu einem billigen Preis erwirbt, der erheblich unter dem jeweiligen Marktpreis liegt. Das vereinbarte Metallkon-

1664 Zusammengestellt hauptsächlich nach H. S/(M. R), Betriebswirtschaftliche Aufschlüsse aus der Fuggerzeit. M. A. D weist darauf hin, dass die europaweite Bedeutung der Fugger nicht im engeren ökonomischen Bereich allein verhaftet geblieben sei, sondern sich auf den Montansektor und durch die Finanztransaktionen auf den politischen, militärischen und kirchlichen Sektor erstreckt habe. Er vergleicht die Unternehmungen mit denen der Florentiner Bardi, Peruzzi und Medici im 14. und 15. Jahrhundert und »wagt« angesichts der starken Verwurzelung der Fugger in spätmittelalterlichen Traditionen die anregende ese, dass das Haus Fugger »als eine der letzten – oder sogar die letzte? – (spät)mittelalterlichen Super-Companies (E S. H) anzusehen« sei. E. W/M. A. D (Hg.), Das Kaufmannsnotizbuch des Matthäus Schwarz, S. 219 mit Anm. 793. Die Tätigkeitsfelder der Fugger waren allerdings vor allem durch den Montanbereich breiter angelegt, die Kredite besser gesichert.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

tingent wird von den Fuggern in Lieferungen zum landesfürstlichen Billigpreis gekauft, die dem Billigpreis zuzuschlagende Wechsel-Quote und die Frohnde, der Zehnte vom abgebauten Erz, werden einbehalten und nicht an den Landesfürsten gezahlt, sondern sie tilgen fortlaufend rechnungsmäßig das Darlehen. b) Das Darlehen wird verzinst (etwa zu 5%); als Vergünstigung erhält der Kreditgeber die Berechtigung zum Kauf eines Metallkontingents zu vereinbarten Preisen pro Gewichtseinheit. Die Tilgung der Anleihe erfolgt gesondert, nicht durch den Metallverkauf, dennoch stehen Darlehensgewährung und Metallkauf in einem ursächlichen Zusammenhang. Für das 1488 Herzog Sigmund von Tirol gewährte Darlehen von 150 000 Gulden erhielten die Fugger alles nach Erlöschen früherer Pfandkontrakte in den Schwazer Bergwerken erzeugte Silber die Mark zu acht Gulden. Davon hatten sie fünf Gulden an die Gewerke zu zahlen, die restlichen drei Gulden, den Wechsel, durften sie einbehalten. Sie hatte wöchentlich 200 Mark an die Münze von Hall abzugeben. Für den Zeitraum von 1488 bis 1495 wurde ein Gewinn der Fugger von etwa 400 000 Gulden aus dem Handel mit dem auf diese Weise bezogenen Silber errechnet. – Pacht der Maestrazgos, der ausgedehnten Liegenschaften der Großmeisterschaft der drei spanischen Ritterorden San Jago, Alcantara und Calatrava, gegen Anleihen an den spanischen König seit 1525. Die Fugger ließen sich aus den Naturalabgaben (Getreide, Quecksilber) und – in geringerem Umfang – den Geldgefällen der gepachteten Liegenschaften bezahlen. Dem 1536 für die Zeit von 1538 bis 1542 geschlossenen Pachtvertrag liegt eine Ge-

samtanleihe Karls V. von 600 000 Dukaten zugrunde. Gegenüber der Darlehenssumme wird ein Überschuss an Pachteinnahmen von voraussichtlich 30 000 Dukaten errechnet, die als Verzinsung der Anleihe gelten. Außerdem ist ein Verzugszins von 14 Prozent bei verzögertem Eingang der Pachteinnahmen vereinbart. Der hauptsächliche Gewinn wird durch den Handel mit den Naturalabgaben erzielt. 5. Reine Steuerpacht – Pacht der in Spanien erhobenen Crusada (Kreuzzugssteuer) und der Quarta, einer Steuer vom kirchlichen Einkommen, gegen Vorausgewährung eines Darlehens von 1,5 Millionen Dukaten (gemeinsam mit den Welsern) 6. Bankgeschäft (»Großbank« mit einem Netz von Niederlassungen) – langfristige Staatskredite mit einer aufgrund des kanonischen Zinsverbots in verschiedenen Formen verschleierten Verzinsung (5–14%)¹⁶⁶⁵ – kurzfristige Kredite an Adlige und wohlhabende Bürger gegen Schuldschein oder gegen Wechselbrief – Re nanzierung durch festverzinsliche, kurzfristig kündbare Depositen (Zinssatz 5%), die aus allen Schichten der Bevölkerung, vom weltlichen und kirchlichen Adel über das wohlhabende Bürgertum bis hin zu einfachen Leuten eingelegt werden. Nach den Erfahrungen mit der Großeinlage des Fürstbischofs von Brixen (1509) und dem Bankrott der Höchstetter (1529) mit ihrer außerordentlichen Höhe und breiten Streuung an Fremdmitteln waren die Fugger zur Verminderung der Gefahren für ihre Liquidität bestrebt, die Hereinnahme zu großer Einzeldepositen und die Heranziehung zu breiter Schichten zu vermeiden und die kaufmännischbürgerlichen Einlagen durch längerfristige fürstlich-geistliche Depots zu ersetzen.

1665 Der spanischen Krone gewährten die Fugger zwischen 1521 und 1555 insgesamt Kredite in Höhe von knapp 5,5 Millionen Gulden und deckten damit etwa 20% des gesamten Kreditbedarfs. M. H, Die Fugger, S. 77.

Die Hanse 925

– Organisation des Zahlungsverkehrs durch Wechselbriefe, Einziehung und Transfer der kirchlichen Servitien- und Ablassgelder aus allen Teilen Europas.

9.5 Die Hanse 9.5.1 Der Begriff ›Hanse‹ und die Entstehung der hansischen Handelsgemeinschaften Das frühmittelalterliche, seit dem 12. Jahrhundert besonders in Nordwesteuropa verbreitete Wort Hanse bedeutet zunächst Schar (lat. cohors), die zur ihrem Schutz bewaffnete Fahrtgemeinschaft mit Zielorten im Ausland, ferner in weiterer begrifflicher Auffächerung die Abgabe, die für die Teilnahme am gemeinsamen Handel zu erlegen war (Hansegeld) und das Recht, das mit der genossenschaftlichen Handelstätigkeit verbunden war. Derartige Hansen gab es im Nord- und Ostseeraum und in Niederdeutschland mehrere, aber auch in Regensburg und Wien ndet sich ein Hansegraf als Leiter einer Fahrtgemeinschaft. Gestützt wurden sie durch eine gildenartige Organisation, die eine strenge interne Solidarität verlangte und mit wirtschaftlicher Rücksichtslosigkeit gegenüber Nichtmitgliedern agieren konnte.¹⁶⁶⁶ Wegen der Unsicherheit der Straßen und Wege und der Seerouten wurde im 12./13. Jahrhundert der Landhandel als Karawanenhandel, der Seehandel durch Konvoifahrten organisiert. Die Fahrtgemeinschaften setzten sich unterschiedlich aus Fernkau euten einzelner oder mehrer Städte aus einer oder mehreren Regionen zusammen und besaßen, wie ihre heimischen Gilden das Recht, ihre eigenen Angelegenheiten und Streitigkeiten, wenn kein herrschaftlicher Vogt und Richter mehr an der Spitze stand, selbständig zu regeln. Am Zielort schlossen die Fahrtgemeinschaften mit den dor-

tigen Herrschaftsträgern Handelsverträge oder nahmen früher geschlossene in Anspruch. Die Fahrtgemeinschaften fanden seit dem späteren 13. Jahrhundert im Zusammenhang mit einer Befriedung der Verkehrswege, um die sich vor allem die Städte Lübeck und Hamburg in Verhandlungen mit politischen Gewalten und durch zwischenstädtische Abkommen bemühten, zuerst im Westen und zunehmend auch im Osten des Handelsgebiets zugunsten des Individualhandels, der in den festen Kontorgemeinschaften einen organisatorischen Mittelpunkt hatte, und der Entsendung von Waren mit Begleitern (nuncii) ins Ausland zunehmend ein Ende. Die umfassende Gemeinschaft der hansischen Kau eute und Städte hatte eine »polyhansische« Vorgeschichte; sie erwuchs im 12. Jahrhundert als Kaufmannshanse aus Hansen und zwei Handelsgemeinschaften im Osten und Westen des nördlichen Europa und führte im Zwischenhandel durch ein seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts ausgebildetes frühes, sich dann verdichtenden Handelssystem zwei unterschiedlich strukturierte Produktions- und Handelsräume zusammen.¹⁶⁶⁷ (1) Für den Handel im Ostseeraum war dies die ›Gesamtheit der Kau eute des Römischen Reiches, die Gotland besuchen‹ (universitas mercatorum Romani imperii Gotlandiam frequentantium), die in Visby ihren organisatorischen Mittelpunkt hatte, sich in der dortigen Marienkirche versammelte und ein eigenes Siegel führte. Die Gemeinschaft trieb Handel über Lübeck nach Visby und von dort über die Nerwa und den Woldow bis nach Novgorod, etwas später dehnte sie ihren Handel auf Skandinavien aus. (2) Für den Handel im Nordseeraum bildete die Kölner Hanse mit den Hauptorten Köln und nur anfänglich Trier am Niederrhein den Kristallisationskern. Der Kölner Englandhandel geht auf das 11. Jahrhundert zurück; außerdem

1666 Zur Gilde siehe 8.3. 1667 Allgemeine Darstellungen zur Hanse-Geschichte: P. D, J. S/K. F/W. S, J. S, H. S, J. F, R. H-K, S. S. Hervorzuheben ist immer noch die Darstellung von Ph. Dollinger. Der von A. ’ H herausgegebene Band bietet prächtiges Bildmaterial, ist im Text jedoch stark fehlerhaft. Nützliche Quellensammlung: R. S (Hg.), Quellen zur Hanse-Geschichte, Darmstadt 1982.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

gab es einen Handel nach Dänemark, wovon die Kölner Bruderschaft der Kau eute mit diesem Ziel, die ›dänische Bruderschaft‹ (fraternitas Danica, 1246), zeugt. Bremen trieb aktiv Handel mit Norwegen, Dänemark und Schleswig. Voraussetzungen für die Entstehung der Hanse waren (1) die Einbeziehung des Ostseeraumes in das west- und mitteleuropäische Handelsnetz seit der Jahrtausendwende durch die Neuorientierung skandinavischer Kau eute vom blockierten Osten und Südosten nach dem Westen, ferner generelle Faktoren wie (2) der mit dem rapiden Bevölkerungswachstum seit 1100 verbundene zunehmende, durch den Groß- und Fernhandel befriedigte Bedarf an Lebensmitteln, Rohstoffen und Luxuswaren, (3) ein expandierendes Wirtschaftsleben mit landwirtschaftlicher und exportfähiger gewerblicher Produktion, hochspezialisierten und auf Getreideimporte angewiesenen Gewerberegionen und verdichteten Handelsnetzen im Aufschwung und (4) das Wachstum der – die alten, von den Kaufmannskarawanen aufgesuchten Seehandelsplätze ersetzenden – Städte an Zahl und Bevölkerung, ferner deren zentralörtliche Funktion und politische Gemeindebildung. Die Neugründung Lübecks als civitas unweit des zerstörten slawischen Alt-Lübeck durch den Grafen Adolf II. von Holstein im Jahre 1143 und Lübecks weitere Entwicklung als Siedlungstyp der hochmittelalterlichen Stadt – mit permanentem Markt, Kirche, ortsfester Einwohnerschaft und weiter wachsenden Privilegien, Autonomie- und Selbstverwaltungsrechten – direkt an der Ostsee, einer Siedlung, die Fernkau euten Rechtssicherheit gewährte, bedeutete den Beginn der Expansion niederdeutscher Kau eute – in Konkurrenz zu den alten skandinavischen Kau eutegruppen – über Gotland, dem Zentrum des Ostseehandel, nach Novgorod und Riga, bis nach Russland und in das Baltikum, zu den Ausschiffungshäfen und teilweise zu den Produzenten der Ostseewaren. Hinzu kommen als Faktoren hansischer Entwicklung hinsichtlich Lübecks der Übergang der Stadt an Herzog Heinrich den Lö-

wen 1158/59 (sog. zweite »Stadtgründung«) als Schutzherrn auch der deutschen Kau eute im Ostseeraum und die stau sche Privilegierung Lübecks durch die Bestätigung des gefälschten Barbarossaprivilegs von 1188 und die Privilegierung als Reichsstadt im Jahre 1226. Verkehrsgeogra sch entstand in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts der Transitweg von Lübeck zum Gegenhafen Hamburg, und zwar zwischen der um 1200 einsetzenden nachhaltigen Befriedung der von Seeräubern heimgesuchten Ostsee durch König Waldemar II. von Dänemark (pax Valdemariana), der von 1201 bis 1225 Stadtherr Lübecks war, und den beiden Verträgen des Jahres 1241 zwischen Lübeck und Hamburg über die Sicherheit auf der Wegstrecke nach Hamburg. Die Akzeptanz des Transitweges und der Umlandweg der Nordseeanrainer bis zu den Messen nach Schonen stellten den alten Handelsweg von Novgorod über Schleswig nach dem Westen infrage. Ferner erfolgte an der südlichen Ostseeküste nach Osten die Stadtwerdung alter slawischer Handelspunkte, Stadtgründungen und Stadtrechtsverleihungen mit Riga 1201, Rostock 1218, Wismar 1228, Stralsund 1234, Stettin 1237, Danzig 1238 und Greifswald 1250 bis hin zur Stadtrechtsverleihung an Königsberg 1255, während sich auch die Siedlung vom Binnenland her verstärkte und schließlich das gesamte Hinterland von Mecklenburg bis an die Memel zum Raum der Produktion für Waren des hansischen Handels wurde. In die Rechtssicherheit verheißenden und auch Luxuswaren aufnehmenden Städte brachten Fernkau eute Kapital; und die Fernkau eute der neuen Städte des Ostseeraums transportierten ihre Waren selbst in die westlichen Hauptabsatzgebiete. Kau eute einer Vielzahl von Städten gehörten im 13. Jahrhundert beiden hansischen Gemeinschaften an oder unterhielten wenigstens zu beiden Seiten Handelsbeziehungen. Eine starke Rolle im Ostseehandel spielten im 12. Jahrhundert die westfälischen Kau eute, die mit Leinwand, Wolltuchen und Metallwaren eigener Produktion in den Fernhandel eindrangen. Doch begannen in der zweiten Hälfte des

Die Hanse 927

13. Jahrhunderts die im Zuge der Ostsiedlung gegründeten wendischen Seestädte und an ihrer Spitze Lübeck im Ostseehandel die Führung zu übernehmen und die Westfalen, von denen sich aber viele in diesen Städten niederließen, zurückzudrängen. Seit Beginn des 13. Jahrhunderts suchten die Lübecker und andere Kaufleute aus dem Osten – die Osterlinge – den Nordseeraum auf. Sie gelangten nach Norwegen (Bergen) und setzten sich in England an der Ostküste neben den schon in London vorhandenen Kölnern und Westfalen als Hansen fest. Relativ spät, um 1200, traten Rheinländer, Westfalen, Niedersachsen und dann auch Kaufleute der Gotländischen Genossenschaft in Flandern auf, wo Brügge im 13. Jahrhundert zum Welthandelsmarkt des Mittelalters und ersten Finanzplatz Nordeuropas avancierte. In Brügge, dem ›Stapel der Christenheit‹, tauschten sich verschiedene Handelszonen aus. Aus England und Schottland gelangte die für die andrische Tuchindustrie unentbehrliche Wolle, aus Holland und Friesland Vieh auf den Markt; französische Städte (La Rochelle, Bayonne) lieferten Wein, iberische Städte Wolle und Südfrüchte, und etwas später führten genuesische und venezianische Galeeren Gewürze ein. Seit dem Verfall der Champagne-Messen ließen sich viele italienische Geldleute aus Florenz, Venedig, Genua oder Lucca in Brügge nieder; auch die Medici besaßen dort im 15. Jahrhundert eine Filiale. Die deutschen Kau eute erwarben in den großen ämischen Städten, aber auch in den Nachbargebieten Brabant und Holland Handelsprivilegien, während der ämische Eigenhandel drastisch zurückging. Den deutschen Kau euten, dem gemenen kopman oder dem kopman van der dudeschen hense, wurden günstige Privilegien gewährt, weil sich die Privilegiengeber von ihrer Handelstätigkeit eine Sicherung des Wohlergehens ihrer Länder versprachen. Die Städte Gent, Brügge und Ypern ma-

chen dies in ihrer Ausfertigung der städtischgrä ichen Privilegien von 1360 für die deutschen Kau eute in Flandern deutlich. Sie begründen die Notwendigkeit der Privilegiengewährung mit (1) dem nanziellen Nutzen der Städte, (2) der Notwendigkeit der Versorgung Flanderns mit fremden Gütern, vor allem mit Wolle und Korn, und (3) der Beschäftigung in den Städten und auf dem Lande. Im Binnenland gelegen und Anfang des 12. Jahrhunderts durch ein Naturereignis, die Bildung des schiffbaren Zwin, über die Vorhäfen Damme und Sluis mit einem Zugang zum Meer versehen, sank die Bedeutung Brügges, die seit dem 14. Jahrhundert in einer passiven, von Fremden betriebenen Marktfunktion bestand. Gründe für den allmählichen Niedergang waren die Konkurrenz des englischen Tuchhandels, der über Antwerpen lief, die Verlagerung des Verkehrs hin zu den österreichischschweizerischen Alpenpässen während des Hundertjährigen Krieges, die Belieferung Amsterdams durch die erfolgreich in die hansische Domäne eingebrochenen Holländer, schließlich die seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert auch durch verschiedene Regulierungsmaßnahmen nicht aufzuhaltenden Versandung des Zwin und die dauerhafte Ungnade König Maximilians I., den die Brügger im Zuge der 1484 ausgebrochenen andrischen Wirren 1488 als Landesherrn gefangengenommen und dadurch einen Reichskrieg ausgelöst hatten. 9.5.2 Handelsrichtungen und Warensortimente Die Schifffahrt mit der seetüchtigen und für Schwerguttransporte geeigneten einmastigen Kogge mit einer bestimmten Tragfähigkeit (etwa über 10/12 Lasten),¹⁶⁶⁸ kaufmännische Tüchtigkeit und Dynamik und die Handelsprivilegien in den fremden Ländern sicherten den Hansekau euten eine Vorherrschaft, teilweise

1668 Die nach dem Fund von 1962 aus dem Schlick der Weser geborgene besonders große Kogge von 1380 ist 23,23 m lang, 7,62 m breit und hat eine Bordwand von 4,26 m Höhe sowie einen Laderaum von etwa 160 m3 . Sie brauchte eine Segel äche von knapp 200 m2 , transportierte maximal 100 Tonnen Lasten und erreichte eine Geschwindigkeit von etwa 7,5–11 km/h.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

und zeitweise monopolähnliche Stellungen in Nordeuropa. Das stabile Fundament des hansischen Handels bildete der Austausch von Lebensmitteln und Rohstoffen, auch Luxuswaren wie Pelzen und Bernstein des Ostens und Nordostens und von Fertigwaren, Salz und wertvollen Genussmitteln des Westens. Die hansischen Kau eute befriedigten auf den Märkten die Nachfrage und nahmen das dortige Angebot auf, soweit sie in der Gegenrichtung dafür Abnehmer fanden. Die dicht besiedelten westlichen Gewerbelandschaften, insbesondere die andrischen Tuchgebiete, hatten eine Produktionsstufe und ein Produktionsvolumen erreicht, die eine Erweiterung der Absatzgebiete erforderten, damit Absatzstockungen mit der Folge von Arbeitslosigkeit und Hungersnöten vermieden werden konnten. Eine Möglichkeit dazu bot der Osten bis weit nach Russland hinein. Daraus resultierte die starke Stellung der hansischen Kau eute, die im osteuropäischen Raum wiederum das Angebot steuerten, teilweise die Urproduktion bevorschussten, die Wirtschaftskraft hoben und ausbeuteten. Grundsätzlich aber waren die Hansekau eute bestrebt, die Einkaufswünsche, den Bedarf der von ihnen besuchten Länder zu befriedigen. Die Hauptachse des hansischen Handels bildete die Linie Novgorod – Reval – (Visby) – Lübeck – Hamburg – Brügge – London. Eine führende Rolle bei der Vermittlung zwischen West und Ost erlangte Lübeck an der Landzunge von Schleswig, wo zwischen Trave und Elbe (Hamburg) der Landtransport (›Überlandweg‹) zur Ostsee bewerkstelligt wurde. Zu dieser Linie gehörte als Nebenweg die vor allem von den Städten des Deutschen Ordens und später von den Holländern immer mehr benutzte Ummelandfahrt (um Jütland) durch Öresund, Kattegat und Skagerrak. Auf den vier großen Strömen Rhein, Weser, Elbe und Oder wurden Produkte aus dem Landesinneren nach Nordwesten und zu den Seehäfen befördert. Grundlage des regelmäßigen Handelsaustauschs auf der Hauptlinie waren Pelze und Wachs aus dem Osten (Preußen, Polen, Russland, Livland) und Tuche und Salz aus dem

Westen. In den Güterstrom auf dieser Linie eingeleitet wurden aus Nachbarländern – im Norden aus Schweden Eisen, Kupfer und Butter; aus dem dänischen Schonen Heringe als der überragende »nordische Weltmarktartikel« (Ahasver von Brandt); aus Norwegen Stock sch, getrockneter Dorsch und Kabeljau; später auch aus Island Stock sch und Heringe; aus Schottland und England Wolle, später auch Tuche; – im Süden aus Preußen und Polen Getreide und Holz; aus Ungarn Erze; aus Süddeutschland Wein und Metallwaren; von den Küsten Frankreichs und aus Portugal Meersalz. Exportgüter der hansischen Seestädte waren Schiffe, gehopfte untergärige, d. h. lagerund transportfähige Biere, konservierter Fisch und Fässer (Tonnen) als universelle Transportbehältnisse. Angesicht des christlichen Speisegebots, das an 100 Tagen den Verzicht auf Fleischkonsum verlangte, gelangte Fisch wegen des immensen Bedarfs über den Nord- und Ostseeraum hinaus nach Kontinentaleuropa. Aus hansischen Binnenstädten gelangten Leinwand (Westfalen), Getreide und Salz (Lüneburg) über Lübeck in den Fernhandel. Hinzu kamen Kupfer und Silber aus dem Harz, Silber aus Mansfeld und Böhmen, Eisen und Stahl des Siegerlands und des Westerwalds, Eisen des rheinischen Schiefergebirges. Das stark nachgefragte Tuch mit seinen vielfältigen Qualitäten und Preisen stand wertmäßig an der Spitze des Handelsaustauschs und warf Gewinne von 15 bis 30 Prozent ab. Im 13. und noch in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts waren es fast ausschließlich ämische Tuche, im 15. Jahrhundert kamen englische, holländische und Kölner Tuche hinzu sowie über Frankreich bezogene Luxustuche. Begehrt waren in Westeuropa und in den Mittelmeerländern die zahlreichen Pelzarten, die hauptsächlich aus Russland, aus Livland, Litauen, Polen, Preußen und Schweden eingeführt wurden. Es gab Schiffe, die mehr als 200 000 Stück im Wert von mehreren 10 000 Mark geladen hatten. Marderfell fungierte in Russland als Rechnungseinheit (»Fellgeld«). Über Novgorod wur-

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den neben Pelzen, Wachs und Flachs auch fernöstliche Waren wie Gewürze, chinesische und persische Seiden, Apothekerwaren und Weihrauch bezogen. Der Pelzhandel galt als eine Grundlage des hansischen Wohlstands, unterlag jedoch Absatz- und Preisrisiken. Aus England und Schottland gingen Schaffelle in den Ostseeraum. Osteuropäisches Wachs von Wildbienen aus Russland, Livland und Preußen war für Zwecke der Beleuchtung und der Liturgie unentbehrlich und fand bei mittleren Gewinnraten von 10 bis 15 Prozent kontinuierlichen Absatz. Seit dem 13. Jahrhundert besaßen die Hansen für Pelze und Wachs ein Handelsmonopol und konnten es am längsten für Wachs behaupten. Salz fehlte im Osten fast vollständig, da der geringe Salzgehalt der Ostsee keine Salzgewinnung aus Meerwasser zuließ und Steinsalz nur in bescheidenen Mengen in den Salinen von Kolberg gefördert wurde. Der Bedarf an Salz für Konservierungszwecke war jedoch enorm. Etwa ein Fass Salz wurde zur Konservierung von drei bis vier Fässern Hering oder für zehn Fässer Butter benötigt. Außerdem war gesalzener Kohl oder Sauerkraut der wichtigste Vitaminlieferant für die langen Winter- und Frühjahrsmonate. Kirchenrechnungen aus Obersachsen um die Mitte 15. Jahrhundert lassen den jährlichen Verbrauch pro Kopf auf etwa 15 kg schätzen. Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts wurde Osteuropa fast ausschließlich durch Lübeck mit Salz versorgt. Salz, das seit 1398 über den Stecknitzkanal aus den Lüneburger Salinen bezogen wurde, war Hauptausfuhrartikel Lübecks und begründete den Reichtum der Stadt. Seit der Jahrhundertmitte gewann das zwar weniger reine und geklumpte, dafür um ein Drittel billigere französische Meersalz quantitativ eine immer größere Bedeutung und drängte das Lüneburger Steinsalz in den Hintergrund. Zunächst über Flandern bezogen, holten es die Hansen dann selbst aus Bourgneuf (Baienfahrt) und Brouage. Im 15. Jahrhundert kauften sie auch in Lissabon portugiesisches Salz aus Setubal. Das schwere Salz bildete die Hauptrückfracht der Schiffe, die aus dem Osten die Massengüter Getreide, Holz

und Asche befördert hatten und den Seeweg durch den Sund nahmen. Seit dem 13. Jahrhundert wurden Roggen, Gerste und daneben auch Weizen aus Landstrichen der mittleren Elbe, Brandenburgs und Mecklenburgs in die Niederlande und nach dem völlig von diesen Lieferungen abhängigen Norwegen exportiert. Im 14. und vor allem 15. Jahrhundert wurde bei stetig steigender Nachfrage Getreide, insbesondere Roggen, aus Preußen und Polen über Danzig nach ganz Westeuropa, in der frühen Neuzeit vor allem auch nach Frankreich, Spanien und sogar Italien ausgeführt und bildete neben Salz das sicherste Fundament des hansischen Handels. Angesichts von Getreidemangel und von Versorgungskrisen im dicht bevölkerten Flandern gerieten die Lieferungen zu einem wirksamen Druckmittel, um den Hansen vorteilhafte Handelsbedingungen zu verschaffen. Der gestiegene Getreidebedarf und die Notwendigkeit, ihn zu sichern, veranlassten aber auch die Holländer, sich dauerhaft als Konkurrenten der Hanse in der Ostsee festzusetzen. Aus dem Weichselbecken und aus Litauen, aus dem Hinterland der Weser und aus Pommern wurden über Danzig Holz und, wie auch aus Russland, die wichtigen Nebenprodukte des Waldes, Pottasche (zum Bleichen), Pech (zum Kalfatern), Teer und Harz nach Westeuropa (Flandern, England) geliefert, doch ging der Holzexport seit dem Ende des 15. Jahrhunderts vermutlich infolge der Konkurrenz norwegischen Holzes zurück. Eine ältere hansische Handelsstraße, die vor allem durch Köln vermittelt wurde, verband durch die rheinische Linie Italien und Frankreich mit den Niederlanden und England. Sie besaß für den Weinexport nach Nordwesten eine große Bedeutung. Wichtig war auch der innerdeutsche Handel mit Köln, Frankfurt am Main und Nürnberg. Lübecker und Kölner Kau eute handelten auf dem Landweg über Nürnberg, Augsburg und den – um 1300 für den Fuhrverkehr geöffneten – Brennerpass nach Venedig, wo sie im Fondaco dei Tedeschi ihre Kammern hatten, sowie über Frankfurt, Kon-

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

stanz und den St. Gotthard nach Mailand, Genua und Barcelona. Oder man benutzte den Seeweg mit Brügge als Zwischenstation. Die Kölner hatten alte Handelsbeziehungen zu Österreich. Für die Schiffsroute Brügge–Lübeck–Reval wurde seit dem 15. Jahrhundert die am Rande des Hansebereichs verlaufende west-östliche Landverbindung Frankfurt–Nürnberg–Leipzig–Breslau–Posen gefährlich, da sie süddeutsche und italienische Waren sowie russische und polnische Produkte austauschte und allmählich mitteleuropäische Erzeugnisse vom Weg ussabwärts zum Meer abzog. Zuvor hatten die Süddeutschen einen Teil des Gewürz- und Tuchhandels der Niederlande an sich gebracht. Die Städte unter der Herrschaft des Deutschen Ordens in der östlichen Ostsee von Danzig bis Reval waren an einer direkten Seeverbindung mit Westeuropa interessiert und entwickelten zum Schaden des Lübecker Zwischenhandelsmarktes und Travestapels den Seeweg durch den Sund oder Belt. Der preußische Seehandel konzentrierte sich auf den Haupthafen Danzig und führte nach Lübeck, Flandern und England. Er exportierte hauptsächlich Produkte des polnisch-litauischen Hinterlandes. Im 15. Jahrhundert wurden Beziehungen zu Holland, Schottland und zur Bai von Bourgneuf und zu Lissabon aufgenommen. Über Krakau stießen orner Kau eute nach Lemberg vor und trafen dort bis 1400 mit venezianischen und genuesischen Kau euten zusammen, die von ihren Niederlassungen am Schwarzen Meer aus dorthin gelangten. Um diese Zeit drang der preußische Handel nach Litauen vor. 9.5.3 Die Handelskontore Die Hauptniederlassungen der Hansekau eute waren die – im 16. Jahrhundert so genannten – vier Kontore in Novgorod (St. Petershof ), Bergen (Tyskebrygge, Deutsche Brücke), London (steelyard, Stalhof ) und Brügge.¹⁶⁶⁹ Die

Kontorgemeinschaften hatten sich seit dem Ende des 12. Jahrhunderts zu unterschiedlichen Zeitpunkten gebildet und von den Herrschern Privilegien erworben, die sie stets zu mehren trachteten. Die Kau eute der Kontore gaben sich immer strengere Statuten (Schragen). Sie wählten jährlich für die Verwaltung und interne Gerichtsbarkeit Aldermänner und Beigeordnete (Geschworene), unterhielten aus Umsatzabgaben (Schoss), Strafgeldern und Umlagen eine Kasse und führten als Korporation ein Siegel. Die Amtsträger der Kontore wachten über die Einhaltung der Privilegien sowie der handelsrechtlichen und wirtschaftlichen Vorschriften und Maßnahmen; sie intervenierten bei örtlichen Behörden, korrespondierten mit Hansestädten oder erstatteten auf den Hansetagen Bericht. Um die Mitte des 14. Jahrhunderts wurden die Kontore und andere selbständige Niederlassungen grundsätzlich den Städten unterstellt. Die residierenden und durchreisenden Kau eute lebten in den Kontoren von Novgorod und Bergen als reine, meist unverheiratete Männergesellschaft kaserniert unter klosterähnlichen Bedingungen, streng reglementiert und geschieden von der örtlichen Bevölkerung in einem ummauerten Bezirk, der Wirtschafts-, Wohn- und Versammlungsgebäude sowie eine Kirche oder Kapelle enthielt. (1) War das Londoner Kontor schon nicht mehr so streng gegenüber der Umwelt abgegrenzt, so machte Brügge, das bedeutendste Kontor, vollends eine Ausnahme. Hier nahmen die Hansekau eute bei örtlichen Wirten Quartier oder mieteten Häuser. Auch hielten sie sich in Damme mit seinem Weinstapel oder in anderen Häfen des Zwin auf. Außerdem waren die Kau eute dem Brügger Statut von 1347 gemäß erstmals ihrer Herkunft nach in ein wendisch (lübisch)-sächsisches, westfälischpreußisches und gotländisch-livländisch-schwedisches/skandinavisches Drittel aufgeteilt. Der Kaufmannsrat bestand gemäß der Ordnung von 1356 aus 24 Mitgliedern, die anteilsmäßig von

1669 E. S, Novgorod, Brügge, Bergen und London; N. J, »With money and bloode«; V. H, Die Hansekontore und ihre Ordnungen, in: A. C (Hg.), Hansisches und hansestädtisches Recht, S. 15–39.

Die Hanse 931

den regionalen Dritteln gestellt wurden. Bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts unterhielt jedes Drittel eine gesonderte Kasse, die durch eine Abgabe (Schoss) der Kontorsangehörigen gespeist wurde, wählte zwei Altermänner (Oldermänner), die wiederum sechs Beisitzer ernannten, hielt auch eigene Versammlungen ab und verhandelte selbständig mit der Stadt in Angelegenheiten, die es gesondert betraf. Erst seit 1442 besaßen die Hansen ein eigenes, angemietetes Versammlungshaus, und 1478 wurde der Bau des geräumigeren Oosterlingehuis fertiggestellt. Zuvor hatten sie sich im Refektorium des Karmeliterkonvents, dessen Kirche ihr kirchlicher Mittelpunkt war, versammelt. An der Versammlung aller Kau eute im Jahre 1457 nahmen ungefähr 600 Kau eute, Gesellen, Diener und Schiffer teil. In Brügge hatten die Hansekau eute italienische Handelstechniken vor Augen, hier wurden zum Einkauf Wechsel auf den Lübecker Rat gezogen. Von hier aus gelangte auch westliche Kultur nach Norddeutschland. Nachdem das Kontor seit Mitte des 15. Jahrhunderts entsprechend dem Bedeutungsverlust Brügges bereits seinen Niedergang erlebte und viele Hansen nach Antwerpen übersiedelten, wurde es 1553 offiziell nach Antwerpen verlegt. (2) Kern des ummauerten Londoner Stalhofs zwischen der amesstreet und dem Fluss war die 1175/76 bezeugte Gildehalle (gildhalla) der Kölner, die als Gemeinschaftshaus der 1281 zur Hanse der Deutschen vereinigten Kölner, Hamburger und Lübecker Hansen diente. Sie lag in der Gegend der Tuch- und Wollhändler, die im Dargate-Viertel ansässig waren. Nach und nach erwarben die Hansen weitere Gebäude und Flächen. Die Hansen hatten keine eigene Kirche auf ihrem Gebiet, sondern waren in die benachbarte Allerheiligen-Kirche eingepfarrt. Auch in London waren die Kau eute nach ihrer Herkunft, doch in anderer Zusammenstellung als in Brügge, Dritteln zugeordnet, es stand aber die Gemeinsamkeit der Einrichtungen im Vordergrund. In England hatten sich die Hansen mit einer aufstrebenden einheimischen Kaufmannschaft auseinanderzusetzen. Als Besonderheit gab es für das Londo-

ner Kontor bis ins späte 15. Jahrhundert neben dem kontorintern von den Kau euten des Stalhofs gewählten Altermann zusätzlich einen von den Kau euten aus dem Kreis der Stadträte vorgeschlagenen und vom König auf Lebenszeit eingesetzten englischen Alderman, der mit Zuständigkeit auch für die anderen Hanseniederlassungen in England Streitfälle zwischen Hansen und Engländern schlichtete und die Interessen der Deutschen gegenüber den politischen und administrativen Autoritäten des Landes vertrat. Zeitweise übernahm diese Funktion sogar der Bürgermeister (mayor). Dem hansischen Altermann, dem eine autoritative Stellung zukam und der den Vorsitz in der wöchentlich tagenden Vollversammlung hatte, standen seit 1437 Beisitzer und ein Kaufmannsrat zur Seite, die auf der Grundlage der Drittel gewählt wurden. Vier Schossmeister erhoben und verwalteten die wie in Brügge erhobene Solidarabgabe zur Finanzierung des Kontors und sandten die jährliche Rechnung nach Lübeck. Besonderheit des Londoner Kontors ist ein seit 1400 nachweisbarer besoldeter Sekretär (clerk). Die Hansen hatten in London als Leistung für die Stadt ein Stück Stadtmauer und das Bischofstor (Bishopsgate) zu unterhalten und zu bewachen. Insgesamt war der hansische Handel in England im 13. und 14. Jahrhundert stark zersplittert, da sich die Kölner mit den Maaskau euten und Westfalen zwar in London festgesetzt hatten, die nachfolgenden Osterlinge, d. h. die Kau eute aus Hamburg, Lübeck und preußischen Städten, sich zunächst in den Städten der Ostküste, in Ipswich, Yarmouth, Lynn, Boston, Hull und Newcastle, niedergelassen hatten und erst im 15. Jahrhundert ihre Aktivitäten vornehmlich auf London auszurichten begannen. (3) Das Kontor zu Bergen stand, wie die Niederlassung auf Schonen, ganz unter der Vorherrschaft der Lübecker Hanse und Lübecks. In Bergen siedelte sich neben den Kau euten, die auf über 20 Höfen wohnten und arbeiteten, dauerhaft eine starke deutsche Handwerkerkolonie an, die zunächst einem norwegischen Vogt unterstand, vom Ende des 14. Jahrhunderts an aber der Gerichtsbarkeit des Kontors unterstellt

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

und im Übrigen strikt vom Handel ferngehalten wurde. Übergriffe von Bewohnern des Kontors auf die umliegende Bevölkerung wurden verschiedentlich unter dem Druck der dortigen Hansen nicht geahndet. Für ihre Rohheit berüchtigt sind die Bergener Spiele, die Proben, mit denen Lehrjungen und Neuankömmlinge in die überwiegend aus Junggesellen bestehende Gemeinschaft aufgenommen wurden. Bergen war das kleinste Kontor, bestand aber bis 1764. (4) Die erste Hofordnung (Schra) des Novgoroder St. Petershofes, dessen Gründung bereits 1191/92 erlaubt wurde und der 1259 schriftlich erwähnt ist, stammt aus der Mitte des 13. Jahrhunderts und erlebte bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts sechs Neufassungen. In der vierten, zwischen 1355 und 1361 entstandenen Fassung war sie auf 119 Kapitel angewachsen. Neben dem St. Petershof besaß die Kontorgemeinschaft noch den St. Olaf- oder Gotenhof. Die vorgelagerte Stadt besaß zur Blütezeit der Hanse 20-25 000 Einwohner. Man unterschied im Novgoroder Kontor die einander ablösenden Sommer- und Winterfahrer oder ›Sitzer‹ – später noch Wasser- und Landfahrer –, die jeweils ihre eigene Organisation besaßen. Es waren große Fahrtgemeinschaften gutnischer und niederdeutscher Kau eute verschiedenster städtischer und regionaler Herkunft. Die Ankunft der ablösenden Gruppe wurde bei Verspätung nicht abgewartet. Der Schlüssel wurde beim Archimandriten von Novgorod und beim Abt des St.-Georgs-Klosters hinterlegt. Jede Gruppe nahm ihre Kasse mit und deponierte sie in der Marienkirche in Visby. Sobald die Flotte die Newamündung erreicht hatte, wurde ein Altermann des Hofes und der St.-Peters-Kirche gewählt; dieser wiederum ernannte anschließend einen Rat von vier Kau euten, die vermutlich aus den großen regionalen Teilverbänden stammten. Der Altermann des Hofes hatte den Vorsitz im Gericht der Kau eute, das auf der Grundlage der Schra und der von der Versammlung der Kau eute beschlossenen Willküren urteilte, und vertrat die Kau eute gegenüber den russischen Machthabern. Von der Gerichtsbar-

keit des Altermanns, der sogar die hohe Gerichtsbarkeit besaß, bestand ein Rechtszug an den Rat von Visby, seit 1293/95 an den Lübecker Rat, der das Kontor leitete. Ein Jahrhundert später, de nitiv 1442, ging die Leitung an die livländischen Städte Dorpat und Reval über. Mittelpunkt des von einem Palisadenzaun umgebenen Hofes war die in Stein gebaute St.Peters-Kirche, die als eine »Kaufmannskirche« die Kasse, die Waage und das Archiv barg sowie als Warenlager und als Zu uchtsstätte im Verteidigungsfalle diente. Der Priester erledigte den Schriftverkehr. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts nahm das Kontor manchmal mehr als 200 Kau eute und Gesellen auf. Im Jahre 1494 wurde es durch den Moskauer Großfürsten Iwan III. wegen der Parteinahme der Hansen im bevorstehenden Krieg für Schweden geschlossen; 1514 wurde dann ein neues Kontor errichtet, das aber nicht mehr die Bedeutung des alten erreichte. 9.5.4 Hansische Niederlassungs- und Handelsprivilegien Die Privilegien der hansischen Kau eute im Ausland, beginnend mit der Gewährung des königlichen Schutzes an die Kölner Kau eute in London 1157, bestanden aus politischen und rechtlichen Garantien für die Sicherheit von Personen und Gütern, aus gerichtlichen Privilegien, Zoll- und Abgabeermäßigungen und - xierungen, Handelserleichterungen und aus dem Recht zum Kleinhandel. Unter anderem handelte es sich um die Befreiung vom gerichtlichen Zweikampf, die Aufhebung des Strandrechts auf See und auf den Flüssen, die Beseitigung der Kollektivhaftung für Schulden der Kau eute. Die unbefristete carta mercatoria Ewards I. von 1303 gewährte allen Englandfahrern freie Niederlassung, Schutz und Geleit in England, Privilegien im Großhandel, eine zügige Rechtsprechung und die Befreiung von verschiedenen Abgaben, erhöhte dafür jedoch die Abgaben auf Wolle, Tuch und Wein. Die hansischen Privilegien für Brügge und für das gesamte Flandern setzten 1235 mit ei-

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nem Privileg für Brügge ein und wurden 1307, 1309, 1338, 1349, 1360, 1392 und 1456/57 auf Vorstellungen und Bitten der Kau eute hin erneuert und fortgeschrieben. Das Privileg von 1360 für Flandern beispielsweise mit seinen 53 Artikeln räumte die Verkehrsfreiheit in Flandern ein, regelte den Handel mit Wein und Tuchen, das Gästerecht, die Zölle, den Handelsund Hafenbetrieb mit Maklern, Trägern und Wechslern mit ihrer Bankiersfunktion, die Sicherung und Kontrolle der Waage und der Gewichte, die Haftung der Stadt bei Warenniederlage im Waaghaus, die Anmietung von Häusern und Kellern, die Haftung der Wirte (hosteliers), die zunehmend Aufgaben eines Maklers wahrnahmen, Bargelddepositen erhielten und Bürgschaft leisteten, sowie die rechtliche Stellung der deutschen Kau eute. Das Gästerecht erlaubte, Waren frei zu kaufen und zu verkaufen sowie uneingeschränkt aus der Stadt zu führen. Die Kau eute waren beim Verkauf von Regressansprüchen befreit, wenn der Käufer vorher die Ware begutachtet hatte. Die Bezahlung hatte mit der zum Zeitpunkt des Geschäftsabschlusses geltenden Währung zu erfolgen. Die Kaufleute durften wie Bürger Waffen tragen, Grabstätten frei wählen und, vom Bastardagium als dem Recht des Grafen befreit, den Nachlass illegitim Geborener einziehen. Weiträumig geregelt wurden die Verfolgung der Täter bei Überfällen und Beraubung von Kau euten und die Rückgabe der geraubten Waren. Die Kau eute durften nicht doppelt, nicht sowohl peinlich als auch am Vermögen, bestraft werden; bei Handelsverboten wegen begangener Delikte wurde das anschließende gerichtliche Feststellungsverfahren geregelt; Inhaftierte durften in bestimmten Fällen Bürgen stellten. Die Kau eute durften nicht für die Schulden oder Delikte eines anderen belangt werden und waren von jeglicher Haftung für fremde Schulden befreit. Die deutschen Kau eute durften – wie in anderen Kontoren – Versammlungen abhalten, zur Regelung ihrer Verhältnisse untereinander Satzungen (›Ordonnanzen‹) machen und bei internen Streitigkeiten die niedere Gerichtsbarkeit ausüben.

Anstelle der Fahrtgenossenschaften und Gilden übernahmen Lübeck und andere Städte den politisch schwierigen und kostspieligen Erwerb von Privilegien, der wegen der beträchtlichen nanziellen Belastung auch innerstädtische Kritik hervorrief. Beschaffte sich Lübeck zunächst für sich Privilegien, so ging die Stadt nach 1250 als civitas imperii dazu über, in die Urkunden eine Formel einzufügen, mit der die Kau eute des römischen Reichs (mercatores Romani imperii) als Nutzungsberechtigte genannt wurden, ohne dass damit über die Hanse hinaus das ganze römisch-deutsche Reich gemeint war. Offensichtlich lag die Ausweitung des Nutzerkreises wegen der familiären Vernetzung der Ratsfamilien und der Handelsbeziehungen im Hanseraum, der notwendigen Solidarisierung von verschiedenen Kau eutegruppen in der Fremde und der Beteiligung mehrerer an der machtgestützten Sicherung und Durchsetzung der Privilegien im Interesse Lübecks. Die Privilegien wurden den Hansekau euten gewährt, weil ein Bedarf an hansischen Waren bestand, Verkehrsabgaben an elen und Absatzmöglichkeiten für eigene Produkte eröffnet wurden. Sie wurden später von den aufstrebenden einheimischen Kau euten mit Missfallen betrachtet. Die Herrscher der sich konsolidierenden Nationalmonarchien und Territorien nahmen nur noch widerwillig die Einschränkungen ihrer Herrschaftsrechte durch die in der Vergangenheit gewährten Privilegien hin und förderten die willkommene Konkurrenz der Holländer. 9.5.5 Kaufmanns- und Städtehanse Nach dem Bedeutungsverlust der seit 1159 bestehenden Gotländischen Genossenschaft – 1298 wurde durch Beschluss der wendischen Städteversammlung mit Zielrichtung gegen Visby das Siegel der gemeinen Kau eute auf Gotland aufgegeben – waren die deutschen Kaufleute in den nordeuropäischen Gewässern ohne feste Organisation und konnten sich nur noch auf ihre Niederlassungen und Privilegien am Zielort stützen. Nachdem norddeutsche Städte

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noch vor der Mitte des 13. Jahrhunderts begonnen hatten, zum Friedensschutz, zur Erleichterung des Zugangs zu den Märkten und gegen den Seeraub regionale Bündnisse zu schließen, und als sich Mitte des 14. Jahrhunderts die Gefahren für den privilegierten hansischen Handel mehrten, bemühten sich die am Auslandshandel beteiligten Städte um den Bestandsschutz der hansischen Privilegien und um die Leitung der Kau eute. Sie gingen enger zusammen und formten in einem Wandlungsprozess von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts aus der personenrechtlichen Gemeinschaft der Gotländischen Genossenschaft, der lokal und regional organisierten Kauffahrergenossenschaften und der in Kontoren zusammengeschlossenen »Kaufmannshanse« so etwas wie eine »Städtehanse«. Der prägnante und Einseitigkeit suggerierende Ausdruck ist umstritten, kann aber die verstärkte Tendenz bezeichnen, dass ein Verband von Städten, der von Lübeck immer wieder zu einer handlungsfähigen Konsensgemeinschaft zusammengeführt wurde, hansische Aufgaben von den Kau euten abzog, hansische Interessen durchsetzte und den hansischen Handel reglementierte.¹⁶⁷⁰ Zunächst hatten sich seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts Ratsboten verschiedener Städte zu Beratungen über Angelegenheiten der niederdeutschen Kau eute getroffen und Maßregeln vereinbart. Falls diese von übergreifendem Interesse waren, wurden auch andere Städte zur schriftlichen Zustimmung aufgefordert. Von 1356/58 und dem Handelsembargo gegen ganz Flandern (1358–1360) an bis 1669 waren die hansischen Tagfahrten (Reisen zu den Tagen), wie der Hansetag vor dem 16. Jahrhundert genannt wurde, die leitenden Versammlungen der Gesamthanse, der stede van der dudeschen hense. Die Versammlungen verabschiedeten Rezesse (von recedere, auseinandergehen) in der Form von Beschlussprotokollen und fungierten als oberste Instanz, tagten jedoch selten und nie auch nur annähernd vollzählig. Die bis dahin selbständigen Kontorgemeinschaften wur-

den, beginnend 1356 mit dem Brügger Kontor, nach und nach in wichtigen inneren und äußeren Belangen den Entscheidungen der koordinierten hansischen Städte unterstellt. Die Kommunen waren Mitglieder der Hanse und nunmehr Träger der hansischen Eigenschaft. Ausschließlich Bürger hansischer Städte sollten Privilegien im Ausland genießen dürfen. Gesellschaften mit außerhansischen Kau euten (Butenhansen), so genannte butenhansische Gesellschaften wurden befristet, meist angesichts von Kampfmaßnahmen der Hanse wie Handelssperren verboten. In vielen Hansestädten wurde seit dem 15. Jahrhundert in dem durch eine Rezession in den wichtigen Zielländern des hansischen Handels verschärften Konkurrenzkampf das günstigere Gästerecht der hansischen Kaufleute verschiedentlich verletzt; auswärtige Hansekau eute wurden den Butenhansen gleichgestellt, in einigen Fällen sogar noch stärker benachteiligt. 9.5.6 Rechtsnatur und Organisationsformen der Hanse: Hansetage und Hansedrittel Insgesamt blieb die Städtehanse als Einung ein überaus lockeres, nur zum Teil statutarisch organisiertes Gebilde und stieg dennoch zu einer nordeuropäischen Großmacht auf. Die Bundesstruktur war auf der Grundlage von Gewohnheitsrecht und Rezessen etwa seit der Mitte des 14. Jahrhunderts voll ausgebildet. Die Rechtsnatur wurde in der Schwebe gehalten, nach außen wurde teilweise mit Begriffen des römischen Rechts operiert, wie auch der Ausdruck Hanse selbst anstelle der im Ausland gebräuchlichen Bezeichnung Osterlinge meist nur in diplomatischen Außenbeziehungen verwendet wurde. Eine gelehrte Diskussion entstand, nachdem König Edward IV. 1468 in London hansische Kau eute hatte festsetzen und ihre Waren beschlagnahmen lassen, weil sich Hansekau eute an dem dänischen Überfall auf englische Schiffe beteiligt hätten. Rechtlich war die Hanse aus-

1670 H. W, Die Städtehanse 1280–1418. Siehe dazu V. H, Die Hanse.

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weislich einer Entgegnung durch den Lübecker Syndikus Dr. Johann Osthusen auf eine Denkschrift des englischen Kronrats von 1469 und ihre Begrifflichkeit weder eine societas (Gesellschaft), da das erforderliche gemeinsame Vermögen oder eine Kasse und die Führung der Geschäfte auf gemeinsame Rechnung fehlten, noch ein ganzheitliches collegium, da die Städte zu weit entfernt auseinander lägen, auch keine universitas (Körperschaft), weil eine gemeinsame Leitung durch einen Syndikus sowie Archiv und Siegel fehlten, sondern lediglich eine confoederatio, ein festes Bündnis von vielen Städten, Orten und Gemeinschaften zum Zweck erfolgreicher Handelsunternehmungen zu Wasser und zu Land und zum Schutz gegen Seeräuber und Wegelagerer. Das Bündnis besitze weder ein gemeinsames Siegel noch einen gemeinsamen Rat – nach Art einer Korporation; der Hansetag sei nur eine Versammlung von Gesandten (oratores).¹⁶⁷¹ Es ging der hansischen Seite bei der Erwiderung um die Abwehr des Prinzips der kollektiven Haftung. Bei Forderungen gegen die Hanse bestritten deren Repräsentanten, dass die Hanse eine juristische Person sei, die für die Handlungen ihrer Mitglieder haftete und berechtigt sei, im Schadensfall für diese zu agieren, bei Klagen der Hanse machten sie hingegen geltend, dass die Hanse Inhaber von Rechten und Ansprüchen sei. Außer den Hansetagen, deren Beschlüsse in Form von Rezessen niedergelegt wurden, gab es keine gemeinsame Einrichtung; es gab außer den Abgaben in den Kontoren keine regelmäßigen Steuereinkünfte, keine Flotte und kein Heer. Erforderliche Finanzmittel wurden im Kriegsfall durch die Erhebung von Pfundzöllen in den Häfen, Abgaben auf den Warenwert, beschafft. Kennzeichnend ist für die Hanse »der Gegensatz zwischen der Weite ihrer Betätigung und

der Unbeständigkeit ihrer inneren Struktur«.¹⁶⁷² Erst 1556 wurde mit Dr. Heinrich Sudermann ein beständiger Syndikus der Hanse bestellt. Die Ladungen zu den Tagfahrten enthielten die Nennung der Angelegenheiten, über die zu beraten und entscheiden war, den Versammlungstermin und die Aufforderung, dazu bevollmächtigte Boten zu entsenden. Ratssendeboten, die nur eine limitierte Handlungsmacht besaßen oder entsprechend instruiert waren und sich nicht festlegen konnten oder wollten, wurden nicht daran gehindert, Beschlüsse, ohne Rat und Stadt durch eine Willenserklärung verp ichtet zu haben, zur weiteren Beratung und Entscheidung durch den heimischen Rat ad referendum mit nach Hause zu nehmen. Nicht erschienene Mitglieder waren kaum an die Beschlüsse des jeweiligen Hansetages zu binden. Es galt weniger ein striktes Mehrheitsprinzip mit der Folgep icht der Minderheit als die Suche nach einem Konsens. Die mehrheitlich gefundenen Rezesse wurden nicht als Urkunden, sondern lediglich als protokollierte Gedächtnisstützen (notitiae) ausgefertigt und mussten von den einzelnen Städten nach inhaltlicher Prüfung von Nutzen oder Schaden für die Stadt in ihre Verordnungen (Burspraken) aufgenommen und verkündet werden. Auf diese Weise war es ein Erfolg, wenn Rezesse von den meisten oder von vielen Städten akzeptiert wurden. In nahezu der Hälfte der Fälle erschienen weniger als zehn, noch seltener mehr als 20 Städte zu den Hansetagen. Lübeck, Hamburg, Stralsund, Wismar und Rostock bildeten den Kern der Tage. Im Zeitraum von 1358 bis 1480 fanden drei Viertel der Hansetage in Lübeck statt, das die erheblichen Mühen und Kosten der Einladungen und der weiteren Organisation auf sich nahm. Neben den allgemeinen Hansetagen gab es Drittelstage. Die Einteilung in Drittel, erst-

1671 Hansisches Urkundenbuch (Einleitung), Bd. 9, Nr. 570, S. 453–457, Nr. 584, S. 462–174; P. D, Die Hanse, Anhang, Nr. 26, S. 526 ff.; A. C, Die Rechtsnatur der Hanse, S. 52 f. 1672 P. D, Die Hanse, S. 142.

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mals in den Statuten des Brügger Kontors von 1347 belegt, umfasste – das wendisch (lübisch)-sächsische Drittel, zu dem mit dem Hauptort Lübeck die wendischen, sächsischen, pommerischen und brandenburgischen Städte gehörten; – in geogra sch ungewöhnlicher Aufteilung das westfälisch-preußische Drittel, dem noch die rheinischen Städte zugehörten, mit Dortmund, dann seit etwa 1450 Köln als Hauptort; – das gotländisch-livländisch-skandinavische Drittel mit Visby und Riga als Hauptorten. Auf Betreiben Braunschweigs fand 1494 eine Umgruppierung mit folgenden Hauptorten statt in (1) ein lübisches Drittel (Lübeck), (2) ein westfälisches (Köln) und (3) ein sächsisches, auch die preußischen und livländischen Städte umfassendes Drittel (Braunschweig). Aus diesem letzten Drittel wurden ein halbes Jahrhundert später die preußischen und livländischen Städte unter Führung Danzigs ausgegliedert, sodass nunmehr eine Einteilung nach Vierteln (Quartieren) bestand. Wichtiger als die Drittelstage waren die regionalen Versammlungen enger beieinander liegender Städte, die im Falle der brandenburgischen, preußischen und livländischen Städte und der Städte der Grafschaften Kleve und Geldern jeweils einen gemeinsamen Stadtherrn hatten. Die Hanse erwuchs aus eigenständigen Teilräumen und Verbänden mit regionalen oder einzelnen städtischen Interessen. Je weiter die Städte von der Küste entfernt waren wie die binnenländischen Städte Westfalens und des Niederrheins, desto weniger dominierte – auch in der Politik des Rats – der privilegiengestützte Auslandshandel gegenüber dem Binnenhandel und der örtlichen gewerblichen Produktion. Ein Kernbereich der Hanse waren die mehrmals im Jahr tagenden wendischen Städte zwi-

schen Hamburg und Greifswald unter der Führung Lübecks, dem Haupt der Hanse (hovet, hovetstede der hanze). Zu den wendischen Städten gehörten noch das sächsische Lüneburg und das pommersche Stralsund. Lübeck war eine autonome Reichsstadt in besonderer handelsgeograscher Lage, dessen Kau eute auf fast allen hansischen Auslandsmärkten präsent waren. Die Stadt hatte schon früh den Privilegienerwerb für die Kau eute der Ostseestädte betrieben und geleitet und war Ort der meisten überregionalen hansischen Tagfahrten. Der Vorrang Lübecks in der Hanse wurde 1418 offiziell anerkannt, als Lübeck zusammen mit den wendischen Städten gebeten wurde, die Interessen der hansischen Gemeinschaft wahrzunehmen. Es handelte sich aber nicht um eine Vorherrschaft, welche die anderen größeren Städte, die selbstbewusst eigene Lebensinteressen vertraten oder ihrerseits Vororte waren, unterordnete und zur Gefolgschaft verp ichtete. Lübeck wurde regelmäßig von den wendischen Städten unterstützt. Der Lübecker Rat konnte für seine Entschlüsse nicht in jedem Fall auf die nachträgliche Billigung des Hansetags rechnen. Es gab häu g Interessenverschiedenheiten zwischen den wendischen und den preußisch-livländischen Städten mit dem starken Danzig.¹⁶⁷³ 9.5.7 Angehörige der Hanse Kau eute aus nahezu 200 See- und Binnenstädten auf einer Linie von 1500 Kilometern Länge im Raum zwischen Zuidersee, Maas, üringen, Brandenburg, Polen und dem Finnischen Meerbusen gehörten zu irgendeinem Zeitpunkt der Hanse an. Die größte Mitgliederzahl hatte die Hanse kurz vor der Mitte des 15. Jahrhunderts. Etwa 70 Städte zählten zu den aktiven Städten, die zu den Hansetagen geladen wurden; weitere 100 waren sehr kleine Städ-

1673 W. S, Lübeck und Danzig in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts.

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te und eher passive Mitglieder (»Beistädte«).¹⁶⁷⁴ Etwa 180 Städte bildeten einen festen Bestand. Mit dem Hochmeister des Deutschen Ordens gehörte als Ausnahme ein Fürst, der seine Städte als Landesherr straff unterordnete, der Hanse an. Nur eine geringe Zahl von Reichsstädten war Mitglied. Die südliche Linie des hansestädtischen Raumes bildeten Dinant, Köln, Erfurt, Breslau und Krakau. Dinant an der Maas gehörte zum romanischen Sprachbereich. Dinanter Kau eute schlossen sich, um einen besseren Rechtsschutz zu erhalten, deutschen Kaufleuten in London an und besaßen im Stalhof eine eigene Halle. Abgesehen von den Deutschordensgebieten und geistlichen Territorien Preußens und Livlands lagen die Hansemitglieder Krakau und Visby außerhalb der damaligen Reichsgrenzen. Stockholm, das einen Anteil von Deutschen, insbesondere Lübecker, bis zu einem Drittel der Einwohnerschaft hatte, gehörte, außer vielleicht in den Jahren nach 1365, nicht offiziell der Hanse an, doch waren Wirtschaft und Kultur stark von den norddeutschen Hansestädten beein usst. Die Stadt stand vorwiegend mit Lübeck und später auch mit Danzig in Handelsverbindung. Ein vorübergehender Ausschluss (Verhansung) durch den Hansetag erfolgte am häugsten wegen innerstädtischer Umstürze, bei denen das etablierte Ratsregime ersetzt wurde, so in den Fällen Braunschweig (1375), Bremen (1427) und Münster (1454). Köln wurde 1471 für einige Zeit ausgeschlossen, weil die Stadt wegen ihrer unmittelbaren Wirtschaftsinteressen in den Auseinandersetzungen zwischen der Hanse und England (1470–1474) aus der hansischen Front ausgeschieden war und sich vom englischen König besondere Privilegien hatte erteilen lassen. Ohnehin reichten Kölns Handelsinteressen schon früh über die Hanse hinaus. Andere Städte wie Northeim (1430), Berlin (1452) und Halle (1479) mussten die Hanse

auf den Druck ihres Stadtherrn hin verlassen, während Breslau (1474) und Krakau aufgrund divergierender Interessen oder der Nutzlosigkeit der hansischen Privilegien ausschieden. In späterer Zeit wurden viele Städte vorübergehend oder de nitiv ausgeschlossen, weil sie zu den Hansetagen nicht mehr erschienen waren, das Beratungsgeheimnis gegenüber dem Stadtherrn nicht mehr wahren konnten oder über längere Zeit hinweg die hansischen Privilegien nicht mehr in Anspruch genommen und vernachlässigt hatten. 9.5.8 Die Hanse als politische und militärische Macht Die Hanse verfügte über ein Repertoire an abgestuften Mitteln, um Angriffe abzuwehren, die volle Anwendung ihrer Privilegien oder Schadensersatzforderungen durchzusetzen, aber auch um weitere Vorteile zu erlangen. Sie führte durch ihre gewandten und zähen Gesandten Verhandlungen, verhängte Wirtschaftsblockaden und verlegte im Falle Brügges das Kontor nach Aardenburg oder Dordrecht, oder sie entschloss sich als ultima ratio zum Krieg, der überwiegend als Kaperkrieg geführt wurde und selten in Seeschlachten kulminierte. 1280–82 und erneut 1307–1309 Stilllegung des Hansehandels in Brügge 1284/85 Wirtschaftssperre gegenüber Norwegen 1358–1360 Handelssperre gegen Flandern 1367–1385 Kölner Konföderation gegen Dänemark – 1370 Stralsunder Frieden 1388 Handelssperre gegen Flandern (bis 1392), England und Novgorod (1392) 1390–1401 Kampf gegen die Vitalienbrüder 1419–1441 Hansisch-kastilischer Kon ikt 1426–1435 Hansisch-dänischer Krieg – Friede von Vordingborg

1674 H. W (Zur Frage der Mitgliedschaft in der Hanse, S. 212 f.) unterscheidet zwischen Hansestädten und hansischen Städten nach Maßgabe (1) der Aktivität und Bedeutung im hansischen Zwischenhandel, (2) der aktiven und direkten Teilnahme an hansischen Unternehmungen, (3) der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Funktion für andere Kommunen, (4) der Teilnahme an den Hansetagen, (5) der Handlungsfreiheit gegenüber dem Stadtherrn und (6) der Art der Entstehung der Mitgliedschaft durch Hineinwachsen oder Aufnahme.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

1438–1441 Hansisch-niederländischer Krieg – Friede von Kopenhagen 1451–1457 Letzte Handelssperre gegen Flandern 1470–1474 Hansisch-englischer Seekrieg – Friede von Utrecht 1483 Ewiger Friede zwischen der Hanse und Frankreich Die mehrmals verlängerte Kölner Konföderation (1367–85), gerichtet gegen die expansionistische Politik Waldemars IV. (Atterdag) von Dänemark, der 1361 Visby erobert hatte, war das erste förmliche politisch-militärische Bündnis der Hansestädte. Als nordeuropäische Macht schloss die Hanse im Krieg gegen ihren Schicksalsgegner Dänemark eine Koalition mit Schweden, Mecklenburg, Holstein, dem aufständischen dänischen Adel sowie mit nicht zur Hanse gehörenden holländischen und seeländischen Städten; sie beendete den Krieg jedoch selbständig mit dem Frieden von Stralsund 1370. Die Hanse erlangte von Dänemark die Bestätigung ihrer Privilegien, auf Dauer von 15 Jahren vier Sundbefestigungen und ein Zustimmungsrecht bei der dänischen Königswahl. Angesichts eines wachsenden politischen Drucks der Territorialfürsten legte Lübeck 1418 den Plan vor, etwa 40 Hansestädte über ihre regionalen Bündnisse hinaus zu einem Bündnis mit festen militärischen und nanziellen Leistungsverp ichtungen sowie einem Bundesgericht, Tohopesate (Zusammensitzen) genannt, auf zunächst zwölf Jahre zu vereinigen. Zwar fand Lübeck damit grundsätzliche Zustimmung, und die Tohopesate wurde 1430 und – diesmal auf das wendische Drittel beschränkt – unter dem Eindruck der 1442 erfolgten Unterwerfung der Doppelstadt Berlin-Cölln durch den Kurfürsten von Brandenburg 1443 erneuert, effektiv in Erscheinung trat sie jedoch nie, sodass verschiedentlich nicht sicher ist, ob es zu einem wirksamen Vertragsabschluss kam. Im Jahre 1451 fanden sich 28 Städte zu einer Tohopesate auf sechs Jahre zusammen, verlängert wurde das Bündnis nicht.

1675 K. S, Holland und die Hanse im 15. Jahrhundert.

9.5.9 Konkurrenten der Hanse Die Hanse hatte mit ihren Wirtschaftssperren und in den Kriegen zwar Erfolg, sie konnte sich teilweise glänzend und auch auf längere Zeit behaupten. Dies änderte jedoch nichts daran, dass nationale Königreiche und Territorialfürsten immer weniger geneigt waren, die wirtschaftliche Abhängigkeit von der Hanse und die privilegiale Selbstbeschränkung ihrer Hoheitsund Herrschaftsrechte aufrechtzuerhalten. England ging dazu über, Forderungen nach Gegenseitigkeit stellten. Eine Schwäche der hansischen Position lag eben darin, dass die Hanse zu wesentlichen Teilen durch Zwischenhandel Produkte aus Gebieten vermittelte, die außerhalb ihres politischen Ein ussbereichs lagen oder sich ihrem Ein uss auf Dauer entzogen. Wo nicht der Eigenhandel der Produktionsgebiete einen kräftigen Aufschwung nahm, waren die Konkurrenten der Hanse, vor allem die von den hansischen Blockaden pro tierenden Holländer mit ihren größeren Schiffen, dem Direktverkehr über den Sund und dem freien Handel, willkommen. Konkurrenz erwuchs aber auch in den süddeutschen Unternehmer-Kau euten, die nicht nur in Nordwesteuropa vordrangen, sondern um die Mitte des 15. Jahrhunderts auch im östlichen hansischen Wirtschaftsraum mit Danzig und Stettin Fuß fassten. Seit dem Ausgang des 14. Jahrhunderts stiegen – in geringerem Umfang – englische Merchant Adventurers, vor allem aber Süddeutsche mit den Nürnbergern an der Spitze und die Holländer¹⁶⁷⁵ zu gefährlichen Konkurrenten der Hansen auf und brachen bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts in die hansische Vorherrschaft im Handel ein, die Süddeutschen auf der Linie Frankfurt am Main –Posen, die Holländer auf den nordeuropäischen Meeren. Die Nürnberger erhielten in Brabant (seit 1311) und Flandern (1361) Handelsprivilegien und gingen 1385 von Brügge aus nach England. In Lübeck, wo sie seit 1332 Zollfreiheit genossen, saßen seit dem Ende des 14. Jahrhunderts Vertreter der am Ostseehandel inter-

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essierten Pirckheimer, Paumgartner, Kress und später der Mulich. Um auf den nordosteuropäischen Märkten aktiv werden zu können und den Beschränkungen für Fremde zu entgehen, schickten Nürnberger Handelshäuser wie die Mulich Angehörige ihrer Familien nach Lübeck, wo sie das Bürgerrecht erwarben, Heiratsverbindungen eingingen und Mitglieder in exklusiven Bruderschaften wurden. Nürnberger Kaufleute gelangten ferner nach Köln, Leipzig, Breslau, Krakau, Lemberg, Posen und – gefördert vom dortigen Adel – nach Preußen und Livland. Noch rascher und in größerem Maßstab drangen im Gefolge der Nürnberger trotz hansischer Gegenwehr seit dem Ende des 15. Jahrhunderts die Fugger für eine gewisse Zeit in den Norden ein. Das Vordringen des holländischen Handels in die Ostsee beruhte auf einem Aufschwung der holländischen Tuchindustrie, der Bierproduktion, dem billigeren Nordseehering, der steigenden Nachfrage nach Baiensalz, der Teilhabe an der preußischen Getreideausfuhr und auf niedrigeren Frachtsätzen. Dass sich diese wirtschaftlichen Sachverhalte so nachhaltig entfalten konnten, lag an der Interessendivergenz zwischen den wendischen Seestädten unter der Führung Lübecks und dem Deutschen Orden mit seinen Städten, an der Förderung der Holländer durch den Adel in Preußen und in den baltischen Ländern sowie an dem Wunsch Dänemarks und Norwegens, die monopolartige Vorherrschaft der Hanse zu lockern. Die Hanse reagierte auf die Konkurrenz vielfach nur mit schroffer Abwehr, Reglementierung und der Stärkung konservativer Züge, mit Maßnahmen, die – aus späterer Sicht – notwendigen Anpassungsvorgängen entgegenstanden. Am Rande des hansischen Raumes entstanden neue Handelswege; die Märkte teilten sich stärker auf. Die hansischen Kontore, die von Lübeck und den Hansetagen immer stärker reglementiert wurden und teilweise ihr eigenständiges Verordnungsrecht verloren, wurden von Kau euten zunehmend unter Verzicht auf die hansischen Privilegien wegen der übermäßigen Einschränkungen des freien Handels gemieden und er-

lebten, von Königen und territorialen Machthabern immer weniger gelitten und in ihren Privilegien respektiert, einen Niedergang. Innerhalb der Hanse traten unvermeidbare wirtschaftliche Zielkon ikte zwischen den Binnenund den Seestädten sowie zwischen den wendischen und den preußisch-livländischen Städten auf. Zu den immer wieder ausbrechenden schweren Kon ikten mit Dänemark kamen in der Zeit von 1408 bis 1416 innerstädtische Unruhen hinzu. Vor allem wuchsen die Auseinandersetzungen zwischen den Städten und ihren zu Landesherren aufsteigenden und ihre Territorialherrschaft intensivierenden Stadtherren, denen Städte im 15. und 16. Jahrhundert zur Wahrung ihrer Selbständigkeit und Freiheiten mit Bündnissen zu begegnen suchten. Selbst wenn die städtische Autonomie weitgehend gewahrt werden konnte, hatte der Kampf um die Unabhängigkeit viele Städte infolge militärischer Anstrengungen oder Vorsorgemaßnahmen doch nanziell und wirtschaftlich geschwächt. Auch die Reformation mit ihren religiösen und politisch-sozialen Kon ikten lähmte die Handlungsfähigkeit der Hanse. Hansische Kau eute und von Kau euten beherrschte Städte hatten ohne Rückhalt an König und Reich im 13. und 14. Jahrhundert im Zusammenhang mit einer günstigen internationalen Konjunktur die Vorherrschaft über den nordeuropäischen Handel errungen. Die Städtehanse konnte etwa in der Zeit von 1350 bis 1400 eine Stellung als nordeuropäische Großmacht behaupten. Mit Beginn des 15. Jahrhunderts mehrten sich jedoch die politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten, seit dem Ausgang des Jahrhunderts verschärften sich die Krisen und führten im 16. Jahrhundert zu Niedergang und Au ösung, die auch durch vielfältige Reorganisationsbemühungen seit der Mitte des 16. Jahrhunderts auf Dauer nicht mehr aufzuhalten waren. Die Städte mussten nunmehr für ihre Handelsinteressen neue Wege außerhalb des hansischen Handelssystems nden. Das Werk der Hanse und dessen jahrhundertelange Bestandsdauer sind jedoch erstaunlich genug.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

9.6 Kredit, Zahlungsverkehr und Rentengeschäft 9.6.1 Kreditnachfrage, Kreditformen und Zahlungsverkehr 9.6.1.1 Die Kreditbedürftigkeit der Wirtschaft Die mittelalterliche Wirtschaft bedurfte in großem Umfang des Konsum- und Erwerbskredits, da der Vorrat an Bargeld und Betriebskapital ungleich geringer als in der Neuzeit war. Mittelalterliche Geldwirtschaft ging im Spätmittelalter mit einer ausgedehnten Kreditwirtschaft einher. Bruno Kuske vertrat sogar die Auffassung, das Mittelalter sei relativ viel mehr ein Zeitalter der Kreditwirtschaft gewesen als die Neuzeit. Wirtschaftliches Wachstum erforderte den Kredit als Kapitalsurrogat. Der Kredit war ein wichtiges Mittel der betrieblichen Wertschöpfung und damit der Kapitalbildung; er verhalf zu wirtschaftlicher Handlungsfähigkeit und Expansion. Dem Kredit- oder Borgkauf, bei dem der Käufer die erhaltene Ware erst später bezahlte, entsprach andererseits die Kreditgewährung beim Lieferungskauf, bei dem der Käufer die Ware bezahlte und später geliefert bekam. Es war im Mittelalter geradezu die Regel, »dass der Produzent seinen Rohstoff, der Kaufmann die auf Wiederverkauf gekaufte Ware zunächst bewirtschaftet und dass er daraus erst den Ertrag schafft, bevor er den Einkauf bezahlt«.¹⁶⁷⁶ Es bestand die Gefahr, dass der Kaufmann zwar in der Bevölkerung auf lebhaftes Kau nteresse stieß, wegen Bargeldmangels der Interessenten aber seine Waren nicht absetzen konnte. Um überhaupt Geschäfte machen zu können und um Kunden zu sichern, aus erwerbswirtschaftlichen Gründen also, hatten Gewerbe und Handel den Konsu-

menten und Kunden, zumal dem Adel, regelmäßig Kredit einzuräumen.¹⁶⁷⁷ Größere Zahlungen wurden auf mehrere Termine aufgeteilt. Handelsgeschäfte und Finanzgeschäfte waren dadurch häu g notwendigerweise miteinander verknüpft. Durch die weitverbreitete Stundung der Bezahlung konnten die Außenstände der verschiedensten Handwerker beträchtliche Summen erreichen, was infolge der notorisch schlechten Zahlungsmoral erhebliche Gefahren barg. Der Rat reagierte mit einer Vielzahl wirtschaftsrechtlicher und polizeilicher Verordnungen auf die weit verbreitete Verschuldung; das städtische Gerichtswesen hatte sich vor allem mit Schuldsachen zu befassen. Auch vor dem Notar wurden größere Geschäfte eingetragen. Kredite wurden innerhalb des Warengeschäfts unter Gewährung längerer Zahlungsfristen und Verteilung der Zahlung auf mehrere Termine in Anspruch genommen und in Depositenform und Ähnlichem zur Durchführung der Unternehmungen aufgenommen, um die Kapitalien zu vermehren und dadurch die Umsätze zu steigern. Matthäus Schwarz, der Hauptbuchhalter der Fugger, ging hinsichtlich des Geschäftskapitals im Handel des guten Kaufmanns von folgender Drittelung aus: Ein Drittel bestehe aus Bargeld, ein weiteres Drittel aus Außenständen (schulden) und ein letztes aus Waren. Der rechte Kaufmann müsse, um in einem guten glauben und trauen zu bleiben, den auf ihn zukommenden Gläubiger (creditor) mit Bargeld bezahlen können, damit er nicht Waren unter Wert oder mit Verlust (mit schaden) veräußern müsse; denn sein Schuldner (debitor) könne ihm auch nicht aushelfen (halten). Nicht die aktuell in Händen gehaltene Größe des Kapitals mache den Reichtum eines Kaufmanns aus, sondern dieser ergebe sich aus dem Verhältnis von Schuldnern

1676 Grundlegend: B. K, Die Entstehung der Kreditwirtschaft und des Kapitalverkehrs; hier S. 74 f.; siehe ferner F. I, Kölner Wirtschaft im Spätmittelalter, S. 287–301; R. S, Das mittelalterliche Zahlungssystem nach hansisch-nordischen Quellen; I.-M. P, Das mittelalterliche Zahlungssystem; M. N (Hg.), Kredit im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa. Zu den zeitweiligen Kreditverboten für hansische Teilräume und zur angeblichen Kreditfeindschaft der Hanse siehe S. J, War die Hanse kreditfeindlich? 1677 Siehe neben B. Kuske auch A. S, Geschichte der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft, Bd. I, S. 123, 130. Gleiches bezeugten im Übrigen noch Daniel Defoe für England und Louis Sébastian Mercier für Paris im späten 18. Jahrhundert.

Kredit, Zahlungsverkehr und Rentengeschäft 941

(Debitoren) und Gäubigern (Kreditoren): Mancher Kaufmann meine, er sei reich, weil er ein großes Kapital habe und achtet nicht auf seine creditori, die er wieder bezahlen muss, und nicht darauf, ob diese mehr oder weniger im Verhältnis zu seinen debitori sind.¹⁶⁷⁸ Solche Leute fallieren schnell und machen bald Bankrott (bankharota) und wissen nicht, wie, wann oder wo es ihnen geschehen ist. Außerdem warnt Schwarz vor dem leichtfertigen, verschwenderischen und hoffärtigen konsumtiven Aufwand aus kleinen Anfängen rasch emporgekommener Kau eute sowie vor deren Größenwahn, mit herrschaftlichem Landbesitz imponieren zu müssen, der durch den Verkauf von Waren mit schaden und Einbringen von Außenständen erworben wird. Dabei werden die Gläubiger vergessen, die, wenn sie dessen gewahr werden, bezahlt sein wollen; doch dann ist nichts mehr da und man macht Bankrott.¹⁶⁷⁹ In bedeutendem Umfang produzierte auch die Landwirtschaft bevorschusst. Der durch Missernten oder andere Wechselfälle leicht in eine Notlage geratene Bauer belieh zu Konsumtivzwecken seine agrarischen Erzeugnisse noch vor der Erntereife, während der kreditgebende Händler sich durch Kreditierung die Ware sichern, sie horten oder ein spekulatives Termingeschäft abschließen wollte und dem Bauern den Kredit deshalb nicht selten antrug. Es kam vor, dass die Produktion ganzer Dörfer beliehen wurde, im Einzelfall bis auf zehn Jahre hinaus. Man belieh auch das Vieh, sogar die auf ihm sitzende Haut oder Wolle. Der Rat bekämpfte zwar die Kreditierung der auf die Stadt zukommenden Erzeugnisse, insbesondere den seit der karolingischen Zeit angeprangerten und von der Kirche verbotenen Kauf von Getreideernten auf dem Halm, als wucherischen, preistreibenden Vorkauf (Fürkauf ), andererseits wurde die Bevorschussung der Rohstoffe vom

Lande zum Teil durch die Zünfte organisiert. Wirtschaftliche Schwäche und Kreditbedürftigkeit waren im Handwerk eine weit verbreitete Erscheinung. Rohstoffbezug auf Kredit, sofern nicht ohnehin im Lohnwerk gearbeitet wurde, war so sehr üblich, dass Zünfte versuchten, der Verschuldung durch Rohstoffborg entgegenzuwirken. In Köln gab es Lederkommissionäre, die Ware auf Kredit weiterverkauften. Weit verbreitet war der Viehborg der Metzger, der durch Viehtafeln von Kommunen auch bei Fernbezug organisiert wurde. Städtische Amtsträger, beurteilten dabei die Kreditwürdigkeit von Schuldnern und sorgten für die fristgerechte Schulderfüllung beim Händler, meist zu Mariae Lichtmess (2. Februar), und mussten für den Schuldner bürgen. Eine Vermittlung der Kreditierung von Rindern und Schweinen durch Tafeln, die von amtlichen Viehschreibern verwaltet wurden, bestand in Städten wie Köln, Trier, Koblenz oder Nürnberg teilweise bis ins 18. Jahrhundert. Der Handwerker suchte in einer Verlagsbeziehung häu g nicht nur die Kreditierung der Rohstoffe durch den Erzeuger oder Händler, sondern auch die Bevorschussung seiner Gewerbeprodukte durch den aufkaufenden Händler. Für den kreditgebenden Händler bedeutete die Bevorschussung landwirtschaftlicher oder gewerblicher Produkte den Abschluss von Lieferungsgeschäften unter Vorausbezahlung. Langfristig sinkende und dann konstante Zinssätze und Rentenfüße indizieren für den Zeitraum von 1450 bis 1500 ein Überangebot an Kapital an den Kapitalmärkten für langfristige Kredite trotz einer Verknappung der europäische Silbervorkommen und mittel- und längerfristiger Engpässe bei Münzmetall zu Beginn und nach der Mitte des 15. Jahrhunderts wegen der Schließung vieler nicht mehr rentabler und erschöpfter Silberminen. Handelsgewinne, eine höhere Kapitalausstattung pro Kopf infolge der

1678 Zur Notwendigkeit, um einer Illiquidität zu entgehen, rechtzeitig genügende Außenstände von Schuldnern zur Befriedigung der eigenen Gläubiger einzuziehen, während diese ihre Forderungen nicht willkürlich, sondern zur rechten Zeit (tempore congruenti) geltend machen sollen, siehe bereits die Darlegungen in der Petition der Sieneser BonsignoreGesellschaft an die Kommune Siena von 1298. E. I, Die Bedeutung der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (9.0), S. 507 f. 1679 A. W, Venezianischer Handel der Fugger, S. 270 f. (Matthäus Schwarz, Musterbuchhaltung, Blatt 75a, b).

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

Bevölkerungsverluste durch die Pest, die Schonung von Bargeld durch bargeldlose Kompensationsgeschäfte und die Schöpfung von Buchgeld scheinen zu einer Akkumulation von barem Vermögen geführt zu haben, das eine protable Anlage suchte.¹⁶⁸⁰ Ein Überangebot an Krediten lässt sich mit einer Knappheit an Barmitteln bei breiten Schichten durchaus vereinbaren. In großem Umfang waren Kredite im Mittelalter Konsumdarlehen, die außer der Stimulierung der Nachfrage keine unmittelbaren produktiven Effekte hatten, sondern lediglich Kaufkraft aus der Hand des Darlehensgebers in die des Darlehensnehmers übertrugen, künftiges Einkommen zum Zweck gegenwärtigen Konsums antizipierten, und dies häu g in prekären Notlagen, die christliche Nächstenliebe erforderten. Eine Kreditvergütung für Konsumkredite, der Zins als Preis für den Erwerb barer Kaufkraft, war daher in jedem Fall verboten und galt als Wucher. Geld, das nur in Konsum investiert wurde, war, wie es die moraltheologisch-kanonistische Geldlehre besagte, tatsächlich unfruchtbar und konnte im Gebrauch nur verbraucht werden. Möglicherweise lenkte das strikte kirchliche Zinsverbot unbeabsichtigt in bestimmtem Umfang anlagesuchendes Kapital hin zu produktiven Unternehmungen, zur Investition in den Handel und in Handelsgesellschaften, in den Verlag, in Beteiligungen und in technische Innovationen im Großgewerbe und im äußerst kapitalintensiven Montanbereich, der an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert und dauerhafter seit der Mitte des 15. Jahrhunderts einen neuen und breiten Aufschwung nahm. 9.6.1.2 Kreditformen und Zahlungsverkehr 9.6.1.2.1 Borgkauf und Lieferungsgeschäft Das Handelsgeschäft war im Mittelalter also keineswegs, wie dies Werner Sombart gemeint hat, »immer ein Handkauf«¹⁶⁸¹, d. h. ein sofort erfülltes Locogeschäft, und auch nicht stets

ein Kontantgeschäft, d. h. ein Zug um Zug geleisteter Barkauf. Verbreitet war der Borgkauf, und durchaus üblich waren Lieferungsgeschäfte und Musterkäufe von Waren mit dem allgemeinen Qualitätsbegriff des Kaufmannsgutes oder in Anfängen von Standardwaren. Zu den Lieferungsgeschäften gehörte der größte Teil des Baratthandels (Handel auf buytonge, barteringe, buetkouf ), bei dem es sich wiederum keineswegs nur um einen Locotausch handelte, sondern um ein kaufmännisches Gegengeschäft mit laufender gegenseitiger Belieferung mit Ware auf vertraglicher Grundlage und unter periodischer Abrechnung. Damit konnten Geldzahlungen, die angesichts des Kapitalmangels in Verbindung mit gravierenden Währungsproblemen im internationalen Handel nur schwer zu leisten waren, vermieden werden. Dieser kompensatorische Lieferungstausch hatte große Bedeutung vor allem im hansischen Handel mit den Niederlanden, den skandinavischen Ländern und mit Russland. Durch längere Pausen im Austausch kam es zu Kreditierungen, die zeigen, dass Tauschwirtschaft durchaus mit Kreditwirtschaft einhergehen konnte. Mit der Ausweitung des Handels wuchsen die Kreditbeziehungen, sodass im Spätmittelalter in weiten Teilen Europas Schuldforderungen und Schuldverp ichtungen deutscher Kau eute und Firmen bestanden. Für Städte wie Lübeck, Köln oder Nürnberg ergaben sich weitgespannte Krediträume. 9.6.1.2.2 Schuldschein, Wechselbrief und Kontokorrent Waren oder Geld wurden kreditiert und Geld wurde transferiert gegen einfachen Schuldschein als Zahlungsversprechen oder den im Hansebereich noch lange anstelle des Wechselbriefs bevorzugten begebungsfähigen, auf den Gläubiger und den Überbringer ausgestellten Inhaber-Schuldschein, wobei das Zahlungsziel – vorzugsweise Messtermine – oft recht lang-

1680 H.-J. G, Kredit und Innovation. 1681 W. S, Der moderne Kapitalismus, Bd. 2, S. 502, 517. Dagegen B. K, Die Entstehung der Kreditwirtschaft, S. 85–91.

Kredit, Zahlungsverkehr und Rentengeschäft 943

fristig bemessen war, ferner mittels Wechselbrief oder gegen Pfandsetzung. Beim Kreditkauf bediente man sich auch des Lombarddarlehens, d. h. des Kredits gegen Verpfändung beweglicher Sachen – Lombardierung von Gold- und Silberzeug –, wobei eventuell auch unverkäuflich gebliebene Ware für den Einkauf weiterer Ware beliehen wurde. Die Schuldscheine wandelten sich seit der Mitte des 14. Jahrhunderts zunehmend von förmlichen, von professionellen Schreibern (Notare) aufgesetzten, gerichtlich in Bücher eingetragenen Urkunden zu eigenhändig geschriebenen, formlosen Schuldscheinen, die den Rechtsschutz durch Handelsgerichte oder den Eintrag in städtische Schuldbücher erhielten. Um Geld nicht bis zur Fälligkeit der Schuld brachliegen zu lassen, trat der Inhaber eines Schuldscheins A sein Forderungsrecht gegenüber dem Schuldner C vorzeitig an den Kaufmann B ab, um diesen als den eigenen Gläubiger damit zu bezahlen. Für die Weitergabe von Schuldscheinen setzte sich seit dem Ende des 14. Jahrhunderts statt der umständlichen formellen Abtretungsurkunden oder Gläubigervollmachten in der Praxis die Weitergabe durch Inhaber- oder Orderklausel durch mit einem Vermerk auf dem Schuldschein, der dem Namen des Begünstigten eine Auszahlungsanweisung zugunsten des Überbringers oder Inhabers der Urkunde anfügte. Der InhaberSchuldschein entsprach in seiner Funktion dem von den italienischen Kau euten für den Handel auf internationalen Messen zu kombinierten Kredit- und Transferzwecken entwickelten Instrumentum ex causa cambii und dem funktionsgleichen Wechsel¹⁶⁸², dessen Vorläufer das Instrumentum ist. Das Instrumentum war ein formelles Zahlungsversprechen mit einem Valutatausch, niedergelegt in einer vom Notar abgefassten Schuldurkunde, der Wechsel hingegen ein persönlich abgefasster, formloser Zahlungsauftrag.

Außerdem betraf das Instrumentum nur zwei, bei Vertretung des Gläubigers drei Parteien, während die Wechselkonstellation mindestens vier Beteiligte umfasst. Beide Formen enthielten aber einen Valutatausch, bei Kreditgeschäften mit einem höheren Wechselkurs gegenüber dem Marktkurs, sodass auf diese Weise eine Vergütung erzielt wurde. Diese kann ökonomisch als eine an sich von der Kirche und weltlichen Gesetzgebern als Wucher verbotene, »versteckt« vorgenommene Kapitalverzinsung, die Wechseltransaktion insofern als intendiertes Mittel zur Umgehung des Zinsverbots gedeutet werden (Raymond de Roover), doch war der Gewinn in Hinsicht auf die Wechselkurse, die sich aus verschiedenen Ursachen bis zum Zeitpunkt der Auszahlung verändern konnten, unsicher, und der Wechselnehmer trug ein Risiko. Die Ungewissheit und das vergütungsfähige Marktrisiko entlasteten an sich wiederum vom Wuchervorwurf. Es ist noch unklar, in welchem Umfang der Wechsel im nördlichen Hansebereich seitens der Hansekau eute in Flandern und England nicht nur als Zahlungsmittel, als Mittel des Valutatauschs und bargeldlosen Werttransports, sondern entsprechend den italienischen Vorbildern auch als Instrument der Kreditschöpfung Verwendung gefunden hat. Da Fernhandelsgeschäfte in verschiedene fremde Währungsräume führten, war die Bezahlung von Warensendungen mit einem Geldsortenumtausch, einem Wechselgeschäft (cambium), verbunden, sofern sie nicht durch Retouren, eine Kontokorrentverrechnung oder die auf Messen übliche Skontration, den Spitzenausgleich auf der Grundlage der Rechnungswährung erfolgte. Durch den Wechselbrief konnte das erhebliche Risiko eines Geldtransports vermieden werden. Der Wechsel stellte, darin liegt seine große Bedeutung für die europäische Handelsgeschichte, dem Kaufmann Geld zum Einkauf an einem anderen Ort in der dortigen, fremden Währung zur Verfü-

1682 R. de R, L’évolution de la lettre de change. Siehe ferner die instruktiven Übersichtsartikel von J. H. M, Artt. »Inhaber-Klausel«, »Inhaber-Schuldschein«, »Instrumentum ex causa cambii«, »Wechsel«, in: M. N (Hg.), Von Aktie bis Zoll; M. A. D, Art. »Wechsel, -brief, Wechsler«, in: Lexikon des Mittelalters, VIII, München 1997, Sp. 2086–2089.

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gung, ohne dass er es in Form von Währungsausprägungen oder Edelmetall selbst mitführen musste. Dennoch haben die Vertreter der Regensburger Runtingergesellschaft an der Wende zum 15. Jahrhundert ihre Mittel für die Einkäufe in Venedig, den Niederlanden und den oberdeutschen Messen bar oder in Form von Edelmetall mit sich geführt und ihre Erlöse aus den Warenverkäufen in Prag und Wien auch bar nach Regensburg mitgenommen. Am Ende des 15. Jahrhunderts versandte der überregional operierende Basler Kaufmann Ulrich Meltinger Bargeld mit Land- und Schiffstransporten. Für den Buchhalter der Fugger Matthäus Schwarz waren der Wechselbrief und die Versendung von gemünztem oder ungemünztem Edelmetall zwei gleichwertige, gleich zeitaufwendige und riskante Varianten des Zahlungsverkehrs, zum einen durch das Risiko der Straße, zum andern durch das Wechselrisiko.¹⁶⁸³ Dr. Konrad Peutinger konterte 1523 in seinem Monopolgutachten den Vorwurf, dass mächtige Kau eute Goldgulden und anderes Münzgeld außer Landes brächten, mit dem Argument, dass gerade Kau eute großen Zuschnitts kein gemünztes Geld exportierten, sondern an verschiedenen Orten auf guten Glauben hin mithilfe von Wechselbriefen operieren könnten, während gerade kleine Kau eute, die Wechselbriefe nicht zur Hand hätten, Münzgeld ausführten, wenn sie außerhalb Deutschlands Geschäfte eingingen.¹⁶⁸⁴ Das Wechselgeschäft war dann ein Kreditgeschäft, wenn dem Käufer die Bezahlung für eine bestimmte Zeit gestundet wurde, wobei in die Valuta des Wechsels verschleiert an sich verbotene Zinsleistungen für die Kreditierung der Schuld eingehen konnten. Benutzt wurden domizilierte Eigenwechsel, auch solche auf Faktoren, und Tratten, die auf Sicht oder auf Termin lauteten. In Italien im 12./13. Jahrhundert entwickelt, kam der Wechsel auch im Handel mit dem nördlichen Westeuropa und Ober-

deutschland sowie im innerdeutschen Handel in Gebrauch und setzte sich allmählich durch, während im Norden Europas der InhaberSchuldschein erst im Laufe des 16. Jahrhunderts verdrängt wurde. Im oberdeutschen Raum begegnen seit dem späten 14. Jahrhundert auch reine Finanzwechsel (Schadwechsel), die von der Finanzierung des Warenverkehrs gelöst waren und der Geldschöpfung und dem Arbitragegewinn dienten, obwohl sie wiederholt verboten wurden.¹⁶⁸⁵ Der Wechselbrief (ital. lettera di cambio) war eine einfache Urkunde, die auf dem Vertrauen des Kaufmanns beruhte, aber eine unmittelbar einklagbare oder sogar unmittelbar vollstreckbare Schuld begründete. Der Wechselnehmer (Remittent, ital. dattore oder rimettente), der einen Wechsel »kauft«, gewährt dem Wechselverkäufer oder Aussteller (Trassant, ital. prenditore oder trattente) am Ort A für ein Warenexportgeschäft von A nach B einen Kredit in lokaler Währung. Der Aussteller »zieht« den Wechsel auf eine Person, den Bezogenen (Trassat, pagatore oder trattario), in B, einen Bankier, Geschäftspartner oder Faktor. Der Wechselbrief in dieser Form als »gezogener Wechsel« oder Tratte) spezi ziert den Darlehensbetrag in der örtlichen Währung und unter Angabe des Wechselkurses den Auszahlungsbetrag in fremder Währung in B. Der Aussteller (Trassant) weist in dem Wechselbrief den Bezogenen in B an, zu einer bestimmten Zeit seinem Vertreter in B, dem Begünstigten (Präsentant, ital. bene ciario), dem er den Wechsel geschickt hat und der ihn präsentieren soll, die Summe in der lokalen Währung auszuzahlen. Durch die Annahme des Wechsels (Akzept) durch den förmlichen Vermerk »akzeptiert« (accetata) mit Datum und Unterschrift auf der Rückseite entsteht für den Bezogenen eine einklagbare Zahlungsverp ichtung, die er am Verfallstag, bei Fälligkeit des Wechsels gemäß der ortsüblichen Usance oder der Vereinbarung, zu erfüllen hat. Der Wech-

1683 E. W/M. A. D (Hg.), Das Kaufmannsnotizbuch des Matthäus Schwarz, S. 225, 311 (act. 30‘), 315 (act. 33‘), 382 (act. 101). 1684 C. B, Conrad Peutingers Gutachten (9.7), S. 5. 1685 W. v. S, Oberdeutsche Hoch nanz, S. 231 ff.; ., Die oberdeutschen Geld- und Wechselmärkte, S. 38.

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selaussteller in A unterhielt vielfach in B bei dem Bezogenen ein Konto, dessen Guthaben alle fälligen Wechsel deckte, sodass er dem Wechselnehmer nur einen Anspruch auf sein Guthaben seines Kontos in B einräumte. Eventuell bewirtschaftete der Bezogene die Warensendung des Wechselausstellers und schrieb diesem den Erlös gut. Mit dem ausbezahlten Geld des Wechsels konnte der Begünstigte einen anderen Wechsel als Rückwechsel (recambium) kaufen, in dem der ursprüngliche Wechselnehmer zuhause als neuer Begünstigter erschien. Dieser konnte dann bei Fälligkeit des Wechsels bei entsprechender Kursdifferenz eine höhere Summe erzielen, als er ursprünglich beim Kauf des Wechsels gezahlt hatte.¹⁶⁸⁶ Wechsel konnten zu Marktpreisen weiterverkauft werden und bildeten Kurse aus. Der Kaufmann garantierte zunächst nur mit seiner geschäftlichen Reputation und seinem guten Ruf (Glauben), der das Vertrauen des Wechselnehmers begründete, für das Funktionieren der Wechseltransaktion; eine speziell auf den Wechsel bezogene Rechtssicherheit, eine Regressmöglichkeit bei Nichteinlösung gab es nicht. Das Vertrauen beruhte aber auch darauf, dass der Schuldner auf rechtliche Einwendungen verzichtete und die Zahlung daher ohne weiteres leiste.¹⁶⁸⁷ Aushilfe mussten zunächst herkömmliche schuldrechtliche Klageund Vollstreckungsmöglichkeiten bieten. Seit 1400 kümmerten sich auf internationalen Messen Gerichte um das Problem von in heutiger Terminologie nicht honorierten, protestierten Wechseln, allerdings in einem noch schwierigen

und zeitaufwendigen Verfahren. Mit der Weitergabe der Wechsel durch Indossament, dem rückseitigen Vermerk, der eine neue Person zur Präsentation ermächtigte, wie dies seit der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert belegt ist, wurden Wechsel, wo die Indossierung zugelassen war, zu handelsfähigen Instrumenten und zum jeweils temporär zirkulierenden »Papiergeld der Kau eute«.¹⁶⁸⁸ Der Wechselbrief war mit seiner Konstellation mit vier Parteien vor allem auf den Handel mit Filialen und Faktoren und Geschäftspartnern im Ausland zugeschnitten. Seit wann er in bestimmtem Umfang von oberdeutschen Gesellschaften und Firmen gebraucht wurde, lässt sich nur schwer ermitteln, da der in den Quellen oft ohne genaueren Kontext auftauchende Ausdruck Wechsel neben dem Wechselbrief sehr Verschiedenes bedeuten kann. Einkaufsdarlehen wurden außer vom Kontrahenten auch von Geschäftsfreunden und von Verwandten, die vielfach ihren eigenen Kredit zur Verfügung stellten, Wechsel auf sich ziehen ließen oder Bürgschaften leisteten, oder von berufsmäßigen Geldwechslern und Geldverleihern gewährt. Die öffentlichen Gewalten räumten durch Stundung dem Warenhandel Steuerund Zollkredite ein. Die Schuldner im Waren- und Geldgeschäft bedienten sich auch der Anweisung auf Guthaben bei anderen Firmen (Überkauf ) oder auf eigene Depositen, die zu Zahlungszwecken bei Wechselbanken eingelegt wurden. Die mittleren und großen Handels rmen benutzten für ihre bargeldlosen überörtlichen Überweisungen

1686 M. A. D, Art. »Wechsel, -brief, Wechsler«. Bei einem Trockenwechsel (cambium siccum) fand kein Geldtransfer zwischen zwei Orten statt, sondern die Zahlung war bei Fälligkeit ktiv; der Bezogene (oft zugleich der Begünstigte) stellte zur Einlösung des Wechsels wiederum einen Wechsel aus (cambium – recambium). Ziel war es, Gewinne aus Veränderungen der Wechselkurse zu erzielen. Das mehrmalige Wechselspiel, vergleichbar heutiger Wechselreiterei ohne Warengeschäft, verlängerte den Kredit des Kaufmanns so lange, wie der ursprüngliche Gläubiger zur Erneuerung des Wechsels bereit war. Siehe auch V. A. S, Der Wechsel. 1687 In einem Prozess am kaiserlichen Kammergericht im Jahre 1493 gegen den Augsburger Ulrich Arzt und Gesellschaft brachte der gegnerische Prokurator mit Bezug auf Schuldscheine und Wechsel vor: Man wisse, es sei unter Kau euten üblich, dass wenn einer dem anderen nur ein kleines Brie ein von vier oder sechs Zeilen gebe, dies das Vertrauen (Glauben) in sich berge, der Aussteller werde ohne jeden Einwand bezahlen, und zwar in der Weise, als ob er darin auf alle rechtlichen Mittel oder »Subtilitäten« des Rechts verzichtet habe. E. I, Gelehrte Juristen und das Prozeßgeschehen (4.7), S. 340 f. 1688 M. A. D, »Practica della cambiatura«, S. 95, 101.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

und Verrechnungen Wechselstuben¹⁶⁸⁹, wie sie in Nürnberg, Frankfurt, Köln, Straßburg und Basel bestanden. Die Wechselstuben dienten ursprünglich dem Hartgeldumtausch, ferner der Emission der Münzprägungen, dem Zahlungsverkehr der Kommunen sowie deren aktiven und passiven Anleihegeschäften. Ihre Bankenfunktion ergab sich daraus, dass Einleger von Bargeld nicht in erster Linie eine Verzinsung erwarteten, sondern dank der Gelddeckung die Möglichkeit eines bargeldlosen Zahlungsverkehrs, von Girozahlungen zwischen Konteninhabern bei der Bank durch schriftliche Verbuchung in einer festen, rein ktiven Bankwährung hatten. Indem die bankartigen Wechselstuben Kontoüberziehungen und ungedeckte Geschäfte zuließen, schöpften die Kunden reines Buch- oder Giralgeld, das nur als zahlenmäßige Buchungen in den Büchern der Banken existierte. Auf der anderen Seite vergaben die Wechselstuben mit femden Mitteln, von denen sie etwa ein in bar gehaltenes Drittel als »fraktionelle Reserve« zurückbehielten, ihrerseits Kredite. 9.6.1.2.3 Kredite von Juden, Lombarden und Carwenzen Für die vom kanonischen Recht und nachfolgend auch von städtischer Gesetzgebung verbotenen Darlehen mit offener Zinsnahme, für das kleine Pfand- und das große Darlehensgeschäft, kamen in erster Linie die Juden in Betracht. Bis in das hohe Mittelalter hinein betrieben die Juden in West- und Süddeutschland Warenhandel neben dem Geschäft mit verzinslichen Dar-

lehen, in dem sie infolge des kanonischen Zinsverbots und örtlicher Privilegierung eine überragende Stellung behaupteten. Als sie im 14. Jahrhundert in den Städten vom Warenhandel ausgeschlossen wurden, mussten sie sich zwangsläu g ganz auf den Geldhandel konzentrieren. Ihre verzinslichen Darlehensgeschäfte waren jedoch stets insofern prekär, als das IV. Laterankonzil von 1215 von den Juden die Wiedergutmachung zu schwerer und unmäßig hoher Zinsen verlangte und in einer Sonderregelung für Kreuzfahrer diese von der Zinszahlung überhaupt entband. Judenrichter hatten die Juden zwar zu schützen, aber auch in Wucherfällen zu judizieren; die christliche Obrigkeit wurde zu Zwangsmaßnahmen aufgerufen. Die außerordentlich hohen, gesetzlich unterschiedlich limitierten Zinssätze der Darlehen lassen sich mit regelmäßig kurzfristigen Schuldverhältnissen, der zunächst konkurrenzlosen Stellung der Juden im Darlehensgeschäft, der verbreiteten Kreditbedürftigkeit und vielleicht auch mit einer leichtfertigen Schuldenmentalität der Zeit, nicht zuletzt aber mit dem hohen Kreditrisiko erklären.¹⁶⁹⁰ Vor allem mussten sich die Juden von ihrer oft periodisch erfolgenden nanziellen Auspressung erholen, die sie durch die teilweise oder vollständige Annullierung von Judenschulden unter Kaiser Karl IV. und König Wenzel, durch die Heranziehung zur Deckung des außerordentlichen Finanzbedarfs mit konskatorischen Abgaben seitens der Städte, der Landesherren, denen sie verpfändet waren, oder des Königs als ihres Kammerherrn, ferner durch regelmäßige Abgaben oder durch ihre Berau-

1689 W. v. S, Funktion und Rechtsnatur der Wechselstuben als Banken; ., Oberdeutsche Hoch nanz, S. 342–386. 1690 Die Juden machten die häu gsten Geschäfte mit kurzfristigen Darlehen; der Zinssatz wurde daher auf eine Woche oder einen Monat berechnet. Auf das Jahr hochgerechnet ergaben sich exorbitante Zinssätze von durchschnittlich etwa 60–70%. Bauern, Städter und Adlige standen in Schuldverhältnissen zu Juden, denen Gerichtsgefälle, Regalieneinkünfte, Pretiosen, Wertgegenstände, Arbeitsgerät, gewerbliche Rohstoffe, Dörfer und Burgen, ferner etwa auch die Kronen der pfälzischen Wittelsbacher verpfändet waren. In einem kleinen Gebiet an der Mosel hatten 29 jüdische Gläubiger insgesamt 217 Schuldner, darunter vor allem städtische Handwerker wie Schuster, Schneider, Sattler. Gemeinsame Religionszugehörigkeit, Familiensinn, Minderheiten- und Randgruppenschicksal und die gemeinsam erlittene Verfolgung und Not förderten die Konsortienbildung jüdischer Geldgeber. B. K, Die Entstehung der Kreditwirtschaft, S. 68. Siehe ferner F. I, Juden und Lombarden am Niederrhein; W. v. S, Oberdeutsche Hoch nanz, S. 155–177; M. T, Die Juden im mittelalterlichen Reich, S. 96–100; H.-J. G, Die ökonomischen Grundlagen des Kredits und die christlich-jüdische Konkurrenz.

Kredit, Zahlungsverkehr und Rentengeschäft 947

bung während der Verfolgungen und Pogrome zu erleiden hatten.¹⁶⁹¹ Trotz der Judenschuldentilgungen der Jahre 1349, 1385 und 1390, einem Finanzgeschäft zwischen König und Städten, trotz anhaltender Verfolgung und Bedrückung und angesichts einer seit dem 14. Jahrhundert wachsenden Rolle oberdeutscher Geldleute, unter denen sich schon reine Finanziers befanden, konnten die Juden in Oberdeutschland und am Niederrhein Kreditbeziehungen in und zu Städten nunmehr in ganz erheblich reduziertem Umfang immer wieder anknüpfen. Doch im 15. Jahrhundert und vor allem an seinem Ausgang erschienen die Dienste der Juden immer entbehrlicher.¹⁶⁹² Es kam auch vereinzelt vor, dass Juden sich zur Finanzierung von Kreditgeschäften von Christen Geld gegen Zins liehen, um das Geld ihrerseits zum doppelten Zinssatz wieder zu verleihen. Angesichts ihrer fortschreitenden Verarmung verloren die Juden im 14. Jahrhundert die kapitalbedürftigen Kau eute, sodann an der Wende zum 15. Jahrhundert die konsumierenden und auch aus politischen Gründen verschuldeten Herren und Fürsten als Kreditnehmer. Im Laufe des 14. Jahrhunderts mussten sich die nanziell wiederholt geschwächten Juden mit einzelnen Ausnahmen immer mehr auf kleinere, oft durch Faustpfänder gesicherte Notkredite als Konsumdarlehen vor allem für die handwerkliche Mittel- und Unterschicht beschränken. Darunter befanden sich Kleinstdarlehen an Leute, die eigentlich keine Kreditfähigkeit besaßen und daher Darlehen nur gegen Pfänder erhielten. Das Pfandleihgeschäft galt, obwohl es zur Überbrückung von Not und Mangel unentbehrlich war und in den Alltag hineinreichte, ganz überwiegend als wucherisch, sozial schädlich und allenfalls als das geringere Übel. Es wurde häu g in topogra-

sch dem Handelsverkehr abgelegenen Bezirken betrieben und rief – gelegentlich belegt – auf Seiten der Schuldner Schamgefühle hervor. Die meist nicht durch Faustpfand gesicherten Kredite von Juden und Lombarden bewegten sich im 15. Jahrhundert in Höhen zwischen zwei und 50 Gulden (Winterthur), einem halben Gulden und außergewöhnlichen 300 Gulden bei Beträgen ganz überwiegend unter 50 Gulden (Konstanz) und einem Viertel Gulden und erratischen 750 Gulden oder durchschnittlich etwa 20 Gulden (Zürich), was dem halben Jahreseinkommen entsprach, das ein Tagelöhner erzielen konnte. Der Berner Rat vertrieb 1404/05 die Juden, ließ aber nach dem Stadtbrand von 1408 jüdische Geldverleiher auf Bitten der Bürger, die auf das freundliche Geschäftsgebaren der Juden hingewiesen hatten, erneut zu. Die Berner Räte beschlossen dann aber 1427, Gott, der Jungfrau Maria und allen Heiligen zur Ehre, Juden, Lombarden und andere offene Wucherer nicht mehr zu dulden, die Juden nicht, weil sie den christlichen Glauben schmähten, Juden und Lombarden nicht, weil sie Stadt und Land großen Schaden zugefügt und ihnen unmäßig Barschaft entzogen hätten.¹⁶⁹³ In Zürich wollten die Räte 1435 lediglich keine Juden und Jüdinnen mehr dulden, die Wucher trieben, dehnten jedoch das Niederlassungsverbot aus nunmehr verstärkt religiösen Gründen im folgenden Jahr auf alle Juden aus. Die 1424 auf zwölf Jahre erteilten Bürgerbriefe wurden den ohnehin nur noch wenigen ansässigen Familien nicht mehr erneuert.¹⁶⁹⁴ Papst Nikolaus V. untersagte 1450 für die Zukunft alle Zinsgeschäfte der Juden, die sich, was ihnen aber kaum möglich war, anderen Arbeiten und Berufen zuwenden sollten. Als der Kardinal Nikolaus von Kues auf einer Legationsreise im Reich 1451 im Bistum Bamberg un-

1691 E. I, Steuern und Abgaben (2.1). 1692 Zum geringen Gesamtvolumen des jüdischen Kredits insbesondere im Vergleich zum Kredit durch Rentenverkauf, zu der Stückelung der Kreditsummen und der in verschiedenen Städten unterschiedlich hohen Anzahl der Kreditgeschäfte im 15. Jahrhundert siehe H.-J. G, Die Substitution jüdischer Kredite. 1693 F. E. W/H. R (Bearb.), Die Rechtquellen des Kantons Bern (2.2–2.4), 1. Teil, Bd. 1, 2, Nrr. 51, 116, S. 101, 272. 1694 H. Z-W/H. N (Hg.), Die Zürcher Stadtbücher (2.2–2.4), Bd. III, Nrr. 79–81, S. 75 f.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

ter Androhung des Interdikts das Verbot durchsetzen wollte, wurde der Rat der Stadt Nürnberg dagegen an der Kurie vorstellig, doch gelang es dem Bischof 1453, beim Papst die Aufhebung der Judengesetze für das Bistum durchzusetzen. Der Franziskaner Johannes von Capestrano hatte den Kardinal auf seiner Predigtreise durch das Reich unterstützt. Kaiser Friedrich gestattete in einem Privileg für Nürnberg 1464 den dortigen Juden den Geldhandel für sechs Jahre und erlaubte anschließend in einem weiteren Privileg von 1470 jüdische Wuchergeschäfte. Der Rat begründete seine dem Privileg von 1464 zugrunde liegende Supplik mit wirtschaftlichen Erfordernissen. Ohne die Möglichkeit, verzinsliche Darlehen aufzunehmen, müsse mancher Nürnberger Liegenschaften und bewegliche Habe für geringe Summen verschleudern, verkaufen oder verpfänden. Nürnberg sei auf Handel und Gewerbe angewiesen, und ohne die Wuchergeschäfte der Juden könne der gemeine Nutzen der Stadt nicht erhalten werden. Außerdem bestehe bei einem Verbot des jüdischen Geldhandels die Gefahr, dass Christen die Wuchergeschäfte übernehmen könnten. Doch am Ende des 15. Jahrhunderts schienen diese Argumente nicht mehr zu gelten, und König Maximilian I. erlaubte 1498 dem Rat gegen Entschädigung seiner königlichen Rechte die Ausweisung der Juden. Der Rat hatte zuvor erörtert, ob man die Armen der Stadt bei der Auslösung ihrer Pfänder bei den Juden, die man vertreiben wollte, unterstützen sollte. In mehreren Aktionen der Ausweisung, Rückholung und de nitiven Ausweisung wurden im 15. Jahrhundert die Juden, deren man, wie es gelegentlich hieß, nicht mehr bedurfte, aus den Städten vertrieben, sodass sie sich auf Dörfer oder in Kleinstädte, in den Osten oder nach Norditalien zurückziehen mussten. Vor allem im 14./15. Jahrhundert traten als Konkurrenten der Juden Lombarden (Lamparter), Leute aus dem piemontesischen Asti (Astigiani) und Carwenzen oder Kawertschen (Cahorsini) – Kau eute aus dem südfranzösischen

Cahors – im verzinslichen Darlehensgeschäft und im Wechselgeschäft hervor. Diese Gruppen waren in den meisten Fällen zugleich Warengroßhändler. Die Bezeichnungen lassen kaum zuverlässige Rückschlüsse auf die tatsächliche Herkunft der Geschäftsleute zu, da sie häug davon unabhängig als Berufsbezeichnung und Kennzeichnung charakteristischer Geschäfte, insbesondere der durch Faustpfänder gesicherten Kreditvergabe (Lombardkredit), dienten. Die Rechtsstellung dieser Leute war zwar nicht unmittelbar derjenigen der Juden nachgebildet, wies aber ähnliche Züge auf. Sie waren obrigkeitlich konzessioniert und privilegiert und hatten für ihren Schutz der Stadt Abgaben zu errichten. Die Lombarden standen häug im Dienste ihrer italienischen Zentralen und gründeten ein dichtes Netz von Niederlassungen, das sich auch auf kleinere, stärker agrarisch bestimmte Städte erstreckte. Gegen Lombarden und Cahorsiner war die Weisung des II. Konzils von Lyon 1274 gerichtet, fremde Wucherer nicht zu dulden. Sie waren privilegiert, wurden aber gelegentlich enteignet und vertrieben. 9.6.1.2.4 Beziehungen zu italienischen Bankund Handelshäusern Italienische Geldleute saßen in Köln, Frankfurt, Nürnberg und Lübeck und waren in den Überweisungsverkehr mit der Kurie eingeschaltet. Der Stadt Köln lieh Simon Sassolini, der sich dort niedergelassen hatte und in Verbindung mit den Medici stand, im Jahre 1415 die Summe von 30 000 Gulden. Kredit erhielt die Stadt auch von dem Florentiner Bartholomaeus Dominici, der das Bankhaus der Alberti vertrat. Die Medici, die Alberti sowie die Totti und Pagani aus Lucca nahmen den Geldverkehr mit der Kurie wahr. Lombarden hatten schon vor 1335 in Köln feste Niederlassungen. In Lübeck gab es 1410–1449 Niederlassungen des Ludovico Baglioni aus Perugia und des Gerardo Boerii aus Florenz¹⁶⁹⁵. Sie besorgten dort gleichfalls und hauptsächlich den Einzug der kurialen Gefälle und den Transfer an die Ca-

1695 H. K, Deutsche Wirtschaftsgeschichte I, S. 199; P. D, Die Hanse, S. 268 f.

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mera apostolica. Wechselbriefgeschäfte Nürnberger und oberrheinischer Firmen mit italienischen Firmen und Bankhäusern sind von der Mitte des 14. Jahrhunderts an belegt, eine Generation später kamen Ulmer und Augsburger Kau eute hinzu. »In den Büchern der del Mayno und Borromei von Mailand (1394–1428), der Soranzo, Barbarigo und Contarini von Venedig (1406–1467) zeigen Konten der oberdeutschen Geschäftsfreunde weitgehend schon bargeldlose Verrechnung über Guthaben bei italienischen Banken und die Gut- und Lastschriften von Wechseln.«¹⁶⁹⁶ Die Nürnberger Konrad und Anton Paumgartner hatten nanzielle Verbindung zum päpstlichen Hof über die MediciBank und waren zwischen 1458 und 1459 zuständig für die Einnahmen aus den Türkensteuern, die der päpstliche Kollektor Kardinal Marinus de Fregeno aus dem skandinavischen Bereich, den Erzbistümern Lemberg und Magdeburg sowie den Bistümern Bamberg und Münster sammelte und bei den Paumgartnern deponierte. Von dort wurde der Betrag nach Italien zunächst an das Bankhaus der Medici und dann weiter an den päpstlichen Hof geleitet. Auch liefen über Paumgartner Wechselgeschäfte mit der päpstlichen Kurie, so etwa wenn Supplikanten (Bittsteller) für erwirkte päpstliche Bullen ihre Zahlungen entrichteten. Friedrich Humpis von der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft erhielt 1465 von dem Florentiner Lionardo Spinelli eine Kreditlimite auf die laufenden Konten eingeräumt. Durch Wechselvereinbarungen mit dem Italiener in Venedig über 1 000 venezianische Dukaten, bezogen auf eine Bank in Brügge, konnte Humpis an beiden Plätzen ohne Bargeld zahlungsfähig operieren. Spinelli, der bei der Kurie in Rom seine Hauptagentur betrieb, bediente zwischen 1463 und 1472 die Wechsel von nicht weniger als 16 deutschen Banken.¹⁶⁹⁷

9.6.2 Formen und Bedeutung des Rentengeschäfts 9.6.2.1 Die Rente und ihre Begründung Eine überaus wichtige, für die verschiedensten Zwecke und von weiten Kreisen der Bevölkerung genutzte Form der Kapitalanlage und des Kredits war das Rentengeschäft, das im Reich die bedeutendste private und kommunale Kreditform des Spätmittelalters darstellte. Dabei überließ der Rentengläubiger (-käufer) dem Rentenschuldner (-verkäufer) auf Dauer ein Geldkapital – Hauptgut, Hauptgeld, capitale – und erhielt dafür eine feste, periodisch einmal oder in Tranchen zweimal, gelegentlich mehrmals im Jahr auszuzahlende Rente, für die es eine Vielzahl gebräuchlicher Synonyme gibt.¹⁶⁹⁸ Die Rente bestand in Natural- oder Geldleistungen; auch kamen Mischformen vor. Das hingegebene Kapital war der Kaufpreis für die Rente, die im privaten Rentengeschäft grundsätzlich auf eine Immobilie gelegt wurde. Bei de nitiver Nichtzahlung der Rente (versessene Rente) el das belastende Objekt dem Gläubiger anheim. Bei Zahlungsverzug war die geschuldete Rente häu g zwiespältig, d. h. mit dem doppelten Betrag (duplum), zu entrichten. Bereits im 14. Jahrhundert waren die Weiterverkäu ichkeit oder die Zession der Renten, sofern sie nicht in Einzelfällen durch besondere Willensklauseln belastet waren, durch den ursprünglichen Käufer völlig üblich. Der Rentenbrief hatte sich damit zum Inhaberpapier fortentwickelt, bei dem der Eigentümer der Urkunde als das Subjekt des in ihr verkörperten Rechts erscheint. Das Recht aus dem Papier folgt aus dem Recht am Papier, es wird durch Indossament wie eine Sache durch Übereignung der Urkunde übertragen. Eine Begebungsklausel gestattete die einmalige Übertragung des Rentenbriefs, eine Orderklausel, die in süddeut-

1696 W. v. S, Die oberdeutschen Geld- und Wechselmärkte, S. 28. 1697 K. W, Fortschrittsverweigerung? S. 171. 1698 Bezeichnungen sind: census, pensio, canon, merces, redditus; Gült, Wicbelde, Wortgeld, Ewiggeld, Leibzucht, Leibgedinge. Zur Rechtsnatur des Rentengeschäfts siehe W. T, Zum Rentenkauf im Spätmittelalter; ., Spätmittelalterliche Jurisprudenz und Wirtschaftsethik; W. O, Der mittelalterliche Leibrentenverrtrag; H.-J. G, Art. »Rente, -nkauf, -markt«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. VII, 1995, Sp. 735–738.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

schen Quellen zunächst in Schuldtiteln öffentlicher Haushalte fassbar wird, durch Indossament die mehrmalige Weiterveräußerung.¹⁶⁹⁹ Rentenbriefe wurden vererbt, der Kirche gestiftet, als Mitgift übertragen, versetzt, gerichtlich versteigert, zur Entrichtung der Steuerschuld in Zahlung genommen (Konstanz) oder verkauft, dies manchmal durch mehrere Hände hindurch oder nur in Teilen. Der Rentenbrief gehörte zusammen mit dem kurzfristigen Wechselbrief sowie den Kuxen und Anteilscheinen im Montanwesen zu den ersten einigermaßen fungiblen Wertpapieren und bildete Kurse aus. Die Rente wurde rechtlich als Reallast aufgefasst, die auf einem fruchtbringenden Gut, einer Immobilie (Haus, Grundstück, Ackerland), später auch gattungsmäßig auf Frucht bringenden Gegenständen wie Kühen, Schafen oder Pferden als Radizierungsobjekten lag. Die kanonistische Lehre gestattete schließlich auch die Au egung von Renten auf Quasi-Immobilien, d. h. auf bleibende Einkünfte aus Bergwerken, Salinen, Zöllen und Ähnlichem. Man sah in der Rente in erster Linie ein Nutzungsrecht und betrachtete sie gleichfalls als Immobilie; sie sollte dem Rentenberechtigten Teile der Erträge des fruchtbringenden Gutes des Schuldners sichern. An die Stelle der ursprünglichen Naturalien trat bei ausreichender Erzeugung von Geldkapital durch die Wirtschaft die Geldleistung. Die Nutzungsmöglichkeit konnte vom Rentenberechtigten allerdings nicht unmittelbar verwirklicht werden, sondern nur über den jeweils besitzenden Eigentümer, der zur Mitwirkung verp ichtet war. Diese Verp ichtung bedeutete aber keine schuldrechtliche Begründung der Rente, sie hatte nur akzessorischen Charakter. Weil die mittelalterliche Rente sachenrechtlich radiziert war, einen Kauf und Verkauf (emtio/venditio) und deshalb kein Darlehen (mutuum) darstellte und das als Kaufpreis hingegebene Kapitel ursprünglich nicht zurückgegeben wurde, verstieß sie nicht gegen das kanonische Zinsverbot. Keinesfalls ist das Institut des Rentenkaufs zum

Zweck der Umgehung des kirchlichen Zinsverbots entstanden. Die sachenrechtliche Radizierung der Rente und ihre Leistung aus den Erträgnissen des Gutes hatten zur Folge, dass nur das Radizierungsobjekt haftete, bei seinem Untergang oder seiner Verschlechterung die Leistung daraus ent el oder eingeschränkt wurde, wobei der Eigentümer und Rentenschuldner grundsätzlich nicht schuldrechtlich verp ichtet war. Nach Kaufrecht ging die Gefahr auf den Käufer über. Eine mögliche Gefahr – durch Niederbrennen des Hauses oder Überschwemmung des Grundstücks – versuchte der Rentenkäufer dadurch zu mindern, dass die Rente auf mehrere verstreute oder auf alle Güter des Rentenverkäufers gelegt wurde. Gegen Ende des Mittelalters kamen schuldrechtliche Elemente zur Sicherung der Reallast hinzu, indem die persönliche Schuld und Haftung des Rentenverkäufers in Form von Bürgschaftsstellung, Einlager bei Zahlungsverzug oder durch Bestimmungen wie das Verbot, weitere Renten auf das Radizierungsobjekt zu legen, die Verp ichtung, das belastete Gut nur mit Zustimmung des Rentengläubigers zu veräußern, verpachten oder zu verpfänden, als Sicherungsklauseln vertraglich vereinbart wurden. Das Rentengeschäft befand sich damit im Übergang zum Darlehen mit hypothekarischer Sicherung, zur Generalhypothek und zu dem auf die Leistungsfähigkeit der Person abgestellten Personalkredit, zu Instituten, die das Rentengeschäft in der Neuzeit teilweise ablösten. Wertsicherungsklauseln schützten vor den zunehmenden Münzverschlechterungen, indem die Rente in neuen Münzen zum Wert der alten oder auf Basis des relativ stabilen rheinischen Gulden bezahlt werden musste, nicht aber vor Währungsschwankungen und Kaufkraftverlusten. 9.6.2.2 Rententypen Die Rente war als Kauf und Verkauf mit Eigentumsübertragung ursprünglich ein Ewig-

1699 B. K, Zur Geschichte und Bedeutung der Order-Klausel (2.2–2.4).

Kredit, Zahlungsverkehr und Rentengeschäft 951

geld , d. h., sie war unablösbar. Seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts nden sich in Rentenverträgen auch befristete oder unbefristete Rückkaufklauseln, die dem Rentenverkäufer das Recht einräumen, die Rentenverp ichtung abzulösen. Im 14. Jahrhundert wurde die Möglichkeit der Ablösung fast zur Regel. Abgelöst wurde die Rente durch Rückkauf; das Rentengeschäft war in dieser Form ein Verkauf auf Wiederkauf. Dabei konnte dem ablösenden Schuldner durch eingetretenen Geldwertverlust ein Gewinn entstehen. Spätesten im 15. Jahrhundert, gelegentlich wie in Bremen und Lübeck schon erheblich früher, wurde ein Ablösungsrecht auch des Rentenkäufers üblich, sodass nun beiderseitig kündbare Renten konstituiert wurden, ohne dass die eologen diese Form einhellig billigten. Wirtschaftlich lag mit der Kündbarkeit und der Mobilisierung des Rentengeschäfts, die Anlagen mit kurzer und sehr kurzer Laufzeit ermöglichten, ein verzinsliches Darlehen vor, der juristischen Form nach handelte es sich immer noch um ein Kaufgeschäft. Approbiert wurden durch die Entscheidungen der Päpste Martin V. (1425), Nikolaus V. (1452) und Kalixt III. (1455) Rentengeschäfte, wenn die Rente auf eine fruchtbringende Sache gelegt wurde und für den Rentenschuldner kündbar war. Vollständig verlor das kommunale Rentengeschäft in der Bevölkerung den Wucherverdacht nicht, sodass etwa der Berner Rat 1384 Käufer städtischer Renten in ihrer Ehre strafrechtlich vor Wucherbeschuldigungen schützen musste. Die Wiederkaufsrente wurde verschiedentlich doch als ein verzinsliches Darlehen aufgefasst. Neben der Ewigrente (Erbrente) kam schon früh wohl nach dem Vorbild von Schenkungen zu Seelgeräten in verschiedenen Rechtsformen (precaria oblata/remunatoria) an geistliche Institutionen, die dafür regelmäßige geistliche Leistungen übernahmen, die Bestellung einer Rente auf Lebensdauer auf. Diese Leibrente – Leibgedinge, Leibzucht; census vitalitius/vitalis, pensio, precarium – ist eine Rente auf Zeit. Beim Tode des Rentenberechtigten erlöschen Vertrag und Leistung; das Kapital fällt dem Renten-

schuldner anheim, sodass sich die Schuld amortisiert. Die Leibrente ist daher nicht wiederkäug und braucht nicht förmlich abgelöst zu werden, doch löste die Stadt Köln auch Leibrenten ab und verkaufte im 15. Jahrhundert, wie Regensburg bereits am Ende des 14. Jahrhunderts, ablösbare Leibrenten mit etwas höherer Verzinsung. Es konnten auch zu höheren Preisen, d. h. zu einer geringeren Verzinsung, Renten auf zwei Leben, d. h. für zwei Personen, in seltenen Fällen sogar auf drei und vier Leben gekauft werden. Wegen der Vorteile für den Schuldner, wenn sich dieser den höheren Rentenfuß leisten konnte, und wegen ihres Zwecks für den Gläubiger, den Lebensunterhalt zu sichern, trat die Leibrente zunehmend als Rentenform in den Vordergrund. Da sie hauptsächlich der Sicherung des Lebensunterhalts und der Altersvorsorge diente, ndet sich gelegentlich ein hoher Anteil weiblicher Leibrentenkäufer. Eltern kauften Leibrenten selbst für ihre Kinder und behielten sich die Nutznießung für ihre Lebenszeit vor. Angesichts der hohen Kindersterblichkeit war dies allerdings keine sichere Anlage. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag erheblich niedriger als heute. Sie betrug für Angehörige der Mittel- und Oberschicht, wenn sie die gefährlichen Jahre von Kindheit und Jugend überstanden hatten, vielleicht 45–55 Jahre. Bei der Preisbildung für Renten ad vitam sollten nach theologisch-juristischer Lehre Gesundheit, Alter und die besondere Gefahrensituation des Käufers berücksichtigt werden. Verkäufer von Leibrenten waren vor allem die Kommunen und kirchliche Institutionen. Fasst man die Rententypen zusammen, so gab es die ursprüngliche unablösliche Ewigrente, die wegen ihrer langen Dauer und Belastung der Schuldner allmählich fast vollständig aus dem Angebot verschwand oder gesetzlich verboten wurde, die ablösbare Ewigrente oder wiederkäu iche Rente, die Leibrente auf ein, zwei oder mehrere Leben und – an sich ein Widerspruch in sich – die von einigen Städten verkauften ablösbaren Leibrenten. Eine weitere Variation ergab sich durch die Frage, ob bei Ewigrenten nur der Schuldner durch Rückgabe des Ka-

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

pitals die Rentenzahlung beenden oder bereits auch die Gläubiger das Rentengeschäft kündigen und das Kapital zurückfordern konnte.

vollständig erlegt, sondern durch Radizierung einer Rente auf das Kaufobjekt ganz oder als Restkaufsumme kreditiert wurde.

9.6.2.3 Rentenfuß Der Rentenfuß errechnet sich nach dem Kaufpreis, der für einen Gulden Rente erlegt werden muss. Für Ewigrenten lag er anfänglich bei etwa 12–15 Prozent und el bis gegen das Ende des Mittelalters unter Schwankungen mit örtlich unterschiedlichen Kursen auf durchschnittlich etwa 5 Prozent (absolut etwa 3%), wie er seit dem späteren 15. Jahrhundert immer wieder in Reichs- und Landesgesetzen xiert wurde. Der Rentenfuß der Leibrenten, der eine unsichtbare Amortisationsquote enthält, lag etwa doppelt so hoch wie der des Ewiggeldes. Als die Witwe des 1286 gestorbenen Lübecker Ratsherrn Bertram Mornewech das ihr hinterlassene enorme Vermögen von 14 500 Mark lübisch 1301 als Kapital auf dem örtlichen Rentenmarkt platzierte, sank die übliche Verzinsung durch das bewirkte Überangebot an Kapitalien kurzzeitig von 10 auf 6¼ Prozent. Die langfristig fallenden Rentenkurse, die generell ein Kapitalüberangebot – mit gelegentlichen Störungen – indizieren, bargen erhebliche wirtschaftliche Gefahren für Schichten, die vorzugsweise von Renten lebten und aus dem aktiven Wirtschaftsleben ausgeschieden waren. In einigen Städten wurden Rentengeschäfte gegen Provision von Rentenmaklern vermittelt. Zu unterscheiden sind Neurenten, d. h. ursprünglich konstituierte Renten, und Altrenten, d. h. Renten, die vom Kapitalgläubiger in Form eines Inhaberpapiers an Dritte weiterveräußert oder nach Kündigung durch den Schuldner neu konstituiert wurden. Eine Erweiterung des Kreditvolumens ergab sich durch den Altrentenverkehr nicht. Neurenten in einem weiteren Sinne sind jene Renten, die zur Kreditierung von Liegenschaftskäufen in der Weise begründet wurden, dass beim Kauf der Preis nicht oder nicht

9.6.2.4 Rentenablösung Angesichts einer wachsenden Belastung und Überschuldung von Häusern und Grundstücken wie Gärten, Äcker, Wiesen und Gehölze mit den Folgen einer Eigentumsaufgabe (Dereliktion), der Verwahrlosung oder des Verfalls, der Aufgabe der Bewirtschaftung und Wüstung der Güter bei Insolvenz der Schuldner sahen sich verschiedene Städte oder Stadtherren – nicht zuletzt im Interesse an den öffentlichen Abgaben und Dienstleistungen – veranlasst, zur Entschuldung Rentenablösungsgesetze mit festen Ablösungssätzen für Kapitalrenten und die verschiedenen Naturalzinse auf dem städtischen Landgebiet zu erlassen, so 1240 in Lübeck, 1270 in Hamburg, 1360 in Wien und 1427 in Rottweil, oder wie 1428 in Rottweil und 1439 in Frankfurt am Main die Konstituierung nicht wiederkäu icher Renten überhaupt zu verbieten. Die Bauern im städtischen Territorium und im Umland verkauften Renten häug in Notlagen, zur Deckung unabweisbarer Bedürfnisse vor der Ernte und nach der Ernte, um ihre in Geld fälligen Abgaben zu zahlen, oder zu Zeiten von Eheschließungen mit ihren nanziellen Abreden. Die Folgen der Überschuldung der Bauern für die Bewirtschaftung der Güter im Zwing und Bann der Stadt vor Augen, erließ die Herrschaft Rottweil 1427 Ablösungsgesetze mit einem umfangreichen Katalog an Zinsformen und untersagte den Verkauf bäuerlicher Zinse außer in dringenden Notlagen, über die der Rat befand und nach Ermessen die Verkaufsgenehmigung zu erteilen hatte.¹⁷⁰⁰ 9.6.2.5 Formen, Bedeutung und Funktionen des Rentengeschäfts Der Rentenbrief enthielt in seiner urkundlichen Ausfertigung Angaben zu Schuldner und

1700 H. G (Hg.), Das ältere Recht der Reichsstadt Rottweil (2.2–2.4), Nrr. 234–247, 454. Zur Überschuldung von Bauern durch Renten siehe auch H.-J. G, Das Motiv der bäuerlichen Verschuldung in den Bauernunruhen an der Wende zur Neuzeit, in: S. B u. a. (Hg.), Spannungen und Widersprüche, 1992, S. 175–189.

Kredit, Zahlungsverkehr und Rentengeschäft 953

Gläubiger, Bestimmungen über die Rentenform und -ablösung, die Höhe des übertragenen Kapitals und der erworbenen Rente, die Zahlungstermine und den Zahlungsort, die zugrundegelegte Währung eventuell mit Wertsicherungsklausel. Er sah Sicherheitsleistungen für die Rentenzahlung durch Bürgen und Einlager sowie für das Kapital durch Immobilien oder sichere und ergiebige Gefälle vor, räumte wie in Köln die Möglichkeit der Arrestierung von Bürgermeistern, Ratsherren und Bürgern an Leib und Gut bei nicht gezahlten, versessenen kommunalen Renten ein, regelte die Kostenerstattung bei Zwangsvollstreckung und enthielt Strafbestimmungen etwa des Doppelten (duplum), eventuell auch Sonderbestimmungen über den Ablösungszeitpunkt. Städte äußerten sich in ihren Rentenverträgen zur Fundierung der Rente durch Einnahmen aus Nutzungen, Gülten, Zöllen, Vermögensteuern und indirekten Steuern. Die Zahlung der Rente war vielfach, aber nicht stets, eine Bringschuld des Rentenschuldners und musste in diesem Fall am Wohnort des Gläubigers erfolgen. Rentenzahler, die in die Stadt kamen, genossen Frieden und Geleit (Rottweil). Die Zahlung konnte einmal, häug zweimal und bis zu viermal im Jahr oder gar wöchentlich fällig werden. Die Zahlung in mehreren Tranchen kam der Liquidität des städtischen Haushalts zugute; eine nur einmal im Jahr zu leistende Zahlung war wegen der Kosten erforderlich, wenn der Gläubiger weiter entfernt sein Domizil hatte. Als Zahlungsort und als Zahlungstermine wurden etwa auch Frankfurt am Main und die beiden dortigen Messetermine festgelegt, wenn nicht das Rentengeschäft ohnehin in Frankfurt abgewickelt wurde. Handelte es sich um weiter gestreute kommunale Rentenverkäufe, so entstanden der Stadt bei Vorliegen einer Bringschuld erhebliche Transaktionskosten durch die Geldübergabe durch Boten oder Vertrauensleute, Erkundigungen hinsichtlich des Wohn- und Aufenthaltsorts des Gläubigers oder möglicher Erben durch örtliche Agenten. Im Falle von Leibrenten musste ermittelt werden, ob die Gläubiger überhaupt

noch lebten, wobei Informanten gelegentlich auch belohnt wurden. Zur Kompensation derartiger Kosten mussten auswärtige Rentengläubiger bei kommunalen Renten eventuell eine etwas geringere Verzinsung hinnehmen. Völlig risikofrei war das Rentengeschäft für den Gläubiger bei allen Sicherungen nicht. Es ist anzunehmen, dass die Geldanlage in kommunalen Renten, die heute als mündelsicher gilt und damals von Vormündern vorgenommen wurde, gegenüber dem Rentenkauf bei Privaten weniger risikobehaftet war, doch gab es Städte, die wie Basel, Straßburg, Nürnberg oder Nördlingen pünktlich oder wie Bern zeitweise weniger zuverlässig ihren Zahlungsverp ichtungen nachkamen. Viele Städte mussten zeitweise die Rentenzahlungen einstellen, doch resultierte daraus statistisch betrachtet noch keine strukturelle Unsicherheit der Anlagen. Die Überschuldung von Städten, die wie in Wetzlar und Mainz in einen Bankrott mündeten, führte zu Stundungen der Zahlung, Minderungen des Rentenzinses und schließlich sogar zum Kapitalverlust der Rentengläubiger. Die Statistiken der privaten städtischen Rentengeschäfte basieren auf einer Vielzahl von Eintragungen in den Stadtbüchern, die im niederdeutschen Bereich vielfach für größere Zeiträume lückenlos vorliegen, doch ist in diesen Büchern der Rentenmarkt wohl nicht vollständig erfasst. Die Kommunen führten Verzeichnisse der Ewig- und Leibrenten und ihrer Modalitäten, im günstigen Fall auch der Rentenzahlungen und von Rückkäufen, d. h. der Schuldentilgungen. Kapital konnte auch durch Bestellung eines Grundpfandrechts aufgenommen werden. Der Schuldner übergibt dabei dem Gläubiger gegen ein Geldkapital eine Liegenschaft zu Besitz und Nutzung. Kann er die Summe nicht termingerecht zur Pfandlösung zurückerstatten, so verfällt das Pfand dem Gläubiger. Im späten Mittelalter glichen sich Pfandrecht und Rentenkauf stärker aneinander an. Während des Mittelalters war etwa in Köln im privaten Verkehr der Rentenkauf nicht so verbreitet wie etwa in Hamburg, Stade oder Lübeck; vorherrschend

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

war das Grundpfandrecht, das erst im Spätmittelalter gegenüber der ablösbaren Rente zurückging. Renten verkauften die Kommunen, außerdem nahezu alle geistlichen und weltlichen Institutionen in der Stadt und Privatpersonen. Der Rentenkauf, der frühzeitig schon im innerkirchlichen Bereich anzutreffen ist und dann zumindest auf einer Seite fast ausschließlich kirchliche Personen und Institutionen als Beteiligte kennt, gewann im städtischen Leben beim Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft und mit der Zunahme von Handel und Verkehr eine wachsende wirtschaftliche Bedeutung. Er bot dem anlagesuchenden Kapital die Möglichkeit einer produktiven, allerdings nur relativ risikoarmen und nicht gegen das Wucherverbot verstoßenden Anlage und befriedigte auf der anderen Seite das Kreditbedürfnis des Immobilienbesitzers, der sein Grundstück verbessern, des Handwerkers, der einen Gewerbebetrieb einrichten wollte, und des Kaufmanns, der Absatz- und Preiskrisen des Fernhandels zu überbrücken hatte oder sein Handelsvolumen vergrößern wollte, während er ansonsten für seine Unternehmungen eher kurzfristige Kreditformen wie den Warenkredit oder später auch den Wechselbrief in Anspruch nahm. Es kam auch vor, dass sich Gewerbetreibende aus dem aktiven Geschäftsleben zurückzogen und von ihrem Kapital Renten kauften, um nunmehr von diesen ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Der öffentliche Kredit beruhte weitestgehend auf kommunalem Rentenverkauf. Wohlhabende konnten sich durch Rentenkauf eine solide, meist mit geringem Verwaltungsaufwand verbundene Altersvorsorge verschaffen. Kleine Leute, die Ersparnisse in Leibrenten anlegten, erwarben als Kleinrentiers eine gewisse soziale Sicherung für den Fall von Krankheit, Invalidität oder altersbedingter Arbeitsunfähigkeit, wie auch andererseits derartige Fälle zum Rentenverkauf nötigen konnten. Sie kauften am Ort, falls die Stückelung der kommunalen Anleihen kleinere Kapitalanlagen überhaupt zuließ. Dies

war sicherlich nicht in allen Städten der Fall, sodass auch der Markt für private Renten aufgesucht werden musste. An der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert verkauften die Städte Braunschweig, Göttingen, Hannover und Lüneburg Leibrenten für 2 bis 4 Mark, in Köln sind neben sehr großen Renten auch sehr kleine belegt und in Regensburg wurde das Minimum für Leibrenten auf 7 Pfund festgelegt. Hingegen kamen in Basel 1420–1430 Einzelbeträge unter 100 Gulden nicht vor, in Zürich waren sie zwischen 1408 und 1417 sehr selten. Renten dienten der Begründung von Seelgeräten und frommen Stiftungen, der Stiftung von Messen, ferner zur Aussteuer und Mitgift für Töchter, zur Versorgung von Familienangehörigen und Verwandten. Auf Renten beruhten Stipendien für Studenten, Stiftungen verschiedenster Art wie für den Bau und Unterhalt von Brücken oder zur Austreibung von Hunden aus der Kirche wie die des Nürnbergers Siegmund Örtel von 1484. Renten fundierten Pfründen und karitative Einrichtungen (Almosen) zugunsten der Armen und speziell der Hausarmen, von Jungfrauen, armen Kindbetterinnen, alten Handwerkern, des Spitals und Pilgerspitals oder des Findelhauses. Mit Renten wurden Rechte abgelöst oder entgolten. Dienstboten mochten sich von ihren Herrschaften im Alter eine Leibrente erhoffen, wie dies, ausweislich der Romane Honoré de Balzacs, in Europa noch im 19. Jahrhundert der Fall war. Der Basler Großkaufmann Nikolaus von Diesbach hinterließ – als Beispiel für außerordentlichen privaten Reichtum – 1436 den Erben neben einem Vermögen von 112 000 Gulden auch kommunale jährliche Ewigrenten in Höhe von 250 Gulden mit einem Kapitalwert von 8 300 Gulden (Zinssatz 2,94–3,33%), die er in Schaffhausen und Freiburg im Breisgau gekauft hatte, und weitere 400 Gulden jährlicher Zinse in Stadt und Land Bern.¹⁷⁰¹ Der Stralsunder Ratsherr Paul Mörder besaß bei seinem Tod 1494 über 820 Mark an jährlichen Renten aus 12 Dörfern, was bei einem Rentenfuß von

1701 G. M (Hg.), Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 90, S. 291.

Kredit, Zahlungsverkehr und Rentengeschäft 955

6 Prozent einem Kapital von 13 600 Mark entsprach. 9.6.2.6 Der Rentenmarkt Der Rentenkredit war infolge der Notwendigkeit der Immobilienfundierung, die für den kommunalen Rentenverkauf allerdings bald weg el, relativ schwerfällig und durch die Belastbarkeit der Liegenschaften in seinem Volumen limitiert. Der Rentenkauf bot jedoch die Möglichkeit, in vertretbarer Zeit die angelegte Kapitalsumme wieder zu liquidieren und deshalb von einer größeren Vorratshaltung an Bargeld abzusehen. Der Rentenschuldner erhielt Kapital und trug durch seine Verwendung zu einer Vergrößerung der umlaufenden Geldmenge bei. Für den Handel war die Kreditbeschaffung auf dem Rentenmarkt¹⁷⁰² von nur begrenzter Bedeutung, während der Warenkredit (Borgkauf ) im norddeutschen Raum oder eine kurzfristige Darlehensaufnahme demgegenüber eine überragende Bedeutung besaßen. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts dürften die Immobilien in Hamburg gut zur Hälfte belastet gewesen sein. Für Stade wird bezogen auf das Jahr 1480 eine Höchstbelastungsquote von 35 bis 40 Prozent der Liegenschaftswerte angenommen. In Lübeck sollen in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zwei Drittel der Häuser Rentenbelastungen aufgewiesen haben. Die heftig ausschlagenden Kurven der Rentenumsätze lassen sich mit der Wirtschaftskonjunktur, aber auch mit exogenen Ereignissen wie Krieg und den Pestzügen erklären. Einbrüche im Handel hatten starke Erscheinungen einer Depression auf dem Rentenmarkt zur Folge. In Krisenzeiten schrumpften sowohl die Geldgewinne aus dem Handel als auch die Möglichkeiten der Geldanlage. Da nach Beendigung von Krisenperioden das verfügbare Kapital im neu aufblühenden Handel und erst die wieder einströmenden Gewinne auf dem Rentenmarkt angelegt wurden, überdauerte die Depression auf dem Ren-

tenmarkt die Handelskrise um ein bis zwei Jahre. Es ist aber durchaus auch möglich, dass in günstigen Konjunkturen der tatkräftige Kaufmann sein Kapital und seine Gewinne eher im Handel investierte als aus dem Handel abzog, da die Rentenanlage bescheidenere, wenn auch im Betrag feststehende und relativ sichere Prote abwarf. Die fernhändlerischen und ratsherrlichen Familien bildeten in Lübeck eine geschlossene Renten kaufende Schicht, die nach Zahl der Käufe und nach Höhe der Renten am Markt absolut dominierte. Die Brüder Castorp hatten 1490 zusammen ein Rentenkapital von etwa 30 000 Mark lübisch angesammelt; die nominell niedrigeren Rentenvermögen einiger Vermögender der Mitte des 14. Jahrhunderts halten dieser Ziffer angesichts eines höheren Geldwertes durchaus stand. Bei den Handwerkern lag die Zahl der Rentenschuldner viermal so hoch wie die der Rentengläubiger. Zu den Schuldnern gehörten aber auch ehemals bedeutende Familien, die jedoch an dem gewaltigen Handelsaufschwung nicht mehr aktiv teilgenommen hatten. Die Belastung ihres verbliebenen Grundbesitzes mit Renten führte vielfach in die Überschuldung mit schließlicher Liquidation. Vor allem die Kirche, deren Besitztümer nicht durch Erbgang zerstreut wurden, spielte mit ihrem außerordentlich großen jährlichen Geldeinkommen aus bereits vorhandenem Rentenbesitz, zahllosen gestifteten Renten, Pfründen und Grundbesitz eine ständig wachsende Rolle als stets präsenter Kapitalanbieter am Rentenmarkt. In Buxtehude wurden bis 1490 62 Prozent des Kapitals am Rentenmarkt von der Kirche angeboten, in Kiel waren es 40 Prozent in den Jahren 1455 bis 1547. Daraus ergab sich eine wachsende Zinsabhängigkeit weiter Kreise von der Kirche. Die Kirche hatte durch Renteneinkünfte auf indirekte Weise einen zunehmenden Anteil am Einkommen der Bürger aus Handel und Produktion.

1702 Zum Rentenmarkt vgl. die Übersicht von S, ferner H.-P. B, F. B, A. . B, O. C, J. E, P. G, H. H, K.-J. L-S, W. L, K. R, H.-J. W. Zum kommunalen Rentenverkauf siehe 4.8.5.2.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

9.6.3 Gläubigerschutz und Vollstreckungsmittel Dem Gläubigerschutz dienten die Aufsicht über die Kreditwürdigkeit durch vereidigte Finanzmakler, die Eintragung von Kreditgeschäften bei der Stadt beim Schöffengericht oder vor dem Notar zur Beweissicherung, die Gründung von Schuldverhältnissen auf Pfandsetzung und Bürgschaft sowie strenge Wechselgep ogenheiten.¹⁷⁰³ Differenzierte Willenserklärungen der Parteien auf Schuldscheinen machten die Schuld zur bekannten Schuld , sodass die Forderung weder durch Zeugen noch durch Eid bekräftigt werden musste. Der Schuldner sicherte den Ersatz der Kosten für Mahnung und Betreibung der versessenen Schuld und die Zahlung von Verzugszinsen zu; er verzichtete auf seinen Gerichtsstand und anerkannte die Klage des Gläubigers vor jedem beliebigen Gericht; er erlaubte dem Gläubiger die Aufnahme der Schuldsumme durch Zinsdarlehen bei Juden oder Lombarden auf Kosten des Schuldners; das Gut des Schuldners durfte ohne weiteres beschlagnahmt werden. Adelige oder sonstige hochrangige Personen wurden zum Einlager verp ichtet, zu »jener honorigen Geiselschaft, bei der der Schuldner sich nach Erschöpfung bestimmter Verfahren gewöhnlich unter Begleitung mit einem oder mehreren Dienern oder Knappen und sämtlich beritten in einem Gasthof auf seine Kosten so lange aufzuhalten hatte, bis der Gläubiger befriedigt war«.¹⁷⁰⁴ Durch die au aufenden Kosten für Kost und Logis, die auch bei Personenarrest in städtischer Haft zu erstatten waren, wuchs der nanzielle Druck auf den Schuldner. Letztes Mittel war die öffentliche Schmähung des Schuldners durch Anschlag von Schandbriefen und Schandbildern am Pranger oder anderen öf-

fentlichen Orten, wodurch Ruf und Ehre des Schuldners oder auch der Städte, die ihre Schulden nicht beglichen, wegen Wortbruchs der Allgemeinheit preisgegeben wurden. Dieses Mittel, das Schuldner ihren Gläubigern gelegentlich in Urkunden durch so genannte Scheltklauseln einräumten, wurde jedoch seit dem späten 15. Jahrhundert durch Städte bekämpft. Bürgermeister und Ratskommissionen leisteten Hilfe bei der Eintreibung von Schulden. In Zürich konnte man sich mit seinen Forderungen an die Eingewinner wenden, die Verzeichnisse über die geltend gemachten unbezahlten Schulden anlegten und ein spezielles Eintreibungsverfahren in Gang setzten. Schulden führten in einigen Fällen zum Stadtverweis. Die Stadt organisierte die Verfolgung des üchtigen oder insolventen Schuldners auf dem Wege der Beschlagnahme und gerichtlichen Verwertung seiner Güter, regelte die Verhängung des Schuldgefängnisses, das Vergleichsund Konkursverfahren.¹⁷⁰⁵ War der inhaftierte Schuldner bereit, den Gläubigern für ihre Forderungen sein Vermögen abzutreten (cessio bonorum), oft unter für ihn schmählichen Umständen, und sich aus der Stadt zu entfernen, sollte er nicht länger im Gefängnis gehalten werden. Auch konnte sich der insolvente Schuldner nach einer Ausklage durch Ausschwören in einem Akt der Selbstverbannung eidlich zum Verlassen der Stadt verp ichten, bis er die Schuld bezahlt hatte. Damit ent elen die Kosten für die Schuldhaft in der Stadt, die der Schuldner ohnehin kaum tragen konnte. Zugleich war es den Gläubigern vorbehalten, gerichtlich ihre Forderungen bis zur Erfüllung durch Arrestverfahren beizutreiben. Die Stadt gewährte ge üchteten Schuldnern zur Rückkehr ein befristetes Schuldnergeleit (salvus conductus), damit sie in

1703 B. K, Die Entstehung der Kreditwirtschaft, S. 117–123. Es entstand das Gewerbe der Taxatoren und Auktionatoren, welche die verfallenen Pfänder schätzten und zum Taxpreis öffentlich verkauften oder versteigerten. 1704 Ebd., S. 121. 1705 F. H, Das Konkursrecht der Reichsstadt Augsburg; ., Zur Geschichte des Konkursrechts der Reichsstadt Ulm; W. S, Zwangsvollstreckung und Konkurs im Recht der freien Reichsstadt Nürnberg; W. O, Art. »Konkurs«; H.-R. H, Basler Rechtsleben (2.2–2.4), Bd. II, S. 117–139, passim; U. H, Die Kölner Statuten von 1437 (2.2–2.4), S. 116–147 (Kummerverfahren, Fugitivenarrest); S. B , Schuldknechtschaft und Schuldturm; E. I, Gelehrte Juristen und das Prozeßgeschehen (4.7), S. 340–355.

Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsethik

der Stadt mit ihren Gläubigern verhandeln und Vereinbarungen treffen konnten. Für Bürger wurde es prekär, wenn sie – ohne privilegiale Sonderstellung – solidarisch, gesamtschuldnerisch für die Schulden der Stadt hafteten und deshalb von Gläubigern ergriffen, Person und Güter arrestiert (bekümmert) wurden. Nach dem Gang vor Gericht stellten das weltliche und das geistliche Gericht dem erfolgreichen Gläubiger die Zwangsmittel der Acht und des Kirchenbanns zur Verfügung, das weltliche Gericht die Acht auch gegen die Stadt. Papst Bonifaz VIII. hatte 1302 verboten, in Schuldsachen den Kirchenbann über Städte, Burgen und Dörfer zu verhängen, doch wurde dem nicht ausnahmslos Folge geleistet. Gegen die Stadt Wetzlar, die gegenüber dem Kölner Volquin von der Hacen 1367 eine Schuld von 600 Gulden eingegangen war, erwirkten die Erben des Gläubigers 1398 den Kirchenbann über die Stadt, 1414 beim königlichen Hofgericht die Acht, 1422 die Aberacht und 1437/38 eine Bannbulle des Basler Konzils, die erst aufgehoben wurde, nachdem die Schuld 1441 durch Vergleich getilgt worden war.¹⁷⁰⁶

9.7 Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsethik 9.7.1 Kauf und Verkauf – Gerechter Preis Die Stadt war bestrebt, ihren Bewohnern nach Möglichkeit den Kauf aus erster Hand zu sichern und den preistreibenden, spekulativen ZwischenhandelinseinenverschiedenenFormen

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zu unterbinden.¹⁷⁰⁷ Die Ware sollte möglichst nur einmal zum Verkauf gelangen. Kauf und Verkauf als Grundgeschäft allen Handels wurden teilweise nach einzelnen Warengattungen in Kaufmanns-, Markt- und Gewerbeordnungen und in einer Vielzahl von Einzelverordnungen über Gäste- und Gesellschaftshandel, Kleinund Großverkauf, Makelei, Schätzer (Wardeine), Lagerung, Verpackung, Wareneinheiten, Herkunftsbezeichnung usw. eingehenden Vorschriften unterworfen, deren Einhaltung ein zahlenmäßigwachsendesPersonalüberwachte.ImKöln des 15. Jahrhunderts handelte es sich um erheblich mehr als hundert amtlich und halbamtlich tätige Personen. In einigen Städten waren Älterleute der Kau eute und Zünfte daran beteiligt. Fremde Anbieter (Gäste) durften ihre Waren nur in großen Mengen abgeben und untereinander nicht Handel betreiben, jedenfalls nicht, solange Bürger am Kauf interessiert waren, wofür Fristen festgelegt waren. Stapelwaren mussten auf dem städtischen Markt angeboten werden, sobald sie in das städtische Hoheitsgebiet gelangten. Für den Transit durch das Stadtgebiet kam dann nur noch der Warenrest infrage, der nach der Bedarfsdeckung durch die Bevölkerung bei Zwischenhändlern keinen Absatz gefunden hatte. 9.7.1.1 Vorkauf und Aufkauf Vorkauf (Fürkauf ) und Aufkauf als Zwischenhandel zum Nachteil der Bürger und als eine Form des Warenwuchers waren wichtiger Gegenstand kommunaler Polizei- und Wirtschaftsgesetzgebung.¹⁷⁰⁸ Aufkauf war jeder Kauf, der

1706 K. W, Fortschrittsverweigerung? S. 171. 1707 W. E, Lübisches Recht (2.2–2.4), S. 385–390; E. L, Das kanonische Zinsverbot; H. C, Künstliche Preissteigerung durch Für- und Aufkauf. 1708 Die »Reformatio Sigismundi« (Hs. N) wendet sich gegen den als sündhaft erachteten Vorkauf, der die unterschiedlichen Versorgungslagen in einzelnen Landstrichen infolge wachstumsbedingter unterschiedlicher Ernteergebnisse ausbeutet. Aufgekaufte Waren werden zum günstigen Zeitpunkt mit wucherischen Gewinnspannen abgesetzt. Dadurch wird die Existenz der wirtschaftlich Schwachen gefährdet. Deshalb soll man verbieten, dass Vorkäufer von einem Land in das andere reisen und Waren aufkaufen. Die Produzenten sollen ihre Erzeugnisse selber auf den Markt bringen. Ein Abbau der Handelszölle würde den Versorgungsausgleich zwischen den Ländern erleichtern. Die Einheimischen sollen auf dem Lande keine Waren zu Handelszwecken kaufen, denn die Fremden bringen Güter in ausreichenden Mengen auf den Markt. Wenn das Angebot auf den Märkten schwach wird und man dessen gewahr wird, so bringt man sofort ausreichend Nachschub. Es käme keiner nach Frankfurt, wenn er meinte, seine Waren günstiger in Venedig absetzen zu können. H. K (Hg.), Reformation Kaiser Siegmunds (5), S. 313 f.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

über den eigenen Bedarf hinausging. Vorkauf war jeder Kauf, der dem für erstberechtigt erachteten Käufer vorgriff, ein Kauf, der vor der gehörigen Zeit und vor dem gehörigen Ort erfolgte, ein Vorwegkauf zum Zweck des Wiederverkaufs zu stark überhöhten, wucherischen Preisen. Er verstieß gegen den Marktzwang, indem Waren nicht unmittelbar auf den Markt gelangten, sondern auf dem Lande oder vor den Toren der Stadt, außerhalb des Marktes und eventuell der offiziellen Marktzeiten, den Produzenten und Händlern abgekauft wurden. Vorkaufsverbote dienten auch dem skalischen Zweck, die Umgehung des Marktzolls zu verhindern. Vorkauf lag ferner vor, wenn in einem höchst spekulativen Geschäft Produkte noch deutlich vor ihrer Ernte aufgekauft wurden, so das Getreide schon auf dem Halm und der Wein schon vor dem Keltern oder gar vor der Traubenreife. Vorkauf mit der Folge von Teuerung erschien als eigennütziges Geschäftsgebaren, das gegen den gemeinen Nutzen verstieß und ein ordnungspolitisches Problem darstellte, da er als Ursache für Empörung und Aufruhr des gemeinen Mannes galt. Vorkauf bei Getreide erschien allenfalls gerechtfertigt, wenn er zur erhöhten Sicherung der Versorgung der Bevölkerung diente. Der spekulative Vorkauf – abgeschlossen in der Hoffnung auf steigende Preise bis zur Ernte – verstieß nach Auffassung des Straßburger Rats ›gegen göttliches Recht und jede Billigkeit‹, diente der ›unersättlichen Habgier‹ der Vorkäufer, verteuerte durch gesonderte Preisvereinbarungen die Produkte in Stadt und Land, entzog dem ›wohlfeilen Markt der Gemeinde‹ mit seiner allgemeinen Preisentwicklung (gemeiner Lauf ) Angebotsmengen und beeinträchtigte die Versorgung der breiten Bevölkerung.¹⁷⁰⁹ Das lübische Recht verbot, Ware zu kaufen oder zu verkaufen, die nicht vor Augen war, wie den Hopfen oder das Getreide, die noch nicht gewachsen waren, oder den Fisch, der noch nicht gefangen war. Erst wenn der Hering im Salze sei, der Hopfen und das Korn geblüht hätten, sollten

immer noch spekulative Geschäfte darüber erlaubt sein. Man ging gegen gewerbsmäßige Vorund Aufkäufer vor oder versuchte wenigstens, ihre Aktivitäten zu beschneiden. Das lübische Recht räumte dem Bürger für seinen handwerklichen oder häuslichen Bedarf ein Eintrittsrecht beim Kauf ein. Der Handwerker durfte zu dem von Dritten mit dem Verkäufer ausgehandelten Preis bis zur Hälfte in den Rohstoffkauf eintreten. Der Brauer, der Hopfen sackweise kaufte, musste einem Bürger, der während des Auswiegens hinzukam, einige Scheffel zum eigenen Erwerbspreis abgeben. In Köln wurde den Einwohnern bis zu einer frühen Morgenstunde die Möglichkeit eingeräumt, aus erster Hand noch vor den Zwischenhändlern ihren Eigenbedarf auf den Märkten und in den Kaufhäusern zu decken und in den Kauf einzutreten, der noch nicht durch Handschlag abgeschlossen war. Gesellschaften wurden verboten, wenn sie bestimmte Waren teilweise im Wege des Vorkaufs aufkauften und dann aufgrund einer Monopolstellung unter einem bestimmten Preis nicht mehr absetzten. Auch Verbote des Kommissionsgeschäfts kamen vor (Köln). Zwischen dem Produzenten und dem Konsumenten sollte nach Möglichkeit ein direkter Austausch stattnden, damit Preissteigerungen durch den Zwischenhandel unterblieben. Vorkaufsverbote bezogen sich auf Waren, die für Stadt und Bevölkerung eine große Bedeutung hatten wie Lebensmittel, Handelsgüter wie Wein und Pferde sowie Rohstoffe für Gewerbe. Vorkauf konnte zugelassen sein, wenn es sich um ein entbehrliches Gut handelte. 9.7.1.2 Unredlicher Kauf Neben dem spekulativen Vorkauf gab es noch weitere Formen des verbotenen Waren- und Preiswuchers. Dazu gehörte der Meinkauf , ein Kauf von Waren in großen Mengen mit dem bloßen Ziel des teureren Wiederverkaufs, bei dem ein wucherischer und betrügerischer Gewinn erzielt wurde, weil der höhere Wiederver-

1709 J. B (Hg.), Straßburger Zunft- und Polizei-Verordnungen, S. 585 f.

Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsethik

kaufspreis durch keine Mühe und Arbeit wie Transport, Be- oder Verarbeitung oder Lagerhaltung gerechtfertigt war. Meinkauf lag auch vor, wenn der Verkäufer seine Waren möglichst teuer verkaufte, um sie zu einem niedrigeren Preis wieder zurückzukaufen. Am häu gsten wurde Meinkauf mit Waren betrieben, die im städtischen Kaufhaus erworben worden waren. Insbesondere wurde verboten, Wein über einen bestimmten Eigenbedarf hinaus zu kaufen, um das nicht benötigte Quantum später zu höherem Preis – uf merschatze (Straßburg) – auf dem Markt abzusetzen. In der Stadt gekaufte Waren durften allerdings außerhalb der Stadt wieder verkauft werden. Verboten war der wucherische Kreditkauf (Borgkauf ), bei dem die Ware sofort geliefert, der Kaufpreis bis zu einem bestimmten Termin kreditiert wurde, aber höher als der Preis bei einem unmittelbaren Bargeschäft lag und deshalb eine verbotene Darlehensverzinsung enthielt. Ähnlich verhielt es sich beim verbotenen Schadkauf , dem Kauf und Verkauf up nancie ind to schaden (Köln). Hier wurde vom Gläubiger als Schaden die Differenz zwischen dem Preis einer Ware bei Eingehung oder Fälligkeit einer Schuld gegenüber dem – höheren – Preis zur Zeit der Begleichung der Schuld in Rechnung gestellt. Unter Schadkauf wurden aber auch unspezi sch wucherische Kaufgeschäfte und Preiswucher in verschiedenen Formen oder der gleichsam nichtöffentliche marktferne Straßen- und Hausierhandel verstanden. Auch in anderen Städten wurde jegliche Kapitalverzinsung durch Erhöhung der Preise bei Kreditgewährung verboten. Als nicht näher typisierter unredlicher Kauf wurde der Pletschkauf (emtio venditio dolosa) in einem Atemzug mit Wucher verboten. In Basel wurde um 1445 ein Ratsausschuss damit beauftragt, Pletschkäufe und wucherische Kreditkäufe mit Korn, Pfer-

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den, Hafer, Tuchen, Kramwaren und anderen Pfennwerten, Waren von geringerem Wert, zu bestrafen. Städtische Statuten schärften das Verbot des wucherischen Borgkaufs ein und wollten insbesondere Jugendliche vor einer Verschuldung durch derartige Kredite schützen, indem sie wucherische Verträge mit jungen Leuten generell für rechtlich unwirksam erklärten. 9.7.1.3 Der gerechte Preis Für den nicht obrigkeitlich festgesetzten gerechten Preis (iustum pretium) wurde eine bestimmte maßvolle Bandbreite eingeräumt. Galt der Marktpreis und nicht ein taxierter Preis, handelte es sich um den freien Konkurrenzpreis, der ohne Betrug und Zwang im offenen Marktgeschehen zustande kam. Das römische Recht lehrte, dass ein gewisses, nicht betrügerisches Übervorteilen (decipere, circumvenire) auf dem Markt durchaus zulässig sei. Bei der analytischen Ermittlung des gerechten Preises konnte der Moraltheologe der Tübinger Universität Konrad Summenhart nicht weniger als sechzehn preisbildende Faktoren benennen, wobei Mühe, Arbeit, Sorgfalt, Kosten und Risiko stets als vergütungsfähig galten.¹⁷¹⁰ Das Gericht konnte in Rechtsstreitigkeiten um den gerechten Preis auf den Grundsatz der laesio enormis¹⁷¹¹, der übergroßen Verletzung (Verkürzung), zurückgreifen, der im römischen Recht (Codex 4.4.4.2) enthalten war und erweitert in die Canones Cum dilecti und Cum causa des Titels De emptione et venditione (Über Kauf und Verkauf ) der Dekretalen Gregors IX. übernommen wurde: Der Verkäufer hat ein Rücktrittsrecht, wenn er weniger als die Hälfte des gerechten Wertes erhielt, oder er darf die Differenz fordern. Diese Norm galt auch für den Käufer. Durch die Festlegung im kanonischen Recht fand die laesio enormis früh schon Anwendung im geistlichen Gericht und wurde dann auch

1710 Luther, der auf der gleichen Grundlage argumentierte, räumte ein, dass es schwierig sei, den richtigen Gewinn zu ermitteln, und fügte zur Entlastung des Gewissens hinzu, dass dabei Fehler und Sünde wie eine leichte Überschreitung erlaubten Gewinns unvermeidlich seien, wie die eheliche P icht nicht ohne Sünde geschehe, und doch Gott um der Noth willen solchem Werk durch die Finger siehet, weil es nicht anders seyn kann. »Bedenken von Kaufshandlung«, S. 14 f. 1711 Zur Preisgestaltung auf juristischer und moraltheologischer Grundlage siehe W. T, Äquivalenzprinzip und gerechter Preis; E. I, Wirtschaftsethik und Wirtschaftsrecht.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

in das weltliche Recht übernommen, so in das Freisinger Rechtsbuch von 1328 (Art. 227), das Münchener Stadtrechtsbuch von 1347 (Art. 330) und in die Wormser Stadtrechtsreformation von 1489 (Buch V, I, 3). Zahlreiche Stadt- und Landrechte folgten seit dem 16. Jahrhundert. Zur Wahrung des gemeinsamen Nutzens schritten Stadtherr oder Rat zu gelegentlichen oder fortdauernden Preis- und Lohnfestsetzungen, wenn Handwerker oder Händler ihre Marktmacht, sei es unter Ausnutzung akuter Engpässe und Notlagen, durch betrügerische Manipulationen, Preisabsprachen oder aufgrund einer Monopolstellung zur Übervorteilung der Kunden auszunutzen drohten. Der freie Marktpreis hatte in den Zeiten eines unzureichend ausgebauten Verkehrs und zahlreicher Mangellagen leicht die Tendenz, bei Massenverbrauchsgütern in einen Monopol- oder Wucherpreis umzuschlagen. Im Kölner Großen Schied von 1258 zwischen Erzbischof und Stadt wurde es den Zünften untersagt, den Preis der in ihr Gewerbe einschlagenden Waren beim Einkauf und Verkauf festzusetzen, weil das als Monopol bezeichnete Vorgehen der Zünfte den mit ihnen verkehrenden Kaufmann zwinge, an sie zu niedrigen Preisen zu verkaufen und bei ihnen teurer einzukaufen. Eine Kölner Ratsverordnung aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts bestätigt den Zinnkannengießern die Gültigkeit des freien Marktpreises in Ein- und Verkauf und verbietet eine zunftinterne sanktionierte Preisfestsetzung. Die Fleischerzunft war von 1348 bis 1397 verboten, weil sie sich den ihr vom Rat verordneten Verkaufsbedingungen nicht hatte fügen wollen. In Duisburg und Wesel wurden Lebensmittelzünfte lange Zeit nicht zugelassen, weil sie die Preise in die Höhe treiben konnten. Noch 1518 durfte in Duisburg je-

der Bürger Fleisch verkaufen, und eine Bäckerzunft gab es dort erst seit 1674. 9.7.2 Wucher und Zinsverbot 9.7.2.1 Der Wucher und seine Sanktionierung Die schwerwiegendste und folgenreichste Beschuldigung, die im Geschäftsleben und Sozialverhalten erhoben wurde, bezog sich auf wucherische Geschäftspraktiken und wucherische Gesinnung. Im vorherrschenden engeren Sinne bedeutete Wucher (usura) die Forderung und Entgegennahme von Zinsen (fenus, usurae) für die Gewährung eines Darlehens (mutuum). In einem weiteren Sinne war Wucher aber auch jedes übermäßige Überschreiten des gerechten Preises und Entgelts bei Kauf- und anderen Rechtsgeschäften, Überteuerung der Güter durch spekulative Zwischenhandelsgewinne im Wege des Vorkaufs und Monopolgewinn. Wucher bedeuteten letztlich jeder übermäßige Gebrauch des Kapitals im alltäglichen Verkehr und die verschiedensten Fälle von Manipulation aus Gewinnsucht, bei denen rücksichtslos die Notlage von Menschen zum eigenen Vorteil im Wirtschaftsverkehr und in den Sozialbeziehungen ausgenutzt wurde.¹⁷¹² Es gab daher eine große Bandbreite wucherischer Verfehlungen. Wucherischer Gewinn galt als sittenwidriger schändlicher Gewinn (turpe lucrum), Raub und Diebstahl und unterlag vor dem streitigen geistlichen und weltlichen Gericht (forum contentiosum/externum), aber auch vor der Gewissensinstanz (forum conscientiae/internum) wegen der damit begangenen Sünde (ratione peccati) der Restitutionsp icht, die gegenüber dem geschädigten Schuldner oder seinen Erben, ersatzweise durch Erstattung an die Kirche zur weiteren Verwendung für die Armen, zu erfüllen war.

1712 Die internationale Literatur zum Zinsproblem und zur Wucherlehre ist uferlos. Zum Folgenden siehe insbesondere W. E, Studien in der romanisch-kanonistischen Wirtschafts- und Rechtslehre; W. T, Äquivalenzprinzip und gerechter Preis; J. H, Wirtschaftsethik und Monopole; M. N, Geschichte des Wuchers in Deutschland; R. de R, Business, Banking, and Economic ought ( 9.3); E. L, Das kanonische Zinsverbot in den deutschen Städten; H.-J. G, Wucher und Wirtschaft; G. R, Wucher; E. I, Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsethik (mit weiterer Literatur).

Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsethik

Wucher und wucherische Gesinnung waren eine Todsünde, und mancher hartgesottene und erfolgreiche Kaufmann und Frühkapitalist wurde auf dem Totenbett doch noch existentiell von Gewissensskrupeln angefochten und kam seiner Restitutionsp icht testamentarisch nach. Wucherdelikte elen in die Zuständigkeit des geistlichen Gerichts, doch wo der Rat durch eigene Verordnungen gegen Wucher vorging, behielt er sich auch die Aburteilung vor. In Ravensburg führte das Niedergericht des Ammans in Wuchersachen die Voruntersuchung, die Ladung erfolgte dann vor das geistliche Gericht. In Köln wies der Große Schied von 1258 zwar die Fälle von Wucher, Meineid und Ehebruch dem geistlichen Gericht des Erzbischofs zu, doch bildete das ›Gericht von den Gästen hinter der Tür‹, das im Rathaus tagte, allmählich eine Berufungsinstanz für das geistliche Gericht, bis ihm in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts Wuchersachen entzogen wurden. Der Rat erließ aber seit 1355 in Morgensprachen eigene Wucherverbote, die er selbst gerichtlich handhabte und seit 1446 durch eine speziell für Wuchersachen eingesetzte Ratskommission verfolgen ließ. Der halbjährlich veränderte Rat wurde auf die Wucherstatuten vereidigt; Ratsherren sollten im Falle von Wucherdelikten aus dem Rat ausgeschlossen und als Meineidige bestraft werden, während überführte Wucherer generell als ratsunfähig galten. Wie in der »Reformatio Sigismundi« von 1439 wurden Wucher, Ehebruch und Hurerei in einem Atemzug als Grund für den sich in häu gen Kriegen und Krankheiten entladenden strafenden Zorn Gottes genannt. Bisweilen sollten auch Schuldner, die wucherischer Darlehen aufgenommen hatten, bestraft werden. Aus skalischen Gründen ließ auch das Reichsoberhaupt in Reichsstädten Wucherdelikte, die hohe Strafgelder einbringen konnten, verfolgen. Kaiser Friedrich III. ließ 1481 und 1484 gegen den Nürnberger Bürger Hans Gartner und gegen die Lindauer Rudolf und Jakob Mötteli als öffentliche Wucherer durch den kaiserlichen Fiskal (Reichskammerprokurator skal) vor dem Kaiserlichen Kammergericht Anklage erheben, weil sie ›Geld um

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Geld geliehen‹ und dadurch gegen göttliches Recht verstoßen hätten. 9.7.2.2 Die Begründung des Zinsverbots Das römische Recht hatte durchaus die Kapitalverwertung durch Kreditvergütung im Wege eines formlosen Vertrags (stipulatio) zugelassen und nur das Zinsmaß begrenzt. Das kirchliche Verbot einer Vergütung des Darlehens durch Zinsen beruht auf zwei völlig verschiedenen Grundaussagen, die dogmatisch verfestigt wurden: 1. Geld ist seiner Natur nach steril; eine eigene Produktivität – als Kapital – kommt ihm nicht zu: pecunia pecuniam parere non potest – Geld kann kein Geld zeugen. Es trägt, so lautet die akzeptierte aristotelisch-thomistische Geldtheorie, keine Früchte, deshalb wäre es unnatürlich, aus dem Gebrauch von Geld Gewinn zu ziehen. Geld dient lediglich als Wertmesser und Tauschmittel und wird durch den Gebrauch verbraucht. Neben Geld konnten aber auch Naturalien wie Getreide, Wein oder Öl Gegenstand von Darlehen sein. Allerdings gab es bereits vereinzelt, etwa bei dem Franziskaner Petrus de Olivi († 1296/98), die Auffassung, dass Geld, das in Unternehmungen investiert werde, Früchte tragen könne. Später legte der hl. Bernhard von Siena († 1444) dar, dass Geld in Verbindung mit persönlicher Arbeitsleistung Ertrag schaffen könne. 2. Die unentgeltliche, zinslose Darlehenshingabe ist ein biblisches Gebot selbstloser christlicher Nächstenliebe, das sich vor allem auf das Herrenwort Lukas 6,34 f. stützt: mutuum date nihil inde sperantes – leihet, dass ihr nichts dafür hoffet [so wird der Lohn groß sein]. Wucher im engeren und präzisen Sinne lag de nitionsgemäß immer dann vor, wenn der Darlehensgeber mehr zurückerhielt, als er als Kapital (sors, capitale, Hauptgut) hingegeben hatte. Verträge, Geschäftsformen und Praktiken, sofern sie nicht eindeutig als wucherisch galten, konnten zugleich erlaubt als auch wucherisch sein; ob sie wucherisch und damit sündhaft waren, darüber entschied vor allem die Gesinnung und Absicht (intentio). Einer etwas

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

populäreren Auffassung zufolge bedeutete Zinsnahme bei Darlehen im Hinblick auf die Zeitdifferenz bis zur Rückerstattung den Verkauf von Zeit, die dem Menschen nicht gehöre. 9.7.2.3 Kirchliche Zinsverbote Vom Konzil von Nicäa von 325 noch auf die Geistlichkeit beschränkt, wurde das christliche Moralgebot zum Rechtsgesetz, das ausgehend von den Dekretalen Papst Leos I. von 443 und der Synode von Konstantinopel von 896 auch für die Laien Geltung beanspruchte. In das weltliche Recht übernommen wurde das Wucherverbot durch die Admonitio generalis Karls des Großen von 789, doch wurde es nicht fortgeschrieben. In der Kirchenrechtssammlung des Decretum Gratiani (um 1140) nden sich die Wucherde nitionen des Kirchenvaters Ambrosius und Gratians selbst, wonach alles Wucher ist, was zur geliehenen Darlehenssumme hinzutritt und über die Summe hinaus gefordert wird (C.14 q.3 c.3/4). In die Dekretalensammlung Papst Gregors IX. (Liber extra) von 1234 ging die Auslegung des Herrenwortes bei Lukas 6, 34 f. als Wucherverbot durch Papst Urban III. (1185–1187) im Capitulum Consuluit (X 5.19.10) ein. Papst Alexander III. verbot 1163 die Pfandsatzung mit Nutzungspfand (mortuum vadium) und erklärte 1173 den Kreditkauf mit erhöhtem Preis für sündhaft; Urban III. stellte ihn 1185/87 dem Wucher gleich. Papst Gregor IX. verbot 1227/34 das zinstragende Seedarlehen (foenus nauticum) trotz des mit ihm verbundenen Risikos. Das III. Laterankonzil von 1179 (Kanon 25) erklärte Wucher zur Todsünde und schloss die offenkundigen, allgemeinen und öffentlichen Wucherer von der christlichen Gemeinschaft und von allen Sakramenten, insbesondere – wie schon das II. Laterankonzil von 1139 (Kanon 13) – vom christlichen Begräbnis aus; nicht einmal ihre Opfergaben (oblationes) durften angenommen werden. Das IV. Laterankonzil von 1215 (Kanon 67) wiederum wollte auch die privilegierten Juden, weil sie in kurzer Zeit das Vermögen der Christen aufzehrten, durch Verbot des Geschäftsver-

kehrs mit ihnen zur Wiedergutmachung (satisfactio) zwingen, wenn sie schwere und unmäßig hohe Zinsen genommen hatten. Weil der Rachen der Zinsgier die Seelen verschlinge und das Vermögen aufzehre, wollte das II. Konzil von 1274 (Kanon 26 f.) das Wuchergeschäft erschweren und ordnete daher an, alle Ausländer und nicht aus dem eigenen Land stammende Personen, die öffentlich Zinsgeschäfte trieben und zu diesem Zweck Häuser anmieteten, als manifeste Wucherer de nitiv aus den Ländern zu vertreiben. Wenn offenkundige Wucherer in ihrem letzten Willen verfügten, dass wegen genommener Zinsen in bestimmter oder unbestimmter Höhe Wiedergutmachung zu leisten sei, wird ihnen dennoch das kirchliche Begräbnis verweigert, bis die Wiedergutmachung vollständig geleistet oder die Restitution in geeigneter Weise garantiert worden ist. Testamente von Wucherern ohne derartige Sicherstellungen der Restitution sind ipso iure nichtig. Das Konzil von Vienne von 1311/12 (Dekret 29) verurteilte den Glauben an die Sündlosigkeit des Wuchers für ketzerisch. Es beklagte, dass gewisse Städte Wucher duldeten, in Statuten erlaubten, Schuldner zur Zahlung zwängen und die Rückforderung von Zinsen behinderten. Gemeinden, Bürgermeister, Ratsherren, Richter und Amtleute, die derartige Statuten initiierten und solche Urteile sprachen, die ferner die Statuten nicht aus den Büchern tilgten oder derartige Statuten und entsprechende Gewohnheitsrechte beachteten, wurden mit der Exkommunikation bedroht. Weil wucherische Kontrakte geheim und arglistig eingegangen würden, war in Wuchersachen durch Androhung kirchlicher Zensuren die Vorlage der Rechnungsbücher zu erzwingen. Das Zinsverbot wurde in einer Zeit vorherrschender Naturalwirtschaft entwickelt, als Boden und Arbeit das Fundament der Sozialordnung darstellten und eine verbreitete Mentalität herrschte, die dem Handel und Geldgeschäften ziemlich feindlich war und als Kredite hauptsächlich als Konsumtivkredite in Notlagen, etwa zur Überbrückung von Erntekri-

Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsethik

sen, gegeben wurden.¹⁷¹³ Das Wucherdogma wurde aber im 12./13. Jahrhundert perfektioniert, in einer Zeit, die ausgehend von der italienischen Wirtschaftsentwicklung als »kommerzielle Revolution« (Raymond de Roover/ Robert S. Lopez) gilt, weil damals im Zusammenhang mit einer Ausweitung des Handels viele auch für die Neuzeit gültige Wirtschaftseinrichtungen und Geschäftstechniken entwickelt wurden, was sich noch heute in der Bankenfachsprache spiegelt. Die evidente Unterscheidung zwischen einem Konsumtivkredit und einem wirtschaftlich produktiven Erwerbskredit, der legitimer Weise verzinslich ist, wurde erst vom calvinistischen Protestantismus in seinen vollen Konsequenzen anerkannt. Wenn im Reich eine Zinsnahme in der frühen Neuzeit wie etwa in der Reichspolizeiordnung von 1530 toleriert wurde, orientierte sich der Zinssatz an den üblichen 5 Prozent der für unbedenklich erachteten Ewig- und Wiederkaufsrenten. 9.7.2.4 Umgehung des Zinsverbots und Zinstitel Im Wechselbrief wurde eine Form der verschleierten Kreditvergütung gefunden, die sich aus der Kursdifferenz zwischen der Darlehensvaluta in örtlicher Währung und der im Wechselbrief in fremder Währung valutierten Wechselsumme errechnete. Für Italien wurden auf diese Weise, abhängig von den Wechselkursen, Verzinsungen von durchschnittlich 14 bis 30 Prozent errechnet. Eine weitere Möglichkeit, zu einer Vergütung über die Darlehenssumme hinaus zu gelangen, bot die im römischen Recht verankerte Lehre vom Interesse, das aber nicht Zins, sondern schuldrechtlichen Schadensersatz bedeutet. Das Interesse ist nach römischem Recht der Schaden, der aus der Nichterfüllung einer vertraglichen Verp ichtung resultiert; es bedeutet id quod interest, d. h. den Unterschied zwischen der gegenwärtigen Lage der geschädigten Partei und der Lage, in der sie sich befände, wenn sie nicht geschädigt worden wäre, sodass nicht nur der unmittelbare positive Schaden, sondern

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eventuell auch ein zwischenzeitlich entgangener Gewinn auszugleichen ist. Interesse konnte gefordert werden, wenn der Darlehensschuldner den Rückerstattungstermin nicht einhielt und damit Verzug (mora) eintrat. Das Interesse beinhaltet einmal den positiven Schaden (damnum emergens), etwa wenn der Gläubiger infolge des Verzugs selber unter Kosten oder mit Zinsen bei einem jüdischen oder lombardischen Pfandleiher Geld aufnehmen muss, zum anderen den entgangenen Gewinn (lucrum cessans), wenn etwa ein Kaufmann wegen der ausgebliebenen Rückzahlung eine Gewinnchance nicht wahrnehmen kann. Dem liegt immerhin latent der von der Doktrin der Unfruchtbarkeit des Geldes abweichende Gedanke zugrunde, dass durch den Einsatz von Geld Gewinn und damit weiteres Geld gemacht werden kann, allerdings nicht durch das Geld selbst, sondern die in Verbindung damit eingesetzte Arbeitsleistung, die es fruchtbar macht. Am weitesten entfernte sich Konrad Summenhart in seiner 1500 erschienenen Vertragslehre (»Septipertitum opus de contractibus pro foro conscientie atque theologico«) von der aristotelisch-thomistischen Doktrin von der Unfruchtbarkeit des Geldes. Wie Bernhard von Siena, den er zitiert, geht er davon aus, dass das Interesse nicht für das dargeliehene Geld an sich, sondern für die entgangene Möglichkeit gezahlt wird, damit zu wirtschaften und Gewinn zu erzielen. Geld ist gewissermaßen das Handwerkszeug des Kaufmanns; nimmt man es ihm weg, muss er für den deswegen ausbleibenden Gewinn entschädigt werden. Der Gewinn, den man mit einer Sache erwirtschaften kann, ist in der Sache bereits vorhanden und in gewisser Weise bereits Eigentum dessen, der sie hingibt. Geld als Sache ist daher zu einem Teil sehr wohl Ursache für Gewinn. Summenhart zieht jedoch nicht die vollen Konsequenzen aus seiner Auffassung, sondern schränkt die Inanspruchnahme des Zinstitels ein, indem nur der entgangene Gewinn abzüglich der zu erwartenden Geschäftskosten vom Gläubiger verlangt werden

1713 H. S, Handel und Wucher; B. E, Geiz und Gerechtigkeit.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

darf, gebotene Nächstenliebe einen Gebrauch des Zinstitels verbietet und diesem eine wucherische Intention bei der Darlehensvergabe die Rechtfertigung entzieht.¹⁷¹⁴ Verschiedentlich rieten Moraltheologen, im Grunde noch erlaubte Geschäfte wegen der Missbrauchsgefahr doch nicht zuzulassen. Der Zinstitel des lurcum cessans wurde allmählich vom Verzug gelöst und konnte in subtiler Weise auch geltend gemacht werden, wenn jemand gegen seine ursprüngliche Geschäftsabsicht auf Drängen hin ein anderes Geschäft mit Kreditgewährung abschloss. Ferner konnte er, was sicherlich umstritten war, erlauben, Waren bei Barzahlung billiger als bei Gewährung eines Zahlungsaufschubs zu verkaufen oder die Preise nach einem näheren oder weiter entfernten Zahlungsziel zu staffeln. Ein freiwilliges Geschenk (donum) aus reiner affektiver Dankbarkeit gegenüber dem Gläubiger wurde in Anlehnung an omas von Aquin zugelassen. Über die Darlehensvaluta hinaus (ultra sortem) vergütungsfähig waren Risiken und Schäden verschiedener Art, so etwa die Gefahr des Kapitalverlusts (periculum sortis) und sogar die peinigende Furcht vor einem solchen Verlust (interesse timoris). Bei einem entsprechenden Aufschlag war entscheidend, dass man die künftige Preisentwicklung nicht vorhersehen konnte.¹⁷¹⁵ Der Straßburger Münsterprediger Johannes Geiler von Kaysersberg beharrte jedoch an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, wie dies etwas später auch Martin Luther tat, auf dem rigorosen Zinsverbot und lehnte explizit die Zinstitel einräumende Interesselehre der Juristen ab. Die kirchlich-kanonistische Wucherlehre beschäftigte sich mit verschiedenen Formen des sich entwickelnden Verkehrsrechts wie dem Wechselbrief, dem Rentenkauf, der Sozietät und dem Depositum, der Geldeinlage bei der Bank oder der Handelsgesellschaft. Sie war hinsichtlich des Zinsverbots bei Darlehen in den Grundaussagen rigoros und doktrinär, wies aber

der Wirtschaft zugleich Auswege, indem sie eine breitgefächerte Kasuistik mit einer Vielzahl allerdings auch kontroverser Bewertungen produzierte. Ein irritierender Rest an Unsicherheit über die Zulässigkeit bestimmter Geschäfte blieb deshalb stets bestehen. In der Forschung wurden die tatsächlichen Auswirkungen des rigorosen Zinsverbots auf das Wirtschaftsleben kontrovers und hypothetisch diskutiert. So ndet sich die Auffassung, dass das Verbot kaum beachtet wurde und daher letztlich wirkungslos blieb (Henri Pirenne). Eine andere Ansicht besteht darin, dass das Zinsverbot die Wirtschaft hemmte, indem es die Kreditkosten durch komplizierte Transaktionen zur Verschleierung der Zinsnahme erhöhte und Kredite verteuerte (Raymond de Roover), während andere meinten, dass es in bestimmtem Ausmaß davon abhielt, Geld in gesellschaftlich unproduktive Konsumtivkredite ießen zu lassen, und unbeabsichtigt die Bereitschaft stimulierte, ertragsuchendes Kapital als Risikokapital in produktive Wirtschaftsunternehmungen wie den Handel zu investieren (John T. Noonan und Frederic C. Lane). Keine dieser angenommenen Wirkungen kann bislang schlüssig bewiesen werden. Wenn man indessen davon ausgeht, dass beim Verkauf fast regelmäßig Kredit gewährt werden musste, war der zinslose Kredit beim Borgkauf vielfach in gewisser Weise ohnehin eine rationale Voraussetzung, um überhaupt Kunden gewinnen zu können. Andererseits boten die komplizierten Währungsverhältnisse, der Bimetallismus von Silber- und Goldwährung und der Bezugspunkt einer Rechnungswährung (Rechengeld) die Möglichkeit, wie beim Wechselbrief Mehrforderungen durch versteckte Kursdifferenzen bei der Umrechnung der jeweiligen Valuta in die andere zu verstecken. Große Resonanz bei einem weiten Kreis von Gegnern und Befürwortern fand der Ordinarius an der Universität Ingolstadt, der mit den

1714 J. P. W, Johannes Eck und der oberdeutsche Zinsstreit, S. 18–21. 1715 Siehe dazu die Erörterung am Beispiel Ulmer Geschäftspraktiken in moraltheologischen und juristischen Gutachten in E. I, Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsethik.

Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsethik

Fuggern eng verbundene Dr. theol. Johannes Eck mit seinen Gutachten und esen, mit denen er Einlagen in Handelsgesellschaften zum festen Zins von 5 Prozent gegen Wucherverdacht rechtfertigte und darüber 1515 an der Universität Bologna mit eologen und Juristen disputierte.¹⁷¹⁶ Einlagen zu Gewinn und Verlust waren im Unterschied zu den festverzinsten nicht bedenklich. Von Jakob Fugger beauftragt, zerlegte Eck in seinem großen Zinstraktat (»Tractatus de contractu quinque de centum«) von1514 mit über 300 Argumenten nach eigenen Angaben einen vierteljährlich kündbaren Depositenvertrag in eine Abfolge von drei unterschiedlichen Verträgen (contractus trinus): in einen (1) einfachen Gesellschaftsvertrag (societas) zwischen dem (nicht handelserfahrenen) Anleger und einem aktiven Kaufmann, (2) einen Vertrag, in dem der Anleger den ›unsicheren Gewinn‹ an den Kaufmann zugunsten eines geringeren, aber ›sicheren Gewinns‹ verkauft (venditio lucri incerti), und (3) einen Vertrag, mit dem der Anleger bei dem Kaufmann sein eingelegtes Kapital versichert (assecuratio capitalis), dafür aber den sicheren Gewinn des Anlegers senkt. Eck geht bei mittleren Kau euten von einer Gewinnrate von 10 Prozent aus. Der Anleger erhält auf jeden Fall seine Einlage zurück samt den zusätzlichen 5 Prozent Zinsen. Dieser kombinierte Vertrag verknüpft drei zulässige Einzelverträge zu einem von Eck gleichfalls für zulässig erachteten Gesamtvertrag, während andere in der Gesamtkonstruktion einen wucherischen Vertrag erblickten. Ein erstes Gutachten zu diesem Vertrag über 5 Prozent, der in Augsburg üblich gewesen sein soll und daher von Eck auch ›Augsburger Vertrag‹ genannt wird, hatte zuvor schon der bayerische Rat Dr. iur. utr. Sebastian Ilsung aus Augsburg 1513 in seiner »Consultatio« aus juristischer Sicht vorgelegt und den Vertrag, der in der ganzen Christenheit üblich sei, für zulässig erklärt, doch war dem der Propst zu St. Lorenz in Nürnberg Dr. iur. utr. Anton Kress sofort mit einem Gegengutachten entgegenge-

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treten, während Eck von Konrad Peutinger Unterstützung erhielt. Zu den zentralen Positionen Ilsungs und Ecks gehört die Auffassung, dass es sich um eine des Wuchers grundsätzlich unverdächtige Gesellschaft und nicht um ein Darlehen handle, der Zins daher keinen Wucher darstelle. Für das Darlehen sei die Eigentumsübertragung substantiell, die aber hier nicht erfolge, denn es werde nur der Nießbrauch des Kapitals zum Zweck des Handels eingeräumt; ferner könne nach gemeinem Recht der ›unsichere Gewinn‹ als Anrecht wie eine Ware zu einem gerechten Preis verkauft werden. Auch wahre der Vertrag die iustitia commutativa, die Austauschgerechtigkeit. Grundlegend war auch die von der Doktrin der Unfruchtbarkeit des Geldes abweichende Auffassung, dass durch die Handelstätigkeit aus Geld und Arbeit zusammen ein Gewinn erzielt werde, die 5 Prozent an Zinsen nicht aus geliehenem Geld, was Wucher wäre, sondern aus erwirtschaftetem Gewinn hervorgingen. Ein wichtiges, auf die Praxis abzielendes Argument war für Eck, dass die Vertragsform im Recht nirgends verboten sei, seit 40 Jahren in Augsburg von Menschen beiderlei Geschlechts, ehrenwerten Bürgern, Patriziern, Ratsherren, Gelehrten und Rechtskundigen als Alternative zu den nicht immer zu erwerbenden sicheren Ewigrenten genutzt werde und daher, was den Vertrag rechtfertige und dem Wucherverdacht entgegenstehe, unter ›guten und ehrenwerten Leuten‹ gebräuchlich sei. Sozial und wirtschaftlich wird der Vertrag damit gerechtfertigt, dass der Zinserlös der Erziehung von Schulkindern diene, durch die Anlageform Reiche ihren Reichtum erhalten und arme und mittlere Kau eute zu großen Vermögen kommen könnten sowie vielen Bürgern im Handwerk Erwerbsmöglichkeiten und Unterhalt verschafft werde. Die Gegner, zu denen neben dem Nürnberger Kress auch der Jurist Dr. Ulrich Zasius, bei dem Eck in Freiburg studiert hatte, und der Dr. theol. Johannes Cochlaeus wowie Nürnber-

1716 Zum Folgenden siehe insbesondere J. P. W, Johannes Eck und der oberdeutsche Zinsstreit.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

ger Humanisten gehörten, sahen in dem Depositenvertrag keine Gesellschaft, sondern eine Verschleierung eines wucherischen verzinslichen Darlehens und eine Umgehung göttlichen Rechts, eine Nutzung von Geld, da doch ein Eigentumswechsel statt nde, während die Gesellschaft sich substantiell durch die Einlage zu Gewinn und Verlust auszeichne. Eine rechtmäßige Gesellschaft bestehe nur bei beidseitiger Verantwortung, und der Kaufmann werde in Wirklichkeit Eigentümer des ihm gegebenen Geldes, da das Risiko untrennbar zum Eigentum gehöre. Sie lehnten eine Aufspaltung des Vertrags in verschiedene Verträge ab und beurteilten den Vertrag im Sinne einer ›Löwengesellschaft‹ (societas leonina) – genannt nach der Fabel Äsops – als ungerecht, da er dem Einleger die Sicherung des Kapitals gewähre und nur den Gewinn ohne Verlust zuerkenne, dem Kaufmann aber einseitig den geschäftlichen Verlust und den völligen Verlust im Falle des Bankrotts zuschiebe. Außerdem begünstige er durch die Möglichkeit zu einer mühelosen Kapitalanhäufung durch Depositen bei großen Gesellschaften gemeinwohlschädliche Monopolbildungen. Dr. Konrad Summenhart hatte den Vertrag rein rechtlich für zulässig erklärt, ihn aber wegen der Anfälligkeit für Missbrauch doch nicht zulassen wollen. Da die vielen Meinungen weit auseinandergingen, stand mit einer Vermutung der Zulässigkeit im Zweifelsfalle seiner weiteren Verbreitung des Depositenvertrags in Oberdeutschland letztlich nichts im Wege. Der Augsburger Stadtschreiber und Jurist Dr. Konrad Peutinger trat vehement für Ecks Auffassung ein und erregte sich über ein Disputationsverbot, das der Bischof von Eichstätt über Ecks esen verhängt hatte.¹⁷¹⁷ 9.7.2.5 Kommunale Wucher- und Zinsverbote In den nordwestdeutschen und mitteldeutschen Stadtrechten nden sich kaum Bestimmungen

zur Wucherfrage, wohl aber in Stadtrechten Süddeutschlands und rheinischer, fränkischer und böhmischer Städte. Der »Schwabenspiegel« setzte als süddeutsches Rechtsbuch das Wucherdelikt einfach voraus, erklärte eidliche Zinsversprechen für unwirksam, behandelte Fragen der Restitution von Wucherzinsen, ließ die Überführung durch den Schuldner oder drei Tatzeugen zu und sah für fortgesetzten Wucher die Verurteilung durch das geistliche Gericht, die öffentliche Bloßstellung (beschelten) vor der Christenheit und eine Körperstrafe bei ›Haut und Haar‹ vor. Wo eindeutige Zinsverbote statuiert wurden, ist möglicherweise damit zu rechnen, dass in der Praxis dennoch maßvolle und insoweit für gerecht erachtete Zinsen toleriert wurden, während in anderen Fällen sogar städtische Satzungen einer derartigen Zinsnahme den Weg ebneten. Die Stadt Zürich erlaubte 1316 den Bürgern und Ausleuten stillschweigend die Zinsnahme insofern, als diejenigen, die ›um ihrer Seele willen‹ dem Rat ihren Zinsgewinn aushändigten, die Hälfte von ihm zurück erhielten.¹⁷¹⁸ Statuten, die – wie das römische Recht oder die geistliche Gerichtsbarkeit in England – einen maßvollen Jahreszins von 10 oder 11 Prozent konzedieren, nden sich um die Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert in Ulm, Konstanz und Ravensburg.¹⁷¹⁹ Die Ulmer Satzung schrieb ferner bei Verpfändung von einem Pfund Einkünften aus Grundrente eine Darlehenssumme von mindestens 30 Gulden vor, was einem Zinssatz von höchstens 3,3 Prozent entsprach, da es sich um einen risikoarmen Kredit handelte. Außerdem durften an Verzugszinsen nicht weiterhin wöchentlich zwei Pfennige pro Pfund oder Gulden (0,83%) verbrieft werden, was einen Jahreszins von 104 Pfennigen oder einen Zinssatz von 43,3 Prozent bedeutete, sondern nur noch unbestimmt ein redlicher tragbarer, günstig veranschlagter Zins (Schaden). Die Konstanzer Satzung von 1383 statuiert für die

1717 Siehe 5.6.2. 1718 H. Z-W/H. N (Hg.), Die Zürcher Stadtbücher (2.2–2.4), Bd.I, Nr. 24, S. 11. 1719 C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm (2.2–2.4), Nr. 219, S. 121; O. F, Vom Richtebrief zum Roten Buch (2.2–2.4), S. 24 f., 73, 142. Höchstsätze Justinians: Regelfall (6% statt früher 12%), Kau eute (8%), Seedarlehen (12%).

Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsethik

gewerbliche Geldleihe (Pfennige um Pfennig auf Mehrung) treibenden Laien und Geistlichen als Nutzen einen an das römische Recht gemahnenden Jahreszins von maximal 11,1 Prozent, der auch für Darlehen gilt, die Christen den Juden gewähren. Ist die Laufzeit weniger als ein Jahr, darf nur ein Wochenzins von höchstens 0,42 Prozent erhoben werden, was einem Jahreszinssatz von 21,6 Prozent entspräche, doch wird er in diesem Fall auf 10,8 Prozent begrenzt. Das Ravensburger Stadtrecht erlaubte bei Krediten – mit eventuellem Valutatausch – einen maximalen Jahreszinssatz von 10 Prozent, der auch nicht bei kreditierten Guldentermingeschäften überschritten werden durfte.¹⁷²⁰ Der Zinsbetrag bemaß sich nach der Laufzeit des Kredits. Wer jedoch Geld verlieh, durfte dafür keine Zinsen oder ein entsprechendes Entgelt in Getreide fordern. Naturaldarlehen sollten in Form einer Gattungsschuld rückerstattet werden. Bei Kreditgewährung auf landwirtschaftliche Produkte wie Korn hatte der Gläubiger bei Geschäftsabschluss einen bestimmten Tag zwischen Heilig-Kreuz-Tag (14. September) und Weihnachten zu benennen; der Marktpreis an diesem Tag sollte dann als Verrechnungsmaßstab für die Schulderfüllung durch Korn gelten.¹⁷²¹ Die Leihe auf Leinwand wurde auf der Grundlage der jährlichen Preisübereinkunft zwischen Bürgern und Weberzunft geregelt; immerhin durfte bei Barkauf ein festgelegter Preisnachlass gewährt werden.¹⁷²² Um Wucher bei Gelddarlehen auf Arbeit und künftige Ernteerträge zu unterbinden und um den kreditbedürftigen wirtschaftlich Schwachen zu schützen, verlangte Straßburg, dass ein förmlicher Kaufvertrag abgeschlossen wurde, der die an Zahlungs Statt genommene Fruchtart enthielt und die Menge nach dem Preis bemaß, der an einem bestimmten Markttag zwischen St. Adolf (29. August) und St. Martin (11. November) gelten würde, aber geringfügig um

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zwei Pfennige unterschritten werden durfte. Bei Wein waren es ohne Preisunterschreitung Martini und Weihnachten.¹⁷²³ Die Stadtrechtsreformatoren nahmen an der Wende zum 16. Jahrhundert ungeachtet des römischen Rechts das Wucherverbot in ihre Reformwerke auf; erst 1594 wurde in Nürnberg der Zinsgrundsatz des römischen Rechts zur Geltung gebracht. Wucherverbote nden sich darüber hinaus in den Statuten des hansischen Kontors zu Brügge (1348/49) und in verschiedenen Hanserezessen. Die strenge Kölner Wuchergesetzgebung der Morgensprachen der Jahre 1355, 1424 und 1449 (erneuert 1460 und 1471) verbietet wucherische Geldgeschäfte (Financien), wucherischen Vorkauf, Borgkauf mit Zinsnahme (Schadenkauf ) und Darlehensgewährung mit Zinsnahme (Aufschlag). Verboten werden auch Scheinverkäufe ohne Warenübergabe und Manipulationen bei Erb- und Leibrenten, ferner der als Kreditgeschaft benutzte vorsätzliche Verkauf ›auf Wiederkauf‹ – der Wiederkauf (Rückkauf ) zu niedrigerem Preis. Bei Warenkrediten darf keine höhere Summe als die des Darlehens rückerstattet werden, und der Preis der kreditierten Ware darf nicht höher liegen als der zum Zeitpunkt des Verkaufs gängige Marktpreis. Der Darlehensbetrag darf nicht durch einen Aufschlag erhöht werden im Hinblick darauf, dass Schuldnerverzug eintritt und der Rückzahlungstermin prolongiert wird. Bei Darlehen gegen Pfandnahme von Renteneinkünften und nutzbaren Immobilien ist nur die Form der ›Totsatzung‹ erlaubt. Diese bedeutet, dass Einkünfte und Nutznießung aus der Pfandverwertung von der Hauptsumme abgezogen werden müssen, sodass keine Kapitalvergütung eintritt und die Schuld sich zum Teil amortisiert. Bei Verstoß gegen die Wucherbestimmungen muss der Zinsbetrag restituiert werden, und als Strafe werden das Darlehen oder die kreditier-

1720 K. O. M (Bearb.), Oberschwäbische Stadtrechte II (2.2–2.4), Nr. 210, S. 184; gemäß der nach 1413 entstandenen Handschrift. Vgl. Nr. 214, S. 186 (Kauf ungewöhnlicher Gulden gegen Pfund Heller). 1721 Ebd., Nr. 211, S. 184. 1722 Ebd., Nr. 212, S. 185. 1723 J. B (Hg.), Straßburger Zunft- und Polizei-Verordnungen (2.2–2.4), S. 588.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

te Ware eingezogen. Jedes Gnadenbitten zugunsten des Delinquenten ist bei Strafe untersagt.¹⁷²⁴ Während die Fugger und andere Augsburger Firmen vom Edelmetallhandel ausgehend in den Geldhandel drängten und offen oder verschleiert Zinsen nahmen und für Depositen Geschenke gewährten, mied die Große Ravensburger Handelsgesellschaft das große Finanzgeschäft und blieb offensichtlich auf dem Boden des kirchlichen Zinsverbots, das im Übrigen von der breiten Bevölkerung mit antikapitalistischen Affekten als gerecht empfunden wurde.¹⁷²⁵ Eine allgemeine Aussage über die Beachtung des Verbots ist nicht möglich: Es wurde eingehalten, umgangen und missachtet; es wurden aber auch in erheblichem Umfang verbotene Gewinne restituiert. Ein Teil der Sozialstiftungen durch Legate beruhte auf schlechtem Gewissen. Wucherer, die einen Schuldspruch vor den geistlichen und weltlichen Gerichten abwenden konnten, entgingen nach theologischer Auffassung dennoch nicht dem für das Seelenheil entscheidenden Urteil der Gewissensinstanz, des forum internum. 9.7.3 Wirtschaftsethische Kritik an Geschäftstypen und Geschäftspraktiken Pfarrer, Angehörige der Bettelorden und Inhaber von Prädikaturen predigten gegen den Wucher von der Kanzel herab; Beichtväter klärten über Wuchertatbestände auf und verlangten vor der Absolution die Restitution von Wuchergewinnen. Vereidigte städtische Makler durften an Wuchergeschäften nicht mitwirken und hatten solche, die ihnen bekannt wurden, neben anderen Verstößen gegen die Wirtschaftsordnung dem Rat anzuzeigen. Moraltheologen der Universitäten und Stiftskirchen äußerten sich in Traktaten zur Vertragsgerechtigkeit und zu weiteren wirtschaftsrechtlichen und wirtschaftsethischen Fragen, zur Sündhaftigkeit von Ge-

schäftspraktiken, ferner generell zur Vereinbarkeit des menschlichen positiven Rechts mit dem göttlichen Recht der Evangelien, das zum Mindesten im forum internum, der über das Seelenheil entscheidenden Gewissensinstanz, zur Geltung kam. Mehr noch als die Juristen des römischen und kanonischen Rechts erstatteten Moraltheologen zu Wirtschaftsfragen Gutachten. Beide argumentierten zwar normativ, gingen aber zugleich den empirischen Sachverhalten des Wirtschaftslebens nach und gelangten auf diese Weise zu wirtschaftsanalytischen Lehren, die vor allem von den spätscholastischen Moraltheologen vorgetragen wurden. eologen und Juristen besaßen erhebliche wechselseitige Kenntnisse ihrer Disziplinen und zogen ferner hinsichtlich der Frage der Verkehrs- und Verteilungsgerechtigkeit, Geldlehre und Ethik die Schriften der antiken Philosophie, insbesondere des Aristoteles, heran. Dadurch wurden Wirtschaftsfragen in denkbar umfassender Weise erörtert. Die durch Predigt und Beichte am weitesten in das zeitgenössische Bewusstsein vordringende Moraltheologie konfrontierte viele Praktiken des alltäglichen Wirtschaftslebens mit dem Verdacht des Wuchers und der Todsünde. In seinen deutschen Predigten, die uns in Form höchst kunstvoller Buchpredigten überkommen sind, geißelte seit etwa 1240 der massenwirksam predigende Franziskaner Berthold von Regensburg († 1272) auf der Grundlage der scholastischen Soziallehre, die von einer gemeinschaftlichen Ordnung wechselseitiger brüderlicher Hilfe ausging, die Habgier (gîtikeit), den ruhe- und rastlosen Erwerb bei Tag und Nacht auf Kosten der Erwerbsmöglichkeiten der anderen, Betrug und Übervorteilung in Handwerk und Handel, die Spekulation mit der Zeit, die, obschon sie Gott gehöre, verkauft werde, die darauf beruhende wucherische Zinsnahme, den preistreibenden Vor- und Aufkauf und die Pfandleihe. Er verglich den Habgierigen mit der kleinen Heuschrecke, die faul im

1724 W. S (Hg.), Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung (2.2–2.4), Bd. I, S. 330–334. 1725 A. S, Geschichte der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft, Bd. I, S. 131 f.

Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsethik

tiefen Gras liege und nimmersatt den großen Rindern und Pferden ihre an sich ausreichende Lebensgrundlage nehme.¹⁷²⁶ Ein dominikanisches Handbuch der Seelsorge aus dem 14. Jahrhundert befasst sich gleichfalls mit Betrug bei Kauf und Verkauf, der Problematik kaufmännischer Tätigkeit, Wucher und Restitution wucherischer Gewinne.¹⁷²⁷ Prediger und Pfarrer versuchten aber auch unmittelbar, auf die städtische Wirtschaftsgesetzgebung einzuwirken. Der Basler Dominikaner Johannes Mulberg († 1414) rückte vor ihrer kirchenrechtlich Approbation die Wiederkaufsrente in die Nähe eines Darlehens zu Wucherzinsen. Sie war zu verbieten, wenn das Rentengeschäft mit einer Gewinnabsicht, Arglist oder einem betrügerischen Preis verbunden war. Im ausgehenden 15. Jahrhundert wandten sich der Straßburger Münsterprediger Johannes Geiler von Kaysersberg und der Jurist Sebastian Brant gegen das Abhalten von Märkten an Feiertagen, Warenverfälschungen und Münzbetrug, ferner mit den üblichen moraltheologischen und juristischen Argumenten und Autoritäten gegen spekulativen Getreidehandel mit Termingeschäften in der Hoffnung auf Teuerung, Kreditkauf (Borgkauf ) mit erhöhtem Preis und Leihe gegen Zins, die trotz der kasuistisch entlastenden Interesselehre von Juristen in jeder Form unzweifelhaft Wucher und Sünde sei.¹⁷²⁸ Der Straßburger Peter Schott d. J. gab Geiler Auskunft über Kredite von Kornhändlern an Bauern auf die künftige Ernte, die für die in wirtschaftlichen Engpässen geldbedürftigen Bauern zum Ruin führten. Eingehend schildert der Münsterprediger, wie zwei Kau eute nach dem Gottesdienst einen armem fremden Kleinhändler auf dem Kaufhaus unter Vortäuschung eines Überangebots den Preis herunterhandeln und ihn zu einem Verkauf en bloc ver-

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leiten, nur damit er die angeblich kaum verkäufliche Ware nicht mehr mit nach Hause nehmen muss. Die Vortäuschung eines Überangebots, in diesem Fall an Salz, wurde aber auch vom Straßburger Rat durch eine Satzung inkriminiert.¹⁷²⁹ Sebastian Brant verfügt über den Ausdruck Ramschkauf, doch ist nicht sicher, ob er den billigen Aufkauf von Ware en bloc oder nur qualitätslose Ware meint, wenn er von Bereicherung durch Leihen, Ramschkauf und mit Borgen spricht. Der Münsterprediger verurteilte auch die Er ndung ›unnützer Neuheiten‹ im Handwerk, die nur der Vergrößerung des Reichtums dienten. Bereits 1509, noch vor den Antimonopolbestimmungen und Vorkaufsverboten des Reichstags von Trier und Köln von 1512, predigte er gegen die Monopole und Preiskartelle (stupfer) von Handwerkern und Kau euten. Wer von einem Fürsten oder dem König ein Monopol in Form eines Privilegs, was ein legales (rechtes) Monopol sei, erwirbt, will sich Geiler zufolge den Alleinverkauf einer Ware sichern, schließt andere Anbieter aus und will den Gewinn allein haben, ›wie eine Zuchtsau, die alleine im Trog steht und keine anderen Schweine hereinlassen will‹. Beim Preiskartell treffen Kau eute eidlich die Vereinbarung, eine Ware nicht unter dem festgesetzten Preis zu verkaufen, wohl aber dürfen sie es zu einem höheren. Das Preiskartell ›nimmt dem Markt seine Freiheit‹, während der ›freie Markt‹, der in Straßburg und andernorts besteht, dadurch bestimmt ist, dass jeder seine Ware verkaufen kann, wie er es will. Selbst wenn der vereinbarte Preis angemessen ist und die Leute nicht übervorteilt werden, hat es nur den Anschein, ehrenwert zu sein; es ist nicht erlaubt, denn es schadet, weil beim geleisteten Eid nicht billiger verkauft werden darf, dem gemeinen Nutzen und dem gemeinen Mann. Monopole und Kartel-

1726 B  R, Vollständige Ausgabe seiner Predigten mit Anmerkungen von F. P (1862). Mit einem Vorwort von K. R, Bd. 1, Berlin 1965, S. 417. Siehe vor allem die zweite Predigt Von den fünf Pfunden. B  R, Vier Predigten. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Übersetzt und hg. von W. R, Stuttgart 1983, S. 4–55. 1727 K. B/M. K (Hg.), »Das bůch der tugenden« (4.6.3), S. 169–176. 1728 Siehe dazu vor allem R. V, Krämer, Kau eute, Kartelle (9.1−9.2). 1729 Siehe 9.8.3.1.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

le sind gegen das ›vernünftige natürliche Recht‹ und gegen kaiserliche und päpstliche Gesetze; die christlichen Gelehrten sind daher der Auffassung, dass sie eine Todsünde darstellen. Bereits die 1439 im Oberrheingebiet entstandene »Reformatio Sigismundi« hatte den wucherischen Vorkauf und die zu Überteuerung führenden weiträumigen Preiskartelle der Kaufleute verurteilt und die völlige, notfalls gewaltsame Zerschlagung der großen Handelsgesellschaften gefordert. Deren Abschaffung war etwa 1425/29 in den Konstanzer Zunftaufständen und von der ländlichen Bevölkerung verlangt worden. Als Beispiel für Preiskartelle der Fernkau eute dient der Reformschrift der Venedighandel: Die Kaufherren wissen, wann sie aufbrechen sollen, treffen sich dann an einem Ort und vereinbaren die Preise für einzelne Sorten von Tuchen und Gewürzen, sodass ein Kaufmann zu Wien weiß, was die Waren in Basel oder Straßburg kosten. Hält man die Waren allgemein für überteuert, so reden sie von Verlusten auf See und rechtfertigen den rechtswidrigen Gewinn, wie es ihnen passt.¹⁷³⁰ Martin Luther zeigt in seinen »Bedenken von Kaufshandlung« (1524)¹⁷³¹, wie es gelingen kann, durch Preisunterbietung und Dumpingpreise andere Anbieter zur Aufgabe ihrer Beteiligung am Marktgeschehen zu veranlassen oder sie, wenn sie im Preiskampf auf gleichem Preisniveau mithalten, in den Ruin zu treiben und auf diese Weise eine Monopolstellung zu erobern. Außerdem setzt er Handelsgesellschaften den preistreibenden Monopolisten und öffentlichen Dieben gleich und spricht ihnen jeg-

liche Existenzberechtigung ab, wie dies bereits die um diese Zeit nunmehr durch mehrere Drucke verbreitete »Refomatio Sigismundi« getan hatte. Luther wollte auch den Fernhandel mit unnützen Luxusgütern verboten wissen, zumal der Fernhandel, so lautet sein monetärer Erklärungsansatz, auch Gold und Silber – als Wertträger, Münzmetalle und gemünztes Geld – mit den Folgen von Bargeldknappheit und einem Anwachsen verzinslicher Darlehen ins Ausland ab ießen lasse und durch den Tuch- und Gewürzhandel nur die Könige von England und Portugal reich mache. Die Frankfurter Messe fungiert für ihn als Silber- und Goldloch, in dem Geld und Vermögenswerte verschwinden und weggeschafft werden. In Ulm übte der gelehrte mächtige Münsterpfarrer (Pleban) Dr. iur. utr. Ulrich Krafft, ein Angehöriger der wohl prominentesten örtlichen Patrizierfamilie, Druck auf das Stadtregiment aus und nötigte es 1501 zu einer Übereinkunft mit ihm in Form eines gesetzlichen Verbots von zwölf Geschäftsformen und Praktiken allein im Barchenthandel, die er als wucherisch, wider Gott und ungerecht inkriminierte. Barchentproduktion und nach mittelalterlichen Maßstäben fast weltweiter Barchenthandel waren aber das Fundament der städtischen Wertschöpfung und Beschäftigungsmöglichkeiten weiter Bevölkerungskreise in Stadt und Land sowie eine wichtige Quelle kommunaler Einnahmen. Der Münsterpfarrer, der rigoros eine ältere und strengere wirtschaftsethische Richtung vertrat, verwarf schließlich auch den Barchentwechsel, der von nahezu allen Schich-

1730 H. K (Hg.), Reformation Kaiser Siegmunds (5), S. 266–274. Im Interesse einer gleichmäßigen Beschickung der Märkte mit lebensnotwendigen Gütern, die durch preistreiberischen wucherischen Vorkauf gefährdet ist, sollen in allen Reichsstädten für Wein, Korn, Fleisch, Salz und andere wichtige Güter dieselben Preise gelten. Als Voraussetzung dieser generellen Preistaxen müssen in der ganzen Christenheit die Maße vereinheitlicht, die Zölle gesenkt werden, und es muss ein einheitliches Zahlungsmittel in Form von drei Münzsorten, die in allen Ländern mit gleichem Wert kursieren, geschaffen werden. Dadurch würde eine Preisstabilität ohne Teuerung erreicht. Da dann keine Wuchersünden mehr möglich sind, wird Gott die Menschen auch nicht mehr durch Ernteschäden bestrafen, sodass es keinen Ernteausfall mehr gibt, der Teuerungen rechtfertigte. Ebd., S. 317–321, 347 (Handschrift P). 1731 Neuere Ausgabe in J. B/B. P. P (Hg.), Geschichte der Ökonomie, S. 9–34; S. 26 f. Zum rigorosen Verbot des Leihens gegen Zins, das keine Ausnahmen kennt, wie sie die scholastischen Moraltheologen und die Juristen gemacht hatten, auch gegen verzinsliche Depositen bei einem Kaufmann, der sie zu Geschäftszwecken verwendet, äußerte sich Luther ausführlich in dem »Großen Sermon vom Wucher« von 1520. D. M L Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 6, Weimar 1888, S. 33–60.

Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsethik

ten einschließlich des Patriziats und der Geistlichkeit geübt wurde, als wucherisch. Es handelte sich dabei um ein spekulatives innerörtliches Tausch- und Kreditgeschäft, bei dem gebleichter Barchent nach einem Zeitverzug von einem halben Jahr mit einem Aufgeld gegen ungebleichten getauscht wurde. In dieser für bedrohlich erachteten Situation holte das Stadtregiment unter dem patrizischen Bürgermeister Dr. Matheus Neithart in Sorge um das Gemeinwohl, die Beschäftigungsmöglichkeiten für die kleinen Leute und die Finanzkraft der Stadt im Jahre 1502 bei eologen und Juristen der Universität Freiburg im Breisgau und mit unterzeichnenden Gelehrten oberrheinischer und schwäbischer Kirchen, geistlicher Korporationen und Bettelorden eine Reihe von Rechtsgutachten ein, in denen mit einer umfassenden moraltheologischen, philosophisch-ethischen und juristischen Argumentation der Ulmer Barchentwechsel von insgesamt 25 Gelehrten dem Wuchervorwurf entzogen sowie im Hinblick auf die Verkehrs- und Vertragsgerechtigkeit, die aristotelische iustitia commutativa, und den gerechten Preis für zulässig erklärt wurde.¹⁷³² Diese für das praktische Wirtschaftsleben angeforderten Gutachten belegen eindrucksvoll, in welchem Umfang um diese Zeit neben der internationalen juristischen Kommentarliteratur die europäische und deutsche moraltheologische Literatur berücksichtigt wurde. So werden etwa neben den Zentral guren omas von Aquin und Johannes Gerson († 1429) noch etwa Alexander von Hales, Johannes Duns Scotus, Richardus de Mediavilla, Gerardus de Abbatisvilla, Antoninus von Florenz, Angelus de Clavisio, ferner die Deutschen Heinrich von Oyta, Johannes Nider sowie als zeitnahste Autoren die Tübinger Universitätstheologen Gabriel Biel († 1495) und Konrad Summenhart († 1501/02) zitiert. Von diesen Autoren wurde ein Rahmen grundsätzlicher und mit Beispielen veranschaulichter Überlegungen abgesteckt, den der konservative Martin Luther, auf die spätscholasti-

1732 E. I, Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsethik.

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sche Wirtschaftsethik zurückgreifend, nur wenig erweiterte und ihn, wie es schon Johannes Geiler tat, stärker mit dem christlichen Fundamentalismus des eologen und Predigers erfüllte. Die christliche Nächstenliebe war ein maßgebender Fluchtpunkt seines ökonomischen Denkens, das aber auch empirische Einsicht in den Mechanismus wirtschaftlicher Geschäftspraktiken offenbart. Luther, der 1483 in Eisleben geboren wurde, war Sohn eines selbständigen Hüttenmeisters, der sich im Berg- und Hüttenwesen des Mansfelder Kupferschiefer-Reviers vom einfachen Berghauer emporgearbeitet hatte und in Mansfeld in den Rat gelangte. Da der Vater Hans Luther für die hohen Investitionskosten seiner Schachtund Hüttenanlagen auf Kredite angewiesen war, geriet er bis zur Jahrhundertwende und erneut im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts in eine hohe Verschuldung und war zeitweise zu rigider Sparsamkeit gezwungen, doch hinterließ er bei seinem Tod 1430 ein nicht unbeträchtliches Vermögen. Kredite gewährten im Montanwesen vor allem die großen, ökonomisch mächtigen und politisch ein ussreichen Handelsgesellschaften, die auch das Rohkupfer vertrieben. Martin Luther, der mit den Finanzund Zinspraktiken und den Risiken im Montanbereich früh schon in Berührung kam, lehnte in seiner konservativen Wirtschaftsethik kapitalistische Finanzierungsformen ab, insbesondere in seinen Tischreden den Besitz von Kuxen (Bergwerksanteilen), die er als Spielgeld bezeichnete. Er traf 1518 bei seinem Verhör auf dem Augsburger Reichstag durch den Dominikaner und römischen Kardinallegaten Cajetan (omas a Vio) mit einem Mann zusammen, der nicht nur eine Lehre vom Ablass verfasste, sondern auch 1500 einen maßgeblichen Traktat über den Geldwechsel und Wechselbrief (»De cambiis«) geschrieben hatte und die dogmatische scholastische Lehre von der Unfruchtbarkeit des Geldes verwarf. Das Grundübel für die sündhaften Verfehlungen im Wirtschaftsleben sieht Martin Luther

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

in seinen »Bedenken von Kaufshandlung« in der Bürgschaft, die zu einer leichtfertigen Kapitalbeschaffung verleite, und in den mit Kredit betriebenen Geschäften jenseits von Bargeschäft und Tausch. Der Ausdruck nanzen, der schon in der städtischen Gesetzgebung vorkommt, ist für Luther der zentrale Begriff für wucherische und unredliche Geschäfte, die er mit Beispielen plastisch darstellt. Luther verurteilt Leerverkäufe, wie wir heute sagen, den Abschluss von Kaufverträgen, ohne über eigene Waren zu verfügen, und die nachfolgende Beschaffung fremder Ware mit dem gezahlten Verkaufspreis zu einem niedrigeren Preis; ferner den Verkauf und Wiederkauf zu einem niedrigeren Preis; die Ausnutzung von Notlagen verschuldeter und ihren Warenbestand veräußernder Kau eute unter Einschaltung von Strohmännern, die den angebotenen und bereits unter dem Marktpreis liegenden Preis nochmals unterbieten, sowie den Aufkauf von Waren, die im Preis steigen, durch einen Zusammenschluss von Kau euten, die sich ein Angebotsmonopol verschaffen und ein Preiskartell abschließen. Luther gibt ferner für nanzen mit falschem Borgen und Leihen das Beispiel eines Kaufmanns, der über ein Mehrfaches seines Eigenkapitals hinaus Waren aufkauft, aber in Zahlungsschwierigkeiten gerät, wenn seine eigenen Schuldner nicht zahlen, und nach Art einer Schuldenspirale weitere Schulden anhäuft, indem er erneut Waren auf Kredit erwirbt und diese zu Bargeld macht, Wechsel zieht oder Barkredite aufnimmt, in welcher Höhe er sie immer bekommen kann. Er üchtet schließlich in das Asyl eines Klosters und vereinbart mit seinen Gläubigern, die froh sind, dass er nicht außer Landes ge ohen ist, einen Schuldennachlass in Höhe der Hälfte oder eines Drittels der geschuldeten Summen und außerdem ein Zahlungsmoratorium von zwei bis drei Jahren. Dadurch erzielt er einen exorbitanten Gewinn. Wie sehr die vom Spätmittelalter überkommene Wirtschaftsethik nicht nur Luther prägte, sondern auch im Bewusstsein des im Dienste des mit Jakob Fugger größten Frühkapita-

listen stehenden Hauptbuchhalters Matthäus Schwarz vorhanden war, zeigt dessen Notiz am Schluss seiner Musterbuchhaltung von 1518, wo er dem Lehrling die im kaufmännischen Leben gebräuchlichen Fremdwörter erklärt und vermutlich bestimmte Formen der Zinsnahme und bestimmte Finanzpraktiken meint: Nota bene famulus: Interesse ist höfflich gewuchert, Finantzen ist hofflich gesto[h]len. Schwarz spricht vom Kaufmann, der leichtfertig und aus Großmannssucht Bankrott macht und sich danach, wie es dann auch bei Luther ausgeführt wird, mit seinen Gläubigern auf etwa kaum ein Drittel der Schuldsummen vergleicht; das Übrige hat er ihnen gestohlen.¹⁷³³ 9.7.4 Monopolgesetzgebung des Reichs und städtische Handelsgesellschaften 1512–1548 Die »Reformatio Sigismundi« von 1439 verlangt eine brachiale Zerschlagung der großen Handelsgesellschaften, die Kapitalien für Handelsgeschäfte zusammenlegen und alles so manipulieren, dass sie, ungeachtet ob es ihnen gut oder schlecht geht, doch nie verlieren. Wo man Gesellschafter oder ihre Boten antrifft, soll sie jedermann mit Erlaubnis von König und Reich niederwerfen, berauben, ihnen wegnehmen, was man kann, bis sie zerstört sind, ›denn sie tun allen Ländern weh‹. Zunächst nur in einigen Handschriften verbreitet, brachte es die Reformschrift im späten 15. Jahrhundert auf vier Drucke, doch sollte ihre große Verbreitung erst achtzig Jahre nach ihrer Entstehung kommen, als in den 1520er Jahren während der Monopoldiskussion der Reichstage und der Anfänge der kirchlichen Reformation ein Schub an Drucken veranstaltet wurde, weil sie den Nerv der Zeit traf. König Maximilian I. drohte 1507 den oberdeutschen Gesellschaften mit der Niederlegung ihres Handels, wenn sie nicht im Wege von Zwangsanleihen für den geplanten Romzug Darlehen bereitstellten. Kaiser Karl V. ver-

1733 A. W, Venezianischer Handel der Fugger, S. 8, 34.

Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsethik

p ichtete sich in seiner Wahlkapitulation von 1519, die ›großen Gesellschaften der Kaufgewerbsleute, die bisher mit ihrem Geld regiert haben, ihren Willen durchgesetzt und mit Teuerung dem Reich viel Ungeschicklichkeit, und den Einwohnern erhebliche Schaden, Nachteil und Beschwerung gebracht haben und es noch tun, mit dem Rat der Reichsstände, wie es schon beraten, aber noch nicht vollstreckt wurde, ganz aufzuheben‹. Die Diskussion über Monopole und Handelsgesellschaften gewährt wichtige Einblicke in das empirische und doktrinäre Verständnis von Wirtschaftsstrukturen und Wirtschaftsabläufen der Zeitgenossen.¹⁷³⁴ Bereits auf dem Reichstag zu Trier und Köln von 1512 hatte die Diskussion um die Monopole (monopolia), die begrifflich auch als Synonym für die großen Gesellschaften gebraucht wurden, einige Begriffsklärungen und Vorschläge für Maßnahmen gegen Handelsmonopole erbracht. Die herkömmlichen Verbote des Fürkaufs, des Vor- und Aufkaufs zum Zweck des Preiswuchers, hatten sich eher eng begrenzt auf lokale Märkte und Geschäfte mit Lebensmitteln bezogen, der Ausdruck Monopol erfasste weitgespannte Handelsaktivitäten mit Wirkung für das ganze Reich. Eine gewisse Zeit lang erschienen beide Begriffe in der Doppelung ›Fürkauf und Monopolien‹ noch nahezu als Synonyma. Maßgeblich für die Reichsgesetzgebung war als rechtlicher Bezugspunkt das im Reich als gemeines Recht geltende römische Recht mit dem Gesetz Kaiser Zenos von 483, das im Codex Justinians (Codex 4.59) überliefert ist. Insofern gab es bereits ein gesetzliches Monopolverbot, das aber auszulegen war. Das kaiserliche Gesetz verbot in seiner römischen Fassung Monopolpraktiken von Handwerkern, Kleinunternehmern und Betreibern von Bädern bei Handelsgütern wie Gewändern, Fischen, Kämmen, Seeigeln, deren Stacheln zur alltäglichen Bearbeitung der Kleidung dienten, oder ande-

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ren zur Lebensführung (victus) und zum Gebrauch (usus) dienenden Waren und Materialien. Verboten wurden auch staatlich verliehene Monopolstellungen und darüber hinaus Preiskartelle. Es handelte es sich um ein generelles Verbot, das nur Beispiele anführte. Das Monopol war aber im Gesetz weder begrifflich de niert noch tatbestandlich näher bestimmt. Der Beschluss des Reichstags (Reichsabschied ) von Trier und Köln des Jahres 1512 brachte erste wichtige Klärungen. Die Monopolwaren wurden nun mit Gewürzen (Spezereien), Erz, Wolltuchen und dergleichen neu ausgerichtet, und es wurde ein vom Fürkauf ausgehender Monopolbegriff de niert, wonach viele Gesellschaften die Waren in ihre Hand und Verfügungsgewalt brächten, um die Preise nach ihrem Gefallen festlegen zu können. Es musste sich daher nicht um ein Monopol mit quantitativer Absolutheit handeln; es genügte, dass der mengenmäßige Aufkauf die Möglichkeit zu einem willkürlichen Preisdiktat eröffnete. Außerdem wurden monopolistische Vertragstypen festgelegt. Es ging um Verträge, wonach (1) der Verkäufer solche Waren nur dem bestimmten Käufer verkaufen durfte, damit kein Konkurrent am Markt auftreten konnte (Ausschließlichkeitsverträge), und um solche Verträge, (2) die den Verkäufer verp ichteten, Waren nicht billiger als mit dem Käufer vereinbart zu verkaufen (Preisbindungsverträge), um eine günstigere Belieferung von Konkurrenten zu verhindern. Die Strafverfolgung sollten die jeweiligen Obrigkeiten der Reichsstädte oder ersatzweise der kaiserliche Fiskal übernehmen. Sanktionen waren die Kon skation des gesamten im Reich gelegenen Vermögens und ewige Verbannung aus dem Reich. Auf dem Wormser Reichstag von 1521 wurde bekräftigt, dass ein Monopol nicht nur dann vorlag, wenn eine Ware gänzlich aufgekauft wurde, sondern es genügte, dass ein größerer Teil davon aufgekauft wurde, der den Aufkäu-

1734 Deutsche Reichstagsakten (Jüngere Reihe), Bde. 2 und 3; F. B, Die Reichsmonopolgesetzgebung, ., Die Wirtschaftspolitik des Reichstags, B. M, Der Kampf gegen die Monopole. Zu den Monopolgutachten siehe insbesondere C. B, K. N- S.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

fer dank seiner errungenen Stellung am Markt in den Stand versetzte, eine verbotene Teuerung, eine willkürliche Preissteigerung, zu machen. Man erkannte dabei in dem mit der Monopolfrage befassten Reichstagsausschuss, wie es auch Luther tat, sehr wohl, dass Handelsgesellschaften eine Zeit lang die Ware durchaus billiger abgaben, aber nur um die kleineren Kaufleute in den Ruin zu treiben und danach ohne lästige Konkurrenten fortan in der Preisfestsetzung ›freier, höher und besser‹ agieren zu können. Ambrosius Höchstetter wurde etwa nachgesagt, dass er oft einen ganzen Warenbestand über seinem eigentlichen Wert aufgekauft habe, um andere Kau eute, die im Preis nicht mitziehen konnten, nach Gefallen wegzudrücken. Wenn das geschehen war, habe er in allen Ländern auf die Ware einen Preisaufschlag gemacht und sie nach seinem Willen verkauft.¹⁷³⁵ Herzog Georg von Sachsen als Nutznießer räumte durchaus ein, dass Monopole eine Teuerung hervorriefen, rechtfertigte die erhöhten Preise jedoch, wie später Dr. Konrad Peutinger, mit den hohen Investitionen, die im Bergbau erforderlich seien, während eine Denkschrift Jakob Fuggers die Risiken und stark schwankenden Erlöse im Indienhandel zur Rechtfertigung der Monopole geltend machte. Peutinger hatte bereits 1499 ein Gutachten zu dem 1498 vereinbarten Kupfersyndidat der Gesellschaften Fugger, Herwart, Gossembrot, Paumgartner und Knoll erstattet (»Consilium in causa societatis cupri«), dort das Preiskartell zum Verkauf von Kupfer zu genau festgesetzten Preisen in Venedig grundsätzlich gebilligt, vom Kartellverbot des gemeinen Rechts ausgenommen und dargelegt, dass es nicht unerlaubt sei und nicht gegen den gemeinen Nutzen und die Billigkeit verstoße. Die Monopoldiskussion der Reichstage nahm hauptsächlich den Gewürzhandel und das Montangewerbe mit seinen Erzeugnissen

in den Blick und spitzte sich auf dem zweiten Nürnberger Reichstag von 1522/23 auf die Frage zu, ob die Handelsgesellschaften generell dem gemeinen Nutzen schädlich und daher abzuschaffen waren oder nicht. Eine radikale Richtung sprach sich für die Abschaffung aus, eine andere plädierte dafür, den Gesellschaften durch Eingriffe in die Unternehmensstruktur und in das operative Geschäft ›ein Maß zu geben‹. Die umfassendste Stellungnahme mit Empfehlungen in der Frage der Monopole und großen Gesellschaften legte der kleine Ausschuss des zweiten Nürnberger Reichstags 1522 mit den 42 Artikeln seines »Ratschlags« zu Fragen vor, die das Reichsregiments formuliert hatte.¹⁷³⁶ Monopole seien bereits durch Codex 4.59 und den Kölner Reichsabschied von 1512 verboten, doch fehle es zum großen Nachteil für den gemeinen Nutzen am Vollzug durch die Obrigkeiten und den Reichs skal. Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die großen Gesellschaften und die Anhäufung ihrer Einlagen (Hauptgüter) für alle schädlich seien. Die durch die Kapitalstärke ermöglichten monopolistischen Handelspraktiken werden am Beispiel der Pfefferverträge mit dem König von Portugal verdeutlicht: Wenn eine Gesellschaft mit dem König verhandelt, stößt sie sich nicht an den hohen Preisforderungen des Königs, sondern legt gelegentlich noch etwas darauf unter der Bedingung, dass der König die Waren anderen Kaufleuten noch teurer abgebe. Trotz der hohen Einstandspreise erzielen die wenigen Gesellschaften, die in den Importhäfen in Lissabon und Antwerpen den Zwischenhandel für das Reich übernehmen, einen exorbitanten Gewinn¹⁷³⁷, weil sie die Waren im Reich konkurrenzlos fortan so teuer wie sie wollen an die Abnehmer weitergeben. Wenn eine Gesellschaft nicht in der Lage ist, die Ware in ihre Hand zu bekommen, verbindet sie sich mit anderen in einem

1735 Chronik des Clemens Sender, in: Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 23, S. 220. 1736 Deutsche Reichstagsakten. Jüngere Reihe, Bd. 3, Gotha 1901, ND Göttingen 1963, S. 571–592. 1737 Auf dem dritten Nürnberger Reichstag von 1524 waren Gerüchte im Umlauf, dass drei Augsburger Gesellschafter durch einen Kauf in Lissabon 150 000 Gulden Gewinn gemacht hätten, was letztlich der gemeine Mann alles bezahlen müsse, wie der kursächsische Rat Hans von der Planitz nicht ganz einleuchtend kommentierte.

Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsethik

Preiskartell zu einem gemeinsamen Angebotsmonopol. Anhand von Verzeichnissen von Preisen für eine Vielzahl von Gewürzen im Zeitraum zwischen 1510 und 1522, die Nürnberger Kau eute erstellt hatten, dokumentiert der Ausschuss den Anstieg der Verkaufspreise im Reich und wirft den Gesellschaften eine Verschleierung ihrer Preistreiberei vor, indem sie die Preise für die unterschiedlichen Gewürze in einem Jahr zwar nicht gleichzeitig anheben und gelegentlich nach dem Anheben mit den Preisen für einzelne Gewürze sogar etwas nach unten gehen, aber nicht mehr bis zum Niveau vor der Anhebung, sodass sie über einen mehrjährigen Zeitraum dennoch eine beträchtliche Steigerung erreichen. Der Ausschuss, der mit etwa vier oder fünf großen Gesellschaften in Oberdeutschland rechnet, hält die Duldung großer kapitalstarker (geldmächtiger) Gesellschaften für schädlich, will aber nicht alle Gesellschaften verboten wissen, sondern einen Weg zwischen den ›zwei Extremen‹ durch eine Reihe regulierender Eingriffe nden: Das Hauptgut der Gesellschaften soll auf 20, 30, 40 Tausend Gulden oder eine Höchstsumme von 50 000 Gulden begrenzt werden;¹⁷³⁸ Gewinne dürfen die Höchstgrenze nicht erhöhen, sondern müssen bei Überschreiten ausgeschüttet und für andere Zwecke verwendet werden. Das Volumen der Handelsgeschäfte darf die eingelegten 50 000 Gulden nicht überschreiten, und die Zahl der Niederlassungen ist auf drei zu beschränken. Darlehen oder festverzinsliche Einlagen Dritter dürfen nicht hereingenommen werden. Wegen der hohen Warenverluste, die deutsche Schiffe beim Seetransport von Portugal zum Reich erlitten – angeblich in wenigen Jahren 15 mal 100 000 Gulden – und die in die Preise eingingen, soll der direkte Handelsverkehr nach Portugal verboten und der Transport auf die Portugiesen übertragen werden. Für einige Handelsgüter, insbesondere für Gewürze, sollen im ganzen Reich Höchstpreise verordnet werden, die sich an den durchschnittlichen Verkaufspreisen der Waren, bevor sie in die Verfügungsgewalt

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des Königs von Portugal und der schädlichen großen Gesellschaften gelangt waren, orientieren und die unterschiedlichen Kosten für den Transport in die verschiedenen Regionen des Reichs berücksichtigen sollen. Der Ausschuss rechnet aber in offen formulierter Skepsis damit, dass namentlich die Fugger oder andere großmächtige Kau eute mit dem einen oder anderen König geheime Verträge schließen würden, was man nicht verhindern könne. Die kapitalstarken Gesellschaften und Kau eute hätten bisher so viel an Vorrecht genossen und entsprechende Leute auf ihre Seite gebracht, sodass ihre offensichtlichen Delikte nicht mit den gesetzlichen Strafen geahndet, sondern wissentlich geduldet worden seien. Wie sollte eine Bestrafung erfolgen, wenn sie sich viel geheimer an dem gemeinen Nutzen vergingen. Man erinnerte sich, dass schon 1521 in Worms auf die Protektion durch reichsstädtische Obrigkeiten sowie Räte und Regierungen von Kurfürsten und Fürsten hingewiesen worden war. Die Stadt Augsburg als Sitz der bedeutendsten der großen Gesellschaften wollte, beraten von Dr. Peutinger, Dr. Johannes Rehlinger und weiterer Juristen, eine Monopolgesetzgebung des Reichs verhindern, Nürnberg, gleichfalls Sitz großer Gesellschaften, verhielt sich aufgeschlossener, während Ulm und Frankfurt am Main für gesetzliche Regelungen größeres Verständnis aufbrachten. Ulm konnte sich eine personelle Beschränkung von Gesellschaften auf Familiengesellschaften mit Vater, Sohn und Schwiegersohn, eine rigide Begrenzung der Einlage auf höchstens 1 000 Gulden, eventuelle Höchstpreise für wichtige Handelsgüter wie Metalle, Gewürze und Tuche und ein Überdenken der Rolle der Faktoreien vorstellen. Frankfurt war für ein Verbot der ›namhaften großen Gesellschaften‹, für Höchstpreise und für ein Verbot der Hereinnahme von Fremdgeldern. Ein Augsburger Gutachten machte in einer gewissermaßen volkswirtschaftlichen statt juristischen Argumentationslinie geltend, dass die Gesellschaften allen Königen, Fürsten, Landen,

1738 Zur weitaus höheren Kapitalausstattung verschiedener oberdeutscher Handelsgesellschaften siehe 9.4.5.2.6.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

Gebieten und ausnahmslos jedermann in den Gemeinden von Nutzen und gut seien. Der Handel komme durch Zölle, Mauten und andere Abgaben insbesondere den Fürsten und Regenten zugute. Die Beispiele Venedig, Florenz, Mailand, die Niederlande und Portugal zeigten, dass alle jene Länder prosperierten, die über eine starke Kaufmannschaft verfügten. Je mehr man ›hantiere‹, d. h. je größer das Handelsvolumen und die Umsätze sind, je nützlicher sei es für Fürsten, Obrigkeiten und die ganzen Gemeinden. Daher seien den Gesellschaften keine Beschränkungen aufzuerlegen: Denn ›je reicher die Kau eute sind, je mehr es von ihnen gibt, je größer ihr Geschäftsumfang und ihre Umsätze sind, desto mehr wird der gemeine Nutzen gefördert‹. Eine Abschaffung der Handelsgesellschaften sei für das Reich auch deshalb schädlich, weil Kau eute anderer Nationen den Handel mit dem Reich übernehmen würden. Konrad Peutinger baute in seinen Monopolgutachten, Denkschriften und in der Supplik Augsburgs an Karl V. eine Verteidigungslinie auf, indem er unter Interpretation des Monopolverbots Kaiser Zenos die damals verbotenen Monopolwaren qualitativ und sozial restriktiv festlegte und unter ihnen nur Waren verstand, die ›im gemeinen gebrauche verschlissen werden‹ und den einfachen Leuten, dem gmeinen armen manne, zum notwendigen Lebensunterhalt dienlich sind, nicht aber Luxusgüter wie insbesondere Spezereien des Gewürzhandels, die allein der Reiche zu bezahlen habe und die mehr der wollust des leibs dienten. Er macht geltend, dass das Recht keine hohen Kapitalausstattungen verbiete und rechtfertigt die Annahme und Ansammlung verzinslicher Depositengelder, weil sie angesichts beschränkter Anlagemöglichkeiten hohen und niederen Ständen notwendige Kapitaleinkünfte gewährten. Die Gesellschaften verteidigt er gegen den Vorwurf der Preistreiberei und macht für Missstände allein den König von Portugal und dessen Ver-

tragsgestaltung im Pfefferhandel und nicht auch die Monopole zweiter Hand der Gesellschaften verantwortlich und spricht sich für einen Handel frei von staatlich-obrigkeitlichen Reglementierungen aus, da die tägliche Erfahrung lehre, dass der freie Handel mehr als der durch Zwang eingeschränkte den gemeinen Nutzen befördere. Ferner hält er die kursierende Schadenssumme im Schiffsverkehr für abwegig und spricht sich für einen freien Transithandel zur See von Portugal nach Deutschland durch deutsche Kau eute und Schiffe aus, da sonst die Waren in andere Länder gelangten und dort teurer eingekauft werden müssten. Während es für die scholastische Lehre grundsätzlich undenkbar erschien, dass aus eigennützigen Intentionen ein gemeiner Nutzen resultieren könne, lässt Peutinger in seiner Denkschrift von 1530, von Ferne an die »unsichtbare Hand« bei Adam Smith († 1790) gemahnend, aus der Verfolgung des eigenen Nutzens oder Vorteils (propria utilitas, proprium commodum) der unter Mühen und Gefahren für Leib, Leben und Güter – freilich in den Grenzen des Rechts und des elementaren Sittengesetzes – frei Wirtschaftenden durch genuin wirtschaftliche Mechanismen im Ge echt der Gesamtwirtschaft den dauerhaften Vorteil der Anderen als gemeinen Nutzen (commoditas publica) aller Wirtschaftenden, Obrigkeiten und Gemeinwesen hervorgehen.¹⁷³⁹ Er versuchte den Vorwurf der eigennützigen Hantierung von den großen Gesellschaften abzuwehren und behauptete, dass aus deren Engagement in Bergbau als einem großen und nutzbringenden Geschenk Gottes und im Metallhandel, die beide wegen des hohen Kapitaleinsatzes notwendigerweise monopolitisch betrieben werden müssten, selbst aus diesem Monopol also, auf wundersame Weise (mirum in modo) der gemeine Nutzen des Gemeinwesens entstehe.¹⁷⁴⁰ Die Monopolfrage geriet in die politische Konstellation von Reichstag, Ausschüssen,

1739 C. B, Conrad Peutingers Gutachten, S. 37, vgl. S. 25, 26, 33, 41; ., Conrad Peutinger und der Durchbruch des neuen ökonomischen Denkens, S. 224, 226. 1740 C. B, Conrad Peutingers Gutachten, S. 33, vgl. S. 24 f.

Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsethik

Reichsregiment, kaiserlichem Statthalter und dem sich zumeist in Spanien aufhaltenden Kaiser mit seinen Räten und Bevollmächtigten, während die Freien- und Reichsstädte versuchten, auf Städtetagen eine gemeinsame Linie zu nden. Letztlich gelang es Karl V., der große Darlehen von den Fuggern und Welsern erhielt, mit ihnen Pachtverträge abschloss und von den Reichsstädten eine massive einmalige Subvention in Höhe von 50 000 Gulden und regelmäßige jährliche Zahlungen in Höhe von einigen Tausend Gulden für den Statthalter und das Kammergericht verlangte, die von Reichstagen vorgesehenen Eingriffe zu verhindern und sich die letzte Entscheidung vorzubehalten. Als eine vom Städtetag eingesetzte reichsstädtische Gesandtschaft in Valladolid bei Karl V. 1523 gegen einen geplanten Außenzoll des Reichs vorstellig wurde, preschte das Augsburger Delegationsmitglied zum Unwillen der anderen Reichsstädte, darunter auch Nürnbergs, in der Monopolfrage im Interesse der großen Gesellschaften vor. Später wandte sich Augsburg im Alleingang mit Gesetzesvorschlägen und Supplikationen an den Kaiser, der den Gesellschaften 1525 mit den Edikten von Madrid und Toledo entgegenkam. Das Madrider Gesetz, das auf eine Gesetzesvorlage Augsburgs zurückgeht, führt zwar die Monopoltatbestände von 1512 auf, sieht aber von Eingriffen in die Unternehmen ab und erlaubt einen ›ganz freien und unbeschränkten Handel‹ an beliebigen Orten und ohne Begrenzung von Hauptgut und Fremdgeldern. Das Edikt von Toledo stellt im Montanwesen die Verträge über Metalle und Erze von jeglichen Monopolverboten frei und untersagt eine Strafverfolgung. Die Bergwerke seien eine große Gabe und Nutzbarkeit der deutschen Nation, erforderten für Errichtung, Unterhalt und Förderung zur Vermeidung von Metallknappheit hohe Verkaufspreise der Erzeugnisse, die am besten dadurch zu bewerkstelligen seien, dass die Produkte nicht in viele, sondern in eine Hand oder

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in wenige Hände verkauft würden. Ein hoher Preis sei nicht schädlich, da der größte Teil der Produkte ohnehin außer Landes exportiert werde und die Waren nicht zum Lebensnotwendigen (Notdurft) des gemeinen Mannes gehörten. Das Reichsregiment lehnte die Publikation beider Edikte als verbindliche Gesetze ab, doch erhielten die Fugger und Welser 1526 von Karl V. privilegiale Schutzbriefe für ihre Aktivitäten im Montanwesen, die diese von Monopolbestimmungen freistellten. Auf Reichstagen in Speyer 1526 und 1529, in Augsburg 1530 und 1532 in Regensburg kam es zu weiteren Auseinandersetzungen in der Monopolfrage, doch ebbten sie danach ab. Monopolbestimmungen wanderten auf der Grundlage der Reichstage von 1512 und 1530 in den 1540er Jahren bis hin zum Augsburger Reichstag von 1548 – wie schon 1530 – neben anderen Wirtschaftsdelikten in die Reichspolizeiordnung ab und bezogen sich nicht mehr unmittelbar auf die großen Fernhandelsgesellschaften, sondern ähnlich den älteren Fürkaufsverboten auf eher lokale Missstände. Der kaiserliche Fiskal Caspar Mart eröffnete und führte 1523 Monopolprozesse gegen Peter Imhoff den Älteren und Mitgesellschafter von Nürnberg sowie gegen die Augsburger Jakob Fugger, Andreas Grander, Christof Herwart, Ambrosius Höchstetter, Bartholomäus Welser und Andreas Rem samt Mitgesellschafter, doch untersagte Karl V. von Burgos aus dem Fiskal die Fortführung des Verfahrens, ordnete die Übersendung der Akten zur Prüfung nach Spanien an und erließ 1524 eine Einstellungsverfügung. Hinsichtlich der Monopolklagen, die derselbe Fiskal auf Druck der Reichsstände auf dem Speyrer Reichstag von 1529 im folgenden Jahr gegen Bartholomäus Welser, Andreas und Lukas Rem sowie Elisabeth P ster als Witwe Christof Herwarts samt Mitgesellschafter anstrengte, verfügte der Kaiser 1530 von Bologna aus vorläu gen Stillstand mit dem Ergebnis, dass die Prozesse im Sande verliefen.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

9.8 Kommunale Wirtschaftsordnung und obrigkeitliche Wirtschaftspolitik Die wirtschaftlich entwickelte und differenzierte Stadt, d. h. in erster Linie der Rat, betrieb unter Berufung auf das Gemeinwohl eine wirtschaftliche Ordnungs- und Versorgungspolitik, die vom Streben nach sozialer und politischer Stabilität, von skalischen Zielsetzungen, aber auch von wirtschaftsfördernden Maßnahmen bestimmt war. 9.8.1 Versorgungspolitik 9.8.1.1 Bevorratungsverordnungen, kommunale Speicher und Maßnahmen der Marktsteuerung Der Rat betrieb eine seine Herrschaft im Sinne des Gemeinwohls legitimierende Politik der ausreichenden und preisgünstigen Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen, möglichst auch gesunden Nahrungs- und Massenverbrauchsgütern.¹⁷⁴¹ Dazu kontrollierte und stimulierte er Handel und Wettbewerb, intervenierte auf dem Markt und taxierte Preise und war darum bemüht, Versorgungsengpässe zu beheben. Es galt die sozialpolitische Maxime, dass der unentbehrliche Bedarf vor allem an Grundnahrungsmitteln auch für die ärmeren Schichten erschwinglich sein sollte; damit verbunden war das auch im Interesse der Stabilität des Ratsregimes liegende ordnungspolitische Ziel, mangel- und armutsbedingte Unruhen, Zwietracht und Hungerrevolten zu vermeiden. Brot konnte in keiner geeigneten Weise substituiert werden und wurde deshalb unelastisch nachgefragt, sodass bei klimatisch bedingten Ernteausfällen sowie spekulativer Verknappung Getreide und Brot im Preis extrem anstiegen, nach zeitgenössischen Aussagen um 300 bis 500 Pro-

zent über den gewöhnlichen wohlfeilen Marktpreis. Ohnehin erhöhte sich der Preis vor den Erntemonaten, wenn die Vorräte der vorigen Ernte zur Neige gingen, wie er dann bereits steil anstieg, wenn krisenhaft ungünstige Ernteergebnisse vorhersehbar waren. Ferner musste in Teuerungen und existentiellen Hungerkrisen Brot durch Beimischung fremder Zusätze zum Getreide gestreckt werden, oder es wurden Hülsenfrüchte zu Brot verbacken. Mit Getreidemangel ging in der Regel eine Verknappung des angesichts einer häu g miserablen Wasserqualität als Getränk zu den verschiedenen Mahlzeiten kaum entbehrlichen Bieres einher, das gleichfalls als Grundnahrungsmittel bezeichnet werden kann. Der Rat hatte in dieser Situation die Zufuhr von Getreide zur Deckung des Bedarfs zu sichern und darüber hinaus nach Möglichkeit durch Steuerung der Angebotsmengen den Marktpreis zu senken oder den Preis zu taxieren.¹⁷⁴² Neben der Versorgung mit Getreide und Brot versuchte der Rat auch für ein ausreichendes Angebot an Vieh und Fleisch zu sorgen. In Zeiten von Getreidemangel und Hunger kam es wegen vermehrten Ausweichens auf Fleisch und Notschlachtungen auch zu Engpässen und Teuerungen bei Fleisch, die auf Viehfutter ausgriffen. Hinzu kamen Viehseuchen und Verluste von Vieh im Zuge von Fehden durch Raub von Schweinen, Schafen und Rindern. Die Verordnungen des Rats zur Sicherung der Fleischversorgung betrafen in erster Linie die Schweinehaltung in der Stadt und die Ausfuhr von Vieh, während Händler und Metzger teilweise im Auftrag der Stadt auf entfernteren Viehmärkten einkauften. Ferner wurden die dazu ausreichend widerstandsfähigen halbwilden Ochsen seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in großen transkontinentalen, wegen der erforderlichen Geleitzusagen, Zölle, Wege-

1741 E. K, Geschichte der obrigkeitlichen Preisregelung; U. D, Untersuchungen zu Einkommensverhältnissen und Lebenshaltungskosten; ., Die kommunalpolitischen Zuständigkeiten und Leistungen; ., Zum Problem von Versorgung und Verbrauch privater Haushalte; neuerdings vor allem C. J, Teure, Hunger, Großes Sterben. 1742 D. E/F. I, J. F, G. F, A. H, H. H, F. I, A. J, W. N, H. G. v. R, C. J.

Kommunale Wirtschaftsordnung und obrigkeitliche Wirtschaftspolitik

und Weiderechte und der Besorgung von Treibern schwer zu bewerkstelligenden und riskanten Trecks Hunderte von Kilometer aus den donauländischen Rindermastgebieten des ungarischen Tie ands und der Walachei, spätestens im 15. Jahrhundert auch aus Polen und selbst aus dem Raum von Kiew nach Oberdeutschland und bis an den Mittelrhein getrieben, während die Küstengebiete der Nordsee einschließlich Dänemarks die niederrheinische Region mit Rindern belieferten. Auf den Fettweiden vor der Stadt mussten sich die Tiere ihre Gewichtsverluste wieder anfressen. Der Fleischverbrauch in den Städten wies sicherlich große soziale Unterschiede auf; er dürfte nach vorsichtigen, aber unsicheren Schätzungen im 15. Jahrhundert durchschnittlich etwa 50 Kilogramm pro Kopf und Jahr betragen haben. Welche Mengen an Getreide zur Versorgung der Bevölkerung erforderlich waren, kann ermessen werden, wenn man von einem Durchschnittsverbrauch eines Erwachsenen von etwa 200 Kilogramm pro Kopf und Jahr ausgeht. Bei einer Einwohnerzahl von 40 000 Menschen benötigte Köln schematisch gerechnet – ohne den Kinderanteil zu berücksichtigen – jährlich die enorme Menge von 8 000 Tonnen Getreide, die unter Anstrengungen zum Markt transportiert und in Krisenzeiten vom Rat aus entfernten Regionen beschafft werden mussten. Nur zeitweise war Getreide dem Kölner Stapel unterworfen. Der Kölner Rat¹⁷⁴³ versuchte Versorgungsengpässen dadurch zu begegnen, dass er den fremden Händlern die Einfuhr durch Zollfreiheit oder Reduzierung von Zoll oder Geleitgeld erleichterte. Dabei kam es vor, dass er die vom Importeur zu entrichtenden Einfuhrgebühren in Verbrauchssteuern transferierte, die von der Stadtbevölkerung zu zahlen waren. Dadurch erleichterte er den Import und steigerte das Marktangebot, drosselte aber zugleich in gewissem Ausmaß die Nachfrage. Durch exible Handhabung der Akzisesätze wurden Angebot und Nachfrage beein usst, je nachdem, ob

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sie vom Zwischenhändler (Menger) oder vom Verbraucher erhoben wurden. Ferner konnte der Rat in verstärktem Umfang Produkte des sonst streng kontingentierten oder ferngehaltenen Landgewerbes auf dem städtischen Markt zulassen. Auf der anderen Seite erschwerte der Rat die Ausfuhr durch drastische Anhebung der Abgaben, schritt – wie der Rat anderer Städte – zu Ausfuhrverboten oder untersagte den Getreidezwischenhandel etwa der Bäcker und Brauer, der in der Regel Ausfuhrhandel war, weil der Zwischenhandel erst zum Zuge kam, nachdem die Bevölkerung unmittelbar ihren Bedarf gedeckt hatte. Um den Getreidemarkt zu entlasten, untersagte der Kölner Rat zu Zeiten der Knappheit das Brauen getreideintensiver Biere wie etwa des Keutebiers (Weizenbier) oder stimulierte gezielt die Herstellung von Dünnbier, indem er für den Dünnbierbrau den Getreidezoll erließ. Keutebrauverbote wurden offensichtlich als wirksame Maßnahme betrachtet, denn immer wieder bemühten sich die Stadt Köln, das Erzstift Köln und der Herzog von Jülich-Berg um Vereinbarungen über ein großräumiges Verbot. Eine einfache Form der Mangelbewirtschaftung, bei der die Gedanken der Preistaxierung und einer gewissen Rationierung zusammentreffen, bestand darin, dass man den nominellen Brotpreis einfror, das Brotgewicht oder die zu verbackende Getreidemenge jedoch gegenläu g zum schwankenden Getreidepreis reduzierte oder wieder anhob. Zur Krisenvorsorge durch Bevorratung von Getreide wurden vielfach noch vor der Mitte des 15. Jahrhunderts unter dem Eindruck der schlimmen Teuerungen von 1433/34 und 1437–1439 in Oberdeutschland und in der Niederrheinregion, etwa in Basel, Straßburg, Ulm, Köln und in anderen Städten, weitere große kommunale Kornspeicher gebaut, die jeweils zwischen 1 000 und 2 000 Tonnen Brotgetreide fassen konnten und über größere Kapazitäten als die älteren der Städte Lübeck, Nürnberg oder Er-

1743 E. K, Geschichte der obrigkeitlichen Preisregelung; F. I, Getreidepreise, Getreidehandel und städtische Versorgungspolitik in Köln.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

furt verfügten. Die 35 Kornhäuser Lübecks hatten zu dieser Zeit insgesamt lediglich Raum für geschätzte 3 300 Tonnen Korn. Nürnberg und Erfurt ließen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts nach Krisenzeiten und Teuerungsjahren weitere Speicher bauen. In Augsburg mussten angesichts der beschränkten kommunalen Lagerkapazitäten Teilmengen des von der Stadt 1437 aufgekauften Korns bei Angehörigen der Führungs- und Oberschicht untergebracht werden. Der Bevorratung dienten auch kommunale Salzspeicher und Schlachthäuser. Eine Entlastung der Nachfrage in Krisenzeiten sollte die obrigkeitlich verordnete, teilweise steuerlich begünstigte Bevorratung bestimmter Getreide- oder Salzmengen bringen, die gestaffelt nach dem Vermögen oder dem zu versteuernden Vermögen in Privathaushalten einzulagern waren oder die Zünfte ihren nanziellen Möglichkeiten entsprechend anzulegen hatten. Allerdings wurde die Menge nach oben begrenzt, um Teuerungen und Spekulationen zu verhindern. Die Vorräte wurden in Krisenzeiten amtlich erfasst, um einen Überblick über die vorhandenen Mengen zu gewinnen. Die vermögenderen Schichten und die Führungsschichten waren ohnehin um eine private Vorsorge bemüht, besaßen vielfach Korngülten auf dem Lande oder reagierten beim Anziehen der Preise sofort mit Käufen, wie der Augsburger Burkard Zink mitteilt. In Zeiten der Knappheit konnte aus öffentlichen Vorräten die Angebotsmenge auf dem Markt zur Preisdämpfung erhöht werden, an die ärmere Bevölkerung Getreide zu einem Preis verkauft werden, der unter dem hohen Marktpreis lag, oder es wurde Getreide an die Bäcker zu herrschenden Marktpreisen abgegeben. Der Nürnberger Rat verordnete, wohl von der Bevölkerung zu Maßnahmen gedrängt, im Hungerjahr 1437 Höchstpreise für Korn, verbilligte Verkäufe aus kommunalen Vorräten und verhängte ein Ausfuhrverbot. Die Stadt Basel musste im Finanzjahr 1438/39 wegen der Kosten für die Beschaffung von Getreide und den Bau eines Großspei-

chers, um ihre Zahlungsfähigkeit zu gewährleisten, eine Schuld von 21 404 Gulden kontrahieren, was der Höhe eines ganzen Jahresbudgets entsprach. Köln stellte 1462 den verantwortlichen Kornherren zur Auffüllung der Getreidevorräte bei niedrigem Preisniveau 13 834 Mark (Rechnungswährung) bereit, die durch den Verkauf von Leibrenten aufgebracht worden waren.¹⁷⁴⁴ In der Notzeit 1474/75 setzte der Rat ausnahmsweise Höchstpreise für Getreide fest. Die Kornmesser waren angewiesen, bei teurerem Verkauf nicht mehr zu messen. Das Angebot wurde durch den Verkauf aus den städtischen Magazinen ausgeglichen. In normalen Zeiten war Köln wie andere große Handelsplätze ein Getreidehandelszentrum für einen größeren Raum, in dem kleinere Städte ihren Bedarf deckten. Der innerstädtische Getreidepreis lag weit unter dem des Umlandes. Teile des nach Köln eingeführten Getreides wurden wieder exportiert. In politischen Gefahrenzeiten wies der Rat die Bevölkerung an, soweit sie dazu in der Lage war, für eine Bevorratung von Getreide, ferner von Salz oder auch Wein zu sorgen. Um 1400, wohl im Umfeld der Absetzung König Wenzels, sollten die Rothenburger für zwei Jahre Getreide einlagern. Auch in Reval (Tallin) verp ichtete der Rat die Bewohner 1433 angesichts von Kriegsgefahr zu einer einjährigen Vorratshaltung. Als 1444 in Straßburg, einem Zentrum des Kornhandels, ein Einfall der herrenlosen französischen Armagnaken-Söldner drohte, war in der Stadt ein Getreidevorrat von etwa 490–515 Kilogramm für jeden Anwesenden vorhanden. Der Rat hatte einem chronikalischen Bericht zufolge angeordnet, dass Bürger, die dazu in der Lage waren, einen Vorrat an Essen und Trinken für zwei Jahre anlegen sollten. Eine mit der Erhebung der Vorräte beauftragte Kommission kam in einer Überschlagsrechnung zu dem Ergebnis, dass ein Kornvorrat für zehn Jahre und ein Vorrat an Wein und Salz für drei Jahre vorhanden seien. Von damals etwa 16 000 Bewohnern Straßburgs waren Mit-

1744 J. R, Der Staatshaushalt Basels (4.8), S. 34; F. I, Getreidepreise, S. 592.

Kommunale Wirtschaftsordnung und obrigkeitliche Wirtschaftspolitik

te des 15. Jahrhunderts etwa 7 000 (etwa 45%) ohne Vorrat, in Nürnberg im Umfeld des Markgrafenkrieges von 1449/50 zwischen 20 und 40 Prozent der Bevölkerung, doch erfasste der Rat aufgrund der hohen Bevorratung in den vermögenden Stadtbezirken mit durchschnittlich 1 600 Kilogramm pro Haushalt durchschnittlich etwa 312 Kilogramm pro Kopf der Einwohnerschaft. Bereits 1408 legte der Basler Rat einen Kornvorrat an, um Preissteigerungen entgegenzuwirken, und verp ichtete vermögende Bürger zur Vorratshaltung für ein Jahr, wie erneut angesichts der Armagnakengefahr 1442/43 und wiederum 1479/80. Die Stadt verfügte 1444 über Getreidevorräte, mit denen nach einer Berechnung ein Jahr lang 3 012 Personen unterstützt werden konnten. Im Jahre 1444 besaßen im Basler Kirchspiel St. Leonhard etwa 20 Prozent der registrierten 2 938 Personen, darunter bereits viele Ortsfremde, keine Getreiderücklagen. Fast die Hälfte des amtlich registrierten Korns stammte von den in die Stadt Geüchteten. Wenn deren Anteil an Personen ohne Vorrat unter einem Prozent lag, ist dies auf eine restriktive Verweigerung des Zutritts für Auswärtige ohne Vorräte zurückzuführen. Zur gleichen Zeit waren in Straßburg von 26 198 Personen, die sich in der Stadt aufhielten, davon 16 072 Stadtleute (einschließlich der Vororte), insgesamt 8 369 (32%) ohne Vorräte; der gesamte ermittelte Kornvorrat betrug 166 752,5 Viertel (etwa 13 500 Tonnen).¹⁷⁴⁵ Von 5 476 separat gezählten, damit aber nicht vollständig erfassten Landleuten hatten nur 667 Personen (12%) kein eigenes Korn; der Kornvorrat dieser Landleute betrug 23 829 Viertel (etwa 1 930 Tonnen). Ein undatierter Beschluss des Straßburger Rats verfügte, dass Auswärtige nur Zutritt zur Stadt erhalten sollten, die nachweislich für sich und ihre Ange-

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hörigen für Jahr und Tag zu Essen hatten.¹⁷⁴⁶ In der Versorgungskrise von 1481 nach mehreren Missernten und Teuerungen ließ der Straßburger Rat die im städtischen Getreidespeicher gelagerten 1 300 Viertel Mehl auf 2 000 aufstocken und davon jede Woche 50 Viertel für Bedürftige verbacken. Außerdem beschloss er, falls notwendig auch neue Backöfen bauen zu lassen. Die Straßburger Klarissen machten indessen in den Mangeljahren 1481, 1492/93 und 1502 durch Getreideverkäufe aus ihren Beständen erhebliche Pro te.¹⁷⁴⁷ Der Rottweiler Rat ging – wie die Obrigkeiten anderer Städte – dazu über, die Zünfte und ihre Mitglieder zur eigenen, durch Umlagen zu nanzierenden Kornbevorratung zu verp ichten. Er wollte ferner den Ankauf von Korn mit kommunalen Geldern in Zeiten niedriger Preise und den Verkauf bei höheren Preisen dazu nutzen, um Schulden der Stadt abzubauen und Renten abzulösen. Die ärmere Bevölkerung konnte auch dadurch entlastet werden, dass man ihr das billigere Brot zum Kauf vorbehielt, das von den Landbäckern auf den städtischen Markt gebracht werden durfte. Es kam auch vor, dass – wie in München hinsichtlich der Fleischpreise – obrigkeitliche Taxpreise für verarbeitete Produkte beibehalten wurden, obwohl diese keine Rendite mehr erbrachten, weil die Rohstoffpreise im Einkauf stark angestiegen waren. Hier schritt dann die Obrigkeit zur öffentlichen Subventionierung und ersetzte den Produzenten die Verluste.¹⁷⁴⁸ 9.8.1.2 Kommunale Kornkäufe auf fremden Märkten Bei krisenhaften Versorgungsengpässen wurden öffentliche Fonds gebildet, mit denen auf fremden Märkten – in Nürnberg in einem Umkreis von 100 Kilometern – von der Kommune Ge-

1745 K. T. E (Hg.), Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte der Stadt Straßburg (2.2−2.4), Nr. 254, S. 499–501. 1746 Ebd., Nr. 148, S. 360 f. (um 1400). Mögliche Datierungen sind auch das Umfeld des Rappoltsteiner Kriegs von 1392 oder der Burgunderkrieg 1475/76. 1747 U. D, Untersuchungen zu Einkommensverhältnissen, S. 48 f.; U. I, Johannes Geiler von Kaysersberg (5), S. 240 f. 1748 F. E, Die obrigkeitliche Fleischpolitik in München.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

treide eingekauft und mit Verlust zu niedrigeren Preisen auf dem heimischen Markt veräußert wurde. Derartige Aufkäufe waren möglich, weil Missernten häu g regional begrenzt blieben. Basel bemühte sich 1437 überregional im Elsass, im Bodenseegebiet, im Kornhandelszentrum Ulm, im Rheingebiet mit Speyer und Worms und in Frankfurt am Main um Kornkäufe, Frankfurt selbst kaufte im Elsass und am Oberrhein 700 Tonnen Brotgetreide auf. Der Frankfurter Rat verkaufte Teile des erworbenen Korns unter dem Einkaufspreis an die Einwohnerschaft unter Verlust in Höhe von 400 Gulden und organisierte eine eigene Brotproduktion durch Anstellung fremder Bäcker, doch bereits im Mai 1438 beschloss er angesichts günstiger Ernteaussichten in der Wetterau und am Obermain, große Teile seiner Vorräte zu liquidieren und in den Gebieten des Niederrheins mit Gewinn zu veräußern. Nürnberg versuchte zunächst 1437 vergeblich, in den Herrschaften Württemberg und Baden Getreide zu erwerben, und ließ sodann – wie Augsburg und Nördlingen – mit Erlaubnis Herzog Albrechts V. von Österreich in den Gebieten um Wien Korn für 8 500 Gulden aufkaufen; Köln wurde noch 1440 in Franken tätig. Wie schwierig und kostspielig sich jedoch die kommunale Beschaffung von Korn gestalten konnte, damit die armen Leute Korn haben möchten und nicht an Hunger stürben, beschreibt in seiner Chronik der damalige städtische Kornverwalter Burkard Zink.¹⁷⁴⁹ Auf Nachrichten hin, dass in Österreich und Mähren wegen hervorragender Ernteergebnisse günstige Kornpreise herrschten und in Wien große Vorräte an Korn konzentriert waren, ließ der Augsburger Rat 1437 dort 300 Tonnen (2 000 Schaff) Roggen und Weizen und eine kleinere Menge Erbsen (30 Schaff) erwerben. Augsburger Geschäftsträger brachten das Korn die Donau aufwärts nach Landshut, doch scheiterte dort der beabsichtigte Weitertransport auf dem Wasser über Ingolstadt nach Donauwörth an Herzog

Ludwig von Bayern-Ingolstadt, der die Ausfuhr verbot, das Geleit versagte und eine Beförderung durch sein Territorium sowohl auf dem Wasser- als auch auf dem Landweg versperrte. In Landshut musste daher das Korn ausgeladen und sorgfältig gelagert und von dort aus schrittweise in kleineren Teilmengen unter weiträumiger Umgehung des Herzogtums über Freising, wo der dortige Rat eine Wagenladung verbilligt zu kaufen beanspruchte, nach Augsburg gebracht werden. Zink gibt an, dass sich das Korn wegen der Kosten, die durch die Behinderung des weiteren Wasserwegs verursacht wurden, von – angesichts des Augsburger Marktpreises von 10–11 Pfund Pfennigen pro Schaff (205,3 Liter oder etwa 150 Kilogramm) – günstigen knappen 9 Pfund auf 12 Pfund verteuert habe und ein Schaden von 1 000 Gulden entstanden sei. Der Nürnberger Rat erlangte zwar nach langwierigen Bemühungen die Erlaubnis zur Durchfuhr auf der Donau bis Regensburg und zum Weitertransport auf dem Landweg, doch verursachte der Transport mit seinen weiteren Umständen Kosten in Höhe von 4 200 Gulden. Nördlinger Kornwagen wurden im Herzogtum Bayern-Landshut beschlagnahmt. Aber auch Städte bereiteten verschiedentlich mit Ausfuhrverboten den kommunalen Kornkäufern und deren Transporten große Schwierigkeiten. Die kommunalen Bevorratungen und Marktinterventionen zur Sicherstellung der Versorgung und zur Preisdämpfung erfolgten im Zusammenhang mit Notlagen und nicht kontinuierlich. Eine reguläre und kontinuierliche Bevorratungspolitik betrieb erst der preußische Staat im 18. Jahrhundert mit seiner Magazinpolitik. 9.8.2 Preis- und Lohntaxen 9.8.2.1 Preis- und Qualitätstaxierung Das Preisgefüge auf dem städtischen Markt war gespalten. Sowohl der freie Marktpreis als auch

1749 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 5, S. 159–161. Siehe dazu und zu Kornkäufen Basels, Frankfurts am Main und Nürnbergs C. J, Teure, Hunger, Großes Sterben, S. 286–315.

Kommunale Wirtschaftsordnung und obrigkeitliche Wirtschaftspolitik

der obrigkeitlich taxierte Preis galten als gerechte Preise.¹⁷⁵⁰ Es kam auch vor, dass die Bevölkerung ihren Bedarf zum Selbstverbrauch zu bestimmten Marktzeiten zu Taxpreisen decken konnte und für den nicht abgesetzten Rest an Waren der Preis freigegeben wurde. Städte, die ein System indirekter Steuern bevorzugten, verteuerten allerdings die Lebenshaltung durch Abgaben auf Lebensmittel des täglichen Bedarfs. Der Preistaxierung unterlagen vor allem Brot, Fleisch, Fisch, Bier und Wein, gelegentlich auch noch andere Güter des täglichen und unaufschiebbaren Bedarfs sowie Bau- und Brennstoffe. Die Landshuter Gewerbe- und Marktordnung von 1256 bezieht noch Tuch sowie Schuhsohlen und Schuhabsätze ein.¹⁷⁵¹ Ein umfassendes System gebundener Preise gab es nicht. Taxiert wurden in der Regel heimische Rohstoffe und Produkte oder auch solche, die man aus der näheren Umgebung bezog. Güter, die aus weiteren Entfernungen herbeigeschafft wurden, Fernhandelsgüter wie Getreide, Vieh, Salz und Gewürze, wurden in der Regel nicht taxiert, auch wenn sie knapp und lebensnotwendig waren. Preistaxen bargen die Gefahr, dass Güter vom Markt abwanderten, ihm fern blieben, vorhandene Lagerbestände in spekulativer Absicht verborgen wurden oder dass sich ein schwarzer Markt entwickelte. In Köln wurden die Preise für Rohstoffe wie Getreide, Salz oder für das aus der Ferne bezogene Vieh in der Regel nicht taxiert, sondern im Wettbewerb am Markt ermittelt, wohl aber die verarbeiteten Produkte Brot, Bier und Fleisch. Fische, die in Köln und Umgebung gefangen wurden, unterlagen einer Preisbindung, nicht aber solche, die aus größerer Entfernung auf den Markt gebracht wurden. Nicht taxiert wurden auch Exportgüter. Tauschwertänderungen bei Waren können durch Änderungen der wertbestimmenden Fak-

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toren Preis, Gewichts- oder Maßeinheit und Warengüte vorgenommen werden.¹⁷⁵² Die obrigkeitlichen Warenpreisregelungen erfolgten demnach – bei Konstanz der jeweils anderen Größen – durch Preis-, Gewichts- oder Gütetaxen. Voraussetzung war eine weitgehende Standardisierung der Produkte. Die notwendigen Kriterien für die Taxierung wurden durch regelmäßiges Probebacken, Probebrauen und Probeschlachten und Beobachtung der uktuierenden Rohstoffpreise ermittelt. Um einen Bäcker des Preisbetrugs zu überführen, veranstaltete der Leipziger Rat 1468 ein Probebacken und bestrafte danach den Bäcker mit ewiger Stadtverbannung, damit jedermann erkennen könne, dass der Rat ›seinen höchsten Fleiß auf die Wahrung des gemeinen Nutzens verwende‹ und in keiner Weise geneigt sei zuzusehen, wenn jemand den anderen betrüge. Überwiegend wurde der Weg der Preistaxierung gewählt. Dabei handelte es sich seltener um Festpreise, zum größeren Teil um Höchst- oder Mindestpreise. Im Preiswettbewerb durften Höchstpreise grundsätzlich unterschritten oder Mindestpreise überschritten werden. Gelegentlich musste der Rat Zünften untersagen, durch interne Absprache ein Unterbieten des amtlichen Höchstpreises zu verhindern. Höchstpreise dienten in der Regel dem Konsumentenschutz, Mindestpreise dem Schutz des Produzenten, dessen Lebensunterhalt gesichert werden sollte. Im besten Fall wurden Nahrungsmittelpreise entsprechend den Veränderungen der Rohstoffpreise am Markt jeweils neu festgesetzt. In Rothenburg ob der Tauber etwa wurden die Fleischpreise anfänglich täglich, später zweimal wöchentlich taxiert. In anderen Fällen erfolgten Angleichungen erst in größeren Zeitabständen. Gewichtstaxen kommen vor allem bei Brot vor. In Köln wurden Weizensemmeln und Roggenbrötchen (Hellerbrötchen) bei gleichbleibendem Preis in ihrem Gewicht taxiert, wäh-

1750 E. K, Geschichte der obrigkeitlichen Preisregelung; W. T, Äquivalenzprinzip und gerechter Preis im Spätmittelalter. In Verbindung historischer und aktueller Perspektiven C. H, Lohn- und Preisgerechtigkeit. 1751 F. K, Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte (Einleitung), Nr. 231, S. 325 f.. 1752 E. K, Geschichte der obrigkeitlichen Preisregelung; U. D, Untersuchungen zu Einkommensverhältnissen, S. 106 ff.

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rend beim großen Malterbrot bei konstantem Gewicht ein Taxpreis errechnet wurde. Im ersten Falle blieb der Preis, im zweiten das Gewicht vom 14. bis ins 16. Jahrhundert unverändert. Konstant blieb auch die Güte, die ständig überprüft wurde. Das Brot musste gut gebacken sein und durfte nicht zu viel Wasser enthalten. In der Kaltwasserprobe (judicium frigidae aquae), die etwa in Augsburg angewandt wurde, ging das stark feuchte Teigbrot unter oder sank doch tiefer als das gute Brot. Über mehr als hundert Jahre blieb in Köln auch der Preis für die einzelnen Biersorten – ausgenommen das teure Keutebier – unverändert. Da man die geeichten Maße nicht ständig ändern konnte, blieb dieselbe Menge für denselben Preis erhalten, verändert wurde jedoch die Güte, die ohnehin wöchentlich kontrolliert wurde, sodass insoweit die Gütetaxierung verwaltungstechnisch nicht unvorteilhaft war. Das Keutebier, dessen Güte und Preis stark von den Getreidepreisen und der Getreideversorgung abhing, wurde im Preis taxiert. Gründe für die Gewichts- und Gütetaxierung mögen auch im monetären Bereich gelegen haben, da es keine Geldeinheit gab, die klein genug gewesen wäre, um selbst größere Schwankungen des Wertes von Waren mit sehr niedrigem Preis auszudrücken. Andererseits ging man in Köln in dem extremen Notjahr 1491 dazu über, Zweihellerbrötchen zu backen, da ein Hellerbrötchen zu klein ausgefallen wäre. Das Berechnungsverfahren bei der Brottaxierung in Köln kann verschiedenen Tafeln mit Berechnungstabellen aus den Jahren 1495 und 1498 entnommen werden. Zugrunde lag stets der herrschend mittlere Marktpreis für Getreide, den die Bürgermeister in gewissen Abstän-

den aus den von ihnen erhobenen Extremwerten zu errechnen hatten. Die Kornmesser teilten dazu dem Gerichtsschreiber die Umsätze und Marktpreise der verschiedenen Getreidesorten mit. Fest war außerdem eine Rohverdienstspanne, die pauschal den Arbeitslohn und Nebenkosten wie Salz, Brennmaterial, Geräteabschreibung u. Ä. umfasste. Auf einen gleitenden Getreidepreis wurde also eine feste Bruttoverdienstspanne aufgeschlagen.¹⁷⁵³ Um beim Bier durch Gütevorschriften die Herstellungskosten und den Gewinn in ein kalkuliertes Verhältnis zu den konstanten Höchstpreisen pro Maßeinheit zu bringen, veranstaltete der Kölner Rat in größeren Abständen ein Probebrauen. Qualitätsbestimmend für Gehalt, Geschmack und Haltbarkeit waren Art und Menge der eingesetzten Rohstoffe und die Biermenge, die als Gesamtertrag daraus erzielt werden durfte. In einem Probebrauen von 1408 wurden die Herstellungskosten in acht Positionen errechnet, und zwar aus dem Rohstoffpreis für die eingesetzte Quantität an Getreide und einem Pauschalbetrag für Grut (Bierwürze), eventuell für Hopfen, den Kosten für die benötigte Heizenergie, den Arbeitskosten für Mahlen und Brauen sowie den Messgebühren und Steuern, abzüglich jedoch des Erlöses für anfallende Nebenprodukte. Den Rohgewinn ergab die Differenz zwischen den Herstellungskosten und dem Ertrag auf der Grundlage der zulässigen Biermenge. Beim Fleisch gab es etwa in Straßburg, Nürnberg und München amtliche Qualitätsund entsprechende Preisstufungen für die gängigsten Fleischsorten und Fleischstücke. Für die nach Herkunft und Qualität deutlich unterschiedenen Weinsorten lag eine derartige Preisstaffelung ohnehin nahe. Taxiert wurde in der

1753 Berechnet wurde nach folgenden Formeln: Weizensemmeln: 1 Malter Weizen: mittlerer Weizenpreis + 7 Schillinge = Verkaufsgewicht. Roggenbrötchen: 1 Malter Roggen: Roggenpreis + Verlust an Gries + 7 Sch. = Verkaufsgewicht. Malterbrote: Preis für 1 Malter Roggen + 7 Sch.: Anzahl der nach festgelegtem Gewicht auszubackenden Brote = Verkaufspreis. Die aufgeschlagenen 7 Sch. bedeuten eine Rohverdienstspanne von 12,5%, die sich etwas erhöht, wenn von einem durchschnittlichen Gewicht und einem Wasseranteil im ausgebackenen Brot ausgegangen wird. U. D (S. 103 ff., 128 f.) nennt folgende Bruttoverdienstspannen, ohne dass der Nettoverdienst ermittelt werden konnte: 6% (Münchner Metzger), 3,5–4% (Nürnberger Hausmetzger), 6,25% (Müller), 2,7–5% (Schneider), 4,5% (Esslinger Weber), 4,25–6,25% (Nürnberger Kerzenmacherin). Der Reinverdienst lag jedoch in diesen Fällen überwiegend deutlich unter 5%, die in dieser Zeit als Verzinsung bei Kapitalisierungen eingesetzt werden. Im Detailhandel mit Lebensmitteln lag die Bruttoverdienstspanne bei 11–18%. D., Versorgung und Verbrauch, S. 277.

Kommunale Wirtschaftsordnung und obrigkeitliche Wirtschaftspolitik

Regel nicht der Rohstoffpreis, sondern der Arbeitslohn und Gewinn, der den gleitenden Rohstoffpreisen aufgeschlagen wurde. Die angedrohten Strafen für Verletzungen von Vorschriften über Preis, Gewicht und Güte waren teilweise sehr hart und bestanden in Kon skation oder Vernichtung von Waren, in Geldstrafen, peinlichen Strafen, Gefängnis- oder Ehrenstrafen sowie in befristeten Berufsverboten durch Schließung des Gewerbebetriebs oder durch Verkaufsverbot. Die ältesten, für den Beginn des 12. Jahrhunderts in Städten unterschiedlicher Größenordnung und in ländlichen Gemeindeverbänden nachweisbaren Preisregelungen stammen möglicherweise noch aus dem 11. Jahrhundert; im 13. Jahrhundert waren Preistaxen bereits eine gängige Erscheinung. Die obrigkeitliche Preispolitik ging auch im Reich den gelehrten Preislehren der Scholastik und solchen aufgrund des römisch-kanonischen Rechts voran. 9.8.2.2 Lohntaxen War der Arbeitslohn im handwerklichen Preiswerk durch die obrigkeitlich festgesetzte Gewinnspanne mittelbar begrenzt, so wurde er im Lohnwerk unmittelbar taxiert. Sätze für Zeit- oder Stücklohn wurden in der Regel nur für solche Gewerbe verordnet, die wie etwa wie die Müller, Lohn-, Bauhandwerker, Weber oder Transporteure für die gewöhnliche Lebensführung der Bevölkerung von Bedeutung waren. Festgelegt wurden Höchstlöhne, seltener Festlöhne und in wenigen Fällen auch Mindestlöhne. Höchst- und Festlöhne lassen als Meister- und Gesellenlöhne im Verhältnis zwischen Lohnwerker und Auftraggeber – ähnlich der Begrenzung der Produktionskosten im Preiswerk – auf einen Konsumentenschutz, innerhalb des betrieblichen Arbeitsverhältnisses zwischen Meister und Hilfskräften wie Gesellen, Lehrlingen und Tagelöhnern auf einen Arbeitgeberschutz schließen. War ein Gewerbe betroffen, das für den Export arbeitete oder ein Glied innerhalb einer Produktionskette darstell-

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te, so erfolgte die Taxierung im Kundeninteresse des Handels oder gar des Verlegers. Dem Konsumentenschutz dienten vor allem die Lohnbestimmungen für die Baugewerbe. Der Speyrer Rat bekundet 1342 in seiner Festsetzung der Löhne für Bauhandwerker, der zumindest streikähnliche Vorfälle vorausgegangen waren, mit Bezug auf die Bibel, ›dass ein jeglicher Arbeiter seines Lohnes würdig sei (Luk. 10,7; 1 Tim. 5,18), den er verdiene; selig aber sei, wer sich mit seinem verdienten Lohn begnügen wolle‹. Er begründet die Taxierung der Löhne damit, dass die Bauhandwerker (Werkleute) die Bürger oft zu übermäßig, unvernünftig und rechtswidrig gesteigerten Lohnzahlungen nötigten, sodass mancher arme Mensch sein Bauvorhaben einstellen müsse und nicht weiterführen könne. Er sieht sich zum Eingreifen veranlasst, da er geschworen habe, ›Ehre, Nutzen und Frommen der Stadt‹ zu wahren, und er ›von Rechts wegen‹ für die Belange der Bürger, reich und arm, einzutreten habe; seine Maßnahme diene dem ›(allgemeinen) Besten, dem Frieden, Nutzen und der Notdurft aller Bürger‹.¹⁷⁵⁴ Mit diesen begrifflich dichten Formulierungen sind beispielhaft und idealiter Grundlage und Intention der Ordnungspolitik des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rats dargelegt. Der Rat reagierte mit seinen Lohntaxen auf eine steigende Lohnbewegung, die eine Knappheit an Arbeitskräften, gestiegene Lebenshaltungskosten oder erhöhte Arbeitsanforderungen indiziert. In solchen Situationen schritt er gelegentlich zu zusätzlichen arbeitsordnenden Maßnahmen. Um einem Mangel an wichtigen Arbeitskräften und einem Lohndruck zu begegnen, untersagte der Kölner Rat im 14. Jahrhundert den Baulohnhandwerkern die Auswanderung, weil sie zu den amtlichen Höchstlöhnen nicht arbeiten wollten, und ließ fremde Freimeister und unzünftige Lohnarbeiter zu. Wer sich im Bauhandwerk weigerte, zu den verordneten Löhnen zu arbeiten, sollte zur Strafe zehn Jahre aus Köln verbannt werden, wie auch diejenigen, die Köln verließen, um nicht zu die-

1754 G. M (Hg.), Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 45, S. 190−193.

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sen Löhnen arbeiten zu müssen. Geld- und Gefängnisstrafen im Falle von Lohnüberschreitungen sollten in der Regel sowohl den Arbeitnehmer als auch den Arbeitgeber treffen. Von Strafen bedroht war im 14./15. Jahrhundert außerdem, wer eine neue, möglicherweise besser bezahlte Arbeit annahm, bevor das angefangene Werk fertig war und daraus Verzug entstand, wer andere zur Arbeitsverweigerung aufforderte, wer für Lehrlingsarbeit mehr forderte, als der den Lehrlingen zustehende Lohn betrug, wer bestellte Arbeit nicht ausführen wollte oder andere an der Ausführung hinderte, wer ohne Arbeit war und dennoch angebotene Arbeit ausschlug, wer die Ausführung einer aufgetragenen Arbeit zu dem verordneten Lohn verweigerte oder überhaupt angebotene Arbeitsaufträge ablehnte. Derartige Gebote und Verbote betrafen Bauhandwerke (Zimmerleute, Steinmetzen), die Lohnschlächter, das Weingesinde, die Spülknechte und die Fassbinder. Selten war die Festlegung von Mindestlöhnen, die ein Überangebot an Arbeitskräften oder eine schlechte Auftragslage und Lohnunterbietungen anzeigen. Mindestlöhne bedeuten hinsichtlich des Meisters im Lohnwerk einen Produzentenschutz, für den Gesellen einen Arbeitnehmerschutz. Angesichts einer sinkenden Lohnbewegung sollten damit die auskömmliche Nahrung oder das Existenzminimum gesichert werden. 9.8.3 Stadtwirtschaft, Nahrungsprinzip und Gemeinwohl Max Weber hat seinen prägnanten Begriff der »Stadtwirtschaft« ganz auf eine spezi sche Wirtschaftsauffassung und auf Wirtschaftsinteressen

der Zünfte abgestellt: »Die Stadt des Mittelalters hat unter der Herrschaft der Zünfte eine besondere Politik betrieben, die sogenannte Stadtwirtschaftspolitik. Ihr Zweck war einmal die Aufrechterhaltung der überlieferten Nahrungsund Erwerbschancen, dann, dass sie in aller Regel das platte Land durch Bannrechte und Marktzwang diesen Erwerbsinteressen dienstbar machte. Sie hat ferner die Konkurrenz zu hemmen und die Entwicklung zum Großbetrieb zu verhindern gesucht.«¹⁷⁵⁵ Das »Nahrungsprinzip« mit seiner Repartition des Kundenkreises auf die Meisterbetriebe bedeutete eine brüderliche Aufteilung der gewerblichen Erwerbschancen,¹⁷⁵⁶ eine Beschränkung der erwerbswirtschaftlichen Orientierung und des Gewinnstrebens, ferner – wie dies insbesondere Werner Sombart hervorgehoben hat¹⁷⁵⁷ – die Bescheidung mit einem von der sozialen Gruppe als feststehend erachteten standesgemäßen Auskommen innerhalb einer festgefügten sozialen Hierarchie, schließlich ein Streben nach wirtschaftlicher Autarkie und eine Beschränkung der Marktfreiheit. Zweifellos hat es das Nahrungsprinzip, das auf den Quellenbegriff der Nahrung zurückgeht und vor allem in Krisenzeiten formuliert wurde, als normative und wirtschaftspolitische Leitvorstellung gegeben, und es lassen sich unter Zunftregierungen Autarkiebestrebungen und eine mehr oder weniger ausgeprägte Handelsfeindlichkeit nachweisen. So fand etwa in Basel am Ausgang des 15. Jahrhunderts ein erbitterter Wirtschaftskampf der Handwerker und Kleinkrämer gegen die freien Fernkau eute und ihre Gesellschaften statt, der 1526 mit der Niederlage des freien Handels und seiner Eingliederung in ein kleingekammertes

1755 M. W, Wirtschaftsgeschichte (9.0), S. 281; ., Wirtschaft und Gesellschaft (1.2), S. 791 f. 1756 In Rottweil teilte eine vom Rat eingesetzte Dreier-Kommission um 1500 ein zu produzierendes Jahreskontingent von 55 000 Sicheln unter die ansässigen Sichelschmiede auf. J. L, Rottweil (2.2–2.4), S. 86 Anm. 11. Der Frankfurter Rat gestattete 1432 den Meistern des Wollenweberhandwerks um des Nutzens und Besten der Gemeinschaft des Handwerks willen auf deren Antrag hin zunächst für die Dauer von zwei Jahren die mengenmäßige bezifferte Repartition und nach Personengruppen vorgenommene Quotierung der Tuchproduktion für die Messen, doch mit dem Vorbehalt, der dem fehlenden Zunftzwang Rechnung trug, dass Zunftfremde gegen Stücklohn Tuche herstellen durften. G. M (Hg.), Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 88, S. 286 f. 1757 W. S, Der moderne Kapitalismus, Bd. I (1.2), S. 32 ff.

Kommunale Wirtschaftsordnung und obrigkeitliche Wirtschaftspolitik

Zunftsystem endete.¹⁷⁵⁸ Das Nahrungsprinzip und ein Gewinnstreben des einzelnen Zunftgenossen und ganzer Zünfte sowie sozialer Aufstieg durch Anhäufung von Reichtum nden sich in der Lebenswirklichkeit der Stadt nebeneinander. Bereits Ernst Kelter hat deutlich gemacht, dass eine sozialromantische Verklärung des mittelalterlichen Handwerks zur selbstgenügsamen Idylle nicht angebracht ist.¹⁷⁵⁹ Gewinnstreben als Streben nach maximalem Prot unter Ausnutzung der sich bietenden Marktchancen wurde durch die kirchliche Sozialethik verworfen¹⁷⁶⁰ und vom Stadtherrn oder Rat durch Verordnungen im Interesse einer obrigkeitlichen Versorgungspolitik und einer Politik der wirtschaftlichen »Ordnung« und des »Maßhaltens« eingedämmt.¹⁷⁶¹ Als produktionsleitendes Prinzip scheint gesteigertes Gewinnstreben in Verbindung mit dem Einsatz von Kapital, Lohnarbeit und technischer Innovation oder Imitation in Gewerben am Rande des klassischen Zunftwesens, in den Großgewerben Textil und Metall und im Montanwesen auf. Der Groß- und Fernhandel gründete in individueller und gesellschaftlicher Form ohnehin auf Risiko mit der Chance großer Gewinne und Spekulationsgewinne. Die »Reformatio Sigismundi«, die wirtschafts- und sozialkonservative Gedanken zusammenfasst, wirft den für schädlich erachteten Zünften der Reichsstädte vor, ihre politische, durch den Zutritt zum Rat erworbene Macht zu missbrauchen und sündhaft ihre eidliche Verp ichtung gegenüber Stadt und Gemeinwohl zu verletzen.¹⁷⁶² Die Zünfte werden beschuldigt, sich zur wechselseitigen Tolerierung ih-

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rer gewerblichen Betrügereien und ihrer Überteuerung verabredet zu haben, häu g Gesetze durchzusetzen, die weder der Kommune noch der Bürgerschaft nützten und den Wettbewerb fremder Anbieter zu beseitigten. Es wird deshalb vorgeschlagen, die Zünfte zu entpolitisieren und sie zu rein sozialen Verbänden (Gesellschaften) zu machen, wie sie in einigen großen Städten bestünden, und dadurch dem Rat die Macht zu geben, Verstöße gegen das Gewerberecht zu bestrafen. Heftig kritisiert wird sodann das ungezügelte Gewinnstreben der expansionistischen Handwerker, die in andere Gewerbe übergriffen und mit fremden Waren Handel trieben, sodass vier oder fünf Handwerker eine gleiche Menge an Produkten und Umsatz hätten, wie sie eigentlich für zwanzig reichen sollte. Verlangt wird nichts anderes als die Beschränkung der Handwerker auf ein einziges Gewerbe und die Rückkehr zum biblisch und angeblich kaiserrechtlich fundierten Nahrungsprinzip der Vorfahren.¹⁷⁶³ Das zünftige Nahrungsprinzip wird aber auch auf den freien Groß- und Fernhandel übertragen mit der Forderung, dass sich der Kaufmann auf eine Warengattung beschränken solle, was aber völlig an der Arbeitsweise des Fernhandels vorbeiging und etwa dem Risikosplitting des Handels und insbesondere Seehandels durch seine breit gefächerte Warenpalette ein Ende bereitet hätte. Der Zuschnitt der städtischen Wirtschaft war insgesamt vielgestaltiger, als das Modell einer handelsfeindlichen »geschlossenen Stadtwirtschaft« Karl Büchers oder die zünftisch denierte »Stadtwirtschaftspolitik« Max Webers dies ausweisen. Ein Rat mit einem hohen An-

1758 R. W, Geschichte der Stadt Basel, Bd. 2.1, Basel 1911, S. 530 f.; H.F, Handwerkerregiment (2.6). 1759 E. K, Die Wirtschaftsgesinnung des mittelalterlichen Zünftlers; R. R, Abschied vom »Prinzip der Nahrung«?; A. K, Die Zünfte (8.2–8.4), S. 278–282. 1760 Vgl. Geiler von Kaysersberg: Der kaufen will als wolfail er immer mag und einer verkaufet als thüer er verkaufen immer mag, denen beiden sol man daz heilig Sacrament nicht geben, […] das ist wider brüderliche liebe […]. Du solt deinen zimlichen gewin daruff setzen, deine müe und arbeit magst du wol darin schlahen […]. Zit. nach J. S, Studien zur Geschichte kapitalistischer Organisationsformen, S. 62. 1761 L. L, Die Preispolitik in München im hohen Mittelalter. 1762 H. K (Hg.), Reformation Kaiser Siegmunds (5), S. 266–274. 1763 Hantwerck sein darumb erdacht, daz yederman sein teglich prot damit gewynnen sol und dyenen, und soll nyeman dem andernn greiffen in sein hantwerck; damit schickt dye welt yr notturfft und mocht sich yederman erneren. Ebd., S. 270.

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teil an Fernhändlern, die ihre politische Stellung ihrer Wirtschaftsmacht verdankten, förderte die Interessen des Handels, und dies war wirtschaftspolitisch adäquat, wenn durch Fernhandel und Export gewerblicher Güter ein wesentlicher Anteil der Wertschöpfung des Sozialprodukts und des kommunalen Steueraufkommens erwirtschaftet wurde. Von Handwerkerzünften dominierte Regime tendierten zunächst verschiedentlich dazu, den Zünften weitgehende wirtschaftliche Selbstbestimmungs- und Aufsichtsrechte einzuräumen und die Absatzchancen der heimischen Meister durch Zunftreduktionen und Restriktionen gegenüber dem Wettbewerb fremder Anbieter zu fördern. Eine solche Politik fand aber auch Grenzen durch Interessendivergenzen und Kon ikte zwischen den Zünften und zünftige Oligarchisierungstendenzen, auch in der Notwendigkeit, angesichts wiederkehrender Mangellagen die Versorgung der Bevölkerung zu annehmbaren Preisen sicherzustellen, und durch den Druck, den die Masse leicht erregbarer und zu Aufruhr bereiter notleidender Konsumenten auf den Rat ausübte. Derartige Umstände erzwangen eine Politik des Gemeinwohls, das als höchste Handlungsmaxime außer Diskussion stand. Im Übrigen war eine reine Zunftherrschaft selten. Eine einseitige, doktrinär verfochtene Interessenpolitik – wie etwa zeitweise in Freiburg im Breisgau – ließ sich in der Regel kaum über längere Zeit aufrechterhalten, nicht zuletzt fanden ihre Gegner beim Stadtherrn Gehör. Letztlich war aber die Wirtschaftspolitik unterschiedlicher Ratsregime Ordnungspolitik, die an wirtschaftliche und soziale Sachverhalte anknüpfte und auf den gesellschaftlichen Frieden und damit auf das Gemeinwohl abzielte. Angesichts knapper Ressourcen war es eine Politik der Sicherung von Erwerbschancen mit dem Bemühen um Verteilungsgerechtigkeit, darüber hinaus aber eine Politik der Wirtschaftsförderung bis hin zu Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung. Es darf nicht übersehen werden, dass die Nah-

rungsidee nicht nur zünftig-genossenschaftlich ist, sondern auch der obrigkeitlichen Gemeinwohlpolitik mit dem inhärenten Gedanken der zuteilenden Gerechtigkeit (iustitia distributiva) innewohnt. 9.8.3.1 Angebots- und Marktregulierung Im patrizisch regierten Nürnberg durften Fremde Brot, Bier und Fische einführen und im Kleinhandel verkaufen; außerdem war die Fleischeinfuhr durch Landmetzger in der Regel zweimal wöchentlich erlaubt. Preistaxen gab es für fast alle Güter des täglichen Lebens, insbesondere für Brot, Wein und Bier. Die Qualität wurde vom Rat kontrolliert.¹⁷⁶⁴ Demgegenüber besaßen im zünftig regierten Zürich die Lebensmittelzünfte eine marktbeherrschende Stellung. Fremden wurde es fast unmöglich gemacht, Waren abzusetzen. Bis 1426 hatten die Fischhändler sogar das Recht, die Fischbänke auf dem Markt, auf denen allein verkauft werden durfte, selbst zu vergeben. Die Weinhändler und Bäcker durften sich zur Eintreibung ihrer Außenstände der Stadtknechte des Rates bedienen. Brot und Fisch unterlagen keiner Preisbindung, nur für Fleisch bestanden amtliche Preistaxen. Bei Bäckern und Metzgern sind Versuche zu beobachten, durch Mengenabsprachen das Angebot künstlich zu verknappen und die Preise in die Höhe zu treiben. Andererseits betrieb eine von den Kau euten beherrschte Stadt wie Lübeck, die in Übereinstimmung mit der Hansepolitik die Zünfte niederhielt und ihnen keine größere Autonomie gestattete, sondern das Handwerk vielmehr über die Zünfte (Ämter) kontrollierte, keineswegs eine handwerkerfeindliche Politik. Gewerbefördernde Maßnahmen, ein eingeschränktes Gästerecht, Zunftschließungen und Zunftreduktionen, Produzentenschutz durch Festpreise, die nicht unterschritten werden durften, der Schutz der ärmeren Brauer gegen kapitalkräftigere Zunftgenossen durch Kontingentierung von Braumaxima und Verordnung gleicher Pro-

1764 Eine Vielzahl von Beispielen aus verschiedenen Städten gibt W. F, Die Gewerbepolitik der patrizisch und der zünftlerisch regierten Stadt.

Kommunale Wirtschaftsordnung und obrigkeitliche Wirtschaftspolitik

duktionsbedingungen sowie ein protektionistisches Importverbot für in Lübeck selbst produzierte Rohstoffe (Leder) entsprachen weitgehend zünftlerischen Vorstellungen. Aufschlussreich ist nun gerade die Wirtschaftspolitik in Städten mit einer komfortablen formalen Zunftmehrheit im Rat. In Straßburg¹⁷⁶⁵ nden sich eine Reihe zünftlerischer Einkaufs- und Verkaufspreistaxen, Mindestlohntaxen gegenüber den Kunden, Höchstlohntaxen gegenüber Gesellen und Gliedern in einer Produktionskette, und zwar vor allem in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, während derartige Fälle im 15. Jahrhundert seltener sind oder sofort von der Ratsobrigkeit unterbunden wurden. Die Lebensmittelgewerbe, insbesondere die Bäcker und Metzger, wurden der strengen Aufsicht des Rates unterstellt, obwohl die Metzger mit den Krämern und Fischern zu den angesehensten und reichsten, d. h. auch mächtigsten Zünften gehörten. In verschiedenen Städten versuchte der Rat, vor allem die Brot- und Fleischversorgung in zähen und harten Auseinandersetzungen mit den Zünften und mit konsequenten, in Vielem ähnlichen Maßnahmen zu sichern. Durch ein Unterangebot, generell oder an preisgünstigen Sorten, sah man die Chancengleichheit der Allgemeinheit von Kunden und Produzenten verletzt. Den Straßburger Bäckern wurde in der Bäckerordnung von 1370, die im 15. Jahrhundert Neufassungen erfuhr, verboten, ohne Wissen, Willen und Erlaubnis des Rates interne Verordnungen zu machen. Damit eine ausreichende Angebotsmenge gewährleistet war, hatten die Bäcker mindestens drei Tage in der Woche zu backen, wobei die Menge pro Backvorgang freigestellt war. Im 15. Jahrhundert wurde eine feste Kontingentierung verordnet, doch sollte der geschworene Brotbäckermeister, der täglich den Markt zu beobachten hatte, bei Angebotslücken die Produktion autoritativ durch Verordnung von Produktionsziffern der Nachfrage anpassen.

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Bei Strafe verboten war ein Unterschreiten der Backtage in der Absicht, durch eine künstliche Produktionsdrosselung zur Bequemlichkeit und Gefälligkeit untereinander den Wettbewerb zu beseitigen. Der Rat bestimmte Güte und Preis der Brote und verlangte, dass die Bäcker für die ärmeren Bevölkerungskreise eine ausreichende Menge an Pfennigbroten und Halbpfennigbroten bereithielten. Die Brotschau lag nicht in Händen der Zunft, sondern wurde obrigkeitlich durchgeführt. Die Kommune schützte die Konkurrenz der preisgünstigeren Landbäcker, weil man ihrer zu einer ausreichenden Versorgung der breiten Bevölkerung zu annehmbaren Preisen bedurfte. Das Auftreten der Landbäcker auf dem Markt bedeutete zudem ein Politikum und diente der Domestizierung der einheimischen Bäcker. Pläne, durch ein Importverbot die Landbäcker zu veranlassen, ihre Produktion in die Stadt zu verlegen, um in Krisenzeiten von ihrem willkürlichen Verhalten unabhängig zu sein, zugleich der Stadt Menschen und Vermögen zuzuführen und infolge des Getreideeinkaufs nunmehr auf dem städtischen Markt den Stadtsäckel durch den Kornzoll und durch das Mahlgeld zu speisen, wurden von anderen für nicht realisierbar erachtet. Die Gegner wollten die Konkurrenz der Landbäcker in der bisherigen Form erhalten wissen, denn wenn sie ent ele und die heimischen Bäcker sähen, dass man völlig auf ihre Produktion angewiesen sei, so werdent sie so mutwillig und halsstarck, das nit wol mit inen zu überkommen were.¹⁷⁶⁶ Gemäß der Landbäckerordnung von 1454 durften die Landbäcker an drei Tagen der Woche Roggenbrot einführen und zu freien Preisen verkaufen, überdies ohne der amtlichen Brotschau zu unterliegen. Außerdem durften sie wöchentlich eine bestimmte Menge Getreide auf dem städtischen Markt kaufen, doch mussten sie die entsprechende Brotmenge dafür einführen. Von der Zunft waren schließlich noch zwölf Bäcker zu stellen, die jeweils ein Jahr lang auf Antrag von Bürgern gegen Lohn in den Häusern zu ba-

1765 J. B (Hg.), Straßburger Zunft- und Polizei-Verordnungen (2.2.–2.4), S. 86–129. 1766 Ebd., S. 115.

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cken hatten. Überdies löste der Rat die Hausbäcker 1478 aus der Bäckerzunft und damit aus der Abhängigkeit von ihr. Nicht wenige Städte – Zürich, Nürnberg, Erfurt, Frankfurt am Main – ließen auch Brot in kommunaler Regie herstellen. Entsprechend einer Straßburger Ratsverordnung von 1435 musste jeder in die Metzgerzunft aufgenommen werden, der das Geld für den Zunfteinkauf erlegen konnte, sodass die Zunft den Kreis der Genossen nicht willkürlich begrenzen konnte. Ferner wurde die amtliche Kommission für die Fleischbeschau, welche die Güte des Fleisches zu klassi zieren und das Fleisch den vom Rat festgesetzten Preisstufen zuzuordnen hatte, mehrheitlich mit Nichtmetzgern besetzt. Um die Jahrhundertwende wurde es den Bürgern gestattet, selbstgezogenes Vieh auszuhauen. Um die Versorgung mit Fleisch für jedermann, insbesondere auch für die Armen, sicherzustellen, untersagte der Ulmer Rat 1414 den Metzgern ihre interne Vereinbarung, das Angebot durch Einschränkung der Schlachttage zu verknappen, die Woche hindurch nur zu verarbeiten und zu verkaufen, was am Montag geschlachtet wurde, und mit einem neuen Angebot so lange zu warten, bis andere Metzger ihre Waren vollständig verkauft hatten. Alle Metzger sollten zu jeder Zeit soviel schlachten und verarbeiten, wie sie wollten und konnten, ihr ganzes Angebot ohne Rücksicht auf andere bereitstellen und an jedermann in kleinen oder großen Mengen verkaufen.¹⁷⁶⁷ Falls die Metzger sich an die Ordnung nicht hielten, wollte sie der Rat dazu mit Hilfe der ganzen Gemeinde der Zünfte dazu zwingen.¹⁷⁶⁸ Zur besseren Versorgung der Stadt mit Fleisch durften die Metz-

ger auf der städtischen Viehweide Schafe aufziehen, doch mussten diese, wenn die Verweildauer auf der Weide vierzehn Tage überschritt, der Tiere in Ulm geschlachtet werden und durften bei Strafe nicht weggetrieben werden.¹⁷⁶⁹ Da es dem gemeinen Nutzen der Stadt diene, erlaubte der Rat den Bäckern die Schweinehaltung zeitweise ohne Beschränkung, um Mängel in der Versorgung mit Schweine eisch und Schmalz zu beheben,¹⁷⁷⁰ dann in bestimmten Quotierungen, doch musste die Hälfte der Tiere in Ulm gelassen und den Bürgern verkauft werden, später wenigstens ein Drittel.¹⁷⁷¹ Auch die Zunft der Merzler (Lebensmittelkleinhändler) erhielt dieses Recht zu den gleichen Bedingungen.¹⁷⁷² Schließlich wurde folgende gesetzliche Regelung erlassen: Wollten Bäcker ihre Schweine aus der Stadt und an andere Orte treiben, hatten sie dazu die Erlaubnis des Bürgermeisters einzuholen. Dieser sollte die Metzger in Kenntnis setzen und ihnen zu bedenken geben, ob sie nicht die Schweine abkaufen wollten, damit der Bedarf für jedermann gedeckt sei. Die Metzger hatten sich dann zu äußern, ob der Bedarf an Schweine eisch in der Stadt für jedermann gedeckt sei und kein Mangel herrsche.¹⁷⁷³ Der Augsburger Rat stellte einen seit langem bestehenden erheblichen Mangel an Fleisch in der Stadt fest, bekundete, dass er ohne Erfolg deswegen viele Ratsentscheide und Ordnungen hinsichtlich der Metzger erlassen und mit diesen harte Worte gesprochen habe und bei Nachforschungen andernorts nirgendwo so hohe Preise wie in Augsburg habe ermitteln können. Deshalb verordnete er um des gemeinen Nutzens von Arm und Reich willen für ewige Zeiten einen allgemeinen freien Markt für Fleisch, den Bürger und Auswärtige als Anbieter mindestens an zwei

1767 C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm (2.2–2.4), Nr. 293, S. 166 f., Nr. 313 f., S. 176. 1768 Ebd., Nr. 296, S. 169 (1416). In ähnlicher Weise drohte der Augsburger Rat 1481 den widerspenstigen und ungehorsamen Webern (1466), Bäckern (1466, 1481) und Schneidern (1490). J. R, Für den Gemeinen Nutzen (4.1–4.3), S. 174–175, 179. 1769 C. M (Hg.), Das rote Buch der Stadt Ulm, Nr. 294, S. 168; Nr. 299, S. 170; Nrr. 305–306., S. 172 (Strafandrohungen). 1770 Ebd., Nr. 284, S. 157–158; Nr. 285, S. 158–159; Nr. 308, S. 172–173. 1771 Ebd., Nr. 286, S. 159–160. 1772 Ebd., Nr. 288, S. 161–162. 1773 Ebd., Nr. 312, S. 175–176.

Kommunale Wirtschaftsordnung und obrigkeitliche Wirtschaftspolitik

Tagen in der Wochen abhalten sollten und den die Metzger nicht behindern durften.¹⁷⁷⁴ Auf der anderen Seite kann beobachtet werden, was es für Folgen hinsichtlich von Preis und Qualität hatte, wenn, wie in Leipzig durch den Rat geschehen, der freie Fleischmarkt der Fremden aufgehoben wurde und die örtlichen Fleischer ein absolutes Monopol erhielten. Die Beseitigung der auswärtigen Konkurrenz wird in einer Eingabe der Universität an den sächsischen Landesherrn von etwa 1470 mit folgenden Beschwerden beklagt:¹⁷⁷⁵ Nachdem die Fleischer den Markt nunmehr alleine haben, versorgen sie den Markt nicht, wie es erforderlich wäre. Sie schlachten Fleisch von geringer Qualität, wie sie es den fremden Fleischern nicht zugestanden hätten. Dieses Fleisch verkaufen sie jetzt zum gleichen Preis wie das allerbeste, sodass das Volk in Kon ikt mit den Fleischhauern gerät und man sich untereinander handgrei ich um das Fleisch zieht und zerrt. Die bekannten Leute, die Mächtigen und diejenigen, die viel kaufen, seien es Geistliche oder Laien, erhalten das beste Fleisch, den Armen und denjenigen, die wenig kaufen, helfe Gott. Die Fleischer bieten das minderwertige (böse) übrige Fleisch an, so lange sie es wollen, denn wenn man es nicht kaufen will, muss man in den Fleischbänken kaufen. Die auswärtigen Fleischhauer mussten ihr Fleisch in Leipzig verkaufen und führten das übriggebliebene doch nicht wieder weg, damit es nicht verdarb. Dadurch wurde das Fleisch für den gemeinen Mann und die Studenten recht billig, und es kam jeden Marktag frisches Fleisch auf den Markt. Ein freier Markt kann nicht schaden, denn es ist zweifellos so, dass das Fleisch umso billiger ist, je mehr man auf den Markt bringt. Außerdem legen die fremden Fleischhauer ihr Geld wieder in der Stadt an. Wenn die örtlichen Fleischhauer beklagten, sie würden durch Freimärkte ihres Nutzens, d. h. ihrer Erwerbsmöglichkeiten, beraubt, so haben sie sich vorher nicht verschlechtert und an Zahl abgenommen, und selbst wenn es so sein sollte, ›so ist es besser,

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6 000 werden gut versorgt, als dass sich sechs, acht oder zehn, die das Handwerk ausüben, durch das Verderben der anderen übermäßig bereichern‹. Außerdem wird die Importpolitik der Fleischer kritisiert. Sie schlachten am meisten Fleisch, das sie billig und in großen Mengen in Schlesien, in der Lausitz und sonstwo im Osten kaufen, das von grober Konsistenz, alt und mager ist, während die fremden Fleischhauer gutes, junges und wohlschmeckendes Land eisch von Vieh brachten, das von ihnen selbst oder von ihren Nachbarn im Umland gezogen wurde. Es wird begrüßt, dass (1469) eine Fleischtaxe nach dem Pfund als Verkaufsgewicht eingeführt wurde, doch wird angeregt, das Fleisch auch getrennt nach Qualitätsstufen zu taxieren wie in Nürnberg und in anderen Städten, wo zwei oder vier Personen beauftragt seien, täglich das Fleisch nach seiner Güte einzuschätzen und den Preis festzusetzen. Der Rottweiler Rat verhängte wegen der Knappheit an Fleisch ein Ausfuhrverbot für alle Arten von Schlachtvieh. Die Bäckerzunft wurde 1429 bestraft, weil sie die Brotlaube nicht mit einer ausreichenden Brotmenge beschickt und die ihr verordnete Zahl von 60 Mastschweinen nicht aufgezogen hatte. Innerörtliche Verkäufer und Bürger, die in ihrem Stall Vieh mästeten, hatten es zunächst den örtlichen Metzgern zum Kauf anzubieten, erst wenn eine Einigung über den Preis nicht zustande kam, durften sie es frei und auch außerhalb der Stadt verkaufen. Die Zweiundzwanziger wandten sich gegen die Praxis, dass der Zunftmeister dem Bürgermeister erklärte, es sei derzeit zu viel Brot auf dem Markt, und ihn bat, weiteres Backen zu verbieten, bis das vorhandene Brot verkauft sei, und erwirkten eine Satzung, wonach jeder Bäcker ohne Rücksicht auf den anderen, wann immer und wie oft er wollte, backen sollte. Jeder einzelne Bäcker durfte aus seinem Laden heraus verkaufen, was und an wen es ihm nützlich erschien, doch hatte der Zunftmeister dafür zu sorgen, dass die öffentliche Brotlaube nie ohne

1774 C. M (Hg.), Das Stadtbuch von Augsburg (2.2–2.4), Nr. XXIII, S. 261–263. 1775 G. M (Hg.), Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 110, S. 349-351.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

Brot war. Andernfalls hatte die ganze Zunft jedes Mal eine Strafe von einem Pfund Heller zu zahlen.¹⁷⁷⁶ Der Rat Zürichs versuchte die Wehrfähigkeit der Stadt dadurch zu sichern, dass er bei Strafe gebot, Sehnen der Rinder nicht an Fremde, sondern nur an örtliche Bogner und Armbruster zu einem festgesetzten Preis zu verkaufen,¹⁷⁷⁷ und die Metzger verp ichtete, die anfallenden Sehnen auf dem Rathaus ›zu Händen gemeiner Stadt‹ abzuliefern.¹⁷⁷⁸ Äußerst instruktiv ist der entscheidende Kampf des Straßburger Stadtregiments gegen Vorkauf, Monopolpraktiken und subtile Preismanipulationen im Salzhandel im 15. Jahrhundert.¹⁷⁷⁹ Die örtlichen Kleinhändler kauften, sobald Salzfuhren in Straßburg anlangten, das Salz auf, um es dann nach Ausschaltung des Wettbewerbs zu einem von ihnen diktierten teuren Preis zu verkaufen. Der Rat ordnete deshalb an, dass Importeure ihr Salz zwei Tage lang auf offenem Markt im Detailhandel anbieten mussten und erst am dritten Tag das nicht abgesetzte Salz an den Großhandel abgeben durften. Außerdem untersagte der Rat Preisabsprachen örtlicher Krämer mit fremden Anbietern, wonach die Fremden ihr Salz zum höchstmöglichen Preis verkaufen sollten, damit die Einheimischen ihr Salz umso teurer verkaufen konnten. Er verlangte deshalb, dass die Einheimischen ihr Salz zum gleichen Preis wie die Fremden das ihre anzubieten hatten. Damit wurde indirekt der Salzpreis taxiert, ohne dass Importeure wegen gebundener Preise vom Markt abgehalten wurden. Angebrochene Mengen wie etwa Salzfässer mussten zum Anfangspreis vollständig verkauft werden. Weil die Einheimischen bislang viele Salzfässer ostentativ auf dem Markt liegen hatten, was ein Überangebot vortäuschte und fremde Anbieter davon abhielt, den Markt überhaupt noch aufzusuchen, durfte kein Bürger ein Salzfass länger als 14 Ta-

ge auf dem Markt liegen lassen; er musste von diesem Salz jeden Tag anbieten und zu dem Preis der fremden Händler verkaufen. Bei Versorgungsengpässen im Winter oder zu anderen Zeiten, wenn der Salzpreis unangemessen stieg, sollte Salz aus dem kommunalen Bestand auf den Markt gebracht und etwas unter dem herrschenden Marktpreis verkauft werden. Salz von außerhalb, das im Großhandel verkauft werden sollte, und die Reste des Detailhandels, die nunmehr zusammengefasst im Großen verkauft werden sollten, waren zunächst der Stadt und dem städtischen Salzherrn anzubieten. Damit die örtlichen Märkte gestärkt wurden, verzichtete der Rottweiler Rat auf den Einfuhrzoll für Großvieh und Pferde, beließ es aber beim bisherigen Schweine- und Kornzoll. Der Straßburger Rat wiederum reagierte wie andere Städte auf Mangelsituationen und Teuerung, so etwa bei Wein, mit Ausfuhrverboten. Der Ulmer Rat untersagte die gemeinschaftliche Kaufmannschaft Einheimischer mit Gästen, den Vorkauf der Merzler und baute das Alleinverkaufsrecht der Bäcker, Fischhändler, Merzler und später auch der Metzger ab. 9.8.3.2 Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsförderung Fernhandelsstädte förderten den Handel durch den Aufbau eines möglichst weiträumigen Netzes günstiger Handelsprivilegien in fremden Orten und Ländern und versuchten, es durch Geldleistungen, notfalls durch wirtschaftlichen Druck oder wie die Hanse mit bewaffneter Hand zu sichern. In Städten, die ein stadtwirtschaftlich bedeutendes Exportgewerbe aufzuweisen hatten, wurden die Interessen des Handels als die des Arbeitgebers des Exportgewerbes zur Geltung gebracht oder das Handwerk den Erfordernissen des Fernhandels untergeordnet. Damit sich das Zürcher Seidengewerbe auf den Frankfurter Messen und in den Absatzge-

1776 H. G (Hg.), Das ältere Recht der Reichsstadt Rottweil (2.2.–2.4), Nrr. 94, 115–122, 369, 424 (Metzger und Vieh); Nrr. 88, 249–254 (Bäcker). 1777 H. Z-W/H. N (Hg.), Die Zürcher Stadtbücher (2.2–2.4), Bd. I, Nr. 308, S. 145–146 (1348). 1778 Ebd., Bd. II, Nr. 204, S. 174 (1423); vgl. Nr. 248, S. 217. 1779 J. B (Hg.), Straßburger Zunft- und Polizei-Verordnungen, S. 422–426.

Kommunale Wirtschaftsordnung und obrigkeitliche Wirtschaftspolitik

bieten in Polen und Schwaben sowie in anderen Ländern, das waren Ungarn, Frankreich und selbst Italien, behaupten konnte, erließen der Rat und die Bürger der Stadt im 14. Jahrhundert Vorschriften für Produktion, Versand und Verkauf, die festgestellte Mängel beheben sollten.¹⁷⁸⁰ Dem Fernhandel lag daran, eine möglichst große Warenproduktion mit hohem Qualitätsstandard absetzen zu können. Der Nürnberger Rat lehnte deshalb als zünftlerisch bezeichnete Bestrebungen ab, durch verschiedene Maßnahmen die Zahl der Gewerbetreibenden einzuschränken mit dem Ziel, die Beschäftigungslage zu sichern, obwohl er in anderen Fällen durchaus die Zahl der Beschäftigten regulierte. Eine hohe Exportproduktion, die vom Handel vertrieben wurde, schuf Beschäftigungsmöglichkeiten, barg jedoch auch konjunkturelle Risiken. Der Ulmer Rat¹⁷⁸¹ minderte 1403 den Zuzug von Webern vom Lande und aus anderen Städten durch ein fünähriges Berufsverbot für Neuankömmlinge, damit die Landweber auf den Dörfern blieben und nicht bei rückläu ger Konjunktur mit Arbeitslosigkeit dem städtischen Almosen zur Last elen, sorgte aber zugleich dafür, dass die Landweber (Gäuweber) ungehindert und ohne der städtischen Schau zu unterliegen, vorerst ihre Produkte auf dem Markt absetzen konnten. Barchent war das wichtigste Ulmer Exportgut, sozusagen ein Welthandelsprodukt, bei dem es auf die Fähigkeit zu kontinuierlicher Lieferung ankam. Durch Aufrechterhaltung der preisgünstigen ländlichen Konkurrenz, deren Produktion mengenmäßig die der Stadtweber übertraf, konnte im Interesse des Handels und der Stadt für die Barchentproduktion stets auf ein ausreichendes und preisgünstiges Leinenangebot zurückgegriffen werden. Allerdings wurden die ländlichen Produkte immer wieder der städtischen Schau unterworfen, für die Gebühren

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erhoben wurden und die durch rigide Qualitätskontrollen eine prohibitive Wirkung erzeugen konnte. Forderungen der Weber oder Grautucher, die in Ulm erst nach Einrichtung der Zünfte als fremdes Gewebe entstandene Barchentproduktion ihrer Zunft zuzuweisen, lehnte der Rat ab und bestand weiterhin auf der von ihm ausgeübte Regie. Im Interesse des Exports und seiner Marktchancen verordnete er strenge Qualitätsvorschriften – Kaufmannsgut nannte man in Köln den hohen Qualitätsstandard –, sicherte die Qualität durch gebührenträchtige Kontrollen auf verschiedenen Fertigungsstufen, ließ für die verarbeitenden Karterknechte nur Zeitlohn zu, da er dem Stücklohn einen qualitätsmindernden Effekt zuschrieb, und fror die Löhne ein, um eine Verteuerung der Produktion zu verhindern und die Wettbewerbsfähigkeit im Interesse der Kau eute zu sichern. Erst 1457 gab der Ulmer Rat der Weberzunft, die als größte Zunft drei Mitglieder im Großen Rat und den Zunftmeister im Kleinen Rat sitzen hatte, insoweit nach, als er die Produktionskapazität der einzelnen Gäuweber auf je zwei Stühle beschränkte und von ihnen ein höheres Schaugeld als von den Einheimischen erhob. Insgesamt passte sich der Rat, wie er selbst bekundete, mit seinen Verordnungen notwendigerweise den Entwicklungen des konjunkturanfälligen Gewerbes an. Nicht jedoch wurde den Landwebern der Markt zeitweise verschlossen, wie dies in Memmingen und Biberach der Fall war.¹⁷⁸² Angesichts einer krisenhaften Absatz- und Produktionslage beschnitt der Memminger Rat 1440 in einer Ordnung für Regentücher, einem dem Regenschutz dienenden Mischgewebe ähnlich dem Barchent, die Produktionskapazitäten von Nichtmitgliedern der Weberzunft und untersagte den Bürgern, außerhalb der Stadt Gewebe wirken zu lassen. Hinsichtlich der Barchentproduktion versuchte die Weberzunft die Position der Weber gegenüber den Kau euten

1780 G. M (Hg.), Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Einleitung), Nr. 54, S. 206. 1781 E. N, Ulms Baumwollindustrie im Mittelalter (9.1–9.2); W. F; B. K, Der Verlag im Spannungsfeld von Stadt und Umland, S. 86 ff. 1782 R. K , Memmingen im Spätmittelalter (1347–1520), in: J. J (Hg.), Die Geschichte der Stadt Memmingen, Stuttgart 1997, S. 195 f.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

zu stärken; sie erreichte 1447, dass die Kaufleute die zu verarbeitende Baumwolle zunächst der Zunft insgesamt vorlegen mussten und erst beim Scheitern einer gemeinsamen Vereinbarung über einen Zunftkauf in Verhandlungen mit den einzelnen Meistern eintreten durften. Bei anhaltender Krisenhaftigkeit stellte der Rat auf Drängen der Zunft 1467 ein Verbot der Zulassung der Dorfweber zur Warenschau in Aussicht, ließ aber bald darauf wieder davon ab, damit Gäuweber nicht nach Ulm abwanderten. Erst 1482 erreichte die Zunft im Zusammenhang einer Ordnung für Golschen, einer groben Leinwandsorte, ein Verbot und 1489 ein generelles Verbot, das jedoch nur bis 1496 Bestand hatte, doch bereits 1510 musste der Rat im Kon ikt mit den Webern den Landwebern verbieten, Golschen an die städtische Schau zu bringen. Im Jahre 1518 kam es zu einer weiteren Konfrontation zwischen Rat und Zunft. Neun Mitglieder des Vorstands der Zunftelfer wurden kurzzeitig gefangengesetzt, weil sie sich in der Sache mit den Ulmer Webern in Verbindung gesetzt hatten, doch musste der Rat das Verbot nunmehr im engeren Bereich von zwei Meilen bestätigen. Die Interessen- und Kon iktlinie verlief in Ulm und Memmingen zwischen den Kau euten, die im Falle des Barchenthandels als Verleger auftraten und denen an der Sicherung einer stets ausreichenden, kontinuierlichen Produktion mithilfe der Landweber gelegen war, die zudem im Nebenerwerb billiger produzierten und lieferten, und auf der anderen Seite der Weberzunft, die für die Erwerbsmöglichkeiten und die Auslastung der städtischen Weber zu sorgen hatte und eine monopolähnliche Stellung anstrebte. Rottweiler Kau eute, die sich zur Frankfurter Messe begaben, durften – zur Stützung der örtlichen Produktion – an Tuchen gewöhnlicher Qualität nur Rottweiler Tuche, nicht auch solche der engeren und weiteren Umgebung, dort zum Verkauf anbieten, wohl aber schöne Stücke und hochwertigere rheinische Tuche.

1783 W. F, Gewerbepolitik. S. 40, 24 f.

Um die Wettbewerbsfähigkeit der Exportgüter zu gewährleisten, hielt der Rat durch Lohntaxen die Produktionskosten auf einem festen Niveau. Je mehr ein Gewerbe für den Handel arbeitete, desto schärfer waren die Qualitätsnormen und desto penibler wurde ihre Überwachung gehandhabt, damit angestammte Absatzmärkte erhalten blieben oder neue hinzugewonnen werden konnten. Wie etwa Nürnberg und Lübeck bestimmte Handwerke zu gesperrten Handwerken erklärten, um durch die Sicherung des Produktionsgeheimnisses deren überragende Stellung auf den Märkten zu erhalten, so bemühten sich beide Städte auf der anderen Seite um die Ansiedlung neuer Gewerbe.¹⁷⁸³ Der Lübecker Rat ließ im Jahre 1500 als Freimeister außerhalb der Zunft einem fremden Gürtler zu, der auf eine bislang unbekannte Weise Gürtel anfertigte. In großem Maßstab bemühte sich der Nürnberger Rat in den 1480er Jahren, die Barchentweberei in der Stadt als kräftiges Exportgewerbe in Konkurrenz zu Augsburg und Ulm zu etablieren. So gewährte er 1486 fremden Barchentwebern Gewerbefreiheit; 1488 beschloss er, 20 Barchentweber aufzunehmen, die unentgeltlich das Bürger- und Meisterrecht erhielten und gegen Bürgschaft ein ratenweise binnen fünf Jahren zurückzuzahlendes Darlehen von 10 Gulden als Startkapital. Außerdem baute die Stadt im selben Jahr für die aus Augsburg, Ulm, Biberach und Weißenhorn zugewanderten Barchentweber eine Siedlung mit 21 Weberhäuschen in 7 Häuserzeilen, die sie gegen günstigen Zins vermietete. Im folgenden Jahr kaufte der Rat Gerät und Musterproduktionen aus Ulm und Augsburg und warf Spesenbeträge für Radspinnerinnen aus, die aus Schwaben gekommen waren. Im Jahre 1499 verhandelte der Rat mit einem talentierten Koblenzer Geschützgießer über dessen Zuzug. Seit 1527 bemühte er sich, Weber sowohl für leichten Wollstoff (Arras) als auch für den schweren Seidenstoff Atlas aus der Stadt Arras und den Niederlanden in Nürnberg anzusiedeln, indem er nanzielle Unterstützung, Steu-

Wirtschaftliche Strukturen, Trends und Konjunkturen 995

erfreiheit und die Bereitstellung geeigneter Räume anbot. Im Jahre 1569 machte er englische Tuchfärber und Tuchbereiter aus Antwerpen in Nürnberg ansässig. Bereits im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts hatte der Münchener Rat ein städtisches Barchentgewerbe begründet und gefördert, wobei er auch das sozialpolitische Ziel verfolgte, der ärmeren Bevölkerung mit den einfachen Produktionsabschnitten Arbeitsplätze zu schaffen. Ähnliche Bemühungen gab es in Dinkelsbühl, Esslingen und Frankfurt am Main. Die politische Solidarität der Hansestädte und der durch sie ermöglichte hohe Grad an Freizügigkeit scheinen im Hansebereich das Gesellenwandern, aber auch das Wanderwesen bei spezialisierten Einzelhandwerkern wie Glockengießern, Uhrmachern, Orgelbauern und Rüstungstechnikern gefördert zu haben. Wenn es in öffentlichem Interesse lag, schützte der Rat diese freien Handwerker und Wanderhandwerker, von denen die meisten Impulse für eine imitatorische Fortentwicklung der Produktionstechnik ausgingen, gegenüber dem eingesessenen zünftigen Handwerk. Der Rat stellte Zünften vielfach geeignete Häuser und Räume als Lager, Verkaufs- und Produktionsstätten – Manghäuser, Färberhäuser, Bleichen – und Maschinen wie Walk-, Schleif-, Öl- oder Pulvermühlen zur Verfügung. Darüber hinaus gab es in Eigenregie des Rates oder durch Pächter geführte kommunale Gewerbebetriebe wie Kalkbrennereien, Kupfermühlen, Messing- und Silberhütten, Geschützgießereien, Ziegeleien und Steinbrüche, die zwar in erster Linie den öffentlichen kommunalen Bedarf deckten, in Einzelfällen jedoch als Zulieferbetriebe überwiegend den Rohstoffbedarf der Privatwirtschaft deckten.¹⁷⁸⁴ Das skalische Interesse scheint dabei nicht von überragender Bedeutung gewesen zu sein. Sofern diese Betriebe nicht der städtischen Verteidigungspolitik dienten, stützten sie wichtige Gewerbe in der Stadt oder förderten, wie etwa die

Ziegeleien in Norddeutschland, den Backsteinbau im privaten Bereich. Es waren vielfach Betriebe, die ein Investitionskapital erforderten, wie es in der Höhe von den Handwerkern nicht aufgebracht werden konnte.

9.9 Wirtschaftliche Strukturen, Trends und Konjunkturen Über die moraltheologischen und juristischen Doktrinen hinaus, die allerdings auf empirische Beobachtungen des Wirtschaftslebens Bezug nehmen, sind von spätmittelalterlichen städtischen Zeitgenossen in Konfrontation mit schwerwiegenden wirtschaftlichen Problemen bemerkenswerte analytische Erkenntnisse zu ökonomischen Strukturfragen und Zusammenhängen überliefert. Auch kam um die Mitte des 15. Jahrhunderts in der Diskussion um die wirtschafts- und sozialschädlichen Folgen der vielen Fehden im Reich für Handel und Gewerbe die Vorstellung von einem Wirtschaftsraum der deutschen Nation auf.¹⁷⁸⁵ Um einen Eindruck von spätmittelalterlichem wirtschaftsund nanzanalytischem Denken zu vermitteln, sollen eindrucksvolle Beispiele näher dargestellt werden. Dabei geht es in zwei prägnanten Fällen einmal um die in ationären Wirkungen einer künstlich durch minderwertige Münzen vermehrten Geldmenge, zum andern um die Folgen einer Minderung des ohnehin prekären Bargeldvolumens durch Kriegssteuern, die keinen redistributiven Effekt hatten, deren Ertrag der Wirtschaft entzogen wurde und abwanderte. Der Augsburger Kaufmann und Chronist Burkard Zink war aufgrund seines wirtschaftlichen Sachverstands in der Lage, äußerst lebensnah und differenziert die in ationären Erscheinungen infolge der Münzverschlechterungen und massiven Geldvermehrungen durch böse Pfennigmünzen mit reduziertem Silbergehalt

1784 R. S, Die Handwerker in den nordwestdeutschen Städten des Spätmittelalters ( 9.1–9.2), S. 56 f.; B. F, Die gewerblichen Eigenbetriebe der Stadt Hamburg im Spätmittelalter; U. D/G. F, Eigenbetriebe niedersächsischer Städte im Spätmittelalter. 1785 E. I, Die Bedeutung der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (9.0), S. 518 f. (Anm. 184).

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

mit der Folge einer enormen Verteuerung der Goldmünzen und der Wirtschaftsgüter monetaristisch und mit schubartig verstärkter Nachfrage zu erklären und die Auswirkungen real und zugleich modellhaft-hypothetisch darzustellen.¹⁷⁸⁶ Es handelte sich um minderwertige Silberpfennige, die in der Grafschaft Öttingen und in den Herzogtümern Bayern und Österreich (Schinderlinge) in den Jahren 1458 bis 1460 kursierten. Infolge der Münzverschlechterung stieg Zink zufolge der Kurs des ungarischen Guldens von 7 Schillingen, das sind 210 Pfennige bei einem Wertverhältnis von 30 Pfennigen pro Schilling, auf 8 und dann 12 Schillinge (360 Pfennige) und erreichte schließlich 1460 am Ende der Periode einen Kurs von 2 400 Pfennigen. Niemand wollte in dem österreichischen Währungsgebiet die Münzen gerne annehmen; in vielen Städten verteuerten sich Brot, Wein und andere Nahrungsmittel, sodass arme Leute an den Rand des Hungertodes gerieten. Ein armer Mann, der am Tag für 10 bis zwölf Pfennige arbeitete, konnte für seinen nominellen Tagelohn nicht einmal mehr das übliche Pfennigbrot kaufen. Außerdem stiegen die Preise in der Gastronomie und verteuerten sich Gebrauchsgüter wie Schuhe. Die massenhaft in Graz in Anwesenheit Kaiser Friedrichs III. geschlagenen minderwertigen Münzen wurden in Tonnen nach Wien und in andere Städte gebracht, und wer dafür Gulden kaufte, musste am nächsten Tag schon 20 oder 20 Pfennige mehr dafür bezahlen. Jedermann hatte jedoch viel Münzgeld und bezahlte seine Schulden mit diesen Münzen, die in Österreich angenommen werden mussten, weil sie eine Zwangswährung (werung) darstellten. Vor allem wurden damit die armen Leute mit ihren Waren wie insbesondere Wein ausgekauft. Augsburger Kau eute wie die Arzt, Sulzer und Meuting, die sich in Geschäften in Wien aufhielten, mussten sich gleichfalls in der gesetzlichen Pfennigwährung bezahlen lassen, setzten aber, um größeren In ationsverlusten zu entgehen, den gesamten Münzbestand sofort in Wein, Pferde und andere

Güter um, die sie in Augsburg in guter Währung wieder verkauften. Es gab in Österreich Leute, die durch die In ation ruiniert wurden und solche, die sich bereicherten. Zink zeigt schließlich noch die Gefahr eines Auskaufs der Stadt Augsburg an sämtlichen wertvollen Handelsgütern und an Immobilien durch die Bayern mit massenhaft eingeführtem schlechtem Geld auf, was eingetreten wäre, wenn man die bösen Münzen auf Dauer in die Stadt gelassen hätte. Zunächst kamen Münchener mit ihrer dort geprägten Pfennigmünze nach Augsburg, um dort zu den beiden regelmäßigen wöchentlichen Terminen der Warenschau Barchent, aber auch Gulden einzukaufen, wobei sie höhere Preise zahlten und zum Wohlgefallen der Weber die Preise für Barchent von Warenschau zu Warenschau, aber auch der Preis für den wertstabilen Gulden von Tag zu Tag stiegen. Als der Kurs der bayerischen Pfennigwährung rasch ver el, wurde sie in Augsburg, nachdem sie zunächst nur noch für den Handel mit Auswärtigen erlaubt worden, auf Betreiben rechtschaffener, kluger und der Stadt treuer Bürger als Zahlungsmittel gänzlich verboten. Dies geschah gegen die Meinung von Kreisen, wonach man die bayrische Münze wegen einer sonst eintretenden Knappheit an baren Zahlungsmitteln nicht entbehren könne und sie deshalb zuzulassen sei. Stattdessen griff man jedoch, um monetäre Engpässe zu vermeiden, auf die gute Nürnberger Münze zurück, die in Franken und im Riesgebiet gerne genommen wurde, und ergänzte sie durch alte Münzen aus Landshut, Ingolstadt, Amberg, Passau und Augsburg selbst. Damit hatte man genügend Bargeld für den Handel und man brachte dank der guten Münzen alle notwendigen Güter wie Wein, Getreide oder Schmalz nach Augsburg, denn in Bayern konnte niemand mit der dortigen Münze etwas kaufen, weil niemand sie mehr annehmen wollte. In konsequenter Extrapolation empirischer Erscheinungen erläutert Zink den hypothetischen wirtschaftlichen Auskauf Augsburgs

1786 Die Chroniken der deutschen Städte (Einleitung), Bd. 5, S. 222–224, Beilage VII, S. 425–428.

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durch bayerische Interessenten, wenn man sich nach einer anfänglichen Überrumpelung nicht gegen das Geld gewehrt hätte. Die Bayern hätten Tonnen ihres Münzgeldes nach Augsburg gebracht und Häuser, sämtliche Sorten von Gewürzen, sämtliche Arten von Textilien, Wein aus dem Weinstadel und Anderes aufgekauft, denn sie kauften, wie es sich anfänglich zeigte, leichtfertig und zu höheren Preisen als andere, weshalb man ihnen gerne verkaufte. Wenn die Münzen dann verboten worden wären, was auch bald geschah, hätte jemand für einen Erlös – in Pfennigwährung – im Wert von 100 Gulden kaum mehr 10 Gulden gehabt, als hätte er beim Verkauf anstelle von 100 nur 10 Gulden erhalten. Tatsächlich seien in Österreich und Bayern und in manchen Städten außerhalb dieser Gebiete, viele, denen man ihren Wein und ihre Weingärten abgekauft habe, wegen der erhaltenen schlechten Münze ruiniert worden. Das Marktgeschehen mit Angebot und Nachfrage mit den Folgen für die Preisentwicklung gehörte ohnehin zu den geläu gen Überlegungsmustern von Geschäftsleuten und von Ratsherren, die den öffentlichen Markt zu beaufsichtigen hatten. Diese ließen zur Angebotssicherung wichtige Handelsgüter wie Getreide ohne Taxierung frei uktuieren und gingen sowohl gegen eine kartellartig preistreibende Angebotsverknappung als auch eine die Konkurrenten abschreckende Vortäuschung von Überangebotsmengen vor. In komplexe monetäre, wirtschaftliche, konjunkturelle, soziale und demogra sche Zusammenhänge führen Stellungnahmen von Reichsstädten zu dem Projekt einer allgemeinen Reichssteuer zur Finanzierung des Türkenkriegs in Form einer Ertragsteuer von 10 Prozent (Decima) des Regensburger Reichstags von 1471 und ein Gutachten hinein, das der Frankfurter Jurist Dr. iur. Johann Gelthaus und der Stadtschreiber Ludwig Waldeck dem Frankfurter Rat zu der auf dem Augsburger Reichstag von 1474 revidierten Fassung des Steuervor-

habens erstatteten.¹⁷⁸⁷ Sie gingen mit der Intention der Ablehnung einer solchen Steuer der Frage nach, welche Auswirkungen auf die Wirtschaft von der Erhebung einer geldwerten allgemeinen Steuer anstelle der – von Reichsständen und Reichsstädten nach ihren Quoten zu entrichtenden – Matrikularumlagen und der Abschöpfung von Kaufmitteln zu erwarten waren. Dabei kamen sie in umfassender Weise auf monetäre, konjunkturelle, ferner soziale und damit verbunden demogra sche Sachverhalte und auf Handelsbräuche zu sprechen. Dabei ist die Argumentation mit dem Extremfall und seinen Konsequenzen im Mittelalter eine Methode, generelle Aussagen zu formulieren. Nicht um die Reichssteuer selbst, sondern um die aufgewiesenen Zusammenhänge soll es hier gehen. Als ökonomischen Haupteinwand gegen die Ertragsteuer von 10 Prozent äußerten die städtischen Gutachter 1471 ihre Auffassung, dass in der deutschen Nation kein entsprechendes Bargeldvolumen vorhanden sei, um eine solche Steuer mit dem entsprechenden Steuerertrag aufzubringen. Ferner machten sie hinsichtlich der Besteuerung des Arbeitsertrags der Handwerksgesellen und Handwerksmeister mit pauschalen Steuerbeträgen monetäre Probleme der Valuten und Paritäten und solche der Beschäftigungsverhältnisse geltend. Die Wertdifferenzen der regionalen Pfennigwährungen wurden für so diskrepant erachtet, dass im Extremfall ein Geselle in einem Land doppelt so hoch veranschlagt sein konnte als in einem anderen. Die schwankende Relation zwischen Pfennig und Goldgulden könnte dazu führen, dass ein Handwerksgeselle höher als der Meister selbst veranschlagt und belastet werde. Regional variierten auch die Beschäftigungsverhältnisse der Gesellen von einer Woche, einem Monat oder mehr oder weniger als einem halben Jahr, sodass der vorgesehene pauschale Steuerbetrag nicht der tatsächlichen Lebenssituation gerecht wurde. Ein zentraler und von den Städten immer wieder herausgestellter Einwand gegen die Steu-

1787 E. I, Reichs nanzen und Reichssteuern (3), S. 161–181, bes. S. 176–181; ., Prinzipien, Formen und wirtschaftliche Auswirkungen von Besteuerung (4.8), S. 165–177, bes. S. 170–177.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

er bezieht sich auf das nicht verfügbare Bargeld im nationalen Wirtschaftsraum. Dies wurde von ihnen mit erhöhten Ausgaben der Kommunen für ihre Verteidigung und mit kriegsbedingt rezessiver Wirtschaftstätigkeit von Handel und Gewerbe begründet. Die Frankfurter Gutachter wählten 1474 einen anderen, generelleren Ansatz. Sie erklärten die zu geringe Geldmenge insbesondere an Goldwährung monetär – möglicherweise in Vorwegnahme des Greshamschen Gesetzes – mit der Prägung schwergewichtigen Münzen in der deutschen Nation, die aus deutschen Landen abwanderten, ferner mit massiven Geldab üssen an die Kurie in Rom, an den Kaiserhof in Österreich, nach Venedig und in andere Länder, d.h. mit direkten Zahlungsverp ichtungen und mit einem Handelsgefälle, einer negativen Zahlungsbilanz im internationalen Wirtschaftsverkehr. Die Bargeldknappheit entfaltet den Gutachtern zufolge ihre schädlichen Wirkungen im Zusammenhang mit den vorhandenen Naturalwirtschaften, wenn es darum geht, dass die Empfänger von Naturalrenten zur Erfüllung ihrer Steuerp icht Korngülten am Markt zu Geld machen müssen und dabei einen ruinösen Preisverfall erleiden. Dieser wird nicht mit einem von der Steuer ausgelösten temporären Überangebot, sondern eben mit dem knappen Geld begründet. Ähnlichen Schwierigkeiten begegneten auch diejenigen, die der Besteuerung ihrer nicht um Zins ausgegebenen Erbgüter unterlägen und auf diese Güter zur Steuerleistung oder für andere Zwecke Kredite im Wege Bestellung eines Grundpfandrechts aufnehmen wollten. Kredite seien in dieser Situation nur zu wucherischen Bedingungen zu erhalten. Es wird angenommen, dass das Vierfache der Kreditsumme verpfändet werden müsse. Geschädigt wird durch die Steuer auch der Kaufmann, der für die Steuerleistung Bargeld bereitstellen muss, von Berufs wegen aber zur Erweiterung seines Geschäftsumfanges, und das ist seine besondere Leistung, die Geldknappheit durch bargeldlose Handelspraktiken und Geldsurrogate, durch die Schöpfung von Giralgeld und durch den Kredit zu überwinden versucht.

Die Gutachter machen an dieser Stelle deutlich, dass es zu den unverzichtbaren Handelsgewohnheiten gehört, dass die Kau eute keineswegs stets mit Bargeld ihre Geschäfte abwickeln, sondern häu g und in größerem Maße den Borgkauf (Warenkredit) in Anspruch nehmen, Baratthandel treiben – bei dem Ware gegen Ware getauscht und Geld nur als Wertmaßstab bei der Preisbestimmung der Ware fungiert – , ferner zum Wechselbrief als Kreditinstrument und zu Sachverrechnungen (sachen gegeneinander) greifen, womit wechselseitige Lieferungsgeschäfte, aber auch und Kontokorrentverrechnungen gemeint sein können. Deshalb sei so viel Geld, um damit die wertmäßig anhand des umgeschlagenen Warenbestands berechnete Steuer, eine Steuer von 4 Prozent auf den Handelsgewinn, bezahlen zu können, nicht im Lande, wie es der Fall wäre, wenn alle Geschäfte in bar getätigt würden. Völlig untragbar erscheint die Steuer für die lediglich von ihrem Arbeitseinkommen und Lohn lebenden Handwerker, Gesellen, Tagelöhner und Dienstboten, die zur Kategorie des gemeinen Mannes zusammengefasst werden. Sie seien infolge der Kriege und anderer Beschwernisse völlig verarmt und würden zudem von der konjunkturellen Steuerwirkung betroffen, da die Steuer den einzelnen konsumierenden Haushaltungen Kaufmittel entzöge, die zudem durch die Verwendung für den Türkenkrieg aus dem Lande abwandern würden. Der Einkommensstarke, der narhafftig und riche manne, würde auf die steuerbedingte Einkommensminderung mit einer Reduktion seines Aufwands für Kleidung und andere geringfügigere Gebrauchsgüter reagieren, sodass der Handwerker durch den ruinösen Nachfragerückgang seine Erwerbsmöglichkeit und Arbeit verlöre mit der Folge, dass er zur Suche nach Arbeit wegziehen müsse. Auch der Augsburger Rat rechnete für die Masse der Handwerker wegen des eintretenden Mangels an Barschaft und Geld infolge der allgemeinen Geldsteuer mit einem Rückgang an Erwerbsmöglichkeiten bis hin zu sozialer Unordnung und Verarmung. Der Entzug von Bargeld

Wirtschaftliche Strukturen, Trends und Konjunkturen 999

durch die Steuer wirkt sich seiner Ansicht nach wegen eines grundsätzlichen Überwiegens naturalwirtschaftlicher gegenüber geldwerten Einkünfte und eines deswegen ohnehin beschränkten Geldvolumens deshalb so nachhaltig aus, weil nur der geringste Teil der Grundrenten, der Gülten und Nutzungen, in Bargeld anfalle. Außerdem befürchtete der Rat durch die Geldabschöpfung eine Verteuerung aller lebensnotwendigen Verbrauchsgüter, war sich des Arguments aber nicht ganz sicher. In der Forschungsdiskussion um die Krisenhaftigkeit und die vielfältigen Krisenerscheinungen des Spätmittelalters kommt der Frage nach der Wirtschaftsentwicklung eine grundlegende Bedeutung zu. Gegenüber der hochmittelalterlichen Expansionsphase des 12./13. Jahrhunderts mit Bevölkerungswachstum, Intensivierung des Landesausbaus, Vermehrung der Siedlungs- und Anbau ächen, Städtegründungen, Ostsiedlung, Aufschwung von Handel und Gewerbe, Ausweitung der Marktver echtung und Entfaltung der Geldwirtschaft erscheint das Spätmittelalter seit der Mitte des 14. Jahrhunderts als Epoche wirtschaftlicher Stagnation mit einer »Dynamik der Schrumpfung«, von Struktur- und Anpassungskrisen und von monetären Krisen infolge von Münzverschlechterungen und Kontraktionen im Geldumlauf durch den Rückgang der Edelmetallproduktion und Handelsbilanzde zite. Die anhaltende Stagnation sei erst etwa seit 1470 einem langfristigen Wiederanstieg der Wirtschaftsleistung gewichen.¹⁷⁸⁸ Geprägt ist dieses Bild einer säkularen Wirtschaftsdepression auch durch die Annahme einer Agrardepression¹⁷⁸⁹, genauer eines langfristigen Verfalls der Getreidepreise von 1370/80 bis etwa 1470/80 infolge des scharfen Bevöl-

kerungsrückgangs und sinkender Nachfrage bei gleichzeitig höherer Produktivität des Ackerbaus bis zum Wiederanstieg der Bevölkerungsziffer, nachdem in einer Phase wirtschaftlicher Desorganisation nach dem Pesteinbruch von 1348/50 diesem Erklärungsansatz zufolge die Getreidepreise zunächst sogar noch angestiegen waren. Diese Agrardepression bestimmte insoweit das Bild der Gesamtwirtschaft, als immer noch mindestens drei Viertel des Sozialprodukts von der Landwirtschaft erzielt, ferner mit Getreideprodukten, namentlich mit Roggenbrot, bis zu 70 Prozent des menschlichen Kalorienbedarf gedeckt wurden. Die Agrarwirtschaft selbst wich teilweise auf den Anbau von Sonderkulturen und eine verstärkte Viehwirtschaft aus. Von der ländlichen Misere langfristig niedriger Getreidepreise pro tierte die städtische Wirtschaft, da im Unterschied zu den sinkenden Getreidepreisen die Preise für gewerbliche Produkte und die gewerblichen Reallöhne anstiegen und auch bei sinkender Tendenz für lange Zeit immer noch über den erheblich stärker abfallenden Getreidepreisen lagen, sodass sich bildhaft gesprochen eine Preis- und Einkommensschere zugunsten der Stadt öffnete. Damit begann Wilhelm Abel zufolge ein »goldenes Zeitalter« der Lohnarbeit und der Handwerker, eine »goldene Zeit« für die Stadt. Die Preisund Einkommensschere begann sich spätestens gegen Ende des 15. Jahrhunderts hin wieder zu schließen, um sich im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts gegenläu g wieder zu öffnen, als durch den Ausgleich der Bevölkerungsverluste und einen einsetzenden Bevölkerungsanstieg die Getreidepreise wieder anstiegen, die Preise für Gewerbeprodukte aber nicht im gleichen Ausmaß folgten und die Reallöhne wegen des Bevölkerungsanstiegs bei statischer Technologie

1788 Siehe die Forschungsüberblicke von F. G und W. R, ferner U. D, Untersuchungen zu Einkommensverhältnissen und Lebenshaltungskosten, S. 9 ff., K.H, E. K (Wirtschaftsleben), J.  K, F. L, O. P, E. P, R. Sprandel, M. A. D. Einen gedrängten Forschungsüberblick zur Diskussion um die »Krise des Spätmittelalters« aus europäischer Perspektive gibt M. N, Europa expandiert 1250–1500, Stuttgart 2007, S. 361–371. Zum Zusammenhang zwischen Geldentwicklung und Wirtschaftskonjunktur seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert siehe P. R. R, De ation. 1789 W. A (1.4); ., Strukturen und Krisen der spätmittelalterlichen Wirtschaft. Siehe auch 1.4.2.1.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

und durch eine in ationäre Entwicklung sanken. Eine starke In ation hatte es im Übrigen bereits 1361 bis 1375 im fränkischen Raum gegeben.¹⁷⁹⁰ Die auf einem scharfen Rückgang der Bevölkerung, einer Absatzkrise und einer fallenden Preisentwicklungen beruhende sogenannte Agrarkrisentheorie Wilhelm Abels und auf englischer Seite Michael M. Postans beruht insbesondere auf einem Verfall der Getreidepreise, der jedoch einer regionalen Überprüfung in verschiedenen Fällen nicht standzuhalten scheint, in anderen für bestimmte Zeiträume aber auch bestätigt wird. Für Regional- und vor allem Gesamtstudien behält die eorie jedoch zumindest einen erheblichen heuristischen Wert, wie sie auch bislang noch nicht durch eine ähnlich komplexe eorie abgelöst wurde.¹⁷⁹¹ Das Bild einer säkularen Getreidepreisdepression auf der Grundlage einer extrem geglätteten Kurve scheint sich in fragmentierte, kurz-, mittel und längerfristige Preisbewegungen aufzulösen, die in Abschnitten einen krisenhaften oder depressiven Verlauf nehmen, aber auch gegenläu g sind und vor allem durch ein plötzliches Emporschnellen seuchenbedingter Mortalität mit einem Nachfrageeinbruch und durch Klimaverschlechterungen und Missernten mit Teuerungen geprägt werden. Zu örtlichen und regionalen Missernten und Teuerungen kam es in Deutschland und in der Eidgenossenschaft in den Jahren 1340 bis 1350, schwierig scheint die Lage etwa auch 1365 bis 1370 gewesen zu sein. Ein Rückgang der Roggenpreise im Sinne einer mehr als nur mittelfristigen, drei bis zehn Jahre andauernden Depression zeichnete sich 1370 ab und setzte sich bis 1395 fort, erreichte aber 1381 einen

säkularen Tiefpunkt.¹⁷⁹² Die zwei bis drei Jahrzehnte andauernde Depressionsphase hatte jedoch nur relativ schwache Auswirkungen auf die Agrarproduktion, sodass sich danach ein labiles Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage einstellen konnte. Ein leichter Preisanstieg ist bis Mitte des zweiten Jahrzehnts des 15. Jahrhunderts zu registrieren, danach sanken die Preise wieder. Die 1430er Jahre brachten aus klimatischen Gründen Missernten und eine Hungerzeit in Mitteleuropa, die mit Missernten und Teuerungen 1430 begann und nach einer ersten Spitze 1433/34 dann mit einer katastrophalen Subsistenzkrise 1437/38 einen Höhepunkt erreichte. Danach setzte 1443 bis 1465 eine Abwärtsbewegung aufgrund hoher Bevölkerungsverluste durch die Pest ein, die von 1465 bis 1506 durch einen stufenweisen langsamen Anstieg der Roggenpreise abgelöst wurde. Die Baisse von Preisentwicklungen wurde überwiegend durch Einbrüche auf der Nachfrageseite durch hohe Sterblichkeit aufgrund von Epidemien verursacht, während gute und sehr gute Ernten in der Depressionsphase lediglich verstärkend wirkten. War die Bevölkerung über mehrere Jahre hindurch wieder angewachsen, verursachten Missernten entsprechend gravierende Teuerungen. Determinanten der Getreidepreisbewegungen waren eine plötzlich auftretende Übersterblichkeit und Klimaverschlechterungen und in der Regel erheblich seltener Kriege. Hinsichtlich von Produktivität, Ertragsentwicklung und Angebot kam nach sehr starken Rückgängen der Agrarproduktion infolge tiefer Nachfrageeinbrüche andererseits als weiterer wichtiger Faktor für sinkende Preise eine auf den extremen Rückgang folgende, mit erneuten Bevölkerungswachstum und kurzfris-

1790 W. B, Materielle Grundstrukturen, S. 364. 1791 W. A, Grundsatzfragen zur Darstellung von Agrarkonjunkturen und -krisen nach der Methode Wilhelm Abels; M. A. D, Konjunkturen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, S. 200–205. 1792 Das Folgende vereinfacht nach der eingehenden regionalen Untersuchung von Bauernfeind, der vor allem Nürnberg und Mittelfranken, vergleichend Nördlingen, Augsburg und Frankfurt a. M. berücksichtigt und die Roggenpreise mit anderen Lebensmittelpreisen korreliert. W. B, Materielle Grundstrukturen, zusammenfassend S. 364–369. Preistäler zu Beginn der 1380er Jahre, 1420, nach 1451 und 1462–1465 ermittelt F. I, Getreidepreise; D. E/F. I (Bearb.), Getreideumsatz.

Wirtschaftliche Strukturen, Trends und Konjunkturen 1001

tigen Haussen einhergehende Überproduktion durch schnelle und starke Ausweitung der Anbau ächen hinzu. Untersuchungen zu Preisen und Einkommensverhältnissen mit dem Ziel genereller Aussagen stehen vor den Problemen eines Mangels an gesicherten empirischen Datenreihen, der Existenz regionaler Sonderkonjunkturen, witterungsbedingter kurzfristiger Erntekrisen mit oft jährlich stark uktuierenden Getreidepreisen, von Teuerungen, die einen Verzicht auf weniger lebenswichtige Güter wie Fleisch, Kleidung und Heizmaterial zur Folge haben, andererseits konjunkturbelebender guter Ernten. Zu beachten sind Währungsumstellungen, verbesserte Warenqualität, Veränderungen der Produktionskosten, ferner exogene Faktoren wie Seuchen und Kriege, preisverzerrende Aufschläge durch Verbrauchssteuern, Zoll- und Transportkosten, die angebotsund preisgestaltende Anziehungskraft großer städtischer Märkte, obrigkeitliche Marktinterventionen durch Au ösung von Vorräten und Höchstpreisverordnungen, Vorratshaltung und Beschaffungsmaßnahmen. Schwierigkeiten bereiten methodische Fragen der Schätzung der Größe eines Getreideangebots und der Nachfrage, die für einen säkularen Preisvergleich und die Darstellung langfristiger Preisbewegungen vorgenommene Reduktion der Rechengeldpreise in Edelmetalleinheiten, die Frage der Realitätsnähe statistisch geglättete Preiskurven, der geeignete Vergleich mit Preisen anderer wichtiger Lebensmittelprodukte und umfassender eine Kaufkraftermittlung. Für die Lohnentwicklung kommen in ationäre oder de ationäre Tendenzen, obrigkeitliche Lohnfestsetzungen und gleichfalls währungspolitische Maßnahmen als irritierende Faktoren hinzu. Diese Probleme lassen angesichts der zur Verfügung stehenden Daten vielfach, vielleicht sogar grundsätzlich nur mehr oder weniger gebündelte aspektbetonte, regionale und örtliche sowie zeitlich begrenzte Teilergebnisse erwarten.

Als günstige Faktoren für die städtische Wirtschaftsentwicklung infolge des drastischen Bevölkerungsrückgangs durch die Pest und unter der Voraussetzung niedriger Preise für das lebensnotwendige Getreide werden angenommen:¹⁷⁹³ – Eine günstige Geld- und Sachmittelausstattung der Überlebenden; – die Wiederherstellung der Produktionskapazitäten durch Zuzug von Arbeitskräften vom Lande; – eine Stärkung der Kaufkraft und eine Bildung von Nachfrageüberhängen angesichts einer etwa gleichbleibenden Geldmenge bei sinkender Bevölkerung; – steigende Reallöhne in dem Zeitraum von etwa 1370 bis ins ausgehenden 15. Jahrhundert infolge des Arbeitskräftemangels; – eine Stärkung der Kaufkraft für gewerbliche Produkte und Luxuswaren durch die Entlastung des Privathaushalts durch niedrige Getreidepreise; – eine für die Stadt günstige Preisrelation im Warenverkehr zwischen Stadt und Land. Hinzu kommen – eine Partizipation städtischer Kau eute am Wiederaufschwung im regionalen Bergbau (Eisenproduktion, Bunt- und Edelmetalle); – technische Innovationen im Metall- und Textilgewerbe; – eine Steigerung der Exportproduktion für Fernmärkte mit Wirkung auf die Beschäftigungslage durch kaufmännischen Warenabsatz und verlegerisch-unternehmerische Produktionsleitung; – eine teilweise Kompensation des Mangels an Edelmetall und Münzausprägungen durch Tauschhandel; – eine Erweiterung des Kapitalvolumens durch Schöpfung von Buchgeld (Giralgeld) und vermehrte Ausprägung von Münzgeld infolge einer wachsenden Edelmetallproduktion (seit etwa 1470); – effizientere Formen der kapitalistischen Organisation in Handel, großgewerblicher Industrie und Finanzen;

1793 Siehe im Anschluss an Wilhelm Abel: F.-W. H, Das vorindustrielle Deutschland, S. 146 ff.

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Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben

– eine Verdichtung des Verkehrs und Ausweitung der Marktbeziehungen. Damit sind ein säkularer Trend und wirtschaftliche Modellüberlegungen angedeutet, die aufgrund der theoretischen Eigenart ihrer Aussage durch gegenteilige Befunde im Einzelfall und für enge Zeiträume noch nicht als völlig widerlegt gelten können, durch Änderungen von empirisch häu g wenig gesicherten Prämissen aber zu anderen Ergebnissen führen.¹⁷⁹⁴ Überlagert werden die langfristigen Trends von kurzfristigen, krisenhaften, witterungs- oder kriegsbedingten Ernteschwankungen, die als Versorgungskrisen zu Teuerungen führten, Kaufkraft abschöpften und Absatzstockungen im städtischen Gewerbe nach sich zogen. Es waren dies Erscheinungen, die sich scharf im Bewusstsein der Betroffenen festsetzten. Es ist auch die Frage, in welchem Umfang Kaufkraftverluste und Nachfragerückgang bei der Landbevölkerung und beim Renten beziehenden Adel durch eine Stärkung des städtischen Binnenmarktes und des Absatzes im Fernhandel gesamtwirtschaftlich kompensiert wurden, ob nicht der Zuzug von Landbevölkerung in die Stadt zu Lohndruck, Überbesetzung einzelner Gewerbe und zu einem Anwachsen der Unterschicht führte. Das »goldene Zeitalter« der Lohnarbeit und der Handwerker lässt sich durch die Einkommensverhältnisse breiter städtischer Bevölkerungsschichten in Bezug auf die Lebenshaltungskosten und durch die Konsumgewohnheiten kaum bestätigen.¹⁷⁹⁵ Löhne wurden in der Regel nicht völlig frei ausgehandelt, sondern unterlagen vielfach ordnungspolitischen Bindungen und konnten daher nicht unmittelbar

den Veränderungen am Arbeitsmarkt oder der Geldmenge folgen, sondern lagen über größere Zeiträume hindurch fest. Übertriebene Vorstellungen über einen immensen Fleischkonsum, einen durch wachsendes Einkommen ermöglichten und auf restlosen Verbrauch ausgehenden ausschweifenden Luxuskonsum bei Essen und Trinken und in der Kleidung, begleitet von einer ausgesprochenen Arbeitsunlust angesichts eines Mangels an Arbeitskräften, selbst die moderatere Annahme eines hohen Aufwands und günstiger materieller Lebensbedingungen weiter Kreise müssen erheblich korrigiert werden. Untersuchungen zu den städtischen Mittel- und Unterschichten kommen zu dem Ergebnis, dass die Erwerbs- und Ersparnismöglichkeiten auch des Handwerkers eher eng begrenzt waren und sich die Unterschichten bei ungünstigen Lebensverhältnissen zunehmend verbreiterten. Die Kosten für Wohnung, Kleidung, Heizung und Beleuchtung und nichtp anzliche Lebensmittel waren im Vergleich zum Einkommen recht hoch, sodass – wenn nicht von einem ganz rudimentären Bedarf bei diesen Posten ausgegangen wird – ein Tiefstand der Getreidepreise die Kaufkraft vermutlich nicht durchschlagend zu determinieren vermochte.¹⁷⁹⁶ Als prosperierende Städte im 14./15. Jahrhundert können etwa Köln und Nürnberg gelten. Augsburg erlebte eine wirtschaftliche Depression in den 1440er und 1450er Jahren, doch setzte um 1480 ein kräftiger Wirtschaftsaufschwung mit einem Wachstum der Vermögen ein. Von einer einheitlichen Konjunkturentwicklung der Städte kann angesichts divergenter Entwicklungen der Gewerbe unterein-

1794 Vgl. auch die Einwände von U. H, Studien zu Löhnen und Preisen in Rostock; R. S, Die spätmittelalterliche Wirtschaftskonjunktur und ihre regionalen Determinanten. 1795 Siehe das Resümee bei U. D, Untersuchungen zu Einkommensverhältnissen und Lebenshaltungskosten, S. 532 ff. 1796 Am Schluss seiner materialreichen und detaillierten Untersuchungen muss D (S. 532) konstatieren, dass »Reihenbildung und damit eine statistische Absicherung der Ergebnisse« nicht möglich war. »Nicht nachgewiesen werden konnte ferner der tatsächliche Haushaltsaufwand auch nur für eine einzige, auf Einkommen aus Lohnarbeit angewiesene Familie, es fehlt also weiterhin ein nicht aus Einzelbelegen zusammengesetztes, sondern zeitgenössisch belegtes Budget. Offen bleibt in diesem Zusammenhang auf der Einkommensseite die Frage nach der Anzahl der Verdiener pro Familie und auf der Kostenseite das Verhältnis zwischen bar zu bestreitendem Aufwand und möglicherweise durch Eigenproduktion gedecktem Bedarf.«

Wirtschaftliche Strukturen, Trends und Konjunkturen 1003

ander, unterschiedlich strukturierter Stadtwirtschaften und Wirtschaftsräume, einer unterschiedlichen Konkurrenz ländlicher Gewerbe in Nieder- und Oberdeutschland sowie der Abhängigkeit von internationalen Märkten selbstverständlich nicht die Rede sein. Zur Entwicklung des Sozialprodukts sind nur diffuse Globaleinschätzungen und Trendannahmen möglich. Es fehlt im vorstatistischen Zeitalter weitgehend an sicheren oder gar korrelierbaren Daten über die Bevölkerungsentwicklung, den Kapitalstock und das Produktionsvolumen des Handwerks, Umsatzmengen und Umsatzwerte, die Handelsquote oder die umlaufende Geldmenge. Zusammenhängende Preis- und Lohnreihen gibt es nur in Einzelfällen und auch dann erst etwa seit der Mitte des 14. Jahrhunderts, und die am besten erfassbaren, tageweise gezahlten Löhne im Bauhandwerk können nicht zwingend als repräsentativ und typisch gelten. Genauere Aufschlüsse über Handels- und Produk-

tionsvolumina, Import- und Exportziffern im Anschluss an europäische Wirtschaftsentwicklungen¹⁷⁹⁷ gewähren allerdings in einigen Fällen skalische Quellen wie Zollregister, darunter die berühmten Sundzollregister, Wiegeund Akzisenbücher, Einfuhrverzeichnisse und Stadtrechnungen,¹⁷⁹⁸ ferner Testamente, Rentenverzeichnisse oder Prozessakten. So müssen Verschiebungen im Vermögensaufbau zwischen Mittel- und Unterschicht, Zunftschließungen und Zunftreduktionen und auf der anderen Seite Höchstlohnverordnungen oder Bewegungen am Rentenmarkt vorsichtig als Indikatoren für die Konjunktur- und Wirtschaftsentwicklung interpretiert werden. Schließlich spielt für die Städte als exogener Faktor die zunehmende Verdichtung der spätmittelalterlichen Territorialherrschaften zu frühneuzeitlichen Territorialstaaten mit einer eigenen, als frühmerkantilistisch und kameralistisch bezeichneten Wirtschaftspolitik eine langfristig bedeutsame Rolle.

1797 Die wirtschaftliche Expansion seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert war infolge der noch vor der Jahrhundertmitte einsetzenden portugiesisch-spanischen Entdeckungsfahrten mit einer allmählichen Verschiebung des Handels hin zum Atlantik verbunden, von der oberdeutsche, besonders Augsburger Firmen und im Hansebereich in der frühen Neuzeit etwa die Städte Bremen, Hamburg und Danzig pro tierten. Die Schiffspassagen im dänischen Sund versechsfachten sich zwischen 1500 und 1600. Anfangs des 15. Jahrhunderts exportierten Hansekau eute etwa 6 000 Tuche jährlich, nach 1470 doppelt so viele, 1513/14 bereits 20 000 und 1543/44 etwa 31 000. S. S, Die Hanse (9.5), S. 108. 1798 Die Lübecker Pfundzolleinnahmen des Jahres 1368 lassen errechnen, dass mehr als 1 800 Schiffe den Hafen anliefen oder verließen und der Seehandel einen Warenwert von etwa 540 000 Mark lübisch aufwies, mit dem man den gesamten Häuserbestand der Stadt hätte aufkaufen können. In den Jahren 1492 bis 1496 waren es jährlich nur noch etwa 760 An- und Abfahrten, doch mit größerem Schiffsraum. T. V (Bearb.), Die Lübecker Pfundzollbücher 1492–1496 (9.5); S. S, Die Hanse (9.5), S. 97.

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Quellen und Literatur

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P. J u. a., Neue Veröffentlichungen zur vergleichenden historischen Städteforschung mit Nachträgen 1996–1999/2000, ebd.: Bd. 138 (2002), S. 261–824. C. T u. a., Histoire urbaine, in: Annales HSS 58 (2003), S. 1137–1210. Über stadtgeschichtliche Neuerscheinungen informieren sehr gut unter anderem die Besprechungsteile folgender Z: Blätter für deutsche Landesgeschichte Hansische Geschichtsblätter Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalp ege, Bde. 1 ff. (1974 ff.); von Bd. 5 (1978) an unter dem Titel »Die alte Stadt«.

Übergreifende Darstellungen (Monogra en, Aufsätze) Deutsche Städte K. C, Die Stadt. Ihre Stellung in der deutschen Geschichte, Leipzig/Berlin (Ost)/Jena 1969. E. E, Die deutsche Stadt im Mittelalter, 2. A., Düsseldorf 2005. B. F, Die Stadt im Mittelalter, Stuttgart 2006. F. G. H, Die Stadt im Mittelalter, München 2009. E. I, Die deutsche Stadt im Spätmittelalter 1250– 1500. Stadtgestalt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Stuttgart 1988. H. P, Die deutsche Stadt im Mittelalter. Von der Römerzeit bis zu den Zunftkämpfen, Graz/Köln 1954, 5., unveränderte A., Wiesbaden 1997. F. R, Die deutsche Stadt und die Kultur des Bürgertums im Mittelalter, hg. v. L. R und A. . B. Göttingen 1964 (= 4. A. des Beitrags »Die europäische Stadt« in der Propyläen-Weltgeschichte, Bd. IV, hg. v. W. G, Berlin 1932). P. S, Geschichte des deutschen Städtewesens, Bonn/ Leipzig 1922. F. S, Die mittelalterliche Stadt, 2. A., Darmstadt 2009. K. G, Die deutschen Städte in der Frühen Neuzeit. Zur Vorgeschichte der »bürgerlichen Welt«, Darmstadt 1986. H. S, Die Stadt in der Frühen Neuzeit, 2. A., München 2004. U. R, Städte in der frühen Neuzeit, Darmstadt 2006.

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Quellen und Literatur

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